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German Pages [1127] Year 2022
ARCHIVALISCHE ZEITSCHRIFT 99. Band
FESTSCHRIFT FÜR MARGIT KSOLL-MARCON
Herausgegeben von Bernhard Grau, Laura Scherr, Michael Unger Erster / Zweiter Teilband
2022 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN
Archivalische Zeitschrift
1876 begründet und herausgegeben vom Königlich Bayerischen Allgemeinen Reichsarchiv, seit 1921 Bayerisches Hauptstaatsarchiv; ab 1972 herausgegeben von der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns. Herausgeber: Bernhard Grau, Laura Scherr, Michael Unger Die Archivalische Zeitschrift pflegt das deutsche und internationale Archivwesen in allen seinen Zweigen einschließlich der Quellenkunde und der historischen Hilfswissenschaften, soweit sich diese auf Archivalien beziehen. Die Zeitschrift erscheint in Jahresbänden. Manuskripte sind möglichst nur nach vorheriger Anfrage an die Schriftleitung einzusenden. Für den Inhalt der Beiträge einschließlich der Bildrechte für die Abbildungen zeichnen die Verfasserinnen und Verfasser verantwortlich. Werbeanzeigen und Beilagen besorgt der Verlag (Brill Deutschland GmbH | Böhlau Verlag, Lindenstraße 14, D-50674 Köln). Abgabetermin der Beiträge war Herbst 2021. Redaktion der Archivalischen Zeitschrift: Laura Scherr. Mitarbeit: Claudia Pollach, Karin Hagendorn, Katharina Aubele, Hubert Seliger. Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, Schönfeldstraße 5, 80539 München Postanschrift: Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, Postfach 22 11 52, 80501 München, E-Post: [email protected] Porträt: Dr. Margit Ksoll-Marcon M.A. (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Fotowerkstatt).
© by Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns Satz und Gestaltung: Karin Hagendorn Druck: Grafik + Druck digital K.P. GmbH, Landsberger Straße 318a, 80687 München ISSN 0003-9497 ISBN 978-3-412-52663-4
Inhalt ERSTER TEILBAND Autorinnen und Autoren.........................................................................9 Grußwort des Bayerischen Staatsministers für Wissenschaft und Kunst.............................................................................................13 Zum Geleit...........................................................................................15 Thomas Aigner, Bayerische Klöster in Österreich unter der Enns: Das Beispiel Tegernsee...........................................................................19 Milan Augustin und Karel Halla, Das Tor zu den Quellen als Tor zur freundschaftlichen Zusammenarbeit. Dreizehn Jahre Digitalisierung von westböhmischem und bayerischem Archivgut................35 Christoph Bachmann, Ego-Dokumente im Archiv. Das Fami lienarchiv von Schiber – Ergebnis einer Leidenschaft.............................43 Irmgard Christa Becker, Die Kooperation der Ausbildungseinrichtungen (KoA) und der Deutsche Qualifikationsrahmen Archiv.......59 Klaus Ceynowa, Was heißt „Sammeln“ im digitalen Zeitalter? Bemerkungen aus bibliothekarischer Perspektive...................................67 Michael Cramer-Fürtig, Aspekte des Augsburger Stiftungs wesens. Formen und Motive bürgerlicher Stiftungen vom Mittel alter bis zur Reformationszeit................................................................77 Thomas Dickert, Künstliche Intelligenz und Rechtspflege – eine Standortbestimmung...........................................................................107 Oskar Dohle, Die „Chronistenseminare“ im Salzburger Landesarchiv – Plattform der Begegnung zwischen Fachhistorikern und „lokalen Spezialisten“..........................................................................123 Eva Drašarová, Zwischen Skylla und Charybdis? Das Nationalarchiv in Prag als Verwaltungsbehörde und als wissenschaftliche Einrichtung.........................................................................................161 Thomas Engelke, Mit belüter glogken – Die Kooperation des Staatsarchivs Augsburg mit dem Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte der Universität Augsburg zur Erschließung der mittelalterlichen Urkundenbestände geistlicher Institutionen in Augsburg – ein Werkstattbericht.................................................................183
Stefan Gemperli, Zehn Jahre Archivgesetz im Kanton St. Gallen......201 Markus Gerstmeier, Simon Donig, Sebastian Gassner und Malte Rehbein, Die Archivinventare zum Sondergericht München (1933–1945) digital. Quellenwert – Verdatung – Erkenntnis perspektiven........................................................................................215 Beat Gnädinger, Aktuelle Herausforderungen für öffentliche Archive – eine zuversichtliche Zwischenbilanz.....................................253 Bernhard Grau, Historische Authentizität – Echtheits- und Bedeutungszuschreibungen bei Archivgut am Beispiel der „Ostarrichi“-Urkunde..........................................................................271 Andrea Hänger, Elisabeth Schwarzhaupt – die erste Bundes ministerin – eine Spurensuche in den Quellen.....................................303 Martina Haggenmüller, Archivare des Heeresarchivs München im Dienst des Archivschutzes in Frankreich (1940–1944)...................319 Christoph Haidacher, Nicht nur für Menschen bewegte Zeiten. Zum Schicksal der Tiroler Archive und Registraturen in der Napoleonischen Epoche...............................................................................345 Bettina Hasselbring, Der Ton. Das Bild. Die Bayern und ihr Rundfunk. Einblicke in die Geschichte und das (Hybride) Historische Archiv des Bayerischen Rundfunks...................................369 Andreas Hedwig, Matrix oder Linie? Gedanken über Archiv organisation........................................................................................385 Detlev Heiden, Wirtschaftsüberlieferung in staatlichen Archiven – Erschließungs- und Nutzungsperspektiven.......................................405 Rainer Hering, Frauen ins Archiv! Über die Notwendigkeit Nachlässe von Frauen zu archivieren....................................................427 Hans-Georg Hermann, Die provocatio in vallem Josaphat (Ladung vor Gottes Gericht) als Systemprovokation............................449 Renate Höpfinger, Vom öffentlichkeitswirksamen Event zu nachhaltiger Geschichtsarbeit – Das Webportal zur Geschichte der CSU..............................................................................................475 Michael Hollmann, Die Bundesregierung und das Gesetz zum Schutz des Olympischen Friedens........................................................487 Julian Holzapfl, Archivklischees. Eine Sprachanalyse.......................523 Christian Kruse, Archiv und Schule – neue Wege in Oberfranken...551
ZWEITER TEILBAND Volker Laube, ISO 15489-1:2016 – Schlüsselkonzepte.....................569 Bernhard Löffler, Kartographie, Statistik und die Erfindung des modernen Staatsbayern..................................................................603 Richard Loibl, Patrona Bavariae seu omnium? Was Volks frömmigkeit und Patriotismus miteinander zu tun haben. Eine Spurensuche im Münzschatz.......................................................623 Gerald Maier, Archive als Orte für Wissenschaft und Forschung – Bestandsaufnahme und Perspektiven am Beispiel des Landes archivs Baden-Württemberg................................................................649 Esteban Mauerer, Erziehung eines Prinzen. Karl Joachim von Fürstenberg (1771–1804)....................................................................693 Eva Moser, Im Schatten des Hakenkreuzes: Jüdische Mitglieder der Industrie- und Handelskammer München 1932–1933..................733 Peter Müller, Virtueller Dienstleister oder dritter Ort – Überlegungen zur Positionierung staatlicher Archive im digitalen Zeitalter....743 Uwe Müller, Illusorische Ordnung – Das Stadtarchiv Schweinfurt im Königreich Bayern...................................................................759 Klaus Neitmann, Die brandenburgischen KirchenvisitationsAbschiede des 16. Jahrhunderts als Quellen des Reformationsund konfessionellen Zeitalters. Dargestellt am Beispiel der Stadt Kyritz (Prignitz)..................................................................................779 Thomas Paringer, Nichtstaatliches Archiv- und Sammlungsgut im Bayerischen Hauptstaatsarchiv: Von gewachsenen Strukturen zu aktiver Schwerpunktbildung. Ein Sachstandsbericht.......................805 Michael Puchta, Brauchen wir eine neue Archivwissenschaft? – Plädoyer für eine kritische Debatte über aufgabenspezifische Anforderungen bei der digitalen Archivierung.........................................827 Martin Rüth, Eine Reise durch Bayern.............................................859 Klaus Rupprecht, Paul Glück (1873–1947) – Archivar in Würzburg und Bamberg..............................................................................873 Maria Rita Sagstetter, Zum Zwecke guter Ordnung, erbaulicher Sitten und wohlgefälliger Harmonie. Ehaftordnungen des Stiftlands Waldsassen aus dem 18. Jahrhundert...................................895
Udo Schäfer, Das Hamburgische Schiffsrecht. Eine frühe Aufzeichnung nordeuropäischen Seerechts................................................927 Laura Scherr, Archivbau in Bayern im Spannungsfeld von Nachhaltigkeit, begrenzten Ressourcen und technischen Notwendigkeiten.................................................................................949 Herbert Schott, Eine „archivarische Großtat“: Die Übernahme der Akten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse durch Wolfgang A. Mommsen in das Staatsarchiv Nürnberg.........................969 Andrea Schwarz, Der Neubau des Landeskirchlichen Archivs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Eine Bilanz der ersten Jahre..........................................................................................995 Reinhard Stauber, Fortschreiten zum Bessern nach geprüften Erfahrungen. Die Regierung Montgelas und die Anfänge des Verfassungsstaats Bayern....................................................................1011 Michael Stephan, Der Münchner Stadtbaurat Arnold von Zenetti (1824–1891). Eine biographische Skizze...............................1033 Harald Toniatti und Christine Roilo, Wirtschaftliche Handlungsspielräume von Frauen am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit – ein Fallbeispiel im grenzüberschreitenden Warenverkehr von Tirol nach Bayern.......................................................................1055 Michael Unger, Vermessung der Archive. Archivstatistik bei den Staatlichen Archiven Bayerns von Franz von Löher bis Fritz Zimmermann......................................................................1071 Andreas Wirsching, Das Archiv als Ort der Zeitgeschichte............1093 Alexander Wolz, Über die Vielfalt des Coburger Archivwesens......1101 Zu folgenden Beiträgen liegen Farbabbildungen im Zweiten Teilband vor: Richard Loibl, Gerald Maier, Laura Scherr, Andrea Schwarz.
Autorinnen und Autoren Aigner, Thomas, Dr., MAS, ICARUS – International Centre for Archival Research, Gertrude-Fröhlich-Sandner-Straße 2–4, 1100 Wien, Österreich Augustin, Milan, Mgr., Direktor des Staatlichen Bezirksarchivs Karlsbad, Státní okresní archiv Karlovy Vary, nám. 17. Listopadu 2, 360 05 Karlovy Vary, Tschechische Republik Bachmann, Christoph, Dr., M.A., Ltd. Archivdirektor, Leiter des Staatsarchivs München, Schönfeldstraße 3, 80539 München Becker, Irmgard Christa, Dr., Mag., Ltd. Archivdirektorin, Leiterin der Archivschule Marburg – Hochschule für Archivwissenschaft, Bismarckstraße 32, 35037 Marburg Ceynowa, Klaus, Dr., Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek, Ludwigstraße 16, 80539 München Cramer-Fürtig, Michael, Dr., Archivdirektor a.D. (Stadtarchiv Augsburg), St.-Anna-Straße 7, 86938 Schondorf Dickert, Thomas, Dr., Präsident des Oberlandesgerichts Nürnberg, Fürther Straße 110, 90429 Nürnberg Dohle, Oskar, Dr., Mag., MAS, Direktor des Salzburger Landesarchivs, Michael-Pacher-Straße 40, 5020 Salzburg, Österreich Donig, Simon, Dr., M.A., Leiter der Abteilung Digitale Forschungs- und Informationsinfrastrukturen, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft, Gisonenweg 5–7, 35037 Marburg Drašarová, Eva, Dr., Direktorin des Nationalarchivs, Archivní 2257/4, 149 01 Praha 4, Tschechische Republik Engelke, Thomas, Dr., M.A., Archivdirektor, Leiter des Staatsarchivs Augsburg, Salomon-Idler-Straße 2, 86159 Augsburg Gassner, Sebastian, M.Sc., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Universität Passau, Lehrstuhl für Digital Humanities, Dr.-Hans-Kapfinger-Straße 16, 94032 Passau
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Autorinnen und Autoren
Gemperli, Stefan, lic. phil., Archivdirektor, Leiter des Staatsarchivs des Kantons St. Gallen, Regierungsgebäude, Klosterhof 1, 9001 St. Gallen, Schweiz Gerstmeier, Markus, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Universität Passau, Lehrstuhl für Digital Humanities, Dr.-Hans-Kapfinger-Straße 16, 94032 Passau Gnädinger, Beat, Dr. phil., Archivdirektor, Leiter des Staatsarchivs des Kantons Zürich, Winterthurerstrasse 170, 8057 Zürich, Schweiz Grau, Bernhard, Dr., M.A., Direktor des Hauptstaatsarchivs, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Schönfeldstraße 5, 80539 München Hänger, Andrea, Dr., Vizepräsidentin, Bundesarchiv, Potsdamer Straße 1, 56075 Koblenz Haggenmüller, Martina, Dr., M.A., Archivdirektorin, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Schönfeldstraße 5, 80539 München Haidacher, Christoph, Dr., MAS, Landesarchivdirektor, Leiter des Tiroler Landesarchivs, Michael-Gaismair-Straße 1, 6020 Innsbruck, Österreich Halla, Karel, Mgr., Direktor des Staatlichen Bezirksarchivs Eger, Státní oblastní archiv v Plzni – Státní okresní archiv Cheb, Františkánské nám. 14, 350 02 Cheb, Tschechische Republik Hasselbring, Bettina, M.A., Bayerischer Rundfunk, Leiterin des Historischen Archivs/ABD, Rundfunkplatz 1, 80335 München Hedwig, Andreas, Prof., Dr., Präsident des Hessischen Landesarchivs, Friedrichsplatz 15, 35037 Marburg Heiden, Detlev, Dr., Ltd. Archivdirektor, Leiter des Landesarchivs Sachsen-Anhalt, Brückstraße 2, 39114 Magdeburg Hering, Rainer, Prof. Dr. Dr., Ltd. Archivdirektor, Leiter des Landesarchivs Schleswig-Holstein, Prinzenpalais, 24837 Schleswig Hermann, Hans-Georg, o. Univ.-Prof., Dr., Ludwig-Maximilians-Univ., Leopold-Wenger-Institut für Rechtsgeschichte, Abteilung Bayerische und Deutsche Rechtsgeschichte, Prof.-Huber-Platz 2, 80539 München Höpfinger, Renate, Dr., M.A., Leiterin des Archivs für Christlich-Soziale Politik und der Politisch-historischen Fachbibliothek sowie stv. Leiterin der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Lazarettstraße 33, 80636 München
Autorinnen und Autoren
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Hollmann, Michael, Prof., Dr., Präsident des Bundesarchivs, Potsdamer Straße 1, 56075 Koblenz Holzapfl, Julian, Dr., M.A., Archivdirektor, Staatsarchiv München, Schönfeldstraße 3, 80539 München Kruse, Christian, Dr., Ltd. Archivdirektor, Leiter des Staatsarchivs Nürnberg, Archivstraße 17 (bis voraussichtlich 2026 vorübergehendes Ausweichquartier: Rollnerstraße 14/4), 90408 Nürnberg (2018–2021: Staatsarchiv Bamberg) Laube, Volker, Kanzler, Erzbischöfliches Ordinariat München, Kapellenstraße 4, 80333 München Löffler, Bernhard, o. Univ.-Prof., Dr., Universität Regensburg, Lehrstuhl für bayerische Landesgeschichte, Universitätsstraße 31, 93053 Regensburg Loibl, Richard, Dr., Direktor des Hauses der Bayerischen Geschichte, Zeuggasse 7, 86150 Augsburg Maier, Gerald, Prof., Dr., Präsident des Landesarchivs Baden-Württemberg, Eugenstraße 7, 70182 Stuttgart Mauerer, Esteban, Dr., M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, AlfonsGoppel-Straße 11, 80539 München Moser, Eva, Dr., M.A., Archivleiterin, Bayerisches Wirtschaftsarchiv, Orleansstraße 10–12, 81669 München Müller, Peter, Dr., Präsident des Südwestdeutschen Archivtags, Leiter des Staatsarchivs Ludwigsburg, Landesarchiv Baden-Württemberg – Staatsarchiv Ludwigsburg, Arsenalplatz 3, 71638 Ludwigsburg Müller, Uwe, Dr., Archivdirektor a.D. (Stadtarchiv und -bibliothek Schweinfurt), Falkenring 1B, 97422 Schweinfurt Neitmann, Klaus, apl. Prof., Dr., Direktor des Brandenburgischen Landeshauptarchivs a.D., Lehrbeauftragter an der Universität Potsdam, Historisches Institut, Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam Paringer, Thomas, Dr., M.A., Archivdirektor, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Schönfeldstraße 5, 80539 München Puchta, Michael, Dr., M.A., Archivdirektor, Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, Schönfeldstraße 5, 80539 München
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Autorinnen und Autoren
Rehbein, Malte, o. Univ.-Prof., Dr., Universität Passau, Lehrstuhl für Digital Humanities, Dr.-Hans-Kapfinger-Straße 16, 94032 Passau Roilo, Christine, Dott.ssa., Direktorin des Südtiroler Landesarchivs, A.-Diaz-Straße 8, 39100 Bozen, Italien Rüth, Martin, Dr., Archivdirektor, Leiter des Staatsarchivs Landshut, Schlachthofstraße 10, 84034 Landshut Rupprecht, Klaus, Dr., Archivdirektor, Leiter des Staatsarchivs Bamberg, Hainstraße 39, 96047 Bamberg Sagstetter, Maria Rita, Dr., M.A., Archivdirektorin, Leiterin des Staatsarchivs Amberg, Archivstraße 3, 92224 Amberg Schäfer, Udo, Dr., Direktor des Staatsarchivs der Freien und Hansestadt Hamburg, Kattunbleiche 19, 22041 Hamburg Scherr, Laura, Mag. Dr., Archivdirektorin, Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, Schönfeldstraße 5, 80539 München Schott, Herbert, Dr., M.A., Archivdirektor, Staatsarchiv Nürnberg, Archivstraße 17 (bis voraussichtlich 2026 vorübergehendes Ausweichquartier: Rollnerstraße 14/4), 90408 Nürnberg Schwarz, Andrea, Dr., Archivdirektorin a.D. (Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern), Hufelandstraße 81, 90419 Nürnberg Stauber, Reinhard, Univ.-Prof., Dr., Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Institut für Geschichte, Universitätsstraße 65–67, 9020 Klagenfurt am Wörthersee, Österreich Stephan, Michael, Dr., Stadtdirektor a.D. (Stadtarchiv München), Gernotstraße 1, 80804 München Toniatti, Harald, Mag. phil., Direktor des Staatsarchivs Bozen, A.-DiazStraße 8, 39100 Bozen, Italien Unger, Michael, Dr., M.A., Archivdirektor, Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, Schönfeldstraße 5, 80539 München Wirsching, Andreas, o. Prof., Dr., Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Leonrodstraße 46 b, 80636 München Wolz, Alexander, Dr., M.A., Archivoberrat, Leiter des Staatsarchivs Würzburg, Residenzplatz 2, Residenz-Nordflügel, 97070 Würzburg
Grußwort des Bayerischen Staatsministers für Wissenschaft und Kunst Bayern ist ein Kulturstaat. Reich ist das Erbe, das uns unsere Vorfahren hinterlassen haben. Groß ist das internationale Renommee dafür. Anspruchsvoll ist seine Pflege. Die Staatlichen Archive Bayerns leisten dabei einen ganz wesentlichen Beitrag. Das gilt besonders wegen ihrer umfassenden, vielfältigen und weit in die Geschichte zurückreichenden Quellenbestände. Sie stellen für die wissenschaftliche Forschung, die Heimat- und Familienforschung und darüber hinaus für den rechtlichen Alltag vieler Bürgerinnen und Bürger unentbehrliche Ressourcen dar. Sie dokumentieren aber zugleich die Entwicklung, die aus Bayern den Kulturstaat formte, den wir heute lieben. Aber die Archive blicken nicht nur in die Vergangenheit zurück, sondern zugleich weit in die Zukunft voraus. Sie gestalten heute die digitale Transformation von Staat und Gesellschaft aktiv mit und entwickeln Lösungen, die für einen dauerhaften Erhalt der zunehmend elektronischen Überlieferung gebraucht werden. Nicht verharren, sondern vorangehen – das zeichnet unser Bayern aus: Wir schauen dankbar rückwärts, mutig vorwärts und gläubig aufwärts. Ich bin überzeugt: Der digitale Staat und die digitale Gesellschaft in Bayern brauchen starke, handlungsfähige und innovative Staatliche Archive, die die Brücke zwischen dem Gestern, dem Heute und dem Morgen bauen. Umso größer ist die Anerkennung, die Frau Dr. Margit Ksoll-Marcon als Generaldirektorin der Staatlichen Archive gebührt. Ihre Amtszeit war stark von den angesprochenen Veränderungsprozessen geprägt. So waren auf der einen Seite die baulichen Voraussetzungen zu schaffen, um die nach wie vor ständig anwachsende Aktenüberlieferung der staatlichen Behörden und Gerichte für die Nachwelt sichern zu können. Auf der anderen Seite galt es, ein Digitales Archiv aufzubauen. Neben die klassische Archivbenutzung in den Lesesälen trat die digitale Bereitstellung von Ar-
chivgut im Netz und der Aufbau moderner Forschungsdateninfrastrukturen, neben die traditionellen Formen der Bestandserhaltung die Erhaltung digitaler Medien und die Retrodigitalisierung besonders gefährdeter oder stark nachgefragter analoger Archivbestände. Es galt ebenso, die eigenen Arbeitsabläufe auf elektronische Verfahren umzustellen. Das Ergebnis ist mehr als respektabel: Die Staatlichen Archive Bayerns waren die erste Fachverwaltung in Bayern, die vollständig auf elektronische Aktenführung umgestellt hat. Frau Dr. Margit Ksoll-Marcon blickt auf eine lange, herausfordernde und erfolgreiche Amtszeit zurück. Sie kann für sich in Anspruch nehmen, die Staatlichen Archive Bayerns weitsichtig geführt und das Erbe Bayerns gemehrt zu haben. Dafür danke ich ihr im Namen des Freistaats Bayern herzlich und verbinde damit die besten Wünsche für die Zukunft. München, im August 2022 Markus Blume, MdL Bayerischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst
Zum Geleit Wenn Frau Dr. Margit Ksoll-Marcon zum 1. September 2022 aus dem Amt als Generaldirektorin der Staatlichen Archive ausscheidet, geht eine mehr als vierzehnjährige Amtszeit zu Ende, die für die Staatlichen Archive Bayerns durch nachhaltige Weichenstellungen und zukunftsweisende Richtungsentscheidungen geprägt war. Mit Blick auf die Digitalisierung aller Aufgabenbereiche ist es sicher nicht übertrieben, von einer Zeit des fundamentalen Wandels zu sprechen. Um dem verdienstvollen Wirken von Frau Dr. Ksoll-Marcon ein würdiges Denkmal zu setzen, wurde diese Festschrift konzipiert. Frau Dr. Ksoll-Marcon hat Neuere Geschichte, Bayerische Landesgeschichte und Afrikanistik studiert und mit einer Arbeit über die wirtschaftlichen Verhältnisse des bayerischen Adels im 17. Jahrhundert promoviert. Nach ihrer Tätigkeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Projekt „Reichskammergericht“ absolvierte sie die Bayerische Archivschule. Berufliche Stationen führten sie an das Bayerische Hauptstaatsarchiv und an die Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, deren Leitung sie im März 2008 übernahm. Zentrale fachliche Schwerpunkte ihrer langjährigen und vielseitigen Wirksamkeit bei den Staatlichen Archiven Bayerns bildeten die Rechtsfragen des Archivwesens, die Überlieferungsbildung und die behördliche Schriftgutverwaltung. In diesem Zusammenhang wirkte sie lange Jahre in den ARK- bzw. späteren KLA-Ausschüssen „Archive und Recht“, „Records Management“ und „Betriebswirtschaftliche Steuerung“ mit. Den digitalen Wandel hat Frau Dr. Ksoll-Marcon in der staatlichen Verwaltung intensiv begleitet und in den Staatlichen Archiven Bayerns von Anfang an aktiv mitgestaltet. Die Digitalisierung von Archivgut, die Ausgestaltung eines zeitgemäßen Internetangebots, aber auch die Einführung der eAkte und der Aufbau des Digitalen Archivs der Staatlichen Archive Bayerns bleiben mit dem Namen von Frau Dr. Ksoll-Marcon ebenso verbunden wie die inhaltliche und konzeptionelle Weiterentwicklung der von ihr geleiteten Bayerischen Archivschule. Dasselbe gilt für den Einstieg in Massenverfahren der Bestandserhaltung. Ihre Amtszeit ist zudem geprägt von einer Archivbauoffensive, deren am deutlichsten greifbare Ergebnisse bisher der Archivneubau in Landshut und die neu errichteten Archivmagazine in Augsburg
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und Bamberg sind. Die Sanierung des Staatsarchivs Nürnberg wurde begonnen. Der Neubau für das Staatsarchiv Würzburg und der Neubau eines Spezialmagazins für das Bayerische Hauptstaatsarchiv wurden auf den Weg gebracht. Ein besonderes Anliegen war und ist Frau Dr. Ksoll-Marcon die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, sei es im Rahmen der Archivdirektorenkonferenz der Arbeitsgemeinschaft der Alpenländer (ARGE ALP) oder von Institutionen wie dem International Centre for Archival Research (ICARUS) und dem International Institute for Archival Science of Trieste and Maribor (IIAS), sei es bilateral, etwa mit den Archiven in der Tschechischen Republik. Zuletzt hat sie sich trotz einer ohnehin hohen Arbeitsbelastung noch intensiv in den Aufbau nationaler Forschungsdateninfrastrukturen eingebracht. Dieses breite beruflichen Wirken und fachliche Selbstverständnis spiegelt die vorliegende Festschrift wider, die Beiträge aus nahezu allen Bereichen der Archivwissenschaft und der archivischen Praxis enthält. Darstellungen zur Rolle der Archive in der vernetzten Gesellschaft, als Dienstleister für Staat und Bürger sind ebenso enthalten wie historische Beiträge, die die Relevanz der Archive für Wissenschaft und Forschung herausstellen. Die Spannweite des Schaffens dokumentiert ebenfalls die Zahl und den fachlichen Hintergrund der Autorinnen und Autoren, die sich an dieser Festschrift beteiligen. Neben zahlreichen Berufskollegen aus dem staatlichen Archivdienst, aber auch aus allen anderen Archivsparten in Bayern finden sich darunter viele der amtierenden Leiter der Archivverwaltungen des Bundes und der Länder sowie die Leiterin der Archivschule Marburg. Die länderübergreifende Wirksamkeit wird durch Beteiligung ausländischer Archivleiter, etwa den Kollegen aus der ARGE ALP und den uns eng verbundenen Kolleginnen und Kollegen der tschechischen Archive unterstrichen. Das Ansehen der Jubilarin in Wissenschaft und Forschung untermauern die Beiträge unserer Kooperationspartner aus Wissenschaft und Forschung. Hinzu kommen die Vertreter aus dem Bereich der städtischen Einrichtungen, der Bibliotheken und Museen. Dieses Spektrum unterstreicht die Hochachtung und den Respekt, die sich Frau Dr. KsollMarcon in ihrer Amtszeit erworben hat. Es sei nicht verschwiegen, dass nicht alle Interessierten auch zur Teilnahme aufgefordert werden konnten. Dafür bitten die Herausgeber um Verständnis.
Allen Beteiligten ist es ein Anliegen, der Jubilarin zum Ende ihrer Amtszeit alles Gute zu wünschen, Glück, Gesundheit, Lebensfreude und anhaltende Schaffenskraft. Mit dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst wird das Interesse für unser Berufsfeld und für die historische Forschung nicht enden. So wünschen wir abschließend noch viele erfüllte und produktive Jahre! München, im August 2022 Bernhard Grau
Michael Unger
Laura Scherr
Bayerische Klöster in Österreich unter der Enns: Das Beispiel Tegernsee Von Thomas Aigner Ein zentrales Element in der Zusammenarbeit der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns bzw. des Bayerischen Hauptstaatsarchivs in München mit ICARUS war die Digitalisierung und Onlinestellung der Urkunden zahlreicher bayerischer Klöster1. Viele hatten bis ins 19. Jahrhundert aufgrund ihrer Besitzungen in Österreich intensive Beziehungen dahin. Dieser Umstand bildet sich natürlich in den jeweiligen Archivbeständen sehr gut ab und, nachdem die meisten Dokumente bis heute nicht in Edition vorliegen, ermöglichte die Digitalisierung und damit die rasche Verfügbarmachung einer großen Zahl bisher unbekannter Quellen einen Quantensprung in der landesgeschichtlichen Forschung Österreichs, allen voran in Niederösterreich. Der Jubilarin und allen, die an diesem Unternehmen beteiligt waren, kann daher nicht genug gedankt werden. Der folgende Beitrag möchte die große Bedeutung bayerischer Hochstifte und Klöster für Österreich und seine historische Entwicklung am Beispiel der Abtei Tegernsee exemplarisch darstellen. Die historischen Beziehungen der Benediktinerabtei Tegernsee zu Niederösterreich erlebten ähnlich der bayerisch-österreichischen Geschichte zahlreiche Spannungen, jedoch auch für beide Seiten äußerst fruchtbare Aspekte. Man denke nur daran, dass es die bayerischen Klöster und Hochstifte sowie bayerische Adelsfamilien waren, die den Grundstein dafür legten, was wir heute Österreich nennen; ja selbst der Name „Österreich“ scheint in einer Urkunde für das bayerische Hochstift Freising erstmals auf. War die Mark „Ostarrichi“ bis 1156 ein Teil Bayerns, so begannen sich diese beiden Gebiete durch die Erhebung Österreichs zum Herzogtum ab diesem Zeitpunkt getrennt voneinander zu entwickeln. Auffallend ist in der weiteren Geschichte, dass bei größeren Auseinandersetzungen die beiden Länder oft Gegner waren. Man denke nur an die Auseinandersetzungen um das deutsche Königtum zwischen Ludwig dem Bayern und Friedrich dem Schönen im 14. Jahrhundert, an den Landshuter Erbfolgekrieg zu Beginn des 16. Jahrhunderts, den Spanischen Erbfolgekrieg zu Beginn 1
https://www.monasterium.net/mom/DE-BayHStA/archive (abgerufen am 10.5.2021).
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des 18. Jahrhunderts, den österreichischen Erbfolgekrieg nach dem Tod Kaiser Karls VI. in den 1740er Jahren sowie an die Napoleonische Zeit. Nicht immer stand man sich aber als Gegner gegenüber, sondern teilweise auch als Bündnispartner, wie etwa im Dreißigjährigen Krieg, wo einen die gemeinsame katholische Religion einte, oder bei der Verheiratung des vorletzten österreichischen Kaisers, der bekanntlich Herzogin Elisabeth in Bayern, besser bekannt als Sisi, heiratete. Im Obergeschoss des Kreuzgangs des ehemaligen Augustiner-Chorherrenstifts St. Pölten befindet sich ein großes Ölgemälde, das zwei Männer, gekleidet in Ritterrüstungen und Hermelinmäntel, zeigt. Beide tragen den österreichischen Herzogshut auf ihren Häuptern – deutlicher Hinweis auf ihre adelige Abstammung. Links und rechts von diesem Bild befindet sich je eine Tafel mit einer lateinischen Inschrift, die Näheres zu den beiden Männern, die als Ottokar und Adalbert benannt werden, angibt. In der Haustradition des Stiftes St. Pölten erzählte man sich demnach folgendes: der Vater der beiden Brüder soll aus Burgund gekommen sein, ihre Mutter aus bayerischem Adel. Die Verwandtschaft mit König Pippin führte sie öfters an dessen Hof. Dort wurde Ottokars einziger Sohn, Rochus, vom Sohn Pippins in einem Anfall von Jähzorn erschlagen; angeblich weil er diesem im Spiel unterlegen war. Der tieftrauernde Vater habe dann sofort gemeinsam mit seinem Bruder Adalbert Christus zu ihrem Erben eingesetzt und mehrere Klöster gegründet, unter denen das weitaus bedeutendste Tegernsee hieß. Mönche aus St. Gallen besiedelten dann diese neue großartig ausgestattete Stiftung, deren Einkünfte für den Unterhalt von 150 Mönchen reichten. Vor dieser Zeit noch habe Adalbert im Gebiet von Pannonien die Herrschaft innegehabt und gegen die Feinde im Osten gekämpft (bei denen es sich um die Awaren handelte). In dieser Zeit habe er auch das Kloster Treisma gegründet und mit den Reliquien des hl. Märtyrers Hippolyt ausgestattet. Die beiden Brüder machten auch eine Pilgerfahrt nach Rom, um, ausgerüstet mit Briefen des hl. Bonifatius, von Papst Zacharias heilige Leiber für ihre Klosterstiftungen zu erwerben. Weil der Papst gerade von Feinden bedrängt war, boten diese fürstlichen Pilger nochmals ihre Waffendienste an und halfen, die Stadt Rom von den Feinden zu befreien. Die erbetenen heiligen Leiber brachte Uto, ein Verwandter der Brüder, über die Alpen; es waren dies die Reliquien des hl. Quirinus für Tegernsse, des hl. Arsacius für Ilmmünster und des hl. Hippolyt für St. Pölten. Schließlich zogen die Brüder in ihrer Lieblingsstiftung Tegernsee selbst das Ordenskleid an, wo sie unter dem Hochaltar
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der Klosterkirche bestattet wurden. All das soll sich der Tradition nach um 742 abgespielt haben2. Was ist nun von dieser Geschichte tatsächlich in Bezug auf St. Pölten zu halten? Mit Sicherheit kann angenommen werden, dass um die Mitte des 8. Jahrhunderts im Gebiet östlich der Enns und somit auch im Raum des heutigen St. Pölten die Awaren beherrschend waren3. In der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts hatten sie immer wieder versucht, ihr Herrschaftsgebiet über die Enns auszudehnen, indem sie diese überschritten und Lorch samt Umland zerstörten. Um 740 versuchten sie schließlich, die Selbständigkeit Karantaniens zu zerschlagen, erlitten aber gegen die vereinigten bayerisch-alpenslawischen Verbände eine empfindliche Niederlage, die ihren Expansionsbestrebungen ein Ende setzte und die Ennsgrenze auf Jahrzehnte hindurch festlegte. In den 780er Jahre, als sich durch das gestörte Verhältnis Herzog Tassilos III. zu Karl dem Großen politische Spannungen in Bayern abzeichneten, registrierten dies die Awaren mit großer Vorsicht. 782 nahmen Vertreter von ihnen an einer Reichsversammlung mit Karl dem Großen teil, gleichzeitig tauchte eine große Zahl awarischer Reiter an der Enns auf, um diese demonstrativ zu behaupten. Man ahnte die Gefahr, die vom Frankenreich ausgehen könnte. Die Awaren reagierten sensibel auf die politischen Veränderungen an ihrer donauländischen Westgrenze. Umso eher waren sie zu Aktionen bereit, als der Agilolfingerherzog Tassilo III. 788 abgesetzt wurde, zumal in den Jahren zuvor eine aktive Bündnispolitik mit den Bayern die bisherige friedliche Koexistenz abgelöst hatte. Die Awaren hatten ihren Bündnispartner Tassilo III. verloren – im Kloster, wohin er abgeschoben wurde, hatte er keinen Einfluss mehr. Noch im selben Jahr kam es zu den erwarteten Kämpfen auf allen Linien. Ins heutige Niederösterreich rückten die bayerisch-fränkischen Grafen Graman und Otachar und führten auf dem heutigen Ybbsfeld einen Präventivschlag gegen die awarischen Verteidiger, die später ebenso an der Ybbs geschlagen wurden. Ein Rachefeldzug wenig später scheiterte, da Graman und Otachar diesen zerschlagen konnten. Die Awaren erkannten die Gefahr der Vernichtung ihres Reiches, errichteten Befestigungen und starteten diplomatische Initiativen, um eine fränkische Invasion abzuwenden. Die Vgl. Friedrich Schragl, Geschichte des Stiftes St. Pölten. In: Heinrich Fasching (Hrsg.), Dom und Stift St. Pölten und ihre Kunstschätze, St. Pölten 1985, S. 16–19. 3 Vgl. Johann Weissensteiner, Tegernsee, die Bayern und Österreich. Studien zu Tegernseer Geschichtsquellen und der bayerischen Stammessage. Mit einer Edition der Passio secunda s. Quirini (Archiv für österreichische Geschichte 133), Wien 1983, S. 63–71. 2
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Verhandlungen scheiterten. Im Zuge verschiedener Kämpfe konnte Karl die Awaren im Jahr 796 endgültig besiegen. Wie schon erwähnt, war ein gewisser Otachar an der Besiegung der Awaren beteiligt. Es ist durchaus möglich, dass es sich bei ihm um den Tegernseer Stifter handelt, was jedoch nicht zu beweisen ist. Der Gedanke wäre jedoch reizvoll und es würde mit einem Schlag vieles zusammenpassen. Es ist nämlich nicht unwahrscheinlich, dass Otachar in Folge der Niederlage der Awaren Einfluss auf die Landnahme östlich der Enns hatte. Warum sollte dann nicht auch Tegernsee im heutigen St. Pölten ein Kolonisations- und Missionszentrum gegründet haben?4 Die Bistümer und Klöster Bayerns sowie die fränkisch-bayerischen Großen fanden nach 800 im durch den Sieg über die Awaren erworbenen Neuland im Osten so viel herrenloses, obgleich nicht menschenleeres Gebiet, dass sie auf eine mündliche Zusage Karls des Großen hin Eigengut vorerst einmal „absteckten“ und erst viel später – selbst für Weinberge in der Wachau – Königsurkunden erbaten. Ist daher eine Schenkung von Gütern an ein bayerisches Kloster beispielsweise erst für 864 urkundlich bezeugt, ist es durchaus möglich, dass diese Übertragung schon einige Jahrzehnte zuvor passiert war. Die Schenkungsurkunden an die Hochstifte Salzburg, Passau, Regensburg, Freising sowie für die Klöster Tegernsee, Niederaltaich, Kremsmünster, Herrieden, Mattsee und Moosburg nennen hauptsächlich Orte zwischen den Donaumündungen von Ybbs und Pielach, in der Wachau und vor allem an den beiden Ufern der Traisen von St. Pölten bis zur Donau. Diese Räume waren offenkundig niemals zerstört worden. Gemeinsam mit freien Slawen bauten schließlich bayerische Kolonisten das niederösterreichische Kerngebiet derart aus, dass es nicht nur die Karolingerzeit, sondern auch die Ungarnzeit bis hin zur Mark „Ostarrichi“ überlebte. Wie erwähnt, hatte Karl der Große es den Klöstern nach den Awarenkämpfen uneingeschränkt erlaubt, im neugewonnenen Gebiet Besitz zu erwerben. Für Tegernsee existieren diesbezüglich keine direkten Nachrichten bzw. Urkunden, wobei angemerkt werden muss, dass möglicherweise gar keine Urkunden ausgestellt wurden. Aufgrund jüngerer Quellen kann aber behauptet werden, dass Tegernsee zu Anfang des 9. Jahrhunderts in jenen Gebieten Güter und Rechte erwarb, die auch später den Grundstock der niederösterreichischen Besitzungen des Klosters bildeten: vor allem in der Wachau, vermutlich schon bei Loiben und 4 Vgl. allgemein zu dieser Epoche Herwig Wolfram, Grenzen und Räume. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung (Österreichische Geschichte 378–907), Wien 1995.
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Joching. Hier war Tegernsee in bester – geistlicher – Gesellschaft5. Die Wachau war für die bayerischen Bistümer und Klöster bevorzugtes Siedlungsland – kein Wunder, war diese über die Donau per Schiff auch leicht zu erreichen; außerdem gedieh der Wein damals wie heute vorzüglich. Um das Bild zu vervollständigen, werfen wir einen Blick auf die Nachbarschaft des Klosters Tegernsee in diesem Teil des Donautales. Beginnen wir im heutigen Unterloiben und gehen wir die Donau an ihrem nördlichen Ufer aufwärts. In Oberloiben erhielt das Erzbistum Salzburg Besitz, in und um Weißenkirchen das Bistum Freising, in Joching war Tegernsee selbst anzutreffen, die Gegend von Spitz bis einschließlich des heutigen Aggsbach Markt ging an Niederaltaich. Überqueren wir nun die Donau, so kommen wir nach Melk, wo das Kloster Herrieden begütert war. Schreiten wir am Südufer abwärts, gelangen wir nach einiger Zeit nach Arnsdorf, wo wiederum das Erzbistum Salzburg begütert war. Blickt man von hier über die Donau, so kann man die weiteren Salzburger Besitzungen bzw. jene von Tegernsee in Loiben sehen. Schreiten wir noch ein wenig weiter nach Osten, so gelangen wir nach Mautern, das 893 an Kremsmünster ging. Im Falle Mautern ergibt sich eine interessante Parallele zur Beziehung St. Pölten – Tegernsee – Passau. Mautern wird etwa hundert Jahre später, zu Ende des 10. Jahrhunderts, im Besitz des Passauer Bischofs genannt, ohne einen urkundlichen Nachweis dafür zu haben, ebenso wie 976 das Kloster St. Pölten. Wenn wir uns nun vor Augen führen, was sich in der Zwischenzeit ereignet hatte, werden die Zusammenhänge klar. Tegernsee war durch Herzog Arnulf um 920 zeitweilig (bis ca. 979) säkularisiert worden, Kremsmünster im Ungarnsturm (907/955) zerstört. Nach der Niederwerfung der Ungarn 955 auf dem Lechfeld hatte sich einiges in den Besitzverhältnissen verändert. Kremsmünster wurde Passauer Eigenkloster und Passau eignete sich im Zuge dessen Mautern an. Ebenso scheint es mit St. Pölten passiert zu sein. Entweder kam St. Pölten schon zu jener Zeit, als der Passauer Bischof Hartwig (844–860) Tegernsee als Kommendatarabt verwaltete, an das Bistum oder Passau eignete es sich nach 955 einfach an, da Tegernsee säkularisiert worden war. St. Pölten dürfte in den Expansions- und Missionsbestrebungen der Passauer Bischöfe eine wichVgl. Johann Weissensteiner, Die bayerischen Klöster und Hochstifte und ihre Pfarren in Niederösterreich. In: Helmuth Feigl u.a. (Hrsg.), Die bayerischen Hochstifte und Klöster in der Geschichte Niederösterreichs. Vorträge und Diskussionen des 7. Symposions des Niederösterreichischen Instituts für Landeskunde, Waidhofen an der Ybbs 7. bis 9. Juli 1986 (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 11; zugleich: NÖ-Schriften 29, Wissenschaft), Wien 1989, S. 173–189. 5
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tige Rolle gespielt haben, lag es doch im Zentrum des neu gewonnenen Ostlandes, in dem es galt – in Konkurrenz zu anderen Bistümern – kirchliche Strukturen aufzubauen6. Was waren nun die Folgen der Niederlage gegen die Ungarn und der folgenden Säkularisierung von Tegernsee für das Kloster selbst und seine Besitzungen im Osten. Aus den Quellen wissen wir, dass dem Kloster nicht alle Güter weggenommen wurden, sondern ihm bloß ein wesentlich verringerter Besitz blieb. Es ist also durchaus möglich, dass das klösterliche Leben in Tegernsee nicht vollständig aufgehört hatte, sondern in kleinerer und veränderter Form weitergeführt wurde7. Im Gebiet östlich der Enns, wo seit 907 die Ungarn herrschten, war die Situation verworren. Der Donauhandel kam weitgehend zum Erliegen, vor allem östlich des Wienerwalds gab es kaum mehr Abnehmer. Leute, die östlich der Enns saßen, mussten sich mit den „neuen Hunnen“, wie die Ungarn genannt wurden, arrangieren, sie verloren aber auch nie ganz den Kontakt mit Bayern. Auch was die Besitzstrukturen der bayerischen Klöster in diesem Gebiet betrifft, dürfte in der bisherigen Forschung vieles negativ überschätzt worden sein, denn nach dem Sieg über die Ungarn 955 scheinen diese im Wesentlichen weiterbestanden zu haben. Lediglich Besitzungen von jenen Klöstern, die inzwischen zu bischöflichen Eigenklöstern geworden waren, gingen in die Gewalt des Eigenklosterherrn über. Auf diese Weise scheint Passau – vielleicht schon um die Mitte des 9. Jahrhunderts – in den Besitz St. Pöltens gelangt zu sein. Es wird 976 erstmals überhaupt und im Besitz des Bistums erwähnt. Ob es damals als Kloster überhaupt existierte, sei dahingestellt. Die Nennung als „monasterium“ setzt noch lange nicht die Existenz einer entsprechenden Gemeinschaft voraus; es könnte auch als Bezeichnung für den Güterkomplex gemeint sein. Wie auch immer. Wie Nachrichten des 11. Jahrhunderts entnommen werden kann, war St. Pölten in diesem Jahrhundert jedenfalls vom Benediktinerkloster zum Passauer Kanonikerstift geworden8. Nach der Schlacht auf dem Lechfeld im Jahr 955, bei der die Ungarn besiegt werden konnten, war es notwendig, im wiedergewonnenen Land Schragl (wie Anm. 2) S. 17–19. Vgl. zur Tegernseer Geschichte Willibald Mathäser, Chronik von Tegernsee. Nach alten Dokumenten, aus neueren Quellen, mit persönlichen Bemerkungen zu Vergangenem und über Gegenwärtiges, München 1981, hier S. 39 ff. 8 Schragl (wie Anm. 2) 17–19. – Allgemein zu dieser Zeit Karl Brunner, Herzogtümer und Marken. Vom Ungarnsturm bis ins 12. Jahrhundert (Österreichische Geschichte 907–1156), Wien 1994. 6 7
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im Osten die Strukturen wieder aufzubauen bzw. die Kolonialisierung und Missionierung fortzuführen. Dafür brauchte man funktionierende Klöster, denen aber durch Säkularisation und inneren Verfall die Schlagkraft abhandengekommen war. Diese geistlichen Gemeinschaften spielten trotzdem in den nunmehrigen Expansionsbestrebungen des Reiches gen Osten wie schon in der Karolingerzeit eine starke Rolle. Zahlreiche Ordenshäuser wurden in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts entweder reformiert und zusätzlich bestiftet oder ganz neu gegründet. So geschah es auch in Tegernsee, in dem aufgrund der Säkularisierung ein Klosterleben nach der Ordensregel aufgehört hatte bzw. vernachlässigt worden war. Eine Grundvoraussetzung dafür war die Rückgabe der u. a. von Herzog Arnulf entwendeten Güter, die 976 auf einen seiner Nachfolger auf dem Herzogsstuhl, Otto IV. von Schwaben, übergegangen waren. Bis 979 waren diese Güter wieder an Tegernsee zurückgegeben, im März 978 zogen zwölf Mönche unter der Führung ihres zukünftigen Abtes Hartwig in das Kloster ein. Diese Mönche stammten aus der Abtei St. Maximin in Trier, einem Zentrum der Gorzer Reform in Süddeutschland. In der Folge stellte Kaiser Otto II. das Kloster unter seinen Schutz und gewährte ihm neben allen früheren Privilegien die Reichsunmittelbarkeit, die freie Wahl des Abtes und Zollfreiheit. Dem Abt wurde die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über alle Klostergüter auf alle Zeiten eingeräumt, ebenso wurden dem Kloster alle künftigen Neuerwerbungen schon im Voraus erlaubt. In der Folge blühte Tegernsee wieder auf und wurde eine der bedeutendsten Abteien in Bayern9. Das Kloster war bemüht, seine sämtlichen Besitzungen wieder zurückzuerlangen. Was jene im Osten betraf, scheint es erfolgreich gewesen zu sein, da in den sogenannten Entfremdungslisten aus der Mitte des 11. Jahrhunderts in diesem Gebiet lediglich das Kloster St. Pölten als noch nicht zurückgegeben erscheint. Daraus geht hervor, dass Tegernsee seine Besitzungen in der Wachau zurückerhalten hatte, ebenso scheint es damals Güter an der Erlauf erhalten zu haben. Für das 11. Jahrhundert werden drei große Schenkungen in der östlichen Mark von Bedeutung. Bereits im Jahr seiner Krönung zum deutschen König 1002 schenkte Heinrich II. dem Kloster zwei Hufen in Unterloiben in der Wachau, knapp ein Jahrzehnt später vergrößerte er dessen Besitz im Ennswald bei Strengberg um 60 Königshufen, wofür Tegernsee seine weit entfernt liegenden Besitzungen in Franken und Thüringen abtreten muss9
Mathäser (wie Anm. 7) S. 44.
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te. Die Haustradition erzählte, in Österreich sei damals ein Goldschmied mit Namen Perenger gewesen, der von Otto II. die spätere Herrschaft Strengberg erhalten hätte, jedoch ein geborener Thüringer gewesen sei. Daher veranlasste Heinrich den Gütertausch zwischen ihm und Tegernsee, wodurch das Kloster in den Besitz der Herrschaft Strengberg gelangte und Perenger dessen Thüringer Güter bekam. Wieder knapp ein Jahrzehnt später erfolgte abermals eine Schenkung an das Kloster durch den König, der ihm 1020 fünf Königshufen zwischen Piesting und Triesting übertrug. Diese Güter waren wahrscheinlich zu weit entfernt – sie waren nicht allein über die Donau erreichbar – und lagen zudem in einem Gebiet, das vor eventuellen ungarischen Überfällen noch nicht gänzlich sicher war. So kam es zwischen 1034 und 1041 zu einem Gütertausch mit dem königlichen Vasallen Zontibolt, der dem Kloster dafür Besitz in Schatzhofen übergab10. So bildeten die Besitzungen bei Strengberg und Unterloiben künftig die Kernpunkte des Tegernseer Komplexes in Österreich bis zur Aufhebung des Klosters im Jahr 1803. Das Kloster Tegernsee war im 11. Jahrhundert für seine äußerst hochqualitativen Glas- und Buchmalereien bekannt. Im 12. Jahrhundert scheint dieser Ruf bis nach St. Pölten gedrungen zu sein. Hier herrschte zu diesem Zeitpunkt eine rege Bautätigkeit. Neben einer Leutkirche wurden ein Spital, ein Karner sowie weitere Bauten im Kloster errichtet. Ebenso wurde die Klosterkirche, die schon 1065 zum ersten Mal geweiht worden und vor 1150 abgebrannt war, wieder restauriert und eingeweiht. Dieses Gotteshaus musste in seinem Inneren künstlerisch ausgestaltet werden. Aus diesem Grund ersuchte Propst Heinrich von St. Pölten um 1170 den Tegernseer Abt, ihm einen des Malens kundigen Jüngling zu schicken, der den Schmuck seiner neuen Kirche vollenden sollte. Ob ein solcher schließlich tatsächlich nach St. Pölten kam, oder nicht, geht aus den Quellen nicht hervor. Etwa zur gleichen Zeit ersuchte der Abt von Göttweig seinen Tegernseer Amtskollegen, ihm einige Reliquien zu schicken. Um welche es sich dabei handelte, ist nicht bekannt, jedoch ist zu vermuten, dass der Abt Quirinus-Reliquien wollte, da die Propagierung des Quirinuskultes zu dieser Zeit gerade auf einem Höhepunkt stand. Der Tegernseer Mönch Metellus arbeitete an seinen berühmten Quirinalien und sein Mitbruder Heinrich erarbeitete in der jüngeren Passio S. Quirini eine Kurzfassung desselben in Prosa11. 10 11
Weissensteiner (wie Anm. 3) S. 144–155. Ebd. S. 144–155. – Schragl (wie Anm. 2) S. 20.
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Doch wenden wir uns nun den beiden Zentren der Tegernseer Besitzungen in Niederösterreich zu, der Gegend um Strengberg und jener um Unterloiben. Letztere, die im Gegensatz zu Oberloiben dem Kloster Tegernsee gehörte, war größtenteils 1002 an das Kloster gekommen. Später erhielt der Abt das Recht, hier wie auch in Strengberg die Richter selbst zu ernennen. Der Zehent des Ortes gebührte aber dem Bischof von Passau, der 1263 die Pfarre Stein errichtete, der er das Gebiet von Loiben samt seiner damals wahrscheinlich schon bestehenden Quirinuskirche zuwies. Diese hatte wahrscheinlich nicht den Status einer Filiale von Stein, sondern einer Eigenkirche von Tegernsee. Für eine solche ist 1302 die erste Stiftung bekannt, von Agnes von Asperch, der Gemahlin Leutolds von Kuenring, des Herrn der benachbarten Herrschaft Dürnstein. Irgendwann in den nächsten Jahren wurde Loiben zu einer eigenen Pfarre, deren Patron naturgemäß der Abt von Tegernsee war. Bezüglich der Güter in Unterloiben gab es immer wieder Streitigkeiten mit benachbarten Herrschaften sowie Täusche und Verkäufe, wie sie dem Kloster jeweils günstig erschienen12. Etwas mehr ist zu den Tegernseer Besitzungen im Ennswald bei Strengberg zu sagen. Diese hatte das Kloster im Jahr 1011 von Kaiser Heinrich II. erhalten und sie umfassten das Gebiet der heutigen Marktgemeinde Strengberg mit Ausnahme der Katastralgemeinde Au. Vermutlich wenig später errichtete Tegernsee hier auch eine Kirche, die um 1033 vom Passauer Bischof geweiht wurde. Dieser stattete das Gotteshaus mit den Zehenten aller umliegenden Güter des Klosters aus und verlieh ihr das Taufrecht und vermutlich auch das Begräbnisrecht. Damit waren die Grundlagen für die Entwicklung einer eigenständigen Pfarre mit den entsprechenden Grenzen und einem eigenen Sprengel gelegt13. Bei der Kirche dürfte eine kleinere Gemeinschaft von Mönchen gelebt haben, was die Bezeichnung „cella“ für diese Zeit bis ins 13. Jahrhundert belegt. Das Gotteshaus wurde der Muttergottes geweiht und nicht dem hl. Quirinus, der lediglich an einem Seitenaltar Verehrung fand. Gleichwohl dürfte der Quirinus-Kult nicht unbedeutend gewesen sein, denn als Taufname kommt dieser Name im Mittelalter in der dortigen Bevölkerung häufig vor. Die Pfarre wurde dem Kloster in der Folge jedoch nie inkorporiert, es hatte bis zu seiner Aufhebung lediglich das Patronat inne. Aus dem 16. Jahrhundert ist eine interessante Episode aus Strengberg bekannt: als die Osmanen 1529 im Loiben (Unter-). In: Geschichtliche Beilagen zum St. Pöltner Diözesanblatt XII, St. Pölten 1939, S. 632–633. 13 Weissensteiner (wie Anm. 3) S. 144–155. 12
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Osten Österreichs einfielen, kamen sie auch hierher und wollten die Kirche plündern. Beim Betreten des Gotteshauses begann jedoch die Turmuhr abzulaufen, was die Türken dermaßen erschreckte, dass sie das Weite suchten und das Gotteshaus verschont blieb. Dieses Wunder führte man auf den Schutz des hl. Quirinus zurück, der anscheinend nicht nur in Tegernsee segensreich wirkte14. Der umfangreiche Besitz um Strengberg musste auch verwaltet werden, wozu man einen Herrschaftsmittelpunkt bzw. -sitz benötigte. Die Verwaltung oblag einem weltlichen Pfleger, der den Schutz der Besitzungen und die Rechte des Klosters sicherzustellen hatte. Daher wurde an der Donau bei Achleithen ein entsprechender Sitz erbaut, von dem aus die Administration erfolgte. Dieses Schloss besaß eine Kapelle, die dem hl. Nikolaus geweiht war, ein Patrozinium, das sich durch die Lage an der Donau erklären lässt, denn der hl. Nikolaus gilt ja als Patron der Schiffer. Tegernsee bediente sich beim Gütertransport des Wasserwegs auf Donau und Inn. Das Schloss Achleithen blieb bis ins 18. Jahrhundert der Verwaltungsmittelpunkt Tegernsees im Strengberger Raum15. Trotz allem wirtschaftlichen und kulturellen Reichtum verfiel die Disziplin in vielen benediktinischen Klöstern im Laufe des hohen und späten Mittelalters zunehmend. Für das Kloster Tegernsee stellte das beginnende 15. Jahrhundert einen Tiefpunkt dar. In politische Wirren und Kriege verwickelt, wurde es hart in Mitleidenschaft gezogen, als es 1419 von herzoglichen Truppen überfallen und in Brand gesetzt wurde. Dazu gesellte sich ein völliger Verfall der klösterlichen Ordnung16. Obwohl es so schien, dass man die Probleme in den Benediktinerklöstern nicht in den Griff bekommen könnte, begannen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in der italienischen Abtei Subiaco erste Reformversuche zu greifen. Auf Basis diesbezüglicher Protokolle und verschiedener päpstlicher Erlässe wurde schließlich die Ordnung für dieses reformierte Mönchsleben in Subiaco in den sogenannten Consuetudines Sublacenses, den Sublacenser Gebräuchen, niedergeschrieben. Diese Schrift bildete ab 1418 die Grundlage für das Programm der Melker Reform, das im bayerischen Raum mit Tegernsee als Reformzentrum rezipiert wurde. Durch zahlreiche Visitationen gelang es in den folgenden Jahrzehnten, sowohl in Alois Plesser, Beiträge zur Geschichte der Pfarre Strengberg. In: Geschichtliche Beilagen zu den St. Pöltner Consistorial-Currenden V, St. Pölten 1895, S. 195. 15 Ebd. S 145–217. 16 Mathäser (wie Anm. 7) S. 85 ff. 14
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Österreich, von Melk ausgehend, als auch in Bayern, von Tegernsee ausgehend, die Benediktinerabteien zu reformieren. Dies bewirkte einen regen Diskurs zwischen den Klöstern in geistlicher, theologischer und kultureller Hinsicht. Die Klöster verbanden sich untereinander durch Gebetsverbrüderungen. Die erste Konföderation dieser Art wurde mit dem österreichischen Vorbild in der Reform, mit Melk, geschlossen, zahlreiche weitere folgten im Laufe des 15. Jahrhunderts17. Mit Anfang des 16. Jahrhunderts machte sich im österreichischen Klosterwesen abermals ein gewisser Niedergang breit. Ausgelöst wurde dieser durch die drohende Türkengefahr, die alles lahmlegte und den Klöstern nicht nur finanziell viel abverlangte, sowie durch eine allgemeine Wirtschaftskrise. Dazu kamen ab ca. 1520 die Gedanken der Reformation, die sich rasant ausbreiteten. All das führte zu einer allgemeinen Krise der österreichischen Klöster, so dass sogar so große Häuser wie Göttweig um 1560 gänzlich ausgestorben waren und praktisch wieder neu besiedelt werden mussten. Tegernsee hingegen wurde von diesen Zuständen im 16. Jahrhundert nur wenig erfasst, so dass es für diese Zeit die bedeutendste Reformabtei für Bayern blieb. Dies wirkte auch nach Österreich, wo man sich in einzelnen Klöstern positive Impulse von Tegernsee erhoffte. So schickte der Abt von Mariazell in Österreich 1544 zwei Brüder nach Tegernsee, „dass sie die Observanz und anderen Brauch erlernten.“18 Dies nützte der kleinen Abtei aber nicht viel, da der Nachwuchs trotzdem immer dürftiger wurde, so dass 1564 auch dieses Kloster ausgestorben war. Das Klosterwesen in Österreich begann sich erst im Laufe der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts allmählich wieder zu erholen. Dazu leistete Tegernsee seinen Beitrag, indem es zwecks Reform einen Mönch in das Wiener Schottenstift schickte, der dort das Amt des Priors übernahm, sowie 1597 den Professen Martin Schachenhuber für die Abtei Altenburg als Administrator zur Verfügung stellte. Fünf Jahre zuvor hatte man sich zwecks Reform der Observanz zwei Tegernseer Benediktiner nach Melk eingeladen, was aber nicht unbedingt
Meta Niederkorn-Bruck, Die Melker Reform im Spiegel der Visitationen (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Egänzungsband. 30), WienMünchen 1994. 18 Otto Eigner, Geschichte des aufgehobenen Benedictinerstiftes Mariazell in Österreich, Wien 1900, S. 145. 17
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auf die Gegenliebe der Melker Mönche stieß, die sich lieber aus eigenen Kräften erneuern wollten19. Mit der rigorosen Durchführung der Gegenreformation in Österreich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts konnte eine nahezu hundertprozentige Rückführung der Bevölkerung zum katholischen Glauben erreicht werden, so dass auch die Klöster davon profitierten und ihre Krise endgültig wieder überwinden konnten. Das 18. Jahrhundert brachte immer wieder schwerwiegende Krisen zwischen den einzelnen Mächten, in die auch Bayern und Österreich involviert waren. Natürlich waren in der Folge auch das Kloster Tegernsee und seine Besitzungen in Österreich davon betroffen. Vor allem seien hier die Ereignisse um den Spanischen Erbfolgekrieg kurz nach 1700 und den Österreichischen Erbfolgekrieg zwischen 1740 und 1745 genannt. In beiden Fällen fielen kaiserliche Truppen in Bayern ein und besetzten Teile des Landes. Am schlimmsten aber war das Kloster Tegernsee vom Spanischen Erbfolgekrieg betroffen, der 1701 wegen des Streits der Großmächte Österreich und Frankreich um die spanische Erbfolge nach dem Tod Karls II. von Spanien ausgebrochen war. Bayern schloss ein Bündnis mit Frankreich und wurde so zum Gegner Österreichs. Im Zuge der Kampfhandlungen kam es nach anfänglichen bayerischen Erfolgen im Jahr 1703 zu Einfällen von Tiroler Bauern in Südbayern, unter denen außer den Klöstern Steingaden, Polling und Rottenbuch auch Tegernsee schwer zu leiden hatte. Die österreichischen Güter des Klosters wurden noch dazu im selben Jahr vom Staat konfisziert sowie den Tegernseer Amtleuten auf ihren Gütern sämtliche Korrespondenz mit Bayern verboten. Ebenso durften keinerlei Güter aus den österreichischen Besitzungen nach Bayern ausgeführt werden. Dies galt bis zur Kapitulation Bayerns im November 1704. Danach erhielt das Kloster seine Besitzungen in Österreich wieder zurück und die verhängten Einschränkungen wurden wieder aufgehoben20. Das 18. Jahrhundert zeichnete sich in Bayern und in Österreich durch einen Aufschwung der Klöster in Bautätigkeit, Kunst, Kultur und Wissenschaft aus. Dies führte zu einer intensiven wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Geschichtswissenschaften. In Melk waren in dieser Bezie Ignaz Keiblinger, Geschichte des Benedictiner-Stiftes Melk in Niederösterreich und seiner Besitzungen, 3 Bde., Wien 1851 und 1869. – Geschichtliche Beilagen zum St. Pöltner Diözesanblatt V (1895) S. 145–279, IX (1911) S. 176, XI (1932) S. 428–444, XII (1939) S. 632–634. 20 Mathäser (wie Anm. 7) S. 176–183. 19
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hung die Brüder Bernhard und Hieronymus Pez sehr bedeutend. Sie sammelten zahlreiche alte theologische wie auch historische Texte und gaben diese dann gedruckt heraus. Zu diesem Zweck besuchten sie sämtliche Klöster des süddeutschen Raumes und durchforsteten deren Bibliotheken und Archive nach brauchbarem Material. Im Zuge dessen gelangten sie im Jahr 1717 nach Tegernsee21. In Göttweig beschäftigte sich der Abt Gottfried Bessel mit den Historischen Hilfswissenschaften und der Geschichte seines Hauses. Er hoffte, diese, auf mehrere Bände aufgeteilt, im Druck herausgeben zu können. Tatsächlich schaffte er aber nur den Druck des ersten Bandes, der sich hauptsächlich mit Urkundenlehre und Schriftgeschichte auseinandersetzt. Dieses Werk ist für den deutschen Sprachraum für diese Zeit von größter Bedeutung. Gedruckt wurde es in Tegernsee. Hier hatte Abt Petrus von Guetrather die seit langem bestehende Klosterdruckerei zu neuem Leben erweckt, der, wie er selbst sagte, „nach dem Gottesdienst an nichts eine größere Freude als an ihr“ fand22. Die barocke Bautätigkeit erfasste auch die niederösterreichischen Güter. Nicht nur, dass die Pfarrkirchen in Loiben und Strengberg in ihrem Inneren neu ausgestattet wurden, auch das Schloss Achleithen, das an der Donau lag und der Tegernseeische Verwaltungsmittelpunkt war, wurde zugunsten eines Neubaus weiter im Landesinneren aufgegeben. Am 21. Juni 1728 legte Abt Gregor den Grundstein zum neuen Schloss, das nach den Plänen von Johann Baptist Gunetzrhainer errichtet wurde. Die Schlosskapelle zum hl. Nikolaus besteht im Gegensatz zum Schloss heute jedoch nicht mehr, da sie 1836 abgerissen wurde23. Das Altarbild des hl. Nikolaus, das vermutlich noch aus der alten Schlosskapelle an der Donau stammte, ist aber erhalten und befindet sich heute im Kindergarten in Strengberg. War die Rechtslage bezüglich der Pfarre Strengberg klar, wo der Tegernseer Abt lediglich das Patronat, jedoch nicht die Inkorporation besaß, war dies in Loiben anders. Diese Pfarre war zwar bis ins 18. Jahrhundert hinein stets mit fremden Geistlichen besetzt worden, jedoch betrachtete sie Thomas Stockinger – Thomas Wallnig – Patrick Fiska – Ines Peper – Manuela Mayer, unter Mitarbeit von Claudia Sojer, Die gelehrte Korrespondenz der Brüder Pez. Band 2: 1716–1718. Text, Regesten, Kommentare (Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 2/2/1–2), Wien 2015. 22 Peter G. Tropper, Das Stift von der Gegenreformation bis zur Zeit Josephs II. In: Geschichte des Stiftes Göttweig 1083–1983. Festschrift zum 900-Jahr-Jubiläum (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 94), St. Ottilien 1983, S. 310–311. 23 Mathäser (wie Anm. 7) S. 209. 21
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Tegernsee als inkorporiert, so dass es jederzeit einen eigenen Geistlichen dorthin hätte setzen können. So sorgten im 17. Jahrhundert aufgrund eines Vertrags des Tegernseer Abtes mit den jeweiligen Oberen für einige Zeit die Dürnsteiner Chorherren und zeitweilig die Minoriten von Stein für die Seelsorge. Im Jahre 1695 kam es zu einem Vergleich mit dem Bistum Passau, in dem die Inkorporation anerkannt wurde. Das Kloster verzichtete aber vorerst auf die Besetzung der Pfarre mit eigenen Mönchen. Erst ab 1720 bis zur Aufhebung machte man von diesem Recht Gebrauch. Erster Tegernseer Geistlicher als Pfarrer von Loiben war P. Alphons Hueber, der eifrige Historiograph seines Klosters, der sein Amt als Pfarrer und Verwalter des Tegernseer Besitzes bis 1734 ausübte. In dieser Zeit verfasste er zwei Predigtsammlungen, die er in Krems und Stein drucken ließ. Die Besetzung Loibens mit eigenen Geistlichen sollte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht unproblematisch werden, als die Gedanken des aufgeklärten Staatskirchentums zum Durchbruch gelangten. In dieser Zeit, zwischen 1770 und 1803, hatte sich schon vieles angekündigt, was schließlich den Untergang des Klosters Tegernsee bewirken sollte. Das Mönchtum wurde immer mehr als überflüssig angesehen, alles wurde aus dem Blickpunkt der Nützlichkeit betrachtet, bis hin zum wiederverwendbaren Sarg. Die Kirchenmusik wurde vereinfacht, die Wallfahrten und Bruderschaften verboten, somit jegliche Volksfrömmigkeit auf ein Mindestmaß reduziert; nicht einmal einen Herrgottswinkel durfte man haben, sogar die Zahl der Kerzen am Altar wurde vom Staat vorgeschrieben. Andererseits wurde versucht, eine seelsorgliche Versorgung für alle Staatsbürger zu schaffen, indem das Pfarrsystem reformiert und zahlreiche neue Pfarren gegründet wurden. Auch die Kirchenorganisation wurde vereinfacht, indem man kleinere, überschaubarere Bistümer errichtete. So wurde das Passauer Diözesangebiet auf österreichischem Boden in nunmehr drei Diözesen aufgeteilt. Auf diese Weise gelangten die beiden Tegernseer Pfarren Loiben und Strengberg in die Diözese St. Pölten. So war der Pfarrer von Loiben nun nicht mehr dem Passauer Bischof verantwortlich, sondern dem St. Pöltener. Daneben fielen dem Nützlichkeitsgedanken und der Mönchsfeindlichkeit zahlreiche Klöster zum Opfer. Hatten sich mit dem Regierungsantritt Leopolds II. in Österreich die ärgsten Wogen geglättet und war damit für die meisten österreichischen Klöster die Gefahr der Aufhebung halbwegs gebannt, zogen zur Jahrhundertwende dunkle Gewitterwolken über die so traditionsreichen bayerischen Klöster herauf, als man auch hier konkrete Überlegungen zur Aufhebung der Klöster anzustellen begann und schließ-
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lich auch zur Ausführung brachte. Die rechtliche Grundlage dafür bildete der sogenannte Reichsdeputationshauptschluss, der in Paragraph 35 das Vermögen der ständischen Klöster der landesherrlichen Verfügung überließ. So nahm im Jahr 1803 das so ruhm- und traditionsreiche bayerische Klosterwesen abrupt ein Ende. Sämtliche landständischen Abteien und Propsteien verfielen in der Folge der Aufhebung und Bayern beraubte sich, wie Österreich zwei Jahrzehnte zuvor, seiner größten geistigen und kulturellen Schätze24. Als Folge der bayerischen Säkularisationen zog der österreichische Staat alle in seinem Gebiet liegenden Güter der bayerischen Klöster ein und verleibte sie seinem Ärar ein. So kamen nun auch die Tegernseer Güter in den Besitz des österreichischen Staates, der sie in späterer Zeit teilweise an private Hand weiterverkaufte25. Lediglich in Loiben konnte der Tegernseer Mönch P. Benedict Dusch sein Amt als Pfarrer bis 1818 weiter ausüben und somit die Tradition seines Klosters bis zu diesem Zeitpunkt am Leben erhalten. Was blieb in Niederösterreich vom Kloster Tegernsee außer der Erinnerung? Die Güter befinden sich heute in Privatbesitz. Stille Zeugen aus Stein, Holz, auf Leinwand, Papier oder Pergament künden noch von der mehr als tausendjährigen Tradition, die dieses Kloster mit diesem Land verbindet. Beginnen wir in St. Pölten. Hier befindet sich das zu Anfang erwähnte Gemälde, das die beiden Stifter Adalbert und Ottokar zeigt, eine Form des Gedenkens, die in jüngerer Zeit wieder aufgegriffen wurde. An einem Haus aus der Zwischenkriegszeit befindet sich ein Relief, das die beiden Brüder ebenfalls darstellt. Im Hof des heutigen Bistumsgebäudes und ehemaligen Chorherrenstiftes befindet sich über einer Arkade das Wappen eines Tegernseer Abtes, das aus Loiben stammt. In Loiben selbst erinnert noch die Pfarrkirche an das Kloster und sein seelsorgerisches Wirken. Zahlreiche Grabsteine verstorbener Tegernseer Mönche, die hier als Pfarrer gewirkt haben, tragen das ihre dazu bei. Aus der Inneneinrichtung der Kirche stammt noch das meiste aus Tegernseer Zeit; am markantesten ist ein Gemälde von Martin Johann Schmidt, das die Enthauptung des hl. Quirin zeigt und den Bezug zum Mutterkloster unmittelbar herstellt. An der Straße zwischen Dürnstein und Weißenkirchen befindet sich ein Vgl. dazu Josef Kirmeier – Manfred Treml (Hrsg.), Glanz und Ende der alten Klöster. Säkularisation im bayerischen Oberland 1803. Katalogbuch zur Ausstellung im Kloster Benediktbeuern (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur 21), München 1991. 25 Weissensteiner (wie Anm. 5) S. 186–189. 24
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Bildstock mit einem Gemälde der Heiligen Quirin und Benedikt – ein deutlicher Hinweis auf das dem hl. Quirin geweihte Benediktinerkloster Tegernsee, dessen Wappen unterhalb des Bildes angebracht ist. Aber nicht nur dingliche Quellen erinnern heute noch an das Kloster, auch in so manchem Flurnamen spiegelt sich die alte Beziehung Tegernsees zu Niederloiben, wie etwa am Pfaffenberg östlich von Loiben. Bei Strengberg erinnert noch die Kirche mit ihrer prächtigen barocken Innenausstattung an Tegernseer Zeiten. Am deutlichsten ist die Verbindung zu Tegernsee auf einem Ölbild zu erkennen, das aus der Schlosskapelle von Achleithen stammt und sich heute in der Kapelle des Kindergartens in Strengberg befindet. Dieses stellt den hl. Nikolaus über dem Kloster Tegernsee dar. Dieses Bild ist auch deswegen interessant, weil es eine Ansicht des Klosters aus dem 17. Jahrhundert bietet. Es war dies nur ein kurzer und kursorischer Streifzug durch die gemeinsame österreichisch-bayerische Geschichte. Möge diese durch zahlreiche neue Erkenntnisse in Zukunft weiter bereichert werden!
Das Tor zu den Quellen als Tor zur freundschaftlichen Zusammenarbeit. Dreizehn Jahre Digitalisierung von westböhmischem und bayerischem Archivgut Von Milan Augustin und Karel Halla Unglaublich wie schnell die Zeit vergeht … Wir haben es fast noch nicht bemerkt und es sind mehr als zehn Jahre seit dem Zeitpunkt vergangen, als wir eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit den Staatlichen Archiven Bayerns zu planen anfingen. Es war damals tatsächlich höchste Zeit, denn unsere gegenseitigen Fachbeziehungen hatten praktisch den Gefrierpunkt erreicht und dies, obwohl seit dem politischen Umbruch in der ehemaligen Tschechoslowakei, durch den sich den beiden Seiten nie da gewesene Möglichkeiten boten, bereits volle zwanzig Jahre vergangen waren. Und es gab noch einen weiteren stichhaltigen Grund zum Beginn einer solchen Zusammenarbeit. Mit dem Umbruch wurde nämlich auch die streng überwachte Grenze beseitigt, die die Einwohner der ehemaligen Tschechoslowakei und des Freistaats Bayern getrennt hatte. Solche Beschränkungen kommen weder den Menschen noch der fachbezogenen und wissenschaftlichen Tätigkeit zugute. Deshalb war es dringend notwendig, diese Grenze auch im Bereich der Zusammenarbeit der Archive endlich zu durchbrechen. Po r t a f o n t i u m Nicht nur Bücher, sondern auch Projekte haben ihre Geschichten. Das Projekt Bayerisch-tschechisches Netzwerk digitaler Geschichtsquellen wurde im Großen und Ganzen unauffällig im Frühjahr 2009 ins Leben gerufen. Damals fingen wir als Vertreter des Staatlichen Gebietsarchivs in Pilsen an, die staatlichen Archive Bayerns der Reihe nach zu besuchen und Möglichkeiten einer engeren Zusammenarbeit auszuloten. Als erstes Ziel unserer Besuchsreihe wählten wir das Staatsarchiv Nürnberg aus. Dort wurden wir vom damaligen Direktor Dr. Gerhard Rechter sehr freundlich empfangen. Gleichzeitig wuchs die Hoffnung, Verständnis für unsere Vorstellungen von einer zukünftigen Zusammenarbeit nicht nur bei ihm, sondern auch in weiteren Archiven Bayerns finden zu können. In der Folge besuchten
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wir die Staatsarchive Amberg und Bamberg und endlich das Bayerische Hauptstaatsarchiv in München. Überall wurden wir freundlich empfangen und die Verhandlungen waren immer von einem angenehmen kollegialen Geist geprägt. Nach diesen Erfahrungen hinderte uns dann nichts mehr daran, die fachliche Spitze der Staatlichen Archive Bayerns, die Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, zu kontaktieren und ihre Leiterin Dr. Margit Ksoll-Marcon zu besuchen. An diesem denkwürdigen Tag, dem 16. Juni 2009, erfuhren wir Entgegenkommen und Kollegialität in unerwartetem Ausmaß. Es reichten 10 bis 15 Minuten aus, um die Zusammenarbeit an unserem ersten gemeinsamen grenzüberschreitenden Projekt Bayerischtschechisches Netzwerk digitaler Geschichtsquellen zu vereinbaren. Greifbares Ergebnis dieser Abstimmung wurde das gemeinsame Internetportal, das wir Porta fontium, d.h. Tor zu Quellen, benannten. Mit diesem Label sollte das gemeinsame Ziel beider Parteien signifikant zum Ausdruck gebracht werden: Zugänglichmachung der wichtigsten und am meisten nachgefragten Geschichtsquellen aus den westböhmischen und bayerischen staatlichen Archiven in Form von Digitalisaten, die jedermann ohne zeitliche, geografische oder bürokratische Einschränkungen im Internet zur Verfügung gestellt werden sollten. Für das gemeinsame Projekt wurde ein Vertrag geschlossen: Er wurde am 18. November 2009 für die bayerische Seite von Dr. Margit Ksoll-Marcon, Generaldirektorin der Staatlichen Archive, und für die tschechischen Archive von Mgr. Petr Hubka, Direktor des Staatlichen Gebietsarchivs in Pilsen, unterschrieben. Die Arbeiten zur Digitalisierung ausgewählter Archivalien begannen im Anschluss umgehend. Gegenstand waren zunächst Urkunden, Kirchenbücher, Chroniken und Fotografien, die in der Datenbank Porta fontium der Öffentlichkeit am 22. November 2012 präsentiert wurden. Die Datenbank wurde in der Folge mit weiteren Digitalisaten von Archivalien, z.B. Periodika, Volkszählungsformularen, Urbaren, Stadtbüchern, Verzeichnissen von Kurgästen, Adressenverzeichnissen und weiteren Dokumenten aus Westböhmen und dem bayerischen Grenzgebiet laufend ergänzt. Der Erfolg dieser Bemühungen wird durch die Nutzerzahlen von Porta fontium unterstrichen. Täglich loggen sich ungefähr 1400 Forscherinnen und Forscher auf dem Portal ein; ein besonderer Anstieg zeigte sich in der Phase der Lockdowns und Einschränkungen in der Corona-Pandemie vom 1. Januar 2020 bis zum 31. Mai 2021, die Zahl der täglichen Zugriffe stieg zeitweise bis auf 2630, durchschnittlich betrug sie 1612.
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1. Aktuelle Gesamtübersicht aller Archivalien auf Porta fontium.
2. Anteil der Nutzer auf Porta fontium nach Archivaliengattungen (2014–2021).
3. Anteil der Nutzer auf Porta fontium nach Ländern (2014–2021).
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D e r Ts c h e c h i s c h - b a y e r i s c h e A r c h i v f ü h re r Damit schien das Ziel der Zusammenarbeit zunächst erreicht zu sein. Aber das kennen wir doch alle – eine Antwort regt neue Fragen an und der Wissensdurst ist unersättlich. Schon bei der Erstellung der Datenbasis Porta fontium zeigte sich nämlich, dass Anforderungen der Forschenden bei den digitalisierten Archivalien nicht halt machen werden. Im Gegenteil mehrten sich die Anfragen, welche weiteren Geschichtsquellen aus tschechischen und bayerischen Archiven zur Verfügung gestellt werden könnten. In der Folge ging es nicht mehr nur um die Digitalisierung, sondern nun auch um die Vermittlung möglichst ausführlicher Informationen zu den umfangreichen Archivbeständen, die noch im Halbdunkel der Depots lagen und schon wegen der schieren Menge aller Wahrscheinlichkeit nach nie digitalisiert werden würden. Es wuchs die Absicht, ein Folgeprojekt mit dem Titel Tschechisch-bayerischer Archivführer in Angriff zu nehmen, in welches nun alle staatlichen Archive der Tschechischen Republik und Bayerns einbezogen werden sollten. Letztlich beteiligten sich 90 Archive mit mehr als 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an diesem Projekt. Wesentliches Ziel war es, eine tschechisch-deutsche Internet-Datenbasis zu schaffen, die ausführliche Informationen zu allen Archivbeständen mit sogenannten Bavarica in Staatsarchiven der Tschechischen Republik und sogenannten Bohemica in staatlichen bayerischen Archiven bereithalten sollte. Vereinfacht gesagt sollten Forschende die Möglichkeit haben, über Porta fontium schnell und bequem festzustellen, in welchem konkreten staatlichen Archive beiderseits der bayerisch-tschechischen Grenze sich Archivalien zur böhmischen und bayerischen Geschichte befinden, und das ohne langwierige Korrespondenz führen oder sogar kosten- und zeitaufwendige Archivreisen unternehmen zu müssen. Auf bayerischer Seite wurden die Staatsarchive Amberg, Augsburg, Bamberg, Coburg, Landshut, München, Nürnberg, Würzburg, ferner das Bayerische Hauptstaatsarchiv sowie das Lastenausgleichsarchiv in Bayreuth, eine Abteilung des Bundesarchivs, das ebenfalls bedeutende Bohemica verwahrt, in das Projekt einbezogen. Der Tschechisch-bayerische Archivführer wurde der Öffentlichkeit am 13. Mai 2015 in Amberg in Anwesenheit der Projektpartner und vieler bedeutender Gäste feierlich präsentiert. Angesichts der Tatsache, dass noch fünf Jahre zuvor im Grunde keine ernsthaften Kontakte zwischen den westböhmischen und bayerischen Archiven oder gar eine sinnvolle Zusammenarbeit bestanden hatten, ist die Entwicklung dieses Archivführers
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zweifellos ein weiterer wesentlicher Beitrag, um die gemeinsame Geschichte besser erkunden und studieren zu können. Karten und Pläne zur tschechisch-bayerischen Geschichte Die gemeinsamen Aktivitäten endeten jedoch nicht mit dem Tschechischbayerischen Archivführer. Schon eine gewisse Zeit erkannten wir zusammen mit Dr. Margit Ksoll-Marcon die Notwendigkeit, auch Karten und Pläne besser zugänglich zu machen. Dieses Projekt wurde vom Begleitausschuss im Jahr 2017 genehmigt und sollte zum 31. Dezember 2020 abgeschlossen sein. Durch die Covid-19-Pandemie musste die Fertigstellung des Projektes jedoch bis zum 31. August 2021 verschoben werden. Auch in diesem Fall handelt es sich nicht nur um ein reines Digitalisierungsprojekt. Die Auseinandersetzung mit den modernen Digitaltechnologien zeigte nämlich, dass die konventionelle Nutzung digitalisierter Archivalien, die das sorgfältige Durchgehen und Durchlesen mehrseitiger Texte erforderlich macht, im Grunde überholt ist. Ziel dieses Projektes war es daher, neben der Digitalisierung selbst, den Zugang zu den digitalisierten Archivalien unter Einsatz modernster Informationstechnologien zu verbessern sowie qualitativ, komfortabel und effektiv zu steigern, um nicht nur in den Geschichtskarten oder den Bilddokumenten, sondern quer durch die ganze Datenbasis Porta fontium zu recherchieren. So wird es zum Beispiel möglich, periodische Druckerzeugnisse oder handschriftliche Chroniktexte nach Schlüsselwörtern zu durchsuchen und damit die Auswertung auf diejenigen Seiten einzugrenzen, auf denen das gesuchte Wort vorkommt. Ein Hauptprojektpartner ist die Westböhmische Universität in Pilsen, mit der das Staatliche Gebietsarchiv in Pilsen und die Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns (sie stellen die Datenbasis Porta fontium bereit und stellen die Digitalisierung der Geschichtskarten und -pläne sicher) sowie die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg eng zusammenarbeiten. Wichtige Unterstützung leisten darüber hinaus Fachleute aus dem Westböhmischen Institut zum Schutz und zur Dokumentation der Denkmäler. Ergebnis ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Fachleuten aus der Tschechischen Republik und Bayern aus den Bereichen Geschichte, Archäologie, Denkmalschutz, Kunstgeschichte und Informatik. Die Digitalisierung von tausenden Karten und Plänen bis 1918 fördert erheblich
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die heimatkundliche und wissenschaftliche Forschung zur Geschichte des böhmisch-bayerischen Grenzgebiets. Zukunftsperspektiven Der 10. Jahrestag des Beginns unserer gemeinsamen Projekte war Anlass für eine Jubiläumsfeier am 29. November 2019 im Staatsarchiv Amberg, die auch dazu diente, das bisher Erreichte zu überdenken. Mit Blick auf die zukünftige Zusammenarbeit einigten sich die Beteiligten auf einige mögliche Anschlussprojekte, die die bestehende Plattform Porta fontium sinnvoll erweitern. Aktuell wird ein Projekt mit dem Titel Digitale Hei-
Jubiläumsveranstaltung 10 Jahre bayerisch-tschechische Archivpartnerschaft. Der Festakt fand am 29. November 2019 im Staatsarchiv Amberg statt. V.r.n.l.: PhDr. Milan Čoupek, Stellvertreter des Botschafters der Tschechischen Republik in Berlin, Mgr. Petr Hubka, Direktor des Staatlichen Gebietsarchivs in Pilsen / Plzeň, Dr. Margit Ksoll-Marcon, Generaldirektorin der Staatlichen Archive, Dr. Maria Rita Sagstetter, Leiterin des Staatsarchivs Amberg, Mgr. Milan Augustin, Leiter des Staatlichen Bezirksarchivs Karlsbad / Karlovy Vary und Mgr. Karel Halla, Leiter des Staatlichen Bezirksarchivs Eger / Cheb. (Foto: Sandra Lanz, Staatsarchiv Amberg).
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matkunde vorbereitet. Dabei sollen die bereits digital vorliegenden Quellen unter heimatkundlichen Gesichtspunkten besser zugänglich gemacht werden. Entstehen soll eine topographisch orientierte Struktur, in die die oben erwähnten Quellen aus dem Portal Porta fontium eingebunden werden. Wir wollen die schon digitalisierten Quellen zum Einsatz bringen und sie in einen im Voraus vorbereiteten heimatkundlichen Rahmen, der auf den schon veröffentlichten und von uns aktualisierten Arbeiten aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beruht, einfügen. Somit schafft man eine topographisch orientierte Struktur, zu der die bereits oben erwähnten Quellen aus dem Portal Porta Fontium hinzukommen. Neben diesem heimatkundlichen Teil ist eine stärkere Einbindung der Allgemeinheit geplant. Dieses Vorhaben soll ähnlichen Prinzipien folgen wie die Wikipedia- oder „citizen science“-Projekte und der Öffentlichkeit die Möglichkeit bieten, ihre eigenen Texte, Erkenntnisse, Bilddokumente usw. auf Porta fontium hochzuladen. Diese Grundüberlegung bedarf jedoch noch der Verfeinerung und wird ganz sicher noch Teiländerungen erfahren. Außer Archivarinnen und Archivaren werden daran wieder IT-Spezialisten, Pädagoginnen und Pädagogen, Vertreterinnen und Vertreter von Universitäten aber auch Repräsentantinnen und Repräsentanten von Landsmannschaften und Museen zu beteiligen sein. Weitere interessante Projektthemen bieten sich etwa im Bereich der Wirtschaftsgeschichte. Die im Rahmen der laufenden Digitalisierung von Karten und Plänen erfassten Forst- und Revierkarten können für Forschungen zum Bayerischen Wald und zum Böhmerwald genutzt werden. Das reiche Netz der Handelswege einschließlich des Goldenen Steiges stellt ebenfalls einen sehr interessanten Forschungsgegenstand dar. Mit Blick auf die Grenzregion bieten sich weitere attraktive Themen wie Bergbauwesen, Glashüttenwesen, Badewesen, Auswanderung aus wirtschaftlichen oder religiösen Gründen als Einstieg in die schon jetzt vorhandenen Quellenbestände aber auch für deren gezielte Ergänzung an. Unsere Zusammenarbeit muss dabei nicht unbedingt auf die digitale Zugänglichmachung von Quellen beschränkt bleiben. Vielmehr haben wir vor, unseren Fokus auf die Bestandserhaltung zu legen und durch gemeinsame Projekte z.B. die Restaurierung und Konservierung des archivischen Kulturerbes zu intensivieren. Denkbar sind darüber hinaus Fachkonferenzen oder Workshops zu allen der oben erwähnten Themen in Zusammenarbeit mit akademischen Einrichtungen, Lehrstühlen für Regional-
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Verleihung der Medaille für Verdienste um das tschechische Archivwesen an Dr. Margit Ksoll-Marcon am 1. Oktober 2019 in Prag. V.r.n.l.: Dr. Petr Mlsna, Stellvertretender Innenminister der Tschechischen Republik, Dr. Margit Ksoll-Marcon, Mgr. Jiří Kaucký, Staatssekretär im Innenministerium (Foto: C MVČR Hynek Mojžíš).
geschichte einzelner Universitäten und den Museen. All diese Tätigkeiten können somit zur Verbesserung der Kenntnisse von der Archivarbeit und den Archiven im Allgemeinen beitragen. Wir glauben fest daran, dass die langjährigen Bemühungen zahlreicher Archivarinnen und Archivare sowohl auf tschechischer als auch auf bayerischer Seite weiterhin für die Öffentlichkeit nicht nur interessante neue Erkenntnishorizonte eröffnen werden, sondern auch Freude, Belehrung und Eifer für ein tieferes Studium der Landeskunde in den Böhmischen Ländern sowie im benachbarten Bayern bringen.
Ego-Dokumente im Archiv. Das Familienarchiv von Schiber – Ergebnis einer Leidenschaft Von Christoph Bachmann Der Begriff der Ego-Dokumente wird erstmals durch den niederländischen Historiker Jacques Presser im Jahr 1958 eingeführt. Sie wurden als Texte definiert, in denen der Autor „schreibendes und beschreibendes Subjekt“ in einem ist. Demzufolge sind Ego-Dokumente Quellen, in denen Selbstwahrnehmung und Darstellung des historischen Subjekts in seinem Umfeld zum Ausdruck kommen. Dies kann in freiwilliger oder unfreiwilliger Form erfolgen, das heißt, in direkten Texten wie beispielsweise in Autobiographien, Tagebüchern und Briefen oder aber in nicht zur individuellen Überlieferung geplanten Äußerungen im administrativen Kontext, wie etwa in Zeugen- oder Beschuldigtenvernehmungen. Diese Überlegungen vom enger gefassten Begriff des Selbstzeugnisses erweiterte Winfried Schulze auf „alle jene Quellen …, in denen ein Mensch Auskunft über sich selbst gibt, unabhängig davon, ob dies freiwillig – also etwa in einem persönlichen Brief, einem Tagebuch, einer Traumniederschrift oder einem autobiographischen Versuch – oder durch andere Umstände bedingt geschieht“1. Schulzes Definition wurde insbesondere aufgrund der „kategoriellen Vermischung von freiwilligen und unfreiwilligen Aussagen zur Person und damit von selbstverfassten Texten und Verwaltungsschriftgut“ eher kritisch rezipiert2. Allerdings hatte Schulze konkret die illiteraten Bevölkerungsgruppen der Vormoderne im Fokus, die er mit seiner Definition für die Forschung greifbarer machen zu können glaubte3. Legt man Winfried Schulze, Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung „Ego-Dokumente“. In: Winfried Schulze (Hrsg.), EgoDokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2), Berlin 1996, S. 11–30, hier S. 21. 2 Andreas Rutz, Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen. In: zeitenblicke 1 (2002), Heft 2, S. 4 unter: https://www.zeitenblicke.de/2002/02/rutz/index.html (Aufruf vom 3.4.2020). 3 Ulrich Leitner, Ego-Dokumente als Quellen historischer Bildungsforschung. Zur Rekonstruktion von Bildungsbiographien ehemaliger weiblicher Heimkinder der Fürsorgeregion Tirol und Vorarlberg. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 29 (2016), Heft 2, S. 253–265, hier S. 255 unter: https://www.budrich-journals.de/index.php/bios/article/view/31891 (Aufruf vom 3.4.2020). 1
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Benigna von Krusenstjerns Definition des Selbstzeugnisses als „selbst verfaßt, in der Regel auch selbst geschrieben (zumindest diktiert) sowie aus eigenem Antrieb, also ‚von sich aus‘, ‚von selbst‘ entstanden“ zugrunde, so kann man vier Typen von Selbstzeugnissen, die freilich auch in Mischformen auftreten können, unterscheiden: 1) „Egozentrische“ Zeugnisse, in denen der Bezug auf das Ich zentral ist und den überwiegenden Teil des Inhalts eines Textes ausmacht; 2) Texte, in denen das Ich über sich selbst berichtet, aber auch darüber, was es interessiert, beschäftigt oder berührt; 3) Texte, in denen das Ich zugunsten des größeren Zusammenhangs zurücktritt und 4) Texte, die nur mehr bedingt als Selbstzeugnis anzusehen sind, da hier kein explizites Selbst mehr wahrzunehmen ist.4 Stattdessen erscheint ein implizites Ich, etwa in Gestalt eines Stadtchronisten. Zu diesen Ego-Dokumenten zählen damit Briefe, Tagebücher, Autobiographien, Fotos, Notizen, Chroniken und ähnliches. Genau diese Quellengruppen sind in dem im Jahr 2013 vom Staatsarchiv München aus dem Besitz des Wolfgang von Schiber als Schenkung übernommenen Familienarchiv von Schiber in überreichem Maß durch zwei Jahrhunderte hindurch enthalten. Bereits bei der ersten Sichtung vor Ort stellte sich heraus, dass es sich hier um einen bedeutenden und außergewöhnlichen Fund handelt. Bei der Erschließung entpuppte sich das Archiv als wahrer Glücksfall und wohl einmaliger Textkorpus. Die erste Besonderheit war, dass der Eigentümer und Familienarchivar, Wilhelm von Schiber, für sein Archiv spezielle Holzkisten nach eigenen Vorstellungen hatte anfertigen lassen, die dann auch mit römischen Ziffern nach Sachgruppen gegliedert sind. Gleich die ersten Akten förderten schier Unglaubliches zutage: Unterlagen über die Tektonik des Archivs, die Gliederung nach familiengeschichtlichen Themen, die Aufbewahrung des Archivs in Holzkisten, Entwürfe für den Schreiner zur Anfertigung eigener Archivmöbel und schließlich die Nummernbücher. In diese Bücher sind die über 25.000 Schriftstücke bzw. Archivalieneinheiten, die im Familienarchiv überliefert sind, mit fortlaufenden Nummern eingetragen und auch zusätzlich der Vermerk angebracht, unter welchem „Sachaktenzeichen“ das jeweilige Schriftstück abgelegt ist. Auch die Aktenzeichen selbst haben eine eigene Struktur erhalten, überwiegend nach genealogischen Gesichtspunkten. Ferner existiert auch eine Archivbenutzungsordnung Benigna von Krusenstjern, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellen kundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag 2 (1994) S. 462–471, hier S. 470. 4
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Unterlagen über die Tektonik des Archivs (Staatsarchiv München, Familienarchiv v. Schiber 639).
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und ein nach farblichen Merkmalen abgestuftes Ordnungsschema für das Familienarchiv. Der Schöpfer dieser umfassenden Ordnung war Wilhelm von Schiber (1889–1963), der Vater des Schenkers. Er war ein gebürtiger Münchner, machte auf dem Münchner Theresiengymnasium sein Abitur, studierte anschließend in Heidelberg, München, Kiel und Erlangen Rechts- und Staatswissenschaften und war anschließend aktiver Kriegsteilnehmer von 1914 bis 1918.5 Aus dieser Zeit existieren rund 1000 Feldpostbriefe von ihm und an ihn. Darüber hinaus führte er ein Kriegstagebuch, das der passionierte Zeichner gelegentlich mit Skizzen anreicherte. Doch nicht genug damit: Zum Kriegstagebuch sind noch vier Anlagenbände erhalten, in denen Wilhelm von Schiber alles sammelte, was ihm während seines Kriegsdienstes wichtig und dokumentationswürdig erschien: Postkarten zu den Einsatzorten, Fotografien der Truppe, von Kampfflugzeugen, Panzerzügen, Ortschaften und Gebäuden der jeweiligen Einsatzorte, Einsatzbefehle, Eintrittskarten, Notgeld, Speisekarten der Offizierskasinos usw. Nach dem Ausscheiden aus der Armee fand er bei der Bayerischen Versicherungskammer eine Stelle als Regierungsrat und heiratete 1934 Margarete Fischer. Mit dem Kriegsausbruch 1939 wurde er erneut eingezogen und kam als Ortskommandant der Ortskommandantur I/635 in den Norden von Frankreich. Nach Kriegsende und einer halbjährigen Internierung nahm er nach einiger Zeit und längeren Auseinandersetzungen mit der Militärregierung schließlich wieder seine Arbeit bei der Bayerischen Versicherungskammer auf. Während seines gesamten Lebens war Wilhelm von Schiber darum bemüht, sein Familienarchiv zu ordnen und mit Dokumenten zu ergänzen, die ihm von Verwandten übereignet wurden, die er diesen aktiv „abzunehmen“ verstand oder die er nach einer Ausleihe einfach seinem Archiv einverleibte. Er pflegte einen umfangreichen Briefwechsel mit sämtlichen Verwandten, näheren und weiteren Familienangehörigen, vor allem über genealogische und familienkundliche Fragen. In erster Linie aber bemühte er sich um die Erstellung umfangreicher Stammtafeln und Stammreihen zu seinen Vorfahren, wobei er viel Geld für Auftragsarbeiten von Genealogen ausgab, die ihm entsprechende Quellenauszüge und Abstammungsnachweise lieferten. Diese wurden aus Archivalien unterschiedlichster Provenienz geschöpft. Er selbst konnte sich dieser Aufgabe nicht immer mit der ihm wünschenswerten Intensität widmen, kamen ihm doch, wie er an Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Offizierspersonalakten 12736.
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das Staatsarchiv Amberg einmal ironisch schrieb, bei dem stets geplanten Archivbesuch zwei Weltkriege dazwischen. Auf diese Weise entstanden zahlreiche Familienakten mit Auszügen aus Kirchenbüchern, Heiratsprotokollen, Personalakten, Fotografien, Originalbriefen, komplett ausgearbeiteten Stammreihen, Wappenzeichnungen, Siegelabdrücken, aber auch Haarlocken, alles nach dem von ihm ausgearbeiteten Schema geordnet. Besonders herausragend sind jedoch seine Tagebücher, die von 1889 bis 1959 lückenlos vorliegen. Dabei handelt es sich nicht um Tagebücher im klassischen Sinn, sondern um tatsächliche Traditionsquellen, denn die Tagebücher sind mit Registern versehen, weisen keinerlei Korrekturen auf – wurden also nach einem Entwurf ins Reine geschrieben – und sind mit einer kaum fassbaren Fülle von Dokumentationsmaterial wie Fotografien, Zeichnungen, Billets, Karten, Zeitungsausschnitten, Prospekten usw. angereichert. So finden sich darin u.a. Zeichnungen des Flugzeugs von Louis Blériot, das in München in der Karlstraße am 16. Februar 1910 zu sehen, und des Flugzeugs der Gebrüder Wright, das am 5. April 1910 in Riem ausgestellt worden war6. Auch der erste Flug des Zeppelins „Z1” über München am 1./2. April 1909 ist durch eine Fotografie dokumentiert, ebenso wie die Gedenkveranstaltung am Münchner Odeonsplatz am 9. November 1933. Aber auch alltägliche Dinge wurden dokumentiert7, die für die damalige Zeit neu waren: Ein Plakat aus dem Jahr 1952 zur Einführung von Zebrastreifen in München8, ein für die damalige Zeit neuartiges 3-D-Comic mit entsprechender Brille oder Fotos vom zerstörten München. Nach Kriegsende wurde Schiber bis 1946 im US-Internierungslager Camp 8 in Garmisch-Partenkirchen festgehalten. Für diese Zeit gibt es eigene Tagebücher, die das Leben im Camp Garmisch-Partenkirchen festhalten. Minutiös dokumentierte Wilhelm von Schiber auch seine Auseinandersetzungen mit der Militärregierung und sein Spruchkammerverfahren. Somit liegt hier der Glücksfall vor, dass nicht nur der offizielle Verfahrensakt überliefert ist9, sondern auch die Verteidigungsstrategie des Beschuldigten nachvollzogen werden kann. Ausgangspunkt seines Verfah Staatsarchiv München (StAM), Familienarchiv v. Schiber 280, fol. 17 und 28. StAM, Familienarchiv v. Schiber 279. 8 Cornelia Oelwein, Sicher über die Straße. In: Unser Bayern. Heimatbeilage der Bayerischen Staatszeitung 66 (2017), Heft 3,4, S. 10–11; hier eine Abbildung des im von Schiberschen Tagebuch eingeklebten Plakats über die Einführung der Zebrastreifen in München 1952. 9 StAM, Spk K 1602 (Wilhelm von Schiber). 6 7
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Seite aus Tagebuch von 1910 (Staatsarchiv München, Familienarchiv v. Schiber 280, fol. 17).
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Seite aus Tagebuch von 1910 (Staatsarchiv München, Familienarchiv v. Schiber 280, fol. 28).
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Seite aus Tagebuch von 1910 (Staatsarchiv München, Familienarchiv v. Schiber 280, fol. 210).
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Seite aus Tagebuch von 1911 (Staatsarchiv München, Familienarchiv v. Schiber 280, fol. 226).
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rens war der Meldebogen, in dem er Mitgliedschaften beim Reichsluftschutzbund, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und dem Reichsbund der deutschen Beamten (RDB) angab. Ebenfalls gab er seinen militärischen Einsatz als Major der Reserve und Kommandeur der OK I/635 (Béthune/Frankreich) und seine Tätigkeit beim Luftgaukommando VII in München ab 1944 an. Seine berufliche Karriere führte ihn vom Regierungsrat bei der Bayerischen Versicherungskammer im Jahr 1938 zum Regierungspräsidium Oberbayern und schließlich ab August 1945 als Regierungsdirektor zum Bayerischen Staatsministerium des Innern. In einer Nachmeldung gab er bekannt, vergessen zu haben, anzugeben, dass er sich im Jahr 1938 als Parteianwärter beworben hatte, was bei der Militärregierung zu Schwierigkeiten und schließlich am 5. Oktober 1945 zu seiner Versetzung in den Wartestand führte10. Schiber, der bestens vernetzt war, steuerte diesen Schwierigkeiten durch Aktivierung seiner Kontakte entgegen. So überzeugte er den Polizeipräsidenten Pitzer, den er aus seiner Zeit vom Luftgaukommando VII her kannte, im Oktober 1945 bei Innenminister Seifried zu seinen Gunsten zu intervenieren. Diese Intervention war allerdings vergebens, denn am 20. Oktober 1945 erfolgte der automatische Arrest, am 27. Oktober 1945 die Dienstenthebung auf Befehl der Militärregierung und am 31. Oktober 1945 die Verschubung in das Camp Garmisch-Partenkirchen. Aus seinen Tagebüchern geht in der Nachschau sein Verhaftungsgrund hervor: Wie er am 9. Mai 1946 bei einer Vorsprache bei der Militärregierung in der Reichszeugmeisterei in der Tegernseer Landstraße in München-Harlaching erfuhr, bestand dieser darin, dass er während der NS-Zeit „Town councillor“, also Landrat, gewesen sei und somit automatisch Mitglied der NSDAP gewesen sein musste11. Am 15. April 1946 wurde Wilhelm von Schiber von Camp 8 in Garmisch-Partenkirchen wieder entlassen und begann unmittelbar danach, seine Rehabilitation und Wiedereinstellung in den Staatsdienst zu betreiben. Dabei diente ihm als Hauptargument, dass seine „Haft nicht mit irgend einer Naziqualität begründet werden [kann], sondern nur mit ‚Regierungsdirektor‘, d.h. weil ich höherer Beamter bin … Ich bin aber nicht Regierungsdirektor von Hitlers Gnaden, sondern bin von der nach der Besatzung vom Military Gouvernment eingesetzten rechtmäßigen Regierung vom 10.8.1945 zum Regierungsdirektor befördert worden,
StAM, Familienarchiv v. Schiber 225. StAM, Familienarchiv v. Schiber 303, S. 10.
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weil es so gar nicht belastete Beamte wie mich kaum gab“12. Wilhelm von Schiber hatte damit Erfolg, denn die Militärregierung erkannte an, dass seine Entlassung aus dem Staatsdienst und seine Inhaftierung irrtümlich damit begründet worden war, dass er wegen der geplanten Verwendung als Landrat von Schrobenhausen als NS-belastet galt. Tatsächliche sollte von Schiber 1935 zum Landrat von Schrobenhausen ernannt werden, was aber letztendlich an seiner Nichtparteizugehörigkeit scheiterte. Dies wurde ihm auch zum Verhängnis, da die Militärregierung davon ausgegangen war, dass Beamte in hohen Positionen automatisch eine Parteizugehörigkeit aufweisen mussten. Am 15. Juni 1946 hob die Militärregierung den Entlassungsbescheid nach einer persönlichen Vorsprache auf13 und am 2. Juli 1946 konnte von Schiber seinen Dienst wieder antreten. Parallel dazu bereitete sich von Schiber auf das anstehende Spruchkammerverfahren vor und bediente sich dabei der Hilfe von Rechtsanwalt Dr. Karl Roesen in Garmisch-Partenkirchen. Als Jurist und höherer Verwaltungsbeamter wusste er, was auf ihn zukommen würde, weshalb er sich umfangreich informierte und sich Gedanken zu allen Eventualitäten machte und dies schriftlich fixierte, nämlich in Form einer Beweisschrift über seine Tätigkeit während der NS-Zeit als Beamter und Offizier, über die Ungerechtigkeit des Gesetzes vom 5. März 1946, über seinen Adel, seine Position als Parteianwärter und das Ausfüllen des Meldebogens. Hier ging es vor allem um ein heute nicht mehr überprüfbares Ereignis aus dem Frühjahr 1938, das von Schiber noch länger beschäftigen und ins Zentrum seiner Verteidigungsstrategie rücken sollte. Im Frühjahr 1938 wollte der NS-Gauleiter Adolf Wagner ein größeres Grundstück am Chiemsee erwerben. Diesem Kauf hatte von Schiber aufgrund der Verordnung über den Verkehr mit landwirtschaftlichen Grundstücken und in seiner Eigenschaft als Mitglied des Regierungspräsidiums bei der Regierung von Oberbayern die notwendige Zustimmung versagt, weil Wagner kein Landwirt war. Dies soll den Gauleiter so geärgert haben, dass er von Regierungspräsident Heinrich Gareis angeblich den Namen des Sachbearbeiters verlangte, wobei Gareis sich jedoch schützend vor Schiber stellte. Allerdings soll ihm daraufhin nahegelegt worden sein, einen Aufnahmeantrag bei der NSDAP zu stellen, um sich vor weiteren Angriffen besser schützen zu können. Aus diesem Grund wollte von Schiber im Mai 1938 einen Antrag zur Aufnahme in die Partei stellen, wie er selbst in seinem Nachtrag zum Meldebogen erwähnt. StAM, Familienarchiv v. Schiber 303, S. 34. StAM, Familienarchiv v. Schiber 303, S. 44.
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Der Antrag wurde allerdings nicht weiter bearbeitet, weshalb Schiber kein Mitglied der NSDAP wurde. Im Juni 1946 verfasste er insgesamt acht Briefe an ihm wohlgesinnte Personen, auf die er immerhin fünf eidesstattliche Versicherungen zurückerhielt. Um auch hier nichts dem Zufall zu überlassen, hatte er seine Bitte mit entsprechenden Worten in die ihm nützlichste Formulierung zu lenken versucht, denn nach einer längeren Einleitung über seine Tätigkeit als reiner Befehlsempfänger, kam der entscheidende Hinweis auf die inhaltliche Gestaltung der Zeugnisse: „Über den Inhalt des Zeugnisses spreche ich Wünsche aus, ohne Sie beeinflussen zu wollen oder zu dürfen; es ist Ihrem Belieben, sich danach zu richten und sie zu verwerfen …“ Um dann noch den letzten Schliff in die ausschlaggebenden Zeugnisse zu bringen, erfolgten zum Teil auch nachträgliche Korrekturen: „Leider muss ich Sie auf Ansuchen meines Rechtsanwalts bitten, das Zeugnis noch zu vervollkommnen. Er meint, es müsse für Dritte lesbar sein, daß keine Rückfragen nötig sind … Ich habe mir erlaubt, eine neue Fassung als Entwurf beizufügen“. Daraus geht klar hervor, dass von Schiber die eidesstattlichen Versicherungen ganz in seinem ihn entlastenden Sinne vorformuliert und schließlich in dieser Form so der Militärregierung übergeben hat. Allerdings kam das Verfahren nicht in Schwung und wurde über ein Jahr ausgesetzt; erst Ende 1947 wurde es mit dem Erlass eines Sühnebescheides wieder aufgenommen. Demzufolge wurde von Schiber in die Gruppe der Mitläufer eingestuft und mit einer Geldsühne von 800,– RM bestraft. Gegen diesen Bescheid legte von Schiber Berufung ein und beauftragte Rechtsanwalt Siegfried Neuland in München mit seiner Vertretung. In diesem Zusammenhang wandte sich von Schiber am 15. Dezember 1947 auch an den ehemaligen Regierungspräsidenten von Oberbayern, Heinrich Gareis, mit der Bitte, eine von ihm vorgefertigte eidesstattliche Erklärung zu unterzeichnen. Auch hier gab es wieder zwei deutlich voneinander abweichende Fassungen, denn die erste Fassung war zu revidieren, da es darauf ankam „darzutun, dass ich wegen meiner Nichtzugehörigkeit zur Partei wiederholt, nicht Ihrerseits, sondern bei Gauleiter und Ministerium, unter Druck stand“. Um diesem zu entgehen, habe von Schiber den Eintritt in die Partei verfolgt. Der mangelhaft ausgefüllte Eintrittsantrag hätte zu einer dilatorischen Behandlung des Antrags geführt, der letztendlich unbearbeitet blieb, weshalb er nie den Status eines Anwärters bekommen habe, so dass Beiträge hätten entrichtet werden müssen. Die Argumentation wirkte, denn am 30. Januar 1948 entschied die Spruchkammer München VI, dass „der Genannte … vom Gesetz überhaupt nicht betrof-
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fen [ist] und deshalb das gegen ihn schwebende Verfahren gem. Art. 41 eingestellt“ wird14. Neben seiner Leidenschaft für sein Familienarchiv widmete sich von Schiber der Schriftstellerei. So verfasste er – meist unter dem Pseudonym Wilhelm Burkhardsberg, dem Herkunftsort der ersten greifbaren Vorfahren – zahlreiche genealogische und familiengeschichtliche Arbeiten, zum Teil auch umfangreicher Natur, wie „Die Ahnen des Wilhelm von Schiber“ (1932), die „Münz- und Schaumünzkunde für Familienforscher“ (1937), „Die von Steinsdorf“ (1930), „Die Ernst von Hagsdorf“, „Die Ernst aus Vohburg und ihr Verwandtschaftskreis“ (1931), „Die Nachfahren des Johann Baptist Simon Ritters von Schiber aus dem Haus Burkhardsberg“ (1957) und nicht zu vergessen seine „Vorarbeiten zur Familienchronik“ (1911 bis 1917). Darüber hinaus beteiligte er sich an zahlreichen Preisaufgaben, schrieb die Gedichtzyklen „Rote Blätter“, „Natur und Erotik“ und „Revolutionszyklus“ sowie zahlreiche weitere nicht in Zyklen zusammengefasste Gedichte und Kurzgeschichten, die sich meist unpubliziert in seinem Familienarchiv finden. Wilhelm von Schiber dürfte seine Leidenschaft für die Familie und auch sein Bildungsstreben – er sprach fließend Englisch, Französisch und Italienisch, worin er in seiner Jugend sogar seine Tagebücher schrieb – von seinem Vater Franz Xaver von Schiber (1834–1920) vererbt bekommen haben. „Xavier“ oder „Boraxl“, wie dessen Kosenamen lauteten, war ebenfalls Jurist und hätte aufgrund seiner ausgezeichneten Noten eine große Karriere im diplomatischen Dienst machen können. Er blieb jedoch zeitlebens, auf ausdrücklichen Wunsch seines Vaters, im bayerischen Verwaltungsdienst. Ab April 1868 war er zunächst als jüngster bayerischer Bezirksamtsassessor in Pfarrkirchen tätig, dann in Fürth, Wasserburg und Berchtesgaden und von 1878 bis 1888 als Bezirksamtmann in Lindau. Nur ungern verließ er das geliebte Lindau Richtung München, doch seine angeschlagene Gesundheit ließ einen Rückzug ins Privatleben ratsam erscheinen. Er musste sich einer Behandlung in der Nervenheilanstalt Neuwittelsbach in München unterziehen und widmete sich ganz seinen selbstgewählten Aufgaben, primär der Herausgabe eines italienischen Wörterbuchs. Die Ablehnung des Lexikons durch die Verlage bescherte ihm erneut eine weitere schwere persönliche Enttäuschung. Daneben spielte er Gitarre und Klavier, so dass sich in seinem Nachlass auch eine Reihe von Noten und Liedern, vor allem für die Gitarre, finden lassen. Darüber hinaus enthält StAM, Spk K 1602 (Wilhelm von Schiber).
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das Familienarchiv seine umfangreichen Tagebuchserien mit dem Titel: „Private und politische Tagebücher“ (1854–1887) sowie zahlreiche Briefe und Fotografien, eine Visitenkartensammlung und Skizzenbücher. Seine beruflichen „Mißerfolge“ hinterließen tiefe Wunden bei Franz Xaver von Schiber, die letztendlich in einer Autobiographie mit dem Titel „Notizen zur eigenen armseligen Biographie“ mündeten15. Verheiratet war er mit seiner Cousine, Sophie Maillinger (1865–1951), die aus Landau in der Pfalz stammte. Nach dem Umzug der Familien nach München im Jahr 1877 gehörte sie zum engsten Freundeskreis der Familie Barlow (Barlow-Palais, später Braunes Haus). Dort lernte sie auch Franz Xaver von Schiber kennen, den sie 1888 heiratete. Über Sophie von Schiber kam auch ein großer Teil des Nachlasses, der die Familie Maillinger betrifft, zum Familienarchiv hinzu, u.a. die Tagebücher des „Capitaine Joseph von Maillinger vom 1. May 1810 bis Februar des Jahres 1812 vor dem Ausbruch des russischen Krieges, ferner die Feldzüge in Rußland 1812 und in Franken 1813 und 1814, samt entsprechenden Anlagen“16. Auch Sophie Maillinger (1865–1951) führte seit 1904 bis zu ihrem Tod Tagebücher. Nennenswerte Teile des Familienarchivs stammen sogar von früheren Schiber-Generationen: den Eltern des Franz Xaver von Schiber, nämlich Gustav Achilles von Schiber und seiner Frau Caroline Baumüller. Gustav Achilles, genannt „Gustl“, wurde 1812 in Amberg geboren. Sein Vater, Johann Baptist Simon Ritter von Schiber, war zu dieser Zeit Justiziar am Appellationsgericht in Amberg. Nach dessen Ernennung zum Generalfiskalrat 1819 zog die Familie nach München, wo Gustl die Kadettenschule besuchte17. 1831 wurde er Junker im Infanterie-Leib-Regiment und heiratete 1833 im Münchner Dom Caroline Baumüller. Da Gustav ein äußerst begabter Zeichner und Bastler war, fertigte er zur Hochzeit für seine Braut den überlieferten „Nähzeugtempel“. Seiner beruflichen Karriere kamen seine Fertigkeiten vor allem im technischen Zeichnen sehr entgegen, wurde er doch 1842 ins „Topographische Bureau“ versetzt, das zu diesem Zeitpunkt genau dort untergebracht war, wo heute sein schriftlicher und zeichnerischer Nachlass verwahrt wird: Im Staatsarchiv München, dem ehemaligen Kriegsministerium.
StAM, Familienarchiv v. Schiber 175. StAM, Familienarchiv v. Schiber 521, 522. 17 BayHStA, Offizierspersonalakten 69161. 15 16
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Nach weiteren Karrieresprüngen zum Hauptmann und Major schied er 1863 aus dem Dienst aus. Im privaten Bereich zeigten sich Gustav, Caroline und „Xavier“ sehr reiselustig, verbrachten sie doch viel Zeit auf Sitz Ramsdorf in Niederbayern, der ihrem Freund Ludwig Freiherrn von Verger gehörte und von Gustav mehrfach in seinen zahlreichen Skizzenbüchern verewigt ist18, sowie im Chiemseeraum. Darüber hinaus befinden sich noch mehrere Ölbilder aus seiner Hand im Familienbesitz. Seiner geselligen Ader folgend, war er Gründungsmitglied des HarbniOrdens (1850), einer Gesellschaft wider den tierischen Ernst, dem eine Reihe bekannter Münchner Persönlichkeiten angehörten, z.B. Max von Pettenkofer19. Auch hierzu findet man im Familienarchiv eine reiche Überlieferung. Er war auch der erste in der Familie, der aufgrund seiner persönlichen Bekanntschaft mit Franz Xaver Gabelsberger und seinem besonderen Faible für die Kurzschrift diese verwendete, wie dies später vor allem auch der Archivgründer Wilhelm von Schiber exzessiv tat. Seine Ehefrau Caroline Baumüller widmete sich nach der Hochzeit der Kindererziehung und dem Haushalt. Sie bereicherte das Familienarchiv mit ihrem Freundschaftsalbum, das, neben schönen Miniaturen und Sinnsprüchen, einen umfangreichen Freundes- und Familienkreis dokumentiert. Der Vater von Achilles und Stammvater der heutigen Linie von Schiber war Johann Baptist Simon Ritter von Schiber (1770–1836) aus Burkhardsberg in der Oberpfalz (Landkreis Schwandorf ). Nach dem Studium der Jurisprudenz und der Promotion in Ingolstadt war er zunächst Landkommissar in München, ab 1804 Landesdirektionsrat zu Amberg. Seit 1808 war er Kronfiskal beim Appellationsgericht in Amberg, stieg dann 1819 zum Generalfiskalrat in München und 1826 zum Kronanwalt beim Kgl. Staatsministerium der Finanzen auf. 1836 starb Johann Baptist von Schiber in München. Auch von ihm sind einige Originale im Familienarchiv überliefert. Vor allem ein Briefwechsel gegen Ende des 18. Jahrhunderts verdient hier Erwähnung. Darüber hinaus wurden zahlreiche Archivalien aus dem Staatsarchiv Amberg, dem Staatsarchiv München und dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv zum Teil wörtlich abgeschrieben bzw. exzerpiert und liegen dem Personenakt Johann Baptist Simon Ritter von Schiber bei20.
StAM, Familienarchiv v. Schiber 123–127. StAM, Familienarchiv v. Schiber 117. 20 StAM, Familienarchiv v. Schiber 92 und 94. 18 19
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Neben den zahlreichen „Ego-Dokumenten“, wie den Tagebüchern und Briefen, den Freundschaftsalben und Skizzenbüchern, bildet eine ungewöhnlich umfangreiche Fotothek den krönenden Abschluss des Familienarchivs. In zwei Kartotheken sind Fotografien von allen Familienangehörigen aus allen Familienzweigen enthalten. Die ältesten Aufnahmen stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich hier also nicht nur um eine für die Familiengeschichte höchst bemerkenswerte Quelle, sondern auch um eine Quelle, die von hoher technikgeschichtlicher Bedeutung ist, da sie den Einfluss der Technik auf das Standes- und Selbstbewusstsein des Bildungsbürgertums dokumentiert. Das „Familienarchiv von Schiber“ lädt somit Kulturhistoriker, Genealogen und kulturgeschichtlich Interessierte ein, der großen Zeit dieser bürgerlichen Familie aber auch ihren Niedergang anhand seiner eigenen Quellen nachzugehen. Es ist eine Fundgrube von unschätzbarem Wert. Zum Familienarchiv gibt es ein umfangreiches und detailliert gegliedertes Findbuch, das im Repertorienzimmer des Staatsarchivs München und online über die Findmitteldatenbank der Staatlichen Archive Bayerns einsehbar ist21.
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https://www.gda.bayern.de/findmitteldb/Findbuch/82178 (Aufruf vom Frühjahr 2022).
Die Kooperation der Ausbildungseinrichtungen (KoA) und der Deutsche Qualifikationsrahmen Archiv Von Irmgard Christa Becker Die Kooperation der Ausbildungseinrichtungen (KoA) in informeller, aber regelmäßiger Form ist ein Novum im deutschen Archivwesen. Ziele der Kooperation sind, einen regelmäßigen Austausch über aktuelle Fragen der Ausbildung zu etablieren, die vielfältigen Fragestellungen der Qualifizierung über die Ausbildung hinaus zu erörtern und eine gemeinsame Basis für die Weiterentwicklung der Qualifizierung im deutschen Archivwesen zu schaffen. Die Kooperation der drei Ausbildungseinrichtungen im deutschen Archivwesen begann mit einer Idee und einem Telefonat.1 Nachdem ich im März 2010 Leiterin der Archivschule geworden war, führte mich Karsten Uhde in das vielfältige Geflecht der Kontakte der Archivschule zu anderen Ausbildungseinrichtungen im deutschen und internationalen Archivwesen ein. In diesem Zusammenhang betonte er, dass es auf der informellen Ebene schon seit längerer Zeit einen konstruktiven Dialog mit den Dozentinnen und Dozenten des Fachbereichs Informationswesen der Fachhochschule Potsdam zu Ausbildungsfragen gäbe und auch zur Archivschule in München Kontakte bestünden. Die drei Ausbildungseinrichtungen begegnen sich auch auf Tagungen im nationalen und internationalen Rahmen und allein schon auf dieser Ebene seien konstruktive Kontakte entstanden. Gleichzeitig zeigte die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt für ArchivarinNeu war für mich auch die Quellenlage dieses Beitrags. Es ist mein erster Aufsatz, der fast ausschließlich auf digitalen Quellen beruht. Die Kommunikation der KoA läuft über E-Mails, Telefon- und Videokonferenzen und Sitzungen mit physischer Anwesenheit der Teilnehmerinnen. Alle Texte sind am Computer erstellt und existieren fast ausschließlich als Dateien, die E-Mails werden nur zum Teil ausgedruckt. Nach meinen ersten Recherchen in der Registratur der Archivschule, meinem E-Mail-Account und dem einschlägigen Ordner auf dem Server konnte ich feststellen, dass die erste E-Mail vom 17. Dezember 2010, mit der ich zum Aufbau der KoA einlud, als einzige Quelle nur als Ausdruck vorhanden ist. Alle anderen Quellen sind entweder in meinem E-Mail-Account, auf dem Server der Archivschule oder im Internet zu finden. Für mich ist das einmal mehr ein Beleg für die Bedeutung der digitalen Archivierung. Diese Quellenlage bedeutet für den vorliegenden Beitrag, dass mit wenigen Ausnahmen nur die im Internet genutzten Quellen in Anmerkungen belegt werden können. 1
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nen und Archivare, dass die drei Ausbildungsreinrichtungen die Nachfrage nach qualifizierten Archivarinnen und Archivaren nicht hinreichend bedienen können. Bei dieser Diskussion ging es nicht nur um Absolventenzahlen der grundständigen Ausbildung, sondern auch um die Frage, welche flankierenden Angebote und Materialien für die Qualifizierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Archiven bereitgestellt werden können. Aufgrund dieses Fragenkomplexes wurde die Idee der stärker formalisierten Kooperation der Ausbildungseinrichtungen entwickelt. In einem Telefongespräch mit Hartwig Walberg, Fachhochschule Potsdam, im Sommer 2010 bin ich mit dieser Idee auf Zustimmung gestoßen. Im Dezember 2010 habe ich die Initiative wieder aufgenommen. In einer E-Mail vom 17. Dezember 20102 habe ich Hartwig Walberg und der Generaldirektorin der Staatlichen Archive Bayerns, Margit Ksoll-Marcon, als Leiterin der Bayerischen Archivschule, vorgeschlagen, die Kooperation mit der Erarbeitung gemeinsamer Lehrmaterialien zu beginnen. Dieser Vorschlag geht auf das 15. Archivwissenschaftliche Kolloquium zurück, bei dem Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Bundesländern den Wunsch geäußert hatten, dass die Archivschule Lehrmaterialien nach dem Vorbild der Ausbildungseinrichtungen in der DDR publiziert, mit denen eine Qualifizierung im Selbststudium oder in Fernstudiengängen möglich sein sollte. Da die Archivschule eine solche riesige Aufgabe nicht allein bewältigen kann, lag es nahe, diesen Wunsch in die KoA einzubringen. Anfang Januar 2011 erhielt ich eine zustimmende Rückmeldung von Frau Ksoll-Marcon. Es dauerte aber noch mehr als ein Jahr, bis ich die Idee weiterverfolgen konnte. Im März 2012 begannen die Vorgespräche für ein Treffen im August oder September oder alternativ beim Deutschen Archivtag in Köln. Im Verlauf der Terminabstimmung, die zu einem Treffen beim Archivtag führte, gab Hartwig Walberg die Aufgabe an Karin Schwarz ab. In dieser Besetzung: Irmgard Christa Becker, Margit Ksoll-Marcon und Karin Schwarz tagt die KoA seit dem Kölner Archivtag regelmäßig mit einem bis zwei Treffen im Jahr, die abwechselnd in Marburg, München und Potsdam stattfinden. Bei Bedarf oder wenn spezielle Kenntnisse gefragt sind, werden auch weitere Teilnehmer hinzugezogen, z.B. Sabine Frauenreuther von der Bayerischen Archivschule, Hans-Jürgen Höötmann vom LWL-Archivamt und Vertreter der FAMIs. Die Idee, mit der Erarbeitung von Lehrmaterialien zu beginnen, stieß zunächst auf Zustimmung. Voraussetzung dafür war eine Verständigung 2
E-Mail vom 17.12.2010, AZ: 63.61 in der Registratur der Archivschule Marburg.
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darüber, zu welchen Lehrinhalten Lehrmaterialien erarbeitet werden sollten. Denn die drei Ausbildungseinrichtungen sind unterschiedlich ausgerichtet und haben deshalb verschiedene Lehrinhalte. Ausgehend von dieser Überlegung hatte ich 2010 den Entwurf einer Liste der Fachaufgaben, auf die sich die Lehrmaterialien beziehen sollten, erarbeitet, der auf dem Berufsbildpapier des VdA basierte. Im Verlauf der ersten Diskussionen zu diesem Entwurf im Februar 2013 kamen wir zum Schluss, dass wir mit dem Entwurf und dem Berufsbildpapier allein nicht weiterkommen würden. Frau Schwarz machte dann den Vorschlag, sich am Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) zu orientieren. Eine Recherche zu Bedeutung, Funktion und Inhalt des EQR ergab, dass es auf der Basis des EQR auch einen Deutschen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen gibt. Dieser wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Kultusministerkonferenz gemeinsam verantwortet. Das operative Geschäft liegt in den Händen der Bund-Länder-Koordinierungsstelle für den Deutschen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen. Das DQR-Handbuch3 wurde zur Orientierungsgrundlage für die weitere Arbeit der KoA, die sich damit vom ursprünglichen Ziel, gemeinsame Lehrmaterialien zu erarbeiten, erst einmal weit entfernte. Die Erarbeitung des Qualifikationsrahmens, die damit zusammenhängende Diskussion und die Entwicklungen im deutschen Archivwesen hat allen Beteiligten gezeigt, dass diese Diskussion und ihr Ergebnis notwendig sind, um auf einer gemeinsamen Basis die Qualifizierung im deutschen Archivwesen voranzubringen. Was ist der deutsche Qualifikationsrahmen? Dazu versuche ich die Darstellung auf der Homepage des DQR zusammenzufassen:4 Ein Qualifikationsrahmen ist eine systematische Beschreibung der Qualifikationen eines Bildungssystems auf der Grundlage von Niveaus. Durch die Niveaus wird erkennbar, welches Wissen der oder die Inhaberin einer Qualifikation hat, was er aus seinem Fachbereich versteht und wie er handeln kann. Basis der Beschreibung ist die Zuordnung von Lernergebnissen zu den QualiHandbuch zum Deutschen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen, hrsg. von der Bund-Länder-Koordinierungsstelle für den Deutschen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen, Stand 1.8.2013: https://www.dqr.de/dqr/shareddocs/downloads/media/content/ dqr_handbuch_01_08_2013.pdf?__blob=publicationFile&v=1 (aufgerufen am 30.1.2022). Recherchehilfe: Die in diesem Beitrag zitierten Publikationen der DQR Koordinierungsstelle befinden sich zum Zeitpunkt des Aufrufs im Download-Bereich der Homepage des DQR: https://www.dqr.de (aufgerufen am 30.1.2022). 4 https://www.dqr.de (aufgerufen am 30.1.2022). Die Zusammenfassung wurde zum Teil aus der Startseite und zu anderen Teilen aus den Unterseiten der Homepage erarbeitet. 3
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fikationsniveaus. Im deutschen Qualifikationsrahmen sind wie im europäischen Qualifikationsrahmen acht Qualifikationsniveaus definiert. Ziel des deutschen Qualifikationsrahmens ist es, Transparenz zu schaffen und die deutschen Qualifikationen mit denen aus den anderen europäischen Ländern vergleichen zu können. Im Inland soll mit dem Qualifikationsrahmen die Gleichwertigkeit von allgemeiner, beruflicher und hochschulischer Bildung gestärkt werden. Qualifikationen sollen an Kompetenzen und Qualifikationsprozesse an Lernergebnissen ausgerichtet werden. Damit sollen Qualitätssicherung und Durchlässigkeit im Bildungswesen unterstützt werden. Ziel ist es auch, die Anerkennung von nicht-formal und informell erworbenen Kompetenzen zu stärken und damit das lebenslange Lernen zu unterstreichen. Der deutsche Qualifikationsrahmen ist wie der europäische ein orientierender Qualifikationsrahmen, der der Transparenz und der Vergleichbarkeit von Qualifikationen dient. Aus der Zuordnung einer Qualifikation zu einem Qualifikationsniveau erwächst deshalb kein Anspruch auf Zugang zu Qualifikationsangeboten oder zu Stellen, die durch Tarif- oder Laufbahnrecht reguliert sind. Aus der Sicht des Archivwesens bietet der Qualifikationsrahmen die Chance, die Kompetenzen zu definieren, die erforderlich sind, um archivarische Fachaufgaben adäquat zu erfüllen. In den ersten Entwürfen, beginnend ab 2013, haben wir uns an den drei Säulen des europäischen Qualifikationsrahmens orientiert, diese aber ergänzt, um die Arbeit zu erleichtern. Es entstanden die Säulen Wissen, Vorkenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenz, wobei Kompetenz die Säule Verantwortung und Selbständigkeit umfasste. Die Säule Vorkenntnisse diente als Hilfskonstruktion, um die Zusammenhänge zwischen den Aufgaben deutlich zu machen, z.B. sind für die Überlieferungsbildung Kenntnisse über Schriftgutstrukturen erforderlich, die wir als Vorkenntnisse eingeordnet hatten. Mit der Erarbeitung des Qualifikationsrahmens war auch ein Erkenntnisprozess in Hinblick auf die Definition von Qualifikationen verbunden. Insbesondere haben wir immer wieder über den Inhalt der Begriffe Wissen, Fertigkeiten und Kompetenz diskutiert. Nach zwei Jahren war die Überzeugung gereift, dass wir mit dem Vier-Säulen-Modell des DQR besser zurechtkommen würden als mit den drei Säulen des EQR. Im DQR werden die Merkmale von Qualifikationen unter dem Oberbegriff der „Kompetenz“ zusammengefasst: „Er bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, Kenntnisse, Fertigkeiten sowie persönliche, soziale und methodische Fähigkeiten in Arbeits- oder Lernsituationen und für die berufliche und persönliche
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Entwicklung zu nutzen.“ Im DQR erfolgt eine weitere Unterteilung dieses Begriffs in „Fachkompetenz“ und „personale Kompetenz“. „Fachkompetenz“ umfasst wiederum die Aspekte Wissen und Fertigkeiten: „Fertigkeiten können wie im EQR praktischer oder kognitiver Natur sein. Neben instrumentellen Fähigkeiten werden systemische (kreative) Fähigkeiten einbezogen. Die Fähigkeit, Arbeitsverfahren und Ergebnisse zu beurteilen, wird explizit berücksichtigt.“ Die „personale Kompetenz“ beinhaltet ihrerseits die beiden Säulen „Sozialkompetenz“ und „Selbständigkeit“: „Der Bereich der personalen Kompetenzen schließt neben Selbständigkeit und Verantwortung Team- und Führungsfähigkeit, die Fähigkeit zur Mitgestaltung von Lern- und Arbeitsbereichen, Kommunikation, Reflexivität und Lernkompetenz ein. Kompetenz wird in diesem Sinne als umfassende Handlungskompetenz verstanden.“5 Der Umstieg auf das Modell des DQR hatte zur Folge, dass wir die Säule Vorkenntnisse 2015 aufgegeben und in die Säule Wissen integriert haben. Die methodischen Kompetenzen, die sich vorher in den Säulen Wissen und Fertigkeiten befanden, haben wir konsequent in die Säule Fertigkeiten überführt. Durch die Zuordnung der beiden Säulen „Wissen“ und „Fertigkeiten“ zur Rubrik „Fachkompetenz“ wurde für uns viel deutlicher als im EQR, welche Qualifikationsmerkmale in den beiden Säulen zu definieren sind. Durch die Aufnahme der Rubrik „personale Kompetenz“, eingeteilt in die Säulen „Sozialkompetenz“ und „Selbständigkeit“, konnten wir diese Merkmale sehr viel klarer als vorher von den „Fertigkeiten“ unterscheiden. Die Nutzung des Vier-Säulen-Modells des DQR hat zu einer erheblichen Qualitätsverbesserung des Entwurfs geführt. Fachlich ist der DQR Archiv in die Grundlagen, die Querschnittsaufgaben und acht Fachkompetenzen unterteilt. Die Grundlagen umfassen Methoden- und Sprachkompetenzen, Archive, Archivwissenschaft und verwandte Fachgebiete, Berufsbild und Ausbildung, Recht und Ethik, Archivalien und Archivbau. Die Querschnittsaufgaben beinhalten Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Verwaltung und Management und Personal. In den Fachkompetenzen sind Records Management und Schriftgutverwaltung, Überlieferungsbildung und Bewertung, Übernahme, dauernde Aufbewahrung und Bestandserhaltung, Alle wörtlichen und sinngemäßen Zitate aus: Deutscher EQR-Referenzierungsbericht, hrsg. vom BM für Bildung und Forschung und der KMK, 8.5.2013, S. 53 f. https://www. dqr.de/dqr/shareddocs/downloads/media/content/deutscher_eqr_referenzierungsbericht.pdf?__ blob=publicationFile&v=1 (aufgerufen am 30.1.2022). 5
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Erschließung, Nutzung, Auswertung und Historische Bildungsarbeit zusammengefasst. Eingerahmt werden die Kompetenzen von einer Einführung, in welcher der DQR Archiv in den Deutschen Qualifikationsrahmen eingeordnet wird, und von Informationen und Literatur zum DQR. Ab 2015 bezogen wir Vertreter der FAMIs in die Diskussion ein, um auch die Qualifikationen unterhalb des Hochschulniveaus zu definieren. Der Entwurf des DQR Archiv umfasst damit die Niveaus 4 (FAMI), 6 (Bachelor, Diplom-Archivar (FH)) und 7 (Master und Referendariat) des DQR.6 Der Entwurf ist inzwischen so weit gediehen, dass wir ihn in die Gremien des deutschen Archivwesens eingebracht haben. Im Oktober 2020 hat Margit Ksoll-Marcon den DQR Archiv in der KLA zur Diskussion gestellt. Dazu sind fünf überwiegend positive Stellungnahmen eingegangen. Im Unterausschuss Aus- und Fortbildung der BKK stieß der Entwurf im Dezember 2020 ebenfalls auf positive Resonanz. Die Corona-Pandemie erschwert derzeit die Diskussion mit den Gremien. Im Jahr 2021 konnte die Diskussion über den DQR mit dem Arbeitskreis Ausbildung und Berufsbild des VdA geführt werden. Die KoA plant, den Entwurf nach Abschluss der Diskussion in den Fachgremien und anschließender Überarbeitung gemeinsam über die zuständigen Ministerien bei der Bund-Länder-Koordinierungsstelle DQR einzureichen. Wenn dieser Prozess erfolgreich abgeschlossen wird, haben wir für die Qualifizierung im deutschen Archivwesen eine verlässliche Grundlage, wenn auch mit Empfehlungscharakter, geschaffen. Diese bietet viele Vorteile: Einstellende Archive können bei Bewerberinnen und Bewerbern mit Qualifikationen, die nicht an einer der drei deutschen Ausbildungseinrichtungen erworben wurden, aufgrund des Qualifikationsrahmens eine archivfachliche Einordnung der nachgewiesenen Qualifikation durchführen, um eine korrekte tarifliche Einstufung vorzunehmen. Unabhängig von dieser archivfachlichen Zuordnung ist zusätzlich eine tarifrechtliche oder laufbahnrechtliche Beurteilung der Qualifikation erforderlich. Absolventen der deutschen Ausbildungseinrichtungen können mit Hilfe des DQR und seiner Übersetzungsfunktion zum EQR ihre eigene QuaDabei ist zu berücksichtigen, dass die Koordinierungsstelle die Fachangestelltenausbildung schon dem DQR zugeordnet hat. Sie ist in der Liste der zugeordneten Qualifikationen enthalten: https://www.dqr.de/dqr/shareddocs/downloads/media/content/2021_dqr_liste_ der_zugeordneten_qualifikationen_01082021.pdf?__blob=publicationFile&v=1 (aufgerufen am 30.1.2022). 6
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lifikation im europäischen Rahmen einordnen, wenn sie eine Stelle im Ausland annehmen möchten. Die drei Ausbildungseinrichtungen haben die Möglichkeit, künftig ihre Qualifikationsangebote auf der Grundlage des DQR weiterzuentwickeln. Sie können ergänzend zu den grundständigen Ausbildungsgängen Fortund Weiterbildungsangebote entwickeln und anbieten. Sie haben damit außerdem eine Basis für die Erarbeitung von Lehrmaterialien geschaffen. Mit dem DQR Archiv schaffen die drei deutschen Ausbildungseinrichtungen eine verlässliche Grundlage, um den vielfältigen Herausforderungen in der Qualifizierung im deutschen Archivwesen wie dem demografischen Wandel und der Anpassung an die digitale Welt erfolgreich zu begegnen. Damit können wir nach rund zehn Jahren an den Anfang der Initiative zurückkehren und die Kooperation auf dieser Basis ausbauen.
Was heißt „Sammeln“ im digitalen Zeitalter? Bemerkungen aus bibliothekarischer Perspektive Von Klaus Ceynowa Di e Bi b l i o t h e k a l s Sa m m l u n g Es scheint sich von selbst zu verstehen: Große Universalbibliotheken wie die Bayerische Staatsbibliothek sammeln. Sie tun dies oft seit vielen Jahrhunderten, denn sie verstehen sich als Gedächtnisinstitutionen in einem emphatischen Sinne: in ihnen „materialisieren“ sich Wissen und Erkenntnis der Menschheit, in ihnen werden sie aufbewahrt „für ewige Zeit“. Manfred Sommer hat dies in seinem Buch „Sammeln. Ein philosophischer Versuch“ so ausgedrückt: „Das unterscheidet … die Sortimentsbuchhandlung von der Bibliothek wie von der bibliophilen Kollektion: Dort kommen die Dinge und gehen auch wieder, hier aber bleiben sie, nachdem sie gekommen sind. Dort bedeutet Anwesenheit einen zeitweiligen Aufschub des Verschwindens, hier ist sie der unbefristete Aufenthalt. Stau im Durchfluss versus permanente Präsenz.“1 Eine Universalbibliothek ist damit ein Maximalprogramm in Sachen Nachhaltigkeit, und damit – so möchte man meinen – per se schon auf der Höhe der Zeit. Nun mag man einwenden, dass sich in der Rede vom „Sammeln“ und „Bewahren“ nur die altzopfige Sehnsucht nach dem gedruckten Buch und zugleich die Furcht einer verstaubten Zunft vor den Zumutungen des Digitalen zum Ausdruck bringe, eben das Beharren auf dem „bedruckten Totbaum“ als vermeintlichem Arkanum unseres abendländischen Kulturverständnisses. Diese Einschätzung könnte falscher kaum sein: Das Sammeln und Bewahren findet keineswegs sein privilegiertes Objekt im gedruckten Buch, sondern setzt sich Eins-zu-Eins in der digitalen Welt fort. Die „Sammlung“ als jahrhunderte-, ja jahrtausendelang grundlegende Kategorie bibliothekarischen Handelns wird dabei ganz pragmatisch als systematisch angelegter, fachlich oder thematisch strukturierter Wissenskorpus verstanden.
Manfred Sommer, Sammeln. Ein philosophischer Versuch, Frankfurt am Main 1999, S. 85. 1
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Ma t e r i a l i t ä t d e r Sa m m l u n g Die Materialität dieses Wissenskorpus ist der Bibliothek im Prinzip gleichgültig. Im Zuge der digitalen Transformation verliert – gerade auch in den Geisteswissenschaften – sowohl der „Text“ wie auch das „Buch“ seine privilegierte Rolle als alleiniger Bezugspunkt der Bibliothek. Diese kann damit „ideologisch“ auch nicht mehr als Bollwerk gegen vermeintliche Verwerfungen der Buch- und Lesekultur durch empfundene digitale Bedrohungen konzipiert werden. Die Sammlungen der Bibliothek umfassen selbstverständlich Inhalte beliebiger Materialität: digitale und analoge, elektronische und gedruckte, textuelle und multimediale, statische und dynamische Informationsressourcen. Die Trägermedien, in denen das Leben des Geistes überhaupt erst tradierbar wird, sind der Bibliothek hingegen buchstäblich „gleichgültig“: Palmblätter, Pergament, Papier, Petabyte – als Überlieferungsform des Gedachten ist ihr alles recht. Bernhard Fabian hat bereits 1983 in seiner epochemachenden und auch heute noch unbedingt lesenswerten Studie „Buch, Bibliothek und geisteswissenschaftliche Forschung“ den Anspruch des Sammlungshandelns insbesondere der geisteswissenschaftlichen Forschungsbibliothek aus dem spezifischen Charakter des geisteswissenschaftlichen Arbeitsprozesses herzuleiten versucht: „Als geisteswissenschaftliches Laboratorium muss die Forschungsbibliothek auf den prekären Charakter des Forschungsprozesses abgestellt sein. Sie muss dem Forscher erlauben, seinen spontanen Einfall mit größtmöglicher Effizienz am empirischen Material zu überprüfen. Sie muss ihn zudem in die Lage versetzen, eine Fragestellung durch die Primär- und Sekundärliteratur verfolgen zu können – gleichviel wohin der Weg führt.“2 Fabian ist sehr bewusst, dass damit die Bereitschaft zur Übernahme einer langfristigen und nicht delegierbaren Ressourcenlast angesprochen ist: „Die Ausrichtung auf den Eventualfall, der in der Forschung der Normalfall ist, unterscheidet die Forschungsbibliothek von der gewöhnlichen wissenschaftlichen Bibliothek. Der Literaturbedarf ist in Qualität und Quantität nicht vorhersehbar …“3
Bernhard Fabian, Buch, Bibliothek und geisteswissenschaftliche Forschung. Zu Problemen der Literaturversorgung und der Literaturproduktion in der Bundesrepublik Deutschland (Schriftenreihe der Stiftung Volkswagenwerk 24), Göttingen 1983, S. 34. 3 Ebd. 2
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Vo r l a u f e n d e s Sa m m l u n g s h a n d e l n Die Verfolgung einer Forschungsfrage „gleichviel wohin der Weg führt“ ist jedoch nur möglich, wenn die Bibliothek hinsichtlich ihrer gedruckten wie digitalen Bestände in quantitativer wie qualitativer Hinsicht derart ausgestattet ist, dass sie ihrem Nutzer einen solchen „Weg“ überhaupt eröffnen, mehr noch: ihn zu einer „Grand Tour“ einladen kann. Zu diesem Zweck muss das Sammlungshandeln der Bibliothek vorlaufend und exhaustiv sein, nicht nachlaufend und substitutiv. Die Ausrichtung auf den „Eventualfall, der in der Forschung der Normalfall ist“ erzwingt für die Forschungsbibliothek ein Sammeln in größtmöglicher Breite und Tiefe gemäss ihres spezifischen Profils. Ein bloß „auf Nachfrage“ arbeitendes, auf aktuell gängige Forschungsparadigmen lediglich reagierendes oder auf das Füllen von Versorgungslücken abzielendes Erwerbungshandeln dagegen kann strukturell allenfalls für reine Gebrauchs- und Campusbibliotheken handlungsleitend sein, nicht jedoch für Forschungs- und Universalbibliotheken. Formal bedeutet dieses Commitment zum Bereithalten einer auf explorative Forschung angelegten Sammlungsumgebung immer und unausweichlich die Übernahme einer langfristigen Ressourcenverantwortung für die Sammlungsgegenstände: Bücher werden gekauft und auf Dauer magaziniert, digitale Objekte und Datenbestände lizenziert, für den dauerhaften Zugriff gehostet und langzeitverfügbar archiviert (Stichwort: Forschungsdaten), offene, frei im Netz angebotene Inhalte gespeichert, migriert und emuliert. Die Forschungsbibliothek definiert sich wesentlich über die Eignerschaft und permanente Verfügbarkeit ihrer Sammlungsobjekte. Denn immer geht es beim Sammeln (des Gedruckten wie Digitalen) um den Besitz, das Eigentum am Sammlungsinhalt im Interesse seiner „immerwährenden“ Verfügbarkeit und Abrufbarkeit in gegenwärtig oft noch gar nicht absehbaren Nutzungsszenarien. Forschungsbibliotheken kooperieren daher vorzugsweise – sei es ganz banal über Dokumentlieferdienste oder über anspruchsvolle digitale Shared Services – mit anderen Forschungsbibliotheken, die in vergleichbarer Form auf Nachhaltigkeit verpflichtet sind und damit die Permanenz des gemeinsam Unternommenen zusichern können. Damit verbieten sich auch die zur Zeit so viel diskutierten Entlastungsstrategien: Die Forschungsbibliothek ist kein Akteur der Externalisierung der Ressourcenlast des Sammelns. Das beschriebene Nachhaltigkeitsversprechen bedeutet monetär betrachtet nichts anderes als die Bereitschaft
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zur Übernahme langfristig indisponibler Fixkosten. Dem entledigt man sich mancherorts gern durch den Verweis, dass im Netz doch Information und Wissen „frei“ und „offen“ verfügbar seien. Für den Wissenschaftler – also den „Endnutzer“ der Bibliothek – soll dies auch so sein. Für die Bibliothek selbst aber ist es keineswegs so, denn selbst der geharvestete „freie“ Webinhalt verursacht, wenn er in die Prozesse seiner Speicherung und Langzeitsicherung hineingezogen wird, signifikante Folgekosten. Jede Entlastungsstrategie, die sich dem mühsamen Geschäft des Sammelns entziehen möchte, unterschlägt genau dies: there’s no such thing as a free lunch, es wird eben nur „ein anderer“ in die Ressourcenverantwortung genommen. Content in Context Sammeln und Service dürfen bei alldem nicht als Gegensätze verstanden werden: Für die im emphatischen Sinn als Sammlung verstandene Bibliothek ist Innovation, und zwar primär technologische Innovation, essentiell. Ihre Sammlungsbestände – gleichgültig welcher Materialität – sind das eine, oft hochspezifische Dienste, mit denen der Wissenschaftler insbesondere digitale Inhalte und Daten für sich „arbeiten lassen“ kann, das andere. Hierzu zählen zum Beispiel Self-Service-Plattformen, die umfassende Korpora digitaler Volltexte für quantitative Textanalysen bereitstellen, virtuelle Forschungsumgebungen, die weltweit verteilte, digitalisierte Handschriften und Quellensammlungen an einem Arbeitsplatz zusammenführen, Software zur Bildähnlichkeitsanalyse, die in Sekundenschnelle Millionen illustrierter Buchseiten auswertet oder anspruchsvolle Verfahren wie Hyperspectral-Imaging zur kunsttechnologischen Analyse mittelalterlicher Codices. Die Bibliothek ist also, wenn man sie nicht rein sammlungsbezogen, sondern ebenso sehr servicebezogen denkt, durchaus eine dezidiert technologiegetriebene Einrichtung. Als ihr Mantra kann die Formel vom „Content in Context“ gelten, sei es als komfortabel ausgestatteter Arbeitsplatz vor Ort oder als anspruchsvolles Diensteportfolio zum forschenden Umgang mit der rapide wachsenden Masse digitaler Inhalte. Auf diesem Feld werden künftig die Mehrzahl der Strategie- und damit Ressourcenentscheidungen fallen, die die Zukunftsgestalt der wissenschaftlichen Bibliothek als Sammlung bestimmen. Das Profil der Bibliothek ist damit, gerade wenn sie auf eine Jahrhunderte alte Sammlungstradition zurückblicken kann, alles andere als statisch. Vielmehr überformen neue, von
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den Wissenschaftlern erst tastend akzeptierte Angebote und Dienste die vertrauten Aufgaben und Leistungen, beispielsweise wenn ein dezidierter Serviceschwerpunkt für die quantitativ arbeitenden Digital Humanities aufgebaut oder Werkzeuge für dynamisches Publizieren entwickelt werden. Was jedoch bei aller Veränderung unverändert bleibt, ist das dem Anspruch der Forschungsbibliothek inhärente Nachhaltigkeitsversprechen: dieses gilt für den „Content“ ebenso wie für die Dienste, die ihn „kontextualisieren“. Auf der Grundlage dieser Überlegungen lassen sich nun einige Herausforderungen aufzeigen, die die Zukunftsgestalt der Bibliothek als Sammlung maßgeblich mitbestimmen werden. Diese Herausforderungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Bibliothek der Zukunft konsequent von ihren – gedruckten wie digitalen – Sammlungen her und in ihren Diensten ebenso konsequent auf diese Sammlungen hin denken. Bi b l i o t h e k a l s In s t a n z d e s We r t e n s u n d Au s w ä h l e n s Die wertende Auswahl des Sammlungs- und Bewahrungswürdigen zählt von jeher zu den Kernaufgaben bibliothekarischen Handelns. Die ethischen und politischen Implikationen dieses Handelns sind weitreichend, werden allerdings unter Bibliothekarinnen und Bibliothekaren nur selten grundlegend reflektiert. Die Entscheidung, was dem Bestand hinzugefügt wird, ist jedoch wesentlich mitverantwortlich dafür, was sich für künftige Generationen als ihre Vergangenheit „konstitutieren“ wird. Der Journalist Heribert Prantl hat dies so ausgedrückt: „Vergangenheit ist eine kulturelle Schöpfung – eine kulturelle Schöpfung der Gegenwart für die Zukunft. Der Raum für diesen Schöpfungsakt sind Bibliotheken und Archive – und zu den Hauptpersonen dieses Schöpfungsakts gehören die Archivare und Bibliothekare. Ihr Schöpfungsakt ist ein politischer Akt, weil er auswählt, weil er darüber urteilt, was zukunftsbedeutsam ist und was nicht.“4 Dieser selektierende und wertende Akt erscheint in der digitalen Welt, die durch die Ubiquität von Information charakterisiert ist, geradezu unausweichlich. Abby Smith Rumsey drückt dies so aus: „We no longer have to seek information; it seeks us. It follows us wherever we go and, like a pack of yapping dogs, it begs for our attention. We need to reset the filters that Heribert Prantl, Der diskrete Charme der Bibliotheken – Festvortrag zum 200. Gründungsjubiläum der Staatlichen Bibliothek Regensburg am 13. Juli 2016. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 63 (2016) S. 222–227, hier S. 226. 4
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control the flow of information ourselves.“5 Bibliotheken, sofern sie sich als Gedächtnisinstitutionen verstehen, müssen sich in der digitalen Welt mehr denn je als derartige Filter-Instanzen verstehen. Negativ formuliert: sie dürfen nicht dem Ideal nachhängen, dass „alles“ sammlungs- und bewahrenswert ist und „wertfrei“ einer in ihren Interessenlagen noch unbestimmten Zukunft übereignet werden muss. Sie sind als Gedächtnisinstitutionen ein Stück weit immer auch „Vergessensinstitutionen“, und ihre Policies des Sammelns und Archivierens sind in diesem Verständnis zugleich auch Gesellschaftspolitik in einem eminenten Sinne. Sa m m l u n g e n i n e n t g re n z t e n Ku l t u r u n d Wi s s e n s r ä u m e n Bibliotheken, die über umfassende, unikale Sammlungen verfügen und diese sukzessive auch in digitalisierter Form bereitstellen, können diesen Mehrwert insbesondere dann ausspielen, wenn sie ihren digitalen „Sammlungsbesitz“ nicht im Zugang verknappen, sondern sich einer radikal verstandenen Open-Data-Policy verpflichten. Hierbei geht es nicht mehr nur um das Bereitstellen offener Zugänge (Open Access), sondern um das Bereitstellen der hochwertigen digitalen Masterdateien selbst inklusive reicher Erschließungsdaten mit dem erklärten Ziel, diese primär außerhalb der Serviceumgebung der besitzenden Institution zur Wieder- und Weiterverwendung nutzbar zu machen. Ein Beispiel hierfür ist das von der Bayerischen Staatsbibliothek in einem globalen Konsortium mitgestaltete „International Image Interoperability Framework“ (IIIF).6 Diese Plattform erlaubt es dem Nutzer, an verschiedenen Institutionen (die weltweit verteilt sein können) aufbewahrte Digitalisate virtuell zusammenzuführen, direkt im eigenen Browser zu laden und in einer Mehrfensteransicht zu betrachten und zu bearbeiten (Kommentare, Annotationen, Verlinkung mit Forschungsdaten, Downloads etc.). So können verstreut in der Welt aufbewahrte Objekte, wenn sie einmal digitalisiert sind, virtuell vereint werden: Der Nutzer wird zum Kurator seiner eigenen, persönlichen Sammlung. In diesem Verständnis von Abby Smith Rumsey, When we are no more. How digital memory is shaping our future, New York u.a. 2016, S. 141. 6 Vgl. Johannes Baiter, Internetpräsentation von digitalen Bildern. Neue Wege mit Mirador, Viewer und Forschungstool. In: Bibliotheksmagazin. Mitteilungen aus den Staatsbibliotheken in Berlin und München 12 (2017), 36. Ausgabe, S. 41–43. 5
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Open Data wird die irreversible Lösung des Digitalisats vom Ursprungsort seiner Aufbewahrung und Bereitstellung bewusst in Kauf genommen. In der Fernperspektive zeigt sich hier dann ganz praktisch die globalisierte Entgrenzung der eigenen, immer partiellen Sammlung in einer digitalen Weltbibliothek. Diese und nur diese allein kann als der entscheidende politische Beitrag der Bibliotheken zur globalen Demokratisierung des Wissens gelten. An dieser Stelle sei eine kurze Abschweifung gestattet: Die weltweite Verfügbarkeit und Sichtbarkeit digitalisierter Sammlungen eröffnet und erzwingt einen grundsätzlich veränderten Umgang auch mit den Originalen, insbesondere soweit es sich um außereuropäische Bestände handelt, die im Verlauf einer oft Jahrhunderte währenden Sammlungstätigkeit ihren Weg in die Bibliothek gefunden haben. Für all diese Bestände gilt, was die renommierte Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy im Streit um die Gestaltung des Berliner Humboldtforums so prägnant formuliert hat: „Provenienzforschung müsste das Ding sein.“7 Hierbei ist nicht mehr nur an Provenienzforschung im engen Sinne der Raubgutforschung bezogen auf die Zeit des Nationalsozialismus zu denken und auch nicht nur an die Aufarbeitung der Historie einzelner Erwerbungen. Erforderlich ist vielmehr eine kritische Sammlungsgeschichte, die sich der Problematik von „Sammlungsbesitz“ mit Blick auf die Stabilisierung und Selbstvergewisserung kultureller Identitäten bei gleichzeitig globaler „Eignerschaft“ des kulturellen Erbes der Menschheit stellt – auch und gerade für die in Bibliotheken bewahrte schriftliche Überlieferung.8 Achille Mbembe hat diese Herausforderung prägnant umrissen: „Wenn die Geschichte Europas über mehrere Jahrhunderte mit der Weltgeschichte und die Weltgeschichte umgekehrt mit der Geschichte Europas gleichgesetzt wurde, folgt daraus nicht, dass dieses Archiv nicht Europa allein gehört?“9
Bénédicte Savoy – Jörg Häntschel, Ein unlösbarer Widerspruch. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 166 vom 21. Juli 2017, S. 9. 8 Vgl. Klaus Ceynowa, Content ohne Context? Grenzen der „Offenheit“ digitaler Sammlungen. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 64 (2017) S. 181–187 (Themenheft: Der „Giftschrank“ heute. Vom Umgang mit „problematischen“ Inhalten und der Verantwortung der Bibliotheken). 9 Achille Mbembe, Politik der Feindschaft, Frankfurt am Main 2017, S. 233. 7
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E n t - Te x t u a l i s i e r u n g d e s Sa m m l u n g s h a n d e l n s Eine der wesentlichsten Herausforderungen für alle Einrichtungen, die sich mit der Sammlung, Vermittlung und Bewahrung von Wissensbeständen befassen, liegt nicht im Digitalen „an sich“, sondern im „Aufbrechen“ der Linearität von Wissensinhalten, das im digitalen Medium möglich wird und dabei en passant die traditionelle Dominanz des Textuellen verabschiedet – und mit ihr auch die traditionelle Figur des „Lesers“, der Zeile für Zeile und Seite für Seite einem Argumentationsgang folgt. Man denke beispielsweise an Forschungsprimärdaten, graphische Visualisierungen, anatomische Skizzen, Simulationen, Experimentbeschreibungen und Versuchsanordnungen – all diese Inhalte können im digitalen Medium als interaktive und multimediale Bestandteile der Publikation selbst gestaltet werden. Sie rücken damit ins Zentrum der Veröffentlichung, während der Text nurmehr einen Knoten in diesem vielfältig vernetzten Informationsraum darstellt. Mit dem Text, bisher noch immer die strukturierende „Mitte“ auch digitaler Wissensobjekte, verschwindet zugleich tendenziell das traditionelle Bezugsobjekt einer Publikation. An die Stelle der monolitihischen Einheit des gedruckten Buches oder der pdf-Datei als seines elektronischen Simulacrums tritt ein dynamischer, sich kontinuierlicher wandelnder Informationsstrom. Heute weiß noch niemand genau, wie man derart fluide Wissensbestände verlässlich sammelt, referenziert, erschließt, konsistent vermittelt und über lange Zeiträume stabil bewahrt. Zumindest eines aber ist sicher: die Frage, warum man diese entgrenzte Fluidizität überhaupt noch an bestimmten Punkten „stillegen“ und zum Gegenstand einer abgeschlossenen, einen Erkenntnisstand fixierenden Publikation machen soll (sei sie nun gedruckt oder digital), lässt sich plausibel nur mit Blick auf die gesamtgesellschaftliche Funktion der Bibliothek als Gedächtnisinstitution beantworten: Publiziert im Sinne der Fixierung eines bestimmten Wissensstandes wird das, was wir dauerhaft bewahren wollen, was uns – auch wenn es alsbald durch neue Erkenntnis überholt wird – wichtig genug erscheint, um es langzeitverfügbar zu halten und zum Teil der Bibliothek als Sammlung zu machen.10
Vgl. Klaus Ceynowa, Printed? Digital? It’s All the Same. The academic library – of false front lines, unfulfilled doom, and new challenges. In: Logos. Journal of the World Publishing Community 27 (2016), Heft 3, S. 7–10. 10
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Sa m m e l n i m Sp a n n u n g s f e l d v o n Ve r g a n g e n e m und Zukünftigem Eine dem Sammlungsgedanken verpflichtet bleibende Bibliothek bewegt sich damit unhintergehbar im Spannungsfeld von Vergangenem und Zukünftigem, von tradiertem Wissensgut und seiner Aktivierung für neue Erkenntnis. Damit trägt sie zugleich unauslöschlich die Signatur der Moderne, die Joachim Ritter in seinem epochemachenden Essay „Hegel und die französische Revolution“ als „Entzweiung von Herkunft und Zukunft“11 begriffen hat: „Das Wesen der modernen politischen Revolution […] liegt für Hegel […] in der Setzung von Ordnungen, die ihrem Prinzip nach voraussetzungslos wie ein radikaler Neuanfang, dem nichts vorausgehen soll, alles Vorgegebene, Geschichtliche und Überlieferte von sich ausschliessen.“12 Odo Marquard hat dieses Entzweiungstheorem aufgenommen und zu einer generellen Diagnose der modernen Lebenswelt verdichtet: „Die moderne Welt beginnt dort, wo der Mensch methodisch aus seinen Traditionen heraustritt: wo sich seine Zukunft aus seiner Herkunft emanzipiert.“13 Angesichts der Dialektik von Herkunft und Zukunft ist die Frage nach der Entstehung des Neuen für Marquardt allerdings wie folgt zu beantworten: „Mir scheint nun eine der wichtigsten Antworten auf die Frage – wie ist Neues überhaupt menschenmöglich? – diese zu sein: nicht ohne das Alte. Das ist hier meine These, die sich auch folgendermaßen formulieren lässt: Zukunft braucht Herkunft.“14 Es ist unschwer zu erkennen, dass die Bibliothek, sofern und insoweit sie Sammlung ist, genau diese Vermittlungsleistung bewältigt. Im auswählenden Erwerben, Ordnen, Erschließen, Indexieren und Bewahren bekommt sie das stetig wachsende Wissensgebirge des Herkünftigen in den Griff und stellt es für den weiteren Ausgriff ins Zukünftige zur Verfügung. Im oft zitierten Kreislauf „Aus Forschung wird Bibliothek, aus Bibliothek Forschung“ ist sie damit eine entscheidende Aktivierungsinstanz des Wissens: Im bibliothekarischen (im Gegensatz zum bibliophilen) Sammeln wird Joachim Ritter, Hegel und die französische Revolution. In: Ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1653), Frankfurt am Main 2003, S. 183–233, hier S. 213 (Original 1957). 12 Ebd. S. 227. 13 Odo Marquard, Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Betrachtungen über Modernität und Menschlichkeit. In: Ders., Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays, Stuttgart 2015, S. 234–246, hier S. 235. 14 Ebd. S. 234. 11
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das Gesammelte nicht dem toten Gedächtnis überantwortet, sondern aktiviert für seine zukünftige Nutzung, Entwicklung und auch Überwindung. Dieser emphatische Sammlungsbegriff gilt auch und gerade im Feld digitaler Ressourcen: der Zugriff auf die vernetzte Datenwelt in Form ihrer Durchdringung mit Kommentaren, Annotationen, Verlinkungen, Anreicherungen, Kontextualisierungen und Nachnutzungen, deren Manifestationen wiederum Teil des Sammlungsgeschehens werden, setzt immer die dauerhafte und verlässliche Verfügungsgewalt über die Inhalte voraus. Das Grundmotiv bibliothekarischen Sammeln bleibt im Analogen wie im Digitalen identisch: Es ist die vermittelnde Bewegung des im „Gestern“ Erreichten hin zu seiner Überschreitung ins „Morgen“, anders gesagt: die dauerhafte Ermöglichung der Auseinandersetzung mit schon Gedachtem, Erfahrenem, Erprobtem und „Gewusstem“ im Interesse seiner Prüfung, hermeneutischen Befragung, empirischen Falsifizierung und dialektischen Überwindung durch das Neue. Sa m m e l n a l s A l l e i n s t e l l u n g s m e r k m a l Es ist das Privileg und die Pflicht der großen Gedächtnisinstitutionen, diesen Wissensraum zu gestalten – inhaltlich (content …) wie technologisch (… in context). Hierin finden Gedächtnisinstitutionen ihr Alleinstellungsmerkmal gerade auch in der digitalen Welt. Sie allein sind von der Gesellschaft bewusst zu dem Zweck installiert worden, Wissen und kulturelles Erbe „auf unbestimmte Zeit“ verfügbar und nutzbar zu erhalten. Dieser Auftrag ist in seinem Kern unbezweifelt und unverzichtbar – denn in Erinnerung und Gedächtnis geht es nicht um die Vergangenheit, sondern die Gestaltbarkeit der Zukunft. Und in genau diesem Auftrag lassen sich Bibliothek und Archiv als Varianten einer identischen Grundgestalt begreifen.
Aspekte des Augsburger Stiftungswesens. Formen und Motive bürgerlicher Stiftungen vom Mittelalter bis zur Reformationszeit* Von Michael Cramer-Fürtig Vo r b e m e r k u n g Versucht man, das Phänomen Stiftungswesen, das als finanzielles, rechtliches und soziales System seit dem Mittelalter bis heute eine wichtige Rolle spielt1, für die Zeit des süddeutschen Stadtbürgertums zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert etwas genauer in den Blick zu nehmen, so lässt sich feststellen, dass zu Augsburg, München und Nürnberg bereits einige grundlegende Arbeiten zur Stiftungstätigkeit vorliegen, die auch zahlreiche Hinweise auf die jeweilige Quellenbasis bieten2. Für Augsburg ist hier vor allem die wegweisende Studie zur bürgerlichen Gesellschaft und Kirche von Rolf Kießling zu nennen, die zahlreiche Beispiele zu den im 14. und 15. Jahrhundert besonders intensiven Stiftungsaktivitäten in der Stadt anführt. Weil seine bis heute maßgebliche Strukturanalyse einer oberdeut* Im Gedenken an Rolf Kießling, dem es leider nicht mehr vergönnt war, seine Arbeit zur St. Antonspfründe und Peter von Argon abzuschließen. 1 Dazu jetzt neuerdings: Tillmann Lohse, Stiftungen. Eine Modellierung für interepochale und interkulturelle Vergleiche. In: Stiften gehen! Wie man aus Not eine Tugend macht, hrsg. v. Heidrun Lange-Krach, Katalog zur Ausstellung der Kunstsammlungen und Museen Augsburg, 27. August bis 28. November 2021 im Maximilian-Museum, Regensburg 2021, S. 17–21. – Der Kuratorin der als Beitrag der Stadt Augsburg zum 500. Jahrestag der Stiftung der Fuggerei gedachten Ausstellung, Frau Dr. Heidrun Lange-Krach, danke ich für konstruktive Hinweise auf weiterführende Fragestellungen zum Thema Stiftungen in Augsburg, die in Ausstellung und Katalog vertieft worden sind. 2 Vgl. v.a. Rolf Kiessling, Bürgerliche Gesellschaft und Kirche in Augsburg im Spätmittelalter (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 19), Augsburg 1971, hier v.a. S. 215–287 (Analyse der karitativen und sozialen Fürsorge und der personellen Beziehungen der Bürgerschaft zu den Klöstern und Stiften in der Reichsstadt Augsburg im 14./15. Jahrhundert). – Michael Schattenhofer, Stiftungen und Stifter in Münchens Vergangenheit. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte Münchens. In: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 28 (1974) S. 11–30 (exemplarische Vorstellung wichtiger Stiftungen und Stifter in München). – Michael Diefenbacher, Das Nürnberger Stiftungswesen – ein Überblick. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 91 (2004) S. 1–34 (fundierte Übersicht über die bedeutenden Nürnberger Stiftungen von 1230 bis 2002).
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schen Reichsstadt eher darauf abzielte, ein umfassendes „Bild des spätmittelalterlichen Augsburg zu entwerfen“, wurde zwar eine „Vielzahl der Einzelfragen“ gestellt, die auch das Stiftungswesen „anhand der Quellen … im Detail“ betrafen3, ein konziser Überblick zur Vielfalt der verschiedenen Stiftungsformen und -motive war jedoch nicht beabsichtigt. Gerade das soll aber im vorliegenden Beitrag versucht werden4, auch wenn die Überlieferungssituation im Stadtarchiv Augsburg, was das mittelalterliche und frühmoderne Stiftungswesen anbelangt, nicht unbedingt mit der oft besser erschlossenen Quellenvielfalt anderer Stadtarchive zu vergleichen ist5. In Augsburg und in anderen ehemaligen süddeutschen Reichsstädten liegt dies zum einen daran, dass nach der Säkularisation und der Mediatisierung, aber vor allem nach der Neuorganisation der lokalen Stiftungsverwaltungen, die Dokumente der Klöster und Stifte sowie die nur schwer überschaubare Überlieferung unzähliger kirchlicher, städtischer und bürgerlicher Stiftungen aus ihren gewachsenen Strukturen herausgelöst und oft durch unsachgemäße Lagerung beeinträchtigt, teilweise sogar vernichtet worden sind. Zum anderen wurde speziell in Augsburg bislang jede gezielte Quellenrecherche erschwert, weil die Dokumente zu Stiftungen und Stiftern über mehrere Jahrhunderte nach dem Pertinenzprinzip umgeordnet worden waren und darüber hinaus bis 2014 in ungenügenden Verhältnissen in einem völlig unzureichenden Archivgebäude verstreut gelagert waren und deshalb bis heute kaum erschlossen werden konnten. Eine neue Herangehensweise wurde erst möglich, nachdem 2002 neue Leitlinien zur Abgrenzung, Gliederung und Klassifikation der Unterlagen nach Entstehungszusammenhängen (Provenienzprinzip) bei der vollstän-
Kiessling (wie Anm. 2) o.S. (Vorwort des Verfassers). Aus der Gliederung und den Registern der Arbeit von Kiessling (wie Anm. 2) lässt sich das Spektrum der Augsburger Bürgerstiftungen nur bedingt ablesen. – Kiesslings instruktiver Beitrag: Vom Pfennigalmosen zur Aussteuerstiftung. Materielle Kultur in den Seelgeräten des Augsburger Bürgertums während des Mittelalters. In: Materielle Kultur und religiöse Stiftung im Spätmittelalter. Internationales Round-Table-Gespräch Krems an der Donau 26. September 1988 (Veröffentlichungen des Instituts für mittelalterliche Realienkunde Österreichs 12), Wien 1990, S. 37–62, geht in erster Linie auf Bürgerstiftungen ein, „bei denen in irgendeiner Form zumindest ein Teil der Dotation den ‚Armen‘ zugedacht war“ (S. 39). Vgl. auch weiter unten, Anm. 9. 5 Einen fundierten Überblick zur modernen Archivpraxis in bayerischen Kommunalarchiven bietet neuerdings: Kommunalarchive – Häuser der Geschichte. Quellenvielfalt und Aufgabenspektrum, hrsg. im Auftrag des Arbeitskreises Stadtarchive beim Bayerischen Städtetag v. Dorit-Maria Krenn, Michael Stephan und Ulrich Wagner, Würzburg 2015. 3 4
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digen Erfassung des von der Forschung benötigten Quellenmaterials konsequent umgesetzt wurden6. Doch nicht immer beruhen Forschungsdefizite allein auf der komplexen und trotz deutlicher Verbesserungen im Bereich digitaler Findmittel in den letzten 25 Jahren oft schwer durchschaubaren Genese historischer Bestände und dadurch bedingter Erschließungsrückstände in der Archivlandschaft. Wenn zum Beispiel eine gesamtgesellschaftliche Notsituation, wie die seit 2020 herrschende Corona-Pandemie, die Benutzung von Archivdokumenten stark einschränkt oder gar verhindert, dann wird aus dem bei Planung dieses Festschriftbeitrags ursprünglich angestrebten Ziel eines Überblicks zum Augsburger Stiftungswesen im Stadtarchiv Augsburg notgedrungen ein thematisch und inhaltlich veränderter Beitrag, der zusammenfassend vermitteln soll, was in der Ausstellung und im Katalog „Stiften gehen! Wie man aus Not eine Tugend macht“ an anderer Stelle mit erweiterten Fragestellungen und neuen Forschungsaspekten im Einzelnen vertieft worden ist7. Dabei wird versucht, mit dem Blick auf die Adressaten, den Zweck und die Motive von Stiftungen und Stiftern sowie auf die Typologie der Erscheinungsformen Einblick in die einschlägige Überlieferung und Hinweise für weiterführende Forschungsarbeiten im Stadtarchiv Augsburg zu geben. Eine differenzierte und mit Quellenbelegen gestützte Übersicht über die Stiftungsunterlagen, wie sie beispielsweise für Nürnberg vorliegt,8 muss somit späteren Zeiten vorbehalten bleiben, wenn das Stadtarchiv für die Forschung wieder voll umfänglich zugänglich Dazu jetzt ausführlich: Das neue Stadtarchiv Augsburg. Ein moderner Wissensspeicher für Augsburgs Stadtgeschichte, hrsg. v. Michael Cramer-Fürtig (Beiträge zur Geschichte der Stadt Augsburg 6), Neustadt a.d. Aisch 2016, hier v.a. S. 60–71 (systematische Überlieferungsbildung) und S. 103–122 (Funktion des Stadtarchivs nach 1806). – An die jederzeit gegebene fachliche Unterstützung bei der Realisierung des neuen Stadtarchivs durch die Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, insbesondere der Leiterin der obersten bayerischen Archivfachbehörde, Frau Dr. Ksoll-Marcon, sei an dieser Stelle dankbar erinnert. So hat die bayerische Archivbauoffensive der Ära Ksoll-Marcon neben dem staatlichen Archivneubau in Landshut und den Magazinerweiterungen bei den Staatsarchiven Augsburg und Bamberg auch innerhalb der bayerischen Kommunallandschaft mit dem Stadtarchiv Augsburg und seiner mehrfach durch die Generaldirektion unterstützten Förderung des Kulturfonds Bayern eine beispielhafte Wegmarke gesetzt. 7 Vgl. Stiften gehen! (wie Anm. 1). 8 Vgl. Diefenbacher (wie Anm. 2). Die von mir als Arbeitsgrundlage für Ausstellung und Katalog „Stiften gehen!“ erstellte Übersicht von Stiftungsdokumenten im Stadtarchiv Augsburg beruht auf einer coronabedingt eingeschränkten und deshalb nur stichprobenhaft vorgenommenen Sichtung des umfangreichen und weitgehend noch unzureichend erschlossenen, einschlägigen Quellenmaterials zum Augsburger Stiftungswesen. 6
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ist. So gesehen versteht sich die hier vorgelegte Skizze als eine vorläufige Bestandsaufnahme des bisherigen Wissensstands, die aus der Mitarbeit am städtischen Projekt zum Augsburger Stiftungswesen erwachsen ist. Neben der allgemeinen Unterscheidung nach den Stiftungsträgern dienen in der modernen Verwaltung in der Regel vor allem die Rechtsformen/Stiftungsformen sowie der Stiftungszweck (Stifterwillen) dazu, das Verständnis für eine systematische Einordnung des Stiftungswesens zu erleichtern. So wird heute bei den Rechtsformen der Stiftungsträger ganz allgemein zwischen öffentlichen, bürgerlichen und privaten Stiftungsträgern, aber auch zwischen rechtsfähigen (öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen) und rechtlich selbständigen und unselbständigen Stiftungen unterschieden, während den Stiftungen der Kirchen und Kommunen oft ein besonderer Rechtsstatus zugewiesen wird. Beim Stiftungszweck dagegen wird meist zwischen gemeinnützigen und privaten Anliegen differenziert. Während dies jedoch modernstaatliche Kriterien zur rechtlichen und sozialen Einordnung des Stiftungswesens sind, die für eine historische Analyse ihrer Anfänge wenig brauchbar sind, kann in Augsburg vor allem der Blick auf die Adressaten von Stiftungen (erst die Kirche, dann zunehmend die Stadt) und auf die im Regelfall gesellschaftlich exponierten Stiftergruppen, die sich um das Wohl der mit Stiftungen unterstützten sozialen Randgruppen kümmerten, weiterhelfen, weil dieser Ansatz es noch am ehesten ermöglicht, eine differenzierte Betrachtung der Formenvielfalt der Augsburger Stiftungen vorzunehmen. Es wäre jedoch eine zu vereinfachte Sichtweise, wenn sich allein schon mit der Frage nach dem Stiftungszweck auf der Grundlage der bislang vorliegenden einschlägigen wissenschaftlichen Forschungsergebnisse9 bestimmte Stiftungstypen klar voneinander abgrenzen ließen. Denn die Entwicklung des Augsburger Stiftungswesens von den Anfängen im Mittelalter bis zum Beginn der Frühen Neuzeit zeigt, dass ein aus heutiger Sicht angelegter Bewertungsmaßstab mit der Festlegung auf unterschiedliche Stiftungsgruppen (kirchliche Stiftungen, Sozialstiftungen, Stipendienstiftungen und Stiftungen für familiäre und private Zwecke) nicht zwingend weiterführt, wenn überwiegend Mischfinanzierungen aus Geld- und Sachzuweisungen eindeutige Unterscheidungen nach Erscheinungsformen oder Stiftermotiven erschweren. Und Hier sind v.a. die vielen, allerdings oft verstreuten und in zahlreichen Anmerkungen untergebrachten Einzelnachweise zur Stiftungs- und Fürsorgepolitik im spätmittelalterlichen Augsburg in der für den vorliegenden Beitrag maßgeblichen Arbeit von Kiessling (wie Anm. 2) unverzichtbar. 9
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die vielversprechende Methodik, von der jeweils konkreten Relativität der Stiftungsmotive in Augsburg auszugehen und ihnen den Stiftungsvollzug unter den Bedingungen äußerer Faktoren gegenüberzustellen, ist nur sinnvoll, wenn sie wie bei der ausführlichen Analyse der großen FuggerStiftungen in diachronen Längs- und Querschnitten angewendet wird10. So bleibt zunächst nur übrig, anhand der bisher bekannten Fakten festzustellen, dass die ersten bürgerlichen Stifter in Augsburg nach Anfängen karitativer Tätigkeit im 10. Jahrhundert, die überwiegend von kirchlichen Grundherren und Institutionen bestimmt wurden, seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert zumeist Patrizier, später auch vermögende Kaufleute waren, die in der Regel vorwiegend aus Sorge um das eigene Seelenheil auf der Grundlage sog. guter Werke stifteten. Aber, wie die unterschiedlichen Beispiele von Stiftungen zur Sicherung des Seelenheils in Form von Jahrtagen, Ewigmessen, Altären und anderen Seelgeräten11 zu erkennen geben, lässt sich allein aus der großen Formenvielfalt nicht mehr ableiten, als dass die Augsburger Stiftungen ab dem späten 13. Jahrhundert12 verstärkt das Grundprinzip der Religiosität des mittelalterlichen Menschen widerspiegeln13, bevor die Verbindung von religiösen Motiven mit der zunehmenden Tendenz zur sozialen Unterstützung von Armen und Kranken in Form von Almosenstiftungen eine qualitative Veränderung in der Umsetzung karitativer Fürsorge bringt14. Der Versuch, die vorreformatorischen Stiftungen in Augsburg nach ihrem Stiftungszweck verschiedenen Bereichen zuzuweisen und eine Differenzierung in religiös motivierte Stiftungen (mit weitestgehend seelsorgerischen Zielen), soziale Stiftungen der Daseinsfürsorge (Stiftungen für wohltätige Zwecke – insbesondere für Kranken-, Alten- und Armenpflege, Almosenstiftungen, Sozialsiedlungen), Stipendienstiftungen zur Förderung des (vorwiegend) geistlichen Nachwuchses sowie Stiftungen zu familiären Zwecken vorzunehmen, muss stets auf die Vgl. Benjamin Scheller, Memoria an der Zeitenwende. Die Stiftungen Jakob Fuggers des Reichen vor und während der Reformation (ca. 1505–1555) (Studien zur Fuggergeschichte 37, zugleich in weiteren Schriftenreihen), Berlin 2004. 11 Seelgerät als zeitgenössischer Quellenbegriff umfasst im religiösen Kontext alle Arten und Formen mittelalterlicher Stiftungen im kirchlichen Bereich. Vgl. zu Augsburg: Josef Herberger, Die Seelhäuser und Seelgeräte in Augsburg. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Augsburg 3 (1876) S. 283–296 und Kiessling (wie Anm. 2) S. 221–223 und 235–237. 12 Vgl. Kiessling (wie Anm. 2) S. 219–230. 13 Vgl. Kiessling (wie Anm. 4) S. 37. 14 Ebd. S. 38. 10
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zahlreichen Stufungen, Misch- und Übergangsformen aufmerksam machen und ist, nicht zuletzt wegen der ausstehenden Aufarbeitung der noch lange nicht bewältigten Quellenfülle, die sich allein schon im Stadtarchiv Augsburg finden lässt, nur als vorläufig zu bewerten. Einzig die Familienstiftungen, deren Erträge vorwiegend für Mitglieder der eigenen Familie gedacht waren, ließen sich von den übrigen Stiftungsformen deutlich abgrenzen, spielen in Augsburg bis zum ausgehenden 16. Jahrhundert jedoch zunächst keine Rolle und können deshalb in unserer Betrachtung vernachlässigt werden15. Folgt man nun einem rein chronologisch orientierten Ansatz, sind zumindest die Anfänge frommer Bürgerstiftungen an die Kirchen den überwiegend auf bürgerliches Engagement zurückgehenden, in der Mehrzahl zunehmend religiös-karitativ-sozial motivierten Stiftungen voranzustellen. Das bis zur Reformationszeit eher geringe Vorkommen an Stipendienstiftungen in Augsburg soll der Vollständigkeit halber erwähnt werden, nicht zuletzt deshalb, weil das Augsburger Schulwesen bis zum 17. Jahrhundert bislang so gut wie noch nicht wissenschaftlich aufgearbeitet ist. Bü r g e r l i c h e St i f t u n g e n a n d i e K i r c h e n Im mittelalterlichen Augsburg gab es unzählige Zuwendungen geistlicher und weltlicher Stifter für kirchliche und seelsorgerische Zwecke: Dabei reichte das Spektrum von materiell greifbaren Stiftungen wie Kirchen, Klöstern, Kapellen, Benefizien und kirchlichen Ausstattungsgegenständen bis hin zu religiösen Formen zur Sicherung des Seelenheils wie Mess-, Altar-, Pfründ- und Gottesdienststiftungen, deren gängigste Typen die Jahrtagsstiftungen und die Ewiglichter an den Altären oder Begräbnisstätten Im Gegensatz zu Nürnberg, das mit der „Vorschickung“ und der eigentlichen „Familienstiftung“ bereits im 15. Jahrhundert bestimmte Rechtsformen zur Erhaltung von Familiengut des Patriziats erkennen lässt – vgl. Diefenbacher (wie Anm. 2) S. 8–11 – überwiegen in Augsburg bis in die Zeit der Finanzkrisen des späten 16. Jahrhunderts deutlich die frommen und sozialen Stiftungen. Die Zahlungsunfähigkeit der spanischen und französischen Krone, die gegen Ende des 16. Jahrhunderts zum Bankrott zahlreicher Augsburger Firmen und Handelshäuser führte, bewirkte u.a., dass die großen Stiftungen, wie z.B. die der Fugger, zur Rettung des Stiftungsgutes, auch auf Grundlagen der Praxis der Familienstiftung zurückgriffen, indem neben der Verwaltung auch die Kapitalanlage mit Nutznießung eine Rolle spielte. Vgl. dazu: Götz Frhr. v. Pölnitz, Die Fuggerschen Stiftungen. In: Stiftungen in Vergangenheit und Gegenwart, Lebensbilder deutscher Stiftungen, Band 2, hrsg. v. Heinrich Berndl, Herbert Weyher und Winfried Frhr. v. Pölnitz-Egloffstein, Tübingen 1971, S. 3–21, hier S. 19. 15
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waren16. Zur Unterscheidung innerhalb der religiösen Stiftungen bietet es sich auf den ersten Blick an, materielle Stiftungen von den rein jenseitsbezogenen Stiftungen, wie Mess- und Ewiglichtstiftungen, zu unterscheiden: Aber auch bei den Stiftungen mit vorwiegend materiellem Charakter in Form von Kirchengebäuden oder Ausstattungsgegenständen für Kirchen spielen Messen, Gebete und andere Formen frommer Stiftungsmotive eine Rolle. So beansprucht die hier vorgestellte Auswahl an Beispielen zu bürgerlichen Stiftungen mit Gegenständen kein typologisch greifbares Alleinstellungsmerkmal. Was aber auffällt, ist die Tatsache, dass neben zahlreichen kirchlichen Gründungsstiftungen der Augsburger Bischöfe – wie z.B. St. Georg 1135 (gestiftet von Bischof Walther und dem Augsburger Domkapitel)17 –, die hier im Einzelnen thematisch bedingt nicht näher aufgeführt werden können, viele Stiftungen von vermögenden AugsburAllein die leider für Augsburg nur mehr vereinzelt überlieferten Akten reichsstädtischer Provenienz zu gestifteten Jahrtagen, Seelmessen, Quatember-, Monats- und Wochenmessen der Augsburger Kirchen und Klöster im Bestand „Katholisches Wesensarchiv“ (KWA) im Stadtarchiv Augsburg (StadtAA) machen bereits deutlich, welch dominante Rolle die kirchliche Stiftungstätigkeit in Augsburg spielte. Beispiele: StadtAA, KWA 951 und 1144 (St. Moritz), KWA 1201 und 5754 (St. Georg), KWA 1766 (Dominikanerkirche), KWA 3609 (St. Margareth, St. Martin, St. Nikolaus), KWA 3481 und 4668 (Barfüßer), KWA 4063 (St. Stephan), KWA 5237 (St. Ulrich). – Daneben geben die von Kiessling (wie Anm. 2) S. 246–269 ausgewerteten Anniversarbücher von St. Moritz, dem Domstift, St. Ulrich und Afra, St. Gertrud, St. Georg, den Barfüßern, St. Katharina, St. Margareth, St. Nikolaus und St. Stephan und die von Albert Haemmerle bearbeiteten Necrologien von St. Georg (München 1936), St. Moritz (München 1938), St. Nikolaus (München 1955), St. Margareth (München 1955), den Barfüßern (München 1955) und des Hl.Geist-Spitals (München 1955), in denen die Jahrtagsgottesdienste und Gottberate (vgl. dazu Anm. 21 und 22) für bestimmte Zeiträume in kalendarischer Form festgehalten sind, einen Eindruck von der immensen Größenordnung frommer Stiftungen in Augsburg, zumal diese ebenfalls weitgehend im StadtAA überlieferte Quellengruppe bei weitem nicht vollständig erhalten ist. – Darüber hinaus bieten vereinzelt vorhandene Pfarrzechenbücher, die die Verwaltungstätigkeit von Stiftungsgut durch die Pfarrgemeinde bei den Pfarreien abbilden, einen weiteren Einblick in kirchliche Stiftungsaktivitäten in Augsburg. Beispiele: StadtAA, Selekt „Schätze“ 138–142c (Zeche Unsere Liebe Frau am Dom), 153 (Zeche Hl. Kreuz); Evangelisches Wesensarchiv (EWA) A 477 (Zeche St. Georg); St. Moritz 1 (Zeche St. Moritz), St. Ulrich, Grundzinsbuch (Zeche St. Ulrich). Zusammenfassend zur Domzeche Unserer Lieben Frau im Spätmittelalter: Michael Cramer-Fürtig, Die Pfarrzeche am Dom im 14. und 15. Jahrhundert. In: Stiften gehen! (wie Anm. 1) S. 126–129. – Auch wenn diese wenigen, bis heute erhaltenen Dokumente des Stadtarchivs insgesamt gesehen nur die „Spitze eines Eisbergs“ zur einstmals sicher ungleich größeren kirchlichen Stiftungsüberlieferung abbilden, vermitteln sie bereits einen imposanten Eindruck frommer Stiftungstätigkeit im spätmittelalterlichen Augsburg. 17 StadtAA, KWA 1165 (Vidimus von 1480). 16
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ger Patrizier- und reichen Kaufmannsfamilien stammen. Als prominentes Beispiel für die Stiftung von kirchlichen Ausstattungsgegenständen durch einen mit der Stadt besonders verbundenen weltlichen Herrscher, der über Hausbesitz nahe Hl. Kreuz in Augsburg verfügte und deshalb als Bürger auch in den städtischen Steuerbüchern geführt wurde, ist die Zuwendung von Kaiser Maximilian I. für die Stiftskirche Hl. Kreuz hervorzuheben18. Eine Auswahl von Beispielen zu wichtigen kirchlichen Gebäuden, Einrichtungsgegenständen und liturgischen Geräten kann zumindest veranschaulichen, welche Ausstattungen aus bürgerlicher Hand den kirchlichen Stiftungsalltag im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Augsburg im wahren Wortsinn bereicherten19. Kennzeichen der bürgerlichen Stiftungstätigkeit, die sich in der Bereitstellung von materiellen Gütern und finanziellen Mitteln für die Erbauung und Ausstattung von Gotteshäusern und Klöstern manifestierte, war neben der religiösen Motivation die Sicherung des Seelenheiles im Gebet durch Geistliche, die im 14. und 15. Jahrhundert als Geschäft auf Gegenseitigkeit ähnliche Züge wie der spätmittelalterliche Ablasshandel annahm. Stichproben zur Quellenlage im Stadtarchiv Augsburg zeigen, dass nach dem Einsetzen der Gemeindereformationen ab 1526 und dem Vollzug der „Ratsreformation“ ab 1534/37 die GrünMaximilian I. (1459-1519) erwarb am 26. April 1501 das Haus des Ludwig (II) Meuting vor dem Hl. Kreuzer-Tor (StAA, Reichsstadt Urkunden, Nr. 508). Ab 1504 wird das Haus in den Augsburger Steuerbüchern im Steuerbezirk „hailig creutzer thor extra“ geführt, obwohl Maximilian als städtischer Lehensherr von der Steuer befreit war. Vgl. dazu: Heidrun Lange-Krach, Urkunde über den Kauf des Meutingischen Anwesens. In: Maximilian I. 1459–1519. Kaiser. Ritter. Bürger. Katalog zur Ausstellung der Kunstsammlungen und Museen Augsburg, 15. Juni – 15. September 2019 im Maximilian-Museum, hrsg. v. Heidrun Lange-Krach, Stuttgart 2019, S. 284 f. 19 St. Peter am Perlach 1067 (Swigger und Peretha von Balzhausen), Monstranz für die Stiftskirche Heilig Kreuz 1205 (Ulrich von Rechberg), St. Katharina Dominikanerinnenkloster 1243 (Christina von Wellenburg), St. Anna 1321 (Bf. Friedrich I. und die Bürger, v.a. die Patrizierfamilie Langenmantel (II)), Kapelle mit Vikarie für St. Moritz 1344 (Rüdiger Langenmantel (II)), Heilig Drei König Kapelle 1356 (Konrad (III) Minner), St. Antonius Kapelle 1410 (Lorenz (I) Egen), Grabkapelle bei St. Anna 1420 (Afra und Konrad Hirn), Fenster für die Stiftskirche Heilig Kreuz vor 1508 (Kaiser Maximilian I.), Hl.Grabkapelle in St. Anna 1508 (Georg Regel d.J.), Fugger-Grabkapelle in St. Anna 1509 (Jakob (II) und Ulrich Fugger). Aus Platzgründen muss hier anstelle von Einzelbelegen der Verweis auf die einschlägigen Artikel im Augsburger Stadtlexikon, hrsg. v. Günther Grünsteudel, Günter Hägele und Rudolf Frankenberger, 2. Auflage, Augsburg 1998 mit ihren weiterführenden Literaturhinweisen genügen. – Zu St. Katharina und St. Moritz zuletzt Barbara Eichner, Dominikanerinnenkloster St. Katharina, in: Stiften gehen! (wie Anm. 1) S. 122–125 und Romina Knecht, Das Kollegiatstift St. Moritz. In: Ebd. S. 114–117. 18
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dungen neuer, rein frommer Stiftungen deutlich zurückgingen.20 Mit ein Grund dafür war, dass es in der Reformationszeit keine Messstiftungen mehr gab, weil die neue Lehre diese altgläubige Praxis der Kapitalisierung des Seelenheils genauso wie den Ablasshandel ablehnte. Im spätmittelalterlichen Augsburg kam dagegen den betont jenseitsbezogenen Stiftungen noch eine besondere Rolle zu. Aus den zahllosen Zuwendungen für Fürbittgottesdienste können zwei Typen beispielhaft hervorgehoben werden, an denen sich die wichtigsten Grundformen und Motivkreise frommer Stiftungen aufzeigen lassen. So lässt sich anhand der vor allem für die Augsburger Spitäler typischen Stiftungen der sog. Gottberate, die wie Jahrtagsstiftungen bei den Kirchen und Klöstern zu werten sind, ein Anstieg religiös veranlasster Stiftungstätigkeit im 14. und 15. Jahrhundert auch bei den Spitälern nachweisen21. Die hier bereits im späten 13. Jahrhundert aufscheinende Verbindung von subjektivem religiösen Motiv (Heilsgewinnung) und objektiver Hilfeleistung (Almosen), die uns später in erster Linie bei den Augsburger Sozialstiftungen begegnen wird, zeigt sich in der oft mit Gebeten oder einem Jahrtagsgottesdienst verbundenen Kombination von Geld- und Speisenverteilung (vgl. die weiter unten vorgestellten Mahlzeitstiftungen für das Hl.-Geist-Spital)22. Von den Mit Martin Luthers Thesen gegen den Ablasshandel sowie seiner Lehre, dass der Mensch Gottes Vergebung auch ohne Gegenleistung empfangen darf, war die Furcht vor göttlicher Strafe im Jenseits als Stiftungsmotiv bedeutungslos geworden. Eine genaue Analyse, ob sich deshalb ein Rückgang bzw. die Auflösung an frommen Stiftungen durch Säkularisierung von Stiftungsgut feststellen lässt, steht für Augsburg noch aus. Vgl. dazu aber neuerdings Katharina Will, Stiftungen und Glaube. Spätmittelalterliche und reformatorische Frömmigkeit als Motivation zur Stiftung. In: Stiften gehen! (wie Anm. 1) S. 22–29. 21 Zu den Gottberaten, die nach Hermann Fischer, Schwäbisches Wörterbuch, Band 3, Tübingen 1911, Sp. 763 als „milde Stiftungen für Kirchen und an Arme“ definiert werden, vgl. v.a. Peter Lengle, Das „Gottberatbuch“ des Heilig-Geist-Spitals in Augsburg. In: Bayerisch-schwäbische Landesgeschichte an der Universität Augsburg 1975–1977. Vorträge – Aufsätze – Berichte, hrsg. v. Pankraz Fried (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für bayerische Landesgeschichte VII/1), Sigmaringen 1979, S. 153–162. 22 So stammen die frühesten Datumsangaben in den beiden zum Hl.-Geist-Spital überlieferten Gottberatbüchern (StadtAA, Hl.-Geist-Spital Tit. I, Tom 3, Nr. 1 und München, Bayerische Staatsbibliothek, Handschriften, Cgm 8), die auch urkundlich belegt sind, aus den Jahren 1282 und 1283. Vgl. dazu: Urkundenbuch der Stadt Augsburg, Band 1, hrsg. v. Christian Meyer, Augsburg 1874, S. 53, Nr. 71 und S. 58-59, Nr. 78. – Zur Bedeutung und typologischen Einordnung der Gottberatbücher vgl. auch Lengle (wie Anm. 21) und neuerdings Michael Cramer-Fürtig, Die Anfänge des Heilig-Geist-Spitals. In: Stiften gehen! (wie Anm. 1) S. 110–113. 20
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gottesdienstlichen Stiftungen an den Kirchen sind vor allem die Altar- und Messstiftungen der Augsburger Bürgerschaft zu nennen, die in den Quellen seit Anfang des 14. Jahrhunderts zu finden und zunächst überwiegend in den Stiften am Dom und bei St. Moritz nachzuweisen sind. Am Dom ist um 1350 mit den sog. Stuhlbrüdern auch ein Stiftungstyp für „bepfründete“ Arme fassbar, der die materiellen Grundlagen für religiöse Lebensformen bereitstellte, weil der Stifter Pfründen mit Gütern dotierte, die von der Domzeche verwaltet wurden23. Im Vergleich zu anderen Augsburger Kirchen und Klöstern waren die Messstiftungen am Dom und bei St. Moritz aber nur einem exklusiven Teil der Bürgerschaft vorbehalten, die über ein entsprechendes Vermögen verfügten, denn für eine tägliche Messe musste im 15. Jahrhundert mindestens 500 Gulden rheinisch Anlagekapital aufgebracht werden. Die an den Altären oder Begräbnisstätten von Dom und St. Moritz angebrachten ewigen Lichter waren mit durchschnittlich 80 bis 120 Gulden rheinisch erschwinglicher und machten den Jahrtag zum gängigsten Typ der Gottesdienststiftung. Mit Beträgen zwischen 5 und 10 Gulden rheinisch konnte sich auch das kleine und mittlere Bürgertum in Augsburg eine einfache Jahrtagsstiftung, z.B. bei den Bettelorden der Karmeliter oder Barfüßer leisten. Charakteristisch für die Stiftungstätigkeit des Bürgertums im spätmittelalterlichen Augsburg ist die Steigerung bei der Anzahl und der Spendenhöhe der Stiftungen, denn mit Quantität und Dotierungsaufwand wollte man den Heilswert erhöhen. So sind allein für die reiche Kaufmannsfamilie der Höchstetter zwischen 1450 und 1520 insgesamt 22 Stiftungen in und um Augsburg belegt24. Der Chronist Burkhard Zink kennzeichnet diese nicht nur für die finanzielle Oberschicht bezeichnende Einstellung des Augsburger Bürgertums in der vorreformatorischen Zeit treffend mit der Bemerkung: „dann iederman wolt gen himl“25. Vgl. Kiessling (wie Anm. 2) S. 229. Alle Angaben und Zahlen nach Kiessling (wie Anm. 2) S. 246–248. – Kießlings grundlegende Analyse Augsburgs im Spätmittelalter liefert statistische Aussagen zur Stiftungspraxis und Stiftungshäufigkeit der sozialen Schichten des Bürgertums (S. 251–270), speziell der bürgerlichen Oberschicht der Stadt (S. 270–284) an die Augsburger Klöster und Stifte. – Tatsächlich wäre es für eine Gesamtbewertung der Augsburger Stiftungsgeschichte nicht unwesentlich, wenn auch die außerhalb der Stadt nachweisbaren Stiftungen Augsburger Bürger in weiterführende Untersuchungen miteinbezogen werden würden. Hier bieten z.B. die Stiftungsaktivitäten der beiden Patrizierfamilien Langenmantel und der Kaufmannsfamilie Höchstetter lohnende Forschungsfelder. 25 Chronik des Burkhard Zink. 1368 – 1487, hrsg. v. Friedrich Roth. In: Die Chroniken der schwäbischen Städte. Augsburg, Band 3 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. 23 24
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Au g s b u r g e r So z i a l s t i f t u n g e n Alle wichtigen Augsburger Stiftungen des Spätmittelalters mit sozialem und karitativem Charakter sind zumeist als vorwiegend bürgerliche Stiftungen errichtet worden, wenn sie nicht – wie bei Jakobspfründe, Blatterhaus und Findelhaus – auf Initiative des städtischen Rates als Vertreter der ganzen Bürgergemeinde gegründet wurden oder – wie das Hl.-GeistSpital, alle Siechenhäuser und die meisten Almosenstiftungen – nach und nach unter städtische Oberaufsicht kamen. Als Parameter für eine überblicksartige Einordnung scheint es sinnvoll, nach dem jeweiligen Adressaten der Stiftung, den Stiftungsmotiven, dem Stiftungszweck und den einzelnen Erscheinungsformen zu fragen. So lassen sich zunächst die Wohltätigkeitseinrichtungen von den Almosenstiftungen abgrenzen, deren jeweilige Stiftungsformen wiederum nach übergeordneten Gesichtspunkten der Seelsorge und der Versorgung von Kranken, Armen und Pilgern unterschieden werden können. Auch wenn sich bei dem Versuch einer typologischen Zuordnung im Einzelfall nicht immer eine klare Trennung der Bereiche Seelsorge, Fürsorge und Almosen abzeichnet, so macht die Unterscheidung nach diesen drei Stiftungsmotiven noch am ehesten Sinn, bringt sie doch eine einigermaßen brauchbare Struktur in die Vielfalt der Augsburger Stiftungen zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert. Als zumindest im süddeutschen Raum in der Frühen Neuzeit bislang ohne Vergleich dastehender Sonderfall26 hebt sich nicht nur von ihrer quantitativen Dimension, sondern auch vom Stiftungsgedanken her (Familien- und Handwerkerstiftung mit eigenem Haus) die Sozialsiedlung der Fuggerei am Kappenzipfel als weitestgehend von kirchlichem oder städtischem Einfluss unabhängiges und gemeinnütziges Stiftungsprojekt von den übrigen Wohltätigkeits- und Almosenstiftungen in Augsburg ab. Nimmt man zuerst die Wohltätigkeitseinrichtungen in den Blick, nicht zuletzt, weil sie zu den nachweislich ältesten Stiftungen in Augsburg gehören und im Fall des ersten urkundlich erwähnten Spitals bis in das frühe
bis zum 16. Jahrhundert 22), Leipzig 1892, S. 45. 26 Die bisher attestierte Sonderstellung der Fuggerei – auch die neueste Untersuchung von Scheller (vgl. Anm. 10) räumt ihr einen Sonderstatus ein – hängt in erster Linie vom unzureichenden Forschungsstand, teilweise auch von der ungenügenden Quellenlage zu Stiftungsformen in anderen Reichsstädten im süddeutschen Raum ab. Hier gilt es vertieft anzusetzen.
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10. Jahrhundert zurückreichen27, zeichnen sich verschiedene Stiftungsformen ab, deren „gemeinsamer Nenner“ zwar mit den Begriffen Daseinsvorsorge und Seelsorge umschrieben werden kann, die aber jeweils eigene Formen der Krankenversorgung und Seelsorgetätigkeit erkennen lassen. So haben in Augsburg die Spitäler, Siechenhäuser, Pilgerhospize, Bruderhäuser und Seelhäuser sowie das Findelhaus ähnlich gelagerte Stiftungszwecke, aber unterschiedliche Ausformungen. Bei den zur Versorgung von Kranken, Armen und Reisenden errichteten Spitälern sind vor allem vier Gründungen (abgegangenes Spital im 10. Jahrhundert, Hl.-Geist-Spital, St. Jakobs-Spital, St. Antonspfründe) zu nennen, die sich allerdings in unserem Betrachtungszeitraum nur teilweise bzw. nach zum Teil wechselhafter Gründungsgeschichte nicht immer kontinuierlich behaupten konnten28: Mit Ausnahme der St. Antonspfründe, die als reine Vermögensanlage in erster Linie zur Rechtssicherung des agnatischen Erbes der Gründerfamilie diente, entsprangen diese SpitalstiftunIn einer undatierten Urkunde des Eichstätter Bischofs Uodalfried (912–932) wird die Schenkung eines Hofes zu Spitalzwecken „ad Augustam civitatem“ erwähnt. Überlieferung in: München Bayerische Staatsbibliothek, Handschriften Clm 29880 (Fragment eines Kopialbuchs aus dem 11. Jahrhundert); Druck in: Die Regesten der Bischöfe von Eichstätt, Band 1, bearb. v. Franz Heidingsfelder (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte 6/1), Innsbruck 1915, S. 44, Nr. 116. 28 Die älteste nachweisbare Schenkung zu Spitalzwecken „ad Augustam civitatem“ (um 930 vom Eichstätter Bischof Uodalfried) ist wohl bereits im 10. Jahrhundert abgegangen, da keine weitere Nennung bekannt ist und kein Zusammenhang mit dem ältesten, urkundlich belegten Spitalgebäude unter Bischof Ulrich besteht. – Hl.-Geist: Für die Stiftung einer nicht näher bezeichneten Person namens Walger stellt der Augsburger Bischof Ulrich nach 955 ein Gebäude zur Verfügung, das nach seiner Verlagerung 1143 als Spital bei Hl. Kreuz ab 1200 an Bedeutung verliert, 1245 als Neugründung „sancti spiritus Auguste“ in der Nähe des Ulrichsklosters mit päpstlichen Privilegien ausgestattet wird und ab 1283 mit konstant anwachsendem Grundbesitz in und um Augsburg unter städtischer Pflegschaft steht, ohne ganz in städtische Hand überzugehen. – St. Jakob, auf Initiative des Rates 1348 als erste, rein bürgerliche Spitalstiftung in Augsburg gegründet, wird ab 1538/43 mit dem eingezogenen Vermögen geistlicher Stiftungen in die Gebäude des ehemaligen Barfüßerklosters verlegt. – St. Anton als privates Spital für männliche Laien, die aus Not um Aufnahme bitten, vom Kaufmann Lorenz Egen 1410 begründet, wird als St. Antonspfründe von Peter Egen/von Argon 1455 reich dotiert und erfährt 1532 durch die letzten Nachfahren der Familie weitere Kapitalerhöhungen. – Stellvertretend für die v.a. älteren Einzelarbeiten zu den Augsburger Spitalgründungen sei hier als den Forschungsstand zusammenfassender Beitrag mit entsprechenden Nachweisen genannt: Peter Lengle, Spitäler, Stiftungen und Bruderschaften. In: Geschichte der Stadt Augsburg von der Römerzeit bis zur Gegenwart, hrsg. v. Gunther Gottlieb u.a., Stuttgart 1984, S. 202–208. Zum Hl.-Geist-Spital neuerdings Cramer-Fürtig (wie Anm. 22) S. 110–113. 27
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gen dem auch in der Handels- und Gewerbestadt Augsburg zunehmenden Impetus karitativer Fürsorge. Im Gegensatz zu den Fuggerstiftungen, die immer bei der Familie blieben, wurde die Stiftung der St. Antonspfründe, die sich nach dem Tod des letzten Familienmitglieds der Egen (1532) bis 1807 eigenständig halten konnte, 1813 vom Magistrat der Stadt Augsburg übernommen29. Während die abgegangene erste Spitaleinrichtung und das Hl.-Geist-Spital die Versorgung von armen und besonders von kranken Bedürftigen im Blick hatten, lässt sich das städtische St.-Jakobs-Spital eher als erstes Armen- und Altenheim der Stadt Augsburg bezeichnen, in das verarmte Bürger und Ratsmitglieder Aufnahme finden konnten. Mit der Spitalordnung von 1462 wurde dem Versuch des Pfründenerwerbs durch vermögende Bürger ein Riegel vorgeschoben, sich und ihren Nachfahren durch den Kauf sog. ewiger Betten eine Art spätmittelalterlicher Altersversorgung durch die Stadt zu sichern30. Im Gegensatz zum weiter gefassten Aufgabenspektrum der Spitäler legten die drei im Untersuchungszeitraum nachweisbaren Siechenhäuser als Spezialeinrichtungen für Leprakranke ihren Schwerpunkt ganz auf präventive Maßnahmen zur Einschränkung der Seuche und Erhaltung der Gesundheit der Stadtgesellschaft (Verringerung der Ansteckungsgefahr) mit der Unterbringung der Aussätzigen in Gebäuden vor den Toren der Stadt31. Wie das Jakobs-Spital sind Siechenhäuser als bürgerliche Stiftungen zu bewerten, die von städtischen Pflegern verwaltet wurden32. AllerRolf Kiessling – Heinz Münzenrieder, Artikel St. Antonspfründe. In: Augsburger Stadtlexikon (wie Anm. 19) S. 240. – Vgl. dazu mit zum Teil neuen Ergebnissen: Rolf Kiessling (bearb. v. Thomas Max Safley), Antonspfründe. In: Stiften gehen! (wie Anm. 1) S. 136–143. 30 Kiessling (wie Anm. 2) S. 173 f. 31 Ebd. (wie Anm. 2) S. 168–173. – Im Gegensatz zu den Leprosen-Siechenhäusern wurde das 1495 vom städtischen Rat errichtete Blatterhaus zur Isolierung von Syphiliskranken eingerichtet. Vgl. Kiessling (wie Anm. 2) S. 232. – Neue Ansätze zur Rolle der Augsburger Stiftungen bei Krankheit und Beeinträchtigung bringen: Annemarie Kinzelbach, Gestiftetes Gesundheitswesen. In: Stiften gehen! (wie Anm. 1) S. 56–63 und Bianca Frohne, Stiftungsgeschichte und Disability History der Vormoderne. Eine Annäherung. In: Ebd. S. 168–173. 32 St. Servatius, 1245 erstmals erwähnt und vielleicht aus dem Hl.-Geist-Spital heraus entstanden, wird 1288 durch eine Stiftung der Familie Langenmantel erweitert und steht seit ca. 1299 als früheste (bürgerliche) Einrichtung zur Unterbringung von Leprakranken unter städtischer Pflegschaft. – St. Sebastian, vor 1425 von unbekannten (bürgerlichen?) Stiftern gegründet und als „Leprosenspital“ vor dem Jakobertor 1448 erstmals erwähnt, steht spätestens ab 1458 unter städtischer Pflegschaft. – St. Wolfgang von unbekannten (bürgerlichen?) Stiftern im 15. Jahrhundert gegründet, 1448 als Leprosenhaus an der Wertachbrü29
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dings ist darauf hinzuweisen, dass heute keine Stiftungsurkunden mehr vorhanden sind und die Überlieferung der Siechenhäuser erst in der Zeit der städtischen Pflegschaft einsetzt. Als weitere Form von Versorgungseinrichtungen, die bürgerlichem Stiftungswillen entstammen, sind in Augsburg die Pilgerhospize zu nennen. Sie dienten der Beherbergung ärmerer Reisender, die sich im Gegensatz zu vermögenderen Pilgern und Wallfahrern keine Unterkunft in Wirtshäusern leisten konnten. Zunächst eher eine Aufgabe der Klöster, steht die 1426 erfolgte Gründung eines Pilgerhauses durch das kinderlose Kaufmannsehepaar Afra (geb. Bischof ) und Konrad Hirn, das ab 1420 zahlreiche karitativ-religiös motivierte Stiftungsaktivitäten entfaltete, stellvertretend für die sich in Augsburg im 15. Jahrhundert generell abzeichnende bürgerliche Stiftertendenz, ärmere Schichten zu unterstützen33. Der hier bereits erkennbare Wandel von der ursprünglich rein religiös begründeten Sorge um das eigene Seelenheil hin zur karitativen Armenfürsorge wird dann vorwiegend in den weiter unten vorgestellten bürgerlichen Almosenstiftungen fassbar. Dagegen zeigt die 1488 erfolgte Stiftung des sog. Vierbruderhauses, das seinen Namen von der Versorgung von vier (geistlichen) Brüdern mit Kleidung, Wohnung und Verpflegung ableitete, die dafür täglich bei St. Ulrich zu Ehren der Stifter zu beten und wöchentlich bei St. Jakob und Hl. Geist die Jahrtage und Gottberate aufzusuchen hatten, noch den Charakter einer ausgesprochen religiös motivierten Einrichtung. Diese Vier-Brüder-Stiftung war Teil der mehrere religiöse Einzelstiftungen mit nachgeordneten karitativen Elementen umfassenden reichen Stiftung des ebenfalls ohne Nachkommen gebliebenen Kaufmannsehepaares Ursula (geb. Rehlinger) und Jakob Haustetter, die 1496 mit weiterem Kapital aufgestockt wurde34. An dieser Stelle sei ein Abstecher zu der leider noch nicht geschriebenen Geschichte der Augsburger Bruderschaften gemacht. Aus der Entwicklungsgeschichte des Hl.-Geist-Spitals im Jahr 1245, das bei St. Ulrich und cke erstmals erwähnt, steht seit ca. 1472 unter städtischer Pflegschaft. – Vgl. Lengle (wie Anm. 28) S. 206. – Zu St. Sebastian: Susanna Friedla, Die St.-Sebastian-Siechenhäuser. In Stiften gehen! (wie Anm. 1) S. 170–173. – Zum bislang nicht näher untersuchten Leprosenhaus bei der Radegundiskapelle bei Wellenburg: Nicole Riegel, Kurzporträt Radegundiskapelle und Siechenhaus. In: Ebd. S. 166–169. 33 Vgl. Johann Trometer, Das Augsburger Pilgerhaus. Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte einer caritativen Einrichtung vom 16. Jahrhundert bis 1806, Diss. Augsburg 1997. 34 Dazu: Kiessling (wie Anm. 2) S. 229 und 237.
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Afra anfangs von einer ordensähnlichen Laienbruderschaft (Spitalbrüder) betreut worden ist, die nach der Regel des Hl. Augustinus lebte, wird deutlich, dass es in Augsburg schon im 13. Jahrhundert solche klösterlichen Gemeinschaften gegeben haben muss, die als Zusammenschluss von Laien und Klerus, aber nicht als geistliche Ordensgemeinschaften zu bezeichnen sind35. Die offizielle Wiederbegründung einer St.-Ulrichs-Bruderschaft ist allerdings erst 1440 nachzuweisen36, die wie die weiteren im 15. Jahrhundert belegten Bruderschaften bei St. Anna, St. Georg, Hl. Kreuz, St. Mang und St. Moritz das gleiche Ziel verfolgten wie viele Bürgerstiftungen, nämlich in Gottesdiensten und Totengedenken die Zusicherung des eigenen Seelenheils zu garantieren. Das Nebeneinander von rein religiös motivierten Bürgerstiftungen, die auf der Grundlage von Seelgaben noch vorwiegend auf die Förderung des eigenen Seelenheils abzielten und Stiftungen, die bereits die Absicht der Armen- und Krankenfürsorge erkennen lassen, ist in Augsburg vom Ende des 13. Jahrhunderts bis zur Reformationszeit in vielfältigen Varianten zu finden37. So stellen alle in Augsburg zwischen 1350 und 1450 von vermögenden Augsburger Bürgern gegründeten Seelhäuser einen geschlossenen Stiftungstyp dar, der allein schon über die in den Quellen des Spätmittelalters häufig aufscheinende Bezeichnung „Seelgerät“ einen doppelten Charakter mit religiösem Bezug zur Erlangung von Seelenheil, aber auch mit sozialem Konnex zu Tätigkeiten im Bereich der Seelsorge erkennen lässt38. Eine Nähe zur „devotio moderna“ der für Augsburg nach neueVgl. dazu die Urkunde von 1247 VI 27 im Urkundenbuch der Stadt Augsburg, hrsg. v. Christian Meyer, Band 1 (wie Anm. 22) Nr. 4, S. 4: „… quem fratres communi consensu vel fratrum maior pars consilii sanioris secundum deum et beati Augustini regulam providerint eligendum“. – Kurzer Überblick zu den Bruderschaften in Augsburg: Kiessling (wie Anm. 2) 292 f. und Norbert Hörberg, Artikel Bruderschaft(en). In: Augsburger Stadtlexikon (wie Anm. 19) S. 312 f. 36 Vgl. dazu neuerdings Jakob Rasch, Mit vereinten Kräften. Die Ulrichsbruderschaft und der spätgotische Neubau von St. Ulrich und Afra. In: Stiften gehen! (wie Anm. 1) S. 152–155. 37 Die frühesten Nachweise liefern die beiden Gottberatbücher des Hl.-Geist-Spitals, vgl. Anm. 22. 38 Rufsches Seelhaus, 1353 von Mechtild Ruf für 10 arme Frauen bei Hl. Kreuz im Steuerbezirk „Von St. Anton“ gegründet. – Herwart-Seelhaus, vermutlich Gründung der Familie Eulentaler (vor 1350) für 6 Frauen, ist nach 1376 bei St. Moritz fassbar und kommt ab Mitte des 15. Jahrhunderts an die Herwart. – Gwerlich-Seelhaus, Anfang des 15. Jahrhunderts für 5 Frauen von einer „Winklerin“ ins Leben gerufen, trägt es ab 1484 die Bezeichnung „Töttin Selhus“, bevor es ab 1502 in den Steuerbüchern unter dem Namen „Gwerlich Selhus“ im Steuerbezirk „Vorstadt zum Windbrunnen“ auftaucht. – Bachsches 35
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rer Forschungsmeinung allerdings nicht nachweisbaren Beginenhäuser des 13. Jahrhunderts39 mag bei Einrichtung der Seelhäuser, in denen Gemeinschaften von unverheirateten oder verwitweten Frauen in einer Art religiösen Lebensform zusammenwohnten und ihren Stiftern im Gebet gedachten bzw. für deren Seelenheil beteten, eine Rolle gespielt haben. Auf jeden Fall weisen die Seelhäuser als Unterkünfte von Schwesternschaften, die ohne Ordensregeln quasi-klösterliche Gemeinschaften bildeten, gewisse Bezüge zur Lebensform der Laienbruderschaften, aber auch der Terziarinnen-Niederlassungen in Augsburg (Maria Stern, St. Martin, St. Clara) auf. Von ihrer Struktur her sind Seelhäuser allerdings als Pendant zum Spital St. Antonspfründe anzusehen: Sie dienten wie das Spital und Pfründenhaus in der Dominikanergasse zur Versorgung älterer Insassen, wurden aber nicht für Männer, sondern speziell für bedürftige „Seelfrauen“, die keinen sozialen Versorgungsstatus in der patriarchalisch ausgerichteten Gesellschaft des Spätmittelalters hatten, gegründet. Von ihrem Stiftungscharakter und der Form der bürgerlichen Stiftungspflegschaft müssen die Seelhäuser trotz ihrer Nähe zu Aufgaben der Frauenklöster, die durch ihre erstmals in Ordnungen des 16. Jahrhunderts auftauchenden
Seelhaus, 1411 von Katharina Bach für 8 Frauen am Hafnerberg im Steuerbezirk „Von St. Anton“ gestiftet. – Breyschuh-Seelhaus, 1425 von Anna Breyschuh beim Fronhoftor im Steuerbezirk „Von St. Anton“ für 4 Frauen eingerichtet. – Hirnsches Seelhaus, um 1440 von Afra Hirn in Ergänzung zu ihren anderen ab 1428 erfolgten Stiftungen für 4 arme Seelfrauen bei den Karmelitern im Steuerbezirk „Im Barthof“ geschaffen. – GößweinSeelhaus, in den Quellen als Stiftung des Webers Peter Gößwein nur zwischen 1450 und 1460 fassbar. – Vögelin-Seelhaus, um die Mitte des 15. Jahrhunderts von Anna Vögelin gegründet. – Vgl. dazu Herberger (wie Anm. 11) und Peter Geffcken, Artikel Seelhaus, Seelhäuser, in: Augsburger Stadtlexikon (wie Anm. 19) S. 810. Eine neue Bewertung der Augsburger Seelhäuser bei: Katharina Will (wie Anm. 20). Zum Hirnschen Seelhaus neuerdings: Barbara Baumeister, Fürsorge im Schatten der Kirche – Das Hirnsche Seelhaus. In: St. Anna in Augsburg. Eine Kirche und ihre Gemeinde, hrsg. v. Rolf Kiessling, Augsburg 2013, S. 77–92. 39 Vgl. z.B. die Dissertation von Gabriele Witt, Beginenhöfe. Die Stiftungen der Johanna und Margareta von Konstantinopel, Gräfinnen von Flandern und Hennegau (Regentschaft 1206–1280), Berlin 2005, die alle Beginen-Niederlassungen in Europa auflistet (S. 323– 333) und für Augsburg nur auf die inzwischen überholte Bibliographie „De Begijnhoven“ von L.J.M. Philippen von 1918 verweist, während Ute Weinmann, Mittelalterliche Frauenbewegungen: ihre Beziehungen zur Orthodoxie und Häresie (Frauen in Geschichte und Gesellschaft 9), Pfaffenweiler 1990 und Hannah Hien, Das Beginenwesen in fränkischen und bayerischen Bischofsstädten (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte IX/59), Stegaurach 2013 keine Nachweise zu Augsburg bringen.
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Verpflichtungen zur ambulanten Krankenpflege sogar noch betont wird, den sozialen Stiftungen in Augsburg zugerechnet werden. Bis 1572 gab es mit Ausnahme des 1446 erstmals in den Ratsprotokollen erwähnten Findelhauses kein Waisenhaus in Augsburg40. Ähnlich wie bei der Errichtung von St. Jakobs-Spital und Blatterhaus, bei denen die Krankenpflege in den Verwaltungsbereich der Stadt einbezogen wurde, griff der städtische Rat auch bei der Versorgung aufgefundener Kinder aktiv ein, weil das Problem der Proletarisierung der Unterschichten mit dem Aussetzen von Kindern immer weiter zunahm. Der Einsatz von verordneten Pflegern ab 1454, die sich seit 1458 gezielt um die Verwendung von Stiftungsgeldern für diese Kinder kümmerten, führte zum Ausbau des bis zur Reformationszeit im Findelgäßchen untergebrachten Findelkinderhauses, das 1536 nicht zuletzt aus Platzgründen in das ehemalige Terziarinnenkloster St. Clara an der Horbruck verlegt und 1565 räumlich erweitert wurde41. Neben all diesen bürgerlichen und städtischen Wohltätigkeitsstiftungen lassen sich in Augsburg verschiedene Formen von Almosenstiftungen finden, mit denen das Problem der Armut angegangen wurde. Das Phänomen der Armut im Sinne materieller Not, die nur mit fremder Hilfe angegangen werden konnte, rief bereits um die Mitte des 14. Jahrhunderts die karitative Fürsorge der Zünfte und des gehobenen Augsburger Stadtbürgertums hervor, als erste Almosenstiftungen zum Unterhalt von sog. Hausarmen im Wohn- und Steuerbezirk „unter den Lederern“ ins Leben gerufen wurden. Eine vorwiegend gewerblich getragene Fürsorgepolitik für die verarmten Mitglieder der Zünfte ist bis zu deren Aufhebung durch die Karolinische Regimentsordnung 1548 nachweisbar. Weil sich die Kirche größtenteils aus der Armenpflege zurückgezogen hatte, und die Bemühungen des Augsburger Bürgertums, die Armut mit Mahlzeitstiftungen, Seelgeräten, „großen Spenden“, „Almosen der Schüsseln“ und verschiedenen Formen materieller Unterstützung (wie Bekleidung) zu lindern, nicht mehr ausreichten, versuchte die Stadt die Armenpflege und das Bettelwesen völlig neu zu ordnen, wobei zwischen „Hausarmen“ und städtischen Almosenempfängern auf der einen und „professionellen“ und fremden
StadtAA, Reichsstadt, Rat, Protokolle II, Einträge zu 1446, fol. 219. Kiessling (wie Anm. 2) S. 232 f.; mit zum Teil neuen Ergebnissen: Gisela Drossbach – Melina Gros, Findelhausstiftung. In: Stiften gehen! (wie Anm. 1) S. 144–147. 40 41
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Bettlern auf der anderen Seite unterschieden wurde42. So ist bereits 1444 das Amt eines sog. Schiermaisters und 1460 aufbauend auf der Bettelordnung von 1459 das Ratsamt eines Bettelmeisters oder Bettelherren in den Ratsämterverzeichnissen zu finden43, bevor der städtische Rat 1522 eine Almosenordnung erließ und mit der neugeschaffenen Almosenkasse, die von sechs Almosen- oder sog. Säckelherren verwaltet wurde, die meisten außerkirchlichen Einzelstiftungen aus vorhergehender Zeit neu organisierte44. Allerdings fehlen zur Zentralisierung der Stiftungen durch die Stadt noch genauere Untersuchungen, denn das Beispiel der Hirnschen Stiftung zeigt, dass sich Stiftungen wie in diesem Fall aus Stipendien und Fördergeldern der Goldschmiede nach eher zünftischen Grundlagen organisieren und bis ins 20. Jahrhundert eigenständig erhalten konnten45. Mit dem Begriff der „Hausarmen“ sind im Unterschied zu den öffentlichen Almosen empfängern sowie den professionellen und auswärtigen Straßenbettlern alle ansässigen Bedürftigen und ehrbaren Armen gemeint, die von den Vermögenden Unterstützung und Almosen „im hause“ erhielten, d.h. in der Stadt wohnhaft und „haussitzend“ waren sowie von den Stiftern per definitionem als „verschämte Arme“ nicht zu den „starken“ (Berufs-) Bettlern gerechnet wurden. Hausarme konnten in Augsburg also durchaus auch in Not geratene Arme mit Bürgerrecht sein, im Regelfall handelte es sich aber um bedürftige Vertreter der untersten städtischen Bevölkerungsschichten (Beisitzer, Beisassen, Schutzverwandte, Dienstboten, Ehalten, Taglöhner, Tagwerker etc.), die rechtlich und sozial nicht zur Bürgerschaft gehörten und als billige Hilfskräfte oder Lohnarbeiter oft keinen sicheren oder festen Arbeitsplatz hatten. Gegen Zahlung eines jährlichen Schutzgeldes erwarben sie zwar das persönliche und lebenslängliche, jedoch nicht übertragbare Anrecht (im Sinne von ererbt, erheiratet, erkauft oder verliehen) in der Stadt zu leben und zu arbeiten. Vgl. dazu Detlev Schröder, Stadt Augsburg (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben, Reihe I, 10) München 1975, S. 72–76. – Allgemein zur Definition von Hausarmen vgl. ausführlich Ernst Schubert, „Hausarme Leute“, „starke Bettler“: Einschränkungen und Umformungen des Almosengedankens um 1400 und um 1500. In: Armut im Mittelalter, hrsg. v. Otto Gerhard Oexle und Gerhard Michael, Sigmaringen 2004, S. 283–347. Hinweise auf eine Kommunalisierung des Armenrechts in Augsburg sind in den städtischen Bettelordnungen des 15. Jahrhunderts und der städtischen Bettelgesetzgebung des 16. Jahrhunderts zu finden; Beispiele dazu bei Claus-Peter Clasen, Armenfürsorge in Augsburg vor dem Dreißigjährigen Kriege. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 76 (1982) S. 65–115. 43 Vgl. Kiessling (wie Anm. 2) S. 216–218. 44 Dazu: Max Bisle, Die öffentliche Armenpflege der Reichsstadt Augsburg mit Berücksichtigung der einschlägigen Verhältnisse in anderen Reichsstädten Süddeutschlands. Ein Beitrag zur christlichen Kulturgeschichte, Paderborn 1904. 45 Dazu mit völlig neuen Ergebnissen: Gabriele Victoria Schaffner, Stiften mit (Afra und Konrad) Hirn. In: Stiften gehen! (wie Anm. 1) S. 130–135. – Bislang noch überhaupt nicht im Fokus wissenschaftlicher Bearbeitung stand das Almosenhaus der Zobel in Augsburg. Vgl. jetzt: Heidrun Lange-Krach, Die Stiftungen von Martin Zobel. In: Ebd. S. 178–181. 42
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Zu den spätestens ab 1522 von der Stadt verwalteten Einzelstiftungen gehörten auch die zahlreichen, oft mit einem Jahrtagsgottesdienst gekoppelten bürgerlichen Stiftungen der sog. Gottberate – hier reichte das Stifterspektrum von kleinen Bürgerfamilien bis hin zu den großen Patriziern –, deren wesentlicher Bestandteil Spenden in Geld- und Naturalform waren, die als Mahlzeitstiftungen für das Hl.-Geist-Spital und die übrigen Spitäler vorwiegend an die Insassen der Augsburger Siechenstuben der Stadt verteilt wurden. Aufgrund ihres Almosencharakters der sozialen Unterstützung und Fürsorge für Bedürftige und Kranke ist diese im Spätmittelalter zunächst noch bei den Kirchen angesiedelte Stiftungsform als Mischform der religiös motivierten Sozialstiftung nicht nur den jenseitsbezogenen frommen Stiftungen, sondern auch den Almosenstiftungen zuzuordnen46. Die von Kießling angeführten Beispiele bieten einen Eindruck von der seit dem 15. Jahrhundert üblichen Zusammenstellung der Mahlzeitstiftungen, die zunächst aber auch einfachere Getreidegaben und eher selten besondere Reichnisse beinhalten konnten47. Daneben waren in Augsburg die Reste von insgesamt sechs heute nachweisbaren Seelgerät-Stiftungen zu verwalten, die zwischen 1330 und 1370 in enger personeller wie administrativer Nähe zur vorzünftischen Fürsorgepolitik der ab 1324 genossenschaftlich organisierten „gemain der ledrer“ standen. Von den einzelnen Stiftungskapitalien der im Stadtteil „unter den Lederern“ bei den Lechkanälen in Erscheinung tretenden Almosenstiftungen der Seelgeräte, die in Hauszinsen angelegt und versteuert wurden, lässt sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts neben dem von vornherein eigenständigen Kuntzingerischen Seelgerät nur noch das im 15. Jahrhundert vereinigte Lang-Hegniberg-Seelgerät nachweisen, das dann allerdings mit gefestigter Stiftungseigenschaft ohne den anfangs engen Bezug zur Lederer zunft aufscheint48. Es kann jedoch trotz fehlender Untersuchungen davon Zur Auswertung der Gottberatbücher des Hl.-Geist-Spitals mit charakteristischen Beispielen bei Kiessling (wie Anm. 2) S. 219–221 und Zahlen bei Lengle (wie Anm. 21) S. 155 f. 47 Kiessling (wie Anm. 4) S. 40 f. nennt z.B.: Heinrich Wiener von Friedberg 1304 (Eier und Brezen), Heinrich Klöckelmann 1313 (nur Getreide – Roggen und Kern), Konrad Höslin 1412 (Wein, Brot, Suppenfleisch, Kraut, Schweinefleisch). 48 Gailsches Seelgerät (seit den 30er Jahren des 14. Jahrhunderts), Langsches Seelgerät (seit 1346), Hegnibergsches Seelgerät (seit 1351), Kuntzingersches Seelgerät (seit 1351), Vedersches Seelgerät (1377–1398), Vorstersches Seelgerät (1380–1398): Alle Angaben und Belege bei Kiessling (wie Anm. 2) S. 221 f. Vgl. hierzu auch Herberger (wie Anm. 11). – Im Steuerbuch von 1521 (StadtAA, Reichsstadt, Steueramt, Rechnungen (Steuerbücher) 46
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ausgegangen werden, dass die Zünfte vor allem nach 1368, aber auch nach 1478, als sich mit dem Tod des Zunftbürgermeisters Ulrich Schwarz die seit der Zunfterhebung 1368 bestehende Zunftverfassung der Stadt zugunsten einer Ratsoligarchie verschob, mit Zunftkassen agierten, die eine Versorgung ärmerer oder bedürftiger Zunftmitglieder garantierte. Eine weitere Kategorie von Almosenstiftungen, die nicht institutionell gebunden waren, ist mit den sog. großen Spenden der Stadt verbunden, die seit der für seine Zeit zumindest in finanztechnischer Hinsicht ungewöhnlichen Stiftung des Patriziers Ulrich Ilsung von 1364 im städtischen Salzstadel verwaltet wurden und in der Folge eine Reihe von bürgerlichen Einzelstiftungen nach sich zogen. Ihr Kennzeichen war eine Almosenspende auf der Basis von Zinsen aus Kapital, das bei der Stadt angelegt wurde. Aus Geldnot hatte die Stadt beim Domkapitel ein Darlehen zum Bau der Stadtmauer aufgenommen, das Ulrich Ilsung 1360 ablöste und 1364 den dafür jährlich von der Stadt gezahlten Zins in eine Stiftung umwandelte, die auf dem Salzstadel an arme Leute verteilt werden sollte und 1432 in den sog. großen Spenden der Stadt aufging. Seit dieser Zuwendung war der Salzstadel vor allem in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts Anlaufpunkt für weitere bürgerliche Almosenstiftungen, die sich an der Transaktion von Ulrich Ilsung ein Beispiel nahmen und ihre bei der Stadt angelegten Zinsen zur Verteilung an Arme zur Verfügung stellten, ohne damit jedoch einen entscheidenden Beitrag zur Eindämmung der Armut zu leisten. Dafür waren die Spendenbeträge zu gering und der Bedarf zu groß49. Wirksamer waren da schon die ebenfalls im 15. Jahrhundert von Augsburger Bürgern ins Leben gerufenen Stiftungen, die unter der Bezeichnung „Almosen der Schüsseln“ versuchten, die zunehmende Armut durch Verteilung von wöchentlichen Schüsselspenden mit Grundnahrungsmitteln an Augsburger Hausarme abzuwenden. Dazu wurden die festen Zinsen verwendet, die bei der Stadt angelegte Kapitalien in Form von Ewiggeldern erbrachten. Die hierbei vorgenommene systematische und regelmäßige Verteilung von Lebensmitteln (in der Regel Fleisch, Brot und Schmalz) 1521) taucht im Steuerbezirk „Bilgerin hawß“ (fol. 34v) neben dem „kientzingers selgeret“ (= Kuntzingersches Seelgerät) auch ein „hirns seelgeret“ auf. 49 Ulrich (II) Ilsung (1360), Anna Minner (1463), Gilg Schneider (1476), Jakob (II) Haustetter (1488/1496); vgl. Kiessling (wie Anm. 2) S. 222 f. mit einschlägigen Quellenverweisen. – Zu dem in der Forschung bislang nicht beachteten Gilg-Schneider-Bethaus neuerdings Gabriele Victoria Schaffner, vmb meiner seelen hail willen. Die Seelgerätstiftungen Gilg Schneiders. In: Stiften gehen! (wie Anm. 1) S. 156–161.
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lässt bereits Vorformen einer dauerhaft organisierten Almosen-Fürsorge erkennen50. Schließlich müssen noch die Stiftungen zur vorübergehenden Versorgung von Hausarmen für einen bemessenen Zeitraum in Form von Sachzuteilungen für Wohnung und Bekleidung aufgeführt werden, die aber auch zur Finanzierung von Gegenständen als Aussteuer- oder Heiratsgutstiftung vorkommen konnten51. Zwar begegnen uns hier wieder einige Almosenstiftungen, die typologisch teilweise auch einer anderen Stiftungsform zugeordnet werden können, das entscheidende Merkmal dieser umfangreichen und verschiedene Unterstützungsvarianten umfassenden Stiftungen war aber gerade ihre Kombination aus Geld- und Sachzuwendungen zur Versorgung der Grundbedürfnisse von Hausarmen. Einige grundlegende Fragen wirft die 1516 als Wohnanlage für „intakte Familien“, die „offenlich das almusen nit suechen“52, gestiftete Sozialsiedlung der Fuggerei auf: Als Wohnform, die u.a. Handwerkern die Möglichkeit bot, ihrer Arbeit in der Siedlung nachzugehen, zielte die Fuggerei im Gegensatz zum Charakter der religiösen Anstalt in Seelhaus- bzw. Spitalform nicht mehr auf die geschlossene Gemeinschaft nach klösterlichem Vorbild, sondern bot ein Haus gegen reduzierten jährlichen Mietzins53 für die Bevölkerungsschichten an, die den Aufschwung zum Großbürgertum ermöglicht, aber selbst verpasst hatten. Mit diesen im Vergleich zu den bisher in der Stadt üblichen Stiftungsformen neuartigen gemeinnützigen Unterstützungsleistungen trug der Aufbau der ersten Sozialsiedlung dieser Art in Augsburg dazu bei, gefährdete bürgerliche Unterschichten in die Konrad Vögelin (1433), Gilg Schneider (1476/1481), Heinrich und Clara Müller (1476/1491), Jakob (II) Haustetter (1496), Ulrich (II) Meuting (1512); vgl. Kiessling (wie Anm. 2) S. 223 mit entsprechenden Quellenangaben. 51 Konrad Hegniberg (1361), Johann (I) Meuting (1448/1483), Afra und Konrad Hirn (1458), Ursula Rephun (1463), Ursula Gwerlich (1473), Heinrich Müller (1476), Gilg Schneider (1476/1481), Jakob (II) Haustetter (1496), Anton Herwart (1503/1508), Radegunde Gossembrot (1508); alle Nachweise bei Kiessling (wie Anm. 2) S. 223–225. – Vgl. auch ders. (wie Anm. 4) S. 47–50. 52 Vertrag zwischen der Stadt und Jakob (II) Fugger von 1516 Juni 6 (Original im Fuggerarchiv; Druck bei: Josef Weidenbacher, Die Fuggerei in Augsburg, Augsburg 1926, Anhang 4). 53 Was bislang fehlt, sind genauere Untersuchungen zu den in Augsburg in dieser Zeit verlangten Mietzinsen. Aus neueren Forschungsergebnissen – vgl. Gabriele Victoria Schaffner (wie Anm. 49) S. 156–161, hier S. 157 – geht hervor, dass ein zumindest für Seelhäuser geltender Mietzins zwischen 1 und 2 Gulden rheinisch pro Jahr in Augsburg der Regelfall gewesen zu sein scheint. Damit muss die bislang in der Forschung übliche Bewertung eines symbolischen Mietzinses in der Fuggerei revidiert werden. 50
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städtische Gesellschaft zu integrieren. Ein weiteres besonderes Kennzeichen dieser sozialen Wohnsiedlung ist, dass der 1523 baulich realisierte eigenständige Immunitätsbereich der Fuggerei bis heute ohne Einfluss geistlicher, staatlicher oder kommunaler Hand als eigene Rechtspersönlichkeit unter der Leitung der Fugger´schen Stiftungsadministration existiert54. Freilich darf hier nicht übersehen werden, dass das „soziale Mäzenatentum“ des Jakob (II) Fugger55, aber auch die Aktivitäten seiner nicht minder erfolgreichen Zeitgenossen Joachim (I) Höchstetter und Bartholomäus (V) Welser schon im Spiegel zeitgenössischer Bewertung den Beigeschmack von „frühkapitalistischem“ Gewinnstreben hatten56. So können ihre Stiftungen, insbesondere die große Sozialstiftung der Fuggerei auch als „Geschäfte“ mit der Stadt „auf Gegenleistung“ interpretiert werden. Der zwischen der Stadt und Jakob (II) Fugger geschlossene Vertrag von 1516, der mangels einer eigentlichen Gründungsurkunde als der eigentliche Stiftungsbrief der Fuggerei bezeichnet werden kann57, war letztlich nichts anderes als die städtische Bestätigung eines zwischen beiden Parteien abgeschlossenen Handels über die seit 1514 gekauften Anwesen am Kappenzipfel. Genauso stellt die städtische Vereinbarung mit Jakob (II) Fugger von 1520 ein wichtiges politisches Statement dar, weil das dort festgelegte Steuerabkommen mit dem Handelshaus für beide Seiten mit weitreichenden Folgen verbunden war. Beide Dokumente, deren eigentliche Bedeutung nicht unbedingt auf den ersten Blick zu erkennen ist, müsVgl. dazu Pölnitz (wie Anm. 15). – Zur Fuggerei neben Weidenbacher (wie Anm. 52); Marion Tietz-Strödel, Die Fuggerei in Augsburg. Studien zur Entwicklung des sozialen Stiftungsbaues im 15. und 16. Jahrhundert (Studien zur Fuggergeschichte 19), Tübingen 1982 und Scheller (wie Anm. 10) neuerdings: Die Fuggerei. Geschichte – Bauten – Leben, hrsg. v. Astrid Gabler, München 2020; Benjamin Scheller, Die Stiftungen der Fugger und die Herausforderung der Reformation. In: Stiften gehen! (wie Anm. 1) S. 90–97 und Annemarie Kinzelbach, Das Schneidhaus der Fugger. In: Ebd. S. 174–177. 55 Götz Frhr. v. Pölnitz, Augsburger Kaufleute und Bankherren der Renaissance. In: Augusta 955–1955, hrsg. v. Hans Rinn, München 1955, S. 187–218, hier S. 216. 56 So kennzeichnet die Abschrift der mit Nachträgen bis 1564 geführten Chronik des Burkhard Zink Jakob (II) Fugger mit der durchaus mehrdeutigen Beschreibung als den „aller gewerbigest under den dreyen bruedern“ (Ulrich, Georg und Jakob), der „schier den ganntzenn hanndel … fuertt“. StadtAA, Selekt „Chroniken“ 11a, ohne Folioangabe, Eintrag „Von den hern Fuggernn“ als Chronikaufzeichnung zum Jahr 1504. – Zu den Stiftungsaktivitäten der Herwarth und Welser zwischen 1450 und 1520 vgl. Kiessling (wie Anm 1) S. 225 f., 240, 247 f. – Vgl. auch Ernst Kern, Studien zur Geschichte des Augsburger Kaufmannshauses der Höchstetter. In: Archiv für Kulturgeschichte 26 (1935) S. 162–198. 57 So schon Götz Frhr. v. Pölnitz, Jakob Fugger, Band 1: Kaiser, Kirche und Kapital in der oberdeutschen Renaissance, Tübingen 1949, S. 351. 54
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sen demnach als Ergebnisse von Abmachungen zwischen Stadt und Handelshaus gesehen werden, die eine Gründung der Sozialsiedlung in der Jakobervorstadt vor dem Barfüßertor erst ermöglicht haben58. Wie anders lässt es sich sonst erklären, dass Jakob (II) Fugger systematisch eine riesige Grundfläche mit dem Ausmaß von rund 10.000 Quadratmetern erwerben konnte, ohne dass es zu größeren Auseinandersetzungen mit der Stadtspitze gekommen ist? Oder anders gefragt: Konnte die Reichsstadt Augsburg, die selbst über keinen eigenen Land- und nur wenig Grundbesitz für ihre städtischen Gebäude innerhalb der eigenen Mauern verfügte59, es ungeregelt geschehen lassen, wenn ein enormer Besitzkomplex von 1 Hektar Fläche in wenigen Jahren in der Hand eines einzigen, hochsolventen Privatkäufers vereinigt wurde? War nicht zu befürchten, dass dadurch neben dem Immunitätsbereich des Hochstifts innerhalb der Reichsstadt60 ein weiterer exemter Stadtbezirk mit eigenständiger reichsfreier Rechtssouveränität und Steuerhoheit in Augsburg entstehen konnte, noch dazu, wenn sein Besitzer 1511 in den Reichsadels- und 1514 in den Reichsgrafenstand erhoben worden war? Auch wenn es heute keine Protokolle oder andere schriftliche Aufzeichnungen zu den eigentlichen Verhandlungen zwischen dem Rat der Stadt und Jakob (II) Fugger mehr zu geben scheint, zeigen die Fakten eine eindeutige Tendenz: Wenn der vermögendste Augsburger Handelsherr und Finanzier der Habsburger zwischen 1514 und 1516 sieben Häuser mit ihren Gärten (vier Anwesen der Anna Strauß und drei Häuser von Hans Zoller) für insgesamt 1.340 Gulden rheinisch zur Arrondierung der für die Fuggerei vorgesehenen Gesamtfläche erwerben konnte, dann nur mit Billigung der Stadt61. Der Vertrag von 1516 (wie Anm. 52) und die Vereinbarung zwischen der Stadt und Jakob (II) Fugger von 1520 April 16 (StadtAA, Urkundensammlung 1520 IV 16). 59 Einen Überblick dazu bietet: Schröder (wie Anm. 42) S. 71/Anm. 47. 60 Der Kampf des Reichsabtei St. Ulrich und Afra um die Unabhängigkeit vom Hochstift Augsburg beginnt erst um die Mitte des 16. Jahrhunderts und führt 1577 zur Anerkennung als freie Reichsabtei mit einem ab dieser Zeit exemten Besitz innerhalb der Reichsstadt. Vgl. dazu: Wilhelm Liebhart, Die Reichsabtei St. Ulrich und Afra zu Augsburg. Studien zu Besitz und Herrschaft (1006–1803) (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben, Reihe II, 2) Kallmünz 1982, S. 182–223. 61 Zudem ist bis heute mangels vorhandener Quellen nicht mehr zu klären, ob die bis 1516 erworbenen „Häuser, Hofsachen, Gärten und Flecken“ bereits der gesamten Fläche von 1 Hektar entsprachen oder ob es bis 1523 weitere Zukäufe gab. Zumindest ist diese Möglichkeit durch den Passus im Vertrag von 1516 „… auch vielleicht noch mehr dazu erkaufen … möchte, so in bemelter Stadt Augsburg Steuer liegen“ nicht auszuschließen (Zitate aus der Übertragung des Vertragswortlauts nach Weidenbacher, wie Anm. 52). 58
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Das zwischen beiden Verhandlungspartnern erzielte und möglicherweise ganz bewusst nicht schriftlich festgehaltene diplomatische Arrangement bot für beide Seiten große Vorteile: Die Stadt durfte sich durch die Stiftung einer Sozialsiedlung in der Größenordnung von zuletzt 53 bis 1523 errichteten Häusern, von denen sich schon im Steuerbuch von 1521 48 Häuser mit je zwei Wohneinheiten nachweisen lassen62, eine wesentliche, wenn auch private und rechtlich unabhängige Ergänzung ihres bereits in Planung befindlichen Programms zur zentralen Armenpflege (Almosenamt und Almosenordnung 1522) erwarten63. Darüber hinaus wurden mit dem Vertrag von 1520 mit jährlich zu zahlenden 1.200 Goldgulden endlich die seit Jahren „unbezalten, ausstenndigen und kunftigen stewr(en)“ Jakob (II) Fuggers festgeschrieben64, die im Hinblick auf sein eigentliches Gesamtvermögen die deutliche steuerliche Bevorzugung des kapitalkräftigsten Vertreters der Augsburger Oberschicht bedeuteten, der nicht umsonst später den Beinamen „der Reiche“ erhalten sollte. Bleibt zu betonen, dass die im Steuerbuch von 1521 angegebenen 1.200 Gulden „gesetzter steur“ trotz vertraglich geregelter „Deckelung“ die mit Abstand höchste Vermögensabgabe eines Augsburger Steuerzahlers darstellten65. Wenn auch die Auswertung der Jahressteuer von 1521, die einen Steuerfuß (Hebesatz) StadtAA, Reichsstadt, Steueramt, Rechnungen (Steuerbücher) 1521, fol.17v–18r. Die Bewohner der Fuggerei, die im Steuerbezirk „Im Kappenzipfel“ liegt, zahlten übrigens überwiegend Kopfsteuer in Höhe von 30 Pfennigen. Bei 14 Besteuerten beträgt die Steuerleistung 2 Pfund Pfennige Haussteuer; sie können somit als Besitzer der selbstgenutzten Häuser betrachtet werden. Eine genaue Analyse zu den unterschiedlichen Möglichkeiten der Häusernutzung (Miete, Mietkauf, Pacht, Hauskauf etc.) in den ersten Jahren nach Begründung der Wohnsiedlung steht noch aus. 63 Zu den städtischen Maßnahmen im 16. Jahrhundert: Claus-Peter Clasen, Armenfürsorge im 16. Jahrhundert. In: Geschichte der Stadt Augsburg. 2000 Jahre von der Römerzeit bis zur Gegenwart, hrsg. v. Gunther Gottlieb u.a., 2. Auflage, Stuttgart 1985, S. 337– 342. Neben einer Verschärfung der Bettler- und Almosenordnungen und der Einrichtung einer damit befassten Verwaltung sind auch die Neuordnung der Armenfürsorge 1541 und der Ausbau des Findelhauses 1536 und 1565 zu nennen. 64 Vereinbarung von 1520 (wie Anm. 58). 65 StadtAA, Reichsstadt, Steueramt, Rechnungen (Steuerbücher) 1521, fol. 46v (Steuerbezirk: „Sannt Katherinen gass“, fol. 46r–46v). Leider lässt sich nicht genau ermitteln, ob die mit „1200 fl“ angegebene Steuer in Goldgulden (wie im Vertrag von 1520 angegeben) oder rheinischen Gulden (als reinen Rechnungsgulden) angeschlagen wurde. – Neben Jakob (II) Fugger werden im Steuerbuch von 1521 namentlich auch sein (allerdings bereits 1510 verstorbener) Bruder Ulrich und dessen Sohn Hieronymus sowie seine weiteren Neffen Raymund und Anton Fugger (Söhne seines 1506 verstorbenen Bruders Georg) als Steuerzahler „gesetzter“ Vermögensabgaben von 140 und 500 Gulden rheinisch im Steuerbezirk „Vom Rappolt“ (fol. 48r) aufgeführt. 62
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von ½ Prozent als Anteil der zu versteuernden Vermögen aufweist, nichts über den tatsächlichen Vermögensstand Jakob Fuggers aussagt, hilft sie doch zumindest bei der Einschätzung seiner Steuerleistung im Vergleich zu allen anderen im Steuerbuch aufgelisteten Steuerpflichtigen weiter66. Nicht außer Betracht gelassen werden darf auch, dass die im Vertrag von 1520 anerkannte Steuererleichterung nicht nur als einseitiges finanz- und wirtschaftspolitisches Entgegenkommen der Stadt zu bewerten ist, brachte sie doch die Anerkennung der Steuerpflicht durch Jakob (II) Fugger und damit die rechtliche Bestätigung seines Bürgerstatus, mit dem auch indirekt die Ein- und Unterordnung seines Besitzes innerhalb der Stadt unter die Oberhoheit der Reichsstadt bestätigt wurde. Dafür bekam der gläubige Katholik die einmalige Möglichkeit, ohne Einmischung der Stadt sein – ähnlich wie bei der Ausstattung der Grabkapelle in St. Anna – nicht zuletzt auch der Memoria dienendes Buß- und Kompensationsprojekt einer Sozialsiedlung für „etliche Arme, bedürftige Bürger und Inwohner zu Augsburg, Handwerker, Taglöhner und andere, welche nicht betteln wollen“ zu realisieren67. Bezeichnenderweise lief das Konto der Fugger für Stiftungszwecke sozialer und kirchlicher Art auf den Namen „Konto St. Ulrich“, was den religiösen Charakter der Fuggerschen Stiftungsfinanzierung unterstreicht68, die ja auch bei seinen anderen beiden großen Augsburger Stiftungen (Grabkapelle in der Karmeliterkirche St. Anna und Prädikatur an der Kollegiat- und Pfarrkirche St. Moritz) eine Rolle spielt. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass das sog. Stiftungslibell für die Fuggerei nur vier Tage nach Jakob (II) Fuggers erstem Testament Die bezahlte Vermögenssteuer erscheint immer nur als Gesamtbetrag ohne Aufschlüsselung in „Fahrhabe“ und „liegend Gut“ (das mit halbem Wert versteuert wurde). So kann das tatsächliche Vermögen zwar nicht direkt berechnet, aber durch Minimal- und Maximalwerte eingegrenzt werden. Bei der auf 1.200 Goldgulden festgesetzten „bürgerlichen Jahrsteuer“ von Jakob (II) Fugger könnten nun anhand des Hebesatzes rein rechnerisch 240.000 Goldgulden von der Stadt an minimal angelegten Vermögenswerten ermittelt werden. Die eigentliche Finanzkraft des steuerlich Begünstigten dürfte allerdings weit höher gelegen haben, wenn man allein schon die Ausgaben der Fugger-Handelsgesellschaft für die Kaiserwahl Karls V. in Höhe von 543.585 Gulden rheinisch (Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 2o Cod Aug 126: Wahlkostenrechnung vom 28. Juni 1519) in Betracht zieht. 67 Kiessling (wie Anm. 2) S. 230. – Es ist nur konsequent, wenn die „Memoria“ sozusagen als religiöses und soziales Leitmotiv von Jakob (II) Fugger auch zur bestimmenden Leitlinie der bislang schlüssigsten Untersuchung zu den großen Fugger-Stiftungen durch Scheller (wie Anm. 10) geworden ist. 68 Vgl. Pölnitz (wie Anm. 55) S. 215. 66
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erstellt wurde, das ebenfalls mit kaufmännischer und streng kalkulierter Großzügigkeit Zuwendungen für fast alle kirchlichen Institutionen in Augsburg ausweist. Sein letzter Wille vom 27. August 1521 enthält zum einen Zuschüsse mit Auflagen (Messen und Seelenämter) für St. Magdalena (Dominikaner)69, Domstift, Barfüßer (Franziskaner), St. Georg, Heilig Kreuz, Karmeliterkloster (St. Anna), St. Moritz, St. Peter am Perlach, St. Stephan und St. Ulrich und Afra70. Zum anderen lassen sich Bestimmungen karitativer Nächstenliebe für die Armen und Kranken im Hl.Geist-Spital, im Spital St. Jakob, in den Siechenhäusern St. Sebastian, St. Servatius und St. Wolfgang, im Blatterhaus und in den sich besonders der Armen- und Krankenpflege annehmenden Frauenklöstern St. Clara an der Horbruck, St. Katharina, St. Margareth, Maria Stern, St. Martin, St. Nikolaus und St. Ursula finden71. Die Stiftung der Fuggerei ordnet sich damit ein in die Reihe der zahlreichen, von Jakob (II) Fugger erworbenen Ablassspenden72 und der letzten Willensverfügungen des „allergewerbigsten“ Augsburger Großkaufmanns73, der „gleichermaßen als König der Reichen … wie als Vater der Armen“74 gegen Ende seines Lebens eine ganz spezielle Art von Generalablass erzielen wollte, um sich aus religiösem Bedürfnis und christlich-karitativem Verständnis heraus, aber eben auch
Zu St. Magdalena neuerdings Florian A. Dorn, Sie sind Bettelminch gewesen. Ein historisches Kurzporträt des Dominikanerklosters St. Magdalena in Augsburg (1225–1808). In: Stiften gehen! (wie Anm. 1) S. 162–165. 70 Zu St. Ulrich und Afra vgl. jetzt Jakob Rasch (wie Anm. 36). 71 Abdruck des Testaments von 1521 bei: Georg Simnacher – Maria Gräfin v. Preysing, Die Fuggertestamente des 16. Jahrhunderts, Band 2: Edition der Testamente (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft 4/25), Weißenhorn 1992, S. 51–72. – Im Gegensatz zu familienpolitisch begründeten Änderungen (z.B. für seine Ehefrau Sibilla, geb. Arzt, die unter dem Einfluss ihrer Familie der neuen Lehre zuneigte) blieben die Bestimmungen für Seelgerät und Sozialsiedlung am Kappenzipfel auch im zweiten Testament Jakob (II) Fuggers vom 22. Dezember 1525, das ja seine Verfügungen von 1521 aufhob, erhalten. Vgl. dazu Georg Simnacher, Die Fuggertestamente des 16. Jahrhunderts, Band 1: Darstellung (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft 4/7), Tübingen 1960, S. 95–100, 104–116. 72 Zu der hier vorgenommenen Bewertung der Sozialsiedlung passt auch, dass Burkhardt Fuggers Ablassbriefe als „Steuerbescheinigungen für das Jenseits“ bezeichnet. Vgl. dazu Johannes Burkhardt, Warum Jakob Fugger nicht evangelisch wurde. In: Zwölf Fuggervorträge. Mit einer Auswahl von Buchpräsentationen, hrsg. v. Fuggerarchiv (fugger-digital 3), Augsburg 2014, S. 139–147, hier S. 142. 73 Vgl. Anm. 56. 74 Pölnitz (wie Anm. 57) S. 475. 69
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in zeittypischer Erwartung einer Gegenleistung im „Stiftungshandel“75 mit der Stadt und vor Gott von der Sünde des lebenslangen Anhäufens materiellen Reichtums zu entlasten. Bezeichnenderweise ist gerade dieses Bestreben in der Zusammenschau aller hier zur Gründung der Sozialsiedlung herangezogenen Dokumente als eine weitere Kapitalisierungsmaßnahme des Spitzenfinanziers seiner Zeit zu bewerten, die allerdings in diesem Fall die Rettung des eigenen Seelenheils als Gewinn erwirtschaften sollte. St i p e n d i e n s t i f t u n g e n In die gleiche Richtung wie die Almosenstiftungen scheinen auf den ersten Blick die Stipendienstiftungen des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts zu weisen. Allerdings ging es in diesen Fällen weder um Nahrungsmittelversorgung und Sachreichnisse für Grundbedürfnisse wie Wohnung und Kleidung noch um Aussteuer oder Heiratsgut für Hausarme, sondern um die Unterstützung von mittellosen Schülern oder Studenten. Die zunächst vorwiegend von Geistlichen und Gelehrten, später auch von Bürgern veranlassten Stiftungen zur Förderung des geistlichen Nachwuchses (vor allem in den Domschulen), deren Beträge in der Regel an den realen Lebenshaltungskosten ausgerichtet gewesen sein dürften, waren aber eher selten und wurden von den übrigen Augsburger Stiftern kaum unterstützt, weil sie nach damaligem Stiftungsverständnis nicht den Wert eines barmherzigen Werkes für das eigene Seelenheil oder der sozialen Fürsorge mit lebensnotwendigen Sach- oder Geldzuwendungen besaßen76. Dieser Begriff ist bewusst in Anlehnung an den bereits Ende des 15. Jahrhunderts gebräuchlichen Begriff „Ablasshandel“ gewählt. – Dass Jakob (II) Fugger und seine vermögenden Augsburger Kaufmanns-Konkurrenten keine Einzelfälle sind, weil der Handelscharakter dieser Zeit auch das Verhältnis zur Kirche deutlich bestimmte, zeigt neuerdings der Sammelband: Der Kaufmann und der liebe Gott. Zu Kommerz und Kirche im Mittelalter und früher Neuzeit, hrsg. v. Antjekathrin Grassmann (Hansische Studien 18), Trier 2009. 76 Vgl. Kiessling (wie Anm. 2) S. 242 und ders. (wie Anm. 4) S. 50 mit Beispielen aus dem späten 15. und frühen 16. Jahrhundert: Magister Ulrich Langenmantel (I) (Propst und Chorherr von St. Moritz) für fünf Studienstipendien (1464), Johannes Ruch (Priester, Frühhumanist) für zwei Schüler (1474), Dr. Johannes Krener (Domprediger) für einen Studenten (1516). Leider gibt es bis heute keine eingehende Analyse der Augsburger Schulgeschichte in der reichsstädtischen Zeit. So kann hier mangels Belegen nur die These aufgestellt werden, dass die Bemühungen um die zahlenmässig zunehmenden Bildungsstiftungen im nachreformatorischen, bikonfessionellen Augsburg des ausgehenden 16. Jahrhunderts (z.B. Andreas Rehm 1572, Friedrich Ilsung 1587, Wilhelm Renz 1598) sich wohl den gleichen Beweggründen und Strömungen zuordnen lassen, die 1579 zur Stiftung (der Fugger) für das Jesuitenkolleg St. Salvator auf katholischer und 1580 zur Stiftung 75
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S c h l u s s b e t r a c h t u n g u n d Au s b l i c k Die hier vorgelegte Skizze stellt den Versuch dar, die Genese des Stiftungswesens in Augsburg von den Anfängen im Mittelalter bis zur Reformationszeit anhand von ausgewählten Beispielen überschaubar darzulegen. Ihre Methode, die für den Untersuchungszeitraum ermittelten Stiftungsformen einzuordnen und mit konkreten Beispielen zu veranschaulichen, kann und wird durch weitergehende Fragestellungen und Forschungsansätze der Augsburger Ausstellung „Stiften gehen! Wie man aus Not eine Tugend macht“ vertieft und ergänzt77. Denn mit dem Versuch einer Zuweisung der unterschiedlichen Stiftungsformen nach Adressat, Zweck und Motiven sollen und können neue Erkenntnisse zum Augsburger Stiftungswesen von den Anfängen bis zu den Umbruchsjahren der Reformation gewonnen werden: Das Spektrum der Stiftungsmotive in Augsburg reicht dabei von der Sorge um das eigene Seelenheil, die zunächst als rein subjektive Heilsversicherung zu begreifen ist, über den zunehmenden Bedeutungs- und Bewusstseinswandel der Stiftung von „Seelgeräten“ im Sinne guter Werke für Andere bis hin zu Almosen (Sach- und Geldspenden) für die Armen und Bedürftigen im Sinne karitativer und sozialer Fürsorge mit (verschiedener evangelischer Bürger) für das Kolleg St. Anna auf protestantischer Seite geführt haben. Zu den Stipendienstiftungen des ausgehenden 16. Jahrhunderts, die zeigen, dass Schule bis dahin im zumindest alphabetisierten Augsburg immer noch überwiegend familiär organisiert war, vgl. v.a. die beiden Sammelbestände im Stadtarchiv Augsburg: StadtAA, Stiftungen in Genere und Stiftungen von A–Z. – Zu den für die Augsburger Schulentwicklung in der Frühen Neuzeit wichtigen Stiftungen St. Anna Kolleg, St. Salvator und dem Institut der Englischen Fräulein zuletzt Barbara Rajkay, Das Evangelische Kolleg bei St. Anna. In: Stiften gehen! (wie Anm. 1) S. 186–189; Wolfgang Augustyn, Das Jesuitenkolleg St. Salvator. In: Ebd. S. 182–185; Florian Dörschel, Dienst an Gott durch Mädchenbildung. Das Institut der Englischen Fräulein. In: Ebd. S. 190–193. 77 Vgl. Anm. 1. Die dazu erforderlichen Dokumente liegen in großer Fülle in drei verschiedenen Überlieferungssträngen (1. Stadt, 2. Kirchen und Klöster, 3. nicht-kommunale Stiftungen, die z.T. in städtische Stiftungsverwaltung übergegangen sind) im Stadtarchiv Augsburg vor, ihr Manko ist der größtenteils noch veraltete, insgesamt ungenügende Ordnungs- und Erschließungszustand. Stellvertretend für die breite Quellenbasis seien hier nur die wichtigsten Bestände dieser drei großen Provenienzgruppen genannt: 1. Katholisches Wesensarchiv, Evangelisches Wesensarchiv, Oberstiftungspflege, Armenanstalten, Paritätische Krankenanstalten, Katholisches Findelhaus, Reichsstadt Akten, Urkundensammlung; 2. vgl. dazu Anm. 17; 3. Hl.-Geist-Spital, St. Jakobspfründe, St. Martinsstiftung, St. Antonspfründe, St. Servatius- und St. Sebastiansstiftung, St. Wolfgang, Zobelsche Akten, Stiftungen von A–Z, Bachsche Seelhausstiftung; (Afra und Konrad) Hirnsche Stiftung, JakobHaustetter-Stiftung, (Mechthild) Rufsche Stiftung. – Zur St. Martinsstiftung neuerdings: Christina von Berlin, St. Martinsstiftung. In: Stiften gehen! (wie Anm. 1) S. 118–121.
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dem objektiven Ziel der Eindämmung von Not. Wie das Beispiel der Fuggerschen Sozialsiedlung verdeutlicht, konnte das Bemühen um den Gemeinnutz aber auch deutliche Formen der Kapitalisierung des Seelenheils annehmen. Selbstverständlich vermag auch der Blick auf die gesellschaftliche Stellung der Stifter weiterführen. Als gemeinsames Kriterium aller Stifter – neben den Bischöfen und hohen Geistlichen stehen auf Bürgerseite zunächst v.a. Patrizier und wohlhabende Kaufleute – ist ihre herausgehobene Stellung bzw. ihr erwirtschaftetes Vermögen auszumachen. Neben den Leistungen der geistlichen und bürgerlichen Stiftungen ist die im 15. und vor allem im 16. Jahrhundert zunehmende Tendenz zu erkennen, dass die städtische Verwaltung die Organisation und die Aufgaben der bis dahin eher punktuell wahrgenommenen, religiös und sozial motivierten Caritas in größerem Stil zu zentralisieren versucht: So übernimmt und gründet der Rat der Stadt Spitäler, baut die Oberaufsicht über Stiftungen aus und regelt die Armenpflege. Wenn man die großen historischen Linien am Beispiel der Augsburger Stiftungsgeschichte nachvollzieht, lassen sich die folgenden Orientierungspunkte erkennen: Seit dem Mittelalter war es üblich, Vermächtnisse zur Gründung von Anstalten für notleidende, kranke oder alte Menschen an die Kirche zu übertragen. Weil diese Anstalten rechtliche Selbständigkeit erlangten, konnten sie gestiftet werden, ohne in kirchlichen Besitz zu gelangen, auch wenn sie weiterhin der kirchlichen Aufsicht unterlagen. So entwickelte sich die Stiftung von Anstalten, v.a. in Form von Hospitälern zur Pflege und Unterbringung von Kranken, Siechen, Alten und Armen oder auch als Pilgerherberge bis zum Beginn der Neuzeit. Die auf Vorgängermodellen des 10. Jahrhunderts aufbauende Stiftung des Hl.-GeistSpitals in Augsburg aus dem 13. Jahrhundert gehört dabei in ihrer jetzigen Form der Paritätischen Hospitalstiftung zu den ältesten, heute noch bestehenden Stiftungen in Deutschland. Erst Ende des 13. Jahrhunderts entstanden mehrheitlich die ersten weltlichen, vorwiegend bürgerlichen Förderstiftungen in Form von Sach- und Geldspenden, später dann auch in gezielten Unterstützungen und Stipendien, die sich zunehmend von den Anstalten lösten und selbständig organisiert wurden. Solche sozialen Fürsorgeprojekte als Wohltätigkeits-, Armen- und Almosenstiftungen können in Augsburg für das 14. und 15. Jahrhundert nachgewiesen werden, als Zuwendungen für bestimmte Bedürftige (Hausarme) in Augsburg zunehmend Teil bürgerlicher und gemeinnütziger Bestrebungen wurden. Das Erstarken des Bürgertums und der städtischen Verwaltung, die die Aufsicht über die Spitäler übernahm und die Genehmigung neuer Stiftun-
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gen regelte, lässt sich in Augsburg v.a. an der Spitalpflegschaft für das Hl.Geist-Spital und die Siechenhäuser seit 1283 aufzeigen. Überwog bei Stiftungen vor dem 16. Jahrhundert noch eindeutig die Verflechtung von religiös motivierten und sozial-karitativen Beweggründen, so stand ab 1522 die städtisch organisierte Armenfürsorge im Vordergrund. Im Gegensatz zu den eher kurz- und mittelfristigen und deshalb in Einzelfällen erfolgreichen bürgerlichen Hilfsaktionen sozialer Stiftungsvorhaben bei notleidenden Hausarmen, blieben die verstärkten Maßnahmen der städtischen Verwaltung, insbesondere des Almosenamtes zur Bekämpfung der fremden, „starken“ Bettler allerdings ohne langfristigen Erfolg. Zeichnete sich durch die Regelungen bei der Armenpflege, die Gründung der Fuggerschen Sozialsiedlung und die wirtschaftlichen Erfolge der Augsburger Handelshäuser noch vor der Reformation eine Art „Vollbeschäftigung“ neuer und ärmerer Einwanderer und Arbeitssuchender ab, griff gegen Ende des Jahrhunderts und vor dem Dreißigjährigen Krieg aufgrund des ökonomischen Abstiegs zahlreicher Augsburger Firmen infolge mangelnder Arbeitsgelegenheiten eine Welle der Verarmung um sich. Dafür setzte sich Ende des 16. Jahrhunderts mit der Einrichtung von Schulen und Kollegien auf katholischer und protestantischer Seite die Tendenz fort, Armutsprävention im weiteren Sinne auch durch Verbesserung des Bildungsniveaus zu erzielen. Trotz städtischer Bemühungen, die Armenfürsorge auch nach 1648 zentral zu verwalten, blieb das Bürgertum in seiner Konzentration auf die merkantilen Kräfte im Warenhandel und bei Geld- und Wechselgeschäften mit erfolgreichen Bankiers, Silberhändlern und Unternehmern (Kattundruck) bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert ein bestimmender Faktor im Augsburger Stiftungswesen, bevor nach der Mediatisierung 1806 mit der Integration der Stadt in den bayerischen Staat 1817 eine zentrale Reform des kommunalen Stiftungswesens stattfand.78
Neue Aspekte zur Einordnung der Stiftungen in die Augsburger Wirtschaftsgeschichte bei: Thomas Max Safley, Wirtschaftsgeschichte der Augsburger Stiftungen. In: Stiften gehen! (wie Anm. 1) S. 30–37. 78
Künstliche Intelligenz und Rechtspflege – eine Standortbestimmung Von Thomas Dickert 1 . So f t w a re f r i s s t d i e We l t Nicolai Kondratjew lebte von 1892 bis 1938 und war russischer Nationalökonom. Er ist der Erfinder der Kondratjew-Zyklen. Seine volkswirtschaftliche Theorie besagt, dass sich die Konjunktur in langen Wellen bewegt, wobei grundlegende technische Innovationen zu erheblichen Umwälzungen in Produktion, Beschäftigung, Organisation und Gesellschaft führen. Der 1. Zyklus, die Industrielle Revolution, wurde um 1800 mit der Erfindung der Dampfmaschine ausgelöst. Als 2. Zyklus gilt die Gründerzeit ab 1850, initiiert von der Erfindung von Eisenbahn und Dampfschiff. Das geht so weiter und ich will die Leserin und den Leser nicht langweilen. Hier von Interesse ist der 5. Zyklus, der zur Globalisierung führte und um 1990 begann; dieser startete mit der Implementierung der Informations- und Kommunikationstechnik. Lange wurde gerätselt, wodurch der 6. Kondratjew-Zyklus ausgelöst werden könnte. Diskutiert wurden Biotechnologie, Nanotechnik und Kernfusion. Doch weit gefehlt! Die wohl größte und nachhaltigste Veränderung in Wirtschaft und Gesellschaft wird durch eine andere Innovation ausgelöst, die Erfindung und Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI). Die bedeutenden Wagnis-Kapitalgeber des Silicon Valley, Marc Andreessen und Ben Horowitz, drücken es so aus:1 „Software frisst die Welt, indem sie die etablierten Industrien durch neue Modelle und Dienstleistungen ersetzt, die schneller, klüger und billiger sind. Das Internet, mobile Computer und die Cloud sind so weit fortgeschritten, dass sie sich auf so gut wie jede Industrie, jedes Problem anwenden lassen. Zuvor war Technologie Teil der Wirtschaft, heute ist Technologie dabei, die ganze Wirtschaft umzubauen.“ Plastische Beispiele für die Richtigkeit dieser These gibt es zuhauf: Amazon und eBay beseitigten den Katalog-Versandhandel. Die Digitale Fotografie verdrängte Fotofilme und die dazugehörenden KaZitiert nach: Armin Mahler – Thomas Schulz, Software frisst die Welt. In: Der Spiegel 15/2014, S. 78–86. 1
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meras (die allerdings derzeit bei jungen Leuten eine gewisse Renaissance erleben). Uber wird den herkömmlichen Taxiunternehmen gefährlich. Streaming-Dienste verdrängten weitgehend Videotheken aus dem Stadtbild. Und 3D-Druck ist dabei, die industrielle Fertigung zu revolutionieren. An dieser Stelle ist eine Definition angebracht, worum es sich bei KI handelt. Die Antwort ist schwierig, fehlt doch eine einheitliche und konsensfähige Begriffsbestimmung. Nach Maximilian Herberger2, Begründer des Instituts für Rechtsinformation an der Universität des Saarlandes und Ehrenvorsitzender des EDV-Gerichtstages, ist Intelligenz die Fähigkeit einer Instanz, in einem breiten Umfeld von Rahmenbedingungen bestimmte Ziele zu erreichen; künstlich ist die Intelligenz, wenn sie von Menschen geschaffen wurde. KI basiert auf Algorithmen, worunter nach Wikipedia Handlungsvorschriften zur Lösung eines Problems oder einer Klasse von Problemen zu verstehen sind, die in unendlich viele vordefinierte Einzelschritte zerfallen. Generiert der Algorithmus sein Wissen aus eigener Erfahrung, lernt er Problemlösungen aus einer Vielzahl von Anwendungsbeispielen und ist er in der Lage, nach Beendigung der Lernphase selbstständig Regeln zu generieren, spricht man vom autonomen Lernen oder vom selbstlernenden Algorithmus. Folgerichtig ist der menschliche Urheber des Algorithmus am Ende nicht mehr unbedingt in der Lage, das durch den Algorithmus errechnete Ergebnis vorauszusagen und dessen Wirkungsweise eindeutig zu beschreiben. 2 . Ju s t i z u n d D a t e n v e r a r b e i t u n g : Au t o s u n d Re h e Die geneigte Leserin und der geneigte Leser werden sich fragen, was das mit der Justiz zu tun hat. Mit der Dritten Gewalt verbinden viele Menschen nicht Modernität und schon gar nicht Digitalisierung, sondern staubige Aktenberge, die mit Rollwägen durch lange Gerichtsflure geschoben werden, umständliche und langwierige Verfahren, alte Männer mit weißwallenden Haaren in schwarzen Roben sowie Karteikarten, Telefon und Fax als geradezu revolutionäre Arbeitsmittel. Noch im Jahr 1970 stellte der Soziologe Niklas Luhmann die These auf: „Recht und Datenverarbeitung
Maximilian Herberger, „Künstliche Intelligenz“ und Recht. In: Neue Juristische Wochenschrift 71 (2018) S. 2825–2829. – Oliver Unger, Grundfragen eines neuen europäischen Rechtsrahmens für KI. In: Zeitschrift für Rechtspolitik 53 (2020) S. 234–237. 2
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haben miteinander genauso viel zu tun wie Autos und Rehe. Meist gar nichts, nur manchmal stoßen sie zusammen.“ Doch Luhmann hatte Unrecht. Bereits in den 1980er Jahren hat die EDV in den Gerichten Einzug gehalten. Zuerst waren es selbstgestrickte Programme, die IT-affine Mitarbeiter entwickelten und die auf StandAlone-Rechnern von ein paar Freaks betrieben wurden; das Internet war damals ja noch kaum verbreitet, schon gar nicht in der Justiz. 1999 initiierte der damalige Bayerische Staatsminister der Justiz Alfred Sauter das Programm bajTech 2000. Mit diesem Programm wurde die bis dahin existierende dezentrale und unübersichtliche IT-Landschaft revolutioniert. Vernetzte IT-Systeme wurden geschaffen, die Anwenderbetreuung und der Serverbetrieb wurden zentralisiert, viele Dienstleistungen wurden outgesourct und die Entwicklung von Fachanwendungen wurde in Länderverbünden vorangetrieben. Als Leitverfahren für die Gerichte wurde das Programm forumSTAR in einem 10-Länder-Verbund entwickelt. Konzeption, Pilotierung und Einführung dauerten 15 Jahre und kosteten wenigstens 70 Millionen Euro. Daneben gibt es in der bayerischen Justiz die Programme web.sta bei den Staatsanwaltschaften, SolumSTAR für die Grundbuchämter und RegisSTAR für die Registergerichte. In den Fachgerichten wird EUREKA-Fach eingesetzt. Derzeit wird in einem 16-LänderVerbund ein neues Gemeinsames Fachverfahren (GeFa) entwickelt, das forumSTAR, WebSta, EUREKA und die entsprechenden Programme der anderen Entwicklungsverbünde ablösen soll. Ein neues elektronisches Datenbankgrundbuch (dabag) soll den Grundstücks- und Bodenverkehr revolutionieren und unter anderem SolumSTAR ablösen. Für das Registergericht wird an einem neuen Handelsregisterverfahren (AuRegis) gearbeitet. All diese Weiterentwicklungen sind sehr aufwändig, kosten viel Geld und umfangreiche personelle Ressourcen, dauern ziemlich lange und kommen damit meistens recht spät bei der Anwenderin und dem Anwender an. Warum ist das so? Häufig werden die unzureichenden Ressourcen als Grund genannt. Aber das ist aus meiner Sicht nicht das Entscheidende, denn seit einigen Jahren nimmt etwa der Freistaat Bayern für IT durchaus große Geldbeträge in die Hand. Hinderlich sind die Zuständigkeit von 16 Landesjustizverwaltungen für die Justiz-IT, die damit verbundenen aufwändigen Abstimmungsprozesse, ferner das hochkomplexe Vergabewesen und schließlich unsere Prozessordnungen, die im Kern aus dem vordigitalen Zeitalter stammen und sich nur bedingt als Rechtsrahmen für die Digitalisierung der Justiz eignen. So kommt es, dass die Justiz im Vergleich
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zu privaten Legal-Tech-Unternehmen scheinbar stets hinterherhinkt, was Ergonomie, Effizienz und Niederschwelligkeit von IT-Anwendungen und digitalen Kommunikationsmitteln angeht. Es ist höchste Zeit, die Rahmenbedingungen neu zu denken, um effizienter, schneller und bürgerfreundlicher zu werden. Warum ist das wichtig? Weil die Ressourcen trotz aller Anstrengungen auch in Zukunft knapp bleiben werden, weil der Verteilungskampf groß ist, auch der Kampf um kluge Köpfe mit IT-Hintergrund. Die Knappheit der Ressourcen und die wachsende Komplexität der Aufgaben erzwingen geradezu den Einsatz modernster Arbeitsmittel, die das Personal bestmöglich bei der Arbeit unterstützen. Und nicht zuletzt erwarten die rechtsuchenden Bürgerinnen und Bürger einen modernen, einfachen, niederschwelligen Zugang zum Gericht. Denn man ist heute daran gewöhnt, seine Angelegenheiten von der Wohnzimmercouch mit dem Laptop oder Smartphone einfach, schnell und ergonomisch voranbringen zu können. Diesen Anspruch sollte auch die Justiz an sich stellen. Denn zumindest im Bereich der Zivilverfahren nimmt sie nicht am Gewaltmonopol des Staates teil. Sie steht in einem Wettbewerb mit privatwirtschaftlichen Angeboten von Mediatoren, Schlichtungsstellen, Schiedsgerichten und zahlreichen Online-Portalen, die Streitschlichtungsmechanismen anbieten. Daher muss sich die Dritte Gewalt klar werden, wo sie steht, welche Angebote sie der rechtsuchenden Bevölkerung und den Unternehmen machen will, und ob sie dazu hinsichtlich des Rechtsrahmens und der technischen Ressourcen in der Lage ist. Sie muss sich auch darüber Gedanken machen, wo eventuell rechtliche, technische und menschliche Gesichtspunkte einer weitreichenden Digitalisierung Grenzen setzen. 3 . Fr a n z K . i r r t d u r c h G e r i c h t s f l u re Will eine Bürgerin oder ein Bürger mit dem Gericht kommunizieren, können Erklärungen schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle beim Amtsgericht, der sogenannten Rechtsantragsstelle, eingereicht werden; zuständig ist der Rechtspfleger (§§ 129a ZPO, § 24 RPflG). Anträge auf Beratungshilfe können mündlich oder schriftlich beim Amtsgericht geltend gemacht werden (§ 4 Abs. 2 BerHG). Mahnverfahren sind für Bürgerinnen und Bürger bisher nur teilweise automatisiert (§§ 703b ff. ZPO). Die einfache E-Mail ist als Kommunikationsmittel nicht zugelassen, weil sie
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zu unsicher ist.3 Der oder die Rechtsuchende muss sich also bei DE-Mail oder beim Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) anmelden und registrieren, was so gut wie niemand tut. Möglich und zugelassen als Kommunikationsmittel ist noch immer das Fax, das aber ähnlich unsicher wie die E-Mail ist. Zeitgemäß ist das beschriebene Angebot nicht. Aus dem Verkehr mit dem Geldinstitut, dem Online-Händler, der Fluggesellschaft und dem Legal-Tech-Unternehmen sind die Rechtsuchenden Besseres gewohnt. Dabei ist elektronische Kommunikation für die Gerichte gar nichts Neues, sondern seit langem gang und gäbe. Im Handelsregister wurde bereits vor 13 Jahren der elektronische Rechtsverkehr – die elektronische Kommunikation zwischen Notaren und Registergerichten – eingeführt. Grundlage war die Neufassung der EU-Publizitätsrichtlinie vom 15. Juli 2003, die mit dem Gesetz über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister – EHUG – vom 1. Januar 2007 umgesetzt worden ist. Das Handelsregister wurde damit zum Flaggschiff bei der Entwicklung des elektronischen Rechtsverkehrs. Für weitere Bereiche hat der Bundesgesetzgeber den Rechtsrahmen zum einen mit dem Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs in den Gerichten – E-Justice-Gesetz – vom 10. Oktober 20134 und zum anderen mit dem Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs – ERV-Fördergesetz – vom 5. Juli 20175 vorgegeben. Folgender Fahrplan wurde damit rechtsverbindlich: Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts (sog. professionelle Einreicher) sind bereits seit 1. Januar 2018 verpflichtet, einen sicheren Übermittlungsweg für die Zustellung elektronischer Dokumente zur Verfügung zu stellen (passive Nutzungspflicht). Ab 1. Januar 2022 müssen sämtliche Dokumente der professionellen Einreicher in elektronischer Form bei Gericht eingereicht werden (aktive Nutzungspflicht). Dafür wurden das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA), das besondere elektronische Behördenpostfach (beBPo) und das besondere elektronische Notarpostfach (beN) aufgebaut und eingerichtet. Klaus Bacher, Der elektronische Rechtsverkehr im Zivilprozess. In: Neue Juristische Wochenschrift 68 (2015) S. 2753–2759, hier S. 2756 f. 4 BGBl I 2013, S. 3786; dazu: David Jost – Johann Kempe, E-Justice in Deutschland. In: Neue Juristische Wochenschrift 70 (2017) S. 2705–2708. 5 BGBl I 2017, S. 2206; dazu: Nils Kassebohm, Das Ende des Papierzeitalters – Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen vom 12.7.2017. In: Strafverteidiger Forum 2017, S. 393–402. 3
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Ein besonderes elektronisches Gerichtspostfach (EGVP) mit vorgeschaltetem Identifizierungsverfahren befindet sich in der Konzeption. Zudem muss bis Anfang 2026 die flächendeckende Einführung der elektronischen Akte in sämtlichen gerichtlichen Verfahrensbereichen und in sämtlichen Instanzen abgeschlossen sein. Wir haben in der bayerischen Justiz viel getan, um die Vorgaben zeitgerecht umzusetzen – und es hat weitgehend geklappt. Seit dem 1. Januar 2018 ist der elektronische Rechtsverkehr in Bayern in allen Verfahrensbereichen und bei allen Gerichten im Eingangsbereich eröffnet, das heißt, dass wir seither elektronische Nachrichten der professionellen Einreicher entgegennehmen können. Im Postausgang haben alle bayerischen Gerichte bis Ende des 1. Quartals 2021 den elektronischen Rechtsverkehr eröffnet; das heißt, sie können gerichtliche Schriftstücke (Verfügungen, Beschlüsse, Urteile) elektronisch an die professionellen Beteiligten zustellen und tun dies auch. Auf die elektronische Akte komme ich noch zurück. Wo aber bleibt die Kommunikation des rechtsuchenden Bürgers mit dem Gericht und umgekehrt des Gerichts mit dem Bürger? Dafür bieten wir nach wie vor den Nachtbriefkasten, die Rechtsantragsstelle (immerhin häufig in Form einer zentralen Anlaufstelle als Bürgerservice Justiz), das Fax, DE-Mail und das EGVP an. Ein wenig fühlt man sich an Kafkas Figur Josef K. erinnert, der im Roman „Der Prozess“ durch endlose Gerichtsflure irrt, um sein existenzielles Anliegen anzubringen – letztlich ohne durchschlagenden Erfolg. Um für die anwaltlich nicht vertretenen Rechtsuchenden und auch die kleinen und mittleren Unternehmen einfach, niederschwellig und modern erreichbar zu sein, müssen wir also dringend mehr tun. Wir müssen einen einfachen, niederschwelligen Zugang zu den Gerichten in Form eines Digitalen Bürgerportals schaffen, wie es die Finanzämter mit ELSTER schon seit längerem haben. Alle justiziellen Leistungen müssen über ein einheitliches Portal abrufbar sein,6 die Rechtsantragsstelle muss auch im Netz erreichbar sein und umgekehrt müssen der Bürgerin und dem Bürger Nachrichten und Entscheidungen des Gerichts über dieses Portal zugestellt werden können. Man kann sich sehr gut vorstellen, dass Bürgeranliegen mit dem Einsatz von KI vorstrukturiert und digital erfasst werden und dass den Rechtsuchenden über intelligente Abfragesysteme und Chatbots oder mittels integrierter ErklärFilme der für sie günstigste, schnellste, einfachste und kostengünstigste Giesela Rühl, Digitale Justiz, oder: Zivilverfahren für das 21. Jahrhundert. In: Juristenzeitung 75 (2020) S. 809–817, hier S. 813 f. 6
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Weg zur Erledigung ihres Anliegens (etwa in Richtung Mahnverfahren, in das Klageverfahren, zu einer Streitschlichtungsstelle oder zum – noch zu schaffenden – Beschleunigten Online-Verfahren) gewiesen wird. Grundgedanke und Philosophie des Online-Zugangsgesetzes7 des Bundes sollten auch für die Gerichte nutzbar gemacht werden. 4 . D e n A k t e n w a g e n i n s Mu s e u m Ich habe schon erwähnt, dass die gerichtlichen Verfahren ab dem 1. Januar 2026 digital zu führen sind und zwar sämtliche Verfahren in allen Instanzen und Gerichtsbarkeiten. Ich glaube aus heutiger Sicht, dass dieser ehrgeizige Plan umsetzbar ist. Es gibt mittlerweile in Deutschland drei E-Akten-Systeme, die jeweils in Verbünden entwickelt wurden und zueinander im Wettbewerb stehen:8 Die ergonomische elektronische Akte (e²A; Federführung Nordrhein-Westfalen), die E-Akte als Service (eAS; Federführung Baden-Württemberg) und das elektronische Integrationsportal (eIP; Federführung Bayern). Alle drei E-Akten-Systeme werden in Pilotprojekten eingesetzt. Die bayerische Justiz setzt gemeinsam mit Berlin, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und RheinlandPfalz auf das eIP. Dieses ist eine einheitliche Integrationsschicht für alle Verfahrensbereiche, mit der das interaktive Zusammenwirken von elektronischen Eingängen, elektronischen Akten, Fachanwendungen, Textsystem, juristischer Fallbearbeitungssoftware und weiteren für die tägliche Arbeit benötigten Spezial- und Standardprogrammen ergonomisch und selbsterklärend ermöglicht wird. In Zivilsachen 1. Instanz wird ab 2021 die Regeleinführung erfolgen, die anderen Verfahrensbereiche sind in der Pilotierung oder der Konzeptionsphase. Der laufende Austausch zwischen den verschiedenen E-Akte-Verbünden wird durch die Bund-Länder-Kommission für Informationstechnik in der Justiz (BLK) begleitet. Auch die Zusammenarbeit bei Standardisierungen, wie zum Beispiel der Gewährleistung einer einheitlichen Architektur der E-Akten, und die Einrichtung von Schnittstellen zwischen den drei Sys-
Gesetz zur Verbesserung des Onlinezugangs zu Verwaltungsleistungen (Onlinezugangsgesetz – OZG) vom 14. August 2017 (BGBl I S. 3122, 3138). 8 Kassebohm (wie Anm. 5) S. 396 f. – Jost – Kempe (wie Anm. 4) S. 2706 f. 7
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temen, etwa um Akten zuständigkeitshalber abgeben zu können, ist Teil dieses Austausches.9 Es besteht also die realistische Erwartung, dass die gerichtstypischen Aktenwägen tatsächlich ab dem Jahr 2026 verschrottet oder ins Museum gestellt werden. Das ist ein großer Schritt, der die Arbeitsweise der Richterinnen und Richter, der Kostenbeamtinnen und -beamten und der Geschäftsstellenkräfte revolutionieren wird.10 Auch werden die Arbeitsplätze und Sitzungssäle anders aussehen als bisher: Zwei Bildschirme und Laptops werden Standard, die Akte ist von überall aufrufbar, statt mit dem Federhalter werden Entscheidungen digital signiert, gerade umfangreiche Akten können mit Annotierungs- und Strukturierungswerkzeugen übersichtlich aufbereitet werden. Die elektronische Akte bietet also viele Vorteile. Und zuletzt hat die Pandemie zu einem Akzeptanzschub beigetragen. Und doch ist die Entwicklung für mich unbefriedigend, weil die Potenziale der digitalen Akte nur halbherzig genutzt werden. Um die Akzeptanz der Richterschaft zu bekommen, hat man die bisherige Papierakte mehr oder weniger 1:1 in die digitale Form überführt. In der E-Akte sind die bisherigen Papierschriftsätze als PDFs enthalten. Der Akteninhalt und die Aktenstruktur entsprechen weitgehend der bisherigen Papierwelt. Das ist viel zu kurz gesprungen. Denn die Handarbeit der Richterinnen und Richter wird auch künftig darin bestehen, den Vortrag der Parteien tabellarisch in unstreitigen und streitigen Vortrag, angereichert mit Beweisangeboten und Ausführungen zur Rechtslage aufzubereiten. Es drängt sich die Frage auf, warum nicht ein paar Schritte weitergegangen wird und die digitalen Möglichkeiten genutzt werden, um dem beiderseitigen Vortrag von Anfang an die für die Rechtsanwendung erforderliche Struktur zu verpassen. Vielleicht kann das künftig einmal eine KI leisten,11 aber das wird noch lange dauern. Deshalb ist zu überlegen: Wie kann die E-Akte weiterentwickelt werden und welcher Rechtsrahmen ist erforderlich, damit die anwaltlichen Schriftsätze von vorneherein in strukturierter Form in die Akte Eingang finden?
Wilfried Bernhardt, Die Deutsche Justiz im digitalen Zeitalter. In: Neue Juristische Wochenschrift 68 (2015) S. 2775–2781, hier S. 2778. 10 Uwe Berlit, Digitalisierung der Justiz. In: Betrifft Die Justiz 36 (2020), Heft Nr. 142, S. 290–295. 11 Benedict Heil, IT-Anwendung im Zivilprozess. Untersuchung zur Anwendung künstlicher Intelligenz im Recht und zum strukturierten elektronischen Verfahren (Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht 172), Tübingen 2020, S. 85–98. 9
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Ganz einfach gesagt geht es darum: Der Klägeranwalt erhebt die Klage, indem er den zugrundeliegenden Lebenssachverhalt in ein strukturiertes Onlineformular eingibt. Die Beklagtenseite erwidert genau in dieser Struktur. Das Gericht muss sich nicht mehr den Vortrag aus einer Vielzahl von PDFs zusammensuchen, sondern hat sofort den Überblick. Der Vortrag beider Seiten wird visuell und strukturiert gegenübergestellt. Beide Seiten arbeiten fortan – unter Anleitung des Gerichts – an diesem einen Dokument (Basisdokument),12 das am Ende die Entscheidungsgrundlage bildet und den bisherigen Urteilstatbestand ersetzt. Die Arbeit der Richterinnen und Richter wird von Vorbereitungsarbeiten (Aktenauswertung, Relation, Verfahrensstrukturierung) entlastet; die Richterinnen und Richter können sich verstärkt auf die eigentliche Rechtsanwendung und Entscheidungsfindung konzentrieren. Der Einfluss der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte wird vertieft und geschärft, indem sie unmittelbar an der Erarbeitung der Tatbestandsgrundlage der gerichtlichen Entscheidung mitwirken. Da es sich um einen Festschriftbeitrag für Frau Dr. Ksoll-Marcon handelt, muss natürlich etwas zur Archivierung der E-Akten und zur Abgabe an die Staatlichen Archive Bayerns gesagt werden. Das Thema ist alles andere als trivial. In der digitalen Welt gelten dieselben Aufbewahrungs- und Aussonderungsfristen wie in der analogen Welt. Es stellt sich also zunächst die Frage nach dem geeigneten Speichermedium, das über entsprechende Kapazitäten und die notwendige Haltbarkeit verfügt. Des Weiteren muss für die Übermittlung der E-Akten an die Staatsarchive eine technische Schnittstelle zwischen Justiz und Archiven erstellt werden. Am besten wäre eine deutschlandweit einheitliche und zentrale Schnittstelle, der sich sämtliche Staatsarchive und alle E-Akte-Systeme anzuschließen haben. Die Bund-Länder-Kommission für Informationstechnik in der Justiz (BLK) steht hierzu im Austausch mit der Konferenz der Leiterinnen und Leiter der Archivverwaltungen des Bundes und der Länder (KLA). Schnittstellenprobleme dieser Art sind übrigens in der E-Aktenwelt nichts Ungewöhnliches. So arbeiten die Landesjustizverwaltungen auch an einem gemeinsamen einheitlichen Portal, über das den Berechtigten Einsicht in die E-Akten gewährt werden kann. Für die Strafverfahren stellt sich die Reinhard Greger, Der Zivilprozess auf dem Weg in die digitale Sackgasse. In: Neue Juristische Wochenschrift 72 (2019) S. 3429–3432, hier S. 3431 f. – Ralf Köbler, Und es geht doch: Strukturierter Parteivortrag – ein Werkstattbericht. In: Anwaltsblatt 5 (2018) S. 289. – Ders. In: Anwaltsblatt Online 2018, S. 399 f. 12
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Herausforderung einer medienbruchfreien Übermittlung der Verfahrensdaten von der Polizei zur Staatsanwaltschaft, von dort zum Strafgericht und schließlich zu den zuständigen Vollstreckungs- und Vollzugsorganen. Das sind nur zwei Beispiele von vielen. 5 . Di e Se g e l a n d e r s s e t z e n Der elektronische Rechtsverkehr und die elektronische Akte (E-Justice) sind aufs Gleis gesetzt, sie sind vom Gesetzgeber verpflichtend vorgegeben. Das ist anerkannt und wird in Justizkreisen nicht mehr in Frage gestellt. Wir dürfen hier aber nicht stehenbleiben. Vielmehr muss sich der Blick nun auf die Einsatzmöglichkeiten Künstlicher Intelligenz einschließlich selbstlernender Systeme richten.13 Es stellt sich die Frage, ob und wie KIgestützte Assistenzsysteme die Arbeit der Richterinnen, Richter, Staatsanwältinnen, Staatsanwälte, Rechtspflegerinnen, Rechtspfleger und Servicekräfte erleichtern können. Von Augustinus ist der Ausspruch überliefert: Wir können den Wind nicht ändern, aber wir können die Segel anders setzen. Der Wind der neuen KI-gestützten Anwendungen weht seit Jahren immer kräftiger. Doch die Segel der Justiz scheinen noch eingerollt zu sein. Dabei gibt es für die Gerichte und Staatsanwaltschaften höchst interessante Anwendungsfelder von KI. Drei konkrete Beispiele möchte ich anführen. Erstens: Derzeit werden im Rahmen des elektronischen Rechtsverkehrs PDF-Dokumente an das Gericht übersandt. Die Metadaten (Strukturdaten) müssen von Service- und Registraturkräften aufwändig in die Datenbank forumSTAR eingegeben werden. Es geht um die Erfassung der Verfahrensdaten (Art des Schriftsatzes, z.B. Klageschrift, gestellter Antrag, Streitwert, Streitgegenstand), der Beteiligtendaten (Rollen als Kläger, Beklagter, Zeuge, Namen und Anschriften der Prozessbevollmächtigten) und der Dokumentendaten (Aktenzeichen, Eingangsdatum, Erstelldatum, Seitenzahl). Es würde die notorisch unterbesetzten Geschäftsstellen massiv entlasten, wenn es gelänge, die Erfassung dieser Metadaten zu automatisieren. Es müsste doch möglich sein, dass eine KI die Strukturdaten erkennt,
Markus Hartung – Micha-Manuel Bues – Gernot Halbleib (Hrsg.), Legal Tech. Die Digitalisierung des Rechtsmarktes, München 2018, S. 275–285. 13
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extrahiert und ins Fachverfahren importiert.14 Eine weitere Entlastung und Beschleunigung würde es bedeuten, wenn eine KI eingehende Schriftsätze automatisiert an den Gegner durchreichen, mit einem sprechenden Dateinamen in der E-Akte ablegen und dem Richter zur Bearbeitung „vorlegen“ würde. In Rheinland-Pfalz hat das Projekt SMART vielversprechende Ansätze in diese Richtung erbracht. Auch der Migrationsautomat, der die Grundbuchdaten aus dem bisherigen Grundbuchsystem SolumStar in das neue elektronische Datenbankgrundbuch (dabag) überführen wird, arbeitet – hoffentlich erfolgreich – nach diesem Prinzip. Zweitens: KI wäre dringend vonnöten, um die Ermittlungsbehörden bei der Auswertung unstrukturierter Massendaten zu unterstützen (BigData-Analyse / Muster-Erkennung). Wenn die Staatsanwaltschaft in einer Wirtschaftsstrafsache Betriebs- und Geschäftsräume etwa eines Autokonzerns durchsucht, werden regelmäßig viele Datenträger sichergestellt, die Millionen von E-Mails, Dokumenten, Kontenbewegungen, Chats etc. enthalten. Die Durchforstung dieser Datenträger nach belastenden Äußerungen, bestimmten Kontaktaufnahmen, inkriminierten Unterlagen, Überweisungen ist durch menschliche Arbeit kaum leistbar. Demgegenüber sollte eine KI in der Lage sein, die Datenmengen nach relevanten Datums- und Zeitangaben, Telefonnummern, E-Mail- und IP-Adressen, IMSI-Daten (International Mobile Subscriber Identity; gibt Auskunft, wo das Mobiltelefon zu einer bestimmten Zeit eingeloggt war), Konto- und Kreditkartennummern, Währungen und Geldbeträgen, Zahlungsverkehr, Adressen, Orten und Ländern zu durchsuchen, Verknüpfungen zu erstellen, Zusammenhänge zu erkennen und Abhängigkeiten aufzuzeigen. Unstrukturierte Daten würden eine Struktur bekommen, auf deren Grundlage die menschlichen Ermittler sinnvoll weiterarbeiten könnten.15 Die Kantonspolizei Zürich setzt angeblich erfolgreich ein solches Analysesystem ein (IBM Watson Explorer). Drittens: Den Gerichten in Deutschland wird vorgeworfen, sie würden den Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zum Recht erschweren, weil gerichtliche Entscheidungen (Verfügungen, Beschlüsse, Urteile) nur zu einem geringen Teil und auch insoweit nur mittels juristischer Datenbank-
Oliver Stiemerling, „Künstliche Intelligenz“ – Automatisierung geistiger Arbeit, Big Data und das Internet der Dinge. In: Computer und Recht (CR) 2015, Heft 12, S. 762– 765, hier S. 762 f. 15 Stiemerling (wie Anm. 14) S. 764. 14
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systeme für die Öffentlichkeit zugänglich seien.16 Da scheint mir etwas dran zu sein, ist doch die Veröffentlichungspraxis der Instanzgerichte eher verhalten bis restriktiv. Dies widerspricht dem Transparenzgebot (open data) und schmälert die Chance, durch vermehrte Veröffentlichung von Entscheidungen die Arbeit der Justiz nachvollziehbar zu machen und damit das Rechtsbewusstsein der Öffentlichkeit zu verbessern. Auch Wissenschaft, Rechtsschutzversicherer und Prozessfinanzierer fordern eine extensivere Veröffentlichungspraxis, um eine verlässlichere Grundlage für Prognosen über die Erfolgsaussichten eines forensischen Vorgehens zu erhalten (Predictive Analytics).17 Dieses Begehren mag von betriebswirtschaftlichen Interessen getrieben sein, erscheint aber dennoch legitim. Einer weitreichenden Veröffentlichungspraxis stehen derzeit vor allem Belange des Datenschutzes entgegen; zu veröffentlichende Entscheidungen bedürfen der umfassenden Anonymisierung, was die ohnehin hochbelasteten Geschäftsstellen der Gerichte zusätzlich bindet. Abhilfe könnte die Entwicklung eines KI-gestützten, automatischen und intelligenten Anonymisierungstools schaffen, über das viele oder ggf. sogar alle gerichtlichen Entscheidungen für die interessierte Öffentlichkeit bereitgestellt werden könnten. Die Veröffentlichung könnte über die Plattform BAYERN.RECHT erfolgen. Auf der Grundlage dieser Entscheidungssammlung könnten Start-Ups, juristische Fachverlage und / oder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Werkzeuge für vorhersagende Analysen, aber auch Tools für die Strukturierung des Prozessstoffes und die Entwicklung von Entscheidungsvorschlägen erarbeiten. Zusammen mit der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat das Bayerische Staatsministerium der Justiz ein Forschungsprojekt aufgesetzt, mit dem die Entwicklung eines derartigen Anonymisierungstools dargestellt werden soll. All den genannten Anwendungsvorschlägen ist eines gemeinsam: Die Automatisierung ersetzt keine menschliche Tätigkeit komplett, sondern übernimmt Teilschritte und Teilaufgaben. Die KI ersetzt nicht menschliche Entscheidungen, sondern unterstützt den Menschen bei seiner Tätigkeit. Am Ende entscheidet in den genannten Bereichen immer der Mensch. Anne Paschke, Digitale Gerichtsöffentlichkeit. Informationstechnische Maßnahmen, rechtliche Grenzen und gesellschaftliche Aspekte der Öffentlichkeitsgewähr in der Justiz (Internetrecht und Digitale Gesellschaft 13), Berlin 2018, S. 148–150. – Bernhardt (wie Anm. 9) S. 2780. 17 Hartung – Bues – Halbleib (wie Anm. 13) S. 280. 16
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6. Der Richterautomat ist – nicht – möglich Dies führt zur abschließenden Frage, ob der KI-gestützte selbstlernende Entscheidungs-Roboter oder Richterautomat möglich, zulässig und wünschenswert ist. Mit seinem Beitrag „Der Richterautomat ist möglich – Semantik ist nur eine Illusion“ hat Axel Adrian18 viel Staub aufgewirbelt. Der Blick in die Legal-Tech-Branche zeigt oder suggeriert zumindest, dass autonome Systeme in der Lage sind (oder dies wenigstens vorgeben), selbst zu entscheiden, ohne dass eine menschliche Mitwirkung erforderlich wäre. Für jeweils überschaubare Anwendungen ermöglichen Portale wie flightright.de, bahnbuddy.de, geblitzt.de, aboalarm.de, wenigermiete. de, bankright.de, myright.de, Advocado, über intelligente Eingabemasken oder Chatbot-Systeme Ansprüche in Standardfällen geltend zu machen, die Erfolgsaussichten abzuchecken und ggf. weitere Unterstützung bei der Rechtsdurchsetzung zu leisten. Halbautomatische Online-Streitbeilegungsplattformen wie PayPal-Käuferschutz, MODRIA, 123recht.net und jury.online erzielen nach eigenen Angaben Millionen Euro Honorarvolumen für die Bearbeitung von Tausenden von rechtlichen Anliegen ihrer Kunden.19 Wir sollten uns also nicht damit beruhigen, dass der Richterautomat technisch nicht möglich sei. § 35a des Verwaltungsverfahrensgesetztes – VwVfG – enthält bereits heute eine Rechtsgrundlage für den vollautomatisch generierten Verwaltungsakt. Und im Zentralen Mahngericht Coburg werden seit Jahrzehnten vollautomatisch Mahn- und Vollstreckungsbescheide produziert. Die Maschine erkennt sogar automatisch Reichsbürgerverdacht und steuert in solchen Fällen die maschinelle Bearbeitung mit hoher Zuverlässigkeit aus. Ich würde dies durchaus als KI qualifizieren, auch wenn wir es bisher nicht ausdrücklich so bezeichnet haben. Auch wenn heute manches noch nicht technisch möglich sein mag und die Legal-Tech-Portale vielleicht mehr KI vorgeben als tatsächlich in ihnen steckt: In wenigen Jahren wird es möglich sein! Und dann wird auch der Richterautomat möglich sein. Es stellt sich somit weniger die Frage nach
Axel Adrian, Der „Richterautomat ist möglich – Semantik ist nur eine Illusion. In: Rechtstheorie 48 (2017) S. 1–45. 19 Zur Regulierung des Rechtsdienstleistungsmarktes: Volker Römermann, Bessere Zeiten, schlechtere Zeiten für Rechtsdienstleister. In: Zeitschrift für Rechtspolitik 54 (2021) S. 10–13. 18
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der technischen Realisierbarkeit, als vielmehr die Frage nach der (verfassungs-)rechtlichen Zulässigkeit und der gesellschaftlichen Wünschbarkeit. Das Grundgesetz geht klar und eindeutig vom Menschen als Richter aus.20 So darf nach Art. 101 Abs. 2 Satz 2 GG niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Zweifellos ist der Automat kein gesetzlicher Richter. Die Entscheidung des Richterautomaten würde einen Verstoß gegen das Recht der Beteiligten auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG beinhalten. Denn eine Maschine ist begrifflich nicht in der Lage, einem Menschen Gehör zu schenken. Eine wie auch immer geartete Verpflichtung, dem Vorschlag eines Entscheidungs-Roboters zu folgen, wäre ein Verstoß gegen die richterliche Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 GG. Wenn man auf die Richtigkeit der Ergebnisse von KI vertrauen würde, wäre der Versuch einer Abänderung einer gerichtlichen Entscheidung durch die nächste Instanz strukturell aussichtslos. Damit wäre die Rechtswegegarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG beeinträchtigt. Zudem hätte der unterlegene Beteiligte wohl einen Rechtsanspruch darauf, die Wirkungsweise des der KI zugrundeliegenden Algorithmus zu erfahren; dies folgt aus dem Gebot des fairen Verfahrens nach Art. 20 Abs. 3 GG, das eine Black Box21 verbietet und verlangt, dass der Entscheidungsprozess transparent ist. Bei selbstlernenden Systemen wäre dieser Anspruch aber unerfüllbar. Dies liefe auf ein Ausgeliefertsein an die Maschine hinaus und ließe wohl ein Rechtsmittel allein mit dieser Begründung erfolgversprechend erscheinen. Noch wichtiger als die verfassungsrechtlichen Leitplanken scheinen mir die folgenden Überlegungen zu sein: Rechtsanwendung ist ein Akt wertender Erkenntnis; der Vorgang der Subsumtion und die Auslegung von Normen, Vertragstexten, Testamenten etc. enthalten Wertentscheidungen, die sich einer Zuordnung zu einem „richtig“ oder „falsch“, zu einem „ja“ oder „nein“ und damit einer maschinellen Bearbeitung weitgehend entziehen.22 Der Einsatz von Entscheidungsrobotern würde auf case law nach angelsächsischem Vorbild hinauslaufen; der Weiterentwicklung des Rechts in dem betreffenden Rechtsgebiet wäre die Grundlage entzogen. Bei unHierzu und zum Folgenden: Peter Enders, Einsatz künstlicher Intelligenz bei juristischer Entscheidungsfindung. In: Juristische Arbeitsblätter 50 (2018) S. 721–727, hier: S. 723 f. – Rühl (wie Anm. 6) S. 814–816. 21 Hartung – Bues – Halbleib (wie Anm. 13) S. 283. 22 Enders (wie Anm. 20) S. 725. – Susanne Hähnchen – Paul T. Schrader – Frank Weiler – Thomas Wischmeyer, Legal Tech. In: Juristische Schulung (JuS) 60 (2020) S. 625–635, hier S. 630. 20
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terschiedlichen Entscheidungen der Instanz- bzw. Obergerichte stellt sich die für ein KI-System nicht lösbare Frage, welcher Vorentscheidung gefolgt werden soll; entsprechendes gilt für Meinungsverschiedenheiten zwischen Literatur und Rechtsprechung. Und abschließend sei noch der für mich wichtigste Gesichtspunkt erwähnt: Weiche Entscheidungsfaktoren wie Intuition, soziales Verständnis und gesunder Menschenverstand sowie die emotionale Komponente bei der Interaktion zwischen Entscheider und Beteiligtem wie Empathie, Vermittlung von Akzeptanz und Vertrauen werden einer Maschine wohl immer verschlossen bleiben. Aus meiner eigenen Senatsarbeit kann ich nur unterstreichen, wie wichtig für die Parteien und Beteiligten die persönliche Anhörung, die verständliche Erläuterung der tragenden Gesichtspunkte und die Wahrnehmung des Agierens ihrer Bevollmächtigten in der Sitzung sind. Von Abraham Lincoln stammt das Zitat: „Die Zeit und der Rat eines Anwalts sind sein Handwerkszeug“. Diese Aussage lässt sich auf die Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte und Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger sehr gut übertragen. Vertrauen und Akzeptanz können nur durch die Erläuterungen des Gerichts in mündlicher Verhandlung übermittelt werden. Die Mehrheit der Rechtsuchenden würde sich mit der Entscheidung einer Maschine nicht zufriedengeben. 7. Zu guter Letzt Der Einsatz Künstlicher Intelligenz ist in allen Bereichen des Wirtschaftslebens Realität. Die Herausforderungen stellen sich also aktuell und konkret. Die Rechtspflege kann und sollte sich den Entwicklungen nicht verschließen. Vielmehr müssen sich Rechtswissenschaft, Justizverwaltungen und Rechtspolitik damit intensiv auseinandersetzen. Die Thematik muss mit Nachdruck Gegenstand der juristischen Ausbildung werden. Techniker / Informatiker und Juristen müssen Freunde werden. Andererseits muss und darf man nicht alles tun, was technisch möglich ist. Gegebenenfalls ist der Gesetzgeber aufgerufen, Leitplanken und Haltemarken zu definieren. Dort wo Künstliche Intelligenz die Rechtsanwenderin oder den Rechtsanwender von Routinetätigkeiten entlastet, sind die neuen Techniken hochwillkommen. Doch kann ich mir als Entscheider komplexer Rechtsfragen auch in Zukunft nur Menschen vorstellen. Nur die Entscheidung durch Menschen entspricht den verfassungsrechtlichen
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Vorgaben. Und nur die Entscheidung durch Menschen entspricht den Erwartungshaltungen der rechtsuchenden Bürgerinnen und Bürger an die Justiz.
Die „Chronistenseminare“ im Salzburger Landesarchiv – Plattform der Begegnung zwischen Fachhistorikern und „lokalen Spezialisten“ Von Oskar Dohle Die Unterstützung lokaler Autorinnen und Autoren und örtlicher Verantwortlicher bei der Erstellung von Orts- und Gemeindechroniken hat im Salzburger Landesarchiv eine lange Tradition. Von entscheidender Bedeutung für die Erstellung derartiger Publikationen ist der persönliche Kontakt zwischen lokalen Experten und Fachhistorikern mit universitärer Ausbildung. Damit kann gewährleistet werden, dass diese häufig als „Chroniken“ bezeichneten Bücher auch wissenschaftlichen Ansprüchen, beispielsweise durch das korrekte Zitieren von Literatur und archivalischen Quellen gerecht werden. Die Archive als Aufbewahrungsort zentraler historischer Quellen sind vielfach räumlich gesehen der einzige „Berührungspunkt“ zwischen universitärer und lokaler Zeitgeschichtsforschung. Der Benutzersaal darf aber nicht zu einem Symbol für ein kommunikationsloses Nebeneinander von Universitätsprofessoren und Heimatforschern werden. Es ist daher dem Salzburger Landesarchiv seit Jahrzehnten ein Anliegen, dieses Miteinander zu fördern bzw. zu ermöglichen. Ein wesentliches Instrument sind dabei seit 1985 die zweimal im Jahr, jeweils im Frühjahr und Herbst, veranstalteten sogenannten Chronistenseminare. Die Idee und die Initiative für diese Tagungen gehen auf den späteren Landesarchivdirektor (1997–2010), Dr. Fritz Koller, sowie auf den im August 2014 allzu früh verstorbenen Salzburger Historiker Univ. Prof. Dr. Heinz Dopsch zurück. Beide hatten entscheidende Bedeutung bei der wissenschaftlichen „Weiterentwicklung“ der publizierten lokalen und regionalen Geschichtsschreibung. Zudem wirkte Prof. Dopsch bei unzähligen Gemeindechroniken entweder als Autor mit, oder er stand den lokalen Verantwortlichen beratend zur Seite. Außerdem gab er in fachspezifischen Vorträgen bei den „Chronistenseminaren“ seine Erfahrungen an ein breiteres Publikum weiter. Am Anfang standen die Einführungen von Dr. Fritz Koller und Univ. Prof. Dr. Heinz Dopsch in die Bestände des heutigen Archivs der Erzdiö-
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zese Salzburg sowie Überlegungen zur Gestaltung und zum Entstehen von Ortschroniken. Prof. Dopsch und andere Vortragende lieferten damals den Zuhörerinnen und Zuhörern auch erstmals ganz konkrete Vorschläge zur Systematik, zum Aufbau und zur Ausstattung sowie zur graphischen Gestaltung dieser in der Regel als Sammelbände konzipierten Bücher. Diese Tagungen werden nunmehr seit mehr als 35 Jahren unter Federführung des Landesarchivs gemeinsam mit dem Salzburger Bildungswerk, Arbeitskreis „Geschichte und Kultur“, mit Unterstützung der EuRegio „Salzburg – Berchtesgadener Land – Traunstein“ abgehalten und erfreuen sich großer Beliebtheit nicht nur bei lokalen Experten, sondern auch bei Fachhistorikern. Die Anbindung der Chronistenseminare an das Salzburger Bildungswerk erfolgt durch den erwähnten Arbeitskreis, dessen Vorsitz der jeweilige Landesarchivdirektor innehat. Neben ihm gehören der Direktor des Salzburger Bildungswerks, die Leiter der größeren Salzburger Archive (Salzburger Stadtarchiv, Archiv der Erzdiözese Salzburg) sowie Vertreter der wichtigsten überregionalen Museen (z.B. Salzburg Museum) und anderer Kultureinrichtungen diesem Gremium an. Ursprünglich wandte sich diese Veranstaltung primär an „Heimatforscher“ im „klassischen Sinn“, die an der Erstellung einer Orts- oder Gemeindegeschichte arbeiteten oder diese mit Unterstützung der kommunalen politischen Verantwortlichen planten. Dabei sollten den in der Regel ehrenamtlichen und häufig nicht aus einem universitären Bereich stammenden örtlichen Forschern einerseits praktische Hilfestellungen für die Erstellung ihrer Arbeiten gegeben werden – beispielsweise in den Bereichen Datenschutz, Urheberrechte, Archivsperren oder Modalitäten bei der Benützung von Archiven und der kritischen Auswertung der historischen Überlieferung. Andererseits sollte ihnen das in den Seminaren vermittelte Wissen erleichtern, jene Grenzen zu überwinden, auf die sie bei ihren Recherchen immer wieder stoßen. Vor allem im Bereich der Darstellung der Geschichte des 20. Jahrhunderts und hier besonders der Phase des Nationalsozialismus ist eine kritische und „saubere wissenschaftliche Arbeitsweise“ von großer Bedeutung. Oftmals leben Nachkommen oder Verwandte jener Entscheidungsträger, die in dieses verbrecherische Regime verstrickt waren, im gleichen Ort. Hier müssen eine apologetische Geschichtsschreibung und Diffamierungen von Betroffenen unbedingt vermieden werden. Diese Chroniken stoßen fast immer auf reges Interesse der örtlichen Bevölkerung, da darin die jeweilige Heimatgemeinde in all ihren Facetten beschrieben wird – enthaltene Aufsätze von hohem wissenschaftlichem Niveau können hier einen Beitrag zur Aufarbeitung der oftmals verdräng-
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Einladung zum Seminar „Erstellung eines Ortschronik-Grundschemas“ am 7. Juni 1985 im Salzburger Landesarchiv (SLA, 20033-DSTL/1293-1991; Reproduktion: Salzburger Landesarchiv).
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ten jüngeren Vergangenheit leisten. Damit kann die Akzeptanz für Forschungsvorhaben zu sensiblen historischen Zeitabschnitten innerhalb der „einheimischen Bevölkerung“ verbessert werden. Für die wissenschaftliche Qualität der daraus entstehenden Publikationen ist und war dies, wie zahllose Beispiele aus den letzten Jahrzehnten belegen, nur von Vorteil. Im Spannungsfeld zwischen lokaler und universitärer zeitgeschichtlicher Forschung ist es dem Salzburger Landesarchiv in den letzten Jahren zweifellos gelungen, Grenzen und Widerstände zu überwinden. Diese positive Entwicklung ist jedoch nicht unumkehrbar. Sie muss immer wieder neu erarbeitet werden. Die Chronistenseminare leisten hier einen wichtigen Beitrag. Wurde diesen Grundsätzen zu wenig Augenmerk beigemessen, so entstanden selbst noch in der jüngsten Vergangenheit Publikationen mit problematischem Inhalt. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang beispielsweise auf die 2008 erschienene „Chronik der Gemeinde Goldegg im Pongau“1, in der die Jahre des Nationalsozialismus in einer Art und Weise – sowohl inhaltlich als auch bezüglich der Verwendung „belasteter“ Begrifflichkeit – dargestellt wurden, die eine Neubearbeitung dieses Zeitabschnittes notwendig machten. Auf Initiative des Salzburger Landesarchivs bzw. von dessen Direktor wurde 2018 eine Arbeitsgruppe unter seiner Leitung eingesetzt. Dieses Gremium beauftragte einen anerkannten Zeithistoriker, die NS-Geschichte von Goldegg neu und in zeitgemäßer Weise darzustellen. Diese Ergänzung zur Ortschronik erschien nach mehrjährigen Forschungen im Frühjahr 2022.2 Auch in diesem Fall gelang es, erste Kontakte zwischen dem Autor, der keinerlei familiäre oder berufliche Verbindungen zur Gemeinde Goldegg oder dem untersuchten Zeitraum hat, mit den lokalen Verantwortlichen nicht zuletzt am „Rande“ der Chronistenseminare herzustellen. Wie das Beispiel Goldegg zeigt, entwickelten sich die „Chronistenseminare“, an denen Jahr für Jahr Interessierte aus Salzburg und dem angrenzenden Bayern in zunehmender Zahl teilnehmen, mehr und mehr auch zu einer Art von „Autorenbörse“, da es immer wieder zu Gesprächen und ersten Kontaktaufnahmen zwischen Schriftleiterinnen und Schriftleitern von Adam Stadler – Anton Zegg, Chronik der Gemeinde Goldegg im Pongau, Goldegg 2008. 2 Gemeinde Goldegg i.Pg. (Hrsg.), Goldegg im Pongau im Nationalsozialismus. Ein ganz normaler Ort der „Ostmark“? Verfasst von Johannes Hofinger (Schriftenreihe des Salzburger Landesarchivs 33), Goldegg i.Pg. 2022. 1
„Chronistenseminare“ im Salzburger Landesarchiv
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Gemeindechroniken und Wissenschaftlern aus dem universitären Umfeld kommt. Damit wurden diese Seminare immer mehr zu einer Plattform der Begegnung zwischen Historikern und „landeskundlich Tätigen“ aus allen Bereichen und mit den unterschiedlichsten Forschungsschwerpunkten. Vielen jungen Historikerinnen und Historikern bietet sich dabei die Chance auf erste Publikationen über thematisch überschaubare, weil regional abgegrenzte Themen. Somit besteht für die Zukunft die berechtigte Hoffnung, dass gerade auf dem sensiblen Feld der Zeitgeschichte die vielfach ob ihrer wissenschaftlichen Bedeutung unterschätzten Orts- und Gemeindechroniken einen Beitrag zur Verbesserung der Kommunikation zwischen Historikerinnen und Historikern leisten können. Der Arbeitskreis „Geschichte und Kultur“ unter der Leitung von Dr. Oskar Dohle MAS, seit August 2010 Direktor des Salzburger Landesarchivs, setzt hinsichtlich dieser Veranstaltungsreihe einen seit 2010 beschrittenen Weg im Sinne größtmöglicher Praxisorientierung fort. Das Gremium sieht sich seither auch, wie bereits ausgeführt, verstärkt als Plattform zum Ideen- und Gedankenaustausch zwischen den darin vertretenen Institutionen und Einrichtungen. Die konstruktive und kollegial offene Atmosphäre ermöglicht offene und kritische Diskussionen, die, wie die bei den „Chronistenseminaren“ behandelten Themen zeigen, ganz konkrete Ergebnisse bringen. Die Anzahl der teilnehmenden Personen liegt seit Jahren konstant zwischen 80 und knapp 100 Personen, wobei aufgrund der Präsentation neuer Zugänge zur historischen Überlieferung, wie etwa der Recherchen im Internet, verstärkt auch junges Publikum an der Tagung teilnimmt. Besonderes Augenmerk wird seit dem Herbstseminar 2010 auf die Förderung der Gemeindearchive gelegt.3 Im Jahr 2016 erschien als Folge dieser programmatischen Schwerpunktsetzung der „Archivführer Oberpinzgau“, der die Benutzung regionaler Archive, sowohl der Pfarrarchive als auch der lokalen Archive auf Gemeindeebene für diesen Teil des heutigen Bundeslandes Salzburg, aus dem Gebiet des ehemaligen „Pfleggerichts Kaprun“, erleichtert.4 Auch für diese Publikation gingen entscheidende Impulse und Oskar Dohle, Die rechtliche Verankerung der Gemeindearchive im Salzburger Archivgesetz. In: Barbara Felsner – Christine Tropper – Thomas Zeloth (Hrsg.) Archivwissen schafft Geschichte. Festschrift für Wilhelm Wadl zum 60. Geburtstag (Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie 106), Klagenfurt 2014, S. 31–38. 4 Oskar Dohle – Thomas Mitterecker – Hannes Wartbichler (Hrsg.), Archivführer Oberpinzgau. Historische Quellen und Bestände in Archiven und Museen (Schriftenreihe 3
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Anregungen von Teilnehmerinnen und Teilnehmern und Referentinnen und Referenten der „Chronistenseminare“ aus Vorteilhaft für Salzburg als Veranstaltungsort dieses grenzüberschreitenden Tagungsformates und die sich daraus ergebenden Kooperationen war dabei die Grenznähe zu Deutschland, da nicht nur Interessierte aus den angrenzenden österreichischen Bundesländern Oberösterreich, Tirol, Kärnten und der Steiermark regelmäßig kommen, sondern sich vor allem auch Personen aus dem benachbarten Bayern unter die Teilnehmenden mischen. Nicht zuletzt durch die gemeinsame Geschichte, die sie als Teil des Erzstifts Salzburg verbindet, ergeben sich mit dem „Rupertiwinkel“ große Überschneidungen bei den archivalischen Quellen, sodass dem Salzburger Landesarchiv mit seinen Beständen weit über die seit 1816 bestehende Grenze des Bundeslandes hinaus für die lokale und regionale Geschichtsforschung diesseits und jenseits der Saalach besondere Relevanz zukommt.
Herbst-Chronistenseminar am 21. November 2016 (Vormittagspause) zum Thema „Vereine und Chroniken. Jubiläen als Anlass für eine Publikation“ im Landratsamt in Bad Reichenhall (Abbildung: Salzburger Landesarchiv). des Salzburger Landesarchivs 25, zugleich: Schriftenreihe des Archivs der Erzdiözese Salzburg 15), Salzburg 2016.
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Urkunde zum Anerkennungspreis beim „AEBR – AGEG – ARFE Cross Border Award“: Award Sail of Papenburg, Oktober 2019 (SLA, OU 2019 X; Reproduktion: Salzburger Landesarchiv).
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Ausdruck dieser gemeinsamen Geschichte ist, dass im Juni 2013, im November 2016 und im November 2019 mit großzügiger Unterstützung des Landkreises Berchtesgadener Land das „Chronistenseminar“ im Landratsamt in Bad Reichenhall stattfinden konnte.5 Dieser grenzüberschreitende Aspekt als Folge einer jahrhundertelangen gemeinsamen Geschichte wurde auch international gewürdigt. Eine Einreichung beim AGEG Cross Border Award „Sail of Papenburg 2019“ wurde am 24. Oktober 2019 in Dresden mit der Zuerkennung eines Anerkennungspreises gewürdigt. Auch 2020 sollten, wie gewohnt, zwei „Chronistenseminare“ stattfinden.6 Doch es kam anders, denn die Corona-Pandemie machte eine Abhaltung der Tagungen im Foyer des Salzburger Landesarchivs unmöglich. Der Vorsitzende des Arbeitskreises „Geschichte und Kultur“ und die Verantwortlichen im Salzburger Bildungswerk fassten daher im Frühjahr 2020 den Entschluss, auf eine Online-Veranstaltung auszuweichen, nicht zuletzt auch, um die Tradition der Chronistenseminare nicht abreißen zu lassen. Zudem sollte durch diese moderne Form der Vermittlung ein breiterer Kreis, auch jüngerer Interessenten aus dem In- und Ausland, angesprochen werden, die sonst vielleicht nicht den Weg ins Landesarchiv gefunden hätten. Auch im Herbst 2020 musste auf eine Online-Veranstaltung ausgewichen werden. Tabelle: Online-Teilnehmende für das „Chronistenseminar Online“ im Herbst 2020. 30.11.2020 07.12.2020 14.12.2020 21.12.2020
48 Online-Teilnehmende 51 Online-Teilnehmende 51 Online-Teilnehmende 34 Online-Teilnehmende
Der Erfolg von „Chronistenseminar Online“ (siehe Tabelle), jeweils am Montag 17:00 bis 18:00, mit Diskussion insgesamt rund eine Stunde lang, übertraf die Erwartungen bei weitem und zeigt das ungebrochene Interesse an diesen Seminaren auch unter erschwerten Bedingungen.
Ein besonderer Dank gilt Herrn Landrat Georg Grabner, der die Tagung nicht nur durch die Bereitstellung der nötigen Räumlichkeit mit der dazugehörigen Infrastruktur, sondern auch „kulinarisch“ mehr als großzügig unterstützte. 6 Folgende Themen wurden behandelt, nämlich im Frühjahr 2020 „Welche Quelle erzählt welche Geschichte? (Neue) Entwicklungen – Zugänge – Erfahrungen“ und im Herbst 2020 der aktuellen Lage angepasst „Seuchen und Übersterblichkeit“. 5
„Chronistenseminare“ im Salzburger Landesarchiv
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„Chronistenseminar Online“ im Frühjahr 2021 (Abbildung: Salzburger Bildungswerk).
Für 2021 liefen die Planungen für zwei Chronistenseminare vor Ort im Landesarchiv, aber auch für mögliche Online-Veranstaltungen, wieder im Format „ZOOM“, parallel, um auf alle möglichen (hoffentlich positiven) Entwicklungen rund um die Corona-Pandemie vorbereitet zu sein. Das Chronistenseminar im Frühjahr war wieder nur als Online-Veranstaltung möglich. Für den Herbst laufen die Planungen erneut in die Richtung, dass sowohl für eine Präsenz-Veranstaltung als auch für eine Online-Vortragsreihe die nötigen organisatorischen und technischen Voraussetzungen bereitgestellt werden können. Dadurch ist sichergestellt, dass die Chronistenseminare auch in Zukunft stattfinden werden und diese wichtige Begegnungsmöglichkeit für Forscher und Interessierte an der lokalen und regionalen Geschichtsforschung weiterhin bestehen bleibt.
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C H RO N I S T E N S E M I N A R 1 9 8 5 – 2 0 2 1 : T H E M E N u n d VO RT R AG E N D E 7 Datum 7.5.– 8.5.1985
Generalthema Chronistenseminar 1985 „Anleitung zu Arbeiten im Salzburger Landes archiv und im Konsistorialarchiv“ Salzburger Landesar chiv und Konsistorial archiv
Vortragende
8.5.1985
Heinz Dopsch
Fritz Koller
7.6.1985
Chronistenseminar 1985 „Erstellung eines Orts chronik-Grundschemas“
Chronistenseminar 1986 „Einführung in die Quellenarbeit im SLA und im erzbischöfli chen Konstistorialarchiv unter Einbeziehung des Forschungsgebietes der Seminarteilnehmer“
7.5.1985
16.5.1986
Titel
Fritz Koller
Heinz Dopsch Fritz Koller
Information über die Ak tengruppen im Landes- und Konsistorialarchiv und Ein führung in die Benützung des Archivmaterials. Grundsätze bei der Erarbeitung einer Ortschronik Information über die Akten gruppen im Landes- und Konsistorialarchiv und Ein führung in die Benützung des Archivmaterials. Arbeitsanleitung zu Themen, die von den Teilnehmern bereits oder in Zukunft bearbeitet werden. Grundschema für Heimatchroniken Grundschema für Heimatchroniken
Auf die Nennung der akademischen Titel, der Amtstitel sowie der Funktion der Vortragenden wurde verzichtet, da sich diese im Laufe der Jahre immer wieder änderten. Ebenso wurde auf die Änderung von Familiennamen nicht eingegangen, sondern jener zum Zeitpunkt des Vortrages übernommen. 7
„Chronistenseminare“ im Salzburger Landesarchiv Datum
Generalthema
Vortragende Fritz Koller
Heinz Dopsch
Heinz Dopsch
Georg Stadler
Georg Stadler Fritz Koller
5.5.– 6.5.1988
5.5.1988
Chronistenseminar 1988 „Anleitung zu Arbei ten im Salzburger Landesarchiv und im Konsistorialarchiv“
Fritz Koller Ernst Hintermaier
Fritz Koller Georg Stadler
6.5.1988
Heinz Dopsch
Fritz Koller Ernst Hinter maier
Heinz Dopsch
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Titel Information über die Akten gruppen im Salzburger Landesarchiv und Einführung in die Quellensuche zu ortsgeschichtlichen Themen Grundsätze zur Erarbeitung einer lokalgeschichtlichen Chronik mit Diskussion Umfangsbegrenzung, Aufbau (Gliederung), Quellenbewer tung, Bearbeitung zeitge schichtlicher Themen, Zitierregeln Fragen zu Arbeiten mit Quellenlage im Konsistorialarchiv Vorbereitete Leseproben aus Archivquellen und Arbeitsanleitung zu den konkreten Themen der Teilnehmer im Landesarchiv bzw. Konsistorialarchiv
Grundsätze bei der Erarbeitung einer Ortschronik Information über die Akten gruppen im Salzburger Landes archiv bzw. Konsistorialarchiv mit Such- und Benützungshinweisen. Praktische Arbeitsanleitung in zwei Arbeitsgruppen: Leseproben, Erklärung wiederkehrender Fachausdrücke und Abkürzungen; Suchhilfe zu Themen, an denen die Teilnehmer arbeiten. Zitierung der Quellen und der Literatur. Grundsätze bei der Erarbeitung einer Ortschronik Information über die Akten gruppen im Salzburger Landesarchiv bzw. Konsistorialarchiv mit Such- und Benützungshinweisen.
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Datum
Generalthema
Vortragende Fritz Koller Georg Stadler
24.11.1988
Chronistenseminar 1988 (5. Seminar) „Vom Manuskript zum Buch“
Fritz Koller
Heimo Achleitner
Josef Stöger
28.5.1990
Chronistenseminar 1990 Frühjahr „Neuere und Neueste Zeit (19. und 20. Jahrhundert)“
Hanns Haas
Fritz Koller
Josef Stöger Heinz Dopsch
Titel Praktische Arbeitsanleitung: Leseproben, Erklärung von Fachausdrücken und Abkürzungen; Suchhilfe, Zitieren von Quellen und Literatur.
Besprechung der 1987/88 erschienenen Salzburger Ortschroniken: Aufbau, Stoffbewältigung, Verhältnis Text – Bilder, Quellen und Literaturangaben, Format und Umfang Abschließende Gestaltung des Gesamtmanuskriptes: Stilfragen, Auszeichnungsschrift, Umfang Manuskript: Buch (Satzspiegel, Schrifttype), Kürzungen, weitere Zusammenarbeit mit den Teilautoren während der Drucklegung Zusammenarbeit bei Druck legung: Zeitvorgaben zu den Arbeitsabschnitten bis Erscheinungstermin; Fahnenverbesserung; Bildauswahl (Qualitätskriterien); Mitarbeit bei Umbruch, Bildverteilung; Umschlaggestaltung Zusammenarbeit Autor – Herausgeber, Honorarfrage; Präsentation des Buches, Zusammenarbeit mit dem Salzburger Bildungswerk; Widmungsblätter, Zielgruppen für Verkauf
Besprechung der in jüngster Vergangenheit erschienenen Ortschroniken, Diskussion Salzburg 1816–1918, Diskussion
„Chronistenseminare“ im Salzburger Landesarchiv Datum
Generalthema
Vortragende Ernst Hanisch
Josef Stöger Fritz Koller
12.11.1990
Chronistenseminar 1990 Herbst „Arbeit an Ortschroniken – Einführungsseminar“
Josef Stöger
Fritz Koller
Josef Stöger Fritz Koller
6.5.1991
Chronistenseminar 1991 Frühjahr „Grundlagen des historischen Teiles einer Ortschronik: (Siedlungs-) Geographie, Archäologie und Ortnamenkunde“
14.10.1991
Chronistenseminar 1991 Herbst „Bauern und Landwirtschaft für den Zeitraum Mittelalter und Frühe Neuzeit“
Guido Müller Fritz Moosleitner Ingo Reiffenstein
Heinz Dopsch
135
Titel Salzburg – von 1918 bis in die jüngste Vergangenheit und Gegenwart, Diskussion Besuch des Konsistorialarchives Führung durch das Salzburger Landesarchiv
Grundsätzliche Überlegungen zur Erstellung einer Orts chronik Die Drucklegung von Orts chroniken oder ähnlicher Arbeiten Die wichtigsten historischen Quellen für Chroniken im Salzburger Landesarchiv – mit ausgewählten Beispielen Besuch des Konsistorialarchives Führung durch das Salzburger Landesarchiv
Gesamtleitung: Fritz Koller
Josef Stöger
Präsentation der jüngst erschienenen Salzburger Ortschroniken Ortschronik und Geographie Ortschronik und Archäologie
Gesamtleitung: Fritz Koller
Ortschronik und Ortsnamenkunde
136
Oskar Dohle
Datum
Generalthema
Vortragende Heinz Dopsch
Fritz Koller
4.5.1992
Chronistenseminar 1992 Frühjahr „Bogen von Kunstgeschichte über Kunstgewerbe zum eigentlichen Bereich der Volkskunde und weiter über die bäuerliche Realienkunde bis zur Bauernhausforschung“
Rainhard Heinisch Friederike Zaisberger
Roswitha Preiß
Ulrike Kammerhofer Kurt Conrad
12.10.1992
Chronistenseminar 1992 Herbst „Gericht und Gemeinde“
Ulrike Engelsberger
Fritz Koller
Fritz Steinkellner
Titel Die sogenannte „Bajuwarische Landnahme“ und frühe Formen der Landwirtschaft in den ältesten Salzburger Güterverzeichnissen Die Rodung des Salzburger Gebirgslandes während des Hohen und Späten Mittelalters Landesfürst und Untertan am Beginn der Neuzeit Die soziale Lage der Salzburger Bauern zur Zeit der Emigration
Gesamtleitung: Fritz Koller
Josef Stöger
Präsentation der 1991/92 erschienenen Ortschroniken Ortschronik und Kunstgeschichte Ortschronik und Volkskunde
Gesamtleitung: Fritz Koller Hubert Schopf
Ortschronik und Bauernhausforschung Pfleggerichte – Landgerichte – Bezirksgerichte: Die Entwicklung der regionalen Strukturen in Salzburg und ihre Bedeutung. Weistümer und Taiding aus den Salzburger Pfleggerichten als Quellen für Ortschronisten Markt- und Landgemeinden im Erzstift Salzburg Die Salzburger Gemeinden ab 1850
„Chronistenseminare“ im Salzburger Landesarchiv Datum 24.5.1993
137
Vortragende
Titel
Gesamtleitung: Fritz Koller
Generalthema Chronistenseminar 1993 Frühjahr „Grundsätzliche Überle gungen zur Erstellung einer Ortschronik bzw. überhaupt zum Zusammenwirken von Ortschronisten mit dem Salzburger Landesarchiv“
Erika Pfeiffenberger
Josef Stöger
Herwig Pirkl
Friederike Zaisberger
11.10.1993
Chronistenseminar 1993 Herbst „Wie Schriftgut in Gemeindearchiven, Heimatmuseen und an anderen Orten außerhalb der institutionalisierten Archive sachgerecht zu verwahren ist“
Vom Manuskript zum Buch – Satzherstellung und Drucklegung von Chroniken und anderen Druckwerken Präsentation der 1992/93 erschienenen Salzburger Ortschroniken Die Zusammenarbeit der Tiroler Ortschronisten, insbesondere im Bezirk Kitzbühel – Gespräch und Anregungen Die gedruckte Gemeindechronik und ihre Fortsetzung – Anregung zur praktischen Arbeit
Nikolaus Pfeiffer
6.6.1994
Chronistenseminar 1994 Frühjahr Quellengattung „Kataster“
Herbert Ullmann Heinz Dopsch
Gesamtleitung: Fritz Koller
Nikolaus Pfeiffer
Die Aufbewahrung von historisch wertvollem Schriftgut in Gemeindearchiven und Heimatmuseen Die Konservierung und Wiederherstellung von historisch wertvollem Schriftgut anhand von Beispielen in der Restaurierwerkstätte des Salzburger Landesarchivs Fotografieren für Ortschronisten Ortschronik und Wissenschaft
Gesamtleitung: Fritz Koller
138
Oskar Dohle
Datum
Generalthema
Vortragende Fritz Koller
Ulrike Engelsberger
Anton Kossina
Fritz Koller
14.11.1994
Chronistenseminar 1994 Herbst „Blick hinter die Kulissen in die Speicher des Salzburger Landesarchivs“
Ingrid Bauer
Kerstin Hederer
Peter Pilsl
29.5.1995
Chronistenseminar 1995 Frühjahr „Blick über die Landesgrenzen – Situation bei den Nachbarn im Norden und Osten“
Hans Roth
Willibald Mayr hofer Fritz Kirchmayr
Titel Präsentation der 1993 erschienenen Ortschroniken Der Hieronymus-Kataster, eine umfassende Quelle zur Wirtschafts- und Ortsgeschichte aus den letzten Jahrzehnten des Erzstiftes Die Katastralvermessung im Land Salzburg 1828/30 und die Herstellung des Stabilen Katasters (Franziszäischer Kataster) Der Franziszäische Kataster als topographische, wirtschaftsgeschichtliche Quelle und als Grundlage für die Entstehung der politischen Gemeinden
Gesamtleitung: Fritz Koller
Hubert Schopf
Führung durch das Salzburger Landesarchiv Oral History – mündliche Geschichte Einführung, Möglichkeiten, Praxis Führung durch das erzbischöfliche Konsistorialarchiv (Kapitelplatz 2) Führung durch die Universitätsbibliothek Salzburg (Hofstallgasse 2–4)
Gesamtleitung: Fritz Koller
Fritz Koller
Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt Ortschronisten und Ortschroniken in Bayern, vor allem im Rupertiwinkel Ortschronisten und Ortschroniken in Oberösterreich Ortschronisten und Ortschroniken in Tirol
„Chronistenseminare“ im Salzburger Landesarchiv Datum 13.11.1995
Generalthema Chronistenseminar 1995 Herbst „Historischer Verkehr“
3.6.1996
Chronistenseminar 1996 Frühjahr „Historische Quellen I“
Ulrike Engelsberger
Peter Kramml
Hubert Schopf
4.11.1996
Chronistenseminar 1996 Herbst „Historisches Sozial- und Schulwesen“
Sabine VeitsFalk
Alfred Stefan Weiß
Alfred Rinner thaler
Vortragende
Titel
Gesamtleitung: Fritz Koller Guido Müller Friederike Zaisberger Fritz Koller Peter Staudacher
Gesamtleitung. Fritz Koller Fritz Koller
Gesamtleitung: Fritz Koller Alfred Stefan Weiß
139
Geographische Grundlagen Straßenbau und Straßenerhaltung in der Zeit der Erzbischöfe Schifffahrt, Säumer, Fuhrleute Der Bergbau und seine sozialen und ökonomischen Auswirkungen Besprechung der jüngst erschienenen Salzburger Orts chroniken und verwandter Werke Das Salzburger Urkundenbuch und die sogenannten „MartinRegesten“ Gedruckte Quellen zur Salzburger Landesgeschichte verschiedener Provenienz Datenbanken – Findbücher – Archivbestände: Erschließung und Zugänglichkeit ausgewählter Archivbestände im Salzburger Landesarchiv Das Sozialwesen am Ende des geistlichen Reichsfürstentums Salzburg – ein Überblick Soziale Einrichtungen in Marktorten und Landgemeinden Das Salzburger Schulwesen während der Aufklärung und am Beginn des 19. Jahrhunderts Das Verhältnis von Schule und Kirche vom liberalen Schulgesetzwerk (1867/69) bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts
140 Datum 12.5.1997
Oskar Dohle Vortragende
Titel
Gesamtleitung: Fritz Koller Fritz Koller
Generalthema Chronistenseminar 1997 Frühjahr „Historische Quellenkunde II“
Alfred Stefan Weiß
Adolf Hahnl
Friederike Zaisberger
10.11.1997
Chronistenseminar 1997 Herbst „Von der Idee zum Buch“
Sabine VeitsFalk
Erich Marx Lore Telsnig Hubert Schopf
18.5.1998
Chronistenseminar 1998 Frühjahr „Haus- und Hofforschung“
Nikolaus Pfeiffer
Hubert Schopf
Kerstin Hederer
Gesamtleitung: Fritz Koller Heinz Dopsch
Gesamtleitung: Fritz Koller Fritz Koller
Besprechung der neu erschienenen Salzburger Ortschroniken Das Reichsfürstentum Salzburg in Reisebeschreibungen aus der Zeit um 1800 Die Entdeckung der Salzburger Landschaft durch die Malerei des 19. Jahrhunderts Die Plansammlung im Salzburger Landesarchiv und ihre Bedeutung für die Chronisten Zur Herausgabe einer Ortschronik – Erfahrungen aus der Praxis Salzburgs Archive, Museen, Bibliotheken als Forschungsstätten für Chronisten Gemeinsame Präsentation der Fotosammlungen des Stadtarchivs, des Museums C.A. und des Landesarchivs Besprechung der neuerschienenen Salzburger Ortschroniken und verwandter Publikationen Beratungen über Aufbewahrung, Restaurierung und Reproduktion von Papier, Fotos, etc. (in der Pause) Kataster, Urbare, Steuerlisten: die historischen Quellen der Haus- und Hofforschung Die Pfarrmatriken als Quellen der Familiengeschichte und Ergänzung der Haus- und Hofforschung
„Chronistenseminare“ im Salzburger Landesarchiv Datum
Generalthema
Vortragende Fritz Koller
9.11.1998
Chronistenseminar 1998 Herbst „Ortschronik – Zeitgeschichte – Datenschutz“
Ernst Hanisch
Alois Schwaiger
7.6.1999
Chronistenseminar 1999 Frühjahr „Medium EDV“ „Vergleich historischer und gegenwärtiger Inhalte und Methoden der Volkskunde“
Fritz Koller
Ulrike KammerhoferAggermann
Monika Gaurek
Ulrike KammerhoferAggermann
8.11.1999
Chronistenseminar 1999 Herbst „Recht und Sühne“
Gesamtleitung: Fritz Koller Thomas Lindinger Oskar Dohle Thomas Weidenholzer
141
Titel Der Erbhof: Gesetz, Forschung, Gutachten Datenschutzrechtliche Aspekte der Zeitgeschichtsforschung Aktenbestände für die Zeitgeschichtsforschung im Salzburger Landesarchiv und im Archiv der Stadt Salzburg Zeitgeschichtliche Forschung im regionalen und lokalen Rahmen – Möglichkeiten und Grenzen Forschung und Darstellung der jüngeren Vergangenheit in einer Ortschronik am Beispiel „Leogang 1938–1945“
Gesamtleitung: Fritz Koller
Fritz Koller
Besprechung der neu erschienenen Salzburger Ortschroniken und verwandter Publikationen Datenbanken für Chronisten im Salzburger Landesarchiv Volkskunde als nationalromantische Vergangenheitssuche oder vergleichende Kulturwissenschaft Objekte als (Zerr-) Spiegel der Alltagskultur Kritischer Umgang mit historischen Sammlungen am Beispiel der Bestände des Salzburger Landesinstitutes für Volkskunde
Gesamtleitung: Fritz Koller
142
Oskar Dohle
Datum
Generalthema
Vortragende Heinz Dopsch
Gerhard Ammerer Friederike Zaisberger Peter Putzer
15.5.2000
Chronistenseminar 2000 Frühjahr „Grundlagen einer Ortschronik“
Heinz Dopsch
Erika Scherer
Hubert Schopf
13.11.2000
Chronistenseminar 2000 Herbst „Stadtgemeinde, Marktgemeinde, Landgemeinde“
Peter F. Kramml
Fritz Koller
Oskar Dohle
7.5.2001
Chronistenseminar 2001 Frühjahr „Dorfgeschichte“
Gesamtleitung: Fritz Koller Fritz Koller
Titel Das gewiesene Recht – Die Taidinge Das Pfleggericht – Organisation, Wirkungskreis, Personal Das Vergehen im alten Erzstift – Strafverfolgung – Vollzug Das peinliche Verhör und die Todesstrafe Besprechung der neuerschienenen Salzburger Ortschroniken und verwandter Publikationen Eine Ortschronik entsteht – inhaltliche Überlegungen Vom Manuskript zum Buch – Die Drucklegung einer Ortschronik Forschungseinrichtungen in Salzburg und ihr Angebot für Ortschronisten
Gesamtleitung: Fritz Koller
Heinz Dopsch
Städte und Marktorte im Erzstift Salzburg Bürger und Bürgergemeinden in Mittelalter und früher Neuzeit Vom Vormärz zum Reichsgemeindegesetz 1849 – Die Grundlagen der modernen Gemeinde Salzburgs Stadt- und Marktgemeinden seit 1945
Gesamtleitung: Fritz Koller Fritz Koller
Besprechung der neu erschienenen Salzburger Ortschronik und verwandter Publikationen
„Chronistenseminare“ im Salzburger Landesarchiv Datum
Generalthema
12.11.2001
Chronistenseminar 2001 Herbst „Bettler, Wilderer und Vaganten. Gesellschaftliche Randgruppen in vergangener Zeit“
Norbert Schindler
13.5.2002
Chronistenseminar 2002 Frühjahr „Gemeinde- und Pfarr archive“
Ulrike Engelsberger Nikolaus Pfeiffer Kerstin Hederer
18.11.2002
Chronistenseminar 2002 Herbst „Juden in Salzburg“ Salzburger Museum C.A., Museumplatz 1, 5020 Salzburg
Vortragende Sabine VeitsFalk Alfred Stefan Weiß Hubert Schopf
Fritz Moosleitner
143
Titel Geschichte, die in einem Dorf geschieht
Urbare, Kataster, Grundbücher – Quellen zur Rekonstruktion historischer Dorfzentren Baualterforschung auf dem Land
Gesamtleitung: Fritz Koller
Peter Kramml
Randgruppen der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft Bettlerinnen und Bettler im Land Salzburg Sesshafte und Vaganten – Zur Begegnung zweier Lebensformen in vergangener Zeit Salzburger Wilderer im Zeitalter der Französischen Revolution
Sabine VeitsFalk Gerhard Ammerer
Gesamtleitung: Fritz Koller Fritz Koller
Besprechung der neu erschienenen Salzburger Ortschroniken und verwandter Publikationen Gemeindearchive – Anlegen, Verwalten, Auswerten Fragen der Konservierung, Aufbewahrung etc. Die Pfarrarchive der Erzdiözese Salzburg – Bestände, Zutritt, Nutzung
Gesamtleitung: Fritz Koller
Heinz Dopsch
Salzburgs Juden im Mittelalter
144
Oskar Dohle
Datum
Generalthema
Vortragende Helga Embacher
Marko Feingold
26.5.2003
Chronistenseminar 2003 Frühjahr „Arbeitsmöglichkeiten in Salzburgs Archiven und Museen“
Peter Kramml
Erich Marx
Heinz Dopsch
10.11.2003
Chronistenseminar 2003 Herbst „1803–2003“
Peter Putzer
Fritz Koller
7.6.2004
Chronistenseminar 2004 Frühjahr „Haus- und Hofforschung“
Kerstin Hederer
Titel Salzburgs Jüdische Gemeinde vom Neubeginn im 19. Jahrhundert bis zu ihrer Vertreibung im „Dritten Reich“ Besichtigung der Ausstellung „Juden in Salzburg“ des Salzburger Museums C.A. Jüdisches Leben in Salzburg seit 1945
Gesamtleitung: Fritz Koller
Fritz Koller
Besprechung der neu erschienenen Salzburger Ortschroniken und verwandter Publikationen Das Salzburger Stadtarchiv – Ein Archiv nicht nur für die Landeshauptstadt 462.000 Inventarnummern – Verborgene Schätze Vorbereitung und Realisierung historischer Druckwerke
Gesamtleitung: Fritz Koller Alfred Stefan Weiß Sabine VeitsFalk
Gesamtleitung: Fritz Koller Fritz Koller
Salzburg 1803 Die Auswirkungen des Jahres 1803 auf die Salzburger Bevölkerung Das Kurfürstentum Salzburg 1803–1805 Die weitere Entwicklung – Salzburg Besprechung der neu erschienenen Salzburger Ortschroniken und verwandter Publikationen Wer war wessen Tante, Onkel, Schwester, Bruder? Pfarrmatriken als Quellen der Haus- und Hofforschung
„Chronistenseminare“ im Salzburger Landesarchiv Datum
Generalthema
Vortragende Oskar Dohle
Hubert Schopf
15.11.2004
Chronistenseminar 2004 Herbst „Kelten – Römer – Bajuwaren“
Kurt Zeller
Wilfried Kovacsovics
Heinz Dopsch
30.5.2005
Chronistenseminar 2005 Frühjahr „Am Rande der Chronik“
Guido Müller
Oskar Dohle
Johannes Lang
14.11.2005
Chronistenseminar 2005 Herbst „Nachdenkjahr“
Gesamtleitung: Fritz Koller Raimund Kastler
Gesamtleitung: Fritz Koller Fritz Koller
Gesamtleitung: Ernst Hanisch Fritz Koller Laurenz Krisch
145
Titel 400 Pläne, 190 Bände: Die Kataster als Schlüsselquellen der Hofforschung Haus- und Hofgeschichten als Bausteine für (Orts)Chroniken
Die Salzburger Landesarchäologie: aktuelle Projekte, langfristige Zielsetzungen 1000 Fibeln und wer die Kelten wirklich waren Roms Adler an der Salzach und die Romanisierung in der Provinz Noricum Die Bajuwaren zwischen Wirklichkeit und Tassilo-Nostalgie Besprechung der neu erschienenen Salzburger Ortschroniken und verwandter Publikationen Der Naturraum – Der Raum, in dem die Chronik lebt: Aufbau, Abbildungen und Autoren Die Vereine – Gegenstand der Forschung, Objekt der Präsentation, Zielgruppe beim Verkauf Burgen, Kreuze und Kapellen – Historische Objekte und Kleindenkmäler, ihre Erforschung, Dokumentation und Präsentation
„Zersprengt die DollfußKetten“. Die Jahre vor 1938 in Bad Gastein
146
Oskar Dohle
Datum
Generalthema
Vortragende Ernst Hanisch
Ingrid Bauer
Ewald Hiebl
12.6.2006
Chronistenseminar 2006 Frühjahr „Salzburger Barock“
6.11.2006
Chronistenseminar 2006 Herbst „900 Jahre Nachbarschaft“
Fritz Koller
Ewald Hiebl
Alfred SpiegelSchmidt
Gesamtleitung: Fritz Koller Fritz Koller
Johannes Neuhardt Hubert Schopf Gerhard Ammerer Gesamtleitung: Fritz Koller Peter Kramml
Titel NS-Herrschaft in der Provinz. Die Gauleiter Friedrich Rainer und Gustav Adolf Scheel USA-Bräute und Besatzungskinder. Die alltags- und geschlechtergeschichtliche Dimension der Besatzungszeit Vom Sattwerden zum Überfluss. Salzburg rund um die „Hofübergabe“ von Josef Klaus zu Hans Lechner Besprechung der neu erschienenen Salzburger Ortschroniken und verwandter Publikationen; Grundsatzdiskussion zu den Seminaren Salzburger Barock Salzburgs Fürsten der Barockzeit Das Genie und sein Lexikon „Der abgerissene Saum vom Mantel des Hl. Rupert“ – Die Fürstpropstei Berchtesgaden in der Nachbarschaft des Erzstiftes Salzburg 1806–2006: Berchtesgaden und Salzburg im Zeitalter Napoleons Festspiele und Obersalzberg: Salzburg und Berchtesgaden im 20. Jahrhundert Berchtesgaden im Gravitationsfeld der Landeshauptstadt Salzburg – Ein heimlicher „Anschluss“ nach 900 Jahren?
„Chronistenseminare“ im Salzburger Landesarchiv Datum 21.5.2007
Generalthema Chronistenseminar 2007 Frühjahr „Eine Chronik entsteht“
5.11.2007
Hans Roth Oskar Dohle Erika Scherer
Chronistenseminar 2007 Herbst „Familien- und Personenforschung. Quellen – Möglichkeiten – Grenzen“
Ulrike Engelsberger
Oskar Dohle
Fritz Koller
2.6.2008
Chronistenseminar 2008 Frühjahr „Ortschronik und Internet“
Christian Gruber Hubert Schopf
Gernod Fuchs
Vortragende
Titel
Gesamtleitung: Fritz Koller Fritz Koller
147
Besprechung der neu erschienenen Salzburger Ortschroniken und verwandter Publikationen Von der Idee zum Konzept Vom Konzept zum Manuskript Vom Manuskript zum Buch
Gesamtleitung: Fritz Koller
Kerstin Lengger
Familien- und Personenforschung in Archiven der katholischen Kirche Familien- und Personenforschung im Salzburger Landesarchiv Die Dokumentation von Grundbesitz als Quellen für die Familien- und Personenforschung Die Bauersleute am Wimmgut in Gföll – Eine Pinzgauer Familie auf ihrem Weg aus dem Mittelalter in das Jahr 2007
Gesamtleitung: Fritz Koller Fritz Koller
Besprechung der neu erschienenen Ortschroniken und verwandter Publikationen in Salzburg und im Raum EuRegio Geschichte und Internet Das Salzburger Landesarchiv im Internet Das Internet in der lokalhistorischen praktischen Anwendung
148 Datum 24.11.2008
Oskar Dohle Vortragende
Titel
Gesamtleitung: Fritz Koller Fritz Koller
Generalthema Chronistenseminar 2008 Herbst „Salzburger Archivlandschaft“
Joachim Wild
Peter Kramml
Johannes Lang
29.6.2009
Chronistenseminar 2009 Frühjahr „Zeitungen: Sekundenzeiger der Geschichte“
Manfred Perterer
Alfred Stefan Weiß
Oskar Dohle
16.11.2009
Chronistenseminar 2009 Herbst „Bayern in Salzburg – Salzburg in Bayern“
Gesamtleitung: Fritz Koller Fritz Koller
Gesamtleitung: Fritz Koller Hermann Rumschöttel Thomas Weidenholzer Fritz Koller Alfred Spiegel Fritz Koller
Salzburger Archivalien im Österreichischen Staatsarchiv in Wien Salzburger Archivalien im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München Das Salzburger Stadtarchiv – Haus der Stadtgeschichte Das Stadtarchiv Bad Reichenhall und die Archivlandschaft in den Landkreisen Berchtesgadener Land und Traunstein Besprechung der neu erschienenen Ortschroniken und verwandter Publikationen in Salzburg und im Raum EuRegio Wie kommt die Nachricht in die Zeitung? Aus der Arbeitsweise einer Redaktion Welche Presse hatte Napoleon? Die frühen Salzburger Zeitungen Global – regional – lokal. Die Berichterstattung in der Salzburger Tagespresse nach 1945 Das Königreich Bayern 1810 Salzburg 1810 Die bayerische Verwaltung in Salzburg 1810–1816 Die Wittelsbacher in Salzburg und Berchtesgaden (ab 1810)
„Chronistenseminare“ im Salzburger Landesarchiv Datum 3.5.2010
Vortragende
Titel
Gesamtleitung: Fritz Koller Fritz Koller
Generalthema Chronistenseminar 2010 Frühjahr „Quellen aus erster Hand“
Guido Müller
Robert Hoffmann
Ewald Hiebl
22.11.2010
Chronistenseminar 2010 Herbst „Gemeindearchive als Einrichtungen des lokalen Erinnerns“
149
Besprechung der neu erschienenen Ortschroniken und verwandter Publikationen in Salzburg und im Raum EuRegio Darstellung lokalhistorischer Ereignisse durch Auswertung von Zeitungen Lebensbilder – Autobiographische und andere personenbezogene Quellen und ihre Bedeutung für Ortschroniken Oral History – Methode, Tücken, Verwertung
Gesamtleitung: Oskar Dohle Oskar Dohle
Peter Kramml
Thomas Mitter ecker
Nikolaus Pfeiffer
Hannes Wartbichler
Augustin Kloiber
Einführung in das Thema „Gemeindearchive“ und Vorstellung der künftigen inhaltlichen Schwerpunkte der Chronistenseminare Das Stadtarchiv Salzburg: Haus der Stadtgeschichte und Salzburgs größtes Gemeindearchiv „… dass oft ganz ungeeignete Lokalitäten verwendet werden …“ Pfarrarchive in der Erzdiözese Salzburg einst und jetzt Grundlagen der Bestandserhaltung in Gemeindearchiven aus der Sicht des Archivrestaurators Das Stadtarchiv Mittersill – Vorgeschichte und Stand der Arbeiten Das Gemeindearchiv St. Gilgen stellt sich vor. Über den praxisbezogenen Aufbau eines Ortsarchivs.
150 Datum 6.6.2011
Oskar Dohle Vortragende
Titel
Gesamtleitung: Ulrike Engelsberger
Generalthema Chronistenseminar 2011 Frühjahr „Archive entdecken. Die Archive des Benediktinerstiftes Nonnberg, der Erzabtei St. Peter, der Salzburger Festspiele und der Paris-Lodron-Universität Salzburg stellen sich vor“
Fritz Koller
Maura Promberger Gerald Hirtner
Franziska-M. Lettowsky
Christoph Brandhuber
14.11.2011
Chronistenseminar 2011 Herbst „Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte? Fotografie und lokale Geschichtsforschung“
Besprechung der neu erschienenen Ortschroniken und verwandten Publikationen in Salzburg und im Raum EuRegio Benediktinerstift Nonnberg – Archiv und Bibliothek Vom Verbrüderungsbuch zur Fotosammlung – Das Archiv der Erzabtei St. Peter Das Archiv der Salzburger Festspiele – Einblicke anhand von historischen Materialien und deren Präsentation in der Jubiläumsausstellung „Das große Welttheater 2010“ Das Salzburger Universitätsarchiv – Archivalien und Bücher zur Geschichte der Salzburger Universität und ihrer Studenten
18.6.2012
Chronistenseminar 2012 Frühjahr „Das Archiv im Boden. Fragen zur Archäologie und zum Umgang mit Bodenfunden“
Gesamtleitung: Hubert Schopf
Jörg Eberhard Christian Recht Nikolaus Pfeiffer Erhard Koppensteiner
Fotos in Publikationen Urheberrechte und Fotografie Vom Umgang mit Fotos
Gesamtleitung: Oskar Dohle
Geschichte der Fotografie in Salzburg
„Chronistenseminare“ im Salzburger Landesarchiv Datum
Generalthema
Vortragende Fritz Koller
Raimund Kastler
Johannes Lang
Peter Höglinger
Klaus Heitzmann
19.11.2012
Chronistenseminar 2012 Herbst „Historische Überlieferung kennt keine Grenzen. Beispiele für Fremdund Mischbestände in den Archiven Salzburgs und der angrenzenden Länder“
Wolfgang Neuper
Wilfried Beimrohr Peter Eigelsberger
151
Titel Besprechung der neu erschienenen Ortschroniken und verwandter Publikationen in Salzburg und im Raum der EuRegio Salzburg- Berchtesgadener Land – Traunstein Das unterirdische Archiv. Archäologische Funde und der sachgerechte Umgang mit ihnen Steine zum Sprechen bringen. Mittelalterarchäologie und Quellenstudium anhand ausgewählter Beispiele Archäologie und Denkmalschutz. Eine historische Quellengattung und ihre rechtlichen Rahmenbedingungen Archäologie – Museum – Ortschronik. Möglichkeiten zur Kooperation
Gesamtleitung: Ulrike Engelsberger
Gerhard Immler
Quellen zur Geschichte des Erzstifts und Herzogtums Salzburg im Bayerischen Hauptstaatsarchiv Roosevelt und Bergbau: Kurio sitäten und Unerwartetes aus dem Archiv der Erzdiözese Salzburg Tirol und seine Salzburger Territorien Die Salzburger Archivalien im Oberösterreichischen Landesarchiv Virtuelle Rückkehr: Die Salzburger Urkunden und Aktenbestände im Haus-, Hofund Staatsarchiv in Wien
Hubert Schopf
152
Oskar Dohle
Datum
Generalthema
Vortragende Oskar Dohle
Ulrike Engelsberger
10.6.2013
Chronistenseminar 2013 Frühjahr „Archiv und EDV – ein Widerspruch? Der Einsatz von Computer & Co im Archivalltag“ Bad Reichenhall, Landratsamt, Salzburger Straße 64
Thomas Weidenholzer
25.11.2013
Chronistenseminar 2013 Herbst „Vom Akt zum Archiv gut. Wie kommt Ver waltungsschriftgut ins Archiv?“
Peter Kramml
Roman Höpflinger
Christine Gigler
Eva Weiler
Titel Fremdes und Unerwartetes: Archivalien aus den Beständen des Evidenzreferates, der RehrlAkten und Meldezettel Als der Westen golden wurde: Reproduktion der Verwaltungsakten und Fotos der amerikanischen Militärregierung in Salzburg 1945–1955
Gesamtleitung: Hubert Schopf
Hubert Schopf
Grundsätzliches zum EDVEinsatz in Archiven
Thomas Mitter ecker Hannes Wartbichler
„ArchivIS Pro“ – Anwenderbericht über eine Archivsoftware Der Archivverbund Oberpinzgau – Ein Modell für die Organisation von Gemeindearchiven und dessen EDV-Einsatz Langzeitarchivierung elektronischer Unterlagen (mit Schwerpunkt Gemeindebereich)
Gesamtleitung: Ulrike Engelsberger
Oskar Dohle
Die rechtliche Verankerung der Gemeindearchive im Salzburger Landesarchivgesetz Österreichs Kommunalarchive: Das kollektive Gedächtnis der Städte und Gemeinden Was tut eine Gemeinde, um Verwaltungsschriftgut dauerhaft aufzubewahren? Beispiel: Gemeinde Ebenau Pfarrarchive und Überlieferungsbildung in der Erzdiözese Salzburg Archivalische Überlieferung und Gemeindemuseen
„Chronistenseminare“ im Salzburger Landesarchiv Datum 16.6.2014
153
Vortragende
Titel
Gesamtleitung: Oskar Dohle
Generalthema Chronistenseminar 2014 Frühjahr „1914 bis 2014. Aspekte des Erinnerns und der Erinnerung“
Oskar Dohle Thomas Mitter ecker
Johannes Lang
Bernhard Iglhauser
Susanne Rolinek
Oskar Dohle
Klaus Heitzmann
17.11.2014
Chronistenseminar 2014 Herbst „Sammeln – wozu? Sammlungen als wichtige Ergänzungsquellen für ChronistInnen“
Vorstellung des Buches „Salzburg im Ersten Weltkrieg. Fernab der Front – dennoch im Krieg“ Juli 1914 in der Provinz – Mikrohistorische Spiegelung eines weltgeschichtlichen Ereignisses am Beispiel des Kurortes Bad Reichenhall Hungermärsche, Butterspekulanten & Barackenmänner – Die Gemeinde Thalgau im Ersten Weltkrieg Die Ausstellung „Krieg. Trauma. Kunst – Salzburg und der Erste Weltkrieg“ im Salzburg Museum Archivalien zum Ersten Weltkrieg im Salzburger Landesarchiv Heldentod und Erntefrevel – Der Lungau im Ersten Weltkrieg
Dagmar Bittricher Waltraud Voithofer Erwin Burgsteiner Ulrike Engelsberger
Gesamtleitung: Hubert Schopf
Peter Husty
Das Salzburg Museum und seine Sammlungen Die Salzburger Regionalmuseen Museum Bramberg „Wilhelmgut“: Ein Heimatmuseum öffnet seine Pforten Sammlungsbestände im Salzburger Landesarchiv
154 Datum 22.6.2015
Oskar Dohle Vortragende
Titel
Gesamtleitung: Gerda Dohle
Generalthema Chronistenseminar 2015 Frühjahr „Gemeindechronik neu? Neue Inhalte und Möglichkeiten bei chronikalen Publikationen“
Martin Knoll
Thomas Aigner
Alfred Berghammer
Oskar Dohle
Hannes Wartbichler
Alois Schwaiger
23.11.2015
Chronistenseminar 2015 Herbst „Die Grundherrschaft. Ein wichtiges Herrschaftsinstrument der vorindustriellen Zeit“
Aktuelle Fragen und gute Antworten. Themen, Quellen und Probleme der Ortschronik heute Regional- und Heimatgeschichte online – ICARUS für alle! Das war unsere Zeit: Zeitzeugenprojekt des Arbeitskreises Seniorenbildung Der Weg zur Chronik – Erfahrungen aus der Praxis Die Neuauflage einer Ortschronik am Beispiel Mittersill und Kaprun Ortsgeschichte – Datenbank. Leogang im Internet
Christine Gigler
Peter Kramml
Ulrike Engelsberger Ulrike Feistmantl
27.6.2016
Chronistenseminar 2016 Frühjahr „Aspekte der Salzburger Wirtschaftsgeschichte. Quellen – Themen – Entwicklungen“
Gesamtleitung: Hubert Schopf
Gerald Hirtner
Klostergrundherrschaften am Beispiel der Abtei St. Peter Die Pfarrgrundherrschaften Salzburgs Die Stadt Salzburg als Grundherr Die landesfürstliche Gundherrschaft – das „Hofurbar“ Grundherrschaften des Adels und des Bürgertums in Salzburg
Gesamtleitung: Alfred Höck
Christian Dirninger
Fragen, Themen und Inhalte regionaler Wirtschaftsgeschichte
„Chronistenseminare“ im Salzburger Landesarchiv Datum
Generalthema
Vortragende Reinhold Reith
Ewald Hiebl
Helmut Eymannsberger
Alfred Höck
Gerald Hirtner
21.11.2016
Chronistenseminar 2016 Herbst „Vereine und Chroniken. Jubiläen als Anlass für eine Publikation“ Bad Reichenhall, Landratsamt, Salzburger Straße 64
Monika Brunner-Gaurek
Johannes Lang Augustin Kloiber
19.6.2017
Chronistenseminar 2017 Frühjahr „Fachbibliotheken als Ort der Recherche. Bislang selten genutzte Bestände und Quellen für Chroniken“
155
Titel Rechnungsbücher: Sperrige, aber ergiebige Quellen zu wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Fragestellungen. Im Fokus: Die Haushaltsbücher des Tuch- und Seidenhändlers Franz Anton Spängler in Salzburg (1733–1785) Zugänge zum Weißen Gold. Quellen zur Salzburger Salzgeschichte im 19. Jahrhundert zwischen Quantifizierung und Qualifizierung Die Franz-Triendl-„Stiftung“ der Wirtschaftskammer Salzburg – Das unbekannte Wesen Quellen zur Salzburger Wirtschaftsgeschichte im Salzburger Landesarchiv Wirtschaftsgeschichte im Stiftsarchiv am Beispiel von St. Peter
Gesamtleitung: Oskar Dohle
Georg Wimmer
Leichte Sprache in der Chronikarbeit?
Oskar Dohle
Quellen zum Vereinswesen bzw. zur Vereinsgeschichte im Salzburger Landesarchiv Einbindung von Vereinen bei der Erstellung von Chroniken und deren Positionierung in lokalgeschichtlichen Publikationen Jubiläen, die nicht stattfanden Archivgut von Vereinen und deren Sicherung und Erschließung in Gemeindearchiven am Beispiel St. Gilgen
Gesamtleitung: Alfred Höck
156
Oskar Dohle
Datum
Generalthema
Vortragende Gerhard Plasser
Wolfgang Dreier-Andres
Monika Brunner-Gaurek
Florian Knopp
Bernhard Humpel
Philip Schreindl
20.11.2017
Chronistenseminar 2017 Herbst „Fotoarchive. Bestände, Datenbereitstellung und Nutzungsbedingungen“
Gesamtleitung: Gerda Dohle Ulrike Feistmantl Christoph Kühberger
Ulrike Feistmantl Thomas Weidenholzer Werner Friepesz Franz Haselbeck Peter Kramml
Peter Harlander
Titel Die Bibliothek des Salzburg Museums und ihre Sondersammlungen Die Fachbibliothek der Salzburger Volkskultur und der Datenbankverbund der Volksliedarchive Österreichs und Südtirols. Bestand, Recherche und Katalogisierung Die Bibliothek des Salzburger Freilichtmuseums. Ländliche Alltagskultur, Sachkultur, Hausforschung, Regionalgeschichte Der Buchbestand des Keltenmuseums Hallein – Viele Bücher sind noch keine Bibliothek. Zwischen Über- und Unterschätzung Die Salzburger Priesterhausbibliothek in Geschichte und Gegenwart Pfarrbibliotheken – Friedhöfe des Obsoleten? Herausfordernder Umgang mit (Un) Gewolltem
Geschichtswissenschaftliches Arbeiten mit bildlichen Quellen. Eine allgemeine Annäherung Kurzreferate zu den jeweiligen Institutionen
Rechtliche Rahmenbedingungen der Nutzung von Fotosammlungen und der digitalen Datenbereitstellung Nutzung von Bildern im Internet und in sozialen Medien
„Chronistenseminare“ im Salzburger Landesarchiv Datum
Generalthema
11.6.2018
Chronistenseminar 2018 Frühjahr „Historische Kulturlandschaften. Geschichte zum Anfassen – Stadt und Siedlungsarchäologie & Kleindenkmäler“
Ursula Eberhard
Johannes Lang
Monika Brunner-Gaurek
Peter Höglinger
26.11.2018
Chronistenseminar 2018 Herbst „Die Geschichte(n) aus dem Internet. Datenportale, Wikis und andere Quellen im World Wide Web“
Andreas Hirsch Herbert Hofmann Herbert W. Wurster
Roland Herndler
Katharina Scharf
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Vortragende Podiumsdiskussion der Vortragenden
Titel Fotoarchive – Bestände, Datenbereitstellung und Nutzungsbedingungen
Gesamtleitung: Ulrike Engelsberger
Martin Knoll
Kulturlandschaft und Kulturlandschaftswandel Merkmale einer Kulturlandschaft und deren Vermittlung Schwaigen und Almen – Alpine Signaturen unserer Kulturlandschaft Klein- und Flurdenkmäler – Die Sakrallandschaft als Teil einer emotionalen Kulturlandschaft Denkmalpflegerische Ansätze zur Erforschung und Bewahrung der Kulturlandschaft
Gesamtleitung: Alfred Höck
Johannes Lang
Das Internet als historische Informationsquelle – Chancen und Risiken Regionalwikis im Vergleich – Das Bad Reichenhall Wiki Die neuen Möglichkeiten der Forschung durch die Digitalisierung. Erfahrungen eines Pionierarchivs anhand der ICARUS-Portale „Monasterium“ und „Matricula“ SAGISonline – Freier Zugang zu räumlichen Daten der Verwaltung. Inhalte und Nutzung ANNO – Ein digitaler Zeitungslesesaal. Möglichkeiten und Probleme.
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Oskar Dohle Generalthema Chronistenseminar 2019 Frühjahr „Ortsnamen, Flurnamen, Hofnamen. Etymologie der Sprache“
Vortragende
Titel
Gesamtleitung: Oskar Dohle
Organisation: Alfred Höck Thomas Lindner
Katharina ZeppezauerWachauer
Wolf-Armin von Reitzenstein
18.11.2019
Chronistenseminar 2019 Herbst „Den Ort leben – Orga nisationsformen im ländlichen Raum“
Bad Reichenhall, Landratsamt, Salzburger Straße 64
Bernhard Mertelseder Peter Kramml
Gesamtleitung: Oskar Dohle Organisation: Ulrike Feistmantl Anita Moser Alexander Glas
Ortsnamenforschung aus sprachwissenschaftlicher Sicht Flurnamenkartierung im Bundesland Tirol Das Namensgut öffentlicher Räume am Beispiel der Stadt Salzburg ChoroDIG – OroDIG – HydroDIG. Die Mittelhocheutsche Begriffsdatenbank (MHDBDB) als digitales Onomastikon Historisches Ortsnamenbuch Bayern. Abgegangene Ortsnamen in Bayern und Salzburg
Gemeindeentwicklung heute für morgen
Christian Dirninger
Kirchturm – Konkurrenz – Kooperation. Die historische Tiefenstruktur im ländlichen Raum
Martin Knoll
Museumsteam Altenmarkt Brunhilde Scheuringer
Tourismus verändert das Dorf. Aber wie? Ein Dorf im Wandel. Das Beispiel Altenmarkt Treffpunkte im Ort: Wirtshaus und Vereinsheim
„Chronistenseminare“ im Salzburger Landesarchiv Datum 25.5.2020
Vortragende
Titel
Organisation: Alfred Höck Wolfgang Hitsch Moderation: Oskar Dohle Ewald Hiebl
Generalthema Chronistenseminar 2020 Frühjahr „Welche Quelle erzählt welche Geschichte? (Neue) Entwicklungen – Zugänge – Erfahrungen“ Online-Vorträge (coronabedingt) 25.5.2020
2.6.2020
Herbert Justnik
8.6.2020
Gerda Dohle
22.6.2020
Jutta Baumgartner
30.11.2020
Chronistenseminar 2020 Herbst „Seuchen und Übersterblichkeit“
Organisation: Gerda Dohle Wolfgang Hitsch Moderation: Oskar Dohle Martin Knoll
Online-Vorträge (coronabedingt) 30.11.2020
7.12.2020
Monika Brunner-Gaurek
14.12.2020
Jan CemperKiesslich
21.12.2020
Frank Maixner
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Zeitgeist, populäre Kultur und Fake News. Massenmedien als Massenquellen Sammeln, Bewahren und Interpretieren von privater Fotografie. Forschungs- und Ausstellungsprojekt am Volkskundemuseum Wien als Praxisbeispiel Gendarmerie, Schule, Pfarre… Lokale chronikale Überlieferung im (über-)regionalen Kontext Zwischen den Zeilen gelesen. Auswertung kirchlicher Quellen abseits von Taufe, Hochzeit und Todesfall
Corona sammeln? Historische Quellen der Zukunft Hilfe von oben! Von Seuchen, anderen unheilvollen Ereignissen und dem Umgang damit Seuchenhistorische Betrachtun gen am Beispiel der Syphilis und der Pest Mikrobiomforschung an antiken Skelett- und Mumienfunden
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Oskar Dohle Generalthema Chronistenseminar 2021 Frühjahr „Was ist (m)eine Region?“
Vortragende
Titel
Organisation: Gerda Dohle Wolfgang Hitsch Moderation: Oskar Dohle Martin Knoll
Online-Vorträge (coronabedingt) 14.6.2021
21.6.2021
Monika Brunner-Gaurek
28.6.2021
5.7.2021
12.7.2021
19.7.2021
Dagmar Bittricher Michael J. Greger Eveline Bimminger Katharina Scharf
Region – gibt es das? Historische Antworten. Regionale Hauslandschaften und Typologien. Die Planung des Salzburger Freilichtmuseums und der heutige Zugang zur Hausforschung. Warum Regionalmuseen? Wie viel Region ist in den Museen? Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Thema Region. Die Bauernherbst-Region. Das Entstehenn einer Marke. Regionalismen im Tourismus
Zwischen Skylla und Charybdis? Das Nationalarchiv in Prag als Verwaltungsbehörde und als wissenschaftliche Einrichtung Von Eva Drašarová Das zentrale Archiv der Tschechischen Republik wurde im Jahre 2009 in das offizielle Verzeichnis der wissenschaftlichen Einrichtungen des Landes aufgenommen. In Zusammenhang damit wird man an das Wort von Jan Neruda, des tschechischen Dichters des 19. Jahrhunderts, erinnert: „Alles was ich war, war ich gern“, was dann die Paraphrase zulassen würde: „Und ich bin Verschiedenstes auf dieser Welt gewesen“. Der heutige Aufgabenbereich des Nationalarchivs ergibt sich aus dem Gesetz Nr. 499/2004 Slg., über das Archivwesen und die Schriftgutverwaltung und aus einigen weiteren Gesetzen in deren jeweils gültiger Fassung. Das Nationalarchiv ist somit die zentrale Verwaltungsbehörde im Bereich Archivwesen und Schriftgutverwaltung sowie eine staatliche Organisationseinheit mit eigener Haushaltsführung. Es ist direkt dem Innenministerium unterstellt. Gemäß dem genannten Gesetz übt das Archiv eine Forschungstätigkeit im Bereich des Archivwesens, der Historischen Hilfswissenschaften und der damit verwandten Wissenschaftsbereiche aus. Es erfüllt die Aufgaben einer zentralen Einrichtung im Bereich der präventiven Pflege von Archivalien, der Konservierung und Restaurierung von Archivalien sowie der Aufbewahrung und Erschließung neuer Arten von Informationsträgern einschließlich von Dokumenten in digitaler Form. In diesem Bereich hat es auch die Funktion eines fachlichen Beratungs- und Schulungszentrums. Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes über den Staatsdienst Nr. 234/2014, in der derzeit gültigen Fassung, ist das Nationalarchiv auch eigene Behörde. Die Erfüllung seiner Forschungsaufgaben wird ihm durch das spezielle Gesetz über die Unterstützung von Forschung und Entwicklung Nr. 130/2002 Slg. ermöglicht. Die Archivbibliothek als Abteilung des Nationalarchivs ist eine Einrichtung mit einem fachspezifischen Buchbestand, und zwar gemäß dem Gesetz Nr. 257/2001 Slg. über die Bibliotheken und die Bedingungen des Betriebs öffentlicher Bibliotheken und Informationsdienstleistungen. Die Doppelrolle der Archive als Verwaltungsbehörden und als wissenschaftliche Einrichtungen zieht sich wie ein roter Faden durch deren
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Eva Drašarová
Geschichte. Dabei waren natürlich die Absichten ihrer Gründer oder der Archivträger sowie der Zeitpunkt der Entstehung und der Betrieb dieser Einrichtungen von Bedeutung. Dies galt auch für die einzelnen Länder der Habsburgermonarchie und der Nachfolgestaaten nach 1918. Insbesondere in Böhmen, weniger ausgeprägt in Mähren, entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Dualismus von staatlicher Verwaltung und von Selbstverwaltung im Rahmen des cisleithanischen Reichsteiles mit zentralistischen wie mit dezentralistischen Bestrebungen. Die Motive hinter diesen unterschiedlichen Ausrichtungen rührten von der nicht immer konsistenten Politik der zentralen Entscheidungsträger in Wien hinsichtlich der Einheit des monarchisch verfassten Staates und von den Programmen der politischen Kräfte auf der Ebene des Kronlandes Böhmen her. Dieser Dualismus in der Verwaltung, der sich bis in die erste Tschechoslowakische Republik hinein fortsetzte, schlug sich auch in den geteilten Zuständigkeiten der Ministerien für Inneres sowie für Kultus und Unterricht (nach 1918 für Schulwesen und nationale Aufklärung) für das Archivwesen nieder. Diese Zweigleisigkeit hatte ihre Folgen nicht nur für die Beratungskommissionen auf gesamtstaatlicher Ebene, sondern zeigte sich auch in der Landesverwaltung. Das staatliche Archivwesen in seinen Verwaltungsfunktionen wurde vom Innenministerium und damit auch von der böhmischen Statthalterei in Prag geleitet. Wissenschaftliche Einrichtungen, und dies einschließlich der entsprechenden Aufgaben der Archive, unterstanden hingegen dem Ministerium für Kultus und Unterricht und auf der Ebene der Landesselbstverwaltung dem Landesausschuss und dem böhmischen Landtag. Hier lassen sich auch die Ursachen für die anhaltenden Streitigkeiten um die Zuständigkeiten und die Ausrichtung des Archivwesens nach 1918 sehen, die definitiv erst von dem totalitären Regime nach 1948 beendet wurden. Dann erlosch die Landesselbstverwaltung, und die Ansprüche des Schulministeriums wurden schrittweise zurückgedrängt. Auch die ressortmäßige Zuordnung des Archivwesens zu den Ministerien änderte sich. In Angleichung an die vom Innenministerium geleitete allgemeine innere Verwaltung wurde eine dreistufige Struktur staatlicher Archive aufgebaut. Auf zentraler Ebene wurden drei Archive zu einer Einrichtung vereinigt, nämlich die beiden nur auf ihren eigenen Bereich beschränkten Behördenarchive des Innen- und des Landwirtschaftsministeriums mit dem ursprünglichen böhmischen Landesarchiv, das bisher seine Aufgaben im Bereich der Geschichtsschreibung und der wissenschaftlichen Editionen betont hatte. Das Landesarchiv stand somit in der Tradition
Das Nationalarchiv in Prag
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einer Forschungseinrichtung für die neuere Geschichte, die auf Anregung von František Palacký entstanden war. Seine Archivierungstätigkeit und Quelleneditionen hatten sich aber nicht auf die Dokumente seiner Gründungseinrichtungen beschränkt, also des böhmischen Landesausschusses und der Landesverwaltung, einschließlich der landständischen Vorgänger. Das Archiv des Innenministeriums hingegen war das Archiv eines einzigen Trägers mit Zuständigkeit auch für die nachgeordneten Stufen der inneren Verwaltung. Es erfüllte rein administrative Aufgaben und übte eine Beratungsfunktion gegenüber dem Ministerium aus, etwa bei Fragen der amtlichen Ortsbezeichnung oder bei der Bestimmung der staatlichen Symbole. Als Einrichtung nur eines Ministeriums war auch das Landwirtschaftsarchiv entstanden, allerdings hier mit der Aufgabe der Sammlung von Quellen zur Agrargeschichte. Die Bodenreform stellte dieses Archiv dann vor große Aufgaben in Bezug auf die Archive des bisherigen Großgrundbesitzes. Im Jahre 1954 entstand das Staatliche Zentralarchiv, der Vorgänger des Nationalarchivs, mit einer Kombination der hier genannten Aufgaben. Die Archivare waren über lange Zeit hinweg vor allem mit der Rettung von Archivbeständen beschäftigt und widmeten sich einer eifrigen Erschließungsarbeit, weiterhin auch der Edition von Quellen. Alles wurde in Fünfjahres-Zyklen sehr formalistisch und mit einem ideologischen Anstrich samt Ergebniskontrollen und unter Gesichtspunkten der Kaderpolitik geplant. Die Leitungen der Zentralarchive in Böhmen und in der Slowakei bemühten sich seit Ende der 1960er Jahre, ihre Position durch die Anerkennung des Archivwesens als wissenschaftliche Disziplin zu verbessern. Dies war eine Folge der starken politischen und organisatorischen Einengung von Seiten des Innenministeriums und sollte gleichzeitig einer Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung und der finanziellen Absicherung des Archivwesens und von dessen Mitarbeitern dienen. Aus dem gleichen Grund blieb der Gedanke wach, die staatlichen Archive vom Innenministerium weg in die Zuständigkeit des Staatspräsidiums der Tschechoslowakei zu überführen. Aber auch die hartnäckige Forderung nach dem Status des Zentralarchivs als einer wissenschaftlichen Forschungseinrichtung im Rahmen des Innenministeriums rührt von dieser Motivation her. Der Wunsch der Archivare nach persönlichem Weiterkommen, einer fachlichen Eigenbestimmung und gesellschaftlicher Anerkennung war dabei nicht zu übersehen, er stand gleichberechtigt neben der Forderung nach der Zuerkennung des Charakters einer wissenschaftlichen Forschungseinrichtung. Es gab auch Aktivitäten rund um das Jahr 1968, bei denen von
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Eva Drašarová
geschichtswissenschaftlicher Seite her eine Überführung der Archive in die Zuständigkeit des Kulturministeriums anstrebt wurde. Dies blieb ebenfalls ohne dauerhafte Wirkung, da dann politisch die sogenannte Normalisierung einsetzte. Wesentliche Auslöser dieser ständigen Spannungen waren das Bemühen von Archivaren, nicht den Kontakt mit fachlichen Entwicklungen im Westen zu verlieren. Daneben stand der Wunsch nach besserer materieller und technischer Ausstattung. Nach der Samtenen Revolution von 1989 konnten die positiven Veränderungen der vorhergegangenen Zeitperiode übernommen werden, nämlich die einheitliche Archivstruktur und der einheitliche Archivfonds. Gleichzeitig kam es, wie bei jedem Umbruch und jeder Unterbrechung von Kontinuitäten, zu einer zeitweiligen Ablehnung der Organe und der Personen, die die vergangenen vierzig Jahre repräsentierten. Nach der starken Zentralisierung vor 1989 schlug das Pendel mit einem gewissen zeitlichen Verzug in die entgegengesetzte Richtung aus, nämlich eine Auseinanderentwicklung. Die alte Streitfrage, ob nun die Verwaltung oder aber die Wissenschaft den Vorrang habe, kam in den mit Verwaltungsaufgaben überhäuften staatlichen Archiven gar nicht erst auf. Der damalige Direktor des Zentralarchivs schlug für ein neues Archivgesetz ein eindeutig überwiegendes Verständnis von Archiven als Verwaltungsbehörden vor. Allerdings sorgte der Wissenschaftsrat des Archivwesens als oberstes Beratungsorgan für eine Abschwächung dieser einseitigen Auffassung. Die Aufgaben im Bereich der Forschung wurden nun nicht mehr in Zweifel gezogen. Ein Bürgerforum im Staatlichen Zentralarchiv verlangte bereits Anfang Dezember 1989 neben politischen Forderungen eine moralische Rehabilitierung von gemaßregelten Archivaren, die Ablösung inkompetenter Mitarbeiter von leitenden Positionen und eine direkte Unterstellung des Archivwesens wegen dessen allgemeiner Bedeutung unter die Regierung der tschechoslowakischen Föderation. Weiter forderte es eine neue Konzeption für den Wissenschaftrat. Es wurden die Funktion eines wissenschaftlichen Sekretärs und ein wissenschaftlicher Beirat als Beratungsorgan der Archivleitung für alle Tätigkeitsbereiche eingerichtet. Ein Rahmenplan sollte ausreichend Spielraum für besondere, nicht alltägliche Aktivitäten geben. Er sollte die wissenschaftliche und erzieherische Tätigkeit wie auch die physische Pflege der Archivalien und eine regelmäßige Kontrolle der Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit umfassen. Im Jahre 1991, in der Zeit der inneren Reorganisation des weiterhin zuständigen Innenministeriums, also in einer Zeit der Unsicherheit auch für das Staatliche Zentralarchiv, in der sich die Möglichkeit einer Verselbständigung abzeich-
Das Nationalarchiv in Prag
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nete, entstand dann eine längerfristige Konzeption. Diese befasste sich mit der inneren Organisation und der Leitung (neue Geschäftsverteilung, Aktenordnung, neue Beratungsorgane, und zwar Methodikkommission und Editionsrat), mit Personalfragen (die Archive als Teil der staatlichen Verwaltung, Beseitigung von Gehaltsungleichheiten, Adaptationsprozesse, Weiterbildung), mit der Raumsituation (einschließlich der Verstärkung der Restaurierungswerkstätten) und mit der wissenschaftlichen und fachlichen Tätigkeit (Verwaltungsrecht, Archivalienbewertung und -übernahme, Erschließung, Benützung und Forschungstätigkeit, Editionsprojekte, einschließlich des Archivs der Böhmischen Krone, Fachterminologie, die Institutszeitschrift Paginae historiae, Öffentlichkeitsarbeit mit Ausstellungen und Vorträgen, Publizistik, Forschung in Archivalienkunde, Informatik und Restaurierung). Ein großer Teil dieser Anregungen ging in die spätere Gesetzgebung ein und wurde verwirklicht. Der Respekt vor dem Vermächtnis unserer Vorgänger und die konsequente Verfolgung eigener Konzepte führten uns in diesem Prozess zur Erarbeitung des Gesetzes zu einer eindeutigen Formulierung unserer Zielsetzungen, die durch die Mehrheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter akzeptiert werden konnten. Die strategische Planung sollte ausreichend konkret sein, damit sie nicht nur intern verstanden wurde, sondern auch den Entscheidungsträgern in der Gesellschaft, der interessierten Öffentlichkeit, den Förderern und den steuerpflichtigen Bürgern einleuchtete. Es blieb weiterhin die Frage, inwieweit diese in der Vergangenheit die Vorstellungen der Archivare kannten und teilten und ob sie in der Gegenwart über solche Informationen verfügten und auch bereit waren, diesen Zielen zuzustimmen. Archivisches Hervortreten in der Öffentlichkeit ergab sich immer aus einem bestimmten Bedarf heraus, es war eine Sache von Fachleuten, die mehr oder weniger in der Lage waren, ihre Anliegen an die Politik heranzutragen. Es gab allerdings auch Meinungsverschiedenheiten, die Situation war zeitweilig festgefahren, und die Gesetzesfrage konnte erst bei einer günstigen Machtkonstellation entschieden werden. Diese Lösung von oben wurde im Archiv aber nicht mit Begeisterung aufgenommen. Ihre Durchsetzung musste mehr oder weniger angeordnet werden, auch wenn sich die gewählten Regelungen mit der Zeit als tragfähig erweisen sollten. Auch in den Auseinandersetzungen der tschechoslowakischen Ersten Republik hatten sich die Gegensätze in den Auffassungen von den Archiven als wissenschaftliche Einrichtungen und als Verwaltungsbehörden widergespiegelt. Das moderne Archivwesen ist mit der Entwicklung der histori-
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Eva Drašarová
schen Wissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbunden. Die Tradition der Archive, Urkunden zum Nachweis von Rechten des Eigentümers aufzubewahren, ist allerdings noch älter. Die gegenwärtige Praxis hat gezeigt, dass diese beiden Ausrichtungen nicht gegeneinander gestellt werden müssen. Sie können auch als komplexer, mehrschichtiger Auftrag aufgefasst werden. Alle sich daraus ergebenden Aufgaben sollten als sich gegenseitig bedingende Prozesse einer Expertentätigkeit ein wissenschaftliches Herangehen aufweisen. Die Archive gehören zur Infrastruktur der Wissenschaft. Sie dienen den Wissenschaftlern für deren Grundlagenforschung in den Gesellschaftswissenschaften und bringen selbst wissenschaftliche Ergebnisse in der Grundlagen- und angewandten Forschung hervor. Dies geschieht eben mit Unterstützung des Archivgesetzes. Das Nationalarchiv ist gemäß Archivgesetz als alleinige Einrichtung für die Restaurierung, Konservierung wie auch dauerhafte Aufbewahrung von elektronischen Archivalien zuständig, was entsprechende personelle und finanzielle Voraussetzungen erfordert. Die letztgenannten Forschungszweige haben unmittelbare Auswirkungen auf die Praxis. Wissenschaftliche Betätigung der Archivare ist inzwischen gesetzlich formulierte Pflicht, sie hängt mit den Wurzeln und der Tradition des Berufes zusammen. In diesem Sinn bewegt sich auch die Ausbildung des Nachwuchses für das Archivwesen. Ohne breiteres Wissen würden unangemessene Eingriffe in die Archivbestände erfolgen und Quellen nicht erhalten bleiben. Auch aus dem Gesichtspunkt der beruflichen Weiterbildung der Mitarbeiter und deren Zufriedenheit heraus sowie im Interesse einer personellen Stabilität sind Forschungsaktivitäten in allen Fachbereichen zu unterstützen, in denen das Archiv tätig sein kann. Hinzu kommt, dass die Stellung des Archivs als wissenschaftliche Einrichtung, ganz pragmatisch gesehen, nicht unbedeutende Mittel außerhalb des laufenden Haushaltes einwirbt. Dies erlaubt eine materielle Entwicklung, eine Mobilität der wissenschaftlichen Mitarbeiter, die Veranstaltung von Konferenzen, die Erweiterung der Bibliotheken, die Beteiligung an internationalen Forschungsgruppen und die Herausgabe eigener Zeitschriften und Monographien. Seit mehr als zehn Jahren beschränkt sich die wissenschaftliche Arbeit im Nationalarchiv nicht nur auf die Geschichtsschreibung oder auf eine mehr oder weniger tolerierte „Freizeittätigkeit“ der Archivare, die sich auf die unmittelbare Begegnung mit den entsprechenden Quellen stützen können. Die Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung ist bei weitem breiter und erstreckt sich über verschiedene Ebenen und mehrere Fachgebiete.
Das Nationalarchiv in Prag
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Die grundlegende Aufgabe der Archive war und ist die Erhaltung und Zugänglichmachung von Informationen für die gegenwärtigen und zukünftigen Bedürfnisse der Gesellschaft. Wissenschafts-, Forschungs- und Innovationsaktivitäten oszillieren also um diese Grundlage. Diese Aktivitäten verändern sich mit der Entwicklung der Gesellschaft, indem sie auf die Nachfrage nach Information, aber auch auf potentielle Risiken reagieren, die die Erfüllung dieser Grundaufgabe behindern könnten. Im Verzeichnis der wissenschaftlichen Einrichtungen figuriert das Prager Nationalarchiv in der Stellung einer wissenschaftlichen Einrichtung. Sein Potenzial ist aber sehr viel größer. Forschung und Innovation bewegen sich in einem breiteren Tätigkeitsfeld, den das Archiv im gesetzlichen Rahmen erhielt. Deswegen wird im Nationalarchiv sowohl Grundlagen- als auch angewandte Forschung betrieben. Große Bedeutung kommt dabei den technologischen Neuerungen zugunsten der staatlichen Verwaltung zu. Wissenschaftliche Ergebnisse sind sofort in der Alltagspraxis der allgemeinen Verwaltung anwendbar, die Projekte selbst sind mit Rücksicht auf die Bedürfnisse des Archivs und seiner Nutzer im weitesten Sinne formuliert und gestaltet. Grundlagenforschung des Nationalarchivs bewegt sich in den Bereichen Geschichtsschreibung, Gesellschaftswissenschaften, Statistik, Verwaltungsgeschichte und Historische Hilfswissenschaften. Dies entspricht den klassischen Vorstellungen vom Zuschnitt der wissenschaftlichen Arbeit der Archivare. Die Mitarbeiter veröffentlichen Fachbeiträge in renommierten Periodika mit oder ohne Besprechungsteil. Die institutionelle finanzielle Förderung dieser wissenschaftlichen Tätigkeit ermöglicht eben eine flexiblere Veröffentlichung der laufenden Forschung, auch in Monographien, unter Inanspruchnahme externer Leistungen von Verlagen und Druckereien. Unverzichtbar ist jedoch die Forderung nach Qualität und damit verbunden die „Erziehung“ der Autoren durch einen personell und organisatorisch gut zusammengesetzten Editionsrat, durch die einzelnen Redaktionsräte und durch die Zusammenarbeit mit anerkannten wissenschaftlichen Einrichtungen, nicht nur bei der Organisation von Fachgesprächen in unseren Räumen, sondern auch bei der Publikation von Forschungsergebnissen außerhalb der eigenen Veröffentlichungsreihen. Zusätzliche Mittel helfen allerdings dabei, die eigene kleine Verlagstätigkeit des Nationalarchivs zu tragen. Die noch vor kurzem recht bescheidenen Publikationsreihen des Archivs konnten sich dadurch in sachlicher Hinsicht deutlich profilieren, freilich weniger noch hinsichtlich des graphischen Erscheinungsbildes. Neben Zeitschriften, wissenschaftlichen Monographien
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Eva Drašarová
und traditionellen Editionen von Urkunden landesherrlicher oder staatlicher Herkunft entwickelte sich die Herausgabe sogenannter Ego-Dokumente von Privatpersonen sehr erfolgreich, oft unter Wahl eines Bezuges zur Archivgeschichte. Wir knüpfen auch an die ältere Tradition der Erstellung von Nachschlagewerken zur Verwaltungsgeschichte an. Diese stellen ein nützliches Hilfsmittel dar, nicht nur für Historiker. Für solche Tätigkeiten haben die Archive die besten Voraussetzungen, ja fast eine Monopolstellung. Ein Teil der Arbeiten erscheint in dem renommierten Verlag Lidové noviny. Der eigene „Verlag“ des Nationalarchivs hat Probleme bei der Werbung und im Vertrieb. Seine Titel sind für den Leser schwer erreichbar. Nach den fatalen Erfahrungen der Pandemie von 2020/21, in der die Informationen für Forscher schwer zugänglich waren, entschied sich die Leitung des Archivs für einen beschleunigten Übergang zu E-Büchern. Dabei wird die herkömmliche Druckform nur für die Pflichtexemplare, für den in- und ausländischen Schriftentausch und für den konservativeren Teil des Leserkreises beibehalten. Bei der Bearbeitung von Archivbeständen bewegen sich die Archivare im Grenzgebiet zwischen Grundlagen- und angewandter Forschung. Das Ziel sind archivische Findmittel mit fundierter Einleitung, Bestandsübersicht und Verzeichnung sowie anspruchsvollen Registern. Auch in diesem Bereich hat eine weltweite Standardisierung massiv Eingang gefunden. Gerade dieser Problematik hat sich übrigens ein Kollege in einem Projekt gewidmet, das von der Sicherheitsforschung im Innenministerium finanziert wurde. In einem Teilbereich hat er anschließend eine Forschung im Auftrag des Kulturministeriums und in Zusammenarbeit mit anderen Gedächtnisinstitutionen durchgeführt. Alle Ergebnisse fanden in ein landesweit gültiges, lange herbei gesehntes methodisches Regelwerk Eingang, das somit „von unten“, von Arbeitsgruppen aus den Archiven, gemeinsam mit dem Innenministerium, also „von oben“, geschaffen wurde. Daneben gingen die Ergebnisse in Änderungen gesetzlicher Vorschriften ein, mit anschließender Implementierung im Software-Bereich. Die laufenden Erkenntnisse bezüglich des Austausches von Informationen unter sogenannten Autoritäten (Datenherren) wurden für eine weitere Forschung genutzt, die vom Fachbereich Archivverwaltung und Schriftgutverwaltung des Innenministeriums und einer Arbeitsgruppe aus den staatlichen Archiven unter Mithilfe der Technologieagentur der Tschechischen Republik organisiert wurde. Dies alles ermöglicht eine bequeme nationale und internationale Teilhabe von Forschern und der breiteren Öffentlichkeit an Informationen. Es ist noch anzufügen, dass die Fixierung der Erschließungs-
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methoden in Zusammenhang mit der Einführung neuer Grundregeln für die Verzeichnung und weitere Behandlung von Archivalien und für die Anwendung von Software eine sehr nützliche und sinnvolle Beschäftigung für eine Reihe von Archivaren, Restauratoren und Hilfskräften mit Mittelschulabschluss in der Zeit massiver antiepidemischer Maßnahmen und des Covid-Lockdown ermöglichte, später auch während des Schichtrhythmus im sogenannten Homeoffice. Angewandte Forschung findet vor allem auf dem Feld der Informatik und bei der Erschließung und der physischen Pflege der elektronischen Archivalien statt. Dabei handelt es sich um einen ganzen Komplex wechselseitig verbundener Fragen, die bis in den Bereich der Sicherheitsforschung unter Leitung des Innenministeriums reichen. Damit hängen Fragen der Bestandserhaltung von Archivalien und deren Sicherung gegen Vernichtung, zeitweiligem Verschwinden und Entwertung durch Alterung oder menschlichen Eingriff zusammen. Die Forschung erstreckt sich so einerseits in Richtung auf den Erhalt der Daten, auf elektronische Schriftgutverwaltung und elektronischen Behördenbetrieb samt der Verankerung in der nationalen Gesetzgebung und der Standardisierung. Andererseits geht es um die Gewährung komfortabler Dienstleistungen für die Benützer, mit dem konkreten Ziel, die öffentliche Verwaltung und die öffentlichen Dienste effektiver zu machen, und zwar durch Annäherung der öffentlichen Leistungen an den Bürger im Bereich des Archivwesens und deren maximale Zugänglichkeit und Qualität, immer unter Betonung eines sicheren und einfachen Zugriffes über das Internet. Hier sollte eigentlich von einem Innovationspotenzial der Archive mit Elementen einer angewandten Forschung gesprochen werden. Im Bereich der Historischen Hilfswissenschaften und der Verwaltungsgeschichte schließt die angewandte Forschung der Archive an die Grundlagenforschung an. Hier ist der Wirkungsbereich jedoch gesellschaftlich und geographisch viel weiter gesteckt. Wir verfügen über ein internationales Netz von Mitarbeitern in einer Reihe von Projekten, die aus Programmen der Europäischen Union finanziert werden. Die ursprüngliche Plattform war das International Centre for Archival Research (ICARUS), eines der ersten Digitalisierungsprojekte bei Urkunden wurde dann Monasterium. ICARUS ist jetzt eine wichtige Ebene in der internationalen Archivforschung in Bezug auf digitale Technologie, die für die Erhaltung und Erschließung des in den Archiven aufbewahrten Weltkulturerbes von Bedeutung ist. Das Zentrum engagiert sich in einer ganzen Reihe von verbindenden und verbundenen Projekten in den sogenannten Digital Hu-
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manities. Daneben ist das Nationalarchiv seit 2017 assoziierter Partner des Projekts Time Machine, aus dem 2019 die Time Machine Organisation (TMO) als Organisation für eine internationale Zusammenarbeit in den Bereichen Technologie, Wissenschaft und Kulturerbe entstand. Im Rahmen des bereits abgeschlossenen Projekts Community as opportunity, the creative archives´ and users´ network (CO:OP) arbeitete das Nationalarchiv an dem virtuellen Archiv Topothek mit, das die Speicherung von ortsgebundenem, historisch bedeutendem, überwiegend privatem Material ermöglichte, das der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden kann. In die Topothek wurden drei Gemeindearchive aufgenommen, an denen unter der fachlichen Leitung von Mitarbeitern des Nationalarchivs örtliche Chronisten mit den Einwohnern der Gemeinden zusammenarbeiteten. Es konnten so virtuelle Gemeindearchive von Fotografien und weiteren Dokumenten geschaffen werden. Hinzu kamen zwei Topotheken für fotografische Sammlungen und weitere Dokumente der Klöster Strahov und Břevnov. Das Projekt wird noch ständig weitergeführt, die Aktivitäten werden vom erwähnten ICARUS koordiniert. Durch das Projekt CO:OP konnte die Digitalisierung der Siegel des Archivs der Böhmischen Krone abgeschlossen und eine zugehörige Datenbank der Verzeichnisse der Siegel des Kronarchivs geschaffen werden. Diese Ergebnisse gehen an Monasterium. Gegenwärtig endet das Förderprojekt History of Medieval Europe (HOME). Projektmanager ist hier das französische Institut de Recherche et d´Histoire des Textes (IRHT), das vom Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Paris betrieben wird. Partner sind außer dem Prager Nationalarchiv die Gesellschaft TEKLIA und die Universitat Politecnica de Valencia. Das Projekt ist auf die Textverarbeitung eingescannter Dokumente mittelalterlicher Kanzleien gerichtet. Es wird durch das Ministerium für Schulwesen, Jugend und Sport als Teil des „Digital Heritage” im Rahmen der Initiative der gemeinsamen Programmierung „Kulturerbe“ (JPICH) gefördert, dem sich Tschechien anschloss. Das Nationalarchiv wurde auch zur Teilnahme an einem internationalen Netzwerk der European Holocaust Research Infrastructure (EHRI) eingeladen, das sich der Nutzbarmachung großer Forschungsinfrastrukturen in Tschechien widmen will, und zwar gemeinsam mit dem Konsortium LINDAT/CLARIAH-CZ, das Daten und Leistungen aus dem Bereich der Humanwissenschaften anbietet. Prof. Jan Hajič von der MathematischPhysikalischen Fakultät der Prager Karlsuniversität und die Leitung des Nationalarchivs haben großes Interesse an der Beteiligung des Nationalarchivs, auch über die Aktivitäten des tschechischen Zweiges von EHRI
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hinaus, und an einer Verbindung zu einem europäischen Cluster. In diese Zusammenarbeit sind die Archivarskollegen eingebunden, die die Bestände aus der Zeit der Okkupation im 20. Jahrhundert und den Bereich IT verwalten. Wegen ihrer digitalen Form finden die Ergebnisse all dieser Aktivitäten nicht nur in der akademischen Lehre leichtere Anwendung, sondern auch in der Öffentlichkeitsarbeit. Bei einigen Themen werden Forschungsergebnisse auch über Ausstellungen vermittelt. Deren Präsentation auf Panelausstellungen ist auch im Ausland einfacher durchzuführen, leichter natürlich, als die Ausstellung von Originalen. Genannt werden sollten dabei die Aktivitäten mit deutschen und speziell bayerischen Kollegen. Eine der letzten Unternehmungen vor der Unterbrechung durch die Pandemie war hier die Ausstellung und die begleitende Publikation zu den „Tschechoslowakisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen in Dokumenten“. Aber auch im nationalen Maßstab findet bei einer Reihe von Aktivitäten der Behörden, der wissenschaftlichen Einrichtungen und der Gedenkinstitutionen Vernetzung statt. Als Beispiel kann das Projekt der kompletten Erschließung der Materialien zu den politischen Prozessen in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Form eines Internetportals dienen, für das sich das Nationalarchiv, der Tschechische Rundfunk und das Institut zum Studium der totalitären Regime in Prag zusammentaten. Wieder andere Dimensionen der Anwendungen und der Forschung erreichen die Arbeiten in Zusammenhang mit der Revision und der Erschließung der Datenbank zur Bevölkerung der Stadt Prag in den Jahren 1850 bis 1918. Sie schließen an ein älteres Projekt der Tschechischen Agentur für Fördermittel an, nämlich die „Datenbank der Prager Bevölkerung 1850–1918. Demografische Analyse einer entstehenden Großstadt“. Wir beschäftigen uns jedoch nicht nur mit analogen Dokumenten, die für solche Vorhaben digitalisiert wurden. Aus der Tätigkeit des Archivs als Verwaltungsbehörde ging das Projekt „Programm der Sicherheitsforschung des tschechischen Innenministeriums. Analyse der Verarbeitung von personenbezogenen Daten in Archivalien“ hervor, dessen Federführung beim Staatlichen Gebietsarchiv Prag liegt und an dem das Nationalarchiv beteiligt ist. Nach einer Untersuchung der archivischen Praxis und einer Analyse der Archivbestände und der entsprechenden gesetzlichen Regelungen einschließlich eines Überblicks über die Verfahren im Archivwesen des In- und Auslandes werden bis Ende 2022 mehrere Ergebnisse im Bereich der Methoden und der Gesetzgebung erwartet. Die öffentliche Verwaltung braucht für ihren Betrieb schnelle Informationen aus den Ar-
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chiven. Es ist bereits zu einer Selbstverständlichkeit geworden, dass die Erledigung von Angelegenheiten aller Art nur noch elektronisch erfolgt. Dabei brachte das vor einigen Jahren durchgeführte Pilotprojekt „Bearbeitung von Staatsbürgerschaftsangelegenheiten und die Möglichkeiten einer Effektivierung“ eine rationellere Lösung, finanziert von der Technologieagentur der Tschechischen Republik. Auch die langfristige Aufbewahrung digitaler Archivalien (born digitals wie Digitalisaten von analogen Dokumenten) ist ein Feld angewandter Forschung für das Archiv. Den Erzeugern der Archivalien und den Archiven steht eine entsprechende Infrastruktur bereits seit Ende 2014 zur Verfügung, deren Funktionsfähigkeit erfordert jedoch ständige Weiterentwicklung. Innerhalb des Strategischen Rahmens der Entwicklung der tschechischen öffentlichen Verwaltung für die Zeit 2014–2020, strategisches Ziel 3 – Verbesserung des Zugangs und Erhöhung der Transparenz der öffentlichen Verwaltung durch die Instrumente des eGovernment, wurde von November 2016 bis 31. Dezember 2020 das Projekt Nationales digitales Archiv II (NDA II) umgesetzt. Es wurde aus dem integrierten operationellen Programm der Strukturfonds der Europäischen Union finanziert. Die vorgesehenen Aufgaben wurden erfüllt. So konnten die Stabilität und die Sicherheit des Informationssystems erhöht werden, seine Funktion wurde um den „Zutritt“ (sichere Gewährung von Informationen und Dokumenten aus dem NDA) und den „Lesesaal“ erweitert. Es wurde eine direkte Kommunikation dieses Systems mit der elektronischen Schriftgutverwaltung eingerichtet. Hiermit wurden die einschlägigen Anforderungen des Gesetzes über das Archivwesen und die Schriftgutverwaltung und der einschlägigen Folgevorschriften erfüllt. Dem Gesetz über Cybersicherheit wurde mit der Unterstellung unter die Datenaufsicht des Innenministeriums entsprochen. Die Verwirklichung eines Nationalen digitalen Archivs im Nationalarchiv gab an sich von Projektbeginn an einen entscheidenden Impuls für einen methodischen und technologischen Wandel im gesamten tschechischen Archivwesen. Die Folgen traten klar hervor und werden für die Archivtheorie und die angewandte Forschung noch lange nachklingen. So sollte sich die angewandte Forschung in den nächsten Jahren bei der sogenannten präventiven Archivpflege auf die Fragen einrichten, die der Routinebetrieb des NDA auch bei den vorausgesetzten notwendigen Kenntnissen aufwerfen wird. Die organisatorische und personelle Verknüpfung der präventiven Archivpflege mit dem NDA in einer Abteilung des Nationalarchivs machen auch aus diesem Bereich mit seiner bereits langen Tradition einen bedeutenden Arbeitsplatz der an-
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gewandten Forschung, der in seinem Wirkungsbereich die Grenzen des Nationalarchivs übersteigt. Diese Wende in unserem Fachbereich ist in ihrer Bedeutung wohl nur mit den umfassenden Veränderungen vergleichbar, die mit der Einführung eines einheitlichen Archivwesens im Jahr 1954 zusammenhingen. Der komplexe Charakter des NDA gibt diesem bereits heute eine deutliche und ständig wachsende Integrationsrolle in einer Reihe von Arbeitsverfahren, nicht nur in den öffentlichen Archiven Tschechiens, sondern auch bei der Schriftgutverwaltung in der Mehrzahl der bedeutendsten öffentlich-rechtlichen Einrichtungen. Es ist entschieden auf dem Nationalen Standard für die Schriftgutverwaltung zu bestehen, der das Vorgehen bei einem elektronischen Kassationsverfahren und bei der Übergabe ausgewählter elektronischer Archivalien an das NDA bestimmt und im Rahmen des Electronic Records Management Systems (ERMS) nach dem 30. Juni 2012 entstand. Dies gilt in beschränktem Maß auch für ältere Daten sowie für andere Arten von elektronischen Dokumenten, insbesondere bei Datenbanken. Hier macht sich die Globalisierung bemerkbar, die in das tschechische Archivwesen und die Schriftgutverwaltung des NDA unmittelbar eindringt (Formate, Konstruktion von SIP- und AIPPaketen usw.), mit der sonst nur indirekt und am Rand bei der Aktualisierung der Methoden aus verschiedenen Gebieten unseres Fachs gerechnet wird. So wird etwa in der präventiven Archivpflege die europäische Norm ISO für die Schriftgutverwaltung als Ausgangspunkt für die tschechische NSSS angewandt. Bei der Schaffung neuer tschechischer Regeln für die Erschließung von Archivalien wurde wiederum der Einfluss der Normen ISAAD und ISAAR entscheidend spürbar. Im Jahre 2020 stellten die technischen Datensets (geografische Daten, Baudaten usw.) eine Herausforderung für die Forschung dar, und dies sowohl auf nationaler Ebene (Bauanträge, Referentenentwurf des Gesetzes über das Baugenehmigungsverfahren, BIM – Building Information Management) als auch auf internationaler Ebene. Bei der Aktualität des Themas, bei dem internationale und nationale Lösungsansätze synchronisiert werden, ist eine Beteiligung der Archive an den damit in Zusammenhang stehenden Prozessen wegen der schwierigen dauernden Aufbewahrung dieser spezifischen Informationen und Datenformate nötig. Georaumdaten sind sehr komplex. In Tschechien wurden bislang für deren Auswahl und Speicherung oder gar für einen Zugriff nur minimale Bemühungen unternommen. Zur Zeit ist nur die Aufbewahrung einzelner Komponenten und Dateien lösbar, die in Formaten vorliegen, die bereits für eine langfristige Archivierung bestimmt sind. Daneben liegen aber graphische
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Objekte in proprietären Formaten vor, die sich nicht für eine langfristige Archivierung eignen. Die Überführung auf Archivierungsformate ist deswegen entweder mit Verlusten verbunden oder nur schwer durchzuführen. Angesichts der voranschreitenden Digitalisierung, die der Regierungskonzeption „Digitales Tschechien“ folgt, werden die standardisierte Schaffung, Übergabe und dauernde Speicherung dieser Daten eine Schlüsselbedeutung haben. Auch aus diesem Grund beteiligt sich das Nationalarchiv am Projekt „Geographische Informationssysteme und die Erfüllung gesetzlicher Pflichten im Archivwesen“, bei dem das Forschungsinstitut für Melioration und Bodenschutz die Federführung hat. Die Finanzierung ermöglicht das Programm ÉTA der Tschechischen Technologieagentur. Das Projekt widmet sich der Archivierung von Raumdaten als einem Komplex von Datenobjekten und befasst sich mit einer geeigneten Struktur des Datenpakets und den Formaten für eine langfristige Archivierung. Ziel des Projekts ist seitens des Archivs eine Anwendung, die den Datenerzeugern bei der Migration der Daten in eine für das Archiv akzeptable Form hilft, sie lenkt und ihnen die Wichtigkeit und die Vorteile dieser Tätigkeit deutlich macht. Weiterhin aktuell ist die Lösung von Problemen bei der Archivierung von Datenbanken. Die Arbeiten an der Übernahme und Strukturierung der Daten für die archivische Benützung der übernommenen Datenbanken wurden fortgesetzt. In einem Pilotprojekt wurden Daten des Systems ARIS (Automatisiertes Haushalts-Informationssystem) aus den Jahren 1993–2009 übernommen. Das System wurde in der Form von Export Views + ganzes System im Format SIARD (erstellt mit DBPTK) übertragen. Die offenen Daten aus dem System ARIS werden mit Hilfe des Instruments dbDIPview zugänglich gemacht, dazu werden Exporte in Form von Tabellen in csv genutzt. Die Nachweise/Haushalte sind in sieben Informationspakete aufgeteilt, die etwa 1500 Tabellen enthalten. Weiter wurden die Daten der Schulregister gespeichert (Register der Schulen und Bildungseinrichtungen, Register der im Bildungswesen tätigen juristischen Personen). Erfahrungen mit der Archivierung mithilfe des Formats SIARD und des Zugriffs mittels dbDIPview wurden auf Online-Treffen im In- und Ausland sowie in der inländischen Fachpresse mitgeteilt. Es werden Beziehungen zu einheimischen und ausländischen Einrichtungen unterhalten, die vor ähnlichen Fragen stehen. Dabei handelt es sich nämlich um eine der Aktivitäten im Bereich des europäischen Verbundes des DLM-Forums (Document Lifecycle Management). Wir stehen in einem
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engen Kontakt mit Softwareentwicklern aus Slowenien, aus der Schweiz und aus Portugal. Die angewandte Forschung im Bereich der Bestandserhaltung der Archivalien bewegt sich auf mehreren Feldern, die im Forschungskonzept des Nationalarchivs beschrieben sind. Es geht hier um die sichere Aufbewahrung einschließlich des präventiven Schutzes der Archivalien, um die Zerfallsprozesse bei den Beschreibstoffen, um die für die Bestandserhaltung verwendeten Materialien sowie um die Entwicklung von Konservierungsund Restaurierungsverfahren selbst. Dabei handelt es sich also um einen physischen Schutz der anvertrauten Archivalien, somit um Verantwortung für einen Teil des nationalen kulturellen Erbes. Dieser Forschungsbereich ist somit auf die Erkenntnis der Risiken für den physischen Zustand der Archivalien und auf die Methoden für deren optimale Bekämpfung gerichtet, daneben auf die Bestimmung der Methoden für die Konservierung und Restaurierung verschiedener Typen von Archivalien. Diese Forschung hat deutlich angewandten Charakter. Gleichzeitig werden die Ergebnisse als allgemeingültige methodische und methodologische Empfehlungen im gesamten tschechischen Archivnetz und in einer Reihe von Fällen auch außerhalb des Archivwesens verwendet. Wir beschäftigen uns auch mit technischen Verfahren zur Erschließung von einzigartigen und für den Staat wichtigen Archivalien. Hier dreht es sich vor allem um die Entwicklung verschiedener Methoden für authentische Archivalienreproduktionen, die sowohl im Rahmen der Archivbenützung als auch für den amtlichen Gebrauch genutzt werden können. Diese Forschung mit ihrem deutlich angewandten Charakter zielt auf moderne Techniken bei Sicherheitsaufnahmen und Digitalisierung. Dies gilt für die Technologie selbst und auch für deren Anwendung in der Archivpraxis, also bei der Beschreibung, Identifikation und Authentifizierung der Digitalisate, der Schaffung von Metadaten und anderes. Ein weiteres Ergebnis dieser Forschung sind überwiegend zertifizierte Methoden, die, wie erwähnt, im gesamten tschechischen Archivwesen Verwendung finden. Die ersten Schutzmaßnahmen gegen die bereits erwähnten Sicherheitsrisiken begannen im Nationalarchiv unter dem Eindruck des Hochwassers in Mähren im Jahre 1997. Im landesweiten Maßstab kam diese Prävention dann im Zuge der Überschwemmungen von 2002 zum Tragen. Bis in die heutigen Tage hält die internationale Zusammenarbeit an, die auf die konkreten Einsätze von damals zurückgeht. Die dort gewonnenen Erkenntnisse wurden weiterentwickelt. Die regelmäßigen Sitzungen der European Working Group on Disaster Prevention wandelten sich zu ei-
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ner gegenseitigen Hilfe bei Katastrophen und zu einem europaweiten Erfahrungsaustausch. An ältere Forschungen, die sich zum Beispiel mit der Konstruktion und Eichung eines Teilchenspektrometers befassten, schloss sich das Projekt „Methodik der Bewertung des Einflusses der Luftqualität auf die Bestände von Bibliotheken und Archiven“ an, das auf einer Zusammenarbeit mit der Nationalbibliothek und dem Institut für chemische Prozesse der Tschechischen Akademie der Wissenschaften beruhte. Die Finanzierung erfolgte hier durch das Kulturministerium in einem Programm zur angewandten Forschung und Entwicklung der nationalen und kulturellen Identität. Ziele waren hier die Erarbeitung einer Methodik zur Verfolgung von Luftverunreinigungen in Archivräumen, die Feststellung der tatsächlichen Verunreinigung in allen staatlichen Archiven und ein Vorschlag für die geeignetste Technologie zu deren Beseitigung einschließlich einer praktischen Erprobung an ausgewählten Orten in Tschechien. In den Jahren 2007–2009 wurde ein weiteres Projekt verwirklicht, nämlich ein Verfahren zur Rettung von lichtempfindlichen Archivdokumenten auf Glasunterlage (Plattennegative), zu deren Behandlung, Archivierung (langfristige Verwahrung), Sicherung und Ermöglichung des Zuganges für eine Benützung. Zu den Ergebnissen dieses Projekts gehörten eine Softwareapplikation für die Zugänglichmachung digitalisierter Glasnegative, eine zertifizierte Methode und eine Versuchsreihe. Ein Forschungsprojekt aus den Jahren 2010–2015 zum „Schutz von Archivdokumenten von staatlicher Bedeutung“, das aus Mitteln des Programms der tschechischen Sicherheitsforschung finanziert wurde, befasste sich in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Gebietsarchiv Prag mit der Schutzdigitalisierung von traditionellen Archivalien mit herausragender Bedeutung. Hier bewährte sich das gemeinsame Vorgehen von in der Welt führenden Gedenkeinrichtungen bei der Schaffung und der langfristigen Aufbewahrung digitaler Sammlungen. Neben der Sicherungsdigitalisierung, der Testaufnahme und der Entwicklung einer speziellen Softwareapplikation für den Zugang zu den im Rahmen des Programms geschaffenen digitalen Reproduktionen wurden die geltenden Archivgesetze in Bezug auf die Schaffung von Sicherungskopien von Archivalien ergänzt. Eine parallel tätige Arbeitsgruppe widmete sich den Fragen einer Rückkonversion von der digitalen in eine analoge Form im Falle von Sicherheitsrisiken. Durch die Ausrüstung eines Digitalisierungs-Arbeitsplatzes mit dem System COM für die Konversion elektronischer Dokumente auf das Sicherungsmedium Mikrofilm wird der Schutz für den Erhalt dieser Informationen erhöht. Es wurde getestet, ob die Integration der Sicherungsaufnahmen digitaler Daten in das damals
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vorbereitete Konzept des Nationalen digitalen Archivs möglich sei. Die Kombination beider Formen der Reproduktion von Archivalien, also der Digitalisierung und der analogen Aufnahme auf Mikrofilm, ermöglichte nicht nur einen präventiven Schutz der Archivalien und einen Fernzugriff auf digitaler Grundlage, sondern auch die Anfertigung von Sicherungskopien zur langfristigen Aufbewahrung (Sicherungsverfilmung). Im Jahre 2012 wurde mit institutioneller Förderung aus der Wissenschaft im Nationalarchiv die Technik der Massenentsäuerung BCP C500 (Bückeburger Konservierungsverfahren) in Betrieb genommen. Gleichzeitig schloss sich das Nationalarchiv der Arbeitsgruppe ISO/TC 046 NP TS, De-Acidification of Paper an, deren Aufgabe die Erarbeitung der internationalen Norm ISO für die Bewertung der Methoden der Massenentsäuerung (ISO 18344, Effectiveness of paper deacidification processes) ist. In Europa und in den USA gibt es eine Reihe von Systemen und Methoden der Massenentsäuerung. Die einzelnen Forschungsstellen – einschließlich des Nationalarchivs in Prag – testen die Methoden zwar, um ausreichende Erkenntnisse über die entsprechende Technologie zu erhalten, die Ergebnisse sind aber oft schwer vergleichbar. Außerdem ist es für Archive und Bibliotheken, die nicht über eine eigene Konservierungsforschung oder Restauratoren verfügen, sehr schwierig, im Angebot der Massenentsäuerungen zu einer eigenen angemessenen Lösung zu gelangen. Deswegen definiert die jetzt entstandene Norm nicht nur genau die Parameter, die bei der Entsäuerung erreicht werden sollen (pH-Wert, alkalische Reserve, Verteilung des Neutralisationsstoffs, mechanische Eigenschaften usw.), sondern beschreibt auch genau zwei bis drei Papiertypen für Labortests (Vergleich der Ergebnisse) und die Anforderungen an eine laufende Kontrolle des eigentlichen Entsäuerungsvorgangs. Fortgesetzt wurde daneben die Optimierung der Entsäuerung mithilfe des Systems „Bookkeeper“. Dies ist eines der am meisten verbreiteteten trockenen Verfahren, das eine ausreichende Entsäuerung ohne Beeinträchtigung der mechanischen Stabilität der entsäuerten Gegenstände und ohne negative Einflüsse auf die verwendeten Schreibstoffe garantieren sollte. Im Nationalarchiv wurde dieses Mittel bei der Massenentsäuerung eingesetzt, und zwar in den Fällen, in denen die Technik C500 der Firma Hostert wegen des Vorliegens von wasserlöslichen Schreibstoffen nicht angewandt werden konnte. In letzter Zeit wurden jedoch Zweifel an der tatsächlichen Wirksamkeit von „Bookkeeper” laut. Dies führte zu Versuchen in den Labors des Nationalarchivs, eine größere Effektivität dieser Entsäuerungsmethode zu erreichen. Im Jahre 2020 zielte die Forschung auf eine Erklärung des fort-
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schreitenden Sinkens des pH-Werts auf der Oberfläche von Dokumenten nach erfolgter Entsäuerung im Verlauf der weiteren natürlichen Alterung. Die bereits erwartete Ursache hierfür war die unzureichende Entsäuerung im Inneren des Stoffs und das anschließende Wandern der nicht reagierten Säuren an die Oberfläche. Weiter wurde die Wirksamkeit der Entsäuerung bei einer breiteren Gruppe von Modellproben untersucht. Bei der Entsäuerung des Papiers wird nach dem Besprühen mit dem Mittel „Bookkeeper” eine kontrollierte Befeuchtung der Dokumente für eine Zeit von 24 Stunden in einer Umgebung mit einer Luftfeuchtigkeit von 80 % angeraten. Auch jetzt wird jedoch noch keine verlässliche Entsäuerung des Maschinenpapiers erreicht. Das Mittel „Bookkeeper” kann somit nicht als Routinemethode der Massenentsäuerung neuzeitlicher Dokumente empfohlen werden. Wegen des hohen Preises kann man sich nicht mit der Hoffnung zufriedengeben, dass es bei einem Zeithorizont von mehreren Jahren letztendlich doch zur Entsäuerung kommen kann. Auch ist unsicher, ob das verwendete Magnesium-Oxid (MgO) dem Papier wirklich nicht schadet. Die laufende Verwendung dieser Methode wurde daher für die Massenentsäuerung im Nationalarchiv fallengelassen. Bei handgemachtem Papier ist die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Entsäuerung bedeutend höher. Die Eigenschaften des Mittels „Bookkeeper” lassen Fragen bezüglich der Wirksamkeit der sogenannten alkalischen Reserve aufkommen, mit der die Dokumente bei der Entsäuerung ausgestattet werden sollten. Die Überprüfung der Abhängigkeit der Funktion der alkalischen Reserve im Verhältnis zur relativen Luftfeuchtigkeit ist für das Jahr 2021 geplant. Durch einen Beschluss des Fachbereichs Sicherheitsforschung im Innenministerium gehörte das Nationalarchiv zu den Empfängern einer zweckgebundenen Förderung, und zwar durch Mittel aus dem Staatshaushalt für Forschung, experimentelle Entwicklung und Innovation für die Jahre 2016–2020. Bei dem betreffenden Projekt, das ein „Fortgeschrittenes Identifikationselement für die Erkennung von Archivalien“ zu erarbeiten hatte, lag die Federführung bei der Technischen Hochschule Brünn. Weitere Partner waren die Chemietechnologische Hochschule Prag, das Zentrum für organische Chemie GmbH und das Institut für chemische Prozesse an der Tschechischen Akademie der Wissenschaften. Konkretes Hauptziel des Projekts war die experimentelle Entwicklung sogenannter unsichtbarer Sensoren für ausgewählte Typen von Archivalien. Gedacht ist dabei an Dokumente, die in einem bislang nicht gekannten Ausmaß von Entwendung bedroht sind. Das Identifikationselement kann den Diebstahl selbst nicht verhindern. Es ist aber in der Lage, bei der Sicherstellung
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des Dokuments eindeutig nachzuweisen, dass es sich um Diebesgut handelt, und Informationen über dessen Herkunft zu geben. Gerade dieser Art von Informationen wird von Sicherheitsexperten eine Schlüsselbedeutung zuerkannt. Die Zuordnung und eine einfache Beweisführung, dass es sich um entwendetes Gut handelt, ist bei der Überprüfung verdächtiger Gegenstände und Personen häufig ein Grundproblem. Es ist zu betonen, dass das Element unsichtbar ist und nur unter Verwendung eines Elektronenmikroskops und mit Kenntnis der genauen Lage auf dem Dokument festgestellt werden kann. Es hat eine Fläche in der Größenordnung von mm2, eine Stärke von 300 bis 600 nm (Nanometern!) und ist transparent. Seine Lage auf dem geschützten Gegenstand ist ohne entsprechende weitere Kenntnisse und Instrumente nicht zu entdecken. Das Element gibt eine selektiv modulierte elektrische Meldung durch einen induzierten Lichtblitz. Dieses Signal kann eine genaue Information über die Herkunft des Dokuments und dessen Zugehörigkeit zu einem konkreten Archivbestand oder sogar eine Information darüber enthalten, aus welchem Aktenzusammenhang das sichergestellte Schriftstück stammt. Die Fähigkeit, diese Informationen zu lesen, ist wiederum an eine spezielle Anlage gebunden. Mit dem Umfang des Schutzes und dem Inhalt der eingegebenen Informationen steht dieses Element auf einer qualitativ höheren Ebene als zum Beispiel Hologramme, magnetische Punkte, Nanoteilchen-Segmente oder Strichcodes. Das Identifikationsprojekt trug zur Entwicklung wirksamer Methoden der Bekämpfung einer besonderen Art schwerer organisierter Kriminalität bei, es ist durch ein Patent geschützt. Die naturwissenschaftliche Konservierungsforschung geht von konkreten Bedürfnissen der Restaurierungspraxis staatlicher Archive aus. Eine Reihe von Themen wird im Rahmen von Bachelor-, Master- oder Doktorarbeiten durch Studenten der Chemietechnologischen Hochschule Prag oder der Fakultät für Restaurierung der Universität Pardubice bearbeitet. Größere Dimension hatte hier das Projekt „Entwicklung der Konservierungsmethoden für Siegel und deren textile Anhänger“, das vom Leiter der Abteilung für die physische Pflege der Archivalien im Nationalarchiv in Zusammenarbeit mit der Chemietechnologischen Hochschule Prag (In stitut für chemische Technologien der Denkmalrestaurierung, Institut für organische Technologien und Institut für Metallmaterialien und Korrosionsbehandlung) im Rahmen eines Programms des Kulturministeriums durchgeführt wurde. Ziele waren einerseits die Erneuerung der traditionellen Verfahren zur Konservierung von historischen Siegeln und deren Aufhängevorrichtungen, andererseits die Entwicklung neuer Methoden,
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die dem aktuellen Kenntnisstand, den Materialmöglichkeiten und den ethischen Normen entsprechen. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei den Materialien der historischen Siegel und Siegelbefestigungen, die in den Sammlungen und Archivbeständen vorherrschen und bei denen die ernsthaftesten Schäden festzustellen sind. Dabei handelt es sich vor allem um das Problem der Restaurierung fragmentierter Siegel aus Bienenwachs, der Konservierung von durch Korrosion beschädigten Bleibullen und den Methoden der Reinigung, Desinfizierung und Konsolidierung der Halterung. Eine Voraussetzung für die Erfüllung der angeführten Ziele war ein vertieftes Verständnis der Zerfallsprozesse, denen sphragistisches Material unterliegt. Bereits älteren Datums ist die Forschung für die Konservierung von durch Eisengallustinte beschädigten Handschriften. Im Nationalarchiv betrifft dieses Problem vorrangig den Bestand der Landtafeln des Königreiches Böhmen. Als Beispiel einer kleineren Forschungsarbeit kann das Studium der Eigenschaften des Klebers EVACON-RTM dienen. Größeren Umfang nahm das Problem der Konservierung historischen und modernen Fotomaterials ein. Bei einer Einrichtung von der Größe des Nationalarchivs kann bei der Planung wissenschaftlicher Projekte von einem relativ breiten Spektrum der Forschungsschwerpunkte ausgegangen werden. Dennoch bestehen Gemeinsamkeiten. Die Vielseitigkeit hat ihren Ursprung in der historischen Entwicklung der Institution selbst und von deren unterschiedlichen Vorgängereinrichtungen. Das Archiv wurde zwar nicht vorrangig als historisches Institut geschaffen. Zu seinen Aufgaben gehörten jedoch bereits in der Vergangenheit in großem Maße der Erwerb und die Aufbewahrung von Quellen zur Geschichte der böhmischen Länder, das Einbringen dieser Quellen in fachliche Publikationen und die Erschließung in Form von wissenschaftlichen Editionen. In den Gesellschaftswissenschaften blieb dieses Bild vom Archiv übrigens bis heute erhalten. Die Entwicklung ging jedoch in allen Bereichen der archivarischen Berufspflichten weiter. Die Bearbeitung und die Erschließung der Archivalien geschieht bei weitem nicht mehr in spezifizierter und elitärer Auswahl. Es werden die modern sten Kenntnisse der Informatik genutzt. Auch die Bestandserhaltung und die Technologie im Bereich der Restaurierung und Konservierung sind vorangeschritten. Archivalien haben sogar ihr fassbares, gegenständliches Wesen verloren. Somit war aktiv auf neue Tatsachen zu reagieren. Während die Leitung des Archivwesens administrativ und im Weisungsrecht beim Fachbereich Archivverwaltung und Schriftgutverwaltung des Innenministeriums liegt, ist das Innovations- und Forschungslabor für das
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gesamte tschechische Archivwesen Teil des zentralen staatlichen Archivs, des Nationalarchivs. Neben seinen historisch gegebenen und weiterentwickelten Pflichten auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften, die denen in den anderen staatlichen Archiven ähnlich sind, erfüllt es hier außerordentliche Aufgaben. Die Verfolgung mehrerer Forschungszwecke und deren Aufgliederung in Grundlagen- und in angewandte Forschung bedeutet dabei keine Konzeptionslosigkeit. Die personellen und finanziellen Beschränkungen erzwangen freilich mehr Geschlossenheit in Bezug auf die Grundpfeiler der Forschung und eine Konzentration auf die tragfähigsten Projekte, die wiederum im Einklang mit den Prioritäten unserer Gesellschaft stehen.
Mit belüter glogken – Die Kooperation des Staatsarchivs Augsburg mit dem Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte der Universität Augsburg zur Erschließung der mittelalterlichen Urkundenbestände geistlicher Institutionen in Augsburg – ein Werkstattbericht Von Thomas Engelke Einer der augenscheinlich größten Standortvorteile des Staatsarchivs Augsburg ist seine unmittelbare Nachbarschaft zur Universität Augsburg. Von der Straßenbahnhaltestelle „Universitätsplatz“ sind es nach links keine 20 m zum Eingang des Staatsarchivs Augsburg und nach rechts um die 200 m zu dem Gebäude der Universität Augsburg, in dem unter anderem die historische Fakultät untergebracht ist. Diese rein geographische Nähe erleichtert natürlich jegliche Art der Kommunikation und in weiterer Folge der Kooperation zwischen dem Staatsarchiv und der Universität. Eine besonders enge Zusammenarbeit hat sich dabei mit dem Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte der Universität Augsburg entwickelt. Bereits zum Ende der Amtszeit des im Jahr 2010 nach München versetzten früheren Amtsvorstands des Staatsarchivs Augsburg, Prof. Dr. Peter Fleischmann, gab es erste Planungen, um die wissenschaftlichen Forschungen zur Geschichte Augsburgs im Mittelalter am Lehrstuhl und die Erschließungsarbeiten am Staatsarchiv Augsburg in einem Projekt zu verzahnen. Im Rahmen eines Workshops zum Thema „Bistum und Domstift Augsburg im Mittelalter“, das der Lehrstuhl im November 2010 in Kooperation mit der GERMANIA SACRA und dem Staatsarchiv Augsburg in dessen Räumlichkeiten veranstaltete, kristallisierte sich heraus, dass das größte Desiderat hinsichtlich des Erschließungszustands bei dem Bestand „Domkapitel Augsburg Urkunden“ vorlag. Zu diesem Bestand gab es außer der sogenannten Aussteller/Siegler-Kartei, die im Rahmen der Beständebereinigung in den 1990er Jahren zusammen mit dem Urkundenbestand selbst aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv übernommen worden war und nur die Urkunden bis zum Jahr 1400 beinhaltete, keine weiteren archivischen Findmittel. Im Staatsarchiv Augsburg wurden daher als Findbehelf Fotokopien eines alten Verzeichnisses der Urkunden aus
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dem 18. Jahrhundert, das noch in der Registratur des Domkapitels selbst entstanden war, genutzt. 1 . D F G - Pr o j e k t – Te i l 1 Infolge der Tagung im Jahr 2010 wurde von Prof. Dr. Thomas Krüger vom Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte der Universität Augsburg in Mitantragstellung durch den Lehrstuhlinhaber, Prof. Dr. Martin Kaufhold, und dem Leiter des Staatsarchivs Augsburg bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ein erster Antrag auf Förderung eines Projekts zur Erschließung der Urkunden des Domkapitels Augsburg, verknüpft mit der Erforschung der frühen Geschichte des Domkapitels, gestellt. Dieser Antrag wurde im Herbst 2014 bewilligt, so dass dem Projekt für dreieinhalb Jahre Sach- und Personalmittel zur Verfügung standen. Aus den Projektmitteln beschäftigt wurden eine wissenschaftliche Hilfskraft (Postdoktorandin) in Vollzeit für drei Jahre und mehrere studentische Hilfskräfte in verschiedenen Teilzeitmodellen. Wissenschaftliches Schwerpunktthema der ersten Phase des DFG-Projekts waren die Entstehung, die Institutionen, die Verfasstheit und die personelle Zusammensetzung des Domkapitels Augsburg im Mittelalter. Hierfür wurde als erstes Grenzjahr das Jahr 1424 ausgewählt. Nicht nur umfasst dieser Zeitraum ungefähr die Hälfte der erhaltenen Urkunden des Domkapitels Augsburg bis zum Ende des Mittelalters, vielmehr fand im Jahr 1425 mit dem Beginn des Pontifikats Peters von Schaumburg als dem bedeutendsten Augsburger Bischof des Mittelalters eine wirkliche Zäsur statt. Archivisches Ziel für den ersten Projektabschnitt war demzufolge die Tiefenerschließung aller Urkunden des Domkapitels bis zum Jahr 1424 mit ausführlichen Regesten, erfasst in einer Datenbank und versehen mit detaillierten Registern. Parallel dazu sollten diese Regesten auch in gedruckter Form in einer bereits existierenden Reihe der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft (SFG) erscheinen.1 Unter den Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft ist die Reihe 2a für die Urkunden und Regesten staatlicher, städtischer und privater Archive vorgesehen. In dieser Reihe sind insbesondere in den 1950er Jahren zahlreiche Regestenwerke zu verschiedenen schwäbischen Herrschaftsträgern, vor allem von Reichsstädten und Klöstern in Schwaben erschienen. Nachdem inzwischen seit längerer Zeit keine Regesten mehr publiziert worden sind, soll die Reihe, die vor einigen Jahren von Prof. Dr. Thomas Krüger als Berichterstatter und Betreuer übernommen wurde, jetzt wiederbelebt werden. Derzeit in Vorbereitung sind weitere Bände mit Regesten der Urkunden der Reichsstadt Nördlingen 1
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Die geplante Drucklegung erforderte relativ frühzeitig die Festlegung eines Grenzjahres, bis zu dem die Urkundenregesten bei der SFG publiziert werden sollten. Hierfür wurde aus mehreren Gründen das Jahr 1486 bestimmt. Im Mittelalter sind Urkunden die mit Abstand vorherrschende, vielfach sogar die einzige Archivaliengattung. Dies ändert sich – je nach Größe und Art der zugrundeliegenden Territorien – meist im Lauf der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Urkunden verlieren diese Form der Einzigartigkeit durch das Aufkommen von Amtsbüchern und später die Aktenüberlieferung. Da Urkundenbestände zudem in der Regel in chronologischer Reihung geordnet sind, hier also der systematische und sach thematische Zugang, der die Ordnung von Amtsbuch- und Aktenbeständen ermöglicht, fehlt, außerdem jede einzelne Urkunde jeweils ein neues und eigenständiges Rechtsgeschäft beschreibt, ist bei Urkunden in der Regel eine tiefere Erschließung notwendig als bei Amtsbuch- und Aktenbeständen. Dem wurde im Projekt durch die Anfertigung von sogenannten Vollregesten – auf deren genauen Umfang noch einzugehen ist – Rechnung getragen. Sobald für ein Territorium Amtsbuch- und Aktenbestände – und damit auch generell eine deutlich dichtere Überlieferung – vorhanden sind, bestehen für jegliche historische Fragestellung in der Regel andere, vielfältigere Zugangsmöglichkeiten. Ab diesem Zeitpunkt ist es nicht mehr zwingend notwendig, Urkunden mit Vollregesten zu erschließen, sondern es genügen auch sogenannte Kurzregesten, die den Rechtsinhalt in deutlich knapperer Form, eher vergleichbar mit der Angabe eines Betreffs wie bei Aktenbeständen (jedoch unter Wahrung bestimmter urkundenspezifischer Formalia) wiedergeben. Diesen Umständen Rechnung tragend, soll auch die Publikation der Regestenbände bei der SFG auf die Wiedergabe von Vollregesten beschränkt werden. Die Festlegung auf das Grenzjahr 1486 stand ebenfalls in Bezug zu dem Pontifikat Bischof Peters von Schaumburg. Es hatte mit dem Wunsch zu tun, alle Urkunden aus der Zeit dieses bedeutenden Bischofs tiefergehend zu erschließen. Um dessen Wirken auch allgemein historisch, institutiosowie eben die Bände zu den Urkunden des Domkapitels Augsburg. Im hier geschilderten Zusammenhang sind dabei vor allem zwei Bände aufzuführen, die bereits zu kirchlichen Institutionen in Augsburg erschienen sind und in gewisser Weise als Vorlage für die Regesten des Domkapitels Augsburg zu sehen sind. Dies ist zum einen Richard Hipper, Die Urkunden des Reichsstifts St. Ulrich und Afra in Augsburg 1023–1440 (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft Reihe 2a, Bd. 4), Augsburg 1956, zum anderen Walther E. Vock, Die Urkunden des Hochstifts Augsburg 769–1420 (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft Reihe 2a, Bd. 7), Augsburg 1959.
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nengeschichtlich und personengeschichtlich besser würdigen zu können, unmittelbare oder mittelbare, zeitlich leicht verzögerte Entwicklungen abschätzen zu können, wurde allerdings auch das Pontifikat seines Nachfolgers, Bischof Johanns II. von Werdenberg, der von 1469 bis 1486 amtierte, mit einbezogen. Dies geschah auch und insbesondere in Hinblick auf weitere Urkundenbestände kleinerer kirchlicher Institutionen in Augsburg, bei denen die Amtsbuch- und Aktenüberlieferung in der Regel erst etwas später einsetzte als bei den großen Institutionen wie dem Hochstift, dem Domkapitel oder auch dem Reichsstift St. Ulrich und Afra in Augsburg. Mit dem Grenzjahr 1486 ist also ein sachlich zu begründender Einschnitt gefunden, der für alle Augsburger Urkundenbestände sinnvoll erscheint und künftig für alle weiteren Regestenwerke, die bei der SFG erscheinen sollen, Gültigkeit hat. Ab dem 1486 beginnenden Pontifikat Friedrichs II. von Zollern sollen die Regesten jedes Augsburger Urkundenbestands bis zum Ende des Alten Reiches nur noch in Form von Kurzregesten wiedergegeben werden. An dieser Stelle muss kurz auf die Unterscheidung von Vollregesten und Kurzregesten eingegangen werden. Ein Vollregest soll den wesentlichen Rechtsinhalt einer Urkunde in knapper Form wiedergeben, ebenso alle enthaltenen wichtigen Einzelverfügungen. Standardisierte Rechtsformeln werden jedoch, anders als in früheren Regestenwerken, die bei der SFG erschienen sind, in der Regel nicht angeführt. So werden z.B. bei Angaben zu den Pertinenzen nur diejenigen wiedergegeben, die auch konkret fassbar sind, z.B. über die Nennung eines Beständers oder die Lage einer Liegenschaft in einer bestimmten Flur. Wird hingegen nur allgemein aufgezählt, dass zu einem verkauften Gut auch Häuser, Hofstätten, Sölden, Gehölze, etc. gehören, wird dies in den Vollregesten in der Regel nur durch den Zusatz „mit aller Zugehörung“ angegeben. Ebenso verhält es sich mit jenen Rechtsformeln, die als Standard in einer bestimmten Form von Urkunde aufzufassen sind, z.B. der Umstand, dass zum Zeitpunkt der Urkundenausstellung der Kaufpreis (der jedoch immer angegeben wird) bereits entrichtet worden ist2 – oder das Faktum, dass der Verkäufer auch förmlich auf alle seine Ansprüche auf das verkaufte Gut verzichtet, und Ähnliches. Auch Gülten werden nicht einzeln aufgeführt. Kaufpreise, Schadensersatzsummen, etc. werden dagegen immer genannt. In einem Vollregest werden auch alle in einer Urkunde auftauchenden Eigennamen Wenn dies im absoluten Ausnahmefall nicht passiert ist, d.h. Ratenzahlung vereinbart wurde, dann ist dies als Besonderheit aufzufassen, die im Vollregest wiedergegeben wird. 2
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von Personen wie von Orten in ihrer originaltextlichen Schreibung wiedergegeben. Eine Standardisierung von Eigennamen in neuhochdeutscher Form erfolgt erst in den Registern bzw. bei Ortsangaben durch die Auflösung bzw. Lokalisierung eines Ortes mittels Fußnoten. Auf das Urkundenregest im engeren Sinn folgen in originaltextlicher Form die Wiedergabe des bzw. der Siegler sowie die Namenslisten von Zeugen, Bürgen, Siegelbittzeugen, Urteilern, etc., die in der zugrundeliegenden Urkunde aufgeführt sind. Als Abschluss des eigentlichen Regests wird die Tagesdatierung der Urkunde in originaltextlicher Form vermerkt. Vor dem Regestentext wird die Nummer bzw. Signatur der Urkunde genannt3 sowie das Ausstellungsdatum in aufgelöster (heutiger) Form, wenn vorhanden, zusammen mit dem Ausstellungsort, ebenfalls in heutiger Schreibung. Nach dem eigentlichen Regest folgen noch die technischen Angaben zur Urkunde, also die Überlieferungsform, die Sprache, der Beschreibstoff, die Maße, eventuelle Kanzlei- und Rückvermerke. Abgeschlossen wird das Regest erforderlichenfalls durch Fußnoten, in denen z.B., wie oben schon angedeutet, originaltextliche Ortsangaben in der Urkunde nach heutiger Schreibung und Zuordnung nach Verwaltungsbezirken aufgelöst werden. Bei den Kurzregesten wird dagegen der Rechtsinhalt einer Urkunde nur in kurzer Betreffsform zusammengefasst. Auf die Wiedergabe von Einzelverfügungen oder auch konkret genannter Pertinenzen wird weitgehend verzichtet. Anders als bei den Vollregesten wird nicht jeder einzelne Eigenname, der in einer Urkunde erwähnt wird, tatsächlich wiedergegeben. Zwingend auch in einem Kurzregest sind nur die Nennung des/der Aussteller(s) und des/der Siegler(s). Weitere Eigennamen werden nur dann aufgeführt, wenn sie für den Rechtsinhalt der Urkunde von unmittelbarer Bedeutung sind, wie z.B. der Name des Käufers eines Gutes in einem Kaufvertrag. Auf die Wiedergabe von Namenslisten von z.B. Zeugen, Bürgen oder Siegelbittzeugen wie auch die originaltextliche Tagesdatierung wird anders als bei den Vollregesten vollständig verzichtet. Die technischen Angaben zu einer Urkunde werden dagegen wie bei den Vollregesten aufgeführt. Da der gesamte Urkundenbestand des Domkapitels Augsburg neu nummeriert werden muss – zu den Gründen siehe die Ausführungen weiter unten im Text –, werden die Bestellnummer im Urkundenbestand des Staatsarchivs und die Regestennummer in der SFGPublikation identisch sein, ein Umstand der zukünftige Recherchearbeiten am Staatsarchiv Augsburg wesentlich erleichtern dürfte. Dies wird im Idealfall auch bei allen anderen zu einer späteren Publikation anstehenden Urkundenbeständen erfolgen. 3
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Aus archivischer Sicht sind im Rahmen des Projekts zwei weitere Aspekte wichtig, zum einen die Bestandsbildung, zum anderen, direkt mit dem ersten Punkt zusammenhängend, die abschließende Formierungsgrundlage für die Erschließung dieser Bestände in ihrer Gesamtheit. In diesem Sinne wurden auch von Anfang an nicht unerhebliche Eigenmittel des Staatsarchivs Augsburg dafür eingesetzt, v.a. die Kurzregesten für die Urkunden des Domkapitels Augsburg ab dem Jahr 1486 zu erstellen. Doch zunächst zu den Fragen der Bestandsbildung. Im Zuge der Bearbeitung der Urkunden des Domkapitels Augsburg stellte sich sehr schnell heraus, dass dieser Bestand zwar weitgehend provenienzrein war,4 dass es sich dabei jedoch um keinen reinen Urkundenbestand handelte. Insbesondere mussten zahlreiche Stücke als nichturkundliche Überlieferung entnommen werden.5 Zum anderen wurden zahlreiche bisher nicht erfasste inserierte Urkunden hinzugefügt.6 Außerdem erhöhte sich die Gesamtzahl der Urkunden des Bestands dadurch, dass kleinere Teilbestände, die infolge der Wirrungen der bayerischen und der württembergischen Archivgeschichte als eigene Teilbestände aufgestellt waren, aufgelöst und in den Gesamtbestand der Urkunden des Domkapitels Augsburg eingefügt werden konnten.7 So zog die Neubildung des Bestands nach sich, dass auf einen Insgesamt mussten bei einer Bestandsgröße von mehr als 9000 Urkunden nur weniger als 10 Urkunden als Fremdprovenienzen entnommen und einem anderen Urkundenbestand zugefügt werden. 5 Entnommen wurden sowohl reine Abschriften (ohne jegliche Form von Beglaubigung) als auch genuine Aktenstücke. Insbesondere aus der Zeit Kaiser Maximilians I. fanden sich zahlreiche Schreiben aus genuiner Aktenüberlieferung, die fälschlich einzeln gelegt und als Urkunde erfasst wurden. Insgesamt wurden fast 550 Nummern entnommen, von denen jedoch nur ca. 65 aus der Zeit vor 1486 stammten. Bei letzterem überwiegen neuzeitliche Abschriften frühere Urkunden. 6 Die genaue Anzahl der Inserte ist noch nicht ermittelt. Sehr viele davon waren allerdings schon von Anfang an als Inserte gekennzeichnet und entsprechend aufgenommen. Allerdings mussten dem Bestand auch zusätzliche Inserte im Umfang einer (niedrigen) dreistelligen Stückzahl zugefügt werden. 7 Es handelt sich hierbei um die domkapitlischen Ämter Gmünd-Lorch (Schwäbisch Gmünd) und Oeffingen (bei Ludwigsburg), die im frühen 19. Jahrhundert aus den vom Königreich Bayern übernommenen Archivalien des Domkapitels Augsburg als auf württembergischem Gebiet liegend nach Stuttgart „extradiert“ wurden und erst in den 1990er Jahren im Rahmen der Beständebereinigung zwischen der bayerischen und der badenwürttembergischen Archivverwaltung zurück nach Augsburg gelangten. Das Amt GmündLorch umfasst dabei ca. 180 Urkunden, von denen ca. 66 aus der Zeit von vor 1486 stammten. Das Amt Oeffingen umfasst lediglich ca. 35 Urkunden aus der Zeit nach dem Erwerb des Amtes durch das Domkapitel Augsburg im frühen 17. Jahrhundert. Allerdings liegen ca. 90 Vorurkunden aus der Zeit vor dem Erwerb, die eindeutig der Provenienz 4
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Gesamtumfang von etwas mehr als 9000 Urkunden ca. 1000 Nummern kamen, die entweder als entnommene also fehlende Stücke Leernummern hervorgebracht oder als spätere Ergänzung Unternummern gebildet hätten. Daher wurde der Entschluss gefasst, den gesamten Bestand nach Abschluss der Erschließungsarbeiten neu zu nummerieren, um nicht jegliche spätere Benutzung unnötig zu erschweren.8 Parallel zur Regestierung der älteren Urkunden bis 1424 durch das im DFG-Projekt direkt beschäftigte Personal wurden von Anfang an auch schon weitere Regesten für die Stücke aus der Zeit von 1425 bis 1486 vor allem durch Studierende der Universität Augsburg in verschiedenen projektbegleitenden Seminaren erfasst sowie Kurzregesten der Urkunden nach 1486 bis zum Ende des Alten Reiches durch das Personal des Staatsarchivs Augsburg erstellt. Derzeit liegen für alle ca. 1100 Urkunden aus der Zeit vor 1424 Vollregesten vor.9 Von den ca. 1400 Urkunden aus der Zeit von 1425 bis 1486 sind für ca. 1000 Urkunden ebenfalls schon Vollregesten erstellt. Für die fehlenden ca. 400 Urkunden sind derzeit allerdings nur einige wichtige Rahmendaten10 aufgenommen worden, die eigentlichen Regesten fehlen noch.11 Dagegen sind sämtliche Urkunden aus der Zeit von 1486 bis 1802, insgesamt mehr als 6500 Stück, bereits als Kurzregesten recherchierbar. Insgesamt wird der Bestand „Domkapitel Augsburg Urkunden“ also mehr als 9000 Urkunden umfassen, ca. 500 Nummern mehr als in den veralteten Findbüchern nachgewiesen. Der Bestand ist in seiner elektronischen Form als Datenbank im Staatsarchiv Augsburg bereits in seiner Domkapitel Augsburg zugeordnet werden können, noch im Hauptstaatsarchiv Stuttgart bzw. im Staatsarchiv Ludwigsburg. Von diesen ca. 90 Vorurkunden entfallen allerdings nur 22 auf die Zeit vor 1486, müssen also zumindest für die Drucklegung bei der SFG virtuell berücksichtigt werden. 8 In Hinblick auf die anstehende Publikation der Urkundenregesten bei der SFG sowie jede eventuelle spätere Onlineedition ist hierdurch der angenehme Nebeneffekt erreicht, dass zukünftig die Nummer im Regestenwerk und die Bestellnummer der Urkunde im Staatsarchiv Augsburg identisch sein werden. 9 Diese haben im Rahmen der geplanten Drucklegung des ersten Bandes der Urkunden des Domkapitels Augsburg bei der SFG auch schon mindestens zwei redaktionelle Prüfungen durchlaufen, stehen also für die vorgesehene Drucklegung bereit. 10 Vor allem die Signatur, das Datum und die technischen Angaben zur Urkunde. 11 Diese reduzierte Aufnahme garantiert allerdings, dass für alle noch fehlenden Urkunden ein Datensatz angelegt werden konnte und eventuelle weitere, eine Zählung beeinflussende Entnahmen bzw. Inserte ausgeschlossen werden konnten. Die geplante Neunummerierung des gesamten Bestands kann also bereits in Kürze durchgeführt werden.
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Gesamtheit benutzbar. Der Ausdruck eines neuen (analogen) Findbuches soll nach Aufnahme der noch ausstehenden ca. 400 Urkunden aus der Zeit von 1424 bis 1486 erfolgen, nach derzeitigen Planungen in ca. einem bis anderthalb Jahren. Die Drucklegung des ersten Bandes der Regesten des Domkapitels Augsburg vor 1424 ist für Ende 2022 vorgesehen,12 die des zweiten Bandes mit den Urkunden aus der Zeit von 1425 bis 1486 für Mitte 2024 und die des Registerbandes für Mitte 2026. Damit ist die Neuformierung des Bestands Domkapitel Augsburg Urkunden also bereits erfolgt13 und die Neuerschließung kann in relativ kurzer Zeit abgeschlossen werden. 2 . Au s b l i c k D F G - Pr o j e k t – Te i l 2 Derzeit befindet sich ein Folgeantrag auf Bereitstellung weiterer Personal- und Sachmittel durch die DFG in Vorbereitung. Aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen kann aber der Abschlussbericht zum ersten Teil des DFG-Projekts erst jetzt abgeschlossen und der Folgeantrag frühestens in der zweiten Jahreshälfte 2022 gestellt werden. Ging es im ersten Teil des DFG-Projekts aus wissenschaftlicher Sicht vor allem um Institutionen und Verfasstheit des Domkapitels Augsburg im Mittelalter, rücken für den zweiten Antrag die Person und das Wirken des Bischofs Peter von Schaumberg als wichtigster und bedeutendster Augsburger Bischof im Mittelalter in den Mittelpunkt des Interesses. Peter von Schaumberg stand dem Bistum und Hochstift Augsburg von 1424 bis 1469 als Bischof vor. Nicht alleine sein mit 45 Jahren außergewöhnlich langes Pontifikat, sondern auch der Umstand, dass er als einziger Augsburger Bischof des Mittelalters Kardinalsrang erlangte und zudem unter Papst Paul II. päpstlicher Legat für den deutschen Raum war, machen ihn zu einer auch überregional bedeutsamen Persönlichkeit. Die Vorbereitungen für die Drucklegung sind eigentlich abgeschlossen. Der Band hätte schon im Jahr 2021 erscheinen sollen, jedoch hat die Corona-Pandemie einen abschließenden Archivbesuch in Stuttgart und Ludwigsburg zur Überprüfung der Vollregesten zu den dort liegenden 8 Urkunden aus der Zeit vor 1424 bzw. der weiteren 14 Urkunden aus der Zeit von 1425 bis 1486 bislang verhindert. 13 Die reale Formierung am Fach steht allerdings noch aus, da die Neunummerierung noch nicht abgeschlossen ist. Außerdem soll der Bestand in diesem Zusammenhang auch konservatorisch bearbeitet werden, d.h. vor allem diejenigen Urkunden, bei denen dies noch nicht geschehen ist, in neue, konservatorisch unbedenkliche Verpackungen umgelegt werden. 12
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Aus archivischer Sicht geht es in der zweiten Projektphase zunächst darum, die noch ausstehenden Arbeiten am Bestand „Domkapitel Augsburg Urkunden“ endgültig abzuschließen. Dies beinhaltet zum einen, für die ca. 400 Urkunden aus der Zeit von ca. 1445 bis 1469, für die bisher nur Rahmendaten erfasst worden sind, auch Vollregesten zu erstellen. Zum anderen sollen die Drucklegung des zweiten Bandes der Regesten der Urkunden des Domkapitels Augsburg für die Zeit von 1425 bis 1486 sowie des Gesamtregisters vorangetrieben und spätestens bis 2026 zum Abschluss gebracht werden. Darüber hinaus ist beabsichtigt, weitere Urkundenbestände geistlicher Institutionen aus Augsburg in den Blick zu nehmen, insbesondere natürlich den zweiten großen Urkundenbestand des Staatsarchivs Augsburg, nämlich „Hochstift Augsburg Urkunden“. Auch hier haben erste Vorarbeiten schon begonnen.14 3 . Ne b e n e f f e k t e Wenn es für das Staatsarchiv Augsburg schon ein herausragendes Ergebnis dieses Kooperationsprojekts ist, einen bisher nur höchst unzureichend erschlossenen Urkundengroßbestand neu und modern erschlossen zu haben, so haben sich im Verlauf des Projekts weitere Effekte ergeben, die einen zusätzlichen Ertrag für Staatsarchiv wie Universität Augsburg geschaffen haben. Dies betrifft vor allem die Bereiche „Öffentlichkeitsarbeit“, „Historisch-politische Bildungsarbeit“ und „universitäre Lehrveranstaltungen“. Bereits im Jahr 2017 konnte mit Prof. Dr. Klaus Wolf von Lehrstuhl für „Deutsche Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit mit dem Schwerpunkt Bayern“ der Universität Augsburg ein weiterer Kooperationspartner gewonnen werden, durch den das Projekt eine interdisziplinärere Ausrichtung erhielt. Prof. Dr. Wolf stieg dabei zunächst in eine schon seit Projektbeginn im Wintersemester 2014/2015 an der Universität Augsburg angebotene Begleitübung ein, die von Prof. Dr. Krüger und dem Amtsleiter des Staatsarchivs Augsburg in den Räumen des Staatsarchivs abgehalten wird. In der Begleitübung soll in ihrem Studium schon fortgeschrittenen Studierenden der Universität Augsburg die Möglichkeit geboten werden, die Erstellung von Urkundenregesten zu üben, wobei weitere historische, hilfswissenschaftliche – und seit dem Einstieg 14
Vgl. hierzu auch: 4. Ausblick, unten im Text.
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von Prof. Dr. Wolf – auch sprachwissenschaftliche Kenntnisse erworben werden können. Parallel dazu wurde eine vom Amtsleiter des Staatsarchivs Augsburg bereits seit 2011 im Rahmen eines Lehrauftrags der Universität Augsburg abgehaltene Anfängerübung, in der neben hilfswissenschaftlichen Grundkenntnissen eine erste Annäherung an die Regestierung mittelalterlicher Urkunden vermittelt werden soll, insbesondere durch die Umstellung auf Urkunden des Domkapitels Augsburg als Gegenstand der Übung, weiter auf das Projekt hin ausgerichtet. Obwohl beide Übungen, Anfänger- wie projektbegleitende Fortgeschrittenenübung von Anfang an auf höchstens zehn Teilnehmende begrenzt waren, um den Studierenden in ausreichendem Maße auch die tatsächliche Übung an Originalurkunden zu ermöglichen, konnte auf diesem Weg eine große Anzahl von Studierenden der Universität Augsburg zur Mitwirkung am Projekt gewonnen werden. Insbesondere die Fortgeschrittenenübung erfreut sich dabei solch großer Beliebtheit, dass Studierende durchschnittlich drei bis vier Semester lang daran teilnehmen.15 Auf diese Weise konnte im Laufe der Zeit auch ein größerer Anteil von in diesen Übungen regestierten Urkunden den Gesamtarbeiten des Projekts hinzugefügt werden. Pro Semester entstehen so – abhängig natürlich von der Entstehungszeit, dem Schwierigkeitsgrad und der Länge der bearbeiteten Urkunden – in einer Anfängerübung ca. 20 und in einer Fortgeschrittenenübung zwischen 30 und 40 neue Urkundenregesten.16 Dabei werden insbesondere in der Fortgeschrittenenübung qualitativ sehr hochwertige Regesten erarbeitet, an denen von Seiten der wissenschaftlichen Betreuung durch Prof. Dr. Krüger und den Verfasser nur noch wenige Eingriffe vorgenommen werden müssen. Insgesamt wurden ca. 20 % der Vollregesten der Urkunden des Bestands „Domkapitel Augsburg Urkunden“ von Studierenden im Rahmen der beiden beschriebenen Lehrveranstaltungen angefertigt. Eine ähnlich erfreuliche Entwicklung ließ sich auch bei den im Projekt beschäftigten studentischen Hilfskräften beobachten. Waren ursprünglich nur zwei teilzeitbeschäftigte Hilfskräfte vorgesehen, um der angestellten Durch die ständige Variation der für die Übung herangezogenen Urkunden nach zeitlichen und sachlichen Kriterien ist gewährleistet, dass die Studierenden neben der Vertiefung des Übungsaspekts der Regestierung von Urkunden auch hinsichtlich der begleitenden Kenntnisvermittlung eine größere Bandbreite abdecken können. 16 In der Datenbank wird die Autorenschaft der Studierenden an den Regesten durch eine namentliche Nennung als Bearbeiter festgehalten. Dies soll auch bei der geplanten Publikation der Regesten bei der SFG mit einfließen. 15
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wissenschaftlichen Kraft bei der Regestenerstellung mittels Literaturbeschaffung etc. zuzuarbeiten, stellte sich schnell heraus, dass diese studentischen Hilfskräfte nach kurzer Zeit durchaus in der Lage waren, einfache deutschsprachige Urkunden selbständig zu regestieren (immer unter der Anleitung und Aufsicht der Projektleitung). So ergab sich schon früh zum einen eine Arbeitsteilung, nach der die wissenschaftliche Kraft in erster Linie die komplizierteren, zum Teil auch deutlich längeren lateinischen Urkunden aus der Zeit vor ca. 1350 bearbeitete und die studentischen Hilfskräfte und die Studierenden der beiden Übungen sich um die einfacheren, deutschsprachigen, häufig kürzeren Urkunden aus der Zeit nach ca. 1350 kümmerten. Zum anderen wurden im Laufe des Projekts vermehrt studentische Hilfskräfte eingestellt. In Verbindung damit reifte bei der Projektleitung die Erkenntnis, dass der Anteil der aufwändiger zu bearbeitenden Stücke des Urkundenbestands wie Statuten des Domkapitels oder Gerichtsbriefe in komplizierteren Rechtsstreitigkeiten (v.a. geistlicher Gerichte) im Vergleich zu den einfacher zu bearbeitenden Kaufverträgen, Leibgedingsbriefen und -reversen, Tauschverträgen und einfachen Vergleichsverträgen geringer war als zunächst angenommen. Dies bedeutete, dass ein derartiger Urkundenbestand, obwohl eine erfahrene wissenschaftliche Betreuung für bestimmte Teile unabdingbar ist, in der Masse durchaus von Nachwuchswissenschaftlern bearbeitet werden kann. Erkennbar wurde dies auch daran, dass aus dem Kreis der studentischen Hilfskräfte des Projekts inzwischen eine erfolgreiche Promotion, vier Master-Diplome und vier abgeschlossene B.A. hervorgegangen sind, wobei bei drei dieser Abschlussarbeiten die eigenständige Bearbeitung und Regestierung eines kleineren Urkundenbestands Teil der Prüfungsanforderungen war. In diesem Sinn hat die frühzeitige Einbindung von Studierenden in das Projekt nicht nur den Gesamtfortschritt der Regestierungsarbeiten beschleunigt, sondern auch einen Beitrag zu einem vielfältigeren Lehrangebot geliefert, welches die Universität Augsburg im Bereich der Historischen Hilfswissenschaften und der mittelalterlichen Geschichte weiterhin anbieten kann. Neben diesem Beitrag zur Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses hat das Projekt schon wissenschaftliche Ergebnisse in Form von Tagungen und Publikationen hervorgebracht. Seit Projektbeginn fanden bereits drei Tagungen statt, bei denen wissenschaftliche Erkenntnisse des Projekts eingeflossen sind oder Projektmitarbeiter durch Fachvorträge einen wesentlichen Beitrag geleistet haben. Zwei dieser Tagungen hatten dabei interdisziplinären Charakter. Gleichzeitig konnte sich das Staatsarchiv
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Augsburg auf diesem Weg selbst als (weiterer) Ort der Wissenschaft in Augsburg etablieren, denn zwei dieser drei Tagungen fanden direkt in den Räumen des Staatsarchivs Augsburg statt. Bereits im Jahr 2015 fanden erste Ergebnisse des Projekts in Form eines Aufsatzes Eingang in einen Sammelband, der von Prof. Dr. Krüger mitherausgegeben wurde.17 In der Folge wurden insbesondere von Prof. Dr. Krüger noch mehrere Aufsätze veröffentlicht, in denen erste Ergebnisse der Arbeiten im Projekt berücksichtigt wurden.18 Im Jahr 2017 fand unter dem Titel „Die Bronze, der Tod und die Erinnerung. Das Grabmal des Wolfhard von Roth im Augsburger Dom“ eine interdisziplinäre Tagung in Kooperation mit der kunsthistorischen Fakultät der Universität Augsburg im Staatsarchiv Augsburg statt, in der das Grabmal des im Jahr 1302 verstorbenen Augsburger Bischofs Wolfhard von Roth näher untersucht wurde. Der begleitende Tagungsband ist inzwischen erschienen.19 Im Jahr 2019 folgte die vom Verein für Augsburger Bischofsgeschichte unter maßgeblicher Mitwirkung von Prof. Dr. Krüger in Leitershofen organisierte Tagung „Bischöfe und ihre Kathedrale im mittelalterlichen Augsburg“, zu der ebenfalls bereits ein Tagungsband vorliegt.20 Im Oktober 2020 war das Staatsarchiv Augsburg Ort einer internationalen Tagung unter dem Brigitte Hotz, Zwischen Kirchenspaltung und Konzilsidee: ein Urkundenbündel des Kardinals Pileo de Prata für das Augsburger Domkapitel von 1379. Mit Regestenanhang. In: Thomas M. Krüger – Christof Paulus (Hrsg.), Suevia et Ecclesia (Festgabe für Georg Kreuzer zum 75. Geburtstag. Sonderdruck der Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben), Augsburg 2015, S. 69–93 und 161–171. 18 Z.B. Thomas M. Krüger, Kooperative Identitätsentwicklung des Augsburger Domkapitels im Spiegel seiner mittelalterlichen Statuten. In: Potestas ecclesiae. Zur geistlichen und weltlichen Herrschaft von Bischöfen und Domkapiteln im Südwesten des Reiches (Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 33), Ostfildern 2015, S. 27–39, oder: Thomas M. Krüger, Das Augsburger Domkapitel: Vermögensverwaltung zwischen Ritter- und Gelehrtenkultur im 15. Jahrhundert. In: Gisela Drossbach – Klaus Wolf (Hrsg.), Reformen vor der Reformation. St. Ulrich und Afra und der monastisch-urbane Umkreis im 15. Jahrhundert (Studia Augustana. Augsburger Forschungen zur europäischen Kulturgeschichte 18), Berlin-Boston 2018, S. 75–90. 19 Florian Andreas Dorn – Thomas Krüger, Wolfhard von Roth im Spiegel seiner Urkunden als Domherr und Bischof von Augsburg. In: Gerhard Lutz – Rebecca Müller (Hrsg.), Die Bronze, der Tod und die Erinnerung. Das Grabmal des Wolfhard von Roth im Augsburger Dom (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte 53), Passau 2020, S. 1–12. 20 Thomas M. Krüger – Thomas Groll (Hrsg.), Bischöfe und ihre Kathedrale im mittelalterlichen Augsburg (Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 53/II), Augsburg-Lindenberg 2019. 17
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Titel „Wir Ludwig von Gottes Gnaden. Das erstmalige Auftreten volkssprachiger Urkunden in europäischen Kanzleien von Königen und Landesherren“ .21 Zu dieser Tagung wurde im Rahmen der oben geschilderten Fortgeschrittenenübung von Studierenden der Universität Augsburg außerdem eine begleitende Ausstellung unter dem Titel „Wir Ludwig von Gottes Gnaden. Die deutschsprachigen Urkunden Ludwigs des Bayern im Vergleich“ konzipiert und erarbeitet, die jedoch wegen der Beschränkungen infolge der Corona-Pandemie nur für etwas mehr als eine Woche im Staatsarchiv Augsburg öffentlich zugänglich war.22 Auch einer größeren interessierten Öffentlichkeit konnte das Projekt vorgestellt werden. Am 9. Mai 2018 fand in Augsburg die sogenannte Lange Nacht der Wissenschaft statt, bei der es in erster Linie darum ging, die unterschiedlichen Forschungsaktivitäten aller Fakultäten der Universität Augsburg einer städtischen Öffentlichkeit zu präsentieren. Als repräsentativer Veranstaltungsort diente hierfür der „Goldene Saal“ des Rathauses, der schon allein aufgrund seiner Exklusivität einen stetigen Besucherfluss garantierte. Im Rahmen dieser Veranstaltung betrieb auch der Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte einen eigenen Stand, auf dem unter anderem das Projekt zur Erschließung der Urkunden des Domkapitels Augsburg präsentiert werden konnte. 4 . Au s b l i c k Neben den bereits geschilderten positiven Nebeneffekten rückt jetzt auch die Bearbeitung weiterer Urkundenbestände des Staatsarchivs Augsburg in den Fokus. Hier sind – chronologisch geordnet – zunächst zwei kleinere, aber nach Provenienz eigenständige Nebenbestände des Domkapitels Augsburg zu nennen. Der Bestand „Domkapitel Augsburg – Fraternitas St. Magni“ beinhaltet die Statuten dieser Bruderschaft der Domvikare am Domkapitel Augsburg sowie Dokumente zur Ausstattung der Bruderschaft mit Gütern und Einkünften, insgesamt ca. 110 Urkunden aus der Zeit von 1325 bis 1486 (Vollregesten) sowie weitere ca. 310 aus der Zeit von 1486 bis zum Ende des Alten Reiches (Kurzregesten). Der Ein Tagungsband ist in Vorbereitung und soll im Herbst/Winter 2022 erscheinen. Ein Ausstellungskatalog als zweiter Teilband des schon genannten Tagungsbands soll im Herbst/Winter 2022 erscheinen. Zudem wird die Ausstellung als Online-Ausstellung für das Kulturportal „Bavarikon“ überarbeitet (https://www.bavarikon.de/urkunden-kaiserludwig; aufgerufen Juni 2022). 21 22
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Bestand „Domkapitel Augsburg – Benefizien“ enthält Urkunden, die die Benefizien der Domherren für die verschiedenen Altäre am Domstift betreffen, insgesamt ca. 340 Urkunden aus der Zeit von 1269 bis 1486 (Vollregesten) und weitere ca. 690 aus der Zeit von 1486 bis zum Ende des Alten Reiches. Beide Teilbestände waren, ähnlich dem Hauptbestand „Domkapitel Augsburg Urkunden“ unzureichend über Verzeichnisse aus dem Jahr 1782 erschlossen. Allerdings konnte der Bestand „Fraternitas“ inzwischen vollständig erfasst werden und zwar durch eine der studentischen Hilfskräfte des DFG-Projekts, die die mittelalterlichen Urkunden der „Fraternitas“ im Rahmen ihrer Masterarbeit an der Universität Augsburg bearbeitet hat. In diesem Zusammenhang hat der Bearbeiter auch Kurzregesten für die Urkunden aus der Zeit nach 1486 erstellt. Für sein inzwischen begonnenes Promotionsvorhaben wendet er sich nun dem Bestand der „Benefizien“ zu, so dass zum Ende seiner Promotion, also in ca. drei Jahren, diese beiden Nebenbestände der Urkunden des Domkapitels Augsburg vollständig erschlossen sein werden, d.h. komplett im Archivinformationssystem verfügbar, als moderne Findbücher im Repertorienzimmer und auf dem Internetauftritt des Staatsarchivs Augsburg aufgestellt, und – was die Vollregesten der Urkunden vor 1486 angeht – in Druckvorbereitung für einen weiteren Band in der Regestenreihe der SFG. Ebenfalls für die Bearbeitung im Rahmen einer studentischen Abschlussarbeit vorgesehen ist der Bestand „Augsburg Stift St. Moritz Urkunden“, ein Bestand mit ca. 600 Urkunden aus der Zeit von 1178 bis 1486 (Vollregesten) und weiteren ca. 1900 Urkunden aus der Zeit nach 1486 bis zum Ende des Alten Reichs (Kurzregesten). Da in diesem Fall Vorarbeiten in Form eines Findbuches aus der Zeit um 1900 existieren, sollte die generelle Erfassung der Urkunden etwas einfacher zu bewerkstelligen sein. Aus archivischer Sicht liegt der Schwerpunkt der Verzeichnungsarbeiten in diesem Fall auf der Indexierung der Urkunden und der Informationsanreicherung des Archivinformationssystems des Staatsarchivs Augsburg. Auch hier ist nach Abschluss der Arbeiten eine Drucklegung der Regesten vor 1486 bei der SFG geplant. Und auch für den Urkundenbestand des Klosters Heilig-Kreuz in Augsburg mit einem Umfang von ca. 550 Urkunden aus der Zeit vor 1486 (Vollregesten) sowie ca. 2000 Urkunden aus der Zeit nach 1486 bis zum Ende des Alten Reiches konnte inzwischen aus dem Kreis der studentischen Hilfskräfte des Projekts eine Bearbeiterin im Rahmen eines Promotionsprojekts gefunden werden. Bereits vollständig verzeichnet ist der Bestand „Augsburg Damenstift St. Stephan Urkunden“ mit ca. 240 Urkunden aus der Zeit von 969 bis 1486
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(Vollregesten) und weiteren ca. 1450 Kurzregesten aus der Zeit nach 1486. Die Bearbeitung dieses Bestands im Lauf des Jahres 2020 ist ein in diesem Zusammenhang positiver Aspekt der Corona-Pandemie, denn die pandemiebedingten Einschränkungen der Öffnungszeiten des Staatsarchivs Augsburg ermöglichten es, etwas mehr Zeit als sonst üblich in neue Erschließungsarbeiten zu investieren. Daher wurde die Bearbeitung dieses in seiner Größe relativ überschaubaren, jedoch historisch wichtigen und (im Vergleich der am Staatsarchiv Augsburg vorhandenen Findbücher) sehr schlecht erschlossenen Bestandes (über ein Findbuch aus den 1870er Jahren) vorgezogen. Und die Ergebnisse der Bearbeitung bestätigten die Notwendigkeit von Neubearbeitungen. Zum einen musste die chronologische Ordnung der Urkunden des Bestands überhaupt erst hergestellt werden, zum anderen war ca. ein Drittel der vorhandenen Urkunden erstmals zu erfassen, da sie sich im alten Findbuch nicht fanden bzw. nur über Sammelbetreffe erschlossen waren. Eine Drucklegung der Regesten aus der Zeit vor 1486 bei der SFG ist auch hier geplant, jedoch gegebenenfalls nicht als eigener Band, sondern zusammen mit den annähernd genauso umfangreichen Regesten des (noch nicht bearbeiteten) Bestands „Augsburg Stift St. Georg Urkunden“. Als nächstes Großprojekt wurde inzwischen die Erschließung des Bestands „Hochstift Augsburg Urkunden“ in Angriff genommen. Hier sind drei Teilbereiche zu unterscheiden. Zum einen liegt für die Urkunden bis 1420 ein Regestenwerk der SFG aus dem Jahr 1959 mit fast 800 Regesten vor.23 In diesem Fall geht es im Wesentlichen darum, diese Regesten, vor allen aber die Registerbegriffe in das Archivinformationssystem einzupflegen. Als Nebeneffekt können kleinere Fehler in diesem Regestenwerk korrigiert werden, insbesondere konnten bisher schon mehr als 30 Regesten aus der Zeit vor 1420 ergänzt werden, die vom damaligen Bearbeiter überhaupt nicht berücksichtigt worden waren. Inzwischen sind alle 800 Regesten aus diesem Bereich nacherfasst worden. Für den großen Teil der Hochstifts-Urkunden von 1421 bis zum Ende des Alten Reichs gibt es schon Vorarbeiten in Form von Kurzregesten, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts entstanden sind. Allerdings stehen ca. 4000 vorhandenen Kurzregesten real ca. 7500 am Fach tatsächlich vorhandene Urkunden gegenüber. Und da viele dieser überhaupt nicht erfassten Urkunden aus früheren Sammelbeständen stammen, handelt es sich dabei um Urkunden, die aus 23
Vock (wie Anm. 1).
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allen Jahrhunderten bis zurück ins 14. Jahrhundert stammen können. Inzwischen sind aus diesem Bereich schon ca. 200 Urkunden aus der Zeit vor 1486 als Vollregesten vollständig erfasst, zudem etwa weitere 200 Kurzregesten aus der Zeit nach 1486, hier vor allem Vidimierungen, in denen ältere Urkunden aus der Zeit vor 1486 als Inserte überliefert sind. Einen Sonderfall stellt der Bestand „Hochstift Augsburg Urkunden – Pflegamt Sonthofen-Rettenberg Urkunden“ dar. Es handelt sich dabei um ca. 3500 Urkunden, von denen allerdings nur ca. 370 Urkunden aus der Zeit vor 1486 (Vollregesten) stammen. Der Bestand wurde im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts neu formiert und in einem Findbuch verzeichnet, das schon einiges an Vorarbeiten bietet. Allerdings erbrachten erste Stichproben das Ergebnis, dass es sich dabei eher um einen Pertinenzbestand als um einen provenienzreinen Bestand handelt. So finden sich auch im Hauptbestand „Hochstift Augsburg Urkunden“ zahlreiche Urkunden, die nach den Kriterien der Bildung des Teilbestandes „Sonthofen-Rettenberg“ diesem hätten zugeordnet werden müssen. Und auf der anderen Seite ist „Sonthofen-Rettenberg“ das einzige von mehreren großen Ämtern des Hochstifts Augsburg, das als eigenständiger Bestand aufgestellt wurde. Alle anderen hochstiftischen Ämter sind dagegen Teil des Hauptbestands „Hochstift Augsburg Urkunden“. Zu beachten ist ferner, dass es auf Urkundenebene deutlich komplizierter ist, den provenienzreinen Bestand einer Unterbehörde zu bilden, als dies bei Amtsbüchern und Akten der Fall ist. Der Versuch, alle hochstiftischen Unterbehörden als eigene Teilbestände auch auf der Urkundenebene abzubilden, wäre also nur mit einem unvertretbar hohen Arbeitsaufwand umzusetzen und würde dabei trotzdem Gefahr laufen, zu scheitern. Da Urkundenbestände ohnehin lagerungstechnische Selektbestände darstellen, die zudem noch in der Regel in chronologischer Reihung vorliegen, wurde in Hinblick auf den Teilbestand „Sonthofen-Rettenberg“ der Entschluss gefasst, diesen aufzulösen und (wieder) in den Hauptbestand „Hochstift Augsburg Urkunden“ zu integrieren. Was die Erfassung der Urkunden dieses Teilbestands angeht, wurde mit der Bearbeitung im Wintersemester 2020/21 im Rahmen der oben erwähnten Fortgeschrittenenübung der Universität Augsburg begonnen. Derzeit liegt der Anteil der bearbeiteten Urkunden bei ca. 80 Vollregesten. Insgesamt sind für den Bestand „Hochstift Augsburg Urkunden“ also ca. 13.000 Urkunden zu erwarten, von denen ca. 3500 bis 4000 auf die Zeit vor 1486 (Vollregesten) entfallen dürften. Davon sind derzeit – das
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Projekt läuft inzwischen seit ca. einem Jahr – ca. 1000 Urkunden in Form von Vollregesten und ca. 200 mit Kurzregesten erfasst. 5 . Fa z i t Es ist also absehbar, dass bei einer Weiterführung des Kooperationsprojekts in der jetzigen Form in den nächsten 10 Jahren nicht nur die beiden mit Abstand größten Urkundenbestände des Staatsarchivs Augsburg, nämlich Hochstift und Domkapitel Augsburg mit ca. 13.000 bzw. 9000 Urkunden (davon ca. 3500 bzw. 2500 Urkunden als Vollregesten) vollständig erschlossen, sondern auch noch die Urkundenbestände mehrerer weiterer Klöster und Stifte in Augsburg abschließend bearbeitet werden können. Damit könnte dann eine übergeordnete Datenbank mit einer solchen Informationsfülle entstehen, dass damit an neue, bislang nicht mögliche wissenschaftliche Fragestellungen zur Geschichte Augsburgs im Mittelalter (und auch der Neuzeit) herangegangen werden kann. Derartig umfassende Arbeiten an Urkundenbeständen sind heute allein mit den personellen Ressourcen eines Staatsarchivs nicht mehr zu leisten. Kooperationen wie die oben geschilderte bieten dagegen die Möglichkeit, Teile der intensiveren Erschließungsarbeiten an Urkundenbeständen auf Projektkräfte zu verlagern. Sie ermöglichen nicht nur eine für wissenschaftliche Zwecke erwünschte intensivere Erschließung, als sie allein mit archivischen Mittel möglich wäre, sie schränken auch den Anteil der durch das Staatsarchiv zu erschließenden Urkunden eines Bestands im Wesentlichen auf die deutlich schneller zu bearbeitenden Kurzregesten nach 1486 ein. Die Vollregesten für die Urkunden vor 1486 werden fast vollständig im Rahmen von Projekt und universitärer Ausbildung erstellt. Die Arbeiten an den beiden großen Beständen des Hochstifts und des Domkapitels Augsburg zeigen zudem, dass hierbei auch bislang ungelöste Probleme und Fehler bei der Bestandsbildung behoben werden können.
Zehn Jahre Archivgesetz im Kanton St. Gallen Von Stefan Gemperli Au f d e m We g z u m St . G a l l e r A r c h i v g e s e t z 1 Zwei Erlasse bildeten bis ins Jahr 2011 das Fundament für die Archivierung staatlicher Unterlagen im Kanton St. Gallen. Beide stammten aus dem Jahr 1984. Es handelte sich um die Verordnung über das Staatsarchiv und die Verordnung über die Gemeindearchive, beide vom 26. Juni 1984. Sie standen in der Nachfolge zweier Vorgängererlasse aus der Zeit um 1950. Darüber hinaus stellte die sogenannte Fristenliste für die Gemeindearchive eine wichtige Leitlinie mit Verordnungscharakter dar. Sie legte Aufbewahrungsfristen für eine Vielzahl von kommunalen Unterlagentypen respektive Dokumenten fest. Zusätzlich waren – und sind es bis heute – einzelne Angelegenheiten der Archivierung oder des Zuständigkeitsbereichs des Staatsarchivs in weiteren kantonalen Erlassen zu finden, so etwa im Kulturerbegesetz, in der Wappenverordnung oder in der Finanzhaushaltsverordnung.2 Angesichts des viele Jahre währenden Ressourcenmangels des Staatsarchivs St. Gallen hieß der Kantonsrat, das kantonale Parlament, am 1. Dezember 2004 einen Vorstoß3 folgenden Inhalts gut: „Die Regierung4 wird […] eingeladen, zur aktuellen Situation im Staatsarchiv Bericht zu erstatten, dem Rat ein detailliertes Konzept über die zukünftige Gestaltung des Staatsarchivs vorzulegen und gegebenenfalls den Erlass neuer gesetzlicher Grundlagen zu beantragen. Insbesondere sind folgende Fragen zu behandeln: 1. Welche räumlichen, infrastrukturellen, personellen und organisatorischen Vorkehrungen sind zu treffen, damit das Staatsarchiv seinen Bei den in diesem Artikel besprochenen Gesetzen und Verordnungen handelt es sich, wo nicht anders erwähnt, um Fassungen, wie sie im Dezember 2020 gültig waren. 2 Für alle www.gallex.ch (aufgerufen am 30.12.2020). 3 Postulat 43.04.16 Informationssicherung für künftige Generationen – Konzept für das Staatsarchiv vom 20. September 2004. 4 Gemeint ist die Exekutive auf kantonaler Ebene, entspricht in Deutschland der Landesregierung. 1
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Auftrag gegenüber Behörden, Verwaltung und Bevölkerung auch in Zukunft ausreichend erfüllen kann? 2. Welche gesetzlichen Grundlagen sind allenfalls neu zu schaffen, um die Informationssicherung im Kanton St. Gallen zu gewährleisten?“ Mit dem Erlass des kantonalen Gesetzes über Aktenführung und Archivierung vom 19. April 2011 (abgekürzt GAA) und der acht Jahre später folgenden, das Gesetz detaillierenden Verordnung über Aktenführung und Archivierung vom 19. März 2019 (abgekürzt VAA)5 wurde der parlamentarische Auftrag in Bezug auf die Gesetzgebung erfüllt. Durch den Erlass des GAA hob St. Gallen als einer der letzten Kantone der Eidgenossenschaft sein Archivrecht von der Verordnungs- auf die Gesetzesstufe. Mit der VAA konnten schliesslich die eingangs genannten Verordnungen des Jahres 1984, deren Inhalte durch das Gesetz teilweise bereits obsolet geworden waren, abgelöst und aufgehoben werden. Die Fristenliste blieb bis heute in Gebrauch. Allerdings beansprucht sie gegenüber den Gemeinden lediglich noch empfehlenden Charakter. Sie wird vom Staatsarchiv mit Unterstützung aus den Gemeinden laufend aktuell gehalten und weiterentwickelt. Der Kanton St. Gallen vollzog seine archivrechtliche Novellierung vor dem Hintergrund der allgemeinen Entfaltung des Archivrechts in der Schweiz.6 Die Tendenz hin zu einer auf Gesetzesstufe verankerten Rechtsgrundlage verstärkte sich ab den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. In der deutschsprachigen Schweiz leisteten die Kantone Zürich und BaselStadt Pionierarbeit. Insbesondere das neue Bundesgesetz über die Archivierung vom 26. Juni 1998 erwies sich als eigentlicher Motor für den Fortschritt des Archivrechts auf kantonaler Ebene. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erließen schliesslich zahlreiche Kantone eigene Archivgesetze. Die Entwicklung in der (kantonalen) Datenschutzgesetzgebung machte die stufengerechte Anpassung und die inhaltliche Erneuerung der St. Galler Archiverlasse schliesslich unumgänglich, wollte das Staatsarchiv auf einer gesicherten Rechtsgrundlage funktionieren. Der zeitliche Rückstand gegenüber den Gesetzen anderer Kantone erwies sich letztlich als vorteilGesetzessammlung des Kantons St. Gallen 147.1 (Gesetz) und 147.11 (Verordnung). Beide zu finden auf www.gallex.ch (aufgerufen 30.12.2020). 6 Zur Thematik des Schweizer Archivrechts siehe vor allem: Josef Zwicker, Archivrecht in der Schweiz – Stand und Aufgaben. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 47 (1997) S. 286–312. – Josef Zwicker, Archivrecht 2006 – andante ma non troppo. In: Gilbert Coutaz et al. (Hrsg.), Archivpraxis in der Schweiz, Baden 2007, S. 164–194. 5
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haft. So konnte beim inhaltlichen Erarbeiten des Archivgesetzes einerseits auf zahlreiche geeignete „Vorbilder“ Rückgriff genommen werden, was nicht zuletzt Ressourcen schonte7 und der inhaltlichen Qualität förderlich war. Andererseits brachten es die Umstände mit sich, dass bei den drei zeitnah erlassenen St. Galler Gesetzen der verwandten Gebiete Datenschutz, Archivierung und Zugang der Öffentlichkeit zu staatlicher Information (in der Schweiz Öffentlichkeitsgesetze, in Deutschland Informationsfreiheitsgesetze) auf gegenseitige „Passform“ geachtet werden konnte. Dennoch divergiert die in den drei Gesetzen verwendete Terminologie.8 Angesichts dieser Ausgangslage ist es kein Zufall, dass sich die Zusammenarbeit zwischen dem kantonalen Datenschutzorgan und dem Staatsarchiv seit vielen Jahren konstruktiv und partnerschaftlich gestaltet. Andernorts vorhandene Differenzen zwischen den beiden Aufgabenkreisen sind im Kanton St. Gallen ausgeblieben. Ein weiterer Grund, weshalb sich die „späte Geburt“ des kantonalen Archivgesetzes als vorteilhaft erwies, ist folgender: Vor dem Hintergrund der knappen (Personal-)Mittel und der überquellenden Zwischenarchive sah sich das Staatsarchiv ab dem Jahr 2003 genötigt, seine bisherige Sicherungspraxis erheblich umzugestalten. Vom Betrieb eines Zwischenarchivs, während vieler Jahre in St. Gallen Praxis, verabschiedete man sich endgültig. Beeinflusst von der in Baden-Württemberg praktizierten horizontalen und vertikalen Bewertung wurden die vorarchivischen Prozesse neu gestaltet. Die in der praktischen Arbeit der folgenden Jahre gewonnenen Erkenntnisse und (positiven) Erfahrungen konnten schliesslich in die entsprechenden Artikel des GAA – später auch der VAA – einfliessen. In der Schweiz lädt die federführende Behörde im Rahmen einer sogenannten Vernehmlassung die „Stakeholder“ ein, zum konsolidierten Erlassentwurf Stellung zu nehmen. Je nach Interessenlage äußern sich die Stellungnahmen zum gesamten Entwurf oder setzen sich mit einzelnen Bestimmungen auseinander. Dabei handelt es sich keinesfalls um eine Formsache. Die Rückmeldungen werden gewürdigt. Sie können das Geschäft respektive den Erlass inhaltlich gegebenenfalls entscheidend beeinflussen. Das Verfahren ist typischer Ausdruck der Schweizer Konsensdemokratie. Das sehr schlanke Projektteam bestand aus einem Fachmann für Legistik, einem weiteren juristischen Fachmann und zwei Archivaren der Leitungsebene des Staatsarchivs mit Berufserfahrung, aber ohne juristische Ausbildung. 8 So spricht das Datenschutzgesetz von Daten, das Archivgesetz von Unterlagen und das Öffentlichkeitsgesetz von Information. 7
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Es ist ja im Interesse des Gestalters, Gesetzesvorlagen (gesellschaftlich) möglichst breit abzustützen, um die stets drohende Gefahr von Referenden gering zu halten. Beim GAA und wiederum bei der VAA zeigten die zahlreichen Stellungnahmen von Seiten kantonaler öffentlicher Organe, von Parteien oder aus den Kommunen die hohe Zufriedenheit mit den Entwürfen einerseits und mit dem bisherigen Dienstleistungsangebot des Staatsarchivs andererseits. Ad re s s a t e n u n d Au f b a u d e s A r c h i v g e s e t z e s Die St. Galler Erlasse regeln den ganzen Lebenszyklus staatlichen Schriftguts. Sie ordnen dementsprechend zwei Handlungsfelder: die behördliche Aktenführung und die anschliessende Archivierung. Bereits die Titel der Erlasse bringen die zwei Seiten gleichwertig zum Ausdruck. Daraus ergeben sich die Adressaten von Gesetz und Verordnung: Erstens sind das die öffentlichen Organe9 von Kanton und Gemeinden, die im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit Akten respektive Unterlagen erzeugen, empfangen, nutzen und verwalten. Wenn im Folgenden von Gemeinden gesprochen wird, ist in erster Linie an die politischen Gemeinden zu denken. Das Archivgesetz gilt jedoch grundsätzlich auch für „kommunale Spezialformen“ nämlich die Schulgemeinden und die Bürgergemeinden. Vor allem bei Letzteren handelt es sich um eine schweizerische Besonderheit. Es genügt an dieser Stelle der Hinweis, dass die Bürgergemeinden Vorläufer der heutigen politischen Gemeinden darstellen und deshalb nicht selten das weit in die Vergangenheit zurückreichende schriftliche Erbe einer Ortschaft bewahren. Zweitens richtet sich das Gesetz an die Adresse der öffentlichen Archive beider staatlichen (kantonalen) Ebenen. Sie sind für die Archivierung der Unterlagen der genannten öffentlichen Organe verantwortlich. Darüber hinaus werden die Rechte oder Obliegenheiten anderer Anspruchsgruppen behandelt: Zu nennen sind etwa die Rechte von Privaten in der Nutzung des Archivguts oder die Pflichten der Exekutive in Bezug auf das Bereitstellen notwendiger Ressourcen für den geordneten Archivbetrieb.
Dem öffentlichen Organ sind Private gleichgestellt, wenn sie Staatsaufgaben erfüllen (147.1 Gesetz über Aktenführung und Archivierung (GAA) vom 19.4.2011 (Stand 1.1.2019) Art. 1 Abs. 1 Bst. a). 9
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Der Begriff „Öffentliche Organe“ schliesst nicht alleine Behörden, Ämter oder Dienststellen aller drei Gewalten von Kanton und Kommunen10 ein. Er umfasst zudem die öffentlich-rechtlichen Anstalten des Kantons und die öffentlich-rechtlichen Gemeindeunternehmen (u.ä.). Das Gesetz verpflichtet auch sie, ihre Unterlagen dem Staats- respektive dem verantwortlichen Gemeindearchiv anzubieten. Staatliche Betriebe dürfen im Kanton St. Gallen dementsprechend nicht eigenständig archivieren im Unterschied etwa zur Situation im Bund. Dem Staatsarchiv fällt somit die Zuständigkeit für wichtige Aktenbildner ausserhalb des kernstaatlichen oder politischen Bereichs zu. Es sind das beispielsweise die öffentlichen Spitäler, die Hochschulen oder die Universität St. Gallen mit ihrer internationalen Ausstrahlung. Die Absicht des Gesetzgebers, durch das kantonale Archivrecht den gesamten Lebenszyklus digitalen und analogen Schriftguts gesetzlich zu ordnen, findet auch darin ihren Ausdruck, dass namentlich in der Verordnung ein paar grundlegende organisatorische Leitplanken der Aktenführung festgelegt sind, und insbesondere dem Staatsarchiv eine Richtlinienkompetenz übertragen ist. Der Aufbau des Gesetzes ist folgender: 1. Die Allgemeinen Bestimmungen erklären wenige vor allem fachliche Begriffe (Art. 1). Anschliessend widmet sich dieser Abschnitt dem Zweck der Aktenführung und Archivierung (Art. 2) und geht auf die baulichen, räumlichen und betrieblichen Voraussetzungen der Archivierung ein (Art. 3). Abschliessend definieren die Allgemeinen Bestimmungen die Funktion des Staatsarchivs (Art. 4) sowie jene der Gemeindearchive (Art. 5). Sie umschreiben die Zusammenarbeit von Staatsarchiv und Gemeindearchiven und eröffnen die Möglichkeit, dass dem Staatsarchiv Archivgut der Gemeinden übergeben werden kann (Art. 6 und Art. 7). 2. Im zweiten Abschnitt Aufgaben geht es um eben diese in Bezug auf die Archive (Art. 9). Dem wird ein Grundsatzartikel über ihre Position vorangestellt (Art. 8), auf den es später vertieft einzugehen gilt. 3. Die Artikel des dritten Abschnitts Sicherung treffen einerseits verpflichtende Regeln der Aktenführung (Art. 10) und legen die Anbietepflicht der öffentlichen Organe gegenüber „ihren“ Archiven fest (Art. 11). Dementsprechend richtet sich dieser Teil des Abschnitts 10
Bei den Kommunen Legislative und Exekutive.
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vor allem an die Unterlagen bildenden Stellen. Andererseits nimmt er das Thema der Bewertung auf (Art. 12) und verpflichtet die Aktenbildner zur Vernichtung der als nicht archivwürdig beurteilten Unterlagen unter Einhaltung allfälliger besonderer Bestimmungen (Art. 13). Die Ablieferung wird ebenso behandelt (Art. 14) wie die Archivierung (Art. 15), worunter an dieser Stelle die Massnahmen der Archive im Besorgen der fachgerechten Erschliessung, der dauernden Aufbewahrung, des permanenten Erhaltens sowie des Vermittelns (entspricht landläufig dem Begriff „Öffentlichkeitsarbeit“) zu verstehen sind. Sämtliche dieser Arbeiten sind unter Gewährleistung von Authentizität und Integrität des übernommenen Schriftguts zu gestalten. Passend wird der Abschnitt Sicherung von einer Passage zur Unveräusserlichkeit und Unersitzbarkeit von staatlichem Archivgut abgeschlossen (Art. 16). 4. Der umfangreichste Abschnitt gilt dem Themenkreis Zugang. Das ist keine Überraschung, wenn man bedenkt, dass Archivgesetze Sondernormen des Datenschutzes darstellen. Auch diese Passage leitet ein Grundsatz ein, nämlich der, dass Archivgut nach Ablauf der Schutzfristen frei zugänglich sei,11 und bereits vordem in den Verwaltungsbehörden zugängliche Akten durch die Archivierung frei zugänglich bleiben (Art. 17). Der nachfolgende Artikel (Art. 18) bespricht die Arten des Zugangs in den Formen der direkten Einsicht in die Akten, der Auskunft aus den Akten und des Abgebens von Kopien. Dem schließen sich zwei Artikel zu den verschiedenen Schutzfristen an (Art. 19 und Art. 20). Ihnen folgen Spezialregelungen, die den Zugang vor Ablauf der Schutzfristen im Allgemeinen (Art. 21), durch die betroffene Person (Art. 22) und durch das abliefernde öffentliche Organ (Art. 23) erläutern. Auch der Zugang zu Archivgut Privater bedarf der Behandlung (Art. 24). Am Schluss findet sich eine Bestimmung, in welchen Fällen Archive Gebühren erheben können, wobei die Kostenfreiheit von Archivdienstleistungen „im Normalfall“ festgelegt wird (Art. 25).
Der freie Zugang zu Archivgut nach Ablauf der Schutzfristen scheint in der Gegenwart eine Selbstverständlichkeit zu sein, für die es kaum eines speziellen Gesetzesartikels bedarf. Allerdings ist es aufgrund der Kultur und der Praxis der Vergangenheit so, dass in vielen Gemeinden das Bewusstsein, dass Archivgut mehr ist als ein Informationsspeicher im Dienste der Behörden, noch unzureichend verwurzelt ist. 11
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5. Die Schlussbestimmungen bestehen aus einer Strafnorm bei missbräuchlichem Umgang mit Archivgut (Art. 26) und einer Bestimmung zum Vollzugsbeginn des Gesetzes (Art. 30).12 Besonderheiten des Archivgesetzes Die folgenden Ausführungen haben nicht zum Ziel, den Inhalt von Gesetz und Verordnung erschöpfend zu erörtern. Viele Bestimmungen von GAA und VAA behandeln „natürlicherweise“ dieselben Gegenstände und das in ähnlicher Weise, wie es andere Archivgesetze der Schweiz oder Deutschlands tun. Vielmehr sei die Aufmerksamkeit auf einige ausgewählte Eigenheiten der beiden St. Galler Erlasse gelenkt. Das Gesetz steht dabei im Zentrum. Die Verordnung wird bedarfsweise ergänzend einbezogen. Ve r s t ä n d l i c h e Sp r a c h e Sowohl das Gesetz als auch die Verordnung sind sehr kompakt formuliert und bedienen sich bewusst einer allgemein verständlichen, bürgernahen Sprache. Das bietet die Gewähr, dass sowohl Akten führende Verwaltungsmitarbeitende aller Hierarchiestufen als auch Personen, die in den Gemeinden nebenamtlich das örtliche Archiv betreuen, die für sie massgeblichen Inhalte zur Kenntnis nehmen, verstehen und sachgemäss anwenden können. Ausserdem sollen Private um die ihnen vor allem in der Archivnutzung zustehenden Rechte wissen, so zum Beispiel Betroffene um das Recht, einen Bestreitungsvermerk den Akten beifügen zu können. Re g e l u n g s e b e n e n Der Geltungsbereich der Erlasse in Bezug auf die staatlichen Ebenen ist oben erwähnt worden. Föderalismus und Subsidiarität kennzeichnen das politische Selbstverständnis der Eidgenossenschaft. Im Kanton St. Gallen kommt das nicht zuletzt in der traditionell ausgeprägten Gemeindeautonomie zum Ausdruck. Trotzdem wollte der Gesetzgeber mit dem GAA eine für beide staatlichen Ebenen, Kanton und Kommunen, ebenso verbindliche wie zweckmässige und einheitliche Rechtsgrundlage schaffen. Alternativ wären durchaus – wie es bis zum Jahr 2011 der Fall war – zwei Die Artikel 27, 28, 29 behandeln die Änderungen in anderen Gesetzen. Daher wird auf das Besprechen dieser Artikel verzichtet. 12
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getrennte Regelwerke für den Kanton mit dem Staatsarchiv und die Gemeinden mit ihren Archiven denkbar gewesen. Ganz bewusst entschied man sich dagegen. Anders ausgedrückt: Staatsarchiv und Gemeindearchive, die in verschiedenen Aufgabenfeldern ohnedies zusammenarbeiten,13 und die ihnen zugeordneten öffentlichen Organe sollen sich an den jeweils gleichen Grundsätzen orientieren. Nicht unerwartet brachte die kommunale Seite im Rahmen der Vernehmlassung eine gewisse Sorge zum Ausdruck, dass angesichts beschränkter Mittel insbesondere kleinere Gemeinwesen mit der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben überfordert sein dürften. Dieser Einwand war und ist verständlich. Einerseits und vor allem fehlt es dem Gros der St. Galler Gemeinden an Fachpersonal, und die Mittel, welche die Kommunen zur Alimentierung ihrer Archive generell bereitstellen können, sind beschränkt. Andererseits kann das Staatsarchiv die über siebzig politischen Gemeinden in der Archivarbeit nur punktuell und gelegentlich unterstützen. Die Kantonsregierung nahm diese Bedenken auf und versprach in ihrer Botschaft14, dass bei der praktischen Umsetzung des Gesetzes mit „Augenmass“ vorgegangen werde. Die positiven Reaktionen der Kommunen auf die Vorlage der VAA acht Jahre später zeigten, dass dieser Zusage entsprochen worden war. Allerdings – das bleibt selbstkritisch anzumerken – auch deshalb, weil das Staatsarchiv angesichts mangelnder eigener Ressourcen wenig Oberaufsicht ausüben kann. St e l l u n g d e s St a a t s a r c h i v s Durchschnittlich Informierte neigen dazu, staatliche Archive vor allem als kulturelle Einrichtung zu verstehen. Das ist deshalb nicht unproblematisch, weil die für die öffentlichen Archive wesentlichen Partner in Politik oder Verwaltung diesem Missverständnis – zumindest teilweise – ebenfalls unterliegen. Im Fall des Staatsarchivs des Kantons St. Gallen kann seine organisatorische Einbettung im Amt für Kultur diese verkürzte Sicht auf das Archiv zusätzlich befördern. Es ist also von Bedeutung, dass das Archivgesetz den Auftrag und die Position der Archive und insbesondere jene des Staatsarchivs korrekt, genau und aufgabenorientiert zum Ausdruck bringt. Prinzipiell dient dem der gut verständliche Gesetzestext insgesamt. Von besonderer Bedeutung sind allerdings Art. 4 GAA, der seinerseits die 13 14
Im GAA wird diese Zusammenarbeit in erster Linie mit Art. 6 begründet. In der Schweiz ein erläuternder Bericht der Exekutive zuhanden der Legislative.
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Grundlage für entsprechende Ausführungsbestimmungen der Verordnung bildet, und Art. 8 GAA. Art. 4 positioniert das Staatsarchiv als oberstes Fachorgan des Kantons für die Aktenführung (!) und die Archivierung. Im zweiten Absatz des Artikels wird diese Funktion dargelegt. Das Staatsarchiv erhält die Kompetenz, in der Aktenführung und in der Archivierung allgemein gültige fachtechnische Richtlinien zu erlassen. Man kann von einem Weisungsrecht des Staatsarchivs sprechen. Grundsätzlich gilt diese Befugnis gegenüber allen öffentlichen Organen im Kanton St. Gallen. Sie erfährt jedoch zwei Einschränkungen. Die erste nennt das Gesetz in Art. 4 Abs. 3: Das Staatsarchiv muss Richtlinien im Bereich der elektronischen Geschäftsverwaltung im Einvernehmen mit dem zuständigen Departement, also dem zuständigen Ministerium oder der Staatskanzlei, erlassen. Die zweite Einschränkung liefert Art. 6 VAA: Richtlinien des Staatsarchivs gegenüber den Kommunen kommt lediglich empfehlender Charakter zu, wohingegen sie für die kantonalen Behörden bindend sind.15 Allerdings verfügt das Staatsarchiv in einem Punkt dann doch wieder über Weisungsrecht gegenüber den Gemeinden. Entsprechend Art. 8 VAA kann es die kommunalen Archive zur Archivierung von Unterlagen(typen) anweisen, wenn sie – gemäß Urteil des Staatsarchivs – von besonderem rechtlichen oder historischen Belang sind. Die Verordnung legt in Art. 7 VAA dar, worin inhaltlich die Richtlinienkompetenz des Staatsarchivs besteht. Es kann insbesondere (die Aufzählung ist also nicht abschliessend) in folgenden Aufgabenkreisen allgemeine fachtechnische Richtlinien erlassen: – bei Mindestanforderungen, die an die physische und elektronische Aktenführung zu stellen sind, – beim Erstellen eines Ordnungssystems, – in Bezug auf die Aufbewahrung von Unterlagen und die entsprechenden Fristen, – bei der Sicherung von Unterlagen in elektronischen Systemen und den Voraussetzungen für die elektronische Langzeitarchivierung, – bei der Bewertung, dem Anbieten und der Aufbereitung (im Rahmen von Ablieferungen) von Unterlagen. Die Verordnung definiert die Funktion des Staatsarchivs gegenüber den Gemeinden vor allem als Unterstützungsaufgabe. Mängel, die das Staatsarchiv im Rahmen seiner Fachaufsicht feststellt, bringt es, sind für die Behebung dieser Mängel größere Kostenfolgen zu erwarten, der kommunalen Exekutive als Bericht und Empfehlung zur Kenntnis. 15
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Trotz dieser theoretisch weitreichenden Befugnisse sind dem Staatsarchiv in der Realität Grenzen des Einflusses gesetzt. Daran ändert auch der grundsätzlich vorhandene gute Wille bei den öffentlichen Organen des Kantons nicht allzu viel. Allein schon die Kombination von komplexer Aufgabenstellung und knappen Mitteln schränken viele öffentliche Archive in ihrer Wirksamkeit gegenüber den Aktenbildnern ein. Beim zweiten bemerkenswerten Artikel zur Stellung des Staatsarchivs und der Archive im Kanton handelt es sich um Art. 8 GAA. Er lautet: „Das zuständige Archiv erfüllt seine Aufgabe fachlich unabhängig.“ Worin diese Aufgaben – von der vorarchivischen Beratung bis hin zur Auswertung von Beständen – bestehen, ergibt sich aus den Beschreibungen von Art. 9.16 Angesichts der Tatsache, dass das Staatsarchiv im Dienste aller drei Gewalten und zahlreicher öffentlich-rechtlicher Anstalten sowie Privater (in der Rolle von Donatoren oder Archivkundinnen) tätig ist, erhält die ausdrückliche Nennung der Unabhängigkeit in Art. 8 einen besonderen Stellenwert. Beispielsweise können die Interessenlagen der genannten Organe und Gruppen in der Realität voneinander abweichen, ja gegebenenfalls gar zueinander in Gegensatz geraten. Bei den Gemeindearchiven meint die Unabhängigkeit in erster Linie, dass kleinere und mittelgrosse Gemeinden ihr Archiv nicht ausschliesslich als Informationsspeicher der Kanzlei und anderer kommunaler Behörden, der mehr oder minder nur den Interessen und der alleinigen Verfügungsgewalt der Exekutive unterworfen bleibt, betreiben dürfen. Bewertungskompetenz Die Frage der Kompetenz beim Ermitteln der Archivwürdigkeit von Schriftgut wird auf nationaler Ebene in der ausführenden Verordnung zum Bundesgesetz über die Archivierung (VBGA) in Art. 6 Abs. 2 wie folgt gelöst: „Besteht zwischen dem Bundesarchiv und der anbietepflichtigen Stelle Uneinigkeit über die Archivwürdigkeit von Unterlagen, so werden diese archiviert.“ Das heisst nichts Anderes, als dass Bundesstellen vom Bundesarchiv die Übernahme von Unterlagen gegen dessen Willen verlangen könn(t)en. Weicher, mehr im Sinne eines Zusammenwirkens von Aktenbildner und Archiv, geht in Fragen der Bewertungshoheit etwa Hingegen beschreibt Art. 10 die Obliegenheiten der öffentlichen Organe im Bereich der Aktenführung. Diese werden insbesondere in Art. 2 und Art. 11 bis 14 VAA detailliert angeführt. 16
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das Archivgesetz des Kantons Obwalden, eines der kleinsten Kantone der Schweiz, vor. Art. 10 seines Gesetzes über die Aktenführung und die Archivierung formuliert es so: „Die Archive beurteilen in Zusammenarbeit mit den anbietenden Organen, ob Akten archivwürdig sind.“ Was das im Fall gegensätzlicher Beurteilungen bedeutet, darüber macht das Gesetz keine weitere Aussage. Andere kantonale Archivgesetze sprechen lediglich von der Kompetenz des Staatsarchivs in Sachen Bewertung. Die Mitwirkung des Aktenbildners beim Bewerten kann das zuständige Archiv einerseits belasten, weil ihm so Unterlagen überbürdet werden können, die es von sich aus gar nicht übernehmen möchte. Andererseits bedeutet das Mittun des Aktenbildners eine Entlastung des Archivs, weil es die Vorarbeiten und allenfalls die Verantwortung für den Bewertungsentscheid und seine Konsequenzen nicht alleine trägt. Der Gesetzgeber in St. Gallen wollte die Archive zum Einbezug des Aktenbildners verpflichten und sie dennoch nicht in ihrer Bewertungshoheit beschneiden. Letzteres hätte die in Art. 8 GAA postulierte Unabhängigkeit der Archive relativiert. Vor diesem Hintergrund ist die Formulierung in Art. 12 GAA zu verstehen: „Das zuständige Archiv bewertet die Unterlagen und entscheidet nach Anhörung des öffentlichen Organs über die Archivwürdigkeit.“ Auf diese Weise wird sichergestellt, dass ein Bescheid des Aktenbildners vorliegen muss, der eigentliche Entscheid aber ohne Einschränkung dem Archiv vorbehalten bleibt. Die sogenannten Bewertungsmodelle, in denen das Staatsarchiv St. Gallen im Rahmen eines aufwändigen Verfahrens die Begutachtung der Geschäfte respektive der Geschäftsunterlagen eines Aktenbildners zusammen mit ihm transparent macht, sind Teil der Umsetzung des Inhalts dieses Artikels. Von verschiedenen Seiten wurde gelegentlich vorgebracht, es seien wenigstens generelle Hinweise festzulegen, worin die Archivwürdigkeit von Unterlagen bestehe. Art. 1 VAA kommt diesem Begehren entgegen. Er liefert eine sehr allgemein gehaltene „Minimaldefinition“ von Archivwürdigkeit. Sie lautet: „Unterlagen sind nach Art. 1 Bst. f des Gesetzes über Aktenführung und Archivierung vom 19. April 2011 archivwürdig, wenn sie von dauerndem Wert sind für: a) die Dokumentation der Organisation und der Tätigkeit des öffentlichen Organs; b) die Sicherung berechtigter Interessen von öffentlichem Organ, betroffenen Personen oder Dritten; c) das Verständnis der Geschichte und der Gegenwart;
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d) Rechtsetzung, Verwaltungshandeln und Rechtsprechung; e) Wissenschaft und Forschung. Zusammenwirken von Aktenbildner u n d ( St a a t s - ) A r c h i v b e i m Z u g a n g Vor Einführung des Archivgesetzes war es bei Anfragen, die den Zugang zu Akten (mit Personendaten) innerhalb der Sperrfristen betrafen, die Praxis, dass der Aktenbildner darüber entschied. Sehr oft handelte es sich um Einsichtsgesuche in Unterlagen des Justizbereichs. Mit Art. 21 ist die Kompetenz zur Gewährung des Zugangs nun vollumfänglich dem zuständigen Archiv übertragen, also auch in jenen Fällen, in denen die sogenannte ordentliche Schutzfrist von 30 Jahren noch nicht abgelaufen ist. Das Archiv hört dann allerdings den entsprechenden Aktenbildner an (Abs. 3). In der Realität dürfte der Fall, dass das Archiv entgegen dem Bescheid der Behörde handelt, indessen selten vorkommen. Wi r k u n g d e s St . G a l l e r A r c h i v g e s e t z e s Nach zehn Jahren der Gültigkeit darf nicht ohne Stolz die Aussage gemacht werden, dass das Gesetz über Aktenführung und Archivierung seine praktische Bewährungsprobe bestanden hat. Die Position des Staatsarchivs bei Behörden und Verwaltung sowie bei den anderen öffentlichen Organen seiner Zuständigkeit ist gestärkt. Die Archivierung erfährt im Kanton mehr Aufmerksamkeit und Respekt, was zugegebenermassen auch an den Fragestellungen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts liegt, die derzeit die Schweizer Politik beschäftigen.17 Gesetz und Verordnung befördern mit Sicherheit – und das nicht zuletzt wegen ihrer verständlichen Formulierungen – in Ämtern und Dienststellen das Grundverständnis für die Aufgaben der Aktenführung und der Archivierung. Dieses Verständnis kommt, um ein Beispiel zu nennen, aktuell dem mehrjährigen Großprojekts der Einführung der elektronischen Geschäftsverwaltung (GEVER) in der gesamten kantonalen Verwaltung zugute. Freilich, übertriebene Erwartungen sind fehl am Platz. Die Themen Aktenführung und Archivierung bleiben für das Gros der Dienststellen und ihrer Leitungen nachgeordnete, „exotische“ Angelegenheiten, die es seitens des Archivs immer wieder werbend Z.B. die sogenannten fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder die Adoptionen ausländischer Kinder. 17
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in Erinnerung zu rufen gilt. Gewiss hat das Gesetz jedoch einiges dazu beigetragen, dass die rechtsstaatliche Funktion der Archive gegenüber früher vermehrt ins öffentliche und behördliche Bewusstsein tritt. Die grossen Herausforderungen für das Staatsarchiv stellen sich in der Zukunft wohl weniger im engeren Bereich des Rechts etwa in der Weise, dass es noch vorhandene gesetzliche Lücken zu schliessen gälte, wobei freilich vor allem Entwicklungen im Datenschutz stets sehr aufmerksam zu beobachten sind. Vielmehr ist das Staatsarchiv gefordert, seine rechtlich gut fundierten Verpflichtungen und Berechtigungen in ein technisch und organisatorisch sich rasch und tiefgreifend wandelndes Milieu einzubringen. Gesetz und Verordnung haben Türen aufgestossen. Aber es braucht stets aufs Neue den Mut, die Entschlossenheit und die Kompetenz von Archivarinnen und Archivaren, die dahinterliegenden Räume zu betreten!
Das Staatsarchiv St. Gallen ist im sogenannten Zeughausflügel des Regierungsgebäudes im Stiftsbezirk St. Gallen untergebracht. Unverkennbar diente die Bayerische Staatsbibliothek in München dem Bau als Vorbild (Foto aus dem Jahr 2011: Erwin Reiter, D-Haslach. Signatur: Staatsarchiv St. Gallen: W 245/065]).
Die Archivinventare zum Sondergericht München (1933–1945) digital. Quellenwert – Verdatung – Erkenntnisperspektiven Von Markus Gerstmeier, Simon Donig, Sebastian Gassner, Malte Rehbein Einleitung Dass einmal große Teile der Überlieferung zur Geschichte von Resistenz und Verfolgung im Nationalsozialismus außerhalb der staatlichen Archive lagerten und erst in den 1970er Jahren schrittweise durch Abgaben dorthin gelangten, ist inzwischen für eine jüngere Generation von Forschenden nur mühsam vorstellbar – so selbstverständlich erscheint heute der kaum eingeschränkte Zugang zu systematisch erschlossenen Quellenbeständen für diesen Zeitabschnitt.* Im Freistaat Bayern fielen zahlreiche dieser Abgaben mit dem vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus beauftragten Forschungsprojekt „Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933–1945“ zusammen, das von 1973 bis 1978 von der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns (GDA) in Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München durchgeführt wurde.1 Das Projekt war der Versuch einer umfassenden Aufarbeitung von widerständigem und resis-
Die Autoren danken für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Reproduktionen von Archivalien dem Staatsarchiv München, vertreten durch Herrn Dr. Christoph Bachmann, und für das Korrekturlesen dieses Beitrags Frau Elisabeth Huber (Universität Passau). 1 Hermann Rumschöttel, Archive, Landesgeschichte und Zeitgeschichtsforschung: Das Projekt Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933–1945. In: Horst Möller – Udo Wengst (Hrsg.), 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte: Eine Bilanz, München 1999, S. 303–314. – Martin Broszat, Forschungen zum Verhältnis von NS-Regime und Gesellschaft (Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933–1945). In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 24 (1976), S. 102 f. – Harald Jaeger – Hermann Rumschöttel, Das Forschungsprojekt „Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933–1945“: Ein Modell für die Zusammenarbeit von Archivaren und Historikern. In: Archivalische Zeitschrift 73 (1977) S. 209–220. *
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tentem Verhalten in der breiten Bevölkerung und nationalsozialistischer Repressionspolitik.2 Den Anstoß zum Gesamtprojekt hatte der vormalige Vizepräsident des Bayerischen Senats Ludwig Linsert (1907–1981) gegeben, der als Sozialdemokrat und Gewerkschafter selbst Opfer nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen geworden war.3 Im Namen der „Arbeitsgemeinschaft bayerischer Verfolgtenorganisationen“ (ABV)4 schlug Linsert im Sommer 1971 dem im Vorjahr neu ernannten bayerischen Kultusminister Hans
Zur Einordnung vgl. Martin Broszat, Resistenz und Widerstand. Eine Zwischenbilanz des Forschungsprojekts ›Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933–1945‹. In: Ders. (Hrsg.), Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte. Revidierte Ausgabe der 2. Auflage, München 1988, S. 136–161, und Michael Wildt, Das »Bayern-Projekt«, die Alltagsforschung und die »Volksgemeinschaft«. In: Norbert Frei (Hrsg.), Martin Broszat, der „Staat Hitlers“ und die Historisierung des Nationalsozialismus (Vorträge und Kolloquien / Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts 1), Göttingen 2007, S. 119–129. 3 Nach aktiven Widerstandsaktionen in München wurde Linsert 1937 von der Gestapo verhaftet und zu einer 25-monatigen Zuchthausstrafe verurteilt. Vgl. Wolfgang Benz, Im Widerstand. Größe und Scheitern der Opposition gegen Hitler, München 2019, S. 111, sowie das autobiographische Selbstzeugnis von Ludwig Linsert †, Aus meiner Widerstandsarbeit. In: Richard Löwenthal – Patrik von zur Mühlen (Hrsg.), Widerstand und Verweigerung in Deutschland, Bonn 1969 u.ö., S. 76–82. – Von der Geschichtsforschung wurde Linsert bislang weitestgehend übersehen; lediglich politische Weggefährten haben ihm ein ehrendes Andenken bewahrt, vgl. etwa Hans-Jochen Vogel, Gegen das Vergessen. Zum 10. Todestag von Ludwig Linsert. In: Sozialdemokratischer Pressedienst, 46. Jahrgang/140, 25. Juli 1991, S. 1 f. ‒ Die „Neue Deutsche Biographie“ hat Linsert keinen Artikel gewidmet, obwohl die Möglichkeit dazu bestanden hätte (vgl. Bd. 14, Berlin 1985). 4 Bernhard Zittel, Vorwort zu den Inventaren der Bayerischen Archivverwaltung (München, im Oktober 1975). In: Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933–1945. Archivinventare, 7 Bände, München 1975–1977, Bd. 3.1, S. I f., hier S. I. – Einen Überblick über die Entstehung und Zusammensetzung der ABV, die Zittel (a.a.O.) nicht ganz zutreffend „Arbeitsgemeinschaft der Organisationen der Verfolgten des Nazi-Regimes“ nennt, gibt Tobias Winstel, Verhandelte Gerechtigkeit. Rückerstattung und Entschädigung für jüdische NS-Opfer in Bayern und Westdeutschland (Studien zur Zeitgeschichte 72), München 2006, S. 88, Anm. 306. – Hans Maier, der u.a. an der Universität Freiburg im Breisgau bei dem im Widerstand gegen den Nationalsozialismus tätigen Historiker Gerhard Ritter (1888–1967) studiert hatte, war 1970 als zunächst parteiloser Quereinsteiger, nämlich als Inhaber eines der Lehrstühle für politische Wissenschaft (seit 1968: Geschwister-SchollInstitut) an der Ludwig-Maximilians-Universität, den er seit 1962 innehatte, zum Bayerischen Staatsminister für Unterricht und Kultus ernannt worden, ein Amt, das er bis 1986 bekleiden würde; zu ihm Hans Otto Seitschek in: Eckhard Jesse – Sebastian Liebold (Hrsg.), Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung, Baden-Baden 2014, S. 525–538. 2
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Maier vor, die Geschichte von Widerstand und Verfolgung in Bayern systematisch aufarbeiten zu lassen.5 Das Projekt vereinte vom IfZ beauftragte Einzelstudien6 mit einer – so der Auftrag – „Dokumentation“ durch die Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns unter der Leitung von Bernhard Zittel (1912– 1983)7. Diese übernahm es, das in den staatlichen Archiven und Registraturen Bayerns ruhende Material zu inventarisieren. Unter anderem8 entstand ein in sieben Teilbände gegliedertes Archivrepertorium der Aktenüberlieferung des Sondergerichts München in der NS-Zeit.9 Das geistes- und gesellschaftsgeschichtliche Konzept hinter diesem Großprojekt Jaeger – Rumschöttel (wie Anm. 1) S. 211. – Vgl. zudem die Autobiographie des damaligen bayerischen Kultusministers: Hans Maier, Böse Jahre, gute Jahre. Ein Leben 1931 ff., München 2011, S. 227 f. 6 Die Einzelstudien erschienen zwischen 1977 und 1983 in sechs Bänden und spiegeln wissenschafts- und historiographiegeschichtlich den Umbruch von einer Geschichte der Durchherrschung hin zur „Herausforderung des Einzelnen“ (so der Titel des 6. Bandes). 7 Bernhard Zittel gehörte 1947 zur ersten Kohorte nach Kriegsende aus dem Historischen Seminar der Münchener Ludovico-Maximilianea, der in Neuzeitlicher Geschichte promovierte. Er trat anschließend in den staatlichen bayerischen Archivdienst ein und leitete von 1968 bis 1970 das Staatsarchiv München. 1970 wurde Zittel Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns, 1977 trat er in den Ruhestand. Ähnlich wie Linsert teilte auch Zittels Biographie Repressionserfahrungen. Denn Zittel hatte als junger Mann zunächst eine geistliche Laufbahn bei der Gesellschaft Jesu eingeschlagen und von 1935 bis 1938 an der damals noch in Pullach situierten Vorgängerinstitution der seit 1972 in München angesiedelten Hochschule für Philosophie der Jesuiten studiert – also in einer Zeit, als bereits in gehäufter Zahl Jesuitenpatres durch das NS-Regime verfolgt wurden und das Pullacher Jesuitenkolleg als einer der Dreh- und Angelpunkte eines resistenten Milieus gegen den Nationalsozialismus gelten darf. Zu der jesuitischen-antifaschistischen Vorprägung Zittels vgl. etwa den Nachruf von Zittels Nachfolger als Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns: Walter Jaroschka, Bernhard Zittel †. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 47 (1984) S. 911–912, hier S. 911. 8 Die zwischen 1975 bis 1977 aus dem Projekt hervorgegangenen Dokumentationen sind überschrieben: Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933–1945. Archivinventare; ihre insgesamt 7 Bände (München 1975–1977), umfassen neben dem siebenteiligen Band zum Sondergericht München 1933–1945 (Bd. 3.1–7) den Bestand Landratsämter (Bd. 1), Repertorien und Spezialinventare zu den Beständen NSDAP und Gestapo-Leitstelle München (Bd. 2), Spezialinventar zu den Beständen Bayerische Staatskanzlei und Reichsstatthalter in Bayern (Bd. 5), Spezialinventar zu den Berichten des Regierungspräsidenten von Oberbayern, des Polizeipräsidiums München und der Gestapo-Leitstelle München (Bd. 6, Teile 1–2) sowie zur Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht München (Bd. 7). (Staatsarchiv München, Veröffentlichungen – Inventare. https://www.gda.bayern.de/archive/ muenchen/veroeffentlichungen-ueber-das-archiv/inventare/ (aufgerufen am 12.6.2020). 9 Vgl. Zittel (wie Anm. 4). 5
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ging dabei maßgeblich auf den Leiter des IfZ im Zeitraum zwischen 1972 und 1989, Martin Broszat (1926–1989), zurück.10 Die Art, wie für die Münchener Sondergerichtsakten Massendaten strukturiert erfasst wurden, zielt dabei geradezu in den Kern des mit Broszat verbundenen konzeptionellen Neuansatzes bei der zeithistorischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus: Für Broszat war es die „Wirklichkeit“ des alltäglichen Lebens, Leidens und (Zuwider-)Handels der Menschen in der Diktatur, die das Wesen der deutschen Gesellschaft im „Hitler-Staat“ ausmachte und nicht mehr in erster Linie die Ideologiegeschichte des Nationalsozialismus und die Rolle Hitlers als Person, wie sie bis dahin in der geistes- und ideengeschichtlich dominierten Bewertung des „Dritten Reiches“ durch Historiker wie etwa Gerhard Ritter oder Friedrich Meinecke im Vordergrund gestanden hatten.11 Auch „Widerstand“ hatten Historiker dieser älteren Kohorte vor allem als elitäres Phänomen begriffen.12 Schon dem Auftrag nach war dieses Instrument somit mehr als nur ein einfaches Findmittel im althergebrachten Sinne. Dadurch, dass der zugrunde liegende Bestand nie vollumfänglich historisch ausgewertet worden ist, behält das Repertorium in seinem zwischen einer Sekundärquelle und einem archivwissenschaftlichen Instrument changierenden Charakter noch heute hohe Relevanz für die Forschung. Aus geschichts- und informationstheoretischer Sicht stellen die Inventare einen semi-strukturierten Wissensspeicher dar, der sich darauf befragen lässt, wie er digital abgebildet werden kann. Aus grundwissenschaftlicher Perspektive stellt sich außerdem die Frage, wie weitreichend der Vgl. Wildt (wie Anm. 2) passim. Hierzu etwa Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, 3. Auflage, Göttingen 2004, S. 421–424. 12 Vgl. als Beispiel hierfür das frühe und dann lange Zeit maßgebliche Werk zum deutschen Widerstand gegen Hitler aus der Feder des Meinecke-Schülers, Emigranten und Gründungsvaters der deutschsprachigen „Zeitgeschichte“ als geschichtswissenschaftliche Disziplin, Hans Rothfels, The German opposition to Hitler – an appraisal, Hinsdale/Illinois 1948; deutsche Erstausgabe: Die deutsche Opposition gegen Hitler. Eine Würdigung, Krefeld 1949. – Rothfels (1891–1976), der seiner jüdischen Herkunft wegen 1939 aus dem Deutschen Reich emigriert war, 1951 von der University of Chicago auf das II. Ordinariat für mittlere und neuere Geschichte an der Universität Tübingen wechselte und dort das deutschlandweit erste universitäre Seminar für Zeitgeschichte gründete, gehörte 1949 in der Funktion des Beiratsvorsitzenden auch zu den Gründungsfiguren des auf Anregung der US-amerikanischen Besatzungsmacht in Zusammenarbeit von Freistaat Bayern und Bundesrepublik Deutschland initiierten Instituts für Zeitgeschichte (bis 1952: „Deutsches Institut für Geschichte der nationalsozialistischen Zeit“) in München; vgl. Jan Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005, S. 209–384. 10 11
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geschichtswissenschaftliche Erkenntniswert der im Repertorium fixierten prosopographischen Informationen ist. Und aus der Sicht der digitalen Geschichtsforschung ebenso wie im Interessenhorizont der geschichtlichen Grundwissenschaften kann schließlich gefragt werden, ob und wie diese semi-strukturierte Information dergestalt mit anderen Datenbeständen vernetzt werden kann, dass neues Wissen entsteht. In diesem Beitrag sollen diese verschiedenen Sichtweisen und ihre Verbindungen untereinander eingenommen werden, um somit einen neuen und weiterführenden wissenschaftlichen Zugang zu den Inventaren zu eröffnen. Dabei ist auch zu überlegen, ob eine Digitalisierung und Verdatung der Inventare so erfolgen kann,13 dass daraus nachhaltige Digitalisierungsworkflows hervorgehen, deren Komponenten (Layouterkennung, OCR, Text MiningVerfahren zur Extraktion strukturierter Daten) in anderen ganz ähnlich gelagerten Fällen wiederverwendet werden können. Hier stellen wir auf der Grundlage dieser Überlegungen einen Proof-ofconcept-Workflow für die Verdatung der Quelle vor, diskutieren Möglichkeiten zu dessen Verbesserung, zeigen Nachnutzungsperspektiven auf und diskutieren schließlich Forschungsperspektiven für die Digital History, die sich aus der Verdatung der Quelle ergeben. So n d e r g e r i c h t s b a r k e i t Sondergerichte waren kein genuines Phänomen im Justizwesen und in der Gerichtsverfassung des nationalsozialistischen Deutschland. Als Jurisdiktionsinstanz war Sondergerichtsbarkeit bereits in der Spätphase der Weimarer Republik eingeführt worden.14 Die Sondergerichte waren auf Betreiben der Reichsregierung von Papen auf der Grundlage von Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung am 6. Oktober 1931 „zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen“ durch reichspräsidiale Notverordnung eingerichtet und von der Malte Rehbein ‒ Simon Donig, Wissenschaftstheorie, Verdatung des Nicht-Verdatbaren und die Ebenen der Digitalisierung in der Geschichtswissenschaft. In: Katharina Block ‒ Anne Deremetz ‒ Anna Henkel ‒ Malte Rehbein (Hrsg.), 10 Minuten Soziologie, Bd. 6: Digitalisierung, Bielefeld 2022, S. 165–180. 14 Dirk Blasius, Weimars Ende. Bürgerkrieg und Politik 1930–1933, Göttingen 2005, S. 81–88. – Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie. Mit einer Einleitung von Hans Herzfeld (Schriften des Instituts für politische Wissenschaft 4), 5. Auflage, Stuttgart 1971 [erschien zuerst 1955], S. 172–178. 13
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Regierung von Schleicher am 19. Dezember 1932 wieder aufgehoben worden.15 Im Unterschied zu den Sondergerichten in der Spätphase der Weimarer Republik ist es für die am 21. März 1933 – am „Tag von Potsdam“ – durch die Regierung Hitler wiedereingeführte Sondergerichtsbarkeit16 charakteristisch, dass auch Vergehen im Sinne des regulären Strafrechts sowie „Straftaten“, die Formen von Non-Konformität im Sinne der NSIdeologie waren, vor Sondergerichten verhandelt und geahndet wurden – und zwar in wachsendem Ausmaß, umso länger die NS-Herrschaft andauerte.17 Zum Beispiel wurden vor dem Sondergericht am hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg 1943 73 Prozent sämtlicher Strafsachen verhandelt.18 Es stellt sich die Frage, inwieweit bei der Wiedereinführung der Sondergerichte durch das NS-Regime 1933 zunächst tatsächlich „nur [an] die Verfolgung akut aufgetretener oder von der Führung für möglich gehaltener kommunistischer Oppositionshandlungen“ – etwa die Bekämpfung „ausgesprochen politischer Gewaltakte“ ‒ gedacht wurde, wie etwa Lothar Gruchmann mutmaßt,19 oder aber eine Vermischung von „regulärer“ Kriminalität mit ideologisch unerwünschten Lebensformen von vornherein in Kauf genommen oder gewollt war.20 Diese Tendenz jedenfalls Alfred Streim, Zur Bildung und Tätigkeit der Sondergerichte. In: Formen des Widerstandes im Südwesten 1933–1945. Scheitern und Nachwirken, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und dem Haus der Geschichte BadenWürttemberg durch Thomas Schnabel unter Mitwirkung von Angelika Hauser-Hauswirth, Ulm 1994, S. 237–258. 16 Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung vom 21. März 1933 (Reichsgesetzblatt I, S. 135). 17 Überblick bei Streim (wie Anm. 15), außerdem bei Maik Wogersien, Allgemeines „unpolitisches Strafrecht“ als Kriegsstrafrecht vor den Sondergerichten. In: Helia-Verena Daubach (Hrsg.), „… eifrigster Diener und Schützer des Rechts, des nationalsozialistischen Rechts …“. Nationalsozialistische Sondergerichtsbarkeit. Ein Tagungsband (Juristische Zeitgeschichte Nordrhein-Westfalen 15), Düsseldorf 2007, S. 63–72. 18 Werner Johe, Die gleichgeschaltete Justiz. Organisation des Rechtswesens und Politisierung der Rechtsprechung 1933–1945, dargestellt am Beispiel des Oberlandesgerichtsbezirks Hamburg (Veröffentlichungen der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg 5), Frankfurt a.M. 1967, S. 92. 19 Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, München (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 28), 3. Auflage, München 2001, S. 947. 20 So betont Michael Stolleis, wie sehr die „eminent politische Funktion des [bestehenden] Strafrechts“ das NS-Regime von Beginn an mitgeprägt hat, vgl. Michael Stolleis, Nationalsozialistisches Recht. In: Adalbert Erler – Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, Berlin 1984, Sp. 873–892, hier Sp. 886. 15
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verschärfte sich deutlich mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges und dann noch einmal im Zuge des von den Nationalsozialisten propagierten „totalen Kriegs“ seit Anfang 1943.21 So wies der spätere Präsident des Volksgerichtshofs22 Roland Freisler am 24. Oktober 1939 den Sondergerichten im Krieg eine Rolle als „Panzertruppe der Rechtspflege“ und als „Standgerichte der inneren Front“ zu, um einen von nicht politisch motivierten Delinquenten geführten „Dolchstoß in den Rücken des Volkes“ abzuwehren.23 Dem vorausgegangen war die „Vereinfachungsverordnung“ vom 1. September 1939, gemäß derer die Staatsanwaltschaften nunmehr jedes Vergehen vor Sondergerichten anklagen konnten, das nicht in die Zuständigkeit des Volksgerichtshofes oder eines Oberlandesgerichtes fiel, sowie die „Verordnung gegen Volksschädlinge“ vom 5. September 1939.24 Auch wenn die formale Unterscheidung zwischen Sondergerichten und Standgerichten sogar in der Agonie des „Dritten Reichs“ im Frühjahr 1945 bestehen blieb – seit 15. Februar 1945 konnten im Sinne der „Verordnung über die Errichtung von Standgerichten“ nicht mehr nur Militärangehörige, sondern auch alle Zivilisten vor Standgerichten angeklagt werden –, so verweist doch die Vermischung primär politischer Akte von Resistenz und „Eigen-Sinn“ in der breiteren Bevölkerung mit ,regulärer‘ Kriminalität vor den NS-Sondergerichten als ein Mittel staatlicher Willkür gegenüber Angehörigen der „Volksgemeinschaft“, diskriminierten MinderheiBeispielhaft: Hans Wrobel – Ilka Renken (Bearb.), Strafjustiz im totalen Krieg. Aus den Akten des Sondergerichts Bremen 1940 bis 1945, hrsg. vom Senator für Justiz und Verfassung der Freien Hansestadt Bremen, Bde. 1-3, Bremen 1991–1994. 22 Auch der Volksgerichtshof hatte bekanntlich seinen Ursprung im April 1934 als Sondergericht, wurde aber am 18. April 1936 anders als die übrigen Sondergerichte zu einem ordentlichen Gericht erklärt. Gruchmann (wie Anm. 19) S. 956–961. 23 Hinrich Rüping, Strafjustiz im Führerstaat. In: Gotthard Jasper u.a., Justiz und Nationalsozialismus, hrsg. von der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung, [Hannover] 1985, S. 97–118, hier S. 109. – Jürgen Zarusky, Von der Sondergerichtsbarkeit zum Endphasenterror. Loyalitätserzwingung und Rache am Widerstand im Zusammenbruch des NS-Regimes. In: Cord Arendes – Edgar Wolfrum – Jörg Zedler (Hrsg.), Terror nach Innen. Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte 7), Göttingen 2006, S. 103–121, hier S. 106. 24 Letzterer Einfluss auf die Sondergerichtsbarkeit exemplifiziert Jana Nüchterlein, Volksschädlinge vor Gericht: Die Volksschädlingsverordnung vor den Sondergerichten Berlins, Marburg 2015. – Im Allgemeinen vgl. Thomas Bichat, Die Staatsanwaltschaft als rechts- und kriminalpolitische Steuerungsinstanz im NS-Regime. Dargestellt am Beispiel des Kölner Sondergerichts von 1933–1945 (Rheinische Schriften zur Rechtsgeschichte 22), Baden-Baden 2016, S. 215–382; Hans Wüllenweber, Sondergerichte im Dritten Reich. Vergessene Verbrechen der Justiz, Frankfurt am Main 1990, S. 24–41. 21
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ten sowie ausländischen Arbeitskräften – vor allem gegenüber Polinnen und Polen – auf den perfiden und verbrecherischen Kern der Willkür- und Terrorherrschaft des NS-Regimes und auf dessen Charakter als Unrechtsstaat. Dessen Willkürcharakter verdeutlichen die Sondergerichte – auch wenn sie als Instrument keine genuine Erfindung nationalsozialistischer Rechtssetzung waren – schon deshalb, weil sie nicht, wie in der Weimarer Republik, nach kurzer Zeit wieder aufgehoben wurden, sondern seit dem Frühjahr 1933 über 12 Jahre lang ein justizielles Parallelsystem darstellten, das lenkenden Eingriffen des Regimes und unverhältnismäßig harten wie auch milden Urteilspraktiken25 noch leichter zugänglich war als die ordentliche Gerichtsbarkeit. Darüber hinaus war es auch von lokal unterschiedlichen Spielräumen geprägt.26 Dies aufzuzeigen und zugleich auch die Verstrickung der deutschen Justiz in das NS-Unrechtssystem auf profunder Quellengrundlage des in der „Hauptstadt der Bewegung“ und im NSDAP-“Traditionsgau München-Oberbayern“27 situierten Sondergerichts zu quantifizieren, zu exemplifizieren und zu konkretisieren, soll mit der digital gestützten mikrohistorischen Analyse eines regional- und gesellschaftsgeschichtlich bedeutenden Datenbestandes wie der Archivinventare zum Sondergericht München geleistet werden. Bestandsgeschichte Trotz Verlusten durch Bombenschäden und Nachkriegswirren stellen die Akten des Sondergerichts München eine vergleichsweise geschlossene Überlieferung dar. Da die Hauptverfahrensregister verloren gegangen Vgl. Rüping (wie Anm. 23) S. 109 f. Dies schloss zuletzt Bichat (wie Anm. 24) für das Kölner Sondergericht (ebd., S. 378– 381). 27 Zur kritischen Einordnung der Selbst(- und Fremd-)beschreibungen vgl. den Katalog des NS-Dokumentationszentrums München – München und der Nationalsozialismus, hrsg. von Winfried Nerdinger in Verbindung mit Hans Günter Hockerts, Marita Krauss, Peter Longerich sowie Mirjana Grdanjski und Markus Eisen, München 2015, darin v.a. Hans Günter Hockerts, Warum München? Wie Bayerns Metropole die ›Hauptstadt der Bewegung‹ wurde (S. 387–397); Winfried Süss, Das Zentrum der Partei – München und die Reichsleitung der NSDAP (S. 465–472). – Das Sondergericht als spezifisches, gerade auch lokal und regional orientiertes Phänomen des NS-Repressionsapparates thematisiert der umfangreiche Band nicht explizit; auch im Katalogteil wird das Agieren des örtlichen Sondergerichts nur an wenigen Stellen und dort implizit dargestellt, so etwa in Form zweier Plakatabbildungen in den Kapiteln „Rüstung und Zwangsarbeit“ (hier S. 265) und „Mord und Terror bis zum Ende“ (hier S. [290]). 25 26
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Abb. 1: Ausgangsmaterial – Akt über das Verfahren gegen einen verhafteten Lokomotivführer a.D., der sich kritisch über die NS-Führung geäußert hatte (Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaften 8592; digitalisiert durch den Lehrstuhl für Digital Humanities der Universität Passau).
sind, lässt sich die genaue Zahl der zwischen 1933 und 1945 geführten Verfahren vor dem für Südbayern und seit 1939 auch für Teile Südböhmens zuständigen Sondergericht am Oberlandesgericht München allerdings heute nicht mehr beziffern. Die Akten blieben zunächst in der Justizverwaltung des Freistaates, ehe sie in Tranchen an das Staatsarchiv München abgegeben wurden. Im Herbst 1968 wurde so zunächst ein Teilbestand übernommen – die eingestellten Verfahren der Jahre 1937–1941 und 1945 –, im Herbst 1973 folgten dann die eingestellten Verfahren der Jahre 1933–1936 und 1942–1944. Gleichzeitig erfolgte die Abgabe der Hauptverfahrensakten durch die Staatsanwaltschaft. 1976 kamen schließlich noch verschiedene Vorverfahrensregister der Jahre 1937–1945, ein einzelnes, überliefertes Hauptverfahrensregister für 1945 sowie mehrere Vollstreckungsregister hinzu.28
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Durch die zeitlich gestreckte Übernahmesituation und aufgrund der Unmöglichkeit, eine Voruntersuchung des Gesamtbestands durchzuführen, entstand ein einheitliches Verzeichnungsformular erst im Lauf des Verzeichnungsprozesses selbst, was gewisse Uneinheitlichkeiten insbesondere im ersten Band bedingt.29 Die Inventare wurden in limitierter und durchnummerierter Stückzahl quasi im Eigenverlag in Offset-Technik gedruckt, außer Haus gebunden30 und nicht auf dem Buchmarkt vertrieben, sondern an Bibliotheken und Archive verschenkt.31 Sie sind also eher als „graue Literatur“ zu verstehen, als Hilfsmittel für den internen „Dienstgebrauch“ von Behörden und für wissenschaftliche Zwecke,32 auch wenn die Bände ordentlich in der Deutschen Nationalbibliothek erfasst sind.33
Widerstand und Verfolgung (wie Anm. 8), Bd. 3.7, S. 2348. Einleitung (Endgültige Fassung. Die Einleitung auf S. V ff. ist damit überholt.). In: Widerstand und Verfolgung (wie Anm. 8) Bd. 3.7, S. 2337–2350, hier S. 2350: „Die OffsetAbzüge fertigte Reinhard Werner im Staatsarchiv München an, die Buchbinderarbeiten erfolgten außer Haus“. Die Exemplare in der Universitätsbibliothek Passau wurden von „RECO® System-Buchbindung Schmidkonz Regensburg“ gebunden. 31 Das Passauer Exemplar des Gesamtwerks trägt jeweils auf den Frontispizseiten der Teilbände den handschriftlichen Vermerk: „Geschenk Bayer. Staatsarchiv München 30.1.1976“. Das Exemplar, das dem Kooperationsprojekt von Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns und Passauer Lehrstuhl für Digital Humanities zugrunde liegt, trägt je Teilband jeweils auf der Frontispizseite die eingeprägte Nr. 126 und gehört heute zum Bestand der Universitätsbibliothek Passau (Signatur 280/ND 1475 W639-3), und war 1976, also zwei Jahre vor der Gründung der Universität Passau, dem Institut für Ostbairische Heimatforschung der Philosophisch-Theologischen Hochschule Passau, der Vorgängereinrichtung des Instituts für Kulturraumforschung Ostbaierns und der Nachbarregion an der Universität Passau, vom Staatsarchiv München geschenkt worden. 32 Jeder der Teilbände trägt rückseitig zum Titelblatt, mitsamt der eingeprägten Nummer des Exemplars, folgenden Vermerk: „Die Inventare dienen allein dem Dienstgebrauch und der wissenschaftlichen Forschung. Sie dürfen deshalb nur entsprechenden Behörden, Einrichtungen bzw. Einzelpersonen zur Verfügung gestellt werden. Diese tragen die volle Verantwortung für die sich aus dem Persönlichkeitsschutz ergebenden Verpflichtungen. Das Urheberrecht liegt bei der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns.“ (Unterstreichung im Original). 33 Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933–1945. Archivinventare, Bd. 3: Sondergericht München (wie Anm. 8) trägt folgende GND-Nummern: Teil 1. 1933–1937: 800712986; Teil 2. 1938: 800712994; Teil 3. 1939: 800713001; Teil 4. 1940–1941: 800713028; Teil 5. 1942–1943: 800713036; Teil 6. 1944–1945: 800713044; Teil 7. Orts-, Berufs- und Sachregister; Abkürzungsverzeichnis; Einleitung (endgültige Fassung): 800713052; Teil 8. Personenregister: 800713060. 29 30
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Abb. 2: Transformation: Die einem standardisierten Verzeichnungsformat folgenden Aktenregesten, die neben Sach-, Personen- und Ortsregistern Produkt der Erfassung durch das Staatsarchiv waren (Binärisiertes und gerichtetes Digitalisat des Lehrstuhls für Digital Humanities der Universität Passau als Vorstufe zum OCR-Prozess, eindeutige Kennung NSJ_3_001966-Teil_6-3_6_a_Prozesse_1944-20190129T144659-r).
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D a s A r c h i v re p e r t o r i u m a l s Se k u n d ä r q u e l l e ? Das Archivinventar, dessen Erstellung ein Team des Staatsarchivs München übernommen hatte,34 ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Es ist nicht einfach ein traditionelles Findmittel, das der möglichst umfassenden Verzeichnung des erfassten Bestands in allen Schichten seiner Überlieferung dient. Dies wird spätestens daran deutlich, dass ganze Teile der Überlieferung überhaupt nicht berücksichtigt werden – alle Schriftstücke nach 1945 etwa, in denen Verurteilte die Unrechtsurteile aufheben zu lassen suchten. Der ganz unterschiedlichen Breite der Überlieferung, der Vielgestaltigkeit der Schicksale und der dadurch bedingten höchst unterschiedlichen Reichhaltigkeit des jeweiligen Akts schenkt das Repertorium ebenso wenig Aufmerksamkeit. In mancher Hinsicht ist es mit den Regestensammlungen der Urkundenwerke der Mittelalterforschung vergleichbar, die in ähnlicher Weise einen Hinweischarakter für die Originalquelle haben, oft aber auch selbständig für historisches Arbeiten herangezogen worden sind, ohne dass diese Quellen noch einmal aufgesucht wurden. Und doch ist das Repertorium von diesen Werken verschieden, weil es nicht eine oder zwei einzelne Urkunden, sondern in jedem einzelnen Aktenregest eine höchst vielfältige Aktenüberlieferung abbildet. Es ist somit vor allem auch eine Antwort auf die Herausforderung der Verzeichnung von Massenquellen.35 Statt jede Verfahrensakte in Bezug auf ihren jeweils besonderen Gehalt und die individuellen Charakteristiken des jeweiligen Verfahrens, die sich im Akt und seinem Überlieferungsprozess spiegeln, hin zu befragen, entschieden sich die Verzeichnenden, ein standardisiertes Set allgemeiner Merkmale festzulegen, die jeweils erhoben werden sollten. Aus geschichts- und informationswissenschaftlicher Perspektive ist damit eine ungewöhnliche Wissensbasis entstanden, die in der Form der Das Inventar (Widerstand und Verfolgung, wie Anm. 4) nennt in der „Einleitung (Endgültige Fassung. Die Einleitung auf S. V ff. ist damit überholt.)“ ganz am Ende von Bd. 3,7, S. 2337–2350, hier S. 2350 die Namen der Mitwirkenden: „Die Akten wurden von den wissenschaftlichen Zeitangestellten Dr. Ewald Keßler und Dr. Gabriele Dransfeld verzeichnet. Die archivarische Gesamtleitung lag in den Händen von Ltd. Archivdirektor Dr. Harald Jaeger, der bis zu seinem unerwarteten Tod auch die Hauptlast der Überarbeitung und der Registererstellung trug. Die Endfassung des Sachregisters wurde von Archivinspektor Götz Frhr. von Dobeneck hergestellt.“ 35 Dieser Umstand wird bewusst reflektiert, etwa bei Jaeger – Rumschöttel (wie Anm. 1) S. 212. 34
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standardisierten Erfassung von Information große Ähnlichkeiten mit Datenbanken aufweist. Als Forschende der Digital History36 konfrontiert uns dieser Umstand gleich mit mehreren Herausforderungen: Durch seinen besonderen Charakter ähnelt das Archivinventar mehr einer Quelle als einem archivalischen Findmittel. Der Charakter als Findmittel tritt dabei allerdings deutlich hinter die vergleichende, dichte Erhebung sozialer Merkmale der erfassten Personen zurück. Das Repertorium hat also unzweifelhaft Qualitäten, die eher auf einen Forschungsdatenbestand als auf die archivalische Erschließungspraxis verweisen, und genau dieser Umstand macht es wiederum für eine Verdatung aus der Sicht der Digital History besonders wertvoll. Unter Verdatung verstehen wir an dieser Stelle die selektive Erfassung von Merkmalen des Quellenbestandes und deren Modellierung auf Grundlage eines Schemas, zum Zweck der Erzeugung einer formalen Repräsentation, die mit dem Computer verarbeitbar ist.37 Aus einer theoretischen Pers36 Zur Charakterisierung der Digital History siehe u. a. Malte Rehbein, Geschichtsforschung im digitalen Raum. Über die Notwendigkeit der Digital Humanities als historische Grund- und Transferwissenschaft. In: Klaus Herbers – Viktoria Trenkle (Hrsg.), Papstgeschichte im digitalen Zeitalter. Neue Zugangsweisen zu einer Kulturgeschichte Europas (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 85), Köln-Weimar-Wien 2018, S. 19–44; Malte Rehbein, „L‘historien de demain sera programmeur ou il ne sera pas.“ (Digitale) Geschichtswissenschaften heute und morgen. In: Digital Classics Online 4 (1) (2018). https://doi.org/10.11588/dco.2017.0.48491 (veröffentlicht am 19.6.2018) (aufgerufen am 3.3.2021) sowie Hannu Salmi, What is Digital History? Cambridge 2021. 37 Konzept und Praxis von wissenschaftlicher Arbeit mit „Daten“ und „Verdatung“ waren und sind in der zumal deutschsprachigen ,konventionellen‘ Geschichtsforschung noch immer von geringer bis gar keiner Bedeutung – abgesehen von den quantitativen Forschungsansätzen in Teildisziplinen wie den traditionsreichen Historischen Grundwissenschaften, der Wirtschaftsgeschichte, der „modernen“ Sozialgeschichte oder der historischen Geographie, die aber auch in ihren Hochphasen im 19. bzw. 20. Jahrhundert nie den Mainstream des Faches bildeten. Zum theoretischen Hintergrund und zu den konzeptionellen Forschungsperspektiven, die sich im Sinne der Digital History auch durch Verdatung von historischen Forschungsobjekten und Quellen eröffnen, vgl. Torsten Hiltmann, Daten, Daten, Daten. Wie die Digitalisierung die historische Forschung verändert. In: VHDJournal #9, September 2020: Die Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter, S. 41–46; Martin Tschiggerl – Thomas Walach – Stefan Zahlmann, Geschichtstheorie, Wiesbaden 2019, S. 35–50 („Daten in der Geschichtswissenschaft“); Taylor Arnold – Lauren Tilton, New Data? The Role of Statistics in DH. In: Matthew K. Gold – Lauren F. Klein (Hrsg.), Debates in the Digital Humanities 2019, Minneapolis-London 2019, S 293–299; Ian Milligan – Robert Warren, Big Data and the Coming Historical Revolution: From Black Boxes to Models. In: Giovanni Schiuma – Daniela Carlucci (Hrsg.), Big Data in the Arts and Humanities: Theory and Practice, Boca Raton-London-New York, N. Y. 2018, S. 65–76; Claire Lemercier – Claire Zalc, Methodes quantitatives pour l’historien, Paris
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pektive stellt so bereits die Erfassung der Merkmale des Quellenbestands im Archivrepertorium eine Modellbildung im Sinne Herbert Stachowiaks dar (Abbildungsfunktion),38 in deren Rahmen bereits eine Auswahl von als relevant erachteten Merkmalen erfolgt ist (Verkürzungsfunktion), die im Hinblick auf ein konkretes Erkenntnisinteresse vorgenommen wurde (pragmatische Funktion). Indem wir das Inventar zunächst verdaten, eignen wir uns reflektiert das dem Repertorium zugrunde liegende Modell an, schaffen durch unsere eigene Modellierung aber die Grundlage für dessen Kritik und Fortentwicklung. Die Überführung des Inventars in eine Datenbank ist dabei aber kein rein technischer Prozess. Vielmehr wirft er epistemologische Fragen auf, darunter zunächst einmal nach dem spezifischen Quellenwert des Repertoriums bzw. seines Digitalisats. Es handelt sich – naheliegenderweise – nicht um eine Primärquelle im klassischen Sinn, da sie nicht der eigentliche Quellenbestand, sondern vielmehr derivativ auf ihn bezogen ist. In diesem Sinn sind Repertorium und Datenbank allenfalls eine Sekundärquelle. Der besondere Charakter des Repertoriums beruht somit auf der standardisierten Aggregation von Information. Es repräsentiert komplexe Formen kulturellen Wissens, die erst durch diesen Aggregatcharakter überhaupt hervortreten und die zugleich erst durch ihre Verarbeitung mit Verfahren der Digital History überhaupt sichtbar werden. Schließlich ist das Repertorium – wie alle Forschungsinstrumente dieser Art – notwendigerweise selektiv. So wurden die Berufe der angeklagten Personen zwar über die Berufssystematik der Volkszählung 1933 standardisiert abgebildet, aber der Zuordnung einer (Selbst-)Bezeichnung zu einer der dort erfassten Berufsgruppen wohnt, wie die Autorinnen und Autoren selbst anmerken, ein gewisses Maß an Willkür inne, weil eine intensive Überprüfung außerhalb dessen lag, was das Team seinerzeit leisten konnte.39 Für unsere Forschung zieht dies eine zusätzliche Schicht Komplexität ein, denn es sind nicht unsere Erkenntnisinteressen, die die Auswahl der erhobenen Merkmale und die Art und Weise ihrer Repräsentation bestimmen. Vielmehr liegt eine zeitliche Schwelle zwischen der Erhebung des Instruments und seiner 2008, englisch: Quantitative Methods in the Humanities. An Introduction. Translated by Arthur Goldhammer, Charlottesville-London 2019, S. 51–71 („From Source to Data“). 38 Herbert Stachowiak, Allgemeine Modelltheorie, Wien-New York 1973, S.131–138. 39 So merken die damaligen Bearbeitenden am Ende des Berufsregisters u.a. an, dass „die Angaben in vielen Akten für eine eindeutige Zuordnung nicht hinreichend waren. So muß die Beantwortung dieser Frage der auswertenden Forschung überlassen bleiben […]“; ebd. S. 2167.
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Verdatung. Dieser auch wissenschaftsgeschichtlich interessante Umstand macht das Repertorium selbst wiederum zu einer Primärquelle – über die Erkenntnisinteressen und Wissenspraktiken derjenigen, die seine Erstellung übernahmen und mit Fug und Recht sicher auch derjenigen, die es in Auftrag gegeben hatten. Auch deshalb also muss diese extern erhobene Wissensbasis einer eigenen Quellenkritik unterzogen werden. Nach geeigneten Wegen, um diese Differenz auch in die Datenbank als Informator zukünftiger Forschung einfließen zu lassen, wird noch zu suchen sein. L e i t e n d e Ü b e r l e g u n g e n f ü r d i e Di g i t a l i s i e r u n g Das Inventar bildet in relativ komplexer Weise die zugrundeliegende Überlieferung ab. Statt einer händischen Verdatung, bei der die Informationen des Registers beispielsweise durch Hilfskräfte in eine strukturierte Form gebracht werden, haben wir uns dafür entschieden, einen Digitalisierungsworkflow zu entwickeln, der auf ein großes Maß an Automatisierung setzt und dabei mittels Layout-Detektion die jeweils einschlägigen Segmente im Bilddigitalisat des maschinenschriftlichen Ausgangswerks identifiziert und aus diesen nach erfolgter optischer Zeichenerkennung mittels Text Mining-Verfahren strukturiert Informationen extrahiert, die in eine Datenbank abgelegt werden. Anlass zu diesem Vorgehen gab einerseits der Wunsch, an einen wohlgeformten Datenbestand komplexe Anfragen stellen zu können ‒ etwa eine Korrelation durchführen zu können zwischen der Berufsgruppe der Beschuldigten, dem Tatvorwurf, dem Herkunftsort bzw. der Nationalität und dem Strafmaß, um nur einige zu nennen. Andererseits motivierte dazu die grundwissenschaftliche Überlegung, dass so wiederverwendbare digitale Workflows entstehen, die von weiteren Digitalisierungsprojekten nachgenutzt werden können, sofern diese vom Aufbau her sehr ähnliche Aktenregesten und Indizes verarbeiten müssen.
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Au f b a u d e s A r c h i v i n v e n t a r s Der semi-strukturierte Aufbau des Repertoriums ermöglicht ein solches Vorgehen erst. Zunächst indiziert dieses alle Gerichtsverfahren in Gestalt eines Aktenregests durch eine innerhalb des Repertoriums fortlaufende Nummer in Klammern (#1). Diesem folgt ein eindeutiger Identifikator – eine Ziffernfolge, die in Verbindung mit der Buchstabensignatur StAnw – also z. B. StAnw 8592 – zugleich der Bestellsignatur entspricht und die den physischen Akt repräsentiert (#2). Den beiden Identifikatoren folgt der eigentliche Verzeichnungstext, der zwar im Prinzip aus natürlicher Sprache besteht, die aber festen Vorgaben für die Strukturierung der Information folgt. Verzeichnet sind in einem ersten Absatz im Regelfall in dieser Reihenfolge: der Beruf der angeklagten Person (#3), Vornamen, Nachname in Großschreibung (#4), Geburtsdatum in Klammern (#5), Zugehörigkeit zu einer territorialen Entität (#6), letzter Aufenthaltsort (#7) sowie der Tatvorwurf (#8) wie im Akt vermerkt. Weiterhin können die Ordenszugehörigkeit sowie Hinweise darauf erfasst sein, welcher Kategorie der Nürnberger Rassegesetze eine Person zugeschrieben wurde, ob sie als Kriegsgefangener, Parteimitglied oder ähnliches geführt wurde. Die Angabe der Nationalität entspricht in der Regel der Angabe im Akt. Veränderungen geographischer Bezeichnungen nach dem Zweiten Weltkrieg bleiben normalerweise unberücksichtigt. Zuweilen wurden für das Aktenregest jedoch „Protektoratsangehörige“ zu „Tschechoslowaken“, „Slowenen“ oder „Kroaten“ in „Jugoslawen“ berichtigt. Für Polen wird ab 1941 die „Volkszugehörigkeit“ zugrunde gelegt. Die Einwohner jener Gebiete Böhmens, die 1939 in den damaligen Regierungsbezirk Niederbayern und Oberpfalz eingegliedert worden sind, werden als Reichsdeutsche mit dem Zusatz „CSR“ oder „CSSR“ angegeben. Für Angaben über Mitgliedschaften in Organisationen gilt folgendes: Bei Mitgliedern von Parteien, Verbänden usw., die 1933 verboten worden sind, ist der Stand von 1933 maßgebend; in den anderen Fällen handelt es sich um eine Mitgliedschaft zum Zeitpunkt der Erhebung des Tatvorwurfs.40 Sofern der Ort, an dem die vermeintliche Tat begangen wurde, und der Wohnort nicht identisch sind, kann der Tatort gesondert erwähnt werden. In einem zweiten Absatz folgt Vgl. die „Einleitung (Endgültige Fassung. Die Einleitung auf S. V ff. ist damit überholt.)“ In: Widerstand und Verfolgung (wie Anm. 8) Bd. 3.7, S. 2337–2350, hier S. 2349. 40
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die Information über das Urteil oder die Einstellung des Verfahrens (#9). Sowie gegebenenfalls ein Hinweis auf Amnestie oder Begnadigung des Beschuldigten im Falle einer Todesstrafe. Dazu wird ab 1939 teilweise auf gesetzliche Bestimmungen verwiesen. Ebenfalls können weitere Hinweise wie beispielsweise auf Aufenthalt in Konzentrationslagern, andere politische Verfolgungsmaßnahmen wie auch ein verfolgungsbedingter Tod oder Freitod notiert sein (#10) sowie, ob Beweismittel wie Plakate, Flugschriften oder Druckschriften im Akt enthalten sind. In einem weiteren Absatz folgen in der Regel die Daten von Beginn und Ende des Verfahrens, wie sie bei Erstellung des Repertoriums ermittelt werden konnten sowie das Aktenzeichen der Staatsanwaltschaft beziehungsweise des Sondergerichts, das im Hinblick auf eventuelle Parallel- und Ergänzungsüberlieferungen relevant ist.
Abb. 3: Das Aktenregest (Unterstreichung und Fettdruck zur Kenntlichmachung der wichtigsten derzeit erfassten Inhalte).
Um den Zugang zu erleichtern, sind die Informationen zum Wohnort und Beruf des Angeklagten sowie Sachinformationen (darunter auch der Tatvorwurf ) in je einem Register zusammengefasst. Orts-, Berufs- und Sachregister sind über die laufende Nummer des Repertoriums mit den einzelnen Aktensignaturen verknüpft. Der Aufbau ist systematisch. Dabei ist das Ortsregister zweispaltig aufgebaut und alphabetisch sortiert. Der jeweilige Landkreis ist in gleicher Zeile in Klammern angegeben. In den darauffolgenden Zeilen sind dann die zugehörigen Inventarnummern angegeben. Das Berufsregister ist einspaltig aufgebaut und folgt dem „Systematischen Verzeichnis der Berufe und Berufsbenennungen“, das im Zu-
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Abb. 4: Ein Ausschnitt aus dem Sachregister, hier alle Verfahren im Zusammenhang mit dem Tatvorwurf „Diebstahl“ (8) für das Jahr 1944.
sammenhang mit der Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1933 vom Statistischen Reichsamt erarbeitet wurde.41 Die Elemente des Berufsregisters unterteilen sich in die sogenannte Wirtschaftsabteilung (unterstrichen z.B. „Berufe der Landwirtschaft, Gärtnerei, Tierzucht, Forstwirtschaft, Fischerei“), die Berufsgruppe (unterstrichen mit Nummer [ab 101], z.B. „101 Landwirte“), die Berufsbenennung (nicht unterstrichen z.B. Bauer) und gegebenenfalls darunter mit Spiegelstrich kenntlich: „-Ehefrau“, „-Sohn“, „-Tochter“, „-Witwe“. Da die Berufsangaben im Quellenbestand nicht in jedem Fall erkennen ließen, welcher Berufsgruppe eine angeklagte bzw. staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen unterliegende Person zuzurechnen ist, waren laut Inventar leichte Unschärfen Statistisches Reichsamt (Hrsg.), Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 453: Berufszählung. Die berufliche und soziale Gliederung des Deutschen Reichs, Heft 2: Die Erwerbstätigkeit der Reichsbevölkerung, Berlin 1936, hier S. I/195–I/263. – Vgl. auch für die Volkszählung 1939: Statistisches Reichsamt (Hrsg.), Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 556: Berufszählung. Die Berufstätigkeit der Bevölkerung des Deutschen Reichs, Heft 1: Die Reichsbevölkerung nach Haupt- und Nebenberuf, Berlin 1942. 41
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nicht zu vermeiden.42 Das Sachregister bildet die Tatvorwürfe in den einzelnen Akten ab. Es ist ebenfalls einspaltig aufgebaut und alphabetisch nach Art und gegebenenfalls Unterart sortiert. Die Inventarnummern sind nach Jahren aufgeschlüsselt. Di g i t a l i s i e r u n g s w o r k f l ow Die automatische Erkennung von maschinengeschriebenen Texten (OCR) ist ein vergleichsweise etabliertes Feld, das bereits über eine Reihe von standardisierten Verfahren verfügt. Der Markt ist geprägt vom Gegensatz zwischen quelloffenen und proprietären Ansätzen, die für die Nutzenden weniger Kontrolle, kaum Verbesserungsmöglichkeiten der eingesetzten Verfahren und Aufwendung für Lizenzen bedeuten. Offene Workflows haben sich demgegenüber erst in den letzten Jahren auf breiterer Nutzerbasis etabliert, obwohl offene Software durchaus schon länger im Einsatz ist. Permissiv lizenzierte OCR-Engines wie Tesseract oder Calamari stehen proprietären Lösungen qualitativ nicht nach.43 Zugleich können die mit diesen Lösungen verbundenen Workflows besser geteilt und für ähnliche Verwendungszusammenhänge angepasst werden. Im Rahmen des Projekts haben wir deshalb zahlreiche Pipelines implementiert und inkrementell verbessert. Von großer Bedeutung für eine erfolgreiche Volldigitalisierung ist die Beschaffenheit der Vorlage. Das Archivrepertorium in der uns vorliegenden Form ist eine ältere Fotokopie des maschinenschriftlichen Originals. Dies beeinflusst den OCR-Prozess auf mehreren Ebenen. Zunächst gibt es Faktoren wie das sukzessive Nachlassen der Farbbänder der AusgangsVgl. die „Einleitung (Endgültige Fassung. Die Einleitung auf S. V ff. ist damit überholt.)“. In: Widerstand und Verfolgung (wie Anm. 8), Bd. 3.7, S. 2337–2350, hier S. 2348. 43 Zu Tesseract: Ray Smith, An Overview of the Tesseract OCR Engine. In: Ninth International Conference on Document Analysis and Recognition (ICDAR 2007) 2 (2007) S. 629–633. https://doi.org/10.1109/ICDAR.2007.4376991 (aufgerufen am 5.3.2021); zu Calamari: Christoph Wick – Christian Reul – Frank Puppe, Calamari – A High-Performance Tensorflow-based Deep Learning Package for Optical Character Recognition, 2018. http:// arxiv.org/abs/1807.02004 (Stand vom 6.8.2018) (aufgerufen am 5.3.2021). – Eine vergleichende Evaluierung der open source engines OCRopus und Tesseract sowie des proprietären ABBYY Finereaders für ein Korpus Frakturschriften des 19. Jahrhunderts: Christian Reul – Uwe Springmann – Christoph Wick – Frank Puppe, State of the Art Optical Character Recognition of 19th Century Fraktur Scripts using Open Source Engines, 2018. http://arxiv.org/abs/1810.03436 (Stand vom 8.10.2018) (aufgerufen am 5.3.2021). 42
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schreibmaschine, zu denen noch mögliche Verunreinigungen des Schriftbilds durch die Kopie hinzukommen. Als vorteilhaft erwies sich dagegen der Monospace-Charakter der Maschine, d.h. der Umstand, dass alle Zeichen gleich breit und die Abstände zwischen den Zeichen gleich groß sind. Als Herausforderung präsentierten sich demgegenüber Unterstreichungen, nachträgliche Einfügungen (die entsprechend ein engeres Schriftbild haben), Überlappungen von Textsegmenten durch Einfügungen, handschriftliche Korrekturen sowie Fußnoten. Neben dem Schriftbild selbst hat die Form der Quelle nicht unwesentlichen Einfluss auf die Qualität und die Möglichkeiten der Texterkennung. Hinzu kommt, dass die einzelnen Teilbände gebunden in Buchform vorliegen. Dies bedingt eine mal mehr, mal weniger starke Verzerrung der Vorlage für die Bilddigitalisate. Die von uns entwickelte Digitalisierungspipeline sollte diesen Charakteristiken des Ausgangsmaterials Rechnung tragen.
Abb. 5: Der Digitalisierungsworkflow.
Der Digitalisierungsworkflow umfasst zunächst die Erstellung von Bilddigitalisaten des Ausgangsmaterials. Hier haben wir uns entschieden, mit hochauflösenden (50 MP) Bilddigitalisaten zu arbeiten, die von einer Kamera mit Vollformatsensor erstellt wurden. Das hochauflösende Bildmaterial eignet sich hervorragend für die weitere Verarbeitung mit Verfahren aus dem Feld der Computer Vision, erfordert aber umgekehrt einen erheblichen Mehraufwand bei der Erfassung.
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Die Datenablage der Bilddigitalisate erfolgt vorerst im Verzeichnisbaum eines normalen Dateisystems. Allerdings verwendet das Projekt ein eigens entwickeltes Schema für die Benennung der Digitalisate, das grundlegende Metadaten fixiert. Dieses folgt dem Schema: eindeutiger Identifikator aus Projektname, Ziffer des Bandes und sechsstelligem numerischem Bildzähler mit führenden Nullen, Teil, Unterabteilung, Zeitstempel Digitalisierungsdatum, linke oder rechte Seite der Vorlage; z.B. NSJ_3_000076Teil_1-3_1_a_Prozesse_1933-20190129T162520-l.png Die Weiterverarbeitung der Bilddigitalisate erfolgt automatisiert. So werden die Bilder aus einem Eingangsordner in einen Sortierordner verschoben und dabei dem Schema gemäß umbenannt. Der eigentlichen Zeichenerkennung gehen eine Reihe von Aufbereitungsschritten der Bilddigitalisate voraus. So werden diese in einem ersten Schritt entzerrt (Page Deskewing), was die Krümmung der Seite durch die Bindung der Bände kompensiert. Theoretisch entfiele dieser Zwischenschritt, wenn wir die Bindung der umfangreichen Konvolute einfach gelöst und jede Seite einzeln und dementsprechend per se glatt unter die Kamera gelegt hätten. Letzteres war aus konservatorischen Gründen nicht möglich. Für die objektbedingt erforderliche computergestützte Entzerrung kommt Matthew Zuckers page dewarp zum Einsatz.44 Anschließend werden die Bilder vom RGB-Farbraum in einen binären Farbraum gewandelt. Für die Binärisierung mittels Otsu Thresholding verwenden wir das Python Paket scikit-image.45 Als einen weiteren Schritt vor der Zeichenerkennung beschneiden bzw. segmentieren wir die Bilder automatisiert. Dabei werden etwa Doppel- in Einzelseiten aufgespalten, Ränder beschnitten und Seiten mit einem mehrspaltigen Layout in die einzelnen Spalten aufgetrennt. Der Prozess der Zeichenerkennung hat sich in den letzten Jahren weniger in den grundsätzlich angewandten Bildsegmentierungs- und Klassifizierungstechniken als vor allem deren Qualität verändert. Insbesondere die wachsende Beliebtheit von Deep-Learning-Verfahren, ermöglicht durch die gesteigerte Rechenleistung, die wissenschaftlichen Projekten heute zur Verfügung stehen, haben hier einen merklichen Qualitätssprung der Text erkennung gebracht. Matthew Zucker, Page dewarping. In: Needlessly complex, 15.8.2016. https://mzucker. github.io/2016/08/15/page-dewarping.html (aufgerufen am 28.7.2020). 45 Stéfan van der Walt – Johannes L. Schönberger – Juan Nunez-Iglesias – François Boulogne – Joshua D. Warner – Neil Yager – Emmanuelle Gouillart – Tony Yu and the scikit-image contributors, scikit-image: Image processing in Python, 2014. https://doi. org/10.7717/peerj.453 (veröffentlicht am 19.6.2014) (aufgerufen am 5.3.2021). 44
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Grundsätzlich ist jedes OCR-Verfahren mit der Herausforderung konfrontiert, jene Bereiche einer Seite zu lokalisieren, in denen sich Text befindet, zusammenhängende Textbereiche wie Zeilen oder einzelne Wörter bzw. Zeichen zu identifizieren und anschließend eine Segmentierung durchzuführen, die die gewünschte Information vom Rauschen des Hintergrunds separiert. Äußere Effekte wie die Krümmung der Vorlage bei der Erstellung des Bilddigitalisats beeinflussen nachhaltig die Befähigung eines Systems, diese Erkennung durchzuführen. Für die Identifizierung zusammenhängender Bereiche haben wir deshalb einen eigenen Algorithmus basierend auf Connected-Component Analysis entwickelt, der innerhalb einer Seite bzw. Spalte Textzeilen identifiziert. Diese Identifikation verbinden wir mit einem Reinigungsprozess, durch den wir fehlidentifizierte Textsegmente statistisch erkennen und aus der Ergebnismenge entfernen. Anschließend kann die Erkennung der einzelnen Zeichen erfolgen. Als besonders herausfordernd haben sich dabei Umlaute erwiesen. Wir führen darum in einem separaten Schritt regelbasiert jene Bereiche zusammen, von denen mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden darf, dass sie einen Umlaut markieren. Da unser Ziel darin besteht, am Ende des Prozesses wohlgeformte Wörter zu erzeugen, sind wir nicht einfach dabei stehen geblieben, einzelne Zeichen zu rekonstruieren. Vielmehr hängt unser Verfahren ausgehend von einem beliebigem Zeichen iterativ benachbarte Zeichen in der gleichen Zeile an, bis der Wortanfang oder das Wortende (markiert durch ein Leerzeichen) erreicht wird. So soll ein Clipping für einzelne Wörter erzeugt werden, die anschließend als eine Bilddatei pro Wort segmentiert und in ihrer Reihenfolge im Quelltext numerisch sequenziert werden. Jedes der so identifizierten Wörter wird dann dem eigentlichen OCR-Prozess zugeführt. Die bis hierhin skizzierte Pipeline basiert auf einer vorausgehenden nicht-formalen Evaluierung verschiedener OCR-Engines, darunter auch proprietärer Produkte wie dem weit verbreiteten ABBYY Finereader und der open-source Engine Tessarect,46 die für die Zwecke des Projekts aber allesamt ungenügend waren. Dabei hat sich letztlich eine Kombination aus den oben beschriebenen Vorverarbeitungsstufen mit dem Training eigener OCR-Engines basierend auf dem Calamari-Framework47 als zielführend erwiesen. Es handelt sich um ein überwachtes Verfahren maschinel ABBYY: https://www.abbyy.com/de/finereader/ (aufgerufen am 5.3.2021); Tesseract: Smith (wie Anm. 30). https://doi.org/10.1109/ICDAR.2007.4376991 (aufgerufen am 5.3.2021). 47 Wick u.a. (wie Anm. 30).
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len Lernens, das mit einem transkribierten Trainingskorpus von Wörtern aus dem Quelltext trainiert wurde. Anschließend werden dann mit dem so trainierten Modell die Wörter der Quelle identifiziert und durch den numerischen Identifikator wieder in ihrer Ursprungsreihenfolge angeordnet. Für jede bilddigitalisierte Seite wird so eine Textdatei erzeugt. Da auch dieser Prozess natürlich noch immer fehlerbehaftet ist, verarbeiten wir die so erzeugten Texte weiter, indem wir sie mit textstatistischen Methoden reinigen. Dabei legen wir nicht nur semantische Informationen zugrunde, sondern arbeiten zugleich auch regelbasiert mit den im Layout der Seite identifizierten bekannten Strukturelementen wie etwa den in Klammern gesetzten Indexzahlen der jeweiligen Aktenregesten. Seitenzahlen werden von uns beispielsweise nicht wie in weiten Teilen der Korpuslinguistik als Rauschen entfernt. Vielmehr stellt eine Korrekturfunktion sicher, dass sie tatsächlich monoton steigend sind, wodurch Fehler schnell identifiziert werden können. In ähnlicher Weise wird sichergestellt, dass die Register der korrekten alphabetischen Ordnung folgen. A k t u e l l e He r a u s f o rd e r u n g : In f o r m a t i o n s e x t r a k t i o n Durch die optische Zeichenerkennung (OCR) entsteht zunächst digitaler Text, der aber nach wie vor unstrukturiert ist. Gegenüber dem analogen Text geht durch den OCR-Prozess sogar Information verloren, da etwa das Layout und die von ihm vermittelte paratextuelle Information nicht erfasst wurden. Erste Versuche, das Ergebnis des OCR-Prozesses direkt zu parsen, haben sich aus diesem Grund als nicht effektiv erwiesen. Derzeit arbeitet das Projektteam deshalb an Verfahren der Layoutrekonstruktion, die es ermöglichen sollen, zunächst die jeweiligen Seiten und dann die einzelnen Aktenregesten als übergeordnete Informationseinheiten zu identifizieren. Auf dieser Basis kann die Informationsextraktion durchgeführt werden, wobei eine Mischung aus regelbasierten und offenen Werkzeugen wohlgeformte Extrakte sicherstellen soll. D a t e n m o d e l l u n d S c h e m a d e r Wi s s e n s b a s i s Die extrahierten Informationen sollen weitgehend automatisiert in eine Datenbank überführt werden. Ziel in dieser Projektphase ist zunächst die Vervollständigung und eine semiformale Evaluierung der Textextraktionspipeline, dieser ist derzeit die strukturierte Ablage der Informationen noch nachgeordnet. Für diese „pragmatische“ Phase der Datenmodellie-
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rung haben wir uns für ein gut skalierendes relationales Datenbanksystem entschieden. Das Datenmodell umfasst Kernmerkmale der Inventare und wird so ein erstes Generieren und Testen historischer Hypothesen zulassen. Bereits im Zuge der Erstellung dieses Datenmodells wurden zwei Herausforderungen deutlich. Neben der Identifikation des der Strukturierung der analogen Information zugrunde liegenden impliziten Schemas galt es, dieses adäquat abzubilden. Und zwar so, dass einerseits das Repertorium angemessen akkommodiert wird, andererseits aber auch die Forschungsfragen, die wir an den hinter dem Repertorium stehenden historischen Gegenstand stellen, abgebildet werden. Als Grundlage für das Entity-Relationship-Modell dienen die Informationen aus Berufs-, Sach- und Ortsregister sowie das Aktenregest des jeweiligen Verfahrens. Die Entitäten des Modells bilden die einzelnen Bestandteile des Aktenregests ab, wobei das Aktenregest selbst als ein vereinfachtes und standardisiertes Modell des Sondergerichts-Verfahrens begriffen werden kann. Die Bestandteile des Aktenregests verweisen also auf teilweise nicht explizierte, unterliegende lebensweltlichen Bezüge, die das Datenmodell gegebenenfalls rekonstruieren muss. Einen Überblick über das Schema gibt Abbildung 5. Zugleich zielt das Modell darauf, anschlussfähig zu sein, sollte es eines Tages etwa zu einer Volldigitalisierung der Überlieferung des Sondergerichts kommen. So beschränkt sich das Aktenregest ausschließlich auf die Person der oder des Angeklagten. Die Richterschaft, Staatsanwaltschaft oder eventuell namentlich in der Aktenüberlieferung aufscheinende Ermittler, Behörden und Zeugen wurden nicht miterfasst, wobei Denunzierung – ein typisches Merkmal für repressive Regime im Allgemeinen und das NS-Herrschaftssystem im Speziellen48 – wohl häufig als Anlass oder sogar als Grund für ein Sondergerichtsverfahren zu gelten haben dürfte. Um unser Modell hier zukunftsoffen zu gestalten, haben wir die soziale Rolle von Menschen als „Angeklagte“ separat von den Personen erfasst und können so zum Beispiel dem Umstand Rechnung tragen, dass Personen in verschiedenen Rollen an mehreren Verfahren beteiligt sein können (etwa, dass dieselben Personen als Zeugen und als Angeklagte auftreten). An mehreren Stellen lässt das Schema den Rückgriff auf externe, standarHierzu etwa, mit Beispielen aus der Geschichte der NS-Sondergerichtsbarkeit, KarlHeinz Reuband, Denunziation im Dritten Reich. Die Bedeutung von Systemunterstützung und Gelegenheitsstrukturen. In: Historical Social Research Vol. 26 (2001), No. 2/3, S. 219–234. 48
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disierte Ressourcen zu. So können etwa Ortsinformationen mit Geodaten angereichert, Zugehörigkeit zu territorialen Entitäten (etwa Staatsbürgerschaften) und sozialer Status, Anklagepunkte sowie Berufe jeweils aus einem Normvokabular übernommen werden. Eine weitere Besonderheit ist, dass das von uns entwickelte Datenmodell zugleich auch die Lesung der Quelle durch die Auswertenden miterfasst. Dadurch kann der Prozess der Verdatung von Archivmaterial transparent und auf der anderen Seite die Abstraktions- und Verarbeitungsstufe der Primärquelle, die das Archivrepertorium darstellt, kontrollierbar gemacht werden.
Abb. 6: Vereinfachtes Datenmodell: Personen und Rollen werden getrennt erfasst. Die Ziffern entsprechen der Nummerierung der Elemente in den vorausgehenden Abbildungen. (1) Inventarnummer, (3) Berufsbezeichnung, (4) Eigennamen, (5) Geburtsdatum, (6) territoriale Zuordnung, (7) letzter Aufenthaltsort, (8) Tatvorwurf, (9) Urteil, (10) Sammelkategorie für Anmerkungen, (11) Laufzeit und (12) zeitgenössische Aktensignatur.
Entwicklungsperspektiven Neben der Verbesserung der Digitalisierungsverfahren werden wir als nächste Schritte unsere Aufmerksamkeit auf die Verbesserung der regelbasierten und offenen Informationsextraktion sowie auf die Vervollständigung des Datenmodells richten. Noch ist der hier vorgestellte Ansatz hochspezialisiert und damit, wie sich abzeichnet, nur begrenzt portabel. Vielversprechend scheint uns daher für die Zukunft das zu Beginn unseres Projekts noch nicht zugängliche,
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DFG-geförderte Framework der OCR-D Initiative zu sein.49 Dadurch könnte der manuelle Aufwand der hier beschriebenen Teile des Workflows erheblich reduziert werden. Die einheitliche Umgebung würde zudem die Wiederverwendbarkeit der Lösungen und Verfahren erleichtern. OCR-D erzeugt darüber hinaus METS-konforme Metadaten.50 Die Standardisierung sowohl der Datei- und Metadatenverwaltung bringt einen erheblichen Zugewinn, da es das Projekt aus dem Bereich einer Insellösung hervorzuholen vermag. Im Lichte dieser Überlegungen werden wir in einem nächsten Schritt Möglichkeiten evaluieren, die noch ausstehenden Digitalisierungsschritte in einen OCR-D-getriebenen Workflow zu überführen. Die derzeitige Modellierung der extrahierten Daten ist noch ganz darauf ausgerichtet, einerseits die Datenextraktionspipeline zu implementieren und andererseits erste präliminare Analysen über den Datenbestand durchführen zu können. Zukünftig könnten die Inhalte aus der Arbeitsdatenbank in eine RDFS-kompatible Langzeitlösung überführt werden, der dann auch ein semantisches Schema unterliegen kann. Ebenso wird weiterzuverfolgen sein, inwiefern sich Domäneontologien und Fachtaxonomien eignen, um die im Rahmen der Verdatung modellierten Datentypen zu repräsentieren und auf korrespondierende Entitäten anderer Datenquellen abzubilden, wodurch Linked Open Data im Sinne des Semantic Web-Ansatzes hergestellt werden kann. So könnte zum Beispiel die von uns genutzte Klassifikation der Berufe aus der deutschen Reichsstatistik von 1936 auf die im Entstehen begriffene „Ontologie historischer, deutschsprachiger Berufs- und Amtsbezeichnungen“51 oder auf kontrollierte Vokabulare wie den „Historical International Standard of Classification of Occupations“ (HISCO) abgebildet werden.52
Christian Reul – Dennis Christ – Alexander Hartelt – Nico Balbach – Maximilian Wehner – Uwe Springmann – Christoph Wick – Christine Grundig – Andreas Büttner – Frank Puppe, OCR4all—An Open-Source Tool Providing a (Semi-)Automatic OCR Workflow for Historical Printings. In: Applied Sciences 9, Nr. 22 (January 2019), Art. 4853. https://doi.org/10.3390/app9224853 (veröffentlicht am 13.11.2019) (aufgerufen am 5.3.2021). 50 OCR-D Spezifikation, https://ocr-d.de/en/spec/mets (aufgerufen am 2.2.2021). 51 Katrin Moeller – Andreas Müller – Robert Nasarek, Ontologie historischer, deutschsprachiger Berufs- und Amtsbezeichnungen. https://www.geschichte.uni-halle.de/struktur/ hist-data/ontologie/ (aufgerufen am 21.7.2020). 52 Marco H. D. van Leeuwen – Ineke Maas – Andrew Miles, Creating a Historical International Standard Classification of Occupations – An Exercise in Multinational Interdisciplinary Cooperation. In: Historical Methods: A Journal of Quantitative and Inter49
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Q u e l l e n w e r t d e r Ü b e r l i e f e r u n g d e s So n d e r g e r i c h t s Mü n c h e n u n d Po t e n t i a l e e i n e r d i g i t a l e n N S - Mi k r o g e s c h i c h t e Die von der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns und dem Institut für Zeitgeschichte für die Verzeichnung gewählten Quellenbestände des Sondergerichts München sind gegenüber den ohnehin lückenhafter überlieferten Akten vieler anderer NS-Sondergerichte53 für die Erforschung von Resistenz als gesamtgesellschaftlichem Phänomen zunächst einmal deswegen von besonderem Interesse, weil das Sondergericht München, entsprechend seiner Zugehörigkeit zum Münchener Oberlandesgerichtsbezirk, für einen regional weitaus umfassenderen Sprengel zuständig war als die meisten anderen Sondergerichte im „Dritten Reich“. Dieser umfasste im Wesentlichen das Gebiet der heutigen drei bayerischen Bezirke Schwaben, Oberbayern (ohne Landkreis Eichstätt) und Niederbayern. Infolge des Münchener Abkommens vom September 1938 gehörten von 1939 an auch die drei südböhmischen Kreise Bergreichenstein (Kašperské Hory), Markteisenstein (Železná Ruda) und Prachatitz (Prachatice) zum 1932–1959 bestehenden Doppelbezirk Niederbayern und Oberpfalz und fielen damit bis zum Kriegsende ebenfalls unter die Jurisdiktion des Sondergerichts München. Dessen Jurisdiktionsbezirk umschloss also ein kulturell und gesellschaftlich überaus heterogenes Gebiet von Schwäbischer Alb und Bodensee bis zur Moldau; ländlich geprägte Gegenden ebenso wie die Großstädte München und Augsburg – vor allem letztere mit einer schon damals ausgesprochenen Prägung durch Industrie und Arbeiterschaft –; geschlossen katholische Landstriche ebenso wie die trikonfessionellen Gegenden in Bayerisch-Schwaben mit deren bis 1933 charakteristischerweise vielfältigem Neben- und Miteinander von evangelischer, katholischer und jüdischer Bevölkerung auf dem Lande (z. B. im mittelfränkisch beeinflussten Ries, in Mittelschwaben und im Donauried) sowie in der Großstadt Augsburg54 – die Herkunfts-, Sozialisations- bzw. Indidisciplinary History 37, Nr. 4 (1. September 2004), S. 186–197. https://doi.org/10.3200/ HMTS.37.4.186-197 (aufgerufen am 5.3.2021). 53 Zur prekären Überlieferungssituation zahlreicher NS-Sondergerichte vgl. etwa Anna Blumberg-Ebel, Sondergerichtsbarkeit und „Politischer Katholizismus“ im Dritten Reich (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen 55), Mainz 1990, S. 6–9. 54 Vgl. als diesbezügliche lokale Fallanalyse auf Grundlage der Inventarbände die ungedruckte Magisterarbeit von Fabian Fiederer, Augsburger vor dem Sondergericht Mün-
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viduationsregion von landläufig bekannten, herausragenden Akteuren der Opposition und des Widerstands wie Hans Beimler, Georg Elser, Eduard Hamm, den Geschwistern Scholl und den Gebrüdern Stauffenberg. Die umfangreiche Datengrundlage bildet so die zeitgenössische Bevölkerung Südbayerns (und von Teilen Südböhmens) in deren ganzer Breite ab – von Hochadligen und einem Kardinal über Professoren und Schriftsteller bis hin zu Tagelöhnern und Zwangsarbeitern. Von der Forschung ist der Bestand des Sondergerichts bislang allerdings eher sporadisch und bruchstückhaft konsultiert worden. Zum Teil sind Auswertungen als akademische Zulassungsarbeiten im Bereich der „grauen Literatur“ geblieben.55 Dabei ergeben sich zahlreiche Perspektiven für gesellschafts-, sozial- und kulturhistorische Fragestellungen ebenso wie solche „klassisch“-politikgeschichtlicher und ‒ mit Blick auf gruppenspezifische oder individuelle Handlungsgründe oder -motivationen ‒ mentalitäts- und geistesgeschichtlicher Art. Die Bedeutung, die Martin Broszat in seinen für das Archivrepertorium zum Sondergericht München maßgeblichen Überlegungen dem Begriff des „Alltags“ zukommen ließ, exemplifiziert einen Kulturbegriff, der auch die Perspektive auf gesellschaftliche Schichten jenseits der althergebrachten „Eliten“ mit einschließen konnte, chen 1933–1939. Rechtsgrundlagen, statistische Auswertung und Einzelfallanalyse, Universität Augsburg, Philologisch-Historische Fakultät, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, 2010, in die uns der Verfasser dankenswerterweise Einblick gewährt hat. 55 Zu den ersten Arbeiten überhaupt zählt die Zulassungsarbeit von Gisela Kraus, Frauen vor dem Sondergericht München im Dritten Reich. Zulassungsarbeit, Ludwig-Maximilians-Universität München 1976, weiter die Arbeiten von Andreas von Schorlemer, Das Sondergericht München als Bestandteil der Strafjustiz 1939 bis 1945: Rechtsgrundlagen, ausgewählte Probleme und eine statistische Auswertung seiner Spruchtätigkeit. Magisterarbeit, Ludwig-Maximilians-Universität München 1985, und Christian Bentz, Die Rechtsprechungspraxis des Sondergerichts München von 1939–1945, Ludwig-Maximilians-Universität München 2003, sodann die am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte in der Philologisch-Historischen Fakultät der Universität Augsburg entstandenen Magisterarbeiten von Fabian Fiederer (wie Anm. 54) und von Markus Materna, Todesurteile des Sondergerichts München 1938–1945, 2012. – Daneben stehen die Aufsätze von Thomas Guttmann, Der Fall Erna Huber: eine Giesingerin vor dem Sondergericht München. In: Unter den Dächern von Giesing, München 1993, S. 75–77; Andreas Heusler, Ausbeutung und Disziplinierung. Zur Rolle des Münchner Sondergerichts und der Stapoleitstelle München im Kontext der nationalsozialistischen Fremdarbeiterpolitik. In: forum historiae iuris, (veröffentlicht am 15. Januar 1998) (aufgerufen am 17.02.2021); Peter Hüttenberger, Heimtückefälle vor dem Sondergericht München: 1933‒1939. In: Anton Grossmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit (4). Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. Teil C, herausgegeben von Anton Grossmann, München 1981, S. 435–526.
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was freilich nicht zwingend heißt, dass den Aktenregesten des Sondergerichts München nicht zudem das Potential innewohnt, Resistenz auch im Bildungsbürgertum, im Klerus oder im Adel als ein Phänomen historisch fassbar werden zu lassen, das über das mehr oder weniger heroische Agieren einiger Weniger hinausgeht. Bei der Bearbeitung aller dieser Fragestellungen eröffnet die Digitalisierung des Repertoriums Forschungswege, die ohne Computer-Unterstützung so nicht möglich wären – sei es in Form einer makroskopischen Gesamtschau56 oder von Einzelforschungen zu bestimmten soziokulturellen oder -ökonomischen Gruppen, deren jeweilige Einzelakteure aus dem Repertorium systematisch und valide herauszufiltern mithilfe einer Datenbank in vielen Fällen überhaupt erst zuverlässig möglich werden wird. Dies betrifft alle jene Arten von Gruppenzugehörigkeiten, welche über Berufe oder soziokulturelle und lokale Verortungen, die allein in den Registerbänden zu den Sondergerichts-Aktenregesten erfasst sind, hinausgehen, z.B. Adel oder akademische Bildungshintergründe. In diesem Sinne kann eine systematische Auswertung der Inventare des NS-Sondergerichts München auch einen grundlegenden terminologischen und epistemologischen Beitrag dazu leisten, historische Beschreibungskategorien nicht zuletzt auch im wissenschaftsgeschichtlichen Interesse kritisch zu prüfen57 und gegebenenfalls neu empirisch zu begründen, darunter die eher der Frühneuzeitforschung entlehnten Begriffe der „Devianz“ und „Nonkonformatität“, das seit den 1980er-Jahren zunächst von Alf Lüdtke formulierte und um die Jahrtausendwende von Thomas Lindenberger v.a. im Rahmen der zeithistorischen Aufarbeitung der DDR wieder aufgegriffene Modell des „Eigen-Sinns“, oder das von Martin Broszat in den 1970er-Jahren geprägte Begriffspaar von „Widerstand“ und „Alltag“.58 Der Begriff wurde erstmals 1975 durch den französischen Biologen und Unternehmer Joël de Rosnay geprägt. (Vgl. Ders., The Symbiotic man: a new understanding of the organization of life and a vision of the future, New York 2000) und ist unter anderem von Shawn Graham – Ian Milligan – Scott B. Weingart, Exploring big historical data. The historian’s macroscope, London 2016, sowie von Matthew Lee Jockers, Macroanalysis: Digital Methods and Literary History, Urbana 2013 aufgegriffen worden. 57 Vgl. als Beitrag zu diesem Fragezusammenhang jetzt auch: Christian Meyer, (K)eine Grenze: Das Private und das Politische im Nationalsozialismus 1933–1940 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 123), Berlin-Boston 2020, S. 119–150. 58 Zur Forschungskontroverse um Broszats Konzepte vgl. zuletzt Norbert Frei (Hrsg.), Martin Broszat, der „Staat Hitlers“ und die Historisierung des Nationalsozialismus (Vorträge und Kolloquien / Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts 1), Göttingen 2007. – Eine monographische Auseinandersetzung mit Broszats Leben, Werk und Umfeldern, 56
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Dies gilt in ähnlicher Weise für die Reichweite und Tragfähigkeit von Konzepten wie „Repression“ und „Verfolgung“. Für die Erforschung der Sondergerichtsbarkeit ist dies alleine schon deshalb fundamental, weil das Regime die primär politischen Akte von Resistenz der breiteren Bevölkerung in der für den Nationalsozialismus charakteristischen perfiden Weise mit „normaler“ krimineller Delinquenz auf eine Stufe stellte, indem beides, je länger die Diktatur und dann der Krieg dauerte, vor das Sondergericht gebracht wurde. Dies betrifft insbesondere die Bedeutung des „Widerstand“ als eines Phänomens des „Alltags“ (so Martin Broszats Begrifflichkeit) im „Dritten Reich“, die das Inventar durchdringt. Wie viele der vor dem Sondergericht München verhandelten bzw. von der Staatsanwaltschaft verfolgten „Fälle“, die das Repertorium dokumentiert, waren wirklich bewusste und reflektierte Akte des „Widerstands“, wie ihn die „großen“ Akteurinnen und Akteure des deutschen Widerstands von vornherein im Sinne einer „Ehrenrettung“ des deutschen Volkes vor der Welt und vor der Geschichte in mehr oder weniger monumentaler Absicht und Ausführung praktizierten? In dieser Hinsicht zog ja noch vor seinem Zusammenbruch das NS-Regime selbst eine recht klare Trennlinie, indem es diejenigen Widerstandsaktivitäten, die es gerade auch in geistig-moralischer und weltanschaulicher Weise als besonders bedrohlich für die eigene Ordnung erachtete, in aller Regel eben nicht vor einem jeweils dem Oberlandesgerichtsbezirk zugeordneten Sondergericht zur Anklage bringen ließ, sondern vor jener Kammer, die in den 1930er-Jahren, zunächst ebenfalls als Sondergericht eingerichtet, der obersten Instanz des deutschen Justizsystems, also dem Reichsgericht zugeordnet worden war – dem berüchtigten Volksgerichtshof. Die aus Münchener Perspektive prominentesten Aktivistinnen und Aktivisten des Widerstands – Georg Elser, die Geschwister Scholl, Professor Kurt Huber und andere Mitglieder der „Weißen Rose“ –, wurden, wie später auch die Männer des 20. Juli 1944, eben vor dem Volksgerichtshof angeklagt und verurteilt,59 der im Februar 1943 eigens kurzfristig in München und nicht etwa auch in biographischer Form, stellt ein wichtiges Desiderat der Geschichte der Geschichtswissenschaften dar. 59 Hans Scholl war als Wehrdienstleistender 1937/38 im Zusammenhang mit seinem Engagement in der bündischen Jugend in ein Strafverfahren vor dem Sondergericht Stuttgart verwickelt, das im Zuge der sogenannten „Großdeutschlandamnestie“, einer allgemeinen Amnestie nach dem Anschluss Österreichs vom April 1938, eingestellt wurde. In der Forschung wird diese Konfrontation mit dem NS-Unrechtsregime als entscheidender Punkt in Richtung einer Wende Hans Scholls gegen den Nationalsozialismus gesehen, vgl. Ul-
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an seinem angestammten Standort Berlin tagte ‒ später sogar an verschiedenen Orten in den eher ,,provinziell“ geprägten Teilen des eigentlich dem Münchener Sondergericht zugehörigen Sprengels. Letzteres etwa bei der Verhandlung des Falles von Hans Leipelt, der am 13. Oktober 1944 in Donauwörth zum Tod verurteilt wurde und nicht vor dem Sondergericht München.60 Vor diesem wurden dann freilich sogenannte Weiße-RoseFolgeprozesse gegen Unterstützer verhandelt. So fand etwa am 13. Juli 1943, dem Tag der Exekution Kurt Hubers und Alexander Schmorells,61 rich Herrmann, Vom HJ-Führer zur Weißen Rose. Hans Scholl vor dem Stuttgarter Sondergericht 1937/38. Mit einem Beitrag von Eckard Holler über die Ulmer „Trabanten“ (Materialien zur historischen Jugendforschung), Weinheim-Basel 2012, sowie Robert M. Zoske, Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose. Eine Biographie, München 2018, S. 77–101; Barbara Beuys, Sophie Scholl. Biografie, Frankfurt am Main 2021, S. 152 f. (dort auch Erwähnung der kurzzeitigen Verhaftung Sophie Scholls durch die Gestapo im Zuge der Ermittlungen gegen Hans Scholl Ende 1937), zum Prozess und zur Einstellung des Verfahrens S. 157 f.; Quellen editiert bei: Robert M. Zoske, Sehnsucht nach dem Lichte – Zur religiösen Entwicklung von Hans Scholl. Unveröffentlichte Gedichte, Briefe und Texte, München 2014, S. 94–101. – Der enge Freund der Geschwister Scholl, der Philosophiestudent und Lyriker Ernst Reden (1914–1942) wurde jedoch im selben Prozess zu drei Monaten Gefängnis verurteilt; zu ihm jetzt Jörg Hannes Kuhn, Im Schatten der Rose. Ernst Reden, Schöngeist, Lyriker, Schriftsteller. Ein kurzes jungenschaftliches Leben (Veröffentlichungen des NS-Dokumentationszentrums Köln 5), Berlin 2021. – Dem Sondergerichtsprozess gegen Reden und Scholl stand Hermann Albert Cuhorst vor (vgl. Beuys, wie oben, S. 167); zu ihm vgl. Wolfgang Proske, „Blutrichter schlimmster Sorte“. Hermann Cuhorst: * 22.7.1899 in Ellwangen, † 5.8.1991 in Kressbronn, Jurist, Senatspräsident am Oberlandesgericht Stuttgart und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart. In: Ders. (Hrsg.), Täter, Helfer, Trittbrettfahrer, Bd. 1: NS-Belastete von der Ostalb, 2. Auflage, Reutlingen 2016, S. 53–58. 60 Leipelt, Student der Chemie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und über seine Mutter teils jüdischer Herkunft, wird von der Weiße-Rose-Forschung neben und mit den Geschwistern Scholl, Willi Graf, Kurt Huber, Christoph Probst und Alexander Schmorell als maßgebliche Einzelpersönlichkeit eingeordnet. – Zu seinem Widerstand sowie zum Volksgerichtshofs-Prozess und -Urteil am 13. Oktober 1943 in Donauwörth vgl. etwa Benz, Im Widerstand (wie Anm. 3) S. 343–349; Jürgen Zarusky, Hans Leipelt – Widerstand und Verfolgung. In: Hans-Ulrich Wagner – Marie-Luise Schultze (Hrsg.), Hans Leipelt und Marie-Luise Jahn – studentischer Widerstand in der Zeit des Nationalsozialismus am Chemischen Staatslaboratorium der Universität München, München 2003, S. 30–33; Michael C. Schneider – Winfried Süss, Keine Volksgenossen. Studentischer Widerstand der Weißen Rose, München 1993, S. 39–41; Christian Petry, Studenten aufs Schafott. Die Weisse Rose und ihr Scheitern, München 1968, S. 143. 61 Inge Scholl, Die weiße Rose, Frankfurt am Main (zuerst 1952), erweiterte Neuausgabe 1982 u.ö., S. 89 und 158; Christiane Moll, Die Weiße Rose. In: Peter Steinbach – Johannes Tuchel (Hrsg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin 1994, S. 443–467, hier 443.
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die Verhandlung gegen Harald Dohrn, Manfred Eickemeyer, Wilhelm Geyer und Josef Söhngen vor dem Sondergericht München statt.62 Zu einer systematischen Auswertung des Quellenbestands kann die Digital History eine ganze Bandbreite von spezifischen Verfahren wie die klassische Datenanalyse, die digitale Vernetzung verschiedener Quellenkorpora, die Anreicherung der Datenbasis mit z.B. Geoinformation sowie Methoden der explorativen Visualisierung beisteuern. So können Korpus-immanente Datenanalysen etwa die Frage klären helfen, inwieweit sich die Art der vor dem Sondergericht München verhandelten Delikte und die Schwere der Strafen innerhalb des Zeitraums 1933 bis 1945 veränderten.63 Gibt es erkennbare Cluster in der Anklageerhebung, die sich mit bestimmten sozialen Gruppen, kulturellen, religiösen oder auch regionalen Milieus sowie Alterskohorten decken? Veränderte sich die Schwere der für ein Delikt ausgesprochenen Strafen über die Zeit? Lassen sich soziale Merkmale der Angeklagten und Schwere des Urteils (darunter Freisprüche!) korrellieren? Ist eine Verschärfung („Nervosität“) in für das NS-Regime kritischen Zeitabschnitten erkennbar, etwa nach der Niederlage in Stalingrad? Die nachhaltige Perspektive, die unser Modell über die in den Aktenregesten des Repertoriums der 1970er-Jahre erfassten Merkmale hinaus eröffnet, würde es zu einem späteren Zeitpunkt auch zulassen, aus den Originalakten des Sondergerichts München weitere Personen zu erheben, die im Inventar von Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns und Institut für Zeitgeschichte nicht erfasst worden sind. Die Möglichkeiten einer solchen Auswertung beruhen in starkem Maße auch auf der Methode des Vergleichs. So lässt sich nicht nur die Frage nach Clustern innerhalb der Überlieferung mit der danach verbinden, ob bestimmte Personengruppen gemessen an der Gesamtbevölkerung überrepräsentiert sind. Hier bilden die entsprechenden Zensus-Erhebungen der 1930er-Jahre für Bayern und das Reich eine wichtige Bezugsgröße.64 Weitere wichtige Bezugsgrößen bilden Widerstand und Verfolgung (wie Anm. 8) Bd. 3.5, S. 1723; Inventarnummer (8321). Vgl. – wenn auch mit deutlich kleinerem Datenbestand – zum Volksgerichtshof: Wayne Geerling – Gary B. Magee – Russell Smyth, Sentencing, Judicial Discretion, and Political Prisoners in Pre-War Nazi Germany. In: Journal of Interdisciplinary History 46 (4) (2016) S. 517–542. DOI: 10.1162/JINH_a_00903, sowie (älter): Holger Schlüter, Die Urteilspraxis des nationalsozialistischen Volksgerichtshofs (Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft 86), Berlin 1995. 64 Statistisches Reichsamt (Hrsg.), Die Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 456,3 : Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1933. 27. Land Bayern, Berlin 1936. – Statis62 63
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mit Sicherheit übergreifende gruppenbezogene Studien wie sie etwa zu römisch-katholischen Geistlichen bereits vorliegen.65 Weiter lassen sich durch die Anreicherung mit Geodaten der letzten Aufenthaltsorte der angeklagten Personen regionale Vergleichsanalysen in puncto Resistenz und Verfolgung zwischen 1933 und 1945, z. B. bezüglich möglicher Gegensätze zwischen (Groß-)Stadt und Land oder zwischen historisch und kulturell ganz unterschiedlich vorgeprägten Regionen innerhalb des Jurisdiktionsbezirkes des Sondergerichtes München durchführen. Auch im Rahmen einer historischen Georeferenzierung kann eine Verknüpfung der aus dem Repertorium gewonnenen Forschungsdaten mit anderen geschichtswissenschaftlich relevanten und geographisch darstellbaren Datenbeständen erfolgen, z. B. in Form eines Datenabgleichs mit Reichstags- bzw. Landtagswahlergebnissen der Weimarer Zeit. Diese und eine darauf aufbauende Visualisierung könnten etwa bei der Klärung der Frage helfen, ob in Orten und Gegenden, die in der Weimarer Republik als „Hochburgen“ bestimmter Parteien fungierten, während der NS-Zeit ein erhöhtes Maß an Resistenz bzw. Verfolgung vorlag und da, wo die NSDAP früh hatte reüssieren können, ein signifikant niedrigeres. Jenseits des synchronen Vergleichens eröffnet der diachrone Vergleich neue interdisziplinäre Kooperationsräume, darunter allen voran mit der Rechtsgeschichte. Gewinnversprechend ist hier der Blick auf das Phänomen der Sondergerichtsbarkeit im Allgemeinen und ihr Verhältnis zur ordentlichen Jurisdiktion. So waren Sondergerichte keine genuine Erfindung des Nationalsozialismus – erinnert sei etwa an die von 1918 bis 1924 bestehenden „Volksgerichte“ in Bayern als eine Form der Sonderund Standgerichtsbarkeit,66 die im Sinne einer Moyenne Durée (Fernand tisches Reichsamt (Hrsg.), Die Statistik des Deutschen Reichs, Band 453,1–3: Berufszählung. Die berufliche und soziale Gliederung der Bevölkerung des Deutschen Reichs, Berlin 1936: Heft 1: Einführung in die Berufszählung. Systematische und alphabetische Verzeichnisse der Berufszählung 1933; Heft 2: Die Erwerbstätigkeit der Reichsbevölkerung; Heft 3: Die Erwerbspersonen und die beruflosen Selbständigen nach Alter und Familienstand. 65 Ulrich von Hehl – Christoph Kösters (Bearb.), Priester unter Hitlers Terror. Eine biographische und statistische Erhebung (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A: Quellen 37), 4., durchgesehene und ergänzte Auflage, Paderborn u.a. 1998. 66 Franz J. Bauer – Eduard Schmidt, Die Bayerischen Volksgerichte 1918–1924; das Problem ihrer Vereinbarkeit mit der Weimarer Reichsverfassung. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 48 (1985) S. 449–478. – Martin Löhnig – Mareike Preisner, Zwei Geschichten über die Bayerischen Volksgerichte. In: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 34 (2012) S. 43–68.
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Braudel) die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen aufwerfen. Wie unterschieden sich etwa die in den frühen 1920er-Jahren vor den bayerischen „Volksgerichten“ sowie die in den frühen 1930er-Jahren von republikanischer Sondergerichtsbarkeit betroffenen Personen von den Angeklagten in der Zeit zwischen 1933 und 1945? Wie verändern sich die verhandelten Delikte? Wandelte sich auch hier die Schwere der Strafen im Laufe der Zeit? Darüber hinaus wirft das Material die naheliegende Frage nach Revision und Fortgeltung von Urteilen des Sondergerichts München nach dem Ende der NS-Diktatur auf, die im Repertorium durch die Beschränkung auf das Jahr 1945 als Ende des Betrachtungszeitraums keine Antwort findet, die aber aus der Aktenüberlieferung des Sondergerichts durchaus herausgelesen werden kann. Parallel dazu bietet sich in Verbindung mit weiteren Beständen und Ressourcen in den bayerischen Staatsarchiven und im Institut für Zeitgeschichte die Frage nach personellen Kontinuitäten in den Justizbehörden über die historischen Einschnitte der Jahre 1933 und 1945 hinweg sowie deren Umgang mit der eigenen Rolle in der NSDiktatur67 als Untersuchungsgegenstand an.68 Neben der naheliegenden Auswertung solcher eher sozialgeschichtlicher Merkmale kann auch die Dogmengeschichte vom Blick in die Justizpraxis, wie sie sich in der Überlieferung spiegelt, profitieren ‒ sei es durch die Betrachtung des bislang wenig erforschten Phänomens der Beteiligung von Laien und nicht-richterlichen Akteuren an Sondergerichtsverfahren,69 sei Hierzu jetzt grundlegend: Markus Materna, Richter der eigenen Sache. Die „Selbstexkulpation“ der Justiz nach 1945, dargestellt am Beispiel der Todesurteile bayerischer Sondergerichte, Baden-Baden 2021. 68 Arnd Koch – Herbert Veh (Hrsg.), Vor 70 Jahren ‒ Stunde Null für die Justiz? Die Augsburger Justiz und das NS-Unrecht, Baden-Baden 2017. – Martin Löhnig, Die Justiz als Gesetzgeber. Zur Anwendung nationalsozialistischen Rechts in der Nachkriegszeit (Rechtskultur Wissenschaft 1), Regenstauf 2010. – Martin Löhnig, Neue Zeiten ‒ Altes Recht. Die Anwendung von NS-Gesetzen durch deutsche Gerichte nach 1945 (Zeitgeschichte im Gespräch 24), Berlin 2017. 69 Zur Zusammensetzung der Richtergremien an den Sondergerichten im Nationalsozialismus vgl. zusammenfassend Blumberg-Ebel (wie Anm. 53) S. 40–46. Demnach entschieden die 1933 wieder errichteten Sondergerichte zunächst „in der Besetzung von drei Berufsrichtern […], die dem Landgericht angehörten, an dem das Sondergericht gebildet wurde[.] Vorsitzender Richter war üblicherweise ein Landgerichtsdirektor[.] Beisitzende Richter waren Land- oder Amtsgerichtsräte, aber 1939 auch Assessoren.“ Damit war ab dem Jahr des Kriegsbeginns auch nicht-richterlichen Juristen, wenn auch nicht „Laien“ im juristischen Sinn, die Beteiligung am Zustandekommen von Sondergerichtsurteilen ermöglicht. Vgl. außerdem Hannes Ludyga, Die Todesurteile des Oberlandesgerichts Mün67
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es durch die Untersuchung, inwieweit Elemente der ordentlichen Strafprozessordnung in die Praxis der Sondergerichtsbarkeit Einzug hielten. Unter stärker geschichtswissenschaftlichem Blickwinkel können Vernetzungen mit weiteren einschlägigen digitalisierten und noch zu digitalisierenden historischen Quellenkorpora, vielversprechende Einblicke in die Geschichte von Diktatur, Verfolgung und Resistenz in Deutschland und Europa 1933 bis 1945 bieten. Bestehende, vor allem prosopographische Datenbanken zur Geschichte von Verfolgung, Widerstand und Resistenz im Nationalsozialismus, mit denen eine Vernetzung der angereicherten Inventare des Sondergerichts München von großem Wert wäre, sind etwa die Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer, der Holocaust Martyrs‘ and Heroes‘ Remembrance Authority Israels in Yad Vashem oder die Dokumente und die Personendatenbank der Kritischen Online-Edition der Tagebücher Michael Kardinal von Faulhabers (1911‒1952),70 die auch mehrere Fälle erfasst, in denen Priester und Ordensleute vor dem Sondergericht München standen.71 Methoden wie jene der historische Netzwerkforschung, die in den vergangenen Jahren ausgesprochen gewinnbringend gerade für die Geschichte von Resistenz, Widerstand und Verfolgung in
chen im 2. Weltkrieg. In: Journal der Juristischen Zeitgeschichte 9,2 (2015) S. 58–63, hier S. 59–61. – Zur Vorgeschichte vgl. Martin Löhnig, Entwicklungslinien in der strafprozessualen Laienbeteiligung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. In: Gerald Kohl – Ilse Reiter-Zatloukal (Hrsg.), Laien in der Gerichtsbarkeit – Geschichte und aktuelle Perspektiven, Wien 2019, S. 285–304. – Eine Darstellung der Entwicklung der Sondergerichtsbarkeit einschließlich Laienrichter und Schöffenbeteiligung bei Astrid Lilie-Hutz, Akteneinsichtsrecht für Schöffen. Insbesondere bei Verständigungen in Umfangsverfahren, Frankfurt a.M. u.a. 2017, S. 33–42. 70 Das Kooperationsprojekt des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, des Lehrstuhls für mittlere und neuere Kirchengeschichte in der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und des Archivs der Erzdiözese München und Freising wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen eines Langfristprojekts gefördert. https://www.faulhaber-edition.de (aufgerufen am 27.1.2021). 71 Dass, wie das Inventar dokumentiert, die für das Sondergericht München zuständige Münchener Staatsanwaltschaft auch zweimal gegen Kardinal von Faulhaber ermittelte, scheint in der bisherigen Faulhaber-Historiographie, so kontrovers diese Diskussion im Hinblick auf seine Rolle im Nationalsozialismus geführt wird, bislang unberücksichtigt geblieben zu sein. Die beiden Ermittlungsverfahren mit den Inventarnummern (2178) (Laufzeit 3. Mrz. 1938–20. Okt. 1939) und (2253) (Laufzeit 8. Mrz. 1938–21. Nov. 1938), beide eingeleitet wegen expliziter kritischer Predigtäußerungen des Kardinals gegen das NSRegime, wurden allerdings beide infolge der allgemeinen Amnestie von 1939 eingestellt.
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der NS-Zeit angewandt worden ist,72 versprechen auch hier neue Einblicke. Neben strukturierten Datenbeständen und serieller archivalischer Überlieferung ist schließlich auf eine reiche Überlieferung von in informatischem Sinn unstrukturierten Informationen hinzuweisen. Neben privaten Archiven und Nachlässen ist hier besonders an bereits veröffentlichte Selbst- und Fremdzeugnisse von Opfern und gegebenenfalls auch Tätern der juristischen Praxis des Sondergerichts München zu denken, die in einer durchaus bemerkenswerten Zahl vorliegen. Mit Blick auf die Prozessbeobachter kämen nicht nur zeitgenössische Pressetexte infrage, sondern auch nachträgliche Zeitzeugenberichte.73 Linda von Keyserlingk-Rehbein, Nur eine „ganz kleine Clique?“. Die NS-Ermittlungen über das Netzwerk vom 20. Juli 1944 (Schriften der Gedenkstätte Deutscher Widerstand 12), Berlin 2018. – Marten Düring, Verdeckte soziale Netzwerke im Nationalsozialismus: Die Entstehung und Arbeitsweise von Berliner Hilfsnetzwerken für verfolgte Juden, Berlin 2015. 73 Ein frühes Beispiel dafür bietet Otto Gritschneder, Pater Rupert Mayer vor dem Sondergericht, München-Salzburg 1965. – Gritschneder (1914–2005) hatte als Referendar im bayerischen Justizdienst 1937 den Prozess mitstenographiert, der vor dem Sondergericht München „wegen kritischer Predigtäußerungen über Gemeinschaftsschulen, Strafverfahren gegen Geistliche und den NS“ gegen den 1987 von der römisch-katholischen Kirche seliggesprochenen Jesuitenpater Rupert Mayer (1876–1945) geführt und in dem Mayer zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden war. Es handelt sich um den Fall mit der Inventarnummer 1423, vgl. Archivinventare, Bd. 3, Teil 1, S. 277. – In actu brachte Gritschneder seine Prozessmitschrift schließlich selbst in Schwierigkeiten mit dem NSRegime, denn die Mitschrift wurde beschlagnahmt, Gritschneder verhört und diesem 1939 die Zulassung als Anwalt verweigert „[w]egen gänzlich staatsabträglichen Wesens, vollkommen klerikal und jesuitisch, unaufrichtig, durchtrieben, einem Nationalsozialisten von Grund auf zuwider“; vgl. Heribert Prantl, RA Otto Gritschneder gestorben. In: Mitteilungen der Rechtsanwaltskammer München II/2005, S. 20, dokumentiert unter http://protest-muenchen.sub-bavaria.de/artikel/1608 (aufgerufen am 27.1.2021). Nach 1945 wurde Gritschneder aus einer außeruniversitären Position als Rechtsanwalt heraus zu einem Vorreiter der Aufarbeitung der Geschichte des „Hitler-Putsches“ von 1923 sowie der NS-Justiz, mithin auch und gerade der Sondergerichtsbarkeit in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zu Rupert Mayers Sondergerichtsprozess zuletzt Wolfgang Benz, Jesuiten im Widerstand. Alfred Delp und Augustin Rösch. In: Peter Kern (Hrsg.), Alfred Delp – Ein Zeugnis, das bleibt. Zum 75. Todestag. In: Alfred-Delp-Jahrbuch 11 (2020) S. 298–311, hier S. 301. – Alfred Delp S.J. (1907–1945), späteres Mitglied des Kreisauer Kreises, wurde, während sein Ordensbruder Mayer in Untersuchungshaft saß, in der Münchener St.-Michaelskirche vom Münchener Erzbischof Kardinal Michael von Faulhaber zum Priester geweiht, nämlich am 24. Juni 1937, vgl. Andreas Battlog, Alfred Delp – aufgebrochen im Angesicht des Todes. In: Alfred-Delp-Jahrbuch 7 (2013), S. 15–29, hier S. 21. – Zur Mayer-Rezeption nach 1945, nicht nur jener Gritschneders, vgl. 72
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Zusammenfassung Die Archivinventare zum Sondergericht München (1933–1945) entstanden Mitte der 1970er Jahre im Rahmen des Forschungsprojektes „Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933‒1945“ als eine Kooperation zwischen dem Institut für Zeitgeschichte und der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns. Derzeit werden sie als Teil einer universitären Kooperation von einem Team des Lehrstuhls für Digital Humanities der Universität Passau in eine Datenbank überführt. Das Ziel des Projekts ist dabei nicht nur die Digitalisierung der von den Inventaren repräsentierten Datenbasis, die eine weitere Verarbeitungsstufe der Überlieferung des Sondergerichtes bzw. der zuständigen Staatsanwaltschaft darstellt. Vielmehr zielt des Projektes gleichermaßen darauf ab, wiederverwertbare, nachhaltige Digitalisierungsworkflows zu entwickeln, die gleichermaßen OCR, Informationsextraktion und die Erzeugung strukturierter Daten einschließen.
neuerdings auch den Beitrag des maßgeblichen Mitorganisators der vor-digitalen Erfassung der Münchener Sondergerichtsakten in den 1970er-Jahren, Hermann Rumschöttel, Pater Rupert Mayer (1876–1945). Rezeption, Verehrung und Kult nach 1945. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 80 (2017) (= Kirche – Religion – Staat. Walter Ziegler zum 80. Geburtstag), Teil 2, S. 547–564, bes. S. 548 ff.
Aktuelle Herausforderungen für öffentliche Archive – eine zuversichtliche Zwischenbilanz Von Beat Gnädinger Die Herausforderungen, mit denen öffentliche Archive konfrontiert sind, waren wohl noch nie so vielfältig und komplex wie heute. Die archivische Arbeit war aber auch noch nie so spannend. Und die Chancen, für anstehende Probleme gute Lösungen zu finden, stehen heute wohl besser denn je, zumindest in wohlhabenden Ländern, dank jahrzehntelanger wirtschaftlicher Prosperität, dank viel Know-how, dank selbstverständlicher Weitergabe von Wissen über alle Grenzen hinweg, dank breiter Kooperationen. Im vorliegenden Artikel wird versucht, die wichtigsten archivischen Tätigkeitsfelder aus der aktuellen Sicht eines großen Schweizer Archivs zu skizzieren.1 G e s e t z l i c h e Gr u n d l a g e n In den 1990er Jahren entstanden in der Schweiz die ersten modernen Regelwerke für Archive auf Gesetzesniveau. Die Kantone Basel-Stadt2 und Zürich3 sowie der Bund4 machten den Anfang. Die meisten anderen Kantone sind seither gefolgt5, jüngstes Beispiel ist der Kanton Thurgau6. Geregelt werden in den Archivgesetzen insbesondere die Anbietepflicht, die Schutzfristen und die Pflicht der Archive, die ihnen anvertrauten Unterlagen langfristig zu bewahren und zugänglich zu machen. Inzwischen umfassen die Gesetze auch Vorschriften, die sich spezifisch auf digitale Ich danke meinen Kollegen Thomas Neukom und Christian Sieber herzlich für ihre Anregungen und die kritische Durchsicht dieses Artikels. 2 https://www.gesetzessammlung.bs.ch/app/de/texts_of_law/153.600/versions/3497 (aufgerufen am 10.2.2021). 3 http://www.zhlex.zh.ch/Erlass.html?Open&Ordnr=170.6,24.09.1995,01.01.1999,083 (aufgerufen am 10.2.2021). 4 https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/354/de (aufgerufen am 10.2.2021). 5 Eine Übersicht über die gesetzlichen Grundlagen von Bund und Kantonen findet sich unter https://www.adk-cda.ch/archivrecht/ (aufgerufen am 10.2.2021). 6 https://staatsarchiv.tg.ch/de/benutzung/gesetzliche-grundlagen.html/879 (aufgerufen am 10.2.2021). 1
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Daten beziehen. Im gleichen Erlass oder – häufiger – in separaten Gesetzen sind jeweils die Bestimmungen zur Informationsverwaltung, zum Datenschutz und zum Öffentlichkeitsprinzip (Transparenzgebot) festgehalten. Diese Regeln müssen in den nächsten Jahren verfeinert und vertieft werden. Zudem wird es darum gehen, die bestehenden Regeln zu den Berufsgeheimnissen, insbesondere im Bereich Medizin, auf die Archivgesetze abzustimmen und so die Anbietepflicht für Unterlagen öffentlicher Organe mit den strafgesetzlichen Bestimmungen zur Wahrung der Berufsgeheimnisse zu vereinbaren. Die Professionalität der öffentlichen Archive im Umgang mit besonderen Personendaten und die geltenden Schutzfristbestimmungen gewährleisten eine derartige Vereinbarkeit. Es geht deshalb hauptsächlich darum, den nötigen politischen Willen zur Formulierung entsprechender Gesetzesbestimmungen zu mobilisieren. Offen ist, ob dafür die kantonalen Erlasse revidiert werden sollen, oder ob ein Vorbehalt im Strafgesetzbuch genügt, um künftig die Berufsgeheimnisse und die Anbietepflicht grundrechtskonform abzustützen.7 Immer wieder tauchen Klagen auf über die Vielfalt der archivischen Grundregeln in der Schweiz. Im einen Kanton gilt für besondere Personendaten eine Schutzfrist von 100 Jahren, im anderen von 80 – und beim Bund ist es wieder anders. Sachlich lassen sich nur die Unterschiede zwischen Bund und Kantonen erklären: Die meisten staatlichen Vollzugsaufgaben liegen bei den Kantonen (und den Gemeinden, die in den meisten Fällen der kantonalen Archivgesetzgebung unterstehen), weshalb der überwiegende Teil an besonderen Personendaten dort anfällt. Auf Stufe des Bundes gibt es dagegen kaum Gesundheitsdaten und nur wenig besondere Personendaten aus dem Sozial- oder Justizbereich. Das mag erklären, warum der Bund relativ kurze Schutzfristen für besondere Personendaten vorsieht. Die Unterschiede zwischen den Kantonen sind hingegen allein dem föderalistischen Staatssystem geschuldet. Entsprechend nachvollziehbar ist, dass sich Forscherinnen und Forscher, aber auch andere Archivnutzerinnen und -nutzer, etwa Betroffene von staatlichen Zwangsmassnahmen, die auf der Suche sind nach Akten über die eigene Person, über den bunten Flickenteppich beklagen, den antrifft, wer in mehreren Kantonen Archivunterlagen konsultieren will.
Ein Vorschlag zur Ergänzung von Artikel 321, Absatz 3, des Schweizerischen Strafgesetzbuchs, https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/54/757_781_799/de#art_321 (aufgerufen am 10.2.2021), befindet sich zurzeit in Diskussion. 7
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Es wäre aber kaum zielführend, deshalb schweizweit einheitliche Schutzfristen anzustreben. Sinnvoller scheint eine Harmonisierung der kantonalen Gesetze, insbesondere der Schutzfristen, auf freiwilligem Weg. Eine Möglichkeit wäre, dass die Schweizerische Archivdirektorinnen- und Archivdirektorenkonferenz ADK8 ein Mustergesetz erarbeitet, an dem sich die Kantone (und idealerweise auch der Bund) im Rahmen künftiger Gesetzesrevisionen orientieren. Mittelfristig wäre so wohl ein Harmonisierungseffekt zu erzielen. Ein Bereich, der in den nächsten Jahren intensiv zu diskutieren sein wird, betrifft Digital Born Data und digitale Ausprägungen analoger Originale. Aktuell sind in Bezug auf deren Publikation zwei grundsätzliche Haltungen zu beobachten: Die einen Archive generieren sogenannte Dissemination Information Packages (DIPs), also Daten für die Kundschaft, nur auf Bestellung. Wenn wir recht sehen, sind diese Archive aktuell noch in der Mehrheit. Die anderen Archive, darunter das Staatsarchiv des Kantons Zürich, stellen alle digitalen Daten, die keinen Schutzfristen mehr unterliegen, proaktiv und voraussetzungslos online zur Verfügung – also, in Anlehnung an die OAIS-Begrifflichkeit, sozusagen als Public Information Packages (PIPs) und wenn möglich und sinnvoll auch als Open Government Data (OGD). Damit schaffen wir für digitale Daten einen wesentlichen Mehrwert im Vergleich zu analogen Daten außerhalb der Schutzfrist: Wer will, kann jederzeit mit den digitalen Archivdaten arbeiten; eine Bestellung erübrigt sich. Wir sind überzeugt, dass es richtig ist, wenn die Archive diese Möglichkeit zur Nutzung digitaler Daten proaktiv schaffen. Nicht nur kommen wir damit dem Transparenzgebot nach (das nach Zürcher Recht gleich zu gewichten ist wie der Datenschutz), sondern wir zeigen auch, wieviel Archivdaten dazu beitragen können, staatliche Abläufe nachvollziehbar und verständlich zu machen. Nach unserer Einschätzung haben die Archive hier eine grosse Chance, die sie nutzen sollten, umso mehr, als Qualität und Echtheit ihrer Daten unbestritten sind. Öffentliche Behördendaten (Open Government Data/OGD) werden zurzeit in immer größeren Mengen ins Netz gestellt, zumeist von jenen öffentlichen Organen, die sie produziert haben.9 Archive sollten die Online-Verfügbarkeit dieser Daten über den Tag hinaus gewährleisten, also ab dem Moment, in dem sie in ihre Zuständigkeit übergehen. Und sie könVgl. https://www.adk-cda.ch/home/ (aufgerufen am 10.2.2021). https://www.zh.ch/de/politik-staat/opendata.html?keyword=ogd#729645844 (aufgerufen am 10.2.2021). 8 9
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nen diese Daten sukzessive ergänzen durch „historische Rückverlängerungen“. Das Staatsarchiv Zürich hat das in den letzten Jahren gemacht mit den Beschlüssen und Protokollen von Parlament10 und Regierung11 und mit den Gesetzen12. Gegenwärtig arbeiten wir an der Online-Publikation des Amtsblatts. Alle vier Serien gehen zurück bis an ihre Anfänge, also bis ins frühe 19. Jahrhundert. Die Nachfrage nach diesen Daten ist hoch und steigt weiter. Rückverlängerungen in die Frühe Neuzeit sind denkbar und unter Umständen sinnvoll. Aber auch die Aufwertung zahlloser anderer Datenkategorien kann von den Archiven auf diesem fast unbeschränkt erscheinenden Spielfeld ins Auge gefasst werden, immer nach dem Motto: Was keiner Schutzfrist mehr unterliegt und digital verfügbar ist oder mit Gewinn verfügbar gemacht werden kann, gehört als Public Information Package (PIP) aufs Netz. Ba u l i c h e In f r a s t r u k t u r Eine gute bauliche Infrastruktur für analoge Unterlagen auf- und auszubauen, ist für Archive anspruchsvoll; sie gehören bekanntlich nicht zu den machtvollsten Stakeholdern im (urbanen) öffentlichen Raum. Trotzdem ist es zentral, sich in dieser Hinsicht durchzusetzen. Denn ein Wesenskern öffentlicher Archive besteht darin, zu wachsen und zu wachsen, zumindest solange der Rechtskörper, dem sie angehören und für dessen Überlieferung sie verantwortlich sind, besteht und funktioniert. Das heißt: Archive müssen langfristig über qualitativ und quantitativ genügende Raumreserven verfügen, um ihren Auftrag zu erfüllen, denn dieser besteht unter anderem darin, einmal archivierte Unterlagen für unbeschränkte Zeit vorzuhalten, und zwar in ihrer originalen Form.13 Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts konnten in manchen Kantonen der Schweiz in sehr unterschiedlichen räumlichen Kontexten grosse Archivbauprojekte realisiert werden, etwa in der Waadt, in Schwyz, Nidwalden, https://www.archives-quickaccess.ch/search/stazh/krp (aufgerufen am 10.2.2021). https://www.archives-quickaccess.ch/search/stazh/rrb (aufgerufen am 10.2.2021). 12 https://www.archives-quickaccess.ch/search/stazh/os (aufgerufen am 10.2.2021). 13 Zu Fragen und Herausforderungen im Bereich Archivbau vgl. etwa den Tagungsband zum 68. Südwestdeutschen Archivtag 2008 in Ulm „Archive im (räumlichen) Kontext. Archivbauten und ihr Umfeld“ (https://www.landesarchiv-bw.de/media/full/69745, aufgerufen am 10.2.2021) oder zum 78. Südwestdeutschen Archivtag 2018 in Augsburg „Das Archivmagazin – Anforderungen, Abläufe, Gefahren“ (https://www.landesarchiv-bw.de/media/ full/70679, aufgerufen am 10.2.2021). 10 11
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Luzern, Zug, Baselland, im Tessin, im Aargau, im Thurgau oder im Wallis. In anderen Kantonen sind Projekte in Planung oder stehen vor der Umsetzung, etwa in St. Gallen oder Basel-Stadt. Das Staatsarchiv Zürich, als Institution im heutigen Sinn geschaffen 1837, war bis 1982 in wechselnden, unterschiedlich geeigneten Räumlichkeiten untergebracht. Dann erst konnte der erste Archivzweckbau des Kantons bezogen werden. Er entsprach den aktuellen Anforderungen an ein modernes Archiv, stieß aber schon in den 1990er Jahren an seine Kapazitätsgrenzen. 2007 wurde ein Erweiterungsbau in Betrieb genommen. Die bewährte Grundkonzeption von Bau 1 wurde in Bau 2 beibehalten: Magazine im Untergrund, Publikumsräume im Erdgeschoss, Arbeitsräume für die Belegschaft im ersten Obergeschoss. Aus Hochrechnungen, die in den späten Nullerjahren angestellt wurden, ergab sich, dass ein nächster Erweiterungsbau innerhalb von rund zehn Jahren in Betrieb zu nehmen war. Auch Bau 3, der 2019 eröffnet werden konnte, weist dasselbe Grundkonzept auf wie die beiden Vorgänger. Zusätzliche Elemente sind neben erweiterten Werkstätten für die Restaurierung und Arbeitsräumen für die Erschließung mehrere klimatisierte Seminarräume für die Arbeit von Gruppen (insbesondere aus Hochschulen und Gymnasien) mit Originalakten sowie Spezialmagazine für audiovisuelle Archivalien und für weitere Unterlagen mit besonderen Anforderungen an das Raumklima, etwa Pergamenturkunden. Aus politischen Gründen wurde Bau 1 des Staatsarchivs seinerzeit auf dem neu geschaffenen Universitätscampus Irchel realisiert: Die Suche nach anderen Standorten in der Stadt war jahrzehntelang ergebnislos geblieben. Und das Projekt, auf das schließlich alle Hoffnungen ausgerichtet wurden, scheiterte 1975 in einer Volksabstimmung14, weil für den Archivneubau knapper Wohnraum hätte geopfert werden müssen. Der Kanton konzentrierte sich daraufhin auf Lösungen, die ohne erneute Volksabstimmung umgesetzt werden konnten: Trotz Bedenken („Viel zu entlegen!“) entschied er sich für einen Standort, der sich bereits in seinem Eigentum befand.
https://www.zh.ch/de/politik-staat/wahlen-abstimmungen/abstimmungsarchiv.html?vorlage id=1645 (aufgerufen am 10.2.2021). – Volksabstimmungen über Archivbauprojekte haben es keineswegs generell schwer in der Schweiz. In den Kantonen Thurgau und Basel-Stadt fanden in den letzten Jahren entsprechende Vorlagen komfortable Mehrheiten, ebenso wie jüngst im Kanton St. Gallen. 14
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Im Nachhinein erwies sich der aus der Not geborene Entscheid als Glücksfall: Auf dem gewählten Gelände gab es viel Platz, nicht nur für die Universität, sondern auch für das verhältnismäßig kleine kantonale Archiv. Und im Rahmen einer umfassenden Gebietsplanung, die 2013 einsetzte, zeigte sich, dass auch künftig genug Platz bleiben wird für alle Nutzungen, trotz massiv gestiegenem Bedarf der Universität und des Staatsarchivs und trotz akzentuierter Ansprüche der anderen Stakeholder, insbesondere der Vertretungen von Naturschutz und verschiedener Freizeitnutzungen der angrenzenden Grünflächen.15 Im Rahmen der Gebietsplanung wurden für das Staatsarchiv parallel zur Realisierung von Bau 3 Landreserven für künftige Bauetappen gesichert. Das aktuelle Ensemble besteht aus drei Gebäuden aus unterschiedlichen Epochen, die nahtlos verbunden sind, die sich ideal ergänzen und die zusammen eine architektonisch gelungene Einheit bilden. Diese Stärke wird auch in Zukunft bewahrt werden können, obwohl noch nicht präzise feststeht, wann und mit welchem Raumprogramm ein Bau 4 in Betrieb gehen wird. Antworten auf diese Fragen werden sich aus den Entwicklungen der nächsten Jahre ergeben. Sie hängen ab vom Verlauf des sogenannten Digital Turn (Wie entwickeln sich die Anteile von digitalen und analogen Ablieferungen an der Gesamtüberlieferung, wie deren Volumen?), von den Erfordernissen der Bearbeitung von Unterlagen und Daten (Welchen Raumbedarf entwickeln Erschließung, Konservierung und Restaurierung?) und von den künftigen Ansprüchen der verschiedenen Kundengruppen (Welche Individuen und welche Gruppen arbeiten künftig in welcher Form im Archiv?). Offen ist zudem, wie sich der Druck von außen entwickeln wird. Im Rahmen der Gebietsplanung Irchel ging die Universität davon aus, dass sich ihre Zahl der Studierenden bis 2050 verdoppeln wird. Inzwischen hat die Covid-19-Pandemie so manche Realität verändert, auch diejenige des Präsenzunterrichts an Hochschulen. Zurzeit ist daher unklar, welchen Revisionen die Kapazitätsplanung für die Hörsäle in den nächsten Jahren unterzogen wird.
Vgl. dazu zuletzt die Medienmitteilung des Kantons Zürich zum bevorstehenden Abschluss des Planungsprojekts unter https://www.zh.ch/de/news-uebersicht/medienmitteilungen/2021/02/campus-irchel-kantonaler-gestaltungsplan-legt-basis-fuer-entwicklung-in-hoherqualitaet.html (aufgerufen am 10.2.2021). 15
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In f r a s t r u k t u r f ü r d i g i t a l e Pr i m ä rd a t e n Zusätzlich zu ihren klassischen Pflichten in baulicher Hinsicht haben die Archive seit einigen Jahren die Aufgabe, eine langfristig stabile Infrastruktur für digitale Daten zu spezifizieren, aufzubauen und zu betreiben. Das ist zwar politisch weniger anspruchsvoll als die Realisierung herkömmlicher Archivzweckbauten, aber dafür unter vielen anderen Gesichtspunkten herausfordernd: Wer soll das digitale Archiv betreiben – das Archiv selbst, die IT des Kantons, eine andere öffentlich-rechtliche Körperschaft oder ein privater Anbieter? Wie kann ein optimales Kosten-Nutzen-Verhältnis erzielt werden? Welche Sicherheitslevels, welches Backup-Modell, welche Zugriffsgeschwindigkeiten sind angemessen? Mitunter kann es hilfreich sein, bei der Suche nach Antworten auf „digitale Fragen“ auf unsere langen Erfahrungen im Umgang mit analogen Daten zurückzugreifen: Die Archivierung staatlicher Unterlagen ist eine öffentliche Aufgabe, die wesentliche Berührungsflächen mit Fragen der Grundrechtsgewährung aufweist. Es will deshalb gut abgewogen sein, wer für die Lagerung, Kontrolle und Pflege von Daten öffentlicher Organe – die zu wesentlichen Teilen über lange Zeit sensibel sind – und für die Gewährung des Datenzugriffs zuständig und in der Lage sein soll. Die Delegation der gesamten Aufgabe an private Anbieter ist jedenfalls aus unserer Sicht kaum angemessen. Vielmehr sollte der Staat in möglichst vielen denkbaren Situationen fähig sein, seine Daten zu kontrollieren, auf diese zuzugreifen und sie bei Bedarf zur Verfügung zu stellen, und sei es zur Not auch nur in roher Form. Generell wichtig bei der Wahl eines bestimmten digitalen Speichersystems sind Aspekte, die zunächst durchaus banal erscheinen: Das System sollte so konfiguriert sein, dass es sich jederzeit ohne großen Aufwand ablösen lässt. Einfache, offene Systeme lassen sich besser pflegen als komplizierte. Der Erfahrungsaustausch mit anderen Archiven hilft. Der Kanton Zürich hat sich per Anfang 2021 entschieden, dem DIMAG-Verbund Schweiz beizutreten und damit eine Speicherlösung für digitale Daten aufzubauen, die weitgehend von staatlichen Akteuren entwickelt wurde und von diesen nun gemeinsam betrieben und gepflegt wird.16 Wichtig für diesen Entscheid war auch, dass das Modell explizit vorsieht, Vgl. https://www.zh.ch/de/news-uebersicht/medienmitteilungen/2020/11/digdatazh-kantonzuerich-tritt-archivverbund-dimag-schweiz-bei.html (aufgerufen am 10.2.2021). 16
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anderen öffentlichen Organen im eigenen Hoheitsgebiet zu guten Konditionen Zugang zu dieser Lösung zu gewähren. Die Zürcher Gemeinden haben uns schon vor Jahren gebeten, bei der Suche nach einer Speicherlösung für den Kanton ein Modell zu verfolgen, das auch sie nutzen können. Diesem Wunsch sind wir gern und mit Überzeugung nachgekommen: Es macht keinen Sinn, wenn die vielen staatlichen Akteure im gleichen Kanton auf diesem Feld separat operieren, weder aus Sicht der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler noch aus Sicht der Archivkundschaft.17 Archivische Hauptprozesse Ohne stabile gesetzliche und infrastrukturelle Grundlagen ist es kaum möglich, die archivische Wertschöpfungskette gut zu bewirtschaften. Aber auch deren Kettenglieder sind alle zwingend nötig, brauchen eine Mindeststärke und müssen gut zusammenarbeiten, damit ein Archiv seinen Auftrag erfüllen kann. Überlieferungsbildung Das Aufgabenspektrum der Überlieferungsbildung umfasst schon lange nicht mehr nur die Sicherstellung der regelmäßigen Ablieferung von Unterlagen, die von den produzierenden Dienststellen nicht mehr benötigt werden, sowie deren Bewertung und Übernahme. Vielmehr erstreckt sie sich spätestens seit den 1990er Jahren auch auf die Mitarbeit an der Spezifikation, Beschaffung und Pflege von Informationssystemen, auf die Definition von Exportschnittstellen aus produktiven Systemen, auf die Entwicklung von Ablieferungsstandards und auf Fragen des Datenschutzes. In einem föderalistisch organisierten Staat sind die Spezialistinnen und Spezialisten dieses archivischen Arbeitsbereichs zudem damit befasst, sich kantonsübergreifend und mit den anderen staatlichen Ebenen abzusprechen in Bezug auf die Bildung von Überlieferungsschwerpunkten. Die angemessene Mitsprache bei der Spezifikation und Beschaffung von Informationsverwaltungssystemen ist ein Tätigkeitsgebiet, in dem sich Archive inzwischen seit einem guten Vierteljahrhundert bewegen. Bezüglich Form und Umfang der entsprechenden Rolle gibt es keine harten Regeln; Zum Projekt DigDataZH vgl. https://www.zh.ch/de/politik-staat/kanton/kantonaleverwaltung/digitale-verwaltung/digitalisierungsprojekte.html#-972206455 (aufgerufen am 10.2.2021). 17
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zu unterschiedlich sind die Umfelder, die Vorgaben und praktischen Realitäten in den verschiedenen Verwaltungen. In einigen Kantonen ist es den Archiven gelungen, sich eine Schlüsselposition zu erarbeiten: Alle anbietepflichtigen Organe arbeiten mit einem zentralen Geschäftsverwaltungssystem. Die Organe müssen ihre geschäftsrelevanten Unterlagen in einem Aktenplan ablegen, der zusammen mit dem zuständigen Archiv erarbeitet und von diesem abgesegnet wird. Es bestehen Bewertungs- und Aussonderungsregeln, die durch Exportschnittstellen technisch gestützt sind. Praktische Erfahrungen mit Aussonderungen aus produktiven Systemen und mit der Überführung von Daten in die Hoheit des Archivs bestehen. Die archivische Ablieferungsschnittstelle gemäss dem Standard eCH-016018 wird eingesetzt. Manche Kantone, so auch Zürich, sind noch nicht in allen Punkten am Ziel. Unsere Verwaltung ist immer noch geprägt von einer (über-)großen Systemvielfalt, und bestehende Systeme werden von den Dienststellen teilweise eifersüchtig vor einer Ablösung geschützt. Ablieferungen aus Altsystemen müssen teilweise als mühsame Einzelübungen abgewickelt werden. Die Beschaffung von Nachfolgesystemen nimmt nicht immer den Verlauf, der aus Archivsicht optimal wäre. Immerhin ist seit einigen Jahren der politische Wille der Regierung spürbar, die IT-Landschaft mit zentralen Grundregeln zu strukturieren und effizienter zu machen.19 Mit sogenannten Impulsprogrammen wird dieser Wille zurzeit umgesetzt. Ein Impulsprogramm hat zum Beispiel die koordinierte Ausbreitung der verwaltungsinternen elektronischen Geschäftsabwicklung zum Ziel.20 Das Grundkonzept sieht vor, künftig nur noch Geschäftsverwaltungssysteme und Fachapplikationen einzusetzen, die in der Lage sind, auf einer zentralen Datenhaltung aufzubauen. Auch bezüglich Datenschutz sind in der Schweiz wichtige Fortschritte zu verzeichnen. Die Differenzen zwischen den Datenschutzverantwortlichen und den Archiven konnten in den letzten Jahren in wesentlichen Punkten diskutiert und abgebaut werden. Inzwischen besteht grundsätzlich Konsens bezüglich der Schritte, die öffentliche Organe tun müssen, wenn https://www.ech.ch/de/standards/39187 (aufgerufen am 10.2.2021). https://www.zh.ch/de/politik-staat/kanton/kantonale-verwaltung/digitale-verwaltung.html und https://www.zh.ch/de/politik-staat/kanton/kantonale-verwaltung/digitale-verwaltung/iktstrategie.html (beide aufgerufen am 10.2.2021). 20 Impulsprogramm 6.6; zum Gesamtprogramm vgl. https://www.zh.ch/bin/zhweb/publish/ regierungsratsbeschluss-unterlagen./2020/326/Impulsprogramm_2020.pdf (aufgerufen am 10.2.2021). 18
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sie ihrer Pflicht zur rechtmäßigen Informationsverwaltung nachkommen wollen: Alle produzierten Informationen unterliegen der Anbietepflicht. Bevor Daten gelöscht werden können, müssen sie vom zuständigen Archiv bewertet werden. Dieses legt die dauernd überlieferungswürdige Teilmenge fest, und es wird vereinbart, wann diese in die Hoheit des Archivs übergeht. Die Restmenge muss vom öffentlichen Organ kontrolliert gelöscht werden.21 Für die Archive ist dabei wichtig, der Bewertung weiterhin eine zentrale Bedeutung zuzumessen, nicht nur, um den Anforderungen des Datenschutzes zu genügen, sondern auch, um die Menge der überlieferten Informationen in Grenzen zu halten: Auch in digitaler Form sind Informationen nur dann sinnvoll nutzbar, wenn sie gut erschlossen sind und nachvollziehbar bleibt, in welchem Kontext sie überliefert wurden. Das gleiche Ziel verfolgen die schweizerischen Archive, wenn sie sich absprechen bei der Überlieferung. Das Grundmuster ist einfach: Der Bund gibt den Rahmen für die meisten Vollzugsaufgaben der Kantone vor. Damit ist er zuständig für die Überlieferung der entsprechenden „Rahmenunterlagen“. Für die Überlieferung der eigentlichen Vollzugsakten sind dagegen die Kantone oder die Gemeinden zuständig. Bei vielen staatlichen Aufgaben heißt das heute in der Praxis, dass der Bund den zuständigen Akteuren das IT-System für die Erfüllung der Vollzugsaufgabe zur Verfügung stellt. Dabei wurde es bisher in manchen Fällen versäumt, einwandfreie gesetzliche Grundlagen für die Archivierung zu schaffen. Aktuell arbeitet die ADK deshalb daran, eine Stelle zu bezeichnen, die auf diesem weiten Feld die Überlieferung zwischen den Kantonen und dem Bund koordiniert und im Rahmen von konkreten Projekten abwickelt: Wer archiviert welche Unterlagen zum Bau und zum Unterhalt von Nationalstraßen? Wo werden welche Einwohnerdaten gespeichert? Welche Kantone dokumentieren in welcher Dichte das Arbeitslosenwesen? Dutzende staatliche Tätigkeitsbereiche müssen diesbezüglich noch geregelt werden. Prädestiniert für eine effiziente Koordination ist die Koordinationsstelle für die dauerhafte Archivierung elektronischer Unterlagen KOST.22
Vgl. https://www.adk-cda.ch/rahmendokumente/ (aufgerufen am 10.2.2021). Zum aktuellen Stand der Arbeiten vgl. https://kost-ceco.ch/cms/18-038-gt-sit_de.html (aufgerufen am 10.2.2021), 21 22
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Erschließung Nur wenn die Überlieferungsbildung ihr Kerngeschäft – Aktenangebote strikt zu bewerten und Ablieferungen mit möglichst vollständigen Metadaten ins Archiv zu bringen – gut erledigt, kann die Aktenerschließung ihrerseits ihre Hauptaufgabe – Ablieferungen detailliert und qualitativ hochstehend zu verzeichnen und sie damit zu Archivbeständen aufzuwerten – effizient erfüllen. Diese Aufgabe bleibt zentral, auch in den kommenden Jahrzehnten, umso mehr, als gute Verzeichnungsdaten unerlässlich sind für neue Erschließungsformen wie Linked Data oder Records in Context. Bis Anfang des 21. Jahrhunderts hat das Staatsarchiv des Kantons Zürich von zahlreichen anbietepflichtigen Organen Akten übernommen, für deren Erschließung keine Ressourcen vorhanden waren. Dadurch bildeten sich bis 2006 „Erschließungsreserven“ im Umfang von gut 12 Laufkilometern. Personelle Aufstockungen in drei Phasen (2007, 2011, 2019) erlaubten es, die Restanzen auf inzwischen knapp 9 Kilometer zu reduzieren. Gleichzeitig haben wir Erschließungsstandards entwickelt, die wir auf alle Bestände anwenden. Sie gewährleisten eine homogene Erschließungstiefe (in der Regel auf Stufe Geschäft) und eine einheitlich hohe Qualität der erarbeiteten Findmittel.23 Die Steigerung der Erschließungsqualität ging aber teilweise zulasten eines schnellen Abbaus der Restanzen. Im Rahmen des Projekts Evaluation neuer Erschließungspraktiken ENEP prüfen wir nun, wie wir unsere Prozesse ohne Abstriche an der Qualität weiter verbessern können und welche digitalen Hilfsmittel sich eignen, um analoge (Massen-) Bestände schneller zu erschließen. Das Spektrum reicht vom Einsatz von Handschriftenerkennungs-Software bis zu neuen Modellen der Arbeitsteilung. Ein wichtiges Ziel des Projekts ist es, die teilweise ermüdende serielle Arbeit der Archivarinnen und Archivare wo immer möglich an Maschinen zu delegieren. Seit einigen Jahren erarbeiten wir zudem Grundlagen für die Aufbereitung von digitalen Ablieferungen. Bis zur produktiven Inbetriebnahme des digitalen Magazins (voraussichtlich 2023) lagern wir diese noch in einem digitalen Zwischenarchiv. Formal haben die Ablieferungen unterschiedlichste Qualität: Fileablagen, Exporte in teilweise veralteten Formaten, Submission Information Packages (SIPs) nach aktuellen Standards; Das Staatsarchiv Zürich publiziert sein Erschliessungshandbuch in regelmässig aktualisierter Form. Vgl. https://www.zh.ch/de/direktion-der-justiz-und-des-innern/staatsarchiv. html#907593388 (aufgerufen am 10.2.2021). 23
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die Vielfalt ist auch in diesem Bereich groß. Auf der Basis der neuen Erschließungsregeln werden wir das digitale Zwischenarchiv sukzessive auflösen und die erschlossenen Bestände ins digitale Magazin überführen. Na c h e r s c h l i e ß u n g Analoge und digitale Bestände weisen verschiedene Gemeinsamkeiten auf. Eine wichtige ist, dass einmal erhobene Erschließungsdaten eine Halbwertszeit haben. Was Archivarinnen und Archivare in Bezug auf ihre Altbestände schon lange wissen, wird sich künftig auch in Bezug auf digitale Bestände zeigen: Erschließung ist eine Daueraufgabe. Wer seine Erschließungsaufgabe gut erfüllt, schreibt ein Findmittel, das jahrzehntelang, vielleicht auch einmal ein ganzes Jahrhundert genügt. Aber spätestens dann bedarf nicht nur das Findmittel selbst, sondern auch der Bestand einer Überarbeitung, um die Ansprüche des aktuellen Publikums weiterhin zu erfüllen. Das Staatsarchiv Zürich hat 2007 eine eigene Abteilung Editionsprojekte eingerichtet, um seine zentralen Serien und Dokumente – die Protokolle von Parlament und Regierung, die Gesetze, das Amtsblatt sowie zentrale Quellen der Vormoderne – als maschinenlesbare Volltexte aufzubereiten und diese online zugänglich zu machen. Diese Projekte wurden zu wesentlichen Teilen mit studentischen Kräften in befristeten Anstellungen und mit Sonderkrediten realisiert. Im Rahmen der Debatte zum Projekt Amtsblatt hat das Zürcher Kantonsparlament aber deutlich signalisiert, dass für die Bewältigung solcher Aufgaben künftig nicht mehr Sonderkredite zu beantragen, sondern ordentliche Steuermittel zu verwenden sind: Die Aufbereitung und Online-Publikation zentraler Bestände gehört demnach inzwischen zu den ordentlichen Aufgaben eines öffentlichen Archivs – und nicht mehr länger zu den Nice-to-have-Aufgaben.24 Mittlerweile heißt deshalb die entsprechende Abteilung im Staatsarchiv Zürich nicht mehr „Editionsprojekte“, sondern „Nacherschließung und Digitalisierung“ (NED). Ihre Hauptaufgabe ist die dauernde Optimierung des Zugriffs auf Altbestände im umfassenden Sinn und nach aktuellen Kriterien. Die Abteilung NED hat 2020 erhoben, welche vormodernen Bestände besonders dringend einer Aufbereitung bedürfen. Nicht überraschend hat Vgl. zum Kantonsratsgeschäft https://www.kantonsrat.zh.ch/geschaefte/geschaeft/?id=d712 743260a54facb99d62c2c58d3778 (aufgerufen am 10.2.2021) mit Link zum entsprechenden Protokoll. 24
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sich dabei gezeigt, dass das einerseits Bestände sind, die von der Kundschaft besonders intensiv genutzt werden. Anderseits geriet bei den Erhebungen nicht ein Bestand, sondern das zentrale Findmittel der Verwaltung des alten Zürcher Stadtstaats in den Fokus, das sogenannte Weisse Register aus dem 18. Jahrhundert25. Wenn es uns gelingt, dieses detaillierte und in sich gut erschlossene Opus Magnum nach aktuellen Standards maschinenlesbar zu machen, wird unsere Kundschaft künftig ein hoch elaboriertes Wegweiser- und Stichwortsystem für den Zugang zu unseren alten Beständen in digitaler Form zur Hand haben. Eine wichtige Rolle bei der Arbeit der Abteilung NED spielt die Plattform Transkribus26 mit der im Rahmen des Horizon 2020-Projekts READ der EU27 entwickelten Handschriftenerkennungs-Software als Herzstück. Das Staatsarchiv Zürich war an diesem Projekt mit den Transkriptionsdaten der Zürcher Regierungsbeschlüsse aus dem 19. Jahrhundert als sogenannter Large Scale Demonstrator beteiligt. Inzwischen ist Transkribus, das auf der Basis von künstlicher Intelligenz ständig weiterentwickelt wird und von READ-COOP, einer Genossenschaft nach dem Recht der Europäischen Gemeinschaft getragen wird, bei zahllosen Institutionen und Forschenden erfolgreich im Einsatz. Ku n d e n d i e n s t e Sämtliche Arbeiten, die ein öffentliches Archiv leistet, dienen letztlich demselben vornehmen Zweck: die Unterlagen, für die es verantwortlich ist, zugänglich zu machen, damit sich alle Berechtigten (und so bald wie möglich immer die gesamte Öffentlichkeit) aufgrund der überlieferten Unterlagen ein eigenes Bild machen können von der Tätigkeit der betreffenden Organe. Brückenbauer zwischen den archivischen Beständen und den Anspruchsgruppen sind die Kundendienste. Sie müssen den genannten Grundsatz praktisch umsetzen, ohne damit individuelle schützenswerte Interessen zu verletzen. Die Archive haben es hier also mit verschiedenen Grundrechten zu tun, die in direkter und unauflösbarer Konkurrenz zueinander stehen
Das Weisse Register hat seinen Namen von der Farbe des Schweinsleders, in das seine Bände eingebunden sind. 26 https://readcoop.eu/transkribus/ (aufgerufen am 10.2.2021). 27 https://cordis.europa.eu/project/id/674943/de (aufgerufen am 10.2.2021). 25
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und die so gegeneinander abgewogen werden wollen, dass jedem Rechnung getragen wird.28 Technisch gesehen haben die Kundendienste verschiedensten Ansprüchen zu genügen, die in der Summe stark wachsen. Die angestammte Kundschaft will weiterhin das, was sie schon immer bekam, die jüngere Kundschaft will möglichst vieles digital, im Idealfall durchsuchbare Volltexte. Andere neue Anspruchsgruppen, zum Beispiel individuell von staatlichem Handeln Betroffene (fürsorgerische Zwangsmassnahmen, Adoptionen), nutzen die Dienste der schweizerischen Archive seit einigen Jahren in stark erhöhtem Maß. Spezifische weitere Kundensegmente, zum Beispiel Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, werden, entsprechend den Vorbildern in den Nachbarländern, auch von den schweizerischen Archiven inzwischen mit archivpädagogischen Angeboten vermehrt proaktiv angesprochen. Die rechtliche Bedeutung staatlicher Quellen soll so auch der nächsten und der übernächsten Generation vermittelt werden, einer Generation, die nicht mehr geprägt ist von politisch klar positionierten Printmedien, sondern von flüchtigen Datenträgern und Stimmungslagen in den Social Media. Insgesamt zeigt die heutige Kundschaft ein gemischtes Bild: Die traditionelle, analoge Archivnutzung besteht weiterhin; die Nachfrage nach zusätzlichen digitalen Angeboten steigt stark an. Und in beiden Bereichen tauchen neue Kundengruppen mit spezifischen Anliegen auf, die unseren Alltag bereichern. Von einem Handlungsfeld, das oben schon angesprochen wurde, sind die Kundendienste direkt betroffen: Welche digitalen Daten werden in welchem Moment öffentlich verfügbar gemacht? Das Staatsarchiv Zürich vertritt hier eine klare Position und wird diese in den nächsten Jahren an den eigenen digitalen Beständen prüfen: Alle Daten, auf denen keine Schutzfrist mehr liegt, werden voraussetzungslos online zugänglich gemacht. Damit wird bei uns die Generierung von sogenannten Dissemination Information Packages (DIPs) weitgehend entfallen; diese müssen nur noch dann erzeugt werden, wenn Informationen vor Ablauf der Schutzfrist verfügbar gemacht werden. Für den ganzen großen Rest gilt: Das Archival Vgl. dazu etwa Beat Gnädinger – Eliane Schlatter, Individuelle und öffentliche Interessen in Konkurrenz. Die neue Schutzfristenregelung des Kantons Zürich – Ausgangslage und Lösungsansatz. In: Schutzwürdig. Zu Aspekten des Zugangs bei Archivgut. Beiträge der Frühjahrstagung der Fachgruppe Staatliche Archive des VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e. V. am 23. April 2012 in Speyer, hrsg. von Elsbeth Andre und Clemens Rehm (Unsere Archive, Beiheft 3), Koblenz 2013, S. 9–17. 28
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Information Package (AIP) wird im Moment des Ablaufs der Schutzfrist zum öffentlich zugänglichen Information Package, das nicht mehr als DIP, sondern als Public Information Package (PIP) bezeichnet werden kann. Beständeerhaltung Zahlreiche Schweizer Archive sind in Bezug auf eigenes Fachpersonal für Konservierung und Restaurierung stark unterdotiert. Dieser Befund ist bedenklich, denn Unterlagen und Informationen, deren Lesbarkeit nicht gewährleistet ist, sind für ein Archiv nutzlos. Die Zeitbomben, die unter unseren Füssen ticken, sind eigentlich bekannt: Naturkatastrophen, Schimmel, allerlei Getier und Tintenfraß bedrohen Archivalien seit jeher; im späten 19. Jahrhundert kam der Zerfall säurehaltigen Papiers dazu. Einigermassen ordentliche Lagerungsbedingungen für Pergament und Papier genügen also eigentlich schon lange nicht mehr zur Entschärfung unserer Erhaltungsprobleme. Aber zusätzlich haben wir uns inzwischen auch um audiovisuelle und digitale Daten zu kümmern, die langfristig zu bewahren zusätzliches Fachwissen und zusätzliche Mittel erfordert. So gesehen kann ein Archiv, das nicht genügend Kapazitäten hat, um das „physische Wohl“ seiner Bestände zu gewährleisten, seinen Auftrag nicht erfüllen. Der Ausbau der Personalressourcen im Staatsarchiv Zürich in den Jahren 2007, 2011 und 2019 erstreckte sich deshalb in wesentlichem Umfang auch auf die Kräfte in Restaurierung und Konservierung. 2007 wurde eine eigene Abteilung Beständeerhaltung geschaffen. Diese steht seither gleichberechtigt neben den archivischen Abteilungen; in Restaurierungs- und Konservierungsfragen sind die Kadermitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Beständeerhaltung gegenüber den Archivfachleuten weisungsbefugt. Mitunter war es anspruchsvoll, den politischen Entscheidträgerinnen und -trägern klar zu machen, dass die Erhaltung analoger Archivbestände mit der Digitalisierung nicht obsolet wird. Aber die verlockend einfache Überlegung, sämtliches Archivgut zu digitalisieren und sich so aller physischen Probleme und aller Lagerkosten für immer zu entledigen, wird zum Glück immer seltener angestellt. Denn inzwischen ist allseits bekannt, dass „Digitalisierung“ kein einmaliger Akt ist, sondern hohe Kosten mit sich bringt, die zudem erst noch dauernd wiederkehren. Deshalb gilt: Die Digitalisierung von analogen Beständen kann sich lohnen und manchen Zusatznutzen bringen, vor allem dann, wenn das Archiv selbst bestimmt, welche Archivalien – im Staatsarchiv Zürich sind das die zentralen Serien und Dokumente – digitalisiert werden, statt nur auf die Kundennachfrage zu
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reagieren, die naturgemäß immer punktuell ist. Digitalisate multiplizieren die Verfügbarkeit von Information und die Suchmöglichkeiten und tragen zur Schonung der Originale bei. Aber sie können diese niemals ersetzen. Die Abteilung Beständeerhaltung plant und realisiert ihre Projekte in der Regel zusammen mit den Abteilungen Aktenerschließung sowie Nacherschließung und Digitalisierung. Diese Praxis bewährt sich sehr. In den letzten 15 Jahren konnten viele Laufkilometer erschlossen bzw. nacherschlossen und gleichzeitig konservatorisch oder restauratorisch aufbereitet werden. Das gilt auch für zahlreiche Bestände aus dem 20. Jahrhundert, die bekanntlich nicht selten durchsetzt sind mit audiovisuellen Unterlagen oder mit großformatigen Plänen. In den nächsten Jahren wird sich das Team Medien und Daten, das bisher hauptsächlich für audiovisuelle Daten zuständig war, immer mehr auch um Records Keeping kümmern, also um die langfristige Pflege der digitalen Daten. Eigenes Know-how bauen wir seit Jahren auf, und wir arbeiten seit jeher eng mit der KOST zusammen, die in der Schweiz die Kräfte in diesem Wissensbereich bündelt, einerseits in konkreten Projekten29, anderseits im Katalog archivischer Dateiformate30, den die Zürcher Regierung für die kantonalen Dienststellen für verbindlich erklärt hat und der inzwischen auch über die Landesgrenzen hinaus Beachtung findet. Gemeindearchive Die meisten Schweizer Kantone unterstellen die Archive ihrer Gemeinden der Aufsicht der Staatsarchive, und viele verpflichten diese gleichzeitig zu deren fachlicher Unterstützung, so auch der Kanton Zürich. Unsere Arbeit zugunsten der Gemeinden lässt sich in zwei Hauptteile gliedern: Erstens stellen wir online eine ganze Palette von allgemeinen Hilfsmitteln zur Verfügung, die es einer Gemeinde ermöglichen, ihr Archiv nach fachlichen Kriterien selbst zu führen. In einem Leitfaden sind die Grundregeln zusammengefasst, Musterreglemente, Musteraktenpläne sowie zahlreiche Empfehlungen und Merkblätter stehen zur Verfügung. Zudem bieten wir auf Nachfrage auch individuelle Unterstützung und Beratung.31 https://kost-ceco.ch/cms/project_de.html (aufgerufen am 10.2.2021). https://kost-ceco.ch/cms/kad_main_de.html (aufgerufen am 10.2.2021). 31 https://www.zh.ch/de/politik-staat/wie-behoerden-informationen-verwalten/gemeindearchi ve-fuehren.html (aufgerufen am 10.2.2021). 29 30
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Zweitens bieten wir den Gemeinden an, auf Vertragsbasis alle Dienstleistungen im Bereich Informationsverwaltung Fachleuten anzuvertrauen, die wir anstellen, ausbilden und fachlich auf dem neusten Stand halten. Von diesem Angebot macht eine wachsende Anzahl Gemeinden Gebrauch, aktuell zirka jede fünfte politische Gemeinde im Kanton. Ein Grund dafür ist wohl, dass es viele private Archivdienstleister in den letzten Jahren verpasst haben, ihre Produktepalette an die aktuellen Entwicklungen anzupassen, insbesondere im Bereich digitale Daten. Es ist schwer zu sagen, wie die „Landschaft“ der Gemeindearchive im Kanton Zürich in 20 Jahren aussehen wird und wie sie bewirtschaftet werden wird. Es sind weitere Gemeindefusionen in Diskussion; diese sind in aller Regel mit der Zusammenführung der Archive und einem „Modernisierungsschub“ verbunden. Wie viele Fusionen in welcher Zeit noch über die Bühne gehen werden, ist aber schwer zu sagen. Ebenso schwer ist zu sagen, wie dynamisch sich die Archivdienstleister entwickeln. Einige werden wohl verschwinden, andere werden auftauchen. Ob sie die Gemeinden mit ihrem Angebot überzeugen können, ist offen. Fest steht: Die Gemeinden der Schweiz haben nicht nur eine alte, stolze Tradition und eine entsprechende historische Überlieferung, sondern sie versehen weiterhin zahlreiche Schlüsselfunktionen im föderalen Staat. Zwar gibt es immer wieder Abgesänge auf die kommunale Ebene, aber ernst zu nehmen sind diese deshalb nicht. Im Gegenteil: Die Gemeinden werden ihre Verantwortung – auch diejenige für die eigene Überlieferung – weiterhin wahrnehmen. Und wir unterstützen sie dabei. Bi l a n z Stabile gesetzliche Regeln sowie eine gute bauliche und technische Infrastruktur sind die Basis für die Arbeit öffentlicher Archive. Darauf aufbauend, müssen die Archive ihre Prozesse so gestalten, dass sie möglichst gut ineinandergreifen und miteinander gewährleisten, dass das informationelle Substrat der Tätigkeit „ihres“ Staats langfristig lesbar bleibt, und zwar in den nachgefragten Ausprägungen, aber immer auch im Original.
Historische Authentizität – Echtheits- und Bedeutungszuschreibungen bei Archivgut am Beispiel der „Ostarrichi“-Urkunde1 Von Bernhard Grau Die Frage der historischen Authentizität gewinnt im Zeitalter der Digitalisierung von Staat und Verwaltung auch für die Archive eine neue Bedeutung.2 Das mag überraschen, beschäftigt die Unterscheidung von Original und Fälschung Juristen und Historiker doch schon seit langer Zeit. Im 18. und 19. Jahrhundert führte dies zur Entwicklung einer historisch-kritischen Methode, die heute allgemeine Anerkennung genießt. Die Aufforderung von Frau Dr. Margit Ksoll-Marcon, einen einführenden Beitrag für den Ausstellungskatalog „Original! Pracht und Vielfalt aus den staatlichen Archiven Bayerns“ zu verfassen, führte dazu, dass sich der Autor erstmals eingehender mit der Frage der Authentizitätswahrung bei Archivgut auseinandergesetzt hat. Die Veröffentlichung dieser Festschrift bietet den willkommenen Anlass, die damals aufgestellten und in einem Vortrag auf dem Deutschen Archivtag weiterentwickelten Thesen zu Ehren der Jubilarin, die sich mit dem Thema auch selbst auseinandergesetzt hat, noch einmal zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Siehe dazu Margit Ksoll-Marcon, Authentizität digitaler Archivalien und die Rolle der Provenienz. In: Michael Farrenkopf – Andreas Ludwig – Achim Saupe (Hrsg.), Logik und Lücke. Die Konstruktion des Authentischen in Archiven und Sammlungen, Göttingen 2021, S. 119–129. – Bernhard Grau, „Original“ – Archive und historische Authentizität. In: Original! Pracht und Vielfalt aus den staatlichen Archiven Bayerns. Eine Ausstellung der Staatlichen Archive Bayerns im Bayerischen Hauptstaatsarchiv (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 59), München 2017, S. 11–26. – Ders., Authentizität als Paradigma – Wert und Nutzen der traditionellen archivischen Methoden im digitalen Zeitalter. In: Tobias Herrmann (Redaktion), Verlässlich, richtig, echt. Demokratie braucht Archive! 88. Deutscher Archivtag 2018 in Rostock (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag 23), Fulda 2019, S. 133–144. – Ders., Archiv. In: Martin Sabrow – Achim Saupe (Hrsg.), Handbuch Historische Authentizität, Göttingen 2022 (im Druck). 2 In anderen Kultursparten ist der Begriff der historischen Authentizität zum Teil deutlich früher auf Resonanz gestoßen als im archivwissenschaftlichen Diskurs. Die Leibniz-Gemeinschaft hat zum Thema „historische Authentizität“ zuletzt sogar einen eigenen Forschungsverbund eingerichtet, der von 2013 bis 2021 aktiv war und die Ergebnisse dieser Debatten bilanziert hat. Siehe dazu die entsprechende Unterseite auf der Homepage des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) e.V., https://zzf-potsdam. de/de/forschung/linien/leibniz-forschungsverbund-historische-authentizitaet-2013-2021 (aufgerufen am 12.3.2022). – Siehe auch Martin Sabrow – Achim Saupe (Hrsg.), Historische Authentizität, Göttingen 2016. – Farrenkopf – Ludwig – Saupe (wie Anm. 1). 1
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Allerdings bestehen berechtigte Zweifel daran, dass diese Herangehensweise auch bei elektronischen Unterlagen zu tragfähigen Ergebnissen führt.3 Daran hat auch die Tatsache nichts geändert, dass sich die Archivkommunity nun immerhin schon zwei Jahrzehnte lang mit der Archivierung elektronischer Unterlagen beschäftigt.4 Trotz intensiver theoretischer Debatten und erster praktischer Erfolge bei der Archivierung elektronischer Unterlagen ist nach wie vor nicht abschließend geklärt, ob und inwieweit die traditionellen Methoden der Echtheitsbestimmung auch in die Welt des elektronischen Archivguts übertragen werden können oder ob für Letzteres vollkommen neue Wege der Authentizitätswahrung und Authentizitätsprüfung beschritten werden müssen. Bedenkt man, dass der Aufbau Digitaler Archive und die Schaffung einer daran angeschlossenen Infrastruktur für die Aussonderung und Übernahme elektronischer Verwaltungsunterlagen inzwischen spürbar voranschreiten, erscheint eine Verständigung auf gemeinsame Methoden und Herangehensweisen auf diesem Gebiet mehr als überfällig, da davon auszugehen ist, dass diese ihrerseits Rückwirkungen auf die Übernahmeund Erhaltungspraxis haben dürften. Die Dringlichkeit der Thematik wird durch problematische gesellschaftliche Trends der Gegenwart, die „alternative“ Fakten propagieren, wissenschaftliche Grundannahmen in Frage stellen und etablierte Autoritäten in Misskredit bringen, eher unterstrichen als in Frage gestellt. Zweifel an der Authentizität der in öffentlichen Archiven verwahrten Unterlagen wären ohne Zweifel Wasser auf die Mühlen der sogenannten Querdenker.5 Zu dieser Problematik siehe beispielsweise Peter Haber, digital.past – Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter. In: Heiner Schmitt (Redaktion), Archive im digitalen Zeitalter. Überlieferung – Erschließung – Präsentation. 79. Deutscher Archivtag 2009 in Regensburg (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag 14), Neustadt a.d. Aisch 2010, S. 17–26. – Frank M. Bischoff – Kiran Klaus Patel, Was auf dem Spiel steht. Über den Preis des Schweigens zwischen Geschichtswissenschaft und Archiven im digitalen Zeitalter. In: Zeithistorische Forschungen – Studies in Contemporary History 1 (2020) S. 145–156, URL der Online-Ausgabe: https://zeithistorische-forschungen.de/1-2020/5822 (aufgerufen am 12.3.2022). – Nicola Wurthmann – Christoph Schmidt, Digitale Quellenkunde. Zukunftsaufgaben der Historischen Grundwissenschaften. In: ebd. S. 169–178, URL der Online-Ausgabe: https://zeithistorische-forschungen.de/1-2020/5826. 4 Lorenz Baibl, Blick zurück nach vorn. 20 Jahre elektronische Schriftgutverwaltung aus archivischer Perspektive. In: Archivalische Zeitschrift 95 (2017) S. 113–138. 5 Siehe hierzu jetzt Wolfgang Benz, Querdenken: Protestbewegung zwischen Demokratieverachtung, Hass und Aufruhr, Berlin 2021. – Vgl. Reinhard Stauber, Zum Wert des Originals. In: Archivalische Zeitschrift 97 (2021) S. 121–128, hier S. 126. – Zu den Methoden der Holocaust-Leugner siehe beispielsweise Maria Munzert, Revisionismus / 3
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Um die Festlegung auf gemeinsame Methoden und Kriterien für die Authentizitätsprüfung von digitalen Unterlagen zu befördern, soll im Folgenden versucht werden, an einem keineswegs willkürlich ausgewählten Fallbeispiel Methoden und Merkmale historisch-kritischer Echtheitsuntersuchungen zu bestimmen. Das heißt, es soll gleichsam aus der Nutzerperspektive heraus analysiert werden, welche Merkmale analoger Schriftzeugnisse in der Lage sind, den Beweiswert derselben zu untermauern. Davon ausgehend soll in einem zweiten Schritt darüber reflektiert werden, inwieweit sich dieses Set an Eigenschaften auf elektronische Unterlagen übertragen lässt, so dass es künftigen Nutzern – Wissenschaftlern ebenso wie Familien- und Heimatforschern – als Gradmesser für die Bestimmung von Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit dienen kann. Vorneweg wird dabei auch das Phänomen der Bedeutungs- und Echtheitszuschreibungen in den Blick genommen werden müssen, um sowohl die Mechanismen als auch die Grenzen der historisch-kritischen Methode in die Überlegungen miteinbeziehen zu können. I . Di e O s t a r r i c h i - Ur k u n d e u n d d i e i h r zugeschriebene staatspolitische Bedeutung Vom 26. Oktober bis zum 3. November 2019 war im Haus der Geschichte Österreich in der Wiener Hofburg zehn Tage lang die sogenannte Ostarrichi-Urkunde aus dem Bayrischen Hauptstaatsarchiv zu sehen.6 Die Sonderschau war ohne jeden Zweifel ein Ereignis. Schon am ersten Tag, dem österreichischen Nationalfeiertag zog das Exponat 2723 Besucher an, die aufgrund konservatorisch bedingter Zugangsbeschränkungen allesamt lange anstehen mussten, ehe sie zu dem Original vorgelassen wurden. Folge war, dass sich die Schlange der Neugierigen durch das großzügige Treppenhaus bis weit vor die Hofburg auf den Heldenplatz hinaus erstreckte.7 Auch in den Folgetagen ließ der Zustrom nur wenig nach, so dass das Haus Leugnung des Holocaust. In: Torben Fischer – Matthias N. Lorenz (Hrsg.), Lexikon der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ in Deutschland, Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2009, S. 87–91, hier insbesondere S. 89 f. 6 #Ostarrichi. Die Karriere einer Urkunde, https://www.hdgoe.at/ostarrichi (aufgerufen am 12.3.2022). 7 Hans Kratzer, Lange Schlange für kurzen Besuch. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 249, 28. Oktober 2019, S. R17. – Ann-Katrin Eisenbach – Johannes Moosdiele-Hitzler, Ostarrichi-Urkunde nach Österreich ausgeliehen. In: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 78 (August 2020) S. 5–8, hier S. 7 und 8.
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Ostarrichi-Urkunde vom 1. November 996 (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Hochstift Freising Urkunden 14).
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Besucherschlangen vor der Wiener Hofburg am österreichischen Nationalfeiertag, dem 26. Oktober 2019 (Foto: Bernhard Grau).
der Geschichte Österreich innerhalb weniger Tage insgesamt knapp 8.000 Besucher verzeichnen konnte, ein Besucherrekord für das junge Museum. Dazu hatte auch ein phänomenales Medienecho beigetragen. Kaum eine österreichische Tageszeitung, die nicht über das Ereignis berichtete.8 Dieses Phänomen kam nicht ganz unerwartet, steht sicher nicht einzigartig da, bleibt aber doch ungewöhnlich, zumindest aber erklärungsbedürftig, werden Archivalien doch gerne als „Flachware“ verteufelt, gegenüber Kunstwerken oder dreidimensionalen Objekten geringgeschätzt und von Ausstellungsmachern als museumspädagogisches Problem, ja sogar als
Siehe beispielsweise: Hedwig Kainberger, Ein Original kommt auf Besuch. In: Salzburger Nachrichten, 22. Oktober 2019, S. 8. – Die Ostarrichi-Urkunde schafft eine Nation. In: Wiener Zeitung, 22. Oktober 2019, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/ mehr-kultur/2034875-Die-Ostarrichi-Urkunde-schafft-eine-Nation.html (aufgerufen am 12.3.2022). – Haus der Geschichte zeigt erstmals in Wien „Ostarrichi“-Urkunde. In: Der Standard, 24. Oktober 2019, https://www.derstandard.de/story/2000110284143/haus-dergeschichte-zeigt-erstmals-in-wien-ostarrichi-urkunde (aufgerufen am 12.3.2022). 8
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Der österreichische Bundespräsident Alexander van der Bellen und seine Ehefrau Doris Schmidbauer beim Entpacken der Ostarrichi-Urkunde im Haus der Geschichte Österreich, 25. Oktober 2019 (Foto: Peter Lechner, HBF).
Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein besucht mit dem gesamten Bundeskabinett die Ostarrichi-Sonderschau am 26. Oktober 2019 (Foto: Andy Wenzel, Bundeskanzleramt Wien).
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Kassengift identifiziert.9 Was – so ist deshalb zu fragen – unterscheidet die Ostarrichi-Urkunde von anderen Urkunden, von Akten und Amtsbüchern, von Unterlagen also, die in Archiven massenhaft vorkommen und von Außenstehenden oftmals auch als das angesehen werden, als „Massenware“? Ein Indiz dafür liefert der Tag, an dem die genannte Ausstellung eröffnet wurde, der österreichische Nationalfeiertag! Unverkennbar resultiert die besondere Bedeutung der Urkunde für die österreichische Öffentlichkeit aus der Tatsache, dass in ihr der Name Österreich in seiner althochdeutschen Schreibweise „ostarrichi“ erstmals erwähnt wird. Demzufolge wird das Stück mitunter sogar als „Taufschein“ oder „Geburtsurkunde Österreichs“ bezeichnet. In jedem Fall genießt es aber einen für die Identitätsbildung der immer noch jungen Republik außerordentlich hohen Stellenwert.10 Dieser fand im Rahmen der erwähnten Sonderschau auch dadurch beredten Ausdruck, dass der österreichische Bundespräsident, Alexander van der Bellen, anwesend war, als die Ostarrichi-Urkunde ausgepackt und in die Vitrine eingelegt wurde, und am Nationalfeiertag selbst das interimistische Bundeskabinett unter Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein die Festveranstaltungen mit einem Besuch der Urkunde im Haus der Geschichte Österreich eröffnete. Dem Archivar ist bewusst, dass Ersterwähnungen nicht selten den Anlass für Jubel- und Jahrhundertfeiern bieten, auch wenn dadurch in aller Regel kein Gründungsdatum fixiert wird, vielmehr anzunehmen ist, dass der erstmals erwähnte Ort schon länger existiert haben muss, wird er doch meist in einem Sachzusammenhang genannt, der mit seiner EntsteSiehe beispielsweise Elisabeth Weinberger: Archivausstellungen – nur Flachware? Überlegungen zum Einsatz neuer Medien in der archivischen Öffentlichkeitsarbeit, Vortrag auf den EDV-Tagen 2020 im Haus der Bayerischen Geschichte, file:///C:/Users/HSTA-G~1/ AppData/Local/Temp/Elisabeth_Weinberger.pdf (aufgerufen am 12.3.2022). – Roland Götz, Archive als Partner bei historischen Ausstellungen. In: Archiv in Bayern 11 (2020) S. 35–46, hier S. 43 f. 10 Siehe etwa Werner A. Perger, Ostarrichi. In: Die Zeit, 14. Jg., 31. März 1995, https:// www.zeit.de/1995/14/Ostarrichi (aufgerufen am 12.3.2022). – Gernot Heiss, »Eine Kette von Begebenheiten« – 996/1996. In: Ders. – Konrad Paul Liessmann (Hrsg.), Das Millennium. Essays zu tausend Jahren Österreich, Wien 1996, S. 7–27, hier S. 12 f. – Thomas Jorda, Geburtsstunde des Namens Österreich, NÖN, 11. Mai 2016, https://www.noen. at/niederoesterreich/kultur-festivals/geburtsstunde-des-namens-oesterreich-13440988 (aufgerufen am 12.3.2022). – Dirk Walter, Österreichs Geburtsurkunde in Bayerns Hand. In: Münchner Merkur, Nr. 244, 22. Oktober 2019, S. 16. – Johannes Moosdiele-Hitzler, Ostarrichi-Urkunde begeistert Österreich – Leihgabe des Bayerischen Hauptstaatsarchivs bricht Besucherrekord. In: Archive in München, https://amuc.hypotheses.org/4691 (aufgerufen am 12.3.2022). 9
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hungsgeschichte bestenfalls indirekt zu tun hat.11 So auch im vorliegenden Fall. Bei dem mit dieser Urkunde verbrieften Rechtsgeschäft handelt es sich letztlich um eine Grundstücksübertragung, die für sich betrachtet alles andere als außergewöhnlich war, auch wenn die Verfügungsmasse nach damaligen Maßstäben beachtlich gewesen sein dürfte. Mit Datum vom 1. November 996 überließ Kaiser Otto III. dem Hochstift Freising schenkungsweise Grundbesitz im Umfang von einem Königshof sowie 30 in dessen näherem Umfeld gelegenen Königshufen bei Neuhofen an der Ybbs, in einer Region, die dem Verfasser der Urkunde nach im Volksmund „ostarrichi“ genannt wurde und im Herrschaftsbereich des Markgrafen Heinrich, Sohn des Markgrafen Liutpald, gelegen war.12 Von der Gründung eines wie auch immer gearteten neuen Herrschaftsbereichs mit dem Namen Österreich ist in dem Dokument also nirgends die Rede! Vielmehr ist zu konstatieren, dass mit „ostarrichi“ eine möglicherweise alles andere als trennscharf definierte Region bezeichnet wurde, die allenfalls den Kern des erst viel später, nämlich 1156 ins Leben gerufenen Herzogtums Österreich bildete und auch von der Fläche her sicher nur einen winzigen Ausschnitt der heutigen Republik Österreich bedeckte.13 So gesehen wird schnell klar, dass die Bedeutung, die dieser Urkunde heute beigemessen wird, auf einer Zuschreibung beruht, die mit dem Objekt an sich sowie mit dem darin verbrieften Rechtsgeschäft nur wenig zu tun hat. Mit diesem Wissen wird im Rückblick dann auch schnell deutlich, dass die staunenswerte öffentliche Wahrnehmung dieses Archivales Siehe etwa Ferdinand Kramer, Historisches Jubiläum in einem Dorf. Das Beispiel Untermühlhausen. In: Forum Heimatforschung. Ziele – Wege – Ergebnisse (hrsg. vom Bayerischen Landesverein für Heimatpflege e.V.), Heft 1, München 1996, S. 45–56, hier S. 45 f. – Winfried Schich, Ersterwähnungen und Ortsjubiläen. Betrachtungen zur brandenburgischen Siedlungsgeschichte. Vortrag auf dem „Tag der brandenburgischen Orts- und Landesgeschichte“ am 6. November 2005 in Potsdam, https://blha.brandenburg.de/wp-content/uploads/2020/06/SchichErsterw%C3%A4hng.pdf (aufgerufen am 12.3.2022). 12 Zum Rechtsinhalt siehe den lateinischen Text und die deutsche Übersetzung im Ausstellungskatalog zur österreichischen Landesausstellung im Jahr 1996. Peter Urbanitsch, Die Ostarrîchi-Urkunde. In: Ernst Bruckmüller – Peter Urbanitsch (Hrsg.), ostarrîchi – Österreich 996–1996. Menschen – Mythen – Meilensteine, Österreichische Landesausstellung (Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums, Neue Folge 388), Horn 1996, S. 41–46, hier S. 47. 13 Siehe dazu etwa Erich Zöller, Der Österreichbegriff. Formen und Wandlungen seiner Geschichte (Österreich Archiv), München 1988, S. 9–12. – Vgl. den Eintrag „Ostarrichi“ auf der Homepage „Die Geschichte Österreichs“ von SIA Schulbuch InterActive, einschließlich der dort veröffentlichten Kartendarstellung, https://sia.education/dgoe/artikel/ ostarrichi/ (aufgerufen am 12.3.2022). 11
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gar nicht allzu weit zurückreicht. Genau genommen begann ihre Karriere so richtig erst vor gut 75 Jahren. Zwar war die Existenz des Stückes spätestens seit der Edition der Urkunde durch den hochangesehenen österreichischen Diplomatiker Theodor von Sickel im Jahre 189314 zumindest in Kreisen der interessierten Wissenschaftler allgemein bekannt, zum Objekt der österreichischen Identitätsbildung und Selbstvergewisserung wurde sie aber erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Schon ein Jahr nach Kriegsende nutzte die soeben gegründete zweite Republik Österreich trotz katastrophaler äußerer Rahmenbedingungen die Tatsache der Ersterwähnung zur Ausrufung eines 950-Jahr-Jubiläums, das in großem Stil und unter Einbeziehung aller Landesteile begangen wurde!15 Ziel war es dabei nicht nur, der neugeborenen Republik eine historische Tiefendimension zu geben und die eigene Bevölkerung durch Vermittlung eines spezifisch österreichischen Kulturbewusstseins mit dem schon länger zurückliegenden Untergang alter imperialer Größe zu versöhnen. Mindestens im selben Maße ging es bei diesen Feierlichkeiten aber auch um die Etablierung eines ausgesprochen österreichischen Staatsgedankens und damit um eine bewusste Abkehr vom Deutschen Reich, dem Österreich seit dem Jahre 1938 angehört hatte.16 Der „Anschluss“, der seinerzeit begeistert begrüßt worden war, wurde nunmehr zum „Unglück der Naziherrschaft“ (Dr. h.c. Theodor Körner, Bürgermeister von Wien) umgedeutet bzw. in einen „Kampf gegen den größten und verbrecherischsten Imperialismus der Welt, den Hitlerfaschismus“ (Bundeskanzler Dipl.-Ing. Leopold Figl) uminterpretiert.17 Die „Ostarrichi“-Urkunde spielte bei den Jubelfeiern demnach nicht nur als Referenz und Beweismittel für eine 950 Jahre währende Geschichte eine Rolle, sondern letztlich auch als Instrument, um sich von „Dritten Reich“ und dessen Verbrechen abzugrenzen. Dabei war zu diesem Zeitpunkt völlig unklar, ob das Original überhaupt noch existierte oder möglicherweise im fernen, jetzt durch Zonengrenzen Theodor Sickel (Hrsg.), Die Urkunden Otto III. (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata regum et imperatorum Germaniae, Band 2,2) Hannover 1893, S. 647 (= Nr. 232). 15 Karl Gutkas, Die Feiern „950 Jahre Österreich“ im Jahre 1946. In: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich, Neue Folge 62 (1996), 2. Teil, S. 665–686. – Heiss (wie Anm. 10) S. 12–21. – John B. Freed, Das zweite österreichische Millenium – Berufung auf das Mittelalter zur Schaffung eines österreichischen Nationalbewußtseins. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 137 (1997) S. 279–294. 16 Gutkas (wie Anm. 15) S. 665 f. 17 Gutkas (wie Anm. 15) S. 667 f. bzw. S. 674. 14
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abgeschotteten München im Luftkrieg untergegangen war.18 Das hinderte die Organisatoren des Jubiläums, allen voran den mit der Organisation der Feierlichkeiten beauftragten Unterrichtsminister Felix Hurdes von der ÖVP aber nicht daran, das Jubiläum im ganz großen Stil aufzuziehen. Alle Schulen waren aufgefordert, sich unter anderem in einer „Österreichwoche der Schuljugend“ mit dem Ereignis und mit österreichischem Kulturgut auseinanderzusetzen, sollte doch vor allem Kindern und Jugendlichen ein neues Staatsbewusstsein vermittelt werden.19 Im Vorfeld des 1. November 1946 organisierten außerdem unterschiedlichste Vereine, Verbände und Organisationen zahllose Festveranstaltungen und Gedenktage. In Neuhofen an der Ybbs wurde von Bundeskanzler Leopold Figl ein Gedenkstein mit Bronzetafel enthüllt, der heute noch in der Nähe der Pfarrkirche zu besichtigen ist, und die Tatsache würdigt, dass in der Ostarrichi-Urkunde nicht nur Neuhofen erstmals erwähnt wird, sondern auch der Name ostarrichi „zum erstenmal für unser Heimatland“ gebraucht wurde.20 Zu den Feierlichkeiten gehörte es auch, dass am Sonntag, dem 29. September 1946, ein dafür angefertigtes Faksimile der Urkunde in einem Staffellauf von Neuhofen an der Ybbs nach Wien gebracht wurde, ein Ereignis an dem sich insgesamt 300 niederösterreichische Sportler beteiligten.21 1996, zum 1000jährigen Jubiläum, konnte man auf die nach Ende des Zweiten Weltkriegs etablierten und seither weiter gepflegten Ideen und Vorstellungen zurückgreifen. Standorte der zentralen Millenniumsausstellung „Menschen – Mythen – Meilensteine“, die zum Pilgerort der Geschichtsfreunde wurde, waren Neuhofen an der Ybbs und St. Pölten. In Neuhofen an der Ybbs war bei dieser Gelegenheit das Original der Ostarrichi-Urkunde erst zum zweiten Mal überhaupt in Österreich selbst zu sehen.22 In den beiden Teilen der Ausstellung wurden zwischen dem 4. Mai und dem 3. November 1996 insgesamt 260.626 Besucherinnen und BeLeo Santifaller, Über die „Ostarrîchi-Urkunde“ vom 1. November 996. In: Die Furche. Die österreichische Wochenzeitung, 3. Jg. (1947) S. 149–162. – Der Beitrag wird hier zitiert nach dem im Phönix-Verlag erschienenen Sonderdruck: Ders., Über die „Ostarrîchi-Urkunde“ vom 1. November 996, Wien 1948, S. 8. 19 Gutkas (wie Anm. 15) S. 670. 20 Neuhofen und „ostarrichi“, Homepage des Ostarrichi-Kulturhofs, https://www.museumostarrichi.at/kulturhof/entstehung/ (aufgerufen am 12.3.2022). 21 Gutkas (wie Anm. 15) S. 669. 22 Zum ersten Mal war die Urkunde 1976 im Rahmen der großen Landesausstellung „1000 Jahre Babenberger“ in Stift Lilienfeld im Original in Österreich zu sehen gewesen. Siehe dazu: „Ostarrichi“-Urkunde reist nach Wien, Homepage des ORF, https://science.orf.at/v2/ stories/2993327/ (aufgerufen am 12.3.2022). 18
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Metallabguss des Siegels, das Kaiser Otto III. von Mai 996 bis April 997 führte (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Metallabguss-Sammlung K 34).
sucher gezählt.23 Ein Faksimile der Urkunde ist inzwischen dauerhaft im Ostarrichi-Kulturhof am Milleniumsplatz in Neuhofen an der Ybbs zu bewundern. Interessant daran ist, dass dieser Nachbildung ein Abdruck des Siegels aufgelegt wurde, das Otto III. zu dem Zeitpunkt geführt hat, auf den die Urkunde datiert ist.24 Erwähnenswert ist dies deshalb, weil Ostarrîchi – Österreich. Menschen – Mythen – Meilensteine. Niederösterreichische Landesausstellung 1996, Homepage „Niederösterreichische Landesausstellungen“, https:// archiv.noe-landesausstellung.at/de/niederoesterreichische-landesausstellungen/1996/niederoesterreichische-landesausstellung-1996/ostarrichi-oesterreich-menschen-mythen-meilensteine (aufgerufen am 12.3.2022). 24 Neuhofen an der Ybbs, Homepage des Austria-Forums, https://austria-forum.org/af/AEIOU/Neuhofen_an_der_Ybbs (aufgerufen am 12.3.2022). 23
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nicht zu beweisen ist, dass dieses Siegel am Original tatsächlich befestigt war. Das Siegel, das noch im 19. Jahrhundert an der Urkunde angebracht war, gilt heute als verloren und war nach den darüber vorliegenden Nachrichten nicht das Siegel Kaiser Ottos III., sondern eines seines Nachfolgers Heinrich II., doch dazu später mehr. Die geschilderten Phänomene lassen jedenfalls gut erkennen, dass auch Archivalien Eigenschaften und Bedeutungen zugeschrieben werden können, die mit den Zwecken und Intentionen, die zu ihrer Entstehung geführt haben, allenfalls lose in Verbindung stehen. Dies kann – wie im vorliegenden Fall – dazu führen, dass ihnen eine auratische Qualität zugemessen wird. Diese macht das Archivale auch für breite Bevölkerungskreise attraktiv und zwar selbst dann, wenn diese aufgrund fehlender paläographischer und diplomatischer Kenntnisse gar nicht in der Lage sind, die Schrift zu entziffern, geschweige denn das Dokument inhaltlich zu begreifen und korrekt auszuwerten. Bedeutung und Wahrnehmung gründen sich in diesem Fall auf Informationen und Diskurse, die zumindest teilweise von außen an das Stück herangetragen wurden, gerade dadurch aber fester Bestandteil der Rezeptionsgeschichte sind, die auch von der wissenschaftlichen Forschung nicht vollständig ausgeblendet werden kann, wenn diese dadurch nicht sogar in besonderem Maße dazu angeregt wird, sich gerade mit einem solchen Stück zu beschäftigen. Auch Archivare können diese Form der Bedeutungsaufladung nicht ignorieren, da solche Stücke vermehrt nachgefragt werden, was gerade bei Archivgut zwangsläufig konservatorische Fragen und Probleme aufwirft. Die Notwendigkeit, Stücken wie diesen einen besonderen Schutz angedeihen zu lassen, führt rasch zu einer Verknappung der Ressource, da Archivalien für eine längerfristige beziehungsweise regelmäßige Präsentation in einer Ausstellung denkbar ungeeignet sind. Dies ist wiederum geeignet, den Hype um solche Stücke noch zusätzlich anzuheizen.25 Dass dem mit Blick auf die Öffentlichkeitsarbeit der Archive und deren Selbstdarstellung auch positive Seiten abzugewinnen sind, braucht an dieser Stelle nicht näher erörtert zu werden. Andererseits ist nicht zu verkennen, dass Archivalien wie die Ostarrichi-Urkunde einen Sonderfall darstellen, für das in Archiven verwahrte Schriftgut also keinesfalls repräsentativ sind und auch nicht prägend für den Berufsalltag des Archivars. Siehe etwa Hans Kratzer, Eine Woche, nicht länger. Das Bayerische Hauptstaatsarchiv leiht die berühmte Ostarrichi-Urkunde nach Wien aus. In: Süddeutsche Zeitung, 22. Oktober 2019, S. R12. – Eisenbach –Moosdiele-Hitzler (wie Anm. 7) S. 7 f. 25
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I I . O r i g i n a l o d e r Fä l s c h u n g – Di e O s t a r r i c h i - Ur k u n d e a l s G e g e n s t a n d d i p l o m a t i s c h e r Fo r s c h u n g e n Die oben bereits kurz angerissene Problematik des fehlenden Siegels der Ostarrichi-Urkunde führt zu einem anderen Aspekt ihrer Beurteilung, nämlich zur Frage ihrer Echtheit. Bedenkt man ihre herausragende Bedeutung in der öffentlichen Wahrnehmung, wundert es nur wenig, dass sich an dieser Frage, die für den Wert und die Aussagekraft der Urkunde von zentraler Bedeutung ist, ein nach wie vor anhaltender wissenschaftlicher Diskurs entzündet hat. Das heute nicht mehr vorhandene Siegel spielt dabei – wie zu zeigen sein wird – natürlich eine besondere Rolle. Im Grunde steht die Ostarrichi-Urkunde schon seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter Fälschungsverdacht. Zweifel an der Echtheit waren bereits in der Edition der Monumenta Boica geäußert worden, deren einschlägiger Band im Jahre 1836 erschienen ist.26 Bedenken äußerte dann aber auch niemand Geringerer als Theodor von Sickel, der Altmeister der österreichischen Diplomatik. Dieser war verantwortlich für die Edition der Urkunden Kaiser Ottos III., die im Jahr 1893 in der Diplomata-Reihe der Monumenta Germaniae Historica erschienen ist. Darin bezeichnete Sickel die Ostarrichi-Urkunde als Diplom von „fragwürdiger Geltung“. Als Argumente dafür dienten ihm der Schriftvergleich, vor allem aber das Siegel, das zu seiner Zeit der Urkunde noch lose beilag. Wie sich bei der vergleichenden Untersuchung herausstellte, handelte es sich dabei – wie bereits erwähnt – keineswegs um das Siegel Kaiser Ottos III., sondern um das zweite Siegel seines Nachfolgers, Heinrichs II., das dieser in den Jahren zwischen Juli 1002 und Dezember 1013 verwendet hatte. In letzter Konsequenz führte dies Sickel zu dem Schluss, dass die Urkunde nicht zu Lebzeiten Kaiser Ottos III., sondern erst unter seinem Nachfolger Heinrich II. ausgefertigt worden sein konnte.27 Es liegt auf der Hand, dass die Zweifel der Diplomatiker für die jüngere österreichische Urkundenforschung ein erhebliches Problem darstellten Monumenta Boica, Band 31/1, Augsburg-München 1836, S. 259–261 (= Nr. CXXXIII). Zum Zustand des Siegels heißt es in Anmerkung a: „Sigillum impressum sed fractum, ex maiore sui parte membranae adhaerens cum fragmento avulso, non imaginem Ottonis III. imp., sed successoris eius Heinrici II. adhuc regis conspiciendam praebet, illius ipsius, cuius petitionibus facta est traditio.“ 27 Sickel (wie Anm. 14) S. 647 (= Nr. 232). – Zum Siegel bemerkt Sickel in Anmerkung c: „das abgefallene, aber der Urkunde beiliegende und bei Meichelbeck a.a.O. abgebildete Siegel ist das S. Heinrich II. 2“. 26
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Metallabguss des Siegels, das König Heinrich II. zwischen Juli 1002 und Dezember 1013 führte (Kaiserkrönung 1014) (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Metallabguss-Sammlung K 40).
und im Rhythmus der Jubiläen regelmäßig erneut zur Diskussion gestellt wurden. Dabei kam Leo Santifaller schon im Jubeljahr 1946 zu einem deutlich weniger kritischen Ergebnis als Sickel. Wegen der zeitbedingten Umstände hatte er – anders als Sickel – zwar nicht die Möglichkeit, seine Thesen auch am Original zu überprüfen. Wenn er also konstatierte, dass „zunächst ein begründeter Verdacht gegen die Echtheit der Urkunde nicht besteht“, so war es aus seiner Sicht gleichwohl „dringend notwendig, dass diese für die Geschichte Österreichs so hochbedeutsame und diplomatisch so problemreiche Urkunde im Zusammenhang des Gesamtmaterials und aufgrund der Errungenschaften der modernen Urkundenforschung einer noch umfassenderen Untersuchung unterzogen würde“.28 28
Santifaller (wie Anm. 18) S. 14.
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Diesem Auftrag kam im Jahr 1976 – 980 Jahre nach Ausstellung der Urkunde – Heinrich Appelt29 nach, der sich außer mit der Frage der Besiegelung, vor allem mit der Vollziehung des Monogramms sowie mit dem Freisinger Diktat auseinandersetzte, also den Kontext der Urkunde näher untersuchte, der nach einhelliger Überzeugung nicht von der Reichskanzlei, sondern von einem Freisinger Schreiber zu Pergament gebracht worden war. Anders als Sickel und Santifaller, glaubte Appelt – der die Urkunde wohl ebensowenig wie Santifaller im Original eingesehen haben dürfte – nicht an eine nachträgliche Bestätigung der Urkunde unter Heinrich II., ebenso wenig aber auch an die Ausstellung eines Blanketts durch die Reichskanzlei, in das der Rechtsinhalt der Urkunde erst nachträglich eingefügt worden wäre. In der Beglaubigung der Urkunde durch einen waagrechten Vollziehungsstrich, der die Schäfte der beiden T im Monogramm verbindet sowie in der Ergänzung des Buchstabens A unten in der Mitte des Monogramms erkennt Appelt zwar Anomalien, ist aber gleichwohl oder gerade deshalb überzeugt davon, dass Kaiser Otto III. selbst die Vollziehung vorgenommen haben dürfte. Auch wenn er einräumt, dass das Problem der Besiegelung letztlich offen bleiben muss, führen ihn diese Überlegungen zu einem eher positiven Gesamturteil: „Auf jeden Fall aber bleibt die Kaiserurkunde, die zum ersten Mal in der Geschichte den Namen Österreich nennt, ein vollwertiges historisches Zeugnis für die Verhältnisse, die zur Zeit ihrer Ausfertigung in unserer Heimat herrschten.“30 Aufbauend auf diesen Ergebnissen hat sich zuletzt Heide Dienst die Mühe gemacht, den Forschungsstand noch einmal zu reflektieren. Sie hat sich im Jahr des 1000jährigen Jubiläums mit der Ostarrichi-Urkunde auseinandergesetzt und sich ebenfalls grundsätzlich positiv zur Echtheit der Urkunde geäußert, indem sie – mit Blick auf die strittige Frage der Beglaubigung der Urkunde – feststellte, dass „kein letztlich plausibler Grund dafür gefunden werden konnte, dass sie nicht am 1. November 996 in Bruchsal erfolgt sein sollte“. Zugleich räumte sie aber ein, dass manche der von ihr vorgetragenen Argumente infolge der nötigen Kürze nicht genügend überzeugend sein könnten, und behielt sich vor, bei passender Gelegenheit alles gesammelte Material in extenso auszubreiten.31 An dieser Heinrich Appelt, Zur diplomatischen Beurteilung der Ostarrichi-Urkunde. In: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich, Neue Folge 42 (1976) S. 1–8. 30 Appelt (wie Anm. 29) S. 8. 31 Heide Dienst, Paläographisch-diplomatische Bemerkungen zu D.O. III 232 (Sogen. „Ostarrichi-Urkunde“). In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsfor29
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Diskussion ist daher nicht nur von Interesse, welche Merkmale und Eigenschaften von der Forschung herangezogen werden, um zu prüfen, ob es sich bei dieser Urkunde um ein Original oder eine Fälschung handelt, sondern auch, dass die Frage der Echtheit einer solchen Urkunde nicht immer mit letzter Sicherheit beantwortet werden kann.32 Damit wird deutlich, dass es sich auch bei der Kennzeichnung als „echt“ oder „falsch“ letztlich um eine Zuschreibung handelt, die in unterschiedlichem Maße plausibel gemacht werden kann und immer unter dem Vorbehalt neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse steht.33 I I I . Di e A r g u m e n t e f ü r d i e Au t h e n t i z i t ä t d e r O s t a r r i c h i - Ur k u n d e Für die analoge Überlieferung in den Archiven, insbesondere für die Quellengattung der Urkunden hat die Diplomatik seit Daniel Papenbroek und Jean Mabillon – also über einen Zeitraum von mehr als 300 Jahren hinweg – Methoden und Kriterien entwickelt, die die Prüfung der Echtheit und Integrität der ausgewerteten Dokumente erlauben.34 Die von der Urkundenforschung erarbeiteten Standards und Methoden dürften sich mit den erforderlichen Anpassungen durchaus auch auf andere Erscheinungsformen von amtlichem Schriftgut, insbesondere auf das mengenmäßig deutlich überwiegende Aktenschriftgut, übertragen lassen, da auch dieses seit jeher zeittypischen Entstehungsbedingungen und Formerfordernissen unterlag. In diesen Fällen kommen oft sogar noch prozessuale Merkmale, sprich die Geschäftsgangs- und Bearbeitungskennzeichen und -vermerke hinzu, die zusätzliche Anhaltspunkte für eine Echtheitsprüfung und Herkunftsanalyse bilden.35 schung 104 (1996) S. 1–12, hier S. 12. – Siehe hierzu auch Urbanitsch (wie Anm. 12) S. 41–46. 32 Siehe dazu in unserem Zusammenhang Heiss (wie Anm. 10) S. 21. 33 Heiss (wie Anm. 10) S. 21. 34 Siehe hierzu etwa Thomas Vogtherr, Einführung in die Urkundenlehre, 2. Auflage, Stuttgart 2017, S. 17–23. – Christian Keitel, Zwölf Wege ins Archiv. Umrisse einer offenen und praktischen Archivwissenschaft, Stuttgart 2018, S. 124–128. 35 Um die formale Beschreibung der Amtsbücher und Akten und von deren Bestandteilen haben sich bislang vorrangig Vertreter der Archivwissenschaften verdient gemacht. Siehe beispielsweise Heinrich Otto Meissner, Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918, Leipzig 1969. – Die Fürstenkanzlei des Mittelalters. Anfänge weltlicher und geistlicher Zentralverwaltung in Bayern. Ausstellung des Bayerischen Hauptstaatsarchivs anlässlich des VI. Internationalen Kongresses für Diplomatik (Ausstellungskataloge der Staatlichen
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Das anhaltende Ringen um die Frage der Glaubwürdigkeit historischer Quellen gibt daher deutliche Hinweise darauf, welche intrinsischen und extrinsischen Merkmale amtlicher Dokumente für die Forschung von Relevanz sind, um deren Echtheit bzw. Authentizität zu überprüfen. Für den Archivar, dessen Aufgabe es ist, authentische Quellen zu archivieren und für die Forschung zugänglich zu machen, ist es deshalb selbstverständlich von erheblichem Interesse, diese Merkmale und Eigenschaften näher zu bestimmen und in seine eigenen archivtheoretischen Überlegungen einzubeziehen. Daher sei im Folgenden ohne Anspruch auf eine kritische Würdigung ein kurzer Blick auf die Argumente geworfen, die zuletzt Heide Dienst für die Echtheit der Ostarrichi-Urkunde ins Feld geführt hat. Zu beachten ist dabei, dass die Autorin nach eigener Aussage wegen des knappen zur Verfügung stehenden Raumes nur ausgewählte Einzelbeobachtungen vortragen konnte.36 Nach einer kurzen Zusammenfassung des in der Ostarrichi-Urkunde dokumentierten Rechtsgeschäfts geht Heide Dienst zunächst auf die Existenz einer ebenfalls im Bestand des Hochstifts Freising überlieferten Vorurkunde aus dem Jahr 973 ein, die dem Verfasser der Ostarrichi-Urkunde unverkennbar als Vorlage gedient hatte und zwar sowohl in Hinblick auf das Formular als auch auf die Ausgestaltung des Rechtsgeschäfts. Davon ausgehend kann die Autorin plausibel darlegen, weshalb sich der Schreiber veranlasst sah, in dieser Urkunde erstmals die volkssprachliche Bezeichnung „ostarrichi“ für die fragliche Gegend zu verwenden, in der sich die Güter befanden, die Gegenstand des in der Urkunde dokumentierten Rechtsgeschäfts waren. In der Vorlage war dies nämlich genauso gehandhabt worden, nur dass es sich in diesem Fall um eine andere Region, nämlich um „Chreine“ (Krain) gehandelt hatte. Aber nicht nur das Diktat, sondern auch das Schriftbild werden als Beleg dafür angeführt, dass der Verfasser ein in Urkundengeschäften und in der diplomatischen MinusArchive Bayerns 16), München 1983. – Michael Hochedlinger, Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit, Wien u.a. 2009. – Friedrich Beck – Eckart Henning, Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, 5. Auflage, Köln u.a. 2012, insbesondere S. 55–124. – Joachim Wild, Kleine Archivalienkunde in Beispielen (Sonderveröffentlichungen der Staatlichen Archive Bayerns 15), München 2019, S. 23–58 (online verfügbar über die folgende https://www.gda.bayern.de/ service/archivalienkunde/ (aufgerufen am 12.3.2022). – Südwestdeutsche Archivalienkunde, https://www.leo-bw.de/themenmodul/sudwestdeutsche-archivalienkunde (aufgerufen am 12.3.2022). 36 Dienst (wie Anm. 31) S. 2.
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kel offensichtlich weniger geübter Schreiber gewesen sein muss, der sich deshalb sklavisch an seine Vorlage gehalten hat. Selbst die Verwendung einer größeren Schrift für den Begriff „ostarrichi“ wird von Heide Dienst auf die erwähnte Vorurkunde zurückgeführt.37 Dass es sich bei dem Begriff „ostarrichi“ wohl schon um eine eingeführte Bezeichnung gehandelt hat, schließt Dienst aus der Beobachtung, dass er auch in einer anderen, nur wenig jüngeren Urkunde Ottos III. vorkommt, die aus dem Jahr 998 stammt und nicht unter Fälschungsverdacht steht.38 So kommt Dienst letztlich zu dem Ergebnis, dass alle diplomatischen Elemente der Schrift in gleichzeitigen anderen Dokumenten festgestellt werden können.39 Dienst teilt zudem die Annahme der vorausgehenden Forschungen, dass die Bestandteile des Eschatokolls, also die Signumzeile, die Rekognitionszeile, die Datierung und selbst das Monogramm des Herrschers im Gegensatz zum Protokoll sowie dem Kontext, sprich dem eigentlichen Rechtsgeschäft, als kanzleimäßig ausgefertigte Teile anzusehen sind, also einem Schreiber aus der Kanzlei Kaiser Ottos III. zuzuordnen sind. Gleichzeitig unterstützt sie die Auffassung, dass die Urkunde tatsächlich von dem jungen Kaiser Otto durch den Vollziehungsstrich im Monogramm und die Ergänzung des Buchstabens A beglaubigt worden ist. Anknüpfend an Appelt tritt sie jedoch der Annahme Sickels entgegen, dass die kaiserliche Kanzlei dem Freisinger Bischof ein Blankett ausgestellt habe, in das dessen Schreiber dann den eigentlichen Rechtsinhalt eingetragen habe. Vielmehr hält sie es für wesentlich wahrscheinlicher, dass die Urkunde in Freising aufgesetzt und erst dann von der Kanzlei des Kaisers ausgefertigt worden ist. Aus ihrer Sicht sprechen diese Feststellungen aber allesamt für eine Echtheit der Urkunde und für eine Ausstellung zum angegebenen Zeitpunkt und durch Kaiser Otto III.40 Diese Annahme hält Dienst auch vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse für plausibel. Mit der Übertragung von 30 Königshufen sollte ihrer Auffassung nach dem Hochstift Freising ein großer Spielraum für Rodungsaktivitäten geboten werden.41 Mit der Bedeutung Freisings für die nach den Ungarnstürmen erforderlich gewordene Rekolonisierung der Regionen im Osten des Reiches erklärt sich die Forschung ganz generell den bedeutenden Umfang des GrundDienst (wie Anm. 31) S. 2 f. Dienst (wie Anm. 31) hier S. 2. 39 Dienst (wie Anm. 31) S. 5. 40 Dienst (wie Anm. 31) S. 5 f. 41 Dienst (wie Anm. 31) S. 8 f. 37 38
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besitzes, der dem Hochstift in der Urkunde übereignet wurde.42 Ungelöst bleibt das Problem, dass der Urkunde nach glaubhafter Überlieferung nicht das Siegel Kaiser Ottos III., sondern ein Siegel Heinrichs II. beilag, Mitte der 1830er dem Pergament wohl sogar noch eingedrückt war. Damit steht nicht weniger als die korrekte und rechtskräftige Beglaubigung in Zweifel. Dass das Siegel, dessen Existenz die Monumenta Boica und Theodor Sickel noch bestätigen, spätesZeichnung des an der Ostarrichi-Urkunde befestigten Siegels Heinrichs II., veröffenttens seit 1911 als verloren gelten licht in Band 1 der Historia Frisingensis des muss,43 macht die Beweisführung Benediktbeurer Mönchs Carolus Meichelbeck nicht einfacher und zwingt die (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Forschung heute zu einem IndiAmtsbibliothek 2° 371/1). zienverfahren, bei dem alle Informationen herangezogen werden müssen, die uns über das Siegel, sein Aussehen und dessen Zustand vorliegen. Wichtigste Referenz hierfür ist dabei die „Historia Frisingensis“, die der Freisinger Mönch Carolus Meichelbeck bereits im Jahr 1724 verfasst hat. Er hat in dieser Quellenedition nicht nur den Text der Urkunde abgedruckt, sondern diesem – wohl wegen der ihm zugeschriebenen Bedeutung für die Geschichte der Freisinger Kirche – auch eine Zeichnung des Siegels beigegeben.44 Diese Abbildung bestätigt die Feststellung Sickels, dass es sich dabei nicht um das Siegel Kaiser Ottos III., sondern eines von Heinrich II. gehandelt hat. Diesen Widerspruch vermag auch Heide Dienst nicht aufzulösen. Er wird sich wegen des Fehlens der Siegelreste wohl auch nicht mehr endgültig aufklären lassen. Dass das Heinrichs-Siegel erst nachträglich angebracht wurde, möglicherweise nach einem VerSiehe beispielsweise Urbanitsch (wie Anm. 12) S. 41 f. Siehe den Nachrichtenbeitrag von Hans Wibel zum zweiten Band von Otto Posses Edition der Siegel der deutschen Kaiser und Könige. In: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 36 (1911) S. 308–312, hier S. 311 f., Anm. 1. 44 Carolus Meichelbeck, Historiae Frisingensis tomus I, Augustae Vindelicorum et Graecii 1724, S. 193 f. (Abb. = S. 194). 42 43
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lust des ursprünglichen Siegels, wird von Heinrich Appelt in Erwägung gezogen, von Erich Zöller als wahrscheinlich angenommen, von Heide Dienst zumindest nicht ausgeschlossen.45 Wie bereits erwähnt, führt die sachgerechte hilfswissenschaftliche Analyse nicht zwangsläufig zu eindeutigen bzw. zweifelsfreien Ergebnissen. Andererseits ist aber auch festzustellen, dass alle vorstehend zitierten hilfswissenschaftlichen Untersuchungen doch auf einer einheitlichen Methodik und Herangehensweise beruhen. Der Wert eines solchen einheitlichen und standardisierten Vorgehens wird gerade im vorliegenden Fall evident, wäre wissenschaftlicher Diskurs und wissenschaftlicher Fortschritt doch andernfalls nur schwer vorstellbar. I V. K r i t e r i e n f ü r d i e E c h t h e i t u n d Au t h e n t i z i t ä t v o n A r c h i v g u t Aus der Rekapitulation der Argumente, die für die Echtheit der Ostar richi-Urkunde ins Feld geführt werden, wird zunächst deutlich, dass Urkunden wegen der zur jeweiligen Zeit bestehenden Formerfordernisse zeittypische Merkmale und formale Eigenheiten aufweisen, die es dem Forscher erlauben, sie an den charakteristischen Beurkundungspraktiken der jeweiligen Epoche und des jeweiligen Ausstellers zu messen. Neben dem Formular beziehungsweise dem Diktat der Urkunde zählen hierzu vor allem die Schrift, die verwendete Terminologie, die Art der Datierung und die Formen der Beglaubigung. Diese Merkmale waren einer kontinuierlichen Veränderung ausgesetzt und erlauben dem Spezialisten so eine zeitliche Einordnung, bis zu einem gewissen Grad auch eine Zuordnung zu bestimmten Schreibern bzw. Kanzleimitarbeitern, ja sogar eine Rekonstruktion einzelner Prozessschritte, die zur Niederschrift der Urkunde erforderlich waren. Auffallend wenig Beachtung fanden im Falle der Ostarrichi-Urkunde bislang der Beschreibstoff, also das Pergament und dessen Zubereitung oder andere Materialeigenschaften wie etwa die Art und Zusammensetzung der Tinte. Wie weit man dabei gehen kann, hat zuletzt eine Ausstellung des Österreichischen Staatsarchivs und des Kunsthistorischen Museums Wien gezeigt, bei der einer der berühmtesten Urkundenfälschungen der Geschichte, dem Privilegium maius, auf den Grund gegangen wurde. 45 Siehe hierzu Appelt (wie Anm. 29) S. 3–5. – Zöller (wie Anm. 13) S. 9 f. – Dienst (wie Anm. 31) S. 7–9.
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Die Ergebnisse der dazu bereits im Vorfeld mit erheblichem Aufwand betriebenen naturwissenschaftlichen Analysen wurden im Ausstellungskatalog detailliert dokumentiert und auf ihre Aussagekraft hin untersucht.46 Bei einer solchen Herangehensweise kämen im Falle der Ostarrichi-Urkunde sicherlich auch konservatorische Eingriffe aus späterer Zeit in den Blick, die nicht immer ohne bleibende Veränderungen vonstatten gingen, so wie dies beispielsweise durch die Planlegung des Diploms geschehen ist. Solche Eingriffe zu dokumentieren und damit evident zu halten, ist Aufgabe der archivischen Bestandserhaltung. Die Dokumentation der re stauratorischen Maßnahmen ist zumindest in größeren Archiven, die über eigene Werkstätten und entsprechendes Fachpersonal verfügen, längst gängige Praxis.47 Auffällig ist, in welchem Umfang im Falle der Ostarrichi-Urkunde auch inhaltliche Aussagen sowie Kontextinformationen herangezogen wurden, um deren Verlässlichkeit zu belegen. Indem die jeweilige Urkunde in ihren historischen Gesamtzusammenhang eingeordnet wird, lassen sich ohne Zweifel weitere Hinweise auf die Plausibilität des im Text dokumentierten Rechtsgeschäfts und die damit in Verbindung stehenden Sachverhalte bestimmen, seien diese personeller, gegenständlicher, räumlicher oder ereignisgeschichtlicher Art. In diesen Zusammenhang gehören auch alle Überlegungen, die die Urkunde in den gegebenen Überlieferungszusammenhang einordnen. Gemeint ist damit im vorliegenden Fall etwa die Aufdeckung inhaltlicher und formaler Übereinstimmungen mit anderen Dokumenten aus dem Archiv des Hochstifts Freising, wie dies im Falle der Ostarrichi-Urkunde durch Heranziehung der erwähnten Vorurkunde geschehen ist, die dem Schreiber als Vorlage gedient hat. Nicht eigens thematisiert wird in der Forschung hingegen das Faktum, dass die Urkunde heute im Bayerischen Hauptstaatsarchiv verwahrt wird. Ursache dafür ist die Säkularisation, die dazu führte, dass das Archiv des Hochstifts Freising, in dem diese Urkunde bis dahin rechtmäßig verwahrt 46 Martina Griesser – Thomas Just – Kathrin Kininger – Franz Kichweger (Hrsg.), Falsche Tatsachen. Das Privilegium maius und seine Geschichte. Ausstellungskatalog des Kunsthistorischen Museums Wien (Technologische Studien 13), Wien 2018. – Vgl. die Informationen auf der Homepage des Kunsthistorischen Museums Wien, https://www.khm. at/?id=11845 (aufgerufen am 12.3.2022). – Siehe hierzu auch: Vogtherr (wie Anm. 34) S. 131–134. 47 Laut Auskunft von Frau Eisenbach, der Leiterin der Restaurierungswerkstatt des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, vom 18.9.2021 stammt der erste Eintrag in den Werkstattbüchern zur Restaurierung der Ostarrichi-Urkunde aus dem Jahr 1963.
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wurde, an das Königreich bzw. den Freistaat Bayern und damit an das bayerische Zentralarchiv übergegangen ist. Es ist also keineswegs ein unglücklicher Zufall, dass dieses für die Identitätsbildung der Republik Österreich zentrale Stück heute nicht im Österreichischen Staatsarchiv in Wien oder im Landesarchiv Niederösterreich in St. Pölten verwahrt wird. Man muss die Tatsache, dass ein Archivale tatsächlich bei dem Archiv verwahrt wird, bei dem es nach seiner Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte zu vermuten ist, vielmehr als ein weiteres Indiz für die Glaubwürdigkeit des Dokuments betrachten. Dem Archivar ist diese Eigenschaft als Provenienz- bzw. Überlieferungszusammenhang ein geläufiges und für die tägliche Arbeit grundlegendes Faktum.48 Wie die Erörterungen rund um die Ostarrichi-Urkunde belegen, können auch Editionen sowie der Gang der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wichtige Indizien dafür liefern, ob ein Stück unverändert die Zeiten überdauert bzw. wie es sich dem Auge des Betrachters in früherer Zeit präsentiert hat. Dies ist vor allem dann von Belang, wenn das Archivale in der Zwischenzeit Veränderungen unterworfen war, die – wie der Verlust eines Siegels – irreversibel sind. Dass das an der Ostarrichi-Urkunde befestigte Siegel bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert in Form einer Zeichnung reproduziert wurde, ist deshalb für die heutigen Untersuchungen ein glücklicher Umstand von erheblichem Gewicht. Ähnlich differenziert ausgearbeitete Kriterien und Methoden der Echtheitsprüfung gibt es für andere Typen archivalischer Quellen bislang nicht. Feststehen dürfte aber, dass man mit einer vergleichbaren Herangehensweise auch bei anderen Formen von schriftlichen Unterlagen zu belastbaren Ergebnissen gelangen würde. Um die Erkenntnisse der Urkundenforschung auch auf Aktenschriftstücke, amtliche Kartenwerke, Register und letztlich auch auf elektronische Unterlagen übertragen zu können, die andere formale Eigenschaften aufweisen, ist es allerdings erforderlich, diese etwas zu abstrahieren und zu allgemein gültigen Kategorien zusammenzufassen. Als Orientierungshilfe hierfür können die „Indikationen“ für das „Phänomen des Historischen“ dienen, die Stefan Lindl mit Blick auf historische Gebäude und Denkmäler entwickelt hat. In seinem 2020 erschienen Werk über die „authentische Stadt“ hat er einen konstruktivisSiehe dazu beispielsweise Gerhard Leidel, Über die Prinzipien der Herkunft und des Zusammenhangs von Archivgut. In: Archivalische Zeitschrift 86 (2004) S. 91–130. – KsollMarcon (wie Anm. 1) S. 120–123. – Bernhard Grau, Das Provenienzprinzip im Zeitalter der elektronischen Verwaltungsarbeit. In: Archivalische Zeitschrift 97 (2021) S. 53–69. 48
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tischen Zugang zum Authentizitätsbegriff gewählt und Authentizität als eine zugeschriebene Eigenschaft definiert. Davon ausgehend hat er versucht, aus der Phänomenologie des Historischen eine Reihe von „Indikationen“ abzuleiten, die die Zuschreibung „authentisch“ oder „original“ ermöglichen bzw. begründen.49 Zwar ist zuzugeben, dass es zwischen Bauwerken und Textdokumenten deutliche Unterschiede gibt. Insbesondere stellt sich die Problematik des Bestandserhalts, also des Erhalts der materiellen Substanz bei Archivgut nicht in vergleichbarer Form, da Archivalien bei sachgemäßer Lagerung nicht annähernd demselben Verschleiß ausgesetzt sind wie Bauwerke, die den Unbilden des Wetters und den sich wandelnden Nutzerinteressen meist relativ schutzlos preisgegeben sind, so dass von der ursprünglichen Materie bei manchen unbestreitbar als authentisch eingestuften Gebäuden oft nur noch wenige Reste vorhanden sind. Dennoch erscheint es möglich, die von Lindl gewonnenen Ergebnisse auch in das Arbeitsfeld der Archive zu übertragen. Auf dieser Basis wird man – ausgehend von den oben angestellten Überlegungen – für analoge archivalische Quellen folgende Kategorien von Echtheits- beziehungsweise Authentizitätskriterien in Vorschlag bringen können: – Sprache/Duktus/Formular – Form/Äußere Erscheinung/Ästhetik – Entstehung/Erstellung/Bearbeitung – Inhalt/Gehalt/Funktion – Kontinuität/Überlieferungsgeschichte/Gang der Forschung – Bestands- bzw. Überlieferungszusammenhang/Provenienz/Lagerort/Verwahrende Institution – Unberührtheit/Eingriffe/Pflege/Veränderungen – Materialeigenschaften V. Au t h e n t i z i t ä t i m d i g i t a l e n Z e i t a l t e r Der Begriff der Authentizität spielte im archivischen Fachdiskurs lange Zeit eine eher untergeordnete Rolle. Dass ihm heute auch von Archivaren eine zentrale Bedeutung zugemessen wird, verdankt sich einem Teilbereich 49
Stefan Lindl, Die authentische Stadt. Urbane Resilienz und Denkmalkult, Wien 2020.
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der archivischen Theoriebildung, nämlich dem Diskurs über die spezifischen Bedingungen und Anforderungen der elektronischen Archivierung. Das Erfordernis, elektronische Unterlagen zu archivieren, stellte die Archive und ihre Arbeitsweise vor bis heute nicht abschließend gelöste Herausforderungen. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die elektronische Verwaltungsarbeit eine Trennung der Information von ihrem Träger – angestammter Weise vor allem vom Papier beziehungsweise vom Pergament – mit sich bringt.50 Folge ist, dass einige der oben diskutierten, von der kritischen Geschichtswissenschaft entwickelten Methoden zur Überprüfung der Echtheit von historischen Dokumenten bei elektronischen Unterlagen nur noch bedingt zu belastbaren Resultaten führen, ja dass Begriffe wie „original“ und „echt“ bei elektronischen Unterlagen nicht mehr in der gewohnten Sinngebung anwendbar sind.51 Zusätzlich verschärft wird dieses Problem durch die im archivischen Fachdiskurs vorherrschende Überzeugung, dass elektronische Daten aufgrund des permanenten Wandels der zu ihrer Wiedergabe benötigten Hard- und Software auf Dauer nur lesbar gehalten werden können, wenn sie regelmäßig auf neue Speichermedien übertragen und in aktuell gebräuchliche Datenformate gewandelt werden (Migrationsstrategie). Andernfalls müssten Softwareapplikationen programmiert und regelmäßig aktualisiert werden, die eine Darstellung des ursprünglichen Bitstreams ermöglichen (Emulationsstrategie). Im Vordergrund steht dabei oft der Erhalt und die Interpretierbarkeit der inhaltlichen Informationen („content“), nicht zwingend die Bewahrung einer spezifischen Ausprägung des archivierten elektronischen Dokuments. Nach vorherrschender Überzeugung sind diese Formen der Lesbarhaltung zudem kaum ohne Informations- bzw. Funktionsverluste zu bewerkstelligen.52 Dies führt die Annahme, dass es sich bei den migrierHierfür und für das Folgende siehe Grau (wie Anm. 1) S. 11–26 – Ders., Authentizität als neues Paradigma (wie Anm. 1). – Zur Problematik des Authentizitätsbegriffs siehe beispielsweise Erik Schilling, Authentizität. Karriere einer Sehnsucht, München 2020, S. 9–30, insbesondere S. 13–15. 51 Christian Keitel, Die Archivierung elektronischer Unterlagen in der baden-württembergischen Archivverwaltung. Eine Konzeption, 12.6.2002, https://www.landesarchiv-bw. de/sixcms/media.php/120/47169/keitel_elektronische_konz.pdf, S. 20 f. (aufgerufen am 12.3.2022). – Dirk von Gehlen, Mashup. Lob der Kopie, Berlin 2011, S. 12–15. – Grau, Authentizität als neues Paradigma (wie Anm. 1), hier S. 134 f. 52 Siehe hierzu unter anderem Dagmar Ulrich, Bitstream Preservation. In: Heike Neuroth – Achim Osswald – Regine Scheffel – Stefan Strathmann – Karsten Huth (Hrsg.), nestor Handbuch. Eine kleine Enzyklopädie der elektronischen Langzeitarchivierung – Version 2.3, [Göttingen] 2010, Kapitel 8.2, http://nestor.sub.uni-goettingen.de/ 50
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ten Daten noch um die „Originale“ im klassischen Sinn handeln könnte, endgültig ad absurdum! Es läge deshalb nahe, für elektronische Unterlagen eine eigene Quellenkunde zu fordern beziehungsweise von Grund auf neu zu erarbeiten. Dies würde in der Konsequenz bedeuten, die oben näher beschriebenen traditionellen Methoden und Kriterien der Authentizitätsprüfung gänzlich über Bord zu werfen. Der vorliegende Beitrag geht hingegen von der Prämisse aus, dass man das nicht ohne Not tun sollte, zum einen weil die Methoden der Diplomatiker auf langem Erfahrungswissen gründen und entsprechendes Vertrauen genießen, das neuen Methoden gegenüber erst mühsam neu aufgebaut werden müsste. Zum anderen, weil erst noch zu prüfen ist, ob elektronische Dokumente sich tatsächlich in jeder Hinsicht vollständig von ihren analogen Vorbildern unterscheiden. Der in der bayerischen Archivverwaltung inzwischen mehr als ein Jahrzehnt lang praktizierte tägliche Umgang mit der sogenannten eAkte lehrt da eigentlich eine andere Sichtweise.53 Auch die Medienwissenschaftlerin Sybille Krämer hat erst jüngst betont, „dass ein neues Medium das alte nicht einfach ersetzt und verdrängt, sondern das alte Medium zumeist fortlebt in neuer, veränderter Gestalt“. Dies führt sie zu der Vermutung, „dass die Kulturen des Digitalen die Druckwerke nicht ablösen und überflüssig machen, sondern diesen eine Metamorphose widerfährt“.54 Überträgt man diese Annahmen auf das Verwaltungsschriftgut, wäre daher erst einmal zu fragen, wie sich die Einführung der elektronischen Arbeitsweise tatsächlich auf die Eigenschaften behördlicher Unterlagen auswirkt und welche Konsequenzen dies für die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit dieser Dokumente, sprich für den Nachweis ihrer Authentizität hat. handbuch/artikel/nestor_handbuch_artikel_402.pdf (aufgerufen am 12.3.2022). – Stefan E. Funk, Migration. In: ebd. Kap. 8.3, http://nestor.sub.uni-goettingen.de/handbuch/artikel/ nestor_handbuch_artikel_450.pdf (aufgerufen am 12.3.2022). – Christian Keitel – Astrid Schoger (Hrsg.), Vertrauenswürdige digitale Langzeitarchivierung nach DIN 31644, Berlin 2013. – Vgl. Erläuterungen zum nestor-Siegel für vertrauenswürdige digitale Langzeitarchive, Version 2.1, hrsg. von der nestor-Arbeitsgruppe Zertifizierung (nestor-materialien 17), o.O. 2019, http://d-nb.info/1189191830/34, S. 18 f. (aufgerufen am 12.3.2022). – Keitel (wie Anm. 34) S. 139–145. – Michael Puchta, Signifikante Eigenschaften für eine „unknown community“. In: Archivar 73 (2020) S. 259–268, hier S. 260. 53 Siehe dazu zuletzt: Ksoll-Marcon (wie Anm. 1) S. 123–126. 54 Sybille Krämer, Kulturgeschichte der Digitalisierung. Über die embryonale Digitalität der Alphanumerik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 72 (2022), Nr. 10–11/Digitale Gesellschaft, S. 10–17, hier S. 10.
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Blickt man dazu im vorstehenden Zusammenhang zunächst auf die neu eingeführte elektronische Notarurkunde, wird schnell deutlich, dass wesentliche, aus der analogen Arbeitsweise bekannte Form- und Sicherungsmerkmale auch in dem „elektronischen Urkundenarchiv“ beibehalten werden sollen, das die Bundesnotarkammer 2022 in Betrieb nimmt. Es soll die Aufbewahrung der elektronischen Notarurkunden für einen Zeitraum von 100 Jahren gewährleisten, so dass die originären Papierurkunden nach einer Übergangszeit von 30 Jahren, in der die Urkunden sowohl analog als auch digital vorgehalten werden, ausgesondert und gegebenenfalls vernichtet werden können. Zu diesem Zweck müssen die Urkunden vom Notar zeitnah zu ihrer Abfassung „digitalisiert, qualifiziert elektronisch signiert und verschlüsselt in einer ‚elektronischen Urkundensammlung‘ abgelegt“ werden.55 Die bei der Digitalisierung und elektronischen Speicherung zu beachtenden Anforderungen sind im Gesetz zur Neuregelung der Aufbewahrung von Notariatsunterlagen vom 1. Juni 2017 skizziert.56 In § 56 des Gesetzes heißt es dazu: „Bei der Übertragung der in Papierform vorliegenden Schriftstücke in die elektronische Form soll durch geeignete Vorkehrungen nach dem Stand der Technik sichergestellt werden, dass die elektronischen Dokumente mit den in Papierform vorhandenen Schriftstücken inhaltlich und bildlich übereinstimmen. Diese Übereinstimmung ist vom Notar in einem Vermerk unter Angabe des Ortes und der Zeit seiner Ausstellung zu bestätigen.“57 Auch in Hinblick auf die oben angesprochenen eAkte-Verfahren ist zu konstatieren, dass elektronische Behördenschriftstücke nach wie vor einer Unzahl von Formerfordernissen unterliegen, die zum Teil sogar in Rechtsvorschriften verankert sind.58 Vom Briefkopf angefangen, über Formatund Layout-Vorgaben, Geschäftskennzeichen und Formalangaben wie Siehe dazu die Hinweise auf der Homepage der für die Einrichtung des Urkundenarchivs verantwortlichen Bundesnotarkammer: https://www.elektronisches-urkundenarchiv.de/ (aufgerufen am 12.3.2022). 56 Gesetz zur Neuordnung der Aufbewahrung von Notariatsunterlagen und zur Einrichtung des Elektronischen Urkundenarchivs bei der Bundesnotarkammer sowie zur Änderung weiterer Gesetze vom 1.6.2017 (BGBl. I S. 1396). 57 Gesetz zur Neuordnung der Aufbewahrung von Notariatsunterlagen (wie Anm. 56). 58 Für Bayern wird hier vor allem die Allgemeine Geschäftsordnung zu nennen sein, die das Layout behördlicher Schreiben auch mit Blick auf eine automatisierte Auswertbarkeit detailliert vorgibt. Siehe dazu die Anlagen 1 und 2 der Allgemeinen Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaates Bayern (AGO) vom 12. Dezember 2000 (GVBl. S. 873; 2001 S. 28 BayRS 200-21-I), die zuletzt durch Bekanntmachung vom 14. Dezember 2021 (GVBl. S. 695) geändert worden ist. – Siehe dazu auch Ksoll-Marcon (wie Anm. 1) S. 123 f. 55
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dem Betreff bis hin zur Anrede, zum Schreibstil, zu den Unterschriftsformen und Rechtsbehelfsbelehrungen weisen also auch elektronische Schriftstücke ganz spezifische, zum Teil von Einrichtung zu Einrichtung wechselnde Eigenschaften auf. Aber selbst für Fachverfahren wie Geoinformationssysteme oder amtliche Registerverfahren existieren oft fest definierte Ausgabeformen, sprich spezifische Kartenansichten beziehungsweise klar spezifizierte amtliche Urkunden, Ausdrucke oder Bescheinigungen.59 Wie die praktische Erfahrung lehrt, ist das amtliche Schriftgut daher auf weiten Strecken auch weiterhin durch einen hohen Anteil formaler Eigenheiten geprägt. Normierte Merkmale dieser Art werden auf lange Sicht als zeitspezifisch erkennbar werden und bieten so naturgemäß auch Anknüpfungspunkte für Echtheitsuntersuchungen. Viel spricht deshalb dafür, sie bei der Übernahme ins Archiv und bei der dauerhaften Speicherung, also auch über die erforderlichen Migrationsschritte hinweg so weit als möglich zu erhalten, erforderlichenfalls auch unter Inkaufnahme von Funktionsverlusten, die die Archivierung in Datenformaten bieten würde, die eine beliebige Weiterverarbeitung erlauben.60 Die individuelle Handschrift wird im elektronischen Umfeld allerdings weitgehend durch einen binären Code beziehungsweise im Ansichtsmodus durch normierte und verfahrensabhängig zur Verfügung gestellte Zeichensätze ersetzt, auch wenn in diesem Rahmen eine individuelle Auswahl und individuelle Formatvorgaben bis zu einem gewissen Grad möglich bleiben. Handschriftliche oder eigenhändig unterzeichnete Dokumente kommen in der eAkte aber eigentlich nur noch in den Fällen vor, in denen analoge Eingänge zum Zwecke der Sachbearbeitung digitalisiert und in die eAkte übernommen werden. Die eigenhändige Unterschrift wird erforderlichenfalls durch eine elektronische Signatur abgelöst, deren dauerhafter Erhalt
Für Geobasisdaten siehe jetzt die Neufassung der Leitlinien zur bundesweit einheitlichen Archivierung von Geobasisdaten. Abschlussbericht der gemeinsamen AdV-KLA-Arbeitsgruppe „Archivierung von Geobasisdaten“ 2014–2015, überarbeitet 2021, Potsdam 2022, insbesondere S. 30–38. – Zu den beglaubigten Ausdrucken und Urkunden, die aus dem Personenstandsregister erteilt werden, siehe die §§ 54–60 des Personenstandsgesetzes vom 19. Februar 2007 (BGBl. I S. 122), das zuletzt durch Artikel 3 des Gesetzes vom 4. Mai 2021 (BGBl. I S. 882) geändert worden ist. – Die Erteilung von Handelsregisterauszügen und -ausdrucken regeln die Paragraphen 29, 30 und 30a der Handelsregisterverordnung vom 12. August 1937 (RMBl 1937, S. 515), die zuletzt durch Artikel 44 des Gesetzes vom 10. August 2021 (BGBl. I S. 3436) geändert worden ist. 60 Siehe dazu etwa die Leitlinien zur bundesweit einheitlichen Archivierung von Geobasisdaten (wie Anm. 59), insbesondere S. 34 f. 59
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wegen ihrer zeitlich begrenzten Gültigkeit erhebliche Probleme aufwirft.61 Schreiberhände werden sich daher kaum noch identifizieren lassen – es sei denn, es werden statistische Verfahren entwickelt, die anhand stilistischer und terminologischer Eigenheiten (Wortschatz) individuelle Zuordnungen ermöglichen. Angesichts der ständig wachsenden Rechenleistungen erscheint dies zumindest nicht vollständig ausgeschlossen. Eine einschneidende Veränderung bringt ohne Zweifel auch die Digitalisierung der Geschäftsgangsfunktionen mit sich, weil dies dazu führt, dass Eingangsvermerke, Geschäftsverfügungen, Sichtvermerke und andere Bearbeitungsmerkmale nicht mehr auf den Dokumenten selbst angebracht werden und deshalb auch nicht mehr untrennbar mit diesen verbunden sind, sondern als Metainformationen im Hintergrund aufgezeichnet werden. Andererseits sorgt die Automatisierung dafür, dass eher mehr als weniger Verlaufsinformationen protokolliert werden und dass diese die zugrundeliegenden Geschäftsprozesse auch sehr zuverlässig dokumentieren.62 Diese Zusatzinformationen müssen aber gesondert zur Anzeige gebracht werden, um sie nachvollziehen zu können. Die Gefahr, dass wichtige Metadaten bei Unachtsamkeit oder technischen Unzulänglichkeiten im Zuge der Aussonderung und Archivierung verloren gehen, ist daher nicht ausgeschlossen und muss bei allen Archivierungsprozessen zwingend in Rechnung gestellt werden.63 Selbstverständlich stehen die inhaltlichen Aussagen amtlicher Dokumente auch in Zukunft der Einordnung und dem Vergleich offen. Ohne die kritische Interpretation der Inhaltsinformationen wäre historische Forschung auf wissenschaftlicher Basis nur schwer vorstellbar. Die Aussagekraft und Echtheit von Dokumenten, die in sich widersprüchlich sind, aus dem Überlieferungszusammenhang herausstechen oder nicht mit ErSiehe dazu etwa Die E-Akte in der Praxis. Ein Wegweiser zur Aussonderung verfasst von der nestor-Arbeitsgruppe E-Akte (nestor-materialien 20), o.O. 2018, http://nbn-resolving. de/urn:nbn:de:0008-2018020827, S. 12 (aufgerufen am 12.3.2022). – Zur Entwicklung der Beglaubigungsformen siehe Andreas Nestl, Die Kraft des Rechts – von gezogenen Ohren bis zur elektronischen Signatur. In: Brief und Siegel. Glaubwürdigkeit und Rechtskraft, gestern und heute. Eine Ausstellung der Staatlichen Archive Bayerns im Bayerischen Hauptstaatsarchiv (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 61), München 2020, S. 9–19. 62 Zu den Anforderungen an die Dokumentation der Schriftgutbe- und verarbeitungsprozesse siehe die DIN/ISO 15489-1. – Siehe dazu Alexandra Lutz (Hrsg.), Schriftgutverwaltung nach DIN ISO 15489-1. Ein Leitfaden zur qualitätssicheren Aktenführung, Berlin-Wien-Zürich 2012, S. 37 und S. 68 f. 63 Siehe dazu etwa Die E-Akte in der Praxis (wie Anm. 61) S. 12. 61
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kenntnissen vereinbar sind, die die Forschung aus anderen Quellen gewonnen hat, wird sicherlich auch in Zukunft in Frage gestellt werden. Ähnlich wie im Falle der Ostarrichi-Urkunde können bei der Authentizitätsprüfung dabei auch die bereits vorliegenden Forschungsergebnisse ins Kalkül gezogen werden, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt aus den in Frage stehenden Quellen geschöpft wurden und daher unter Umständen auch Rückschlüsse auf einen früheren Zustand im Lebenszyklus der Daten zulassen. Angesichts der Manipulierbarkeit elektronischer Daten wird zudem ganz generell viel davon abhängen, dass Archive der Öffentlichkeit als verlässliche, transparente und berechenbare Einrichtungen gegenübertreten. In dieser Hinsicht genießen sie bislang einen Vertrauensvorschuss, der nicht gefährdet werden darf. Um diesen kontinuierlich zu rechtfertigen, bedarf es nicht nur einer vertrauenswürdigen Infrastruktur für die digitale Archivierung, sondern auch verlässlicher und möglichst standardisierter Verfahren und Methoden.64 Auch deshalb spricht vieles dafür an den etablierten Arbeitsweisen nach Möglichkeit festzuhalten. Insbesondere das Provenienzprinzip bietet einen wichtigen Ansatzpunkt, um die Glaubwürdigkeit der in einem Archiv verwahrten Unterlagen zu untermauern, indem es dafür sorgt, den Entstehungs-, Herkunfts- und Überlieferungszusammenhang zu wahren, der es erlaubt, einzelne Dokumente und Archivalien in ihrem Kontext zu verorten und aus diesem heraus zu interpretieren.65 Generell ist deshalb davon auszugehen, dass Informationen über die Entstehung der Daten, ihre Nutzung durch die abgebende Stelle, ihre Anbietung und Übergabe an das Archiv sowie alle Maßnahmen der Bestandserhaltung – sprich der dauernden Lesbarhaltung – für die Einschätzung der Integrität und Authentizität elektronischer Unterlagen eher noch an Gewicht gewinnen werden.66 Wie das Beispiel der Ostarrichi-Urkunde zeigt, ist aber auch das nicht völlig neu, sondern wird in entsprechend gelagerten Fällen von der wissenschaftlichen Forschung schon jetzt berücksichtigt. In diesem Zusammenhang darf nicht außer Acht gelassen werden, dass alleine schon die Tatsache, dass ein Archivale ungestört an der Stelle verwahrt wird, an der es nach den Zuständigkeitsregelungen der Archive, die bei öffentlichen Archiven meist in Archivgesetzen, Archivsatzungen Keitel – Schoger (wie Anm. 52) S. 4. Ksoll-Marcon (wie Anm. 1). – Grau (wie Anm. 48) S. 66–69. 66 Siehe etwa Keitel – Schoger (wie Anm. 52) S. 59 f. – Puchta (wie Anm. 52), insbesondere S. 264–268. 64 65
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und Organisationserlassen fixiert sind, zu erwarten ist, dessen Plausibilität untermauert (unbroken custody). Diesen Zusammenhang evident zu halten, dient die schon lange gängige Praxis, die Aussonderung und Übernahme des archivwürdigen Schriftguts von den abgebenden Stellen in den Aussonderungsakten nachvollziehbar zu dokumentieren. Bei der Übernahme elektronischer Unterlagen können die Anbiete- und Übergabeprozesse sogar noch differenzierter protokolliert werden, zumindest dann, wenn die Aussonderung über klar definierte Aussonderungsschnittstellen abgewickelt wird.67 Noch deutlich intensiver dokumentiert werden muss aber sicherlich der weitere Umgang des Archivs mit den von ihm übernommenen Unterlagen, insbesondere jeder Eingriff in das übernommene Datenformat und damit in den ans Archiv abgegebenen Bitstream.68 Eine besonders gravierende Änderung ergibt sich zweifellos aus der Tatsache, dass elektronische Dokumente mit keinem festen Trägermaterial mehr verbunden sind. Damit entfallen Echtheitskriterien, die beim Schreib- bzw. Beschreibstoff und dessen Eigenschaften ansetzen. Allerdings weisen auch elektronische Dateien Eigenschaften auf, die in Verbindung mit den dazu gespeicherten Metadaten als Kriterien für die Glaubwürdigkeit des Dateiinhalts herangezogen werden können. Das bedeutet aber auch, dass diese Merkmale identifiziert, beschrieben und über alle Migrationszyklen hinweg dauerhaft erhalten werden müssen. Diese Dateieigenschaften werden im archivfachlichen Diskurs als „signifikante Eigenschaften“ bezeichnet.69 Dabei handelt es sich zunächst um technische Siehe dazu etwa Wege ins Archiv. Ein Leitfaden für die Informationsübernahme in das digitale Langzeitarchiv, Version I, hrsg. von der nestor-Arbeitsgruppe Standards für Metadaten, Transfer von Objekten in digitale Langzeitarchive und Objektzugriff (nestor-materialien 10), o.O. 2008, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0008-2008103009, S. 21. 68 Siehe dazu Leitfaden zur digitalen Bestandserhaltung. Vorgehensmodell und Umsetzung, Version 2.0, hrsg. von der nestor-Arbeitsgruppe Digitale Bestandserhaltung (nestor-materialien 15), o.O. 2012, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0008-2012092400, S. 26–28. 69 Was solche „signifikanten Eigenschaften“ von elektronischen Archivalien sein können, ist im Einzelnen noch nicht abschließend definiert. Für Festlegung signifikanter Eigenschaften von elektronischen Geodaten hat die „Arbeitsgruppe Geobasisdaten“, die gemeinsam von der Arbeitsgemeinschaft der Vermessungsverwaltungen der Länder (AdV) sowie der Konferenz der Leiterinnen und Leiter der Archivverwaltungen des Bundes und der Länder eingesetzt wurde, inzwischen erste Vorschläge unterbreitet. Siehe dazu die Leitlinien zur bundesweit einheitlichen Archivierung von Geobasisdaten. Abschlussbericht der gemeinsamen AdV-KLA-Arbeitsgruppe „Archivierung von Geobasisdaten“ 2014–2015, aktualisiert 2021, Potsdam 2022, insbesondere Kapitel 5.4, S. 35–38. Vgl. den Leitfaden zur digitalen Bestandserhaltung. Vorgehensmodell und Umsetzung, Version 2.0, hrsg. von der nestorArbeitsgruppe Digitale Bestandserhaltung (nestor-materialien 15), o.O. 2012, http://nbn67
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Parameter. Im konkreten Einzelfall können diese aber auch dafür Gewähr bieten, dass ein Dokument dauerhaft auf fest definierte Weise am Bildschirm angezeigt werden kann. V I . K r i t e r i e n f ü r d i e Au t h e n t i z i t ä t von digitalem Archivgut Die vorstehenden Darlegungen sollten in groben Zügen aufzeigen, dass sich das Geschäftsschriftgut der öffentlichen Verwaltung und der öffentlichen Gerichte durch die elektronische Arbeitsweise gravierend verändert, und welche Auswirkungen dies für die Übernahme, Archivierung und dauerhafte Erhaltung dieser Unterlagen durch die Archive, aber auch für die Nutzung durch die Forschung haben wird. Die weitreichendsten Veränderungen ergeben sich dabei sicherlich im Bereich des Trägermaterials, da die Eigenschaften der Beschreibstoffe im elektronischen Umfeld vollständig durch technische Parameter abgelöst werden, die zudem auf weiten Strecken als fluide erscheinen, weil Datenmigrationen für die Lesbarhaltung der Ursprungsdateien nach derzeitigem Stand wohl unverzichtbar sein werden. Auch die individuellen Eigenschaften der Handschrift werden im elektronischen Umfeld fast vollständig verschwinden und als Kriterien der Authentizitätsprüfung entfallen. Es gehört daher sicher zu den großen Herausforderungen, die sich den Archivaren künftig stellen werden, stattdessen schon im Rahmen des Aussonderungsprozesses die konstitutiven technischen Eigenschaften und Parameter der zu archivierenden elektronischen Dateien zu identifizieren und in Form von signifikanten Eigenschaften explizit zu machen, mit dem Ziel diese auf Dauer erhalten und in Zukunft auch als Maßstab für die Integrität und Authentizität der archivierten elektronischen Dokumente heranziehen zu können. Damit ist klar, dass für die Archivierung elektronischer Unterlagen zumindest partiell neue Verfahren und Methoden entwickelt werden müssen, die sicherstellen können, dass elektronische Dokumente auch von künftigen Benützern noch als glaubwürdig und verlässlich angesehen und notfalls auch vor Gericht als beweisfest anerkannt werden. Dieser Beitrag sollte aber auch zeigen, dass nicht alle formalen Eigenschaften amtlicher Unterlagen verschwinden werden und dass die von resolving.de/urn:nbn:de:0008-2012092400, S. 22 f. – Keitel (wie Anm. 34) S. 143–145. – Puchta (wie Anm. 52) S. 259–268.
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der Urkundenforschung entwickelte methodische Herangehensweise und viele der dabei identifizierten Echtheitskriterien auch bei elektronischen Unterlagen ihre Relevanz grundsätzlich behalten dürften, sofern sie an deren spezifischen Eigenschaften und Erscheinungsformen ausgerichtet werden. Wirft man daher abschließend noch einmal einen Blick auf den Katalog der weiter oben identifizierten Kategorien von Echtheits- und Authentizitätskriterien, so wird man daran nur leichte Modifikationen vorzunehmen haben: – Sprache/Duktus/Formular – Form/Erscheinung/Ästhetik/“look and feel“ – Entstehung/Erstellung/Bearbeitung – Inhalt/Gehalt/Funktion – Bestands- bzw. Überlieferungszusammenhang/Provenienz – Kontinuität/Überlieferungsgeschichte/Gang der Forschung – Lagerort/Verwahrende Institution – Unberührtheit/Eingriffe/Pflege/Veränderungen – Signifikante Dateieigenschaften Herausforderung bleibt es gleichwohl, diese Kategorien auf die einzelnen Erscheinungsformen des amtlichen Schriftguts zu übertragen, also die Kriterien im Einzelnen zu definieren, die im jeweiligen Fall für die Prüfung der Authentizität eine Rolle spielen können. Im Umkehrschluss müssten sich daraus auch diejenigen Merkmale der zu archivierenden Daten bestimmen lassen, die geeignet sind, deren Glaubwürdigkeit auf Dauer zu untermauern. Aus der Notwendigkeit, diese dauerhaft zu erhalten, ergeben sich für die Archive wiederum spezifische Anforderungen an die Prozesse der Übernahme, des Erhalts und der Bereitstellung der elektronischen Archivalien. Gelingt es, diese zuverlässig in die Archivpraxis zu implementieren, würde dies erheblich dazu beitragen, dass das Archivgut in Zukunft bei den Forschern als vertrauenswürdig eingestuft und auch vor Gericht als beweiskräftig anerkannt wird. Wie die vorausgehende Argumentation zeigen sollte, geht es dabei keineswegs nur um den Erhalt einzelner technischer Parameter, sondern auch um die Protokollierung und Bereitstellung von Kontext- und Metainformationen zu den archivierten Daten sowie um prozessuale Vorgehensweisen, die deren gesamten Lebenszyklus betreffen.
Elisabeth Schwarzhaupt – die erste Bundesministerin – eine Spurensuche in den Quellen Von Andrea Hänger In der Diskussion um Gleichberechtigung und Teilhabe spielen Vorbilder oft eine große Rolle. Gerade bei der Frage der Repräsentanz von Frauen in den Spitzenämtern in Politik und Verwaltung wäre hier eine kollektive Erinnerung an die Frauen, die solche Ämter bekleidet haben, zu erwarten, zumal der jährliche Gleichstellungsindex des Statistischen Bundesamtes ausweist, wie solitär solche Funktionen noch immer sind.1 Umso erstaunlicher ist es, dass die erste Frau, die in der Geschichte der Bundesrepublik ein Bundesministerium leitete, Elisabeth Schwarzhaupt, bis heute keinen nennenswerten Platz in der kollektiven Erinnerung einnimmt. Dabei gibt ihre außergewöhnliche Biographie keinen Anlass für Desinteresse und die Quellenlage ist hervorragend. Ihr umfangreicher Nachlass ist über vier Archive verteilt.2 Auch die staatliche Überlieferung aus ihrer Bonner Zeit ist umfangreich. Sowohl das Bundesarchiv als auch das Archiv für christlich-demokratische Politik haben sich nicht nur um ihren Nachlass bemüht, sondern darüber hinaus aktiv versucht, neben der schriftlichen Überlieferung ihre eigene Geschichte durch Interviews zu bewahren.3 Zudem hat Schwarzhaupt selbst ihre Lebenserinnerungen publiziert.4 Die Geschichte dieser Frau ist mit der 2001 zu ihrem hundertsten Geburtstag erschienenen Biographie noch lange nicht auserzählt, https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Oeffentlicher-Dienst/Publikationen/_publikatio nen-innen-gleichstellungsindex.html (aufgerufen am 20.6.2021). 2 Teilnachlässe liegen im Bundesarchiv in Koblenz, im Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung in St. Augustin, im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin sowie im Institut für Stadtgeschichte in Frankfurt a. Main, vgl. Zentrale Datenbank Nachlässe beim Bundesarchiv https://www.bundesarchiv.de/nachlassdatenbank/ viewresult.php?sid=2ce6ddb262398c092cbaf (aufgerufen am 22.3.2022). 3 Interview mit Heribert Koch vom 11.3.1976, Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Bestand Schwarzhaupt, Elisabeth (01-048) https://bestandsuebersicht-acdp.faust-web.de/ objekt_start.fau?prj=KAS&dm=Schriftgutarchiv&ref=6119. – Interview von Prof. Dr. Kahlenberg mit Frau Dr. [Elisabeth] Schwarzhaupt in Frankfurt/Main, 13.9.1985, Bundesarchiv (BArch) B 198 TON/78. 4 Elisabeth Schwarzhaupt. In: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Aufzeichnungen und Erinnerungen, Band 2, Boppard 1983, S. 235–284. 1
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da ihre Biographinnen die Bonner Zeit als Abgeordnete und Ministerin geradezu auffällig kurz behandeln. Möglicherweise folgen sie damit der Deutung Elisabeth Schwarzhaupts, die diese Zeit ihres Lebens in den zahlreich vorliegenden Lebenserinnerungen nicht besonders herausstellt. Weitere wissenschaftliche Literatur gibt es kaum.5 Der aktuellste Beitrag über sie in der Neuen Deutschen Biographie ist sehr kurz und erwähnt nicht einmal die einschlägigen Nachlassteile,6 ihr Wikipedia-Eintrag stützt sich als Hauptquelle auf eine kleine, 2009 veröffentlichte virtuelle Ausstellung des Bundesarchivs.7 Im Folgenden soll versucht werden, vor allem die Zeit in Bonn und hier besonders die Zeit als Ministerin anhand ganz unterschiedlicher Quellenarten vorzustellen und damit dazu einzuladen, nicht nur Schwarzhaupts eigener Erzählung und Perspektive zu folgen. He r k u n f t u n d b e r u f l i c h e r We rd e g a n g Elisabeth Schwarzhaupt wurde 1901 in Frankfurt am Main geboren. Ihr Vater war Oberschulrat und saß in der Weimarer Republik als Abgeordneter der Deutschen Volkspartei (DVP) im Preußischen Landtag. Ihre Mutter, die aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie stammte, hatte selbst das Lehrerinnenexamen gemacht, so dass auch der Tochter der Weg zu Abitur und Studium offenstand.8 Von 1921 bis 1925 studierte Elisabeth Schwarzhaupt Rechtswissenschaften in Frankfurt und Berlin und legte im Die zwei publizierten Biographien sind Heike Drummer – Jutta Zwilling, Elisabeth Schwarzhaupt. Eine Biographie. In: Die hessische Landesregierung (Hrsg.), Elisabeth Schwarzhaupt (1901–1986). Portrait einer streitbaren Christin, Freiburg 2001 und Ursula Salentin, Elisabeth Schwarzhaupt – erste Ministerin der Bundesrepublik. Ein demokratischer Lebensweg (Herderbücherei 1270), Freiburg 1986, die sich ausschließlich auf die Lebenserinnerung Elisabeth Schwarzhaupts stützt. Zur Forschungslage s. ausführlich Harald Ille, Elisabeth Schwarzhaupt als Bundesgesundheitsministerin, Magisterarbeit 2003, S. 10–14. Aus dem gleichen Jahr ist die zahnmedizinische Doktorarbeit von Nina Stenger, Elisabeth Schwarzhaupt (1901–1986): Erste Gesundheitsministerin der Bundesrepublik Deutschland. Leben und Werk. Die beiden letztgenannten Arbeiten sind nur als Belegexemplare in der Dienstbibliothek des Bundesarchivs zu finden. 6 Gabriele Metzler, „Schwarzhaupt, Elisabeth“. In: Neue Deutsche Biographie 24 (2010) S. 27–28. Online-Version: https://www.deutsche-biographie.de/pnd1031768335.html#ndb content (aufgerufen am 20.6.2021). 7 https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Virtuelle-Ausstellungen/Elisabeth-SchwarzhauptEine-Streitbare-Politikerin/elisabeth-schwarzhaupt-eine-streitbare-politikerin.html (aufgerufen am 21.6.2021). 8 Selbstverfasster Lebenslauf, BArch N 1777/37. 5
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April 1930 die zweite juristische Staatsprüfung ab. Im direkten Anschluss übernahm sie eine Stelle als Rechtsberaterin bei der Rechtsschutzstelle für Frauen in Frankfurt, ab 1932 arbeitete sie als Richterin. Bereits in den 20er Jahren war sie politisch in der Deutschen Volkspartei aktiv und engagierte sich in der evangelischen Frauenarbeit. 1931 veröffentlichte sie im Rahmen ihrer Arbeit für den Deutsch-Evangelischen Frauenbund einen Artikel sowie eine von der DVP vertriebene Broschüre mit dem Thema „Was haben die Frauen vom Nationalsozialismus zu erwarten“. Darin kam sie zu dem Schluss, dass die nationalsozialistische Ideologie Stellung wie Würde der Frauen herabsetzen würde und rief die Frauen auf, sich gegen den Nationalsozialismus zu stellen und „der Idee der Freiheit, dem Liberalismus die Treue“ zu halten.9 Allerdings lag es wohl nicht an dieser klaren politischen Positionierung,10 dass am 15. Mai 1933 ihre befristete Beschäftigung als Vertretungsrichterin in Dortmund endete und in der Folge alle ihre Versuche, eine feste Stelle im höheren Justizdienst zu erlangen, scheiterten.11 Als Frau hatte sie hier keine Chance. Ebenso erfolglos blieb ihr Versuch, eine Anstellung in der Schweiz zu finden. Hierhin wollte sie ihrem Verlobten, einem jüdischen Arzt aus Gelsenkirchen, folgen, der bereits im April 1933 nach Zürich emigriert war. Im April 1934 begann sie in Berlin als Rechtsberaterin für den Reichsbund der deutschen Kapital- und Kleinrentner zu arbeiten, zwei Jahre später wechselte sie als Referentin zur Kirchenkanzlei der Deutschen Evangelischen Kirche. Dort wurde sie im April 1939 zur Konsistorialrätin ernannt und war damit die erste Kirchenbeamtin in Deutschland.12 1948 wechselte sie in das Kirchliche Außenamt der EKD unter der Leitung Martin Niemöllers. Bei den Bundestagswahlen 1953 trat sie im Wahlkreis Wiesbaden für die CDU an und zog über die hessische Landesliste in den Bundestag ein, dem sie bis 1969 angehörte. Elisabeth Schwarzhaupt, Die Stellung des Nationalsozialismus zur Frau. In: Evangelische Frauenzeitung 33 (1931/31) S. 122 f. Die Broschüre ist abgedruckt bei Hessische Landesregierung (wie Anm. 5) S. 236–246, Zitat S. 246. – Zu ihrem Engagement vor 1933 s. auch Andrea Süchting-Hänger, Das Gewissen der Nation. Nationales Engagement und politisches Handeln konservativer Frauenorganisationen 1900 bis 1937 (Schriften des Bundesarchivs 59), Düsseldorf 2002, S. 349. 10 So dargestellt bei Gabriele Metzler, Elisabeth Schwarzhaupt. In: Udo Kempf – HansGeorg Merz (Hrsg.), Kanzler und Minister 1949–1998. Biografisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen, Wiesbaden 2001, S. 643–649. 11 S. dazu Drummer – Zwilling (wie Anm. 5) S. 36 f. 12 Der Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten an den Leiter der Kirchenkanzlei, 22.3.1939, BArch R 5101/23710. 9
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S c h w a r z h a u p t a l s Pa r l a m e n t a r i e r i n Um einen Eindruck von der Parlamentarierin Schwarzhaupt zu erhalten, sind die Stenographischen Berichte der Parlamentsdebatten eine hervorragende Quelle. Im Bundestag hatte sie am 12. Februar 1954 ihren damals vielbeachteten ersten Auftritt. Es ging um die Frage der Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts. Anders als die Weimarer Reichsverfassung, die in Artikel 119 lediglich „grundsätzlich die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“ einführte, zielten die Väter und Mütter des Grundgesetzes mit der uneingeschränkten Formulierung in Artikel 3: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ auch auf die Gleichberechtigung im Bereich des bürgerlichen Rechts. Sie gaben dem neuen Gesetzgeber in Artikel 117 Grundgesetz bis zum 31. März 1953 Zeit, die dafür notwendigen Anpassungen im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) umzusetzen. Konkret ging es um die §§ 1354 und 1628 BGB. Der sogenannte Stich- oder Letztentscheid des § 1354 BGB ermöglichte es dem Mann, bei ehelichen Meinungsverschiedenheiten die abschließende Entscheidung für die gesamte Familie zu treffen. § 1628 regelte das Letztentscheidungsrecht des Vaters in strittigen Fragen der Kindererziehung.13 In der Debatte des Jahres 1954 ging es vorrangig um den Stichentscheid. Elisabeth Schwarzhaupt argumentierte hier für eine vollständige Gleichberechtigung der Frauen mit dem Verweis auf das vor allem durch die Industrialisierung veränderte Gefüge zwischen den Geschlechtern, das der Staat nicht mit der Gesetzgebung aufhalten könne. Gegenspielerinnen in der parlamentarischen Debatte waren nicht nur Familienminister FranzJosef Wuermeling, sondern auch ihre Fraktionskollegin Helene Weber, die bereits in der Weimarer Republik für das Zentrum im Reichstag gesessen hatte. Die Debatte markierte nicht nur einen Meilenstein in der Familienpolitik der Bundesrepublik und eine Sternstunde parlamentarischer Demokratie, sie zeigt auch eindrucksvoll, wie sich innerhalb der CDU Auffassungen zu verschieben begannen, repräsentiert durch zwei außergewöhnliche Frauen unterschiedlicher Konfession, die beide für ihre jeweilige Generation alles andere als durchschnittliche Lebenswege aufwiesen. Die Fraktion folgte schließlich der konservativen Position Webers, die sich S. dazu ausführlich Gabriele Müller-List (Bearb.), Gleichberechtigung als Verfassungsauftrag. Eine Dokumentation zur Entstehung des Gleichberechtigungsgesetzes vom 18. Juni 1957 (Dokumente und Texte 2), Düsseldorf 1996. 13
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für den Stichentscheid aussprach, ließ aber Schwarzhaupt zumindest die entgegengesetzte Position vertreten. Mit Schwarzhaupt waren zahlreiche andere Frauen im Parlament aktiv, das Kabinett hingegen war nach wie vor eine Männerdomäne. Im Sommer 1956 wurde in der Öffentlichkeit über eine mögliche Familienministerin diskutiert. Der Bundeskanzler wurde zitiert, er habe angekündigt, nach den Bundestagswahlen das Familienministerium mit einer Frau zu besetzen. Der amtierende Familienminister Franz-Josef Wuermeling erfuhr von dieser Absicht aus der Presse und bot dem Bundeskanzler umgehend sein Ministeramt an.14 Dieser antwortete ihm noch am gleichen Tag, dass er niemals davon gesprochen habe, das Familienministerium mit einer Frau zu besetzen, er habe lediglich gesagt, er wünschte, „es wären 2–3 Frauen im Kabinett“, vom Familienminister sei „weder in der Frage noch in der Antwort die Rede gewesen“.15 Trotz dieses Dementis hielten sich diese Spekulationen hartnäckig.16 Im Wahlkampf 1957 versprach Konrad Adenauer ganz explizit den Frauen in seiner Partei, aber auch den Wählerinnen, nach den Wahlen erstmals einer Frau ein Ministeramt zu übertragen.17 Elisabeth Schwarzhaupt, die diesmal über ein Direktmandat in den Bundestag gewählt wurde, galt vielen als beste Besetzung für das Familienministerium.18 Das Justizministerium einer Frau zu übergeben, hatte Adenauer bereits im Vorfeld mit Verweis auf Hilde Benjamin, die in der DDR dieses Amt innehatte, kategorisch abgelehnt.19 Und auch beim Familienministerium entschied Adenauer am Ende anders. Franz-Josef Wuermeling sollte wider Erwarten Familienminister bleiben. Als die Namen der designierten Minister bekannt wurden, gingen zahlreiche Beschwerdebriefe und -telegramme von Frauenorganisationen im Kanzleramt ein. Eine persönliche Antwort des Bundeskanzlers erhielt nur seine Parteikollegin Helene Weber, der er am 20. Dezember mitteilte, es sei „auch diesmal nicht möglich [gewesen], bei der Bildung der Bundesregierung eine Frau für ein Ministeramt vorzusehen“. Der Entwurf des Schreibens suggeriert, dass diese Entscheidung nicht in seiner Macht gestanden habe. Diese Passagen wurden aber noch Wuermeling an Adenauer, 20.7.1956, BArch B 136/4618. Adenauer an Wuermeling, 23.7.1956, BArch B 136/4618. 16 Wechsel im Familienministerium?, Frankfurter Neue Presse, 2.10.1957, BArch B 136/4620, fol. 246. 17 Ille (wie Anm. 5) S. 32. 18 Drummer – Zwilling (wie Anm. 5) S. 89. 19 Schwarzhaupt (wie Anm. 4) S. 266. 14 15
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im Kanzleramt gestrichen.20 Die übrigen Frauenorganisationen erhielten nur eine dürre Antwort von Staatssekretär Hans Globke, der Bundeskanzler werde „keine Erklärung abgeben, warum er davon abgesehen hat, dem Wunsche der Frauenorganisationen zu entsprechen“.21 Elisabeth Schwarzhaupt wurde aber zumindest als erste Frau Mitglied des Fraktionsvorstandes der CDU. Hier wurde auf Anregung ihrer Fraktionskollegin Else Brökelschen, einer Fraktionskollegin ihres Vaters im Preußischen Landtag, ein zusätzlicher Posten geschaffen, um auch die Frauen zu repräsentieren.22 Vor der Bundestagswahl 1961 bestanden dann wiederum hohe Erwartungen. Auch die Presse ging von der Aufnahme einer Frau in das Kabinett aus. Hier wurde aber allgemein erwartet, dass es sich um das Familienministerium handeln würde: „Eine Aufnahme einer Frau ins Kabinett beruht beinahe auf der Existenz eines solchen Ministeriums“23 Allerdings drohte auch hier bald wieder eine ähnliche Situation wie 1957. Die Koalitionsverhandlungen zogen sich in die Länge. Die geschwächte CDU konnte gegenüber dem Koalitionspartner FDP kein zusätzliches Ministerium durchsetzen. Was nun folgte, ist nicht nur retrospektiv und anekdotenhaft überliefert, sondern aus der unmittelbaren Beschreibung einer „Augenzeugin“. In einem Brief an die weiblichen CDU-Bundestagsabgeordneten schilderte die Leiterin des Frauenreferates der Bundesgeschäftsstelle der CDU, Ilse Bab, die Vorkommnisse. Nach einem ergebnislosen Gespräch mit dem Bundeskanzler am 9. November bat Helene Weber ihre Fraktionskolleginnen für den Folgetag zu einer Besprechung. Die Frauen gaben eine Presseerklärung ab, in der sie ein Ministeramt für Frauen forderten und ihrer Erwartung Ausdruck verliehen, dass Elisabeth Schwarzhaupt dieses Amt erhalten solle. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, versammelten sich die Frauen vor dem Kabinettssaal im Kanzleramt, in dem gerade die Koalitionsverhandlungen stattfanden. Adenauer verweigerte hier aber noch ein Gespräch, erst am Abend empfing er vier Vertreterinnen der Gruppe und gab ihnen die Zusage, ein zusätzliches Ministerium für die CDU einzurichten und dies einer Frau zu übertragen.24 Adenauer an Helene Weber, 20.12.1957, BArch B 136/4620. Der Staatssekretär des Bundeskanzleramtes an den Informationsdienst für Frauenfragen, 27.11.1957, BArch B 136/4620. 22 Interview mit Prof. Kahlenberg (wie Anm. 3). 23 Alte und Neue um Adenauer, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.8.1957, BArch B 136/4620, fol. 244. 24 Ilse Bab, Frauenreferat der Bundesgeschäftsstelle der CDU an die weiblichen Abgeordneten der CDU-Bundestagsfraktion, 11.11.1957, BArch N 1177/19. – Dieser Brief ist auch 20 21
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Es ist überaus bemerkenswert, dass es den Frauen gelungen ist, ihre Forderungen durchzusetzen, da sie die Koalitionsverhandlungen dadurch nochmals durcheinanderbrachten, welche als die „schwierigsten und zermürbendsten in der Geschichte der Republik“25 gelten. Warum Adenauer schließlich einlenkte, ist nicht überliefert, die Angst vor einem Verlust weiterer Wähler- respektive Wählerinnenstimmen nach dem Verlust der absoluten Mehrheit wird mit Sicherheit eine Rolle gespielt haben. Die Geschichte des ersten „Sit-ins“ in der Bundesrepublik wird in jedem Text zu Schwarzhaupt erzählt, was nicht erzählt wird ist, dass der überrumpelte Adenauer sich noch keineswegs vollständig geschlagen gab und noch am 11. November versuchte, die Ernennung Elisabeth Schwarzhaupts zu verhindern und stattdessen eine andere Frau zu überzeugen, das Ministeramt zu übernehmen. Während die CDU-Frauen schon ihren Erfolg feierten, schrieb er der Hagener Bundestagsabgeordneten Luise Rehling, die gleichzeitig Mitglied der Beratenden Versammlung des Europarates war, und bat sie, ein Ministeramt zu übernehmen.26 Er nannte kein konkretes Ressort, sondern forderte: „Die Frau soll sich mit allen Belangen der Frauen bei allen Gesetzen befassen.“27 Die Frau solle „aus sich herausgehen können“, um im Kabinett auch bei Gesetzentwürfen mitzudiskutieren, die „zunächst vielleicht nicht für die Frau von besonderer Bedeutung zu sein scheinen“. Dies traue er der zurückhaltenden Schwarzhaupt nicht zu, formulierte er vorsichtig. An anderer Stelle scheint er noch deutlicher geworden zu sein. Wie die Kieler Nachrichten einige Jahre später berichteten, habe er sich nicht vorstellen zu können, mit einer „Tiefkühltruhe“ zusammenzuarbeiten.28 Außerdem erhoffte er sich von Rehlings Europatätigkeit „bessere und genauere Berichte über die europäischen Fragen“. Das Arbeitsaufkommen im neuen Amt schien er als nicht besonders hoch zu bewerten, da er sowohl die Fortführung der europäischen Aufgaben für in der erwähnten Galerie des Bundesarchivs unter https://www.bundesarchiv.de/DE/Con tent/Virtuelle-Ausstellungen/Elisabeth-Schwarzhaupt-Eine-Streitbare-Politikerin/elisabethschwarzhaupt-eine-streitbare-politikerin.html (aufgerufen am 21.6.2021) zu finden. 25 Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 212. 26 Leider besteht der Nachlass von Luise Rehling nur aus wenigen Fragmenten aus ihrer Zeit als Bundestagsabgeordnete, überwiegend handelt es sich um Mitschriften aus Fraktionssitzungen. BArch N 1152. 27 Adenauer an Luise Rehling, 11.11.1957. In: Rudolf Morsey – Hans Peter Schwarz (Hrsg.), Adenauer Briefe 1961–1963, Paderborn 2006, S. 57. 28 Kieler Nachrichten vom 7.01.1966, BArch N1177/2.
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möglich hielt, als auch versicherte, dass Rehling nicht befürchten müsse, ihren Mann zu vernachlässigen. Er hoffte auf eine möglichst sofortige Zusage und bot ihr, sollte sie Zweifel haben, ein Gespräch am 13.11. in Bonn an. Dieses nahm Rehling an, lehnte aber unter Verweis auf die Krankheit ihres Mannes den angebotenen Posten ab.29 So wurde am 14. November 1961 Elisabeth Schwarzhaupt zur ersten Ministerin in der Geschichte der Bundesrepublik ernannt. In den – wie erwähnt – schwierigen Koalitionsverhandlungen war nur die Einrichtung eines neuen, zusätzlichen Ressorts verhandelbar. So wurde für Elisabeth Schwarzhaupt das Bundesministerium für Gesundheitswesen geschaffen. Pläne hierfür hatte es schon eine Weile gegeben, sie wären allerdings zu diesem Zeitpunkt ohne die Notwendigkeit, einen zusätzlichen Posten für eine Frau zu schaffen, nicht realisiert worden. Die Gesundheitspolitik war nicht Schwarzhaupts Wunschressort, sie wäre lieber Familienministerin geworden, doch war sie als unverheiratete Protestantin für diese Aufgabe wohl nicht vermittelbar.30 Allerdings konnte sie nach dem Einsatz ihrer Parteikolleginnen, bei dem sie durchaus auch im Hintergrund mitgewirkt hatte,31 den Posten nicht ablehnen und zog, wie sie es selbst bezeichnete, als „Alibifrau“ in das neue Kabinett ein. Elisabeth Schwarzhaupt als Ministerin in der staatlichen Überlieferung wiederzufinden, setzt an vielen Stellen das Wissen voraus, dass „der Minister für das Gesundheitswesen“, wie der offizielle Briefkopf lautete, seit 1961 eine Frau war. Das gilt auch für die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, in denen regelmäßig nur die männliche Form vorkommt. Selbst bei der Wiedergabe des Diskussionsverlaufs wählten die Protokollanten, heute kaum mehr vorstellbar, in der Regel „er“ als Personalpronomen.32 In gewisser Weise stilbildend wirkte das erste Schreiben des Kanzleramtes an die neu ernannten Kabinettsmitglieder zur geplanten Ressortaufteilung. Der Entwurf des Schreibens war an die „Herren Bundesminister und Frau Bundesminister Dr. Schwarzhaupt“ gerichtet, die besondere Erwähnung der Ministerin wurde aber ganz offensichtlich von Staatssekretär Adenauer Briefe (wie Anm. 27) S. 377. So allerdings ohne Belege Hans-Peter Schwarz, Die Ära Adenauer, Epochenwechsel 1957–1963 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in fünf Bänden 3), StuttgartWiesbaden 1983, S. 239. 31 Ille (wie Anm. 5) S. 34. 32 Eine Ausnahme bildet folgendes Protokoll: 41. Kabinettsitzung am 15. August 1962 TOP A, Kabinettprotokolle der Bundesregierung online https://www.bundesarchiv.de/co coon/barch/0000/k/k1962k/kap1_2/kap2_38/para3_7.html (aufgerufen 21.6.2021). 29 30
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Hans Globke wieder gestrichen.33 Von diesem Zeitpunkt an wurden alle Schreiben nur noch an die Herren Bundesminister adressiert. Nur als Anekdote überliefert ist Schwarzhaupts vergebliches Bemühen, als Frau Ministerin angesprochen zu werden. Diese Bitte wies Adenauer in der ersten Kabinettsitzung mit der Bemerkung zurück: „In diesem Kreis sind Sie auch ein Herr!“34 Im Bundestag dagegen erregte die Tatsache, dass die Ministerin nicht in der ersten Reihe der Regierungsbank saß, die Aufmerksamkeit der Opposition. Sie fragte nach: „Erlaubt es die hergebrachte Hierarchie in der Bundesregierung, unserer ersten Frau Ministerin einen Platz in der vordersten Regierungsbank im Bundestag einzuräumen und sie aus der stets großen Zahl der hohen Ministerialbeamten herauszuholen?“ Allerdings war es nicht Respekt vor Amt und Aufgabe, welche die Opposition hier forderte, sondern die „Pflicht zur Ritterlichkeit“35. Vizekanzler Ludwig Erhard wand sich bei der Beantwortung der Frage und verwies auf die amtliche Reihenfolge der Ministerien.36 Schwarzhaupt hat es selbst ähnlich beschrieben. Als einzige Frau im Kabinett mit 20 Männern habe sie es insofern gut gehabt, als die Kollegen „nett und höflich“ mit ihr umgegangen seien. Umso schwerer sei es für sie bei Auseinandersetzungen um Zuständigkeiten und Haushaltsmittel gewesen.37 Die Klärung von Zuständigkeiten war tatsächlich die große Herausforderung, die sie zu bewältigen hatte. Sie musste sich diese, wie sie selbst später formulierte „zusammenzupfen“38, da die Funktionen des neuen Ministeriums für das Gesundheitswesen (BMGes) aus nicht weniger als vier bestehenden Ressorts zusammengezogen wurden. Als der Staatssekretär im Bundeskanzleramt die Kabinettsmitglieder mit dem oben erwähnten Schreiben über die Ressortzuschnitte informierte, entbrannte eine heftige Diskussion über die Kompetenzabgrenzungen, die sich bis Ende Januar Der Staatssekretär des Bundeskanzleramtes an die Bundesminister, 24.11.1961, BArch B 136/4659. 34 Drummer – Zwilling (wie Anm. 5) S. 93. – Überliefert ist diese Geschichte auch in ihrer Personalakte in einer undatierten Laudatio, die zur Erstellung ihres Nachrufs herangezogen wurde. BArch B 136/129690. 35 Stenographische Berichte des Deutschen Bundestags, 4. Wahlperiode, 8. Sitzung 13. Dezember 1961, S. 146 C. https://dserver.bundestag.de/btp/04/04008.pdf (aufgerufen am 21.6.2021). 36 In dieser Rangfolge stand sie an vorletzter Stelle, Liste der Bundesminister gemäß der Reihenfolge der Ministerien, 20.11.1961, BArch B 136/4620. 37 Schwarzhaupt (wie Anm. 4) S. 276. 38 Interview mit Prof. Kahlenberg (wie Anm. 3). 33
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1962 hinzog. Besonderer Streitpunkt waren die Zuständigkeiten für Tierseuchenbekämpfung und Schlachttier- und Fleischbeschau, die bis dahin im Landwirtschaftsministerium ressortierten. Landwirtschaftsminister Werner Schwarz holte sich Unterstützung bei seinem Landesverband und ließ den Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, Kai-Uwe von Hassel, in seiner Sache beim Bundeskanzler intervenieren.39 Widerstand gegen die Abgabe von Zuständigkeiten leistete auch der Bundesatomminister, Siegfried Balke, der seine Zuständigkeit für Wasserwirtschaft verlieren sollte und sich wiederum die Unterstützung seiner Kabinettskollegen Erhard, Schwarz und Christoph Seebohm sicherte.40 Von allen Seiten wurden auch die entsprechenden Verbände, Veterinärmedizin und Bauernverband in Sachen Tiermedizin, Wissenschaftsvertreter in Sachen Wasserwirtschaft mobilisiert. Der entsprechende Aktenband aus dem Kanzleramt zeigt „in nuce“ die Funktion von Politik als Ausgleich und Gegenspiel verschiedener Interessen. Im Spiel der Interessen wurde auch die Tatsache, dass die neue Ministerin eine Frau war, instrumentalisiert. Der Deutsche Bauernverband, der sich vehement gegen die Ausgliederung der Zuständigkeit für die Veterinärmedizin vom Landwirtschaftsministerium einsetzte, polemisierte nach Kräften, gegen „die Frau, die Frau Ministerin genannt werden will.“41 Am Ende blieb es bei den ursprünglichen Plänen. In dem durch Organisationserlass des Bundeskanzlers vom 29. Januar 196242 errichteten Ministerium wurden erstmals alle gesundheitspolitischen Aufgaben der Bundesregierung in einem Ressort vereinigt. Den Kern des neuen Ministeriums bildete die frühere Gesundheitsabteilung des Bundesministeriums des Innern (BMI), die sich in eine Unterabteilung für Humanmedizin, das Arzneimittel- und Apothekenwesen und eine Unterabteilung für Lebensmittel- und Veterinärwesen gegliedert hatte. Den zweiten Aufgabenschwerpunkt bildete die Kompetenz für Wasserwirtschaft, die zuvor beim Bundesministerium für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft ressortierte. An diese beiden Aufgabenschwerpunkte wurden weitere Kompetenzen angegliedert. So wurde die Zuständigkeit für die medizinischen und geKai-Uwe von Hassel an Bundeskanzler Adenauer, 10.1.1962, B 136/4659. Elisabeth Schwarzhaupt an den Staatssekretär im Bundeskanzleramt, 18.1.1962, B 136/4659. 41 Ausschnitt aus der Zeitschrift des Deutschen Bauernverbandes, BArch B 136/4659. 42 BArch B 146/5082, fol. 19–21, dort auch ein erläuterndes Schreiben des Bundeskanzlers an Schwarzhaupt, fol. 18, Direktlink: https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/ 9e37a7e6-bdb3-4e8c-9451-0cb4d382c126/ (aufgerufen 21.6.2021). 39 40
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sundheitspolitischen Grundsatzfragen der Reinhaltung der Luft und der Lärmbekämpfung sowie die Aufgaben der Rehabilitation und des Bäderwesens aus dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung übernommen. Aus dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten wurden die Zuständigkeiten für Fleischbeschau, für Fragen der Milchhygiene und der gesundheitlichen Ernährungsberatung in das Bundesministerium für Gesundheit verlagert. Aus dem Bundesministerium des Innern wurden 52 Beschäftigte in das neue Ministerium mit ihren Aufgaben umgesetzt, aus den anderen drei Ressorts insgesamt 22 Beschäftigte. Bis 1967 kamen 26 neue Stellen hinzu.43 Nach und nach bildeten sich aus dem anfänglichen organisatorischen Torso, bei dem Referate und eine Abteilung mit zwei Unterabteilungen und eine Gruppe nebeneinandergehängt waren, drei Fachabteilungen heraus: Abteilung I für Humanmedizin, Arzneimittel und Apothekenwesen, Abteilung II für Lebensmittelwesen und Veterinärmedizin sowie Abteilung III für Wasserwirtschaft, Reinhaltung der Luft und Lärmbekämpfung.44 Ein erster personalpolitischer Konflikt entfachte sich an der Frage der Besetzung des Staatssekretärspostens. In den Koalitionsverhandlungen war der FDP die Besetzung dieses Postens zugestanden worden, doch Schwarzhaupt weigerte sich, die vorgeschlagenen Kandidaten zu ernennen, weil sie ihnen die schwierige Aufgabe, aus den verschiedenen Organisationseinheiten ein Ministerium zu machen, nicht zutraute.45 Diese Weigerung brachte ihr, wie sie selber beschrieben hat, für acht Monate „die Ungnade von Adenauer“ ein.46 Schließlich bat sie Ende 1962 Hans Globke um Hilfe. Er vermittelte ihr mit dem Abteilungsleiter Walter Bargatzky aus dem Innenministerium einen für sie geeigneten Kandidaten, der ihr in der Zeit als Ministerin in großer Loyalität verbunden war und mit ihr das Amt verließ, obwohl Schwarzhaupts Amtsnachfolgerin ihm angeboten hatte, zu bleiben.47 Einer der von Schwarzhaupt abgelehnten Kandidaten war der Leiter der gesundheitspolitischen Abteilung im BMI, der mit in das BMGes wechselte, Dr. Josef Stralau. Er hatte fest mit dem Posten gerechnet und musste sich nun im Zuge der organisatorischen Weiterentwicklung Gerhart Attenberger – Helmut Eiden-Jaegers, Das Bundesministerium für Gesundheitswesen (Ämter und Organisationen der Bundesrepublik Deutschland 14), Bonn 1968, S. 12 und 72. 44 Organigramm, ebd. Anlage 4, S. 79–83. 45 Ille (wie Anm. 5) S. 51–54. 46 Schwarzhaupt (wie Anm. 4) S. 269. 47 Walter Bargatzky an Käthe Strobel, 1.12.1966, BArch N 1177/23. 43
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des Ministeriums mit einer deutlich kleineren Abteilung zufriedengeben, während sein früherer Unterabteilungsleiter mit deutlich mehr Zuständigkeiten als vorher die zweite Abteilung des Ministeriums übernahm. Stralau machte später auch im dienstlichen Schriftverkehr keinen Hehl aus seiner Unzufriedenheit mit seiner Ministerin.48 Gesundheitspolitische Themen Die Arbeit des Ministeriums wurde nicht eben dadurch erleichtert, dass allgemein bekannt war, dass seine Einrichtung nicht auf inhaltliche Gründe zurückzuführen war. Willy Brandt schlachtete in seiner Replik auf die Regierungserklärung die Erhöhung der Anzahl der Ministerien gehörig aus, das BMGes war das Ressort, das allein deshalb geschaffen werden musste, weil die „Damen der CDU“ eine Ministerin „durchgedrückt“ hatten, bevor es für sie ein Ministerium gab.49 Dabei hatte es durchaus schon vor der Wahl Planungen innerhalb der Bundesregierung gegeben, auf Drängen zahlreicher Verbände entweder ein eigenständiges Ministerium zu schaffen oder innerhalb des Bundesministeriums des Innern alle Bundeszuständigkeiten im Bereich der Gesundheitspolitik unter einem weiteren Staatssekretär zusammenzufassen.50 Denn die Zeit war durchaus reif für ein Ministerium, das sich neuen Herausforderungen in der modernen Industriegesellschaft annehmen konnte. Nicht nur die Tatsache, dass erstmals eine Frau Ministerin wurde, sondern auch das Entstehen eines neuen Politikfeldes passt in die hoch dynamische Zeit der frühen 60er Jahre. Nach der Sicherung der existenziellen Grundlagen der Bevölkerung und der Überwindung der unmittelbaren Kriegsschäden einerseits und der Festigung der staatlichen Institutionen andererseits war die Zeit für gesellschaftliche Veränderungen gekommen. Gleichzeitig zeigten sich bereits die ersten Folgen eines noch gänzlich ungebrochenen Fortschrittsglaubens der modernen Industriegesellschaft. Stralau an Dr. Engel, 4.2.1964, BArch B 146/3614. Stenographische Berichte des Deutschen Bundestags, 4. Wahlperiode, 6. Sitzung, 6.12.1961, S 54 A. https://dserver.bundestag.de/btp/04/04006.pdf (aufgerufen am 21.6.2021). – Das galt auch noch 1966, s. Durchdruck eines Schreibens von Gerhard Jungmann, Vorsitzender des gesundheitspolitischen Ausschusses der CDU an Bruno Heck, 15.9.1966, BArch B 136/4619. 50 Vermerk Bildung eines Bundesgesundheitsministeriums vom 4.9.1961, BArch B 146/5082, fol. 3–6, Direktlink: https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/9e37a7e6bdb3-4e8c-9451-0cb4d382c126/ (aufgerufen am 21.6.2021). 48 49
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Luft- und Wasserverschmutzung ebenso wie Lärmbelästigung waren nicht mehr zu übersehen und benötigten eine politische Antwort. Vizekanzler Ludwig Erhard verwies in seiner stellvertretend für den Bundeskanzler gehaltenen Regierungserklärung Ende November 1961 vor allem auf die zunehmenden Umweltprobleme, die ein eigenes Ministerium erforderlich machten und darauf, „daß zahlreiche Aufgaben für den Staat neu entstanden sind, sei es … aus der ständigen Komplizierung der modernen Gesellschaft oder auch aus der manchmal beklemmenden technischen Entwicklung“.51 Wichtige neue Themen waren der Schutz vor Radioaktivität oder die Verbindlichkeit von Impfungen. Noch bevor das Ministerium überhaupt formiert war, stand mit dem Contergan-Skandal ein weiteres Thema des Ressorts im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses: die Arzneimittelsicherheit. Ende November 1961 wurden erste Studienberichte veröffentlicht, die einen Zusammenhang zwischen einem Anstieg der Zahl körperlich stark missgebildeter Neugeborener und dem Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan nachweisen konnten. Allerdings machte dieses Thema bereits das Dilemma einer Bundesgesundheitspolitik offenbar. Dem Bund fehlten die verfassungsmäßigen Grundlagen für eine umfassende Gesundheitspolitik, die in weiten Teilen Ländersache war. Nicht einmal das Verbot von Contergan fiel in die Zuständigkeit der neuen Ministerin, sie konnte lediglich Modellprojekte für betroffene Kinder in orthopädischen Kliniken fördern.52 Im Mittelpunkt der Arbeit standen keine großen neuen Gesetzgebungsprojekte, sondern die Umsetzung dreier großer Gesetze aus der vorangegangenen Legislaturperiode, die über Verordnungen in die Praxis um
Stenographische Berichte des Deutschen Bundestags, 4. Wahlperiode, 5. Sitzung 29.11.1961, S. 22 D. https://dserver.bundestag.de/btp/04/04005.pdf (aufgerufen am 21.6.2021). 52 Schwarzhaupt (wie Anm. 4) S. 269 f. – Selbst die Unterstützung dieser Projekte war umstritten und das nicht nur zwischen Bund und Ländern, sondern auch innerhalb der Bundesregierung. Der Bundesfinanzministerium knüpfte die Zuweisung von Mitteln an die Bedingung, dass sich auch die Länder an der Finanzierung beteiligten. Vermerk zur Aufstellung des Bundeshaushalts 1963, 26.9.1962, BArch B 142/2794, fol. 18, Direktlink: https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/34f7f452-e68b-4bc0-b958-582ba3388d cb/ (aufgerufen 21.6.2021). 51
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zusetzen waren.53 Hierbei handelte es sich um das Bundesseuchengesetz54, das Arzneimittelgesetz55 und das Lebensmittelgesetz.56 Dabei stand der praktischen Arbeit in den Bereichen bereits bestehender Gesetze und Verordnungen die Schwierigkeit entgegen, dass in den Gesetzen explizit die bisher zuständigen Minister als zuständige Verordnungsgeber genannt wurden und die bloße Umressortierung der Aufgaben, wie sie der Bundeskanzler mit seinem Organisationserlass verfolgt hatte, nicht ausreichte. Es musste daher zunächst ein Gesetz verabschiedet werden, das den Übergang des Rechts auf dem Gebiet des Gesundheitswesens explizit regelte. Dieses wurde erst im Juli 1964 erlassen, galt dann aber rückwirkend vom Tag der Vereidigung Schwarzhaupts, dem 14. November 1961 an.57 Die mangelnde Gesetzgebungskompetenz des Bundes verhinderte die Realisierung einiger weiterer Gesetzgebungsprojekte, so zum Beispiel im Bereich der Jugendzahnpflege, in dem eine Bundeskompetenz im Bereich der Gesundheitsfürsorge geschaffen werden sollte. Der Bundesrat verweigerte hier am Ende die Zustimmung, indem er ein konkurrierendes Gesetzgebungsrecht des Bundes auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge verneinte und auf die Notwendigkeit einer Grundgesetzänderung verwies.58 Liste der erlassenen Verordnungen bei Attenberger – Eiten-Jaegers (wie Anm. 43) S. 23–33. 54 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen (Bundes-Seuchengesetz) vom 18. Juli 1961 (BGBl. I 1012). 55 Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz) vom 16. Mai 1961 (BGBl. I 533). 56 Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Lebensmittelgesetzes vom 21. Dez. 1958 (BGBl. I 950). – Das Lebensmittelgesetz stammte aus dem Jahr 1927. 57 Gesetz über den Übergang von Zuständigkeiten auf dem Gebiete des Rechts des Gesundheitswesen vom 29.7.1964 (BGBl. I 560). – Die Möglichkeit eines generischen Zuständigkeitsübergangs ohne Einzeländerung der Gesetze wurde erst durch Artikel 56 des Gesetzes zur Anpassung gesetzlich festgelegter Zuständigkeiten an die Neuabgrenzung der Geschäftsbereiche von Bundesministern (Zuständigkeitsanpassungsgesetz) vom 18. März 1975 (BGBl. I 705) geschaffen. 58 Jürgen Wasem – Aurelio Vincenti – Angelika Behringer – Gerhard Igl, Gesundheitswesen und Sicherung bei Krankheit und im Pflegefall. In: Michael Ruck – Marcel Boldorf (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Band 4: 1957– 1966 Bundesrepublik Deutschland. Sozialpolitik im Zeichen des erreichten Wohlstands, Baden-Baden 2007, S. 373–432, hier S. 408, s. auch Friedrich P. Kahlenberg – Dierk Hoffmann, Sozialpolitik als Aufgabe zentraler Verwaltungen in Deutschland – Ein verwaltungsgeschichtlicher Überblick. In: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Band 1: Grundlagen der Sozialpolitik, Baden-Baden 2001, S. 103–182, hier S. 132 f. – Für den konkreten Fall beschreibt ihr Staatssekretär Bargatzky die Problematik sehr plastisch in einem Vermerk vom 2.7.1965, BArch N 1177/22. 53
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Schwarzhaupt selbst setzte sich intensiv mit den geänderten gesellschaftlichen Bedingungen und den fehlenden Handlungsmöglichkeiten für den Staat auseinander. Immer wieder versuchte sie ihre Partei für das Thema der Gesundheitspolitik zu gewinnen.59 Fr a u e n p o l i t i k Elisabeth Schwarzhaupt hatte als Ministerin allerdings noch eine weitere Aufgabe neben der Gesundheitspolitik. Sie war tatsächlich „die Frau für alle Frauenfragen“, wie Adenauer es sich in dem weiter oben zitierten Brief an Luise Rehling vorgestellt hatte. In ihren Erinnerungen beschreibt sie, dass hier zwei Aufgaben „in einer gewissen Spannung zueinanderstanden, Vertretung der Frauen und Leitung eines Fachressorts“60. Sie erhielt eine Flut von Einzeleingaben von Frauen aus der ganzen Bundesrepublik, die die Hoffnung hatten, dass die Ministerin sich für sie einsetzen könnte. Dabei ging es um Renten-, Wohnungs- oder Familienfragen oder auch arbeitsrechtliche Schwierigkeiten. Für die Bearbeitung dieser Anfragen hatte sie eine zusätzliche Position geschaffen, eine Referentin für Frauenfragen, die im Geschäftsverteilungsplan an gleicher Stelle wie ihr persönlicher Referent geführt wurde und die teilweise auch dessen Aufgaben übernahm.61 Diese Stelle war eine von 17 Stellen, die das Bundeskabinett im Januar 1962 dem neuen Ministerium in einem Vorschaltgesetz zum Haushaltsgesetz für die Leitung und die Verwaltung bewilligte.62 Ebenso war Schwarzhaupt Ansprechpartnerin für zahlreiche Frauenverbände, zu denen sie aktiv den Kontakt pflegte. Dieses Umfeld lag ihr persönlich sehr viel mehr als das Kabinett oder ihr Ministerium.63 Auch ihre Zeitgenossen So zum Beispiel im August 1964, als sie sich mit Adenauer in seiner Funktion als Parteivorsitzendem traf. Im Nachlass befinden sich zwei unterschiedliche Entwürfe ihres Schreibens vom Juli und August 1964, ein Absendevermerk findet sich nicht. Sie bezieht sich aber auf ein Gespräch, das kurz vor der Entwurfserstellung in Berlin stattfand. BArch N 1177/23. 60 Schwarzhaupt (wie Anm. 4) S. 267. 61 Ein Teil der Korrespondenz findet sich im Teil-Nachlass Schwarzhaupts im Bundesarchiv. Anders als Ille (wie Anm. 5) S. 56 behauptet, ist die Referentin im offiziellen Geschäftsverteilungsplan des Ministeriums aufgeführt und wurde mit Sicherheit nicht aus der „Privatschatulle“ Schwarzhaupts bezahlt. 62 Kabinettsprotokolle sowie BArch B 136/567 und B 126/14271. Der Gesetzentwurf wurde im April des Jahres vom Bundestag für erledigt erklärt, da das reguläre Haushaltsgesetz bereits vorlag. Vermerk des Kanzleramtes vom 11.4.1962, BArch B 136/567, fol. 97. 63 Schwarzhaupt (wie Anm. 4) S. 276. 59
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nahmen ihre Leistung jenseits der konkreten Facharbeit in besonderem Maße wahr. Ihr Kabinettskollege, Innenminister Paul Lücke schrieb ihr zu ihrem Ausscheiden aus dem Kabinett, sie habe „als erster weiblicher Minister der Bundesrepublik durch Ihre Arbeit einen ganz hervorragenden Beitrag zur Verbesserung der Stellung der Frau in der modernen Gesellschaft geleistet.“64 Der Platz Schwarzhaupts im Kabinett blieb bei den Kabinettsumbildungen 1962 und 1963 sowie nach den Bundestagswahlen 1965 umstritten. Immer wieder sahen sich nicht nur die Frauenverbände veranlasst, im Kanzleramt für den Verbleib Schwarzhaupts im Kabinett zu intervenieren.65 In der Regierungskrise im Herbst 1966, an deren Ende Ludwig Erhard als Kanzler durch Kurt Georg Kiesinger ersetzt und die SPD zum neuen Koalitionspartner wurde, zeichnete sich für Schwarzhaupt schon früh ab, dass sie ihr Amt verlieren würde.66 Sie bot daraufhin Erhard von sich aus ihren Platz im Kabinett an. Der Stil der Politik habe sich in einer Weise entwickelt, „in die ich mich nicht einfügen werde“.67 Kiesinger versicherte ihr zunächst ihren Verbleib im Kabinett, um ihren Posten dann quasi ohne Vorwarnung der Sozialdemokratin Käthe Strobel zu übertragen, wie Schwarzhaupt eine ausgewiesene Familienrechtsexpertin.68 Nur gegenüber ihren engsten Vertrauten ließ Schwarzhaupt nach dem Verlust des Ministeramtes ihre große Enttäuschung durchblicken, hätte sie doch gerne einige Gesetzgebungsprojekte noch zu Ende geführt. So blieb bei ihr der Eindruck, in dem Moment gehen zu müssen, an dem die tatsächliche Facharbeit nach harten Jahren des Aufbaus und des Ringens um Kompetenzen erst hätte beginnen können.69 Nach ihrer Entlassung engagierte sie sich bis zum Ende der Legislaturperiode 1969 als Bundestagsabgeordnete wieder in ihrem eigentlichen Fachgebiet, dem Familienrecht, und zog sich dann aus der Bundespolitik zurück. Paul Lücke an Elisabeth Schwarzhaupt, 6.12.1967, BArch N 1177/1. Zahlreiche Schreiben in B 136/4621, auch CDU-Politiker zeigten sich besorgt, so zum Beispiel Erich Peter Neumann an Adenauer, 3.12.1962, BArch B 136/4620, fol. 330: „Gerade die weibliche Bevölkerung hat sich … in Umfragen immer wieder positiv geäußert.“ 66 Schwarzhaupt an Aenne Brauksiepe, 29.9.1966, BArch N 1177/23. 67 Schwarzhaupt an Erhard, 26.9.1966, BArch N 1177/23, ebenso an Else Broekelschen, 17.10.1966, ebd. 68 Drummer – Zwilling (wie Anm. 5) S. 101 f. 69 Die gesammelte Korrespondenz zu ihrer Entlassung aus dem Ministeramt, überwiegend die Antworten auf das von ihr verschickte Abschiedsschreiben, finden sich in BArch B 1177/1. Die Schreiben einschließlich Schwarzhaupts Antworten geben einen guten Einblick über den Eindruck, den sie vor allem bei Verbänden als Ministerin hinterlassen hat. 64 65
Archivare des Heeresarchivs München im Dienst des Archivschutzes in Frankreich (1940–1944) Von Martina Haggenmüller I . A l l g e m e i n e Vo r b e m e r k u n g e n zum sogenannten Archivschutz Artikel 56 der Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907, in der bis heute völkerrechtlich verbindliche Regelungen für die Kriegsführung und die Behandlung von besetzten Gebieten festgelegt wurden, verweist auf den besonderen Schutz von Anstalten der Kunst und der Wissenschaft, von geschichtlichen Denkmälern und privatem Kulturbesitz vor Übergriffen der Besatzungsmacht in Form von Beschlagnahme, Zerstörung oder Beschädigung.1 Obgleich im zitierten Artikel der Schutz von Archiv- wie Bibliotheksgut nicht explizit angesprochen ist, steht außer Frage, dass dieser darunter verstanden werden muss.2 Bereits seit dem Ersten Weltkrieg ist daher der institutionalisierte Archivschutz Aufgabe der Militärverwaltungen in den besetzten Gebieten.3 Dieser garantierte allerdings noch keinen besonderen Schutz während der Kampfhandlungen selbst, sondern bezog sich ausschließlich auf eine Sicherung gegen Übergriffe der Besatzungsmacht nach einer Eroberung. Eine Grenze erfuhr der so definierte Schutz von Archivgut in der lange geübten allgemeinen Kriegspraxis, aus aktuellem politischem und kampftaktischem Interesse die geheimen und militärischen Akten des Gegners, die für die weitere Kriegsführung von Relevanz waren, zu beschlagnahmen. Diese Vorgehensweise hatte die Die Haager Landkriegsordnung wurde für das Reich verbindlich publiziert in: Reichsgesetzblatt 1910, S. 107–151, hier: S. 150 f. 2 Vgl. Joachim Meyer-Landrut, Die Behandlung von staatlichen Archiven und Registraturen nach Völkerrecht. In: Archivalische Zeitschrift 48 (1953) S. 45–120, hier S. 71. – Siehe auch Wolfgang Stein, Die Inventarisierung von Quellen zur deutschen Geschichte. Eine Aufgabe der deutschen Archivverwaltungen in den besetzten westeuropäischen Ländern im Zweiten Weltkrieg. In: Inventar von Quellen zur deutschen Geschichte in Pariser Archiven und Bibliotheken. Bearbeitet von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Georg Schnath, hrsg. von Wolfgang Hans Stein, Band 1 (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz 39), Koblenz 1986, S. XXVII–LXVII, hier S. XXVIII f. 3 Meyer-Landrut (wie Anm. 2) S. 61–63. 1
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Haager Landkriegsordnung als „militärisches Beuterecht“ sogar explizit zugestanden4 – ein Recht, das nicht selten großzügig ausgelegt wurde. Nicht erlaubt war hingegen die Beschlagnahme lediglich historisch interessanten Archivguts. Doch auch hierfür wurde das Beuterecht immer wieder in Anspruch genommen. Entsprechend muss der Begriff „Archivschutz“ durchaus ambivalent gesehen werden.5 Im Dienst des Archivschutzes waren während des Zweiten Weltkriegs zahlreiche wissenschaftliche Archivbeamte aus nahezu allen deutschen Ländern sowie aus Österreich im Einsatz. Organisiert waren sie in sogenannten Archivschutzkommissionen, die in den von Deutschland besetzten Gebieten agierten.6 Die zivilen staatlichen Archivverwaltungen,7 das Auswärtige Amt, der Sicherheitsdienst der SS, der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg und auch die Heeresarchive8 starteten entsprechende Initiativen in den korrespondierenden Archiven und Einrichtungen der betreffenden Länder. Darüber hinaus waren Vertreter des Arbeitswissenschaft Haager Landkriegsordnung Art. 23g (wie Anm. 1) S.141. – Meyer-Landrut (wie Anm. 2) S.71 f. 5 Als Beispiel für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff „Archivschutz“ s. etwa Karl Heinz Roth, Klios rabiate Hilfstruppen. Archivare und Archivpolitik im deutschen Faschismus. In: Archivmitteilungen 41 (1991) S. 1–10, hier S. 7. Roth wirft den während des Zweiten Weltkriegs im Ausland tätigen Archivaren vor, mit ihrer Arbeit, die deutsche Rechtsansprüche nach Kriegsende stützen sollte, Archivplünderungen vorbereitet zu haben. – Ebenso Tobias Winter, Die deutsche Archivwissenschaft und das „Dritte Reich“ (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz. Forschungen 17), Berlin 2018, S. 314 f. 6 Vgl. hierzu u.a. Torsten Musial, Deutsche Archivare in den besetzten Gebieten 1939 bis 1945. In: Jens Murken (Redaktion), Archive und Herrschaft. Referate des 72. Deutschen Archivtages 2001 in Cottbus (Der Archivar, Beiband 7), Siegburg 2002, S. 77–87, hier S. 77. – Ders., Staatsarchive im Dritten Reich. Zur Geschichte des Staatlichen Archivwesens in Deutschland 1939–1945 (Potsdamer Studien 2), Diss. Potsdam 1996. – Speziell zur Tätigkeit in Frankreich: Christian Hoffmann, „(…) auch deutsche Interessen wahrgenommen (…)“. Der Hannoversche Staatsarchivdirektor Georg Schnath und die Gruppe „Archivschutz“ im besetzten Frankreich 1940 bis 1944. In: Hans-Werner Langbrandtner u.a. (Hrsg.), Kulturgutschutz in Europa und im Rheinland. Brüche und Kontinuitäten (Forschungen zu Kunst und Kunstgeschichte im Nationalsozialismus 5), Köln 2021, S. 267–284. 7 Zum Kriegseinsatz bayerischer Archivare s. Christoph Bachmann, Dem Feind zur Wehr, den Archivaren zur Ehr: Bayerische Archivare im Kriegseinsatz. In: Archivalische Zeitschrift 96 (2019) S. 471–486, hier S. 477–479. 8 S. Friedrich-Christian Stahl, Die Organisation des Heeresarchivwesens in Deutschland 1936–1945. In: Heinz Boberach – Hans Booms (Hrsg.), Aus der Arbeit des Bundesarchivs. Beiträge zum Archivwesen, zur Quellenkunde und Zeitgeschichte (Schriften des Bundesarchivs 25), Boppard am Rhein 1978, S. 69–101, hier v.a. S. 82–90. 4
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lichen Instituts der Deutschen Arbeitsfront, der Luftwaffe, der Marine sowie des Kolonialpolitischen Amtes der NSDAP in den besetzten Gebieten unterwegs.9 Unter den Heeresarchivaren, die als sog. Beauftragte des Chefs der Heeresarchive in Sachen Archivschutz in die Militärarchive der besetzten Staaten abkommandiert wurden, befand sich auch eine Reihe von Mitarbeitern des Heeresarchivs München.10 Sie absolvierten zwischen 1940 und 1944 umfängliche Einsätze in Polen, Belgien, Griechenland, Italien und Frankreich.11 Auf ihre Tätigkeit in Frankreich, speziell in Paris, wird in den folgenden Ausführungen näher eingegangen.12 S. Musial, Deutsche Archivare (wie Anm. 6) S. 77. – Von Einzelpersonen initiierte Sammeltätigkeiten militärischen Materials, etwa durch das NSDAP-Mitglied Friedrich Rehse, auf den die sog. Sammlung Rehse in Abteilung V Nachlässe und Sammlungen des Bayerischen Hauptstaatsarchivs zurückgeht, wurde nach einigen Auseinandersetzungen zwischen Wehrmachtsführung und Partei unterbunden. Stahl (wie Anm. 8) S.81 f. 10 Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs gab es kein einheitliches militärisches Archivwesen in Deutschland. Vielmehr blieben die militärischen Archive auf die einzelnen selbstständigen Kontingente des deutschen Reichsheeres beschränkt. So gab es beispielsweise in Bayern ein zunächst dem Generalstab, nach der Auflösung der bayerischen Armee 1919/1921 dem Außenministerium bzw. der Staatskanzlei nachgeordnetes Kriegsarchiv. Im Zuge der systematisch vorangetriebenen Wiederaufrüstung Deutschlands nach der nationalsozialistischen Machtergreifung stellte sich unter anderem die Frage nach der Errichtung spezifischer Militärarchive bzw. eines allgemeinen Heeresarchivs als unentbehrlichem Hilfsmittel für die Schlagkraft einer Armee. Entsprechend entstanden ab Oktober 1936 unter der Leitung eines „Chefs der Heeresarchive“ die Heeresarchive Potsdam, Dresden, Stuttgart und München. Diese Organisation blieb bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs bestehen. 11 Vgl. Stahl (wie Anm. 8) S. 96–99. – Martina Haggenmüller, Das Kriegsarchiv in der Zeit des Nationalsozialismus. In: Archivalische Zeitschrift 96 (2019) S. 295–328, hier S. 314–321. 12 Wesentliche Informationen über die Organisation und die Aufgaben des militärischen Archivschutzes in Frankreich sind zum einen den im Bestand Handschriften des Kriegsarchivs überlieferten persönlichen Unterlagen der abkommandierten Münchner Heeresarchivare Karl Brennfleck und Herbert Knorr entnommen. Zum anderen wurde aus Paris vom jeweiligen Leiter der Archivschutzgruppe seinem Vorgesetzten, dem Chef der Heeresarchive in Potsdam, regelmäßig über den Fortgang der Arbeiten Bericht erstattet. Die bayerischen Beauftragten des Chefs der Heeresarchive übersandten von diesen Berichten jeweils einen Durchschlag an ihr Heimatarchiv, das Heeresarchiv München. Diese Schreiben sind im Bestand Archivakten der Abteilung IV Kriegsarchiv des Bayerischen Hauptstaatsarchivs erhalten und wurden für diese knappe Studie ausgewertet. Hinzu kommen persönliche Briefe zwischen den Heeresarchivaren in Paris und dem Leiter des Heeresarchivs München, Maximilian Leyh, in denen mitunter offen Probleme angesprochen wurden, die in den offiziellen Dokumenten eher zurückgehalten wurden. Auch sie sind Teil des genannten Bestandes Archivakten. Schließlich sei noch auf den Nachlass von Otto von Waldenfels im Staatsarchiv Bamberg hingewiesen. Insbesondere zahlreiche Briefe an die Familie aus Paris, 9
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I I . Z u r Tä t i g k e i t d e r b a y e r i s c h e n He e re s a r c h i v a re i n Fr a n k re i c h Aus dem Heeresarchiv München waren folgende Mitarbeiter zeitweise als „Beauftragte des Chefs der Heeresarchive“, d.h. als Leiter der militärischen Archivschutzgruppe in Paris, tätig: 18. Juni 1940 – 15. Februar 1941 Oberheeresarchivrat Otto von Waldenfels13 16. Februar 1941 – 18. Juli 1941 Oberstleutnant August Schad 31. Oktober 1941 – 30. April 1943 Major Karl Brennfleck14 1. Mai 1943 – 14. August 1944 Major d.R. Herbert Knorr.15 Hinzu kamen weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus München, die diese unterstützten. Hier wären zu nennen Ilse Döderlein, Hans Schmidt, Edmund Schneider und August Staender.16 Darüber hinaus verstärkten selbstverständlich weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den übrigen Heeresarchiven des Deutschen Reiches die Gruppe. Der Beauftragte des Chefs der Heeresarchive beim Militärbefehlshaber in Frankreich, so die offizielle Bezeichnung des Leiters der Archivschutzgruppe, war zunächst beim Militärverwaltungsbezirk Paris, ab Herbst 1940 beim Militärbefehlshaber in Frankreich angesiedelt und dort zugleich Sachbearbeiter für Heeresarchivangelegenheiten (Abteilung Ia/ Heeresarchive).17 Als Aufgabe waren ihm die Erfassung und Sicherstelaber auch Skizzen über die aufgesuchten Militäreinrichtungen sowie Erinnerungsstücke, Fotos und Kulturführer etc. geben einen umfänglichen Einblick in seinen Aufenthalt in Frankreich und seine Tätigkeit beim Archivschutz. In die vorliegende Abhandlung nicht mit einbezogen werden konnte die Überlieferung des Chefs der Heeresarchive im Bundesarchiv, Abteilung Militärarchiv. Eine Fahrt nach Freiburg mit Archivrecherchen war aufgrund pandemiebedingter Einschränkungen (u.a. vorübergehende Schließung des Archivs) nicht möglich. 13 Otto von Waldenfels hielt sich in Sachen Archivschutz auch in Warschau und Athen auf. 14 Karl Brennfleck leitete nach seiner Tätigkeit in Paris die Aktensammelstelle Süd. 15 Herbert Knorr arbeitete vorübergehend auch für den Archivschutz in Brüssel. 16 Vgl. die Angaben in Bayerisches Hauptstaatsarchiv (künftig BayHStA), Abt. IV Kriegsarchiv, Archivchronik. Otto von Waldenfels spricht in seinen Briefen an Maximilian Leyh von den „Angehörigen der Außenstelle Paris“. Ebd., Archivakten (künftig AA) 55 (Schreiben vom 25. Dezember 1940). 17 Der offizielle Briefkopf nimmt auch dieses Element auf, wenn der Absender lautet: „Der Beauftragte des Chefs der Heeresarchive beim Militärbefehlshaber in Frankreich (Ia/Heeresarchive)“. Vgl. z.B. Ebd., AA 55.
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Aus dem Gliederungsplan des Militärbefehlshabers in Frankreich (BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, HS 2838).
lung aller militärisch wichtigen Akten der französischen Heeresarchive sowie der Heeresbüchereien übertragen.18 Mit der Geschäftsordnung vom 1. August 1941 weist die Abteilung Ia künftig einen Beauftragten für die Heeresarchivangelegenheiten und einen eigenen Beauftragten für die Heeresbüchereien auf, das heißt, die Zuständigkeiten wurden formal und personell getrennt. Während den Archiven die Erfassung und Sicherstellung aller militärisch wichtigen Akten oblag, bestand das Arbeitsgebiet der 18
Ebd., Handschriften (künftig HS) 2838.
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Das Hôtel de Crillon an der Place de la Concorde (StABa, NL Otto von Waldenfels, Rep. M 11, 191, Foto Nr. 1) (Foto: Otto Frhr. von Waldenfels).
Beauftragten des Chefs der Heeresbüchereien aus der Kontrolle, der Unterbringung und Verwaltung aller Büchereien des französischen Heeres im besetzten Frankreich, aus Suchaktionen nach vermissten und vermuteten Büchereien in den einzelnen Garnisonen, in der Beschlagnahme, in Fotokopien, Verzeichnissen gewisser Büchergruppen und der wissenschaftlichen Durchforstung des kriegsgeschichtlichen und taktischen Schrifttums seit 1914. Beide Sektionen hatten ihre Verwaltungsräume in Paris in der Avenue Kléber 46 im dritten Stock.19 Zuvor waren sie im Hôtel de Crillon bzw. im Hôtel Majestic untergebracht gewesen.20 Ebd. Besonders das elegante Hôtel de Crillon hatte es Otto von Waldenfels angetan und er bedauerte es in einem Schreiben an Maximilian Leyh vom 23. Oktober 1940 sehr, dass der Auszug bevorstehe, da ein höherer Stab das Gebäude nutzen wolle. Ebd., AA 55. In den prachtvoll geschmückten Räumlichkeiten des Hotels fand im genannten Jahr auch mit Weihnachtsbäumen, -liedern, dem Verlesen des Weihnachtsevangeliums, einem üppigen und exquisiten Abendessen und einer großzügigen Bescherung die Weihnachtsfeier aller Angehörigen des Kommandostabs des Militärbefehlshabers in Frankreich statt. Ebd. – Von Waldenfels wohnte im Übrigen auch im Crillon. In einem Brief an seine Frau vom 11. Juli 1940 zeigte er sich geradezu begeistert von seiner Unterkunft, denn ihm standen vier Zimmer, darunter ein Empfangsraum, zur Verfügung. Staatsarchiv Bamberg (künftig StABa), NL Otto von Waldenfels (Rep. M 11), 186. 19 20
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Das Vorgehen der Archivschutzkommissionen folgte bei allen Trägern einem nahezu analogen, mehr oder weniger fixen Regieplan. Für die Heeresarchivare galt: 1. Sicherung der Archive vor unbefugtem Zugang und illegalen Entwendungen sowie Ergreifung konservatorischer und baulicher Maßnahmen zur Erhaltung der Bestände (soweit erforderlich im Benehmen mit den französischen Behörden); 2. Überprüfung des in Frage kommenden französischen (Hilfs-)Personals hinsichtlich fachlicher und politischer Zuverlässigkeit; 3. Recherche nach Archivgut deutscher Provenienz, das von den Franzosen einst im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen mitgenommen worden ist und Vorbereitung zu dessen Rückführung nach Deutschland (Erstellung von sog. Rückforderungslisten für die Zeit nach dem Krieg), teilweise auch Abtransport einschlägiger Unterlagen; 4. Inventarisierung der Gesamtbestände französischer Provenienz unter besonderer Hervorhebung der für die deutsche Geschichte wichtigen Archivalien und Fotokopierung besonders hervorstechender Stücke sowie Abtransport von Schriftgut, das für die militärische Führung von Interesse sein konnte; 5. Bereitstellung, auch Ausleihe von Archivgut für eine Auswertung bzw. Auskunft aus den Akten und 6. Sichtung und Auswertung noch nicht in den Archiven befindlicher Heeresakten (Registraturgut).21 Ziel der Aktivitäten der Heeresarchivare in Paris waren die dortigen Militärarchive, aber auch die Registraturen in den verschiedenen Militärbehörden. Dazu zählten vor allem das dem Generalstab unterstellte Archiv des Service historique (französisches Kriegsarchiv), sodann die zum Kriegsministerium gehörenden Archives administratives, das Archiv der Inspection de l‘Artillerie, das Archiv der Inspection du Génie et des Fortifications sowie das Kartenarchiv im Kriegsministerium.22 Doch die Arbeit beschränkte sich nicht allein auf die Pariser Archive. Auch die Sicherstellung und Sichtung französischer Heeresakten, die außerhalb von Paris lagerten, oblag der Archivschutzgruppe. Für deren Begutachtung reisten MitarbeiS. hierzu auch Stahl (wie Anm. 8) S. 84. Während sich die Aktenbestände des Service historique auf das Kriegsministerium (I. Section) und die École Militaire (II. und III. Section) verteilten, lagerten die übrigen Bestände in den Gebäuden der jeweiligen Archive. 21 22
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ter mitunter in die Provinz, um sich vor Ort der Unterlagen anzunehmen. In den Tätigkeitsberichten werden regelmäßig entsprechende Dienstreisen aufgelistet. So erfolgten beispielsweise zwischen dem 5. und 11. Januar 1941 Aktenbesichtigungen in Orléans, Poitiers, Rennes, Angers und Lisieux. Teilweise waren Akten durch die Franzosen dorthin geflüchtet worden, teilweise handelte es sich um Schriftgut vor Ort stationierter Truppen.23 Meist wurden die Akten aber nach Paris verbracht, um in einer eigens eingerichteBlick in einen Aktensaal der École Militaire, in der ein Teil ten Aktensichtungsdes französischen Kriegsarchivs untergebracht war stelle analysiert zu (StABa, NL Otto von Waldenfels, Rep. M 11, 191, werden.24 Allerdings Foto Nr. 33) (Foto: Otto Frhr. von Waldenfels). war dieses Vorgehen nicht unumstritten. So wird etwa, da politisch nicht opportun, die geplante Überführung französischer Heeresakten von Vichy nach Paris im Frühjahr 1943 durch den Deutschen General des Oberbefehlshabers West BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, AA 55. Auf diese Weise wurde zum Beispiel mit in Lyon sichergestellten Akten des Service historique verfahren. Ebd. 23 24
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Archives administratives (StABa, NL Otto von Waldenfels, Rep. M 11, 191, Foto Nr. 17) (Foto: Otto Frhr. von Waldenfels).
Archiv der Inspection de l‘Artillerie (StABa, NL Otto von Waldenfels, Rep. M 11, 191, Foto Nr. 51) (Foto: Otto von Waldenfels).
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in einem Schreiben an den Beauftragten des Chefs der Heeresarchive sehr kritisch gesehen: „Eine derartige Maßnahme würde (…) den Anschein, dass der französische Staat noch ein souveräner ist, vollkommen aufheben und in den maßgeblichen franz. Regierungsstellen eine außerordentliche Missstimmung hervorrufen. Die jetzige Lage verbietet aber eine derartige Verschlechterung der Stimmung. Der Präsident Laval kämpft für eine Zusammenarbeit mit Deutschland. Jeder Eingriff in die Souveränität des franz. Staates wäre nur geeignet, seine Gegner zu stützen und die Macht der anglophilen Camarilla in Vichy zu heben und würde dem ausdrücklichen Führerbefehl widersprechen.“25 Betrachtet man nun im Folgenden die einzelnen Arbeitsfelder der Heeresarchivare etwas detaillierter, so zeigt sich, dass auf die Sicherung der Archive von Anfang an ein besonderes Augenmerk gerichtet wurde. So wurde zum Beispiel im Bericht vom 13. Oktober 1940 an den Chef der Heeresarchive in Potsdam betont, dass, falls das Gebäude der Inspection du Génie wie geplant von einer französischen Zivilbehörde belegt wird, Archiv und Bibliothek abgeschlossen unter Aufsicht des Beauftragten des Chefs der Heeresarchive verbleiben sollten, um unbefugten Zutritt (von französischer, aber auch von deutscher Seite) und womöglich gar Archivaliendiebstahl zu verhindern.26 Ein konservatorisches Problem, dessen sich die Archivare annahmen, thematisierte der Bericht vom 8. Dezember 1940. Demzufolge wurden in der Gruft der Kapelle in der École Militaire durch Zufall 23 Körbe mit Büchern und etwa 150 Kästen mit Akten sowie Bildern, die wohl zu Beginn des Krieges von den Franzosen hierher geflüchtet worden waren, entdeckt. Alles hatte durch Feuchtigkeit und den sich bildenden Schimmel sehr gelitten. Auf Betreiben der Heeresarchivare wurden die Bücher mit Hilfe des technischen Personals der Nationalbibliothek gereinigt und deren Ledereinbände eingefettet, unbrauchbare Einbände vollständig ersetzt. Die Akten wurden zum Trocknen ausgebreitet. Am Ende des Projektes konnten die Unterlagen immerhin wieder benutzt werden.27 Selbst wenn eine Instandsetzung beschädigter Archivalien und Bücher als Grundlage für eine angestrebte Auswertung und letztlich Ausbeutung durchaus im Interesse der Besatzer war, handelten hier doch auch Schreiben vom 5. April 1943, s. ebd., AA 131. – Pierre Laval wirkte entscheidend an der Errichtung des État français (Vichy-Regime) mit. Im Gegensatz zu Staatschef Philippe Pétain forderte er eine umfassende Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschen Reich. 1942 verdrängte er Pétain von der Staatsspitze und forcierte seine Politik. 26 Ebd., AA 55. 27 Ebd. 25
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Archivare, die dem Schriftgut eine grundsätzliche Wertschätzung zuerkannten. Und so verwundert es nicht, dass bei der Inspektion einzelner Archive und Bibliotheken interessante Beobachtungen explizit festgehalten wurden. So wurden zum Beispiel in der Nationalbibliothek die technischen Einrichtungen, speziell die bevorzugt verwendeten Holzgestelle als bemerkenswert eingestuft, da sich aus Sicht der dortigen Mitarbeiter „Feuerschäden in diesen nicht so verheerend auswirken als in eisernen und weil Holz die Feuchtigkeit der Luft aufnimmt, Eisen aber diese kondensiert und den Büchern mitteilt.“28 Zwar arbeiteten in der militärischen Archivschutzgruppe primär Reichsangehörige, doch wurden auch immer wieder französische Mitarbeiter gewonnen, allerdings lediglich für Hilfsarbeiten bzw. Putzdienste, um ihnen nicht allzu viel Einblick in Organisation und Tätigkeiten der Archivare zu gewähren. In der Regel waren diese Beschäftigten auch nicht lange tätig. Suzanne Clerc, die im August 1942 für Reinigungsarbeiten eingestellt worden war, schied bereits einen Monat später wieder aus und Robert Dupont, der im Oktober desselben Jahres als Hilfskraft, speziell für die Fertigung von Fotokopien seinen Dienst antrat, wurde nach bereits zwei Monaten wegen Unzuverlässigkeit wieder entlassen.29 Kernaufgaben der Archivare bei ihrem Auslandseinsatz waren zum einen die systematische Analyse des in den verschiedenen Archiven und Registraturen vorgefundenen Schriftguts nach Unterlagen deutscher Provenienz, die für eine Rückführung nach dem Krieg in Frage kamen und zum anderen die Inventarisierung der Gesamtbestände in den Militärarchiven unter besonderer Hervorhebung der für die deutsche Geschichte relevanten Archivalien. Wenn möglich sollten solche Stücke auch fotokopiert werden. Die Berichte des Beauftragten des Chefs der Heeresarchive schildern gerade diese parallel vorgenommenen Tätigkeiten in der Regel recht ausführlich, bilden sie doch neben den erstellten Inventaren, Kopien und den verschickten Archivalien den zentralen Arbeitsnachweis der nach Frankreich abkommandierten Archivare. So vermeldet beispielsweise der 29. Bericht30 des Beauftragten des Chefs der Heeresarchive in Paris vom 19. Januar 1941, dass während des Berichtszeitraums vom 12. mit 18. Januar im Archiv des Service historique (Weltkriegsabteilung) die Durchsicht und Verzeichnung der Aktenbestände der Armeen fortgesetzt wurde. Ebd. Ebd. 30 Die Berichte sind fortlaufend durchnummeriert. 28 29
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Erste Seite des 29. Berichts des Beauftragten des Chefs der Heeresarchive in Paris vom 19.1.1941 (BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, AA 55).
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Dabei konnten einige Akten deutscher Herkunft sichergestellt werden.31 Auch in der Abteilung „Alte Akten“ des Service historique sowie in den Archives Administratives wurden analoge Arbeiten aufgenommen. Darüber hinaus wurden die bereits seit längerem begonnenen Forschungsarbeiten für die Kartei deutscher Namen in den Stammrollen der Infanterie-Regimenter Hessen-Darmstadt und Bouillon sowie in den Kavallerieregimentern Nassau-Saarbrücken und Royal Allemand fortgeführt. Hinzu kamen Archivrecherchen und Auskunftstätigkeiten für Benützer.32 In ähnlicher Art und Weise, mal ausführlicher, mal knapper in Form und Inhalt, je nach Berichtendem, sind alle übrigen Tätigkeitsnachweise abgefasst. Ausgangspunkt der Ermittlung und Erfassung des nach Deutschland gehörigen oder Deutschland interessierenden Archivguts bildete die Entfremdung von Schriftgut durch Frankreich insbesondere während der Zeit Ludwigs XIV., der Französischen Revolution, aber auch unter Napoleon I. Ziel war es, in mühseliger Kleinarbeit das gesamte einschlägige Archivmaterial in den militärischen Archiven, Registraturen sowie im Kriegsministerium nach Unterlagen zu durchforsten, die für eine Rückführung nach Deutschland in Frage kommen könnten. Um konzentriert und effektiv vorgehen zu können, wurden regelmäßig Arbeitspläne erstellt, indem jedem Mitarbeiter ein Archiv oder auch ein Bestand in einem Archiv zur Analyse zugeteilt wurde.33 Während die Entnahme von Archivalien aus zivilen französischen Archiven und deren Ausführung nach Deutschland vor Abschluss eines Friedensvertrages durch die deutsche Militärverwaltung strikt untersagt wurde – französische Urkunden, die als Beutegut deklariert nach Deutschland gelangten, wurden sogar wieder zurückgeführt34 – und stattdessen relevante Unterlagen lediglich in Verzeichnissen erfasst werden sollten, um nach dem Krieg, für den selbstverständlich mit einem deutschen Sieg gerechnet wurde, das darin aufgelistete Schriftgut Hierbei handelt es sich um Akten, die in früheren Zeiten, etwa während Kriegshandlungen, von den Franzosen aus Deutschland weggeführt worden waren. 32 BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, AA 55. 33 Für die Zeit vom 15.–21. Dezember 1940 war Frhr. von Waldenfels laut Arbeitsgliederung beispielsweise für das Archiv des Service historique und die Bibliothek in der École Militaire sowie jene in Vincennes zuständig. Oberstleutnant Schad widmete sich parallel den Archives administratives sowie der Bibliothek und dem Kartenarchiv im Kriegsministerium. Major Brennfleck wiederum betätigte sich im Archiv und der Bibliothek der Inspection du Génie und der Inspection de l‘Artillerie. Ebd., AA 55. 34 Musial, Staatsarchive (wie Anm. 6) S. 148. 31
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Auflistung der für einen Aktentransport nach Potsdam vorgesehenen Archivalien mit Angabe der benötigten Eisenbahnwaggons vom 19.1.1941 (BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, AA 55, Fotomontage aus zwei Einzelseiten: Karin Hagendorn).
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einzufordern,35 stellte sich dieses „Problem“ für die Heeresarchivare nicht. Sie beriefen sich explizit auf das Beuterecht und machten davon trotz der Erstellung von Verzeichnissen als Arbeitsgrundlage für die Nachkriegszeit rege Gebrauch.36 Regelmäßig wurden Aktentransporte aus Frankreich nach Potsdam auf den Weg gebracht. Dass es sich bei dem außer Landes geschafften Archivgut um beträchtliche Mengen handelte, zeigt schon die häufige Verwendung von Eisenbahnwaggons für die Beförderung der Unterlagen. Gebündelt oder in genormten Kartons mit den Maßen 40 x 15 x 30 cm (Höhe x Breite x Tiefe) verpackt, die selbstverständlich akkurat beschriftet waren, wurden die Unterlagen bereitgestellt.37 Allein im Bericht vom 19. Januar 1941 an den Chef der Heeresarchive wurden von Otto von Waldenfels in einer „vorläufigen“ Übersicht abzutransportierende Akten im Umfang von 19 Waggons avisiert. Wöchentlich sollen zwei Waggons abgehen, so dass für die gesamte Abwicklung der Übersendung zehn bis elf Wochen anberaumt wurden. Bei den Unterlagen handelte es sich zum einen um deutsche Heeresakten, zum anderen jedoch auch um französische Militärakten.38 Selbstverständlich wurden kleinere Versandeinheiten auch mit Speditionen befördert. Am 12. August 1944 wurde etwa die Niederlassung der Firma Schenker in Paris mit der Versendung von neun Kisten, abzuholen in der Avenue Kléber 46, beauftragt.39 Gerade mit fortschreitender Kriegsdauer zeigten sich allerdings zunehmende Lieferschwierigkeiten beim Verpackungsmaterial. Vor allem Schnüre waren, so ist einem Schreiben von Major Brennfleck zu entnehmen, nur schwer zu beschaffen.40 Doch trotz der zahlreichen Beispiele für die Beschlagnahme und Versendung von Akten deutscher und französischer Provenienz ins Reich, wurde die Anwendung des Beuterechts in einzelnen Fällen doch kritisch hinterfragt. Karl Brennfleck beispielsweise berichtet am 10. April 1943 in einem Schreiben an den Chef der Heeresarchive ausführlich Vgl. Stein (wie Anm. 2) S. XXXVIII. Selbst in kleineren, auch zivilen Archiven, wie etwa dem Departementalarchiv de l‘Aube wurden militärische Akten ins Visier genommen und für die Rückführung nach dem Krieg vorgemerkt. Hier wurden allein 1420 Archivalien aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges mit „Correspondence militaire“, aber auch Rapporte, Befehlsbücher und Drucke aufgelistet. BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, AA 55. 37 Für die Verpackungsarbeiten wurden laut Schreiben von Otto von Waldenfels an seine Frau vom 30. Oktober 1940 u.a. Kriegsgefangene herangezogen. S. StABa, NL Otto von Waldenfels (Rep. M 11), 186. 38 BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, AA 55. 39 Ebd., HS 2855. 40 Ebd., AA 131. 35 36
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über Akten, die in Lyon sichergestellt wurden. Dabei handelte es sich um die laufende Registratur des Service historique, Akten über den derzeitigen Krieg, Unterlagen aus früherer Zeit sowie eine kleine Bücherei. Zwar macht er Vorschläge, welche Akten sich für einen Abtransport eignen würden, fragt jedoch gleichzeitig, ob dies „überhaupt zweckmäßig und auch zulässig ist, nachdem mir der Begriff Kriegsbeute nicht ohne weiteres gegeben scheint.“ Sollte seine Meinung keine Unterstützung finden, würde er sich einer befohlenen Ausfolgung jedoch nicht widersetzen.41 Alles in allem hatten die Heeresarchivare allerdings wenig Skrupel, sich Archivgut zum eigenen Nutzen anzueignen. Auch das Heeresarchiv sollte hiervon profitieren. So bot Otto von Waldenfels in seinem Begleitbrief vom 30. Dezember 1940 an Maximilian Leyh, mit dem er eine Kopie des 26. Tätigkeitsberichts nach München überschickte, generös an, bei Bedarf Duplikate der Kriegstagebücher französischer Truppen aus dem Ersten Weltkrieg für das Heimatarchiv zu beschlagnahmen. Dies wäre „für spätere kriegsgeschichtliche Arbeiten vielleicht ganz interessant.“ Man sollte ihm lediglich eine Auflistung zukommen lassen, aus der hervorgeht, welche französischen Truppen zu welcher Zeit in interessanten Lagen bayerischen Truppen gegenüberstanden.42 Ob eine solche Requirierung tatsächlich stattgefunden hat, konnte nicht abschließend geklärt werden. Kriegstagebücher französischer Truppen ließen sich in der Abteilung IV Kriegsarchiv des Bayerischen Hauptstaatsarchivs jedenfalls nicht ermitteln. Was aus 49 Kartons mit Akten deutscher Pionierformationen, die Anfang 1941 für München bereitgestellt wurden, geschah, konnte gleichfalls nicht abschließend geklärt werden.43 So sehr die Archivschutzkommissionen der verschiedenen Träger auf Eigenständigkeit und eine klare Abgrenzung ihrer Aufgaben und Kompetenzen untereinander bedacht waren, so unkompliziert funktionierte bei Bedarf eine Zusammenarbeit. So waren die Heeresarchivare z.B. sehr an dem Bestand Deutsche Militärverwaltung in Longwy und Briey 1914–1918 interessiert. Dieser wurde 1941 im Departementalarchiv Nancy entdeckt. Da es sich um Unterlagen militärischen Charakters handelte, stimmten Georg Schnath und Ernst Zipfel, die Leiter der zivilen Archivschutzgruppe in Frankreich, einer Abgabe an den Beauftragten des Chefs der Heeresarchive zu. Bestehende Bedenken, weil damit erstmals größere Ent Ebd. Ebd., AA 55. 43 Ebd. 41 42
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nahmen aus zivilen Archiven unter Berufung auf das Beuterecht erfolgten, wurden übergangen.44 Eine weitere enge Zusammenarbeit zwischen zivilen Archivaren und Heeresarchivaren manifestierte sich bei der Erfassung und Aufbereitung der umfänglichen Sammlung an Karten und Plänen des französischen Kriegsministeriums. Auf Bitten der Heeresarchivare hatte sich Walter E. Vock vom zivilen Archivschutzkommando der Sammlung angenommen. Vock, Archivar am Bayerischen Hauptstaatsarchiv, war ein ausgewiesener Spezialist für Karten und Pläne und sonderte in fast zweijähriger Arbeit sukzessive mehr als 25.000 Karten deutscher Provenienz aus. Diese sollten nach dem Beuterechtsverständnis der Heeresarchivare nach Deutschland übermittelt werden. Da nun, angesichts der Menge und Qualität der Karten, auch die Staatsarchive Interesse an den Unterlagen anmeldeten, kam es zu umfänglichen Verhandlungen zwischen Ernst Zipfel und dem Chef der Heeresarchive, General Friedrich von Rabenau, über eine mögliche Aufteilung der Objekte. Da von Rabenau sämtliche für die Wehrmacht nötigen Karten beanspruchte, blieben den Staatsarchiven letztlich nur mehr rund 6.700 handgezeichnete Karten aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Dass die Verteilung in diesem Fall nur nach dem Pertinenzprinzip erfolgen konnte, versteht sich von selbst. Die Karten wurden 1942 zunächst ins Heeresarchiv Potsdam verbracht, wo die für die Staatsarchive vorgesehenen Stücke entnommen und in das Geheime Staatsarchiv transferiert wurden. Von dort aus sollte dann die endgültige Verteilung auf die einzelnen Archive erfolgen.45 Die gute Zusammenarbeit wurde im Übrigen durch gegenseitige Höflichkeitsbesuche vor Ort beschworen. So hatte General von Rabenau bei einem Informationsaufenthalt in Paris im September 1941 auch Georg Schnath einen Besuch abgestattet, den dieser gemeinsam mit Ernst Zipfel zwei Jahre später bei Herbert Knorr, damals Beauftragter des Chefs der Heeresarchive, erwiderte.46 Ein drittes Beispiel schließlich soll die Zusammenarbeit zwischen der militärischen Archivkommission und derjenigen des Auswärtigen Amtes Musial, Staatsarchive (wie Anm. 6) S. 148. – S. auch BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, AA.55. – Dass dieses Vorgehen als nicht korrekt betrachtet wurde, zeigt ein späterer Fall. Die Archivkommission hatte bei Inventarisierungsarbeiten in Vesoul einen Aktenband der deutschen Militärverwaltung aus dem Krieg 1870/71 entdeckt und diesen den Heeresarchivaren bewusst verheimlicht, um zu vermeiden, dass sie auch hier dem Friedensschluss vorgreifen. S. Stein (wie Anm. 2) S. LX, Anm. 104e. 45 Musial, Staatsarchive (wie Anm. 6) S. 149. 46 BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, AA 55. 44
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verdeutlichen, bei der es allerdings zu keinen Ausfolgungen von Originalakten, sondern lediglich zur Erstellung von Textauszügen kam. Das Heeresarchiv München hatte in Erfahrung gebracht, dass sich im Archiv des französischen Außenministeriums (Quai d‘Orsay) Berichte der Gesandten am Zweibrückener und Münchner Hof befanden, die wertvolle Hinweise zu dem 1756 geborenen Prinzen Max Joseph von Pfalz-Zweibrücken-Birkenfeld, dem späteren König Max I. Joseph von Bayern, enthielten. Da an diesen Unterlagen großes Interesse bestand, wandte sich das Heeresarchiv am 30. September 1942 an den Chef der Heeresarchive in Potsdam mit der Bitte, bei der Archivkommission des Auswärtigen Amtes erwirken zu wollen, dass Major Brennfleck (Beauftragter des Chefs der Heeresarchive) und seine Mitarbeiterin Dr. von Hörmann („Tochter eines bayerischen Offiziers“) Einblick in diese Berichte erhalten und davon Auszüge fertigen dürften. Letztendlich wurde diesem Wunsch stattgegeben. Entsprechende Auszüge, Textzusammenfassungen oder auch Abschriften befinden sich heute im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, Abteilung IV Kriegsarchiv im Bestand Handschriften unter der Bestellnummer 1460.47 Einen weiteren wichtigen Arbeitsbereich der militärischen Archivschutzgruppe bildete die Inventarisierung der Gesamtbestände in den französischen Militärarchiven unter besonderer Hervorhebung der für die deutsche Geschichte bedeutsamen Stücke. Zum einen wollte man natürlich einen generellen Überblick über die in den einzelnen Archiven vorhandenen Unterlagen hinsichtlich ihres Inhalts und ihres Umfangs gewinnen, zum anderen dienten die Inventare selbstverständlich als Arbeitsinstrumente, etwa für die Rückforderungen nach dem Krieg. Doch damit war ihre Funktion noch nicht erschöpft. Mit den Übersichten sollte auch der Forschung in Deutschland ein Arbeitsmittel an die Hand gegeben werden, das ihr den Zugang zu den französischen Archiven, der ihr in den vergangenen Jahren verwehrt geblieben war, erschloss. Die Mitteilungen über laufende oder abgeschlossene Inventarisierungsarbeiten nehmen in den Berichten an den Chef der Heeresarchive breiten Raum ein, handelte es sich doch meist um zeitlich längerfristige Projekte.48 Kopien bzw. Durchschläge dieser Inventare wurden u.a. an das Heeresarchiv München übersandt und sind bis Der Aktentitel lautet: „Auszüge aus den Archives des Affaires étrangères zur Lebensgeschichte des bayerischen Königs Max Joseph, Paris 1942 (Erstellt v. Frl. Dr. von Hörmann beim Beauftragten des Chefs der Heeresarchive in Paris).“ 48 Noch im Tätigkeitsbericht vom 4. Februar 1944 wird auf den Beginn der Reinschrift des Inventars der Archives historiques Bezug genommen. BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, AA 55. 47
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heute im Kriegsarchiv erhalten geblieben. Im Bestand Handschriften finden sich als Bestellnummern 1707 bis 1714 und 1905 bis 1916 die jeweiligen Übersichten und Repertorien der Pariser Archive. Bei Nummer 1707 etwa handelt es sich um die „Vervielfältigte Übersicht über die Bestände der Archives Administratives des französischen Kriegsministeriums, Bd. 1, Paris 1943“, die Nummer 1908 nennt als Betreff „Service Historique, Inventar. Maschinenschr. (1943/44, 1 Karton)“ und Nummer 1915 verzeichnet die „Archives Historiques. Repertoire numérique des documents de la période révolutionnaire (Serie B), Maschinenschr.: o.J.“49 Ergänzend wurden zu den verschiedenen Archiven Beschreibungen gefertigt, die im Bestand Archivakten unter der Nummer 54 liegen.50 Sie geben so detailliert wie möglich Auskunft über die äußere Gliederung des jeweiligen Archivs, dessen Einrichtung, die Unterstellungsverhältnisse, das Personal, den Aktenbestand nebst Erfassung der Akten, Aktenführung und Inventarisation, sodann über Benützung, Aufgabenkreis, Veröffentlichungen und Literatur zur beschriebenen Einrichtung sowie nennenswerte Kriegseinwirkungen. Diese teilweise zehn bis zwölf Seiten umfassenden Abhandlungen bieten somit einen fundierten Einblick in Struktur und Organisation der vorgestellten Institution. Um nun den Informationsgehalt der in den Militärarchiven vorliegenden Akten französischer Provenienz mit Bezug zu Deutschland möglichst umfassend abzuschöpfen, ging man zweierlei Wege, je nach Umfang der Unterlagen. Zum einen wurden Abschriften, Exzerpte, Textauszüge gefertigt, zum anderen bediente man sich der Möglichkeit der Fotokopie. Was das Fotokopieren anbelangt, so kam dem Heeresarchiv München eine besondere Rolle zu. Die Kollegen im Heimatarchiv lieferten nicht nur ein BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, HS. – Innerhalb des sachthematisch gegliederten Bestandes Handschriften wurden sämtliche Kopien, Exzerpte und Vervielfältigungen aus den französischen Archiven unter die Gruppe VIII (= Rang- und Stammlisten) als Rubrik C (= Kopien aus französischen Archiven) nach den Listen der Kurpfalz und Bayern/Kurpfalzbayern/Königreich Bayern eingereiht. Die Serie gliedert sich im Einzelnen in folgende Themen-/Nummernblöcke: Übersichten und Repertorien (ursprünglich VIII C 1–8, heute: HS 1707–1714), Stammrollen (ursprünglich VIII C 9–198, heute: HS 1715– 1888), Personalakten, Rang- und Rekrutenlisten (ursprünglich VIII C 199–214, heute: HS 1889–1904), Übersichten und Repertorien (ursprünglich VIII C 215–226, heute: HS 1905–1916) sowie Akten (ursprünglich VIII C 227–231, heute: HS 1917–1921). 50 Im Einzelnen sind für das Archiv des französischen Service historique, für die Archives administratives, das Archiv der Inspection de l‘Artillerie, das Archiv der Inspection du Génie et des Fortifications sowie für das Kartenarchiv im Kriegsministerium entsprechende Darstellungen vorhanden. 49
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Kopiergerät nebst kompetentem Personal nach Frankreich, sondern sie sorgten auch regelmäßig für Nachschub an Filmmaterial. Am 15. Dezember 1941 traf der Fotokopierapparat in Paris ein,51 so dass ab diesem Zeitpunkt wesentlich größere Mengen an Material dupliziert und für eine Übermittlung nach Deutschland aufbereitet werden konnten. Gerade die regelmäßige Beschaffung von Arbeitsmaterial gestaltete sich jedoch im-
Von der Archivschutzkommission um den Beauftragten des Chefs der Heeresarchive in den Pariser Archiven verwendetes Vervielfältigungsgerät (BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, Archivchronik).
mer wieder schwierig. Bereits in seinem Bericht vom 2. März 1942 notierte Karl Brennfleck: „Damals [bei der Überstellung des Gerätes] wurde weder an Material- noch Geldmangel gedacht. Es ist nunmehr gelungen, beim Militärbefehlshaber einen Kredit von etwa RM 2000,– für weitere Beschaffungen von Material zu erhalten. Dieser wird in der Weise ausgenutzt, daß das Material durch das Heeresarchiv München beschafft und abgesandt wird und die Rechnung von mir zur Zahlung bei der Zahlmeisterei des Militärbefehlshabers angewiesen wird.“52 Das Heeresarchiv konnte für die genannte Summe bei der Firma „Schaja“ in München 2500 Blatt Autographenpapier (DIN Format), 5 Pakete Spezialentwickler für Film, 51 52
BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, AA 55. Ebd.
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3 Pack Film (Leicaformat), 12 Packungen Supramin Feinkornentwickler und 10 Dosen Fixiersalz bestellen und nach Erhalt nach Frankreich weiterschicken. Derartige Lieferungen erfolgten noch mehrmals.53 In der Folgezeit wurden in großem Stil Archivalien fotokopiert. Von den Filmen wurden wiederum Kopien (Abzüge) gefertigt und gebunden. Film und Band wurden anschließend an das jeweilige Heeresarchiv in Deutschland übersandt, das Interesse an dem erfassten Inhalt zeigte. Auch das Heeresarchiv München erhielt wiederholt entsprechende Lieferungen an Filmen und Fotobänden. So traf etwa im Dezember 1942 ein Karton mit Filmen zu den Stammrollen der Fremdenregimenter (Kavallerie) in München ein und am 30. Januar 1943 wurden laut Bericht beispielsweise folgende Stammrollen an das Heeresarchiv versandt: Husaren-Regiment Esterhazy (1. bis 8. Band), Husaren-Regiment Lauzun (1. bis 7. Band),
Auflistung der am 30. Januar 1943 an das Heeresarchiv München versandten Fotokopien aus 24 Stammrollen verschiedener Husaren- und Dragonerregimenter (BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, AA 55).
Husaren-Regiment Bercheny (8. bis 13. Band), Husaren-Regiment Colonel Général (1. und 2. Band) und Dragoner-Regiment Schomberg (6. Band).54 Die kopierten Bände zum Regiment Esterhazy etwa sind heute als 53 54
Ebd. Ebd.
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Auszug aus dem Repertorium des Bestandes Handschriften im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, Abt. IV Kriegsarchiv, in den die am 30. Januar 1943 überschickten Kopien eingereiht wurden – hier als Beispiel die Kopien der acht Stammrollen des Husarenregiments Esterhazy.
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Nummer 1855 bis 1860 des Bestandes Handschriften benutzbar.55 Bei der Verzeichnung sind im Übrigen auch die Nummern der mitgelieferten Filme (XLII–XLVIII) angegeben. Diese sind gleichfalls noch existent. Analog wurde mit sämtlichen übermittelten Kopien verfahren. Schließlich sei noch auf einen letzten Aufgabenkomplex der Heeresarchivare hingewiesen, nämlich die Bereitstellung von Archivgut der fremden Archive für eine Auswertung durch Forscher bzw. die Auskunftserteilung aus den Akten. Wiederholt ist in den Berichten die Rede davon, dass im Auftrag von Wissenschaftlern in einschlägigen Akten Recherchen durchgeführt wurden. Dabei wurden den Ausführungen zufolge stets nur Exzerpte aus den Akten erstellt oder auch Kopien gefertigt. Eine unmittelbare Vorlage an Forscher war zwar nicht ausgeschlossen, fand jedoch offensichtlich nicht statt. In einem Fall wurde der Wunsch nach einem persönlichen Besuch in Paris explizit abgelehnt mit dem Hinweis, dass die laufenden Arbeiten die Betreuung eines Benutzers nicht zuließen.56 Auch wenn die sehr umfangreichen und komplexen Aufgaben in der Archivschutzgruppe anstrengend waren – zeitweise wurde selbst am Wochenende gearbeitet –, blieb doch regelmäßig Zeit für private Unternehmungen in Paris, für Ausflüge in die Umgebung oder für Opern-, Theater- und Museumsbesuche. Vor allem Herbert Knorr berichtet in seinen Briefen an Maximilian Leyh von entsprechenden Aktivitäten. So schreibt er z.B. von einem Ausflug nach Versailles und dass er in der Oper „Samson und Dalila“ gehört habe.57 Auch Otto von Waldenfels gibt hin und wieder Einblick in seine privaten Unternehmungen, wie zum Beispiel vom Besuch einer „glänzenden Aufführung“ der „Rabouilleuse“ von Emile Fabre in der Comédie française.58 Außerdem ging er regelmäßig in die Oper.59 Mit dem sukzessiven Vorrücken der feindlichen Front gingen der Aufenthalt und die Tätigkeit der militärischen Archivschutzgruppe in Frankreich zu Ende. In einem Schreiben an Maximilian Leyh vom 3. Januar 1944 berichtet Herbert Knorr: „Die Lage spitzt sich allmaehlich hier zu, habe ich das Empfinden. Feindliche Lufttaetigkeit seit etlichen Tagen sehr rege … Die ganz Gescheiten wissen bereits: im Maerz erfolgt bei uns Ebd., Repertorium Handschriften. Ebd., AA 55. 57 Ebd., AA 139. 58 Ebd., AA 55. 59 Zahlreiche Textheftchen von ihm besuchter Stücke hat er als Erinnerung aufgehoben. Gleiches gilt für Konzerte oder Aufführungen in den Folies Bergères. S. StABa, NL Otto von Waldenfels (Rep. M 11), 185. 55 56
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eine feindliche Landung. Fuer unmoeglich hielte ich es ja nicht; aber wer weiss?“60 Trotz der fortschreitenden Bedrohung durch regelmäßigen Fliegeralarm und der zunehmenden Unsicherheit wurde am Arbeitsprogramm zunächst festgehalten. Erste konkrete Auflösungserscheinungen der militärischen Archivschutzgruppe zeigten sich allerdings bereits einen Monat später mit der Schließung der Aktensichtungsstelle Paris zum 21. Februar 1944.61 Im August wurde dann auch die Dienststelle des Beauftragten des Chefs der Heeresarchive nach und nach aufgelöst und die Mitarbeiter anderen Dienststellen zugeteilt. Das Fotokopiergerät wurde im Übrigen an das Heeresarchiv München, das es ursprünglich zur Verfügung gestellt hatte, übergeben und nach Mönchsdeggingen geschickt, einen der zahlreichen Auslagerungsorte des Archivs während des Krieges.62 I I I . Au s b l i c k In der Abteilung IV Kriegsarchiv des Bayerischen Hauptstaatsarchivs erinnern die zahlreichen Kopien und Exzerpte aus den französischen Heeresarchiven bis heute an den Einsatz ehemaliger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der militärischen Archivschutzkommission in Frankreich während des Zweiten Weltkriegs. Sie stehen als Teil des Bestandes Handschriften allen Benutzerinnen und Benutzern zur Einsichtnahme zur Verfügung. Für die besetzten Länder, die jahrelang massive Eingriffe in ihre Archive erfahren hatten – Maximilian Leyh spricht in einem Brief vom 17. April 1944 von „archivalischer Ausbeutung“63 – begann nach dem Krieg eine langwierige, nicht selten ergebnislose Suche nach entwendetem und seitdem vermisstem Schriftgut. Im September 1951 wandte sich z. B. die französische Militärregierung in Berlin an den Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns mit der Bitte um Mitteilung, ob sich in seinem Zuständigkeitsbereich handgezeichnete topographische Pläne des 17. und 18. Jahrhunderts von Deutschland befinden, die zwischen 1940 und 1942 aus Frankreich „entführt“ und deutschen Länderarchiven zugeteilt worden waren.64 Hier wird Bezug genommen auf die weiter oben erwähnten, von BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, AA 55. Ebd. Schreiben Knorrs an den Chef der Heeresarchive vom 1. März 1944. 62 Ebd. 63 Ebd., AA 139. 64 BayHStA, Generaldirektion der Staatlichen Archive, Abgabe 2009, lfd. Nr. 155. 60 61
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Walter E. Vock katalogisierten rund 25.000 Karten, die nach Deutschland transferiert und dort zumindest teilweise an die Staatsarchive übergeben worden waren. Das Auskunftsersuchen wurde ebenso negativ beschieden wie ein Schreiben des Bundesamts für äußere Restitutionen an Otto Frhr. von Waldenfels wenige Jahre später im Sommer 1960 mit der Bitte um Mithilfe bei der Klärung des Verbleibs abtransportierter Akten aus Paris während des Zweiten Weltkriegs.65 Insgesamt muss die Tätigkeit deutscher und darunter Münchner Heeresarchivare im besetzten Frankreich differenziert gesehen werden. Zweifelsohne spielte der Schutz der Archive, etwa durch die Sicherung gegen Entwendung von Schriftgut sowie die Durchführung erforderlicher Bestandserhaltungsmaßnahmen, eine bedeutende Rolle, doch daneben steht die ungerechtfertigte Aneignung von Archivgut und die ideelle Ausbeutung der verschiedenen Archive.
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BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, HS 2839.
Nicht nur für Menschen bewegte Zeiten. Zum Schicksal der Tiroler Archive und Registraturen in der Napoleonischen Epoche Von Christoph Haidacher Ruft man sich manche Ereignisse der jüngsten Vergangenheit in Erinnerung, so könnte man fast den Eindruck gewinnen, als wären Naturkatastrophen oder technisches Versagen die größten Gefahren, die Archiven drohen: – Am 15. Februar 2021 barst im Stadtarchiv Amberg in Bayern in der Nacht eine Wasserleitung und richtete erheblichen Schaden an den historischen Beständen an.1 – Am 23. Januar 2021 beschädigte ein Felssturz (rund 60 Tonnen Gestein mit Blöcken bis zu drei Metern Durchmesser) den Lesesaal des Salzburger Stadtarchivs; die in den Depots lagernden Archivalien kamen Gott sei Dank nicht zu Schaden.2 – Vor mehr als 10 Jahren, am 3. März 2009, stürzte im Zuge der Errichtung der Nord-Süd-Stadtbahn das Kölner Stadtarchiv ein. 90 Prozent des Schriftguts des größten deutschen Kommunalarchivs, das sogar den Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden hatte, wurden verschüttet. Für die erforderlichen Restaurierungsmaßnahmen wird ein Zeitraum von ca. 30 Jahren veranschlagt, der Gesamtschaden auf rund 1,33 Milliarden Euro geschätzt.3 Überblickt man allerdings größere Zeiträume, so sind es vor allem kriegerische Ereignisse, die Archive zu Schaden kommen lassen. Man könnte in diesem Zusammenhang viele Beispiele aus allen Epochen und verschiedenen Regionen anführen; es soll jedoch bei drei Vorfällen aus dem Tiroler Bereich bleiben: https://www.zeit.de/news/2021-02/16/geplatzte-wasserleitung-hoher-schaden-in-stadtarchivamberg?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F (aufgerufen am 18.3.2021). 2 https://www.salzburg24.at/news/salzburg/stadt/felssturz-trifft-haus-der-stadtgeschichte98783584 (aufgerufen am 18.3.2021). 3 https://de.wikipedia.org/wiki/Historisches_Archiv_der_Stadt_K%C3%B6ln#Einsturz_des_ Geb%C3%A4udes_im_M%C3%A4rz_2009 (aufgerufen am 18.3.2021). 1
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– Beim Brand von Schwaz im Mai 1809 infolge der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem Tiroler Aufgebot und dem bayerischen Militär (General Wrede gab den Ort nach der Eroberung zur Plünderung und Brandschatzung frei) wurden die älteren Bestände des Stadtarchivs fast vollständig vernichtet.4 – Das im Neuen Rathaus untergebrachte Innsbrucker Stadtarchiv erlitt bei einem Bombenangriff auf die Tiroler Landeshauptstadt am 16. Dezember 19445 schwere Verluste, insbesondere der historische Urkunden- und Amtsbücherbestand nahm Schaden.6 – Das Tiroler Landesarchiv war im Zweiten Weltkrieg von zwei Bombenangriffen am 15. Dezember 1943 (Landschaftliches Archiv im Landhaus) und am 16. Dezember 1944 (Depots des Landesregierungsarchivs in der Herrengasse und in der Dogana)7 betroffen, die einen Verlust von rund 1100 Laufmetern Archivalien zur Folge hatten.8 Große Auswirkungen auf Archive – wenn auch meist nicht mit der Zerstörung von Archivgut verbunden – hatten die meist als Folge von Kriegen und militärischen Auseinandersetzungen eintretenden politischen und territorialen Veränderungen. Das wohl einschneidendste Ereignis im Tiroler Raum stellt die Extradierung umfangreicher Bestände an Italien nach dem Ersten Weltkrieg dar, wobei die weitestgehende Anwendung des Prove
Franz-Heinz Hye, Die Städte Tirols. 1. Teil. Bundesland Tirol (Österreichisches Städtebuch 5/1), Wien 1980, S. 221 f., 227. 5 Michael Svehla, Als in Innsbruck die Sirenen heulten. Luftangriffe 1943–1945 (Veröffentlichungen des Innsbrucker Stadtarchivs, Neue Folge 67), Innsbruck 2018, S. 50–55. 6 Gertraud Zeindl, Ein Rundgang in die Geschichte des Stadtarchivs. In: Zeit – Raum – Innsbruck (Schriftenreihe des Innsbrucker Stadtarchives 13), Innsbruck 2014, S. 95–112, hier S. 105–107. 7 Otto Stolz – Karl Dörrer, Bericht über die Stellung, den Zustand und die Tätigkeit des Landesregierungsarchives für Tirol (Innsbruck) in den Jahren 1938 bis 1948. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 1 (1948) S. 482–489, hier S. 486 f. – Karl Dörrer, Die Verlagerung der Nordtiroler Archive im Zweiten Weltkrieg. In: Tiroler Heimat 31/32 (1967/68) S. 45–50, hier S. 48. – Ein Teil der ausgelagerten Archivalien wurde noch im Jänner 1946 aufgrund von Unwissenheit zum Einstampfen in die Papierfabrik nach Steyrermühl (Oberösterreich) verbracht. Die Dogana war ein im 16. Jahrhundert errichtetes Ballspielhaus und Theater, das im Zweiten Weltkrieg zum Teil zerstört wurde. An seiner Stelle befindet sich heute das Kongresshaus Innsbruck. 8 Christian Fornwagner, Archivalienverluste des Tiroler Landesarchivs (TLA) von 1900 bis 1994. In: Scrinium 50 (1996) S. 552–555. 4
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nienzprinzips, für das die Fachexperten beider Staaten eingetreten waren, wenigstens die Zerreißung der zentralbehördlichen Bestände verhinderte.9 Aber auch die napoleonische Epoche – obwohl nur einige Jahre während – brachte für das Tiroler Archivwesen und die Registraturen der Behörden tiefgreifende und über viele Jahrzehnte nachwirkende Umwälzungen, deren verschiedene Facetten im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen sollen. Um manche Entwicklungen und Vorgänge besser verstehen und beurteilen zu können, ist es notwendig, die Epoche um 1800 vorerst zu verlassen und einige Jahrzehnte zurückzublicken. Die verschiedenen Innsbrucker Archive, vor allem das landesfürstliche Schatzarchiv, das Kameral- und das Lehenarchiv, aber auch die Registraturen der Behörden hatten trotz des Verlustes des Hofes infolge des Aussterbens der jüngeren Tiroler Linie aus dem Hause Habsburg im Jahr 1665 nicht an Bedeutung eingebüßt und bestanden unangetastet weiter. Dies änderte sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts zum einen mit der Gründung des Haus-, Hof- und Staatsarchivs in Wien (1749), zum anderen mit der Verselbständigung der sogenannten Vorlande (die habsburgischen Gebiete im Südwesten des Reichs inklusive Vorarlberg), die 1752 der Zuständigkeit der Innsbrucker Zentralbehörden entzogen wurden. Um die für die vorderösterreichischen Gebiete zuständigen neugeschaffenen Behörden in Konstanz und Freiburg voll funktionsfähig zu machen, wurden die Innsbrucker Stellen angewiesen, das für die Verwaltung notwendige Urkunden- und Aktenmaterial teils im Original, teils als Abschrift zur Verfügung zu stellen, womit seit dem Mittelalter bestehende Provenienzen zerstört wurden. Diese aus archivalischer Sicht zwar bedauerliche Extradition wäre zunächst nicht so schlimm gewesen, hätten nicht die vorderösterreichischen Bestände vor Ort infolge der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Frankreich und der damit einhergehenden Gebietsverluste im 17. und 18. Jahrhundert bereits große Verluste und Christoph Haidacher, Zwischen zentralem Reichsarchiv und Provinzialregistratur. Das wechselvolle Schicksal des Innsbrucker Archivs gezeigt am Beispiel seiner Erwerbungen und Extraditionen. In: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 105 (1997) S. 156–169, hier S. 167 f. sowie Ders., Der Blick auf das „einstmals ungewollte Kind“. Betrachtungen zum Südtiroler Landesarchiv aus Nordtiroler Perspektive. In: Archive in Südtirol. Geschichte und Perspektiven, hrsg. von Philipp Tolloi (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 45), Bozen 2018, S. 51–73, hier S. 53 f. (ein Vortrag bzw. ausführlicher Aufsatz über die Archivalienauslieferungen an Italien nach dem Ersten Weltkrieg ist derzeit im Entstehen). 9
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räumliche Verbringungen erfahren. Diese wurden in der Napoleonischen Epoche noch potenziert, indem die habsburgischen Gebiete an die Rheinbundstaaten Bayern, Baden und Württemberg fielen und deren Archivalien zum Teil recht willkürlich auf diese drei Territorien aufgeteilt wurden, zum Teil auch der Vernichtung anheimfielen. Im Ergebnis befindet sich das Schriftgut der ehemaligen habsburgischen Vorlande infolge von Kriegen und territorialen Veränderungen heute über mehr als ein halbes Dutzend Archive in drei Staaten verteilt.10 Ähnliches sollte auch den Tiroler Archivalien widerfahren. Mit der Gründung des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, damals als „k.k. Geheimes Hausarchiv“ bezeichnet, setzte – der Diktion Michael Hochedlingers folgend – ein „Plünderungszug“ durch die landesfürstlichen Archive und Registraturen des böhmisch-österreichischen Kernstaates (lediglich Ungarn, die österreichischen Niederlande und die italienischen Provinzen blieben verschont) ein; alleine weit mehr als 1000 Urkunden verbrachte der aus Hildesheim stammende „Erste Archivar“ Theodor Anton Taulow von Rosenthal aus den Innsbrucker Archiven und Registraturen nach Wien.11 Diese Zentralisierungstendenzen und Einziehungsaktionen minderten nicht nur den einstmals sehr reichen Bestand an alten und wertvollen Dokumenten der Innsbrucker Archive und Registraturen, sondern sie besaßen auch für die archivalischen Transaktionen zwischen Innsbruck und München in der Napoleonischen Epoche Relevanz, da Wien – wie noch Details dazu und weiterführende Literatur bei Haidacher, Reichsarchiv und Provinzialregistratur (wie Anm. 9) S. 161–163. – In den letzten Jahrzehnten wurden große Anstrengungen unternommen, die vorderösterreichischen Provenienzen wieder zu rekonstruieren, insbesondere durch ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt der badischen, bayerischen und württembergischen Archive – vgl. Gesamtinventar der Akten und Amtsbücher der vorderösterreichischen Zentralbehörden in den Archiven der Bundesrepublik Deutschland (Veröffentlichungen der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 50), Stuttgart 1998 ff. (es sind noch nicht alle geplanten 11 Bände erschienen) bzw. https://www2.landesarchiv-bw.de/ofs21/olb/struktur.php?archiv=1&klassi=1 .02.002&anzeigeKlassi=1.02.002&zeigehauptframe=1 (aufgerufen am 18.3.2021). Auch in Colmar wurden die vorderösterreichischen Bestände erschlossen – vgl. Lucie Roux, Répertoire numérique détaillé du fonds de la regence autrichienne d’Ensisheim (sous-série 1 C), Colmar 1995. 11 Michael Hochedlinger, Österreichische Archivgeschichte. Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Papierzeitalters, Wien-München 2013, S. 53–56. Details bei Paul Kletler, Die Urkundenabteilung. In: Inventare Österreichischer Staatlicher Archive V/6, hrsg. von Ludwig Bittner, Wien 1938, S. 1–134, hier S. 63–80. 10
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zu zeigen sein wird – auch bei dieser Gelegenheit als dritter „Player“ entscheidend mitmischen sollte. Die Expansionsbestrebungen Frankreichs in den 1790er Jahren berührten Tirol zunächst nur militärisch. Jedoch mit der Niederlage Österreichs im Dritten Koalitionskrieg und dem darauf folgenden Frieden von Preßburg (26.12.1805) fiel die Grafschaft Tirol zusammen mit dem Land Vorarlberg und den 1803 säkularisierten Hochstiften von Brixen und Trient an das zum Königreich erhobene Bayern.12 Zunächst änderte sich nur wenig, wohl auch deswegen, weil das Reformwerk von Staatsminister Montgelas erst im altbayerischen Gebiet vorbereitet werden musste, während Karl Graf Arco, aus Welschtiroler Adel stammend, als Hofkommissär für Tirol mit königlicher Billigung weitgehende Rücksicht auf die Befindlichkeiten und Traditionen des Landes nahm. Diese „Sonderbehandlung“ Tirols stand den Bestrebungen Montgelas‘, der aus Bayern einen zentralistischen Einheitsstaat formen wollte, allerdings diametral entgegen und war daher nur von kurzer Dauer. Mit der am 1. Mai 1808 in Kraft getretenen neuen Verfassung ging der Sonderweg Tirols innerhalb des bayerischen Staatsverbandes zu Ende. Die verschiedenen Reformmaßnahmen, die insbesondere bei der bäuerlichen Bevölkerung Tirols auf viel Unverständnis trafen und mit anderen Faktoren zum Aufstand von 1809 führten, sollen im Rahmen dieses Beitrags nicht näher ausgeführt und bewertet werden.13 Hingegen sollen jene Veränderungen kurz Erwähnung finden, die Auswirkungen auf Registraturen und Archive hatten. Während in den ersten beiden Jahren der bayerischen Herrschaft die österreichischen Verwaltungsstrukturen weitgehend beibehalten wurden, änderte sich dies 1808 grundlegend; bildlich gesprochen blieb kein Stein Zu den Eckdaten der Napoleonischen Epoche in Tirol vgl. Georg Mühlberger, Absolutismus und Freiheitskämpfe (1665–1814). In: Josef Fontana et. al. (Hrsg.), Geschichte des Landes Tirol. Band 2: Die Zeit von 1490 bis 1848, Bozen 1986, S. 289–579, hier: S. 465–544 sowie Eberhard Weis, Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max. I. (1799–1825). In: Alois Schmid (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Geschichte. Band 4: Das Neue Bayern. Von 1800 bis zur Gegenwart. Teilband 1: Staat und Politik, 2., völlig neu bearbeitete Auflage, München 2003, S. 3–126, hier: S. 20–44. 13 Vgl. dazu die umfassende Abhandlung von Martin Schennach, Revolte in der Region. Zur Tiroler Erhebung von 1809 (Veröffentlichungen des Tiroler Landesarchivs 16), Innsbruck 2009, ebenso wie Reinhard Stauber, Der Zentralstaat an seinen Grenzen. Administrative Integration, Herrschaftswechsel und politische Kultur im südlichen Alpenraum 1750–1820 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 64), Göttingen 2001. 12
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auf dem anderen. Tirol als Land und als administrative Einheit hörte auf zu existieren, die an französische Vorbilder angelehnte Kreiseinteilung fand, so wie in ganz Bayern, auch in den neu gewonnenen Gebieten Anwendung: Auf Tiroler Boden wurden der Inn-, der Eisack- und der Etschkreis gebildet, das von Innsbruck aus verwaltete Vorarlberg wurde dem Illerkreis zugeschlagen; daneben erfolgten noch kleinere Grenzanpassungen zwischen den „Tiroler“ und den angrenzenden „bayerischen“ Kreisen. Der vom Innsbrucker Gubernium als oberster staatlicher Behörde bisher administrierte Sprengel (Grafschaft Tirol und Land Vorarlberg) war in vier neue Verwaltungseinheiten aufgeteilt worden. Die Innsbrucker Archive waren von diesen administrativen Änderungen vorerst kaum betroffen; allerdings hatten der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 und der Übergang von der österreichischen zur bayerischen Herrschaft den Archiven durchaus bewegte Zeiten beschert. Mit dem Ende der beiden geistlichen Fürstentümer Brixen und Trient fiel ein Gebiet von rund 5000 Quadratkilometern mit 170.000 Einwohnern an Tirol, eine ähnlich große Integrationsherausforderung, wie sie Bayern in Bezug auf Tirol nur wenige Jahre später bewältigen musste. Die Archive dieser beiden Territorien, die auf Grund ihres Alters (beide waren im frühen 11. Jahrhundert entstanden) über höchst bedeutende Dokumente verfügten, zogen sogleich das Interesse des Haus-, Hof- und Staatsarchivs auf sich. Sie wurden daher unter Zurücklassung der für die laufende Verwaltung benötigten Stücke nach Innsbruck verbracht. Die historisch weniger wichtigen Akten verblieben hier, während die wertvollsten Dokumente zusammen mit „interessanten“ Urkunden, Akten und Handschriften aus den Innsbrucker Beständen im Herbst 1805 nach Wien überführt wurden. Kurze Zeit später erfolgten dann wegen der kriegerischen Ereignisse weitere Flüchtungen von Archivgut nach Osten.14 Dass bei all diesen „Verbringungen“ wie schon in den Jahrzehnten davor das Provenienzprinzip keine Berücksichtigung fand, ist ebenso evident wie bedauerlich.
Infolge der überstürzten Flüchtungen fehlen detaillierte Verzeichnisse und Berichte, so dass der exakte Ablauf nicht mehr zuverlässig rekonstruiert werden kann. In einem Bericht des Gubernialregistrators Josef Röggl vom 31.1.1833 (Tiroler Landesarchiv [in der Folge als TLA abgekürzt], Archivsachen I 120, Akt Zl. 3104), findet sich der Hinweis, dass zunächst Brixner und Trientner Archivalien nach Wien gebracht wurden und dann bei Kriegsausbruch das Innsbrucker Archiv nach Ungarn geflüchtet worden ist. Vgl. Haidacher, Reichsarchiv und Provinzialregistratur (wie Anm. 9) S. 163 f. 14
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Überraschend schnell und ohne Hinhaltetaktik wurden nach der Inbesitznahme Tirols durch Bayern die geflüchteten Tiroler, Brixner und Trientner Archivalien von den österreichischen Behörden in den Jahren 1806 und 1808 nach Innsbruck zurückgestellt, wo sie zunächst auch verblieben;15 mit dieser Vorgehensweise entsprach man nicht nur den neuen politischen Verhältnissen, sondern auch (damals noch nicht selbstverständlichen) archivischen Standards.16 In den Folgejahren blieb das Innsbrucker Archiv – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – von Begehrlichkeiten der Münchner Obrigkeit verschont; wohl deshalb, weil Bayern damals noch über keine dem Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv vergleichbare Institution verfügte. Dies sollte sich jedoch bald ändern: mit entsprechenden Auswirkungen auf die Archive in der Peripherie. Völlig anders stellte sich die Situation bei den rezenten Behördenregistraturen dar. Infolge der bereits geschilderten administrativen Umwälzungen, die statt des einen Guberniums in Innsbruck nun vier Generalkommissariate (Inn-, Eisack-, Etsch- und Illerkreis) hatten entstehen lassen, ergab sich für eine geordnete Verwaltung und Justiz die Notwendigkeit der Anforderung von Vorakten. Auch wenn die vorhandenen Aufzeichnungen in den Archiven darüber nur unzureichend Auskunft geben und eine eingehende Untersuchung der konkreten Umsetzung dieser administrativen Umbrüche noch aussteht, scheint es so gewesen zu sein, dass es innerhalb der drei „Tiroler“ Generalkommissariate nur bei Bedarf zur Anforderung von Vorakten gekommen ist, da man mit den Registraturen der alten österreichischen Kreisämter, die dem Gubernium unterstellt waren, aktenmäßig ausreichend ausgestattet war. Einen stärkeren Aktentransfer scheint es hingegen in Richtung des Generalkommissariats des Illerkreises gegeben zu haben, das für die Verwaltung Vorarlbergs auf die notwendigen Vorakten angewiesen war.17 TLA, Archivsachen I 120, Akt Zl. 3104: Bericht von Röggl vom 31.1.1833. Allerdings scheinen nicht alle Tiroler Archivalien retourniert worden zu sein, denn am 11.7.1806 wurden dem Geheimen Hof- und Staatsarchiv Urkunden übergeben, von denen dieses behauptete, dass sie nicht zurückgegeben werden können, da sie „dem geheimen Hof- und Staatsarchiv zu seiner Ergänzung nicht wohl entbehrlich seyn“ (Vgl. Archivsachen II 32, Akt Zl. 18968: Schreiben vom 7.8.1819). 16 Die im Spanischen Erbfolgekrieg 1704 aus München nach Innsbruck verschleppten Archivalien wurden nach Kriegsende (1714/15) ebenso unverzüglich wieder an Bayern zurückgestellt – vgl. TLA, Archivsachen II 4 (Teil 1–4) und Archivsachen I 104. 17 Die langwierigen Verhandlungen um die Rückgabe der „Vorarlberger Akten“ nach 1815 deuten auf entsprechend umfangreiche Aktenverbringungen in der bayerischen Epoche hin. 15
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Da diese administrativen Veränderungen – zumindest von bayerischer Seite – auf Dauer angelegt waren, hätten sich in der Folge ohne Zweifel konsolidierte Registraturen und später geordnete Archivbestände gebildet. Die Ereignisse nahmen jedoch einen völlig anderen Verlauf. Ehe sich die 1808 neu geschaffene Ordnung konsolidieren konnte, brachen der fünfte Koalitionskrieg und mit ihm der Tiroler Aufstand im April 1809 aus. Nach dessen Niederschlagung ordnete Napoleon 1810 eine territoriale Neuordnung des Tiroler Raumes an, die die bestehenden politischen und administrativen Strukturen weitgehend fragmentierte. Ende Februar 1810 fielen nicht in München, sondern in Paris die Tirol betreffenden Entscheidungen: Bei Bayern verblieb lediglich der nördliche Landesteil, die Südgrenze verlief fortan im Etschtal bei Lana und im Eisacktal bei Waidbruck; weder sprachliche noch historische Strukturen bzw. Traditionen fanden dabei Berücksichtigung, die neue Grenze wurde durch bestehende Landgerichte wie Meran oder Klausen gezogen. Die südlich davon gelegenen Gebiete mit Bozen und dem Südtiroler Unterland fielen an das Dipartimento dell‘Alto Adige des Königreichs Italien. Primör/ Primiero, Buchenstein/Livinallongo, Ampezzo und das Höllensteintal bis einschließlich Toblach wurden dem Dipartimento della Piave angegliedert. Die drei Osttiroler Gerichte Windisch-Matrei, Lienz und Sillian fielen an die sogenannten Illyrischen Provinzen, die Frankreich direkt unterstanden. Innerhalb des „bayerischen“ Tirols kam es ebenfalls zu umfangreichen Gebietsveränderungen: Das Landgericht Reutte wurde dem Illerkreis angegliedert, das Landgericht Werdenfels kam zum Innkreis, während die Landgerichte Hopfgarten und Kitzbühel den Salzachkreis erweiterten. Damit wurde die ehemalige habsburgische Grafschaft Tirol auf drei Staaten (Bayern, Italien, Illyrische Provinzen) und insgesamt sechs Verwaltungseinheiten (Illerkreis, Innkreis, Salzachkreis, Dipartimento dell’Alto Adige, Dipartimento della Piave und Province Carinthie) aufgeteilt.18 Diese durchaus als willkürlich zu bezeichnenden territorialen Festlegungen berührten nicht nur die über Generationen gewachsene Lebenswelt der Menschen und bereiteten diesen die im Titel des Beitrags angesprochenen „bewegten Zeiten“, auch die Verwaltung war mit einer vollkommen neuen Situation konfrontiert, die in weiterer Folge auch schwerwiegende Auswirkungen auf die Registraturen der Behörden entfaltete.
Details dazu bei Fridolin Dörrer, Die bayerischen Verwaltungssprengel in Tirol 1806– 1814. In: Tiroler Heimat 22 (1958) S. 83–132. 18
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Da diese verwaltungsinternen Spezifika bis dato noch nicht im Detail erforscht sind19 und dies im Rahmen dieses Beitrags auch nicht geleistet werden kann, mögen exemplarisch einige Beispiele dieser „Aktenwanderungen“ angeführt werden. – Bereits 1807 werden Urkunden und Akten zur Klärung der Zillertaler Grenz- und Walddifferenzen nach München gebracht.20 – Staatsminister Montgelas ordnet am 31. August 1808 an, dass aus Kostengründen und wegen der Menge des Schriftguts nicht die gesamten sich auf das jeweilige neugeschaffene Generalkommissariat beziehenden Akten von Innsbruck nach Brixen und Trient extradiert werden, sondern vorerst nur die für die laufenden Verfahren benötigten Dokumente. Die bisherigen Registraturen sollen entsprechend den neuen Verwaltungseinheiten umgeordnet werden, damit Aktenanforderungen rascher erledigt werden können. In der Folge gehen in Innsbruck zahlreiche solcher Anforderungen aus Trient und aus Brixen ein.21 Die verheerende Auswirkung einer solchen nur selektiv erfolgenden Entnahme von Betreffen aus historisch gewachsenen Registraturen ist evident. – Wie aus einem späteren Bericht des Sekretärs der Lehenregistratur hervorgeht, wurden 1808 zunächst 15 Zentner Lehenakten und dann 1812 nochmals 5 Zentner an die zuständigen Behörden in München verbracht. 22 – Staatsminister Montgelas weist am 28. Februar 1809 das Generalkommissariat des Innkreises an, die im Innsbrucker Archiv verwahrten Akten zu den sogenannten Welschen Confinen (die südöstlichen Grenzregionen des Trentino) dem Generalkommissariat des Etschkreises auszufolgen. Dem am 30. Januar vom Generalkommissar Johann Graf von Welsperg in dieser Sache nach Innsbruck ergangenen Schreiben Stauber (wie Anm. 13) hat sich in diesem grundlegenden Werk zwar intensiv mit der administrativen Integration dieses Raumes beschäftigt, eine eingehende Darstellung dieser Detailfrage musste aus nachvollziehbaren Gründen jedoch unterbleiben. Vgl. auch zusammenfassend Reinhard Stauber, „Belehret durch Tirol?“. Muster administrativer Integration im Alpenraum der napoleonischen Epoche und ihre Auswirkungen. In: Geschichte und Region/Storia e regione 16/2 (2007) S. 63–89. 20 TLA, Archivsachen II 21 (2 Verzeichnisse vom 2.6.1807 mit insgesamt 324 Positionen). 21 TLA, Archivsachen II 52 (Teil 1), Akt Zl. 3205: Schreiben vom 31.8.1808. In diesem Akt finden sich auch drei detaillierte Verzeichnisse über abgetretene Akten, die am 7.10.1808 (Akt ad Zl. 288) an die Generalkommissariate in Trient und Brixen abgegangen sind. 22 TLA, Archivsachen II 55 (Teil 2), Akt Zl. 1015: Schreiben vom 19.7.1814. 19
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scheint man im dortigen Archiv aber nur zögerlich Folge geleistet zu haben.23 – Hingegen werden während der Herrschaft Andreas Hofers nach Brixen angeforderte Akten nach Gebrauch wieder an die Registratur in Innsbruck zurückgeschickt.24 – In den Jahren 1810 und 1811 musste die ehemalige Innsbrucker Gubernialregistratur die das Landgericht Kitzbühel betreffenden Akten an das nun zuständige Generalkommissariat des Salzachkreises abtreten, während von dort die das bisher salzburgische Zillertal betreffenden Konsistorialakten nach Innsbruck abgeliefert wurden. Akten des Landgerichts Reutte hingegen traten den Weg nach Kempten, den Sitz des Generalkommissariats des Illerkreises an.25 – Noch verwirrender gestalteten sich die Verhältnisse in den südlichen Verwaltungssprengeln an der Grenze zum Königreich Italien, da deren Verlauf historisch gewachsene Landgerichte geteilt hatte. Zum einen benötigte das Dipartimento dell’Alto Adige in Trient für die laufende Verwaltung in Innsbruck verwahrte Akten,26 zum anderen mussten zwischen den bayerischen Landgerichten Lana, Meran und Klausen und dem Distrikt Bozen (Distretto di Bolzano) des Dipartimento dell’Alto Adige permanent wechselseitig Akten angefordert werden, da sich zahlreiche Gemeinden quasi über Nacht in anderen und vor allem andersstaatlichen Verwaltungssprengeln fanden. Solche Aktenübergaben, obwohl von höchster Stelle (Montgelas) genehmigt und angeordnet, erwiesen sich in der Praxis oft als schwer durchführbar: Am 24. April 1811 berichtete das Landgericht Lana, dass die verlangten Akten der Gemeinde Sirmian mit den übrigen Akten des ehemaligen Patrimonialgerichts Tisens derart vermischt und in den Verfachbüchern zusammengebunden sind, dass eine Ausscheidung gleichsam unmöglich sei.27
TLA, Archivsachen II 52 (Teil 1), Akt Zl. 3205: Schreiben vom 30.1. und 28.2.1809. TLA, Archivsachen II 52 (Teil 2), Akt Zl. 4527: Schreiben vom 25.7.1809. 25 TLA, Archivsachen II 53 (Teil 1 und 2). 26 In den diesbezüglich nach Innsbruck ergangenen Schreiben (vgl. TLA, Archivsachen II 54) wird mehrfach die unkorrekte Anrede „Tirolo Bavaro“ oder „Tirolo dell’Inn“ verwendet (Bayern versuchte den Begriff „Tirol“ weitgehend aus dem amtlichen Sprachgebrauch zu eliminieren). Erst allmählich übernahm man die Bezeichnung „Circolo dell’Enno“. 27 TLA, Archivsachen II 54 (Teil 1), Schreiben vom 24.4.1811 (chronologische Ablage). 23 24
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– Auf ähnliche Problematiken trifft man auch im Pustertal, dessen östlicher Teil seit 1810 zu den sogenannten Illyrische Provinzen zählte. Dort stockte im Oktober 1811 die grundsätzlich bewilligte Abgabe von Akten des Rentamts Bruneck an die illyrischen Behörden, da Bruneck seinerseits Akten des nunmehr illyrischen Gerichts Sillian benötigte, diese aber bis dato nicht erhalten hatte. Die Finanzdirektion des Innkreises empfahl daher dem Generalkommissariat in Innsbruck, auf einem gegenseitigen Aktenaustausch zu bestehen.28 Eine ähnliche Vorgehensweise wählte 1812 das Rentamt Meran hinsichtlich der vom nunmehr italienischen Rentamt Bozen benötigten Finanzakten zu den Gemeinden Gargazon und Terlan; auch hier bestand man auf gleichzeitiger Auslieferung jener Dokumente, die man seinerseits von Bozen einforderte.29 – Im Februar 1812 teilte die Registratur dem Generalkommissariat des Innkreises mit, dass sich die Extradition von Lehenakten an das Dipartimento dell’Alto Adige verzögere, da sich der größere Teil dieser Welschtiroler Lehenakten derzeit beim Obersten Lehenhof in München befindet und von dort wegen Krankenständen und Arbeitsüberlastung nicht zeitgerecht rückgestellt werden kann.30 Im Bestand Archivsachen des Tiroler Landesarchivs lassen sich noch weitere solcher Archivalientransaktionen finden, die einen anschaulichen Einblick in die konkreten registraturtechnischen Auswirkungen und die damit verbundenen Verwerfungen in der Tektonik der Bestände auf Grund dieser vollständigen politisch-administrativen Umgestaltung der einstigen Grafschaft Tirol gewähren. Aus den Akten geht aber auch hervor, dass die von Staatsminister Montgelas ausdrücklich angeordnete Abgabe von Verwaltungsschriftgut an andere bayerische Behörden sowie an das Ausland (Italien bzw. Illyrische Provinzen) von den Dienststellen ohne Widerstand und Verzögerung umgesetzt wurde (mit Ausnahme jener Fälle, wo die Gegenseite ihrer Abgabepflicht nicht nachkam). Während die Behördenregistraturen die Auswirkungen der umfangreichen territorialen Veränderungen der napoleonischen Epoche unmittelbar zu spüren bekamen, wirkte sich die bayerische Herrschaft auf das Innsbrucker Archiv zunächst kaum merkbar aus. Die auf Grund der kriegerischen Ereignisse des Jahres 1805 erfolgten Flüchtungen nach Wien und Ungarn TLA, Archivsachen II 54 (Teil 1), Schreiben vom 27.10.1811 (chronologische Ablage). TLA, Archivsachen II 54 (Teil 3), Schreiben vom 19.1.1812 (chronologische Ablage). 30 TLA, Archivsachen II 54 (Teil 3), Schreiben vom 24.2.1812 (chronologische Ablage). 28 29
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waren – wie oben ausgeführt – alsbald nach dem Friedensschluss rückgängig gemacht worden. Dass einzelne Dokumente von Münchner Stellen, wie beispielsweise 1808 Brixner Forstakten, Waldordnungen und eine Gewässerbeschreibung von 1504 durch den Forstorganisationskommissär von Herder,31 angefordert wurden, minderte die Bestände nicht wirklich. Das Innsbrucker Archiv verzeichnete sogar Zuwächse: Da die neue Bayerische Konstitution von 1808 die alte landständische Verfassung der Grafschaft Tirol aufhob, wurde in der Folge das Archiv der Stände (Rezente Registratur des Landtags, Ständisches Archiv, Matrikelarchiv) den staatlichen Behörden und damit dem Archiv des Generalkommissariats des Innkreises übergeben.32 Im gleichen Jahr sollten die auf die Grafen von Andechs Bezug nehmenden Urkunden der Klöster Wilten, Fiecht, Neustift, Marienberg und Stams für ein Forschungsvorhaben in Bayern eingezogen werden; da sich die Administratoren der aufgehobenen Klöster die damit verbundene Mühe und Arbeit ersparen wollten, übergaben sie einfach alle Urkunden, Handschriften und Akten vor 1400. Eine Rückgabe unterblieb, da sich mittlerweile die Einziehungsvorhaben des bayerischen Reichsarchivs abzeichneten.33 Was in Wien mit der Gründung des Geheimen Hausarchivs um die Mitte des 18. Jahrhunderts eingeläutet worden war, fand unter Montgelas in München seine Fortsetzung. Basierend auf den Ausführungen des Geheimen Landesarchivars Franz Joseph Samet, der die Idee des zentralen Auslesearchivs propagierte, wurde am 21. April 1812 das Allgemeine Reichsarchiv gegründet, dem die Archive in den Provinzen unterstellt wurden. Alle historisch bedeutsamen Urkunden, Handschriften und Akten sollten in München unter einem Dach vereinigt werden, womit man – analog zu den Wiener Maßnahmen – eine Zerreißung historisch gewachsener Bestände in Kauf nahm.34 TLA, Archivsachen I 120, Akt Zl. 3104: Bericht von Röggl vom 31.1.1833. TLA, Archivsachen II 22 (die Tatsache der Einziehung erschließt sich aus dem Schriftverkehr zur Rückgabe im Jahr 1816). 33 TLA, Archivsachen II 19. Die Retournierung dieser letztlich nie nach München verbrachten Klosterarchivalien erfolgte nach dem Ende der bayerischen Herrschaft im Herbst 1817. 34 Vgl. Thomas Steck, 75 Jahre Bayerisches Hauptstaatsarchiv. Organisation, Gebäude, Personen (Bayerisches Hauptstaatsarchiv – Kleine Ausstellungen 3), München 1996, S. 7 f. – Bayerisches Hauptstaatsarchiv (Kurzführer der Staatlichen Archive Bayerns, Neue Folge), Gesamtredaktion: Gerhard Hetzer, 2. Auflage, München 2006, S. 4 f. – Bernhard Grau – Martina Haggenmüller – Elisabeth Weinberger u.a., 100 Jahre Bayerisches 31 32
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Diese Maßnahme betraf auch das Innsbrucker Archiv, wobei die Betonung auf „auch“ liegen muss, denn manchmal wurde in Tirol behauptet, dies wäre eine speziell gegen dieses Land gerichtete Maßnahme gewesen. Über den Ablauf gibt jener Bericht vom 31. Jänner 1833 detailliert Auskunft, den der Registrator Josef Röggl im Auftrag des Gubernialpräsidiums verfasst hat:35 Bereits Ende 181036 war durch allerhöchste Entschließung des bayerischen Königs vom 13. November eine Kommission eingesetzt worden, deren Aufgabe es war, die durch die österreichischen Flüchtungen von 1805 in große Unordnung geratenen tirolischen landesfürstlichen Archive wiederherzustellen und zu verzeichnen. Die – interessanterweise nur aus Tirolern37 bestehende Kommission – wurde 1812 dem neu geschaffenen Allgemeinen Reichsarchiv unterstellt. Von diesem kam am 5. August 1813 zunächst der Auftrag, alle im Original und in Kopie vorhandenen Urkunden Kaiser Ludwigs des Bayern nach München zu schicken, was auch geschah. Am 11. August erhielt dann die Kommission „auf Einschreiten“ der Direktion des Allgemeinen Reichsarchivs durch das Generalkreiskommissariat den „Befehl“, die „gehaltreichsten Dokumente“ des Schatzarchivs, des Kameralarchivs und des Brixner Archivs (bis zum Jahr 1400) „schleunigst“ auszuheben, summarisch zu verzeichnen und sogleich an das Reichsarchiv nach München zu übersenden. Röggl vermerkt, dass in Folge der großen Eile keine detaillierte und vollständige Verzeichnung möglich war, was sich noch als verhängnisvoll erweisen sollte. Der Vollzug des Auftrags wurde mit 24. August 1813 gemeldet. Nur zwei Monate später sollte Bayern im Vertrag von Ried die Allianz mit Napoleon lösen und sich mit Österreich verbünden. Eine Revision der territorialen Umbrüche und der damit einhergehenden administrativen Veränderungen war absehbar. Mit etwas weniger Eifer und Schnelligkeit hätte man sich in den folgenden Jahren viel an Arbeit und Mühe auf archivalischem Gebiet ersparen können. Hauptstaatsarchiv. Eine Ausstellung des Bayerischen Hauptstaatsarchivs (Staatliche Archive Bayerns – Kleine Ausstellungen 66), München 2021. 35 TLA, Archivsachen I 120, Akt Zl. 3104: Bericht vom 31.3.1833. 36 Eine erste Kommission war bereits mit königlichem Reskript vom 20.2.1809 eingerichtet worden, konnte jedoch wegen des Tiroler Aufstandes ihre Arbeit nicht aufnehmen – TLA, Archivsachen II 58 (Schreiben von Generaldirektor Walter Jaroschka von Ende 1973 an Prof. Leo Santifaller in Wien betreffend das Brixner Archiv). 37 Vorsitzender: Gubernialrat i.R. Joseph von Martini, Mitglieder: Landschaftlicher Archivar i. R. Martin Strobl, Registrator Josef Röggl, Professor i. R. Hammer und Dr. Gottfried Primisser.
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Die Niederlage Napoleons führte auf dem Wiener Kongress zu einer Neuordnung Europas, in Bezug auf Tirol sollte man wohl eher von einer Wiederherstellung der vornapoleonischen Verhältnisse sprechen. Die Grafschaft Tirol erstand in ihrem alten Umfang wieder – vermehrt um einige ehemals salzburgische Territorien –; auch die administrative Einheit mit dem Land Vorarlberg wurde wiederhergestellt. In der Folge galt es, das nach 1810 auf sechs Verwaltungseinheiten und drei verschiedene Staaten aufgeteilte Territorium wieder zu einer Einheit zusammenzuführen, die zerschlagenen administrativen Strukturen neu aufzubauen und die verbrachten Akten zusammenzuführen. Die Notwendigkeit der Rückstellung der verschleppten Archivalien war den Verantwortlichen in Innsbruck durchaus bewusst, angesichts der aktuellen Herausforderungen jedoch nicht prioritär. Aus den aufgezeigten Eingriffen in die gewachsenen Registraturen des ehemaligen Innsbrucker Guberniums wird deutlich, dass trotz der nicht einmal ein Jahrzehnt währenden Fremdherrschaft umfangreiche Aktenextraditionen stattgefunden hatten, die Dokumente nicht nur in die benachbarten Verwaltungssprengel, sondern bis nach München, Mailand und Laibach geführt hatten. Betrachtet man die Rückabwicklung der Aktenextraditionen, so ist zwischen der innerstaatlichen und der ausländischen Ebene zu differenzieren. Die ehemaligen „Illyrischen Provinzen“, die der Krone Frankreichs direkt unterstanden hatten, kamen als Königreich Illyrien wieder unter österreichische Herrschaft, die Landgerichte Windisch-Matrei, Lienz und Sillian fielen an die Grafschaft Tirol. Mit Lombardo-Venetien wurde ein zentraler Bestandteil des Königreichs Italien dem Habsburgerreich zugeschlagen; das diesem ehemals unterstehende Dipartimento dell’Alto Adige wurde wieder an Tirol angegliedert. Wie dem erhaltenen Schriftverkehr38 entnommen werden kann, funktionierten die Rückstellungen innerhalb des österreichischen Herrschaftsbereichs weitgehend problemlos, vor allem wurde deren Notwendigkeit und die angeordnete Durchführung39 nicht in Frage gestellt oder verzögert. Bezeichnenderweise beträgt der Umfang jener Positionen innerhalb des Bestands „Archivsachen“, die sich mit der Aktenrückgabe aus den ehemals „Illyrischen Provinzen“ und aus Italien beschäftigten, ungleich weniger, als jene, die sich mit den österreichisch-bayerischen Verhandlungen beschäftigen. 39 TLA, Archivsachen I 147, Akt. Zl. 788-Präs.: In einem Schreiben vom 25.7.1815 findet sich die Anweisung Wiens an die Behörden in Mailand und Laibach, die nach Innsbruck gehörenden Akten dorthin zu senden. 38
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Dass es bei der konkreten Umsetzung zu Schwierigkeiten und Problemen kam, darf angesichts der territorialen und administrativen Verwerfungen des vergangenen Jahrzehnts nicht verwundern. Äußerst problemlos dürfte dieser Aktentransfer in Bezug auf die den Illyrischen Provinzen unterstandenen Osttiroler Landgerichte vonstattengegangen sein. Das Gubernium in Laibach meldete am 16. November 1816 an das Innsbrucker Gubernium, dass alle französischen Akten des ehemaligen illyrischen Tirol mittels Postwagen nach Innsbruck geschickt worden seien. Nach ihrem Eintreffen wurden sie am 4. Dezember 1816 der Registraturdirektion zur Aufbewahrung übergeben; darunter befanden sich auch Akten, die von den Franzosen nach Venedig und Palmanova verbracht und dann wieder rückgestellt worden waren.40 Fast „überkorrekt“ verhielt man sich bei den „Veldeser“ Akten. Die Herrschaft Veldes (heute Bled in Slowenien) kam 1004 durch kaiserliche Schenkung an den Bischof von Brixen.41 Im Zuge der Säkularisierung des Hochstifts gelangten die einschlägigen Akten mit dem Brixner Archiv nach Innsbruck. Nach den napoleonischen Wirren wurden vier Kisten 1821 an die nun zuständigen Stellen in Laibach übersandt, eine weitere Lieferung erfolgt 1826. Als Veldes 1839, da bischöflicher Mensalbesitz, dem Brixner Oberhirten wieder restituiert wurde, sind sowohl die noch im Innsbrucker Archiv vorhandenen Veldeser Pertinenzen als auch die in Laibach befindlichen Akten an den Bischof zurückgestellt worden.42 Auf Grund des wesentlich größeren Verwaltungssprengels des Dipartimento dell’Alto Adige gestalteten sich die Rückführungen aus Mailand etwas aufwendiger, dürften aber auch spätestens 1818 abgeschlossen worden sein.43 Interessanterweise scheinen die Akten des Generalkommissariats des Etschkreises sowie des Dipartimento dell’Alto Adige, die ja als Zentralbehörden für diesen Sprengel agierten, nach ihrer Liquidation im TLA, Archivsachen I 78; unter der Signatur 709 des Mischbestands „Cattanea“ hat sich ein Großformatkarton mit Akten aus Laibach erhalten, der wohl auch dieser Rückholaktion zuzuschreiben sein dürfte. 41 TLA, Kaiserurkunde 1004 IV 10. 42 TLA, Archivsachen II 14. Die Rückgabe aus Laibach erschließt sich aus dem Inhalt des diesbezüglichen Innsbrucker Schriftverkehrs. 43 TLA, Archivsachen I 81: Notizen von 1827, 1833 und 1834, wonach das Gubernium in Mailand die Finanzakten dieses Sprengels 1818 zurückgesendet hat. 1830 gab es noch einmal eine Nachfrage nach Straßenbauakten des Oberetschdepartements, woraufhin Mailand antwortete, dass diese bereits 1816 nach Innsbruck abgetreten worden seien, man werde aber trotzdem Nachforschungen anstellen – vgl. TLA, Archivsachen I 147, Akt Zl. 247-Präs.: Schriftverkehr von 1830. 40
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Unterschied zu den Akten des Eisackkreises nicht nach Innsbruck in die Gubernialregistratur zurückgebracht worden zu sein, sondern waren in Trient verblieben.44 Aktenbereinigungen waren auch hinsichtlich der im nordöstlichen Tirol gelegenen Talschaften erforderlich, die zum Teil ehemals salzburgisch (Zillertal, Brixental) gewesen waren, zum Teil in der Bayernzeit dem Salzachkreis (Landgericht Kitzbühel) angegliedert worden waren. Auf Grund der komplexen und in dieser Epoche mehrfach geänderten politischen Verhältnisse sowie der Tatsache, dass der Salzachkreis in Burghausen seinen Sitz hatte, zogen sich die Aktenbereinigungen bis in die 1820er Jahre hin. Recht rasch wurden die das Zillertal und das Brixental betreffenden Unterlagen aus Salzburg übernommen. Bereits im Sommer 1816 vermeldete der Zillertaler Landrichter von Pichl den Abschluss dieser Aktion.45 Akten der Finanzdirektion Salzburg, die das Zillertal und das Brixental betrafen, konnten hingegen erst 1821 übernommen werden,46 1824 folgten die Akten der Rentämter Kirchberg, Kitzbühel und Fügen, die vom Kreisamt Salzburg stammten und an die Gubernialregistratur übergeben wurden.47 Da mit der Rückkehr Tirols unter österreichische Herrschaft die von den Bayern 1808 suspendierte landständische Verfassung am 8. April 1816 mit Modifikationen wieder in Kraft gesetzt wurde,48 war vom Gubernium das von den bayerischen Behörden eingezogene Schriftgut, bestehend aus der rezenten Registratur des Landtags, dem ständischen Archiv und dem Matrikelarchiv, wieder den Landständen auszuhändigen, was auch umgehend geschah.49 Während die „innerösterreichischen“ Aktenrückstellungen weitgehend problemlos und innerhalb eines überschaubaren Zeitraums abgewickelt werden konnten, sollten sich die diesbezüglichen Verhandlungen und Transaktionen mit Bayern als ein wenig komplexer erweisen. Im Unterschied zur Napoleonischen Epoche, wo von Seiten Bayerns eine sehr zügige Abgabe von Akten an das Dipartimento dell’Alto Adige erfolgte, waren Vgl. Albino Cassetti, Guida storico-archivistico del Trentino (Collana di Monografie della Società di Studi per la Venezia Tridentina XIV), Trient 1961, S. 828–833 und 860. 45 TLA, Archivsachen I 149, Schreiben vom 7.8. (Akt Zl. 1767-Präs.) und 15.8.1816 (Akt Zl. 1937-Präs.). 46 TLA, Archivsachen II 21, Akt Zl. 6744: Schreiben vom 19.4.1821. 47 TLA, Archivsachen II 21, Akt Zl. 167: Schreiben vom 10.1.1824. 48 Richard Schober, Geschichte des Tiroler Landtages im 19. und 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Tiroler Landesarchivs 4), Innsbruck 1984, S. 15–32. 49 TLA, Archivsachen II 22, Schreiben vom 23.4. und 7.6.1816. 44
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die ab 1814 einsetzenden Verhandlungen zwischen Österreich und Bayern von weit weniger Kooperation und Entgegenkommen gekennzeichnet. Von Tiroler Seite hatte man bereits 1814 umfangreiche Erhebungen eingeleitet, welche Registratur- und Archivakten in der bayerischen Epoche entnommen worden waren. Dies erwies sich vielfach als nicht ganz einfach, da zum einen oftmals keine Empfangsbestätigungen ausgestellt worden waren,50 zum anderen die diesbezüglichen Aufzeichnungen nur lückenhaft geführt worden sind. Außerdem scheinen unmittelbar vor der Landesübergabe im Jahr 1813 „vorsätzliche Entfernungen vieler Aktenstücke“ vorgekommen zu sein.51 Die Erstellung entsprechender Verzeichnisse stellte die Registratoren daher vor große Herausforderungen und bedeutete für sie einen entsprechenden Arbeitsaufwand, wie insbesondere folgende Beurteilung zeigt: „Da man die Verzeichnisse X–XII […] nur durch den besondern Fleiß und die Geschicklichkeit des Registrators des Generalkommissariats Röggl erhalten hat, so wird man vielleicht keine vergebliche Handlung unternehmen, wenn man es wagt, für denselben eine Belobung, oder irgend eine Äusserung von hohem Wohlgefallen einer hochlöblichen Hofkommission zu begutachten.“52 Parallel dazu befragte man die Tiroler und Vorarlberger Landgerichte, ob Akten nach Bayern ausgeliefert worden waren, insbesondere, ob scheidende bayerische Beamte kurz vor der Landesübernahme noch Akten mitgenommen hätten. Anscheinend gab es von Seiten Bayerns (Hofkommissar von Stichaner) die Anweisung, „sensible“ Akten mitzunehmen, insbesondere die erhobenen Stimmungsberichte, die sogenannten surveillance. Dies scheint fallweise geschehen zu sein, manchmal wurde es aber auch – wie in Dornbirn – von den einheimischen Behördenmitarbeitern verhindert.53
TLA, Archivsachen I 120: Entsprechende Erwähnungen finden sich beispielsweise in den Schreiben von 20.11. (Akt Zl. 27143) und 28.12.1832 (Akt Zl. 29308), wo auch das Nichtvorhandensein entsprechender bayerischer Verfügungen zur Aktenabgabe nach München konstatiert wird. 51 TLA, Archivsachen II 20, Akt. Zl. ad 1388: Schreiben vom 27.9.1814. 52 TLA, Archivsachen II 36 (Teil 1), Akt Zl. 6026: Schreiben vom 27.9.1814. Laut diesem Schreiben sind insgesamt 14 Verzeichnisse angelegt worden: I–V (Tiroler und Vorarlberger Lehenakten), VI (Fiskalakten), VII–IX (Gubernialakten), X–XII (Archivurkunden), XIII–XIV (Vorarlberger und Kitzbüheler Akten, die an den Iller- bzw. Salzachkreis gingen). 53 TLA, Archivsachen II 55 (Teil 3 und 4). 50
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Der Blick in die einschlägigen Positionen des Bestandes „Archivsachen“ zeigt zum einen, dass für die laufende Verwaltungstätigkeit auf Grund der stark veränderten Sprengel und neuen Zuständigkeiten sowohl größere Teile von Registraturen als auch zahlreiche Einzelakten angefordert und an andere Orte bzw. Dienststellen verbracht worden waren, zum anderen wird ersichtlich, dass die Rückabwicklung dieser Aktentransaktionen bis in die 1830er Jahre andauerte. Insbesondere an das Generalkommissariat des Illerkreises, das auch Vorarlberg und das tirolische Außerfern umfasste, wurden viele Akten abgeliefert, die zum Teil erst in den 1830er Jahren zurückgegeben wurden.54 Aber auch Forstakten zu den staatlichen Wäldern weckten das Interesse der dafür zuständigen Stellen in München (Forstadministration) und führten zu umfangreichen Einziehungen, die teilweise erst nach 1830 rückgestellt wurden.55 Gleichzeitig beklagte die Gubernialregistratur, dass bei den restituierten Beständen, insbesondere bei diesen Forstakten, wichtige Stücke fehlten.56 Als Beispiel für diese Vorgänge können die Rückgabe der „Vorarlberger Akten“ an Österreich und die damit verbundene Auslieferung der Akten des Landgerichts Weiler an Bayern kurz angerissen werden. Da das in österreichischer Zeit von Innsbruck aus verwaltete Land Vorarlberg infolge der neuen bayerischen Kreiseinteilung dem Illerkreis mit Sitz in Kempten zugeschlagen wurde, benötigten die dortigen Behörden zahlreiche Vorakten aus der Innsbrucker Gubernialregistratur, die in der Folge von dort nach Kempten extradiert wurden. Das vorarlbergische Landgericht Weiler wiederum, das das Hinterland der Stadt Bregenz bildete, verblieb nach 1815 bei Bayern, weswegen von dortiger Seite die Forderung nach Übergabe der diesen Verwaltungssprengel betreffenden Akten gegenüber Österreich vorgetragen wurde.57 Weil von beiden Seiten der Wunsch nach Rückgabe der entfremdeten bzw. der zustehenden Akten bestand, ging dieser Austausch im Gegensatz zu den zuvor geschilderten Rückgabeprozessen in einem überschaubaren Beispielsweise TLA, Archivsachen II 23 und II 24, mit zahlreichen diesbezüglichen Hinweisen. 55 TLA, Archivsachen II 25. 56 TLA, Archivsachen II 23 (Teil 1), Schreiben vom 3.4.1818 (Akt o. Zl.). 57 Darüber hinaus erhob Bayern noch Ansprüche auf Lustenau und Hohenems und konsequenterweise auch auf deren Schriftgut, da es man es verabsäumt hatte, diese in realiter einen Teil Vorarlbergs bildenden Territorien rechtzeitig staatsrechtlich einzugliedern – vgl. Karl Heinz Burmeister, Geschichte Vorarlbergs. Ein Überblick, Wien 1980, S. 139 f., 159 f. 54
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zeitlichen Rahmen über die Bühne. Insbesondere die bayerische Seite war ungeduldig und drängte auf einen raschen Austausch, wie aus einem Schreiben des Generalkommissars des Illerkreises, Joseph von Stichaner, an den kaiserlichen Statthalter in Innsbruck, Graf Ferdinand von Bissingen, hervorgeht: „Eure Excellenz werden mein gerechtes Befremden nicht mißbilligen, daß der von mir zur Extradition der Vorarlbergischen Akten auf jenseitige Veranlassung und Zusage nach Bregenz abgeschickte Registrator bey seiner Ankunft daselbst keine Behörde instruiert fand, um die Auswechslung der Akten zu vollziehen. Ich befinde mich nun schon zum zweiten Mahle in dem Falle, daß ich die Vorarlbergischen Akten von hier mit Kosten absende, ohne daß sie ungeachtet der gegebenen jenseitigen Versicherung gegen Empfang der Akten des Gerichts Weiler übergeben werden können.“58 Doch zunächst bremsten die österreichischen Stellen, da ihnen die Forderungen Bayerns, das auch auf Akten betreffend Hohenems und Lustenau Ansprüche zu haben glaubte, als zu weitreichend erschienen. Erst im Juni 1817 wurden die in Innsbruck verwahrten Akten des Landgerichts Weiler in zwei Kisten mittels Postwagen nach Bregenz überführt, während die sogenannten Vorarlberger Akten im Umfang von 20 Kisten schon seit über einem Jahr in Lindau zur Auslieferung bereitstanden.59 Wegen unterschiedlicher Ansichten über den Umfang der abzutretenden Akten scheitern weitere Übergabeversuche im Oktober 1817 und im Februar 1818. Erst im Juni 1818 erfolgte schließlich der wechselseitige Austausch.60 Während die „Bereinigung“ der rezenten Registraturen trotz aller geschilderten Schwierigkeiten und trotz einiger zeitlicher „Ausrutscher“ in einem überschaubaren Zeitraum weitgehend61 erledigt werden konnTLA, Archivsachen II 33, Akt Zl. 75: Schreiben vom 9.1.1816. Drei Tage vorher musste der aus Kempten gesandte Registrator Wilhelm unverrichteter Dinge abziehen, da das zuständige Kreisamt Bregenz keine diesbezüglichen Anweisungen bzw. Genehmigungen erhalten hatte (Akt Zl. 49: Schreiben vom 6.1.1816). 59 TLA, Archivsachen II 34, Akt Zl. 390: Schreiben vom 29.5.1817 (mit weiteren diesbezüglichen Akten). 60 TLA, Archivsachen II 35 (Teil 1), Akt Zl. 240: Schreiben vom 24.2.1818 und II 35 (Teil 2), Akt Zl. 720: Schreiben vom 4.6.1818. 61 Angesichts der umfangreichen Aktenverbringungen der napoleonischen Epoche kann auch ohne das Vorhandensein von Detailuntersuchungen die Behauptung aufgestellt werden, dass zum einen manches dauerhaft verloren gegangen ist, zum anderen manches noch vor Ort verblieben ist. Als Beispiel seien mehrere Hundert Akten des Generalkommissariats des Innkreises erwähnt, die vermutlich kurz vor dem Abzug der Bayern nach München verbracht worden sind – vgl. Sebastian Hölzl, Die bisher gescheiterten Extraditionsverhand58
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te, erwies sich die Rückstellung der archivalischen Bestände als eine im wahrsten Sinne des Wortes „dauerhafte“ Materie. Dies mag wohl damit zusammenhängen, dass bei der Rückgabe von aktuell benötigtem Verwaltungsschriftgut ein ungleich höheres Interesse von Seiten der betroffenen Behörden bestand und damit auch ein ungleich höherer Druck hinter den Forderungen stand, als dies bei Dokumenten, die nur noch historische Relevanz besaßen, der Fall war. Über die sich rund zwei Jahrzehnte hinziehenden Extraditionsverhandlungen zwischen Bayern und Österreich sind wir einerseits durch die Studie von Sebastian Hölzl,62 andererseits durch den Bericht des Innsbrucker Gubernialregistrators Josef Röggl63 sehr gut informiert. Liest man beide aufmerksam durch, so wird deutlich, dass von Seiten der bayerischen Stellen – gelinde ausgedrückt – wenig Eifer an den Tag gelegt wurde, diese Sache zu einem zügigen Ende zu bringen. Dieser zögerliche Zugang mag aber auch dem Umstand geschuldet sein, dass Österreich bei der von Bayern geforderten Rückgabe der Berchtesgadener Archivalien wenig Entgegenkommen zeigte.64 Zunächst wurde die Rückforderung der Archivalien, die rechtlich nicht umstritten waren,65 von Innsbruck aus betrieben. Da die Abgabe an München im Jahr 1813 überstürzt und ohne die notwendige gründliche und vollständige Erfassung der Dokumente erfolgt war, mussten zunächst entsprechende Verzeichnisse erstellt werden; mit dieser Aufgabe wurde Registrator Röggl betraut. Diese Aufstellungen wurden im Herbst 1814 der königlich bayerischen Hofkommission mit dem Ersuchen nach Rückgabe der entfremdeten Akten und Archivalien zugestellt. In der Folge gingen die Verzeichnisse mehrfach hin und her, da von bayerischer Seite immer wieder ergänzende Informationen bzw. neuerlich Verzeichnisse angefordert wurden.
lungen zwischen Österreich und Bayern. Dargestellt am Beispiel der Tiroler Archivalien. In: Scrinium 21 (1979) S. 3–25, hier S. 12; Hinweise auf solch kurz vor der Landesübernahme erfolgte Aktenverbringungen finden sich auch in TLA, Archivsachen II 34, Akt. Zl. 199: Bericht von Registraturdirektor Andre vom 10.3.1817, wobei dieser Sachverhalt im bayerischen Antwortschreiben vom 27.7.1817 dementiert wird. 62 Hölzl (wie Anm. 61). 63 TLA, Archivsachen I 120, Akt Zl. 3104: Bericht vom 31.1.1833. 64 Hölzl (wie Anm. 61) S. 7 und 10; eine diesbezügliche Erwähnung findet sich beispielsweise in TLA, Archivsachen II 20, Akt Zl. 2792: Schreiben vom 28.1.1819. 65 Hölzl (wie Anm. 61) S. 9 f.
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Während die Registraturakten, wie gezeigt wurde, nach und nach zurückgegeben wurden, verblieben die „historischen“ Archivalien weiterhin in Bayern. Von Tiroler Seite wurde daher die Agenda 1819 an die k.k. Liquidationskommission in Salzburg übergeben, deren Aufgabe es war, die wechselseitigen Archivalienextraditionen in Bezug auf Tirol und Berchtesgaden abzuwickeln. Dies erwies sich letztlich als Sackgasse und die Verhandlungen kamen für rund ein Jahrzehnt zum Erliegen. Erst 1830, als in Innsbruck die Frage des Mensalguts des Bischofs von Brixen hinsichtlich Säben und Veldes akut wurde und man die diesbezüglichen, in München liegenden Urkunden benötigte, kam wieder Bewegung in die Causa. Letztlich scheint aber erst durch die Einbindung der höchsten staatlichen Ebenen (das Innsbrucker Gubernium bat die Haus-, Hof- und Staatskanzlei in Wien, auf diplomatischem Weg bei der bayerischen Regierung für die Rückgabe der Tiroler Archivalien zu intervenieren) die Angelegenheit wieder in Bewegung gesetzt worden zu sein. Diese Wiederaufnahme der Bemühungen war auch der Grund für die Erstellung des ausführlichen Berichts des Registrators Röggl über die bis dahin erfolgten Schritte. Mit der Einbindung Wiens entglitt den Innsbrucker Stellen aber auch das Gesetz des Handelns und damit letztlich die Verfügungsgewalt über die beanspruchten Archivalien. Bezeichnenderweise ließ das Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv durch den österreichischen Gesandten in München die Rückgabe der Tiroler Archivalien einfordern.66 Die Bemühungen waren schließlich von Erfolg gekrönt und das Gubernium in Innsbruck wurde durch die Staatskanzlei in Wien davon in Kenntnis gesetzt, dass die langwierigen Verhandlungen zur Rückgabe der Dokumente geführt hatten. Da sich ein Teil davon bereits früher in Wien befunden hatte – man bezog sich dabei auf die Flüchtungen von 1805 – und andere eine große Bereicherung für das dortige Archiv darstellten, wurden die übergebenen 762 Urkunden und 25 Codices allerdings nicht nach Innsbruck, sondern in die Reichshauptstadt verbracht. In dem insgesamt in sehr herablassendem Ton verfassten Schreiben wurde auf die Möglichkeit der Anfertigung von Abschriften verwiesen, wenn dies unumgänglich notwendig sein sollte.67 Dass im Zuge dieser Archivalienrückgabe wieder einmal gegen das Provenienzprinzip verstoßen wurde, sei nur am Rande angemerkt.
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TLA, Archivsachen I 120, Akt Zl. 780: Schreiben vom 28.2.1834. TLA, Archivsachen I 120, Akt Zl. 24460: Schreiben vom 24.10.1837.
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Über 200 Urkunden und eine beträchtliche Anzahl von Codices, darunter einige der ältesten landesfürstlichen Rechnungsbücher aus der Zeit um 1300, verblieben mit dem Argument in München, dass sie sich auf das Haus Bayern bezögen. Es ist wohl eher zu vermuten, dass man sich noch ein Faustpfand bzw. eine Verhandlungsmasse zurückbehalten wollte, da andere archivalische Fragen zwischen Bayern und Österreich, beispielsweise in Hinblick auf Berchtesgaden, noch nicht befriedigend gelöst waren. Nichts anderes tat übrigens das Innsbrucker Archiv nach dem Ersten Weltkrieg, als man sich ebenfalls Archivalien zurückbehielt, um sie bei Gelegenheit mit ungerechtfertigter Weise an Italien ausgelieferten Stücken auszutauschen. Erst 2012 wurden diese zusammen mit Archivalien, die während des Zweiten Weltkriegs aus Südtirol weggebracht worden waren, dem Südtiroler Landesarchiv in Bozen zurückgegeben.68 Damit waren die Extraditionsverhandlungen zwischen Bayern und Österreich eigentlich abgeschlossen, sofern man sie so verstehen und definieren will, dass die während der bayerischen Herrschaft in Tirol außer Landes gebrachten Archivalien ohne Kompensation wieder zurückgegeben wurden. Was in der Folge noch an weiteren Gesprächen und Verhandlungen, insbesondere zwischen den betroffenen Archiven stattfand, waren Versuche, durch wechselseitigen Archivalienaustausch die durch die Extraditionsverhandlungen nicht gelösten archivalischen Desiderata zu beseitigen. So entwickelte sich aus einer eher beiläufigen Aktennachfrage Bayerns vom Jahr 1907 betreffend das Leprosorium an der Rothach im Landkreis Lindau ein sehr konkretes Projekt, dessen erfolgreicher Abschluss allerdings scheiterte.69 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist einerseits, dass die Tiroler Archivare in dieser Aktenanforderung die Möglichkeit sahen, die in ihren Augen 1837 noch nicht endgültig und befriedigend abgeschlossenen Extraditionsverhandlungen wieder aufzuschnüren; andererseits gab man die vertraglich zugesicherte kompensationslose Archivalienrückgabe zugunsten eines Austausches auf Gegenseitigkeit preis. Mit einem von Tiroler Seite formulierten pathetischen Appell („Die bairische Regierung könnte nach hierämtlicher Anschauung mit nichts besser der bevorstehenden Centenarfeier der Befreiungskämpfe des Jahres 1809 Haidacher, Blick (wie Anm. 9) S. 59 f. Details dazu in TLA, Archivsachen II 58 und bei Hölzl (wie Anm. 61) S. 13–21. Die angeforderten Rothacher Akten wurden tatsächlich ausgeliefert, wie aus einem Schreiben vom 10.7.1912 (TLA, Archivsachen II 58 (Teil 1), in Akt. Zl. 231 von 1914) hervorgeht. 68 69
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die gegen Baiern gerichtete Spitze abbrechen, als dadurch, dass sie den letzten Rest der heute noch zu verspürenden Folgen ihrer damaligen das Tiroler Volk bedrückenden Regierungspolitik durch Herausgabe der obgenannten Tiroler Archivalien tilgt“)70 waren solch diffizile archivalische Fragen natürlich nicht zu lösen: Die Münchner Seite forderte die Einbeziehung aller in Frage kommenden österreichischen Archive und vertrat das Pertinenzprinzip, während man von Seiten des Archivrats in Wien das Provenienzprinzip verfocht. Schließlich einigte man sich auf ein modifiziertes Territorialitätsprinzip und erstellte umfangreiche Listen von Archivalien, die zum Tausch geeignet wären. Nach dem reinen Provenienzprinzip hätte Innsbruck mit den Burgauer und Germersheimer Akten (bayerische Pfalz) nämlich nur sehr wenig anzubieten gehabt. Allerdings scheinen insbesondere zwischen Wien und München unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich dieses modifizierten Territorialitätsprinzips bestanden zu haben, das von ersteren sehr viel restriktiver ausgelegt wurde als beispielsweise von den Innsbrucker Archivaren. Fakt ist, dass die schon sehr weit gediehenen Verhandlungen – man thematisierte bereits, welche Vertreter Bayerns und Österreichs mit Orden und Auszeichnungen bedacht werden sollten71 – schließlich nicht abgeschlossen werden konnten; sie scheiterten – wie Sebastian Hölzl vermutet – letztlich an den unterschiedlichen Auffassungen über die zugrundeliegenden archivischen Prinzipien und einer damit verbundenen begrenzten Kompromissbereitschaft, weniger wegen des ausgebrochenen Ersten Weltkriegs, wie man auf Grund des zeitgleichen Endes der Verhandlungen schließen könnte.72 Nach dem Ersten Weltkrieg wurden noch einige diesbezügliche Versuche unternommen, insbesondere die Landesarchive von Tirol, Vorarlberg und Salzburg wandten sich unabhängig voneinander an ihre bayerischen Kollegen, wobei München nun im Unterschied zum 19. Jahrhundert auf dem Provenienzprinzip bestand, die Einbeziehung aller österreichischen Archive, insbesondere jener in Wien, einforderte sowie eine annähernde TLA, Archivsachen II 58 (Teil 1), Akt Zl. 3535: Schreiben des Tiroler Archivdirektors Dr. Karl Klaar vom 6.4.1908. 71 TLA, Archivsachen II 58 (Teil 1), Notiz vom 20.12.1914. 72 Hölzl (wie Anm. 61) S. 19–21. Allerdings zitiert Hölzl auch eine Äußerung von Generaldirektor Riedner aus dem Jahr 1923 gegenüber dem zuständigen Ministerium in München, wonach mit dem Innsbrucker Archiv im Herbst 1914 ein Austausch vor dem Abschluss stand, wegen des Krieges und der zurückhaltenden Anschauung seines Amtsvorgängers Jochner jedoch nicht zustande kam (ebd. S. 22). 70
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Gleichwertigkeit der auszutauschenden Archivalien anstrebte. Die diesbezüglichen Versuche kamen über Fühlungsnahmen nicht hinaus.73 Wobei in diesem Zusammenhang auch noch zu berücksichtigen ist, dass die umfangreichen Archivalienextraditionen an Italien infolge des Ersten Weltkriegs die Kräfte des Tiroler Landesarchivs bis in die 1930er Jahre vollständig in Anspruch nahmen und andere Vorhaben in den Hintergrund treten ließen.74 Mit diesen Kontakten fanden jene zum überwiegenden Teil doch erfolgreichen Rückführungen von Registraturteilen und Archivalien, die in den territorialen Veränderungen der Napoleonischen Zeit ihren Ursprung hatten, und von denen die Grafschaft Tirol und das Land Vorarlberg besonders betroffen waren, einen wenn auch nicht vollständigen Abschluss. Die geschilderten Vorgänge haben gezeigt, welch verheerende Auswirkungen politische Umwälzungen auf archivalische Bestände haben können, zu denen die damaligen rezenten Behördenregistraturen zu rechnen sind. Dies gilt insbesondere wenn der Austausch des Registratur- und Archivguts zum einen überhastet und ohne exakte Erfassung der zu extradierenden Schriftstücke erfolgt, zum anderen archivalische Grundsätze, die zum Teil damals schon in Gültigkeit standen, durch „Betreffbegehrlichkeiten“ von neu zuständigen Behörden und „Sammelleidenschaften“ von Archiven unterlaufen werden. Es ist aber auch evident, welchen Verhandlungs- und Arbeitsaufwand eine Rückabwicklung produziert, die auf Grund einer neuerlich veränderten politischen Lage erforderlich wird, und welchen Gefahren respektive Verlusten die sonst sorgsamst gehüteten Zeugen der Vergangenheit ausgesetzt sind.
Hölzl (wie Anm. 61) S. 21–23. Vgl. dazu den umfangreichen Schriftverkehr in TLA, Archivsachen 60a–i sowie Haidacher, Blick (wie Anm. 9) S. 53 f. In diesem konkreten Fall gelang es, durch die weitgehend konsequente Anwendung des Provenienzprinzips eine nicht mehr gut zu machende Zerstörung und Plünderung der Innsbrucker Bestände zu vermeiden. 73 74
Der Ton. Das Bild. Die Bayern und ihr Rundfunk. Einblicke in die Geschichte und das (Hybride) Historische Archiv des Bayerischen Rundfunks Von Bettina Hasselbring 2024 wird für den Bayerischen Rundfunk ein besonderes Jahr werden: Seit 100 Jahren gibt es Radio in Bayern, und der öffentlich-rechtliche Bayerische Rundfunk kann zugleich seinen 75. Geburtstag feiern. Am 30. März 1924 begann das Rundfunkzeitalter in Bayern mit einer ersten Hörfunksendung aus dem Münchner Verkehrsministerium. Nach Pionierzeiten in den 1920er Jahren, der Gleichschaltung im Dritten Reich sowie der amerikanischen Besatzungszeit nach 1945 erfolgte am 25. Januar 1949 die Lizenzierung des Bayerischen Rundfunks als „Anstalt des öffentlichen Rechts“. Das Doppeljubiläum wird gebührend zu begehen sein im Hörfunk-, Fernseh- und Onlineprogramm, als Ausstellung, in Buchform oder in den Sozialen Medien. Die letzten beiden Jubiläumspublikationen von 1999 und 2009 sind schon etwas in die Jahre gekommen. 1999 wurde anlässlich des 50. Geburtstags in Kooperation mit dem Haus der Bayerischen Geschichte im Funkhaus in München sowie im Museum für Post und Kommunikation in Nürnberg eine große Ausstellung präsentiert. Der Titel der Ausstellung, des Ausstellungskatalogs sowie der zahlreichen Jubiläumsaktivitäten lautete: „Der Ton. Das Bild. Die Bayern und ihr Rundfunk 1924 – 1949 – 1999“. Um die Vielschichtigkeit dieses Kommunikationsmediums zu zeigen, sah das Konzept der Ausstellung eine Dreiteilung vor: neben einem chronologischen Gang durch 75 Jahre Rundfunkentwicklung und bayerische Zeitgeschichte ein Blick auf 50 Jahre Programmgeschichte und schließlich die Erinnerung an Stimmen und Gesichter, die den Bayerischen Rundfunk prägten. Wie der damalige Intendant Albert Scharf in seinem Vorwort schrieb, ist der „Bayerische Rundfunk ein entscheidender Kulturträger in Bayern mit einer repräsentativen und integrativen Funktion auf allen Gebieten gesellschaftlicher Kommunikation“.1
Margot Hamm – Michael Henker – Bettina Hasselbring (Hrsg.), Der Ton. Das Bild. Die Bayern und ihr Rundfunk 1924 – 1949 – 1999. Begleitbuch zur Ausstellung des Hau1
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Zum 60. Geburtstag des Bayerischen Rundfunks 2009 verfasste der Medienjournalist Karl-Otto Saur in enger Zusammenarbeit mit dem Historischen Archiv die Jubiläumsschrift „Ein bisserl was geht immer“.2 Schon der Titel, der ein Zitat des Schauspielers Helmut Fischer in seiner berühmten Rolle als „Monaco Franze“ aufgreift, weist auf die eher journalistische Ausrichtung der Publikation hin, auf 303 Seiten mit zahlreichen Fotos und kleinen Anekdoten einen Überblick über die Jahre von 1922 bis 2009 zu geben, ohne Anspruch auf eine umfassende wissenschaftliche Darstellung der BR-Geschichte. Diese fehlt bislang also immer noch und wird wohl auch nie geschrieben werden. Dazu ist der Untersuchungsgegenstand einfach zu umfangreich. Das Zusammenspiel von Rundfunkpolitik, Programmgeschichte (Inhalte, Gattungen), Biographiegeschichte, Rezeptionsgeschichte, Technikentwicklungen sowie Kultur- und Gesellschaftsgeschichte lässt sich nur schwer in einer Gesamtdarstellung erfassen. Der Rundfunk – hier als Oberbegriff von Hörfunk und Fernsehen verstanden – bzw. seine Akteur*innen spiegeln historische Prozesse ja nicht nur wider, sondern deuten sie, beeinflussen und prägen sie. Das betonte bereits in den 1970er Jahren der langjährige BR-Intendant Christian Wallenreiter: „Der Bayerische Rundfunk ist nicht nur eine schöne Einrichtung, die sich Bayern leistet, sondern er leistet selbst mit, dass es Bayern so, wie es ist, gibt, daß es werde und wirke, was wir für unsere Gesellschaft wünschen.“3 Mediengeschichte ist in, quer durch alle wissenschaftlichen Disziplinen. Rundfunkgeschichte im engeren Sinne, als die Geschichte von Hörfunk und Fernsehen, ist sowohl eine Teildisziplin der allgemeinen integralen Mediengeschichte als auch integraler Bestandteil der Politik- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik und – als Landesgeschichte – des Bundeslandes Bayern. Schriftliche Quellen zur Rundfunkgeschichte, aber vor allem auch die audiovisuellen Medien, Ton und Bild/Fernsehen/ Film, sind Bestandteile unseres Lebens und konstituierende Merkmale der Zeitgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts.4 „Sie ermöglichen Zugänge zu Menschen, Orten, Lebensformen, Landschaften, gesellschaftlichen ses der Bayerischen Geschichte und des Bayerischen Rundfunks (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur 40/99), Augsburg 1999. 2 Karl Otto Saur, „Ein bisserl was geht immer“. Die Geschichte des Bayerischen Rundfunks, München 2009. 3 Albert Scharf, Vorwort. In: Hamm – Henker – Hasselbring (wie Anm. 1) S. 5. 4 Markus Behmer – Birgit Bernard – Bettina Hasselbring (Hrsg.), Das Gedächtnis des Rundfunks. Die Archive der öffentlich-rechtlichen Sender und ihre Bedeutung für die Forschung, Wiesbaden 2014, S. 11.
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und politischen Entwicklungen, zu Selbstverständnis und Leitbildern, die in das öffentliche Gedächtnis eingegangen sind oder als abgegangenes materielles und immaterielles kulturelles Erbe wieder hör- und sichtbar werden.“5 Deshalb nimmt die Anzahl der Einzel- und Spezialstudien zur Rundfunkgeschichte als integraler Mediengeschichte stetig zu. Bereits 2011 führte die Historische Kommission der ARD6 an deutschen Universitäten, Fachhochschulen und Instituten eine Umfrage durch, wie viele und welche Forschungsprojekte damals liefen. Sie offenbarte vor allem die große Bandbreite an wissenschaftlichen Disziplinen, die sich dieser Thematik widmeten: Theologie, Geschichtswissenschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaft, Volkskunde, Soziologie, Politikwissenschaften, Theater- und Filmwissenschaft, Germanistik, Romanistik, Pädagogik, Psychologie bis hin zur Wirtschafts- und Rechtswissenschaft. In den letzten zehn Jahren haben die Studien zur Rundfunkgeschichte in allen Disziplinen zugenommen.7 Das spiegeln auch die Rezensionen in der Zeitschrift „Rundfunk und Geschichte“ des Studienkreises Rundfunk und Geschichte wider, der sich seit den 1970er Jahren um diese Materie bemüht.8
Ferdinand Kramer, Ton und Film als Quellen zur bayerischen Geschichte. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 80 (2017) S. 575–577, hier S. 575. 6 Die Historische Kommission der ARD sieht ihre Aufgabe darin, die Grundlagen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der Bundesrepublik Deutschland darzulegen, weil diese bis heute gelten und Maßstäbe für Gegenwart und Zukunft darstellen. Die ARDKommission besteht mit Unterbrechungen seit 1954, seit Oktober 2010 unter dem Vorsitz von Prof. Heinz Glässgen. Weitere Informationen unter: https://historische-kommission.ard. de/ (zuletzt aufgerufen am 19.2.2021). 7 Eine Liste der wissenschaftlichen Arbeiten mit Bezug zur BR-Geschichte wird stetig aktualisiert und findet sich hier: https://www.br.de/unternehmen/inhalt/organisation/br-publikationen-104.html (zuletzt aufgerufen am 19.2.2021). – Spannende neue Ansätze liefern auch die volkskundlichen Studien von Manuel Trummer über die medialen Konstruktionen des Ländlichen im BR Fernsehen und die Rolle des BR als Akteur innerhalb von gesellschaftlichen Transformationen. Siehe: Manuel Trummer, Making Bavaria. Zur medialen Governance am Beispiel des BR Fernsehens. In: Clemens Zimmermann – Gunter Mahlerwein – Aline Maldener (Hrsg.), Landmedien. Kulturhistorische Perspektiven auf das Verhältnis von Medialität und Ruralität im 20. Jahrhundert (Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2018), Innsbruck 2018, S. 86–107. Ebenso Manuel Trummer, „Jung, dynamisch, erfolgreich …“ Die mediale Konstruktion ländlicher Weiblichkeit am Beispiel der TVSendung „Landfrauenküche“. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2020, S. 123–137. 8 http://rundfunkundgeschichte.de/ (zuletzt aufgerufen am 19.2.2021). 5
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D a t e n a u s d e r G e s c h i c h t e d e s Ru n d f u n k s i n Ba y e r n v o n 1 9 2 2 b i s 1 9 4 9 Der Bayerische Rundfunk wurde im Jahr 1922 als GmbH gegründet, finanziert durch vier private Geschäftsleute, darunter zum Beispiel auch die Familie Riemerschmid, Inhaberin der gleichnamigen Weinbrennereiund Likörfabrik, und war also noch keine Anstalt des öffentlichen Rechts wie heute. Seit 1924 strahlte die „Deutsche Stunde in Bayern, Gesellschaft für drahtlose Belehrung und Unterhaltung m.b.H.“ ein erstes Radioprogramm aus, damals noch aus dem 4. Stock des Verkehrsministeriums an der Arnulfstraße. Ab 1929 zogen die Mitarbeiter*innen schließlich in das vom Architekten Prof. Richard Riemerschmid neu erbaute Funkhaus am Rundfunkplatz. Die „Väter des Rundfunks“, wie der Rundfunkkommissar Hans Bredow, hatten in den 1920er Jahren den Anspruch, mit guter Unterhaltung und Belehrung weiteste Kreise des Volkes kulturell zu bilden, also eine Art „Volkshochschule“ anzubieten. Auch die Deutsche Stunde in Bayern legte sich 1922 in ihrer Gründungsurkunde auf zwei ProgrammSäulen fest: Belehrung und Unterhaltung. Das Programm bestand zunächst vor allem aus Zeitansagen, Nachrichten – teils staatlich überwachte Auflagennachrichten –, Wetterberichten, Börsennachrichten und Musik. In den Pionierjahren entstanden laufend neue Programmangebote: Rundfunkvorträge, Hörspiele, Studiokonzerte mit einem rundfunkeigenen Orchester und Chor, Reklamesendungen, Bunte Abende, Sendungen für die Frau sowie Sprachkurse für Englisch, Italienisch oder Esperanto. Hinzu kamen Schachfunk und Opernübertragungen, Sportsendungen und Jazzmusik, Reportagen über das Zeitgeschehen, katholische und evangelische Morgenfeiern sowie Morgengymnastik und der Schulfunk. Viele dieser Programmelemente finden sich bis heute – in aktualisierter Form – im Angebot des Bayerischen Rundfunks. Nachdem die privaten Finanziers sich mehr und mehr zurückzogen und ihre Geschäftsanteile an den bayerischen Staat und die Post verkauft hatten, nahm der staatliche Einfluss auf die Sendegesellschaft bereits ab 1926 stetig zu. Ein Jahr nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde auch der „Reichssender München“ Teil des nationalsozialistischen Einheitsrundfunks in Deutschland, gesteuert und kontrolliert vom NSPropagandaministerium in Berlin. Sowohl das Personal als auch das Programm wurden „gleichgeschaltet“, um den Rundfunk zu einem erfolgreichen Massenbeeinflussungsmittel zu machen. Der Einfluss der regionalen Sendegesellschaften in München, Berlin, Frankfurt oder Stuttgart wurde
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immer stärker eingeschränkt. Ab 1940 gab es nur noch ein großdeutsches Einheitsprogramm. 9 Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs übernahm die amerikanische Besatzungsmacht die Kontrolle über den Rundfunk in Bayern. Ohne eine größere Pause konnte man aber bereits im Mai 1945 wieder aus dem Funkhaus senden. „Radio München“ nannte sich der Sender der amerikanischen Militärregierung damals. Deutschland war 1945 in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden. Die Amerikaner hatten zwischen 1945 und 1947 diverse Direktiven, Manuals und Anweisungen erlassen, um ihre Rundfunkpolitik umzusetzen. Die sogenannten 10 Gebote, eine Erklärung über Rundfunkfreiheit in Deutschland vom Mai 1946, gingen – in leicht abgewandelter Form – ins erste Bayerische Rundfunkgesetz von 1948 ein. Gefordert wurden darin Meinungsfreiheit, objektive und ausgewogene Berichterstattung sowie die Möglichkeit zu demokratischer Kritik. Als Hauptziele galten die Umerziehung zur Demokratie und die Unabhängigkeit von Eingriffen der Regierenden. Der amerikanische Militärgouverneur Lucius D. Clay hatte am 21. November 1947 angeordnet: „Es ist die grundlegende Politik der US-Militärregierung, dass der entscheidende Einfluss auf die Mittel der öffentlichen Meinungsbildung, wie Presse und Rundfunk, diffus verteilt werden soll und von jeder Regierungseinwirkung freigehalten werden muss.“10 Nicht nur in Bayern hatte es heftige Auseinandersetzungen zwischen der Militärregierung und den deutschen Politikern gegeben über die Ausgestaltung dieses Rundfunkgesetzes und vor allem über die Rolle bzw. Beteiligung des Staates im Nachkriegsrundfunk. Schließlich einigte man sich im Bayerischen Landtag am 10. August 1948 nach langer Diskussion auf das erste Bayerische Rundfunkgesetz, das am 1. Oktober in Kraft trat. Mit diesem Gesetz war die Struktur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Bayern festgelegt, wie sie bis heute besteht. Es gab im Laufe der Jahre einige Korrekturen, aber keine grundsätzlichen Änderungen. Am 25. Januar 1949 fand im Münchner Funkhaus die offizielle GrünDemnächst werden im Historischen Lexikon Bayerns zwei Artikel von Bettina Hasselbring publiziert über die Anfänge des Rundfunks in Bayern von 1922 bis 1945 und den Bayerischen Rundfunk. Es würde hier zu weit führen, die vollständige BR-Geschichte darzustellen. Eine ständig aktualisierte Rundfunkchronik mit den wichtigsten Daten findet sich auf den BR-Onlineseiten: https://www.br.de/unternehmen/inhalt/70-jahre-br/chronikbayerischer-rundfunk-in-bildern-v2-100.html (zuletzt aufgerufen am 19.2.2021). 10 Hans Bausch, Rundfunkpolitik nach 1945. Erster Teil. In: Hans Bausch (Hrsg.), Rundfunk in Deutschland, Band 1: 1945–1962 München 1980, S. 33. 9
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dungsfeier des Bayerischen Rundfunks statt. Damit war der BR als erster Sender in der amerikanischen Zone in deutsche Verantwortung übergeben worden, obwohl die alliierte Funkhoheit endgültig erst im Mai 1955 endete, als die „Pariser Verträge“ die Souveränität Deutschlands garantierten. 2019 wurden in Deutschland „70 Jahre öffentlich-rechtlicher Rundfunk“ und ebenso „70 Jahre Grundgesetz“ gefeiert. Das öffentlich-rechtliche Modell – nach dem Vorbild der BBC in England – hatte sich gegen den staatlichen und den privaten Rundfunk durchgesetzt. Der bundesdeutsche föderale öffentlich-rechtliche und staatsunabhängige Rundfunk ist ebenso wie das Grundgesetz ein Erbe der Alliierten und gehört zur „DNA der Demokratie“.11 Das Grundgesetz stützte den föderal ausgerichteten Rundfunk in der Bundesrepublik. Die deutsche Geschichte der letzten 70 Jahre wäre ohne diesen Rundfunk, der Medium und Faktor der öffentlichen Meinungsbildung ist, nicht so verlaufen. Ohne den freien Rundfunk ist die freiheitlich demokratische Grundordnung nicht zu denken. Demokratie und freie Presse sowie unabhängiger Rundfunk gehören demnach eng zusammen.12 Durch die drei Organe Rundfunkrat, Verwaltungsrat und Intendant sollte der Rundfunk weitgehend von Regierungseinflüssen unabhängig gemacht werden. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk gehört damit der Allgemeinheit, die von den gesellschaftlichen Gruppen und Kräften im Rundfunkrat verkörpert wird, und liegt im öffentlichen Interesse. „Diesem Rundfunk ist für das Zusammenleben in unserem Gemeinwesen eine unverzichtbare Rolle übertragen. Darin besteht sein Auftrag, dies macht seine Legitimation aus“.13 Immer wieder bestätigten Urteile des Bundesverfassungsgerichts – erstmals das große Urteil vom 28. Februar 1961, die „Magna Charta“ des Rundfunkrechts – diesen gesetzlichen Auftrag, der allerdings immer wieder modernisiert werden muss. Auch der im November 2020 in Kraft getretene Medienstaatsvertrag bestimmt in § 26: „Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist, durch die Das stellte die neue Intendantin des BR, Dr. Katja Wildermuth, bei ihrer Antrittsrede im Februar 2021 fest: https://www.br.de/ unternehmen/inhalt/organisation/interview-br-intendantin-katja-wildermuth-100.html (zuletzt aufgerufen am 19.2.2021). 12 Historische Kommission der ARD – Heinz Glässgen (Hrsg.), 70 Jahre Demokratie – 70 Jahre Rundfunk. Beilage der Historischen Kommission der ARD zur Jubiläumsveranstaltung „MITTENDRIN – 70 Jahre Rundfunk“ am 15. April 2019 in Hamburg, München 2019, S. 16. 13 Historische Kommission der ARD (Hrsg.), Warum öffentlich-rechtlich? Geschichte – Grundlagen – Perspektiven des Rundfunks in Deutschland, Köln 2020, S. 2–3. Nur online: https://historische-kommission.ard.de/bericht-der-ard/ (zuletzt aufgerufen am 19.2.2021). 11
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Herstellung und Verbreitung ihrer Angebote als Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen.“14 D a s Hi s t o r i s c h e A r c h i v d e s Ba y e r i s c h e n Ru n d f u n k s : Au f g a b e n u n d B e s t ä n d e Die Unternehmens- und Programmgeschichte zu dokumentieren, zu vermitteln und für Wissenschaft, Forschung, Bildung und publizistische Zwecke bereitzustellen, ist eine der Kernaufgaben des Historischen Archivs.15 Wie andere Unternehmens- oder Firmenarchive auch betreiben wir „History Marketing“ mit der fast 100jährigen Geschichte und Tradition des Bayerischen Rundfunks (Dachmarke BR, einzelne Redaktionen, Wellen, Sendungen) in Form von Vorträgen, Führungen, Tagungen oder gelegentlich auch in Form von Ausstellungen und Publikationen. Als Unternehmensarchiv schreiben wir die BR-Chronik bzw. Einzelchroniken, etwa von Sendereihen. Dazu werden jährlich die BR-Gedenktage veröffentlicht. Das Historische Archiv ist damit ein wichtiger Teil der internen und externen Unternehmenskommunikation. Neue Projekte, wie die „Fundstücke“ oder die „BR-Geschichte(n“) – das sind Interviews mit Zeitzeug*innen, die 2015 als Oral-History-Projekt starteten –, werden online gestellt. 2020 startete das Historische Archiv auch ein „Citizen Science“-Projekt, um den Bestand an über 18.000 Fotos besser mit Metadaten zu versehen – mit erstaunlich großer Resonanz.16
Siehe https://www.br.de/unternehmen/inhalt/organisation/rechtsgrundlagen-gesetze-medienstaatsvertrag-100.html (zuletzt aufgerufen am 19.2.2021). 15 Bettina Hasselbring, Der Bayerische Rundfunk, das Historische Archiv und seine Bestände. In: Archive in Bayern 4 (2008) S. 113–128, hier S. 113–119. – Siehe auch: https:// www.br.de/unternehmen/inhalt/organisation/br-historisches-archiv-v2-100.html (zuletzt aufgerufen am 19.2.2021). 16 Bettina Hasselbring (Hrsg.), Rundfunk-Schmankerl. Archiv-Fundstücke aus über 90 Jahren, München 2014. – Siehe dazu auch die Beiträge auf den Onlineseiten: https://www. br.de/unternehmen/inhalt/geschichte-des-br/mitmachen-fotoprojekt-br-historisches-archiv-100. html (zuletzt aufgerufen am 19.2.2021), ebenso https://www.br.de/unternehmen/inhalt/organisation/fundstuecke-v2-100.html und https://www.br.de/unternehmen/inhalt/br-geschichten/ br-geschichten-v3-100.html (zuletzt aufgerufen am 19.2.2021). Dazu auch Bettina Hasselbring, Neuere Oral-History-Projekte in der ARD. In: Rundfunk und Geschichte 46 (2020) S. 92–95. 14
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Die BR-Archive sind in einer Hauptabteilung Archive, Dokumentation, Recherche innerhalb der Verwaltungsdirektion angesiedelt. Neben Audios, Videos, Texten aus deutschsprachigen Print- und Onlinequellen, Notenmaterial, Webseiten und Social Media-Auftritten des Bayerischen Rundfunks umfassen die Archivbestände Schriftgut, Fotos, Plakate und Objekte zur Unternehmensgeschichte. Dabei erfüllen vor allem das Audioarchiv, das Fernseharchiv, das Notenarchiv und die Pressedokumentation die Funktion von Produktionsarchiven. Das bedeutet, diese Archivsparten dienen unmittelbar dem Programm, dem Kernauftrag des Rundfunks, und wurden teilweise schon in den 1920er Jahren, spätestens aber nach 1945, etabliert – und das in ganz Deutschland. Die Historischen Archive in der ARD und im ZDF sind – analog zu den Unternehmens- und Firmenarchiven der Wirtschaft – eher „freiwillige“ Einrichtungen der jeweiligen Geschäftsleitung. Allerdings sind die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten durch ihren Kultur- und Bildungsauftrag zur Medienarchivierung in Ton, Bild und Schrift angehalten. Die Historischen Archive sind neben den Hörfunk- und Fernseharchiven das Gedächtnis des Unternehmens und die zentralen Informationsstellen zur Rundfunkgeschichte der jeweiligen Region. Das Historische Archiv des Bayerischen Rundfunk – gegründet 1948 als Zentralregistratur und Manuskriptarchiv – etablierte sich in seiner heutigen Struktur erst Anfang der 1990er Jahre. Das ist auch dem Einwirken der Historischen Kommission der ARD zu verdanken, die sich seit den 1950er Jahren mit Themen der Rundfunkgeschichte befasst. Vor allem deren langjähriger Vorsitzender, der ehemalige Intendant des Süddeutschen Rundfunks Hans Bausch, appellierte immer wieder an die öffentlich-rechtlichen Sender, Historische Archive einzurichten, um auch die schriftliche Überlieferung zu sichern.17 Seitdem sammelt, sichert, ordnet, erschließt, erforscht, bewertet und kassiert das Historische Archiv papierbezogenes und elektronisches Schriftgut, Nachlässe und Privatarchive, Daten, Fotos, Plakate und Objekte von den Anfängen 1922 bis zur Gegenwart. Aus den ersten beiden Jahrzehnten, den 1920er und 1930er Jahren, sind leider nur noch Splitterbestände erhalten. Der quantitative Schwerpunkt der Überlieferung liegt in der Zeit nach 1945. Neben Produktionsunterlagen zu Hörfunk- und Fernsehsendungen handelt es sich um interne und externe Korrespondenzen, Protokolle verschiedener Gremien und Kommissionen, Heute existieren bei fast jeder ARD-Rundfunkanstalt sowie beim ZDF Historische Archive oder Unternehmensarchive, wobei die Organisationsstruktur und die Ausstattung in den einzelnen Häusern stark variieren. 17
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technische oder finanzrelevante Akten. Seit Mai 2020 können die Archivtektonik und die Bestandsbeschreibungen des Historischen Archivs im Archivportal-D recherchiert werden.18 Analoge und digitale Schriftgutverwaltung i m Ba y e r i s c h e n Ru n d f u n k Zu unserem Kerngeschäft gehört die Schriftgutverwaltung und -archivierung analoger und digitaler Bestände. Dies schließt die Bewertung und Kassation von nicht archivwürdigen Akten ebenso ein, wie die Erschließung oder Verzeichnung des archivwürdigen Bestandes. 2017 wurde die interne Dienstanweisung zur „Archivierung von papiergebundenem und digitalem Schriftgut und Sammlungsgut im BR“ von 2007 um Aspekte zu digitalen Überlieferungen erweitert und am 8. September in einer Neufassung veröffentlicht. Die Dienstanweisung regelt insgesamt das Führen der Ablagen, die Aufbewahrungsfristen und Bewertungskriterien, die Abgabe an das Historische Archiv, die Aufbewahrung, Archivierung und Vernichtung sowie die Nutzung. Neu hinzu kam zum Beispiel der Appell, dass digitales Schriftgut, also elektronische Akten und Vorgänge einschließlich E-Mails, nach Möglichkeit in strukturierter Form in einem Vorgangsbearbeitungssystem abgelegt werden sollen. Ebenso wird der Begriff „Langzeitarchivierung“ definiert, der neben der Formatmigration die Bewertung, Erschließung und Nutzbarmachung beinhaltet – und dies in Abgrenzung zur reinen „Datensicherung“. Der Bayerische Rundfunk als „Anstalt des öffentlichen Rechts“ regelt die Archivierung seiner Unterlagen nach Art. 14 BayArchivG in eigener Zuständigkeit und ist daher nicht verpflichtet, seine Unterlagen einem staatlichen Archiv anzu bieten. Diese Dienstanweisung bildet somit die rechtliche Grundlage für das Unternehmensarchiv. Das Thema Dokumentenmanagement bzw. Schriftgutverwaltung ist in einem Medienunternehmen bzw. einer Rundfunkanstalt allgemein sehr unbeliebt, die damit verbundenen Begriffe wie Akte, Aktenplan, Aufbewahrungsfristen klingen wenig „sexy“. Aber: Schriftgut ist – laut DINNorm 15489 – wichtiges Betriebskapital. Und: Die effiziente Strukturierung, Aufbewahrung, Nutzung und Aussonderung von Schriftgut ist eine Führungsaufgabe. Deshalb berät das Historische Archiv seit Jahren schon https://www.archivportal-d.de/institutions/Bayerischer-Rundfunk-TJ245GSC4TJOQWDR THKJTC3KZ4HPMPSC (zuletzt aufgerufen am 19.2.2021). 18
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in Schulungen interessierte Kolleg*innen zum Thema Aktenordnung und Dokumentenablage. Seit 2017 werden zudem die vielen „kreativen“ digita len Ablagen, die es im BR gibt, genauer analysiert und im Intranet einige Vorgaben bzw. Tipps für eine bessere Strukturierung sowohl von Papierakten als auch von digitalen Dokumenten veröffentlicht. Im Intranet empfiehlt das Historische Archiv für eine strukturierte elektronische Aktenführung dringend das im BR seit 2014 eingesetzte Vorgangsbearbeitungssystem VIS zu nutzen, bietet erste Informationen zu diesem VBS an, benennt die Vorteile und stellt die wichtigsten Grundbegriffe, wie z.B. Aktenplan, Aufbewahrungsfristen, Transferfristen oder den Ausson derungsprozess vor. Seit 2014 arbeiten verschiedene Direktionen und Abteilungen papierarm und legen ihre Dokumente (weitgehend) strukturiert in Vorgängen und Akten in VIS ab. Das Historische Archiv war 2012 an der Einführung des Vorgangsbearbeitungssystems beteiligt und ist im laufenden Betrieb seitdem zuständig für den prozessorientierten BR-Gesamtaktenplan, berät und schult bei der Einführung neuer Bereiche hinsichtlich Ablagestruktur, Aufbewahrungsfristen, Bewertung und Aussonderung. Au s d e m Hi s t o r i s c h e n A r c h i v w i rd d a s Hy b r i d e Hi s t o r i s c h e A r c h i v Der 26. April 2017 war im Historischen Archiv ein ganz besonderer Tag: Endlich konnte das Digitale Langzeitarchiv produktiv genutzt werden.19 Seitdem werden digitale Dokumente aller Art „OAIS-konform“20 archiviert und genutzt. Der Umfang der digitalen Bestände (Stand: Februar 2021) umfasst über 130.000 Einzeldokumente und ca. 3,5 Terrabyte. Im Einzelnen sind das: – über 35.000 Hörfunkmanuskripte, darunter historische Serien z.B. „Politik aus erster Hand“ seit 1951 oder „Aus dem Maximilianeum“ seit 1952 Siehe dazu auch Bettina Hasselbring, „Never change a running system!“ In: Archiv und Wirtschaft 51 (2018) S 115–123. 20 Das Funktionsmodell OAIS fehlt inzwischen bei keiner Präsentation über digitale Archivierung mehr. Es bildet ein Rahmenwerk, eine Blaupause, gibt aber keine konkreten Softwareempfehlungen. 2010 machte sich das Team des Historischen Archivs an die deutsche Erstübersetzung. Siehe Nestor-Materialien 16: Referenzmodell für ein Offenes Archiv-Informations-System, Deutsche Übersetzung, Version 2, hrsg. von der nestor-Arbeitsgruppe OAIS-Übersetzung / Terminologie, Frankfurt am Main 2013. – https://d-nb. info/104761314X/34 (zuletzt aufgerufen am 19.2.2021). 19
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– 4.500 Gremienprotokolle ab 1949 – Akten der Vorläufer des BR seit 1922 – über 10.000 Dateien mit Hörfunk-Nachrichtentexten von 1945 bis 1976 – über 13.000 einzelne Intranetseiten seit 2004 – Hörfunk- und Fernsehprogrammunterlagen seit 1945 – Bayerische Radiozeitung von 1924 bis 1940 – BR-Publikationen aller Art, etwa die Konzerthefte der Klangkörper – 4.500 Plakate (von Veranstaltungen, Konzerten) – 18.000 historische Fotos aus der Geschichte des BR – 3.100 PDF-Dateien aus einem Hörfunk- und Fernseh-Planungssystem OpenMedia – Datei- und E-Mail-Sammlungen, z.B. von der Berichterstattung des NSU-Prozesses. Nachdem wie in vielen Archiven auch im Bayerischen Rundfunk die Menge an digitalen Daten seit etwa 2008 ständig anwuchs, entweder durch Retrodigitalisierungen oder weil einzelne Sammlungsbestände nur noch digital abgegeben wurden, musste eine neue Lösung gefunden werden für die digitale Archivierung. Auch wenn die (eher theoretischen) Planungen und die Konzeption bis ins Jahr 2009 zurückgehen, führte das Historische Archiv 2012 eine europaweite Ausschreibung mit einem umfassenden Kriterienkatalog und einer Leistungsbeschreibung durch, mit der eine OAISkonforme Lösung für ein „Hybrides Historisches Archiv“ gesucht wurde. Die Betonung liegt auf dem Wort „hybrid“. Es sollte nicht parallel zur analogen Verzeichnung mit FAUST zuerst ein Digitales Archiv aufgebaut, sondern von Anfang an mit einer Systemumgebung gearbeitet werden, in der analoge und digitale Dokumente, Akten und Objekte zusammen verzeichnet werden können. Nach lästigen Verzögerungen durch einen Anbieterwechsel dauerte es bis 2017, bis die hybride Lösung schließlich funktionierte und das erste digitale SIP (Submission Information Package) ingestiert werden konnte. Seitdem sind es über 3.890 Pakete geworden (Stand: Februar 2021). Für die Systemlösung des Bayerischen Rundfunks wurde das Archivinformationssystem FAUST 8 – inzwischen FAUST 9 – mit den Ingesttools docuteam packer und docuteam feeder und Fedora als Elektronischem Magazin verbunden. Die Schweizer Firma docuteam hat Standards wie EAD, PREMIS und METS integriert und administriert Fedora Commons.
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Über den docuteam packer werden die verschiedenen digitalen Pakete hochgeladen und mit ersten beschreibenden und technischen Metadaten versehen. Diese SIPs werden in fünf BR-spezifische Workflows geladen und landen im docuteam feeder. Hier setzt der eigentliche Ingestprozess ein. Nacheinander werden verschiedene Schritte abgearbeitet, wie Virenprüfung, eine Migration der unterschiedlichen Dateiformate in das Langzeitformat für Textdokumente, PDF/A, TIFF für Bilddateien oder die Bildung von sogenannten AIPs (Archival Information Package) im METS-Format nach dem OAIS-Modell. Metadaten aus dem packer sowie Nutzungskopien aus dem Elektronischen Speicher werden anhand von BR-spezifisch definierten Workflows in die Archivdatenbank FAUST 9 importiert. Seit 2001 setzt das Historische Archiv die Software FAUST für die Erfassung des analogen Archiv- und Sammlungsguts ein. Nach der Anbindung der docuteam-Tools und Fedora können nun Papierakten und digitale Unterlagen über die gleiche Anwendung verzeichnet und recherchiert werden. Nach Abschluss des Ingestprozesses wird das AIP im Elektronischen Magazin Fedora gespeichert und könnte dort auch über eine PID (Persistent Identifier) wieder geladen werden. Die gesamte Recherche – im Sinne des OAIS-Moduls „Access“ – läuft aber über FAUST, intern für das Archivpersonal in der Datenbank direkt, extern über die Webapplikation FAUST iServer. Im Grunde sind die Prozesse der digitalen Archivierung vergleichbar mit denen der klassischen papiergebundenen Archivierung. Es gibt Produzent*innen von Schriftgut, von Akten oder von Daten auf der einen Seite. Es gibt Nutzer*innen („designated community“) dieser Bestände auf der anderen Seite: Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, die BR-Abteilungen oder das Archiv selber. Dazwischen befindet sich das Archiv mit seiner technischen Infrastruktur und seinen Menschen, die zuständig sind für die Übernahme, die Erschließung und die Recherche. Lediglich beim Modul „Bestandserhaltung“ besteht ein großer Unterschied zwischen analoger und digitaler Archivierung. Während es für Papierakten am besten ist, bei gleicher Temperatur und Luftfeuchtigkeit im Dunkeln zu lagern und wenig angefasst zu werden, müssen die digitalen Daten immer wieder in neue Archivformate migriert werden, um lesbar zu bleiben – also häufig „angefasst“ werden. Wie sieht die Bilanz nach fast vier Jahren praktischer Erfahrung aus? Sehr wichtig ist, dass unser Digitales Archiv modular aufgebaut ist – ganz im Sinne der OAIS-Theorie. Nicht nur, um später möglicherweise einmal ein Modul auszutauschen, sondern vor allem, um den täglich laufenden
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Arbeitsprozess der digitalen Archivierung nicht zu stören. Darüber hinaus ist die digitale Langzeitarchivierung zeitaufwändig, durchaus kostenintensiv und kann und muss immer weiter ausgebaut und durchdacht werden. Gerade im Hinblick auf neue digitale Bestände, die demnächst kommen werden, wie „chaotische“ Datei- oder Email-Sammlungen aus den kreativen Programmabteilungen oder komplexe elektronische Akten aus dem Vorgangsbearbeitungssystem. Hier wird sowohl die Übernahme als auch Nachnutzung schwieriger sein. Dazu müssen neue Workflows definiert und neue Softwaretools integriert werden. Aktuelle Themen wie Künstliche Intelligenz oder automatisierte Miningverfahren werden die Arbeitsweisen zudem weiter verändern. Nu t z u n g u n d Z u g a n g Das Historische Archiv recherchiert und berät interne und externe Nutzer*innen. Interne Anfragen kommen vor allem aus der Geschäftsleitung, der Pressestelle oder von den Programmredaktionen, externe Anfragen aus Wissenschaft, Forschung, Bildung und Publizistik. Für die BR-interne Nutzung gibt es im Bayerischen Rundfunk den sogenannten Medienbroker, eine archivübergreifende Rechercheoberfläche über alle Archivdatenbanken hinweg. Die Journalist*innen haben die Möglichkeit, im Audio Wort oder Audio Musik zu recherchieren, in der Fernsehdatenbank, im Bestand Noten oder im Hybriden Historischen Archiv. Videofiles, Audiofiles und etwa digitale Dateien von Manuskripten, Fotos, BR-Publikationen, Plakaten oder Pressediensten können ausgewählt und gegebenenfalls vorgehört oder angesehen werden. Beispielsweise lassen sich datenbankübergreifend die entsprechenden Audios zu den digitalen Programmkonzertheften recherchieren. Da die Forderungen nach einem vernetzten digitalen Arbeiten mit modernsten Suchmöglichkeiten und der Integration von Miningverfahren und Künstlicher Intelligenz in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten immer lauter werden, ist die Einführung einer ARD-weiten crossmedialen Plattform, der sogenannte Media Data Hub, in Planung und wird den „Medienbroker“ langfristig ablösen. Um sich Hörfunk-, Fernseh- oder Schrift- und Sammlungsgut anhören oder ansehen zu können, müssen die Wissenschaftler*innen ins Funkhaus kommen. Eine weitere Möglichkeit besteht seit 2020 darin, an berechtigte Dritte ausgewählte Töne, Bilder oder Dokumente über Sammelmappen für eine begrenzte Dauer außerhalb des Funkhauses zugänglich zu machen.
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Mit der Einführung des Digitalen Langzeitarchivs 2017 wurde im Historischen Archiv auch ein „Digitaler Arbeitsplatz“ eingerichtet, eine immer beliebtere und immer häufiger genutzte Möglichkeit. Dazu kommen die Forschenden nach Absprache ins Funkhaus und können nach einer kurzen Einführung über eine Webanwendung von FAUST in den freigegebenen Beständen eigenständig recherchieren. Über eine Archivtektonik lassen sich die Teilbestände komfortabel auswählen, etwa die Protokolle vom Rundfunkrat, Verwaltungsrat und den Ausschüssen oder die retrodigitalisierte Bayerische Radiozeitung von 1924 bis 1940. Da gerade aus dieser Zeit keine Manuskripte mehr überliefert sind, ist die Bayerische Radiozeitung eine wertvolle Quelle für die Programmforschung. Neben einer einfachen Volltextsuche ist auch eine strukturierte Suche in den Indexlisten – beispielsweise nach Personen, Sendereihen oder Provenienzen – möglich. Durch die zunehmende Retrodigitalisierung werden viele analoge Bestände geschont und können zudem viel komfortabler recherchiert und genutzt werden. Eine weitere Präsentationsmöglichkeit der digitalen Bestände bieten die Onlineseiten des BR. Hier hat das Historische Archiv in der Rubrik „Unternehmen“ einen umfangreichen Auftritt. Dort werden neben den Aufgaben und Beständen auch die Nutzungsbedingungen sowie der „Digitale Arbeitsplatz“ beschrieben.21 Es gibt eine ausführliche BR-Chronik und zum Jubiläumsjahr 2019 eine ganze Serie mit Fundstücken zu „70 Jahre BR“. Zudem können die Findbücher über die analogen Bestände abgerufen werden, ebenso einige ausgewählte Digitale Bestände, etwa die Geschäftsberichte des BR seit 1949, alle Halbjahresprogramme seit 1956, aber auch einige ausgewählte Manuskripte und Programminformationen, wie die wöchentlichen Programmfahnen zum Radioprogramm seit 1945. Die Zahl der Archivnutzer*innen aus Wissenschaft und Forschung in den BR-Archiven – ebenso in allen Archiven der öffentlich-rechtlichen Sender – wächst seit Jahren.22 Das Interesse an einer externen Zugänglichkeit zu den Archivbeständen (vor allem Audio, Video, schriftliche Dokumente) für Wissenschaft, Bildung und Forschung – so wie es der ORF inzwischen an drei Standorten praktiziert23 – nimmt ebenfalls zu. Seit Siehe auch: https://www.br.de/unternehmen/inhalt/organisation/br-historisches-archiv-v2100.html (zuletzt aufgerufen am 19.2.2021). 22 Liste der wissenschaftlichen Arbeiten siehe Anm. 7. 23 In Wien, Graz und Innsbruck bekommen Forschende an ausgewählten Lehrstühlen, in Wien z.B. in der Bibliothek des Fachbereichs Zeitgeschichte, nach Absprache und Einweisung Einblicke in die Fernseharchivbestände des ORF. Hierzu stellt der ORF sein ArchivRechercheinstrument „mARCo“ (Multimedia Archiv online) zur Verfügung. 21
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2014 ist der Zugang von Wissenschaft und Forschung zu den Archiven von ARD, ZDF, Deutschlandradio und zum Deutschen Rundfunkarchiv mit den „Regelungen über den Zugang für Wissenschaft und Forschung zum Archivgut der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in der Bundesrepublik Deutschland und des Deutschen Rundfunkarchivs“ einheitlich geregelt.24 Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland sind sich des kulturhistorischen Wertes ihrer Archive bewusst und sie unterstützen deshalb die Arbeit von Wissenschaft und Forschung. Die Bedeutung der audiovisuellen Medien als wissenschaftliches Quellenmaterial nimmt zu und zahlreiche Kapitel der Zeitgeschichte könnten ohne deren Analyse nicht mehr geschrieben werden. In den letzten Jahren gab es mehrere Kooperationsprojekte bzw. -wünsche von Seiten wissenschaftlicher Institute, Akademien oder Forschungseinrichtungen, welche aber aus organisatorischen oder rechtlichen Gründen bislang nicht realisiert werden konnten. Leider klafft bei solchen Projekten häufig eine Lücke zwischen Anspruch und Realität. Die Schnittstellen zwischen Archiven und der Geschichtswissenschaft können und müssen noch optimiert werden. Das konstatierte auch Mareike König, die Stellvertretende Direktorin des Deutschen Historischen Instituts in Paris, jüngst in ihrem Artikel „Geschichtsforschung und Archive im digitalen Zeitalter. Chancen, Risiken und Nebenwirkungen“.25 Die Forschenden müssten dringend lernen, mit den (neuen) digitalen Quellen – für den Rundfunk sind dies vor allem auch die audiovisuellen Quellen – umzugehen. Das zeigte ebenfalls ein Workshop der Kommission für bayerische Landesgeschichte mit dem Thema „Ton und Film als Quellen zur bayerischen Geschichte“ im April 2016 in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, bei dem es eigentlich um audiovisuelle Quellen gehen sollte, wobei aber der Fokus der Referate – wieder einmal – nur auf der Auswertung von schriftlichen Dokumenten lag.26 Ein großer Schritt in Richtung „Öffnung der Archive“ wurde im Oktober 2020 gemacht. Zum UNESCO Welttag des Audiovisuellen Erbes am 27. Oktober stellten die ARD-Sender und das Deutsche Rundfunkarchiv Tausende zeitgeschichtlich relevante Videos frei zugänglich ins Netz. Un https://www.ard.de/home/die-ard/presse/pressearchiv/Einheitlicher ZugangzuArchivenfuerWissenschaftler/900322/index.html (zuletzt aufgerufen am 19.2.2021). 25 Mareike König, Geschichtsforschung und Archive im digitalen Zeitalter. Chancen, Risiken und Nebenwirkungen. In: Archivar 73 (2020) S. 245–251. 26 Kramer (wie Anm. 5). 24
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ter dem Label „ARD retro“ sind die Videos in der ARD Mediathek zeitlich unbegrenzt verfügbar. Im Fokus stehen regionale und aktuelle Fernsehproduktionen aus der Zeit vor 1966. Das ARD-Retro-Angebot richtet sich nicht nur an Wissenschaft, Forschung und den Bildungsbereich, sondern an eine zeitgeschichtlich interessierte Öffentlichkeit. Auch der Bayerische Rundfunk beteiligt sich mit „BR Retro“ am ARD-weiten Projekt und präsentiert Videos aus dem Archiv über Bayern aus den 1950er und 1960er Jahren, wie es „jede*r kennt, wie es keine*r kennt oder wie es keine*r mehr kennt“.27 Weit mehr als eine Million Videos umfasst allein der Bestand im Fernseharchiv, genug, um das Angebot regelmäßig um neue Fundstücke zu ergänzen. E i n Fa z i t ? Die Zukunftsszenarien in der digitalen Welt können wir heute noch gar nicht abschätzen. Allerdings verändert sich diese ziemlich rasant. Die Archivar*innen, die in der Regel Geisteswissenschaftler*innen sind, müssen sich viel technisches Know-How aneignen. Digitalisierung, Digitale Archivierung, Langzeitarchivierung, Übernahmen aus digitalen Systemen, Standardisierung und Automatisierung sind seit Jahren Themenschwerpunkte in Arbeitskreisen, bei nestor, bei Fortbildungen oder auf Deutschen und Bayerischen Archivtagen. Zuletzt wollte sich auch der 12. Bayerische Archivtag im März 2021, der coronabedingt ausgefallen bzw. auf 2023 verschoben wurde – mit digitalen Lösungen und Herausforderungen befassen. Zusammenfassend lässt sich eines auf jeden Fall sagen: Die Zukunft wird digitaler und bleibt eine Daueraufgabe nicht nur für die Archivwelt, sondern für die Gesellschaft insgesamt. Auch in einem Rundfunkarchiv wird es weiterhin viel Handlungsbedarf, Ausbaumöglichkeiten und neue Technologien geben. Aber das passt eigentlich gut zu dem Satz, der bei den „10 Geboten“ der amerikanischen Besatzungsmacht aus dem Jahr 1946 in roten Buchstaben quer unter dem Dokument stand: „Ein Mensch, der die Wahrheit fürchtet, der nicht bereit ist, neue Methoden auszuprobieren, sollte nicht im Rundfunk arbeiten.“28
https://www.ardmediathek.de/ard/retro/ und https://www.ardmediathek.de/br/br-retro/ (zuletzt aufgerufen am 19.2.2021). 28 Bayerischer Rundfunk, Historisches Archiv, HD.185. 27
Matrix oder Linie? Gedanken über Archivorganisation Von Andreas Hedwig Im föderalen System der Bundesrepublik spielen die Landesarchive eine wichtige Rolle: Aufgrund der Kulturhoheit der Länder prägen sie das deutsche Archivwesen insgesamt. Die Landesarchive sind – abgesehen vom Bundesarchiv – die größten und bestausgestatteten Archive im jeweiligen Bundesland und tragen damit Verantwortung für alle archivfachlichen Fragen und Standards. Hierbei handelt es sich um ein breites Themenfeld: begonnen bei der archivischen Überlieferungsbildung über die Bestands erhaltung und die Erschließung bis zur Archivnutzung und Vermittlung. Sie werden ihrer Rolle auch gerecht, indem sie sich nach Kräften bemühen, den Fachdiskurs mit den anderen öffentlichen und privaten Archiven in ihrem Bundesland aufrecht zu erhalten, z.B. in Form von Fachtagungen, Archivtagen, Publikationen, Internetplattformen usw.1 Ausdruck dafür, dass die Landesarchive ihre Verantwortung auf regionaler und nationaler Ebene wahrnehmen, ist die Konferenz der Leiterinnen und Leiter der Archivverwaltungen des Bundes und der Länder – KLA. Die KLA bemüht sich insbesondere darum, Fachfragen von bundesländer übergreifendem Interesse aufzugreifen und diesbezüglich Empfehlungen zu formulieren.2 Ein Blick auf die Ausschüsse der KLA zeigt, dass sie vor allem auf die aktuellen Herausforderungen des Archivwesens reagieren will. Die Ausschüsse widmen sich der Digitalisierung der Verwaltung, der Landesarchive selbst und der digitalen Archivierung, auch das Archivrecht, die Bestandserhaltung und das Archivmanagement spielen ihre Rolle. Mit diesem Blick auf ihre Selbstorganisation ist es folglich nicht überspannt, Vgl. die Themensetzungen der Deutschen Archivtage, die dortige hohe Beteiligung der staatlichen Archivarinnen und Archivare https://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Archivtag, die Archivtage der VdA-Landesverbände und die starke Beteiligungen der Landesarchive dort: https://www.vda.archiv.net/landesverbaende.html sowie die Publikationen der Landesarchive, bspw. aus Bayern: https://www.gda.bayern.de/publikationen/nachrichten-aus-denstaatlichen-archiven-bayerns/?L=1 aus Hessen: https://landesarchiv.hessen.de/publikationen/ archivnachrichtenoder fach- und länderübergreifend „Der Archivar“ https://www.archive. nrw.de/landesarchiv-nrw/wir-ueber-uns/der-archivar (alle Seiten aufgerufen 24.2.2022). 2 Vgl. https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Artikel/Ueber-uns/Partner/KLA/kla-hauptseite.html (aufgerufen 4.2.2022). 1
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von einer Vorbildfunktion der Landesarchive zu sprechen. In ihren Ländern sind sie ganz selbstverständlich zentrale fachliche Ansprechpartner. Es ist folglich angebracht, dass sie über alle Aspekte des Archivwesens reflektieren. Dieser Beitrag will einen Bereich, dem bisher wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde, in den Blick rücken: die Archivorganisation. Ein Perspektivwechsel verdeutlicht, warum das sinnvoll sein könnte: Man versetze sich in die Rolle eines größeren Archivträgers, sagen wir einer internationalen Organisation, eines Konzerns, eines anderen Landes, und man möchte aus guter Praxis lernen und etwas über eine sach- und fachgerechte Archivorganisation in Erfahrung bringen. Ein naheliegender erster Schritt wäre, sich im Internet kundig zu machen. Ergebnis: Zunächst würde man sich über die Transparenz der Landesarchive freuen, denn bis auf wenige Ausnahmen präsentieren sie dort ihre Organisationspläne.3 Sodann würde erkennbar, was föderale Vielfalt bedeutet: unterschiedliche Darstellungsformen und Differenzierungstiefen – mal viele Organisationseinheiten, mal viele Namen. Die Pläne führen sogleich vor Augen, ob es einen oder mehrere Standorte gibt. Versucht man jedoch, weitergehende Organisationsprinzipien, -kriterien oder -strukturen aus den Plänen herauszulesen, so wird das schwerfallen. Denn hierzu gibt es nur wenige Anhaltspunkte: Allen Landesarchiven scheint die Leitung wichtig zu sein, die stets besonders groß dargestellt ist. Sodann legen sie Wert auf Organisationseinheiten für zentrale Dienste bzw. Aufgaben und für (archivfachliche) Grundsatzaufgaben. Schließlich prägen sie Zuständigkeiten für bestimmtes Archivgut aus und gliedern hierzu nach Epochen, Regionen oder Verwaltungszuständigkeiten („staatliches Archivgut“, „Gerichte“, Fachverwaltungszweige u.ä.). Dort, wo in größerer Zahl Namen auftauchen, wird erkennbar, dass Archivmitarbeiter*innen nicht selten mehrere Zuständigkeiten haben. Ein externer Beobachter könnte fragen: Ist das typisch für Archive? Dieser Frage soll im Folgenden etwas eingehender nachgegangen werden.
Sie sind im Internet leicht aufzuspüren unter den jeweiligen Homepages der Landesarchive und den dortigen Themen/Reitern „(Wir) Über uns“, „Landesarchiv“, „Landesarchivverwaltung“ oder „Profil“. 3
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Di e Ma t r i x i m A r c h i v Szenenwechsel. In der zu Beginn des Jahres 2018 abgeschlossenen Organisationsuntersuchung des Hessischen Landesarchivs verwendeten die damaligen externen Prüfer4 einen Begriff, der seine Wirkung nicht verfehlte: Die Analyse der dortigen Archivorganisation ergab, dass in den hessischen Staatsarchiven in einer „Matrixorganisation“ gearbeitet werde. Dies gelte es zu vermeiden! Die Empfehlung lautete: In einer aufgaben orientierten Fachverwaltung sollte grundsätzlich für die Zusammenlegung von Zuständigkeit und Verantwortung gesorgt werden! Diese Klarstellung erzeugte Wirkung – doch darüber später mehr. Zunächst einmal gilt es zu verstehen, was mit dem Begriff Matrix gemeint war. Die Internet-Recherche führt als erstes zu dem 1999 entstandenen Science-Fiction-Opus „Matrix“ um den jungen Hacker Neo. Das Lexikon des internationalen Films charakterisiert das Werk als „aufwändig gestaltete[n] Science-Fiction-Film, der das aktuelle Misstrauen gegenüber der sichtbaren Welt und insbesondere der neuen Computertechniken artikuliert …“5 Hier dürften sich nicht zuletzt Archivar*innen angesprochen fühlen, denen völlig klar ist, dass die erhaltenen „sichtbaren“ Schriftzeugnisse der Vergangenheit und die digital archivierten Informationen nur einen Bruchteil der historischen Realität widerspiegeln. Entsprechend spiegeln, wie schon angedeutet wurde, auch die im Internet aufgefundenen Organisationspläne der Landesarchive die tatsächlichen Strukturen ihrer inneren Organisation nur in groben Zügen wider. Was genau meint der Begriff Matrixorganisation? Kann er helfen, die Realität „hinter“ den Organisationsplänen aufzuhellen? Vielleicht ziehen hier und da noch Erinnerungsschwaden aus der Schulzeit auf. In der Mathematik, genauer: in der linearen Algebra, ist eine Matrix eine rechteckige, tabellenartige Anordnung von mathematischen Elementen, die untereinander linear in Beziehung stehen. In exakt diesem Sinne ist die Matrixorganisation eine Rahmenstruktur für die Regelung von Arbeitsprozessen.6 Man unterscheidet üblicher Weise zwischen der Das Gutachten erstellte die Firma BSL Management GmbH, Köln. Vgl. zur hessischen Reform im Überblick: Andreas Hedwig, Organisation als Aufgabe – das Beispiel der hessischen Archivverwaltung. In: ABI Technik 40 (2020), Heft 4, S. 365–378. 5 Vgl. https://www.filmdienst.de/film/details/510872/matrix (aufgerufen 4.2.2022). 6 Einen guten Überblick verschafft: https://de.wikipedia.org/wiki/Matrixorganisation; einen niederschwelligen Zugang zum Thema bietet: https://studyflix.de/wirtschaft/matrixorganisation-1331 (aufgerufen 24.2.2022). 4
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disziplinarischen Linienfunktion (senkrecht) und der fachlichen Weisungsbefugnis (horizontal). Die fachliche Führung ist dabei oft projekt- und teambezogen angelegt. Wesentlich ist, dass es immer (mindestens) zwei Steuerungsebenen gibt: das leitende Management (vertikal) und das koordinierende Objektmanagement (horizontal). Die Mitarbeiter*innen haben damit (mindestens!) zwei Vorgesetzte, denen gegenüber sie verantwortlich sind. Der Projektmanager leitet (horizontal) das inhaltlich konkret arbeitende Projektteam. Der disziplinarische Vorgesetzte bestimmt hingegen (vertikal) über die eingesetzten Ressourcen. Diese Organisation bietet eine hohe Flexibilität auf Anforderungen von außen, da leicht neue Projekte aufgelegt oder neue Teams eingesetzt werden können. In dieser Struktur hat die Sachkompetenz einen hohen Stellenwert gegenüber der hierarchischen Führung, das mittlere (Objekt-)Management kann sich auf die inhaltlichen bzw. fachlichen Anforderungen konzentrieren. Teamwork wird gefördert, und die oberste Leitungsebene wird entlastet. Soweit die Vorteile. Als Nachteile der Matrixorganisation gelten: Der Kommunikationsaufwand ist durchgängig hoch – bei der Planung, bei der Umsetzung, für die Berichterstattung an die oberste Führungsebene. Die Entscheidungsfindung ist aufwändig. Es kommt leicht zu Kompetenzkonflikten, da Misserfolge ihren Ursprung in schlechter Teamführung oder in fehlenden Ressourcen haben können. Die tatsächliche Auslastung der Mitarbeiter ist von außen, seitens des Ressourcenmanagements, nur schwer abschätzbar, sie können sich schnell überfordert fühlen, da sie den Anforderungen des Projektmanagements wie der Organisation gerecht werden müssen. Der Merksatz lautet: „Matrix ist, wenn man mehrere Chefs hat!“ So abstrakt diese wenigen theoretischen Ausführungen zur Matrixorganisation auch sind: Sie dürften vielen Archivmitarbeiter*innen vertraut sein. Selbstverständlich gilt dies nicht für die obersten Leitungsebenen der Direktor*innen und Abteilungsleitungen, denn diese haben in der Tat jeweils nur eine*n Chef*in. Aber bereits die Kolleg*innen auf den mittleren und erst recht auf den unteren Hierarchieebenen dürften auf die Frage „Haben Sie mehrere Chefs?“ spontan mit „Ja“ antworten. In großen Archiven ist die Matrix weit verbreitet: Viele Archivar*innen arbeiten gleichzeitig in mehreren Teams, Projektgruppen, Organisationseinheiten. Besonders Motivierte bieten sich immer wieder für neue Aufgaben an, obwohl sie schon mehrere, eigentlich schon zu viele abdecken. Sind nicht sogar genau diese engagierten Mitarbeiter*innen die „Talente“ und die Hoffnungsträger? Die bewundernswerten fachlichen Multi-Tasker, die
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Bewertung genauso gut „können“ wie die Erschließung und zugleich souveräne Auskünfte erteilen und bei Ausstellungs- oder Hausführungen das Archiv so überzeugend vertreten? Die gerne höchstselbst archivfachlich herausfordernde Probleme lösen, sich aber auch nicht verschließen, Projekt- oder Teamleitungen zu übernehmen und dabei völlig vergessen, auf die Stechuhr zu schauen? Dieses Ideal des von seiner inneren Mission zu 100% überzeugten „Vollblut-Archivars“ ist nach wie vor weit verbreitet in den mittleren und oberen Führungsebenen, und auch auf den obersten Leitungsebenen. Welcher Kollegin, welchem Kollegen vertraut man die besonders wichtige Aufgabe, das besonders verantwortungsvolle Vorhaben an? Wen entsendet man als Expert*in in die KLA-Ausschüsse? Und obwohl die angedachten Aufträge völlig unterschiedliche Dinge betreffen und die fachlichen Anforderungen weit auseinanderliegen: Wie oft denkt man an den- oder dieselbe Kolleg*in? Aber weg von diesen „gefühlten“ Matrix-Strukturen. Um der Realität näher zu kommen, bietet sich der Blick in die Geschäftsverteilungspläne an. Selbstverständlich gibt es Ausnahmen! Doch dürfte es in den Geschäftsverteilungsplänen der Archive, auch der Landesarchive und ihrer Staatsarchive, ein sehr verbreitetes Phänomen sein, dass viele, ja die meisten Kolleg*innen der mittleren Führungsebenen mehrere Aufgaben parallel erledigen (sollen) und in den Plänen entsprechend mehrfach auftauchen. In fein gegliederten Plänen kann man sich einen regelrechten Sport daraus machen, diejenige Person herauszufinden, welche die meisten Aufgaben auf sich vereint! Da Geschäftsverteilungspläne interne Papiere sind, wird hier darauf verzichtet, Urheber und Inhalte zu konkretisieren. Aber soweit Einblicke möglich waren, kann festgehalten werden, dass drei bis fünf Zuständigkeiten, d.h. dokumentierte organisatorische Zuordnungen für eine*n Mitarbeiter*in häufig sind. Das kann sich noch deutlich steigern, wenn allgemeine Querschnittaufgaben oder Rollen im Beauftragtenwesen hinzukommen. Das sind dann die „besonders geschätzten“ Kolleg*innen, die auch noch Verwaltung „können“. In Hessen lag der Höchstwert – vor der Organisationsreform 20187 – bei sieben Aufgaben, die von einer Mitarbeiterin wahrgenommen wurden. Es soll in diesem Beitrag nicht nur um die Form einer Organisation gehen, sondern um ihre Konsequenzen. Daher ist es von Belang festzuhalten, dass Organisations- oder Geschäftsverteilungspläne dazu da sind, Ar7
Vgl. Anm. 4.
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beitsprozessen einen Rahmen zu setzen. Sie regeln Zuständigkeiten, aber beispielsweise nicht, welche Zeitkontingente eine Arbeitskraft auf welche einzelne Aufgabe oder insgesamt auf alle zugeteilten Aufgaben in Summe aufwendet. Realität in den Archiven ist, dass viele Kolleg*innen über zu viel Arbeit klagen und damit ein massives Alltagsproblem zum Ausdruck bringen. Als Ursache wird zuerst an eine immer höher verdichtete, stärker formalisierte und beschleunigte Arbeitswelt gedacht, die einen immer höheren Kommunikationsaufwand einfordert. Diese allgemeine Entwicklung der Arbeitswelt ist kaum zu bestreiten. Aber ist das die ganze Wahrheit? In den hessischen Staatsarchiven haben die Archivar*innen in den 2000er Jahren immer deutlicher formuliert, dass die Arbeit zwar insgesamt erfüllend sei, sie aber kaum mehr befriedigende Arbeitsergebnisse erzielen. Mitunter wurde die angespannte Situation in das Bild des „Hamsterrads“ gebracht, vereinzelt gar von Erschöpfung gesprochen. Die Zerrissenheit zwischen den vielen Aufgaben und Erwartungen der jeweiligen Referats-, Sachgebietsleiter*innen war individuell sehr belastend. Das routinierte Abarbeiten von Erschließungseinheiten, Zugängen oder Rechercheanfragen war immer schwieriger im Arbeitsalltag unterzubringen. Und die zunehmende Projektarbeit, die ungewohnte Arbeitsweisen mit sich brachte, wurde als zusätzliche Belastung wahrgenommen. Die Anforderungen vor allem an das archivarische Fachpersonal, so lässt sich zusammenfassen, waren quantitativ und qualitativ dramatisch gewachsen. Zeit- oder Stressmanagementseminare konnten hier keine Abhilfe schaffen. Es stellten sich drängende Fragen: Wie herauskommen aus dieser Lage? Inwieweit war sie von außen, durch „die Verhältnisse“ determiniert? Oder war sie selbstverschuldet? Lag die Form der vielfältigen Aufgabenerledigung in der Natur der fachlichen Archivarbeit? Zunächst gerieten die breit angelegten fachlichen Anforderungen an die Archivar*innen gar nicht in den Blick, wurden gar nicht in Frage gestellt. Wie selbstverständlich und schon immer bot die „Beständekenntnis“ der Archivar*innen die zentrale Orientierungsperspektive für die Organisation. Es war völlig selbstverständlich, dass ein*e Archivar*in alle für die jeweils betreuten Beständegruppen der Tektonik, einer Epoche oder eines (Fach-)Verwaltungszweiges erforderlichen archivischen Fachaufgaben übernahm. Die Geschäftsverteilungspläne der Staatsarchive entsprachen ganz dieser tradierten Arbeitskultur: Die Kolleg*innen, die für die anspruchsvolleren älteren Bestände zuständig waren, kümmerten sich etwa um die Aufarbeitung der Erschließungsrückstände, ggf. erforderliche be-
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standserhaltende Maßnahmen und die Auskunftserteilung. Die für die neueren Bestände zuständigen Archivar*innen waren darüber hinaus zuständig für die Beratung der abgebenden Behörden, die Bewertung und die Übernahme des Archivguts. Eine ähnliche fachliche Vielfalt erforderte z.B. die Betreuung der Karten oder der Bildersammlungen von den zuständigen Kolleg*innen. Doch hatte sich der Charakter dieses bewährten archivischen Arbeitsflusses in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert: Es nahm nicht nur das Arbeitsaufkommen insgesamt zu, da die Verwaltungen seit den 1960er/1970er Jahren stark expandierten und immer mehr Papier erzeugten, womit spätestens seit den 1980er Jahren die Archive zu kämpfen hatten, sondern es traten nun, spätestens seit den 1990er Jahren, auch gesteigerte fachliche Ansprüche hinzu.8 Merkmal dafür war die Ausbildung zentraler fachlicher Grundsatzreferate. Sie sollten die Qualität der Aufgabenerledigung steigern – durch konzeptionelle Arbeit, die Novellierung oder erstmalige Formulierung von Regelwerken, durch die Aufstellung von General- oder Masterplänen usw. Natürlich spielte auch der zunehmende Einsatz der neuen digitalen Techniken in der Erschließung, im Kopierwesen, in der Büroorganisation eine immer größere Rolle. Und am Horizont zeichnete sich bereits die digitale Revolution ab! Ab etwa der Jahrtausendwende traten immer häufiger die Vorkämpfer*innen der digitalen Archivierung vor ihre Kolleg*innen und dozierten über den sich anbahnenden grundlegenden Wandel.9 Es ist folglich gut nachvollziehbar, dass für viele Fachkolleg*innen die Wahrnehmung eines steigenden Arbeitsdrucks ein erträgliches Maß überstiegen hatte. Immer lautstärker wurde die Einstellung von mehr Personal gefordert. Angesichts allgegenwärtiger Sparzwänge erschien dieses Entlastungsszenario aber völlig illusorisch. Denn Hochrechnungen offenbarten, Vgl. Andreas Hedwig, Landesgeschichte im Archiv. In: Sabine Mecking (Hrsg.), Landeszeitgeschichte (Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 70), Marburg 2020, S. 293 f. 9 Vgl. die Publikationen / Tagungsberichte des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ seit 1997: https://www.sg.ch/kultur/staatsarchiv/Spezialthemen-/ auds.html (aufgerufen 1.3.2020); vgl. – in Auswahl – die Deutschen Archivtage 2008 „Für die Zukunft sichern! Bestandserhaltung analoger und digitaler Unterlagen“, 2009 „Archive im digitalen Zeitalter“, 2015 „Transformation ins Digitale“, s. https://de.wikipedia.org/wiki/ Deutscher_Archivtag (aufgerufen 1.3.2020); die Rheinischen Archivtage 1999 „Archivische Informationssicherung im digitalen Zeitalter“, 2002 „Digitalisierung in Archiven“, 2012 „Digital und analog – Die beiden Archivwelten“ https://de.wikipedia.org/wiki/Rheinischer_ Archivtag (aufgerufen 1.3.2020); die Dokumentationen der Bayerischen Archivtage 2003 und 2010 in https://www.gda.bayern.de/publikationen/archive-in-bayern/ usw. 8
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dass allein um die in den vergangenen Jahrzehnten angewachsenen Arbeitsrückstände in der Erschließung oder der Bestandserhaltung aufzuholen, ein immenser Personaleinsatz erforderlich gewesen wäre, den kein Archivträger verstanden, geschweige denn als Bedarf anerkannt hätte. Mehrere Hundert, ja mehrere Tausend (!) Personenjahre waren Größenordnungen, die sich zwar arithmetisch für die Bearbeitung von Rückständen in der Erschließung und der Bestandserhaltung errechnen ließen, aber niemandem außerhalb der Archive vermittelbar waren.10 Damit geriet das Bild des/der Archivar*in, die/der mit großem Engagement alle fachlichen Aufgabenbereiche abdeckt, und die Perspektive, mit den herkömmlichen, zuletzt immer besser archivwissenschaftlich begründeten und verfeinerten Arbeitsmethoden den Problemen Herr werden zu können, massiv ins Wanken. Ohne eine Diskussion der fachlichen Standards und ohne ein Hinterfragen der Arbeitsprozesse und Organisationsprinzipien war – zumindest in Hessen – zu Beginn der 2000er Jahre kein Weiterkommen mehr möglich. Dennoch blieb für die hessischen Problemlösungsdiskussionen die Fokussierung auf die Erledigung der Fachaufgaben als fachliches Kerngeschäft entscheidend. Di e a r c h i v i s c h e n Fa c h a u f g a b e n Der in den vergangenen Jahrzehnten intensivierte archivwissenschaftliche Diskurs hat das Bewusstsein für den Wert der Fachaufgaben deutlich geschärft. Bis weit in das 20. Jahrhundert vermittelte die archivarische Fachausbildung bewährtes Wissen, das Schritt für Schritt im Wesentlichen aus der Diplomatik und den historischen Hilfswissenschaften einschlägige Methoden hervorgebracht hatte, die das archivarische Berufsbild Ausdruck des Diskussionstands, ja der Resignation darüber, dass die Landesarchive über viel zu wenig Personal verfügten, ist das Strategiepapier der ARK von 2011, in dem die Landesarchive statistisch differenziert darlegten, wie sie ihr Personal einsetzten: Strategiepapier der ARK: Entwicklung der Personalstrukturen im Archivwesen der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. In: Archivar 64 (2011), Heft 4, S. 397–413. Zu beachten sind insbesondere die zu den jeweiligen Aufgaben in blau gedruckten Kommentare, S. 404 ff., die umfangreiche Personalbedarfe reklamieren. „Die Aufrechterhaltung der Grundversorgung ist in vielen Archiven bereits jetzt nur noch mit Hilfe von Zusatzpersonal möglich.“ Zitat aus der Zusammenfassung zu den fachlichen Kernaufgaben, S. 408. – Vgl. auch Gerd Schneider, Aufgaben- und Personalplanung in Archiven. In: Mario Glauert – Hartwig Walberg (Hrsg.), Archivmanagement in der Praxis (Veröffentlichungen der Landesfachstelle für Archive und öffentliche Bibliotheken im Brandenburgischen Landeshauptarchiv 9), Potsdam 2011, S. 41–47. 10
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immer mehr verselbständigten. Doch in den 1990er Jahren erlebte die Fachdebatte, insbesondere um die archivfachlichen „Kernaufgaben“ eine Konjunktur. Sie wurden weiter ausdifferenziert und profiliert. Die frühere „Archivkunde“ erhob spätestens jetzt den Anspruch, „Archivwissenschaft“ zu sein, um der Komplexität des fachlichen Handelns gerecht zu werden, es systematisch, eben „wissenschaftlich“ zu durchdringen und weiterzuentwickeln. Ein wichtiges Ziel der Methodendebatten war und ist es bis heute, allgemeingültige fachliche Standards zu definieren.11 Mindestens zwei wichtige äußere Entwicklungen haben den Diskurs um die archivfachlichen Kernaufgaben geprägt. Zum einen die Digitalisierung. Neben der Entwicklung von Arbeitswerkzeugen war es vor allem die Digitalisierung der Verwaltung, die für das Archivwesens einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel markierte. Es kann beileibe nicht behauptet werden, dass das deutsche Archivwesen die Auseinandersetzung mit der Digitalisierung im internationalen Vergleich besonders konsequent vorangetrieben hat. Vielmehr waren es zunächst eher kleine, aber einflussreiche Kreise von Archivar*innen, die sich zusammenfanden, um diese Herausforderungen anzunehmen und das Archivwesen darauf vorzubereiten. Die Entwicklung und der Einsatz von digitalen Erschließungsdatenbanken hatte die deutsche Archivwelt bereits in den 1990er Jahren beschäftigt. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts kreisten die Debatten dann vor allem um die Frage, wie die digitalen Unterlagen, die sich in rasantem Tempo und höchst unterschiedlichen Erscheinungsformen in den Verwaltungen ausbreiteten, in die Archive kommen und dort archiviert werden sollten. Im Grunde ging es um nicht weniger als die Existenz des deutHierfür stehen programmatisch die Publikationen von Angelika Menne-Haritz im Besonderen und der Archivschule Marburg im allgemeineren („Veröffentlichungen der Archivschule Marburg“ im Folgenden: VAS). Vgl.: Angelika Menne-Haritz, Schlüsselbegriffe der Archivterminologie: Lehrmaterialien für das Fach Archivwissenschaft (VAS 20), 3. Auflage, Marburg 2011, hier insbesondere die Einführung, die den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit unterstreicht; sowie die von Andrea Wettmann (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven archivischer Bewertung. Beiträge eines Archivwissenschaftlichen Kolloquiums (VAS 21), Marburg 1994, Rainer Brüning – Werner Heegewald – Nils Brübach (Übers. u. Hrsg.), Internationale Grundsätze für die archivische Verzeichnung (VAS 23), 2. Auflage, Marburg 2006, Angelika Menne-Haritz, Akten, Vorgänge und elektronische Bürosysteme. Mit Handreichungen für die Beratung von Behörden (VAS 25), Marburg 1996 und Dies. – Nils Brübach, Der intrinsische Wert von Bibliotheks- und Archivgut. Kriterienkatalog zur bildlichen und textlichen Konversion bei der Bestandserhaltung. Ergebnisse eines DFG-Projekts (VAS 26), Marburg 1997 usw. Vgl. https://www.archivschule. de/DE/publikation/veroeffentlichungsreihe/ (aufgerufen 25.2.2022). 11
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schen Archivwesens! Hier durften die Archive nicht versagen, sonst drohte der Abstieg zu musealen Einrichtungen. Dies führte so weit, dass die digitalen Arbeitsfelder als mutmaßlich neue archivische Fachdisziplinen mit eigenen fachlichen Anforderungen betrachtet wurden. Das digitale Records Management in den Behörden und die Digitalen Archive wurden zu zentralen Themen bzw. Problemkreisen der Archivtage. Das Informationsbedürfnis bei den Archivar*innen war immens und führte – bis heute – zu bestens besuchten Tagungen und bald tatsächlich zum Einstieg in die digitale Archivierung.12 Hinzu trat aber ein Weiteres: Die Archive wurden zudem seit den 1990er Jahren von den überall um sich greifenden Verwaltungsreformen erfasst, ja unter Druck gesetzt. Zumal die Landesarchivverwaltungen mussten sich aktiv mit den Erwartungen an Effektivitäts- und Effizienzsteigerungen, an Synergieeffekte auseinandersetzen. Einige wurden evaluiert, sollten Personaleinsparungen ermitteln und umsetzen. Sichtbare Konsequenz dieser Reformwelle um die Jahrtausendwende war die Errichtung von Landesarchiven.13 So schwierig und schmerzvoll oder – je nach Perspektive – anregend und herausfordernd besagte Entwicklungen der Digitalisierung und der Verwaltungsreformen für die archivarische Fachdebatte auch waren, alles zusammengenommen bewirkte letztlich einen erheblichen Professionalisierungsschub, von dem die Archive heute profitieren. Eines der Ergebnisse ist die „Kanonisierung“ der Fachaufgaben und ihre Ausdifferenzierung. Dem „Lebenszyklus der Akte“ nachempfunden hat sich inzwischen – mit wenigen Abweichungen und Nuancen – eingebürgert, die archivischen „Kernaufgaben“ umfassend zu betrachten, untereinander abzugrenzen und wie folgt zu reihen. Es sind: – die Beratung der Unterlagen produzierenden Stellen, darunter v.a. die abgabepflichtigen Dienststellen, in Hinsicht auf die Verwaltung, Aussonderung und Anbietung der Unterlagen an das Archiv; – die Bewertung, das heißt Auswahl des Archivguts aus den angebotenen Unterlagen der abgebenden Stellen; S. dazu bereits Anm. 9. Vgl. Hedwig (wie Anm. 4) S. 365. – Ders., Das deutsche Archivwesen und die Herausforderungen der betriebswirtschaftlichen Steuerung. In: Gerald Maier – Clemens Rehm (Hrsg.), Archive heute – Vergangenheit für die Zukunft. Zum 65. Geburtstag von Robert Kretzschmar (Werkhefte der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg Serie A, 26), Stuttgart 2018, S. 151–160, hier S. 154 f.
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die Aufbewahrung des bereits übernommenen oder schon lange vorhandenen Archivguts; – die Erhaltung, die alle Maßnahmen der Erhaltung und Restaurierung umfasst; – die Erschließung, das ist die formalisierte Inhaltsbeschreibung des verwahrten Archivguts als Voraussetzung der Zugänglichmachung von Archivgut; – die Nutzung, das sind alle Tätigkeiten im Zusammenhang der Einsichtnahme von Archivgut durch Nutzer*innen in den Lesesälen oder über das Internet; – die Vermittlung, unter der alle Aktivitäten der Geschichtsvermittlung verstanden werden, vorzugsweise aufbauend auf dem Archivgut des eigenen Archivs. Dieser Kanon hat sich fest etabliert.14 Fragen der methodischen Vertiefung einzelner Aufgaben waren in den letzten Jahren immer wieder Themen ganzer Archivtage.15 Relevant wurde dieser Katalog aber auch für Fragen der Arbeitsorganisation, zumal in denjenigen Verwaltungen, die in den 2000er Jahren das betriebswirtschaftliche Rechnungswesen einführten; das waren in Deutschland insbesondere die Kommunen, aber auch die Länder Baden-Württemberg (wo das Projekt bald reduziert wurde), Hamburg und Hessen. Dort wurden die genannten Fachaufgaben zu „Leistungen“ oder „Produkten“ der Archive und als Kostenträger bzw. Innenaufträge ausgeprägt. Dies unterstreicht die pragmatisch-praktische Seite, die im archivischen Fachdiskurs um die Kernaufgaben stets enthalten war.16 KLA-Ausschuss Betriebswirtschaftliche Steuerung (Hrsg.), Empfehlungen zur Systematisierung von Querschnitts- und Fachleistungen sowie relevanter Kennzahlen in Archiven, Marburg 2017, s. auch https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Downloads/KLA/systematisierung-querschnitts-fachleistungen.pdf?__blob=publicationFile. 15 Wobei einzelnen Aufgaben erhöhte Aufmerksamkeit zuteil wurde, v.a. der Bewertung und der Vermittlung (und Öffentlichkeitsarbeit); vgl. die Hinweise auf die Archivtage oben in Anm. 9. – Wie sehr sich die Systematik aus der Perspektive der 1990er Jahre noch herausbilden musste, zeigen die „Diagramme zur Erläuterung von Fachbegriffen, 1.1 Bezeichnungen der archivischen Tätigkeiten“. In: Angelika Menne-Haritz, Schlüsselbegriffe der Archivterminologie (wie Anm. 11) S. 109 f., aber etwa auch das ARK Strategiepapier von 2011, Entwicklung der Personalstrukturen (wie Anm. 10). 16 Die Fachdebatte bemühte sich stets um Standards, nicht zuletzt um Arbeitsprozesse fachlich zu begründen. Vgl. Angelika Menne-Haritz, Ist Archivwissenschaft normierbar? In: Karsten Uhde (Hrsg.), Qualitätssicherung und Rationalisierungspotentiale in 14
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Zumal aus der Perspektive der Arbeitsorganisation sind jüngst bemerkenswerte Weiterentwicklungen zu verzeichnen. So hat der KLA-Ausschuss Betriebswirtschaftliche Steuerung in intensiven Diskussionen ein Empfehlungspapier für Kennzahlen aller Arbeitsprozesse in Archiven erarbeitet: für die allgemeinen Querschnittsaufgaben wie für die Fachaufgaben; ergänzt wurde dieses Papier um statistische Kennzahlen für Archiveinrichtungen und -verwaltungen.17 Dort werden die Fachaufgaben nicht als solche beschrieben und nach fachlichen Gesichtspunkten vertieft, sondern als Tätigkeitsfelder begriffen. Daher lag es nahe, die Fachaufgaben als Prozesse zu sehen und deren Abläufe genauer zu betrachten. Der eigentliche Ausgangspunkt, Kennzahlen für die Fachaufgaben zu definieren, eröffnete den Blick für die unterschiedlichen Phasen der Arbeitsprozesse und deren Steuerbarkeit. Dieses Herangehen hat zu zwei wichtigen Ergebnissen geführt, welche die Darstellungssystematik des fachlichen Kennzahlenkatalogs zum Ausdruck bringt: 1.) Die Arbeitsschritte, die Prozesse reflektieren zentrale Prinzipien des betriebswirtschaftlichen Managements: Es gibt keine (!) Fachtätigkeit ohne Planung; erst auf diese folgt die Umsetzung einschließlich Controlling und Erfolgsmessung. Diese Abfolge erfordert eine Organisation, in der festgelegt ist, welche Instanz bzw. wer initiiert, plant, steuert, das Controlling durchführt (Management) und wer praktisch umsetzt, „produziert“. 2.) Wie oben dargelegt, prägten die Herausforderungen der Digitalisierung die archivfachlichen Debatten. Trotz ihrer wachsenden Bedeutung in den fachlichen Prozessen der Archive betrachtet dieser der Archivarbeit. Beiträge des 2. Archivwissenschaftlichen Kolloquiums der Archivschule Marburg (VAS 27), Marburg 1997, S. 41–62; Stefanie Unger (Hrsg.), Archive und ihre Nutzer – Archive als moderne Dienstleister (VAS 39), Marburg 2003; Landschaftsverband Rheinland (Hrsg.), Standards und Normen im Alltag der Archive. 44. Rheinischer Archivtag, 10.–11. Juni 2021 in Bonn-Bad Godesberg (Archivhefte 41), Bonn 2011, s. auch https://afz.lvr.de/media/archive_im_rheinland/publikationen/archivhefte/LVR_Archivheft41.pdf (aufgerufen 2.3.2021). – Vgl. Martina Wiech, Strategisches Management für Archive. In: Mario Glauert – Hartwig Walberg (Hrsg.), Archivmanagement in der Praxis (Veröffentlichungen der Landesfachstelle für Archive und öffentliche Bibliotheken im Brandenburgischen Landeshauptarchiv 9), Potsdam 2011, S. 13–36, hier S. 22 f. – Und ebd. die Beiträge von Schneider (wie Anm. 10) S. 41–47, Andreas Hedwig, Betriebswirtschaftliches Finanzmanagement, S. 91–114, hier S. 97–100, Clemens Rehm, Management der Überlieferungsbildung – Erinnerung in Schachteln. Gedanken zwischen Regalen, S. 183–206, hier S. 189–202. 17 Vgl. Anm. 14.
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Kennzahlenkatalog die Methoden der digitalen Archivierung wie ganz allgemein den Einsatz der digitalen Techniken nicht als neue archivische Fachaufgaben. Hier wurden hingegen konsequent die fachlichen Aufgaben in ihrem digitalen Erscheinungsbild identifiziert und in den Kanon der Fachaufgaben integriert. Danach gibt es eine archivfachliche Digitalität, aber keine eigenständige digitale Archivfachlichkeit.18 Jede Fachaufgabe also, gleichgültig ob es sich um eine digitale, digital geprägte oder analoge handelt, zielt nicht nur auf ihre konkrete Umsetzung, sondern sie bedarf zunächst einmal der Instanz Führung und Management. Auf dieser Ebene zentral ist der Aspekt des Ressourceneinsatzes, der immer zwei Gesichter hat: (1.) Welches Personal in welcher Qualität kann wie eingesetzt werden, um ein gewünschtes Arbeitsergebnis zu erbringen? (2.) Welche Geldressourcen können ggf. in welcher Weise (Materialbeschaffung, Outsourcing?) eingesetzt werden? Aus dieser Perspektive betrachtet ist es ganz selbstverständlich, Arbeitsprozesse in Arbeitsschritte zu gliedern und einen Workflow zu modellieren. Es zeigt sich schnell, dass es in vielen, wenn nicht den allermeisten Fällen nicht vernünftig ist, für alle Arbeitsschritte dasselbe Personal einzusetzen, nur weil es alle Arbeitsschritte beherrscht. Es muss immer darum gehen, Qualifikationen, Fähigkeiten und Talente möglichst gezielt einzusetzen – um die Arbeitsergebnisse quantitativ und qualitativ unter Einsatz der hierfür erforderlichen Ressourcen zu verbessern. 19 Dies führt auf geradem Wege zur Frage nach den Prinzipien eines Rahmens hierfür, auf die Frage nach effektiver Archivorganisation!
Vgl. dazu die ausführlichen Erörterungen von Christan Keitel, Zwölf Wege ins Archiv. Umrisse einer offenen und praktischen Archivwissenschaft, Stuttgart 2018. 19 Diese Überlegung wiederum führte der KLA-Ausschuss Betriebswirtschaftliche Steuerung, abgeleitet aus seinen Tätigkeiten- und Kennzahlenkatalogen, vgl. Anm. 14, konsequent weiter und übersetzte seine Arbeitsergebnisse in das sogenannte Personalbedarfsbemessungstool. Dieses Tool betrachtet die Querschnitts- oder Fachtätigkeiten aus der Perspektive des Personaleinsatzes. Es spezifiziert, welches Personal, welcher Qualifikation, welche Arbeiten verrichtet oder verrichten soll, und erleichtert so die Planung von laufenden Arbeitsprozessen und Projekten. Es kann auch umgekehrt dazu genutzt werden, sich Klarheit darüber zu verschaffen, welches Personal, welcher Qualifikation, zu welchem Zweck derzeit in der konkreten Aufgabenerledigung eingesetzt wird – und welches ggf. erforderlich ist, um alle anstehenden Arbeiten sach- und fachgerecht zu erledigen. 18
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Di e f u n k t i o n a l - p r o z e s s o r i e n t i e r t e O r g a n i s a t i o n Im Folgenden sei kurz der Weg zur prozessorientierten Organisation des Hessischen Landesarchivs skizziert, um die dortigen Überlegungen und Motive beispielhaft darzulegen.20 Die drei hessischen Staatsarchive waren durch die Einführung des betriebswirtschaftlichen Rechnungswesens auf Basis von SAP R3 im Jahr 2005 in besonderer Weise angehalten, ihre Fachaufgaben untereinander abzugrenzen, um sie als Kostenträger auszuprägen. Bis zur Gründung des Hessischen Landesarchivs waren die drei Staatsarchive in einem SAP-Buchungskreis zusammengefasst, blieben darin jedoch jeweils einzeln budgetiert und damit weitgehend autonom. Doch gelang es bereits in dieser Zeit, gemeinsam strukturell wichtige Projekte auf den Weg zu bringen, z.B. die Errichtung des Hessischen Grundbucharchivs, des Hessischen Personenstandsarchivs (beide 2010/2011) und insbesondere des Digitalen Archivs (2009/2011). Ein weiterer Kraftakt war die Errichtung des Hessischen Landesarchivs, der in einem ersten Schritt (2013/2014) die drei hessischen Staatsarchive in eine einheitliche Archivorganisation überführte. Formal bestanden zunächst sogar vier Dienststellen – die drei Staatsarchive und das Landesarchiv selbst. Dennoch erfolgten weitere Schritte, die allgemeine Verwaltung zu zentralisieren und die landesweit agierenden Organisationseinheiten – dazu zählten das Digitale Archiv, das Grundbuch- sowie das Personenstandsarchiv, die Archivberatung u.v.m. – unter der fachlichen Leitung des Landesarchivs zusammenzufassen. Um das bisher kooperative Miteinander in ein einheitliches Handeln zu überführen, wurden mit den Facharchivar*innen Zielvereinbarungen ausgehandelt und vereinbart.21 Als schließlich 2019 das Hessische Landesarchiv als Einheitsbehörde konstituiert wurde, wurden alle landesweit zuständigen Organisationseinheiten auch dienstrechtlich zusammengefasst und die drei Staatsarchive zu Abteilungen.
Vgl. im Überblick: Hedwig (wie Anm. 4). Die Zielvereinbarungen wurden auf der Basis einer Kaskade von Ober- und Teilzielen strukturiert, denen operative Projekte zugeordnet wurden. Die Projekte waren oft als Konzeptentwicklung und hieraus folgender Umsetzung von Maßnahmen angelegt. Zu den Zielvereinbarungen vgl. die Tätigkeitsberichte des Hessischen Landesarchivs, v.a. die Grußworte und Einleitungen der Berichte 2014, 2015, 2016 usw. https://landesarchiv.hessen.de/ publikationen/taetigkeitsberichte (aufgerufen 2.3.2021). 20 21
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Die Einführung von SAP und die damit einhergehenden Impulse begünstigten die Errichtung des Hessischen Landesarchivs. Entscheidend waren jedoch die bereits ca. 2003 (!) entwickelten Zielperspektiven: Die Reform sollte einerseits für die Gewinnung der notwendigen Synergien für die digitale Weiterentwicklung sorgen und andererseits die Staatsarchive so weit wie möglich von allen Aufgaben entlasten, die nicht in den Kontext ihrer originären fachlichen Kernaufgaben gehörten. Die hessischen Staatsarchive sollten weiterhin regional starke Repräsentanzen des Archivwesens sein, ihre Fachaufgaben erfüllen und als Kultureinrichtungen der Geschichtsvermittlung einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Angesichts der Zunahme der Komplexität der Fachaufgaben stand insbesondere eine zukunftsorientierte Strukturierung der Aufgaben, dezidiert der Fachaufgaben, im Fokus. Um hier voranzukommen, hatte das Landesarchiv von 2013/2014 an für jede der oben genannten Fachaufgaben jeweils ein*e Referent*in eingesetzt, deren Aufgabe in der organisatorischen Formierungsphase es war, die Diskussion der fachlichen Ziele zu initiieren und weiterzuentwickeln, um schließlich Zielvereinbarungen auf den Weg zu bringen. Die dafür ausgewählten sechs Kolleg*innen gingen ihre Aufgabe in jeder Hinsicht kreativ und mit hohem Engagement an. Sie verfolgten unterschiedliche Herangehensweisen und nutzten unterschiedliche Wege und Instrumente. Interessant war, wie dieser Kreis miteinander kommunizierte. Geradezu im Gegensatz zu den allgemeinen fachlichen Dienstbesprechungen, in denen fast jede*r Archivar*in zu jedem fachlichen Thema etwas beitragen konnte, erleichterte die gemeinsamen Diskussionen von Projektideen und Gestaltungsinitiativen ungemein, dass jede*r der Fachreferent*innen klar voneinander abgegrenzte fachliche Zuständigkeiten vertrat. Ein intensiver, gewinnbringender Austausch über kommunikative Prozesse, fachlich-inhaltliche Projekte und Zukunftsperspektiven war die Folge. Die systemische Betrachtung der Fachaufgaben im Landesarchiv mündete schließlich in eine Diskussion, die ein landesweit einheitliches Management für jede einzelne Fachaufgabe erwog. Dieses Konzept stellte die Staatsarchive als organisatorischen Rahmen für die Erledigung der Fachaufgaben offen zur Disposition! Die realistische Einschätzung der dafür erforderlichen Personalressourcen führte am Ende zu einem pragmatischen Vorschlag: Jeweils zwei der Fachaufgaben sollten zusammengelegt werden für jeweils eine*n
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leitende*n Landesarchiv-Fachreferent*in,22 das heißt für die Bereiche Beratung/Bewertung, Erhaltung/Erschließung und Nutzung/Vermittlung. In dieser Situation, zu diesem Stand der Diskussion wurde eine externe Organisationsberatung beauftragt und aktiv.23 Sie wurde beigezogen, um einerseits die bestehenden Strukturen unvoreingenommen zu evaluieren sowie Vorschläge für die Optimierung der Organisation in einem alle bisherigen Dienststellen zusammengefassten Landesarchiv zu unterbreiten. Der professionelle Blick von außen half sehr, Antworten auf die offenen Fragen zu erhalten: Welche Strukturen des bereits errichteten Landesarchivs hatten sich bewährt? Welche wurden als vorteilhaft und effektiv betrachtet? Wo bestanden Schwierigkeiten, Hemmnisse, Vorbehalte unter den Mitarbeiter*innen? Welche Alternativen boten sich an? Welche Organisation war für eine künftige Einheitsbehörde Landesarchiv die beste? Wie beschrieben, fand die externe Beratung eine ausgeprägte, wenig koordinierte Matrixstruktur vor. Zwar hatten die hessischen Staatsarchive schon im Vorfeld der Errichtung des Landesarchivs – wie viele andere auch – Wert auf die Ausprägung von fachlichen Grundsatzreferaten gelegt, diese lagen aber „quer“ zur sonstigen Organisation, die sich an den Beständen orientierte. Ein Team für ein Bewertungsprojekt, beispielsweise die Erarbeitung einer Bewertungsstrategie oder -modells, wurde zusammengestellt aus Fachkolleg*innen, die im Rahmen ihrer jeweiligen Beständezuständigkeit ohnehin mit Bewertung befasst waren; die in dieses Team einbezogenen Kolleg*innen waren jedoch nicht für die Projektarbeit freigestellt, sondern hatten parallel weiter ihre Routineaufgaben zu erledigen und waren ggf. darüber hinaus anderen Teams zu anderen Fachaufgaben zugeordnet (Erschließung, Recherchedienst z.B.). Die Prüfungsfirma empfahl dringend, von diesen Matrix-Strukturen weg zu kommen, weil sie – dies ergab sich aus Interviews – die Archivar*innen überfordere. Hingegen sei auf die Kongruenz von Zuständigkeit, Kompetenz und Verantwortung zu achten.24 Das Landesarchiv sollte so weit wie möglich nach dem Prinzip der Linienorganisation aufgebaut werden. Aus bisherigen Erfahrungen heraus wurde seinerzeit einvernehmlich die Auffassung vertreten, dass die Leitung jeder einzelnen Fachaufgabe im Hessischen Landesarchiv deutlich weniger als 100 % Arbeitskapazität jeweils eine*r Referent*in erfordere. 23 Beauftragt wurde die Firma BSL Management GmbH, Köln, die ihren Bericht unter dem Titel „Untersuchung der Organisations- und Kostenstellenstrukturen des Hessischen Landesarchivs mit seinen dezentralen Strukturen“ im Februar 2018 vorlegte. 24 Statt der Matrixstruktur empfahl die Firma BSL die konsequente Anwendung des „AKVPrinzips“ (Aufgaben, Kompetenzen, Verantwortung). 22
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Im Gegensatz zur Matrixorganisation besteht eine Linienorganisation aus „klaren und einheitlichen Weisungsbefugnissen auf jeder Ebene. Jeder Mitarbeiter eines Unternehmens weist eine (!) Verbindung zu einer höheren Ebene auf“.25 Damit verantwortet jede*r Mitarbeiter*in seinen (!) bzw. ihren (!) Zuständigkeits-, d.h. Aufgabenbereich. Es handelt sich also um eine hierarchische Mehr-Ebenen-Organisation (Leitung, Abteilung, Referat, Sachgebiet z.B.), in der Entscheidungen und Informationen in der Regel von oben nach unten fließen und klar zuzuweisen sind. Diesen Grundgedanken folgend empfahl die Beratungsfirma für die drei hessischen Staatsarchive folgende Organisationsstruktur:
Aktueller Organisationsplan des Hessischen Landesarchivs, Ausschnitt: Organisationsgliederung der Archivabteilungen.
In der grafischen Darstellung ist gut zu erkennen, dass die zunächst für die fachliche Leitungsebene des Landesarchivs vorgedachte pragmatische Gliederung in drei fachliche Organisationseinheiten aufgegriffen wurde, nun aber in die Linienstruktur der Archivabteilungen als Referate transponiert wurde! Die Beratungsfirma erhoffte sich durch diese Lösung nicht nur eine linear-funktionale Aufgabenerledigung, sondern sie begründete diese Lösung auch mit dem Argument, dass so ein Benchmarking zwi Zitat aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Linienorganisation; https://www.derdualstudent.de/ einlinienorganisation.html. Auch hier als niederschwelliger Einblick zu empfehlen: https:// studyflix.de/wirtschaft/funktionale-organisation-1347 (beide Seiten aufgerufen am 2.3.2021). 25
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schen den drei Staatsarchiven als Steuerungsinstrument genutzt werden könnte. Selbstverständlich provozierte dieser Vorschlag und dessen baldige Umsetzung Diskussionen und Kritik. Nicht wenige Archivar*innen konnten in der „Beschneidung“ ihrer Aufgabengebiete keinen Vorteil erkennen. Es wurde argumentiert, dass die Erledigung mehrerer Fachaufgaben durch eine*n Archivar*in, das heißt, die bisherige „ganzheitliche“ Herangehensweise, qualitativ bessere Ergebnisse erziele. Die tägliche Praxis im Umgang mit mehreren archivfachlichen Aufgaben erzeuge eine höhere Sensibilität im Umgang mit dem Archivgut. Das vor allem durch die Erschließung vertiefte Wissen über die Inhalte des Archivguts sei unabdingbar im Umgang mit den abgebenden Stellen und mehr noch für die Archivrecherche. Die Zufriedenheit der Archivnutzer*innen werde leiden, so wurde prophezeit, da die Qualität der Auskünfte abnehmen würde. Diese Argumente wogen schwer. Und klar ist, dass sie bei den älteren Kolleg*innen, die bereits über einen großen Erfahrungsschatz verfügten, besonders gut nachvollziehbar waren. Dennoch war die überwiegende Mehrheit der Archivar*innen bereit, den vorgeschlagenen neuen Weg einzuschlagen. Bald sollte sich zeigen, dass die neuen Aufgabenzuschnitte tatsächlich Vorteile boten und insbesondere das „konzentrierte Arbeiten“ wieder möglich machten. Aber es wurden auch Probleme in der Struktur der neuen Organisation selbst ausgemacht: Die dreimalige Ausprägung erinnert unwillkürlich an eine geradezu klassische Matrixorganisation! Warum agieren die drei Referate parallel zueinander? Wie sollte so die Facharbeit im Landesarchiv zusammengefasst werden? Wo war das jeweilige Grundsatzreferat, das für einheitliches Handeln sorgt? In der Tat, ein Grundsatzreferat war bewusst nicht angedacht worden! Die Organisation der drei Staatsarchive im Landesarchiv folgt dem Grundgedanken der Linienorganisation. Die Referatsleiter*innen sind die fachlichen Vorgesetzten ihrer Mitarbeiter*innen. Unterhalb der Referatsleitungen gibt es noch die Sachgebiete, die ebenfalls jeweils eine Leitung haben. Die Konstruktion erfordert in den Referatsleitungen Führungspersönlichkeiten, die den fachlichen Anforderungen gerecht werden und ihre Rolle als Vorgesetzte wahrnehmen. Hieraus folgt Weiteres: Die Referatsleitungen handeln im Rahmen der Zielvereinbarungen die Ziele ihrer Referate aus und berichten der Abteilungsleitung über den jeweiligen Stand der Umsetzung. Sie melden darüber hinaus monatlich die aus den Arbeitsprozessen resultierenden Kennzahlen. Da jedes Fachreferat eine Kostenstelle ist, haben sie Zugang zu weiteren Controlling-Instrumenten, insbesondere
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zu den Kostenstellenberichten, in denen nachzuvollziehen ist, in welchem Umfang und für welche Leistungen die Arbeitsstunden eingesetzt werden. Die Abteilungsleitungen oberhalb der Referate sind für die eigenverantwortliche Bewirtschaftung der zur Verfügung gestellten Ressourcen (Finanzbudget und Personal) verantwortlich. Diese Nähe zueinander erleichtert die abteilungsbezogene Ressourcensteuerung, und sie regt an zu „kreativem“ Ressourcenmanagement. Diese beiden eng miteinander kooperierenden Verantwortungsebenen vereinbaren, wie die vorhandenen Ressourcen zielgerecht eingesetzt werden. Sie können auch darüber nachdenken, wie die Ressourcen ggf. effizienter eingesetzt werden oder gar, wie sie vermehrt werden können, um einen höheren Output zu erzeugen – durch die Einwerbung von Drittmitteln, Outsourcing, den Einsatz von Hilfskräften usw.26 Selbstverständlich wurde auch im Hessischen Landesarchiv ein Weg gefunden, die Fachaufgaben zusammenzuführen. Da die Steuerung der Fachaufgaben und ihre Weiterentwicklung in die Zukunft zentrales Anliegen des Landesarchivs war und ist, wurde dem Präsidenten ein „Präsidialbüro“ beigegeben, in dem drei Archivar*innen des höheren Dienstes die fachliche Arbeit im Sinne einer Stabsstelle steuernd koordinieren. Als wichtigstes Steuerungsinstrument dienen die gemeinsam ausgehandelten Zielvereinbarungen, die zugleich für das Landesarchiv einen transparenten Rahmen für den Einsatz der Ressourcen bieten.27 Das direkte „Hineinregieren“ in die Zuständigkeiten der Referatsleitungen durch fachliche Grundsatzreferate ist ausdrücklich nicht vorgesehen, wohl aber eine stete und lebendige Debatte um die gemeinsamen archivfachlichen Ziele und die Etablierung gemeinsamer Projekte, die für alle Ebenen einen Mehrwert erzeugen – wie beispielsweise die Ausrichtung von Behördentagen des Landesarchivs zur Unterstützung der Behördenberatung, die Erarbeitung von Bewertungsmodellen und die Fortschreibung des Masterplans Bewertung, die gemeinsame Materialbeschaffung für die Archivgutlagerung, die Dies spielt seit Einführung der Neuen Verwaltungssteuerung (NVS) in der hessischen Landesarchivverwaltung eine zunehmende, heute große Rolle. Vgl. die Quartalsstatistik, Folie F, die den Anteil der Unterstützungskräfte ausweist https://landesarchiv.hessen.de/sites/ landesarchiv.hessen.de/files/Quartalsstatistik%20HLA%202020-4.pdf (aufgerufen 4.3.2021) sowie die diesbezüglichen Kennzahlen in den Tätigkeitsberichten seit 2006, jeweils am Ende der Berichte, vgl. https://landesarchiv.hessen.de/publikationen/taetigkeitsberichte (aufgerufen 2.3.2021). 27 Nach bisher zweijährigen Laufzeiten werden die Zielvereinbarungen 2021 erstmals auf eine Periode von drei Jahren ausgedehnt. 26
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Koordination und gemeinsame Beantragung von Drittmitteln für Massenverfahren der Bestandserhaltung, die gemeinsame Beschaffung von Geräten, die Herausgabe der Zeitschrift „Archivnachrichten“, das Angebot des Landesarchivs in den sozialen Internetmedien usw. Nach den geschilderten neuen Organisationstrukturen arbeitet das Hessische Landesarchiv inzwischen im dritten Jahr. Die ersten Erfahrungen sind ermutigend! Die Zuständigkeits- und Verantwortungsbereiche sind in der Dimensionierung der fachlichen Breite und Vielfalt einschließlich der Personalverantwortung auf den Ebenen der Referate und Sachgebiete gut angenommen worden. Die Arbeitszufriedenheit ist insgesamt gewachsen und die Koordination und Zusammenführung der fachlichen Arbeit erzielt überzeugende Ergebnisse. Dazu trägt erheblich bei, dass stärker als je zuvor projektorientiert gearbeitet wird. Dadurch werden die Arbeitsprozesse übersichtlicher und die Arbeitsergebnisse besser wahrgenommen. Letztlich hat die Konzentration der Archivar*innen auf wenige Fachaufgaben bewirkt, dass die Arbeitsergebnisse vor allem qualitativ gesteigert wurden. Ob der eingeschlagene Weg langfristig trägt? Absehbar ist, dass das Hessische Landesarchiv vor allem durch die fortschreitende Digitalisierung der Landesverwaltung gefordert sein wird, die Kräfte landesweit noch stärker zu bündeln. Ob und wann deshalb über eine nächste Organisationsreform nachgedacht werden muss, um die Fachaufgaben weiter zu zentralisieren, bleibt abzuwarten. Da die drei über die Staatsarchive hinweg parallel angelegten Fachreferate bereits jetzt konzertiertes Arbeiten gewohnt sind, sollte es nicht schwerfallen, auf die künftigen Herausforderungen angemessen zu reagieren.
Wirtschaftsüberlieferung in staatlichen Archiven – Erschließungs- und Nutzungsperspektiven Von Detlev Heiden Die Archivierungsaufgabe der staatlichen Archive umfasst in Deutschland mit den entsprechenden Anteilen im klassischen Verwaltungsschriftgut auch die „Wirtschaftsüberlieferung“ im weiteren Sinne, die sich beispielsweise in den Beständen von Wirtschaftsministerien oder Gewerbeaufsichtsämtern widerspiegelt. Bestände aus privatwirtschaftlichen oder staatssozialistischen Unternehmen bzw. Betrieben1 allerdings verharren in landesarchivischen Selbstdarstellungen2 häufig an der Peripherie, haben nur in Ausnahmefällen zu DFG-geförderten Digitalisierungsprojekten geführt und verdienen eine intensivere Wahrnehmung durch die Forschung.3
Zur Abgrenzung der beiden Begriffe: Toni Pierenkemper (Hrsg.), Unternehmensgeschichte (Basistexte Geschichte 7), Stuttgart 2011, S. 15 ff. 2 Zum Beispiel: „Das Hessische Landesarchiv […] wählt gezielt nach professionellen Kriterien analoge und digitale Unterlagen der Landesverwaltung zur Archivierung aus. […] Um vielfältige Sichtweisen auf Gegenwart und Vergangenheit zu ermöglichen, ergänzt das Hessische Landesarchiv sein Archivgut durch Unterlagen aus allen Bereichen der Gesellschaft.“ https://landesarchiv.hessen.de/hla_mission-statement – „Die Staatsarchive sind das Gedächtnis des Staates und seiner Bevölkerung. […] wählen sie aus dem Schriftgut der Behörden und Gerichte aus“. https://nla.niedersachsen.de/startseite/landesarchiv/leitbild/-85891.html – „Die Zuständigkeit des BLHA erstreckt sich auf das Archivgut aller Stellen des Landes Brandenburg und ihrer Rechts- und Funktionsvorgänger.“ https://blha.brandenburg. de/index.php/themen/ueber-die-bestaende/ – „Wir wählen gezielt Unterlagen von Behörden, Gerichten, sonstigen Einrichtungen und Personen aus.“ https://www.staatsarchiv.sachsen.de/ leitbild-4091.html (alle aufgerufen am 25.6.2021). 3 Vgl. den noch sehr knappen Hinweis („Für die Unternehmensgeschichte relevantes Schriftgut findet sich auch in staatlichen Archiven“) bei Toni Pierenkemper, Unternehmensgeschichte. Eine Einführung in ihre Methoden und Ergebnisse (Grundzüge der modernen Wirtschaftsgeschichte 1), Stuttgart 2000, S. 77 ff., hier S. 80. Dagegen ders., Unternehmensgeschichte (wie Anm. 1) S. 20 f., mit klarem Hinweis auf die „dichte Archivkultur hinsichtlich der Unternehmen“ in Deutschland. 1
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Pre u ß i s c h e r O b e r p r ä s i d e n t , Fi r m e n a k t e n d e r I H K u n d Re i c h s b a h n ü b e r l i e f e r u n g Zum quantitativen wie qualitativen Ausbau von Nutzungsperspektiven der (weiteren) Wirtschaftsüberlieferung in staatlichen Archiven trug ein Ende 2020 abgeschlossenes4 DFG-Projekt des Landesarchivs SachsenAnhalt bei:5 Mit einem Umfang von 385 laufenden Metern und mehr als 3 Millionen Digitalisaten für 15.000 Akten wurde der Bestand der Allgemeinen Abteilung des Oberpräsidenten der Preußischen Provinz Sachsen komplett digitalisiert. Schutzfristenbehaftete Digtalisate können dabei toolbasiert zunächst von der Freischaltung ausgenommen werden. Die Forschungsrelevanz dieses Bestandes erstreckt sich auch auf wirtschafts- und sozialgeschichtliche Fragestellungen: So vermittelt die Gliederungsgruppe Handwerk, Handel, Gewerbe und Industrie in einzelnen Branchen mit 35 Untergruppen einen vom frühen 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts reichenden Eindruck sich verändernder Wirtschaftsstrukturen. Die Akten über Gewässerverunreinigung, 1865–1944, sind dabei ein Beispiel für umweltgeschichtlich relevante Überlieferungen. Vor der Komplettdigitalisierung von Rückgratbeständen hat das Landesarchiv Sachsen-Anhalt anfangs einen anderen, Nutzungsperspektiven antizipierenden Weg eingeschlagen und dabei auch versucht, mit der Auswahldigitalisierung von 204 Akten (54.000 Digitalisate) der Gewerberegistratur im Bestand der Regierung Merseburg wirtschaftsgeschichtlich bedeutsame Überlieferungsanteile virtueller Nutzung zugänglich zu machen.6 Der Bestand Industrie- und Handelskammer Halle (Saale), 1838–1966, schließlich umfasst in der Gliederungsgruppe Örtliche Betriebe, 1890– 1966, insgesamt 199 nach Ortsbetreff geordnete Firmenakten, die auf der Ebene von 2.707 Einzelvorgängen verzeichnet wurden. Die digitalisierten Firmenakten sind online verfügbar,7 wobei die Digitalisate mit den Erschließungsdaten auf Aktenebene verknüpft sind. Die virtuelle Nutzung Die Onlineverfügbarkeit der Digitalisate soll bis 2022 realisiert werden. Felix Schumacher, Der Oberpräsident geht online. In: Archive in Sachsen-Anhalt 2020, S. 6–8. – Antje Herfurth, Die Überlieferung der Allgemeinen Abteilung des Oberpräsidenten Magdeburg. Ebd. S. 12–15. 6 http://recherche.landesarchiv.sachsen-anhalt.de/Query/suchinfo.aspx. 7 Insgesamt sind zu diesem Bestand 194.500 Digitalisate online nutzbar – neben den Firmenakten auch Zweitschriften von Handels- und Genossenschaftsregistern der Amtsgerichte des Kammerbezirkes. 4 5
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des Einzelvorgangs setzt daher teilweise Expert*innenwissen voraus, denn die Suche nach einer einzelnen Firma führt im Archivportal-D beim Setzen des Filters „Nur Objekte mit Digitalisat anzeigen“ ins Leere. Trotz dieser Einschränkung verdienen die Firmenakten als relevantes Beispiel für Grundinformationen über die Wirtschaftsstruktur einer Region Beachtung. Die zehn Firmenakten zu Bitterfeld, das sich mit seiner Nähe zu Kohlevorkommen zum bedeutendsten Ort der europäischen Chlorchemie entwickelte, umfassen nicht nur Betriebe der chemischen Industrie und des Braunkohlenbergbaus, sondern auch des Handwerks und des Einzelhandels. Ein anderes Beispiel für Möglichkeiten, in staatlichen Archiven örtliche oder regionale Wirtschaftsgeschichte zu rekonstruieren oder überhaupt einen einzelnen Betrieb und seine genaue Lage bzw. die bauliche Organisation anhand der enthaltenen Lagepläne nachzuweisen, repräsentiert die von 1880–1978 reichende Überlieferung der sogenannten Anschlussbahnen im Bestand „Deutsche Reichsbahn. Reichsbahndirektion Halle“ des Landesarchivs Sachsen-Anhalt. Diese Gliederungsgruppe wurde nach Anschlussbahnhöfen geordnet, insgesamt sind 600 Akten zu Privatgleisnebenanschlüssen online recherchierbar (zu Bitterfeld u. a.: Grubenbahn der IG Farbenindustrie von Grube Theodor nach Elektron Süd, 1929–1934). Der korrespondierende Bestand „Deutsche Reichsbahn. Reichsbahndirektion Magdeburg“ umfasst in der Gliederungsgruppe Anschlussgleise auf Bahnhöfen (A–Z), 1877–1977, insgesamt 454 Akten – beispielsweise zum Bau einer mit Pferden zu betreibenden schmalspurigen Kleinbahn von der Firma Lömpcke, Zuckerfabrik in Dömersleben zum Bahnhof Groß Wanzleben, 1893–1897.8 Un t e r n e h m e n s - u n d B e t r i e b s b e s t ä n d e in staatlichen Archiven Staatliche Archive als historisches Gedächtnis der Gesellschaft verwahren aber auch Unternehmens- bzw. Betriebsüberlieferungen9 und stützen Erwähnenswert z.B. auch die Bestände der Amtsgerichte, bei denen Handelsregisterunterlagen zu einzelnen Betrieben überliefert sind, oder die Überlieferungen der Räte der Bezirke. Viele, vor allem kleinere volkseigene und vereinzelt auch Privatbetriebe sind nur noch über die Bestände der wirtschaftsleitenden VVB recherchierbar. 9 Das Schriftgut der Wirtschaft bleibt in der Bundesrepublik keineswegs „im wesentlichen der Wirtschaft selber überlassen“ – so noch Eckhart G. Franz, Einführung in die Archivkunde, 4. Auflage, Darmstadt 1993, S. 29. 8
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sich hier auf länderübergreifend vergleichbare gesetzliche Regelungen, die sich zwischen vormals „alten“ und „neuen“ Bundesländern allerdings grundsätzlich unterscheiden. Das Nebeneinander staatlicher Archive10 und regionaler Wirtschaftsarchive sowie privater Unternehmensarchive reicht in das frühe 20. Jahrhundert zurück. Mittlerweile existieren regionale Wirtschaftsarchive in allen Bundesländern außer Bremen, MecklenburgVorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt und SchleswigHolstein.11 Die ausdifferenzierte Sparte der Unternehmensarchive soll hier nicht weiter betrachtet werden – hierauf wird aber bei der Frage der aktuellen wie anzustrebenden Nutzungsperspektiven zurückzukommen sein. Die Landesarchive der vormals „neuen“ Bundesländer zeichnet das gemeinsame Alleinstellungsmerkmal einer auch nach dem Ende der DDR fortgeschriebenen Zuständigkeit für die Wirtschaftsüberlieferung im engeren Sinne, also die Unternehmens- und Betriebsbestände bis 1990 aus. Der SMAD-Befehl zur „Errichtung eines Zentralarchivs in der sowjetischen Besatzungszone“12 verlangte im Frühjahr 1946 auch die Erfassung von Wirtschaftsschriftgut. 1950 erging die Anweisung, dass „jeder volkseigene Betrieb der Deutschen Demokratischen Republik […] ein Betriebsarchiv zu errichten und zu unterhalten“13 habe. Die Betriebsarchive blieben organisatorisch selbständig und wahrten eine begrenzte AutonoAuf die in Kommunalarchiven verwahrten Betriebs- und Unternehmensüberlieferungen kann hier nicht weiter eingegangen werden. Vgl. grundsätzlich Marcus Stumpf – Katharina Tiemann (Hrsg.), Lokale und regionale Unternehmens- und Wirtschaftsgeschichte als Herausforderung archivischer Überlieferungsbildung. Beiträge des 24. Fortbildungsseminars der Bundeskonferenz der Kommunalarchive (BKK) in Kassel 2015 (Texte und Untersuchungen zur Archivpflege 32), Münster 2016. 11 Tamara Harwich, 5 Jahre Thüringer Wirtschaftsarchiv e.V. – Zum Profil eines regionalen Wirtschaftsarchivs. In: Stumpf – Tiemann (wie Anm. 10) S. 38–51. – Vgl. Angela Toussaint, Entwicklung und Typologie der Wirtschaftsarchive. In: Evelyn Kroker u. a. (Hrsg.), Handbuch für Wirtschaftsarchive. Theorie und Praxis, 2. Auflage, München 2005, S. 9–23. 12 Heike Schroll, Das Archivwesen der Volkswirtschaft der DDR. In: Friedrich Beck – Wolfgang Hempel – Eckart Henning (Hrsg.), Archivistica docet. Beiträge zur Archivwissenschaft und ihres interdisziplinären Umfelds (Potsdamer Studien 9), Potsdam 1999, S. 299–320, hier S. 300. Zum Folgenden: Detlev Heiden, Erschließung von Wirtschaftsschriftgut. In: Hans-Jürgen Höötmann u.a. (Hrsg.), Erschließung von Archivgut, Möglichkeiten und Grenzen kommunaler Archivpflege durch Kreisarchive. Referate des 9. Fortbildungsseminars der Bundeskonferenz der Kommunalarchive (BKK) 2000 in Reetzerhütten (Hoher Fläming) (Texte und Untersuchungen zur Archivpflege 13), Münster 2001, S. 56–70. 13 Archivmitteilungen 1 (1951) S. 8. 10
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mie gegenüber dem staatlichen Archivwesen. Diese endete 1965 mit der rechtlichen Konstruktion des staatlichen Archivfonds, mit der „Verordnung über das staatliche Archivwesen“14 und mit den „Grundsätzen der Wertermittlung“:15 Die Registraturbildner wurden jetzt in drei Wertkategorien eingestuft, aus denen sich staatsarchivische Übernahmeverpflichtungen ableiteten. Acht Jahre später wurde mit einer „Rahmensystematik zur Bewertung der staatlichen Registraturbildner“16 (Teil I: Industrie) festgelegt, welche Betriebsbestände in die Staatsarchive gelangen sollten. Die „Verstaatlichung“ der Betriebsarchive fand 1976 in der „Verordnung über das staatliche Archivwesen“ und ihren Durchführungsbestimmungen17 den konsequenten Abschluss: Die Zuständigkeiten der Staats-, Kreis- und Stadtarchive wurden auf der Grundlage des Territorialprinzips verbindlich festgeschrieben18 – und diese umfassten ausdrücklich auch das vor 1945 entstandene private Wirtschaftsschriftgut. Die bis zur Friedlichen Revolution verbleibenden dreizehn Jahre sollten allerdings nicht mehr ausreichen, um die Übernahmen des volkseigenen oder zumindest des „kapitalistischen“ Wirtschaftsschriftgutes abzuschließen.19 Die 1976 abschließend definierten Zuständigkeiten wurden nach 1989 rechtlich fortgeschrieben: Das Sächsische Archivgesetz bezieht die Archivierungsaufgaben des Staatsarchives für „die Zeit vom 8. Mai 1945 bis zum 2. Oktober 1990“ ausdrücklich auch „auf die Unterlagen der ehemaligen staatlichen oder wirtschaftsleitenden Organe, der Kombinate, Betriebe, Genossenschaften […]“ soweit diese nicht durch kommunale Archive Gesetzblatt der DDR, Teil II, 1965, S. 567–574; Schroll (wie Anm. 12) S. 310. Grundsätze der Wertermittlung für die Aufbewahrung und Kassation von Schriftgut der sozialistischen Epoche in der Deutschen Demokratischen Republik, Potsdam 1965. 16 Rahmensystematik zur Bewertung der staatlichen Registraturbildner. Teil 1: Industrie, Teil 2: Materielle Bereiche außer Industrie, Teil 3: Nichtmaterielle Bereiche, hrsg. von der Staatlichen Archivverwaltung der DDR, Potsdam 1973/74. 17 Gesetzblatt der DDR, Teil I, 1976, S. 165–174. 18 Für die DDR-Bezirke Magdeburg und Halle entfielen auf das Staatsarchiv Magdeburg Anfang 1990 insgesamt 177 Registraturbildner. Uta Thunemann, Bewertung und Übernahme von Schriftgut Volkseigener Betriebe im Zuständigkeitsbereich des Landeshauptarchivs Sachsen-Anhalt. In: Sigrid Fritzlar (Hrsg.), Wert und Last des DDR-Schriftgutes in den Archiven. Ergebnisse der Fachtagung des Landeshauptarchivs Schwerin und des Verbandes der Deutschen Archivarinnen und Archivare 2008 (Findbücher, Inventare und kleine Schriften des Landeshauptarchivs Schwerin 14), Schwerin 2008, S. 88–96, hier S. 89. 19 Vgl. als zeitgenössische Bestandsaufnahme: Reinhard Kluge, Quellen zur Betriebsgeschichte bis 1945 im Bundesarchiv, Abt. Potsdam und in den Staatsarchiven der neuen Bundesländer. In: Archivmitteilungen 41 (1991) S. 70–76. 14 15
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archiviert werden.20 Nach dem Landesarchivgesetz Mecklenburg-Vorpommern ist „Archivgut des Landes […] auch das Archivgut der ehemaligen staatlichen und wirtschaftsleitenden Organe, Kombinate, Betriebe, Genossenschaften und Einrichtungen […] aus der Zeit vom 8. Mai 1945 bis zum 2. Oktober 1990, soweit es in einem staatlichen Archiv archiviert ist.“21 Das Archivgesetz Sachsen-Anhalt wiederum definiert als Landesarchivgut „auch sonstiges Archivgut, das in die Zuständigkeit des früheren Staatsarchivs Magdeburg fiel.“22 Brandenburg und Berlin verzichten auf entsprechende gesetzliche Rückverweise. Für die Zeit ab dem 2. Oktober 1990 bzw. in den „alten“ Bundesländern für die Wirtschaftsüberlieferung insgesamt greifen die landesarchivgesetzlichen Regelungen, nach denen beispielsweise „von juristischen Personen des privaten Rechts“ übernommene oder erworbene archivwürdige Unterlagen Landesarchivgut sind23 und bei öffentlichem Interesse auch privates Archivgut archiviert werden kann.24 Die Unterlagen der Treuhandanstalt bzw. der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) sind im Bundesarchiv nutzbar; die Unterlagen der liquidierten Betriebe fallen in die Zuständigkeit von Landes- bzw. Kommunalarchiven.25 Re c h e r c h e m ö g l i c h k e i t e n Die Nutzungsperspektiven und der Erschließungsstand der Wirtschaftsüberlieferung in den staatlichen Archiven sind vorrangig im Kontext ihrer Onlinerecherchierbarkeit zu betrachten. Die verfügbaren Portalangebote ebnen dabei grundsätzlich einer virtuellen Zusammenführung von Beständen sowie unterschiedlichen Nutzungsinteressen oder Forschungsperspektiven den Weg. Die Suche nach aussagekräftigen Beständen und die Komposition einer archivübergreifenden Vorauswahl können fokussierte Archivnutzungen vorbereiten, wenngleich der aktuelle Stand der Portale teilweise desillusionierend ausfällt.
SächsArchivG § 4 (2). LArchivG M-V § 2 (2). 22 ArchG LSA § 3 (1). 23 ArchG LSA § 3 (1). Vgl. ThürArchivG § 2 (1), BbgArchivG § 14 (3) 3, ArchGB § 3 (2). 24 BayArchivG Art. 4 (4) als Beispiel. Enger gefasst: LArchG Rh-Pf § 6 (3). 25 Das Landesarchiv Sachsen-Anhalt hat z. B. seit 2014 insgesamt 64 Bestände bzw. Bestandsergänzungen im Umfang von 570 lfm übernommen. 20 21
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Einen Eindruck vom Spektrum der engeren, in online zu ermittelnden Unternehmensbeständen nutzbaren Wirtschaftsüberlieferung vermittelt der systematische Blick in die jeweiligen archivischen Eigenangebote.26 Das Alleinstellungsmerkmal staatlicher Archive, deren einschlägige Überlieferung aus nachwirkenden DDR-Zuständigkeitsregelungen resultiert, lässt eine entsprechende Konzentration der Betriebsüberlieferungen erwarten. Das Landesarchiv Sachsen-Anhalt hat die zur Zeit an vier Benutzungsstandorten archivierte Überlieferung bereits 2009 konsequent in einer überarbeiteten und mit vereinheitlichten Bestandssignaturen einhergehenden Tektonik territorial übergreifend integriert. Das seit 2001 verwendete Archivinformationssystem wurde von Beginn an und damit vor der Zusammenlegung dreier Landesarchive als Gesamtlösung modelliert. Die einschlägige Tektonikgruppe „7. Wirtschaft (mit Bergbehörden bis 1990 und Bankwesen)“ untergliedert sich in 16 Wirtschaftszweige, innerhalb derer die Bestände in Ortsreihenfolge dargestellt werden. Private Vorgängerund volkseigene/staatliche Betriebe sind durch numerisch aufeinanderfolgende Bestandssignaturen ersichtlich. Unter das Bankwesen wurden auch staatliche und kommunale Kreditinstitute bis 1945 subsumiert – darunter 19 Reichsbankfilialen, deren Kreditakten besonders nutzungsrelevante Grundinformationen zur regionalen Wirtschaftsgeschichte zusammenführen.27 Bergbaubehörden und Bergwerksbetriebe können in benachbarten Untergruppen recherchiert werden. Die Bahn- und Postüberlieferung findet sich außerhalb der Tektonikgruppe Wirtschaft bei den Reichsbehörden bzw. den zentral unterstellten Einrichtungen und Behörden der DDR, die wirtschaftlichen und berufsständischen Institutionen bilden eine Untergruppe zu „2. Preußische Provinz Sachsen (1816–1944/45)“. Als Beispiele für strukturprägende Bestände aus der Wirtschaftsüberlieferung der DDR-Bezirke Magdeburg und Halle28 sind am Standort Merseburg erwähnenswert die über 2.000 lfm umfassenden Großbestände der chemischen Industrie (VEB Chemiekombinat Bitterfeld, Leuna-Werke Walter Ulbricht, Kombinat VEB Chemische Werke Buna in Schkopau Alle Internetrecherchen erfolgten im Juni 2021, auf Einzelnachweise der aufgerufenen Seiten wird verzichtet. Aus den einzelnen Archiven können im Folgenden nur wenige ausgewählte Bestände benannt werden. 27 Bedeutsam auch die Banküberlieferung der DDR-Zeit, z. B. Staatsbank der DDR, Industriebankfiliale Maschinenbau Magdeburg. 28 Jana Lehmann – Uta Thunemann – Christine Ulrich, Die DDR-Wirtschaftsüberlieferung in Magdeburg und Merseburg. In: Archive in Sachsen-Anhalt 2019, S. 24–27. 26
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und VEB Kombinat Agrochemie Piesteritz), die Bestände der Braunkohlenkombinate Bitterfeld und Großkayna sowie des Mansfeld Kombinates Eisleben. In Magdeburg werden beispielsweise Kombinats- und Betriebsbestände aus dem Schwermaschinen- und Anlagenbau archiviert – vom VEB Schwermaschinenbau „Karl Liebknecht“ über den VEB Magdeburger Armaturenwerke „Karl Marx“ bis zum VEB Schwermaschinenbau „Ernst Thälmann“29 aber auch der Bestand des VEB Kernkraftwerk Stendal. Diese Überlieferungen reichen infolge der erst nach der Friedlichen Revolution abgeschlossenen Übernahmen bis in die 1990er Jahr und beinhalten damit aussagekräftige Quellen für die regionale Transformationsforschung. Die archivierte Überlieferung der privaten Vorgänger beginnt im 19. Jahrhundert und umfasst beispielsweise Unternehmensbestände der IG Farbenindustrie AG, Chemische Werke Bitterfeld, der IG Farbenindustrie AG, Farbenfabrik Wolfen, der Mansfeld AG für Bergbau und Hüttenbetriebe, Eisleben und der Mansfelder Kupferschieferbau AG mit Tochtergesellschaften, der Maschinenfabrik Buckau R. Wolf AG und der Fried. Krupp Grusonwerk AG (beide Magdeburg). Der (online recherchierbare) Erschließungsstand dieser Rückgratbestände reicht drei Jahrzehnte nach der Friedlichen Revolution von zum Teil unerschlossenen oder nur über Ablieferungsverzeichnisse zugänglichen Beständen bis hin zum 58 lfm umfassenden Bestand der IG Farbenindustrie AG, Chemische Werke Bitterfeld, der im Rahmen eines DFG-Projektes30 2020/21 vollständig digitalisiert werden konnte.31 Hinreichende Erschließungsstände eröffnen Nutzungsinteressierten auch den Zugang zu kleineren Betrieben ohne archivierten Unternehmensbestand – die Online-Recherche nach der Bernburger Melasse- und Diese Überlieferung sowie der Vorgängerbestand konnten 2020/21 nach Verständigung mit dem Gesamtvollstreckungsverwalter durch umfassende Übernahmen von Fotos, Akten und Zeichnungen substantiell erweitert werden. 30 Mit der Gründung der IG Farbenindustrie AG wurden die Chemischen Werke Bitterfeld 1925 Teil eines für die deutsche Wirtschaftsgeschichte besonders wirkungsmächtigen Unternehmens. Der Bestand verdichtet zentrale Themen und bildet die mehrfachen Zäsuren unterschiedlicher politischer wie Wirtschaftssysteme ab. https://gepris.dfg.de/gepris/ projekt/415522473 (aufgerufen am 24.6.2021). 31 Auch für die fast 1.000 lfm umfassende Überlieferung der unter verschiedenen Bezeichnungen firmierenden Leuna-Werke sind zumindest die Erschließungsinformationen für die Fotosammlung der Jahre 1916–1928 online recherchierbar – als Einstieg wurden 7.000 Digitalisate veröffentlicht. Aus der Fotosammlung des Kombinats VEB Chemische Werke Buna wurden weitere 983 Fotos aus den Jahren 1952–1964 im Internet veröffentlicht. 29
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Spiritusfabrik Rudloff & Martz beispielsweise führt zu deren Kreditakten bei der Filiale Bernburg der Deutschen Reichsbank und beim Halleschen Bankverein von Kulisch, Kaempf & Co. KGaA, zu Plänen eines Privatgüterwagens in der Reichsbahnüberlieferung und zu einer amtsgerichtlichen Zivilprozesssache. Im Archivportal-D sind ergänzend noch zwei Akten der Deutschen Revisions- und Treuhand AG nachgewiesen.32 Das Sächsische Staatsarchiv33 präsentiert seine Bestände ebenfalls in einer standortübergreifenden (Dresden, Leipzig, Chemnitz und Freiberg) Tektonik mit einer Gruppe „9. Wirtschaft“, die 23 Wirtschaftszweige mit jeweils alphabetischer Gliederung unterscheidet (als Unternehmensbestände z.B.: Auto Union AG, Chemnitz (1910–1948 (1964)), VEB Sachsenring Automobilwerke Zwickau (1904–2005)). Die behördliche und Betriebsüberlieferung des Berg- und Hüttenwesens ist im Bergarchiv Freiberg zusammengeführt. Im Landesarchiv Thüringen ist die Wirtschaftsüberlieferung über sechs Beständeübersichten online recherchierbar. Im Hauptstaatsarchiv Weimar umfasst die Tektonikgruppe Nichtstaatliches Archivgut (Bestände und Sammlungen) auch die Überlieferung von Wirtschaft und Bankwesen, darunter die Reichsbahndirektion Erfurt (1834–1993), die Selbstverwaltungsorgane der Wirtschaft und in systematischer Branchengliederung die Wirtschaftseinrichtungen/Betriebe. In den Untergruppen werden private Betriebe bis 1945 und die staatliche Wirtschaft der DDR zusammengeführt (z.B.: Rheinmetall-Borsig AG, Werk Sömmerda, (1834) 1889–1945, VEB Robotron Büromaschinenwerke Sömmerda, 1953–1991). Einer entsprechenden Systematik folgen auch die Staatsarchive Altenburg, Gotha, Greiz, Meiningen und Rudolstadt. Das Brandenburgische Landeshauptarchiv fasst in seiner Tektonikgruppe Provinz Brandenburg 1806/16–1945 „Wirtschaftliche Unternehmen, wirtschaftliche Verbände, wirtschaftliche Vereine“ unter die nichtstaatlichen Registraturbildner – darunter als Bestandsgruppen „Firmen – A–Z“ zusammen (z. B.: Singer Nähmaschinen AG, Wittenberge, 1882– 1946, oder Tuchfabrik Luckenwalde (Fa. Pariser & Co. und Fa. Fähn drich), 1753–1953, mit einem kleinen VEB-Anteil), „Firmen – Bergbau“ Ein anderes Beispiel: Zur Magdeburger Buckau R. Wolf AG sind im Archivportal-D auch Unterlagen im Bundesarchiv, im Sächsischen Staatsarchiv sowie in nordrhein-westfälischen Archiven nachgewiesen. 33 Vgl. als grundsätzliche Positionierung: Raymond Plache, Das Sächsische Staatsarchiv – Staatsarchiv und Wirtschaftsarchiv zugleich. Eine Rückschau und Standortbestimmung. In: Stumpf – Tiemann (wie Anm. 10) S. 10–22. 32
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und „Firmen – Tuchindustrie“. In der Tektonikgruppe Bezirke Cottbus, Frankfurt (Oder) und Potsdam, 1952–1990, werden „Wirtschaftsleitende Organe, Betriebe“ in einer bezirksübergreifenden Untergruppe zusammengefasst, die weder nach Orten noch nach Industriezweigen untergliedert ist (z.B.: VEB Erdölverarbeitungswerk Schwedt, 1955–1974, oder VEB Forster Tuchfabriken, 1885–2000). In Mecklenburg-Vorpommern ordnet das Landeshauptarchiv Schwerin seine Wirtschaftsüberlieferung bis 1945 der Tektonikgruppe 10. Nichtstaatliches Archivgut zu. Die Tektonikgruppe 7. Bezirke Schwerin, Neubrandenburg und Rostock, 1952–1990, enthält für jeden Bezirk eine Untergruppe Organe, Betriebe und Einrichtungen der Wirtschaft mit weiterer systematischer Untergliederung (z. B. VEB Kombinat Schiffbau Rostock). Das Landesarchiv Berlin34 fasst in seiner Tektonik die Überlieferung der Ost-Berliner Einrichtungen von 1945–1990 als C-Bestände zusammen, darunter auch staatliche Wirtschaftsbetriebe (VVB und VEB) wie das Kombinat VEB NARVA „Rosa Luxemburg, (1918–) 1945–1995. Zu den A-Beständen gehören beispielsweise die A. Borsig Zentralverwaltung GmbH, (1825–) 1836–1945, die Osram GmbH, 1883–1945, oder die Peek & Cloppenburg KG, 1902–1949 (–1959). Eine einheitliche Systematik lassen die Onlineangebote der Landesarchive in den vormals „neuen“ Bundesländern damit nur teilweise erkennen, was die Nutzungsperspektiven für vergleichende Forschung erschwert. Das Bundesarchiv (Recherche über „invenio“) weist in der Tektonik seiner Bestände bis 1945 u. a. die Gruppen „Wirtschaft, Rüstung, Landwirtschaft“ (darunter z. B. Deutsches Kalisyndikat GmbH) und „Post, Verkehr“ auf. Die DDR-Überlieferung umfasst mehrere wirtschaftsbezogene Tektonikgruppen – beginnend mit „Industrie und Bergbau“ (hier auch die Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut). Im älteren „ARGUS“System findet sich als nachgeordnete Behörde des Ministeriums für Chemische Industrie auch der VEB Informationsverarbeitung der chemischen Industrie. Die Ausgangsvoraussetzungen für die Archivierung von Unternehmensbeständen und die Rechercheerwartungen Nutzungsinteressierter fallen in den altbundesrepublikanischen Landesarchiven deutlich anders aus und werden stärker ergänzt bzw. kompensiert durch die Überlieferung in Hier wird zugleich mit entsprechenden Konsequenzen für die Wirtschaftsüberlieferung eine stadtarchivische Funktion wahrgenommen. 34
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Wirtschafts- und Unternehmensarchiven. Welche einschlägigen Tektonikgruppen sind in den archivischen Online-Angeboten bei systematischer Recherche auffindbar? Das Hessische Landesarchiv archiviert im Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (Tektonikgruppe „5 Bestände nichtstaatlicher Herkunft / Organisationen und Einrichtungen / Wirtschaft, Landwirtschaft, Wohnungsbau“) z.B. den 800 lfm umfassenden Bestand Stiftung I.G. Farbenindustrie, 1858–2017. Das Niedersächsische Landesarchiv fasst die vereinzelten „Firmenarchive“ (z. B. Hannover: Firmenarchiv und Nachlass Bernhard Sprengel, 1858–1986; Wolfenbüttel: Ilseder Hütte/Stahlwerke Peine-Salzgitter AG, 1858–1994) als Untergruppe der nichtstaatlichen Bestände unterschiedlicher Bezeichnung (z. B. Bückeburg: „Unternehmen und Wirtschaftsorganisationen“) zusammen. Das Landesarchiv Baden-Württemberg bietet für seine sieben Benutzungsstandorte gesonderte Beständeübersichten. Die Tektonikgruppe „Nichtstaatliche Archive“ verweist im Generallandesarchiv Karlsruhe auf eine kleine Beständegruppe „Firmen“, im Staatsarchiv Freiburg auf die Beständegruppe „Parteien, Verbände, Vereine usw.; NSDAP und NSOrganisationen; Firmen und Unternehmen“. Auch die Staatlichen Archive Bayerns subsumieren einzelne Unternehmensbestände unter das nichtstaatliche Archivgut (Staatsarchive Amberg, Nürnberg und Würzburg). Das Staatsarchiv Bremen fasst seine nach Wirtschaftszweigen gegliederten „Wirtschaftsarchive“ in der Tektonikgruppe „7. Nichtamtliche Überlieferung“ zusammen. Darunter befindet sich auch der Bestand der Bremer Vulkan, 1833–1997, mit der staatsarchivischen Ausnahmesituation eines strukturprägenden Privatunternehmens, dessen Überlieferung nach der Insolvenz bewertet und übernommen werden konnte. Die 256 Wirtschaftsbestände im Staatsarchiv Hamburg gehören zur Untergruppe „Firmen und Familien“ der Tektonikgruppe „6 Vereinigungen und Personen“ (z. B.: Blohm + Voss, 1877–1983, HAPAG-Reederei, 1847–1970) und sind durch Kauf, Schenkung oder als Deposita in das Staatsarchiv gekommen. Das Landeshauptarchiv Koblenz ordnet z. B. den Bestand Weingut und Weingroßhandlung Haussmann, Traben-Trarbach, 1855–1972 unter die Sammlungsbestände ein (Tektonikgruppe E. Nichtstaatliche Archive und Sammlungen).
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Das Landesarchiv Saarland fasst in der Tektonikgruppe „D Parteien, Verbände, Vereine, Firmen- und Werksarchive“ zusammen, zu letzteren zählen die Saarbergwerke AG, 1900–1982, und die Völklinger Hütte / Saarstahl. Ein DFG-gefördertes Digitalisierungsprojekt zielt auf die Onlinestellung von zentralen Beständen zur saarländischen Wirtschaftsgeschichte bis zum Jahre 1890. Die zu digitalisierenden Quellen sollen dabei den Grundstock eines „virtuellen Wirtschaftsarchivs“ bilden. Im Zentrum stehen Akten zum Stand und zur Entwicklung des technischen Betriebes der Gruben im Saarrevier.35 Das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen36 bietet Nutzungsinteressierten separate Beständeübersichten für die Standorte Duisburg, Münster und Detmold. In den Tektonikuntergruppen „Vereine, Verbände, Firmen“ (Detmold) bzw. „Gewerbebetriebe“ (Münster) finden sich auch einzelne wirtschaftsgeschichtlich relevante Unternehmensbestände (Detmold: Möbelfabrik Gebrüder Schlingmann, 1990–1993). Im Landesarchiv Schleswig-Holstein finden sich unter den Sammlungen noch nicht beschriebene private Wirtschafts- und Firmenarchive. Im Gesamteindruck hebt sich die Überlieferungssituation bei den Unternehmensbeständen in den staatlichen Archiven in Hessen, Niedersachsen, Bremen und Hamburg deutlich von der anderer altbundesrepublikanischer Landesarchive ab. Aus der Forschungs- und Nutzungsperspektive bleibt daher festzuhalten, dass mindestens zehn der deutschen Landesarchive relevante Wirtschaftsüberlieferung im engeren Sinne, d. h. Unternehmensbestände archivieren. Die staatlichen Archive agieren mit dieser oft unterschätzten Überlieferung als gleichberechtigter Informationsdienstleister neben den Wirtschafts- und Unternehmensarchiven sowie den Kommunalarchiven. Die divergierenden tektonischen Zuordnungen und die unterschiedlichen Erschließungstraditionen stehen regionalen bzw. auf einzelne Archivsprengel fokussierten Fragestellungen nicht entgegen. Wirtschaftsgeschichtliche Forschungen und vergleichende unternehmensgeschichtliche Fragestellungen (sowie die Verflechtungen einzelner „Zielsetzung, die für die Erforschung der Genese der saarländischen Industrielandschaft zwischen 1830 und 1900 zentralen Akten aus dem Landesarchiv in einem virtuellen Archiv zusammenzutragen“ https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/392523214 (aufgerufen am 24.6.2021). 36 Im sparten- und archivübergreifenden Portal Archive in Nordrhein-Westfalen (archive. nrw.de) sind u. a. auch das Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsarchiv und das Westfälische Wirtschaftsarchiv sowie bedeutsame Unternehmensarchive vertreten. 35
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Betriebsbestände in Konzernzusammenhängen) geraten allerdings rasch in Konflikt mit dem landesarchivischen Nebeneinander. Noch stärker, als dies bereits für den Zugriff auf die aus klaren Zuständigkeiten resultierenden Kernüberlieferungen staatlicher Archive gilt, verlangt eine adäquate Nutzung der Wirtschaftsbestände daher nach konsequent nutzerorientierten Internet-Angeboten. Diese sollten sich nicht auf die jeweiligen archivspezifischen Angebote reduzieren, sondern die Portalperspektiven weiter vorantreiben. Archivportale Das 2014 freigeschaltete Archivportal-D fungiert in Deutschland als zentraler Archivzugang. Hier sind auch Wirtschafts- und Unternehmensarchive vertreten – allerdings nur in Einzelfällen mit Findmitteln (darunter drei regionale Wirtschaftsarchive sowie das Historische Archiv Krupp).37 Digitalisate sind hier trotz einer hohen Zahl von Vorschaubildern nicht enthalten. Die Filter „Archivalientyp“ oder „Schlagworte“ führen nur unsystematisch zur Wirtschafts- und insbesondere zur Unternehmensüberlieferung, die Begrenzung auf die Verzeichnungsstufe Bestand ermöglicht beispielsweise eine Recherche nach VEBs. Die Möglichkeiten einer archivübergreifenden Recherche nach einzelnen Unternehmen wurden bereits benannt, weitaus komplexer stellen sich dagegen eine sachthematische Herangehensweise und die daraus resultierenden Anforderungen an die inhaltliche Erschließung dar. Die angeführte Merseburger Gewerberegistratur enthält mit 41 Akten zur Verunreinigung verschiedener Gewässer für die Umweltgeschichte relevante Quellen, die bei einer tektonikbasierten Recherche einfach auffindbar sind. Einschlägige Akten liegen im Landesarchiv Sachsen-Anhalt u.a in den Beständen des Oberpräsidenten, der Landratsämter und in der bergbaulichen Überlieferung vor. Im Archivportal-D führt der Suchbegriff „Verunreinigung“ zu weiteren Suchresultaten beim Bundesarchiv und bei anderen Landesarchiven. Einen qualitativen Ausbau erfährt das Archivportal-D mit dem prototypischen Themenportal Weimarer Republik.38 Dieses ermöglicht durch 17 https://www.archivportal-d.de/ (aufgerufen am 19.6.2021). Mit dem Aufbau einer Infrastruktur zur Implementierung sachthematischer Zugänge im Archivportal-D soll eine spartenspezifische, forschungsnahe Recherche in den Erschließungsdaten und Digitalisaten von Archiven durch Anreicherung archivischer Erschlie37 38
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Oberkategorien und zugeordnete Themenbereiche über das kontrollierte Vokabular der Schlagwörter die gezieltere Recherche einschließlich einer etwaigen geographischen Eingrenzung. Leider führt die Oberkategorie „Wirtschaft und Finanzen“ bisher nicht zu Unternehmensbeständen – und auch ein Themenbereich Umwelt fehlt noch. Die Normdatensätze der DNB bieten strukturierte Sucheinstiege und erleichtern die Vernetzung zwischen verschiedenen Informationssystemen, was die Sicht- und Nutzbarbarkeit archivischer Erschließungsinformationen bzw. digitalisierten Archivgutes erhöht.39 Das Themenportal Weimarer Republik (und künftige Angebote z. B. für das 19. Jahrhundert oder die DDR-Geschichte) könnte bereits durch konsequente Erweiterung um Themenbereiche bzw. Schlagwörter systematische Sucheinstiege in die Wirtschaftsüberlieferung staatlicher Archive ermöglichen. Künftige Weiterungen um sachthematische Zugänge werden den verwahrenden Archiven wie allen Nutzungsinteressierten nicht nur aus der Forschung mittelfristig eine erhebliche Qualitätsverbesserung in der Zugänglichkeit der Wirtschaftsüberlieferungen eröffnen. Insbesondere ließen sich in einem solchen Szenario auch Unternehmensbestände in staatlichen wie in nichtstaatlichen Archiven in systematischer Ordnung virtuell zusammenführen. Zu hoffen bleibt, dass der gelungene Einstieg des Themenportals Weimarer Republik in den nächsten Jahren entsprechende Angebote nach sich zieht und archivspartenübergreifende Kooperationen anregt. Als weitere relevante Portalzugänge sollen die Deutsche Digitale Bibliothek und das europäische Archivportal zumindest erwähnt werden. Die DDB weist bei der einfachen, auf Objekte mit Digitalisat beschränkten Volltextsuche nach „Wirtschaft Sachsen-Anhalt“ unter den ersten Treffern Einträge der Universitäts- und Landesbibliothek Halle (Saale), des Deutschen Historischen Museums Berlin sowie einen Treffer aus den Firmenakßungsdaten mit Indexbegriffen aus einem übergreifenden Referenzvokabular ermöglicht werden. Angestrebt wird eine Infrastruktur, die eigene Themenzugänge durch Forschung und Archive ermöglicht. https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/396707386 (aufgerufen am 24.6.2021). 39 Die „Schlagwörter werden durch die Verwendung eines kontrollierten Vokabulars semantisch und durch die Einordnung in die betreffenden Ober- und Unterkategorien thematisch festgelegt. […] Die Verwendung eines kontrollierten Vokabulars erhöht die Übereinstimmung von ‚Gemeintem‘ und ‚Beschriebenem‘, indem anhand der Verknüpfung zur GND eine Definition des verwendeten Schlagwortes immer mitgeliefert wird.“ Handbuch zur Aufbereitung von Archivgut für das Themenportal zur Weimarer Republik, S. 6. https://cms.archivportal-d.de/sites/default/files/media/document/2021-04/Guideline%20zur%20 Verschlagwortung.pdf (aufgerufen am 26.6.2021).
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ten der IHK Halle aus. Zu einem stärker auf Archive ausgerichteten, wenn auch unstrukturierten Ergebnis führt die Suche nach Erschließungsdaten ohne Digitalisat. Durch den Objekttyp bzw. die Sparte lässt sich die Suche sogar gezielt auf Archive hin orientieren. Eine alternative Suche nach „VEB Sachsen-Anhalt“ leitet auch zu digitalisierten Objekten des Berliner Museums Europäischer Kulturen. Fotos der Leuna-Werke hat nicht nur das Landesarchiv Sachsen-Anhalt online gestellt, sondern auch das Deutsche Historische Museum und die Deutsche Fotothek in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden. Die DDB verschließt sich einer strukturierten Recherche, kann aber für spezifische Fragestellungen den Blick über die Archivsparte hinaus erweitern und fragmentierte Überlieferungen virtuell zusammenführen.40 Ähnlich gestaltet sich eine Suche über das Portal Archive in Europa. Eine Suche nach den Leuna-Werken führt zum Amsterdamer Instituut voor Oorlogs-, Holocaust- en Genocidestudies, die Recherche nach der Ilseder Hütte zu den Historical Archives of the European Union. Auch hier können alternative Recherchen also abseits gelegene Nutzungsmöglichkeiten eröffnen. Trotz der anerkennenswerten Entwicklung der Portalangebote bleibt der systematische Zugriff auf die Wirtschaftsüberlieferung in den staatlichen Archiven und deren virtuelle Verknüpfung mit Wirtschafts- und Unternehmensarchiven eine prioritäre Aufgabe für den Ausbau der Informationsinfrastruktur. Ein überzeugendes methodisches Vorgehen offeriert das prototypische Themenportal Weimarer Republik – ein anderes vorbildliches Projekt wurde bereits 2000 erstmals freigeschaltet. Das Verzeichnis der Wirtschaftsbestände in Archiven der Schweiz und Liechtensteins (arCHeco) umfasst mit Zugriffsmöglichkeiten z.B. nach „Art des Bestandes“ (Firma, Privatnachlass, Verband, Verwaltung), Orten, Branchen, Aktenbildner und „Art des Archivs“ (Firmenarchive, kantonale Archive, Bundesarchiv, Stadt- und Gemeindearchive, Spezialarchive und Verbandsarchive) 2000 Bestände von Firmen, Verbänden, Behörden und Personen in 119 Archiven.41 Qualifizierte Einstiegsinformationen bereitet arCHeco Als weitere Beispiele für nicht-archivische Ergänzungen der staatsarchivischen Unternehmensbestände: Auto Union AG, VEB Robotron, Osram GmbH, Ilseder Hütte, Bremer Vulkan und Völklinger Hütte. 41 Zum Selbstverständnis: „In der Schweiz besteht ein Defizit in der Überlieferung, Zugänglichkeit und Auswertung von Quellen zur Wirtschaftsgeschichte. arCHeco ist ein Arbeitsinstrument für die wirtschaftshistorische Forschung. Zudem sensibilisiert es Unternehmungen sowie Archivarinnen und Archivare für den Wert von Wirtschaftsarchiven und 40
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für wirtschafts- und unternehmensgeschichtliche Forschungsvorhaben archivspartenübergreifend überzeugend auf. Die Nachweise und Rechercheergebnisse beschränken sich allerdings, anders als im Archivportal-D, auf die Bestandsebene. E r s c h l i e ß u n g u n d Nu t z u n g Der enge Zusammenhang zwischen online verfügbaren Erschließungsergebnissen und der Nutzungsintensität bestätigt sich auch für die Wirtschaftsüberlieferung in den staatlichen Archiven. In seiner Tektonikgruppe „7. Wirtschaft“ führt das Landesarchiv Sachsen-Anhalt insgesamt 778, auf vier Benutzungsstandorte verteilte Bestände mit einem (Akten-) Gesamtumfang von mehr als 12.500 lfm systematisch zusammen. Die Reichsbahnbestände umfassen weitere knapp 1200 lfm. Der Anteil der Wirtschaftsbestände an der Gesamtüberlieferung liegt damit bei mehr als einem Viertel. Online recherchierbar waren davon Ende 2020 immerhin 230.000 Verzeichnungseinheiten (d. h. 18 % des Gesamtdatenbestandes), denen 156.000 Digitalisate zugeordnet waren. Insgesamt engen evidente Erschließungsrückstände die Nutzungsperspektiven der Wirtschaftsüberlieferung spürbar ein, denn mit verknappten Personalressourcen konnten in drei Jahrzehnten die nach der Friedlichen Revolution erfolgten Übernahmen nur unzulänglich erschlossen werden.42 Im Landesarchiv Sachsen-Anhalt erreichten die Unternehmens- und Betriebsbestände am Standort Merseburg 2018–20 einen Anteil von 30 % der im Lesesaal zur Benutzung vorgelegten Akten (bei einem Anteil von 40 % an der hier archivierten Überlieferung), in Dessau waren es 10 % aller ausgehobenen Archivalien (Anteil an den Beständen: 17 %) und weitere 28 % bei der Reichsbahnüberlieferung (18 %). In Magdeburg dagegen entfielen lediglich 2 % der benutzten Akten auf Unternehmens- und Betriebsbestände (Anteil am Gesamtumfang der archivierten Überlieferung: 17 %). Diese Verteilung, die nicht aus der wirtschaftsgeschichtlideren Nutzung im internen Wissensmanagement, zu Marketingzwecken und als Quellen der Geschichtsschreibung.“ https://www.archeco.info/index.php/faq. – Noch im Aufbau befindet sich das deutsche Wirtschaftsarchivportal (WAP) http://www.wirtschaftsarchivportal. de/index/faq (beide aufgerufen am 25.6.2021). 42 Im Landesarchiv Sachsen-Anhalt wurden 2020 für die SBZ-/DDR-Zeit gut 9.000 lfm Betriebs- und Bankbestände archiviert. Vgl. Plache (wie Anm. 33) S. 14: „1990 brach auch angesichts des entstandenen Übernahmerückstaus eine regelrechte Flut an Wirtschaftsunterlagen über die staatlichen Archive der neuen Länder herein.“
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chen Relevanz der jeweiligen Überlieferung abzuleiten ist, korreliert mit den verfügbaren Rechercheangeboten43 und unterstreicht die strategische Notwendigkeit, die online gestellten Erschließungsergebnisse konsequent auszubauen. Erschließungstraditionen und -perspektiven Der Blick auf ausgewählte Betriebs- und Unternehmensbestände in den deutschen Landesarchiven lässt (wie auch bei staatlichen Verwaltungsunterlagen) die föderalen Spezifika in den Erschließungstraditionen und -praktiken erkennen. Eine systematische Analyse kann hier nicht geleistet werden. Aus der benutzungssimulierenden Perspektive einer Zufallsstichprobe seien nur die folgenden Anmerkungen gemacht: In den vormals „neuen“ Bundesländern dominieren nicht nur im Landesarchiv Sachsen-Anhalt an einem gemeinsamen „Ordnungsmodell“ ausgerichtete Erschließungsergebnisse,44 während die Unternehmensbestände in den altbundesrepublikanischen Landesarchiven heterogeneren Ordnungsprinzipien unterworfen werden. Die „fachliche Erfolgsgeschichte“45 des traditionsverhafteten Ordnungsmodells erfordert den Blick auf seine Genese. Eine adäquate Erschließung der Wirtschaftsüberlieferung setzt die Berücksichtigung der inhärenten Spezifika voraus. Während in der klassischen Aktenkunde Meisnerscher Prägung das Schriftgut der Wirtschaft kaum eine Rolle spielt, betrat Erich Neuss 1954 mit dem ersten Teil seiner „Aktenkunde der Wirtschaft“ zweifelsohne „Neuland“,46 ohne seine In Magdeburg waren Ende 2020 zu den Unternehmensbeständen zwei Datensätze pro lfm online recherchierbar, in Merseburg acht (hier ist der Leuna-Bestand trotz der bisher begrenzten Recherchemöglichkeiten bereits jetzt der meistbenutzte Wirtschaftsbestand) und in Dessau 44 (sowie 45 für die Bahnbestände – z.B. mit Intensiverschließung der Pläne im Bestand der Reichsbahndirektion Halle). 44 IG Farbenindustrie AG, Chemische Werke Bitterfeld, 1878–1956: „Das Werksarchiv des Chemiekombinates realisierte die Verzeichnung überwiegend durch nichtarchivarische Hilfskräfte, die dadurch mit Mängeln behaftet ist. […] 2011 erfolgte eine Retrokonversion des Findbuches, in deren Ergebnis die Angaben formal überarbeitet, einige Aktentitel aber auch verändert bzw. neu gebildet wurden. Eine komplette Überarbeitung/Neuerschließung des Bestandes wurde im Interesse einer schnellen Zugänglichmachung zurückgestellt.“ http://recherche.landesarchiv.sachsen-anhalt.de/Query/detail.aspx?id=7311 (aufgerufen am 28.6.2021). 45 Plache (wie Anm. 33) S. 18. 46 Erich Neuss, Aktenkunde der Wirtschaft. Teil I: Kapitalistische Wirtschaft, Berlin 1954, S. 7. Vgl. auch: Wilfried Reinighaus, Das Archivgut der Wirtschaft. In: Kroker (wie Anm 11) S. 61–98. – Zum Folgenden: Heiden (wie Anm. 12) S. 59 ff. 43
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grundsätzliche Anlehnung an Meisner zu leugnen. Vor dem Hintergrund der Entscheidung für volkseigene Betriebsarchive wollte er den Betriebsund Wirtschaftsarchivaren in der DDR „ein Hand- und Lehrbuch zur Verfügung […] stellen“, das ausdrücklich auch westdeutsche Unternehmens-, Staats- und Kommunalarchivare ansprach.47 Neuss‘ Werk bleibt als aktenkundliche Grundlage bei der Erschließung von Wirtschaftsbeständen unverzichtbar. Ein Teil II, der die volkseigene Wirtschaft der Jahre 1945– 1955 analysierte, erschien 1956 als letztlich verfrühte Fortschreibung,48 in der die Entwicklungen der drei folgenden Jahrzehnte unberücksichtigt bleiben mussten. Das Desiderat einer mit historischer Distanz zur zeitlich begrenzten Episode staatssozialistischer Wirtschaft erarbeiteten Aktenkunde erschwert nicht nur die Erschließung, die mit häufig problematischen Aktenbildungen umzugehen hat,49 sondern auch die als Resultat von umfassenden „Notübernahmen“ teilweise unabdingbaren Nachbewertungen. Die bis heute auch in neueren landesarchivischen Erschließungsrichtlinien wirkungsmächtigen „Ordnungs- und Verzeichnungsgrundsätze für die staatlichen Archive der Deutschen Demokratischen Republik“ (OVG)50 beziehen das Wirtschaftsschriftgut konsequent mit ein, unterwerfen es allerdings ideologischen Prämissen: Die Gesellschaftsepochen bilden „das oberste Gliederungsprinzip für die Tektonik“ (§ 9) – mit eindeutigen Festlegungen im Hinblick auf die „Abgrenzung der Bestände von Vorgängern und Nachfolgern“: „Die Bestandstrennung und -abgrenzung beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus“ werde „entsprechend dem tektonischen Einschnitt zwischen diesen Gesellschaftsepochen in der Regel einheitlich im Jahre 1945 vorgenommen“ (§ 33). Die komplizierten Übergänge vom Privat- in das Volkseigentum mit Treuhandverwaltungen, SAGs oder Betrieben mit staatlicher Beteiligung widersetzten sich jedoch schematischem Dogmatismus,51 wovon die onNeuss (wie Anm. 46) S. 9. Erich Neuss, Aktenkunde der Wirtschaft. Teil II: Volkseigene Wirtschaft (1945–1955), Berlin 1956, S. 7. 49 Lehmann – Thunemann – Ulrich (wie Anm. 28) S. 25. 50 Staatliche Archivverwaltung (Hrsg.), Ordnungs- und Verzeichnungsgrundsätze für die staatlichen Archive der Deutschen Demokratischen Republik, Potsdam 1964. 51 Ein Anfang der 1980er Jahre erarbeiteter branchenspezifischer Ordnungsentwurf setzte folgerichtig erst 1952 ein, weil in den Vorjahren „noch verbreitet aus der kapitalistischen Epoche überkommene Betriebsstrukturen fortbestanden“. Staatsarchiv Magdeburg, Ordnungsschema für die Betriebe und Kombinate des Industriezweiges Schwermaschinenund Anlagenbau, 1952–1983, Magdeburg 1983, S. 1. 47 48
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line recherchierbaren Erschließungsergebnisse zu VEB-Beständen in staatlichen Archiven auch im vierten Jahrzehnt nach der Friedlichen Revolution einen Eindruck vermitteln. Das Landesarchiv Sachsen-Anhalt vollzog eine Bestandstrennung zwar in der Regel 1945 bzw. zum Abwicklungs-/ Stilllegungszeitpunkt. Allerdings erfolgte 1990 nur in Ausnahmefällen die Abgrenzung zu einem weiteren Bestand (SKET Maschinen- und Anlagenbau AG, Magdeburg, 1990–1994), so dass die doppelte Transformation von Verstaatlichung und Privatisierung unterschiedlich abgebildet wird. Ähnliche Überschreitungen der „Gesellschaftsepochen“ lassen sich auch im Sächsischen Staatsarchiv (VEB IFA-Kombinat Personenkraftwagen Karl-Marx-Stadt und Nachfolger, (1932–1945) 1951–2000, oder im Brandenburgischen Landeshauptarchiv (VEB Forster Tuchfabriken, 1885–2000) beobachten. Der Blick auf die Ordnungsschemata anderer Bestände kann bei häufig in einem weder geordneten noch vollständigen Zustand an die Archive gelangten Betriebs- und Unternehmensüberlieferungen effiziente Erschließungsprojekte vorstrukturieren, die sich an fachlicher best practice orientieren und Nutzungsinteressierten durch Vergleichsmöglichkeiten und Standardisierung die Zugänge erleichtern. Auch das in der DDR 1979 abgeschlossene (bereits erwähnte) „Ordnungsmodell für Bestände kapitalistischer Industriebetriebe“52 kann bei flexibler, auf die Besonderheiten des jeweiligen Bestandes abgestimmter Verwendung Anregungen liefern. Die Entstehungszusammenhänge dieses Modells bleiben ambivalent: Die 1976 gesicherte Übernahme der „kapitalistischen“ Überlieferung aus den Verwaltungsarchiven der Volkseigenen Betriebe in die Staatsarchive erzeugte einen verspäteten Bewertungs- und Erschließungsdruck. Das in diesem Zusammenhang entwickelte „Bewertungsmodell für den Registraturbildnertyp Kapitalistischer Industriebetrieb“ reagierte auf die heterogene Überlieferungslage der privaten VEB-Vorgänger. Bewertungs- und Ordnungsmodell wurden eng aufeinander abgestimmt und sollten alle Aufgabenbereiche kapitalistischer Industriebetriebe des 19. und 20. Jahrhunderts abdecken. Das einheitliche Ordnungsschema umfasste sieben Hauptgruppen: „Leitung und Organisation”, „Lage und Kampf der Arbeiter und anderen Werktätigen des Betriebes“, „Finanzen und Vermögen“, „Forschung und Entwicklung“, „Produktion“, „MateriStaatliche Archivverwaltung, Bewertungsmodell für den Registraturbildnertyp Kapitalistischer Industriebetrieb. Ordnungsmodell für Bestände kapitalistischer Industriebetriebe. Erarbeitet vom Staatsarchiv Magdeburg, Potsdam 1979. 52
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alwirtschaft“ sowie „Absatz und Werbung“. Die einzelnen Sachgruppen sollten unter Rückgriff auf die detaillierteren Angaben des Bewertungsmodells weiter untergliedert werden. Der realen Vielfalt in den Organisationsstrukturen kapitalistischer Unternehmen konnte das Ordnungsmodell nur eingeschränkt und vereinfachend entsprechen. Aus der Benutzerperspektive kann es jedoch im Kontext portalbasierter Recherchen bestandswie archivübergreifende Forschungen erleichtern. Und trotz ideologischer Instrumentalisierungsversuche fielen die Sachgruppen des Ordnungsmodells so aufgabenorientiert aus, dass sie mit geringen Korrekturen auch nach der Friedlichen Revolution weiter angewandt wurden: Aus „Lage und Kampf der Arbeiter …“ beispielsweise wurden die „Personal- und Sozialangelegenheiten“. Die Orientierung am „Ordnungsmodell“ stößt allerdings an die Grenzen einer Überlieferung, die so gut wie nie die gesamte archivwürdige Überlieferung eines kapitalistischen Industriebetriebes umfasst und alle Sachgruppen abdeckt.53 Handels- und steuergesetzliche Aufbewahrungsfristen haben viel stärker als archivische Bewertungsüberlegungen die Zusammensetzung des aus den Betrieben übernommenen Schriftgutes geprägt. Nu t z u n g s p e r s p e k t i v e n d e r V E B - B e s t ä n d e Noch weitaus schwieriger als für die kapitalistischen (die immer auch den vergleichenden Blick auf Wirtschafts- und Unternehmensarchive zulassen) stellen sich die Erschließungsaufgaben für die vormals volkseigenen Betriebe dar. Mit deren Bearbeitung muss die archivische Hinterlassenschaft des schon nach wenigen Jahrzehnten gescheiterten staatssozialistischen Wirtschaftssystems für künftige Auswertungen geöffnet werden. Mit dem Zusammenbruch der DDR und dem Ende ihres wirtschafts- wie unternehmensgeschichtlichen Sonderweges haben sich die archivischen Bewertungsmaßstäbe verschoben. Dies hatte Auswirkungen auf nachholende Übernahmen von VEB-Unterlagen seit den späten 1990er Jahren. Ideologisch bestimmte Vorgaben bedurften der fachlichen Korrektur und vormals zur Kassation freigegebenes Schriftgut erlangte Archivwürdigkeit. Die exemplarische Dokumentation unterschiedlichster Facetten volkseigenen Wirtschaftens umfasste auch die Widersprüche und Widerständigkei-
Vgl. Christel Grunert, Die kapitalistischen Betriebe im Staatsarchiv Magdeburg. Eine Bestandsinformation. In: Archivmitteilungen 39 (1989) S. 42–45, hier S. 45. 53
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ten im Alltag der Individuen, wie sie sich in Personalakten widerspiegeln konnten oder Spuren in den sog. Neuerervorschlägen hinterließen. Eine Gesamtkonzeption für die Ordnung und Verzeichnung der Volkseigenen Betriebe wurde in der Spätphase der DDR nicht mehr entwickelt. Ende 1989 endete in der Erschließung der sozialistischen Betriebsbestände eine lange Einstiegs- und Experimentierphase abrupt. Nach der Friedlichen Revolution standen für die Staatsarchive umfangreiche Übernahmen unter teils außergewöhnlichen Bedingungen sowie völlig neue Rechercheanforderungen auf der Tagesordnung. Die Bestände des VEB F. A. Brockhaus Verlag Leipzig, 1941–1993, im Staatsarchiv Leipzig, des VEB (B) Landbaukombinat Potsdam, 1964– 1984, im Brandenburgischen Landeshauptarchiv oder des VEB Bergbau- und Hüttenkombinat Calbe (Saale), 1950–1970, im Landesarchiv Sachsen-Anhalt sind drei Beispiele für online recherchierbare VEB-Überlieferungen mit unterschiedlichen, im Vergleich zum „Ordnungsmodell“ für die kapitalistischen Betriebe sichtlich spezifischeren Gliederungen. Für weitere Erschließungsvorhaben lässt sich aber nicht allein auf bereits abgeschlossene Projekte zurückgreifen: In einer Reihe von Archiven liegen konzeptionelle Vorentwürfe vor bzw. wurden praktische Erfahrungen reflektiert. Wirkungsmächtig war, gewissermaßen als Vorstufe eines (VEB-) Ordnungsmodells, vor allem ein 1982 von der Staatlichen Archivverwaltung als Bewertungshilfsmittel herausgegebenes Rahmenarchivgutverzeichnis,54 dessen Archivgutpositionsliste strukturunabhängig nach Aufgabenbereichen gegliedert wurde und in der Praxis auch als Ordnungsgrundlage Anwendung fand: Die Hauptgruppen reichen von Leitung und Organisation, Recht, Arbeit, Kader, Bildung bis zu Produktion und Absatz.55 Was immer noch fehlt, sind konkretere und branchenbezogene (Nach-) Bewertungs- und Erschließungsmodelle, die die Gesamtentwicklung der DDR-Wirtschaft bis zu ihrer Abwicklung umfassen. Eine moderate archivübergreifende Standardisierung (sowie intensiverer Erfahrungsaustausch) könnte die Erschließungs- und Nutzungsperspektiven auch der vormals volkseigenen Betriebsbestände angemessen voranbringen und dazu beitragen, für die Forschungen zur DDR-Wirtschafts- und Sozialgeschichte wie zu den (initialen wie finalen) Transformationsphasen eine Rahmenarchivgutverzeichnis für den Bereich Industrie 1949–1975, Potsdam 1982. Dazu kamen 1976–85 Archivgutverzeichnisse unter anderem für Planung, Rechnungsführung und Statistik sowie Arbeit und Löhne. 1986 erschien das „Rahmenverzeichnis für die vereinfachte Kassation typischer Schriftgutkategorien“ (RVK). 54 55
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aussagekräftige Quellengrundlage anzubieten.56 Die Annäherung an eine Überlieferung, die in den einzelnen Landesarchiven beachtliche Dimensionen erreicht, wird nur bei konsequenterer archivischer Portalorientierung und der Vernetzung staatlicher Wirtschafts- bzw. Unternehmensüberlieferungen mit den korrespondierenden Beständen in kommunalen sowie in Unternehmens- und Wirtschaftsarchiven eine Erfolgsgeschichte werden, die für künftige Forschungen den Weg ebnet. Für die DDR-Geschichte sind im Übrigen die gegenseitigen Abhängigkeiten von Wirtschaft, Staat und Partei immer mitzudenken – zu jeder dieser drei Säulen öffnen die Landesarchive der vormals „neuen“ Länder ihre Bestände der Nutzung.
In einer neueren Überblicksdarstellung finden weder die „volkseigenen Betriebe“ noch die Transformationsphase Beachtung (und auch das Stichwort „Archiv“ fehlt): Werner Plumpe, Unternehmensgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 94), Berlin-Boston 2018. 56
Frauen ins Archiv! Über die Notwendigkeit Nachlässe von Frauen zu archivieren Von Rainer Hering 1. Einleitung In der Eröffnungsveranstaltung des 8. Bayerischen Archivtages in Schwandorf zum Thema „Pflicht oder Kür? Nachlässe, Sammlungen, Verbandsschriftgut“ am 9. März 2013 betonte die Generaldirektorin der Staatlichen Archive, Margit Ksoll-Marcon, wie wichtig die Übernahme von Nachlässen und Verbandsschriftgut sowie der Aufbau von Sammlungen seien.1 Im Einführungsvortrag stellte der Präsident des Bundesarchivs, Michael Hollmann, fest, dass der Erwerb von Nachlässen eine Pflichtaufgabe sei. Diese böten wichtige Informationen, die über die Aussagekraft der staatlichen bzw. kommunalen Überlieferung hinausgehen, z.B. zeigen sie Netzwerke und Freundschaften auf und lassen Motive für Entscheidungen erkennbar werden. Konkret verwies er auf die parteiübergreifende Freundschaft zwischen dem Sozialdemokraten Helmut Schmidt (1918–2015) und dem Christdemokraten Rainer Barzel (1924–2006). Viele kultur- und geistesgeschichtliche Entwicklungen lassen sich gerade durch Nachlässe dokumentieren. Zudem belege die intensive Benutzung von Nachlässen deren Überlieferungsnotwendigkeit. In Einzelfällen lassen sich durch die Nachlassarchivierung staatliche Dokumente wieder in die staatliche Überlieferung zurückführen.2 Der Direktor des Hauptstaatsarchivs, Bernhard Grau, hat mit Recht darauf hingewiesen, dass mit der zunehmenden Demokratisierung von Staat und Verwaltung „Privatpersonen, aber auch die von diesen getragenen Zusammenschlüsse und Vereinigungen einen wachsenden Einfluss auf das staatliche Handeln und die gesellschaftliche Entwicklung, auf die OrgaChristian Kruse, 8. Bayerischer Archivtag in Schwandorf befasst sich mit Nachlässen, Sammlungen und Verbandsschriftgut. In: Archive in Bayern 8 (2014) S. 83–93, hier S. 83. Für wichtige Anregungen danke ich Bettina Dioum, Ole Fischer und Dietmar Schenk, für ihre bewährte Unterstützung bei der Literaturbeschaffung danke ich Anja Steinert sehr herzlich. 2 Michael Hollmann, Die Welt ist bunt. Nicht-staatliche Bestände in staatlichen Archiven – Pflicht oder Kür? In: Archive in Bayern 8 (2014) S. 147–156. 1
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nisation öffentlicher Interessen und den öffentlichen Diskurs“ gewannen. „Diese für eine lebendige Demokratie lebenswichtigen Aktivitäten erlangten für die Entwicklung von Staat und Gesellschaft“ vielfach zentrale Bedeutung.3 Um es auf den Punkt zu bringen: Die Archivierung von privaten Unterlagen stellt eine urdemokratische Aufgabe dar. Nachlässe bereichern die historische Überlieferung und Forschung, da sie das persönliche Umfeld der Nachlassgebenden ebenso wie deren Handlungen, Motive, Gedanken und persönliche Präferenzen dokumentieren. Sie sind daher für die Alltags- und Mentalitätsgeschichte von Bedeutung, lassen aber auch eine individuelle Sicht auf politische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen zu. Damit ergänzen sie die offizielle, amtliche oder institutionelle Überlieferung, die viele Bereiche menschlichen Lebens nicht oder nicht in dieser Perspektive erfassen kann. Das gilt auch für die Archivgeschichte.4 Margit Ksoll-Marcon ist mit dem Thema Nachlässe bzw. nichtstaatliches Archivgut wohl vertraut. Sie selbst hat für ihre Dissertation über die wirtschaftlichen Verhältnisse des bayerischen Adels von 1600 bis 1679, dargestellt an den Familien Törring-Jettenbach, Törring zum Stain sowie Haslang zu Haslangkreit und Haslang zu Hohenkammer Familienarchive herangezogen.5 Sie hat sich u.a. erfolgreich für die Übernahme des Nachlasses des viel zu früh verstorbenen Kollegen Bodo Uhl (1943–2017) in das Bayerische Hauptstaatsarchiv eingesetzt und das entsprechende Dokumentationsprofil für Bayern initiiert.6 Bernhard Grau, Geleitwort. In: Verzeichnis der Nachlässe im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Bearb. von Sylvia Krauss u.a. (Bayerische Archivinventare 58), München 2019, S. 11–14, hier S. 11. 4 Natascha Noll, Nachlass. In: Archivschule Marburg: Terminologie der Archivwissenschaft. (https://www.archivschule.de/uploads/Forschung/ArchivwissenschaftlicheTerminologie/ Terminologie.html, aufgerufen am 16.9.2019). – Vgl. auch Rainer Hering, Die Bedeutung von Nachlässen für die Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. In: Auskunft 40 (2020) S. 70–93, Jochen Rath, Vom Nutzen (und Nachteil?) der Nachlässe in Archiven. In: Archivpflege in Westfalen-Lippe Nr. 67 (2007) S. 33–39. 5 Margit Ksoll, Die wirtschaftlichen Verhältnisse des bayerischen Adels 1600–1679 dargestellt an den Familien Törring-Jettenbach, Törring zum Stain sowie Haslang zu Haslangkreit und Haslang zu Hohenkammer (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 83), München 1986. Ebenfalls mit Nachlassunterlagen erarbeitet: Dies., Die Reise des Johann Georg Korb nach Russland in den Jahren 1698 und 1699. In: Alois Schmid (Hrsg.), Bayern und Russland in vormoderner Zeit. Annäherungen bis in die Zeit Peters des Großen (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 42), München 2012, S. 349–361. 6 Margit Ksoll-Marcon, Bodo Uhl geb. 7. Januar 1943 München, gest. 21. Juni 2017 Freising. In: Archivar 70 (2017), Heft 4, S. 480. – Kruse (wie Anm. 1) S. 84. – Bernhard 3
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2 . Na c h l ä s s e : B e w e r t u n g , E r s c h l i e ß u n g , Re c h e r c h e 2.1 Analoge Nachlässe Während im juristischen Sinne das ganze Vermögen einer verstorbenen Person mit dem Begriff Nachlass bezeichnet wird, wird der Begriff im archivischen oder bibliothekarischen Sinne allein auf deren schriftliche Unterlagen, die in der Regel in einem Archiv, einer Bibliothek oder einem Museum überliefert werden, angewendet.7 Eckhart G. Franz definiert den Nachlass als „die nachgelassene private Registratur einer Persönlichkeit“. Angelika Menne-Haritz betont, dass diese privaten Unterlagen „als Archivgut zusätzlich zu den von Ablieferungsansprüchen“ betroffenen Unterlagen der Abgabebehörden in Archive übernommen werden. Im Lexikon Archivwesen der DDR werden Nachlässe als „Einheitsbestände“ angesehen, die alle Unterlagen eines Registraturbildners umfassen, und die „gesellschaftliche Wirksamkeit“ einer Person hervorgehoben: „Von besonderem Wert für die gesellschaftswissenschaftliche Forschung sind die N[achlässe] der Klassiker des Marxismus-Leninismus, hervorragender Arbeiterführer und leitender Persönlichkeiten der sozialistischen Gesellschaft“.8 Bei Künstlerinnen und Künstlern umfasst der Nachlass neben den Werken
Grau, Sammlungs- und Dokumentationsprofile – Eine Einführung aus Sicht der staatlichen Archive. In: Archive in Bayern 8 (2014) S. 157–175. – Gespräch mit Dr. Bernhard Grau in München am 3. Februar 2020. 7 Zur Begrifflichkeit Nachlass, nachlassen, Nachlassenschaft, Nachlaz: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Leipzig 1889, Nachdruck Band 13, München 1984, 85–89. Hierzu und zum Folgenden Noll (wie Anm. 4). Bedeutend waren zu diesem Thema 2004 zwei Tagungen in Thüringen (Archive in Thüringen Sonderheft 2004) und ein Expertengespräch im Institut für Zeitgeschichte in München am 1. März 2012, vgl. Sylvia Krauss, Expertengespräch Nachlässe. Tagung im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte. In: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 62 (2012) S. 14. – Christian Petrzik, Nachlässe in Archiven. Ein Expertengespräch im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte. In: Archive in Bayern 7 (2012) S. 518–522, und in: Archivar 65 (2012) S. 295–298. – Auf dem 58. Deutschen Archivtag wurden Nachlässe intensiver thematisiert, vgl. Der Archivar 40 (1987) Sp. 41–62. 8 Eckhart G. Franz, Einführung in die Archivkunde. Ergänzt und fortgeführt von Thomas Lux, 9., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Darmstadt 2018, S. 96–99, das Zitat S. 96. – Angelika Menne-Haritz, Schlüsselbegriffe der Archivterminologie. Lehrmaterialien für das Fach Archivwissenschaft (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 20), Marburg 1992, S. 50. – Lexikon Archivwesen der DDR. Hrsg. von der Staatlichen Archivverwaltung des Ministeriums des Innern der DDR, Berlin 1979, S. 204 f.
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auch Unterlagen zu deren Entstehung und zu den lebensgeschichtlichen Kontexten des Schaffensprozesses.9 Terminologisch wird vom Nachlass der Vorlass abgegrenzt, der bereits zu Lebzeiten einer Person archiviert wird und mit deren Tod dann zum Nachlass wird. Ist ein Nachlass auf verschiedene Einrichtungen aufgeteilt, wird von Teilnachlass gesprochen. Weiterhin wird u.a. von Heinrich Otto Meisner differenziert zwischen „echten Nachlässen“, die nur aus einer Provenienz stammen, und „angereicherten Nachlässen“, die durch Unterlagen fremder Herkunft nachträglich ergänzt wurden. Als „unechte Nachlässe“ werden gezielt angelegte Sammlungen personenbezogener Art bezeichnet.10 Die konkreten Inhalte eines Nachlasses sind durch die private, berufliche und gesellschaftliche Tätigkeit der Nachlassgebenden bestimmt. Im Erwerbungsprofil des Bayerischen Hauptstaatsarchivs heißt es wörtlich dazu: „Sie beinhalten authentische Zeitzeugnisse in Form von Tagebüchern und Lebenserinnerungen, Notizen, Korrespondenzen, Manuskripten, Fotos, Filmen und Tondokumenten bis hin zu Flugblättern, Plakaten und digitalen Unterlagen; somit ermöglichen sie unmittelbare Ein-
Vgl. zum Kontext: Dietmar Schenk, Künstler-Archive – ein Sammlungsziel? Zur Sammlungsstrategie des Archivs der Universität der Künste Berlin. In: Wolfgang Müller (Hrsg.), Dokumentationsziele und Aspekte der Bewertung in Hochschularchiven und Archiven wissenschaftlicher Institutionen. Beiträge zur Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare am 23. und 24. März 2006 an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken (Universitätsreden 73), Saarbrücken 2007, S. 93–106. – Ders., Kleine Theorie des Archivs, Stuttgart 2008, S. 96–99. – Nora Mathys, Welche Fotografien sind erhaltenswert? Ein Diskussionsbeitrag zur Bewertung von Fotografennachlässen. In: Der Archivar 60 (2007) S. 34–40. – Der Gang der Dinge. Welche Zukunft haben photographische Archive und Nachlässe? Hrsg. von Christiane E. Fricke, Berlin 2013. – Zu Nachlässen in kirchlichem Kontext z.B. Josef Urban (Redaktion), Nachlässe (Beiträge zum Archivwesen der Katholischen Kirche Deutschlands 3), Speyer 1994. – Johann Tomaschek, Nachlässe in Archiven. Unter besonderer Berücksichtigung der Archive von Klöstern und Ordensgemeinschaften. In: Scrinium 59 (2005) S. 78–87. 10 Heinrich Otto Meisner, Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918, Göttingen 1969, S. 62–69. Kenntnisreich dazu: Dietmar Schenk, Wie sich Archiv und Sammlung unterscheiden. Einführung in das Provenienzprinzip. In: Ders., Archivkultur. Bausteine zu ihrer Begründung, Stuttgart 2022, S. 65–75, erste Fassung Ders., How to Distinguish between Manuscripts and Archival Records. A Study in Archival Theory. In: Manuscripts and Archives. Comparative Views on Record-Keeping. Ed. by Alessandro Bausi – Christian Brockmann – Michael Brockmann – Michael Friedrich – Sabine Kienitz (Studies in Manuscript Cultures 11), Berlin-Boston 2018, S. 3–17. 9
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blicke in das Denken und Handeln der betreffenden Personen und ihrer Kommunikationspartner“.11 Archivgeschichtlich ist bemerkenswert, dass aus den Jahren vor dem 18. Jahrhundert seltener Nachlässe archivisch überliefert sind; vielmehr sind sie als Teil der Überlieferung einer Familie, eines Gutes o.ä. zu finden. Ältere private Dokumente sind in Archiven zwar vorhanden, werden aber meist nicht als Nachlass bezeichnet. Seit dem 18. Jahrhundert werden Nachlässe zunächst vor allem von Bibliotheken oder im privaten Rahmen gesammelt, in Archiven setzt die Nachlasssicherung im 19. Jahrhundert ein. Heute besitzen wohl weitgehend alle Archive auch Nachlässe, die durch Kauf, als Depositum oder in der Regel als Schenkung dorthin gelangen.12 Der Grad der archivischen Aktivität bei der Anwerbung von privaten Unterlagen hängt zumeist von den personellen Ressourcen, aber auch der archivpolitischen Zielsetzung und der Größe des Archivsprengels ab.13 Das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen hat feste Kriterien zur Nachlassübernahme entwickelt und nimmt gezielt die Überlieferung im Verbund in den Blick.14 Thomas Paringer, Archivierung von Nachlässen im Bayerischen Hauptstaatsarchiv: Erwerbungsprofil (https://www.gda.bayern.de/fileadmin/user_upload/Medien_fuer_Unterseiten/ BayH;StA_Erwerbungsprofil-Nachlaesse.pdf, aufgerufen an 17.1.2021). 12 Zur Bedeutung rechtlicher Regelungen bei Nachlässen vgl. die Berichterstattung von Christine Axer, Thomas Notthoff und Kristina Starkloff „Von der Aufbewahrung zur Archivierung? Rechtliche Fragen bei Nutzung und Bearbeitung von Nachlässen“ in Archivar 68 (2015), Heft 4, S. 350–351. 13 Für eine aktive Übernahmepraxis, die alle gesellschaftlichen Bereiche abdeckt, und die Formulierung klarer Überlieferungsziele plädiert Christian Schlöder, Überlieferungsprofil für nichtamtliches Archivgut im Niedersächsischen Landesarchiv. Überlegungen und Empfehlungen für die archivische Praxis (E-Papers der Archivschule Marburg 7), Marburg 2019, bes. S. 26. 14 Überlieferungsprofil „Nichtstaatliches Archivgut“. Erarbeitet im Rahmen der abteilungsübergreifenden Dienstbesprechung „Nichtstaatliches Archivgut“ des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf 2011, bes. S. 17–23. (https://www.archive.nrw.de/sites/default/files/media/files/%C3%9Cberlieferungsprofil-NSA-v1.1-November2020.pdf, aufgerufen am 27.1.2021). Vgl. Nachlässe – neue Wege der Überlieferung im Verbund. Gemeinsame Frühjahrstagung FG 1 und FG 6 für alle Fachgruppen im VdA. Hrsg. von Clemens Rehm – Monika Storm – Andrea Wettmann (Veröffentlichungen des Sächsischen Staatsarchivs A 17), Halle/Saale 2014. – Ragna Boden, Steuerung der Nachlassübernahme mittels Übernahmekriterien. In: Volker Hirsch (Hrsg.), Archivarbeit – die Kunst des Machbaren. Ausgewählte Transferarbeiten des 39. und 40. wissenschaftlichen Kurses an der Archivschule Marburg (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 47), Marburg 2008, S. 47–79. – Gisela Fleckenstein, Ein Nachlass für das Historische Archiv der Stadt Köln? Übernahmekriterien und Bewertung auf der Grundlage eines Dokumentationsprofils. In: 11
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Da bei Nachlässen keine festen Zuständigkeiten bestehen, ist es von zentraler Bedeutung, dass sie archivübergreifend recherchierbar sind. 1966 wurde an der Staatsbibliothek Berlin die Zentralkartei der Autographen (ZKA) errichtet, in der Autographen und Nachlässe von Schriftstellerinnen und Schriftstellern institutionsübergreifend erfasst wurden. Um 1970 wurden gedruckte Übersichten von Ludwig Denecke für Bibliotheken und Wolfgang A. Mommsen für Archive vorgelegt. Heute stehen – laufend aktualisiert – die Onlinedatenbanken Kalliope (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin) und die Zentrale Datenbank Nachlässe (ZDN, Bundesarchiv) für die übergreifende Recherche zur Verfügung.15 Letztlich
Nichtamtliches Archivgut in Kommunalarchiven. Beiträge des 19. Fortbildungsseminars der Bundeskonferenz der Kommunalarchive (BKK) in Eisenach 2010. Teil 1: Strategien, Überlieferungsbildung, Erschließung. Hrsg. von Marcus Stumpf – Katharina Tiemann (Texte und Untersuchungen zur Archivpflege 24), Münster 2011, S. 22–37. Für ein Erwerbungsprofil plädiert auch Jaques van Rensch, Überfluss und Knappheit. Auswahl bei der Übernahme und der Bewertung von Nachlässen und Privatarchiven. In: Internationales Archivsymposion in Maastricht (2014). Bewertung und Überlieferungsbildung. Annalen. Redaktion: Els Herrebout (Miscellanea Archivistica Studia 211), Brüssel 2015, S. 29–36. 15 Wolfgang A. Mommsen (Bearb.), Die Nachlässe in den deutschen Archiven (mit Ergänzungen aus anderen Beständen) (Verzeichnis der schriftlichen Nachlässe in deutschen Archiven und Bibliotheken 1; zugleich: Schriften des Bundesarchivs 17/1), Teil 1, Boppard a. Rhein 1971, Teil 2, Boppard a. Rhein 1983. – Ludwig Denecke (Bearb.), Die Nachlässe in den Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland, 2. Auflage völlig neu bearbeitet von Tilo Brandis (Verzeichnis der schriftlichen Nachlässe in deutschen Archiven und Bibliotheken 2; zugleich: Schriften des Bundesarchivs 17/2), Boppard a. Rhein 1981, völlig neu bearb. Aufl. München-Berlin-New York 1996 [zuerst 1969]. – Manuela Lange, Die zentrale Datenbank Nachlässe. In: Archiv und Wirtschaft 44 (2011) S. 117–121, Langfassung in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 56 (2011) S. 739–755. – Wolf Buchmann – Michael Hollmann, Die „Zentrale Datenbank Nachlässe“ und das Projekt eines Verbundfindmittels für Nachlässe in Deutschland. In: Frank M. Bischoff (Hrsg.), Benutzerfreundlich – rationell – standardisiert. Aktuelle Anforderungen an archivische Erschließung und Findmittel. Beiträge zum 11. Archivwissenschaftlichen Kolloquium der Archivschule Marburg (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 46), Marburg 2007, S. 323–336. – Gunnar Teske, Von Mommsen bis Kalliope. Zentrale Nachweise von Nachlässen. In: Archivpflege in Westfalen-Lippe Nr. 67 (2007) S. 28–33. – Ewald Grote, Die kooperative Erschließung von Autographen und Nachlässen im digitalen Zeitalter. Probleme und Perspektiven. In: Bibliothek Forschung und Praxis 30 (2006) S. 283–289. – Ders., Kooperative Erschließung von Handschriften und Nachlässen. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 53 (2006) S. 234–243 und S. 291–299 (besonders zur historischen Entwicklung). – Karljosef Kreter, Kalliope meets Mommsen – Autograph trifft Nachlass. Annäherungen zwischen Nachlässen und Autographensammlungen. In: Archiv-Nachrichten Niedersachsen 7 (2003) S. 89–98.
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wäre eine sinnvolle Zusammenführung beider Hilfsmittel wünschenswert.16 Grundsätzlich sollten Nachlässe nicht geteilt und an verschiedene Institutionen gegeben werden, weil so u.a. der Kontext, die Querverbindungen, aber auch der Gesamteindruck der Vielfalt einer Person verlorengehen.17 Die Wahrung des Provenienzprinzips sollte auch hier im Vordergrund stehen. Nicht nur bei Politikerinnen und Politikern sowie Hochschullehrenden können Abgrenzungsprobleme zwischen dem privaten Nachlass auf der einen und der amtlichen und/oder institutionellen Überlieferung auf der anderen Seite bestehen, weil die jeweiligen Registraturen nicht immer stringent getrennt geführt wurden oder werden sollten.18 Für die Erschließung von Nachlässen bestehen keine überall verbindlichen Grundsätze, da es in Bibliotheken und Archiven historisch gewachHollmann (wie Anm. 2) S. 152. Kritisch zu einer formalistischen Denkweise Dietmar Schenk, Darf das Archivale beim Verzeichnen gelesen werden? In: Antje Kalcher – Dietmar Schenk (Hrsg.), Archive zur Musikkultur nach 1945. Verzeichnis und Texte (Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit), München 2016, S. 64–70, überarbeitet in: Ders.: Archiv und Geschichte (wie Anm. 9). 17 Sinnvoll ist es, z.B. nach Beschaffenheit innerhalb eines Archivs Unterlagen unterschiedlich aufzubewahren. Das Bundesarchiv z.B. hat in seinem Sammlungsprofil vorgesehen, Bücher von Nachlassgebenden ohne relevante Einträge und Anmerkungen in die Dienstbibliothek zu geben, vgl. Sammlungsprofil Nachlässe und Bewertung von Nachlässen und Persönlichen Papieren. Leitlinien für die Archivierung im Bundesarchiv vom 5. Juli 2007 (https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Downloads/Anbieten/sammlungsprofil-nachlaesseabtb.pdf?__blob=publicationFile, aufgerufen am 2.2.2021). Vgl. Manuela Lange – Gregor Pickro, Sammlungsprofil Nachlässe und Bewertung von Nachlassbeständen. In: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv 1/2008, Sp. 56–59. 18 Vgl. beispielswiese die leider (noch) nicht publizierten Beiträge des Forums Archivrecht 2018 der Archivschule Marburg: Die Archivierung amtlicher Unterlagen in Parteiarchiven – sinnvoll und zulässig? (https://www.archivschule.de/DE/forschung/forumarchivrecht/, aufgerufen am 2.2.2021). – Jürgen König, Probleme der Bestandsabgrenzung im Zusammenhang mit Nachlässen im Landeskirchlichen Archiv, namentlich am Beispiel der Landesbischöfe Hans Meiser und Hermann Dietzfelbinger. In: Archive in Bayern 8 (2014) S. 125–139. – Thomas Becker u.a., Dokumentationsprofil für Archive wissenschaftlicher Hochschulen. Eine Handreichung, Saarbrücken 2009, bes. S. 49–53. – Max Plassmann, Das Dokumentationsprofil für Archive wissenschaftlicher Hochschulen. In: Archivar 62 (2009) S. 132–137. Zu rechtlichen Aspekten: Persönlichkeitsschutz in Archiven der Hochschulen und wissenschaftlichen Institutionen. Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 im Verband Deutscher Archivarinnen und Archivare e.V. 2012. Hrsg. von Eva-Marie Felschow – Katharina Schaal (Wissenschaftsarchive 2), Leipzig 2013. – Reinhard Heydenreuter, Der Rechtsfall. In: Der Archivar 42 (1989) Sp. 135–144. – Stefan Bröckers, Umgang mit dem Nachlass verstorbener Wissenschaftler. (https://www.dfn.de/rechtimdfn/rgwb/wissensbasis/wb5/nachlass/, aufgerufen am 2.2.2021). 16
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sene und daher unterschiedliche Traditionen gab und gibt.19 Archivarinnen und Archivare verstehen die Nachlassgebenden als Bestandsbildner einer geschlossenen Überlieferung. Erschlossen wird in der Regel auf der Aktenstufe, Einzelblattverzeichnungen sind die große Ausnahme – die Provenienz steht im Vordergrund. Dietmar Schenk hat mit Recht darauf hingewiesen, dass ein Nachlass keine „bloße Anhäufung von Einzelheiten, sondern ein zusammenhängendes Ganzes“ ist. Daher darf dessen Erschließung „im Interesse der Integrität und Authentizität der Unterlagen nicht einem sekundären, vorarchivisch noch nicht vorhandenen Zweck angepasst werden.“ Im Blick auf Literaturarchive – und das darf nicht in Vergessenheit geraten – betont er, diese „formieren, ob sie es nun wollen oder nicht, durch ihre Arbeit eine exklusive Gesellschaft der als archivwürdig anerkannten Autoren.“20 Bibliotheken dagegen stellen die Verfasserschaft in den Vordergrund, d.h. sie erschließen in der Regel einzelne Autographen bzw. Dokumente, vor allem Briefe. Darüber hinaus ist die Erschließung dort einheitlicher geregelt als in Archiven durch die „Regeln für die Erschließung von Nachlässen und Autographen“ (RNA).21 2019 wurden sie fortgeschrieben, auch für Archive, mit dem Titel Ressourcenerschließung mit Normdaten in ArchiVgl. zuletzt das Themenheft Erschließung 2/2020 des Archivar 73 (2020) S. 126–154. In den Staatlichen Archiven Bayerns wurden 2020 neue Verzeichnungsrichtlinien in Kraft gesetzt: Richtlinien zur Verzeichnung von Archivgut der Staatlichen Archive Bayerns Version 1.0. Bearb. von Christoph Bachmann – Renate Herget – Maria Stehr – Michael Unger, München 2020 (https://www.gda.bayern.de/fileadmin/user_upload/Medien_fuer_ Unterseiten/Verzeichnungsrichtlinien_11__Version_1.0_-14.pdf, aufgerufen am 27.1.2021). Vgl. Michael Unger, Neue Verzeichnungsrichtlinien für die Staatlichen Archive Bayerns. In: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 78 (2020) S. 12 f. Beide Bereiche vergleichend: Janet Dilger, Bibliothekarische und archivische Nachlasserschließung – Methoden und Findmittel. BA-Arbeit im Studiengang Bibliotheks- und Informationsmanagement an der Hochschule der Medien, Stuttgart 2009. Dies., Bibliothekarische und archivische Nachlasserschließung: der historische „Kompetenzstreitfall“. In: Archiv und Wirtschaft 44 (2011) S. 67–74. 20 Dietmar Schenk, Getrennte Welten? Über Literaturarchive und Archivwissenschaft. In: Petra-Maria Dallinger – Georg Hofer – Bernhard Judex (Hrsg.), Archive für Literatur. Der Nachlass und seine Ordnungen (Literatur und Archiv 2), Berlin-Boston 2018, S. 13–29, die Zitate S. 23, 22 und 25. – Vgl. auch Kai Sina – Carlos Spoerhase (Hrsg.), Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750–2000 (Marbacher Schriften Neue Folge 13), Göttingen 2017. 21 Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen (RNA). Deutsche Forschungsgemeinschaft Unterausschuß für Nachlaßerschließung, Berlin 1997. – Zuletzt: Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen (RNA). Betreut von der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz und der Österreichischen Nationalbibliothek 19
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ven und Bibliotheken (RNAB) für Personen-, Familien-, Körperschaftsarchive und Sammlungen.22 Hier erscheint eine vertiefte Diskussion im Archivwesen sinnvoll.23 In diesem Kontext ist eine Weiterentwicklung der Gemeinsamen Normdatei (GND ) von Bibliotheken und Archiven hilfreich, um Informationen eindeutig zu vernetzen.24
Wien. Stand 4.2.2010 (http://docplayer.org/3329-Regeln-zur-erschliessung-von-nachlaessenund-autographen-rna.html, aufgerufen am 27.1.2021). 22 Ressourcenerschließung mit Normdaten in Archiven und Bibliotheken (RNAB) für Personen-, Familien-, Körperschaftsarchive und Sammlungen. Richtlinie und Regeln. Version 1.0, Frankfurt am Main 2019 (https://d-nb.info/1186104252/34, aufgerufen am 27.1.2021). 23 Vgl. Jürgen Treffeisen, Archivische Grundsätze der Nachlasserschließung. In: Frank M. Bischoff (Hrsg.), Benutzerfreundlich – rationell – standardisiert. Aktuelle Anforderungen an archivische Erschließung und Findmittel. Beiträge zum 11. Archivwissenschaftlichen Kolloquium der Archivschule Marburg (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 46), Marburg 2007, S. 299–322. – Hans Jürgen Höötmann, Grundzüge eines standardisierten Klassifikationsschemas für Nachlässe. In: Archivpflege in Westfalen-Lippe Nr. 60 (2004) S. 4–8. – Eberhard Illner, Probleme der Nachlaßerschließung. In: Archivische Erschließung – Methodische Aspekte einer Fachkompetenz. Beiträge des 3. Archivwissenschaftlichen Kolloquiums der Archivschule Marburg (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 30), Marburg 1998, S. 95–107. – Brigitta Nimz, Die Erschließung von Nachlässen in Bibliotheken und Archiven. In: Archivpflege in Westfalen und Lippe Nr. 45 (1997) S. 43–49. – Dagmar Jank (Hrsg.), Die Nachlaßerschließung in Berlin und Brandenburg: Probleme und Perspektiven. Protokoll einer Tagung der Fachhochschule Potsdam am 25. Juni 1997 zum Siebzigsten Geburtstag von Friedrich Beck (Potsdamer Studien 8), Potsdam 1997. – Hermann Schreyer, Die Gliederung von Nachlässen – ein Beitrag über Ordnungsarbeiten an Nachlaß-Schriftgut. In: Archivmitteilungen 12 (1962) S. 14–20. Aus bibliothekarischer Sicht: Johannes Rogalla von Bieberstein, Zum Sammeln und Erschließen von Nachlässen. Ein Situationsbericht. In: Der Archivar 38 (1985) Sp. 307–316. – Sigrid v. Moisy, „Werft jenen Wust verblichner Schriften ins Feuer …“ Gedanken zu Archivierungswürdigkeit, Kassation und Erschließungstiefe von Nachlässen aus der Praxis der Bayerischen Staatsbibliothek. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 33 (2008) S. 135–149. 24 „Diese Normdaten repräsentieren und beschreiben Entitäten, also Personen, Körperschaften, Konferenzen, Geografika, Sachbegriffe und Werke, die in Bezug zu kulturellen und wissenschaftlichen Sammlungen stehen.“ In der GND erhält jede Entität „einen eindeutigen und stabilen Bezeichner (GND-ID). Die Normdaten können dadurch sowohl untereinander als auch mit externen Datensätzen und Webressourcen verknüpft werden. Auf diese Weise entsteht ein organisationsübergreifendes, maschinell auswertbares Datennetzwerk“ (https://www.dnb.de/DE/Professionell/Standardisierung/GND/gnd_node.html, aufgerufen am 30.1.2021).
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2.2 Digitale Nachlässe Die Archivwissenschaft muss sich zeitnah intensiver mit digitalen Nachlässen auseinandersetzen; hybride Überlieferung wird immer mehr zum Regelfall.25 Unser Alltag wird immer digitaler, Kommunikation erfolgt vielfach über Email, SMS, Messengerdienste, soziale Medien etc., Bankgeschäfte laufen online, Informationen werden (ausschließlich) online angeboten, z.B. auf Internetseiten und in Profilen der Sozialen Netzwerke, Fotos und Filme werden nur noch digital aufgenommen. Eigene Texte werden heute zumeist mit Computern geschrieben und primär digital abgespeichert. Immer mehr Menschen produzieren also immer mehr digitale Unterlagen, die sich auf ihren Datenträgern aber auch online, z.B. in Clouds, befinden. Diese Informationsquellen gehören ebenfalls zum Nachlass und können vererbt werden, wie der Bundesgerichtshof festgestellt hat.26 Der digitale Nachlass umfasst das gesamte digitale Vermögen, d.h. Daten, Zugangsdaten und die dadurch bestehenden Rechtsverhältnisse, z.B. den Abschluss digitaler Abonnements oder Streamingdienste. Sie alle werden wie klassische Vermögenswerte vererbt. Vererbt werden aber auch alle datenschutzrechtlichen Pflichten, denen die Erblasserin bzw. der Erblasser unterlag. Für die Archivarinnen und Archivare heißt das, bei der Übernahme von Vorlässen bzw. bei Gesprächen über Nachlässe nach digitalen Unterlagen, Programmen und ggf. Zugangsdaten zu fragen und entsprechende Regelungen zu vereinbaren – ggf. können Passwörter in verschlossenem Umschlag hinterlegt werden. Zugleich muss geklärt werden, welche Unterlagen in welcher Form archiviert werden sollen, z.B. Emails, Einträge in sozialen Medien, Messengerdienste etc. Was für Behördenüberlieferung klar ist, gilt auch für private Unterlagen, Firmenarchive, Sammlungen und
Hierzu und zum Folgenden Marcel Kubis u.a., Der digitale Nachlass. Eine Untersuchung aus rechtlicher und technischer Sicht. 27. Dezember 2019. Hrsg. vom Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie, Darmstadt 2019. – Zusammenfassend: Marcel Kubis, Datenspuren im Netz. Den digitalen Nachlass im Blick. In: Forschung & Lehre 27 (2020) S. 834 f. – Fabian Baumheuer, Werden wir alle zu digitalen Zombies? In: Data[re] port 2. Quartal 2020, S. 10–14. – Gaby Pfyffer, Personennachlässe im digitalen Zeitalter sichern. Was braucht es von Seite der Archive? In: Informationswissenschaft, Theorie, Methode und Praxis 6 (2020) S. 28–43. 26 Bundesgerichtshof (BGH) Az. III ZR 183/17. Vgl. Hannes Ludyga, Der digitale Nachlass – zivilrechtliche Aspekte. In: Juris. Die Monatszeitschrift 12/2016, S. 442–447. 25
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Nachlässe: Die Vorfeldarbeit muss einen zentralen Raum einnehmen, damit die Archivierung im digitalen Zeitalter überhaupt möglich wird. Auf absehbare Zeit wird der hybride Nachlass dominieren, d.h. neben analogen Unterlagen ist auch mit Datenträgern zu rechnen. Dabei ist zu überlegen, inwieweit Doppelüberlieferungen sinnvoll oder zu reduzieren sind. Der Zeitaufwand für einen Einzelabgleich von Dateien und ausgedruckten Schriftstücken ist sehr hoch und vermutlich nicht sinnvoll. Die Entscheidung, nur eine mediale Überlieferung zu übernehmen, spart zwar Ressourcen, beinhaltet aber die Gefahr eines gravierenden Überlieferungsverlustes. Zudem bieten analoge und digitale Sicherung selbst bei der Gefahr von Dubletten ganz unterschiedliche Auswertungs- und Nachnutzungsmöglichkeiten. Das Bayerische Hauptstaatsarchiv hat bereits als ersten hybriden Nachlass den der grünen Landtagsabgeordneten Ruth Paulig übernommen, die stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Umwelt und Verbraucherschutz sowie umweltpolitische Sprecherin ihrer Fraktion war.27 3 . Na c h l ä s s e i m Ba y e r i s c h e n H a u p t s t a a t s a r c h i v Das Bayerische Archivgesetz vom 22. Dezember 1989 bestimmt in Artikel 2 Absatz 1 Satz 1: „Archivgut sind alle archivwürdigen Unterlagen einschließlich der Hilfsmittel zu ihrer Nutzung, die bei Behörden, Gerichten und sonstigen öffentlichen Stellen oder bei natürlichen Personen oder bei juristischen Personen des Privatrechts erwachsen sind.“ Weiter heißt es in Artikel 4 Absatz 4 Satz 1: „Die staatlichen Archive können auf Grund von Vereinbarungen oder letztwilligen Verfügungen auch privates Archivgut archivieren, soweit daran ein öffentliches Interesse besteht.“ Damit ist die rechtliche Grundlage für die Übernahme nichtstaatlicher Unterlagen und somit auch von Nachlässen klar gegeben.28 Bereits vor der Einführung von Archivgesetzen in der Bundesrepublik wurde die Bedeutung von Nachlässen erkannt und 1979 durch eine Empfehlung der Kultusministerkonferenz unterstützt: „Zu den kulturellen Zeugnissen eines Landes gehören neben den Werken der Literatur und Gespräch mit Dr. Bernhard Grau am 3. Februar 2020 in München. Ich danke ihm für zahlreiche wertvolle Hinweise. 28 Bayerisches Archivgesetz (BayArchivG) vom 22. Dezember 1989 (GVBl. S. 710, BayRS 2241-1-WK), das durch § 16a des Gesetzes vom 16. Dezember 1999 (GVBl. S. 521) geändert worden ist. 27
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Kunst auch Nachlässe von Schriftstellern, Publizisten, Gelehrten, Künstlern und Musikern. Es muß deshalb als notwendige öffentliche Aufgabe angesehen werden, solche kulturellen Nachlässe angemessen zu sammeln, zu pflegen, zu erschließen und öffentlicher Nutzung zugänglich zu machen.“29 Das Bayerische Hauptstaatsarchiv ist dieser Aufgabe schon lange zuvor nachgekommen und verfügt nun über mehr als 500 Nachlässe mit 520.000 Archivalieneinheiten und ca. 3,8 lfd. Kilometern Umfang, das sind umfangsmäßig acht Prozent und zahlenmäßig 14 Prozent der Überlieferung. Seit 2005 hat sich die Zahl der Nachlässe und Familienarchive verdoppelt. Unter den Nachlassgebenden finden sich viele Angehörige des vormals regierenden Hauses Wittelsbach, viele Staatsminister, führende Staatsbeamte, Militärs, Journalisten, NS-Täter und NS-Opfer. Mit der Übernahme des Sudetendeutschen Archivs 2007 kamen in den nunmehr über 1,8 lfd. Kilometern Unterlagen in großem Umfang auch Nachlässe von Vertriebenen und Funktionären der Sudetendeutschen Landsmannschaft, für die der Freistaat Bayern die Patenschaft übernommen hatte, dorthin. Das Spektrum der Nachlassgebenden umfasst viele überregional bekannte Persönlichkeiten, z.B. Mitglieder der Weißen Rose – Willy Graf (1918–1943), Christoph Probst (1919–1943) und Alexander Schmorell (1917–1943) –, die Verleger Julius Friedrich Lehmann (1864–1935) und Hugo Bruckmann (1863–1941), Minister bzw. Ministerpräsidenten wie Maximilian Graf von Montgelas (1759–1838), Gustav von Kahr (1862– 1934) oder Dr. Hans Ehard (1887–1980), den Reichswirtschaftsminister Dr. Eduard Hamm (1879–1944), das einflussreiche Mitglied des Parlamentarischen Rates, Dr. Anton Pfeiffer (1888–1957), Wissenschaftler wie Prof. Karl Alexander von Müller (1882–1964), aber auch die Nachlässe der für die Geschichte der Bayreuther Festspiele im 20. Jahrhundert bedeutsamen Persönlichkeiten Wieland (1917–1966) und Wolfgang Wagner (1919–2010). Besonders stark nachgefragte Nachlässe sind die des Begründers der Partei der Republikaner, Franz Schönhuber (1923–2005), und des früh verstorbenen ersten Grünen-Bürgermeisters in Bayern, Sepp DaxenberEmpfehlung der Kultusministerkonferenz für das Sammeln von Nachlässen in Bibliotheken und Literaturarchiven und ähnlichen Einrichtungen. Beschluss der KMK vom 14.9.1979. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 27 (1980) S. 354–356, das Zitat S. 354. Interessanterweise werden Archive hier nur singulär benannt. 29
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ger (1962–2010). Als wichtige Militärangehörige sind überliefert Konrad Krafft von Dellmensingen (1862–1953), Franz Xaver von Epp (1868– 1947) oder Hermann Kriebel (1876–1941), als bedeutende Sudetendeutsche Rudolf Lodgman von Auen (1877–1962), Dr. Walter Becher (1912– 2005) und Johann Böhm (*1937). Über 20 Nachlässe von Archivaren, bislang nur Männer, werden ebenfalls dort verwahrt, vor allem von Direktoren und Generaldirektoren, wie z.B. Walter Jaroschka, (1932–2008), Heinz Lieberich (1905–1999), Ivo Striedinger (1868–1943), Josef Franz Knöpfler (1877–1963) und Otto Riedner (1879–1937).30 Die Familienarchive des bayerischen Adels werden dagegen vorwiegend in den bayerischen Staatsarchiven verwahrt.31 Wurden im Vorstehenden ausschließlich Nachlässe von Männern genannt, so ist es in unserem Zusammenhang wichtig zu betonen, dass im Bayerischen Hauptstaatsarchiv auch wichtige Nachläse von Frauen verwahrt werden, Dazu zählen nicht nur die der Königinnen und Prinzessinnen aus dem Hause Wittelsbach, sondern auch diejenigen erfolgreicher Politikerinnen, wie die CSU-Abgeordnete Mathilde Berghofer-Weichner, langjährige Justizpolitikerin und stellvertretende Ministerpräsidentin, die SPD-Mitglieder Maria Günzl und Hildegard Kronawitter oder Grünenpolitikerinnen wie Ruth Paulig oder Barbara Rütting, außerdem die Nachlässe vieler Frauen aus der sudetendeutschen Volksgruppe.32 Das Hauptstaatsarchiv übernimmt und archiviert Nachlässe und – wenn sie mehrere Generationen umfassen – Familienarchive, wie es im Erwerbungsprofil heißt, „soweit deren dauerhafte Aufbewahrung und Zugänglichmachung für die Forschung im öffentlichen Interesse liegt“. Verstanden werden sie als „individuelle, subjektiv geprägte historische Freundliche Mitteilung von Dr. Thomas Paringer vom 5. Februar 2021, dem ich für seine Auskünfte herzlich danke. Weitere Archivarsnachlässe stammen von Fritz Gerlich, Gerhard Heyl, Edgar Krausen, Max Joseph Neudegger, Hans Oberseider, Albert Pfeiffer, Hans Pregler, Georg Thomas Rudhard, Georg Schrötter, Klemens Stadler, Friedrich Leonhard Tretter, Wilhelm Winkler, Fritz Zimmermann und Bernhard Zittel. 31 Verzeichnis der Nachlässe (wie Anm. 3). – Hans Kratzer, Kostbare Einblicke in die Geschichte. In: Süddeutsche Zeitung vom 3.5.2019. – Thomas Paringer, Analog und digital, schwarz und grün, gut und böse: die Vielfalt der Nachlässe im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. In: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 78 (2020) S. 42 f. – Bernhard Grau, Adelsarchivpflege in Bayern. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 56 (2011) S. 703–737. – Freundliche Mitteilung von Dr. Bernhard Grau vom 20. Dezember 2019. 32 Joachim Glasner, Nachlass Barbara Rütting erschlossen. In: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 79 (2020) S. 42–44. 30
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Überlieferungen“ und „wichtige Ergänzung der amtlichen Überlieferung“. Dabei betreibt das Archiv eine gezielte Erwerbungspolitik und fokussiert im Kontext des Bayerischen Archivgesetzes darauf, vorrangig „Nachlässe von Persönlichkeiten von überregionaler/landesweiter Bedeutung, die das öffentliche Leben in Bayern beeinflusst oder geprägt haben“ zu akquirieren. Im Zentrum stehen dabei die Bereiche Politik, Militär, Verwaltung und Medien, d.h. „Herrscherpersönlichkeiten, führende Repräsentanten aus Staat und Politik, Angehörige des diplomatischen Corps, leitende Bedienstete des Staates und der öffentlichen Verwaltung, Militärangehörige, politische Publizistinnen und Publizisten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Kulturschaffende, führende Vertreterinnen und Vertreter aus Vereinen und Verbänden, in Einzelfällen auch Personen, die ohne amtliche Funktion das öffentliche Leben geprägt haben.“ Zu vermuten ist, dass der Öffentlichkeitsbegriff hier weit gefasst wird.33 Dennoch erscheint dieses Kriterium als handlungsleitend. Für bestimmte Zeitabschnitte der Geschichte gibt es eine explizit formulierte Öffnung, die die Bedeutung der Alltags- und Mentalitätsgeschichte für die archivische Arbeit aufzeigt und über Nachlässe hinaus auch die Überlieferung einzelner Dokumente zulässt: „Das Bayerische Hauptstaatsarchiv übernimmt ferner Nachlässe und Ego-Dokumente eines darüberhinausgehenden Personenkreises, wenn diese geeignet sind, wichtige politische und soziale Ereignisse und Phänomene zu erhellen. Dies betrifft insbesondere folgende auch in der amtlichen Überlieferung besonders breit dokumentierte Phänomene: Erster Weltkrieg, Revolution 1918/1919, Aufstieg des Nationalsozialismus, NS-Diktatur und NS-Verfolgung (hier ist das Bayerische Hauptstaatsarchiv bestrebt, neben der Überlieferung zu den Tätern insbesondere auch das Andenken an die Opfer zu sichern), Flucht und Vertreibung nach 1945, Staats- und Verfassungsentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert.“ Das umfasst z.B. auch neue soziale Bewegungen. Explizit offen ist das Erwerbungsprofil für die Themenfelder Umweltschutz sowie direkte Demokratie und bürgerschaftliches Engagement, die als neue Schwerpunkte der Nachlasserwerbung bezeichnet werden. Dieses an aktu-
Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (Politica 4), Neuwied 1962. – Lucian Hölscher, Öffentlichkeit. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von Otto Brunner – Werner Conze – Reinhart Koselleck, Band 4, Stuttgart 1978, S. 413–467. 33
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ellen methodischen und thematischen Entwicklungen der Geschichtswissenschaft orientierte Konzept ist überzeugend und zukunftsfähig. Bemerkenswert ist, dass in einigen Fällen im Kontext der Nachlassüberlieferung auch Zeitzeugengespräche geführt werden, die im Originalton im Digitalen Archiv der Staatlichen Archive Bayerns und in Textform im jeweiligen Nachlass überliefert werden.34 Die fachliche Betreuung der allgemeinen Nachlässe und Familienarchive im Bayerischen Hauptstaatsarchiv ist derzeit in der Abteilung V Nachlässe und Sammlungen gebündelt.35 Dort befinden sich zudem zahlreiche Nachlässe und persönliche Erinnerungen des Sudetendeutschen Archivs. Für die Nachlässe von Mitgliedern des ehemaligen bayerischen Königshauses und Hofbediensteten sowie für sonstige Nachlässe im Eigentum des Wittelsbacher Ausgleichsfonds ist die Abteilung III Geheimes Hausarchiv zuständig. Dagegen werden Nachlässe von Angehörigen der bayerischen Armee und ihrer Nachfolgeeinrichtungen in der Abteilung IV Kriegsarchiv überliefert, wo darüber hinaus Erinnerungsstücke und Einzeldokumente wie Tagebücher oder Briefe etwa aus dem Ersten Weltkrieg gesammelt werden.36 4 . Z u r B e d e u t u n g v o n Fr a u e n n a c h l ä s s e n f ü r Ü b e r l i e f e r u n g s b i l d u n g u n d Fo r s c h u n g Archivische Überlieferung ist immer zeitbedingt. Die konstante sorgfältige archivwissenschaftliche Reflektion ermöglicht zwar zu einem bestimmten Zeitpunkt das höchstmögliche Maß an Sicherheit in der Überlieferungsbildung, aber da sich Gesellschaft permanent verändert und damit auch die Fragen, die an die Vergangenheit gestellt werden, gibt es keinen dauerhaft garantierten Absolutheitsanspruch einer Bewertungsentscheidung. Das gilt gerade auch unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten. Waren es lange die „großen Männer“, die „Geschichte machten“ und Sylvia Krauss, Vorwort zur 2. Auflage. In: Verzeichnis der Nachlässe (wie Anm. 3) S. 15–17, hier S. 15. 35 Dieter Bernd, Sammeln im Archiv. Zur Bildung der Abteilung „Nachlässe und Sammlungen“ im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. In: Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern 24 (1978) S. 8–24. 36 Thomas Paringer, Archivierung von Nachlässen im Bayerischen Hauptstaatsarchiv: Erwerbungsprofil (https://www.gda.bayern.de/fileadmin/user_upload/Medien_fuer_Unterseiten/ BayH;StA_Erwerbungsprofil-Nachlaesse.pdf, aufgerufen an 17.1.2021). 34
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somit auch die archivische Überlieferung bestimmten, so haben die Fragestellungen der Frauen- und Geschlechtergeschichte seit den siebziger Jahren den Blick auf die Vergangenheit deutlich erweitert.37 Auch in den Archiven werden Frauen im Bereich der Überlieferungsbildung inzwischen berücksichtigt, so dass beispielsweise bei der Bewertung von Personalakten auf eine angemessene Repräsentanz von Frauen, gerade, wenn sie eine Funktion erstmals besetzen, geachtet wird.38 Auch die Unterlagen von Frauenbeauftragten gelten zu Recht als archivwürdig. Darüber hinaus gibt es eigene Archive, die sich der weiblichen Überlieferungssicherung widmen, wie das Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel, das etliche Frauennachlässe verwahrt.39 Zusammengeschlossen sind frauenspezifische Archive und Bibliotheken im Dachverband ida.40 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich kontextbezogen auf Nachlässe von Frauen, gelten jedoch analog für alle Sexualitäten und private Unterlagen. 38 Katharina Tiemann (Redaktion), Archivischer Umgang mit Personalakten. Ergebnisse eines spartenübergreifenden Fachgesprächs im Westfälischen Archivamt (Texte und Untersuchungen zur Archivpflege 16), Münster 2004. – Rainer Hering, Zur Überlieferung und Bewertung von Schulunterlagen am Beispiel der Freien und Hansestadt Hamburg. In: Hans Wilhelm Eckardt – Klaus Richter (Hrsg.), Bewahren und Berichten. Festschrift für Hans-Dieter Loose zum 60. Geburtstag (Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, 83/1), Hamburg 1997, S. 93–103. 39 https://www.addf-kassel.de/sammlungen/archiv/nachlaesse-von-frauen/ (aufgerufen am 25.1.2021). – Mirjam Sachse, Das „Archiv der deutschen Frauenbewegung“ in Kassel – vom Graswurzelprojekt zum wissenschaftlichen Institut. In: Arbeit, Bewegung, Geschichte: Zeitschrift für historische Studien 19 (2020) S. 149–152. – Kerstin Wolff, Die Frauenbewegung in Deutschland hat Geschichte. Das Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel. In: Politik und Kultur 3/20, S. 24. – Cornelia Wenzel, „Vergessen Sie die Frauen nicht!“. Zur historischen Überlieferung von Frauenbewegungen in Deutschland. In: Heiner Schmitt (Redaktion), Lebendige Erinnerungskultur für die Zukunft. 77. Deutscher Archivtag 2007 in Mannheim (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag 12), Fulda 2008, S. 191–198. 40 https://www.ida-dachverband.de/home/ (aufgerufen am 25.1.2021). Karin Aleksander, Die eigene Geschichte für die Zukunft bewahren – IDA. In: Florence Hervé u.a. (Hrsg.), Wir Frauen 2021, Köln 2020, S. 150 f. In der Selbstdarstellung heißt es: „Im Dachverband i.d.a. – informieren, dokumentieren, archivieren – sind Lesben- und Frauenarchive, -bibliotheken und -dokumentationsstellen aus Deutschland, der Schweiz, Österreich, Luxemburg und Italien organisiert. Seit 1983 treffen sich Vertreterinnen der Einrichtungen zu Tagungen für fachlichen Austausch und Vernetzung. Hieraus ging 1994 der Dachverband hervor. Die i.d.a.-Einrichtungen sind Gedächtnis und lebendige Zentren feministischer Bewegungen sowie von Frauen- und Geschlechterforschung. Auf diese Weise gibt es im deutschsprachigen Raum eine hervorragende regionale Überlieferungslage zur Historischen und Neuen Frauenbewegung sowie eine gute Literaturversorgung zu den Gender Studies. Seit 2015 können die Bestände der i.d.a.-Einrichtungen vernetzt durchsucht wer37
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Dennoch ist festzustellen, dass im Bereich der Nachlassüberlieferung und der von frauenspezifischen Organisationen in öffentlichen Archiven nach wie vor große Lücken bestehen. So besitzt das Landesarchiv Schleswig-Holstein derzeit 723 Nachlässe und Familienarchive – in letzteren finden sich allerdings z.T. auch Unterlagen von Frauen –, davon jedoch lediglich 64 explizit von Frauen (9 Prozent).41 Interessanterweise beträgt der Anteil von Frauennachlässen im Bayerischen Hauptstaatsarchiv ebenfalls 9 Prozent (45 von 512 Nachlässen), in der Bayerischen Staatsbibliothek 6,3 Prozent (59 von 1.072 Nachlässen) und in der Berliner Staatsbibliothek 8 Prozent (65 von 819 Nachlässen).42 An einigen Beispielen aus Norddeutschland soll angedeutet werden, wie bereichernd gerade Frauennachlässe sind. Im Landesarchiv SchleswigHolstein stammt der bislang umfangreichste von Helene Höhnk (1859– 1944), die als Bibliothekarin, Archivarin – kurzzeitig auch für das Staatsarchiv Kiel – Heimatforscherin, Genealogin und Frauenrechtlerin aktiv war. Ihre Tagebücher, Memoiren, genealogischen, heimatgeschichtlichen und literarischen Materialien geben einen persönlichen Einblick in ihr publizistisches Schaffen und ihr Wirken in der Frauenbewegung.43 Die Unterlagen von Ilse Prange, geb. Cartellieri (1896–1949), Tochter des Archivars und Historikers Alexander Cartellieri (1867–1955) und Mutter des Leiters des Landesarchivs Schleswig-Holstein, Wolfgang Prange (1932–2018), umfassen nicht nur Schulunterlagen aus dem Kaiserreich, sondern auch Dokumente zu ihrem Studium an den Universitäten Jena, Heidelberg und Kiel zwischen 1916 und 1922 sowie Briefe, Tagebücher, Poesiealben, einen größeren Reisebericht mit dem Vater 1939 und eine Kriegschronik der Familie Prange-Cartellieri 1939 bis 1946.44
den mit dem META-Katalog. Seit 2018 ermöglicht das Digitale Deutsche Frauenarchiv mit digitalisierten Materialien direkte Einblicke in die Bestände der analogen Einrichtungen“ (https://www.ida-dachverband.de/ueber-ida/ (aufgerufen am 25.1.2021). 41 Freundliche Mitteilung von Bettina Dioum vom 25. Januar 2021. 42 Freundliche Mitteilung von Dr. Thomas Paringer vom 5. Februar 2021; Martin Hollender, Knappe acht Prozent, Tendenz steigend. Über die vielen schriftlichen Nachlässe von Männern und die wenigen von Frauen. In: Bibliotheksmagazin. Mitteilungen aus den Staatsbibliotheken in Berlin und München 13. Jahrgang, Nr. 39 (Oktober 2018) S. 44–51, hier S. 49. 43 LASH Abt. 399.19. Vgl. Jutta Müller – Karsten Schrum, Helene Höhnk (1859– 1944). In: Dithmarschen 4/2009, S. 2–14. – Dirk Meier, Der Heimat treuer Hüter sein? Reflexionen zum 150. Geburtstag von Helene Höhnk (1859–1944). In: Ebd. S. 15–24. 44 LASH, Abt 399.130.
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Von der in Weimar und Schleswig wirkenden Dichterin und Übersetzerin Charlotte von Ahlefeld, geb. von Seebach (1781–1849), bieten Briefe und Manuskripte Einblick in ihr Wirken als Schriftstellerin in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.45 Die Mutter des Dichters Theodor Storm (1817–1888), Lucia Storm, geb. Woldsen (1797–1879), hinterließ interessante Familienunterlagen.46 Das vielschichtige Leben und Wirken der deutsch-amerikanischen Lyrikerin und Schriftstellerin Margarete Anna Wellmann (1924–2020), bekannt unter ihrem Geburts(ruf )namen Margot Scharpenberg und als einflussreiche Vertreterin des Bildgedichts in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, wird in ihren persönlichen Unterlagen deutlich.47 Persönliche Perspektiven auf das Wirken berufstätiger Frauen bieten die Nachlässe der Hausdame und Nichte des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg (1847–1934), Hertha von Lewinski (1874–1965)48, oder der Wissenschaftlerin am Landesamt für Vor- und Frühgeschichte in Schleswig, Dr. Gudrun Loewe (1914–1994).49 Einblicke in die Tätigkeit einer Dienstmagd Mitte des 19. Jahrhunderts gewährt das Dienstbuch von Louise Emilie Petersen (1815–?)50, den Familienalltag dokumentiert das Hausstandsbuch der Förstersgattin Johanna Gosau, geb. Asmus (1844– 1901).51 Juristische Aktivitäten von Frauen belegen die Nachlässe von Sophie Friederike von Adeler, geb. Baronesse von Stieglitz-Brockdorff (1790–1874)52 und Gräfin Lucie Henriette von Holstein, geb. von Blome (1713–1772).53 Die Ausbildung an der Kolonialen Frauenschule in Rendsburg aus Sicht einer Schülerin dokumentiert der Nachlass der Landwirtin Magda Lorenzen, geb. Sievers (1905–1985).54 Kirchliche Arbeit vor allem in den Gemeinden am Ort wird überwiegend von Frauen geleistet. Aussagekräftig sind z.B. die Taschenkalender LASH, Abt. 399.1170. Vgl. Walter Kunze, Ahlefeldt, Charlotte Elisabeth Sophie Louise Wilhelmine von (Pseudonym Elise Selbig, Natalie, Ernestine). In: Neue Deutsche Biographie, Band 1, Berlin 1953, S. 108. 46 LASH, Abt. 399.1142. 47 LASH, Abt. 399.255. Vgl. Margot Scharpenberg, Fundort Schleswig. Letzte Gedichte. Hrsg. von Rainer Hering, Husum 2020. 48 LASH, Abt. 399.1290. 49 LASH, Abt. 399.183. 50 LASH, Abt. 399.1259. 51 LASH, Abt. 399.1226. 52 LASH, Abt. 399.1002. 53 LASH, Abt. 399.1066. 54 LASH, Abt. 399.1432. 45
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der Theologin Margarete Clasen, geb. Liebe (1912–1987).55 Gemeindepädagogin in Lübeck war Ruth Philippzik (*1925), die sich u.a. bei der Gestaltung des Weltgebetstags der Frauen engagierte und Mitbegründerin von Amica e.V war. Zusammen mit ihrer Gefährtin Elisabeth Haseloff (1914–1974) war sie dafür verantwortlich, dass in Lübeck deutschlandweit die erste verheiratete Pastorin ordiniert werden durfte. Beide initiierten das „Afrikapraktikum“ der Stadt Lübeck, das alle zwei Jahre einer Frau aus Tansania eine Erzieherinnenausbildung in der Hansestadt ermöglicht.56 Der Vorlass der Pastorenfrau Momke Muhs, geb. Jürgensen (*1933), ermöglicht einen breiten, sehr privaten Einblick in Frauenleben an der deutsch-dänischen Grenze. Ihre Mutter, die Bauerntochter Anna Dorothea (genannt Thea) Jürgensen, geb. Josten (1899–1996), konnte bei der ersten Ordinaria an der Hamburger Universität Agathe Lasch (1879–1942, Niederdeutsche Philologie) studieren. Hinzu kommen mannigfaltigste Tagebuchaufzeichnungen, Schulunterlagen, Briefe etc., die das Leben der Christin Momke Muhs und deren politisches bzw. kirchenpolitisches Engagement zeigen.57 Die Theologin Hildegund Magaard, geb. Zenk (1929–2007), war Vorstandsmitglied der Stiftung Diakoniewerk Kropp, Gründerin der Mütterschule in Schleswig, der späteren Familienbildungsstätte, (kirchen-)politisch hoch engagiertes Mitglied im Deutschen Komitee zum Weltgebetstag, Mitbegründerin von Amica e.V. sowie Kirchenkreisbeauftragte für Frauenarbeit, worüber ihre Unterlagen aus erster Hand Auskunft geben.58 Einen ganz anderen Blick auf die Gesellschaft bieten die Unterlagen ehemaliger Prostituierter sowie der Lesben der Nordelbischen Kirche und der „Kirchenlesben“ der EKD. Dazu zählt auch das Maria und MarthaNetzwerk, ein ökumenisches Netzwerk von Lesben, die in der Kirche gearbeitet haben und arbeiten. Die Frauen waren und sind auch in säkularen Netzwerken aktiv und leisten seit ihrer Gründung im Jahr 1985 wichtige Arbeit für die (kirchen-)öffentliche Akzeptanz und Gleichbehandlung lesbischer Beziehungen.59 Politisches bzw. gesellschaftliches Engagement von Frauen sind z.B. in den Nachlässen der Mitbegründerin und Leiterin der NS-Frauenschaft Itzehoe, Dorothea Schneider, geb. Heckenmüller LASH, Abt. 399.231. LASH, Abt. 399.267. 57 LASH, Abt. 399.254. 58 LASH, Abt. 399.229. 59 LASH, Abt. 399.226. 55 56
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(1892–1985)60, und der Guttemplerin Margarethe Thomsen, geb. Mahrt (1874–1963)61, repräsentiert. Gewiss: Die Sensibilität mancher in Archiven für diese Unterlagen mag noch gestärkt werden müssen. Dennoch: Es zeigt sich leider in der archivischen Praxis, dass es oftmals gerade Frauen selbst sind, die ihre Unterlagen nicht aktiv an Archive abgeben wollen. Manche – selbst mit Geschlechtergeschichte vertraute – Frauen sind leider der Meinung, dass ihre eigenen Unterlagen nicht wichtig seien und daher nicht überliefert werden sollen. In der archivischen Praxis im Landesarchiv Schleswig-Holstein z.B. erleben die zuständige Kollegin Bettina Dioum und ich es daher immer wieder, dass man sehr aktiv Frauen überzeugen muss, wie wichtig ihre eigenen Dokumente sind. Wenn es um Familienarchive geht, werden nur Unterlagen von Männern angeboten, erst auf Nachfrage wird bemerkt, dass auch von Frauen Dokumente vorhanden sind. Selbst historisch bewusste und forschende Frauen mit universitärer Ausbildung erkennen oft nicht, dass sie selbst Geschichte schreiben und die Überlieferung ihrer eigenen Unterlagen für ein differenziertes Bild der jeweiligen Gegenwart von unentbehrlichem Wert ist. Fehlt es Frauen auch im 21. Jahrhundert noch an Selbstbewusstsein? Wirken ggf. noch immer geschlechtsspezifische Unterschiede in Erziehung und Sozialisation auf diese Weise nach? In einigen feministisch-theologischen Kreisen gibt es offenbar eine gezielte Ablehnung der Sicherung weiblicher Überlieferung. Schriftliche Überlieferung sei „so ein Männerding“, Frauen erzählten die Geschichte von den Frauen mündlich und gäben sie so weiter. Das kann als klassische Oral History gedeutet werden. Dennoch ist es überraschend, wenn gerade christliche Theologinnen sich so äußern und somit eine angemessene historische Überlieferung ihres eigenen Anliegens aus eigener Sicht erheblich erschweren, denn schließlich verdankt das Christentum ja gerade dem Aufschreiben der Geschichte von „dem Jesus“ seine Existenz.62 LASH, Abt. 399.251. LASH, Abt. 399.1334. 62 So die Argumentation, die eine Sicherung des Nachlasses der ersten Leiterin des Evangelischen Frauenwerkes in Hamburg von 1974 bis 1988, Uta Knolle (1926–2020), verhinderte. Frauen, die den Zugang hatten, wollen lieber „die Geschichten“ von „der Uta“ erzählen. Sie selbst meinte mit über 90 Jahren, dass für die Sicherung ihrer Unterlagen ja noch genug Zeit sei (Gespräch mit Dr. Michaela Bräuninger in Kiel am 4. November 2020). Vgl. Susanne Sengstock, Eine Frau, die Spuren hinterlässt: Pastorin Uta Knolle (https://www.oekumeneforum.de/frauen/frauen-die-uns-staerken/nachruf-fuer-uta-knolle/ aufgerufen am 25.1.2021). 60 61
Nachlässe von Frauen
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Angesichts der Bedeutung originärer weiblicher Überlieferung für die Gesellschaftsgeschichte möchte ich gerade im Hinblick auf die Geschlechtergerechtigkeit in der historischen Überlieferung einen Appell ganz besonders an die Frauen selbst richten: Gebt die Unterlagen an Bibliotheken und Archive! Vergesst Euch nicht! Für die Archive bedeutet der dargestellte Befund, dass es einer besonderen Anstrengung bedarf, um frauenspezifische Unterlagen und gerade weibliche Nachlässe in Archive zu bekommen. Frauen muss aktiv vermittelt werden, dass ihre Unterlagen geschichts- und somit archivrelevant sind, dass sie mehr als nur mitgemeint sind, wenn Archive für die Abgabe von Unterlagen werben – sie müssen gezielt adressiert werden. Provokant möchte ich davon sprechen, dass es einer gezielten Mentalitätsoffensive bedarf.63 Dafür sind natürlich Personalressourcen erforderlich, aber m.E. lohnt es, jetzt gerade in die Sicherung von weiblicher Überlieferung zu investieren.64 Viele Vorkämpferinnen der Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehen jetzt in den Ruhestand bzw. haben bereits ein hohes Alter erreicht. Wenn deren Geschichte adäquat überliefert werden soll, muss jetzt gehandelt werden. Das gilt auch für Unterlagen sozialer Bewegungen, die ebenfalls für die – umfassend verstandene – Gesellschaftsgeschichte dieses Zeitraumes prägend waren.65 5 . Au s b l i c k Im Sinne der eingangs von Margit Ksoll-Marcon zurecht hervorgehobenen Bedeutung von Nachlässen ist es eigentlich selbstverständlich, dass später einmal auch die erste Generaldirektorin der Staatlichen Archive Zum Begriff vgl. Rainer Hering, Die Mentalitätsoffensive als zentrales Instrument der Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen. In: Scrinium 58 (2004) S. 80–87. 64 Das Landesarchiv Schleswig-Holstein ist sehr dankbar, dass sich die Kieler Historikerin Dr. Michaela Bräuninger im Rahmen ihrer Forschungen mit sehr großem Einsatz dafür engagiert, dass Frauen ihre Unterlagen archivieren lassen. 65 Rainer Hering (Hrsg.), Die Archive der Protest-, Freiheits- und Emanzipationsbewegungen – Überlieferung einer gespaltenen Gesellschaft. Beiträge einer Sektion des 52. Deutschen Historikertages in Münster/Westfalen zum Thema „Gespaltene Gesellschaften“ in Münster/Westfalen. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 154 (2018) S. 377–427. – Gudrun Fiedler – Susanne Rappe-Weber – Detlef Siegfried (Hrsg.), Sammeln – erschließen – vernetzen. Jugendkultur und soziale Bewegungen im Archiv (Jugendbewegung und Jugendkulturen Jahrbuch 10), Göttingen 2014. – Jürgen Bacia – Cornelia Wenzel, Bewegung bewahren. Freie Archive und die Geschichte von unten, Berlin 2013. 63
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nicht nur aus ihren Veröffentlichungen, den gedruckten Berichten über ihr archivisches Wirken, ihrem Personalakt und Spuren in den Dienstakten, sondern gerade durch ihre persönlichen Unterlagen im Bayerischen Hautstaatsarchiv überliefert wird. Ihr Nachlass fügte sich vorzüglich in die Liste der Nachlässe von Generaldirektoren ein, und wäre der erste einer Archivarin. Schließlich soll diese besondere Persönlichkeit umfassend überliefert werden.66 Erfolgreiche Frauen, gerade wenn sie erstmals bestimmte politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche oder berufliche Positionen erreicht haben, haben eine hoch einzuschätzende Vorbildfunktion für die nachfolgenden Generationen – besonders im Archiv und erst recht für die Überlieferungsbildung. Die intensivierte Archivierung von weiblicher Überlieferung ist ein herausragendes Indiz nicht nur für die zunehmende Demokratisierung von Staat und Gesellschaft, sondern auch für die wachsende Gleichberechtigung der Geschlechter. Nur wer archiviert wird, wird auch erinnert.
So sollte sie z.B. auch als Volleyballspielerin nicht vergessen und ihr nicht einfacher Weg von der schüchternen Schülerin zur eloquenten Generaldirektorin gewürdigt werden, vgl. Fragebogen Margit Ksoll-Marcon zu ihrer Schulzeit in: Schule und wir Nr.1/2015, S. 32. (https://www.km.bayern.de/epaper/SUW%202015-I/files/assets/basic-html/page1.html, aufgerufen am 2.2.2021). 66
Die provocatio in vallem Josaphat (Ladung vor Gottes Gericht) als Systemprovokation Von Hans-Georg Hermann I . Ve r z w e i f l u n g , Mu t w i l l e , Ab e r g l a u b e Die intensive Beschäftigung der verehrten Jubilarin mit den Akten des Reichskammergerichts und damit einem Element der höchsten Gerichtsbarkeit im Reich schlägt die Brücke zu dem Thema einer auch höchsten Gerichtsbarkeit, eigentlich ja sogar der allerhöchsten, wiewohl schon nicht mehr bloß irdischen: Gottes Gericht. Gerechtigkeit, die sich Bahn bricht, wenn und weil die irdischen Instanzen versagen, ist ein häufiges Motiv in der Literatur, auch in der sog. Volkskultur und ihren Geschichten – etwa, wenn Mäuse Unrecht rächen und ungerechte Richter oder Ausbeuter vertilgen1. Wenn so der Gerechtigkeit zu ihrem Recht verholfen wird, sind das – bezogen auf das Recht und eine Ordnung des Rechts – prima facie systemfremde Korrekturen. Sie sind zudem exogene Korrekturen, wenn Rache und Sühne den Betroffenen selbst nicht mehr helfen, wenn sie zum Tode verurteilt und hingerichtet sind, und so allenfalls auf psychologischer Ebene noch Gerechtigkeitsvorstellungen befriedigt wurden. Systemimmanente Korrekturmöglichkeiten müssen demgegenüber zumindest äußerlich den Formen und immanenten Regeln rechtlicher Funktionselemente entsprechen. Gegen Ungerechte und deren Fehlverhalten, ihre ungerechten Maßnahmen und besonders ihre ungerechten Urteile mit rechtlichen Mitteln vorgehen zu können ist systemimmanent, wenn es mit rechtlichen Mitteln und in rechtlichen Formen erfolgt. Wenn dabei der Rahmen der irdischen Gerechtigkeit verlassen wird, ihre Denkformen der Gerechtigkeitsherstellung als Ergebnis eines Prozesses aber trotzdem einfach nur darüber hinaus verlängert gedacht werden, liegt das an einer transzendentalen Vorstellung von auch jenseitiger prozessförmiger Gerechtigkeitsherstellung – eine Vorstellung, die durch die Figur des „Jüngsten Gerichts“ und Gott als Garant der GerechZu den Mäusen: Renate Blickle, „Gegengeschichte“. Erprobt an den Menschen und Mäusen der Aschauer Bannrichtersage: 1668/1964. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 74 (2011) S. 765–839, hier S. 778–780. 1
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tigkeit befördert wird. So liegt der Fall bei der „Ladung ins Tal Josaphat“2, auch wenn es hier nicht um das allgemeine „Jüngste Gericht“ geht, sondern um sozusagen ein individuelles Vorabverfahren und zwar gezielt für eine individuelle Aburteilung und damit als iudicium particulare (auch: singulare) losgelöst von der Vorstellung eines umfassenden Weltengerichts Gottes erst am Jüngsten Tag. Das Motiv einer solchen individuellen, aus dessen Kontext vorgezogenen Be- und gegebenenfalls Verurteilung gilt als besonders seit dem Spätmittelalter beliebt3 und bildet die stillschweigende, aber zentrale Voraussetzung für diese provocatio überhaupt. Funktioniert sie, muss sich der solchermaßen Geladene nach Ablauf der vom Ladenden gesetzten Frist vor dem Höchsten Richter verantworten, und zwar im Jenseits bzw. im Tal Josaphat in Jerusalem. Was als Ausdruck einer verqueren Volksfrömmigkeit und ihrer Hoffnung auf Indienstnahme übernatürlicher Kräfte erscheinen mag, rückte dabei freilich sofort in bedenkliche Nähe zu Magiedelikten und Verfluchungen4 wie dem sog. Mord- oder Totbeten5. Zudem musste es wegen der Aktivierung inhärenten Angst- und Bedrohungspotentials beim und gegenüber dem solchermaßen alsbald vor das Zu den bezeichnungsmäßigen Varianten vgl. die Titel der Arbeiten in den Anm. 25, 27 und 28. 3 Aaron J. Gurjewitsch, Mittelalterliche Volkskultur, München 1987, S. 189–191, 225–227. – Christoph Gerhardt, Individualgericht und das Ende der Geschichte: die Exempelgeschichte ‚Udo von Magdeburg‘ als Abschluss des cgm 5. In: Heinrich P. Delfosse – Hamid Reza Yousefi (Hrsg.), „Wer ist weise? Der gute Lehr von jedem annimmt“. Festschrift für Michael Albrecht zu seinem 65. Geburtstag, Nordhausen 2005, S. 347–368, hier S. 358 f. – Peter Dinzelbacher, Von der Welt durch die Hölle zum Paradies – das mittelalterliche Jenseits, Paderborn u.a. 2008, S. 67–97 („Persönliches Gericht und Weltgericht“, besonders S. 82 ff.). – S.a. dazu bereits Urs Herzog, Jakob Gretsers „Udo von Magdeburg” 1598: Edition und Monographien (Quellen und Forschungen zur Sprachund Kulturgeschichte der germanischen Völker, Neue Folge 33 = 157), Berlin 1970, S. 62–70. 4 Vgl. Wolfgang Behringer, Artikel „Fluchen”. In: Enzyklopädie der Neuzeit Online http://dx.doi.org.emedien.ub.uni-muenchen.de/10.1163/2352-0248_edn_COM_408054 (aufgerufen am 14.12.2020). 5 Klaus Schreiner, Der Psalter. Theologische Symbolik, frommer Gebrauch und lebens weltliche Pragmatik einer heiligen Schrift in Kirche und Gesellschaft des Mittelalters. In: Michael Embach – Michael Trauth – Ralf Plate – Andrea Rapp (Hrsg.), Metamorphosen der Bibel: Beiträge zur Tagung „Wirkungsgeschichte der Bibel im deutschsprachigen Mittelalter“ (Vestigia bibliae 24/25), Bern 2004, S. 9–46, hier S. 40 ff. – ders., Tot- und Mordbeten, Totenmessen für Lebende. Todeswünsche im Gewand mittelalterlicher Frömmigkeit. In: Martin Kintzinger – Wolfgang Stürner – Johannes Zahlten (Hrsg.), Das andere Wahrnehmen. Beiträge zur europäischen Geschichte. August Nitschke zum 65. Geburtstag gewidmet, Köln u.a. 1991, S. 335–355. 2
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Tribunal Christi Geladenen (denn auch das Erscheinen auf Ladung ins Tal Josaphat setzt den irdischen Tod erst einmal voraus) wenigstens bedenklich erscheinen. Disziplinenübergreifend wurde diese Praxis deshalb zeitgenössisch ganz offensichtlich als veritables theologisches und juristisches Problem wahrgenommen, das eingehegt werden musste. Gut 150 Jahre bewegte die Ladung ins Tal Josaphat theologici, juristae und politici. Eine zentrale Rolle in der Diskussion spielten die dutzendweise überlieferten, mehr oder weniger historisch belegten Beispiele, bei denen sich (vorzugsweise) Justizopfer gewehrt hatten, indem sie – mit mehr oder weniger klaren Fristsetzungen – ihre Richter (oder wer sonst für das begangene Unrecht verantwortlich gesehen wurde) vor den Richterstuhl Gottes luden. Sicherlich besonders prominent ist der Fall der Vernichtung der Templer und der alsbaldige Tod der Verantwortlichen: Papst Clemens V. und der französische König Philipp der Schöne. Deren Tod 1314 wurde als unmittelbare Folge der provocatio in vallem Josaphat beider durch die unglücklichen Opfer verstanden. Die Details mögen dahinstehen6, spielen auch gar keine Rolle, wenn man auf die – sehr zurückhaltende – publizistische Verwertung etwa bei jemandem wie Justus Lipsius sieht, der mit gewisser kritischer Distanz, aber lehrhaft den Fall so referiert: „III. MCCCXIII. Certissimum vero habetur, quod Clementi Quinto Pontifici max. evenit. Qui cum Templarios, coetum religiosum, & diu bonum atque utilem, Viennae in concilio damnasset, & in sodales ferro atque igne passim vel animadvertisset, vel (ut alii) saevijsset: a pluribus eorum citatus ad Tribunal superum, paulo plus anno post obit, quasi ad vadimonium obeundeum a supremo Praetore arcessitus. IIII. Sub idem tempus (quod admirationem auget) in eadem caussa Philippus rex Galliae: cui bono damnationes illae fuisVgl. aber dazu etwa Marie-Luise Bulst-Thiele, Der Prozess gegen den Templerorden. In: Josef Fleckenstein – Manfred Hellmann (Hrsg.) Die geistlichen Ritterorden Europas (Vorträge und Forschungen 26), Sigmaringen 1980, S. 375–402; Elizabeth A. R. Brown, Philip the Fair, Clement V, and the End of the Knights Templar: The Execution of Jacques de Molay and Geoffroi de Charny in March 1314. In: Viator 47 (2016) S. 229–292; Alain Demurger, Der letzte Templer. Leben und Sterben des Großmeisters Jacques de Molay, 2. Auflage, München 2005, S. 271, 275–277; Ders., Die Verfolgung der Templer. Chronik einer Vernichtung 1307–1314, München 2017. – Speziell zur angeblichen Ladung der beiden Hauptakteure durch Jacques de Molay ins Tal Josaphat und deren alsbaldigen Tod vgl. bereits Konrad Schottmüller, Untergang des Templer-Ordens, Band (Bd.) 1, Berlin 1886, S. 570–572. 6
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se putabantur, opibus ad eum translates & confiscates. Si a casu, miremur; si a Deo, vereamur.”7 Befürwortern einer solchen Berufung reichten diese Fälle als Beweis, und „da dergleichen provocation durch den Effect bestätiget wird, selbige vor unzulässig nicht zu halten sey“8. Diejenigen, die Gegner ins Tal Josaphat vorluden, hielten das erst recht für zulässig und gerade angesichts eines Todesurteils manifestieren solche provocationes einen letzten Verzweiflungsakt, sich gegen das Unvermeidliche aufzubäumen. Besonders aufschlussreich zeigt sich hier der facettenreiche und gut erforschte Fall des Richard Puller von Hohenburg9. Er wurde 1482 (vordergründig) wegen seiner Homosexualität (als Variante sog. Sodomie) in Zürich verbrannt, und spielt deshalb in der Erforschung der Geschichte des Umgangs mit Homosexualität eine beachtliche Rolle. Er ist aber auch in der Urkundenlehre geläufig, da er mit einem bekannten Schmähbrief seinen Schwiegervater verunglimpfte10. Die chronistisch überlieferte Ladung des Puller ist sicher als Verfluchung zu deuten, denn sie richtete sich untypischerweise nicht gegen das Gericht, sondern seinen Justus Lipsius, Monita et exempla politica, Antwerpen 1605, liber 2, c.1 (de iustitia divina) Randnummer (RdNr.) 3 und 4, S. 147. 8 Johann Hieronymus Hermann, Allgemeines Teutsch-Juristisches Lexicon, Bd. 2, Jena 1741, S. 764 f. (unter insgesamt weitestgehend wörtlicher Übernahme aus Johann Friedrich Seyfahrt, Teutscher Reichs-Prozeß, cap. XXVII § 55 [in der 2. Auflage, Halle 1756, S. 623 f.; so gut wie identisch ist auch der Artikel in Zedler, Bd. 29, Leipzig 1741, „Provocatio ad vallem Josaphat”, Sp. 1010 f.]). Das zeitgleiche Lexikon von Thomas Haymen, Allgemeines Teutsches Juristisches Lexicon, Leizpig 1738, äußerte sich demgegenüber denkbar knapp (und auch ablehnend). Im Artikel zu den Rechtsmitteln heißt es dazu lakonisch: „§ 16. Unter die unzuläßlichen Mittel sind zu rechnen … 3. Die Ladung ins Thal Josaphat. Joel. 3 V.7.17“ (S. 885). 9 Christine Reinle, Konflikte und Konfliktstrategien eines elsässischen Adligen. Der Fall des Richard Puller von Hohenburg († 1482). In: Kurt Andermann (Hrsg.), „Raubritter“ oder „Rechtschaffene vom Adel“? Aspekte von Politik, Friede und Recht im späten Mittelalter (Oberrheinische Studien 14), Sigmaringen 1997, S. 89–113. – Helmut Puff, Sodomy in Reformation Germany and Switzerland, 1400–1600, Chicago 2003, S. 45–48. – Sämtlich fußend auf Heinrich Witte, Der letzte Puller von Hohenburg. Ein Beitrag zur politischen und Sittengeschichte des Elsasses und der Schweiz im 15. Jahrhundert sowie zur Genealogie des Geschlechts der Püller. In: Beiträge zur Landes- und Volkskunde von Elsass-Lothringen 1895, Heft 16, S. 1–143. 10 Vgl. Matthias Lentz, Konflikt, Ehre, Ordnung. Untersuchungen zu den Schmähbriefen und Schandbildern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 217), Hannover 2004, Nr. 59 S. 205–208 [mit Abb.], der Brief ist virtuell verfügbar auch unter https://www.monasterium. net/mom/IlluminierteUrkunden/1471-05-12_Wien/charter (aufgerufen am 21.2.2021). 7
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bei der öffentlichen Verkündung des Urteils anwesenden Hauptgegner, den Züricher Obristzunftmeister (und 1489 selbst hingerichteten) Hans Waldmann, den der Hohenburger allerdings auch als Drahtzieher vermuten durfte. Die Überlieferungslage der Pullerschen provocatio erweckt den Eindruck, die Hinrichtung könnte sogar noch (entsprechend der Ladungsfrist und abwartend, was passieren würde) aufgeschoben worden sein. Denn nach öffentlicher Verkündung des Urteils „also lod er ettliche meiner herren In dz tal Jossophat für gott den allmechtigen zü recht am dritten tag da zesin, aber ess beschach nit und kam niemen von innen dar.“11 Sicher angefeuert durch das Auftreten solcher Ladungen ins Tal Josaphat entspann sich ein weitläufiger, über Generationen andauernder gelehrter Diskurs, zumal die Dinge komplizierter lagen, theologisch, juristisch, politologisch, und die Befürworter auf zunehmende Ablehnung stießen, da „alldieweilen aber dennoch dergleichen provocatio ad vallem Josaphat weder in der heiligen Schrifft, noch in denen weltlichen Gesetzen adprobiret wird, vielmehr selbige pro specie vindictae zu halten ist, in erwegung, daß man vielmehr seinen Feinden vergeben und bedenken soll, daß auch einem das Unrecht durch Gottes Zulassung wiederfähret, mithin man Gott die Rache überlassen, sich selbige aber nicht besonders ausbitten muß, über dieses die Beschuldigung eines ungerechten Verfahrens dem richterlichen Respect entgegen ist, und wenn auch gleich einige Exempel vorhanden, daß die ungerechten Richter zu in solcher Appellation bestimmten Zeit gestorben sind, solches par hazard und aus andern Umständen geschehen seyn kann, folglich nicht eben der Citation vor dem Richter-Stuhl Christi zuzuschreiben ist: so kann man dergleichen Appellation keineswegs zulassen, sondern es muß vielmehr der Appellant scharff gestraffet werden [Belege].“12
Digitalisat unter: Gerold Edlibach, [Zürcher- und Schweizerchronik]. [Zürich], 1485– 1532. Zentralbibliothek Zürich, Ms A 75, https://doi.org/10.7891/e-manuscripta-1008 (aufgerufen am 21.2.2021), Pag. 413 f. – Witte, Der letzte Puller (wie Anm. 9) S. 127 qualifiziert allerdings die Bemerkung als einen ironischen Kommentar von Edlibach in seiner Chronik. 12 Hermann, Lexikon (wie Anm. 8), a.a.O. 11
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Der bayerische Gesetzgeber hat sich (anders als andernorts) lange indifferent verhalten.13 Erst Kreittmayr verwarf die Ladung ins Tal Josaphat – unter Strafandrohung – in seinem Prozessrechtskodex ausdrücklich14 und beließ es in seinen Anmerkungen mit einem Verweis auf Cortrejus (der gegen solche Zulässigkeit opponiert hatte) bewenden.15 Die späteren Prozessualisten hatten keine Veranlassung, das für ein längst überlebtes Phänomen anders zu sehen16. Im Strafrecht stellte sich das Problem so nicht, da es hier die Appellation als Rechtsmittel ausdrücklich ohnehin nicht gab, sondern im Verurteilungsfall lediglich noch die Möglichkeit bestand zu beweisen, ein anderer sei Täter gewesen oder die Tat habe gar nicht stattgefunden17. Im Grunde blieb für den Strafprozess die Frage der provocatio aber unbeantwortet, auch Kreittmayr verhält sich in seinen Anmerkungen Das Thema wurde nur sehr selten überhaupt aufgegriffen und auch dann nur gestreift, einmal etwa im Zusammenhang mit dem Pfalz-Neuburger Recht und auch dann offengelassen, verbunden mit dem Trost, ein korrekter Richter habe ja nichts zu befürchten: Philipp J. Kraezer, Tractatus Canonico-Civilis De Appellationibus Ad Normam deß Justizmandats In Inclyto Dicasterio Neoburgensi Electorali Palatino observari soliti, Ingolstadt 1706, quaestio 3 Randnummer 100 S. 79 „Quid autem dicendum de iis, qui provocant ad tribunal & judicium Dei, ad Regem Regum, Dominum Dominantium, & Judicem vivorum & mortuorum? Exempla plura adduci possent, sed libentius iis supersedeo, & Scholasticis relinquo: sciendum tamen est, hujusmodi appellationes non timendas illis, qui recte sibi conscii secundum iustitiae & juris normam sententiae tulerunt, L. si quis aliquid 38 ff. de poenis“ (= Dig. 48,19,38; wohl irrig anstatt Dig. 48,19,30). 14 Kap.16 Sechszehendes Capitel. Von der Restitutione in integrum, dann der Nullitat, und anderen Remediis Juris. […] Von zulässigen Remediis Juris […] §. 5. Alle übrige Remedia Juris, insonderheit die sogenannte Reductio ad arbitrium boni Viri, Recursus a Judice male informato ad melius informandum, Provocatio ad vallem Josaphat, und dergleichen sollen nicht nur niemals zugelassen, sondern die Partheyen, welche sich derselben unterfangen, gebührend bestraft werden. 15 In der Ausgabe von 1755 S. 569 f.; zu Cortrejus s. Anm. 27. 16 So hält Stürzer die im Codex Judiciarii verworfenen remedia iuris allesamt für nicht näher mehr erläuterungsbedürftig („Ist von selbst klar“) und bemerkt dann auch nur knapp: „Eine provocatio ad vallem Josaphat, ad tribunalem Christi ist bei uns auch nicht angängig“ (Joseph von Stürzer, Theoretisch praktische Bemerkungen zum dermaligen bayerischen Civilgerichts-Verfahren, München 1838, S. 831). – In Seufferts Kommentar findet sich noch nicht einmal mehr überhaupt eine Erwähnung in der Kommentierung der sonstigen remedia iuris des 16. Kapitels der Gerichtsordnung (Johann Adam Seuffert, Kommentar über die bayerische Gerichtsordnung, Bd. 4, 1. Abt., Erlangen 1844, S. 147–192). 17 Codex criminalis 2. Teil, cap. 10 § 14: „In Criminalibus hat weder gegen End- oder BeyUrtheil eine Appellation statt, sondern der Erkanntnuß erwachset nach der Publikation alsofort in rem judicatam, … in Condemnatoriis … bleibet dem Inquisiten post Publicationem Sententiae kein anderer rechtlicher Behelf mehr übrig, ausser, daß Uebelthat gar nicht, oder durch einen andern geschehen sey, per evidentiam facti zu beweisen; …“ 13
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dazu nicht, obwohl die im deutschen Rechtsraum lange weithin fehlende Appellation in Strafsachen18 von den Befürwortern der provocatio immer wieder gerade als Argument für die Notwendigkeit ihrer Zulässigkeit als eine gewisse Kompensation angeführt wurde. Dieser ausschnitthafte Befund zur „Ladung vor Gottes Gericht“ für Bayern mit seiner Differenzierung zwischen Zivilrecht und Strafrecht bei insgesamt restriktiver Tendenz fügt sich widerspruchsfrei und passgenau in die Geschichte der gelehrten Reflexion über den Umgang und des tatsächlichen Umganges mit diesem Phänomen19 ein:
Vgl. Cortrejus (Anm. 27) S. 33 f. – Pressel (Anm. 28) S. 7 c. 13: „… mores, in tota fere Germania receptos, appellationes non admittantur [Belege]“. – Eingehend hierzu s.a. Christian Szidzek, Das frühneuzeitliche Verbot der Appellation in Strafsachen: zum Einfluß von Rezeption und Politik auf die Zuständigkeit insbesondere des Reichskammergerichts (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas; Fallstudien 4), Köln u.a. 2002. 19 Bibliographische Zugänge ermöglichen die einschlägigen Lexikonartikel wie Otto Holzapfel, Artikel „Josaphat“. In: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte [HRG], 2. Auflage, Bd. 2 (2012), Sp.1393 f. (weitgehend identisch mit: Ders. – Adalbert Erler, Josaphat, Artikel „Josaphat, Ladung ins Tal J.“, in der 1. Auflage, Bd. 2 (1978), Sp. 424–426); W.-E. Peukert, Artikel „Josaphat, Tal“. In: Hanns Bächtold-Stäubli (Hrsg.), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 4, (1932 [ND 1987]), Sp. 770–774, oder Ersch – Gruber (vgl. Anm. 26) und nicht zuletzt die bislang unersetzte Untersuchung von Siegfried Hardung, Die Vorladung vor Gottes Gericht. Ein Beitrag zur rechtlichen und religiösen Volkskunde, Bühl-Baden 1934; zur jüngsten einschlägigen Publikation vgl. Anm. 23. – Für eine speziellere Erfassung und teilweise darüber hinausgehend (untereinander dabei weitgehend identisch, wohl sämtlich beruhend auf der Grundlage der Angaben zum Lemma „Appellatio ad Christi Tribunal“ bei Martin Lipenius, Bibliotheca iuridica [Bd. 1, 1757, S. 74; Bd. 3, 1775, S. 26; Bd. 4, 1789, S. 27], seinerseits zurückgreifend schon auf die – naturgemäß noch weniger zahlreichen – Angaben bei Agostino Fontana, Amphitheatrum legale seu bibliotheca legalis amplissima, Bd. 4, Parma 1688, Sp. 114 [hier immerhin schon mit Nennung von Cortrejus [Anm. 27], Hering [Anm. 25], Herold [Anm. 25] und der Befürwortung bei „Westphalus in tractatus de Iure Principatus, conclus. 51“, womit wohl letztlich Nordermann [vgl. Anm. 44] gemeint gewesen sein dürfte]), vgl. Francesco Cancellieri, Dissertazioni epistolari bibliografiche, Rom 1809, S. 86 f.; Georg Wilhelm Böhmer, Handbuch der Litteratur des Criminalrechts in seinen allgemeinen Beziehungen mit besonderer Rücksicht auf Criminalpolitik, Göttingen 1816, S. 356–360 Nr. 893–908 (mit Kommentierungen); Friedrich Kappler, Handbuch der Literatur des Criminalrechts, Stuttgart 1838, S. 79 (Nr. 791–806) oder dann Ethbin Heinrich Costa, Bibliographie der deutschen Rechtsgeschichte, Braunschweig 1858, S. 287 Nr. 3551–3566. 18
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I I . Je n s e i t i g e s , d i e s s e i t i g Irgendwie quantifizierende Untersuchungen über die Verbreitung der Ladung ins Tal Josaphat fehlen, beklagt wurde sie aber immer wieder, war – gefühlt – omnipräsent20 und rief schon im 16. Jahrhundert auch den Gesetzgeber auf den Plan. Seit langem bekannt sind die Beispiele aus der Schweiz21, weniger ein jüngeres (1722) auch aus Sachsen-Meiningen22. Die provocatio war dabei offensichtlich keineswegs nur eine ultimative Reaktionsform auf Justizunrecht, sondern erfreute sich sichtlicher Beliebtheit vor allem auch als ganz profan intendierter Versuch, außergerichtlich mit der Ladung eines Kontrahenten ins Tal Josaphat diesen als Schuldner mit größtmöglichem Nachdruck zur Befriedigung zivilrechtlicher Ansprüche zu bewegen, wenn man den Rechtsweg nicht einschlagen konnte oder wollte. Erst vor einigen Jahren hat Guido Dall´Olio auf ein Archivale im
Vgl. Herold, De provocatione (wie Anm. 25) S. 13: „Tandem Germania nostra supra omnes regiones alias hac subtilißima superstitione hactenus polluta est, et utinam non hodieque ea polluatur”. 21 Gottfried Kessler, Sittenmandate im Wiler Stadtarchiv. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 15 (1911) S. 43–69, hier S. 46 f., für ein Beispiel aus dem Jahr 1637: „Vnnd dieweil auch etliche in solche Vermessenheit außbrechen, das sie nit scheuhen, ihren nebendt Menschen etwan vmb geringer sachen wegen in das Josaphatsthal zu laden, also gebieten und verbieten wir bei hoher Gelt und Leibstraff, das Niemand fürhin seinen Nebendt Menschen mit solcher erschrecklicher Ladung in das Thal Josaphats zu beruffen vnd zu Laden sich gelüsten lassen Sollen, Sonder da ains an das ander was anzusprechen, für sein von Gott vorgesetzte Obrigkeit komen, alda recht nemen vnd desselbigen sich ersettigen lassen solle.“ – Louis Carlen, Die Vorladung vor Gottes Gericht nach Walliser Quellen. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 52 (1956) S. 10–18, hier S. 16–18. – Die Landrats-Abschiede für das Wallis sind mittlerweile gut erschlossen, vgl. etwa für das frühe Verbot schon 1567: Die Walliser Landrats-Abschiede seit 1500, Bd. 5: 1565–1575, bearbeitet von Bernhard Truffer unter Mitarbeit von Anton Gattlen, Sitten 1980, S. 66. – Zusammenfassende Nachweise für die Schweiz bei Hermann Bischofberger, Das Endgericht im Tal Josaphat. In: Innerrhoder Geschichtsfreund 38 (1997) S. 65–70, hier S. 67. 22 So immerhin der Hinweis auf „ein notables Fürstl. Edict […] wegen der aus Selbst-Rache sich offt äussernden Provocation oder Einladung vor Gottes Gerichte“ bei Johann Caspar Wetzels Hymnopoeographia, oder Historische Lebens-Beschreibung der berühmtesten Lieder-Dichter (Bd. 4, Herrnstadt 1728, S. 116) und als Herausgabe der „geschärftesten Verbote gegen die Selbstrache und die Forderung des Gegners vor Gottes Gericht“ bei Georg Emmrich, Staats- und Regentenleben: Ernst Ludwig I. Herzog von S.C. Meiningen (Dessen Regentenleben; von 1706–1724). In: Archiv für die Herzogl. S. Meiningischen Lande, Bd. 1, 1834, S. 241–258 [251]). 20
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Diözesanarchiv von Bergamo aufmerksam gemacht, das unter ca. 130 Fällen auch Fälle solcher provocationes aus der Zeit 1520–1591 überliefert.23 III. Literaturspektrum – p u b l i z i s t i s c h e r Re s o n a n z b o d e n Die Behandlung des Themas findet sich in sehr heterogener Literatur verstreut, setzt aber verstärkt bald nach 1600 ein. Bis dahin provoziert das Thema der provocatio Äußerungen vor allem im Streit um die Gerichtssuprematie. Zu klären war, an wen noch appelliert werden könne, wenn Kaiser oder Papst als Garanten und Organe höchster diesseitiger Gerechtigkeitsproduktion versagt hatten (oder nicht zur Verfügung stünden): an den Kaiser über dem Papst, den Papst über dem Kaiser, ein (allgemeines) Konzil oder direkt an Gott? Die Antworten von kaiserlichem, kurialem und konziliaristischem Lager fielen erwartungsgemäß unterschiedlich aus, jedenfalls erscheint hier auch die Idee einer Berufung direkt an Gott bzw. Christus24. Ganz abgesehen von diesem Konfliktherd wurde das Thema für akademische Qualifikationsschriften beliebt, zeigte aber früh auch schon ambitionierte monographische Behandlung nicht unerheblichen Umfangs25. Später schwer gescholten als „ein selbst für den damaligen Stand Bergamo, Archivio Storico Diocesi di Bergamo: Archivio della Curia Vescovile, Citazioni in Vallem Josaphat e relativi processi; dazu (u.a. mit Edition und Analyse dreier Fälle aus den Jahren 1520 [Grundstücksstreit, provocatio aus Geldnot], 1525 [wie vor] und 1563 [Grundstücksherausgabe, provocatio aus Beweisnot]): Guido Dall‘Olio, La provocatio ad vallem Josaphat tra diritto e religione. In: Riti di passaggio, storie di giustizia. Per Adriano Prosperi, vol. III, a cura di Vincenzo Lavenia e Giovanna Paolin, Pisa 2011, S. 283–290; Ders., Da Carvico alla valle di Giosafat. In: Gabriele Medolago (Hrsg.), Carvico alle pendici del Monte Canto, vol. 2, Carvico 2016, S. 354–359. Inzwischen erschienen ist von ihm auch: Nella valle di Giosafat. Giustizia di Dio e giustizia degli uomini nella prima età moderna, 2021, eine Monographie, die mir bei Abschluss meines Beitrages leider noch nicht zugänglich war. 24 Zum Ganzen vgl. nur Hans-Jürgen Becker, Die Appellation vom Papst an ein allgemeines Konzil. Historische Entwicklung und kanonistische Diskussion im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 17), Köln-Wien 1988, hier auch beispielsweise zu Jan Hus, den u.a. dieser Akt als Häresievorwurf letztlich das Leben kostete (S. 121–123). 25 Christian Herold, De provocatione ad judicium in Valle Josaphat, Nürnberg 1624 (auf 31 Seiten mehr oder weniger Referat von 24 Exempeln). – Johannes Hering, Discursus de appellatione, citatione et compulsione ad iudicium Dei in valle Iosaphat, Germ. von beruffund ladung vor Gottes gericht ins thal Josaphat, ex Sacris & profanis tam veterum, quam recentiorum Theologorum, Iurisconsultorum, Politicorum & Historicorum monumentis 23
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der Wissenschaft sehr schlechtes Werkchen, worin die Sache nicht einmal auf den historischen Gesichtspunkt zurückgeführt, sondern aus angeblichen Principien des Naturrechts zu rechtfertigen versucht wird“26, findet sich zeitgenössisch indessen viel zitiert und in immerhin fünf Auflagen erschienen Adam Cortrejus‘ „De extrema provoctione ad … Tribunal Iesu Christi“27. Das bedeutsame „Werkchen“ bremste die Auseinandersetzung collectus, Bremen 1632 (136 S., zur Zulässigkeitsdiskussion konkret S. 113–120 RdNr. 160–170; sie sei unter 4 Arten möglich, aber nicht für Christen [RdNr. 169], und fungiert als eindringliche Richtermahnung [RdNr. 169 f.]) – Gerhard Fürstenau (Justus Sinold von Schütz [Präsidium]), Conclusiones Juris Civilis, Canonici & Feudalis Controversi, De Appellationibus, seu altera instantia coram superiore Judice agitandi; huic annectitur incidenter & breviter distinctio & natura appellationis, citationis & compulsionis ad Iudicium Dei & Christi, vel ad Iudicium in Valle Iosaphat: German. Vom Beruff und Ladung vor Gottes Gericht ins Tal Josaphat, Marburg 1637 (nicht paginiert, der schon titelmäßig verdächtige „Anhang“ in Nr. 92–103 ohne Zitierung der Arbeit von Hering). – Marcus Christoph Kress von Kressenstein (praeside Joh. Christfriedo Sagittario), D.D.D. Sanctissimae Themistae summum tribunal, sive de extrema provocatione discursus politicus, Jena 1647. – Christian Albhard (Christian Friedrich Franckenstein [Moderator], De extrema provocatione exercitatio historico-politica, Leipzig 1654 (26 S. [unpaginiert] vor allem um eine begriffliche Klärung zwischen Appellation und provocatio [extrema] bemüht, wobei er erst in der (letzten) Thesis 24 unter Bezugnahme auf Drexel, Delrio und Herold auf die Zulässigkeitsfrage der provocatio ad judicium in vallem Josaphat kommt). – Johann Ernst Gerhard (praeside) – Joachim Neumann, Discursus theologicus De appellatione ad supremum & incorruptum iudicem, Iesum Christum, quam vulgo citationem dicunt ad vallem Iosaphat, Jena 1660 (nachgedruckt noch 1664, 1671 und 1718) mit der Definition als „actio quaedam, qua quis, cui vel honores, vel opes, vel vita denique ipsa Judicis sententia adimitur, aut cui alias cum alio contentio est, dum contra opprimentium potentiam nulla restare sibi amplius opem videt, adversam suam partem, vel Judices etiam ipsos, ad summi Judicium Judicis, hoc est supremi Numinis Judicium provocat, vel citat, & quidem additto certo comparendi tempore” (S. 5), im übrigen wesentlich auf Diskussion evtl. einschlägiger Bibelstellen konzentriert; ebenfalls theologisch: Heinrich Rixner (1634–1692), Diss. de provocatione, Helmstedt 1661 (über ihn vgl. Paul Zimmermann, „Rixner, Heinrich“. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 28 (1889), S. 714 f.). 26 Johann Karl Immanuel Buddeus (1780–1844), Artikel „Josaphat [Appellation an das Thal]“. In: J. E. Ersch – J. G. Gruber (Hrsg.), Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, 2. Section H-N (hrsg. v. A. G. Hoffmann), Bd. 23 Ionium-Irkutzk, Leipzig 1844, S. 60 f.; über ihn vgl. Steffenhagen, „Buddeus, Johann Karl Immanuel“. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 3 (1876), S. 501. 27 Adam Cortrejus (praeses), Johann Georg Krull (respondens), Diss. De extrema provocatione ad constantissimum et innocentissimun Tribunal Iesu Christi in causis civilibus at criminalibus, Von der Fürladung vor Gottes Gericht in Bürger- und Peinlichen Sachen, quam ex principiis naturalibus atque criminalibus, Jena 1665, 1675, 1683, 1702, 1730. – In keinem Zusammenhang steht damit dann aber (unzutreffenderweise aber bei Lipenius, Bibliotheca (Anm. 19), Bd. 1, S. 74 hier mit aufgeführt) Adam Cortrejus, Meditatio singularis de iudicio Dei permissivo, probatorio ac eruditivo, Von dem zulassend- und
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mit dem Thema aber für weitere entsprechende Dissertationen keineswegs. 28 Mit einer gewissen Dunkelziffer29 ist dabei zu rechnen, auch mit prüfendem Göttlichem Gerichte: ex limpidissimis divini Codicis, Patrum Graecorum ac Latinorum fontibus devocata, Jena 1683. 28 Vgl. Johann Georg Lehmann (praeside Johann Andrea Quenstedt), Quaestionem theologicam Num provocatio hostis ad iudicem summum Jesum Christum, seu in Vallem Josaphat sit concessa, Wittenberga 1699. – Nachdem die Ladung ins Tal Josaphat in ihrer prozessrechtlichen Einordnung sperrig war und sowohl als provocatio ad vallem Josaphat wie als appellatio ad vallem Josaphat bezeichnet wurde, konnte eine Auseinandersetzung auch von beiden Instituten her erfolgen, also der provocatio wie der appellatio, wie auf etwa zwei engbedruckten Seiten bei David Gerber (Johann Volk. Bechmann praesidio), Disp. Jur. Inaug. De Appellationibus secundum Jus novissimum rite interponendis & recte justificandis, Jena 1668, cap. XXXII (nicht paginiert). – Johann Christoph Becmann, Diss. de iudiciis Dei, Frankfurt 1679, dann nochmals publiziert 1687 als Kap. 8 (S. 107–152) im – ansonsten sich mit den übrigen klassischen Formen von Gottesurteilen auseinandersetzenden – Tractatus historico-politicus De judiciis Dei, Frankfurt 1687, und unter dem Pseudonym (oder als Plagiat?) H.H. Meier, De occultis Dei iudiciis, Frankfurt a.M. 1684. – Arn. Mor. Holtermann, Von der Vorladung vor Gottes Gericht, in bürgerlichen und peinlichen Sachen, Marburg 1688 (derzeit anscheinend noch nicht digital verifizierbar). – Auch ein Mediziner meldete sich zu Wort: Johann Ludwig Hannemann, Zacharias Pontifex, i.e. commentarius de appellatione ad vallem Josaphat, Hamburg 1696 (insgesamt ablehnend, weil man gegen Gottes Gebote verstoße und vor allem lediglich rachemotiviert ein Gericht vor der Zeit des Jüngsten Gerichts fordert; auch rezensiert in den Acta Eruditorum, Leipzig 1696, S. 227–229). – Heinrich Hermann (Moderator Johannes Julius Pressel), Disp. inaug. iur. de provocatione ad vallem Josaphat, Von Rechtlicher Vorladung vor Gottes Gericht, Heidelberg 1708. – Christian Ebeling, Tractatus de provocatione ad judicium Dei, sive de probationibus quae fieri olim solebant per juramentum […] & denique per citationem ad tribunal Dei, Lemgo 1709, kommt erst in Kapitel XII auf die provocatio – ablehnend – zu sprechen (S. 169–200; Zu Ebeling: Willy Hänsel, Catalogus Professorum Rinteliensium. Die Professoren der Universität Rinteln und des Akademischen Gymnasiums zu Stadthagen 1610–1810, Rinteln 1971, S. 12 Nr. 1). – Die bis dahin am klarsten gegliederte Arbeit (bei 104 Seiten) bot dann noch von theologischer Seite Christian Faber (Schediasma de appellatione ad tribunal supremi in coelo judicis quae vulgo dicitur citatio seu Provocatio in vallem Josaphat oder Vorladung und Forderung in das Thal Josaphat und vor den Richterstuhl Christi, Tübingen 1730): Cap. I. De origine hujus Appellationis. Cap. II. (S. 12 ff.) De Moralitate ejus Sect. I Exhibet argumenta contra illam ex Jure Naturali Sect. II ex Jure Revelato Sect. III Tradit argumenta pro illa ex Jure Naturali (S. 34 ff. [hier unter Auseinandersetzung mit den Juristen], ex Jure Revelato, ex Historia profana. Cap. III. Sect. I. De Officio Judicis, Advocati, Actoris. Sect. II. De Officio cujuslibet Privati. Cap. IV. De statu Animae post mortem Provocantis quam Provocati. 29 Anscheinend hatte der Lübecker Geistliche (und heute noch Namensgeber der Lübecker Stadtbibliothek) Heinrich Scharbau seine Disputatio zur provocatio ad tribunal Dei, die er 1710 an der Universität Jena bestritten hatte, auch publiziert, sie ist aber bibliographisch nicht näher nachweisbar (der entsprechende Hinweis findet sich in seinem biographischen Artikel im Zedler Bd. 34, Sp. 878 f., nach Schriftenverzeichnis Sp. 879 als Nr. 3). Ein
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Veröffentlichungen, die nicht immer anhand des Titels thematisch sofort erkennbar sind.30 Offenbar geeignet als Beispiel moralischer Erbauung31, taucht pastoraltheologisch die Ladung ins Tal Josaphat als Thema für Predigten32 ebenso auf, wie es moraltheologisch auf seine Sündenrelevanz (und diese vermeidend die richtige Handhabung) hin untersucht33, als nicht verifizierbarer Hinweis findet sich auch noch bei Johann Georg Theodor Grässe, Bibliotheca Magica et Pneumatica, Leipzig 1843, S. 145 auf „Hernschmidius Jac., De provocatione ad judicium in Valle Josaphat, Nürnberg 1624“. 30 Nicht unmittelbar hierher gehört trotz des missverständlichen Titels August Becker (sub praesidio Michaelis Wendleri), De extrema provocatione, Wittenberg 1662. Er behandelt mit keinem Wort die Ladung ins Tal Josaphat, sondern die außerordentliche Provokation (der Begriff der Appellation blieb dem regulären Rechtszug vorbehalten) an den Landesherrn etc. Die Möglichkeit einer solchen provocatio extrema jenseits des regulären Instanzenzuges wurde für das Ius publicum immer wieder diskutiert und als Element der Souveränität interpretiert. Kompetenziell konsequent verortete man sie beim Träger der Souveränität und damit einer Frage, die staatsformabhängig zu beantworten war. Legte man die aristotelischen Grundformen von Staat zugrunde, folgte daraus die Zuständigkeit in der Monarchie beim König, in der Aristokratie bei den Optimaten, in der Demokratie beim Volk, in der republica mixta wahlweise kombinatorisch (a.a.O. [nicht paginiert], Thesis III). Mittelbar gibt es aber doch den Berührungspunkt, dass in diesem Denkmodell eine Institution nicht aufscheint, die es transzendental erweitern würde – so wie bei Albhard – Franckenstein (vgl. Anm. 25) bei demselben Thema. 31 Johannes Weitz, Oratio De provocatione ad supremum Dei immortalia et incorrupti iudicis Tribunali, Erfurt 1615; gehalten hat er die Rede als Konrektor des Gymnasiums von Gotha, zur Person vgl. Jost Eickmeyer, Artikel „Weitz, Johannes“. In: Wilhelm Kühmann (Hrsg.), Killy, Literaturlexikon Bd. 12, Vo–Z, Berlin 2011, S. 268–270. 32 So bei Jeremias Drexel (1581–1638, Hofprediger Kurfürst Maximilians I. von Bayern), Tribunal Christi seu Arcanum ac singulare cuiusvis hominis in morte Iudicium, München 1602 (und öfters), bes. S. 263–301 (unter Benennung von 21 Zeugnisfällen) oder dann in der Übersetzung von Joachim Meichel unter „RichterStuel Christi Oder Sonderbares Fürfordern“ (München 1633), insbesondere Kapitel 3: „Wie diß Gericht durch mehrerley Exempel unnd Geschehen bekandt worden, in deme der Belaidigte den Belaidiger für Gericht citiert, und ihm den gwisen Gerichtztag bestimbt hat, Oder: Wie ainer den andern für den Richterstul Christi hernach gefordert, Rechenschafft zu geben“; oder Petrus Canisius, Geistliches Kinder-Spill, Das ist: Dreyhundert Sechs und Zwaintzig Neue Predigen Über den kleinen Katechismum, Vierdter Theil, Augsburg 1730, darin die 61. Predigt („Einander laden ins Josaphats Thal“, S. 590–596: nicht nur gefährlich für das Seelenheil, sondern bei Ladung aus unlauteren Motiven sogar Todsünde, rät zu christlicher Duldsamkeit, obwohl von manchen Theologen u.U. für zulässig gehalten). 33 Beispielsweise Johann Adam Osiander, Theologiae Casualis, In Qua Quaestiones, Dubia Et Casus Conscientiae Circa Credenda Et Agenda Enucleantur, Tübingen 1680, S. 970–973 (unter Ablehnung, weil insbesondere die Gewissenlage der Provokanten unklar, ob nicht doch etwa Eigenliebe hinter einer solchen Herausforderung Gottes steckt). – Als Standardwerk zu vermerken ist aber etwa vor allem auch der Theatiner Antoninus Diana Panormitanus (1586–1663) in seinem „Coordinatus, seu, Omnes resolutiones morales:
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Kampfmittel sogar in theologischen Kontroversen eingesetzt (auch wenn man auf die entscheidende Setzung eines konkreten Ladungstermins offenbar verzichtete)34 oder auch lediglich „historisch-ethisch“ behandelt wurde35. Heute findet sie eher Interesse als Gegenstand der sog. rechtli-
eius ipsissimis verbis ad propria loca, & materias fideliter dispositae, ac distributae“, Bd. 6 (Lyon 1680, ed. Martinus de Alcolea), Tract. 1 resol. 119, S. 78 f. 34 So im Konflikt zwischen Reformierten und Lutheranern, in dem John Dury (1595/96– 1680) gegen Johann Conrad Dannhauer (1603–1666) publizistisch 1665 mit einer „Appellatio ad tribunal supremi judicis Jesu Christi Domini Nostri, adversus accusationes et condemnationes nuncii emissi in vulgus à Johanne Conrado Danhawero“ vorging, worauf sofort (1666) deren Nichtigkeit (und Sündhaftigkeit) repliziert wurde (vgl. Daniel Bolliger, Methodus als Lebensweg bei Johann Conrad Dannhauer. Existentialisierung der Dialektik in der lutherischen Orthodoxie [Historia Hermeneutica 15], Berlin u.a. 2020, S. 217 f.). 35 So etwa von Johann Cramer (in seiner praeside des Ulmer Professors Eberhard Roth geführten) „Discussio quarundarum quaestionum illustrium historico-ethicarum“, Ulm 1687, Quaestio VIII („Quid de provocatione ad tribunal Dei, sive Jesu Christi pronunciatur?“), S. 20–23 – hart ablehnend und noch dazu diskriminierend [worin sich die Originalität des Prüflings erschöpft haben dürfte]: Cramer unterscheidet zwischen einer provocatio extra iudicium und einer solchen praeter jus & fas, wobei letztere vor allem bei Frauen beliebt sei, die aus fragwürdigen Gründen damit schamlos Rache üben wollten („mulierculae factitant, quae ob res putidas, frivolas, aut incertras caussas[!] ad horrendum Jesu Christi tribunal provocant, & vindictam, qua nemo magis gaudet, quam femina, improbe exercent”). Erstere strebt immerhin nach Gerechtigkeit, wo sie mit menschlicher Hilfe nicht mehr erreicht werden könne, es müsse aber weiter unterschieden werden, wobei in Zivilsachen sie von vornherein unzulässig ist, im übrigen meinten aber manche, sie könne unter weiteren Voraussetzungen – dabei maßgeblich unter Rekurs auf Delrio – zulässig sein. Das wird verworfen: auch ein ungerechtes Urteil sei zu erdulden; soweit Heilige die provocatio erhoben hätten, die dann erfolgreich (in Form des Ablebens des provocatus) verlaufen sei, erklärt sich nicht aus diesem Remedium, sondern weil sie kraft prophetischer Gabe dessen Ende vorausgesehen hätten; selbst wenn bei allen übrigen einmal pünktlich zum Ladungszeitpunkt der Gegner verstorben sei, kann man genauso wenig auf die Zulässigkeit der provocatio schließen wie bei den Gottesurteilen von Zweikampf, heißem Eisen etc. – Hierher zu zählen wohl auch die dazu konträren Ausführungen des Hofhistoriographen Kaiser Josephs I. Giovanni Palazzi (1640–1703), Aquila Saxonica, sub qua imperatores Saxones ab Henrico Aucupe usque ad Henricum Sanctum Occidentis imperatorem XV, elogiis, hierogliphycis, numismatibus, insignibus, symbolis, imaginibus antiquis ad vivum exhibentur exculpti & longa historiarum serie exarati, Venedig 1685, Liber XII, cap. 3 (Appellatio ad Tribunal Dei) S. 158–164 – bejahend und sogar unter Warnung: Hüten mögest Du dich vor der Appellation von jenem, der gerecht provoziert „& citra odium, non vindictae cupiditate […], sed zelo iusticiae, tutela innocentiae […] pro republica, pro familia, ne conturbetur pax optima rerum […], noli lacrymis urgere Tribunal, […] & iudicium vertatur in homicidium“ (RdNr. 28).
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chen Volkskunde36. Zeitgenössisch aber als heikle Materie mit Sprengkraft war die Ladung ins Tal Josaphat durchaus auch für das ius publicum präsent37, schaffte es hinein bis in Kommentare zur Goldenen Bulle38, gerade in dem Bewusstsein ihrer Unbekömmlichkeit für den öffentlichen Frieden und die Autorität der Obrigkeit39. Konsequenterweise sei sie entsprechend im Gemeinwesen nicht zu dulden („in republica non sit toleranda“) und deshalb zu bestrafen40. Die politische Brisanz nahm bei den Autoren noch Vgl. etwa Hans von Hentig, Vom Ursprung der Henkersmahlzeit, Tübingen 1958, S. 168–172. – Leander Petzoldt, Natürliche und übernatürliche Strafen. Populäre Rechts auffassungen und ihr Niederschlag in der Volkserzählung. In: Signa iuris 12 (2013) S. 153–199, hier S. 164 f. 37 So spricht sie unter den indulta juris remedia defensoria gegen eine pflichtvergessene Obrigkeit auch der Wittenberger Professor Georg Michael Heber an (Tractatus de fiducia magistratus, Askaniensis 1705, Kap. 4, § 4 S. 38 f.), bleibt (mit den Theologen und unter Rekurs auf die Dissertation von Gerhard [Anm. 25] und Cortrejus [Anm. 27]) dabei kritisch distanziert, benennt aber auch die Juristen, die sie am ehesten noch in Strafsachen für zulässig hielten, und relativiert schließlich vor allem auch die Bedeutsamkeit der in diesem Zusammenhang immer gern referierten Reihe von Beispielen mit dem Hinweis, nicht gemäß Beispielen, sondern gemäß der Gesetze sei zu urteilen und leben. 38 Vgl. Martin Rümelin, Aurea Bulla Caroli IV. Imperatoris, Tübingen 1702, S. 376–378 (scharf ablehnend). 39 Zur öffentlichrechtlichen Brisanz und nicht zuletzt wegen ihrer autoritäts- und letztlich staatszersetzenden Gefährlichkeit vgl. etwa Hermann Hermes, der durchaus deliberierend und trotz Neigung zur Akzeptanz einer lauteren provocatio, sich genau deswegen dagegen wendet, Fasciculus Juris Publici ex Labyrintho canonico, legali, feudali et S.R.I. viridariis, Salzburg (erstmals 1663, hier 2. Auflage, 1674, Cap. XI, quaestio IV RdNr. 152, S. 232–234). – Jedenfalls für Zivilsachen in diesem Sinne auch: Jacob Döpler, Theatrum Poenarum, Suppliciorum Et Executionum Criminalium, Oder Schau-Platz derer Leibes- und Lebens-Straffen, Bd. 1, Sondershausen 1693, S. 88–94, hier S. 92: „CCLV. Worbey aber zu mercken daß in Bürgerlichen Sachen / da einer sein Recht von der Obrigkeit / wie er vermeinet / daß er es haben möchte / nicht erlangen kan / oder wenn ihm die Sache gantz abgesprochen würde / solche frevele und boßhaffte Fürladung vor Gottes Gericht ohne Straffe zu unterfangen sich nicht erkühnen darff / weil er noch immer an einen höhern Richter / und endlich gar an die Landes-Herrschafft selbst appelliren kan. Denn wenn diesen also nachgesehen würde / dürffte viele Boßheit und eigne Rache mit unterlauffen / auch die Obrigkeit endlich gar für nichts gehalten werden / sondern ihre Autorität mercklich fallen“. 40 Jacobus Andreas Crusius (praeside Augustino Strauchio), Diss. Juridica De Jure Appellationum, Wittenberg 1644, S. 2 f. Der entsprechende Verweis auf Menochius und Clarus (vgl. dazu unten Kap. 4) verunklart etwas, dass es hier vor allem um die Subsumtion der provocatio als Sortilegium geht. Die Praxis zog sich auch gern grundsätzlich auf diese Position zurück, vgl. etwa Andreas Christoph Schneider, Processus iuris iudicii provincialis Sueviae, vulgo Dess Käiserlichen Landgerichts in Obern- und Niedern Schwaben Gerichtlicher Prozeß, Frankfurt 1670, S. 390 RdNr. 96: Trotz Nachvollziehbarkeit einer Berufung 36
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zu, die die provocatio als Mittel gegen ungerechte Obrigkeit in die Nähe des Widerstandsrechtes rückten41, zumal ja eine erfolgreiche provocatio zur Beseitigung eines ungerechten Tyrannen führen mochte.42 Einer der Monarchomachen, nämlich der Calvinist Theodor Beza pochte generell auf das Recht, gegen Unrecht vorzugehen, auch in Form einer Ladung vor das Tribunal Dei43. Ganz apodiktisch angesichts Gottes Allgegenwart und Hilfe äußerte sich in diesem Sinn auch 1619 Johannes Nordermann, der von Befürwortern der Zulässigkeit der provocatio entsprechend gern zitiert wurde. In seinem staatsrechtlichen Traktat „De iure principatus“ bezog er gegen die Einschätzung Stellung, bei der Ladung zu einem bestimmten Tag und Ort vor Gottes Gericht handle es sich um Aberglauben (superstitio)44. Zudem stellte die Literatur unter mehr oder weniger innerer Distanzierung genau dafür sogar Formulare bereit45, selbst wenn man sich dezidiert und ausnahmslos gegen eine Zulässigkeit positioniert hatte46: „Ob ich gleich etliche Jahr nach einander bey hiesigen Gerichten wegen meiner an N. habenden Forderung beständig von Gottes Gericht seitens eines Unschuldigen warnt er mit einem Dammbruchargument, denn mit Zulassung „fenestrae malitiis hominum … apirerentur“: kein Rechtsfrieden wäre mehr möglich, es drohe die „destructio Reipublicae, & justitiae administrandae“. 41 Für die entsprechenden Positionen vgl. Cortrejus (Anm. 27) Kap. 2 S. 8 ff., S. 27 f. 42 Eingehend hiergegen: Faber, Schediasma (Anm. 28) S. 40–54. 43 So verstanden in der Literatur: „[…] Beza ex Actis Apostolorum notat c. XXIII. Christianis licere de injuriis queri & impios ad Dei Tribunal citare, modo id sine odio & sedato animo fiat”, vgl. Faber, Schediasma (wie Anm. 28) S. 37. – Die Verifizierung des Zitats bereitet Schwierigkeiten. Es stammt aus Bezas Kommentierungen der Apostelgeschichte in der Ausgabe Iesu Christi D.N. Novum Testamentum Theodoro Beza interprete, Genf 1575, fol. 205v, zu APG c. 23,3 („De iniuriis quaeri & impios ad Dei tribunal citare licet, modo id sine odio & sedato animo fiat“). In seinen umfangreicheren Annotationes (Annotationes majores in Novum Dn. Nostri Jesu Christi Testamentum: in duas distinctae partes, quarum prior explicationem in quatuor Evangelistas et Acta Apostolorum, posterior vero in Epistolas et Apocalypsin continent) für die genannte Stelle [S. 550–553 in der Ausgabe 1594] ist dieser Passus allerdings nicht übernommen. 44 „Anne hoc superstitiosum existimandum? Non puto“: Johannes Nordermann, De iure principatus, im Abdruck seiner als Basler Dissertation von 1619 in Nikolaus Hampel (Hrsg.), Nucleus discursuum seu disputationum, Gießen 1621, Nr. 9, S. 260–351 [c. 51, S. 307 f.]. 45 Vgl. Heinrich Zipffel, Civil- und Criminal-Händel, bestehend in Fünff Tractaten … III. Von der appellation ad Vallem Josaphat, Frankfurt und Leipig 1721, S. 241–258, der mehrere Beispiele aus zivilrechtlichem Kontext bietet, darunter ein „aliud Exemplum Welches Autor hujus auch erlebet“ (S.252), mit sichtlicher Sympathie für eine Bejahung der Zulässigkeit (und entsprechende Straffreiheit). 46 So wie Hermann, Lexikon (Anm. 8), folgend zitiert.
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solliciret und deshalb zureichenden Beweiß beygebracht: so ist doch endlich nachstehende Sentenz erfolget: inferatur sententia. Wann aber solcher gestalt der Beklagte gänzlich absolviret und mir meine rechtmäßige Forderung abgesprochen worden, ich auch Armuths halber den Proceß nicht weiter fortsetzen, noch in der Welt weiter einige Hülffe hoffen kan, gleichwohl mir, nach Maaßgebung derer Acten, offenbares Unrecht geschehen ist: so muß ich es Gott im hohen Himmel klagen, und zu demselben, als den allerobersten Richter meine Zuflucht nehmen. Ich provocire und appelire demnach von diesen Gerichten, wo ich kein Recht erlangen kann, an den allmächtigen Gott, und an den gerechten Richter Jesum Christum, citire und fordere auch die Gerichts-Personen, so mir zu viel und unrecht gethan, daß sie binnen dato und einem Jahre vor Gottes Gerichte persönlich erscheinen, und daselbst deshalb, daß sie mir keine Justice administriret und mich zur Verzweiflunug gebracht haben, Rechenschaft geben sollen, immaßen ich solches alles nunmehro dem allerhöchsten Gott überlassen will.“ Wenn man genauer hinsieht, betrifft dieses Formular einen zivilrechtlichen Anspruch, dessen Durchsetzung im Rahmen eines Zivilverfahrens gescheitert war, vielleicht nach erschöpftem Rechtszug, jedenfalls aber Erschöpfung der eigenen finanziellen Mittel. Angeblich handelte sich um ein Unrechtsurteil wegen eindeutiger Beweislage, weshalb die provocatio47 der verantwortlichen „Gerichts-Personen“ vor Gottes Gericht (also nicht mit der Metapher des Josaphattales) mit konkreter Ladungsfrist erfolgte. Wer allerdings dieses Formular benutzte, musste davon ausgehen, dafür bestraft zu werden48: Sicherheitshalber mitbezeichnet als appellatio, weil man damit auf Nummer sicher geht, dass sie nicht schon wegen falscher Benennung verworfen wird, wenn sie das Gericht aus schon dogmatischen Gründen anders qualifiziert als in der Ladungsschrift bezeichnet. 48 Das liegt vor allem an der konkreten Fristsetzung, vgl. etwa (bei aller grundsätzlichen Ablehnung): Clemens Berg, Introductio in doctrinam politicam, secundum meliora politicorum recentiorum principia, Leyden 1694, § 15 S. 179–181. Er hielt eine provocatio ad vallem Josaphat jedenfalls für verdächtig und gewöhnlicherweise eitel, weil man vor Gericht gehen könne, Gott auch ohne solche provocatio Unrecht räche und er aus Unterdrückung und Furcht herausführe. Nichtsdestoweniger und entsprechend ungereimt unterscheide 47
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I V. Pö n a l i s i e r u n g Letztlich war es Geschmackssache, ob man die Strafwürdigkeit als Religionsdelikt des Aberglaubens (superstitio), als Drohungstatbestand einer unerlaubten Selbsthilfe oder Ungebührssanktion gegenüber der rechtsprechenden Obrigkeit49 qualifizierte. Man konnte römisches Recht mit einem Modestinfragment in den Digesten50 und gemeinrechtliche Praxis dafür ins Feld führen, soweit nicht ein Gesetzgeber ausdrücklich die volkstümliche, offenbar beliebte und auch gern von Anwälten51 eingesetzte Ladung ins Tal Josaphat selbständig unter – wie die bekannten Schweizer Beispiele52 annehmen lassen, ebenfalls offenbar arbiträre – Strafe setzte. Der klassische Gewährsmann ist vor allem der Italiener Iulius Clarus († 1575), der zwei Fälle aus der entsprechenden Praxis billigte53. Der meist mitziman auch noch zwischen einer provocatio definitiva und indefinitiva, also mit und ohne Fristsetzung für die Ladung, wobei diejenige mit Fristsetzung gar nicht ohne Versuchung Gottes gehen könne, ein allgemeines Anbefehlen der Sache an Gott (vgl. Cortrejus, [Anm. 27] cap. 4 RdNr. 3: „Ich will es Gott befehlen/der wird es wol richten“) sei hingegen anerkannt und zulässig. Eine solche Unterscheidung – Buddeus [Anm. 26] nennt sie „juristische[n] Pedantismus“ – macht aber jedenfalls dann Sinn, wenn sie darüber entscheidet, ob man sich strafbar gemacht hat oder nicht. 49 Für einen Fall aus der akademischen Gerichtsbarkeit an der Universität Leipzig im Jahr 1656, gegen die sich ein Student wandte und wegen Rechtsverweigerung seitens des Rektors diesen vor das Jüngste Gericht zitierte, genau dafür dann aber auch abgestraft wurde, vgl. Christoph Philipp Richter, Centuria regularum sive praeceptorum ex universo iuris tam canonici quam civilis corpore sparsim desumptorum, Neuenhahn 1663, regula II, S. 21 f. (im Kontext der Frage zulässiger Notwehr als deshalb rechtmäßige Tat gegenüber dem ungerechten Gericht, unter Verweis u.a. auf Herold ([s.o. Anm. 25] und weiterer Fundstellen); unzutreffend mit 1650 datiert bei Hardung, Vorladung (wie Anm. 19) S. 85. 50 Dig. 48,19,30 Modestinus 1 de poen.: Si quis aliquid fecerit, quo leves hominum animi superstitione numinis terrentur, divus Marcus huiusmodi homines in insulam relegari rescripsit (Wenn jemand etwas getan hat, wodurch leichtsinnige Menschen durch abergläubische Furcht erschreckt werden sollten, so hat der vergöttlichte Kaiser Marcus reskribiert, dass Menschen dieser Art auf eine Insel verwiesen werden sollen). 51 Hermes, Fasciculus (wie Anm. 39) S. 234; scharf kritisiert von Rümelin, Aurea bulla (wie Anm. 38) oder Seyfahrt, Teutscher Reichs-Prozeß (wie Anm. 8). 52 S.o. Anm. 21. 53 Sententiarum Receptarum Liber V quaestio LXXXIII (in der Ausgabe der Opera omnia Lyon 1661 RdNr. 8, S. 797): „Puniuntur etiam extra ordinem illi, qui superstitione numinis alios terrent, prout faciunt illi, qui mittunt praecepta vallis Iosaphat, quorum unus, qui appellabatur Carlettus, fuit positus ad catenam infamem, 10 Aprilis 1553. Et alius quidam Thomas Mantellus, qui transmiserat quoddam praeceptum sub nomine domini nostri Iesu Christi, iussus fuit renunciare praecepto, & fustigari, 10 Septemb. 1556. P.N.” – Baiardi bietet a.a.O. in seiner ergänzenden Anmerkung (p) dazu den zutreffenden Verweis auf Dig.
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tierte Giacomo Menochio († 1607) schloss sich ausdrücklich Clarus an54. Die schließlich durchgreifende aufklärerische Geißelung der provocatio in vallem Josaphat als abergläubisches, respektloses Untertanenverhalten und strafwürdiger Unfug55 erfolgte publizistisch relativ spät, aber als zeitgeistspiegelnd56 auch wirkungsvoll besonders mit einem Aufsatz in Schotts Juristischem Wochenblatt 177257 als eine Kritik, die sich die strafrechtliche Literatur umgehend zu eigen machte. Für seine Vorlesungen und eine damit verbundene multiplikatorische Wirkung ist das greifbar etwa bei dem Leipziger Strafrechtler Püttmann (1730–1796)58 und steht für ein Verblas48,19,30 und weist für weitere Fälle auf einen Traktat von Bossius hin (ebenso wie auf das genannte Modestinfragment „si quis aliquid“). Bossius bringt allerdings vorliegend allein einschlägig einen ihm kolportierten Fall, dass Gläubiger aus Beweisnot mit einer ihm nicht bekannten Formel für den Fall der Nichterfüllung Schuldner ins Tal Josaphat geladen hätten und der (Mailänder) Senat oft die Strafe aus Dig. 48,19,30 verhängt habe: „[…] qui a quibusdam annis citra illos quos existimant suos debitores esse, licet non possit debitum probari in vallem Iosaphat, cum tot & tantis verbis inferentibus terrorem, nisi fiat solutio, vt non solum homines leves, sed etiam animo fortes vbi non solverant etiam in debitum faciliter possent mortem timere, & hoc est melior tex. in L si quis aliquid, ff. de penis. qui sic ait, si quis aliquid fecerit, quod leves hominum animi superstitione divini nominis terreantur, Iubes[?] divus Marcus in insulam relegari, quam illationem saepe admisit Senatus in his castigandis.” (Tit. De extraordinariis judiciis. In: Aegidius Bossius, Tractatus varii, qui omnem fere criminalem materiam excellenti doctrina complectuntur, Venedig 1576, fol. 229r–230r RdNr. 9). 54 Vgl. De Arbitrariis Iudicum Quaestionibus et Causis libri duo, liber 2, cent. 4, causa 388, „Sortilegiarum poena quae“ in der Ausgabe Köln 1615, S. 527 f. RdNr. 16, 17. 55 Kritik selbst, wenngleich weniger aufklärerisch als konfessionell, war durchaus schon lang zu hören, etwa bei Bartholomaeus Anhorn von Hartwiss, Magiologia christliche Warnung für dem Aberglauben und Zauberey, Basel 1674, S. 410–465 („Anruffung deß Richterstuhls Gottes / oder Ladung in das Thal Josaphat“), der zwar differenzierte, dass es billige und unbillige gebe (S. 429), sie letztlich aber als Fluch ablehnte. 56 Entsprechend knapp inzwischen bei Johann Heinrich Berger, Oeconomia iuris ad usum hodiernum accommodate, 7. Auflage, Leipzig 1771, S. 862 „Provocationem ad tribunal Dei […] defendi non posse“. 57 Jäger, Von der Appellation an das Thal Josapat. In: August Friedrich Schott (Hrsg.), Juristisches Wochenblatt, Bd. 1, Leipzig 1772, S. 757–768, 774–784, 785 f.; dabei spielte allerdings die theologische Überlegung des unchristlichen Verhaltens eines Provokanten immer noch auch eine erhebliche Rolle, zumal sich an gleicher Stelle (S. 773) eine Gegenstimme findet, die jedenfalls den Einwand der Unchristlichkeit entkräften wollte, worauf Jäger dann noch einmal replizierte (S. 785 f.). 58 Josias Ludwig Ernst Püttmann, Elementa iuris criminalis commoda auditoribus methodo adornata, Leipzig 1789, § 970 S. 479 f., der seinerseits Jäger (wie Anm. 57, dort § 10, S. 767) zitierte: „Lächerlich ist sie, weil sie keine Würckung hat, sondern die Sachen so bleiben, wie sie sind; strafbar, weil sie die Richter indirecte einer so großen Ungerechtigkeit beschuldiget, welche durch ordentliche und gewöhnlich Rechtsmittel nicht zu entkräfften
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sen der provocatio bis sie nur noch als Atavismus von etwas erschien, das in den Himmel, nicht aber auf die Erde gehöre59. Harsche Ablehnung fand sich aber auch schon deutlich früher. Denn die juristische Diskussion zeigte Weiterungen über die Frage des Rechtszuges hinaus, nämlich bei der Frage der Richterablehnung wegen Befangenheit und dem dafür weithin nötigen sog. Perhorreszenzeid60. Hier bestand naheliegenderweise Abgrenzungsbedarf, den Gerhard Feltmann (1637–1696) dadurch löste, dass er die provocatio ad vallem Josaphat in einer sehr dichten Argumentationskette gänzlich verwarf („nove et curatius ostenditur nefariam esse provocationem quae ad tribuna Dei fit“)61: als von vornherein „frivole“ und schon deshalb hinfällige Appellation, ohnehin in Zivilsachen, genauso in Strafsachen, selbst für den unschuldigen Provokanten erwiesenermaßen allerlauterster Gesinnung (comperta sanctitas), weil ihn Gott vielleicht gerade mittels eines ungerechten Magistrats strafen wollte. Nicht einmal die frommen Beispiele taugten für eine abweichende Beurteilung, denn – unter Berufung auf ein methodisches Argument bei Besold62 – aus ihnen könne normativ nichts geschlossen werden („non tamen ex iis jus constitui opportere“). Nicht einmal die erwiesene Heiligkeit des Provokanten zwingt zur Anerkennung, denn letztlich kann doch wiesey“. Jäger wiederum hatte sich explizit auf Schaumburg bezogen, der sich zu Dig. 49,1 schon so geäußert hatte: „[…] & ridicula imo punibilis sit provocatio ad vallem Josaphat” (vgl. Johann Gottfried Schaumburg, Compendium Iuris Digestorum, Jena 1751, § 5 S. 568). 59 Wilhelm Lagus, De remediis juris contra sententias in genere, Aboae 1823, § 1, S. 15 („Sed pertinet hoc ad forum poli, non vero forum soli”). 60 Vgl. dazu Hans-Georg Hermann, Hürden und Hilfen bei der Richterablehnung: das iuramentum perhorrescentiae. In: Orazio Condorelli – Franck Roumy – Mathias Schmoeckel (Hrsg.), Der Einfluß der Kanonistik auf die Europäische Rechtskultur, Bd. 4: Verfahrensrecht (Norm und Struktur 37.4), Köln u.a. 2014, S. 173–207. 61 De Iuramento Perhorrescentiae Vulgo sic dicto: sive de Eiuratione Bonae Spei ex variis causarum figuris. Libri Duo / accurante Alex. Arn. Pagenstechero, 2. erweiterte Auflage, Köln 1702, cap. XX RdNr. 4–48 S. 94–104. – Zur Person vgl. Theodor Muther, Artikel „Feltmann: Gerhard F.“ In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 6 (1877) S. 618; Johann Heinrich Stepf, Gallerie aller juridischen Autoren von der ältesten bis auf die jetzige Zeit, Bd. 3 F–G, Leipzig 1822, S. 35. 62 Feltmann verweist auf dessen, „de prae. et poen. C.5 p.114“, wo allerdings weder auf S. 114 noch in Kapitel 5 (S. 134 ff.) dieser Gedanke vorfindlich, jedenfalls nicht in der Ausgabe Christoph Besold, Discursus politici singulares de informatione et coactione subditorum, Dissertatio II De praemiis, poenis et legibus, Straßburg 1625, S. 107–175; in Diss. II Kapitel 5 geht es allerdings um die Beispiele früher anerkannter Gottesurteile, so dass man schon einen weitläufigen Zusammenhang herstellen könnte, wenn man diese und die provocationes der Heiligen auf eine Stufe stellt.
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der bloß der magistratus darüber entscheiden: „Quis hoc discernet? Nullus sane magistratus. Quis ita comparatus? Rari nantes in gurgite vasto“63. V. Wa s b l e i b t ? Nach Feltmann, Püttmann, Jäger und anderen: nichts. Trotzdem lohnt es sich, noch einmal auf Diana und seine moraltheologische Verortung des Phänomens zurückzukommen. Bereits unter Rezeption des Buches von Hering64, verwarf Diana65 die pauschale Unzulässigkeit und entsprechende Strafbarkeit, hielt vielmehr eine vorsichtige Bejahung (und folgte insofern Camerarius, Delrio u.a.) für angemessener, und zwar, wenn sie fiat non odio, & vindicta, sed bona fide ut innocentia appareat, & ut infamia a familia arceatur, also nicht auf niedrigen Motiven, sondern nachvollziehbar respektabler Gesinnung beruht66. Zugleich hält er zwei Regeln für einen betroffenen Richter parat67: wenn dieser zweifelsfrei von der Richtigkeit seines Urteils überzeugt ist, kann ihm die provocatio gleichgültig sein, weil er nichts zu befürchten hat. Bei Zweifeln handelt ein Richter indessen „schlecht“68, wenn er die provocatio geringschätzt, sondern er ist gehalten – so die zweite Regel –, alle für eine Überzeugung relevanten Punkte nochmals zu erforschen und zu prüfen und dann entweder seine Sentenz zu verwerfen oder aufgrund der reiferen Überlegung aufrechtzuerhalten; einstweilen behält er den Angeklagten dafür in Haft. Als Gewährsmann beruft sich Diana bei dieser Lösung pauschal auf den Jesuiten Theophil Es fällt schwer, dieses Sprichwort nicht als sarkastische Spitze zu lesen („nach einem Schiffbruch erscheinen wenige Schwimmer im weiten Strudel“). 64 Vgl. Anm. 25; auf ihn als einzige Referenz verweist etwa Aegidius de Castejon, Alphabetum juridicum, canonicum, civile, theoricum, practicum, morale, atque politicum, Bd. 1, Lyon 1730, S. 35 für die Frage „et de appellatione ad judicium Dei, & an sit licita? Diana tom. 6 tract. 1. resol. 119. ubi de ejus effectu”. 65 Vgl. Anm. 33. 66 Sieht man genauer hin, behandelt Diana allerdings auch nur den Fall einer provocatio in vallem Josaphat als Reaktion auf eine Verurteilung, nicht aber die provocatio als selbständiges Rechtsdurchsetzungsinstrument außerhalb oder nur gelegentlich eines konkreten (Zivil)Verfahrens. Das sind aber die Fälle, bei denen genau die Gesinnung so problematisch war, wenn sie nämlich als private Rechtsdurchsetzung in Form einer Drohkulisse mit Fluchpotential eingesetzt wurde, und das als populäre Reaktion auch noch Verbreitung und Nachahmung fand. 67 Wie Anm. 33, S. 79. 68 Der hier verwendete Begriff „malus“ meint an dieser Stelle sicher nicht nur sachlich unrichtiges, sondern auch moralisch verwerfliches Versagen. 63
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Raynaud (1583–1663) in dessen „Hoplotheca contra ictum calumniae“69, wo die konkrete Handhabung mittels zweier regulae allerdings so gar nicht auftaucht. Explizit als regelförmige Handlungshilfe für Richter findet sie sich allerdings bei – eigentlich ein Kanonist – Simon Majoli (1520–1597)70 und seinen (ganz nicht-kanonistischen, sondern allgemein enzyklopädischen) siebenbändigen „Dies caniculares“, wo er die provocatio bezeichnenderweise unter den „vaticinia“ diskutiert und dabei die beiden Regeln entwickelt hat71. Zugleich warnte Majoli davor, die historischen Beispiele nachzuahmen, denn bei Menschen ohne verlässliche sanctitas („Heiligkeit“[!]) könne nicht ausgeschlossen werden, dass sich auch unlautere Motive bei der provocatio mit einmischen. Mit dieser zweiten Regel wird indessen ein sehr moderner Gedanke sichtbar, der die provocatio in ihrer Wirkung wie eine Remonstration erscheinen lässt, nämlich als Anstoß, die Entscheidung noch einmal sorgfältig und ergebnisoffen zu überdenken. Die provocatio führt also nicht dazu, dass der Richter nun unzuständig würde (wie bei einem Devolutiveffekt) oder die Wirksamkeit seines Urteils wie bei einem echten Suspensiveffekt bis zu einer Neuentscheidung rechtlich gehemmt würde. Was sich in Hinblick auf eine Richtigkeitsgewähr des Urteils positiv ausnimmt, bedeutet andererseits gegebenenfalls eine Verfahrensverzögerung und vor allem – das Urteil ist ja bereits gefällt – eine Vollstreckungsverzögerung. Hier wird die Sache sofort sehr problematisch, weil dadurch ein Richter seine Amtspflicht verletzt, die darin besteht, dass er nach dem Urteil für zügige Vollstreckung sorgen muss, d.h. er hat eigentlich keine Befugnis, diese nun zu verzögern. Dieser Gedanke der Motivation zu nochmaligem Überdenken hatte aber erhebliche Fernwirkung. Zwar unterstellte später Buddeus72 in seinem kritischen Artikel dem gut eine Generation älteren Zeitgenossen und Gießener Strafrechtsprofessor Johann Christian Koch (1732–1808), er habe in seinem einflußreichen Lehrbuch „für gewisse Fälle eine Revision des Processes auf geschehene Einwendung der fraglichen Appellation“ gestattet. Tatsächlich vertrat dieser eine solche Auffassung gar nicht. In der fraglichen Stelle geht es nicht um eine Revision, sondern um einen VollSectio III [Didactica – gemeint sind die Heiligen als Vorbilder] cap. I quaestiuncula VIII, S. 471 f. in der Ausgabe Lyon 1650. 70 Knappe biographische Notiz bei Friedrich Schulte, Geschichte der Quellen und Literatur des canonischen Rechts, Bd. 3, Teil 1, Stuttgart 1880, S. 454 Nr. 32. 71 Bd. 2, Colloquium 2 „De vaticiniis“ (Frankfurt 1642, S. 396 f.) 72 Artikel Josaphat (wie Anm. 26). 69
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streckungsaufschub, der nur aus rechtmäßigen Ursachen erfolgen darf. Zu diesen zählt Koch die provocatio, aber auch nur dergestalt (und im Grunde deskriptiv), dass der Richter zuweilen durch eine solche provocatio veranlasst wird, sich die Akten noch einmal anzusehen, wenn die Sache nicht hinreichend sicher erscheint.73 Buddeus erliegt hier kritischem Übereifer und versteht die Stelle falsch, wie sich auch aus der deutschsprachigen Ausgabe Kochs ergibt.74 Von einer echten rechtlichen Suspensivwirkung wird man – noch weniger als von der provocatio überhaupt75 – hier also nicht sprechen können, aber ein möglicher tatsächlicher Suspensiveffekt wird ihr durchaus zugestanden. Das hat weniger mit transzendentaler Bedeutsamkeit zu tun als damit, dass sie bei nicht hinreichend sicherer Sachlage – auch wenn dieser Passus der lateinischen Ausgabe in der deutschen nicht aufscheint – den Richter die Sache zu überdenken Veranlassung bieten kann. Was daraus an Handlungsoptionen für den Richter in Hinblick auf das Urteil folgt (das Urteil muss ja schon vorliegen, sonst kann es nicht um Vollstreckungsaufschub gehen), wenn das Überdenken zu neuer Einsicht führt, sagt Koch allerdings nicht. Koch ist aber weder der erste noch der einzige, der diesen Gedanken hatte. Über Seyfarts „Reichs-Prozeß“76 führt eine Linie77 über den Reichshof-
Vgl. Johann Christian Koch, Institutiones juris criminalis, Jena 1791, § 928, S. 445: „Iudex etiam interdum ob provocationem ad tribunal Christi commovetur, ut re non satis certa, acta revideat.” 74 Anfangsgründe des peinlichen Rechts, Jena 1790, § 928 S. 593 f.: „Die Vollstreckung muß ohne Verzug vorgenommen werden, wenn nicht eine rechtmäßige Ursache es räthlich macht sie aufzuschieben. Die rechtmäßigen Ursachen eines solchen Aufschubs sind […] (4.) Bisweilen wird auch der Richter durch die Berufung auf den Richterstuhl Christi, die Acten noch einmal nachzusehen bewogen“. 75 Explizit etwa: Paschoal José de Mello Freire, Institutiones Iuris Criminalis Lusitani, 3. Auflage, Lissabon 1810, Tit 21 § II S. 221 f.: „Inanis est, et frustra ei tribuitur efffectus sive devolutivus, sive suspensivus“ (mit Beleg Püttmann, Elementa [wie Anm. 58], wo allerdings so deutlich nur vom fehlenden Suspensiveffekt die Rede ist, S. 480). 76 Vgl. oben (Anm. 8) S. 624 (diesen Passus übernahm Hermann signifikanterweise nicht in „seinen“ Lexikoneintrag): „Jedoch gefällt mir die Meinung derjenigen Rechts-Gelehrten, welche, wenn dergleichen desparate Appellation erhoben werden sollte, dieses anrathen, daß der Richter vor der Exequirung der Sentenz die Acta nochmahls revidiret, auch wenn er findet, daß er denen Rechten gemäß gesprochen hat, und dadurch in seinem Gewissen befestiget wird, hernach ohne Scheu mit der Execution verfähret“. 77 Den genaueren Rezeptionswegen wird vorliegend nicht näher nachgegangen, sie müssen vorliegend aber auch kaum interessieren. 73
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ratsspezialisten Uffenbach78 zurück wieder bis auf Majoli. Dabei ist jedoch der Modus als solcher nicht neu. Er stammt – für Majoli als Kanonisten kaum unbekannt – aus dem Recht der Appellation überhaupt und betrifft die Frage, ob und wann ein Richter eine Appellation (immerhin gegen das eigene Urteil) zulassen soll oder sie als „frivol“ verwerfen und unbeachtlich einstufen kann. Die entsprechende gemeinrechtliche (oder jedenfalls kanonistische) Lehre hatte schon der Layenspiegel79 rezipiert80, der sich im übrigen aber knapp und eindeutig gegen eine Anerkennung der provocatio aussprach.81 Johann Christoph Uffenbach, Vom Kaiserlichen Reichs-Hof-Rath, Wien 1700, cap. 16, sectio IV, subsectio IV am Ende (S. 238): Behandelt wird die Frage, ob eine provocatio den Hofrat zur neuerlichen Befassung mit den Akten zwinge. Gewisse Doktoren hielten die provocatio für eine „subtilis superstitio“ und seien für Strafbarkeit. Dennoch sei zwischen zweifelsunberührt tatkräftigem („mascule“) Zurwirkungbringen des Urteils durch Vollstreckung und zwischenzeitlicher Verunsicherung aufgrund Zweifeln an der Entscheidungsgrundlage zu unterscheiden und dann nach neuerlichem sorgfältigem Aktenstudium zu entscheiden, ob die ursprüngliche Sentenz zurückgenommen oder jetzt maturiore consilio bestätigt wird. 79 Vgl. Andreas Deutsch (Hrsg.), Ulrich Tenglers Laienspiegel: Ein Rechtsbuch zwischen Humanismus und Hexenwahn (Akademiekonferenzen 11), Heidelberg 2011 und Ders., Laienspiegel, publiziert am 15.4.2011. In: Historisches Lexikon Bayerns, http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Laienspiegel (aufgerufen am 1.3.2021). 80 Unter der Überschrift „Von der verurtailten übeltäter appellation“ führte Tengler dazu im 3. Teil („ander tail“) aus (in der Ausgabe von 1511 fol. CCXXv, hier zit. nach der Ausgabe Augsburg 1512, fol. CLXXV): „Wenn aber ain übelthae ter/ oder yemants ander also ain rechtmae ssige appellation zu thůn understeen. und es wolt dem richter zweiflich sein/ ob er die zůlassen solt oder nit/ so mag er die ursachen sollicher appellation aigentlich bewegen/ und wo er sich des zweifels bey im selbs oder anderen so gae chling nit erholen/ da mit er dann deß minder in beschwae rung vallen/ so moe cht er den übelthae ter widerumb in gefae ncknuß verwaren und die sachen an sein oberkait gelangen lassen“. – Dieser Absatz – wie alles weitere zum Göttlichen Gericht – kam erst im „neuen“ Layenspiegel ab 1511 dazu, vgl. Andreas Deutsch, Synopse der verschiedenen Laienspiegel-Ausgaben. In: Ders. (Hrsg.), Ulrich Tenglers Laienspiegel (wie Anm. 79) S. 521–532, hier S. 527 unten. Die Marginalallegation an dieser Stelle („Spe. de app. §. videndum et ex q si sunt le. c. per venere.“; zum Auftreten der Allegationen vgl. Knut Wolfgang Nörr, Romanisch-kanonischer Zivilprozeß im Laienspiegel, ebenda S. 235–242) stellt den direkten Zusammenhang zum gelehrten Recht her, sie ist im Speculum iudiciale des Duranti allerdings nicht recht punktgenau auflösbar. 81 Fol. CLXXXv: „Würd sich aber yemands von der obernhand für den allmechtigen got bee ruffen/ oder yemandts für das jungst gericht erfordern/ das wae r ungegrünt/ wann daselbst ain ander proceß gehalten/ als hyenach in andern titeln vermerckt/ mit woe lcher grausamen ordnung das jungst gericht über seel und leib ergeen und geurtailt wirt“. – Der Begriff „obernhand“ steht synonym für Obrigkeit („oberkait“ im Layenspiegel), vgl. zumal ihn Tengler mit diesem Sinn unzweifelhaft in Teil 1 im Kapitel „Von des Radts gemaynen 78
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Innovativ erscheint von Majoli nun jedoch die Übertragung dieses neuerlichen Erwägens auf die provocatio und vor allem insofern, als bei der Appellation die Kompetenz des iudex a quo sich auf die Zulassungsfrage beschränkt, Majoli hier aber nun mangels eines (irdischen) iudex ad quem, das heißt mangels einer solchen Appellationsinstanz, diesem sogar die Verwerfungskompetenz des bereits gefällten Urteils einräumt. Letztlich gebührt vielleicht gar nicht Majoli das Verdienst dieses Schritts, sondern Delrio, das mag aber dahinstehen.82 Bemerkenswerter ist die Sensibilität ausgerechnet des Kirchenrechts für diese Lösung, die sich vermutlich aus Häresie- wie Hexenprozessen als ein ganz spezieller Kontext erklärt: Hier stellt sich die Frage nämlich strukturbedingt sehr schnell, wenn das kirchliche Urteil gefällt ist und der verurteilte Delinquent nun an das brachium saeculare überliefert wird, also auch im Verfahrensablauf noch einmal eine Zäsur eintritt und der Verurteilte in dieser Phase den Inquisitionsrichter ins Tal Josaphat vorlädt. Das dürfte der Grund dafür sein, dass sich etwa auch Caesar Carena (1597–1659) in seinem Traktat „De Officio Sanctissimæ Inquisitionis et modo procedendi in causis fidei” mit der provocatio beschäftigt83. Einerseits lehnt er ihre Relevanz letztlich ab, weil er sie in allen Fällen nicht erwiesener Heiligkeit für gefährlich hält wegen der Täuschungsgefahr, dass nämlich beim Provokanten in Wahrheit doch Eigenliebe oder Rache dahinterstecken („… nebula fallere potest“84). Andererseits spricht er sich aber doch – wie Delrio (bzw. der von ihm hier nicht genannte Majoli) – immerhin für den Überlegensmodus bei auftauhandlungen“ (a.a.O. fol. XXv) ebenfalls verwendete (s.a. Deutsches Rechtswörterbuch Bd. 10, Sp. 117–118). – Dieser Passus schließt die Appellationsfragen ab. Das ist kaum zufällig, denn damit gewinnt das Kapitel eine Scharnierfunktion zwischen der Behandlung der irdischen Gerichtsbarkeit und der unmittelbar daran anschließenden Darstellung des Weltgerichts – auf das Tengler ja explizit verweist und damit die Überflüssigkeit einer provocatio begründet, wie der Leser dann selbst, einfach weiterlesend, feststellen kann. 82 Vgl. Martin Delrio (1551–1608), Disquisitionum magicarum libri VI, 3 Bde., Löwen 1599; in der benutzten Ausgabe Mainz 1616 erscheinen bei der Auseinandersetzung mit der „Provocatio ad divinum iudicium, quando licita, & quantum ei deferendum” (liber 4, cap. 4, q. 3, sect. 1, S.608–612) die beiden regulae S. 610 rechte Sp. unten und 611 linke Sp. Wenn Delrios Werk erstmals in Löwen 1599 erschien, Majolis „vaticinia“ jedoch schon 1597, spricht das für dessen Rezeption durch Delrio; jedenfalls zitierten sich beide nicht gegenseitig. 83 Erstmals Cremona 1636, benutzte Ausgabe Lyon 1649, Pars II. De Haeresi, & Haereticis § 10, S. 63 f.; zur Person vgl. Alberto Lupano, Artikel „Carena, Cesare”. In: Italo Birocchi u.a. (Hrsg.), Dizionario biografico dei giuiristi Italiani (XII–XX secolo), Bd. 1 A–Les, Bologna 2013, S. 445. 84 Carena, De officio (wie Anm. 83) RdNr. 58.
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chenden Zweifeln aus85. Andere ließen sogar auch noch diese Wirkung ganz unerwähnt86. Es ist nicht zu übersehen, dass die praktisch offenbar weit verbreitete Ladung ins Tal Josaphat aus nachvollziehbaren Gründen keine rechtliche Anerkennung erringen konnte, aber nichtsdestoweniger näherte sich die provocatio zumindest für das Strafrecht in ihrer Relevanz damit dem an, was man im Prüfungsrecht heute eine Remonstration87 nennt: denn die provocatio entfaltete ganz unabhängig davon, ob nun wirklich ein Verfahren im Jenseits aufgrund diesseitiger Vorladung erfolgen würde oder man auch nur daran glaubte, schließlich appellative Wirkung durch den Appell an die Amtspflichten des Adressaten, immerhin in Strafsachen. Wenn man so will, könnte man sie als eine der Wurzeln dieses heute doch recht neuen Instituts deuten – eine weitere Gemeinsamkeit haben sie jedenfalls: die Empfindung, Opfer einer ungerechten Entscheidung geworden zu sein. V I . Ho f f n u n g s s c h i m m e r In einem rechtlichen Kontinuum, das entscheidend durch Konfessionalität mitgeprägt war, bedeutete eine provocatio in vallem Josaphat einen Stresstest für Justitia, die Obrigkeiten und ihre Aufgabe der Herstellung von Frieden durch Recht88. Die Zulassung der provocatio zur Durchsetzung privater Ansprüche als eine Art von Selbstjustiz und Rache musste als Zerrüttung rechtlicher Prinzipien erscheinen, die zwangsläufig mit ihr einhergehende Infragestellung der Rechtsprechung als Subversion. Eine solche Systemprovokation konnte man nicht einfach dahinstehen lassen, Ebd. S. 64 RdNr. 54: „Si vero Iudex, non esset certus de Iustitia suae sententiae, sed aliquam in ea ferenda sensit animi sui perturbationem, tunc male facit Iudex, si appellationem, & citationem illam contemnat. Debet enim tunc omnia maturiori iudicio rimari, ut prior sententia, vel retractetur, vel confirmetur [wobei er sich auf Delrio bezieht]”. 86 So wie Franciscus Torreblanco, Epitome delictorum sive De magia, Ausgabe Lyon 1678, liber 3, cap. 28 (De provocatione ad divinum iudicium), S. 473 f. 87 Vgl. dazu etwa Gunnar Duttge, Sinn und Unsinn von Remonstrationen, in: Iurratio 4/2016, S. 98–100 (erreichbar unter https://www.uni-goettingen.de/de/document/download/ f726103dddc3432fe03c86fb15273d13.pdf/Iurratio-2016-4_Duttge_Beitrag.pdf [aufgerufen 21.4.2022]). Weniger Ähnlichkeit besteht mit der Remonstration des öffentlichen Dienstrechts (vgl. § 62 II 1 BBG), die zwar auch der Richtigkeits-, aber speziell der Rechtsmäßigkeitsoptimierung dienen soll, der aber die Qualität als Individualrechtsschutz fehlt. 88 Zur entsprechenden Paarformel und der darin gefaßten Programmatik vgl. Hans-Georg Hermann, Artikel „Frieden“. In: HRG Bd.1, 2. Auflage (2008), Sp. 1807–1821, hier Sp. 1814. 85
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schon gar nicht die Verbindung von Infragestellen der Gerechtigkeit eines Urteils gleich noch mit einer fluchweisen Todesdrohung gegen das urteilende Gericht. Der Herausforderung, mit dieser Problematik argumentativ ernsthaft umzugehen, haben sich Theologie und Jurisprudenz mit sichtlichem Eifer angenommen. Über die Einordnung als Mutwilligkeit und strafwürdigem Aberglauben ließ sich für die provocatio in zivilrechtlichem Kontext rasch Konsens herstellen. In Strafsachen, und hier im wirklich existenziellen Fall eines gefällten, aber inappellablen Todesurteils, verschob sich die Perspektive doch etwas. Die Vorstellung von Verurteilten als womöglich unschuldigen Opfern eines objektiv ungerechten Todesurteils schürte punktuell so etwas wie rechtliche Empathie. Denn angesichts des Todes mochte als letzter Verzweiflungsakt die provocatio tröstenden Trotz bieten, der freilich nicht so genannt werden durfte, sondern sich lauter darstellen musste, für die Moraltheologie gar als comperta sanctitas am besten „heiligenmäßig“ verbrämt. Er sollte aber immerhin eine gewisse Hoffnung erzeugen können, nämlich als Anstoß für ein neuerliches pflichtgemäßes Prüfen und womöglich Überdenken des Urteils, worin in heutiger Sicht eine erstaunliche Strukturähnlichkeit zu einer Art von Remonstration aufscheint. Das ist aus profaner Perspektive immer noch nicht viel, aber mehr als man vielleicht bei einem so jenseitsfokussierten Phänomen wie der „Ladung ins Tal Josaphat“ erwarten würde.
Vom öffentlichkeitswirksamen Event zu nachhaltiger Geschichtsarbeit – Das Webportal zur Geschichte der CSU Von Renate Höpfinger „75 Jahre CSU“ – dieses Jubiläum bot den Anlass für das Archiv für Christlich-Soziale Politik (ACSP) der Hanns-Seidel-Stiftung1, die zentralen Ereignisse und Personen der Parteigeschichte, die auch wesentlicher Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte ist, ins Licht einer breiten digitalen Öffentlichkeit zu rücken. Gedenktage und Jubiläen einer Partei, ebenso von wichtigen Wegmarken, die sie geprägt hat, sowie runde Geburts- und Todestage ihrer Politikerinnen und Politiker fordern stets auch das zuständige Archiv, mit Materialien aus dem reichen Fundus der Archivüberlieferung zu der Gestaltung dieser Events beizutragen. Nicht selten sind es die Parteiarchive, oder korrekter die Archive der politischen Stiftungen der jeweils nahestehenden Partei, selbst, die mit geeigneten, vielfältigen und öffentlichkeitswirksamen Formaten wie Ausstellungen, Buchpublikationen, Festschriften, Veranstaltungen, verschiedenen Internetangeboten, speziellen Websites oder eigenen Webportalen diese Anlässe aufgreifen, entsprechend „bearbeiten“ und darstellen. Der 75. „Geburtstag“ der CSU am 12. September 2020 bot für das ACSP den Anlass, neben einer Buchpublikation auch ein neuartiges Webportal www.csu-geschichte. de zu erstellen und beide am „Geburtstag“ im Rahmen einer prominent besetzten Großveranstaltung sowohl der Öffentlichkeit wie auch dem „Geburtstagskind“, Vertretern und Mitgliedern der Partei, vorzustellen. Das Webportal wurde mit dem Ziel gestaltet, es im Anschluss als umfassendes Geschichtsportal dauerhaft zu betreiben, es mit Fakten, Daten, Materialien und Artikeln weiter anzureichern und über die Funktion „Mach mit“ durch die Zuarbeit externer Forscher, aber vor allem auch durch die Mitwirkung von Vertretern der CSU kontinuierlich auszubauen.
Die Hanns-Seidel-Stiftung dokumentiert umfassend und möglichst vollständig die Geschichte, die Entstehung und Entwicklung der ihr nahestehenden Partei und ihrer Politikerinnen und Politiker. Dazu betreibt sie mit dem Archiv für Christlich-Soziale Politik eine Einrichtung, die die historische Überlieferung der CSU sichert, erschließt, zugänglich macht und eigene Forschungen vornimmt. Weitere Infos unter https://www.hss.de/archiv/. 1
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Der durch die Corona-Pandemie 2020 verursachte Lockdown rückte von einem Tag auf den anderen die Notwendigkeit des digitalen Zugangs zu Archivgut, historischen Quellen und Informationen nachdrücklich in den Mittelpunkt aller archivischen Arbeit. Über viele Wochen und Monate konnten den Forschenden nur über das Netz die benötigten Informationen und Quellen bereitgestellt werden. Schon lange diskutierte Pläne über den geeigneten Weg, fundierte Informationen, Aufsätze, historische Quellen, Multi-Media-Angebote Interessierten über ein Portal zentral und frei von Restriktionen und Anmeldeprozeduren möglichst unkompliziert zum Download anzubieten, konnten nun im ACSP innerhalb eines knappen Jahres realisiert und, das Datum des Jubiläums vor Augen, auch pünktlich live geschaltet werden. Die Hanns-Seidel-Stiftung stellte die zusätzlich notwendigen finanziellen Mittel bereit, um das lang gehegte und in den inhaltlichen Teilen schon seit Jahren vorbereitete Vorhaben des Archivs umzusetzen. Ko n z e p t – Te c h n i k – Pr ä s e n t a t i o n Das ACSP hatte das Ziel, die bei derartigen Jubiläen meist sehr arbeitsintensiv erstellten, aber in der Folgezeit leicht verpuffenden Maßnahmen in ein nachhaltiges Format mit langlebiger Nachnutzung zu überführen. Das Konzept für das neue Webportal sah zudem vor, die bereits seit Jahren bestehenden eigenen digitalen Angebote zu aktualisieren und auszuweiten, in zeitgemäße Formate zu bringen und leichter auffindbar anzubieten. Dabei galt es, auch unter Berücksichtigung von responsivem Webdesign die Ausgabemöglichkeiten für vielfältige Endgeräte zu optimieren und möglichst besucherfreundlich zu gestalten. Wo möglich, sollten auch die Anforderungen zur Barrierefreiheit berücksichtigt werden, was aber nicht für alle Anwendungen umgesetzt werden konnte. Für das Webportal wurde das freie Content Management-System TYPO3 gewählt, das bereits seit vielen Jahren auch die Grundlage für die Homepage der Hanns-Seidel-Stiftung und für das Webportal zu Franz Josef Strauß bietet und dessen redaktionelle Bedienung den Archivmitarbeitern vertraut und eigenständig möglich ist. Die fachliche Beratung über die Möglichkeiten und Grenzen des Systems, die Konkretisierung des Konzepts und das Herunterbrechen der sehr umfassenden, manchmal etwas zu utopischen Vorstellungen des ACSP auf realisierbare Anwendungen und Tools, die Umsetzung und die Programmierung wie die technische Weiterentwicklung und Wartung übernahm die Firma GMM AG
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mit Sitz in München und Weimar, mit deren Vertretern sich eine besonders produktive wie ungewohnt reibungslose Zusammenarbeit ergab. Die Inhalte des neuen Webportals speisten sich zum Start im Herbst 2020 aus drei Quellen: – Zum kleineren Teil aus dem bereits bestehenden digitalen Angebot auf der Homepage des ACSP, das bis dahin häufig nur im PDFFormat angeboten wurde; – aus den von mehr als 30 Autorinnen und Autoren stammenden 75 Artikeln der parallel erarbeiteten Buchpublikation „75 ‚Enthüllungen‘ über eine Partei. Was Sie über die CSU wissen sollten“, deren Format auch mit Blick auf ihre Verwendung im und Eignung für das Portal entwickelt wurde;2 Der Band bereitet Parteigeschichte in 75 kurzweiligen, aber fundierten Artikeln auf, von mehr als 30 namhaften Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft, Politik und Journalismus, mit langjähriger Kenntnis der CSU verfasst und mit Fotos, Plakaten, Flugblättern, Karikaturen des Archivs für Christlich-Soziale Politik reichhaltig bebildert und illustriert. Die 75 „Enthüllungen“, mit dem Titel eine legendäre Serie von Wahlkampfmagazinen der 1970er-Jahre aufgreifend, analysieren und bilanzieren ausgewählte Ereignisse, zentrale Wegmarken und wichtige politische Themen der Parteigeschichte (75 „Enthüllungen über eine Partei“. Was Sie über die CSU wissen sollten, hrsg. von Renate Höpfinger, München 2020). 2
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den vielfältigen neu erstellten Beiträgen und Biogrammen sowie erstmals eingebundenen umfangreichen historischen Quellen und audiovisuellen Materialien. In fünf große Bereiche – Personen, Chronik, Themen, Karte, Mach-Mit – gegliedert und mit je unterschiedlichen Funktionalitäten ausgestattet, werden die Inhalte präsentiert. Eine einfache Suche über alle Bereiche sowie eine spezielle Suche in der Chronik und vielfältige Filtermöglichkeiten im Personenbereich ermöglichen gezielte, schnelle und qualifizierte Rechercheergebnisse. Zudem konnte ein erheblicher inhaltlicher Mehrwert durch neue und innovative technische Funktionalitäten des digitalen Mediums geschaffen werden. Dadurch werden nicht nur Zugriff und Bedienung erleichtert, sondern bisher nur singulär darstellbare Inhalte verbunden, miteinander vernetzt und in neue Zusammenhänge gestellt. Das Portal zur CSU-Geschichte beantwortet, wie das schon seit vielen Jahren erfolgreich mit dem Webportal zu Franz Josef Strauß www.fjs.de umgesetzt wurde, durch das breite Angebot von Informationen und Download-Angeboten viele gleichförmige und immer wiederkehrende Fragen und Anfragen und entlastet auf diese Weise das Archivpersonal nicht unerheblich von Routineaufgaben. Di e In h a l t e d e r f ü n f B e re i c h e i n w w w. c s u - g e s c h i c h t e . d e Personen – Biogramme Der Bereich „Personen“ enthält inzwischen Biogramme zu fast 1.900 (Stand 15.9.2021) Politikerinnen und Politikern der CSU. Diese beinhalten die Ämter, Mandate und Funktionen, wesentliche Berufs- und Lebensdaten, sofern sie eruiert werden konnten, aber zu ausgewählten Protagonisten auch sog. Vertiefungsseiten mit ausführlicheren biographischen Darstellungen, weiterführenden und querverweisenden Links. Runde Geburts- und Todestage liefern hier fortgesetzt Anlässe, die jeweilige Person mit weiteren Informationen, audiovisuellem Material und sonstigen Illustrationen breiter darzustellen, hervorzuheben und erneut ins Licht zu rücken. Der Personenpool wird sukzessive erweitert. Die Biogramme werden zudem laufend ergänzt, so dass die Angaben stets auf dem aktuellen Stand sind.
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Die Funktionalität hinter diesem speziellen Bereich ermöglicht es, für den Personenpool eine Vielzahl von Filtermöglichkeiten einzurichten, die einzelnen Filter beliebig miteinander zu kombinieren, über Schieberegler zusätzlich chronologische Eingrenzungen vorzunehmen und sich mit einem Knopfdruck entsprechende Übersichtslisten erstellen und ausdrucken zu lassen. So lässt sich z.B. innerhalb weniger Sekunden anzeigen, wer von den fast 1.900 verzeichneten CSU-Politikern und -Politikerinnen weiblich, zwischen 1900 und 1950 geboren, Mitglied des Bayerischen Landtags war (Ergebnis 36 Personen), welche davon dem Bayerischen Kabinett angehörten (6 Personen) und von denen wiederum stellvertretende Parteivorsitzende waren (2 Personen). Einmal in die Personendatenbank aufgenommen und mit den entsprechenden Funktionen und Amtszeiten den konkreten Filtern zugewiesen, können diese Personen auch in andere Zusammenhänge gestellt und so in anderen Bereichen des Webportals dargestellt und abgerufen werden. Beispiele dafür sind die Vorsitzenden der CSU-Verbände. Ist eine Person Vorsitzende oder Vorsitzender eines Orts-, Kreis- und/oder Bezirksverbandes, so wird bei diesem Verband, der über eine Karte angeklickt und aufgerufen werden kann, automatisch die Liste aller Vorsitzenden mit ihren Amtszeiten in der korrekten chronologischen Abfolge angezeigt.
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Chronik – Ereignisse Die Chronologie zu den wichtigsten Ereignissen der CSU-Geschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 umfasst ca. 560 Einträge mit knappen Erläuterungen und Querverlinkungen auf Personen und Themen. In der Chronologie lässt sich anhand eines Zeitstrahls navigieren. Eine eigene Suchfunktion innerhalb der Ereignisse ermöglicht die Volltextsuche wie auch die Suche nach Daten, die Darstellung des Suchergebnisses erfolgt wieder im Zeitstrahl. In einer weiteren Ausbaustufe sollen sich aus dem Bereich Chronik und Personen (hier vor allem Geburts- und Sterbedaten) automatisch tagesaktuelle Kalender erstellen lassen. Themen – Politikfelder – Wahlen – Parteiorganisation Im großen Bereich Themen finden sich Artikel namhafter Autoren zu drei thematischen Feldern, den Sachthemen, der Partei und den Wahlen. In der Rubrik (Sach-)„Themen“ werden die zentralen Politikfelder Agrar-, Deutschland-, Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik, Finanz-, Wirtschafts- und Strukturpolitik, Sozialpolitik, Innen- und Kommunalpolitik,
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Kultur- und Digitalpolitik und Föderalismus, die die CSU im Laufe ihrer Geschichte kontinuierlich „beackert“ hat und die für ihr Selbstverständnis konstitutiv waren und sind, beleuchtet. Die Beiträge in der Rubrik „Partei“ informieren über die Gründung, Organe und Gremien der Partei, über Grundsatzfragen und Grundsatzprogramme, über ihre Fraktionen in den Parlamenten von Land, Bund und Europa. Sie liefern vollständige Nachweise ihrer zahlreichen Arbeitsgemeinschaften, Arbeitskreise, Kommissionen und Foren und ergänzen mit Ausführungen zu nahestehenden Einrichtungen (wie den RCDS, die Schülerunion, den Wirtschaftsbeirat der Union), zu Mitgliedern und Wählern der CSU, zur Parteipresse, zum Politischen Aschermittwoch und zu Volksentscheiden als einem Instrument der direkten Demokratie die Gesamtdarstellung. Hier findet sich zudem ein sehr breites Angebot an Quellen und Materialien, etwa alle Grundsatz- und Wahlprogramme, Satzungen und Parteitagsprotokolle, zum Download. In der Rubrik „Wahlen“ beschäftigen sich die Artikel mit den Kanzlerkandidaturen der CSU, mit der Wahlwerbung insgesamt, mit den Wahlspots und Plakaten. Eine Auswahl von Filmen und ein Link auf die mehr als 8.000 CSU-Plakate ergänzen diese Beiträge. Zudem finden sich hier alle Wahlprogramme der CSU für die Wahlen zum Deutschen Bun-
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destag, zum Bayerischen Landtag, zu den Kommunalwahlen in Bayern sowie zum Europäischen Parlament zum Download sowie Übersichten über sämtliche Wahltermine und Wahlergebnisse, über die Wahlslogans und die Spitzenkandidaten. Karte – Regionalverbände Sämtliche Bezirks- und Kreisverbände sind mit ersten wesentlichen Daten zur Gründung des Verbandes und den jeweiligen Vorsitzenden über eine Karte aufrufbar. Die Übersicht über die Vorsitzenden speist sich aus dem Personenbereich, die Biogramme und Biografien können über die Verlinkung direkt auch aus diesem Bereich aufgerufen werden. Der vektorisierten Karte liegt die aktuelle, seit der Landkreisreform 1972 gültige und prinzipiell der staatlichen Gliederung folgende Einteilung in zehn Bezirksverbände (7 Regierungsbezirke und 3 Großstädte) und 107 Kreisverbände (71 Landkreise und kreisfreie Städte und Großstädte) zugrunde. In der Karte kann man sich von der Landesebene über die Bezirks- und Kreisverbände bis zur Ebene der Ortsverbände klicken, wobei sich bei jedem Klick der Zoom-Faktor ändert. Die Detailseite des jeweiligen Verbandes nennt das Gründungsdatum, informiert über die Geschichte des Verbandes, gibt Infos zu Literatur und Quellen und listet die Vorsitzenden mit ihren Amtszeiten auf. Auf der Seite der Kreisverbände werden auch die alten Kreisverbände (insgesamt 197) aus der Zeit vor der Gebietsreform, aus denen die aktuellen Kreisverbände gebildet wurden, angezeigt. Die Dokumentation der Geschichte der einzelnen Kreisverbände, der alten wie der aktuellen, bleibt eine permanente Aufgabe für die nächsten Jahre. Noch mehr gilt dies für die insgesamt 2.615 CSU-Ortsverbände (Stand September 2020). Diese konnten bisher nur vereinzelt, meist über die „Mach mit“-Funktion durch die Unterstützung externer Zulieferer befüllt werden. Mach mit – schreib deine Geschichte! Das Portal ist noch nicht annähernd vollständig. Es ruft zum Mitmachen und Fortschreiben der Parteigeschichte auf und bietet Raum für weitere Artikel zu Personen, Ereignissen und Themen. Den Kontakt zu den abgebenden Stellen, vor allem den Regionalverbänden, zu intensivieren und über die „Mach-Mit“-Funktion für die historische Arbeit zu sensibilisieren, zu interessieren und zur Mitarbeit zu bewegen, ist ein weiteres
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großes Ziel des Portals. Um die Geschichte der Regionalverbände, vor allem der Kreis- und Ortsverbände, die Tätigkeit der dort wirkenden Kommunalpolitikerinnen und -politiker zu erfassen und breiter darzustellen, ist eine Mitarbeit von Externen wie aus den Verbänden selbst notwendig. Personen, die die Geschichte ihres Verbandes, der Arbeitsgemeinschaftenoder Arbeitskreise, oder auch einzelner Personen dokumentieren möchten, können ihre Berichte und Darstellungen, die Dokumente, Unterlagen, Fotos und Zeitzeugenberichte aus ihrem Verband, Plakate, Wahlkampfmaterialien und Videos aus ihren Wahlkämpfen über die Seite „Mach mit“ https://www.csu-geschichte.de/mach-mit/ unkompliziert hochladen. Dem ACSP bietet sich dadurch eine weitere Möglichkeit, zusätzliches Archivmaterial wie lokale Werbematerialien zu erhalten und die Kontakte in die Verbände zu pflegen und zu erweitern. Fa z i t u n d Au s b l i c k Mit dem Webportal konnte das ACSP ein tagesaktuell bedienbares, reaktionsschnelles Instrument der Öffentlichkeitsarbeit mit großer Reichweite schaffen. Im Ringen um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit
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wird das Angebot des Archivs so sichtbarer, im vielfältigen Konzert und Überangebot an Informationen wahrnehmbarer. Informationen können einfach und schnell bereitgestellt werden, durch einen schrankenlosen Zugang zu den digitalen Quellen wird deren Benutzung erheblich vereinfacht und erleichtert. Das Webportal als Maßnahme der Öffentlichkeitsarbeit richtet sich aber auch nach innen, an den Träger der Einrichtung, um die Aufgaben und die eigene Leistungsfähigkeit darzustellen. Es richtet sich an „die Partei“ als abgebende Stelle mit dem mehrfachen Impetus des Sammelns, des Nachweises, was mit den Informationen und Materialien geschieht, aber auch als bequeme Informationsquelle über die eigene Geschichte. Mit der Bereitstellung authentischer Quellen ermöglichen die Archive seit je einen quellenkritischen Umgang mit Informationen. Nachprüfbare, quellengestützte Informationen und Materialien stehen den von „alternativen Fakten“ geprägten Informationsblasen gegenüber, wodurch das ACSP auch einen Anteil am Auftrag der Hanns-Seidel-Stiftung zur historisch-politischen Bildungsarbeit übernimmt. Das Portal fängt mit seinem Informations- und Download-Angebot sehr viele Routineanfragen auf und entlastet damit das Archivpersonal. Über die „Mach mit“-Funktion lässt sich auch externe Expertise von Archivnut-
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zern, die zu einem bestimmten Thema forschen, einbinden. Es sind aber auch die Vertreter der Partei selbst, die animiert werden sollen, ihre eigene Geschichte und die ihres Verbandes einzubringen. Dadurch werden Infos und Materialien hochgeladen, die im ACSP bisher nicht vorlagen und die die Überlieferung ergänzen. Zudem werden die Kontakte zu den Archivgut produzierenden Stellen verstärkt. Anlassbezogen, wie zum Beispiel zur Bundestagswahl 2021, werden alle Kandidaten und CSU-Geschäftsstellen in den Bundeswahlkreisen kontaktiert, ihre Plakate, Flugblätter, Wahlmaterialien hochzuladen und ihre Biogramme zu ergänzen. Dadurch werden die Inhalte des Portals angereichert, die Sammlungen vervollständigt, die Kontakte intensiviert. Die angestrebte Mitwirkung ist jedoch kein Selbstläufer, sondern erfordert stets neue Werbeaktionen des ACSP, gezielte Ansprachen der Kontaktpersonen und gestaltet sich personalintensiver als ursprünglich gedacht. Die schon lange durch das Internet bewirkten Veränderungen des Informationsverhaltens wurden unter den Bedingungen der Pandemie massiv verstärkt, was sich an den Zugriffszahlen auf das Portal deutlich ablesen lässt. Erste Auswertungen der Zugriffe zeigen, dass das Portal stabil und zuverlässig erreichbar ist, die Besucher hauptsächlich über die Suchmaschinen und über den direkten Aufruf auf das Portal kommen und dort überraschend lange verweilen. Ausbaufähig bleibt die Reichweite. Um sie zu steigern, werden laufend technische Weiterentwicklungen am Portal vorgenommen und die Inhalte erweitert. Künftig sollen mehr Videos eingebunden sowie Marketingmaßnahmen wie Backlinks gesetzt und die verschiedenen Social-Media-Kanäle verstärkt genutzt werden, um weitere Zielgruppen anzusprechen. Das Internet und das hier eingesetzte „Instrument Webportal“ setzen weder dem Engagement, noch dem Umfang des Archivangebots, den Möglichkeiten der Überarbeitung, Ergänzung und Ausweitung Grenzen.
Die Bundesregierung und das Gesetz zum Schutz des Olympischen Friedens Von Michael Hollmann Der Weltöffentlichkeit das moderne Deutschland vorzustellen … „Es liegen Anhaltspunkte dafür vor, daß einzelne sowie Angehörige politisch radikaler Gruppen des In- und Auslandes die große mit der Durchführung der Olympischen Spiele verbundene Publizität für eigene politische Zielsetzungen nutzen und dem Ansehen unseres Staates schaden wollen. Mit politischen Demonstrationen auch größeren Ausmaßes, die – ähnlich wie die Demonstrationen anläßlich der Olympiade in Mexiko – bewußt auf eine Konfrontation mit der Polizei angelegt sind, muß gerechnet werden. Dies liefe der vom Organisationskomitee aus guten Gründen gewünschten Zurückhaltung beim Einsatz von Polizei zuwider und würde den friedlichen Charakter der Olympischen Spiele verfälschen. […] Die beteiligten Referate des Hauses haben in der am 16.12.1970 unter der Federführung des Referats ÖS 1 abgehaltenen Besprechung eine besondere gesetzliche Regelung zum Schutze des olympischen Friedens befürwortet.“1 Mit diesem Votum seiner Mitarbeiter ausgestattet ging der Bundesminister des Innern Hans-Dietrich Genscher am 8. und 9. Januar 1971 in die Sitzung des Vorstands des Organisationskomitees für die Olympischen Spiele 1972 in München. Gegenstand der Beratungen war u.a. die Frage, wie in München und Kiel während der Sommerspiele für die Sicherheit der Athleten und der ausländischen Gäste gesorgt werden könnte, ohne dass das Sicherheitsregime den Charakter der Spiele allzu sehr beeinträchtigen würde, die doch nach dem Willen des Organisationskomitees des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) ebenso wie nach den Vorstel-
Siehe den Informationsvermerk des Referats ÖS 1 des BMI in Bundesarchiv (BArch), B 106/146484. – Bei wörtlichen Quellenzitaten wird die Schreibweise der Quelle in unveränderter Rechtschreibung wiedergegeben. 1
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lungen der Bundesregierung als besonders ungezwungen und heiter in die Geschichte der Olympischen Spiele der Neuzeit eingehen sollten.2 Im vollen Bewusstsein der besonderen deutschen Situation nur ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der NSGewaltherrschaft in Deutschland und Europa und vor dem Hintergrund der gerade im Sport besonders sichtbaren deutschen Teilung wollte die Bundesregierung mit den Sommerspielen 1972 die Visitenkarte eines veränderten Landes abgeben. Im Rahmen seiner ersten Regierungserklärung stellte der neue Bundeskanzler Willy Brandt am 28. Oktober 1969 mit Blick auf die XX. Olympischen Sommerspiele in München und Kiel fest: „Wir haben die Chance, der Weltöffentlichkeit das moderne Deutschland vorzustellen.“3 In seiner Ansprache vor dem Beirat des Organisationskomitees führte der Bundeskanzler diesen Gedanken am 23. März 1970 weiter aus4: „Bei gleichen Wettbewerbsbedingungen und Startchancen“ kämen junge Menschen aus aller Welt zusammen, so dass „politische, nationale oder rassische und andere Unterschiede fast bedeutungslos“ wären; sogar junge Sportler aus beiden Teilen Deutschlands würden „sich im Wettkampf untereinander messen, ohne daß sie in dieser sportlichen Begegnung etwas anderes als eben dieses sehen sollten“. So könnten „wir […] dokumentieren, daß nach 1945 ein friedliebendes und demokratisches Deutschland aufgebaut ist, das die Verständigung nach allen Seiten sucht.“ Vizekanzler und Außenminister Walter Scheel brachte das in einem Schreiben an die Botschaften und Konsulate der Bundesrepublik Deutschland vom 16. April 1970 in die Form einer diplomatischen Leitlinie: „Die Olympischen Sommerspiele 1972 in München und Kiel werden mehr noch als bisher die Aufmerksamkeit der Welt auf die Bundesrepublik Deutschland lenken. Wir müssen uns bewußt sein, daß das Interesse 2 Zur Vorgeschichte der Olympischen Spiele 1972 vgl. Kay Schiller – Christopher Young, München 1972. Olympische Spiele im Zeichen des modernen Deutschland, Göttingen 2012. – Eva Maria Gajek, Imagepolitik im olympischen Wettstreit. Die Spiele von Rom 1960 und München 1972 (Geschichte der Gegenwart 7), Göttingen 2013. – Uta Andrea Balbier, „Der Welt das moderne Deutschland vorstellen“: Die Eröffnungsfeier der Spiele der XX. Olympiade in München 1972. In: Johannes Paulmann (Hrsg.), Auswärtige Repräsentationen. Deutsche Kulturdiplomatie nach 1945, Köln u.a. 2005, S. 105–119. 3 Siehe die 5. Sitzung des Deutschen Bundestags am 28. Oktober 1969 – Stenographische Berichte 6. Wahlperiode, Band 1, S. 30 (https://dserver.bundestag.de/btp/06/06005.pdf ). 4 Siehe den Abdruck der Ansprache im Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 42 vom 25. März 1970, S. 401 f.
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der Völker vermutlich stärker und kritischer sein wird als bei Ländern, in denen die Olympischen Spiele bisher ausgerichtet worden sind. Die Erinnerung an die Olympiade in Berlin 1936, an unsere historische Vergangenheit und nicht zuletzt das Bewußtsein unserer besonderen politischen Lage werden dabei eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Zwar richtet nach den Statuten des Internationalen Olympischen Komitees nicht ein Land, sondern eine Stadt die Spiele aus, am Erfolg oder Mißerfolg wird jedoch das ganze Land, seine ganze Bevölkerung gemessen werden. Somit bietet sich für uns eine einmalige Gelegenheit, das aus dem weltweiten Interesse am Sport erwachsende Interesse für die Darstellung unserer Entwicklung und unseres Staatswesens zu erschließen und dem Ausland ein Bild des modernen Deutschland mit allen seinen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aspekten zu vermitteln.“5 Zu einem „modernen Deutschland“ würden aber weder Störungen der Spiele durch politische Demonstrationen und Krawalle gepasst haben noch ein allzu deutlich sichtbares und als repressiv empfundenes Sicherheitsregime. Nicht von ungefähr weist der Verfasser des eingangs zitierten Informationsvermerks auf die zum Zeitpunkt seiner Abfassung nur wenig mehr als zwei Jahre zurückliegenden „Demonstrationen“ in Mexiko City hin. Nur sehr verklausuliert – und in der Verkürzung durchaus befremdlich – wird hier auf die ausgedehnten öffentlichen Proteste im Vorfeld der XIX. Olympischen Sommerspiele von Mexiko Bezug genommen, die in dem „Massaker von Tlatelolco“ vom 2. Oktober 1968 gipfelten, bei dem in Mexiko City nur zehn Tage vor der Eröffnung der Spiele Militär und Polizei eine Studentendemonstration gewaltsam aufgelöst und dabei mehr als 250 Menschen getötet hatten.6 Etwas Derartiges sollte sich 1972 in München unter keinen Umständen wiederholen. Anfang der 1970er Jahre lautete die Frage allerdings, wie eine Wiederholung vermieden werden könnte. Zu Beginn der sozial-liberalen Ära war das Demonstrationsrecht ein „heißes Eisen“, das niemand gerne anpacken wollte. Jede Einschränkung des Versammlungsrechts hätte eine Diskussion wieder aufflammen lassen, die ein Jahr zuvor die Debatte über die Reform Siehe das Rundschreiben Scheels an die Botschaften und Konsulate vom 16. April 1970 in Politisches Archiv des Auswärtigen Amts / BAV 243 TELA Bd. 2233-1. 6 Zu den Olympischen Spielen von Mexiko und ihren (sport)politischen Kontexten vgl. Klaus Zeyringer, Olympische Spiele. Eine Kulturgeschichte, Band 1: Sommer, Frankfurt am Main 2016, S. 404–417, zum Massaker von Tlatelolco S. 408–411. 5
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des Demonstrationsrechts im Rahmen des 3. Strafrechtsreformgesetzes vom 20. Mai 1970 bestimmt hatte. In der Folge der Studentenunruhen des Frühjahrs 1968 sah sich die Justiz mit einer enormen Anzahl an Strafverfahren gegen die Veranstalter und Teilnehmer an den zahllosen Demonstrationen des Jahres 1968 konfrontiert. In der Öffentlichkeit wurde die strafrechtliche Verfolgung der dabei begangenen Verstöße gegen den öffentlichen Frieden vielfach als viel zu hart empfunden, denn „bereits geringfügige Verfehlungen im Rahmen von Demonstrationen und passiver Widerstand reichten in der Regel für eine Verurteilung zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen aus“.7 Obgleich alle Seiten eine Reform des Demonstrationsstrafrechts für notwendig erachteten und die Reform alle parlamentarischen Etappen in vergleichsweise kurzer Zeit durchlief, gab es doch zwischen den Parteien der neuen sozial-liberalen Regierungskoalition und der CDU/CSU-Opposition, aber auch innerhalb der Parteien intensive Diskussionen insbesondere über die Frage, ob bereits die Teilnahme an Demonstrationen schon als Straftat oder doch nur als Ordnungswidrigkeit bewertet werden müsste. Diese Debatte über die Einschränkung eines verfassungsmäßig garantierten Grundrechts war natürlich allen präsent, die nach einer Lösung des Sicherheitsproblems während der Olympischen Spiele suchten und sie schließlich in dem Gesetz zum Schutz des Olympischen Friedens vom 31. Mai 1972 fanden. In der Literatur wird das Gesetz bestenfalls am Rande erwähnt; auch Schiller und Young haben ihm in ihrer brillanten Monographie über die Olympischen Spiele 1972 nur geringe Beachtung geschenkt und den politischen Kern der Debatte nicht erfasst. „Nach anfänglichem Zögern des Bundes und anschließenden Streitereien über Detailfragen zwischen Bonn und der bayerischen Staatsregierung konnte Genscher den Gesetzesvorschlag schließlich durch das Kabinett bringen, so dass er im Frühjahr 1972 durch den Bundestag verabschiedet wurde.“8 Diese Zusammenfassung ist nicht nur hinsichtlich der Ereignisse und der Rolle Genschers nicht korrekt, hier gerät der eigentliche Dreh- und An Zum 3. Strafrechtsreformgesetz vom 20. Mai 1970 vgl. Tim Busch, Die deutsche Strafrechtsreform. Ein Rückblick auf die sechs Reformen des Deutschen Strafrechts (1969– 1998) (Kieler Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Neue Folge, 47), Baden-Baden 2005, S. 77–93, das Zitat auf S. 78, und umfassend Heiko Drescher, Genese und Hintergründe der Demonstrationsstrafrechtsreform von 1970 unter Berücksichtigung des geschichtlichen Wandels der Demonstrationsformen, Diss. phil. masch. Düsseldorf 2005 (Belegexemplar in der Dienstbibliothek des Bundesarchivs in Koblenz). 8 Schiller – Young (wie Anm. 2) S. 224. 7
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gelpunkt einer mehr als zweijährigen Debatte völlig aus dem Fokus – die Frage nach der Angemessenheit von Grundrechtsbeschränkungen und der Übernahme der politischen Verantwortung. Ein Blick in die Akten kann dem abhelfen – das Ergebnis ist eine deutlich andere Geschichte. Das Organisationskomitee des NOK u n d d a s Si c h e r h e i t s p r o b l e m Schon früh dachten die Organisatoren der Münchner Spiele insbesondere über präventive Maßnahmen zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit während der Olympischen Spiele nach. Anlass dazu bot etwa die bereits im November 1968 in München erfolgte Gründung eines „Komitees zur Verhinderung der Olympischen Spiele 1972“, das nach Informationen des Bundesministeriums des Innern mit den Organisatoren der Studentenproteste in Mexiko in Verbindung stand. Gerüchte, denen die deutschen Sicherheitsbehörden jeweils nachgingen, kursierten etwa über geplante Protestaktionen von ehemaligen DDR-Häftlingen, über Aufmärsche rechtsradikaler Jugendorganisationen oder über groß angelegte bewaffnete Aktionen gegen US-amerikanische Kriegsschiffe, die während der Olympischen Spiele in deutschen Häfen liegen würden.9 Im Vorstand des Organisationskomitees des NOK hatte der Münchner Oberbürgermeister Dr. Hans-Jochen Vogel daher bereits am 16. Januar 1969 vorgeschlagen, die notwendigen „Gegenmaßnahmen generalstabsmäßig vorzubereiten“.10 Erstmals ausführlich wurde die „Regelung von Sicherheits- und Ordnungsaufgaben in den ‚olympischen Bereichen‘“ im Rahmen der 17. Sitzung des Vorstands des Organisationskomitees am 21. und 22. November 1969 verhandelt.11 Das NOK-Generalsekretariat hatte nach Gesprächen mit der Landeshauptstadt München und dem Bayerischen Staatsministerium des Innern eine Konzeption erarbeitet12, die den Teilnehmern der Sitzung – unter ihnen zeitweise auch der seit kurzem
Siehe Unterlagen hierzu in BArch, B 106/379472. Siehe den Vermerk des im BMI für die Olympischen Spiele zuständigen Referats SK 2 vom 2. Dezember 1969 in BArch, B 106/379472. 11 Siehe die „Niederschrift über die 17. Sitzung des Vorstandes am 21./22. November 1969“ in BArch, B 185/2601; zu „Tagesordnungspunkt 12: Regelung von Sicherheits- und Ordnungsaufgaben in den ‚olympischen Bereichen‘“ siehe die Seiten 26–33 des Protokolls. 12 Siehe den Text der Konzeption, der dem Protokoll nicht beigefügt wurde, in BArch, B 106/379472. 9
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amtierende Bundesinnenminister und Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher – als Tisch- und Beschlussvorlage zur Verfügung stand. Neben allgemeinen Erwägungen der Sicherheits- und Ordnungsfragen wurde dem Organisationskomitee die Einsetzung einer 500 Mann starken privaten Ordnungsgruppe vorgeschlagen, die das Hausrecht des NOK im Bereich der olympischen Veranstaltungsstätten und des Olympischen Dorfes umsetzen sollte. Die Gruppe sollte in enger Abstimmung mit der Polizei der Landeshauptstadt München „die für die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung erforderlichen Vorkehrungen“ treffen. Im Fokus stand dabei die Frage, bis zu welchem Punkt der private Ordnungsdienst des NOK für Ordnung sorgen könnte und dürfte und ab wann ein Eingreifen der Polizei unumgänglich sein würde. Quasi als gesetzliches Fundament gehörten zu dem Konzept auch die Entwürfe eines „Gesetzes zur Wahrung des Olympischen Friedens“ und der entsprechenden, durch die Landtage von Bayern und SchleswigHolstein zu beschließenden Ausführungsgesetze. Beide Entwürfe waren denkbar kurz. Das vorgesehene Bundesgesetz sollte vier Paragraphen umfassen: Laut § 1 sollten zur Gewährleistung der friedlichen Durchführung der Olympischen Spiele 1972 „um die Veranstaltungsstätten Bannkreise gebildet“ werden. Gemäß § 2 sollten „innerhalb der olympischen Bannkreise […] öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge verboten“ sein. § 3 stellte die Definition der „befriedeten Bannkreise“ in die Entscheidung der betroffenen Länder. Und § 4 begrenzte schließlich die Geltung des Gesetzes auf den Zeitraum vom 1. August 1972 bis zum 15. September 1972. In den Ausführungsgesetzen, die nur zwei Paragraphen umfassten, sollten Bayern und Schleswig-Holstein die olympischen Bannkreise für den genannten Zeitraum präzise beschreiben.13 In der Diskussion setzte sich vor allem Oberbürgermeister Vogel14 sehr grundsätzlich und umfassend mit dem Thema Sicherheit auseinander. Im Fokus stand für ihn allerdings weniger das Problem der Kompetenzabgrenzung zwischen dem Ordnungsdienst des NOK und der Münchner Polizei als vielmehr die Frage nach den Personenkreisen, von denen Störungen ausgehen könnten, und ihren Zielen. Zunächst nannte er „die verschiedensten kriminellen Elemente (Taschendiebe u.ä.)“, die nach seiner Auf Nicht berücksichtigt wurde dabei Baden-Württemberg, obwohl Ulm, Göppingen und Böblingen Austragungsorte des Olympischen Handballturniers waren. 14 Zu Vogels Rolle bei der Planung und Durchführung der Olympischen Sommerspiele vgl. Schiller – Young (wie Anm. 2) S. 23–29. 13
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fassung ausschließlich in die Zuständigkeit der Polizei fielen. Die zweite Gruppe bildeten „militante, anarchistische Unruhestifter“, die durch die „außerordentliche Publizität der Olympischen Spiele“ angezogen werden könnten. Die Ausführungen Vogels zur dritten und wichtigsten Gruppe sind so prägnant, dass es sich lohnt, das Protokoll im Wortlaut zu zitieren: „Eine dritte Gruppe von potentiellen Störern müsse man unter den Teilnehmern der Spiele selbst sehen. Gewisse Kreise“ – die DDR und ihre Athleten nannte Vogel lieber nicht beim Namen – „hätten es offenbar aufgegeben, die Spiele in München insgesamt zu verhindern, zumal gerade die eigene Überlegenheit auf der Aschenbahn bewiesen werden solle. Ziel der Angriffe werde hingegen das Gastgeberland als solches“ sein. Jede „harte Reaktion staatlicher Organe sei als Beweis für die Behauptung willkommen, daß die Bundesrepublik eben doch ein unfriedliches Land und die hiesige Gesellschaftsordnung auf Aggression und Unterdrückung ausgerichtet seien. Viele Probleme der „heutigen Welt“, politische Gegensätze im eigentlichen Sinn, nicht zuletzt Rassenkonflikte böten die Gefahr, daß sie sich aus Anlaß und im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen fortsetzen, oder doch am Rande Auswirkungen auf diese Spiele zeigen würden. Die Verantwortlichen für diese Spiele müßten sich mit diesen Problemen in allem Ernst auseinandersetzen, denn über eines müsse man sich im klaren sein: wenn wirklich derartige Konfliktsituationen aufträten und die Reaktion hierauf von der Weltöffentlichkeit nicht akzeptiert würden [sic!], dann sei der Erfolg der gesamten Spiele in Frage gestellt. Die jahrelangen Vorbereitungen und der große finanzielle Aufwand könnten umsonst sein, dem Bild Deutschlands in der Welt werde nicht nur nicht genützt, sondern geschadet. Zielscheibe der Störungen werde somit in erster Linie die Bundesrepublik sein und alles, was diese Bundesrepublik repräsentiere. Dabei werde jede Reaktion durch uniformierte und gar bewaffnete Kräfte geradezu als Rechtfertigung für noch intensivere Gegenstörungen dienen und so zu einer Eskalation des Unfriedens führen. […] Wichtig sei nicht, wie die Tausende von Zuschauern im Stadion, sondern wie die Millionen von Fernsehzuschauern in der Welt reagierten. Zweckrichtung aller Überlegungen müsse es sein, erstens nach Möglichkeit eine Zielumlenkung potentieller Störungen zu erreichen, um das Bild des Gastgeberlandes so wenig wie möglich in Mitleidenschaft ziehen zu lassen, und zweitens uniformierte, staatliche Ordnungsorgane so lange wie
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möglich herauszuhalten, um eine Eskalation von Reaktion und Gegenreaktion zu verhindern.“ Das Sicherheitskonzept des Generalsekretariats und Vogels Ausführungen führten anschließend zu einer „umfassenden und lebhaften Aussprache“, die sich allerdings weitgehend um den geplanten Ordnungsdienst drehte und schließlich vertagt wurde. Auch Bundesminister Hans-Dietrich Genscher sprach sich angesichts vieler noch offener Fragen, „die einem kleinen Kreis von Fachleuten“ überlassen werden sollten, für eine Vertagung aus. Damit unterblieb zunächst auch die Beratung der vorgeschlagenen Gesetzesentwürfe. Erst in seiner 20. Sitzung am 1. Juli 1970 kam der Vorstand des Organisationskomitees wieder auf das Thema zurück.15 Zunächst stellte der mittlerweile berufene Sonderbeauftragte für Sicherheitsfragen, der Münchner Polizeipräsident Dr. Manfred Schreiber16, seine auf Prävention und Eskalationsvermeidung beruhende Sicherheitskonzeption vor. Anschließend kam Oberbürgermeister Vogel auf die Idee eines „Gesetzes zur Einschränkung des Versammlungsrechtes“ zurück und verwies erneut „auf die möglichen internationalen Auswirkungen, etwa einer Demonstration gegen ein ausländisches Staatsoberhaupt oder den Präsidenten des IOC“.17 Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium des Innern Wolfram Dorn18, der Minister Genscher in der Vorstandssitzung vertrat, Siehe die Sitzungsniederschrift in BArch, B 185/2601. Zu Person und Werdegang Schreibers vgl. Schiller – Young (wie Anm. 2) S. 221–223. 17 Der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, der US-Amerikaner Avery Brundage (1887–1975), war nicht nur in Deutschland insbesondere wegen seines offenkundigen Antisemitismus, seiner unkritischen Haltung zum Nationalsozialismus und seiner offenen Bewunderung für die Olympischen Spiele von 1936 in Berlin sehr umstritten. Sein dogmatisches Festhalten an der von Pierre de Coubertin begründeten Idee der Olympischen Spiele der Neuzeit als ausschließlich auf den Sport bezogene und daher völlig unpolitische Veranstaltung hatte schon in Mexiko zur harschen Verurteilung der v.a. USamerikanischen Sportler geführt, die öffentlich gegen den Rassismus in den USA protestiert hatten. Auch seine Reaktion auf das Attentat auf die israelischen Sportler in München führte zu heftiger Kritik, weil er das Attentat als Störung der Olympischen Spiele in seiner Traueransprache („The Games must go on!“) auf eine Ebene stellte mit den Protesten afrikanischer Staaten gegen eine Teilnahme Rhodesien und den nachfolgenden, gegen den Willen Brundages erfolgten Ausschluss Rhodesiens von den Münchner Spielen. Zu Avery Brundage siehe Schiller – Young (wie Anm. 2) insbes. S. 30–36, 100–104. 18 Zu Wolfram Dorn (1924–2014) siehe dessen Aufzeichnungen in: Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Aufzeichnungen und Erinnerungen, Band 15: Wolfram Dorn, Willi Weiskirch, München 1996, S. 9–327. Die Ausführungen Dorns (S. 236 f.) zu seiner Rolle bei der Vorbereitung der Olympischen Spiele sind unergiebig. 15 16
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„erklärte auf Frage des Präsidenten [Willi Daume], daß der Bundesinnenminister einem solchen Gesetzentwurf ablehnend gegenüberstehe und er [Dorn] keine Chance sehe, einen solchen Gesetzentwurf im Kabinett zu verabschieden. Trotzdem werde er gern das Problem noch einmal mit dem Bundesinnenminister und den Innenministern der beteiligten Länder besprechen.“ Die Vertreter Bayerns, Unterrichts- und Kultusminister Ludwig Huber, und Schleswig-Holsteins, der Staatssekretär im Finanzministerium Prof. Dr. Ekkehard Geib, unterstützten allerdings den Vorschlags Vogels, sodass der Vorstand das Thema auf Anregung Dorns erneut vertagte. Di e Bu n d e s re g i e r u n g u n d d a s „ Ba n n m e i l e n g e s e t z “ Innerhalb des Bundesministeriums des Innern lief die Diskussion über ein mögliches Gesetz nur sehr schleppend an. Die Zuständigkeit war – der doppelten Verantwortlichkeit des Bundesinnenministeriums sowohl für die öffentliche Sicherheit als auch für Angelegenheiten des Sports entsprechend – auf mehrere Referate verteilt: Da es sich bei dem Gesetz materiell um eine Einschränkung der grundgesetzlich geschützten Versammlungsfreiheit handelte, war die Zuständigkeit der Abteilung V (Verfassung, Staatsrecht, Verwaltung) und speziell der Referate V I 1 (Allgemeine Verfassungsangelegenheiten) und V I 5 (Wahlrecht, Parteienrecht, Versammlungsrecht, Vereinsrecht) betroffen. Für die Abteilung SK (Sport, Angelegenheiten der Kulturpflege) waren die Referate SK I 2 (Olympische Spiele 1972) und SK I 5 (Gesamtdeutsche und Internationale Angelegenheiten des Sports) beteiligt. Die Federführung lag allerdings bei der Abteilung ÖS (Öffentliche Sicherheit), vertreten durch das Referat ÖS 7 (Allgemeine Polizeiangelegenheiten, Grundsatz- und Rechtsangelegenheiten der Bereitschaftspolizeien der Länder) und vor allem durch das Referat ÖS 1 (Staatsschutz). Die Leitung des Referats ÖS 1 lag 1970 zunächst noch vertretungsweise bei Regierungsrat Streicher und wurde ihm im Laufe des Jahres 1971 dauerhaft übertragen, verbunden mit einer Beförderung zum Regierungsdirektor. Abteilungsleiter war seit dem Frühjahr 1970 Ministerialdirektor Dr. Günther Nollau, der am 1. Mai 1972 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz werden sollte.19 Das für die Olympischen Spiele zuständige Referat SK I 2 hatte dem Referat ÖS 1 bereits am 25. Juni 1970 das Sicherheitskonzept des Sonder Siehe die Geschäftsverteilungspläne des BMI vom August 1970 und November 1971 in der Sammlung der Organisationsunterlagen des Bundesarchivs. 19
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beauftragten Dr. Schreiber zur Kenntnis gegeben und bereits am 29. Juni 1970 eine zustimmende Antwort erhalten.20 Allerdings wurde „der Gedanke eines Bannmeilengesetz“ im BMI zu diesem Zeitpunkt als „inzwischen überholt“ angesehen.21 Es bedurfte jedoch einer weiteren Erinnerung und der Bitte um Beteiligung durch das Referat SK I 2 vom 19. November 1970 und nicht zuletzt des Hinweises, dass das Organisationskomitee wahrscheinlich von Bundesminister Genscher in der nächsten Vorstandssitzung am 8. und 9. Januar 1971 eine Positionierung erwarten würde, um Fahrt in die Angelegenheit zu bringen. Zunächst bat der stellvertretende Referent Streicher das Referat V I 1 mit Schreiben vom 1. Dezember 1970 um eine Stellungnahme, „ob die Gesetzgebungskompetenz zum Erlaß eines solchen ‚Bannmeilengesetzes‘ beim Bund liegt und aus welchen Bestimmungen des Grundgesetzes die Bundeskompetenz herzuleiten ist.“ Am gleichen Tag erging an das Referat V I 5 die Bitte, bis zum 10. Dezember 1970 „Ihre Auffassung über das Für und Wider einer Bannmeilenregelung“ mitzuteilen. Noch im Dezember 1970 sollte die von Staatssekretär Dorn in Aussicht gestellte Besprechung mit den Ländern Bayern und Schleswig-Holstein erfolgen. Mit Schreiben vom 10. Dezember 1970 äußerte sich zunächst der stellvertretende Referatsleiter V I 5 Oberregierungsrat Dr. Herzig. Grundsätzlich befürwortete er den „Erlaß eines Gesetzes zur Wahrung des olympischen Friedens“. Allerdings schlug er vor, „dieses Gesetz jedoch nicht als Bannmeilengesetz“ zu bezeichnen; „Zweck bestehender und früherer Bannmeilengesetze ist bzw. war die Sicherung der Entscheidungsfreiheit der für das Funktionieren der Demokratie unentbehrlichen Staatsorgane“. Das vorgeschlagene Gesetz würde dagegen ein „Novum“ darstellen, dessen wohl „berechtigte[s] Anliegen eines wirksamen Schutzes des unpolitischen Charakters der Spiele“ mit dem Schutz von Verfassungsorganen nicht zu vergleichen wäre. Für Herzig stellte das geplante Gesetz zum Verbot aller Versammlungen und Aufzüge unter freiem Himmel eine spezielle Regelung zu § 15 Abs. 1 des Versammlungsgesetzes22 dar, für die gemäß Art.
Siehe dazu das interne Schreiben vom 19. November 1970 in BArch, B 106/146484. Siehe das interne Schreiben des Leiters der Abteilung SK, Ministerialdirektor Dr. von Hovora, vom 29. Mai 1970 an seinen Abteilungsleiterkollegen Nollau in BArch, B 106/379472. 22 § 15 Abs. des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) vom 24. Juli 1953 (BGBl. I S. 684–687 – https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav#__bgbl__% 2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl153040.pdf%27%5D__1621422714619). 20 21
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74 Nr. 3 des Grundgesetzes23 ausschließlich der Bund zuständig sei. Und da „Verstöße gegen das Übermaßverbot, gegen die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 224 oder gegen andere Verfassungsprinzipen nicht ersichtlich“ seien, wäre das Gesetz auch verfassungsgemäß. Diese ausführlichen Darlegungen wurden durch die Stellungnahme des Referats V I 1 vom 18. Dezember 1970 inhaltlich voll bestätigt. Bereits im Vorgriff auf die Antworten hatte Streicher am 9. Dezember 1970 die Referate V I 1, V I 5, SK I 2, SK I 5 und ÖS 7 für den 16. Dezember 1970 zu einer Besprechung aller beteiligten Organisationseinheiten des Bundesministeriums des Innern auf Arbeitsebene eingeladen und zwei Tage später als Sitzungsunterlage einen Textvorschlag nachgereicht, der in der Vorstandssitzung des Organisationskomitees am 8./9. Januar 1971 beraten werden sollte.25 Danach sollte das „Gesetz für den Olympischen Frieden“ folgende Fassung haben: „§ 1 (I) Zur Befriedung der XX. Olympiade 1972 in München und Kiel werden Bannmeilen eingerichtet. (II) Innerhalb der befriedeten Bannmeile dürfen Versammlungen unter freiem Himmel und Umzüge nicht stattfinden. Das in Art. 8 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland gewährleistete Grundrecht der Versammlungsfreiheit wird insoweit eingeschränkt. § 2 Die zuständigen Landesregierungen werden ermächtigt, die befriedeten Bereiche durch Rechtsverordnungen zu bestimmen. Sie dürfen eine 500 m breite Zone um olympisches Gelände nicht überschreiten.
Artikel 74 des Grundgesetzes regelt die konkurrierende Gesetzgebung. Siehe das Grund gesetz für die Bundesrepublik Deutschland in BGBl. I vom 23. Mai 1949, S. 1–20 – https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D %27bgbl149001.pdf%27%5D__1621422864254. 24 Art. 19 Abs. 2 des Grundgesetzes lautet: „In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“ 25 Siehe das Protokoll der Referentenbesprechung am 16. Dezember 1970 in der abschließenden Fassung vom 21. Dezember 1970 in BArch, B 106/146484 und B 185/2603. 23
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Ordnungswidrig handelt, wer an öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel oder Aufzügen innerhalb der befriedeten Bereiche teilnimmt; zu solchen Versammlungen auffordert. Die Ordnungswidrigkeit kann im Falle des Absatzes Ia mit einer Geldbuße bis zu 500,– DM, im Falle des Absatzes Ib [bis] zu 5.000,– DM und bei Fahrlässigkeit bis zu 50,– DM geahndet werden.
§ 4 (I)
Dieses Gesetz ist vom 20. August 1972 bis zum 10. September 1972 in Kraft. (II) Die in § 2 Satz 1 dieses Gesetzes vorgesehenen Rechtsverordnungen können für einzelne Bannmeilen eine kürzere Geltungsdauer bestimmen.“ Als Ergebnis dieser Abstimmungen wurde Bundesminister Genscher der Informationsvermerk vom 28. Dezember 1970 vorgelegt, aus dem bereits weiter oben zitiert wurde. Auf dem Begleitschreiben vom 29. Dezember 1970 formulierte der Staatssekretär im Bundesministerium des Innern Dr. Hartkopf handschriftlich seine Bedenken: „Ich kann mich für das Gesetzgebungsvorhaben, von dem ich jetzt erstmals erfahre, nicht recht erwärmen. Es erweckt doch den Eindruck, als könnten wir die Olymp[ischen] Spiele nur sichern, wenn wir mit dem schweren Geschütz eines Bundesgesetzes auffahren. Ich rege Besprechung bei Herrn Min[ister] mit dem Herrn Parl[amentarischen] St[aatssekretär] an.“26 Wolfram Dorn war – den Voten der Fachbeamten zum Trotz – ebenfalls skeptisch und brachte das auch unmissverständlich zum Ausdruck. Auf der für ihn bestimmten Kopie stellte Dorn die Frage „Muss das gesetzlich geregelt werden?“ und sorgte mit der Geschäftsgangsverfügung „Herrn Minister zur Sitzung am 8./9.1.71 in München“ dafür, dass Genscher diese Skepsis auch zur Kenntnis gelangte. Bundesinnenminister Genscher, dessen Paraphe auf dem Informationsvermerk belegt, dass er den Text am 8. Januar 1971 erhalten hatte, nahm Siehe den angehefteten Zettel vom 4. Januar 1971 mit der paraphierten Anmerkung Dorns: „Ich teile die Bedenken von St[aats]S[ekretär]. D[orn] 4/1/71“ in BArch, B 106/ 146484. 26
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an der Vorstandssitzung des Organisationskomitees in Begleitung des Leiters der Abteilung SK Ministerialdirektor Dr. von Hovora und des Referatsleiters SK I 2 Ministerialrat Schmitz teil.27 Zu Tagesordnungspunkt 24 hält die Sitzungsniederschrift fest: „Genscher erklärt, daß er dem Gesetz grundsätzlich positiv gegenüberstehe. Es handele sich hierbei jedoch um ein diffiziles Problem, besonders seitdem es zwischen der Bundesregierung und der Bayerischen Staatsregierung zu einer Kontroverse über die gesetzlichen Möglichkeiten gegen Demonstranten gekommen sei. Es dürfe deshalb nicht zu Auseinandersetzungen über den Gesetzentwurf kommen. Er würde jedoch mit dem Rückhalt eines entsprechenden Vorstandsbeschlusses einen entsprechenden Gesetzentwurf durchzubringen versuchen.“ Daraufhin bat der Vorstand des Organisationskomitees Genscher einstimmig, „ein solches Gesetz in der ihm geeignet erscheinenden Weise herbeizuführen.“ Tatsächlich hatte das Bayerische Staatsministerium des Innern mit Schreiben vom 29. Dezember 1970 dem Organisationskomitee mitgeteilt28, „ein grundsätzliches Verbot von öffentlichen Versammlungen und Aufzügen für bestimmte Sportbereiche für zweckmäßig“ zu halten, „um den störungsfreien Ablauf der Spiele der XX. Olympiade München und Kiel 1972 zu fördern.“ Hinsichtlich der grundsätzlichen Bewertung stimmte das bayerische Innenministerium mit dem Vorschlag des Organisationskomitees weitgehend überein; anders als die Beamten des Bundesinnenministeriums votierten die Bayern auch für die Bezeichnung „Bannkreis“. Gravierende Unterschiede ergaben sich allerdings hinsichtlich der im Gesetz zu verankernden Sanktionen. Während der Entwurf des NOK vorgesehen hatte, Verstöße gegen das Versammlungsverbot als Ordnungswidrigkeiten einzustufen und mit Geldbußen zwischen 50 DM und 5000 DM zu belegen, bewertete der bayerische Entwurf Verstöße grundsätzlich als Straftaten. Daher sah § 4 des Entwurfs vor: „Wer vorsätzlich zu einer nach § 1 Abs. 229 verbotenen Veranstaltung auffordert, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten oder mit Geldstrafe bestraft.“ Gleiches sollte für jeden gelten, der „als Veranstalter oder Leiter eine nach § 1 Abs. 2 Vgl. die Niederschrift über die 21. Sitzung des Vorstands am 8./9. Januar 1971 in BArch, B 185/2604 (S. 40 f.). 28 Mit Schreiben vom 19. Januar 1971 übermittelte das Bayerische Staatsministerium des Innern dem Bundesminister des Innern einen Abdruck dieses Schreibens mit der Bitte um Kenntnisnahme (BArch, B 106/146484). 29 § 1 Abs. 2 lautete: „Öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge sind innerhalb der befriedeten Bannkreise verboten.“ 27
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verbotene Veranstaltung durchführt.“ Milde sollte nur im Fall von Fahrlässigkeit gelten: „Kannte der Täter im Falle des Abs. 2 das Verbot infolge Fahrlässigkeit nicht, so ist auf Geldstrafe zu erkennen.“ Damit gingen die bayerischen Vorstellungen hinsichtlich der zu vermeidenden Verstöße und ihrer Ahndung deutlich über den Entwurf des Organisationskomitees hinaus. Hans-Dietrich Genscher als Vizekanzler und für das Polizeiwesen zuständiger Bundesminister des Innern brachte das in eine schwierige Lage, da er eine nur geringe Neigung verspürt haben dürfte, die Grundrechtsdebatte um das Versammlungsrecht wieder aufleben zu lassen. Denn wiederum gab es zwischen Regierung und Opposition zwar einen Konsens in Bezug auf das übergeordnete Ziel der Sicherung der Olympischen Sommerspiele 1972, die Auffassungsunterschiede bei der strafrechtlichen Bewertung bestanden aber weiter. D a s Bu n d e s m i n i s t e r i u m d e s In n e r n u n d d i e Fr a k t i o n e n d e s D e u t s c h e n Bu n d e s t a g s Die „ihm geeignet erscheinende Weise“ bestand für den Bundesinnenminister in der Option eines Initiativantrags aus der „Mitte des Bundestages“ (Artikel 76 GG), nach Möglichkeit in der Form eines von allen Bundestagsfraktionen eingebrachten Gesetzesantrags. Dies brachte er in einem Schreiben zum Ausdruck, das Genscher am 18. Februar 1971 gleichlautend an die Vorsitzenden der Fraktionen Dr. Rainer Barzel für die CDU/CSU, Herbert Wehner für die SPD und Wolfgang Mischnick für die FDP richtete; die Innenminister Bayerns Dr. Bruno Merk und Schleswig-Holsteins Dr. Hartwig Schlegelberger erhielten Durchschriften dieses Schreibens.30 Genscher plädierte für eine gesetzliche Regelung des Sicherheitsproblems, da für die Dauer der Olympischen Spiele „das Spannungsverhältnis zwischen Versammlungsfreiheit und möglichst störungsfreiem Ablauf der Wettkämpfe“ „zugunsten der Spiele entschieden werden“ müsse. Da weiterhin zu befürchten sei, dass dieses „Gesetz zum Schutze des olympischen Friedens“ „von radikalen Kreisen scharf angegriffen werden“ würde und „mit heftiger Polemik […] auch aus der DDR und einigen Ostblockstaaten gerechnet werden“ müsse, vertrat Genscher die „Meinung, daß ein solches Gesetz von allen im Bundestag vertretenen Parteien getragen und nicht zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung gemacht werden sollte.“ „Sollten sich alle drei Fraktionen für ein Siehe den Entwurf in BArch, B 106/146484.
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Gesetz aussprechen, würde ich umgehend einen entsprechenden Entwurf vorlegen, der von der Bundesregierung oder auch interfraktionell im Parlament eingebracht werden könnte.“ Anliegend zu dem Schreiben erhielten die Bundestagsfraktionen den Entwurf des Organisationskomitees als Diskussionsgrundlage. In seiner Antwort vom 9. März 1971 äußerte der Innenminister von Schleswig-Holstein sich durchaus skeptisch.31 Schlegelberger vertrat ebenfalls die Ansicht, dass ein Gesetz auf Kritik stoßen würde. Darüber hinaus befürchte er aber, „daß die Einführung von Bannmeilen für die olympischen Bezirke politisch radikale Gruppen von ihren Vorhaben zumindest nicht abhalten wird“. In diesem Fall wären die Sicherheitskräfte dann grundsätzlich durch das Gesetz zum Vollzug von Auflösungsverfügungen gezwungen. Sollten sie aber aus Gründen der Verhältnismäßigkeit darauf verzichten, Demonstrationen aufzulösen, könnte nach Schlegelberger „in den Augen der Demonstranten und nicht hinreichend rechtskundiger Außenstehender […] der Eindruck entstehen, der Staat könne sich nicht durchsetzen.“ Von den angeschriebenen Bundestagsfraktionen reagierte am 10. Mai 1971 zunächst nur die CDU/CSU-Fraktion.32 Nachdem die Gremien der Fraktion sich mit dem vorgelegten Entwurfstext auseinandergesetzt und sich „grundsätzlich mit einer gesetzlichen Regelung zum Schutz des olympischen Friedens“ einverstanden erklärt hatten, teilte der Fraktionsvorsitzende Dr. Rainer Barzel dem Bundesinnenminister mit, man befürworte die Vorlage eines Gesetzes durch die Bundesregierung. Allerdings behielt die Opposition sich vor, einzelnen Bestimmungen erst auf der Grundlage eines Regierungsentwurfs zuzustimmen. In der Zwischenzeit wurden im BMI weitere Überlegungen zur Umsetzung des Gesetzesvorhabens angestellt. Am 6. Juli 1971 legte das Referat ÖS 1 dem Minister auf dem Dienstweg eine Aufzeichnung vor, in der die Möglichkeit angedeutet wurde, die Gesetzesvorlage könnte auch aus der Mitte des Bundestages oder durch den Bundesrat eingebracht werden.33 Auffällig ist die Beteiligung Wolfram Dorns, dem Genscher den Text explizit zur Vorlage verfügt. Die Notiz „K[enntnis] g[enommen] D[orn] Siehe das Schreiben ebd. Siehe das Schreiben Barzels vom 10. Mai 1971 in BArch, B 106/146484. Bereits mit Schreiben vom 16. März 1971 hatte Barzel Genscher eine Zwischennachricht zukommen lassen (ebd.). 33 Siehe das interne Schreiben vom 6. Juli 1971 in BArch, B 106/146484. 31 32
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5/8“ macht die fortbestehende Distanz des Parlamentarischen Staatssekretärs zu dem Gesetzesprojekt augenfällig; auch bei späteren Texten, die ihm zur Mitzeichnung auf dem Dienstweg vorgelegt wurden, hielt Dorn an diesem Vorgehen fest.34 Erst nachdem der Stellvertretende Generalsekretär des Organisationskomitees des NOK Reichart sich am 5. August 1971 schriftlich nach dem Stand des Gesetzgebungsverfahrens erkundigt hatte,35 hakte das Bundesinnenministerium bei den Vorsitzenden der Regierungsfraktionen nach. Das federführende Referat legte Bundesminister Genscher mit Datum vom 12. August 1971 den Entwurf eines Erinnerungsschreibens an Herbert Wehner und Wolfgang Mischnick vor, der von Abteilungsleiter Nollau und dem zuständigen beamteten Staatssekretär Dr. Hartkopf36 mitgezeichnet wurde; allein Wolfram Dorn verweigerte die Mitzeichnung mit der Bemerkung „Ich bin in der Sache anderer Meinung. D[orn] 20/8“. Auch Minister Genscher scheint sich mit der Angelegenheit nicht wohl gefühlt zu haben, denn anstatt den Entwurf abschließend zu zeichnen und versenden zu lassen, wies er mit Datum vom 28. August 1971 den neu ins Amt gekommenen Staatssekretär Dr. Wolfgang Rutschke an, „diese Frage mit den Vors[itzenden] der SPD- u[nd] FDP-Fraktion zu besprechen“.37 Warum die Regierungsfraktionen sich auch nach fast einem halben Jahr nicht zu dem ihnen vorliegenden Gesetzesentwurf äußerten, konnte man sich im Innenministerium nicht erklären. Mit dem Ton leichter Resignation hielt der Referatsleiter ÖS 1 am 16. September 1971 in einer handschriftlichen Notiz fest, der Entwurf könne „z[ur] Z[ei]t nicht unmittelbar Es ist bezeichnend, dass Dorn das Gesetz zum Schutz des olympischen Friedens in seinen Erinnerungen (siehe oben Anm. 16) nicht erwähnt. 35 Siehe das Schreiben Reicharts vom 5. August 1971 in BArch, B 106/146484. Reichart hatte außerdem eine neue Variante vorgeschlagen, nach der die Auflösung von Versammlungen durch die Polizei als Kann- und nicht als Muss-Vorschrift vorzusehen war. Regierungsdirektor Streicher, Referat ÖS 1, kommentierte das mit der Randbemerkung: „Wenn der Polizei doch wieder die Verantwortung = Ermessen zugeschoben werden soll, erübrigt sich das Gesetz; das VersammlungsG[esetz] reicht dann aus.“ 36 Im Oktober 1971 wurden nach dem Ausscheiden von Staatssekretär Dr. Schäfer die Zuständigkeiten der Staatssekretäre im BMI neu verteilt. Für Fragen der Öffentlichen Sicherheit war fortan der neu ins Amt gekommene Dr. Wolfgang Rutschke verantwortlich. Siehe dazu die Organisationsübersicht des BMI mit Stand 15. Oktober 1971 in der Sammlung der Organisationsunterlagen des Bundesarchivs. 37 Handschriftlich aufgesetzte Verfügung. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die schwer leserliche Handschrift Genschers auch seinen unmittelbaren Mitarbeitern wohl bisweilen solche Probleme bereitete, dass seine Anmerkungen von seinem Büro oft noch einmal in leserliche Buchstaben umgesetzt wurden. 34
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gefördert werden, da parl[amentarische] Stellen noch mit Erläuterungen interner Art befaßt sind.“38 Tatsächlich galt diese Feststellung aber nur für die SPD-Fraktion, denn am 8. September 1971 konnte Staatssekretär Dr. Rutschke aus einem Gespräch mit dem FDP-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Mischnick mitnehmen, dass die FDP-Fraktion ein von allen Bundestagsfraktionen getragenes Gesetz befürworten und lediglich Wert darauf legen würde, „daß die gesetzliche Ermächtigung für die in Frage kommenden Länder nur soweit gehen sollte, wie sie tatsächlich für die Erhaltung des olympischen Friedens in Bezug auf Demonstrationen etc. notwendig sei.“39 Damit sollte vermieden werden, „daß u[nter] U[mständen] untergeordnete Stellen in den Ländern Maßnahmen weiter ausdehnen, als zur Erreichung des Zwecks notwendig“ sei. Ein Gespräch mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner war bis Ende September 1971 gar nicht erst zustande gekommen; noch am 23. September 1971 musste Rutschke seinem Minister schriftlich mitteilen, dass Wehner wegen längerer Auslandsaufenthalte und zahlreicher Termine außerhalb von Bonn wohl bis in den Oktober hinein nicht für ein Gespräch zur Verfügung stünde.40 Nähere Informationen erhielt Rutschke durch den Vorsitzenden des Innenausschusses, den Tübinger SPD-Abgeordneten Prof. Dr. Friedrich Schäfer. Dieser machte Rutschke am 28. September 1971 eine Notiz zugänglich, aus der hervorging, dass Wehner die Bedeutung der Angelegenheit bislang nicht erfasst hätte und das Schreiben des BMI in Wehners Büro nicht mehr aufzufinden wäre.41 Weiterhin teilte Schäfer dem Staatssekretär mit, dass er im Gegensatz zum BMI der Auffassung sei, „daß ein derartiges Gesetz nur von den Ländern verabschiedet werden könne“. Das habe er Genscher aber schon vor mehr als drei Monaten persönlich mitgeteilt, eine Feststellung, die Rutschke mit der Bemerkung quittiert: „Ich war verständlicherweise von dieser Sache nicht unterrichtet, da sie vor meiner Zeit lag.“ Schäfer bat abschließend um eine Ablichtung des Schreibens vom 18. Februar 1971 und versprach, „mit Herrn Wehner die Sache besprechen und mir Nachricht zukommen“ zu lassen. Siehe den Vermerk vom 16. September 1971 in BArch, B 106/146484. Siehe den Gesprächsvermerk Rutschkes vom 8. September 1971 in BArch, B 106/146484. 40 Siehe das Schreiben Rutschkes an Genscher vom 23. September 1971 in BArch, B 106/ 146484. 41 Siehe den Gesprächsvermerk Rutschkes vom 28. September 1971 in BArch, B 106/ 146484. 38 39
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Tatsächlich meldete sich Friedrich Schäfer zwei Wochen später und informierte Rutschke am 12. Oktober 1971 über den Fortgang innerhalb der SPD-Fraktion.42 Gespräche mit „einigen interessierten Kollegen“ hätten gezeigt, dass die Meinungen „hinsichtlich der Notwendigkeit“ nicht einheitlich wären; Schäfer wollte aber die Angelegenheit voranbringen. Dies tat er auch wirklich, denn am 18. Oktober 1971 kam der Arbeitskreis für Inneres, Bildung und Sport der SPD-Bundestagsfraktion einstimmig zu der Ansicht, dass „Vorsorgemaßnahmen zur Verhinderung von politischen und sonstigen Demonstrationen während der Olympischen Spiele in München getroffen werden“ müssten und „daß dies am besten in Form einer Bannmeile geschehe.“43 Schließlich war der Arbeitskreis der Auffassung, „daß man den Ländern eine Ermächtigung hierzu [zum Erlass von Bannkreisen] geben sollte, die sie dann in Form entsprechender Gesetze nutzen sollten.“ Da Rutschke bereits zu diesem Zeitpunkt – ein entsprechendes Schreiben Wehners erreichte das BMI erst am 5. November 197144 – die Ansicht vertrat, diese Äußerung des Arbeitskreises als Zustimmung der SPD zum Projekt eines Schutzgesetzes werten zu können, erteilte Genscher ihm am 28. Oktober die Weisung, „die Sache weiterzubetreiben“. Rutschke gab die Weisung an die Abteilung Öffentliche Sicherheit und ihren Leiter Nollau weiter, der seinerseits am 29. Oktober den Referatsleiter ÖS 1 Regierungsdirektor Streicher um die Vorlage eines Gesetzentwurfs bat und diesen nur vier Tage später auch erhielt. Bereits am 4. November 1971 ließ Rutschke dem Vizepräsidenten des Deutschen Bundestags Dr. Hermann Schmitt-Vockenhausen (SPD) unter Bezugnahme auf ein Gespräch am Vortrag und mit dem Hinweis der besonderen Eilbedürftigkeit „den Formulierungsvorschlag des Bundesministerium des Innern für ein ‚Gesetz zum Schutz des Olympischen Friedens‘“ zuleiten.45 Schmitt-Vockenhausen stellte den Entwurf daraufhin am 9. November 1971 in aller Form der SPD-Fraktion als „gemeinsamen
Siehe den handschriftlichen Vermerk Rutschkes vom 12. Oktober 1971 in BArch, B 106/146484. 43 Siehe die Mitteilung von Rutschke an Genscher vom 18. Oktober 1971 in BArch, B 106/146484. 44 Siehe das Schreiben Wehners vom 4. November 1971 in BArch, B 106/146484. 45 Siehe den Entwurf vom 4. November 1971 samt Anlagen in BArch, B 106/146484. 42
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Entwurf aller Fraktionen“ vor und erhielt dafür die Zustimmung des Gremiums.46 Der Text des Gesetzentwurfs enthielt lediglich drei kurze Paragraphen: „Gesetz zum Schutz des Olympischen Friedens Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen: § 1 Zum Schutz des Olympischen Friedens bei den Spielen der XX. Olympiade München und Kiel 1972 können in Gebieten und Bereichen, die mit dem Ablauf der Spiele in Zusammenhang stehen, durch Landesgesetz öffentliche Veranstaltungen unter freiem Himmel und Aufzüge verboten werden. Die Verbote sollen grundsätzlich nicht über eine 500 m breite Zone um die Gebiete und Bereiche hinausgehen. §2 Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 des Grundgesetzes) wird durch dieses Gesetz eingeschränkt. § 3 Dieses Gesetz tritt am Tage nach seiner Verkündung in Kraft. Seine Gültigkeit endet mit Ablauf des … (15. September 1972).“ Am 12. November 1971 ging der Text dem Pressereferat des Bundesinnenministeriums mit der Bemerkung zu, es sei „beabsichtigt, den Entwurf im Bundestag als Initiativgesetz zu behandeln.“47 Dass man im BMI die Arbeit für getan hielt, geht zum Beispiel aus der Antwort an den SPDAbgeordneten Friedel Schirmer hervor, der einige Änderungsvorschläge an den Bundesinnenminister persönlich adressiert hatte.48 Da der im BMI als Formulierungshilfe erarbeitete Entwurf dem Bundestag-Vizepräsidenten Schmitt-Vockenhausen zugeleitet worden sei, wäre es „daher zweckmäßig […] Änderungswünsche […] dort zu besprechen“. Siehe das Protokoll der Fraktionssitzung am 9. November 1971 in: Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1969–1972. Bearb. von Sven Jüngerkes (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Vierte Reihe Deutschland seit 1945, Band 8 V), Düsseldorf 2016, S. 853–868, hierzu S. 858 sowie unter https://fraktionsprotokolle.de/handle/491. 47 Siehe den Entwurf eines internen Schreibens des Referats ÖS 1 an das Pressereferat des BMI vom 12. November 1971 in BArch, B 106/146484. 48 Mit Schreiben vom 16. November 1971 hatte er z.B. vorgeschlagen, die Nennung Kiels zu streichen, da ansonsten auch Augsburg genannt werden müsste. Siehe das Schreiben und den Entwurf der Antwort vom 2. Dezember 1971 in BArch, B 106/146484. 46
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Das bedeutete freilich nicht, dass Bundesminister Genscher nicht selbst immer noch Zweifel an der Notwendigkeit eines Bundesgesetzes gehegt hätte. Nachdem er am 28. Dezember 1971 nochmals mündlich die Weisung erteilt hatte, die Rechtslage hinsichtlich der gesetzgeberischen Zuständigkeiten zu prüfen, wurden im BMI mehrere Ministervorlagen, zuletzt mit Datum vom 25. Januar 1972, vom Referatsleiter ÖS 1 Streicher erarbeitet und dem Minister auf dem Dienstweg, d.h. unter Zustimmung seiner Vorgesetzten Abteilungsleiter ÖS Nollau und Staatssekretär Rutschke, vorgelegt.49 Da die Angelegenheit keinen erkennbaren Fortgang nahm, schossen die Spekulationen ins Kraut. So meldete die Nachrichtenagentur ddp (Deutscher Depeschendienst) am 9. Januar 1972, ein Sprecher des Bundesinnenministeriums hätte am Vortag u.a. erklärt, im BMI würde ein Referentenentwurf für ein Bannmeilengesetz erarbeitet. Die Agenturmeldung legte der mittlerweile schon leicht enervierte Referatsleiter ÖS 1 seinem Abteilungsleiter vor und verband das mit der Bitte: „Ich wäre dankbar, wenn endgültig geklärt werden könnte, ob noch mit einem Regierungsentwurf zu rechnen ist. Dann müßte bald eine Entscheidung fallen, da die noch verbleibende Zeit für das Gesetzgebungsverfahren (Bundes + Landesgesetze) zu kurz wird.“ Wie groß die Unsicherheit im BMI war, zeigt eine Episode Mitte Januar 1972. Ministerialrat Dr. Schäfer aus dem Bundesministerium der Justiz hatte seinen Kollegen Dr. Streicher im BMI um Zusendung der „Formulierungshilfe“ des BMI für die Bundestagsfraktionen gebeten. Hatte Streicher zunächst keine Bedenken gesehen und sogar schon ein entsprechendes Übersendungsschreiben vorbereitet, kamen ihm nach dem Auftritt Genschers auf einer Pressekonferenz am 11. Januar 1972 doch Zweifel.50 Bei diesem Termin hatte sich ausweislich des Protokolls das folgende Frage-Antwort-Spiel entwickelt: „Frage: Zu den Olympischen Spielen. Ist daran gedacht, ein Gesetz über eine Bannmeile in München einzubringen? BM Genscher: Es gibt in verschiedenen Kreisen sehr vorsichtige Erwägungen darüber. Aber diese Erwägungen haben keinesfalls bisher irgendeine Verdichtung gefunden.“ Unterlagen in BArch, B 106/146484. Siehe den Entwurf und die aufgesetzten handschriftlichen Bemerkungen in BArch, B 106/146484. 49 50
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Frage:
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Ist das überhaupt notwendig, um Demonstrationen im Bereich des Olympiageländes zu verhindern? BM Genscher: Man muß nicht immer gleich an Demonstrationen denken. Aber wir wissen, daß aus der Durchführung von Olympischen Spielen in anderen Austragungsorten dort eine Reihe von Sicherheitsproblemen entstanden sind, die möglicherweise den störungsfreien Ablauf der Spiele beeinflussen können. Und hierzu macht sich der Sicherheitsbeauftragte für die Olympischen Spiele Gedanken. Der Sicherheitsbeauftragte ist bekanntlich der Münchener Polizeipräsident Schreiber. Frage: Staatssekretär Rutschke hat vor einigen Tagen gesagt, ein solcher Gesetzentwurf sei bereits hergestellt worden. Das widerspricht doch ein wenig dem, was Sie jetzt sagen. BM Genscher: Nein, Herr Rutschke hat sich auch nur zu Überlegungen in dieser Richtung geäußert. Das schließt natürlich nicht aus, daß Überlegungen sich auch zu schriftlichen Niederlegungen verdichten. Das hängt mit der Art des Festhaltens von Gedanken zusammen. Man kann nicht sagen, da gibt es Entwürfe im Sinne von Referentenentwürfen oder ähnlichem, sondern es werden, wenn ein solches Problem zu lösen ist, verschiedene Modelle zur Diskussion gestellt. Da muß man natürlich auch einmal gelegentlich etwas fixieren.“51 Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, dass Streicher seine Meinung und durch handschriftliche Zusätze auch seinen Vermerk änderte: Am Rand findet sich die Bemerkung „Min[ister] hat auf Pressekonferenz erklärt ‚Es gibt keinen Gesetzentwurf‘“. Aus „Grundsätzliche Bedenken bestehen nicht gegen die Zuleitung des Entwurfs an BMJ.“ wurde nun „Nach den jüngsten Erklärungen des H[errn] Ministers bestehen nunmehr jedoch Bedenken gegen die Versendung. Das schon vorher entworfene Schreiben zu [Verfügung] 2 sollte deshalb nicht abgesandt werden.“ Mit dem Vermerk „geht nicht ab“ und den zustimmenden Paraphen des Abteilungsleiters Nollau und des Staatssekretärs Rutschke wurde der Entwurf kassiert.
Siehe den Auszug aus dem Protokoll der Pressekonferenz am 11. Januar 1972 ebd.
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Ein zweiter Gesetzentwurf Bewegung brachte erst ein mit Schreiben vom 1. Februar 1972 dem Bundesrat vorgelegter Gesetzentwurf der Bayerischen Staatsregierung.52 Inhaltlich unterschied dieser zweite bayerische Entwurf sich kaum von dem Text, den das Bayerische Innenministerium dem Organisationskomitee des NOK am 29. Dezember 1970 übermittelt hatte. Damit blieb auch der wesentliche Dissens zum Bundesinnenministerium in Bezug auf die Bewertung von Gesetzesverstößen als Straftaten bestehen. Während die Formulierungshilfe des BMI Sanktionen völlig unerwähnt gelassen und damit den Ländern überlassen hatte, sah der bayerische Entwurf wieder Freiheitsstrafen von bis zu sechs Monaten vor. Als Drucksache 80/72 ging der Entwurf am 7. Februar 1972 allen Landesregierungen und informatorisch auch dem Bundeskanzleramt und dem Bundesministerium des Innern zu. Schon wenige Tage später setzten die zuständigen Ausschüsse des Bundesrats, der Ausschuss für Rechtsfragen und – federführend – der Ausschuss für Innere Angelegenheiten die Angelegenheit auf die Tagesordnung ihrer Sitzungen, die jeweils am 16. Februar 1972 stattfinden sollten. Im Bundesinnenministerium wurde der Entwurf umgehend einer eingehenden vergleichenden Analyse unterzogen. Das für Verfassungsfragen zuständige Referat V I 1 stellte dazu gegenüber dem Referat ÖS 1 mit Schreiben vom 15. Februar 1972 fest, dass zunächst dem Wortlaut des Textes folgend die Ermächtigung zum Erlass von Bannmeilengesetzen sich an alle Bundesländer richtete und nicht allein an Bayern und SchleswigHolstein; davon wurde dringend abgeraten. Des Weiteren wurde die Aussage zur Ausdehnung der befriedeten Bezirke – die Bannmeilen sollten „ausreichend bemessen“ sein – als zu unbestimmt kritisiert. Und schließlich wurde eine Öffnung des vollständigen Verbots aller Versammlungen nur für solche Versammlungen vorgeschlagen, die mit dem Ablauf der Olympischen Spiele zu tun haben würden.53 Auch unter den Bundesländern gab es Einwände und Widerspruch. Insbesondere Hessen, dem gemeinsam mit Nordrhein-Westfalen die Berichterstattung im Rechtsausschuss oblag, brachte mehrere Änderungsvor Siehe den bayerischen Entwurf in BArch, B 106/146484 und B 136/5063. Unterlagen der Bayerischen Staatskanzlei in Bayerisches Hauptstaatsarchiv, StK-GuV 12238. 53 Siehe das interne Schreiben von V I 1 an ÖS 1 vom 15. Februar 1972 mit diversen kritischen Randbemerkungen sowie den Entwurf einer Ministervorlage vom 29. Februar 1972 in BArch, B 106 / 146484. 52
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schläge zu einzelnen Absätzen und Formulierungen, aber auch einen Antrag zur gänzlichen Ablehnung der Vorlage ein. Der Antrag „Der Rechtsausschuß möge dem Plenum empfehlen, den Gesetzentwurf nicht beim Bundestag einzureichen.“ wurde damit begründet, dass „die vorgesehene Bannkreisregelung […] den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und den Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit (Art. 19 Abs. 2 GG)“ verletze. Da Nordrhein-Westfalen diese Anträge nicht unterstützte, überstimmte der Rechtsausschuss Hessen allerdings am 16. Februar 1972.54 Am gleichen Tag tagte auch der Innenausschuss des Bundesrats. Hier stellte der Vertreter Bayerns den Gesetzentwurf seiner Landesregierung vor. Änderungsvorschläge, die der Vertreter des BMI in der Sitzung vortrug, wies Bayern zurück: „Der Vertreter Bayerns erklärte, daß er sich nicht gehalten sehe, eine der Anregungen des Vertreters des BMI aufzugreifen. Die Bundesregierung sei seinerzeit wegen des von seinem Lande verfolgten Anliegens im Organisationskomitee für die Olympischen Spiele angesprochen worden, habe aber selbst bisher einen entsprechenden Gesetzentwurf nicht vorgelegt.“ Daher bestand die einzige Änderung des bayerischen Entwurfs in der Einfügung einer Berlin-Klausel. Da beide Ausschüsse die formelle Einbringung des Gesetzesantrags beim Deutschen Bundestag empfahlen55, beriet der Bundesrat den bayerischen Antrag in seiner Sitzung am 3. März 1972.56 Der Staatssekretär im Bayerischen Innenministerium Erich Kiesl begründete die Initiative seines Landes im Plenum, das den Antrag ohne weitere Aussprache annahm. Das Verfahren der Einbringung von Gesetzesvorlagen im Deutschen Bundestag regelt Artikel 76 des Grundgesetzes. Danach sind sowohl die Bundesregierung als auch die Abgeordneten des Deutschen Bundestags und nicht zuletzt der Deutsche Bundesrat zur Gesetzesinitiative berechtigt. Während Gesetzesvorlagen „aus der Mitte des Bundestages“57 unmittelbar in die parlamentarische Beratung gehen, müssen Regierungsvorlagen zunächst dem Bundesrat zugeleitet werden, der nach Eingang drei Wochen Siehe den Vermerk ÖS 1 vom 16. Februar 1972 zur Information des Ministers in B 106/146484. Ebenso Sitzungsniederschrift Innenausschuss und Rechtsausschuss vom 16. Februar 1972 in BArch, B 106/146484 und B 136/5063. 55 Siehe die formellen Empfehlungen vom 18. Februar 1972 ebd. 56 Siehe das Protokoll der 377. Sitzung des Bundesrats unter https://www.bundesrat.de/Shared Docs/downloads/DE/plenarprotokolle/1972/Plenarprotokoll-377.pdf?__blob=publication File&v=2. 57 Siehe Artikel 76 des Grundgesetzes unter https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav#__bgbl __%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl149001.pdf%27%5D__1621422864254. 54
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Zeit hat, zu einem Regierungsentwurf Stellung zu nehmen; anschließend legt die Bundesregierung dem Parlament ihren Entwurf ergänzt durch die Stellungnahme des Bundesrats und ihre eigene Stellungnahme zu den Bemerkungen des Bundesrats zur parlamentarischen Beratung vor. Analog hat auch der Bundesrat einen Gesetzesentwurf zunächst der Bundesregierung zuzuleiten. Diese leitet den Entwurf – versehen mit einer Stellungnahme – an den Deutschen Bundestag weiter. Dort wird jede Gesetzesvorlage nach einer ersten Lesung im Plenum des Bundestags zunächst an die Ausschüsse verwiesen und – nach eingehender Beratung und gegebenenfalls auch der Anhörung externer Sachverständiger – abschließend in zweiter und dritter Lesung beraten und am Ende beschlossen oder abgelehnt. Die Zuleitung der Bundesratsvorlage durch den amtierenden Bundesratspräsidenten, den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen Heinz Kühn, an die Bundesregierung erfolgte am 3. März 1972.58 Am 6. März forderte das Bundeskanzleramt den Bundesminister des Innern auf, dem Kanzleramt „zu dem Beschluß des Bundesrates den Entwurf einer Stellungnahme der Bundesregierung in Form einer Kabinettsvorlage zuzuleiten.“59 Mittlerweile hatten am 29. Februar 1972 auch die Bundesfraktionen von SPD und FDP gemeinsam mit der Fraktion der CDU/CSU ihren interfraktionellen Gesetzentwurf dem Parlamentspräsidium vorgelegt.60 Das Innenministerium brachte nun beide Entwürfe zusammen und schlug vor, die Bundesregierung könnte insofern auf eine Stellungnahme zum Entwurf des Bundesrats verzichten, als sie dem interfraktionellen Entwurf den Vorzug einräumte. Ausschlaggebend für diese Präferenz war die Beschränkung der gesetzlichen Regelung auf eine Ermächtigung der Bundesländer Bayern und Schleswig-Holstein und damit der Verzicht auf eine materielle Verbotsregelung im Parlamentsentwurf. Auf diese Weise würde der Bundesgesetzgeber sich „auf das unumgänglich Notwendige beschränken und den Ländern einen möglichst großen Entscheidungsspielraum überlassen.“ Mit gesonderten Schreiben wurden die Bundesminister der Justiz und für Verkehr sowie alle anderen Ressorts am 15. März 1972 um Siehe die Bundesrats-Drucksache 80/72 in BArch, B 106/146484 und B 136/5063. Siehe das Protokoll der 377. BR-Sitzung am 3. März 1972 unter https://www.bundesrat. de/SharedDocs/downloads/DE/plenarprotokolle/1972/Plenarprotokoll-377.pdf?__blob=publi cationFile&v=2. 59 Siehe die Ausfertigung des Schreibens des Chefs des Bundeskanzleramts (i.A. Dr. Schmitt, Ref. I/4) in BArch, B 106/146484. 60 Siehe die BT-Drucksache VI/3202 vom 29. Februar 1972 unter https://dserver.bundestag. de/btd/06/032/0603202.pdf. 58
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ihre Stellungnahme gebeten – versehen wurde diese Bitte mit der extrem kurzen Verschweigefrist von nur zwei Tagen.61 Unterdessen hatte der Deutsche Bundestag den interfraktionellen Gesetzentwurf bereits am 16. März 1972 in erster Lesung verhandelt.62 In der Aussprache meldeten sich nur zwei Abgeordnete zu Wort. Zunächst begrüßte der Münchner CSU-Abgeordnete Dr. Erich Riedl das Gesetzgebungsvorhaben, nicht ohne den Bundesminister des Innern für die eingetretenen zeitlichen Verzüge verantwortlich zu machen. Riedl trug drei Punkte vor, die nach Auffassung der CDU/CSU-Fraktion nachgebessert werden sollten. Zum einem plädierte er dafür, angesichts des bestehenden Zeitdrucks die Länder zu ermächtigen, die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der Spiele per Verordnung zu erlassen und nicht durch eigene Landesgesetze regeln zu müssen. Zweitens sollte die Definition der Bannkreise flexibel erfolgen, und gleichzeitig den betroffenen Ländern – darunter nun auch Baden-Württemberg – freigestellt sein, nicht nur in München, Kiel und Augsburg Bannkreise definieren zu dürfen, sondern überhaupt an allen Orten, „an denen Vor- und Zwischenrunden in einzelnen Sportarten stattfinden“ würden. Und drittens hielt die Opposition „die Aufnahme von Strafandrohungen oder Bußgeldandrohungen“ für „unabdingbar“. Für die Regierungsfraktionen begründete außerdem der Stadthagener SPD-Abgeordnete Friedel Schirmer – 1952 bei den Olympischen Spielen in Helsinki selbst als Zehnkämpfer aktiv – die Notwendigkeit zur Beschränkung des Grundrechts auf Versammlungsfreit. Die Gesetzesvorlage sollte die Grundlage schaffen, „um in Gebieten und in Bereichen, die mit dem Ablauf der Spiele im Zusammenhang stehen, durch Landesgesetz öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel so zu begrenzen, wie das notwendig ist.“ „Wir legen Wert darauf, die Feststellung zu treffen, daß die Landesregierungen in München und Kiel nun auf dieser Grundlage die Maßnahmen ergreifen können, die sichern, daß unser Land bei den Sportlern und bei den Besuchern aus Anlaß der Spiele in guter Erinnerung bleiben wird.“ Anschließend wurde der Gesetzentwurf zur weiteren Beratung federführend an den Innenausschuss und mitberatend an den Sonderausschuss für Sport und Olympische Spiele verweisen. Siehe den Entwurf in BArch, B 106/146484 und die Ausfertigung für das Bundeskanzleramt in BArch, B 136/5063. 62 Siehe den Stenographischen Bericht der 178. Sitzung am 16. März 1972, S. 10336– 10338, online verfügbar unter https://dserver.bundestag.de/btp/06/06178.pdf. 61
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Parallel ging die Ressortbefragung voran. Die erbetene Stellungnahme des Bundesjustizministeriums kam zwar nicht bis zu dem gesetzten Termin, dafür lag dem Schreiben vom 22. März 1972 aber gleich der Entwurf einer Stellungnahme der Bundesregierung bei.63 Das BMJ schlug vor, den Bundesratsentwurf nicht einfach zu übergehen, sondern „in gedrängter Form“ auf dessen verfassungsrechtliche Problematik und die mangelhaften Sanktionsvorschriften einzugehen. Da zu prüfen sei, ob zum Schutz des olympischen Friedens ein „Verbot unterschiedslos alle Versammlungen erfassen“ dürfe, müsse der Bundesgesetzgeber sich auf das unbedingt Notwendige beschränken und es in die Entscheidung der betroffenen Länder stellen, ob und gegebenenfalls wie weit das Versammlungsrecht eingeschränkt werden müsste. Mit dieser Stellungnahme sollte „insbesondere Bayern zur nochmaligen Überprüfung der eigenen Gesetzgebungskonzeption“ veranlasst werden. Dem glaubte man sich im BMI nicht anschließen zu können. Das für das Versammlungsrecht zuständige Referat V I 5 sprach sich dafür aus, in die Stellungnahme der Bundesregierung keine Formulierung aufzunehmen, die „von interessierter Seite leicht mißverstanden oder sogar zielbewußt dahin mißgedeutet werden [könnte], als sei die vorgesehene Regelung verfassungsrechtlich nicht zweifelsfrei.“ Denn: „Dies wiederum könnte zur Begründung der ohnehin zu erwartenden Angriffe politischer Natur auf dieses Gesetzesvorhaben herangezogen werden.“ Da das Referat ÖS 1 diese Bedenken teilte, wurde der Vorschlag des BMJ verworfen.64 Mit Datum vom 29. März 1972 legte das Bundesinnenministerium dem Chef des Bundeskanzleramts eine mit den Bundesministerien der Justiz und für Verkehr abgestimmte Kabinettsvorlage mit der Bitte vor, die Beschlussfassung des Kabinetts im Umlaufverfahren herbeiführen zu lassen.65 Wie in solchen Fällen üblich verschickte das Bundeskanzleramt die Vorlage des BMI am 6. April an alle Kabinettsmitglieder mit einer Verschweigefrist bis zum 12. April 1972; sollten bis dahin keine schriftlichen Einsprüche eingehen, werde „die Zustimmung als erteilt angesehen.“66 Die erneut sehr kurze Rückäußerungsfrist ging auf ein Schreiben des Vorsitzenden des Siehe das Schreiben des BMJ vom 22. März 1972 in BArch, B 106/146484 und B 136/5063. 64 Siehe des interne Schreiben V I 5 an ÖS 1 vom 23. März 1972 mit aufgesetztem Vermerk von ÖS 1 vom 24. März 1972 in BArch, B 106/146484. 65 Siehe den Entwurf in BArch, B 106/146484 und die Ausfertigung in B 136/5063. In der Zeichnungsleiste fehlen bemerkenswerterweise die Paraphen Genschers und Dorns. 66 Siehe den Entwurf in BArch, B 136/5063. 63
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Innenausschusses des Deutschen Bundestags, Prof. Dr. Friedrich Schäfer, vom 28. März 1972 zurück.67 Mit Hinweis auf die Sitzungsplanung des Bundestags, der zufolge die erste Bundestagslesung der konkurrierenden Gesetzesentwürfe für den 12. April 1972 angesetzt wäre, bat er Genscher dringend um eine rechtzeitige Vorlage der Stellungnahme der Bundesregierung. Die Stellungnahme der Bundesregierung wurde dem Präsidenten des Deutschen Bundestags allerdings erst am 13. April 1972 zugeleitet.68 Für die Ausschussberatungen des Parlaments kam sie damit jedoch zu spät. Am Vormittag des gleichen Tages hatte sich bereits der 1. Sonderausschuß für Sport und Olympische Spiele mit dem Interfraktionellen Gesetzesentwurf befasst. Die beiden Münchner Abgeordneten Dr. Erich Riedl (CSU) und Manfred Schmidt (SPD) hatten als Bericht- bzw. Mitberichterstatter die Zielsetzung beider Gesetzesentwürfe erläutert und dadurch die Zustimmung des Sonderausschusses bewirkt. An die Adresse des Innenausschusses des Bundestags war die Erwartung gerichtet, dieser möge „eine einfache, von den Ordnungskräften rasch und wirksam zu handhabende rechtliche Ausgestaltung der gesetzlichen Regelung beschließen“.69 Darauf nahm der Vorsitzende des Innenausschusses, Prof. Schäfer, ausdrücklich Bezug, als er nur wenige Stunden später die Beratung des Gesetzgebungsvorhabens im Innenausschuss einleitete.70 Ebenso deutlich wies er darauf hin, dass man aus „formellen Gründen“ noch nicht wirklich über den Bundesratsentwurf beraten könnte, da die Bundesregierung den Entwurf „erst heute dem Deutschen Bundestag“ zuleiten würde. Das müsste den Ausschuss aber nicht daran hindern, den ihm überwiesenen, von den drei Bundestagsfraktionen eingebrachten Entwurf inhaltlich zu verändern. Und tatsächlich nahm der Ausschuss wesentliche textliche Veränderungen an der Sitzungsunterlage vor. Eine längere Diskussion führte der Ausschuss über die Frage der Strafbewehrung von Gesetzesverstößen. Unter Beteiligung der anwesenden Regierungsbeamten wurden die Strafbestimmungen Siehe das Schreiben in BArch, B 106/146484 sowie einen handschriftlichen Vermerk des BK-Amtes in B 136/5063. 68 Siehe den Entwurf des Übersendungsschreibens des BK-Amtes in BArch, B 136/5063. 69 Siehe den Auszug aus der Sitzungsniederschrift der 33. Sitzung des 1. Sonderausschusses am 13. April 1972 in BArch, B 136/5063. Zur Diskussion des Gesetzes siehe die Dokumentation des Verfahrens im Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages PA-DBT 4000 Gesetzesdokumentation, VI/0268. 70 Siehe den Auszug aus dem Kurzprotokoll des Innenausschusses des Bundestages am 13. April 1972 in BArch, B 136/5063. 67
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bewusst unbestimmt gefasst vor dem Hintergrund, dass die entsprechenden Vorgaben des Versammlungsgesetzes und des Strafgesetzbuchs durch das vorliegende Gesetzgebungsverfahren nicht außer Kraft gesetzt würden. § 3 betraf deshalb nach übereinstimmender Auffassung des Ausschusses nur noch Ordnungswidrigkeiten. Nachdem der Innenausschuss noch kurz das Anliegen des Bundesministers für Verkehr auf Einfügung einer Regelung für die Sicherung der Regattaflächen in der Ostsee diskutiert und verworfen hatte, wurde das Gesetz in der geänderten Fassung einstimmig gebilligt. Noch am gleichen Tag ging dem Bundestagspräsidium der schriftliche Bericht zu samt einer synoptischen Gegenüberstellung des interfraktionellen Entwurfs und der vom Ausschuss beschlossenen Fassung.71 Nur einen Tag später fand am 14. April 1972 die abschließende Beratung des Gesetzes im Plenum des Deutschen Bundestags statt. In der Zweiten und Dritten Lesung gab es weder Wortmeldungen noch eine Aussprache, die Abstimmungen erfolgten jeweils einstimmig – der Tagesordnungspunkt dürfte insgesamt weniger als zehn Minuten in Anspruch genommen haben; der Entwurf des Bundesrates wurde damit stillschweigend erledigt.72 Die Weiterleitung an den Bundesrat erfolgte ohne jeden zeitlichen Verzug noch gleichentags; Abschriften des Überweisungsschreibens gingen dem Bundeskanzler und dem Bundesminister des Innern mit Datum vom 17. April 1972 zu.73 Di s s e n s z w i s c h e n B M I u n d B M V: Di e Si c h e r u n g d e r Se g e l w e t t b e w e r b e An dieser Stelle mündete eine Paralleldiskussion in das Gesetzgebungsverfahren, die bereits seit einem Jahr zwischen den Bundesministerien des Innern und für Verkehr geführt worden war. Eröffnet worden waren diese Nebenverhandlungen durch ein Schreiben des Bundesministeriums für Verkehr vom 1. Juli 1971 an das Referat ÖS 1 des Bundesinnenministeriums.74 Es wies auf die Schwierigkeit hin, dass die Regattaflächen für die Siehe BT-Drs. VI 3337 vom 13. April 1972 unter https://dserver.bundestag.de/btd/06/033/ 0603337.pdf. 72 Siehe das Protokoll der 181. Sitzung des Deutschen Bundestags am 14. April 1972 (S. 10545 B) unter https://dserver.bundestag.de/btp/06/06181.pdf. 73 Siehe die Abschrift des Schreibens vom 14. April 11972 mit aufgesetztem Schreiben des Bundestagspräsidenten an den Bundeskanzler in BArch, B 136/5063. 74 Siehe das Schreiben in BArch, B 106/146484.
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Olympischen Segelwettbewerbe auf der Ostsee vor Kiel „in die offene See hinaus[ragen], auf der die BRD gegenüber Schiffen fremder Flaggen und Ausländern keine Polizeigewalt“ habe. „Da die Regattaflächen während der Olympiade voll für sportliche Zwecke in Anspruch genommen werden müssen, müssen andere Nutzer (Fischerei usw.) weitgehend ausgeschlossen werden. Auch Zuschauerboote können in einem engen Umkreis um die Regattaflächen nur beschränkt zugelassen werden. Angesichts dieser Beschränkungen besteht die Gefahr, daß von ausgeschlossenen Nutzern und Interessierten Schwierigkeiten bereitet werden.“ Um dem abzuhelfen regte das Bundesverkehrsministerium an, dass die betreffenden Hochseeflächen „für die Dauer der Olympiade in das deutsche Hoheitsgebiet einbezogen“ werden sollten, diese Flächen ausschließlich den Wettbewerbsteilnehmern zu öffnen und schließlich eventuelle Entschädigungsansprüche von vorne herein auszuschließen. Im Innenministerium setzte sich insbesondere die Verfassungsabteilung V mit dem Anliegen des BMV auseinander.75 Die Referate V I 4 und V I 6 erklärten übereinstimmend, dass eine einseitige Ausdehnung der Dreimeilenzone eine Abkehr von der bisher von der Bundesrepublik vertretenen Auffassung in Bezug auf die Definition des hoheitlich beanspruchten Küstenmeeres bedeuten würde und wohl durch das Völkerrecht nicht gedeckt wäre. Nach Ansicht beider Referate würde jedoch allgemein eine abgeschwächte Polizeigewalt in der sogenannten Anschlusszone toleriert, so dass es der vom BMV vorgeschlagenen gesetzlichen Regelung gar nicht bedürfte. Übereinstimmend regten V I 4 und V I 6 an, die Angelegenheit mit dem Auswärtigen Amt abzustimmen. Das Auswärtige Amt beantwortete ein entsprechendes Schreiben des BMI vom 2. August 197176 mit Datum vom 12. August 1971 und bestätigte darin die Auffassung des BMI im Wesentlichen, regte aber doch an zu prüfen, in das geplante Gesetz über den Olympischen Frieden eine Bestimmung aufzunehmen, die den zuständigen Behörden befristet die notwendigen Befugnisse einräumen würde – ein Vorschlag, der im BMI lediglich mit der Randbemerkung quittiert wurde: „Das wäre doch auch ein Verstoß gegen das 3-Seemeilengebot.“77
Siehe die internen Schreiben der Referate V I 4 und V I 6 vom 19. bzw. 21. Juli 1971 in BArch, B 106/146484. 76 Siehe den Entwurf in BArch, B 106/146484. 77 Siehe das Schreiben und die Randbemerkung ebd. 75
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Um zu einer Einigung zu kommen, fand am 25. August 1971 im BMI eine Besprechung von Vertretern des Verkehrsministeriums mit dem Referat ÖS 1 statt.78 Man kam zu der gemeinsamen Auffassung, dass aus zollrechtlichen Gründen eine befristete gesetzliche Ausweitung der deutschen Seepolizeirechte sinnvoll wäre und diese auch im Rahmen des geplanten Gesetzes zum Schutz des Olympischen Friedens vorgenommen werden könnte. Zu diesem Zweck sollte das BMV unter Beteiligung der Bundesministerien der Finanzen, der Justiz und des Innern sowie des Auswärtigen Amts einen entsprechenden Gesetzesvorschlag erarbeiten. Daher sah es wohl das BMI nicht als seine Aufgabe an, diesen Punkt bei seinen eigenen Überlegungen im Weiteren zu berücksichtigen. Immerhin setzte man das Verkehrsministerium am 2. Dezember 1971 darüber in Kenntnis, dass der Bundesminister des Innern den Bundestagsfraktionen eine Formulierungshilfe „nebst Vorblatt und Begründung“ vorgelegt habe.79 Daher erkundigte sich das BMV mit Schreiben vom 8. Dezember 1971, „ob und wie sie [die vom BMV erbetenen Rechtsvorschriften] ggf. in den Gesetzentwurf eingefügt werden können“. Andernfalls wollte das Verkehrsministerium umgehend zu einer Ressortbesprechung von Verkehrs- und Innenministerium und Auswärtigem Amt einladen. Dem wollte man im BMI aber nicht entsprechen. Am 16. Dezember 1971 teilte ÖS 1 dem BMV mit, das BMI bleibe bei seiner bisherigen Auffassung und habe nach der erfolgten Übermittlung der Formulierungshilfe nun keine Möglichkeit mehr, „die für Ihre Zwecke benötigten Rechtsvorschriften nachträglich einzufügen.“80 Abschließend stellte man dem Verkehrsminister aber „anheim, sich deshalb unmittelbar mit dem jeweils zuständigen Ausschuß der 3 im Bundestag vertretenen Fraktionen in Verbindung zu setzen.“ Tatsächlich folgte das Verkehrsministerium dieser etwas merkwürdigen und eigentlich den Spielregeln der Regierungsarbeit zuwider laufenden Empfehlung. Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium Holger Börner wandte sich am 17. Januar 1972 an den SPDFraktionsvorsitzenden Herbert Wehner. Nachdem das Auswärtige Amt und der Bundesminister des Innern die geforderte befristete Erweiterung Siehe den Vermerk vom 6. September 1971 und Schreiben von ÖS 1 an den BMV vom 7. September 1971 ebd. 79 Siehe den Entwurf ebd. 80 Siehe den Entwurf in BArch, B 106/146484. Ein Abdruck dieses Schriftwechsels wurde unter dem gleichen Datum dem Auswärtigen Amt zugeleitet. 78
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des deutschen Hoheitsgebiets „aus politischen Gründen abgelehnt“ hätten und auch das Bundesfinanzministerium nicht helfen könnte, legte Börner nun Wehner einen konkreten Formulierungsvorschlag mit der Bitte vor, diesen in den Initiativentwurf aufzunehmen.81 Dabei berief er sich als Argument auf „gezielte Störaktionen, die nach Ansicht des Verfassungsschutzes in Betracht gezogen werden müssen“ und zu unterbinden wären. Diese Bemerkung veranlasste das Referat ÖS 1 zu einer schriftlichen Nachfrage. Am 15. Februar 1972 bat Regierungsdirektor Streicher die Abteilung Seeverkehr des BMV um Aufklärung, „ob und ggf. welche Erkenntnisse über Anhaltspunkte für gezielte Störaktionen gegen die Segelregatten Ihnen bisher vorliegen“. Gleichzeitig richtete Streicher eine entsprechende Frage an das Bundesamt für Verfassungsschutz.82 Die Antwort des Verkehrsministeriums vom 25. Februar 1972 fiel etwas kleinlaut aus. Die Wasser- und Schifffahrtsdirektion Kiel hatte danach sowohl beim NOK in München als auch beim Verfassungsschutz nachgefragt. Das NOK habe lediglich geantwortet, „daß Störaktionen allgemein erwartet werden müssen“, und auch der Verfassungsschutz würde über keine konkreten Anhaltspunkte verfügen.83 Im BMI sah man daraufhin von einer Antwort ab.84 Das Verkehrsministerium ließ allerdings seinerseits nicht locker: Mit Schreiben vom 10. März 1972 wurde das Bundesministerium des Innern aufgefordert, die vom BMV geforderte Ergänzung ihm Rahmen der Stellungnahme zum Bundesratsentwurf einzufügen. Als das BMI jedoch während eines Telefongesprächs mitteilte, dass man „nicht bereit sei, die vom BMV angeregte Vorschrift aufzunehmen“ und eine entsprechende Stellungnahme bereits von Bundesminister Genscher gebilligt worden sei, hatte man von Seiten des BMV angekündigt, die Angelegenheit „nunmehr mit Ministerschreiben“ vorzutragen, also gemäß Geschäftsordnung der Bundesregierung einen Einigungsversuch auf oberster Ebene anzustre-
Siehe die Abschrift in BArch, B 106/146484. Der Entwurf konnte in B 108 nicht ermittelt werden. 82 Siehe den Entwurf für beide Schreiben in BArch, B 106/146484. 83 Mit Schreiben vom 17. März 1972 bestätigte das Bundesamt für Verfassungsschutz dem BMI, dass bis dahin „keine Hinweise auf gezielte Störaktionen gegen die olympischen Segelregatten auf der Kieler Förde angefallen“ seien (ebd.). 84 Siehe das Schreiben des BMV in BArch, B 106/146484. Aufgesetzt die angesprochene Verfügung aus dem BMI. 81
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ben.85 Am 19. März 1972 folgte ein Fernschreiben, in dem das BMV die Zulässigkeit seines Anliegens mit der „inanspruchnahme von gebieten des stillen ozeans fuer atomwaffenversuche“ begründete – eine Argumentation, die im BMI mit der wohl spöttischen Randbemerkung „Astronautenlandungen“ kommentiert wurde. In der Antwort wurde dem BMV erneut mitgeteilt, dass man dem Anliegen des BMV nicht entsprechen könnte; insbesondere sei man der Ansicht, dass nicht das Gesetz zum Schutz des Olympischen Friedens, sondern das Gesetz über die Aufgaben des Bundes auf dem Gebiet der Seeschiffahrt der rechte Ort für die geforderten Regelungen wäre.86 Das Fernschreiben endet mit dem Hinweis: „Ich darf es Ihnen überlassen, insoweit gesetzesinitiativ zu werden. Im übrigen steht Ihnen die Möglichkeit offen, Ihr Anliegen in den künftigen Ausschußberatungen über die vom Bundesrat und Bundestag eingebrachten Gesetzentwürfe vorzutragen.“ Tatsächlich hat das Bundesverkehrsministerium, nachdem auch ein weiterer Versuch zur Einberufung einer Ressortbesprechung87 ganz offensichtlich ins Leere gelaufen war, sein Anliegen in den Beratungen des Innen- und des Rechtsausschusses des Bundesrates noch einmal zum Vortrag gebracht. Allerdings spielte der BMV diesmal quasi über Bande, denn es waren die Vertreter des Landes Schleswig-Holstein, die sowohl im Innen- wie im Rechtsausschuss des Bundesrates einen Antrag im Sinne des Bundesverkehrsministeriums stellten. Im Innenausschuss erhielt Schleswig-Holstein Unterstützung durch den Vertreter des BMV, der sogar einen eigenen Formulierungsvorschlag vortrug. Danach sollte die „Schiffahrtspolizei“, also die staatliche Ordnungsgewalt innerhalb der Regattaflächen auch außerhalb des Küstenmeeres den zuständigen Bundesbehörden obliegen. Nach einer ausführlichen Widerlegung durch den Vertreter des Bundesinnenministeriums verwarf der Ausschuss den Änderungsantrag aus Kiel und empfahl dem Bundesrat „hinsichtlich des Gesetzes einen Antrag gemäß Artikel 77 Abs. 2 GG nicht zu stellen“.88 Dass der Bundesminister für Verkehr so deutlich für den Antrag Schleswig-Holsteins Position bezog, diesen vielleicht sogar initiiert hatte und damit die regierungsinterne Diskussion noch einmal aufmachte, verdient Siehe das Schreiben des BMV mit aufgesetzten Vermerk aus dem BMI in BArch, B 106/146484. 86 Siehe den Entwurf eines Fernschreibens vom 21. März 1972 ebd. 87 Siehe das Schreiben an den BMI vom 27. März 1972 ebd. 88 Siehe den Auszug aus dem Kurzprotokoll des Innenausschusses des Bundestages am 13. April 1972 in BArch, B 136/5063. 85
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durchaus Beachtung. Denn ungeachtet der vorherigen Aufforderung durch das BMI verstieß das BMV mit dem Auftritt seiner Vertreter gegen § 28 der Geschäftsordnung der Bundesregierung89, demzufolge die Vertretung von Vorlagen der Bundesregierung einheitlich zu erfolgen hatte. „Gegen die Auffassung der Bundesregierung zu wirken, ist den Bundesministern nicht gestattet.“ Den Akten der beteiligten Ressorts bzw. des Bundeskanzleramts ist allerdings nicht zu entnehmen, ob dieser im Innenausschuss des Bundesrates sichtbar gemachte Dissens ein Nachspiel hatte. D a s G e s e t z u n d d i e A n s c h l u s s re g e l u n g e n i n d e n L ä n d e r n Ba y e r n u n d S c h l e s w i g - Ho l s t e i n Der Ausschuss des Bundesrats für Innere Angelegenheiten und der Rechtsausschuss des Bundesrats berieten den Gesetzesentwurf am 19. April 1972 in getrennten Sitzungen. Der Vertreter Bayerns im Innenausschuss erklärte, dass der Gesetzestext „in seinem wesentlichen Inhalt der auf einen Antrag seines Landes zurückgehenden Gesetzgebungsinitiative des Bundesrates (Drucksache 80 (72) entspreche“ und erledigte damit die Parallelität zweier Gesetzesentwürfe.90 Auch der Rechtsausschuss gelangte zu dieser Empfehlung. Hier war allerdings hinsichtlich der Strafvorschriften die Frage aufgeworfen worden, ob die Qualifizierung von Verstößen als Ordnungswidrigkeiten nicht eine „Privilegierung“ gegenüber vergleichbaren Verstößen gegen das allgemeine Versammlungsrecht darstellen würde. Hierauf erklärte der Vertreter des Bundesjustizministeriums, „eine solche Privilegierung sei gewollt. Dadurch, daß alle Tatbestände zu Ordnungswidrigkeiten gemacht wurden, habe man bewußt das im Ordnungswidrigkeitenrecht geltende Opportunitätsprinzip zur Geltung bringen wollen“. Der in seiner 380. Sitzung am 5. Mai 1972 gefasste Beschluss des Bundesrates folgte der Empfehlung seiner Ausschüsse91; noch am gleichen Tag informierte der Präsident des Bundesrates Heinz Kühn den Bundeskanzler
Siehe den Text der GOBReg unter https://www.bundesarchiv.de/cocoon/barch/0000/ge schaeftsordnung.html. 90 Siehe die Auszüge aus den Sitzungsprotokollen zur 358. Sitzung des Innenausschusses und zur 382. Sitzung des Rechtsausschusses in BArch, B 136/5063. 91 Siehe das Protokoll der 380. Sitzung des Bundesrats unter https://www.bundesrat.de/SharedDocs/downloads/DE/plenarprotokolle/1972/Plenarprotokoll-380.pdf?__blob=publication File&v=2. 89
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über diese Entscheidung.92 Daraufhin beauftragte das Bundeskanzleramt den Bundesminister des Innern mit Schreiben ebenfalls vom 5. Mai 1972, entsprechend § 56 der Gemeinsamen Geschäftsordnung Teil II die Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler und die Ausfertigung durch den Bundespräsidenten herbeizuführen.93 Die Gegenzeichnung erfolgte am 25. Mai 1972, die Ausfertigung am 31. Mai 1972.94 Mit der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt Teil Nr. 48, herausgegeben am 3. Juni 1972, wurde das „Gesetz zum Schutz des Olympischen Friedens vom 31. Mai 1972“ rechtskräftig.95 Die Umsetzung erfolgte in Bayern durch die von der bayerischen Staatsregierung erlassene Verordnung zur Ausführung des Gesetzes zum Schutz des Olympischen Friedens vom 25. Juli 1972. Für die Städte München, Augsburg und Regensburg wurden die Bannkreise präzise durch Bezeichnung der betroffenen Straßen und Plätze beschrieben.96 Die Landesregierung von Schleswig-Holstein erließ die Landesverordnung zur Bestimmung eines befriedeten Bannkreises während der XX. Olympischen Spiele mit Datum vom 28. Juli 1972. § 1 der Verordnung bestimmte sehr pragmatisch „das in der beigefügten Karte schraffiert dargestellte Gebiet zum Bannkreis“.97 Eine breite und kontroverse öffentliche Debatte über die mit dem Gesetz verbundene Einschränkung der grundrechtlich verbürgten Versammlungsfreiheit wurde in der Folge nicht geführt. Von daher konnten alle Beteiligten mit dem Ergebnis zufrieden sein. Im Vorfeld und auch während der Olympischen Spiele kam es durchaus zu Demonstrationen und Störversuchen. Der zivil auftretende Ordnungsdienst wurde dieser Siehe das Schreiben in BArch, B 136/5063. Siehe den Entwurf in BArch, B 136/5063. 94 Unterlagen ebd. 95 Siehe BGBl. I S. 865 unter https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?start=%2F%2F*% 5B%40attr_id%3D%27bgbl172102.pdf%27%5D#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id %3D%27bgbl172s0865.pdf%27%5D__1623055930043. Siehe die Urschrift in BArch, B 463/13670. 96 Siehe die Verordnung zur Ausführung des Gesetzes zum Schutz des Olympischen Friedens vom 25. Juli 1972 in Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt Nr. 16/1972 vom 31. Juli 1972, S. 302 f. Online verfügbar unter https://www.verkuendung-bayern.de/files/gvbl/ 1972/16/gvbl-1972-16.pdf. 97 Siehe die Landesverordnung zur Bestimmung eines befriedeten Bannkreises während der XX. Olympischen Spiele vom 28. Juli 1972 in Gesetz- und Verordnungsblatt für SchleswigHolstein Nr. 12 vom 4. August 1972, S. 130 f. § 2 bestimmte lediglich das Inkrafttreten am Tage nach der Verkündung. Unterlagen dazu siehe unter LASH Abt. 661 Nr. 11485. 92 93
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Verstöße gegen das Demonstrationsverbot aber leicht und vor allem gewaltfrei Herr, so dass der Ermächtigungsrahmen des Gesetzes zum Schutz des Olympischen Friedens zu keiner Zeit genutzt werden musste98 – eine deutliche Bestätigung für alle, die zuvor für das Opportunitätsprinzip bei der Sanktionierung eingetreten waren. Erst der Anschlag auf die israelische Delegation am 5. September 1972 setzte der entspannten Atmosphäre ein jähes Ende und schuf eine Situation, für die das Bannmeilengesetz keine Handlungsoptionen vorgesehen hatte. Dementsprechend spielte in der anschließenden öffentlichen Diskussion im In- und Ausland dieses Gesetz auch keine Rolle; im Zentrum des öffentlichen Interesses und der Debatte standen nun die Ursachen der Geiselnahme und das Versagen der deutschen Sicherheitskräfte, die hier allerdings nicht mehr Gegenstand sein können.99 Einen Erfolg stellte das Gesetz auch dar, weil alle Beteiligten vermeiden konnten, durch ein Gesetz zur Beschränkung der Versammlungsfreiheit politisch kompromittiert zu werden. Niemand hatte sich in dieser Angelegenheit öffentlich exponieren wollen. Am Ende konnten alle Beteiligten ihre eigene Rolle so gestalten, dass weder Regierung und Opposition sich gegenseitig Verantwortung zuschieben konnten, noch ein Konflikt zwischen dem Bund und den beteiligten Bundesländern entstehen konnte, da der Bundestag mit dem Gesetz einen sehr allgemein gehaltenen Rahmen schuf, den die Länder Bayern und Schleswig-Holstein mit gesetzes technisch denkbar niedrig gehängten Regelungen ausfüllten. Wie groß dabei die persönliche „Not“ exponierter Politiker war, zeigt das Beispiel Hans-Dietrich Genschers, der über weite Strecken lieber nach den Regeln des Mikado-Spiels agierte, nach denen verliert, wer sich zuerst bewegt. Er wollte – wie vor allem der Presseauftritt am 11. Januar 1972 zeigte – möglichst mit der ganzen Sache nicht in Verbindung gebracht werden. Von daher waren wahrscheinlich alle erleichtert, dass das Bannmeilengesetz außer Kraft trat, ohne in Anwendung gebracht worden zu sein, und deshalb mehr oder weniger vergessen oder – wie von Schiller und Young – in seiner wirklichen Brisanz verkannt wurde. So kann die Geschichte des Gesetzes zum Schutz des Olympischen Friedens als ein politisches Kammerspiel gelesen werden, das ein interessantes Schlaglicht auf die politische Kommunikations- und Konsensbildungskultur der noch jungen Bundesrepublik am Ende ihrer „Pubertät“ wirft. Vgl. dazu Schiller – Young (wie Anm. 2) S. 229. Vgl. dazu Schiller – Young (wie Anm. 2) S. 280–331.
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Archivklischees. Eine Sprachanalyse Von Julian Holzapfl Sollte es irgendwo eine Darstellung des Archivarsberufs geben, die ohne einen Verweis auf die verbreiteten und weitgehend falschen Klischees über ihn auskommt, dann ist sie dem Autor bislang entgangen. Nichts gehört so untrennbar zu unserem beruflichen Selbstbild wie der wechselweise sachliche, geduldige, polemische, selbstironische oder resignierte Umgang mit Archivklischees. Im Folgenden möchte ich solche Klischees als sprachliche Gebilde in den Blick nehmen, die sich auch mit sprachlichen Mitteln analysieren lassen. K l i s c h e e s u n d Fr a m i n g s Das Wort Klischee bezeichnet in seiner engeren Bedeutung, dem namengebenden technischen Vorgang der Drucktechnik entlehnt, zunächst einen sprachlichen Abklatsch, also eine schablonenhafte, gedankenlose Wiederverwendung immer gleicher Wendungen und Sprachbilder für die gleiche Sache: Nach Überlebenden eines Erdbebens wird „fieberhaft gesucht“, Schulden, deren Rückzahlung in absehbarer Zeit nicht erreichbar scheint, sind ein „Schuldenberg“. In ihrem gewohnheitsmäßigen Gebrauch sind Klischees dann auch geeignet, eine gedankliche Verzerrung, eine ungenaue oder falsche Vorstellung der beschriebenen Sache entstehen zu lassen. Klischees in diesem zweiten, weiteren Wortsinn sind also ebenfalls die Konnotationen, die mitschwingen, die Vorannahmen und Vorurteile, die transportiert werden, wo eigentlich eine genaue Beobachtung nötig wäre: Verläuft der Rettungseinsatz im Erdbebengebiet tatsächlich so unkontrolliert und wahnhaft, wie das Bild des überhitzten Körpers es suggeriert, oder kann es sich im konkreten Fall nicht um einen gut organisierten Einsatz von technischen Spezialisten handeln, die ihre Ressourcen selbst unter Zeitdruck noch in kühler Planmäßigkeit einsetzen? Ist das Bild des Berges in seiner Unüberwindbarkeit, des erdrückend sich Auftürmenden, das für private Schuldner psychologisch treffend sein mag, auch für den Schuldenstand öffentlicher Haushalte angemessen, wo Schuldenaufnahme Teil einer soliden Langzeitstrategie sein kann? Fachleute, über deren
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Arbeit in Klischees berichtet wird, erkennen sofort, wo der gut eingeschliffenen Phrase, dem geronnenen Sprachbild der Vorzug gegeben wurde vor der Beschäftigung mit dem Gegenstand selbst. Klischeehafte Sprache ist deswegen nicht per se falsch, sie ist aber am Gegenstand der Beschreibung letztlich desinteressiert: Wenn etwa berichtet wird, Akten seien „aus den Kellern der Archive ans Licht gebracht“ worden, ist es gut möglich, dass sich die Magazinräume tatsächlich im Untergeschoß befinden, und dass sie – archivalienschonenderweise – unbeleuchtet sind. Es steckt darin aber die nicht hinterfragte Vorstellung, Archive seien Orte der Dunkelheit und des Verbergens, nicht der Information und des Zugänglichmachens. Schließlich hat, zum Dritten, in den letzten Jahren eine weitere Sichtweise auf Sprachklischees Aufmerksamkeit gefunden, die sich derzeit vor allem aus Debatten über politische Kommunikation speist1, jedoch in der Kommunkationswissenschaft schon deutlich älter ist2 und in einem unscharf umgrenzten und terminologisch offenen Forschungsfeld auch sprachwissenschaftliche3, soziologische4 und psychologische5 Dimensionen hat: Das Framing, also die Möglichkeit, den mentalen Einordnungsrahmen, der durch Sprache ganz zwangsläufig entsteht, im Rahmen einer Kommunikationsstrategie zu etablieren und zu kontrollieren, indem feste Vokabeln und Sprachregelungen strategisch eingesetzt werden. Framing ist eine auf Sprachanalyse beruhende Durchformung des Sprechens und Schreibens, ohne den vordergründigen Makel der Propaganda oder der Desinformation. „Framing“ ist, was Kommunikationsberater und Pressereferenten tun, „Frames“ oder „Framings“ sind aber auch die einzelnen Sprachrahmen und Wortbildungen, die dabei entstehen. Von der menschengemachten Erderwärmung beispielsweise als „Klimakatastrophe“ zu sprechen, setzt einen ganz anderen, viel aktiveren politischen Deutungsrahmen als der über lange Zeit gebräuchlichere Begriff „Klimawandel“: Wandel vollzieht sich, man kann sich nach und nach auf ihn einstellen. Einer Katastrophe George Lakoff – Elisabeth Wehling, Auf leisen Sohlen ins Gehirn. Politische Sprache und ihre heimliche Macht, Heidelberg 2008. – Elisabeth Wehling, Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht (Edition Medienpraxis 14), Köln 2016. 2 Jörg Matthes, Framing (Konzepte. Ansätze der Medien- und Kommunikationswissenschaft 10), 2. aktualisierte Auflage, Baden-Baden 2021. 3 Dietrich Busse, Frame-Semantik. Ein Kompendium, Berlin-Boston 2012. 4 Erving Goffmann, Frame Analysis, Cambrigde Mass. 1974. 5 Daniel Kahnmann – Amos Tversky (Hrsg.), Choices, values and frames, Cambridge 2000. 1
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dagegen muss mit größter Dringlichkeit, unter Anstrengung aller Kräfte und auch unter Opfern begegnet werden. Das ist die Leistung des Katastrophen-Framings. Sprachklischees erscheinen in dieser Diskussion dann nicht mehr nur passiv, als Ergebnis denkfaulen Nachformulierens, sondern als aktiv bespielbarer sprachlicher Baukasten, mit dem sich das eigene Tun und die eigenen Anliegen in den Rahmen setzen lassen, in dem man sie sehen möchte und für richtig verortet hält – oder mit denen man eben in einen Rahmen gesetzt wird, in dem man sich auf keinen Fall wiederfinden möchte. Was bedeutet das für Archivklischees? Nicht alle Klischees beim Sprechen und Reden über Archive, vielleicht nicht einmal die Mehrheit, werden absichtsvoll eingesetzt. Das soll hier auch gar nicht unterstellt werden. Und doch trägt dieser Blickwinkel Entscheidendes zur Analyse bei: Er nimmt den Klischees, als Framings gelesen, ihre sprichwortartige Selbstverständlichkeit und Harmlosigkeit. Anders als Klischees können Framings nicht ironisch verwendet, relativiert oder hinterfragend verwendet werden: Sie wirken trotzdem, und sie wirken immer. Sprache schafft Realität. Auch wo im Einzelfall keine Absicht mit ihnen verfolgt wird, sind Sprachbilder doch nie unschuldig. Sie setzen Deutungsrahmen, prägen Wahrnehmungen und perpetuieren Rollenbilder. Anders als Klischees, sind Framings kein Schicksal: Man framed, oder man wird geframed. Dieser Aufsatz versucht also eine, notwendigerweise skizzenhafte, Auseinandersetzung mit Archivklischees, die sich ebenfalls auf diesen drei Ebenen bewegt: Zum ersten sollen die gängigsten Klischees in ihrem engeren Sinn zusammengestellt, die besonders häufig begegnenden sprachlichen Vokabeln, Wortgruppen und Versatzstücke gesammelt und in sieben zusammengehörige Wortfelder aufgegliedert werden, natürlich ohne Anspruch auf enzyklopädische Vollständigkeit zu erheben. Es sind dies: Das Entdeckerklischee, das Vergessensklischee, das Schlummerklischee, das Verborgenheitsklischee, das Verlustklischee, das Schatzklischee und schließlich das Staubklischee. Im zweiten Schritt wird den Konnotationen nachgegangen, die hinter den Wortfeldern stehen, und es schließt sich, drittens, jeweils der Versuch einer Deutung an, welche Vorstellungen von Archiven und von Archivar*innen damit jeweils transportiert werden. Wie prägt das Klischee, nunmehr als Framing verstanden, den mentalen Rahmen, in den ihr/unser Tun gesetzt wird? Es folgen einige knappe Überlegungen, welche Ansätze und Kommunikationsstrategien Archiven zur Verfügung stehen, um diesen vorgefundenen sprachlichen Rahmungen etwas entgegenzusetzen.
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Als Untersuchungsfeld dient dafür die ausgewertete Berichterstattung bayerischer regionaler und überregionaler Zeitungen zwischen 2010 und 2020. Dieses Quellenkorpus6 macht noch zwei Vorbemerkungen nötig: Nachdem sich Archivar *innen in den vergangenen Jahren – mit guten Gründen! – weitaus mehr mit der Selbstdarstellung und Vernetzung in digitalen sozialen Medien befasst haben7 als mit dem Feld der „herkömmlichen“ Berichterstattung in Zeitungen, ist dies ein Stück weit eine Rückwendung zu den redaktionellen Medien. Sie soll jedoch der Analyse dienen, nicht der Regression: Die Vielfältigkeit der Berichterstattung, von Sport und Lokalem bis zum Feuilleton, ermöglicht eine breit aufgestellte Untersuchung. Sie zeigt Klischees in ihrem gleichsam natürlichen Lebensraum: Dort, wo nicht Filterungseffekte bereits ein gut informiertes, kritisches digitales Publikum formieren und mit Inhalten von Archiven selbst zusammenbringen, sondern wo nach wie vor die Tagespresse die Berichterstattung liefert, Sichtweisen einer breiteren Öffentlichkeit prägt und widerspiegelt. Das Bespielen digitaler und sozial-medialer Kanäle Methodisches: Für die Recherche habe ich zum einen die Pressedatenbank WISO, GBIGenios Deutsche Wirtschaftsdatenbank GmbH, über mein Benutzerkonto bei der Bayerischen Staatsbibliothek verwendet. Die dort mit ihren Artikelarchiven vertetenen deutschen Zeitungen lassen sich über die erweiterten Suchfunktionen zunächst nur regional auf „Süd“ begrenzen, die Beschränkung auf bayerische Zeitungen erfolgte dann bei der Durchsicht der Trefferlisten. Zum anderen habe ich auf das Artikelarchiv der Süddeutschen Zeitung über deren Bibliotheksdatenbank SZLibraryNet zugegriffen, ebenfalls im Bibliothekszugang der BSB. Für beide Datenbank getrennt habe ich umfangreiche Trefferlisten über Wortsuchen nach „Archiv“ in verschiedenen Kombinationen erstellt, daraus wiederum einschlägige Artikel im gebotenen Volltext gesichtet und insgesamt 191 davon tabellarisch erfasst und verschlagwortet. Dieses Artikelkorpus aus 12 verschiedenen Zeitungen, mit Beiträgen von 112 verschiedenen Journalisten sowie mit 32 nicht namentlich gekennzeichneten Artikeln und Agenturmeldungen liegt dem Aufsatz zugrunde. Wo immer möglich, wird in den folgenden Zitaten auch das Zeitungsressort mit angegeben. 7 Siehe, unter zahlreichen weiteren Beiträgen, die Artikel zum Schwerpunktthema „Offene Archive – Archive im Web 2.0“, Archivar 71 (2018) S. 6–46. – Karsten Kühnel, Soziale Medien und Archive – Top oder Flop? In: Archive in Bayern 10 (2018) S. 277–288. – Antje Diener-Staeckling, Vernetzung als Chance. Web 2.0 und Archivberatung. In: Monika Storm (Redaktion), Kompetent! Archive in der Wissensgesellschaft. 86. Deutscher Archivtag 2016 in Koblenz (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag 21), Fulda 2018, S. 151–162. – Gisa Spiegel, Social Media in Archiven. Grundlagen, Einsatzmöglichkeiten, Zielsetzungen, Berlin 2013, sowie natürlich zahlreiche blogs und digitale Ressourcen wie „Archivalia“, Betreiber Klaus Graf, https://archivalia.hypotheses.org/ (aufgerufen am 15.3.2021), „Archive 2.0“, https://archive20.hypotheses.org/ (aufgerufen am 15.3.2021) oder Aktenkunde. Aktenlesen als Historische Hilfswissenschaft, von Holger Berwinkel, https://aktenkunde.hypotheses.org/ (aufgerufen am 15.3.2021). 6
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wird ja durchaus unter der expliziten Prämisse vertreten, damit der klischeehaften Fremddarstellung das selbst kontrollierte Bild entgegen setzen zu können8. Wogegen dabei ankommuniziert werden muss, und wie das auf sprachlicher Ebene gelingen könnte, dazu soll diese Sprachanalyse ein Beitrag sein. Zum zweiten ist das Folgende nicht als Pressekritik intendiert und sollte so auch nicht verstanden werden. Dass hier die Presseberichterstattung ausgewertet wird, wo und soweit sie Archivklischees enthält, impliziert nicht im Umkehrschluss die Annahme, die gesamte, oder auch nur die überwiegende Presseberichterstattung der zitierten Zeitungen und Journalist*innen bestünde hauptsächlich aus Klischees: Selbstverständlich fand und findet sich zuhauf, nicht nur im ausgewerteten Korpus, kundige und sorgfältig recherchierte Berichterstattung über archivische Themen. Hans Kratzer von der Süddeutschen Zeitung, der für seine langjährige Berichterstattung über archivische Themen im weiteren Feld der bayerischen Gedächtniskultur mit dem bayerischen Archivpreis „Janus“ ausgezeichnet wurde, kann hier beispielhaft stehen9, steht aber beileibe nicht allein. Schatzgräber und Detektive – das Entdeckerklischee Gleich der erste Klischeekomplex, der hier anzuführen ist, führt auf etwas sehr Grundsätzliches: Das Verhältnis von Archivar*innen und ihren Kund*innen und Benutzer*innen, den Forscher*innen. Was ist die Arbeit im Archiv eigentlich für eine Tätigkeit für die, die es besuchen und benützen? Eine Suche, aber eine informierte, auf Basis von historischem und verwaltungsgeschichtlichem Vorwissen, Zuständigkeiten, Erschließungsinformationen vorgehende, geplante, informierte und fachlich begleitete Suche, würden Archivar*innen in ihrer Berufssprache sagen – eine Recherche eben. So wird die Archivarbeit, in öffentlichen wie privaten Archiven, in der Presse oft genug auch benannt, aber genauso oft als „stöbern“ bzw.
Joachim Kemper, Externe Kommunikation und digitale Vermittlung – heraus aus der archivischen „Staubecke“? In: Elisabeth Schöggl-Ernst – Thomas Stockinger – Jakob Wührer (Hrsg.), Die Zukunft der Vergangenheit in der Gegenwart. Archive als Leuchtfeuer im Informationszeitalter (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 71), S. 247–256. 9 Hans Kratzer, Dank des Preisträgers für die Verleihung des „Bayerischen Janus 2017“. In: Archive in Bayern 10 (2018) S. 147–156. 8
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„aufstöbern“10, „kramen“ bzw. „hervorkramen“11, „wühlen“12 oder – interessante semantische Wendung – „sich selbst im Archiv vergraben“13, Vokabeln nicht für die Auswertung dessen, was vorliegt, sondern für die Suche nach Verborgenem. Der Erfolg der Suche ist, dass im Archiv etwas „gefunden“14, „entdeckt“15 oder „aufgespürt“16 wird oder im Archiv „auftaucht“17. Finder*in/Entdecker*in eines Archivales ist dabei immer die Forscher*in, nie das Archiv, und die Entdeckung ist, wie das Entdeckungen an sich haben, immer überraschend. Nicht, dass eine solche Beschreibung nicht in besonderen Fällen gerechtfertigt sein kann, zum Beispiel in überraschenden Überlieferungsgeschichten wie der der mittelalterlichen Urkunde aus Belgien, die als Beutegut des Ersten Weltkriegs in den Tresor eines Universitätsarchivs kam und erst bei der Öffnung des – tatsächlich vorher unbekannten – Inhalts identifiziert werden konnte.18 Doch das ist die große Ausnahme. Wie Dietmar Schenk zutreffend beschreibt, bedeutet, „in Archiven etwas zu entdecken also häufig nichts anderes, als die Erkenntnis zu gewinnen, dass bestimmte, als solche zumindst grob bekannte Quellen in Bezug auf bestimmte historische Fragen ergiebig sind“.19 Die Sprache des Findens und Auftauchens, so allgegenwärtig sie in der Berichterstattung ist, könnte also fachlich unangemessener nicht sein. Woher diese Diskrepanz zwischen archivarischer Selbstbeschreibung und der klischeehaften Außensicht? Wo Archivar*innen selbst die Presseberichterstattung anstoßen, zu Wort kommen, aus ihrer Arbeit erzählen, klingt das Theo Männer, Schätze im Karton versteckt, Mittelbayerische Zeitung (Neunburg vorm Wald), 19.10.2018. – Karte von 1720 gibt Aufschlüsse, Fränkischer Tag (Forchheim), 3.12.2011. – Michael Berzl, Älter als gedacht, Süddeutsche Zeitung (Landkreis Starnberg), 16.11.2019. 11 Marco Völklein, Pufferküsser sucht die Tram von gestern, Süddeutsche Zeitung (München), 20.12.2010. 12 Stefan Salger, Blockwart? Nein Danke!, Süddeutsche Zeitung (Landkreis Fürstenfeldbruck), 14.10.2019. 13 Katja Sebald, Historie im Blick, Süddeutsche Zeitung (Landkreis Starnberg), 30.12.2017. 14 Hans Kratzer, Wenn Liebe verboten ist, Süddeutsche Zeitung, 23.8.2020. 15 Johannes Willms, Auf der Suche nach der beschwiegenen Zeit, Süddeutsche Zeitung (Literatur), 10.4.2012. 16 Helmut Wanner, Theresienruhe wachgeküsst, Mittelbayerische Zeitung (Regensburg/ Schwandorf ), 16.5.2018. 17 Susanne Hermanski, Akten wie Akte, Süddeutsche Zeitung (Kultur), 6.4.2017. 18 Eine Sensation im Geheimfach. Regensburger Archivar fand eine mittelalterliche Urkunde, Nürnberger Nachrichten (Metropolregion und Bayern), 5.7.2014. 19 Dietmar Schenk, Kleine Theorie des Archivs, 2. Auflage, Stuttgart 2014, S. 52. 10
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freilich ganz anders, erscheint die Erschließung plötzlich als notwendige Voraussetzung des Findens: „Es wird die Archivare noch eine Weile beschäftigen, das Bildmaterial zu ordnen, zu verschlagworten und es den Bürgern in digitaler Form so zugänglich zu machen, dass auch Laien das Gewünschte finden.“ 20 „Die Archivarin ordnet, sortiert und agiert als Dienstleisterin, wenn jemand über die Stadtgeschichte recherchiert.“21 Hier ist das Konzept des Framing sehr instruktiv, und lässt das Klischee der suchenden und findenden Forscher*in klar als interessengeleitete Selbstdarstellung erkennen. Es sind ganz einfach die Forscher*innen, die mit ihren „scoops“ an die Presse gehen und ihre Entdeckergeschichten erzählen. Aber das allein erklärt noch nicht seine Anziehungskraft: Hinzu kommt noch der gewohnte Blick der Journalisten, für die das Ergebnis einer Recherche natürlich vor allem dann Nachrichtenwert hat, wenn sie etwas neues hervorgebracht hat: Der wahre Kern von angeblich „entdeckten“, „neu gefundenen“ Akten, die einer Journalist*in „exklusiv“ vorliegen, ist oft der banale Vorgang, dass diese Akten vom Archiv unter den gesetzlichen Regeln zur Einsichtnahme vorgelegt wurden, und die Berichterstatter*in von dieser Möglichkeit als bislang einzige*r Gebrauch gemacht hat, so etwa Akten zum staatlich geförderten Doping im Bundesarchiv.22 In der Forscher*in, die sich furchtlos ins Archiv begibt und von dort, alle Widrigkeiten überwunden habend, mit dem spektakulären Fund wieder herauskommt, lässt sich schließlich auch eine archetypische Heldengeschichte erkennen: Die des furchtlosen, einsamen Suchers, wie er in der Geschichte des Abenteurers oder des Entdeckers erzählt wird. Ein solcher Held ist etwa der Musikwissenschaftler, der „regelrecht zum Schatzgräber“ werden musste, als er das Werk des Komponisten Louis Spohr (1784–1859) erforschte, wie im Feuilleton der Coburger Zeitung berichtet wurde.23 Originalton des Forschers: „Im Kasseler Spohr-Archiv bin ich zufällig auf eine Partitur aus dem Jahr 1830 gestoßen: der Alchymist“. Der unbedarfte Archivar mag nun fragen: Wie zufällig kann der Fund einer Louis Spohr-Partitur im Archiv der Louis-Spohr-Gesellschaft sein? Doch gemach: Der Forscher hatte dann noch mindestens eine schier Sabine Bader, Frischer Wind im Stadtarchiv, Süddeutsche Zeitung (Landkreis Starnberg), 22.11.2019. 21 Bernhard Lohr, Der Schatz der Zukunft, Süddeutsche Zeitung (Wolfratshausen), 24.1.2012. 22 Achim Muth, Die Doping-Akte VF-1220/13/72, Main-Post (Politik), 30.7.2013. 23 Klangvolle Wiederbelebung, Coburger Zeitung (Feuilleton), 14.7.2011. 20
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unüberwindliche Hürde zu meistern – er musste einen Mikrofilm lesen. Hier schließt sich der Kreis zu den anfangs aufgelisteten Vokabeln des Suchens: Die noch in diese Reihe gehörende beliebte Formulierung, jemand habe „in Archiven gegraben“24 oder dort etwas „ausgegraben“25 lässt nicht zufällig an die Heldengeschichten über archäologische Abenteuerer denken, wie sie in C.W. Cerams „Götter, Gräber und Gelehrte“ erzählt werden. Der Archäologe wie der Schatzgräber ist der erste, der das lange verborgene Stück in den Händen hält, oder ist sich zumindest sicher, es zu sein: „Bei unseren Recherchen sind wir im Archiv der Gestapo-Akten in Düsseldorf auf Akten gestoßen, die seit den Vierzigerjahren niemand mehr angefasst hatte“26. Eine zweite prototypische Sucher-Figur, mit der Forschende im Archiv gerne assoziiert werden, ist der Detektiv: Nur in „mühevoller Detektivarbeit“ können etwa Papstschreiben aus dem Hochmittelalter in europäischen Archiven aufgespürt werden, sind sie doch „in meterhohen und kilometerlangen Regalen verstreut“. 27 Hier wird also metaphorisch nicht wie sonst in die Tiefe gegraben, sondern es müssen Regale abgelaufen und erklommen werden. Es handelt sich also um mehr als ein Klischee des Suchens und Findens, sondern man beschreibt es treffender als eine Form der Heldengeschichte: Eben als Entdeckerklischee. Ist es so schädlich? Entdeckerfreude und Entdeckerstolz der Forschenden sind ja per se nichts Schlechtes. Archivrecherche als spannende Tätigkeit, die Unerwartetes ans Licht bringen kann, das besondere Potential unveröffentlichten Materials – sind das nicht die Dinge, die Archive interessant machen? Und bringt es nicht selbst einem Staatsarchiv am zuverlässigsten Schlagzeilen und Aufmerksamkeit, wenn es selbst einen solchen überraschenden Fund präsentieren kann?28 Ja, aber das Entdeckerklischee fordert einen Preis, und hier ist der Moment gekommen, es als Entdeckerframing zu betrachten: Wie bei allen Framings ist nicht nur relevant, was Sonja Niesmann, Dem Vergessen entrissen, Süddeutsche Zeitung (Stadtviertel München), 20.6.2013. 25 Günter Lipp, Die „Eberner Sau“ – Vom standhaften Keiler zum rennenden Eber, Fränkischer Tag (Lokales – Haßberge), 24.3.2012. 26 Susanne Hermanski (Interview mit Oliver Hirschbiegel), Mensch mit Mut, Süddeutsche Zeitung (Kultur), 8.4.2015. 27 Patrick Schroll, Den Päpsten auf der Spur, Nürnberger Zeitung (Forschung und Wissen), 14.11.2016. 28 Horst M. Auer, In der Schublade 449 schlummerte die Überraschung. Staatsarchiv Bamberg entdeckte Schriftstück, das beweist, dass in Bamberg bereits 1489 ein Reinheitsgebot für Bier existierte, Nürnberger Zeitung (Metropolregion und Bayern), 17.1.2015. 24
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in den Bezugsrahmen genommen, sondern auch, was daraus entfernt wird. Die Archivar*innen als diejenigen, die den Fund durch Beratung und Betreuung erst ermöglichen, haben normalerweise keine Rolle in diesen Geschichten. Anders als von Dietmar Schenk angenommen, sind es nicht die Archivar*innen, die als „Entdecker, die verborgene Schätze heben“, gelten29. Stattdessen werden sie mit ihrer Arbeit sozusagen aus dem Rahmen hinausgeframed, teilweise mit schon fast absurden Ergebnissen: Wiederum ein Musikwissenschaftler hat ein Manuskript des Komponisten, dessen Werk er erforscht, in einem „amerikanischen Archiv“ gefunden. Wie nur konnte er diese Entdeckung machen? „Wer ihn darauf aufmerksam machte, wir wissen es nicht“.30 Vielleicht andere archivisch arbeitende Musikwissenschafter*innen, die sich mit den Beständen solcher Archive auskennen, oder gar das Archiv selbst? Außerhalb des Frames gerät also nicht nur die Archivar*in als Person, was viele Kolleg*innen bescheidenerweise verschmerzen könnten, sondern der fachliche Kernbereich der Archivarbeit: Die Bewertung, die Überlieferung sichert und formt, und die Erschließung, die solche Funde erst möglich macht. Gerade Erschließung findet im journalistisch vermittelten Archivbild kaum statt. Stattdessen entsteht das Bild des Archivs als eines höchstens notdürftig geordneten Lagerraumes, einer Grabungszone, wo unerschrockene Forscher mit Hartnäckigkeit und einem Quentchen Glück überraschende Entdeckungen machen können. Die Wissenschaftshistorikerin Suzanne Fischer beschreibt diese Konstellation am Beispiel eines zeitgenössischen Arztberichts zum tödlich verwundeten Abraham Lincoln, der 2012 von Historiker*innen „entdeckt“ wurde: „So where was this document found? Was it in a suitcase in the attic of Dr. Leale‘s great-great-great-great granddaughter? Well, no, it was at the National Archives. Was it in a warped metal filing cabinet down a neglected set of stairs labeled „Beware of the Leopard“? No, it was in a box of other incoming correspondence to the Surgeon General, filed alphabetically under „L“ for Leale. In short, this document that had been excavated from the depths of the earth with great physical effort was right where it was supposed to be.“31 Schenk (wie Anm. 19) S. 67. Harald Eggebrecht, Frank Peter Zimmermann, Süddeutsche Zeitung (Feuilleton), 1.1.2021. 31 Suzanne Fischer: Nota Bene: If You ‚Discover‘ Something in an Archive, It‘s Not a Discovery, The Atlantic, 19.6.2012. 29 30
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Auch in den hier ausgewerteten Artikeln ist es oftmals nicht die Archivar*in, sondern die Forscher*in, die weiß, „wo man hinschauen muss“.32 „Jahrelanger Erschließungsaufwand hat sich gelohnt: Der Forschung bisher unbekannte Unterlagen werden bei der Recherche genau dort entdeckt, wo sie zuständigkeitshalber zu erwarten waren“ – auf solche korrekten, aber bodenlos langweiligen Schlagzeilen wird man wohl weiterhin umsonst warten, es sei denn in den Mitteilungsblättern der Archivverwaltungen. Möglicherweise steckt im klischeehaften Nicht-Erwähnen des archivarischen Beitrags zum Entdeckererfolg bzw. Finderglück des Forschers aber auch der Nachhall einer langfristigen Änderung des Berufsbildes. Je mehr die Wissenschaftsnähe des früheren Historiker-Archivars verblasst33 und das Berufsbild sich eher einer verwaltungsnahen Archivmanager*in annähert, desto eher ist es vielleicht verständlich, dass es Berichterstattenden schwerer fällt, deren Rolle als konstitutive Partner und Berater der Forschung zu würdigen. To t a l v e r g e s s e n – d a s Ve r g e s s e n s k l i s c h e e Was neu entdeckt wird, kann ja vorher nicht schon bekannt gewesen sein. Da auch in den Erzählregeln des Entdeckerklischees nicht gegen jede Logik ignoriert werden kann, dass im Archiv gefundene Dokumente dorthin nicht völlig unabsichtlich gelangt sind, müssen sie in der Zwischenzeit vergessen gewesen sein: Und so werden sie dann auch beschrieben, ob 45 Jahre lang als Romanmanuskript in einem privaten Archiv34 oder als „vergessene Kantate“, deren Noten und Text „in staubigen Achiven“ „geschlummert“ hatten35 (zum Schlummer und zum Staub später mehr!). 100 Jahre lag eine oberpfälzische Märchensammlung „vergessen im Archiv“ 36, 111 Jahre ein „vergessenes Archiv“ in Form einer „total vergessenen“ Chronik in einem Schularchiv37, 87 Jahre dauerte es, bis Vereinsunterlagen aus Großkölln Andrea Leopold, Als Detektiv in Kirchen unterwegs, Mittelbayerische Zeitung (Umland Nord), 11.12.2020. 33 Vgl. Schenk (wie Anm. 19) S. 73–75. 34 Günter Kunert findet Roman wieder (dpa-Meldung), Landshuter Zeitung (Feuilleton), 29.11.2018. 35 Paul Immlers vergessene Kantate, Fränkischer Tag (Fränkischer Sonntag), 11.2.2012. 36 Katharina Kellner, Starke Frauen als roter Faden, Mittelbayerische Zeitung (Schwandorf – Feuilleton), 1.3.2018. 37 Vergessenes Archiv wird in Einberg zu neuer Chronik, Coburger Zeitung (Lokales), 22.2.2018. 32
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bach (Niederbayern) wieder „in Erinnerung kamen“ – „Altbürgermeister Josef Maierhofer hatte sie im Dorfarchiv aufbewahrt“38. Überhaupt wird gerne die Zeitspanne des vermeintlichen Vergessens im Archiv zur Verstärkung der Aussage mitgenannt, wobei sehr verschiedene Maßstäbe angelegt werden können: Im schon genannten Fall des Musikwissenschaftlers auf der Suche nach unveröffentlichten Werken sind bereits sieben (!) Jahre in einem Archiv ein erwähnenswert langer Zeitraum39, Zeichen eines eher journalistisch geprägten Maßstabs für historische Zeiträume. Kein Raum bleibt dann natürlich für den Gedanken, dass die lange, ja unbegrenzte Aufbewahrung gerade der Sinn und die Aufgabe eines Archivs ist. Ist ein Archivklischee nur eingeschliffen genug, kann damit auch sprachlich kreativ umgegangen werden, zum Beispiel im paradoxen „Archiv des Vergessens“40, oder in einer kühnen Synästhesie: Aktenmappen in Archiven „riechen“ dann bereits nach „Vergessen“ – so zum Beispiel im „Archiv“ der Bayerischen Staatsgmäldesammlungen41. Ein schönes Beispiel für den etwas naserümpfenden Blick des Feuilletons auf die bürokratisch konnotierte Welt des Archivs, der später noch in einem krasseren Fall begegnen wird. Was nicht „vergessen“ ist, ist von vornherein „unentdeckt“42 oder „unbekannt“: Natürlich muss die von einem Lokalhistoriker „gefundene“ archivische Karte mit Ansicht der Stadt Waischenfeld 291 Jahre lang „bislang unbekannt“ im Staatsarchiv Bamberg gelegen haben, sonst wäre sie ja keine Entdeckung, und der Nachricht weniger wert43. Auf dem Unterschied zwischen „unveröffentlicht“, „noch nicht für historische Fragestellungen ausgewertet“ einerseits und „vergessen“ oder „unbekannt“ andererseits zu beharren, hat man als Archivar*in oft schon aufgegeben, und es ist allzu leicht, sich an dieses klischeehafte Reden, Schreiben und Denken einfach zu gewöhnen und es kaum mehr wahr Die „Freizeitsportler“ halten die Tradition hoch, Passauer Zeitung (Lokales – Landau), 3.10.2015. 39 Harald Eggebrecht, Frank Peter Zimmermann (wie Anm. 30): „Erst 1968 stieß der Martinu-Spezialist Harry Halbreich, der an einem Martinu-Werkverzeichnis arbeitete, auf das Manuskript, das seit 1961 in einem Amerikanischen Archiv lag.“ 40 Jens Malte Fischer, Der auf seine Auferstehung pfiff, Süddeutsche Zeitung (Feuilleton), 12.11.2020: „Alles deutet darauf hin, dass es sich hier um mehr handelt als um eine bloße Kuriosität, die man dann wieder im Archiv des Vergessens ablegen kann.“ 41 Ira Mazzoni, Das Rätsel der Rotbraunen Mappe, Süddeutsche Zeitung (Feuilleton), 26.3.2013. 42 Karl-Heinz Probst, Es wird recht bunt werden im Schwarzachtaler Heimatmuseum, Mittelbayerische Zeitung (Neunburg vorm Wald), 10.10.2015. 43 Karte von 1720 gibt Aufschlüsse (wie Anm. 10). 38
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zunehmen. Liest man das Vergessensklischee aber als Vergessensframing, kann man kaum überbewerten, wie fundamental es konterkariert, was Archive als ihre Rolle und Bedeutung beanspruchen: Wenn ein Dokument fast 300 Jahre lang vergessen wurde, evoziert das Desinteresse und Nachlässigkeit in geradezu historischer Dimension. Wenn es dagegen fast 300 Jahre lang bewahrt wurde, evoziert das Weitsicht und Beharrlichkeit, eine generationenübergreifende Leistung, wie sie nur wenige Institutionen für sich beanspruchen können. Das große Schlummern So beliebt das Vergessensklischee ist, auch den allermeisten Berichterstattern ist klar, dass es zu kurz greift. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat, gemeinsam mit Jan Assmann, in ihrer einflussreichen Theorie des kulturellen Gedächtnisses die Unterscheidung zwischen Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis als zwei Modi der Erinnerung entwickelt: Während das Funktionsgedächtis für jetzt und heute bedeutsames Wissen aktuell und strukturiert verfügbar hält, ist das Speichergedächnis einem einfachen Zugriff entzogen, seine Inhalte sammeln Wissensbestände der Vergangenheit, die jedoch autonom für sich nach eigenen Regeln verwahrt werden und für eine Benutzung und Neuausdeutung erst wieder reaktiviert werden müssen. 44 Eine solche Theoriebildung kann helfen, die besondere Faszination von Archiven zu fassen. Jenseits der Simplizität des Vergessensklischees ist es ja tatsächlich so, dass im Archiv verwahrte Dokumente zwar weder unbekannt noch vergessen, jedoch im Unterschied zur veröffentlichen Literatur auch nicht völlig frei zugänglich, sondern einem ganz einfachen Alltagszugriff entzogen sind, zumal über das Internet als dem alltäglichsten Rechercheinstrument. In mancher Hinsicht müssen sie tatsächlich, als Elemente eines Speichergedächtnisses, erst wieder reaktiviert werden. Wie lässt sich aber dieser komplexe Zustand von Archivalien auf ein universal einsetzbares Sprachklischee reduzieren? Wie kann man etwas als vorhanden, aber doch der Welt entzogen beschreiben, wenn man
Aleida Assmann, Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis – Zwei Modi der Erinnerung. In: Kristin Platt – Mihran Dabag (Hrsg.), Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten, Opladen 1995, S. 169–185 – Dies., Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 3. Auflage, München 2006, S. 130–142. 44
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auf „vergraben“ oder „vergessen“ nicht zurückgreifen will? Willkommen im Reich des Schlummerns! Die semantische Verbindung von „Archiv“ und „schlummern“ dürfte eine fester miteinander verfugte Wortverbindung in der Berichterstattung bilden als alle anderen – mit einer, weiter unten noch zu behandelnden Ausnahme. Nicht selten wird „im Archiv schlummern“ schlicht synonym mit bzw. als überschriftentauglichere Variante von „im Archiv lagern/ verwahrt werden“ verwendet.45 Zwar schlummern kulturelle Gegenstände auch anderswo, etwa in Museumsmagazinen. Die Beschreibung einer „Fundstücke“-Serie des Münchner Merkur zeigt jedoch gerade in der Zusammenschau mit anderen Gedächtnisinstitutionen, wie das Schlummern als ein gerade dem Archivgut ureigener Zustand wahrgenommen wird: „Jede Gemeinde hat ihre Schmuckstücke. Besondere Gegenstände, die in Heimatmuseen ausgestellt werden, in Kirchen zu sehen sind oder manchmal auch in Archiven schlummern.“46 Schwingt im „Schlummer“ eigentlich die Schwere und Ruhe des physischen Körpers mit, so wird das Klischee trotzdem über den Medienbruch hinweg auf Digitales ausgedehnt, so etwa auf archivierte Bildbestände, die jetzt auf Festplatten47 oder in der „digitalen Wolke“ schlummern.48 Schließlich lässt sich das Sprachbild von tatsächlichen Archiven weg symbolisch übertragen auf Überwundenes, an das man in der aktuellen Diskussion lieber nicht erinnert würde, das jedoch noch nicht so alt ist, dass es nicht noch „on the record“ wäre und man wieder damit konfrontiert werde.49 Durchaus angemessen ist das Bild des Schlummerns für archivierte Filme50, Fotos, Sammlungsgut visueller Natur, von denen sich ja mit einem gewissen Recht sagen lässt, dass ihr Zweck ist, angesehen und gezeigt zu Die Schätze, die im Keller schlummern, Straubinger Tagblatt (Dingolfinger Anzeiger), 8.12.2016. – Thomas Malz, Im Archiv schlummern Schätze, Main-Post, 12.8.2017. – Kerstin Goetzke, Was so in den Archiven schlummert. Bei einer Ausstellung im Bürgerzentrum sind historische Baupläne zu besichtigen, Nordbayerischer Kurier (Lokales – Pegnitz), 28.4.2018. 46 Z.B. Patrick Staar, Geboren im Eisenbahn-Waggon, Münchner Merkur (Holzkirchner Merkur), 12.8.2017. 47 Peter Tost, Historische Aufnahmen von Parsberg in Buchform, Mittelbayerische Zeitung (Parsberg), 21.10.2015. 48 Anne Goebel, Alte Ordnung, Süddeutsche Zeitung (Gesellschaft), 21.12.2019. 49 C. Deutschländer, CSU debattiert wieder über Homo-Ehe, Münchner Merkur (Politik), 8.6.2016. 50 Münster im Fernsehen, Straubinger Tagblatt (Allgemeine Laber Zeitung), 10.2.2017. – Das „Unterhöred“ der 1950er Jahre, Fränkischer Tag (Haßberge), 31.1.2018. 45
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werden, ebenso Musikmanuskripte, die zur Aufführung bestimmt waren51, Musikaufnahmen 52, die natürlich dafür gedacht sind, angehört, ein Stück weit auch für literarische Manuskripte, die für die Veröffentlichung gedacht waren.53 Der Schlummer im Archiv ist dort tatsächlich eine Wartezeit darauf, bestimmungsgemäß wieder gezeigt zu werden, was derzeit noch nicht möglich ist54. Auch für einen Sonderbestand wie die Bundessicherungsfilme, dessen Funktion die Ersatzüberlieferung für eine hypothetische ferne Zukunft ist, und gerade nicht die Benutzung in der Gegenwart, ist das Bild des Schlummers sehr passend, ebenso für Archivalien, die jetzt durch Digitalisierung in vorher ungekannter Art direkt und breit zugänglich werden55. Sinn ergibt das Schlummer-Klischee auch dort, wo ein Ausblick auf weitere Erkenntnisse und Geschichtsquellen gegeben wird, die eben noch nicht erforscht sind, aber erforscht werden können,56 und schließlich für den Sonderfall, dass Archivbestände in anderen Archiven lagern, als sie der Logik von Provenienz und Überlieferung nach eigentlich sollten.57 Was da liegt, wo es bislang niemand vermuten konnte, von dem kann man zurecht sagen, dass es „schlummert“. Schwieriger wird es aber, wenn das Klischee auf klassisches Archivgut wie Akten der Verwaltung und Justiz angewendet wird, oder auf die gerade in der gemeindlichen und regionalen Heimatforschung so beliebten Urkunden, ob auf ganze Urkundenbestände58 oder Einzelfälle: Die 300 Jahre alte Urkunde über das erstmalige Zapfrecht für einen Gasthof, die im Staatsarchiv Amberg „schlummerte“, dürfte im Gasthaus selbst keine so gute Überlebenschance gehabt haben.59 800 Hexereiprozessakten in Timo Lechner, Schatzsucher an der Orgel, Münchner Merkur, 8.1.2018. – Schätze der heimischen Klosterarchive, Passauer Neue Presse (Lokales – Altötting), 5.7.2012. 52 Nicola Bardola, Abschiedsschmerzen, Abendzeitung (Kultur), 9.10.2010. – Fritz Werner Haver, Schatz aus dem Archiv, Nürnberger Nachrichten (Kultur), 24.11.2011. – Rudolf Görtler, Epochale Werkschau, Fränkischer Tag (Feuilleton), 30.4.2016. 53 Dagmar Besand, Sütterlin-Experten eilen zu Hilfe, Bayerische Rundschau (Stadtseite), 29.12.2014. – Ein neuer „Karl May“ für den Bürgermeister, Fränkischer Tag (Lokales – Bamberg), 29.10.2014. 54 Kultur und Natur: Jetzt geht es los, Mittelbayerische Zeitung (Landkreisseite Regensburg), 23.12.2016. 55 Der Apfel fällt jetzt online, Nürnberger Zeitung (Feuilleton), 19.1.2010. 56 Neuer Blick von alten Türmen, Main-Post, 8.6.2016. 57 Hundelshäuser Geschichte kehrt zurück, Main-Post (Lokales), 28.5.2015. 58 Alles über alte Urkunden, Main-Post (Stadt), 26.11.2014. 59 Martina Sellerer, Gastfreundlichkeit seit 300 Jahren, Mittelbayerische Zeitung (Lokales – Neumarkt), 3.7.2017. 51
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Bamberger Archiven werden sicher weithaus häufiger und intensiver für Forschungen ausgewertet, als diese Formulierung es vermuten lässt.60 Und wenn das Schlummerklischee dann auf die gesamten 25.000 lfm an Beständen eines ganzen Staatsarchivs angewendet wird, passt das Sprachbild einfach nicht mehr. Auch ist es dann natürlich unpassend, wenn ein Stück gerade ausgewertet wurde und weiter neue Erkenntnisse bringt61, und ein Beleg für einen historischen Zusammenhang, den man gerade als gültig zitiert, kann nicht gut „schlummern“62. Vollends absurd wird das Klischee im Zusammenhang mit heimlich aufgenommenen, Persönlichkeitsrechte verletzenden Filmaufnahmen: „Es sei schließlich eine beunruhigende Vorstellung, dass Bilder mit behinderten Kindern aus Erding in einem RTL-Archiv schlummern“63, ebenso bei Akten, die in einem laufenden Strafverfahren wegen NS-Massenmordes herangezogen werden sollen64, Archivalien, die rechtlichen Beweiswert zur Frage griechischer Reparationsforderungen an Deutschland besitzen65, solche zum Oktoberfestattentat66 oder bei Polizeiakten zu ungelösten Mordfällen67. Der skurrile Fall schließlich, dass ein Sammler von pornografischen Filmen die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien erfolgreich nach Informationsfreiheitsrecht auf die Zugänglichmachung des Films „Carl Ludwigs heiße Träume“ von 1983 aus deren Filmarchiv verklagte, hätte sicher passendere Metaphern geboten, als dass die Filmkopie – anders, vermutlich, als Carl Ludwig – „zu amtlichen Zwecken in den Archiven schlummerte“.68 Das Schlummerklischee, wiederum kann man es ab diesem Punkt der Analyse als Schlummerframing ansprechen, ist keine hirnlose Karikatur. Es trifft zumindest einen Aspekt der Archivierung sehr gut: Das zukunfts Horst M. Auer, Orgien voller Grausamkeit in Franken, Nürnberger Nachrichten, 10.7.2012. – Ders., Keine Gnade für Schwangere, Nürnberger Nachrichten, 21.7.2012. 61 Harald Hofinger, Zwei Anläufe für die alte Bundesstraße 85, Chamer Zeitung (Roding), 26.10.2016, wo genau das „schlummernde“ Bild dann abgedruckt ist, und damit seinen dokumentarischen Zweck ja erfüllt hat. 62 Günter Flegel, Maßlos!, Fränkischer Tag, 20.6.2015. 63 Timo Aichele, Nicolaus-Schule fordert Aufnahmen von RTL, Münchner Merkur (Dorfener Anzeiger), 6.3.2017. 64 Demjanjuk schläft im Saal, Abendzeitung (Lokales), 30.1.2010. 65 Schuld, aber keine Schulden? Deutschland verneint griechische Ansprüche auf Reparationszahlungen, Nürnberger Nachrichten (Politik), 17.3.2015. 66 Wiesn-Attentat. Die Suche nach der Wahrheit, Main-Post, 11.1.2016. 67 Sabine Stoll, Wer hat „Joana“ erstochen? Eine neue Mordkommission befasst sich mit ungeklärten Verbrechen, Nürnberger Nachrichten (Stadt Nürnberg), 21.4.2010. 68 Porno-Sammler hat Rechte, Bayerische Rundschau (Service), 28.10.2014. 60
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gerichtete Potential, das in Archivgut steckt. Was schlummert, ist nicht ohnmächtig oder gar tot, sondern wird wieder aus dem Schlummer erwachen, und was sehr lange unbeachtet lagern kann, kann doch in einer nahen oder fernen Zukunft wieder zu neuer Bedeutung erweckt werden. Doch es lässt zu wenig Raum für einen anderen Grundgedanken: Das vermeintliche „Schlummern“ im Archiv war und ist ja eben kein Dornröschenschlaf69, mit dem etwas oder jemand auf Zeit der Welt entrissen wird. Auch das Ruhe, Behaglichkeit und erholsamen Rückzug von der Welt evozierende Bild einer bürgerlichen Mittagsruhe passt nicht. Wenn überhaupt, dann ist die Verwahrung im Archiv ein rettender, konservierender Schlaf: Es ist gut, dass die Glasbildnegative mit Porträtbildern später ermorderter Psychiatriepatient*innen „lange Zeit“ im „Archiv des Bezirksklinikums schlummerten“70. Es zeigt ja gerade die rechtsstaatliche Sicherungsfunktion von Archiven, dass Akten, die in Archiven „schlummern“, dann greifbar sind und ausgewertet werden können, ob zu andauernden oder wieder eröffneten Ermittlungen wie zum Olympia-Attentat71 oder zur Verstrickung staatlicher Institute in systematisches Doping von Leistungssportlern72. Das Bild des Schlummerns ist ein schlechter Ausdruck für das, was man als Beitrag der Archive für eine rechtliche Archivbenutzung beschreiben kann. Während des Schlummerns ist man per Definition inaktiv, Archivierung ist jedoch ein etwas aktives Gestalten einer Überlieferung. Wer schlummert, um den herum verändert sich die Welt, während der Schlummernde sich ihr entzieht, aus der Zeit fällt und sich nicht mit verändert.73 Das ist aber kein gutes Framing für Archivarbeit, die ja gerade darauf hinarbeitet, dass Archivalien zwar in ihrer Originalität und Authenthizität unverändert bewahrt werden, das aber nur mit sehr aktiven Bemühungen möglich machen kann, von der Erschließung, der Pflege und Aufbereitung von Erschließungsdaten über die Bestandserhaltung in allen ihren Aspekten bis hin zur Digital Preservation von digitalen Archivalien, die die jeweils nächste Formatmigration nicht überleben würden, ließe man sie einfach schlummern.
Helmut Wanner, Theresienruhe wachgeküsst (wie Anm. 16). Grausamer Tod statt Therapie. Gedenkstätte erinnert an dunkles NS-Kapitel in der Oberpfälzer Psychiatrie, Straubinger Tagblatt (Allgemeine Laber Zeitung), 3.12.2016. 71 Attentat 72 interessiert nicht mehr, Landshuter Zeitung (Bayern aktuell), 19.9.2015. 72 Achim Muth, die Doping-Akte VF-1220/13/72 (wie Anm. 22). 73 Siehe z.B. Die „Freizeitsportler“ halten die Tradition hoch (wie Anm. 38). 69 70
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Einsortiert und weggeschlossen – d a s Ve r b o r g e n h e i t s k l i s c h e e Wenn es – um hier ein Zwischenfazit zu ziehen – einen gemeinsamen semantischen Nenner der Archivklischees gibt, dann den, dass sie begreiflich machen und versprachlichen sollen, dass Archivgut verborgen und präsent gleichzeitig ist, nicht vergangen und verfallen, aber eben auch nicht allgemein bekannt und zugänglich. Nicht selten wird dann ein Bild gezeichnet, in dem Archivgut nicht nach Art der bisher beschriebenen Klischees vergraben, vergessen oder in tiefen Schlummer verfallen, ist sondern vielmehr vor der Außenwelt mehr oder weniger absichtsvoll verborgen, dem Zugriff bewusst entzogen, hinter physischen und bürokratischen Hindernissen an einem abweisenden Ort weggeschlossen wird. Das ist der vielgestaltige Assoziationsraum des Verborgenheitsklischees. Er beginnt oft schon mit einer räumlichen Komponente der Abgelegenheit, wenn etwas in „den Tiefen“ des Archivs verortet wird74. Wenn es ausnahmsweise nicht der häufig erwähnte Keller ist75, der von außen am wenigsten zugängliche Teil eines Gebäudes, erreicht man das Archiv auf verschlungenem Weg, den man allein nicht finden würde76. Zur räumlichen Abgeschiedenheit kommt die Dunkelheit: Verlässt Archivgut das Archiv, indem es zugänglich oder öffentlich gemacht wird, wird es damit „ans Tageslicht“77 oder das „Licht der Öffentlichkeit“ 78 befördert. Dunkelheit als Wortfeld eignet sich im Kontext der Verborgenheitsklischees besonders gut dort, wo bereits der Kontext der Berichterstattung dahin geht, dass etwas verschlossen und verborgen bleiben soll. So begleiten die „dunklen Räume“ des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, in denen Ratsprotokolle der Stadt Passau verwahrt werden, semantisch ideal das vom Artikel implizierte Wegschließen einer Geschichtsüberlieferung, die anderswo, Chris Winter, Ein ganz besonderer Chefsessel, Coburger Tageblatt (Stadtseite), 9.5.2015. Die Schätze, die im Keller schlummern (wie Anm. 45). – Felicitas Amler, Dast Stadtarchiv öffnet sich, Süddeutsche Zeitung (Landkreis Wolfratshausen), 10.5.2019. – Susanne Hermanski, Akten wie Akte (wie Anm. 17). – Christine Setzwein, Der Schatz im Rathauskeller, Süddeutsche Zeitung (Landkreis Starnberg), 2.3.2018. 76 Rita Baedeker, Dem Schall voraus, Süddeutsche Zeitung (Landkreis Ebersberg – Kultur im Landkreis), 19.2.2016. 77 Aus der kunstvollen Feder des Stadtmaurermeisters – Das Hofgartenschloss an der Freisinger Kammergasse (Archivstück des Monats), Münchner Merkur (Freisinger Tagblatt) 24.12.2020. – Benjamin Engel, Eine Zeitreise durch Feldafing, Süddeutsche Zeitung (Landkreis Starnberg), 13.12.2010. 78 Fritz Werner Haver, Schatz aus dem Archiv (wie Anm. 52). 74 75
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in Passau nämlich, schmerzlich vermisst wird. Dass das Archiv des Klosters Schäftlarn nach vielen anderen Türen und Stufen nach unten hinter einer Tür „am Ende des Ganges“ liegt, passt gut dazu, dass der Archivar dort auch unangenehme Erinnerungen „einsortiert und weggeschlossen“ hat.79 Ein Bericht über die sehr verdienstvolle Crowdfundingkampagne „Gesicht für Gesicht – Aus dem Archiv in die öffentliche Erinnerung“ im Rahmen eines Datenbankprojekts zur NS-Zwangsarbeit im Landkreis Erding kann als Musterbeispiel des Verborgenheitsklischees stehen80: Die ausgewerteten Personenkarteien liegen „seit Jahrzehnten“ „im Keller des Staatsarchivs“, „in großen Stapeln, mit Hanfschnüren zusammengebunden“ . Es ist nicht so, dass die Berichterstattung faktisch unkorrekt wäre oder dem Archiv grob Unrecht täte, aber der Kontrast zwischen der verborgenen, abgelegenen, anonymen, lieblosen Lagerung hier und der aufwändigen, sorgfältigen Erinnerungsarbeit für das Licht der Öffentlichkeit dort, suggeriert einen falschen Gegensatz: Tatsächlich ist die Auswertung in Forschungs- und Erinnerungsprojekten exakt der Zweck, für den das Archiv den Karteikartenbestand übernommen hat und verwahrt. Auch im Fall eines Archivs für Mundartforschung wird mit hoher Klischeedichte der falsche Gegensatz zwischen Archiv und Öffentlichkeit aufgemacht: „Das Wichtigste aber ist: sie schlummern dort nicht in irgendeinem verstaubten Archiv, sondern sind für die Öffentlichkeit zugänglich.“81 Zum Verborgenheitsklischee gehört ebenso die Beschreibung von Archiven als unzugänglicher, nicht öffentlicher Ort, den zu benutzen eine besondere Erschwernis bedeutet82, als eines Orts, an den man unliebsame Unterlagen verbringt, eben damit sie nicht gefunden werden83, oder als eines Orts für einst wichtig genommene Dinge, von denen zurecht niemand mehr spricht84. Vom Keller zur Höhle, und von der Höhle zu den Höhlenbewohnern: Die Varianten, mit denen Archivar*innen dann selbst in den Assoziations Marie Hesslinger, „Über München war eine Hölle los“, Süddeutsche Zeitung (Landkreis München), 17.11.2020. 80 Florian Tempel, Gesicht für Gesicht, Süddeutsche Zeitung (Landkreis Erding), 16.12.2020. 81 Die große Frage: Wössd du dos? Vortrag über Dialektforschung, Main-Post, 12.12.2017. 82 Klaus Greif, Stadträte lehnen Satzungen für Wohnraum ab, Münchner Merkur (Fürstenfeldbrucker Tagblatt), 3.12.2020. 83 Strafbefehle gegen Ex-Leitung von Aufnahmebehörde abgelehnt (dpa-Meldung), Süddeutsche Zeitung, 24.11.2020. 84 Peter München, Abschied vom Best Buddy, Süddeutsche Zeitung (Außenpolitik), 8.11.2020. 79
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raum von unterirdischen und lichtscheuen Wesen gerückt werden, sind zahlreich. Sicher ein Klassiker des Genres ist die augenzwinkernde Vorstellung des Münchner Archivs der Hypo-Vereinsbank (heute UniCredit) und seiner Archivarin : „Elke Pfnür mag kein Tageslicht, sie kommt auch mit wenig Sauerstoff aus. […] Ihr Reich befindet sich im Keller des HypoTurms am Mittleren Ring“85. D e r Ve r r o t t u n g a n h e i m g e g e b e n – D a s Ve r l u s t k l i s c h e e Eine Verschärfung des Verborgenheitsklischees ist das Verlustklischee. Dabei wird suggiert, dass es für Kulturgut seinen – sofortigen oder langfristigen – Verlust bedeutet, wenn es ins Archiv kommt, es sei denn, es wird aus diesem wieder befreit oder errettet. Das Klischee kann zunächst ganz harmlos daherkommen, etwa wenn die Abgabe in ein Archiv „für immer“ gleichbedeutend ist mit dem Verlust von etwas (hier: Fotos), das man gerne noch gehabt hätte86, oder wenn in einem Archiv das abgelegt wurde, was man veröffentlichen wollte, es aber nicht geschafft hat.87 Für ein eindrücklicheres Beispiel muss man die bayerische Zeitungs-, aber nicht die Archivwelt verlassen. Christine Lemke-Matwey, Redakteurin im Kulturressort der Zeit und Richard Wagner-Expertin, berichtete 2015 über ihre Recherche nach dem Verbleib der berüchtigten Filmaufnahmen, die Adolf Hitler zu Besuch in der Villa Wahnfried in Bayreuth zeigen. Den Tipp eines Informanten, sie könnten mit dem Nachlass Wolfgang Wagner an das Bayerische Hauptstaatsarchiv übergeben worden sein, kommentierte sie im Artikel wie folgt: „Somit müssten sie (oder was von ihnen übrig ist) heute im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München liegen, der weiteren Verrottung anheimgegeben, zusammen mit dem restlichen, ebenso riesigen wie für die NS-Zeit kaum wirklich ergiebigen Wolfgang-Nachlass.“ 88 Die Reaktion der damaligen Leiterin der Nachlassabteilung des Bayerischen Hauptstaatsarchivs fiel so aus, dass sie im ausführlichen, deutlich anders getönten Nachfolgeartikel ein Jahr später einen Auftritt als „die energische Sylvia Krauss“ hatte89. Harald Freiberger, Die Kühnen und die Bürokraten, Süddeutsche Zeitung, 6.9.2015. Essinger Fotofreunde suchen das Supermodel, Mittelbayerische Zeitung (Kelheim), 30.9.2015. 87 Mahnmal für den Frieden, Main-Post (Lokal), 15.9.2015. 88 Christine Lemke-Matwey, Tee mit dem Biedermann, Die Zeit 31/2015, 13.8.2015. 89 Christine Lemke-Matwey, Die Laune ist glänzend. Hitler in Bayreuth, Die Zeit 32/2016, 28.7.2016. 85 86
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Dem Klischee des bürokratisch nur verwalteten Verfalls, das den Zorn der energischen Kollegin geweckt hat, fehlt, wie den meisten Archivklischees, nicht völlig der wahre Kern: Dass es sich bei den gesuchten Filmen um Rollfilme auf Nitrozellulose handelt, einem nicht nur besonders zerfalls-, sondern auch brandgefährdeten Material, bildet richtigerweise seinen technischen Hintergrund, die beiläufige Abschätzigkeit, mit der auf die vermeintlich kunstfeindliche und desinteressierte Welt einer bürokratischen Verwahrungsinstitution geblickt wird, jedoch seinen Kontext. Da, nebenbei, das Entdeckerklischee nicht gerne ungenutzt bleibt, muss nun auch archivische Provenienzrecherche und Zugänglichmachung als rein persönlicher Einsatz erscheinen: „Erst Sylvia Krauss brachte Monate später mit der Hartnäckigkeit der Nachlassverwalterin Licht ins Dunkel“90. Die Filme aus dem Nachlass Wagner befanden sich übrigens schon während der damaligen Recherche im Prozess einer professionellen Digitalisierung, waren schon kurz darauf in digitalen Benutzungskopien für Recherchen zugänglich und sind es selbstverständlich noch heute. Der Wortraum Archiv-Grab-Tod in Verbindung mit der Errettung vor dem Vergessen hat einen feuilletonistischen Reiz, dem sich viele Journalist*innen kaum entziehen können: „Er geht in die Archive und holt die Stimmen der Toten für uns ans Licht. Er befreit sie aus den staubigen Erinnerungsgräbern und lädt sie in den Konstellationen seiner Kapitel neu auf.“ 91 Die „Befreiung“ aus dem Archiv92 ist anderswo bereits ein wichtiger Teil des Entdeckerklischees, doch erst im Kontext des Zerfallsklischees erhält das Rettungsmotiv seine volle Wucht. Das Archiv ist in diesem Framing nämlich in ganz grundlegender Weise nicht die Rettung, das Archiv ist die Gefahr. Nicht das Archiv entreißt Kulturgut dem Vergessen, indem es Institutionen, Räume und Fachleute für seine Erhaltung bietet, sondern das Kulturgut muss dem Archiv entrissen werden. Es heißt dann eben nicht „gäbe es kein Archiv, wäre die sinfonische Fantasie „Aus Italien“ von Richard Strauss wohl für die Nachwelt verloren gegangen“, es heißt stattdessen: „Wäre nicht der unermüdliche Einsatz des süditalienischen Maes-
Ebd. Nico Bleutge, Poesie statt Leitartikel, Süddeutsche Zeitung (Literatur), 3.1.2015. 92 Klangvolle Wiederbelebung (wie Anm. 23). – Rita Baedeker, Empfindungen einer Nonne, Süddeutsche Zeitung (Landkreis Ebersberg – Kultur im Landkreis), 12.8.2014. – Michael Krüger, Süddeutsche Zeitung (Feuilleton), 19.12.2012. 90 91
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tro Riccardo Muti, dann würde die sinfonische Fantasie „Aus Italien“ von Richard Strauss wohl im Archiv schlummern.“93 S c h ä t z e u n d i h re Hü t e r – D a s S c h a t z k l i s c h e e Es ist nicht so, dass der Wert von Archiven, mögen sie auch noch so verschlummerte, bürokratisch-abweisende Orte eines langsamen Vergessens oder Zerfalls sein, völlig verkannt wird. Ganz im Gegenteil: Archivalien können sogar überragenden Wert besitzen, sie können „Schätze“ sein. Das Schatzklischee wird schon für Überschriften gerne herangezogen.94 Sehr häufig ist eine Verbindung des Schatz-Klischees mit dem Schlummer-Klischee.95 Selbst eine Dreifach-Klischeeverbindung ist nicht selten: Schlummern plus Vergessen plus das Schatzklischee, wie in: „Im Kitzinger Stadtarchiv schlummern noch viele vergessene Schätze“96. Das Schatz-Klischee ist auf den ersten Blick ein durchaus positives Archivklischee, weil es Archivalien eine große Wertigkeit zuschreibt. Es verwischt aber den eigentlichen Wert von Archivbeständen, weil es dazu neigt, die „normalen“ Bestände mit Blick auf die spektakulären Einzelstücke abzuwerten, zum Beispiel wenn ausgerechnet über den Vortrag der Leiterin des Staatsarchivs Amberg berichtet und deren Darstellung über die fachliche Bedeutung des Archivierens als eines planmäßigen Aufbaus eines historischen Gedächtnisses korrekt wiedergegeben wird, nur um daraus eine unzulässige Schlussfolgerung zu ziehen: „Dort schlummerten aber nicht nur verstaubte Akten, die niemand mehr braucht: Vielmehr gebe es dort wahre Schätze zur Ortsgeschichte und zum Alltagsleben zu entdecken.“97
Egon Bezold, Italien – Das Sehnsuchtsland, Nürnberger Zeitung (Feuilleton), 14.5.2012. 94 Klaus Stäck, Schatz aus dem Archiv vorgestellt, Main-Post, 17.12.2020. – Fritz Werner Haver, Schatz aus dem Archiv (wie Anm. 52). – Christine Setzwein, Der Schatz im Rathauskeller (wie Anm. 75). – Bernhard Lohr, Der Schatz der Zukunft (wie Anm. 21). – Jakob Wetzel, der geheime Schatz der LMU, Süddeutsche Zeitung (München), 15.2.2017. 95 Egon Bezold, Italien – Das Sehnsuchtsland (wie Anm. 93). – Thomas Malz, Im Archiv schlummern Schätze (wie Anm. 45). – Fürth mit Vorrang, Nürnberger Nachrichten (Metropolregion Nürnberg), 30.8.2017. 96 Repperndorfer Fakten mit Humor, Die Kitzinger (Lokal), 28.8.2015. 97 Werner Artmann, Beschlussbücher liegen ab 1858 vor. Die Leiterin des Amberger Staatsarchivs war für einen Vortrag in Teublitz zu Gast. Sie lobte das gesamte Städtedreieck für seine „lebendigen Archive“, Mittelbayerische Zeitung (Schwandorf ), 6.7.2015. 93
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Schätze haben unschätzbaren Wert, doch müssen sie besonders geschützt werden. Sie brauchen daher immer einen Schatzwächter oder -hüter. Das ist die Rolle der Archivar*innen in diesem Framing: „Herren“98 , „Hüter“99, „Wächter“ oder gar „Chefwächter“100 der ihnen anvertrauten Schätze und der darin steckenden Geschichte. Das Klischee des Schatzhüters ruft märchenhafte Assoziationen hervor. Im Märchen ist der Hüter allerdings selten eine Person, die Sorge trägt, dass das wertvolle Gut ungeschmälert für die Allgemeinheit erhalten bleibt, und der allen die Teilhabe daran sichert, sondern viel eher eine einsame Figur, die den bewachten Schatz, unterstützt durch Magie oder labyrinthische Entlegenheit, eifersüchtig vor allen verborgen hält. Möchte man diese geheimnisvollen Orte betreten, muss man dem Wächter dorthin folgen: „[…] er schließt Türe um Türe auf – und schließlich fließt ein Teil seiner schwarzen Mönchskutte die Stufen hinunter zum Kellergang. Eine alte Katze läuft ihm entgegen, er öffnet eine Tür am Ende des Gangs“101. In der Schatzkammer, in der sich der unbefugte Eindringling nur verirren würde, kennt sich allein der Wächter aus – so auch der Archivar in seinem „Reich“: „Kartonschachteln, soweit das Auge reicht. Fein säuberlich sind sie in Reih und Glied in den grauen Regalen geordnet. Das ist das Reich von Stadtarchivar Josef Fischer. Der Herr der Schwandorfer Geschichte weiß sofort, in welchem der unzähligen Regale die gesuchten Akten schlummern“.102 D e r St a u b d e r A r c h i v e Wenn es das semiotische Wesen des Klischees ist, dass Wörter stärkere Verbindungen mit anderen Wörtern eingehen als dies bei den damit beschriebenen Gegenständen der Fall ist, dann wird man kaum irgendwo eine so quantenphysisch starke Paarbindung finden wie bei „Archiv“ und
Philipp Seitz, Der Geschichte Leben eingehaucht, Mittelbayerische Zeitung (Schwandorf ), 9.5.2015. 99 Michael Morosow, Hüterin der Schatzkisten, Süddeutsche Zeitung (Landkreis München), 26.1.2016. – Konstantin Kaip, Hüter der Stadtgeschichte, Süddeutsche Zeitung (Landkreis Wolfratshausen), 21.4.2017. – Otto Fritscher, Recherche im Geheimen Hausarchiv, Süddeutsche Zeitung (Landkreis Starnberg), 18.8.2012. 100 Stefan Mühleisen, Das Chaos hat System, Süddeutsche Zeitung (Stadtviertel München), 7.3.2015. 101 Marie Hesslinger, „Über München war eine Hölle los“ (wie Anm. 79). 102 Philipp Seitz, Der Geschichte Leben eingehaucht (wie Anm. 98). 98
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„Staub“. Zum Abschluss des Rundgangs ist daher noch eine letzte Sprachlandschaft zu durchschreiten: Die grauen Weiten des Staubklischees. Archive sind staubig, wer wüsste das nicht? Das Klischee ist so präsent, dass es oft nur angedeutet zu werden braucht, etwa wenn ein knapper, aber sehr kundiger Bericht über archivgesetzliche Schutzfristen und ungewöhnlich lange Sperrfristen für Verfassungsschutzakten mit der Schlagzeile „Leise rieselt der Staub“ überschrieben wird.103 Selbst ein kurzer, sachlich wiederum sehr beschlagener Bericht zur Übergabe von Akten des Bayerischen Nationalmuseums an das Bayerische Hauptstaatsarchiv kommt nicht ohne zweimalige Verwendung des Staubklischees aus104. Der semantische Rahmen dieses Klischees lässt sich vom Besonderen zum Allgemeinen ziehen: Staub liegt zunächst, noch ganz konkret und materiell, auf dem Archivgut, auf „verstaubten“ oder „staubigen“ Akten“105, „staubige[n] Aktenordner[n]“106, „staubigen Aktendeckel[n]“107, 108 „staubig[en] Bündel[n]“ oder „Aktenbündeln, aus denen Staubwolken aufsteigen“109, und beileibe nicht nur wenige Staubkörnchen, die Staubschichten sind dick, zentimeterdick110. Interessanterweise trifft das sogar nicht-physische Informationseinheiten, wie die „Daten, die irgendwo in Archiven verstauben“ 111. Vom Archivgut also setzt sich der Staub auf ganze „verstaubte“/„staubige Archive“112. Die universelle Einsetzbarkeit des KliSusanne Höll, Leise rieselt der Staub, Süddeutsche Zeitung (Politik), 3.7.2017. Susanne Hermanski, Mehr Akten, mehr Einsicht, Süddeutsche Zeitung (Kultur), 25.7.2020. 105 Werner Artmann, Beschlussbücher liegen ab 1858 vor (wie Anm. 97). – Katja Sebald, Historie im Blick (wie Anm. 13). – Hans Kratzer, Zeitreise ins Mittelalter. Urkunden von Klöstern und Bistümern stehen jetzt im Internet, Süddeutsche Zeitung (Kultur), 21.9.2010. 106 Jürgen Moises, Die Magie der Kopie, Süddeutsche Zeitung (Kultur), 7.3.2020. 107 Stefan Salger, Blockwart? Nein Danke! (wie Anm. 12). 108 Hubert Wetzel, Werkstatt, Süddeutsche Zeitung, 6.2.2016. 109 Martin Bernstein, Reif fürs Archiv, Süddeutsche Zeitung (München), 14.6.2016. 110 Bewegte Vergangenheit, Süddeutsche Zeitung (SZ Extra), 3.3.2016. – Michael Krüger (wie Anm. 92). 111 Lorenz Wagner, Leben Lassen, Süddeutsche Zeitung (SZ-Magazin), 11.1.2019. – Jana Erthel, Voll im Bilde. Zoom-Forum nimmt das Amperland in den Fokus, Süddeutsche Zeitung, Landkreis Fürstenfeldbruck, 7.8.2017. 112 Die große Frage: Wössd du dos? Vortrag über Dialektforschung (wie Anm. 81). – V. Kemmer, Der neue Herr der Bücher, Abendzeitung (München), 24.3.2015. – Paul Immlers vergessene Kantate (wie Anm. 35). – Andreas Liebmann, Mekka menschenleer, Süddeutsche Zeitung (Sport in der Region), 16.7.2020. – Kia Vahland, Zerbrechliche Ewigkeit, Süddeutsche Zeitung (Meinungsseite), 23.4.2019. – Sebastian Leisgang, Auf dem 103 104
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schees spornt teilweise zu sehr freiem und phantasievollem Einsatz an, so ist etwa für einen etwas elaborierten Assoziationsritt über die Hausstaubmilbe, den Corona-Erreger hin zu den besonderen Schwierigkeiten von Sportwettkämpfen in Zeiten einer Pandemie der „berühmte[n] Gang ins staubige Archiv“ gerade gut genug113. Die Hausstaubmilbe ist überhaupt eine milde Obsession des betreffenden Journalisten114, der offensichtlich nicht weiß, dass diese nur dort gedeiht, wo menschliche Hautschuppen und Ausscheidungen genug vorhanden sind, sie also gerade nicht zu den Archivschädlingen gehört. Von den Gebäuden geht das Staubklischee auf diejenigen über, die dort arbeiten115. Staubig ist das Archiv, unerfreulich die Arbeit dort: „Es kann doch kein rechtes Vergnügen sein, in den staubigen alten Unterlagen zu wühlen. Und das auch noch im Keller.“116 Nicht nur für Archivar*innen, auch für Historiker*innen bildet der Staub den natürlichen sprachlichen Lebensraum: „Es fällt nicht schwer, sich den Geschichtsprofessor der britischen Elite-Universität Cambridge zwischen staubbedeckten Geschichtsbüchern vorzustellen, die Nase tief in archivierte Artefakte gesteckt.“ Ein Forscher, der – seltenerweise – einen tatsächlich bislang unbekannten Archivbestand entdeckt hat, scheint sich selbst schon in einer körperlichen Transformation zu befinden: „Marco Clementi, 49, trägt ein graues T-Shirt, auch sein Haar ist grau. Wie der Staub, der sich auf altem Papier ablagert. Irgendwann ist alles Staub, auch das Papier.“117 Eine „Streiflicht“Glosse der Süddeutschen Zeitung zeigt mustergültig, wie das Staubklischee augenzwinkernd perpetuiert wird, wenn sie die Tätigkeit des Historikers damit beschreibt, dass „sich dieses rückwärtsgewandte Studium an vielen Stunden des Tages in fensterlosen, staubbefüllten, mitunter mangelhaft beleuchteten wie belüfteten Archivkellern abspielt, wo der Historiker tapfer durch die Urkunden blättert.“118 Manchmal, wenn im zu RechercheRückweg, Süddeutsche Zeitung (Sport in Bayern), 04.10.2017. – Rita Baedeker, Empfindungen einer Nonne (wie Anm. 92). 113 Andreas Liebmann, Mekka menschenleer (wie Anm. 112). 114 Andreas Liebmann, Tage der Hausstaubmilbe, Süddeutsche Zeitung (Sport Lokal), 5.3.2018. 115 Hans Kratzer, Das Gedächtnis der Zukunft, Süddeutsche Zeitung (Bayern), 21.3.2019. – Konstantin Kaip, Hüter der Stadtgeschichte (wie Anm. 99). 116 Sabine Bader, Ein Vergnügen ist das nicht, Süddeutsche Zeitung (Landkreis Starnberg), 29.9.2016. 117 Christiane Schlötzer, Das Geheimnis der letzten Juden von Rhodos, Süddeutsche Zeitung (Feuilleton), 11.8.2015. 118 Streiflicht, Süddeutsche Zeitung, 3.9.2020.
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zwecken besuchten Archiv so gar kein Staub zu finden ist, findet er sich glücklicherweise noch anderswo, zum Beispiel im Büro des Archivars, „an seinem Schreibtisch mit dem etwas angestaubten Tischcomputer“ 119. Schließlich wird mit dem „Verstauben“ eine alltagsnahe Metapher gerne auf Kunst und Kulturgut angewandt, zum Nachteil der Archive: Alles mögliche „verstaubt“ in ihnen oder „setzt Staub an“, anstatt bestimmungsgemäß dort genutzt zu werden, wo es Nutzen haben, Wirkung entfalten und Freude machen könnte: Musikaufnahmen120, Kompositionen121, Filme122, Vorträge123, Kunst124, archäologische Funde125, aber auch Planungsgutachten, die nicht berücksichtigt wurden126. Staub assoziiert auch die Trockenheit im übertragenen Sinn, den Mangel an anregenden, stimulierenden Inhalten : „Stickige Luft, staubige Akten, trockene Materie – so stellen sich viele ein Archiv vor“127 – in der Tat. Wenn das Staubklischee also mit Fug und Recht als das unverbrüchlichste aller Archivklischees bezeichnet werden kann, so ist es auch bei weitem das komplexeste, hat es doch zwei wichtige Besonderheiten: Zum einen wird es als einziges der hier analysierten Klischees mindestens ebenso häufig, wie es wörtlich genommen wird, schon als solches benannt, ironisiert oder nur als verbreitetes Vorurteil angeführt, um es im konkreten Fall zu widerlegen. Auch für viele der gerade zitierten Nennungen ist das der Fall, so als wisse eben nicht jeder, dass Archive staubig sind, sondern als wisse jeder, dass man das gemeinhin sage oder denke:
Markus Grill – Ralf Wiegand, Die Spur der Schädel, Süddeutsche Zeitung, 17.12.2020. 120 Anmut des Singens, Süddeutsche Zeitung (Kultur), 6.12.2019. – Thomas Bärnthaler, Retrokolumne, Süddeutsche Zeitung (Feuilleton), 15.3.2016. 121 Peter Becker, Spielmann Gottes, Süddeutsche Zeitung (Landkreis Freising – Kultur), 12.2.2015. 122 Annett Scheffel, Abschiedsgottesdienst, Süddeutsche Zeitung (Feuilleton), 30.11.2019. – Petra Schafflik, Als wäre es gestern gewesen, Süddeutsche Zeitung (Landkreis Dachau – Kultur). – Jakob Wetzel, Yesterday, Süddeutsche Zeitung (Stadtviertel München), 13.11.2013. 123 Bianca Bär, Wissen pur, Süddeutsche Zeitung (Beilage), 3.7.2014. 124 Schätze aus dem Depot, Süddeutsche Zeitung (SZ-Extra), 14.1.2010. 125 Matthias Vogel, Hort der Vor- und Frühgeschichte, Süddeutsche Zeitung (Landkreis Erding), 4.1.2020. 126 Sabine Bader, Gemeinsam die Zukunft planen, Süddeutsche Zeitung (Landkreis Starnberg), 2.5.2012. 127 Christine Setzwein, Der Schatz im Rathauskeller (wie Anm. 75). 119
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„Stadtarchiv, das Wort löst Vorstellungen aus. Im Kopf entstehen Bilder von endlos langen Reihen staubiger Aktenordner mit vergilbtem Papier.“128 Das Klischee vom verstaubten, in einem Keller vor sich hinbrütenden Archivar hält sich zwar eisern, aber es gilt schon lange nicht mehr.“129 Galt es je? Fraglos ist es aber weithin zu einem Meta-Klischee geworden. Aus einer psychologischen Framing-Sicht heraus ist allerdings klar: Der mentale Rahmen Archiv = Staub wird durch die augenzwinkernde Verwendung nicht hinterfragt oder gelockert, sondern nur verstärkt. Man hat nicht den Eindruck, dass die ständige Widerlegung des Klischees vom Archivar als „verstaubte[m] Sonderling“130 diese Vorstellung irgendwie zurückgedrängt hätte. Zum zweiten hat es sich wie keines der anderen Klischees von seinem institutionellen Gegenstand abgelöst und eine feuilletonistische Allgemeingültigkeit gewonnen. Der „Staub der Archive“ ist eine Chiffre für alles in die Jahre gekommene, starr gewordene, das man abschüttelt, wenn man sich oder etwas erneuert – zum Beispiel in der Mode 131. Da Staub aber auch ein Stoff ist, dem ein überreicher literarischer und kulturgeschichtlicher Assoziationsschatz132 anhaftet, ist das gleiche Klischee auch als etwas wabernde Metapher für alles Bürokratische und Unkreative einsetzbar: „Sie [die akademische Philosophie] erscheint als eine Sphäre des verbeamteten Denkens, als Schwundstufe des Geistes, kurz: als sitzende Forschung, die ein Wissen verwaltet, das unter dem Staub der Archive nach und nach ergraut.“133 Das Archivframing und seine Überwindung Archivalien schlummern, sind verborgen, im Dunkeln, müssen erst durch Stöbern und Graben gefunden werden, sind dem Vergessen und dem Verfall ausgesetzt. Archive sind verstaubte, ungeordnete Lager oder Halden, in denen der fleißige Schatzgräber mit dem Glück des Tüchtigen jedoch spektakulär wertvolle Funde machen kann. Dieses fast schon satirische Zerrbild mag eine Zuspitzung aus der Aggregierung all der hier Peter Becker, Private Schätze, Süddeutsche Zeitung (Freising), 28.8.2019. Hans Kratzer, Das Gedächtnis der Zukunft (wie Anm. 115). 130 Bernhard Lohr, Ran an die Akten, Süddeutsche Zeitung (München Süd), 9.12.2013. 131 Stefanie Schütte, Kleider machen heute, Süddeutsche Zeitung (Panorama), 4.7.2013. 132 Joachim Kalka, Staub. Ein Montage-Essay, Berlin 2019. 133 Martin Bauer, Nach der Osterweiterung des Bewusstseins, Süddeutsche Zeitung (Literatur), 4.3.2011. 128 129
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aufgelisteten Klischees sein, doch wird es einer historisch interessierten Zeitungsleser*in nicht unvertraut vorkommen. Die hier, dem analytischen Ziel folgend, getrennt betrachteten Klischees treten nicht zufällig immer wieder gehäuft und gemeinsam auf, sie hängen auch inhaltlich zusammen. Sie bilden – um im Deutungsrahmen zu bleiben – gemeinsam ein einziges großes Framing: Das der Passivität. Im Archiv passiert nichts, es ist einfach nur da, bis zu dem Moment, wo sich jemand von außen der Archivalien annimmt, den Schatzhüter aufsucht, den Staub wegpustet, den Schlummer beendet. Eine häufige Reaktion unter Archivar*innen, zu der sich auch der Autor bekennen muss, ist neben dem schulterzuckenden Hinnehmen eine ironische Selbstzuschreibung. Gleichzeitig kann man dem Bewusstsein nicht entkommen, was das Klischee langfristig mit dem Ansehen des Berufsstandes macht: Wenn zum Beispiel Mitarbeiter, die anderswo nicht guttun, die man aber auch nicht einfach los wird, „ins Archiv“ versetzt werden, wenn einem der schriftliche Nachlass eines Heimatforschers mit der fast hämischen Formulierung angetragen wird, man wolle ihm eine „Archivbeerdigung“ zukommen lassen, dann ist das die dunkle Seite, aber auch die reale Folge, von Sprachklischees. In der politikwissenschaftlichen Framing-Diskussion hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass schädliche Framings auf keinen Fall verwendet werden dürfen: Nicht ironisch, nicht sarkastisch, nicht um sie zu widerlegen, nicht um sie zu dekonstruieren. Es gilt ausnahmslos: Hände weg! Stattdessen ist der wichtigste Rat, immer die eigenen, positiven Framings verwenden. Würden einem Team von Kommunikationsberatern, unter Einsatz nicht unerheblicher Haushaltsmittel, also die hier ausschnittsweise zusammengetragenen Beispiele mit der Bitte vorgelegt, eine Strategie für ein positives Archiv-Framing zu entwerfen, würde wohl zunächst eine Warnliste der negativ besetzten bis toxischen Wortfelder einschließlich positiv geframter Alternativen geliefert. Als zumindest eine Schlussfolgerung aus der Analyse kann sie hier kostenneutral geboten werden:
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Lagern, verwahrt werden, bereit gehalten werden Herausragende/einzigartige/prächtige historische Dokumente Sachwalter von Kulturgut Recherchieren/Erschließungsdaten auswerten/ sichten Rechercheerfolg Unerwarteter Rechercheerfolg Im Archiv recherchiert Zugänglich machen Archivalien verwahren/erschließen/erhalten Aufbewahrt Für die Nachwelt bewahrt, erst jetzt ausgewertet Mithilfe des Archivs präsentiert/veröffentlicht/bekannt gemacht Im Archiv gesichert Archiv Archivalien
Archiv und Schule – neue Wege in Oberfranken Von Christian Kruse Archive sind in Deutschland seit Jahrzehnten ein Lernort für Schulen1. Wenn Schulen einen abwechslungsreichen, quellennahen Geschichtsunterricht anstreben, bietet sich für sie die Zusammenarbeit mit Archiven an. Denn Archive haben einen großen Vorteil: Aus den bei ihnen verwahrten Dokumenten und den dort sichtbaren konkreten Einzelfällen spricht die Vergangenheit unmittelbar zu den Schülern. Der besondere Reiz der Archivalien, den ich der Berufskollegenschaft nicht erläutern muss, ist, dass es sich um die originale Überlieferung handelt und nicht nur um eine fotografische Wiedergabe oder eine virtuelle Abbildung im Internet, so vielfältig die Nutzungs- und Vergrößerungsmöglichkeiten dort sind. Mit dieser Pergamenturkunde wurde vor Jahrhunderten ein Rechtsgeschäft besiegelt, ein Frieden geschlossen, eine Prinzessin verheiratet. Dieses Schreiben in älteren Akten wurde mit Tinte geschrieben, gefaltet und gesiegelt von der Post versandt, vom Empfänger geöffnet, gelesen und in der Regel nicht nur ad acta gegeben, sondern ihm folgte eine Antwort, eine Entscheidung. Damalige Lebenswirklichkeit, damaliges Denken und Verhalten, das häufig von dem unseren abweicht, wird greifbar. Es ist schon faszinierend, auf einem Schriftstück die eigenhändige Unterschrift beispielsweise von Napoleon Bonaparte in Händen zu halten, an der möglicherweise noch etwas Streusand klebt: Geschichte wird in so einem Moment unmittelbar. Es ist eine Art Reise in die Vergangenheit. Diesen Blick für das Besondere der Archivalien sollten wir behalten, nur so können wir ihn Außenstehenden, Erwachsenen wie Kindern und Jugendlichen vermitteln. Aber nicht nur die äußere Form, auch der Inhalt vieler Dokumente der großen Politik und des Alltagslebens können für Jugendliche und Kinder spannend sein, insbesondere, wenn sie Gleichaltrige aus der nahen oder ferneren Vergangenheit betreffen. Aktuell (Stand: März 2022) stehen auf der Homepage der Staatlichen Archive Bayerns folgende e-learning-Module zur Verfügung: – Schulen entdecken Archive (Projekt zum Kulturerbejahr 2018) https://www.gda.bayern.de/service/schulen-entdecken-archive/einfuehrung-in-die-archivarbeit/. – Digitale Schriftkunde https://www.gda.bayern.de/DigitaleSchriftkunde/. – Kleine Archivalienkunde https://www.gda.bayern.de/service/archivalienkunde/. 1
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Jede Archivarin, jeder Archivar wird die Erfahrung gemacht haben, dass man relativ leicht bei Archivbesucherinnen und -besuchern und ganz besonders bei Kindern und Jugendlichen durch das Vorlegen von Archivalien eine Faszination erzeugen und sogar Gefühle hervorrufen kann. Natürlich bedürfen diese Dokumente in der Regel der historischen Einbettung und Erläuterung. Auch hierfür sind Archivarinnen und Archivare die richtigen Ansprechpartner, weil sie nicht nur über historische Kenntnisse, sondern auch über Spezialkenntnisse verfügen, von den Historischen Hilfswissenschaften bis zur Dokumentenkunde, von der Verwaltungs- und Behördengeschichte bis zu Kenntnissen zum Papierzerfall und den unterschiedlichen Methoden, diesem entgegenzuwirken. Die Grundvoraussetzungen für eine enge und konstante Zusammenarbeit zwischen Archiven und Schulen sind also gegeben. Die Praxis sieht jedoch häufig anders aus, insbesondere wenn man die große Zahl der Schulen und der Schülerinnen und Schüler bedenkt, die ein Archiv besuchen könnten, es aber nicht tun. Der Kontakt der Archive zu den Schulen ist kein Selbstläufer, er muss ständig gesucht und aktualisiert, am Leben erhalten werden. In welchem Umfang man dies tun kann, hängt davon ab, wie viel Zeit man für diese Aufgabe zur Verfügung stellen kann. Ich muss nicht erläutern, dass die Öffentlichkeitsarbeit nur eine zentrale Aufgabe neben vielen anderen Kernaufgaben der Archive ist, die in der Regel in unseren Archivgesetzen aufgeführt werden und hier nicht wiederholt werden müssen. Wer es jedoch versäumt, das Interesse der heutigen Jugend zu gewinnen, dürfte in der Zukunft ein noch größeres Wahrnehmungsproblem bekommen als es jetzt schon besteht. Archive stehen bekanntlich nur selten im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. In Bayern lag das Schwergewicht der Zusammenarbeit des Bayerischen Hauptstaatsarchivs und der acht regionalen Staatsarchive2 mit Jugendlichen bisher auf der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern der Mittel- und Oberstufe der Gymnasien. Klassen der Mittel- bzw. Hauptschulen, der Realschulen oder gar der Grundschulen besuchten die staatlichen Archive weitaus seltener. In diesem Bereich herrscht ein deutlicher Nachholbedarf.
Zum Stand 2013 siehe: Christian Kruse, Wo die Vergangenheit spricht: Kinder und Jugendliche in Archiven. In: Atlanti 23 (2013 n. 2) S. 153–161. – Zum Stand im Jahr 2001 siehe: Michael Stephan, Das Kooperationsprojekt „Archiv und Schule“ zwischen Kultusministerium und Archivverwaltung. In: Archive in Bayern 1 (2003) S. 303–317. 2
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Traditionelle Felder der Zusammenarbeit richten sich in Bayern seit etlichen Jahrzehnten auf zwei Zielgruppen: – auf Geschichtslehrerinnen und -lehrer der Gymnasien, teilweise bereits in der Ausbildung, dem Referendariat, beginnend, und – auf Schülerinnen und Schüler der Mittel- und vor allem Oberstufe der Gymnasien. Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern wurden und werden immer wieder Fortbildungen in den Staatsarchiven und in Institutionen der Lehrerfortbildung angeboten, in denen die Zuständigkeit, die Aufgaben und die Arbeitsweise der Archive erläutert und ein Überblick über die verschiedenen Archivalientypen gegeben werden. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei dem Gespräch über die Eignung einzelner Quellentexte für den Unterricht, insbesondere den Geschichtsunterricht, auch wenn andere Fächer wie die Fremdsprachen, Geographie und Biologie durchaus ebenso denkbar wären. Dabei hat es sich als wertvoll erwiesen, mit den Lehrkräften über mögliche Hürden zu sprechen, die einer unmittelbaren Nutzung der Archivalien im Wege stehen. Sie beginnen bei den handschriftlichen Dokumenten, da in Deutschland die bis Mitte des 20. Jahrhunderts übliche deutsche Schreibschrift ohne Schulung nur noch von wenigen gelesen werden kann. Probleme bereiten aber auch heute weitgehend unbekannte Verwaltungs- und Rechtsbegriffe, die der Erläuterung bedürfen, aber nicht vom eigentlichen Thema ablenken sollen. Häufig ist Hintergrundwissen erforderlich, um einen Text verstehen, richtig einordnen und bewerten zu können. Zudem wird von den Lehrkräften der Aufwand von Archivrecherchen meist unterschätzt: Nicht zu jedem erwünschten Thema sind Archivalien entstanden und überliefert. Selten ist der erste ermittelte Text bereits so aussagekräftig, dass er sich für die Arbeit mit Schülern eignet. Durch die Fortbildungen soll vor allem erreicht werden, dass Lehrkräfte auf die Archive aufmerksam werden, mit ihren Schülern im Rahmen des Unterrichts in die Archive kommen und diese dabei in erster Linie mit originalen Quellentexten der Archive und daneben auch mit den Archiven selbst bekannt machen. Entsprechende Veranstaltungen sind laufend erforderlich, um die nachwachsende Lehrergeneration zu erreichen und auch die zu motivieren, die bisher den Kontakt zu den Archiven wegen des damit verbundenen Aufwandes gescheut haben3. Als sich das StaatsarVergleiche Erfahrungsberichte in: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 11 (1976) S. 6. – Nachrichten Nr. 12 (1976) S. 4–5. – Nachrichten Nr. 25 (1983) S. 5. 3
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chiv Bamberg um die Jahreswende 2019/2020 um eine Intensivierung der Kontakte zu Schulen bemühte, lag der letzte Kontakt jedoch schon lange zurück. Am 20. Januar 2009 hatte eine Dozentin der Otto-Friedrich-Universität Bamberg mit elf Studierenden das Staatsarchiv im Rahmen einer Lehrveranstaltung des Faches Didaktik besucht.4 Die für beide Seiten mit dem geringsten Aufwand verbundenen Gelegenheiten für eine Einbeziehung der Archive in den Schulunterricht sind der Besuch von archivischen Ausstellungen, die thematisch zum Lehrplan passen, und der Besuch der Archive selbst. Bei Ausstellungsbesuchen ist es ratsam, dass man sich auf die Erläuterung einiger weniger Exponate beschränkt, dabei deren Besonderheit hervorhebt und versucht, einen Bezug zu den Jugendlichen herzustellen. Dies kann dadurch gelingen, dass man Schüler direkt anspricht und Fragen stellt oder provoziert, so dass möglichst ein Dialog entsteht. Wenn man sich die Aufmerksamkeit erhalten möchte, geht Intensität vor Quantität, sind wenige Schlaglichter einem umfassenden Panorama vorzuziehen. Allerdings werden die Archivalien in Ausstellungen in der Regel hinter Glas präsentiert. Ausstellungsführungen haben daher den Nachteil einer gewissen Distanz. Man sieht die Archivalien vor sich, es ist aber nicht viel anders als im Internet. Man kann die Archivalien nicht in die Hand nehmen, sie nicht riechen, kann das Geräusch des Auffaltens und Umblätterns nicht hören. Archiv- und insbesondere Magazinführungen bieten derartige Möglichkeiten. Bereits der Umfang der Archivregale und die unterschiedlichen Formen der Lagerung beeindrucken auch Jugendliche. Sinnvoll ist bei Magazinführungen – wie bei den Ausstellungsführungen – die Präsentation einiger weniger ausgewählter Archivalien, bei denen neben dem Intellekt Auge, Ohr und Geruchssinn angesprochen werden. Weil Archivalien aus Gründen der Bestandserhaltung nicht von 25 Händen angefasst werden dürfen, ist es für das haptische Erleben sehr hilfreich, modernes Pergament und Hadernpapier vorzuhalten und herumzureichen. Der Transfer zwischen dem modernen zum historischen Beschreibstoff muss genügen. Trotz dieser aus Gründen der Bestandserhaltung notwendigen Brücke
– Nachrichten Nr. 52 (2006) S. 20–21. – Nachrichten Nr. 57 (2009) S. 36–37. – Nachrichten Nr. 60 (2011) S. 48–49. – Nachrichten Nr. 63 (2012) S. 35. Die Artikel können im Internet eingesehen werden: www.gda.bayern.de unter der Rubrik Publikationen. 4 Staatsarchiv Bamberg, Verwaltungsakt 303-1 (Dozentin: Dr. Petronilla Ehrenpreis).
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werden sich Kinder und Jugendliche daran weit stärker erinnern als an Ausstellungsführungen. Der Reiz des Originals entwickelt sich längst nicht nur bei Archivalien von hoher historischer Bedeutung. Es wäre daher meiner Ansicht nach verfehlt, bei Führungen nur Spitzenstücke zu zeigen. Es könnte sonst der falsche Eindruck entstehen, im Archiv würde nur Spektakuläres verwahrt. Wenn man den Reiz des früher Alltäglichen hervorhebt, lässt sich der Bezug zu unserem heutigen Alltag meist leichter herstellen. Ein neuer Weg der Zusammenarbeit wurde von 1997 bis 2011 mit dem Projekt „Archiv und Schule“ beschritten, das vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst in Zusammenarbeit mit den Staatlichen Archiven Bayerns entwickelt wurde5. Primäres Ziel war es, neue Unterrichtsmodelle zu erproben und auch die Archive als Lernort zu berücksichtigen. Nach einem Vorprojekt im Schuljahr 1997/1998 erhielt seit dem Schuljahr 1999/2000 eine Lehrkraft aus jedem der acht bayerischen Bezirke der Ministerialbeauftragten für Gymnasien6 die Möglichkeit, in Zusammenarbeit mit Archiven Unterrichtseinheiten mit starkem Quellenbezug zu entwickeln und allen Schulen zur Verfügung zu stellen7. Im Gegenzug wurde in allen acht bayerischen Archiven jeweils eine Archivarin, ein Archivar als Ansprechpartner des Projektes „Archiv und Schule“ und der Schulen insgesamt benannt, eine Regelung, die sich bewährt hat. Die Ergebnisse wurden spätestens seit 2002 unter der Adresse www.historisches-forum.de im Internet zugänglich gemacht, so dass alle Interessierten, nicht nur Lehrkräfte, darauf zurückgreifen konnten. In Oberfranken hat Studiendirektor Eugen Ullmann vom Kaiser-Heinrich-Gymnasium Bamberg in diesen Jahren vier Projekte mit dem Staatsarchiv Bamberg und zwei Projekte mit dem Stadtarchiv Bamberg erarbeitet: – Der Übergang des Hochstifts Bamberg an das Kurfürstentum Bayern 1802/1803 Zu näheren Einzelheiten siehe vor allem Michael Stephan (wie Anm. 2) sowie aus der Konzeptionsphase Peer Friess, Schüler forschen im Archiv. In: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 40 (1996) S. 4. – Das Ministerium wurde 1998 geteilt und firmierte bis 2013 unter Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus. 6 Ihre Sprengel entsprechen – bis auf Oberbayern – den sieben bayerischen Regierungsbezirken. Oberbayern ist wegen der Größe in die MB-Bezirke Oberbayern-West und Oberbayern-Ost geteilt. 7 Vergleiche die Erfahrungsberichte zum Projekt „Archiv und Schule“ in: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 42 (2000) S. 14. – Nachrichten Nr. 46 (2002) S. 17. – Nachrichten Nr. 52 (2006) S. 20–21. – Nachrichten Nr. 53 (2007) S. 27. 5
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–
Politische Propaganda und Justiz in der Zeit der Weimarer Republik: Ausgewählte Beispiele aus dem Regierungsbezirk Oberfranken – Das Bild des politischen Gegners im Wahlplakat (mit dem Stadtarchiv Bamberg) – Völkischer Rassismus – Die „Stunde Null“ in Bamberg – Überleben und Wiederaufbau nach dem Krieg (mit dem Stadtarchiv Bamberg) – Archivarbeit8 Bezogen auf ganz Bayern kann man festhalten, dass das Projekt „Archiv und Schule“ durchaus erfolgreich war, auch wenn man dem Projekt und den Unterrichtssequenzen eine größere Resonanz gewünscht hätte.9 Im Staatsarchiv Bamberg wurde 2010 dreimal auf Projekte Ullmanns zurückgegriffen: auf das Thema „Weimarer Republik“ durch einen Grundkurs Geschichte des Maria-Ward-Gymnasiums Bamberg10 und die 9. Klasse der Realschule Forchheim11 sowie auf das Thema „Säkularisation in Bamberg“ durch ein P-Seminar des Maria-Ward-Gymnasiums Bamberg.12 Durch Einführung der neuen gymnasialen Oberstufe endeten 2011 auch die Leistungskurse der letzten beiden Jahrgangsklassen, in denen ein vertiefter Unterricht möglich war, und die sogenannten Facharbeiten der Schülerinnen und Schüler. Facharbeiten waren eigenständige Arbeiten mit einem wissenschaftlichen Anspruch, beginnend bei der richtigen Zitierweise, zu deren Anfertigung Schülerinnen und Schüler regelmäßig auch in die Archive kamen, um nach Quellentexten zu ihrem Thema zu suchen. Es entstanden dabei durchaus beachtliche Ergebnisse, die das Engagement und Interesse der jungen Erwachsenen dokumentieren. Für die Archivare waren die Schüler eine neue Benutzergruppe, die überwiegend positiv aufgenommen wurde, selbst wenn oft zu Beginn um die Lektüre der einschlägigen wissenschaftlichen oder heimatkundlichen Literatur gebeten werden
Schreiben Eugen Ullmanns an das Staatsarchiv Bamberg, Bamberg, 6.7.2009, Staatsarchiv Bamberg, Verwaltungsakt 303-1. 9 Vgl. Kruse (wie Anm. 2) S. 156–157. 10 Staatsarchiv Bamberg, Verwaltungsakt 303-1: Oberstudienrätin Claudia Becker mit 26 Schülerinnen im Frühsommer 2010. 11 Staatsarchiv Bamberg, Verwaltungsakt 303-1: Lehrer Florian Neubauer mit 26 Schülerinnen und Schülern im Juli 2010. 12 Staatsarchiv Bamberg, Verwaltungsakt 303-1: Oberstudienrätin Claudia Becker mit 15 Schülerinnen am 5. Oktober 2010. 8
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musste, um vorab einen Rahmen für das Verstehen und Einordnen der ermittelten Quellentexte zu schaffen. Mit der neuen gymnasialen Oberstufe (11. und 12. Klasse) wurden stattdessen zwei Seminartypen eingeführt, das wissenschaftspropädeutische Seminar (W-Seminar) und das Projekt-Seminar zur Studien- und Berufsorientierung (P-Seminar). Hier ist nicht der Ort, diese in rund zehn Jahren längst bewährten Seminarformen im Einzelnen zu erläutern. Ein paar Hinweise mögen genügen: Beide Seminarformen sind einem Unterrichtsfach zugeordnet, das von den Schülerinnen und Schülern frei gewählt werden kann. Das W-Seminar widmet sich einem bestimmten Thema; die Schülerinnen und Schüler müssen zu Teilaspekten dieses Themas eine schriftliche Seminararbeit vorlegen, deren Inhalt sie abschließend präsentieren. Im W-Seminar sollen die Schülerinnen und Schüler „fachübergreifende Kompetenzen erlangen, um ein wissenschaftliches Studium zu bewältigen und durch eine fragende und kritische Grundeinstellung Wissenschaft und Persönlichkeit zu befördern“. Im Rahmen der Vorbereitung können bei einem entsprechenden Thema auch Archive besucht werden. Im P-Seminar erarbeiten die Schülerinnen und Schüler in einem Jahr ein Projekt gemeinsam mit außerschulischen Partnern, zu denen Archive gehören. Das Seminar soll dazu dienen, dass die Schülerinnen und Schüler schon während der Schulzeit „Einblicke in die heutige Arbeits- und Berufswelt“ erhalten. „Die Verknüpfung der Studien- und Berufsorientierung mit dem gemeinsam geplanten und durchgeführten Projekt schafft den Rahmen, Selbst- und Sozialkompetenzen weiterzuentwickeln, den Blick für die eigenen Wünsche, Interessen und Stärken zu schärfen und diese zu hinterfragen.“ Dabei wird darauf hingewiesen, dass Studien- und Berufsorientierung ein „individueller Prozess“ ist.13 Der Erfolg des erstrebten Prozesses der Persönlichkeitsentwicklung hängt demnach von jedem selbst ab. Durch die Reform wurde die Zusammenarbeit von Archiven und Schulen im Bereich der beiden Abschlussklassen auf diese beiden neuen Seminartypen fokussiert. Die Erfahrungen der bayerischen Staatsarchive sind sehr unterschiedlich14. Für das Staatsarchiv Bamberg kann man nicht Nach www.oberstufe.bayern.de (eingesehen am 28. Februar 2020). Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 59 (2010) S. 28–29. – Nachrichten Nr. 63 (2012) S. 35–36. – Nachrichten Nr. 66 (2014) S. 61–62. – Nachrichten Nr. 69 (2015) S. 49–50. – Nachrichten Nr. 75 (2018) S. 27–28. – Nachrichten Nr. 76 (2019) S. 47. 13 14
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von einem Erfolgsmodell sprechen, denn in den vergangenen zehn Jahren bestand die Zusammenarbeit darin, dass zwei Seminare bzw. Kurse durch das Staatsarchiv geführt wurden, 2012 ein W-Seminar des Eichendorff-Gymnasiums Bamberg zum Thema „Menschen aus Bamberg und Umgebung als Opfer der Nationalsozialisten“15 und 2015 ein Grundkurs des Regiomontanus-Gymnasiums Haßfurt zum Thema „Weimarer Republik“16. Hinzu kam 2018 eine Führung der 9. Klasse der SiegmundLoewe-Realschule Kronach im Wahlfach „Politik und Zeitgeschichte“.17 Außerdem sahen anlässlich des 125-jährigen Schuljubiläums des FranzLudwig-Gymnasiums in Bamberg Schülerinnen und Schüler im Staatsarchiv Bamberg im Rahmen des P-Seminars „FLG Hum App“ Unterlagen zur Geschichte ihrer Schule ein. Das von Studiendirektor Dietmar Absch geleitete Seminar wurde am 12. März 2015 mit dem „P-Seminar-Preis 2015“ ausgezeichnet18. So wichtig diese Kontakte auch waren: Drei Führungen und eine Quellenbenützung in zehn Jahren sind kein Ergebnis, mit dem wir zufrieden sein dürfen. Jenseits der Zusammenarbeit der Archive mit den Schulen im Rahmen des Projektes „Archiv und Schule“ und der W- und P-Seminare waren Ausstellungen der staatlichen Archive ein Anknüpfungspunkt. Dabei ist insgesamt zu beobachten, dass in Bayern das Interesse der Schulen an Führungen durch Archivausstellungen deutlich abgenommen hat. Weil die Entwicklung bereits vor der Jahrtausendwende einsetzte, kann die Einführung des achtklassigen Gymnasiums in Bayern nicht der Grund dafür sein, sondern nur ein zusätzlicher Faktor, der zu einem weiteren Sinken der Zahl der Ausstellungsführungen für Schulklassen geführt hat, was im Übrigen auch ein Sinken der Ausstellungsbesucherzahl insgesamt bewirkte. Hintergrund könnte sein, dass Gymnasien neben den oben geschilderten institutionalisierten Kontakten (Projekt „Archiv und Schule“, W- und PSeminar) keinen weiteren oder nur einen zeitlich sehr begrenzten Freiraum Staatsarchiv Bamberg, Elektronischer Vorgang 3003-1/3: Studienrätin Alexandra Franze mit elf Schülerinnen am 5. November 2012. 16 Staatsarchiv Bamberg, Elektronischer Vorgang 3003-1/4: Studienrätin Sandra Strätz mit 28 Schülerinnen und Schülern am 10. März 2015. 17 Staatsarchiv Bamberg, Elektronischer Vorgang 3003-1/6: Studienrat RS Thomas Hauptmann mit neun Schülerinnen und Schülern am 2. Juli 2018. 18 Staatsarchiv Bamberg, Elektronischer Vorgang 3003-1/10: Ich danke Herrn Studiendirektor Dietmar Absch, Franz-Ludwig-Gymnasium in Bamberg, herzlich für die Zusendung der Unterlagen zur Verleihung des „P-Seminar-Preises 2015“, der in der Registratur des Staatsarchivs Bamberg keinen Niederschlag gefunden hatte. 15
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für Besuche außer Haus haben, da ja die Zeit für die Hin- und Rückfahrt während der Unterrichtsstunden als Zeitverlust gelten muss. Dies könnte auch der Hintergrund dafür sein, dass wir die Erfahrung machen mussten, dass einzelne Ministerialbeauftragte für Gymnasien die Weiterleitung von Werbematerial für Archivausstellungen an die nachgeordneten Schulen mit der Begründung abgelehnt haben, das Ausstellungsthema sei nicht lehrplanrelevant. Dabei können bei entsprechender Vorbereitung Teilaspekte von Ausstellungen oder auch einzelne Exponate so präsentiert werden, dass sie für Schülerinnen und Schüler ein Gewinn sind, auch wenn das Gesamtthema nicht in den engen Rahmen der Lehrpläne passt. Zu nennen ist hier die erfolgreiche und kreative Zusammenarbeit des Bayerischen Hauptstaatsarchivs mit dem Museumspädagogischen Zentrum (MPZ) in München19. Die Ausstellung „Kriegsansichten. Der Offizier und Sammler Otto von Waldenfels 1914–1918“20, mit der das Staatsarchiv den Ersten Weltkrieg thematisierte, war vom 27. Juni bis zum 26. September 2014 geöffnet. Die Ausstellung wurde entgegen der ursprünglichen Erwartungen nur von einer Schulklasse besucht, einer 8. Realschulklasse aus dem unterfränkischen Ebern.21 Ein Grund ist vermutlich, dass die Hälfte der Ausstellungszeit während der bayerischen Sommerferien lag und in den ersten zehn Tagen des neuen Schuljahrs 2014/2015 ein Ausstellungsbesuch durch eine Schulklasse nicht zu erwarten gewesen wäre. Die Ausstellung „Staatliches Bauen in Oberfranken – eine Skizze“22 wurde für die Einweihung des Erweiterungsbaus des Staatsarchivs Bamberg konzipiert und hatte daher von vornherein Schulen nicht als primäres Zielpublikum. Festzuhalten bleibt, dass in den letzten zehn Jahren eine einzige Schulklasse eine Ausstellung des Staatsarchivs Bamberg besucht hat. Auch das kann nicht unser Maßstab für die Zukunft sein.
Kruse (wie Anm. 2) S. 159–160. Hannah Hien – Claudia Kropf (Bearb.) Kriegsansichten. Der Offizier und Sammler Otto von Waldenfels 1914–1918. Eine Ausstellung des Staatsarchivs Bamberg. 27. Juni bis 26. September 2014 (Staatliche Archive Bayerns – Kleine Ausstellungen 41), München 2014. 21 Staatsarchiv Bamberg, Elektronischer Vorgang 0024-2/5: Jahresbericht 2014 des Staatsarchivs Bamberg: Besuch am 24. Juli 2014. 22 Christian Kruse (Bearb.), Staatliches Bauen in Oberfranken – eine Skizze. Eine Ausstellung des Staatsarchivs Bamberg anlässlich der Einweihung des Erweiterungsbaus, 29. März bis 7. Juni 2019 (Staatliche Archive Bayerns – Kleine Ausstellungen 59), München 2019. 19 20
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Ausstellung „Kriegsansichten“ des Staatsarchivs Bamberg, gezeigt vom 27. Juni bis 26. September 2014 (Cover: Hannah Hien, Claudia Kropf ).
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Wenn in den letzten zehn Jahren Schulen nur in so geringem Maß das Staatsarchiv Bamberg besucht haben, dann hat möglicherweise den Schulen der Kontakt zum Staatsarchiv Bamberg weniger gefehlt als zumindest im Rückblick dem Staatsarchiv. Hier ist nicht der Ort, um über mögliche Gründe zu spekulieren und das Schlagwort G8 in die Diskussion zu werfen, insbesondere, nachdem man inzwischen zum G9 zurückgekehrt ist und wieder etwas mehr Zeit zur Verfügung steht. Sicherlich wäre eine Analyse hilfreich. Sie bindet aber Kräfte und könnte letztlich das Ergebnis haben, dass auch der menschliche Faktor eine Rolle gespielt hat. Die jeweilige Archivleitung kann und darf ja unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Was ist stattdessen zu tun? Sinnvoll ist aus meiner Sicht eine Änderung der Richtung: Wenn Schulen in den letzten zehn Jahren kaum ins Staatsarchiv Bamberg gekommen sind, kann das Staatsarchiv künftig in die Schulen kommen. Das ist zugegebenermaßen eine einfache Idee, aber auch einfache Ideen können zum Ziel führen und positiv wirken. Dadurch vermindert sich der Aufwand für Schulen erheblich, weil die Hin- und Rückreise wegfällt, der Besuch des Archivs in der Schule demnach auch in einer 45-Minuten-Stunde möglich ist. Für das Staatsarchiv Bamberg erhöht sich dadurch der Aufwand, weil die Hin- und Rückreise hinzukommt. Weil im Zuge der Aussonderung und Bewertung der Unterlagen der Behörden, Gerichte und sonstigen öffentlichen Stellen jedoch ohnehin regelmäßig Dienstreisen in oberfränkische Städte unternommen werden und diese Städte neben den genannten Institutionen auch über Gymnasien, Realschulen und Mittelschulen verfügen, können beide Zwecke in einer Reise vereinigt werden. Beispielsweise kann das Staatsarchiv am Vormittag an einer Schulstunde beteiligt werden und sich dort präsentieren und danach die Registraturen besuchen. Ein zusätzlicher Reiseaufwand fiele nicht an. Nur die Aufenthaltsdauer vor Ort würde länger. Natürlich müsste sich die auf diese Weise neu gewonnene Zusammenarbeit zwischen dem Staatsarchiv und Schulen in dem Umfang bewegen, der für das Staatsarchiv leistbar ist. Wenn aber jeder der drei Archivare der 4. Qualifikationsebene pro Jahr nur zwei dieser Termine wahrnähme, wären es sechs Termine pro Jahr und damit eine deutliche Steigerung gegenüber dem in den letzten zehn Jahren Üblichen mit nur zwei Terminen oberfränkischer Schulen im Staatsarchiv neben zwei Terminen unterfränkischer Schulen. Mit dieser Prämisse habe ich um die Jahreswende 2019/2020 den Kontakt zu den Schulen auf zwei Ebenen gesucht: auf örtlicher Ebene mit dem Franz-Ludwig-Gymnasium in Bamberg, das vom Staatsarchiv Bamberg
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Antisemitische Propaganda des Deutschen Schutz- und Trutzbundes, Weihnachten 1919 plakatiert in Staffelstein und im Wochenbericht des dortigen Bezirksamtmannes an die Regierung von Oberfranken überliefert (Staatsanwaltschaft Bamberg, Regierung von Oberfranken [K 3], Präsidialregistratur 1843).
fußläufig entfernt liegt, sowie überörtlich mit dem Ministerialbeauftragten für die Gymnasien in Oberfranken, Ltd. Oberstudiendirektor Dr. Harald Vorleuter. Am 13. Februar 2020 fand ein erstes Treffen im Franz-Ludwig-Gymnasium mit dem Schulleiter Oberstudiendirektor Rainer Herzing und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern statt, bei dem die Ideen auf ein positives Echo stießen23. Ich stellte aus archivischer Sicht mögliche Felder der Zusammenarbeit vor: – Den Besuch des Archivs im Gymnasium in einzelnen Stundenmodulen, die noch zu erarbeiten sind, ausgehend von bei uns verStaatsarchiv Bamberg, Elektronischer Vorgang 3003-1/9. An der Besprechung nahmen teil: Oberstudiendirektor Rainer Herzing als Schulleiter, Studiendirektorin Saskia Hofmeister als stellvertretende Schulleiterin und für den Fachbereich Latein, Oberstudienrätin Julia Behr für den Fachbereich Geschichte, Studiendirektorin Absch für den Fachbereich Deutsch und Studiendirektor Michael Eichiner für den Fachbereich Geographie. Im Februar 2021 wurde Herr Herzing pensioniert. Nachfolgerin wurde Frau Hofmeister, zu der ebenfalls bereits ein guter Kontakt besteht. 23
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wahrten Quellentexten – am besten ohne Paläographiekenntnisse lesbare Schreibmaschinentexte wie beispielsweise die Berichte der Bezirksamtsleiter an den Regierungspräsidenten aus der Zeit vor 100 Jahren, die in der konzentrierten Zusammenfassung sehr viele Details enthalten, die eine Vorstellung von den damaligen Lebensbedingungen ermöglichen. Schülerinnen und Schüler können in der Regel über konkrete Fragen wie etwa den Problemen der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung und Heizmaterial, die nur über Marken zu beziehen waren, die Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft, frühe antisemitische Propaganda des in Bamberg gegründeten Deutschen Schutz- und Trutzbundes in den Jahren 1919/1920 leichter gewonnen werden als über eher abstrakte Verwaltungsvorgänge. – Die Präsentation und Erläuterung der Wanderausstellung „Schuld und Sühne? Zur Verfolgung der NS-Verbrechen durch oberbayerische Justizbehörden anhand der Überlieferung des Staatsarchivs München“ samt der Erweiterung durch das Staatsarchiv Bamberg für Oberfranken. – Die Kulturtechnik der Quellenkritik, die unabhängig vom Unterrichtsfach Geschichte auch für den Lebensalltag anwendbar ist. Besonders die Wanderausstellung stieß auf Interesse. Herr Herzing äußerte die Absicht, die Ausstellung im Schuljahr 2020/2021 im Franz-Ludwig-Gymnasium Oberstufenschülern zu zeigen, wenn auch – wie von mir angeregt – wegen des Inhalts (vor allem der Fotos aus dem Konzentrationslager Dachau) in einem eigenen Raum und nicht auf dem Gang. In der Diskussion kamen weitere mögliche Themenfelder hinzu: – Führungen der Studienreferendare, für die Herr Eichiner zuständig ist, durch das Staatsarchiv Bamberg mit einer Erläuterung der Aufgaben und Tätigkeiten eines Staatsarchivs und der Präsentation und Erläuterung einiger weniger Archivalien. Ich sagte die gut einstündige Führung noch im laufenden Schuljahr zu. Sie fand am 8. Juli 2020 unter den pandemiebedingt geltenden Hygienebedingungen statt. – Das Vorstellen einzelner Quellentexte im Original im Staatsarchiv in jeweils 15 Minuten (45 Minuten minus Hin- und Rückweg vom/ zum Gymnasium), auch im Fach Latein, als Beispiel für mittelalterliches Latein (ein gut lesbarer Text, ein Text mit Abkürzungen).
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Beteiligung am Themenprojekt „Jüdische Schüler am FLG“, für das Herr Studiendirektor Michael Eichiner, Fachbereich Geographie, zuständig ist. – Eine Sicherung des „Soldatengedenkbuches für den Zweiten Weltkrieg“, das bereits digitalisiert ist, als Zeitdokument im Digitalen Archiv der Staatlichen Archive Bayerns. In dieser Besprechung kam damit ein breiteres Spektrum der Zusammenarbeit zur Sprache, als beide Seiten vorher angenommen hatten. Auch wenn die Corona-Pandemie bis zum März 2021 weitere Besprechungen nicht zuließ, lässt sich auf den Ergebnissen des Gesprächs aufbauen. Ziel muss es sein, die jeweilige Kompetenz in die Zusammenarbeit einzubringen und mit überschaubarem Aufwand sowohl einen sinnvollen Nutzen für die Schülerinnen und Schüler zu erzielen als auch bei diesen die Institution Staatsarchiv mit konkretem Vorstellungen zu füllen. Der Ministerialbeauftragte für die Gymnasien in Oberfranken Dr. Harald Vorleuter gab mir die Gelegenheit, die Grundidee der Zusammenarbeit des Staatsarchivs Bamberg mit Gymnasien am 9. März 2020 in Banz den Fachreferentinnen und -referenten der Gymnasien in Oberfranken bei deren Jahrestagung vorzutragen. Am Tag darauf, dem 10. März 2020, hätte ich in Banz vor den Direktorinnen und Direktoren der Gymnasien in Oberfranken kurz für eine intensivierte Zusammenarbeit geworben, außerdem die Archivierung schulischer Unterlagen im Staatsarchiv Bamberg angesprochen. Wegen der Corona-Pandemie wurde dieser Termin jedoch abgesagt, da die Schulleitungen angesichts der bedrohlichen Lage vor Ort sein mussten und wollten.24 Dadurch entstand eine völlig neue Situation, auf die – wie in allen anderen Bereichen auch – sachgerecht zu reagieren war. Um die Zeit des Corona-Lockdowns zu nutzen, erarbeitete ich zur Wanderausstellung „Schuld und Sühne?“ des Staatsarchivs München einen Oberfrankenteil. Er besteht aus sieben Rollups: – Drei Rollups zum NSG-Prozess gegen den Kommandanten des Außenlagers des Konzentrationslagers Flossenbürg in Helmbrechts (Lkr. Hof ), Alois Dörr (1911–1990), über das Lager in Helm brechts, den Todesmarsch der inhaftierten Frauen im Frühjahr 1945 und Dörr selbst.
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Wanderausstellung „Schuld und Sühne?“ Teil Oberfranken, Tafel 11 zum NSG-Prozess gegen Alois Dörr, Kommandant des Außenlagers Helmbrechts des Konzentrationslagers Flossenbürg (Gestaltung: Karin Hagendorn).
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Vier Rollups zur Ausweitung des Themas auf den damaligen Lebensalltag mit vier Prozessen vor dem Sondergericht Bamberg, in denen hohe Strafen für Delikte verhängt wurden, die heute überwiegend nicht strafwürdig wären: ein „Kanzelmissbrauch“ aus Gößweinstein (eine beanstandete Predigt über den Heiligen Heinrich), ein Wirtshausgerede in Michelau, das Hören eines Auslandsradiosenders in Bamberg und eine Rauferei aus nichtigem Anlass zwischen einem Bauern und einem polnischen Zwangsarbeiter in Langensendelbach, die mit Todesurteil und Hinrichtung des Zwangsarbeiters geahndet wurde. Begründet wurde das Urteil damit, dass der Zwangsarbeiter mit dem Bauern ein Organ des Deutschen Reiches angegriffen habe. Als die Wanderausstellung im Juli 2020 fertig vorlag, wurden die Gymnasien in Oberfranken dankenswerterweise über den Ministerialbeauftragten durch Rundbrief auf die Möglichkeit der Übernahme aufmerksam gemacht. In Zeiten der Corona-Pandemie stand für die Schulen verständlicherweise die Organisation des Unterrichtes im Vordergrund und nicht die Übernahme einer Wanderausstellung. Immerhin gab es zwei Rückmeldungen: Sowohl Julia Behr vom Franz-Ludwig-Gymnasium in Bamberg als auch Katrin Theiss vom Otto-Hahn-Gymnasium in Marktredwitz meldeten Interesse an der Übernahme der Ausstellung an.25 Es war zum Abgabetermin dieses Beitrags noch nicht abzusehen, ob die Wanderausstellung bereits im Frühsommer 2021 in Marktredwitz gezeigt werden kann oder – wie in Bamberg – erst im Schuljahr 2021/2022. Da die Wanderausstellung an kein Jubiläum gebunden ist und das Thema Nationalsozialismus und Umgang mit den NS-Tätern nach 1945 weiterhin in den Lehrplänen der Gymnasien enthalten sein wird, kann die Ausstellung noch in einigen Jahren und bei entsprechender Werbung in weiteren Schulen gezeigt werden, wenn sich nach den Impfungen das schulische und sonstige Leben wieder etwas normalisiert haben. Die Ausstellung kann zugleich Anknüpfungspunkt für schulische Module sein, die noch zu erarbeiten sind. Für eine intensivere Zusammenarbeit zwischen dem Staatsarchiv und Schulen sind damit zumindest die ersten Grundlagen gelegt.
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Staatsarchiv Bamberg, Elektronischer Vorgang 3104-6/1.
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Wanderausstellung „Schuld und Sühne?“ Teil Oberfranken, Tafel 15 zu Urteilen des Sondergerichts Bamberg: Verurteilung des polnischen Zwangsarbeiters Wincenty Bogdan zum Tod (Gestaltung: Karin Hagendorn).
ISO 15489-1:2016 – Schlüsselkonzepte Von Volker Laube Von 2003 bis 2005 hat mich Frau Dr. Ksoll-Marcon als Gast an der Bayerischen Archivschule im Fach „Schriftgutverwaltung“ unterrichtet. Bis heute profitiere ich von dem fachlichen Fundament, das sie damals für meine Tätigkeit gelegt hat und das an Relevanz und Bedeutung für die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen in der Schriftgutverwaltung nichts eingebüßt hat. Was sich seitdem allerdings geändert hat, ist der Einfluss der Archive auf die Entwicklung in den Behörden, Unternehmen und anderen Organisationen. Er ist zurückgegangen, auch wenn die Behördenberatung nach wie vor eine wichtige Aufgabe der Archive ist. Zu den klassischen Aufgaben des Registrierens, der Aufbewahrung, Ordnung, Bereitstellung und Aussonderung sind neue hinzugetreten. Mehr Gewicht hat insbesondere die aktive „Dokumentensteuerung“ bekommen. Das Konzept stammt ursprünglich aus dem Qualitätsmanagement1, hat sich aber von dort längst losgelöst und bildet die Basis für jede Art von Managementverfahren. Angesichts ständig steigender Anforderungen an die Sicherstellung der Compliance, aber auch des generellen Drucks, effizienter und effektiver zu arbeiten, ist der Bedarf an einer Steuerung von Dokumenten stark gestiegen. Als Beispiele seien nur das Informationssicherheits- und das Datenschutzmanagement, die Einführung interner Kontrollsysteme sowie generell alle qualitäts- und risikomanagementbasierten Ansätze genannt. Hinzu kommt der allgemeine Druck zur Digitalisierung. Um die digitalen Möglichkeiten ausnutzen zu können, müssen analoge Abläufe grundlegend angepasst und Prozesse organisationsweit integriert und gesteuert werden. Vieles, was bisher Dokument war, wird jetzt zu Daten und über komplexe Datenbanken verwaltet – SAP ist sicher das prominenteste Beispiel einer solchen Anwendung. Diese Entwicklung ist längst auch in der kirchlichen, kommunalen und staatlichen Verwaltung angekommen. Der Trend, dass analoge oder digitale dokumentenbasierte Systeme durch daUnter der Vielzahl an Literatur sei nur exemplarisch genannt: Walter Geiger – Willi Kotte, Handbuch Qualität. Grundlagen und Elemente des Qualitätsmanagements: Systeme – Perspektiven, 5. Auflage, Wiesbaden 2008, S. 493–503. 1
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tenverwaltende abgelöst werden, wird sich außerdem verstärken und das Aufgabenfeld des Schriftgutverwalters weiter wandeln. Sowohl die Einführung neuer Managementverfahren als auch die Digitalisierung sind personell und technisch aufwändig. Sie erfordern den Aufbau entsprechender Kapazitäten. Weil der Wandel tiefgreifend ist und allein mit internen Kräften nicht geschultert werden kann, ist zudem für technische Dienstleister und Unternehmensberatungen ein großes Geschäftsfeld entstanden. Mit Sorge muss man betrachten, dass dieser Aufbau an Kapazitäten an den klassischen Stellen für Schriftgutverwaltung meist vorbeigeht. Sofern ein Schriftgutverwalter in diese Entwicklungen überhaupt einbezogen ist, sieht er sich längst mit einer Vielzahl an Beteiligten konfrontiert. Neben den Fachstellen und dem zuständigen Archiv arbeitet er nun mit dem Informationssicherheitsmanagement, Datenschützern, den Rechtsabteilungen und ihren Compliancebeauftragten, Qualitätsund Risikomanagern, Organisationsentwicklern, Informationstechnikern und Informationsmanagern, der Innenrevision sowie Unternehmensberatungen zusammen. Hier schlägt die Stunde der Normen. Normen schaffen ein gemeinsames Verständnis über ein Aufgabenfeld und legen Qualitätsstandards fest. Die Arbeit auf der Basis allgemein anerkannter Normen klärt die Aufgaben des Schriftgutverwalters und weist ihm eine klar definierte Rolle zu. Voraussetzung ist allerdings eine regelmäßige Weiterentwicklung und Fortschreibung der Normen. Die international maßgebliche Organisation für die Normierung der Schriftgutverwaltung ist die „International Organization for Standardization“, kurz ISO. Die Entwicklung ihrer Normen zum Records Management bildet die Entwicklung in der Schriftgutverwaltung in den vergangenen 20 Jahren gut ab und dokumentiert den Anspruch der ISO, diese Entwicklung zu gestalten. Am Beginn der Normung des Records Management steht die erste Fassung der ISO 15489-1 von 2001. Die ISO 15489-1 war der Versuch, das grundlegende Verständnis des Records Managements international zu normieren. Sie wurde 2002 durch die ISO 15489-2 mit einem Schwerpunkt auf der Implementierung ergänzt. Schon früh zeigte sich jedoch weiterer Normierungsbedarf. 2006 erschien mit der ISO 22310 eine „Metanorm“ mit Vorgaben an die Erarbeitung weiterer Normen.2 Noch im selben Jahr folgte eine erste Norm zu Metadaten, die in den folgenden Jahren um zwei ISO 22310:2006 – Information and documentation – Guidelines for standards drafters for stating records management requirements in standards. 2
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weitere Teile ergänzt wurde.3 2008 wurde die Analyse von Geschäftsprozessen zur Ermittlung der erforderlichen Records normiert.4 Ein Jahr später legte die ISO/TR 15801 die Anforderungen an elektronische Systeme zur Sicherstellung der Authentizität und Integrität von Records fest.5 2010 und 2011 folgten die Anforderungen an Records in digitalen Verfahren in drei Teilen,6 2018 die ISO/TR 21946 zur risikoorientierten Bewertung von Aufzeichnungen.7 Andere wie etwa zur Aussonderung wurden zwischenzeitlich zurückgestellt. Damit sind allerdings nur die Normen des für das Records Management im engeren Sinne zuständigen ISO-Gremiums „ISO/TC 46/SC 11 Archives/records management“ genannt. Auch in anderen Gremien des ISO fand und findet Normungsarbeit statt, die für das Records Management relevant ist. Zu nennen sind hier vor allem die eher technischen Normen des „ISO/TC 171 Document management applications“ und des „ISO/IEC JTC 1/SC 27 IT Security techniques“. Die Normungsaktivitäten beider Gremien sind noch umfangreicher als die des ISO/TC 46/SC 11. Die große und in vergleichsweise kurzer Zeit wachsende Anzahl an Normen allein innerhalb der ISO trug nicht nur zur Klärung bei, sondern verursachte auch Probleme ganz eigener Art. Es gibt heute kaum noch Spezialisten, die mit allen Normen gleichermaßen vertraut sind.8 Das gilt auch für die Mitglieder in den Arbeitskreisen selbst. Redundanzen und ISO 23081-1:2006 – Information and documentation – Records management processes – Metadata for records, Part 1: Principles; ISO 23081-2:2009 – Information and documentation – Managing metadate for records, Part 2: Conceptual and implementation issues; ISO/TR 23081-3:2011 – Information and documentation – Managing metadata for records, Part 3: Self-assessment method. 4 ISO/TR 26122 – Information and documentation – Work process analysis for records. 5 ISO/TR 15801-2009: Document management – Information stored electronically – Recommendations for trustworthiness and reliability. 6 ISO 16175-1:2010 – Information and documentation – Principles and functional requirements for records in electronic office environments, Part 1: Overview and statement of principles; ISO 16175-2:2011 – Information and documentation – Principles and functional requirements for records in electronic office environments, Part 2: Guidelines and functional requirements for digital records management systems; ISO 16175-3:2010 – Information and documentation – Principles and functional requirements for records in electronic office environments, Part 3: Guidelines and functional requirements for records in business systems. 7 ISO/TR 21946:2018 – Information and documentation – Appraisal für managing records. 8 In Deutschland berichtete allein Dr. Ulrich Kampffmeyer, der sich selbst lange in der Normierungsarbeit engagiert hat, regelmäßig in seinen Veranstaltungen über die Normen3
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Unstimmigkeiten zwischen den Normen sind teils die Folge. Ein anderes Problem ist die Tendenz zur „Nabelschau“. Die Arbeitskreise waren genug damit beschäftigt, die nationalen Traditionen in ihren Arbeitsfeldern international zu standardisieren. Eine arbeitsfeldübergreifende Abstimmung mit benachbarten Gebieten wie z.B. dem Qualitätsmanagement oder dem Informationssicherheitsmanagement kam dagegen zu kurz. Die ISO hat diese Probleme frühzeitig gesehen. Auf eine erste Phase der internationalen Standardisierung folgte eine zweite mit einem Schwerpunkt auf der Integration verschiedener Managementfelder. Hebel hierfür war eine Vereinheitlichung der Managementverfahren. Die ISO förderte die Entwicklung solcher Verfahren und legte in speziellen Direktiven deren einheitlichen Aufbau fest.9 Beispiele für solche normierte Managementverfahren sind die Normen zum Informationssicherheitsmanagement ISO 27000 ff. und zum Umweltmanagement ISO 14000 ff., die auch in Deutschland stark rezipiert werden. Auf das Records Management hatte diese Entwicklung eine doppelte Auswirkung. Mit den Normen ISO 30300 ff. wurden ab 2011 auch die Managementverfahren des Records Managements normiert.10 Weil die Direktiven die Dokumentensteuerung in den Managementverfahren als ein Standardelement fest verankert haben, steigt die ISO 15489-1 außerdem faktisch in den Rang einer Metanorm auf. Nicht zuletzt diese Entwicklungen machten eine Überarbeitung der ersten Fassung der ISO 15489-1 von 2001 erforderlich. Seit 2016 liegt die zweite Fassung der ISO 15489-1 vor. Die Normen der ISO im Records Management bewegen sich damit auf der Höhe der Zeit. Aber profitiert auch die Schriftgutverwaltung in Deutschland davon? Das muss man wohl verneinen. Die Kenntnis der Normen in Deutschland ist sehr gering. In der Praxis spielen sie kaum eine Rolle, was eine der Ursachen für den sinkenden Einfluss der Schriftgutverwaltung auf die Entwicklung in den Behörden, Unternehmen und anderen Organisationen ist. Die fehlende Rezeption hat sicher viele Gründe. Einige davon haben mit den Normen selbst zu tun. Normen sind eine anentwicklung. Dieser Beitrag verdankt den Veranstaltungen von Herrn Dr. Kampffmeyer viel. 9 ISO/IEC Directives, Part 1 – Consolidated ISO Supplement – Procedures specific to ISO. 10 ISO 30300:2011 – Information and documentation – Management systems for records – Fundamentals and vocabulary; ISO 30301:2011 – Information and documentation – Management systems for records – Requirements; ISO 30302:2015 – Information and documentation – Management systems for records – Guidelines for implementation.
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spruchsvolle Textgattung. Sie werden von vielen Personen und Personengruppen aus unterschiedlichen Traditionen über einen langen Zeitraum erarbeitet. Viele Formulierungen vor allem in der Endphase der Redaktion sind Kompromisse und führen nicht selten zu Uneindeutigkeiten. Hinzu kommen redaktionelle Uneinheitlichkeiten. Ein weiterer Grund liegt in den Auseinandersetzungen vor allem der ersten Phase der Normungsarbeit. Damals setzte sich weitgehend die angelsächsisch geprägte Tradition und Auffassung durch. Im deutschsprachigen Raum erschwerte dies erheblich die Akzeptanz.11 In der aktuellen Normungsarbeit spielen die historisch geprägten Schriftgutverwaltungstraditionen allerdings keine Rolle mehr. Heute geht es um die Klärung und Schärfung der Funktion, die das Records Management für komplexe und zunehmend digital arbeitende Organisationen hat. Dadurch gewinnen betriebswirtschaftliche Konzepte stark an Bedeutung. Das sind aber offenkundig neue Hürden. Das fehlende Interesse an den Normen mag auch der Grund dafür sein, dass es in den vergangenen Jahren kaum Veröffentlichungen zu den Normungsaktivitäten im Bereich der Schriftgutverwaltung gab.12 An dieser Lücke setzt dieser Beitrag an. Er beschäftigt sich mit der nach wie vor zentralen Norm ISO 15489-1. Ziel des Beitrags ist es, speziell für die Zielgruppe der Archivare und Registratoren die Schlüsselkonzepte der Norm herauszuarbeiten und damit eine Basis zu schaffen, die eine eigenständige Erarbeitung weiterer Normen zum Records Management ermöglicht. Ich beschreibe im Folgenden zuerst den Aufbau der ISO 15489-1 (Abschnitt 1). Im nächsten Abschnitt benenne ich die aus meiner Sicht zentralen Begriffe der Norm, die ihr Grundgerüst bilden und für das Verständnis der Norm zentral sind (Abschnitt 2). Die Auswahl dieser Begriffe ist letztlich eine subjektive Entscheidung. Subjektiv bedeutet aber selbstverständlich nicht beliebig. Ich werde deshalb für diese Entscheidungen argumentieren. In den Abschnitten 3, 4 und 5 gehe ich detaillierter auf die zentralen Konzepte ein. Abschnitt 3 behandelt mit Business und Business Die deutsche Übersetzung griff wieder auf die traditionelle Fachsprache zurück und war wohl ein Versuch, dies wieder zu korrigieren. DIN ISO 15489-1:2002: Information und Dokumentation – Schriftgutverwaltung, Teil 1: Allgemeines (ISO 15489-1:2001). 12 Ausnahmen sind: Alexandra Lutz (Hrsg.), Schriftgutverwaltung nach DIN ISO 154891. Ein Leitfaden zur qualitätssicheren Aktenführung, Berlin u.a. 2012; Matthias Weber (Hrsg.), Records Management nach ISO 15489. Einführung und Anleitung, Berlin u.a. 2018; Andreas Köller (Hrsg.), Geschäftsrelevante Informationen. Eine Handlungsanleitung zur risikoorientierten Bewertung von Aufzeichnungen nach ISO/TR 21946 Appraisal für managing records, Berlin u.a. 2021.. 11
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Activities Begriffe aus dem Kontext des Records Managements, Abschnitt 4 die für das Verständnis der Norm grundlegenden Begriffe des Records Managements. Abschnitt 5 beschäftigt sich mit den Qualitätsanforderungen der ISO 15489-1 an die Elemente des Records Managements. Methodisch bediene ich mich dabei sogenannter Begriffsnetze.13 Ein Begriffsnetz ist ein Instrument der Textanalyse. Es besteht aus zwei Darstellungselementen: umrandete Formen und Pfeile, die die Formen miteinander verbinden. In die umrandeten Formen werden Begriffe eingetragen. Ich verwende hier die originalen englischen Begriffe aus der Norm. Da Übersetzungen immer Interpretation sind, habe ich Übersetzungsvorschläge nur dort, wo sie mir sinnvoll erschienen, und nur im Text angegeben. In wenigen Fällen schien es mir zudem für ein besseres Verständnis notwendig, zusätzliche Begriffe einzuführen. Zur Unterscheidung sind diese Begriffe in Deutsch angegeben. Die Linien symbolisieren die Beziehungen zwischen den Begriffen und werden mit Verben oder mit Präpositionen beschriftet, wobei die Pfeilspitzen die Leserichtung der Verbindung anzeigen. Da auch dies Interpretationen sind, sind die Begriffe ebenfalls in Deutsch. Für die Erarbeitung dieses Beitrags habe ich zunächst die Begriffsnetze erstellt und diese anschließend in Textform erläutert. Ich empfehle dem Leser ein ähnliches Vorgehen. 1 G l i e d e r u n g u n d Au f b a u Die ISO 15489-1 ist in neun Abschnitte untergliedert (s. Tab. 1). Die Abschnitte 1 bis 3 („Scope“, „Normative references“ und „Terms and definitions“) sind jeder ISO-Norm vorgegeben. Die eigentliche Gliederung beginnt deshalb erst in Abschnitt 4 mit der Festlegung der Prinzipien des Managements von Records. Abschnitt 5 enthält ausführliche Definitionen der Begriffe Records und Records Systems. Abschnitt 6 beschäftigt sich mit Policies (= Richtlinien) und Responsibilities (= Verantwortlichkeiten). Abschnitt 7 ist mit dem englischen Begriff Appraisal (= Bewertung) überschrieben, wobei „Bewertung“ hier nicht im archivfachlichen Sinn als Entscheidung über die Archivwürdigkeit archivreifer Unterlagen, sondern Zur Einführung in die Technik der Begriffsnetz-Erstellung (dort Concept Maps genannt) siehe Georg Brun – Gertrude Hirsch Hadorn, Textanalyse in den Wissenschaften. Inhalte und Argumente analysieren und verstehen, 2. Auflage, Zürich 2014, S. 93–98. – Matthias Nückles u.a., Mind Maps und Concept Maps. Visualisieren, Organisieren, Kommunizieren, München 2004. 13
ISO 15489-1:2016 – Schlüsselkonzepte
Ta b e l l e 1 : Au f b a u d e r I S O 1 5 4 8 9 1 - 1 Thema
Principles
Concepts
Steuerung
Kontextanalyse
Approaches Steuerungs instrumente
Prozesse
Gliederung 1 Scope 2 Normative references 3 Terms and definitions 4 Principles for managing records 5 Records and records systems 5.1 General 5.2 Records 5.2.1 General 5.2.2 Characteristics for authoritative records 5.2.3 Metadata for records 5.3 Records systems 5.3.1 General 5.3.2 Characteristics of records systems 6 Policies and responsibilities 6.1 General 6.2 Policies 6.3 Responsibilities 6.4 Monitoring and evaluation 6.5 Training 7 Appraisal 7.1 General 7.2 Scope of appraisal 7.3 Understanding the business 7.4 Determining records requirements 7.5 Implementing records requirements 8 Records controls 8.1 General 8.2 Metadata schemas for records 8.3 Business classification schemes 8.4 Access and permission rules 8.5 Disposition authorities 9 Processes for creating, capturing and managing records 9.1 General 9.2 Creating records 9.3 Capturing records 9.4 Records classification and indexing 9.5 Access control 9.6 Storing records 9.7 Use and reuse 9.8 Migration and Conversion 9.9 Disposition Bibliography
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als ein Instrument der Kontext-, genauer der Organisationskontextanalyse verstanden wird. Es folgen in Abschnitt 8 Erläuterungen zu zentralen Steuerungsinstrumenten für Records – sogenannten Records Controls. Der Abschnitt 9 schließt die Norm mit der Beschreibung zentraler Prozesse des Records Managements ab. Ziel, Gegenstand und Aufbau der ISO 15489-1 werden in der „Introduction“ und im Abschnitt 1 „Scope“ in der gewünschten Klarheit beschrieben (vgl. Abb. 1). Gleich in den ersten beiden Sätzen der „Introduction“ heißt es programmatisch, dass die Norm die zentralen Begriffe und Prinzipien für die Erstellung (Creation), Erfassung (Capture) und Verwaltung (Management) von Records bereitstellt und den Rahmen für eine größere Zahl von Normen bildet, die sich im engeren und weiteren Sinn mit dem Records Management beschäftigen.14 Noch klarer ist die Formulierung im ersten Satz des Abschnitts 1 „Scope“: „This part of ISO 15489-115 defines the concepts and principles from which approaches to the creation, capture and management of records are developed.“16 ISO 15489-1:2006, S. V. Die Formulierung „This part“ bezieht sich auf den ersten Teil der ISO – 15489-1. Der zweite Teil – 15489-2 – wird aktuell überarbeitet. 16 ISO 15489-1:2006, S. 1. 14 15
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Gegenstand der ISO 15489-1 ist also das Records Management, wobei Records Management ein Oberbegriff für Creation, Capture und Management von Records ist.17 Die Norm definiert grundlegende Prinzipien und Begriffe des Records Managements und entwickelt von dort aus Approaches. Der englische Begriff Approach scheint mir am besten mit „Herangehensweise“ bzw. „Vorgehensweise“ übersetzt. Prinzipien, Begriffe sowie Vorgehensweisen bilden demnach die zentrale Struktur der Norm. Die Principles werden in Abschnitt 4 der Norm beschrieben. Die Definition der Concepts erfolgt im Abschnitt 5, die Approaches in den Abschnitten 6, 7, 8 und 9. Die ISO 15489-1 definiert insgesamt fünf Prinzipien für das Management von Records.18 Sie bilden die Basis der Norm und auch die Basis für die Rekonstruktion des Begriffsnetzes: Das erste und vierte Prinzip verweisen auf den Kontext von Records. Records sind integraler Bestandteil des geschäftlichen Handelns („conduct of business“) (= 1. Prinzip). Alle Entscheidungen, die die Erstellung, Erfassung und das Management von Records betreffen, müssen auf einer Analyse der Business Activities in deren jeweiligem rechtlichen, regulativen und gesellschaftlichen Kontext basieren (= 4. Prinzip). Das zweite und dritte Prinzip verweisen auf die zentralen Merkmale von Records. Records bestehen immer aus dem eigentlichen Inhalt sowie aus Metadaten, die diesen Inhalt, den Kontext und die Struktur sowie das Management der Records über die Zeit hinweg beschreiben (= 3. Prinzip). Unabhängig von ihrer Struktur und Form können Records jedoch nur dann ein autoritativer („authoritative“) Nachweis von Geschäftsaktivitäten sein, wenn sie über die Eigenschaften der Authentizität (Authenticity), Zuverlässigkeit (Reliability), Integrität (Integrity) und Nutzbarkeit (Useability) verfügen (= 2. Prinzip). Das 5. Prinzip schließlich führt die wesentlichen Elemente des Managements von Records ein. Für das Management von Records ist ein Verfahren erforderlich, das die Anwendung von Records Controls (= Steuerungsinstrumente) sowie die Prozesse der Erstellung, Erfassung und des Managements von Records ermöglicht. Das Verfahren selbst basiert auf definierten Richtlinien („Policies“), Verantwortlichkeiten bzw. Zuständigkeiten („Responsibilities“), einer regelmäßigen Evaluation sowie der Aus- und Fortbildung („Training“) aller Akteure. Die Qualität des Verfahrens bestimmt sich danach, inwieweit es die Anforderungen an Records (siehe 4. Prinzip) erfüllt. 17 18
ISO 15489-1:2016, S. V. ISO 15489-1:2016, S. 3.
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Diese fünf Principles werden ergänzt durch die Definition der Begriffe (= Concepts) Records19 und Records System20 in Abschnitt 5. Die Approaches werden in den Abschnitten 6 bis 9 beschrieben. Sie sind nach Themen zusammengefasst. Abschnitt 6 betrifft vor allem die Steuerung im Records Management und beschreibt notwendige Richtlinien, klärt die Rolle der Verantwortlichen, Fachleute und Ausführen den, fordert eine laufende Überwachung des Records Managements und enthält Vorgaben zur Ausund Fortbildung der Beteiligten.21 Abschnitt 7 „Bewertung“ handelt von der Analyse des Organisationskontextes und der Organisation22. Zentraler Abschnitt ist die Herleitung von Records requirements sowie deren Implementierung. Abschnitt 8 beschreibt mit den Metadatenschemata, Klassifikationssystemen, Zugangs- und Aussonderungsregelungen Instrumente zur Steuerung des Lebenszyklus von Records.23 Abschnitt 9 führt in zentrale Prozesse des Records Managements ein. Diese sind die Erstellung von Records, deren Erfassung, Klassifikation und Indexierung, Speicherung und Nutzung sowie Migration, Konversion und Aussonderung (= Disposition). Auch die Kontrolle des Zugangs zu den Records ist Teil dieses Abschnitts.24 2 Di e z e n t r a l e n B e g r i f f e d e r I S O 1 5 4 8 9 - 1 Gegenstand der ISO 15489-1 ist in einem Satz die Umsetzung der Records Requirements durch die Erstellung, Erfassung und Verwaltung von Records und deren Metadata in einem Records System. Die Records Requirements ergeben sich aus dem Business und den Business Activities. Das Records Management soll die Business Activities bestmöglich unterstützen bzw. sie ermöglichen, denn in komplexen Organisationen werden Abläufe wenigstens teilweise – in informationsverarbeitenden Organisationen größtenteils – über Records dokumentiert und gesteuert. Die zentralen, tragenden Begriffe der Norm sind: Records, Metadata, Records Systems, Records Management Records Requirements, Business und Business Activities. Records, Metadata und Records Systems werden in der ISO in einem eigenen Abschnitt definiert und gesondert eingeführt. Records ISO 15489-1:2016, S. 4–6. ISO 15489-1:2016, S. 6–7. 21 ISO 15489-1:2016, S. 8–10. 22 ISO 15489-1:2016, S. 10–12. 23 ISO 15489-1:2016, S. 13–16. 24 ISO 15489-1:2016, S. 16–19. 19 20
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Management, Records Requirements, Business und Business Activities gehören zu den am meisten verwendeten Begriffen der Norm und finden sich über den gesamten Text in so gut wie allen Abschnitten verteilt (vgl. Abb. 2). Abgesehen von Business und Business Activities verwendet die Norm die Begriffe in einem doppelten Sinn, nur in einem Fall weist sie dies allerdings auch begrifflich eindeutig aus. Zunächst verwendet die ISO 154891 alle fünf Begriffe qualitätsneutral und ausschließlich zum Zweck der Definition des Gegenstandsbereiches. In diesem Sinne sind Records jede Art von Aufzeichnungen, die im Geschäftsgang erstellt werden. Ein Records System ist jedes Verfahren, in dem solche Aufzeichnungen entstehen und verwaltet werden. Records Management bezeichnet alle Schritte von der Erstellung bis zur Vernichtung bzw. Aussonderung dieser Aufzeichnungen. Records Requirements sind alle Anforderungen an die Nachvollziehbarkeit der Geschäftsprozesse und -abläufe. Es spielt dabei keine Rolle, ob die Aufzeichnungen sinnvoll oder fälschungssicher sind, ob das Verfahren lückenhaft ist, die Prozesse im Records Management vollständig sind und ob die Records Requirements tatsächlich den Bedarf der Organisation treffen. Hier geht es der Norm ausschließlich um die Klärung, was unter diesen Begriffen zu verstehen ist. Die ISO 15489-1 belässt es dabei nicht, sondern stellt auch qualitative Anforderungen. Aus Sicht der Norm gibt es bessere und schlechtere Re-
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cords, ein besseres und ein schlechteres Records System, ein besseres oder schlechteres Records Management sowie besser oder schlechter bekannte Records Requirements. Records, die den von der ISO 15489-1 gesetzten Qualitätsansprüchen gerecht werden, bezeichnet die Norm ausdrücklich als authoritative Records. Für ein qualitatives Records System und Records Ma nagement sowie für systematisch ermittelte Records Requirements führt die ISO 15489-1 jedoch keine eigenen Begriffe ein. Keine Qualitätsanforderungen gibt es außerdem an das Business und die Business Activities. Der Grund dafür ist ein schlichter: Sie sind nicht Gegenstand der Norm, werden aber für die anderen Begriffe benötigt. Mit ihrer Definition beginne ich deshalb auch im nächsten Abschnitt. 3 Ko n t e x t d e s Re c o rd s Ma n a g e m e n t s 3.1 Business Ein zentraler, die gesamte ISO 15489-1 beherrschender Begriff ist Business. Fast an allen Stellen der Norm finden sich direkte Nennungen oder indirekte Hinweise auf ihn – insgesamt 137 Nennungen allein oder in Kombination mit anderen Begriffen wie Business Activities, Business Needs etc. Dies erklärt sich aus seiner Funktion. Nach ISO 15489-1 gibt es ohne Business kein Records Management. Umgekehrt gilt, dass jedes Business auf ein effektives Records Management angewiesen ist, d.h. ohne dieses nicht funktionieren kann. Die Standardisierung des Records Managements hat deshalb vor allem ein Ziel: Es soll ein möglichst großer Mehrwert – bzw. in der Sprache der Norm ein Benefit25 – für das Business erzeugt werden. Damit im Widerspruch steht scheinbar, dass der Begriff an keiner Stelle genauer definiert wird und es somit letztlich vage bleibt, was genau unter einem Business zu verstehen ist. Die Norm verzichtet auf eine eindeutige Definition, weil der Begriff Business nicht Gegenstand des Records Managements ist, sondern dessen Kontext bildet. Ein gemeinsames Verständnis von ihm ist deshalb nicht erforderlich; es genügt vielmehr ein vages Grundverständnis, ohne dass dadurch das Anliegen der Normierung eingeschränkt wird.
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Die ISO 15489-1 regelt jedoch explizit, dass unter Business alle Arten von Organisationen subsumiert werden können26 und damit nicht nur solche, die einen wirtschaftlichen Zweck haben, sondern auch alle Non Profit-Organisationen.27 Die Autoren glauben also nicht, dass sich profit orientierte Organisationen und Non-Profit-Organisationen hinsichtlich der grundlegenden Anforderungen an ein Records Management unterscheiden, so dass deren Schriftgutverwaltungen durch eigene Normen geregelt werden müssten. Das Vokabular ist entsprechend neutral und liegt schon damit quer zu den in Deutschland gewachsenen Begriffstraditionen, wo sich eine für Behörden oder behördennahe Organisationen eigene Begriffswelt in der Schriftgutverwaltung entwickelt hat, die kein Pendant in der Wirtschaft hat. Als Beispiel seien die behördentypischen Begriffe Aktenplan, Geschäftszeichen, Aktenbestandsverzeichnis oder Mitzeichnungsliste genannt. Die Nichtunterscheidung von Profit- und Non-Profit-Organisationen hat aber noch eine andere Konsequenz. So unscharf der Begriff Business in der ISO 15489-1 bleibt, so deutlich ist doch, dass er vor allem betriebswirtschaftlich gedacht wird und damit auch das Records Management betriebswirtschaftlichen Kategorien unterworfen ist. Dies gilt dann gleichermaßen für Non-Profit-Organisationen. Die Sprache ist entsprechend betriebswirtschaftlich. So hat jedes Business Business Purposes28. Diese Purposes sind der Grund für dessen Existenz. Die Existenz des Business hängt davon ab, inwieweit es gelingt, die Purposes zu erfüllen. Aus den Purposes ergeben sich wiederum die Business Needs29. Werden die Business Needs nicht erfüllt, ist die Business Continuity gefährdet. Ein permanentes Risikomanagement ist deshalb erforderlich. Business Purposes und Business Needs bilden den Kontext des Business. Der Begriff Kontext wird damit in der Norm in einem doppelten Sinn verwendet. Zum einen bezieht er sich auf Business als unmittelbaren Kontext des Records Managements, zum anderen auf den Kontext des Business. Wir werden jedoch sehen, dass auch der Business Context zum Kontext des Records Managements zählt und unter Risikoaspekten von diesem sowohl verstanden als auch fachlich adäquat einbezogen werden muss. Auch das „This part of ISO 15489 applies to the creation, capture and management of records regardless of structure or form, in all types of business …“ ISO 15489-1:2016, S. 1. 27 Einen guten Überblick über die verschiedenen Organisationsformen von Non-ProfitOrganisationen gibt: Hans Lichtsteiner u.a., Das Freiburger Management-Modell für Non-Profit-Organisationen, 7. Auflage, Bern 2013, S. 20. 28 ISO 15489-1:2016, S. V. 29 ISO 15489-1:2016, S. 8, 11, 12. 26
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risikoorientierte Verständnis zur Sicherstellung der Business Continuity hat unmittelbar Auswirkungen auf das Records Management. Weil das Records Management notwendig für das Business ist, ist ein eigenes Risikomanagement dafür notwendig. Jedes Business besteht außerdem aus Assets und aus Activities.30 Während die Business Activities in der ISO 15489-1 eine besondere Rolle spielen, bleibt der gleichfalls aus der Betriebswirtschaft stammende Begriff Asset unterbestimmt. In der Norm findet sich nur die Aussage, dass auch Informationen zu den Assets eines Business zählen. Informationen im Sinne der ISO 15489-1 dienen also nicht nur der Nachvollziehbarkeit eines Geschäftsvorfalls, sondern stellen Wirtschaftsgüter von eigenem Wert für die Organisation dar. Das ist nicht weiter überraschend. Schließlich hängt die Qualität von Entscheidungen wesentlich von der Qualität von Informationen ab. Die Norm übernimmt damit eine Position, die vor allem im eher betriebswirtschaftlich orientierten Informationsmanagement verbreitet ist.31 In diesem betriebswirtschaftlichen Verständnis ist es nur konsequent, wenn die ISO 15489-1 stark auf den Mehrwert hinweist, den ein gutes Records Management für das Business erzeugen kann. Die „Introduction“ dient daher auch im Wesentlichen dazu, den Nutzenaspekt und -zusammenhang zu betonen. Die Norm führt gleich eine ganze Liste von „Benefits“ des Records Managements für das Business auf.32 Zur Veranschaulichung wiederhole ich hier diese Liste33: • verbesserte Transparenz und Zurechnung von Verantwortlichkeiten; • effektive Erarbeitung von Richtlinien; • informierte Entscheidungsfindung; ISO 15489-1:2016, S. V. Robert F. Smallwood, Information Governance. Concepts, Strategies, and Best Practices, Hoboken 2014, S. 3. 32 Dass dieses Denken nicht neu ist, zeigt ein Blick in die ältere englisch-sprachige Literatur zum Records Management. Es sei hier stellvertretend auf die schon im Titel programmatische Arbeit von Karen Sampson verwiesen sowie auf frühe, noch vor Entstehung der ersten Fassung der ISO 15489-1 im Jahr 2002 liegende Versuche, die Qualitätsmanagementnorm ISO 9001 als eine Ersatznorm für die noch fehlenden Spezialnormen zum Records Management zu etablieren. – Vgl. Karen L. Sampson, Value-added Records Management, 2. Auflage, London 2002. – Eugenia K. Brumm, Managing Records for ISO 9000 Compliance, Milwaukee 1995. 33 ISO 15489-1:2016, S. VI. 30 31
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• Management der Geschäftsrisiken; • Kontinuität im Krisen- bzw. Katastrophenfall; • Schutz der Rechte und Verpflichtungen von Organisationen und Individuen; • Schutz und Unterstützung bei gerichtlichen Auseinandersetzungen; • Compliance mit Gesetzgebung und Regulierungen; • verbesserte Fähigkeit zum Sichtbarmachen der Organisationsverantwortung, einschließlich der Erfüllung der Nachhaltigkeitsziele; • Kostenreduktion durch größere Geschäftseffektivität; • Schutz geistigen Eigentums; • evidenzbasierte Forschung und Entwicklungsaktivitäten; • Formierung der geschäftlichen, personellen und kulturellen Identität; • Schutz der Organisations-, persönlichen und kollektiven Erinnerung. 3.2 Business Activities Die Business Activities spielen in der ISO 15489-1 eine Schlüsselrolle und finden sich ebenfalls über die ganze Norm verteilt. Obwohl der Begriff zum Kontext des Records Managements zählt, finden sich in der Norm mehrere eindeutige Erläuterungen zum Begriffsumfang. Diese werden allerdings in keinem gesonderten Kapitel behandelt, sondern finden sich im Abschnitt 3 „Terms and definitions“. Der Begriff ist für die Norm deshalb so zentral, weil er das direkte Bindeglied zwischen dem Business auf der einen und dem Records Management auf der anderen Seite darstellt. Die Anforderungen an die Business Activities unterscheiden sich allerdings zwischen den verschiedenen Businessarten erheblich. Da die ISO 15489-1 für alle Arten von Organisationen gelten will, darf sie hier kein Standardmodell der Organisation oder gar bestimmte Reifegrade voraussetzen. Die Norm löst dies dadurch, dass sie den Begriff der Business Activities sehr weit fasst. Zunächst definiert sie den Begriff als Unterstützung der Business Purposes34 (vgl. Abb. 3). Im Folgenden unterscheidet sie dann vier Arten
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von Business Activities: Functions (3.11)35, Activities (3.2)36, Work Processes (3.19)37 und Transactions (3.18)38. Zwischen diesen vier Arten von Business Activities besteht eine „hierarchische“ Beziehung, die teilweise direkt benannt ist, sich aber auch aus den Begriffen erschließt. Functions bilden demnach den Oberbegriff. Sie setzen sich ihrerseits aus einer Gruppe von Activities zusammen, die wiederum aus einzelnen Work Processes bestehen. Transactions sind Teil der Work Processes. Unter Function versteht die ISO 15489-1 Major Responsibilities zur Umsetzung der Strategic Goals des Business. Es liegt nahe, die Function mit dem Aufgabenbereich einer Business Entity gleichzusetzen, auch wenn die Norm dies nicht ausdrücklich tut. Die Function entspräche also in etwa einem Geschäftsbereich mit klar definierten Zuständigkeiten, oder etwas simpler formuliert: einem Kästchen ISO 15489-1:2016, S. 2. ISO 15489-1:2016, S. 1. 37 ISO 15489-1:2016, S. 3. 38 ISO 15489-1:2016, S. 3. 35 36
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in der Aufbauorganisation. Activities werden definiert als Major Tasks, die von einer Business Entity (= Organisationseinheit) ausgeführt werden. Es handelt sich also um Aufgabenbündel bzw. -bereiche, die klassisch innerhalb einer Organisationseinheit über die Geschäftsverteilung geregelt sind. Ein Work Process regelt die Schrittigkeit, in der eine Aufgabe erledigt wird. Er hat immer einen klar definierten Auslöser und ein eindeutiges Ergebnis („outcome“). Die Transaction schließlich bezieht sich auf den Austausch („exchange“) von Informationen bzw. Produkten zwischen zwei oder mehreren Prozessbeteiligten. Dies können im Sinne der Norm sowohl Personen („Participants“) als auch technische Verfahren („Systems“) sein. In einer näher an der Verwaltung orientierten Sprache bilden sich die Business Activities also in den Aufgaben- und Organisationsgliederungsplänen (= Aufbauorganisation) sowie in den Prozessen und Prozessschnittstellen (= Ablauforganisation) ab.39 4 D e r G e g e n s t a n d s b e re i c h d e s Re c o rd s Ma n a g e m e n t s 4.1 Records Für das Verständnis des Begriffs „Record“ in der ISO 15489-1 ist die informationswissenschaftliche Unterscheidung von Zeichen, Daten, Informationen und Wissen nützlich.40 Zeichen sind Buchstaben oder Symbole. Daten setzen sich aus einzelnen Zeichen nach festen syntaktischen Regeln zusammen. Interpretiert man Daten, entstehen Informationen. Wissen wiederum bedeutet die komplexe Verknüpfung und Auswertung von Informationen. Während Zeichen und Daten materiell an Träger gebunden sind, sind Informationen und Wissen immateriell; sie entstehen im Kopf. Der Begriff Record umfasst in der ISO 15489-1 sowohl die Daten- als auch die Informationsebene. Bei einem Record handelt es sich zunächst um ein materielles Objekt, genauer eine Datei. Zwar wird dies explizit so in der Norm nicht benannt. Allerdings werden wir später sehen, dass sich viele Qualitätsanforderungen ausschließlich auf die Datei beziehen, etwa Gerhard Fritsch – Ludwig Wiedemann, Innere Behördenorganisation und Verwaltungstechnik, München 2009. – Jörg Becker – Lars Algermissen – Thorsten Falk, Pro zess orientierte Verwaltungsmodernisierung. Prozessmanagement im Zeitalter von E-Government und New Public Management, 2. Auflage, Dordrecht u.a. 2009. 40 Ursula Hasler Roumois, Studienbuch Wissensmanagement. Grundlagen der Wissensarbeit in Wirtschafts-, Non-Profit und Public Organisationen, 2. Auflage, Zürich 2010, S. 40–42. 39
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die Forderungen an die Sicherstellung der Authentizität und Integrität. Records im Sinne von Daten bestehen aus Content und Metadata (4b).41 Content bezeichnet die Informationen, die der Record in Daten speichert. Metadaten sind Informationen über den Content, die bei dessen Erstellung bzw. Erfassung und in dessen weiterer Bearbeitung entstehen. Von anderen Daten unterscheiden sich Records weder durch ihre Form noch ihre Struktur, sondern ausschließlich inhaltlich durch die Art der gespeicherten Informationen (5.1 und 5.2.1).42 Es spielt also keine Rolle, ob die Daten in digitaler oder analoger Form vorliegen oder ob es sich um ein Dokument oder Datenbankeinträge handelt. Nach ISO 15489‑1 handelt es sich bei Daten genau dann um einen Record, wenn dieser Informationen enthält, die im Rahmen des Geschäftsgangs („Course of Business“) entstanden sind (5.1).43 Records können dabei sowohl einzelne Ereignisse ISO 15489-1:2016, S. 3. ISO 15489-1:2016, S. 4. 43 „Records are both evidence of business activity and information assets. Any set of information, regardless of its structure or form, can be managed as a record. This includes information in the form of a document, a collection of data or other types of digital or 41 42
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(„Events“) oder Transaktionen („Transactions“) dokumentieren als auch summarisch ganze Prozesse bzw. Geschäftsaktivitäten (5.2.1).44 Nach ISO 15489-1 sind Records „Evidence of Business Activities“.45 Eine während eines dienstlichen Gesprächs schnell hingekritzelte, kaum leserliche Notiz von einem unbekannten Autor erfüllt die Kriterien für einen Record damit zunächst ebenso wie ein nach allen Regeln der Kunst ausgefertigter Vertrag. Entscheidend ist definitionsgemäß nur, dass der Anlass ein geschäftlicher war. Die im Angelsächsischen lange übliche Unterscheidung zwischen Records, Documents und Data, die auch noch die ISO 15489-1:2002 prägte, ist mit der Neufassung der ISO 15489-1 von 2016 endgültig aufgegeben. Das klassische Records-Verständnis war eng an die Dokumentenform gebunden und hat unter Records Dokumente von besonderer Qualität verstanden – solche, die inhaltlich für die Nachvollziehbarkeit relevant waren und die aufgrund ihrer äußerlichen Merkmale sowie der Art ihrer Aufbewahrung auch als autoritativer Nachweis dienen konnten. Dokumente ohne diese Qualität und vor allem in Datenbanksystemen gespeicherte Daten waren dagegen kein Gegenstand des Records Managements. In der aktuellen Fassung schließen Records alle Arten von Daten ein. Entscheidend ist allein, dass die gespeicherten Informationen im Geschäftsgang entstanden sind. Records in diesem Sinn kann man im Deutschen nun wohl zum ersten Mal bedenkenlos mit „Aufzeichnung“ übersetzen. 4.2 Metadaten Metadaten sind Informationen über Records, oder anders formuliert: Informationen über Informationen und Daten. Sie beschreiben den Context und den Content von Aufzeichnungen sowie deren Structure, aber auch deren Verwaltung durch die Zeit (vgl. 4c).46 Ein Datum, ein Namenskürzel, Bearbeitungsvermerke sind bereits Metadaten in diesem Sinn. Sobald für die Verschriftlichung Software verwendet wird, entsteht automatisch eine ganze Reihe weiterer „Me analogue information which are created, captured and managed in the course of business.“ ISO 15489-1:2016, S. 4. 44 „Records document individual events or transactions, or may form aggregations that have been designed to document work processes, activities or functions.“ ISO 154891:2006, S. 4. 45 ISO 15489-1:2016, S. 4. 46 ISO 15489-1:2016, S. 3.
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tainformationen“. Die ISO 15489-1 unterscheidet außerdem noch zwischen Metadaten, die direkt bei der Erstellung eines Records entstehen bzw. erstellt werden, und solchen, die den weiteren Bearbeitungsgang dokumentieren, also während der Bearbeitung hinzugefügt werden.47
4.3 Records System Ein Records System im Sinne der ISO 15489-1 (vgl. Abb. 6) ist ein Informationssystem, das spezialisiert ist auf die Erfassung und Verwaltung von Records sowie die Bereitstellung eines Zugangs zu den Records (3.16).48 Der Systembegriff ist im Englischen wie im Deutschen mehrdeutig. Am besten ist er hier wohl mit Verfahren übersetzt. Wie jedes Verfahren besteht auch das Records System aus technischen und nicht-technischen
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Komponenten, aus festen Abläufen und Akteuren, die diese Abläufe steuern, sowie mehr oder weniger expliziten Regelungen. Auch wenn heute überwiegend digital gearbeitet wird und diese Arbeitsweise eindeutig im Fokus der ISO 15489-1 steht, ist die Definition des Records Systems grundsätzlich nicht auf digitale Verfahren beschränkt, sondern schließt analoge Techniken wie Karteikarten, Papierdokumente und -akten etc. ein; sie finden allerdings keine ausdrückliche Erwähnung mehr. Die Norm weist zudem ausdrücklich darauf hin, dass mit Software nicht nur auf Records Management spezialisierte Software gemeint ist – also klassischerweise Dokumentenmanagement- oder Vorgangsbearbeitungssysteme –, sondern jede Art von Software, in der Records verwaltet werden, auch wenn diese ursprünglich für andere Zwecke beschafft worden ist (3.16).49 Damit ist die traditionelle Beschränkung auf Software, die im weitesten Sinn mit Dokumentenverwaltung zu tun hatte, hinfällig. In die Zuständigkeit des Records Managements fallen zukünftig vielmehr alle Systeme, die Daten mit Recordseigenschaft verwalten, also ebenso ERPSysteme wie z.B. SAP und ähnliche Fachverfahren. Diese Erweiterung des Begriffs des Records Systems folgt aus der Erweiterung des Recordsbegriffs und ist insofern nur konsequent. 49
ISO 15489-1:2016, S. 3.
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Auch Abläufe (Procedures) und Akteure können in Teilen technisch realisiert sein. Der Begriff des Records Systems schließt aber auch alle nichttechnischen Abläufe und Akteure ein. Zu letzteren zählen alle Personen, die in irgendeiner Weise an dem Verfahren direkt oder indirekt beteiligt sind, wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der recordserzeugenden Stellen, die Fachkräfte für Records Management einschließlich der IT-Verantwortlichen und die Führungskräfte. Abläufe folgen wiederum Regeln. Es kann sich dabei um explizite, also verschriftlichte Regelungen handeln, aber auch um solche, die durch Wiederholung gewachsen sind und mehr oder weniger unbewusst ablaufen. Versteht man unter Policies und Assigned Responsibilities – Begriffe, die die Norm in diesem Zusammenhang verwendet (3.13)50 – im weitesten Sinne eine Verständigung über die Abläufe und die Zuständigkeiten, sind beide ebenfalls wesentliche Bestandteile eines Records Systems.51 Auch das ist unmittelbar einsichtig, weil die nicht-technischen Akteure und Abläufe großen Einfluss auf die Informations- und Datenqualität haben und deshalb zentral für das Records System bzw. das Records Management sind. 4.4 Records Requirements Records Requirements im Sinn der ISO 15489-1 sind alle Anforderungen an die Nachvollziehbarkeit (= Evidence) von Business Activities (vgl. Abb. 7).52 In diesem allgemeinen Sinn gilt dies zunächst auch für reine Gedankennotizen, die man für den eigenen Bedarf erstellt, oder formlose Mitteilungen, die man einer anderen Person bzw. Stelle zukommen lässt. Die Records Requirements ergeben sich dabei immer aus dem Kontext des Records Managements, und zwar aus den Business Needs, den rechtlichen Vorgaben sowie u.U. aus gesellschaftlichen Erwartungen an die Organisation.53 Der Begriff der Records Requirements findet sich auch in der ersten Fassung der ISO 15489-1 von 2001.54 Allerdings wird er hier nur am Rande und als einer unter vielen Punkten erwähnt, die für die Implementierung eines Records Systems von Bedeutung sind. In der neuen Fassung von ISO 15489-1:2016, S. 3. ISO 15489-1:2016, S. 6/7. 52 „Records requirements are requirements for evidence of business activity.“ ISO 154891:2016, S. 12. 53 ISO 15489-1:2016, S. 12. 54 ISO 15489-1:2001, S. 11. 50 51
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2016 ist er ein Schlüsselbegriff. Die Records Requirements wirken sich auf alle Dimensionen des Records Managements aus, auf die Erstellung und die Erfassung von Informationen, deren Verwaltung, die Auswahl der Datenträger, die Art und Weise wie die Dateien mit Informationen befüllt werden, die Ablage bzw. Speicherung der Dateien usw. Sie schließen die Informationsebene ebenso ein wie die Datenebene und haben großen Einfluss auf alle Steuerungsmaßnahmen. Sie sind daher der wesentliche Faktor für die Ausprägung und Ausformung des Records Systems. 4.5 Records Management Zum Verständnis des Begriffs Records Management in der ISO 15489-1 ist bereits einiges gesagt worden. Das Records Management steuert das Records System und damit den Umgang mit den Records. Wie erwähnt versteht die Norm unter Records Management dabei konkret Creation of Records, Capture of Records und Management of Records (vgl. Abb. 8). Die Unterscheidung zwischen Creation und Capture bleibt in der Norm vage. Zunächst definiert die Norm, dass unter Creation nicht nur die Erstellung von Dokumenten bzw. Daten verstanden werden soll, sondern auch deren Empfang. Damit sind offenkundig solche Aufzeichnungen gemeint, die außerhalb der eigenen Organisation entstanden sind und von außen eingehen.55 Nach ISO 15489-1 bezeichnet Creation allgemein die 55
„Records are created or received …“ ISO 15489-1:2016, S. 16.
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Erstellung von Aufzeichnungen. Die Norm bezieht dies ausdrücklich auf den Content und die Metadaten. Sollen diese Aufzeichnungen nachvollziehbar gemacht werden, werden sie in einem Records System erfasst. Diesen Vorgang bezeichnet die Norm als Capture.56 Wenn das Records Management die Creation of Records, die Capture of Records und das Management of Records umfasst, dann bezeichnen Records Management und Management of Records nicht das Gleiche. Letzteres ist nur eine Teilmenge des Records Managements und nach ISO 15489-1 ein Oberbegriff für folgende Tätigkeiten: • Classification (= Klassifikation) und Indexing (= Indexierung), also die inhaltliche Erschließung der Records mittels Metadaten • Access Control (= Zugangskontrolle) • Storing (= Speicherung bzw. Ablage) • Use and Reuse (= Nutzung und Bereitstellung) • Migration and Conversion (= Migration und Konversion) von Datenträgern einschließlich aller Digitalisierungsmaßnahmen • Disposition (= Aussondern bzw. Abgabe) von Datenträgern 56
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Der Begriff Disposition ist weiter gefasst als der deutsche Begriff „Aussonderung“. Im allgemeinsten Sinn bezeichnet Disposition Transfer of Control. Dies gilt sowohl für die Vernichtung bzw. Kassation (= Destruction) von Aufzeichnungen als auch für die Aussonderung oder die Übergabe in eine andere Zuständigkeit aufgrund einer Umorganisation, Privatisierung, eines Verkaufs oder neuer Aufgaben. 5 Q u a l i t ä t s a n f o rd e r u n g e n a n d a s Re c o rd s Ma n a g e m e n t 5.1 Authoritative Records Die angestrebten Mehrwerte für das Business durch das Records Management entstehen nur, wenn es sich bei den Records um authoritative Records handelt. Authoritative Records sind Records, die sich durch bestimmte qualitative Merkmale (= Characteristics) auszeichnen. Diese sind zunächst Authenticity, Reliability, Integrity und Useability (vgl. Abb. 9).57
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Unter Authenticity versteht die ISO 15489-1, dass ein Record das ist, was er vorzugeben behauptet, von der Person erstellt wurde bzw. gesendet wurde, die vorgibt dies getan zu haben, und tatsächlich zu dem Zeitpunkt gesandt bzw. erstellt wurde, zu dem dies vorgeblich geschehen ist. Ein Record, der reliable ist, spiegelt eine Transaktion, Aktivität oder ein Faktum vollständig und korrekt wieder. Er ist verlässlich in dem Sinn, dass man den Informationen (= Content) im weiteren Geschäftsgang trauen kann. Integrity wiederum bezeichnet die Vollständigkeit und Unverändertheit des Records. Useability bezieht sich darauf, dass ein Record über die Zeit hinweg lokalisiert und abgefragt werden kann. 5.2 Qualitätsanforderungen an Metadaten Damit ein Record als ein authoritative Record gelten kann, muss er zudem über Metadaten erschlossen sein (vgl. Abb. 10). Diese Metadaten müssen Informationen über den Content, die Structure und den Business Context des Records enthalten, außerdem die Beziehungen zu anderen einschlägigen Metadaten und Records dokumentieren und über einen eindeutigen Identifier oder ein vergleichbares Kriterium verfügen, der bzw. das die Metadaten mit den dazugehörigen Records eineindeutig verknüpft. Schließlich müssen in den Metadaten auch alle Business Activities and Events vermerkt sein, für die der Record eine Rolle spielt.
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5.3 Qualitätsanforderungen an ein Records System Auch an das Records System stellt die ISO 15489-1 Anforderungen. Während die Qualitätsmerkmale für die authoritative Records mit Nomen bezeichnet werden, werden für die Qualitätsmerkmale der Records Systems Adjektive verwendet. Das zählt zu den redaktionellen Uneinheitlichkeiten der Norm.
Nach ISO 154891-1 muss ein Records System reliable, secure, compliant, comprehensive und systematic sein (vgl. Abb. 11).58 Der facettenreichste Begriff unter diesen fünf ist reliable. Bezog sich Reliability im Zusammenhang mit Records noch ausschließlich auf die inhaltliche Verlässlichkeit und war von den beiden Nebenbegriffen Authenticity und Integrity abgegrenzt, wird er im Zusammenhang mit dem Records System deutlich weiter gefasst. Er schließt hier auch alle Maßnahmen ein, die im Verfahren die Authentizität und Integrität der Records sicherstellen sollen. Das Adjektiv reliable bezeichnet demnach ein Verfahren, • das eine laufende Erfassung von Records innerhalb der vom Verfahren unterstützten Business Activities ermöglicht, • als zentrale Quelle für alle authentischen Informationen dieser Activities dient, • allen Berechtigten Zugang zu den Daten gewährt, • die Records in einer nutzbaren Form abbildet, • einen zeitgerechten Zugriff erlaubt,
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• die Integrität der Daten sicherstellt, • über Schnittstellen zu anderen beteiligten Verfahren verfügt und • eine angemessene Aussonderung bzw. Vernichtung ermöglicht. Aus diesem weitgefassten Verständnis folgt, dass ein Records System nur reliable sein kann, wenn es auch secure ist, d.h. wenn in ihm die erforderlichen Maßnahmen für die Sicherstellung der Informationssicherheit umgesetzt sind. An solchen Maßnahmen erwähnt die ISO 15489-1 ausdrücklich die Access Control, das regelmäßige Monitoring, die Validierung aller beteiligten Akteure und nicht zuletzt eine authorized Destruction der Records. Desweiteren fordert die Norm, dass ein Records Systems compliant sein muss, also allen gesetzlichen und sonstigen rechtlichen Verpflichtungen, aber auch den öffentlichen und gesellschaftlichen Erwartungen gerecht werden soll, zumindest – was der Compliance-Begriff impliziert –, insoweit aus der Nichterfüllung ein Risiko für die Organisation entsteht.59 Eine weitere Anforderung an ein Records System ist, dass es comprehensive ist. Damit ist gemeint, dass ein Verfahren vollständig alle Records erfasst, für die das Verfahren implementiert wurde. Schließlich muss das Records System systematic sein, d.h. die eingesetzten Verfahren sollen so weit wie möglich mittels Policies und Procedures standardisiert werden. 5.4 Qualitätsanforderungen an die Records Requirements Records Requirements müssen systematisch erfasst und ermittelt werden (vgl. Abb. 12). Hier kommt nun der in der Erarbeitung der Norm und insbesondere aus Sicht der Archivare umstrittene Begriff des Appraisal ins Spiel. Appraisal bedeutet „Bewertung“, ein Begriff, der klassisch die archivarische Entscheidung über die Archivwürdigkeit von dem Archiv angebotenen Unterlagen beschreibt. In der ISO 15489-1 wird der Begriff allerdings in einem anderem Sinn verwendet. Appraisal bezeichnet alle Tätigkeiten zur Ermittlung der Records Requirements. Konkret verlangt die Norm die Evaluation aller Business Activities. Appraisal in diesem Sinn ist zunächst die Erarbeitung eines vollständigen Verständnisses des Business Contexts und anschließend die Identifikation der Anforderungen an die
Zum Compliancebegriff siehe: Helmut Göring – Cornelia Inderst – Britta Bannenberg, Compliance. Aufbau, Management, Risikobereiche, Heidelberg 2010. 59
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Nachvollziehbarkeit des Business. Ein zentrales Instrument ist hierfür eine Analyse der Business Risks (7.1).60 Die Norm fordert eine systematische Bewertung und deren Dokumentation. Anlass für eine solche Bewertung kann die Errichtung einer neuen Organisation bzw. Organisationseinheit sein, die Abgabe bzw. Übernahme von Aufgaben, eine Änderung der Business Needs oder Geschäftspraktiken, neue gesetzliche oder andere rechtliche Vorschriften, die Einführung bzw. Weiterentwicklung technischer Systeme, eine veränderte Einschätzung von Risiken oder neue strategische Prioritäten (7.2).61 Diese Auflistung ist beispielhaft und nicht abschließend. Die Identifikation und Festlegung der Records Requirements sollen immer konkret mit Blick auf die Business Activities, die das Bindeglied zum Business bzw. Business Context sind, erfolgen.62 Die Anforderungen beziehen sich dabei auf alle Aspekte des Records Managements und dessen Steuerung, sie betreffen also sowohl den Content als auch die Metadaten ISO 15489-1:2016, S. 10/11. ISO 15489-1:2016, S. 11. 62 ISO 15489-1:2016, S. 12: 7.5. 60 61
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der Records, die einzelnen Stationen im Lebenszyklus eines Records, aber auch das Records System. Nicht zuletzt bilden die systematisch erfassten Records Requirements auch die Grundlage für die Erstellung von Richtlinien und die Ausweisung und Zuweisung von Rollen und Zuständigkeiten. Außerdem stehen die Records Requirements im Zentrum aller MonitoringMaßnahmen. Das Records Management muss sich daran messen lassen, inwieweit es ihm gelingt, diese umzusetzen.63
5.5 Qualitätsanforderungen an ein Records Management Ein qualifiziertes Records Management steuert den Prozess der Erstellung und Erfassung sowie das Management von Records in einem Records System. Es ermittelt systematisch die Records Requirements, stellt konkrete
Die Records Requirements sind in der ISO 22310 „Guidelines for standards drafters for stating records management requirements in standards“ genauer unterteilt in Creation Requirements, Retention Requirements, Access Requirements, Preservation Requirements, Requirements for Systems that make and manage Records und Requirements for records management tools or procedures. Die ISO 22310 ist eine „Metanorm“, die für alle Normen, die sich im weitesten mit Records Management – genauer mit Records Requirements – beschäftigen, einen verbindlichen Rahmen vorgibt. Sie stammt zwar aus dem Jahr 2006 und ist damit älter als die aktuelle Fassung der ISO 15489-1, ist aber weiterhin gültig. ISO 22310:2006, S. 4/5. 63
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Records Controls bereit und entwickelt und implementiert die Records Processes (vgl. Abb. 13). Die Steuerung der Records und des Records Systems erfolgt zum einen mittels Richtlinien (= Policies), zum anderen durch die Regelung von Zuständigkeiten (= Responsibilities).64 Alle Bestandteile des Records Managements müssen außerdem einem regelmäßigen und systematischen Monitoring unterzogen und durch Records Professionals, Spezialisten aus dem Bereich Informationstechnik sowie Rechtsexperten durchgeführt werden. Die Einbeziehung der Leitung ist obligatorisch.65 Ebenso wichtig ist eine regelmäßige Schulung Competence and Training aller am Records System Beteiligten, also aller Akteure, die aufgrund klar definierter Zuständigkeiten an Entstehung und Erfassung von Records mitwirken. Diese Schulung soll nicht „ad hoc“ erfolgen, sondern muss systematisch geplant und umgesetzt werden.66
Daneben ist die Sicherstellung zentraler Prozesse des Managements of Records Aufgabe des Records Managements. Als solche wurden identifiziert: Creation, Capture, Classification and Indexing, Access Control, Storing, Use and Reuse, Migration and Conversion sowie Disposition. Als letztes schließt das Records Management die Entwicklung besonderer Records Controls ein. Der Begriff Control bedeutet Steuerung. In der Verbindung mit Records sind hier Instrumente für die Steuerung von
ISO 15489-1:2016, S. 8: 6.2/6.3. ISO 15489-1:2016, S. 9: 6.4. 66 ISO 15489-1:2016, S. 10: 6.5. 64 65
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Aufzeichnungen gemeint. Die Norm beschreibt diese Instrumente jedoch nicht im Detail, sondern fasst sie unter vier Oberbegriffe zusammen. Der erste Oberbegriff ist Metadata schemas for records. Mit Hilfe von Metadata Schemas werden die zu verwendenden Metadaten systematisch definiert. Metadatenschemata sollen entwickelt werden für Aufzeichnungen, Akteure, Business Activities, Rechtsvorschriften und die Beziehungen zwischen diesen. Der zweite Oberbegriff lautet Business classification schemes. Hier handelt es sich um Begriffsapparate, mit deren Hilfe die Aufzeichnungen erschlossen werden. Der Aktenplan fällt hier genauso darunter wie Ontologien, Begriffsnetze, Thesauri etc. Es folgen Access and permission rules, die den Zugang zu Aufzeichnungen regeln und schließlich die Disposition authorities zur Steuerung der Abgabe, Vernichtung oder Aussonderung von Aufzeichnungen.
Ab s c h l i e ß e n d e B e m e r k u n g e n Die Neufassung der ISO 15489-1 stellt normentechnisch für die Schriftgutverwaltung bzw. das Records Management einen großen Schritt dar. Ein Schwerpunkt der internationalen Normenentwicklung in den letzten gut 10 Jahren galt der Frage, wie sich komplexe Organisationen steuern lassen. Durch die Neufassung hat die ISO 15489-1 hier Anschluss gehalten. Ja mehr noch, sie hat einen wichtigen Platz gefunden. Denn eine gezielte Steuerung von Daten und Dokumenten ist die Basis jedes Managements von Organisationen. Gleichwohl ist die Einstiegshürde in die Norm hoch, was vielleicht auch dieser Beitrag gezeigt hat. Es liegt in der Natur von Normen, dass
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sie sprachlich verdichtet, abstrakt und wenig anschaulich sind. Hinzu kommt, dass keine Norm für sich allein steht, sondern Teil einer komplexen Normenlandschaft ist, die man sich insgesamt erschließen muss. Ein großes Hindernis für die klassische deutsche Schriftgutverwaltung ist aber sicher auch, dass die englischsprachigen Begriffe nicht deckungsgleich sind mit den deutschen, sich also nicht direkt übersetzen lassen. Es gibt in der ISO 15489-1 kein Pendant zur deutschen Akte. Classification Schemes und Disposition haben eine deutlich weitere Bedeutung als Aktenpläne oder Aussonderung. Appraisal bezeichnet etwas anderes als Bewertung. Die größte Herausforderung liegt aber wohl in der Neuausrichtung des Records Managements auf eine konsequent betriebswirtschaftliche Begrifflichkeit. Das wirft die Frage nach der praktischen Relevanz der ISO 15489-1 auf. Ein paar Bemerkungen mit Blick auf die Praxis sollen diesen Beitrag daher abschließen. Zunächst hat das ISO/TC 46/SC 11 als das zuständige Normungsgremium mit der Erarbeitung der Normen ISO 30300 ff. selbst eine Antwort gegeben. Die ISO 30300 ff. (Managementsystem for Records Management) bauen auf der ISO 15489-1 auf und beschäftigen sich mit der Frage, wie das Records Management in einer Organisation verankert wird, welche Rollen dazu erforderlich sind, welche Instrumente benötigt werden, wie diese aufgebaut sind und was sie enthalten sollen. Insbesondere die ISO 30302 enthält konkrete Hinweise, die für die Praxis wichtig und von großem Nutzen sind. Die Normen der ISO 27000 ff. zum Informationssicherheitsmanagement sind analog aufgebaut. Im Gegensatz zu den Normen der ISO 30300 ff. sind die Normen der ISO 27000 ff. in Deutschland jedoch weit verbreitet und bilden die Grundlage für eine Zertifizierung. Das gleiche gilt für die Normen der ISO 14000 ff. zum Umweltmanagement. In Organisationen, in denen eine Zertifizierung nach ISO 27001 angestrebt wird, ist eine Zusammenarbeit auf der Basis der ISO 15489-1 bzw. der ISO 30301/ISO 30302 komplikationslos möglich und fruchtbar, weil sie auf einem gemeinsamen Normenverständnis aufbaut. Auch gibt es zwischen beiden Normenfamilien mit den Begriffen der Authentizität und Integrität eine große Überschneidung. Im Erzbischöflichen Ordinariat München arbeiten die zuständigen Stellen für die Informationssicherheit und das Datenschutzmanagement sowie die Schriftgutverwaltung auf der Basis ihrer Normen eng zusammen. Das Informationssicherheitsmanagement ist dabei für alle Aspekte zur Sicherstellung der Authentizität und
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Integrität der Daten und Dokumente verantwortlich. Basis für eine Zertifizierung nach ISO 27001 ist eine gezielte Steuerung von Dokumenten. Diese erfolgt wiederum nach den Vorgaben der Schriftgutverwaltung. Gleiches gilt für den Datenschutz bzw. das Datenschutzmanagement, die ebenfalls auf eine Steuerung der Dokumente angewiesen sind. Eine genauere Darstellung der Zusammenarbeit dieser Fachbereiche auf der Basis der Normen sprengt den Rahmen dieses Beitrags. Es soll daher bei diesem Hinweis bleiben. Eine enge Zusammenarbeit auf der Basis der ISO 15489-1 bzw. ISO 30300 ff. bietet sich außerdem mit Fachstellen an, die im weitesten Sinn mit aufsichtlichen Themen befasst sind, wie die Revision, Compliancebeauftragte, Stiftungsaufsicht etc. Voraussetzung für jede Art von Aufsicht ist die Nachvollziehbarkeit des Handelns der Bereiche, die beaufsichtigt werden. Eine Überprüfung fällt leichter, wenn vorab genau vereinbart ist, was, wie und in welcher Form verschriftlicht wird. Eine solche Vorabregelung ist zudem notwendig zur Sicherstellung gesetzlicher oder anderer rechtlicher Vorgaben. Hier greift die ISO 15489-1. Eine Schriftgutverwaltung, die sich konsequenz an den Vorgaben der ISO 15489-1 wird zu einem wichtigen Partner für die aufsichtlichen Stellen. Im Erzbischöflichen Ordinariat München arbeitet die Schriftgutverwaltung auf der Basis dieser Norm eng mit diesen Stellen zusammen. Schließlich ist die ISO 15489-1 auch ein mögliches Instrument, um verlorengegangenes Terrain „zurückzueroben“. In den vergangenen Jahren hat die Schriftgutverwaltung den Einfluss auf viele Bereiche verloren, für die sie früher zuständig war. Das hat zum Teil sachliche Gründe, weil Datenbanken zunehmend Schriftgut ersetzen und die Digitalisierung komplexes technisches Know How erfordert, über das der Schriftgutverwalter nicht verfügt und auch nicht verfügen wird. Allerdings hat die Schriftgutverwal tung ihren Einfluss auch dort verloren, wo sie durchaus einen wichtigen Beitrag leisten kann, nämlich in der Organisation der Informationen. Die ISO 15489-1 stellt diesen Beitrag der Schriftgutverwaltung ins Zentrum und arbeitet ihren Wert für die Organisation heraus. Gelingt es, wie im Erzbischöflichen Ordinariat München unter Generalvikar Peter Beer, die Norm offiziell zur Basis der Arbeit der Schriftgutverwaltung zu machen, erhält diese ein Mandat, um mit allen Stellen, die mit Datenverarbeitung im weitesten Sinn befasst sind, ins Gespräch zu treten. Dies ist letztlich zum Nutzen für Organisation als Ganzes.
Kartographie, Statistik und die Erfindung des modernen Staatsbayern Von Bernhard Löffler Raumkonstruktionen und Kartenbilder – methodische Annäherungen Im Jahr 2005 stand ein Roman von Daniel Kehlmann auf den Bestsellerlisten: „Die Vermessung der Welt“. Es handelt sich um eine Art von belletristischer Doppelbiographie des Naturforschers Alexander von Humboldt und des Mathematikers Carl Friedrich Gauß. Beide stehen in dem Buch auf je eigene Weise für eine Denkströmung ihrer Zeit, ja der Moderne überhaupt: für den Versuch einer aufgeklärt-rationalen Erfassung und möglichst exakten Berechnung der Welt, ihrer Zeiten und Räume, durch den Menschen. „Ein Hügel“, so lässt der Autor seine Helden sagen, „von dem man nicht wisse, wie hoch er sei, beleidige die Vernunft […]“. Nur wer exakte Atlanten besitze, könne sich zum wirklichen Herrn über Land und Leute aufschwingen, „die Besiedlung einer Kolonie fördern, die Unterwerfung der Natur beschleunigen, das Geschick des Landes in eine günstige Richtung lenken.“ Manchmal sei ihm (dem fiktiven Gauß) gewesen, „als hätte er den Landstrich nicht bloß vermessen, sondern erfunden, als wäre er erst durch ihn Wirklichkeit geworden. Wo nur Bäume, Moos, Steine und Graskuppen gewesen waren, spannte sich jetzt ein Netz aus Geraden, Winkeln und Zahlen.“1 Nicht bloß vermessen und ordnen, sondern erfinden und beherrschen – damit ist das doppelte Wesen von Kartographie umschrieben, mit der es nicht nur um das Abbilden realer topographischer, geographischer, geologischer oder hydrologischer Zustände geht. Zwar ist diese „Wirklichkeit“ fraglos ein wichtiger Referenzpunkt; Augenscheinkarten versuchen sie vor Ort zu ergründen, indem deren Zeichner die Landschaft unmittelbar abschreiten; in Prozess- oder Notariatsakten dienen Karten nach direkten Vorortschauen der Objektivierung und Dokumentation von Recht und Eigentum. Auch bedeutete die moderne kartographische Vermessung, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert etablierte, eine enorme wissenschaftlich1
Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt. Roman, Hamburg 2005, S. 42, 196, 268.
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empirische Leistung und einen „kolossalen Gewinn an präzisem Wissen über die Welt“.2 Zugleich aber handeln Karten immer von weit mehr: vom gleichsam anthropologischen Grundbedürfnis nach räumlicher Orientierung und Ordnung; vom Ziel, die dreidimensionalen Naturgegebenheiten in eine zweidimensionale Form mit Linien zu bannen, also das komplizierte geographische Neben- und Übereinander der Welt und ihre natürliche „Unordnung“ zumindest auf dem Papier in klar unterscheidbaren Kategorien begreifbar zu machen; nicht zuletzt vom Bestreben, sich diese Räume kreativ anzueignen und sie überhaupt erst aktiv zu erschaffen. Territorien, Räume, Grenzlinien und ihre Darstellungen sind also keineswegs naturgegeben und einfach „real“, sie sind immer auch Kopfgeburten und Projektionen („mental maps“), abhängig vom Denken und Fühlen, den Intentionen und Erwartungen, den Maßgaben und Perspektiven des Kartographen oder ihrer Auftraggeber. Dementsprechend lautet die moderne Definition von „Karte“, wie sie durch die Internationale Kartographische Vereinigung vorgenommen wird: eine „versinnbildlichte Repräsentation geographischer Realität, die auf der Kreativität und den Entscheidungen eines Kartographen beruht und bestimmte Aspekte und Charakteristika darstellt, um räumliche Beziehungen abzubilden“.3 Karten und Pläne besitzen folglich von Anfang an die instrumentelle Funktion, Macht zu entfalten, Ansprüche auf Territorien zu erheben, sie nach außen abzugrenzen gegenüber dem Anderen, Fremden, den Nachbarn und Feinden und nach innen eine flächendeckende, bruchlose eigene Herrschaft zu organisieren, Zugehörigkeitsgefühl zu wecken und zu stabilisieren gegenüber alternativen oder konkurrierenden Herrschaftsansprüchen und Loyalitätsoptionen. Karten sind gleichzeitig Dokumentationen sozio-politischer Macht und Werkzeuge ihrer Durchsetzung: „To govern territories, one must
Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 53. 3 Zu den Grundsatzfragen etwa Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München-Wien 2003, Zitate S. 13, 86. – Ute Schneider, Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2004, S. 7 das Zitat der Kartographischen Vereinigung (Hervorhebungen B.L.). – Osterhammel (wie Anm. 2) S. 149 f. – Matthew H. Edney, Mapping an Empire. The Geographical Construction of British India, 1765–1843, Chicago-London 1990. – John Brian Harley, The New Nature of Maps. Essays in the History of Cartography, ed. by Paul Laxton, Baltimore-London 2001. – Jeremy Black, Maps and History. Contructing ����������������� Images of the Past, New Haven-London 1997. – Christoph Dipper – Ute Schneider (Hrsg.), Kartenwelten. Der Raum und seine Repräsentation in der Neuzeit, Darmstadt 2006. 2
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know them“, so eine bekannte Formulierung Matthew Edneys, – und je komplizierter die territorialen Verhältnisse, desto mehr gilt dieses Prinzip.4 Nicht von ungefähr untersuchte man diese Funktionen von Karten daher besonders intensiv für die Entstehung der europäischen Kolonialimperien des 19. Jahrhunderts, die fast ausnahmslos zunächst am grünen Kartentisch erschaffen wurden; Grundlagen waren zumeist „paper partitions“, völlig unabhängig von gewachsenen räumlichen oder politischen Strukturen vor Ort, in die Welt gesetzt von den Staatskanzleien, Kolonial- und Außenministerien und exerziert von deren Kartographen, die sich als prädestinierte Agenten, Bürgen oder Ideologen raumbezogener „territorialer Identität“ und Loyalisierung erwiesen. Sie haben entsprechende Darstellungsweisen und Kartensprachen, Symbole, Semantiken und Ikonographien entwickelt und zum Einsatz gebracht, die seit dem 19. Jahrhundert durch internationale Normierungen Verbindlichkeit gewannen: die Fixierung vereinheitlichter Maßstäbe, Entfernungsrelationen und eines Hauptmeridians als Referenzpunkt; die visuellen Techniken von Höhenlinienzeichnungen oder Geländebeschreibungen mittels unterschiedlicher Schraffurstärken; die bewusste Ausrichtung und Hierarchisierung mit einer Nord-Süd-Perspektive oder der Stellung Europas in der Kartenmitte; die monochromen Färbungen oder Schraffuren von Flächen, um Einheitlichkeit und „Regierbarkeit“ zu demonstrieren (auch wenn die Herrschaftsgebiete zersplittert waren); die Markierung angeblich klarer linearer Grenzen (auch wenn in der Realität lange Zeit oft eher hybride Grenzräume existierten); die unterschiedliche typografische Signifikanz, Größe, Dicke von Städten (und damit die Klassifikation von Stärke/ Zentralität/Gewichtigkeit und Schwäche/Peripherie/Marginalität) oder von Grenzen (die überhaupt als „eines der fruchtbarsten geo-historischen Gedankenbilder“ gelten können); die Zeichnung von Bewegungspfeilen, mit denen Migrationsströme oder militärische Aktionen betont, relativiert oder marginalisiert werden können.5 Vgl. Edney (wie Anm. 3) Zitat S. 1. – Ferner Schlögel (wie Anm. 3) S. 9–13, 36–71, 148–153, u.ö. 5 Jana Osterkamp – Martin Schulze Wessel, Texturen von Loyalität. Überlegungen zu einem analytischen Begriff. In: Geschichte und Gesellschaft 42 (2016) S. 553–573, hier S. 562 f. – Zu den Sprachen, Bildern und Techniken der Karten oder Stadtpläne im Folgenden Schneider (wie Anm. 3) S. 36–49, 64–77, 108–131, oder Schlögel (wie Anm. 3) S. 96–107, 199–210, 220–224, 453–462, 304–313. – Exemplarisch David Gugerli – Daniel Speich, Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich 2002, bes. S. 114–170, 192–210, u.ö. – Zur mentalitätsgeschichtli4
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Was für die große Welt thematisiert wurde, gilt auch für das kleine Bayern. Ja mehr noch: Gerade an diesem regionalen Beispiel, der spezifischen Entstehungsgeschichte moderner bayerischer Staatlichkeit, lassen sich die Fragestellungen in sehr verdichteter Weise analysieren. Auch hier hatten wir administrative räumliche Schöpfungen am Grünen Tisch, und auch hierbei wiesen Kartographie, Statistik und bürokratische Landesplanung einen zentralen Weg zur dauerhaften staatlichen Konsolidierung. Das setzte bereits ein in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter den Bedingungen der komplexen territorialen Realität des Alten Reichs wie unter den Auspizien aufgeklärter Fürsten. Einerseits sträubte sich diese Welt gegen einfache statistische Aufnahme, Vermessung, Linienzeichnung oder homogenisierende Flächenfärbung, andererseits provozierte sie ebendies als Ausfluss modernen Denkens und machte damit Statistik, Geographie und Kartographie zu perfekten Instrumenten oder Rechtfertigungsinstanzen einer machtvollen Staatsbildungspolitik.6 Und mit der territorialen Revolution um 1800 dynamisierte sich das Geschehen noch weiter: wegen der Herausforderungen durch enormen außenpolitischen Druck und starke interne Zentrifugalkräfte in einem großflächiger werdenden, aber recht künstlich zusammengewürfelten Staat, sowie wegen spezieller ideengeschichtlicher Einflüsse insbesondere französischer Herkunft. Geometer, Geodäten und ihre Vermessungsprodukte haben in dieser Phase und unter diesen Prämissen das Land des modernen Staatsbayern recht eigentlich erst mit erschaffen und dessen räumlich-politische Wirklichkeit mit konstituiert. Sie haben es getan in engem Verbund mit Statistikern, Volkszählern, Landesbeschreibern und -planern, den Sachverständigen fürs Sammeln, Beschaffen und Gewichten von differenzierten Raum- und Sozialdaten im großen Maßstab, mit fiskalischen Haushältern, Wirtschafts- und Verkehrsexperten und deren neuartigen Ansprüchen der möglichst exakten Bürgererfassung und infrastrukturellen Staatsordnung. Sie alle agierten als Teil eines größeren Ideen-, Denk- und Handlungsverbundes, der sich als Träger und Wahrer der „raison d’être“ des neuen Staatsganzen begriff: einer weithin frankophilen Reformbürokratie unter Führung des mächtigen Staatsministers Montgelas, die sich den Maßgaben von Aufklärung und chen Bedeutung von „Grenzen“ etwa Osterhammel (wie Anm. 2) S. 176–180, 465–477. – Guy P. Marchal (Hrsg.), Grenzen und Raumvorstellungen (11.–20. Jh.). Frontières et conceptions de l’espace (11e–20e siècles), Zürich 1996. 6 Zu den frühneuzeitlichen Raumstrukturen etwa Marchal (wie Anm. 5). – Andreas Rutz, Die Beschreibung des Raums. Territoriale Grenzziehungen im Heiligen Römischen Reich (Norm und Struktur 47), Köln-Weimar-Wien 2018.
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Empirismus verpflichtet sah, kombiniert teilweise noch mit spätabsolutistischem Merkantilismus und orientiert an Sehnsüchten nach einem geometrisierten Raum, „aus dem alle dunklen Stellen getilgt sind“.7 Das Thema ist von der landesgeschichtlichen Forschung durchaus beachtet worden, in erster Linie unter politik- und institutionengeschichtlichen Perspektiven. Eberhard Weis etwa hat intensiv die Reformpolitik der Ära Montgelas analysiert, von Daniel Schlögl stammt ein wichtiges Werk zur Raumerfassung in Bayern zwischen 1750 und 1800, Wilhelm Volkerts Ämter-Handbuch besitzt einschlägige Passagen zur Entwicklung der entsprechenden staatlichen Behörden.8 Nicht zuletzt finden sich auch im unmittelbaren Umfeld der Jubilarin und ihrer Institution substantielle Anknüpfungspunkte zum Thema: Das Bayerische Hauptstaatsarchiv verwahrt eine umfängliche Sammlung von Karten und Plänen, von handgezeichneten frühneuzeitlichen Augenscheinkarten bis hin zu modernerem Vermessungsmaterial, die unterschiedlichen Provenienzen entstammen, seit Mitte des 18. Jahrhunderts zusammengetragen wurden und durch die Zeit vornehmlich im Zusammenhang von Beurkundungs- oder Prozessvorgängen überliefert sind, als dokumentarische Beilagen zur Veranschaulichung und topographischen Konkretisierung rechtlich-abstrakter Schriftsätze. Sie boten die Grundlage für einige wichtige Publikationen oder Ausstellungen aus dem Archiv heraus.9
Zitat Schlögel (wie Anm. 3) S. 169. – Zur Denklogik allgemein vgl. Lars Behrisch (Hrsg.), Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raums im 18. Jahrhundert (Historische Politikforschung 6), Frankfurt a.M. u.a. 2006. – Zum Kontext bayerischer Politik zumal in der formativen Phase nach 1800 im Überblick immer Max Spindler (Begr.) – Alois Schmid (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Band IV/1, 2. Auflage, München 2003, bes. S. 4–9, 45–95, 149–180. 8 Eberhard Weis, Montgelas. Eine Biographie 1759–1838, 2 Bde., durchgesehene und ergänzte Sonderausgabe, München 2008. – Daniel Schlögl, Der planvolle Staat. Raumerfassung und Reformen in Bayern 1750–1800 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 138), München 2002. – Wilhelm Volkert (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Ämter, Gemeinden und Gerichte 1799–1980, München 1983, S. 86 f., 161–164, 338 f., u.ö. – Vgl. überdies unten Anm. 14. 9 Z.B. Edgar Krausen (Bearb), Die handgezeichneten Karten im Bayerischen Hauptstaatsarchiv sowie in den Staatsarchiven Amberg und Neuburg a.d. Donau (Bayerische Archivinventare 37), Neustadt a.d. Aisch 1973. – Gerhard Leidel – Monika Ruth Franz, Altbayerische Flußlandschaften an Donau, Lech, Isar und Inn. Handgezeichnete Karten des 16. bis 18. Jahrhunderts aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 37), Weißenhorn 1998. – Gerhard Leidel – Monika Ruth Franz, Von der gemalten Landschaft zum vermessenen Land. Eine Ausstellung des Baye7
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Im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte hat die Thematik mit den Diskussionen um einen „spatial turn“ dann noch einmal eine neue methodische Relevanz bekommen. Historische Raumbezüge wurden damit als generelle Analysekategorie der allgemeinen Geschichte (auch jenseits der Landes- und Regionalgeschichte) wichtiger und vom nach 1945 lange Zeit herrschenden Verdikt des geopolitischen oder anthropogeographischen Determinismus befreit. Inhaltlich traten dabei die schon angedeuteten Probleme einerseits der politischen Konstruktivität von Räumen und der damit verbundenen Herrschaftsoptionen, andererseits der kollektiven oder subjektiven Raumprojektionen und identitätsstiftenden Raumimaginationen („mental mapping“) in den Vordergrund. Gerade diese Fragestellungen scheinen von der bayerischen Landesgeschichte indes nur mit Verzögerungen und Reserven aufgegriffen worden zu sein. Punktuelle Ausnahmen und Annäherungen gibt es10, aber insgesamt dominieren doch in vielem weiterhin die Vorstellungen von festen, vor allem staatlich definierten „Containerräumen“. Mit ihnen werden „Land“ oder „Territorium“ als a priori-Entitäten und materiell-objektive, „nicht relationale“ Realitäten gesetzt, die „modellhaft schon vor den Geschichtsforschenden“ gegeben sind und in deren festen Rahmen „die Landeshistoriker dann arbeiten“.11 rischen Hauptstaatsarchivs zur Geschichte der handgezeichneten Karte in Bayern (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 48), München 2006. 10 Neben Ansätzen in Schlögl (wie Anm. 8) etwa die Studien von Martin Ott, Salzhandel in der Mitte Europas. Raumorganisation und Außenbeziehungen zwischen Bayern, Schwaben und der Schweiz, 1750–1815 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 165), München 2013. – Wolfgang Wüst, Planvolle und digitalisierte Staatswerdung. Karten und Pläne als Medien zur illustrierten Machtfrage in der Frühmoderne. In: Helmut Flachenecker – Krzysztof Kopiński – Janusz Tandecki (Hrsg.), Die Geschichte im Bild. Editionswissenschaftliches Kolloquium 2015 (Publikationen des Deutsch-Polnischen Gesprächskreises für Quellenedition 8), Toruń 2016, S. 151–193. – Rainald Becker, Der Aquila Tirolense. Staatsvisualisierungen im frühneuzeitlichen Alpenraum. In: Lucia Longo-Endres (Hrsg.), Artisti e mercanti in viaggiore. Oltre le Alpi, attraverso il Tirolo, Bologna 2020, S. 43–62. – Ferner grundsätzlicher: Sigrid Hirbodian – Christian Jörg – Sabine Klapp (Hrsg.), Methoden und Wege der Landesgeschichte (Landesgeschichte 1), Ostfildern 2015, mit einschlägigen Beiträgen v.a. von Andreas Rutz, Doing territory. Politische Räume als Herausforderung für die Landesgeschichte nach dem „spatial turn“ (S. 95–110) und Martin Ott, Raumkonzepte in der Landesgeschichte nach dem Spatial Turn (S. 111–125). – Riccardo Bavaj, Was bringt der „spatial turn“ der Regionalgeschichte? Ein Beitrag zur Methodendiskussion. In: Westfälische Forschungen 56 (2006) S. 457–484, hier bes. S. 477–479. 11 So in seinem an sich guten Überblick Ott (wie Anm. 10) S. 114 f. – Vgl. zum landeshistorischen Verständnis eines „Containerraums“ auch Ferdinand Kramer, Landesgeschichte
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Das bleibt weithin die Prämisse und verengt oftmals die Perspektiven, anstatt die eigendynamische realitätsprägende Kraft von Raumkonstruktionen stärker in den Fokus zu nehmen. We g e u n d A k t e u re d e r Ve r m e s s u n g d e s St a a t e s – e xe m p l a r i s c h e B e m e r k u n g e n z u Ba y e r n Die Start- und Inkubationsphase moderner Kartographie lag – es wurde schon erwähnt – in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, und die unbestrittene Vorreiterrolle spielte Frankreich. Dort wurde unter der Regie des zentralistischen, merkantilen französischen Staates damit begonnen, systematisch Länder zu vermessen und Räume zu beschreiben. Entsprechend früh wurden die modernen technischen Grundlagen des Vermessungswesens erprobt und etabliert. In Großprojekten wie der „Carte géometrique de la France“ (1750–93), die als groß inszenierte „Haupt- und Staatsaktion“ erarbeitet wurde, setzte man die ersten Standards für eine geometrisch exakte Methodik und für die Normen der kartographischen Darstellungen. So perfektionierte man die trigonometrische Landaufnahme und Triangulationsmethode mit der Konstruktion umfassender Dreiecksnetzsysteme, wie sie von der Gelehrtenfamilie Cassini de Thury entwickelt worden war, vereinheitlichte den metrischen Maßstab, fixierte einen Hauptmeridian als Referenzpunkt der Vermessung, verfeinerte die Geländebeschreibung mittels einer eigenen Symbolsprache, Höhenlinienzeichnung oder unterschiedlicher Schraffurstärken.12 Die konkreten Motive und Ziele dieser Vorhaben entsprangen zunächst und erstens den Forderungen des Militärs nach genauem Kartenmaterial. Dazu trat, zweitens, recht bald das administrative Streben nach systematischer fiskalischer Erfassung der Grundstücke und Gemarkungen für die Grund- und Gebäudesteuererhebung. Schließlich verbanden sich die Vorhaben, drittens und zunehmend, mit Initiativen einer statistischen Erfassung in einem weiteren Rahmen: um die Grundlagen zu schaffen oder zu sichern für eine planende und planvolle Gesellschaftspolitik, für eine intensivierte staatin europäischer Geschichte. Zusammenfassung und Diskussionsbeitrag. In: Hirbodian – Jörg – Klapp (wie Anm. 10) S. 209–217, hier S. 213 f. 12 Vgl. Schlögel (wie Anm. 3) S. 167–176. – Uta Lindgren (Hrsg.), Kartographie und Staat. Interdisziplinäre Beiträge zur Kartographiegeschichte Staat (Algorismus: Studien zur Geschichte der Mathematik und Naturwissenschaften 3), München 1990, bes. S. 37–46. – Dipper – Schneider (wie Anm. 3) S. 94–109. – Gugerli – Speich (wie Anm. 5) S. 22–28, 114–147, u.ö.
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liche Wirtschaftsförderung, Landeskultivierung und staatliche Verkehrs-, Straßen- und Wasserbau- sowie Zoll- und Mautpolitik. Auch für Bayern sind diese drei großen Entwicklungsstränge auszumachen. Dass Bayern von Frankreich dabei besonders stark und unmittelbar beeinflusst war, ist angesichts der engen politischen Verbindung der beiden Staaten zwischen 1800 und 1813 (mit einer zeitweilig hegemonialen Dominanz Frankreichs über Bayern) nicht überraschend. Was den größeren institutionellen Rahmen betrifft, ist hier auf die Wirkungen des Rheinbundes als übergreifendem Kontroll- und Transfersystem zu verweisen, konkret und praktisch auf die Einflussnahme der Ingenieurgeographen der französischen Rheinarmee. Fundiert waren der Ideentransfer und die Rezeptionsbereitschaft aber sicherlich auch durch die erwähnte geistige Nähe des Montgelas’schen Reformbeamtentums zu Frankreich und dessen aufgeklärte Methoden. Diese sind zumal auf dem kartographischen Feld in Umrissen schon vor 1800 zu erkennen, etwa in manchen Forschungsprojekten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (in Kooperation mit Cassini und Henry de Saint Michel), auf dem Gebiet des fiskalischzollpolitisch motivierten Mautkartenwesens oder in den regen Aktivitäten des Straßen- und Wasserbauingenieurs Adrian von Riedl seit den 1780er Jahren (u.a. mit der Erstellung des „Riedlschen Reise- und Straßenatlasses“ sowie eines eigenen „Stromatlasses“); Riedl war später auch einer der Protagonisten bei der Gründung des „Topographischen Bureaus“, das er 1808/09 selbst leitete. Da erscheinen die ideellen Übergänge also fließender, als das der nachrevolutionäre Innovationsgestus postulieren mochte.13 Und dennoch, entscheidend forciert, systematisiert und institutionalisiert wurde die topographische Landesaufnahme und „Mappirung“ Bayerns um 1800 dann doch erst auf bewusste Anregung der französischen Heeresleitung hin: zuerst mit einer bayerisch-französisch besetzten „Commission des Routes“ in München (u.a. mit bayerischen Fachleuten wie Joseph von Utzschneider, Joseph von Hazzi oder Georg von Grünberger) und 1801 mit der Gründung des besagten „Topographischen Bureaus“ in Entsprechung des „Bureau topographique militaire“ der Rheinarmee. Bayern wurde zunächst nach dem Vorbild der Methoden Cassinis und bis 1807 unter direkter französischer Anleitung mit einem flächendeckenden Triangulationsnetz überzogen und in ein grobmaschiges, aber präzises Raster aus Dreiecken aufgeteilt. Als zentrale altbayerische Basislinie, auf die Hierzu v.a. Schlögl (wie Anm. 8). – Und allgemeiner Rutz (wie Anm. 6). – Behrisch (wie Anm. 7). 13
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hin die Vermessungsdreiecke abgezirkelt wurden, bestimmte man die sog. „Base de la Goldbach“, die von München-Oberföhring nach Aufhausen verlief, als Nullpunkt den nördlichen Turm des Münchener Frauendoms fixierte und unter Leitung des französischen Ingenieurgeographen Oberst Charles Rigobert Bonne vermessen wurde. Von hier ausgehend arbeitete man sich zur topographischen Detailaufnahme vor und verband ab 1807 sukzessive das altbayerische Dreieckssystems auch mit den anderen regionalen Dreiecksnetzen, dem fränkischen (mit der Basis bei Nürnberg), dem rheinpfälzischen (mit der Basis Speyer-Oggersheim) und dem badischen sowie württembergischen.14 Das mit alldem bezweckte Anliegen, eine umfassende Kriegskarte „Carte de la Bavière commencée“ im Maßstab 1:100.000 zu erstellen, wurde zwar letztlich 1818 unvollendet abgebrochen. Dennoch bildeten diese Ansätze die technische Grundlage für alles weitere und markierten auch den frühen und ersten Hauptstrang der bayerischen Kartographie, den man den französisch inspirierten militärtopographischen nennen könnte. Sein vornehmstes Resultat war der 1867 abgeschlossene Topographische Atlas mit 112 Blättern im Maßstab 1:50.000, bis Mitte des 20. Jahrhunderts das Hauptkartenwerk Bayerns. Hinzu kamen Kartenblätter im Maßstab 1:100.000, die zwischen 1871 und 1901 als Teile einer großen, einheitlichen „Karte des Deutschen Reiches“ hergestellt wurden, ferner die Topographischen Positionsblätter im Maßstab 1:25.000, erarbeitet von 1872 bis 1960. Das waren auch über Bayern hinaus rezipierte große technische Leistungen; anlässlich der Weltausstellungen 1862 (London) und 1873 (Wien) bekam das Topographische Bureau dafür die Goldmedaille bzw. die Große Fortschrittsmedaille verliehen.15 In der Folge kam es peu à peu zu weiteren technischen Modernisierungsschüben, zunächst mit der Verbesserung der Schraffen- und Höhenliniensysteme (plastische Geländeerfassung), später mit der 1961 begonnenen Installierung von Großrechneranlagen zur DiSpeziell zur Entwicklungsgeschichte der Kartographie in Bayern Max Seeberger, Wie Bayern vermessen wurde (Hefte zur bayerischen Geschichte und Kultur 26), Augsburg 2001. – Alfons Habermeyer, Die topographische Landesaufnahme von Bayern im Wandel der Zeit, Stuttgart 1993. – Hans Wolff, Bayern im Bild der Karte. Cartographia Bavariae [Ausstellung Bayerische Staatsbibliothek 1988] (Ausstellungskataloge 44), 2. verbesserte und vermehre Auflage, Weißenhorn 1991, S. 223–247. – Wolfgang Hans Stein, Die französischen Anfänge der Bayerischen Vermessungsverwaltung. In: Mitteilungsblatt des Deutschen Vereins für Vermessungswesen Bayern 53 (2001), Heft 2, S. 137–191. – Volkert (wie Anm. 8) S. 161–164, 338 f. 15 Dazu Seeberger (wie Anm. 14) S. 55 f. 14
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gitalisierung der Vermessungs- und Darstellungstechniken und seit 1975 mit der Einrichtung einer Luftbilderfassungsstelle und der Nutzung satellitengestützter Vermessungssysteme wie GPS. Dass am Beginn dieses Weges der Kartierung militärische Zwecke standen, mag nicht nur die Initiierung und Unterstützung durch die französische Armee verdeutlichen, sondern auch die Tatsache, dass die Institution des Topographischen Bureaus von 1820 bis 1919 durchgehend dem bayerischen Generalstab eingegliedert war (davor nur vorübergehend dem Außenministerium). Nach einer kurzen Phase der Unterstellung unter das Reichsinnenministerium gingen die Kompetenzen 1922 wieder an Bayern über und ressortieren seitdem beim Finanzministerium; 1930/37 wurden die zentralen Zuständigkeiten im Landesvermessungsamt konzentriert, das sich seinerseits aus der Steuerverwaltung herausgebildet hat.16 Das führt schon zum zweiten größeren Entwicklungsstrang des bayerischen Kartenwesens. Er entsprang inneren fiskalischen Interessen des Staates. Auf Initiative des Finanzreferendärs und Vorstands der Staatsschuldentilgungskommission Joseph von Utzschneider beschäftigte sich ein Teil der Ingenieurgeographen des Topographischen Bureaus in einem eigenen „Bureau de catastre“ mit den technischen Problemen einer detaillierten Grundstücksvermessung. Ziel war es hier, exakte Flurkarten und Katasterpläne als verlässliche Basis einer möglichst vollständigen Grund- und Haussteuererhebung (als finanzielles Rückgrat des Staates im 19. Jahrhundert) zu erstellen. Diese Aufgaben wurden 1808 verselbständigt und gingen im Rahmen der bayerischen Finanzverwaltung an eine eigene Steuervermessungskommission über. Förmlich sanktioniert mit dem Grundsteuergesetz von 1828, das als Basis der Grundsteuer den „für jeden einzelnen vermessenen und in Plan gelegten Grundbesitz“ (§ 61) fixierte, wurden sukzessive die Ur-Katasterpläne lückenlos und in einheitlichem Maßstab von 1:5.000 übers Land gezogen, die parallel immer auch als Grundlage der topographischen Kartenwerke dienten. 1868 war diese erste Grundstücksvermessung abgeschlossen. 1872 wurde dann ein eigenes, neues Katasterbüro gegründet, um die Pläne aktuell zu halten, nötige Neuvermessungen und Präzisierungen (etwa in späteren Flurkarten im Maßstab 1:2.500) vorzunehmen, die Ausbildung der Geometer sicherzustellen und seit 1900 auch für die Anlage des Grundbuches zu sorgen. Seit 1915 führte das Katasterbüro die BeZur militärtopographischen Tradition auch Gugerli – Speich (wie Anm. 5) S. 39 f., 45–52. 16
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zeichnung Landesvermessungsamt, das seit Anfang der 1930er Jahre auch offiziell für die Herstellung der topographischen Karten zuständig war. Hier kamen also die beiden skizzierten Entwicklungsstränge institutionell zusammen. Nach einer kurzen Phase der Reichszentralisierung des Vermessungswesens (seit 1934/38) fiel es 1945 wieder unter ausschließliche Länderhoheit. Das Landesvermessungsamt existiert unter der amtlichen Bezeichnung „Bayerisches Landesamt für Digitalisierung, Breitband und Vermessung“ bis heute.17 Die Aktivitäten dieses staatlichen Vermessungswesens stehen schließlich im engen zeitlichen und sachlichen Konnex mit der parallel verlaufenden und nicht selten vom selben Personal getragenen Herausbildung der Amtlichen Statistik, Volksbeschreibung und Prognostik – gewissermaßen der dritte, eher ökonomisch-landesplanerisch akzentuierte Komplex. Auch hier gibt es frühe Formen im Reformabsolutismus und Kameralismus des späteren 18. Jahrhunderts, etwa die großen „Landes- und Volksbeschreibungen“ bzw. „Volkszählungen“ der Jahre 1770/71 (Johann von Dachsberg) und 1794 (veröffentlicht von Joseph von Hazzi unter dem Titel „Statistische Aufschlüsse über das Herzogtum Baiern“). Dieser Trend setzte sich fort bei den fortschrittsgläubigen Staatsreformern im Zeitgeist der Jahre nach 1800. Ebenfalls zuerst den praktischen Bedürfnissen der Militär- und Finanzverwaltung entsprungen, meinte „Statistik“ in der kameralistischen Tradition dabei durchgehend mehr als bloß numerische Tabellen, zielte vielmehr immer auf die möglichst enzyklopädische, auch mit viel Text und Beobachtungsmaterial versehene Beschreibung sozialer „Tatsachen“.18 Von der Sache her ging es vornehmlich darum, eine möglichst verlässliche empirische Datenbasis für steuer- bzw. wirtschaftspolitische Prognosen und Maßnahmen rationaler Sozialplanung, beispielsweise gegen Hungerkrisen, zu gewinnen. Die grundsätzlichen Wirkungen reichten aber noch weiter und zielten dezidiert auf eine staatsintegrative Wirkung. Dementsprechend fanden auch die Initiativen zur statistischen Volksbeschreibung im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre festen staatlichen Institutionalisierungen: 1803 wurde eine erste Verordnung zur Ermittlung der Bevölkerungszahl auf Grundlage der systematischen Auswertung vereinheitlichter Vgl. Seeberger (wie Anm. 14) Zitat S. 52 (Grundsteuergesetz). – Volkert (wie Anm. 8) S. 161–164. 18 Vgl. allgemein Osterhammel (wie Anm. 2) S. 45–62. – Dipper – Schneider (wie Anm. 3) S. 11–16. – Markus A. Denzel, Professionen und Professionisten. Die Dachsbergsche Volksbeschreibung im Kurfürstentum Baiern (1771–1781) (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 139), Stuttgart 1998. 17
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Pfarrmatrikel erlassen und 1808 ein separates Statistisch-topographisches Bureau unter dem Dach von Montgelas’ Außenministerium gegründet. Dieses publizierte 1809 eine erste umfassende Datenerhebung, die sog. „Montgelas-Statistik“, und ergänzte sie jeweils im Zuge der territorialen Neuerwerbungen Bayerns. Ebenfalls seit 1808 bildeten sich eigene statistische Sektionen im Innenministerium und im Finanzministerium heraus. Sie wurden 1832 in einem Statistischen Bureau beim Innenministerium gebündelt, das vor allem regelmäßige Volkszählungen in Bayern vorzunehmen hatte. Diese wiederum waren nicht zuletzt durch einen Anstoß von außen befördert worden, durch die Gründung des Deutschen Zollvereins von 1833, der vorsah, dass „der Ertrag der in die Gemeinschaft fallenden Abgaben […] unter den vereinten Staaten nach dem Verhältnisse der Bevölkerung […] vertheilt“ werden soll.19 Diese eher wirtschaftspolitische Ausrichtung zeigte sich auch daran, dass die Statistik in den Jahren 1848 bis 1871 vorübergehend dem Handelsministerium zugeordnet wurde, ehe sich 1908 wieder ein dem Innenministerium unterstelltes, seit 1946 als selbständige Zentralstelle agierendes und bis heute existierendes Statistisches Landesamt etablierte (seit 1931 zusätzlich mit der Aufgabe der Landeswahlleitung). 1982 erfolgte dann die Verschmelzung mit dem 1970 gegründeten Bayerischen Landesamt für Datenverarbeitung.20 Ve r m e s s u n g u n d Ve r m e s s e n h e i t – b a y e r i s c h e St a a t s bildung aus dem Geist rationaler Planung um 1800 Überblickt man die drei Entwicklungsstränge – die militärtopographische Vermessung und Kartographie, die fiskalisch begründete Landeserfassung und die statistische Beschreibung von Land und Volk –, so schält sich in Ergänzung zu unseren bisherigen Feststellungen dreierlei heraus: erstens die Bedeutung einer besonders katalysatorischen Zeitspanne, zweitens das dynamische Wirken einer typischen Trägerschicht und drittens die Wirkung einer spezifischen Handlungslogik, die weit in die Zukunft Zollvereinsvertrag vom 22. März 1833, Artikel 22. In: Georg Ferdinand Döllinger, Sammlung der im Gebiete der inneren Staats-Verwaltung des Königreichs Bayern bestehenden Verordnungen aus amtlichen Quellen, Band 14/1: National-Oeconomie/Statistik, München 1838, hier § 33, S. 63. 20 Vgl. Volkert (wie Anm. 8) S. 86 f. – Hildegard Lorenz, Amtliche Statistik. In: Historisches Lexikon Bayerns, https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Amtliche_Statistik (Aufruf am 4.3.2021). – Seit 1.6.2015 lautet der Amtsname wieder Bayerisches Landesamt für Statistik (als Folge von Zuständigkeitsänderungen). 19
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weist und dem modernen Bayern insgesamt Struktur verleihen konnte. Zeitlich ist es vornehmlich die durch die französische Aufklärung geprägte Sattelzeit um 1800; personell sind es die frühen Exponenten oder zumindest Vorläufer modernen bürokratischen Experten- und Spezialistentums und die dahinterstehenden rationalistisch-aufgeklärten Denkströmungen; und methodisch oder praxeologisch sind es die eigendynamischen Prägekräfte planvoll-systematischer Expertise zum sozialen „monitoring“, der zunehmende Anspruch der Verwissenschaftlichung, Institutionalisierung und der exakt-formalisierten Erfassung von Daten mit verbindlicher Normierung, transparenter Systematik und standardisierten Herangehensweisen.21 Etwas pointiert formuliert, kann man in den Vorgängen am bayerischen Beispiel in der Tat eine Art modernen statistisch-kartographischen, planifikatorisch-administrierenden Think Tank am Werk sehen, wie er uns auch heute aus vielen Zusammenhängen in zahleichen Expertengremien mit dem entsprechenden sozialen Prestige und politischen Legitimationspotential geläufig ist: Protagonisten wie die Beamten Ignaz von Rudhart, Joseph von Utzschneider oder Joseph von Hazzi gehörten dazu, daneben Leute wie der Geologe und Direktor des Bergwerks-, Salinen- und Münzwesens Mathias von Flurl oder die Astronomen, Geometer, Kartographen und Forsttaxatoren Ulrich Schiegg, Johann Georg von Soldner, Georg von Grünberger, Mathias von Schilcher und Johann von Rheinwald, daneben die Ingenieure und Erfinder optischer Präzisionsmessgeräte wie Georg von Reichenbach oder Joseph von Fraunhofer. Ihre Denkschriften, Instruktionen, Forschungen, Datensammlungen sind allesamt durchtränkt von einem rationalistischen, äußerst selbstbewussten, durchgehend etatistischen und bürokratisch anmutenden, auch ziemlich technokratischen und stets auf Nützlichkeit getrimmten Reformgeist. Sie zeigen den fortschrittsoptimistischen Anspruch der positivistisch-empirischen Totalerfassung, verbunden mit den Annahmen eigener Objektivität, Bedeutung und Zukunftsfähigkeit und der Voraussetzung staats-, wirtschafts- und sozialplanerischer Machbarkeit.
Zu den prinzipiellen Zusammenhängen etwa Adam J. Tooze, Statistics and the German State, 1900–1945. The Making of Modern Economic Knowledge (Cambridge studies in modern economic history 9), Cambrigde 2001. – Osterhammel (wie Anm. 2) S. 57–62, Zitat S. 57. – Gugerli – Speich (wie Anm. 5) S. 22–28, 61–67, 84 ff., u.ö. – Sowie oben Anm. 7. 21
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Das beginnt schon mit der politischen Vision des Patrons Maximilian von Montgelas. Diesem waren statistische, kartographische oder rechtliche Erhebungen in erster Linie Mittel, um die organische „Arrondierung“, Konzentrierung, Verschmelzung des Staatsgebietes zu dokumentieren, „allen unseren Untertanen anschaulich ein gemeinsames Vaterland und ein einziges Interesse“ vor Augen zu führen, damit in dem neuen Bayern mit der Diversität seiner Territorien ein gemeinsames Staatsbewusstsein zu festigen und mit dem geschlossenen erfassten Staatswesen zugleich seine „souverainité pleine et entière“ wie den Erfolg des eigenen Reformwerks zu beweisen.22 Montgelas personifizierte beinahe den eingangs skizzierten Ideenkosmos, durch Dokumentation und Visualisierung der scheinbar objektiven Gegebenheiten in Statistiken, Tabellen, Grafiken oder Kartenbildern selbst erst staatsräumliche oder gesellschaftspolitische Einheitlichkeit zu erschaffen und zu legitimieren, darauf aufbauende neue Regeln des Zusammenlebens zu definieren und zugleich die Instrumente für Verwaltungsvereinheitlichung, Herrschaftsintensivierung und Staatsdurchdringung zu installieren. Als „strikte Homogenisierung“, „Integration“, „Disziplinierung“, „Normierung“ und „autoritäre Großgruppenbildung“ des modernen Staatsbayern wurde das Vorgehen in der historischen Analyse bezeichnet – und mit diesen Formeln die typische „Dialektik der Aufklärung“ signalisiert: Mit der Systematisierung und Rationalisierung im Geist des Fortschritts waren immer gleichzeitig die Optionen zu Besserung, Transparenz und Kritik wie zu Zwang, Kontrolle und Uniformierung verbunden.23 Wir können das in beinahe unendlichen Variationen in diversen Selbstvergewisserungen unserer Protagonisten greifen – hier nur einige Beispiele: In einer Denkschrift an das bayerische Innenministerium umschrieb der Direktionskommissär und spätere Direktor des Statistisch-topographischen Büros Johann von Rheinwald am 20. Juni 1807 Genese und Ziel der Kartographie Bayerns mit emphatischen Worten und ordnete sie in den Gesamtrahmen der statistischen Professionen ein. Um seine Kräfte Weis (wie Anm. 8) Band 1, S. 341–345. – Spindler – Schmid (wie Anm. 7) S. 8, 20. – Vgl. auch Walter Demel, Der bayerische Staatsabsolutismus 1806/08. Staats- und gesellschaftspolitische Motivationen und Hintergründe der Reformära in der ersten Phase des Königreichs Bayern (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 76), München 1983. 23 Werner K. Blessing, Staatsintegration als soziale Integration. Zur Entstehung einer bayerischen Gesellschaft im frühen 19. Jahrhundert. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 41 (1978) S. 633–700, hier S. 636. – Vgl. auch Schlögl (wie Anm. 8) S. 251–259. – Behrisch (wie Anm. 7). 22
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möglichst rational zu bündeln und zielgerichtet für das Gesamtwohl einsetzen zu können, müsse sich der Staat umfassende Kenntnis verschaffen, „worunter die geometrische Vermessung und Mappirung des Landes die erste und vorzüglichste ist, ohne welche die anderen hieher gehörigen Hilfsmittel der Volkszählung, Taxation des Vermögens, Erhebung und Kontrolle der Einkünfte usw. nie eine hinreichende Zuverlässigkeit, nicht richtiger Benutzung gewähren können“.24 Im selben Zusammenhang forderte der Ottobeuerner Benediktiner, Mathematiker und Landvermesser Ulrich Schiegg, der die wegweisende „Instruktion für die bey der SteuerMessung im Königreiche Baiern arbeitenden Geometer und Geodäten“ verfasst und am 12. April 1808 König Max I. Joseph übermittelt hatte, die zu erarbeitenden Karten müssten zu „allen Zwecken der Staatswirthschaft tauglich“ sein, von der Grundsteuererhebung über die Eröffnung von Arrondierungsmöglichkeiten bis hin zur Einschätzung und Verbesserung des „wahren Zustandes der Kultur des Landes“. Selbstsicher fügte er hinzu: „Ist die Detail-Messung vollendet, so besitzt der Staat einen Schatz, dessen Werth nicht mehr taxirt werden kann.“25 Von Joseph von Hazzi, Agrarexperte und Statistiker, vor und nach 1800 abwechselnd als Verwaltungsjurist im bayerischen und französischen Staatsdienst, war schon mehrmals die Rede, ferner davon, dass er zwischen 1801 und 1808 vier dicke Bände unter dem Titel „Statistische Aufschlüsse über das Herzogthum Baiern, aus ächten Quellen geschöpft“, publizierte, die auf den Ergebnissen der Volkszählung von 1794 basierten. Wie seine Zeitgenossen verband auch Hazzi die Zahlenwerke mit umfassenden Landesbeschreibungen, größtenteils nach eigenem Augenschein und bis ins kleine Detail von Wind und Wetter gehend (mit Tabellen zu jahreszeitlicher Temperatur, Obstblüte, Erntezeiten, Bodenbeschaffenheit, Mineralvorkommen oder Viehbestand einzelner Orte und Kreise). Obgleich insgesamt ziemlich kompilatorisch verfahrend und ohne rechte analytische Systematik, transportierte Hazzi mit seinem Werk die dezidierten Ansichten und Wertungen des aufgeklärten Reformers. Das beginnt mit dem bezeichnenden Motto „La vérité – rien que la vérité – toute la vérité“ und endet mit dem Bewusstsein, die Statistik sei für das Regierungsgeschäft das, „was im Reiche der Heilkunde die Anatomie ist“, der Weg die „Gebrechen und Krankheiten des Staates“ kenntlich zu machen, das Mittel Licht ins dunkle Labyrinth der Gesellschaft zu bringen – und entspre24 25
Zitiert bei Habermeyer (wie Anm. 14) S. 52. Zitiert bei Wolff (wie Anm. 14) S. 230.
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chend heilend zu wirken und Wege ins Glück zu finden.26 Ähnliche Formen empirisch forschender „Inaugenscheinnahme“, die dann in genaue Beschreibungen von Flurformen, Sozialstrukturen oder ökonomischen Nutzungsarten mündeten und zumeist mit den Ambitionen aufgeklärt leuchtender Volkspädagogik zum Frommen und Nutzen der Bauern und Bürger einhergingen, finden wir vielfach im zeitgenössischen Genre der Reiseliteratur oder Reisetagebücher.27 Ein letzter Gewährsmann für den damit verbundenen Objektivitätsanspruch (einschließlich der Lichtmetapher) kann uns Ignaz von Rudhart sein, der Anfang der 1820er Jahre die Statistikabteilung im bayerischen Finanzministerium geleitet hatte. Nach Ausscheiden aus dem Amt dokumentierte er seine Leistungen für den bayerischen Staat in einem ebenfalls äußerst materialreichen, dreibändigen Werk „Ueber den Zustand des Königreichs Baiern nach den amtlichen Quellen“ (1825 ff.), was nicht zuletzt hieß: nach den in seinem Büro erarbeiteten Statistiken. „Gleichsam aus einem Gusse“ wollte er darin ein detailliertes, empirisch fundiertes und „vollständiges Bild“ Bayerns vermitteln, damit der „Staat als [bürgerliches] Gemeinwesen“ und die „göttliche Ordnung“ von Natur und Gesellschaft klar erkennbar werde. Überdies sollten der Staats- wie der subsidiären Gemeinde- oder Kreisverwaltung ganz praktisch durch verlässliche Kenntnis der „Thatsachen von Land und Menschen“, der Bevölkerungsentwicklung, „von dem Wesen und der Art der Industrie, von ihren Verhältnissen zur Bevölkerung und zum Auslande […], von den einzelnen Gewerbsarten, ihren Leistungen, ihren Mängeln und Vorzügen“ usw. Mittel an die Hand gegeben werden, „das immer größere Wachsthum menschlicher Veredelung zu gewährleisten“ und ein „Herumtappen in der Finsterniß oder im Zwielichte ohne bestimmten Zweck oder doch ohne Sicherheit“
Joseph von Hazzi, Statistische Aufschlüsse über das Herzogthum Baiern, aus ächten Quellen geschöpft. Ein allgemeiner Beitrag zur Länder- und Menschenkunde, 4 Bände, Nürnberg 1801–08, hier Band 1, S. II–V. 27 Vgl. etwa J[ohann] K[aspar] R[iesbeck], Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland. An seinen Bruder in Paris, 2 Bände, [Zürich] 1783. – Johann Pezzl, Reise durch den Baierischen Kreis. Faksimileausgabe der 2. Aufl. von 1784, München 1973. – Joseph von Utzschneider, Reise-Tagebuch des Hofkammerrates Joseph von Utzschneider in den Bayerischen Wald 1788, hrsg. v. Ingeborg Seyfert, Zwiesel 1996. – Johann Ernst Fabri, Briefe eines Reisenden über das Hochstift Passau an seinen Freund zu ***, Nürnberg 1796, Nachdruck Passau 1975. 26
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zu verhindern. „O Natur! Schaffe Licht! damit zum rechten Wege – den Weg zu dir zurück wir finden!“28 Die Zitate verdeutlichen durchgehend den Geist des am französischen Vorbild geschulten aufgeklärten Etatismus und Empirismus mit seiner bürokratisch-zentralplanerischen Potenz und Professionalität und mit den angeblichen Notwendigkeiten, alles zu zählen und zu messen, zu klassifizieren und zu ordnen, zu bewerten und zu selektieren. Sie zeigen ein weiteres Mal die Ambivalenzen der Moderne: das Problem der technokratischen Überhöhung, des rationalen Missionarismus und der illiberalen Anmaßung, den einzig „rechten Weg“ zu weisen, also über Wirklichkeit und Fortschritt zu verfügen. Ihre Verfasser stehen da nur am Anfang einer langen, prägenden Entwicklung, die enorme Modernisierungschancen eröffnete, aber auch manche Kosten und Pathologien kannte. Der Grat von der Vermessung zur Vermessenheit war (und ist) immer ein schmaler.29 Und sie lassen eben nicht zuletzt erkennen, wie sehr mit der „technischen“ Vermessung von Räumen immer auch eine politische, ideelle und kulturelle verhandelt wird und selbst ein konstruktiv-konstitutiver Akt der Staatsbildung einhergeht. Zur historiographischen Kartierung – e i n k u r z e r Ep i l o g Das eben Gesagte gilt in gewisser Weise auch für die Zunft der (bayerischen) Landeshistoriker. Sie arbeiten ebenfalls nicht einfach „modellhaft“ in vorgegebenen Container-Räumen oder untersuchen diese. Nein – auch sie erschaffen diese selbst mit, modellieren sie nach ihren Perspektiven, konstruieren sie aus einem speziellen staatsbildenden Geist heraus. Als Probe aufs Exempel mögen hier nur die spezifische historiographische Kartierung des bayerischen Staates und die damit verbundene geschichtspolitische Funktion dienen, wie sie im „Historischen Atlas von Bayern“ Ignaz von Rudhart, Über den Zustand des Königreichs Baiern nach amtlichen Quellen, 3 Bände, Stuttgart-Tübingen 1825, Erlangen 1827, Zitate aus der Vorrede zu Band 1, S. III–VI, und zu Band 2, S. VI. 29 Zum Bild auch das Heft „Weltkarten. Eine Vermessenheit“ der Zeitschrift für Kultur „du“, Nr. 11/12, Dezember 2005/2006. – Inhaltlich genügt hier schon der Hinweis auf die Verwerfungen, die der aufgeklärte Geist in der Ära Montgelas selbst hinterlassen hat, etwa mit der rigiden, technokratischen Neukartierung von Verwaltungseinheiten (Kreisen) und den daraus resultierenden hitzigen Debatten um regionale Identitäten innerhalb Bayerns. 28
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zu finden sind. Der wurde als eines ihrer Hauptprojekte von der Münchner Spindler-Schule nach 1945/46 ins Werk gesetzt und versteht sich als rechts- und sozialhistorische Landesaufnahme und historisch-statistische Landesbeschreibung, orientiert an den Landgerichten älterer Ordnung bis 1862 und flächendeckend über Alt- und Neubayern hinweg. Der Atlas beschränkt sich dabei aber als Gesamtwerk keineswegs auf reine Deskription sine ira et studio, sondern zielt – in konzeptioneller Zusammenschau mit dem Handbuch der bayerischen Geschichte, dem Historischen Ortsnamenbuch oder dem Bayerischen Geschichtsatlas – auf eine bewusste Form retrospektiver Raumkonstruktion des modernen Staatsbayern. Letztlich handelt es sich um einen programmatischen Akt räumlicher Integration an sich disparater historisch-politischer Traditionen, recht eigentlich um eine Erfindung räumlicher Geschlossenheit und historischer Kohärenz, modern gesprochen: um ein Instrument des „doing territory“.30 Der Doyen selbst, Max Spindler, hat es gegenüber Ministerpräsident Hans Ehard mehrmals betont und so formuliert: Es gehe in all diesen Handbuch-, Lexikon- und Atlaswerken um die Demonstration von Wirkung und Zusammenhalt des bayerischen Staates, und darum, „durch Bearbeitung gesamtbayerischer geschichtswissenschaftlicher Aufgaben, […] den Zusammenhang zwischen den einzelnen Landesteilen enger zu gestalten“. In diesem Sinne verfolge die „wissenschaftliche Erforschung von Landesgeschichte“ zuvörderst ein „wichtiges staatspolitisches Interesse“, nämlich beim „Neubau des bayerischen Staates“ (nach den materiellen wie moralischen Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs) die Legitimierung der Einzelstaatstradition bewusstseinsmäßig abzusichern, die Landespolitik „nach Kräften […] zu unterstützen“ und den Föderalismus tagespolitisch zu stärken. Es waren und sind also nicht nur die Statistiker, Kartographen Rutz (wie Anm. 10). – Zur Historisierung des Historischen Atlasses vgl. Ott (wie Anm. 10) S. 118–120. – Werner K. Blessing, Landesgeschichtliche Arbeit in Bayern seit 1945. In: Haus der bayerischen Geschichte (Hrsg.), Methoden und Themen der Landes-, Regional- und Heimatgeschichte in Bayern, Sachsen und Thüringen. Kolloquiumsbericht, München 1991, S. 21–32, hier S. 25 f., 29. – Zuletzt widmete sich auch die Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 83 (2020) in einem eigenen Themenheft zum „Historischen Atlas von Bayern als Ideengeber und Rezipient“ der vergleichenden Einordnung des Atlasprojekts. – Ferner Sebastian Hiereth, Die bayerische Gerichts- und Verwaltungsorganisation vom 13. bis 19. Jahrhundert. Einführung zum Verständnis der Karten und Texte (Historischer Atlas von Bayern. Teil Altbayern), München 1950, mit dem Hinweis auf die volkspädagogische Funktion, den Lehrern und der Jugend Bayerns „einen sicheren Gang durch die geschichtliche Landschaft“ zu ermöglichen und so die „für jeden Staatsbürger notwendige Kenntnis der Entwicklung“ zu garantieren (S. 2 f.). 30
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und Ingenieure, die den Raum erfassen und vermessen, einteilen und integrieren, ordnen und erfinden. Auch die Historiker kartographieren auf ihre Weise und betätigen sich damit als aktive Produzenten geschichtspolitisch wirksamer Raumbilder.31
Vgl. zum Kontext Bernhard Löffler, Landesgeschichtsschreibung und Geschichtspolitik nach 1945. Das bayerische Beispiel. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 69 (2018) S. 199–217, hier S. 202 ff., 209 ff., u.ö. – Zitate Spindlers aus Briefen an Ehard von 1947 bei Andreas Kraus, Die staatspolitische Bedeutung der bayerischen Geschichte. In: Wilhelm Volkert – Walter Ziegler (Hrsg.), Im Dienst der bayerischen Geschichte. 70 Jahre Kommission für bayerische Landesgeschichte. 50 Jahre Institut für Bayerische Geschichte (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 111), 2. aktualisierte Auflage, München 1999, S. 1–17, hier S. 10, und Ulla-Britta Vollhardt, Zwischen Staatstradition und Regionalbewußtsein. Staatliche Heimatpolitik in Bayern nach 1945. In: Habbo Knoch (Hrsg.), Das Erbe der Provinz. Heimatkultur und Geschichtspolitik nach 1945 (Veröffentlichungen des Arbeitskreises Geschichte des Landes Niedersachsen [nach 1945] 18), Göttingen 2001, S. 117–142, hier S. 124 mit Anm. 23. 31
Patrona Bavariae seu omnium? Was Volksfrömmigkeit und Patriotismus miteinander zu tun haben. Eine Spurensuche im Münzschatz. Von Richard Loibl Historikerinnen und Historiker, die dem alten Ruf „ad fontes“ folgen, haben den Vorteil, neue Fragestellungen und Perspektiven auch aus dem Haptischen herleiten zu können. Mir ist es jedenfalls so ergangen, als ich im vergangenen Jahr eine kleine Münzsammlung im wahrsten Sinn des Wortes in die Hand bekam. Es waren größtenteils ganze und halbe Taler, überwiegend aus dem Süden des Alten Reiches, geprägt von etwa 1650 bis 1850. Zusammengekommen war die Sammlung weniger aus den Auktionen von Gorny über Hirsch bis Künker, sondern mehr aus den lokalen Angeboten von Händlern und Privatpersonen der Donaulande von Regensburg bis Linz. Was halt im Zeitalter des Eisernen Vorhanges und lange vor der Ära des Internets so ging, nicht nach Spitzenerhaltungen ausgesucht, sondern die gängige umlaufende Ware widerspiegelnd, die die Jahrhunderte in den Schatullen der Bürgerinnen und Bauern überdauert hatte. Diesem Bestand habe ich mich zugewandt, nachdem ich nach der fordernden Aufgabe der Gründung des Museums der Bayerischen Geschichte in Regensburg eine etwas ruhigere Tätigkeit gut gebrauchen konnte. Und dabei fiel mir gleich Folgendes auf: In der Sammlung überwiegen bei weitem die „Frauen- oder Madonnentaler“, die auch sonst sehr zahlreich vorkommen.1 So bezeichnete man an der Donau, aber auch im restlichen Bayern die Taler der bayerischen Kurfürsten und Könige, die auf der Rückseite die Darstellung der Maria Muttergottes zeigen, seit Kurfürst Max III. Joseph (regiert 1745–1777) mit der Umschrift PATRONA BAVARIAE, nach dem Standardwerk von Gerhard Schön exakt seit 1753.2 Die etwa 20 Frauentaler aus der Zeit Max III. Walter Grasser, Bayerische Münzen. Vom Silberpfennig zum Golddukaten, Nördlingen 1980, S. 109. – Dazu der Überblick von Anton Ziegenaus, Der Patronatsgedanke auf europäischen Marienmünzen. In: Manfred Hauke (Hrsg.), Maria als Patronin Europas. Geschichtliche Besinnung und Vorschläge für die Zukunft (Mariologische Studien 20), Regensburg 2009, S. 161–171. 2 Gerhard Schön, Deutscher Münzkatalog 18. Jahrhundert 1700–1806, 5. Auflage, Regenstauf 2019, S. 99–107. – Gleiches Ergebnis erbringt die Überprüfung bei Wolfgang 1
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Josephs, die ich in die Hand bekam, waren ganz eindeutig keine Kabinettstücke, sondern waren umgelaufen, an- bis abgegriffen, wie die Vorderseiten deutlich zeigen. Von der Haarpracht des Kurfürsten, die die weniger berührten Exemplare noch in den einzelnen Locken erkennen lassen, bis zum Ineinanderfließen von Haar und Gesicht, das Profil nur noch in den Umrissen kenntlich. Einige Stücke waren gehenkelt, gelocht oder gefasst, also auch als Schmuck in Charivaris oder Schützenketten verwendet und wertgeschätzt. Die Seite des Kurfürsten kam dabei anscheinend meist nach hinten. Hergezeigt hat man die Patrona Bavariae. Seltsamerweise ist sie oft schwer zerkratzt, ein Schicksal, das dem Kurfürsten auf der Vorderseite erspart blieb. Wir kennen das bei den bayerischen Münzen auch von den Wappentalern Max I. (IV.) Josephs sowohl aus seiner Zeit als Kurfürst wie als König (regiert 1799–1825). Von daher führt man diese Erscheinung auf die Justierungen zurück, die die bayerischen Münzbeamten mit der Feile vornahmen, um übergewichtige Münzen auf Normalgewicht zu trimmen.3 Freilich zeigen manche Münzen und von diesen gerade die Frauentaler einen derart heftigen Befund, dass man sich kaum vorstellen kann, dass er von bayerischen Beamten herrührt (und schon gar nicht, wenn man selber dazu gehört). Ob der Respekt vor dem Dienstherren so weit ging, ihn zu verschonen und dafür das Abbild der Muttergottes zu traktieren? Das will ich auch nicht so recht glauben. Es ist eines der ersten Rätsel, das mir die Sammlung stellt. Das gibt mir nun die Gelegenheit, für den Nicht-Numismatiker ein paar grundlegende Informationen zu den Talern anzubringen.4 Der Taler war die gängige Währungsmünze der Neuzeit. Als sich um 1500 der Silberertrag in Mitteleuropa vervielfachte – um 1540 könnte er schon um die Reinhard Otto Hahn, Typenkatalog der Münzen der bayerischen Herzöge und Kurfürsten 1506–1805, Braunschweig 1971, S. 59–67. – Vgl. auch Wolfgang Hahn – Adelheid Hahn-Zelleke, Die Münzen der baierischen Herzöge und Kurfürsten 1506–1806, Innsbruck 2007, S. 102–104. 3 Übergewichtige Münzen konnten durch Stückelschere oder Feile auf Normalgewicht gebracht werden, wodurch aber Spuren zurückblieben. Helmut Kahnt, Das Große Münzlexikon von A bis Z, Regenstauf 2005, S. 212. In Bayern erfolgte die Justierung durch Justierfeile untypischerweise nach der Prägung. Daher rühren die gleichmäßigen Feilstiche auf den Konventionsmünzen nach 1753 vielfach her. – Hahn (wie Anm. 2) S. 13. 4 Deutsche Taler von den Anfängen der Talerprägung bis zum Dreißigjährigen Krieg aus der Münzsammlung der Deutschen Bundesbank, Frankfurt am Main 1966, S. IX–XXVII. – Bernd Kluge, Münze und Geld im Mittelalter. Eine numismatische Skizze, Frankfurt 2004, S. 12–18. – Günther Probszt, Österreichische Münz- und Geldgeschichte, Band 2, 3. Auflage, Wien u.a. 1994, S. 371–373.
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Abbildungen 1 und 2: Auswahl von Frauentalern Kurfürst Max III. Josephs (Vorder- und Rückseite) (© Haus der Bayerischen Geschichte [HdBG]/Frauentaler).
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65.000 Kilogramm jährlich betragen haben – standen die Ressourcen für eine große Silbermünze zur Verfügung. Außerdem erreichten Warenumsatz und Geldumlauf eine Größenordnung, die die Nachfrage nach Münzen steigen ließ, die im Wert über den bis dahin üblichen bis 3 Gramm schweren Pfennigen und Groschen lagen. Damit füllten sie eine Lücke zwischen den Pfennigen und den Goldgulden und Dukaten. Der Anfang wurde in Italien mit der bis zu 10 Gramm schweren Lira und den Testone gemacht, bis dann in Tirol seit 1486 Groschen geprägt wurden, die das Äquivalent zum Goldgulden darstellten. Bei einem Wertverhältnis Gold zu Silber von 11 zu 1 (heute 70 zu 1) wog der sogenannte Guldiner 32 Gramm Silber, was wiederum ungefähr dem Gewicht einer Unze entsprach, weshalb auch die Bezeichnung „Uncialis“ vorkam. Die wichtigste kleinere Währung war der Kreuzer, der 60mal in einen Guldiner ging. Davon abgeleitet wurden die legendären Prägungen der Könige von Böhmen und Grafen von Schlick in Joachimsthal in Böhmen. Und von diesem Tal kommt der Taler und davon der Dollar, bis heute in der Hand von Millionen. Wissen muss man dazu, dass sich die großen Silbervorkommen Mitteleuropas um 1500 in den Tiroler Alpen, dem Harz und dem Erzgebirge mit seinem böhmischen Anteil um eben dieses Joachimsthal befanden. Dass beim Siegeszug des Talers Pleiten, Pech und Pannen zu verzeichnen waren, wollen wir an dieser Stelle nicht näher ausführen, sondern gleich in das Zeitalter unseres Frauentalers springen. Er wird auch als Konventionstaler bezeichnet, nach der 1753 zwischen Österreich und Bayern geschlossenen Münzkonvention. Danach wog der Taler 28 Gramm in 833 Silber, der halbe Taler = 60 Kreuzer 14 Gramm, der Vierteltaler = 30 Kreuzer 7 Gramm, 10 Kreuzer 3,89 Gramm, 2 Kreuzer 1,12 Gramm.5 Prägungen und Gewichte wurden beibehalten, obwohl Bayern rechnerisch umwerten musste, sodass hier das 20-Kreuzer-Stück 24 Kreuzer wert war, der Taler also nicht mehr 120, sondern 144 Kreuzer. Diesem leichteren bayerischen Kurs schloss sich bis 1765 der größte Teil Süddeutschlands an.6 Die bayerischen Prägungen zeigen bis hinunter zu den 10-Kreuzer-Stücken auf der Rückseite mit ebendieser Umschrift die Patrona Bavariae auf einem Sockel, der die Wertangabe enthält und von der in jeweils zwei ZifHahn (wie Anm. 2) S. 14. – Schön (wie Anm. 2) S. 99–114. Dietrich O. A. Klose, Die Münzen des Königreichs Bayern von 1806 bis 1918. In: Dietrich O. A. Klose – Franziska Jungmann-Stadler (Hrsg.), Königlich Bayerisches Geld. Zahlungsmittel und Finanzen im Königreich Bayern 1806-1918, München 2006, S. 1–71, hier S. 1. 5 6
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Abbildungen 3 und 4: Halber Taler, 20- und 10-Kreuzer-Münzen Max III. Josephs und Karl Theodors (Vorder- und Rückseite) (© HdBG/Frauentaler).
fern getrennten Jahreszahl flankiert wird. Daneben gibt es noch die Stücke mit dem bayerischen Wappen auf der Rückseite, bekrönt vom Kurfürstenhut, gerahmt durch den Orden vom Goldenen Vlies und bei den Talern gehalten von zwei Löwen. Diese Varianten sind jedoch seltener als die Frauentaler. Wir können also festhalten, dass die Patrona Bavariae zu Zeiten der Kurfürsten Max III. Joseph und Karl Theodor (regiert 1777–1799) den Bayern im wahrsten Sinne des Wortes alltäglich auf der Hand lag. Welche Mariendarstellung wurde aber dazu gewählt? Naheliegend wären natürlich die beiden Patrona-Bavariae-Figuren schlechthin gewesen: – die drei Meter hohe „Hausmadonna“ an der Westfassade der Münchner Residenz der Wittelsbacher Kurfürsten, von Hofbildhauer Hans Krumpper modelliert und 1615 von Bartholomäus Wengelein in Bronze gegossen sowie per Schild unterhalb der Figur als PATRONA BOIARIAE bezeichnet, und – der 2,15 Meter große Bronzeguss der hl. Maria, wohl von Hubert Gerhard modelliert und vor 1606 von dem Goldschmied Hans van
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Abbildung 5: Residenz München, Ansicht Westfassade „Patrona Boiariae“, Hans Krumpper, 1615 (© Bayerische Schlösserverwaltung, Fratelli Fabbri, Mailand; DE001078).
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der Pracht ziseliert. Ursprünglich für die Frauenkirche bestimmt und im Provisorium des dortigen Hauptaltars auch platziert, fand sie auf der 1638 aufgerichteten Mariensäule am später sogenannten Marienplatz ihre endgültige Aufstellung. Die ursprünglich auf zwei Bronzetafeln verteilte Inschrift nannte den bayerischen Kurfürsten Maximilian I. als Stifter aus Dank für die Errettung des Vaterlandes, seiner Städte, des Heeres, seiner selbst, seines Hauses und seiner Hoffnungen gewidmet DEO OPTIMO MAXIMO VIRGINI DEIAPARAE BOICAE DOMINAE BENIGNISSIMAE PROTECTRICI POTENTISSIMAE.7 Beide stehenden Figuren zeigen ikonographisch eine große Nähe zueinander. Sie gehen zurück auf die Vorstellung der apokalyptischen Frau aus der Offenbarung des Johannes: „Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone aus zwölf Sternen.“8 Sie wurde zunächst mit der Kirche, später mit der Muttergottes identifiziert. Die Mondsichel übernehmen beide Figuren aus dem Kanon der Attribute, die Madonna Krumppers zeigt auch noch den Sternenkranz. Hinzu treten bei beiden das Jesuskind, bei Krumpper dem Betrachter zugewandt, auf der Mariensäule die Rechte im Segensgestus, in der Linken den Reichsapfel. Maria selbst hält bei der Krumpper-Figur das Jesuskind im rechten Arm, in der linken Hand das Szepter. Bei der Mariensäule ist es genau umgekehrt. Beide Male trägt Maria Kronen, die der Krumpper-Figur erinnert an die älteren Kaiserkronen, diejenige der Mariensäule an die jüngeren Typen.9 Beide Figuren kann man mit Michael Hartig als Verbindung der apokalyptischen Frau mit Maria als Himmelskönigin deuten.10 Der Typus lag auf der Hand und erwies sich als absolut zeitgemäß, die Verbreitung geschah umgehend, wobei an dieser Stelle wegen ihrer ausnehmenden Qualität und Nähe nur
Gerhard P. Woeckel, Pietas Bavarica. Höfische Kunst und Frömmigkeit 1550–1848, Weißenhorn 1992, S. 46–98. 8 Offenbarung 12,1. – Anton Ziegenaus, Apokalyptische Frau. In: Remigius Bäumer – Leo Scheffczyk (Hrsg.), Marienlexikon, Band 1, St. Ottilien 1988, S. 190 f. – Vgl. Richard Loibl, Zur Geschichte der Endzeit. In: Herbert W. Wurster – Richard Loibl (Hrsg.), Apokalypse. Zwischen Himmel und Hölle, Passau 2000, S. 9–26. 9 Hermann Fillitz, Die österreichische Kaiserkrone, Wien 1959. – Karl Fürst Schwarzenberg, Die Sankt Wenzels-Krone und die böhmischen Insignien, Wien 1960. 10 Michael Hartig, Patrona Bavariae. Die Schutzfrau Bayerns, München 1948, S. 18 f. 7
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auf die Madonnenfigur des ehemaligen, 1626 aufgestellten Hochaltars der Stiftskirche am Nonnberg in Salzburg verwiesen sei.11 Markenbildend wurden, um einen modernen Begriff zu verwenden, beide Marienfiguren insofern nicht, als sie nicht unmittelbar Modell für die populärste Darstellung der Patrona Bavariae auf den Frauentalern standen. Zunächst einmal steht Maria hier nicht, sondern sitzt in einer Art Wolkenthron über der Mondsichel. Umrahmt wird sie von den Strahlen der Sonne, wie in der Apokalypse beschrieben. Der Sternenkranz sitzt hinter der Krone. Das Jesuskind hält Maria im linken Arm, der Reichsapfel liegt in seinem Schoß, die linke Hand hat es erhoben, weniger im Segensgestus als beinahe frech in den Himmel weisend. Das Szepter hält die Himmelskönigin, und das ist die zentrale Aussage dieses Bildes, in ihrer Rechten. Wer schuf diese, wie Gerhard Woeckel meint, künstlerisch eindrucksvollste Darstellung?12 Seit langem schreibt man sie dem Münzstempelschneider und Medailleur an der kurfürstlichen Münze in München Franz Andreas Schega (1711–1787) zu. Ebenso sieht das Paul Grotemeyer in der maßgebenden Arbeit zu Schega.13 Bereits zu Zeiten Kurfürst Karl Theodors war das Münzbild der Patrona Bavariae jedenfalls so unantastbar, dass es der Münzstempelschneider Johann Straub ohne jegliche Änderung übernahm. Nur am Rande sei bemerkt, dass es lohnenswert wäre, den Münzmeistern näher nachzugehen. Keinesfalls sollte man sie nur in der Rolle der sklavisch graphische Vorlagen abkupfernden Handwerker sehen, sondern eher als eigenständige Künstler. Bei Schega zeigt das allein schon die Heirat seiner Tochter mit dem Hofmaler Christian Wink. Dass die Habsburger Kaiser ihren Münzschneidern sogar Modell saßen, ist viel zu wenig im Bewusstsein der Forschung.14 Bei dem eben erwähnten Straub wäre zu klären, ob er in Verbindung mit der bayerischen Bildhauerfamilie steht.15 Für Schega als Inventor der populärsten Patrona Bavariae-Darstellung mag außerdem sprechen, dass in graphischen Werken von Altdorfer
Rudolf Guby, Hans Waldburger, Bildhauer zu Salzburg. In: Kunst und Kunsthandwerk 21 (1918) S. 373–394, hier S. 387. 12 Woeckel (wie Anm. 7) S. 50. 13 Paul Grotemeyer, Franz Andreas Schega 1711–1787, München 1971, S. 22. 14 August Loehr, Der Wandel des Münzbildes auf österreichischen Dukaten. Eine numismatisch-ikonographische Studie. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 48 (1934) S. 93–102. 15 Bei Peter Volk, Johann Baptist Straub, München 1984, S. 7–16 findet er sich in der Verwandtschaft nicht. 11
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über Dürer bis Schongauer keine Vorlage entdeckt werden konnte.16 Auch bei den in Süddeutschland tätigen Bildhauern und Malern lässt sich nichts dergleichen finden.17 Und selbst die vielen Mariengnadenbilder weisen in eine andere Richtung.18 Dass die Darstellung Schegas aber beinahe Gnadenbildstatus erreichte, zeigt, dass die prägende Gestalt des bayerischen Münzwesens des 19. Jahrhunderts, der Medailleur und Graveur Carl Friedrich Voigt (1800–1874), Schöpfer der bayerischen Geschichtstaler,19 für die, Gerhard Woeckel mag es mir verzeihen, eigentlich schönste, populärste und letzte bayerische Münze, den Frauentaler König Ludwigs II. (regiert 1864–1886), das Motiv Schegas übernahm und lediglich im Stil der Zeit modernisierte.20 Zusammen mit den das bayerische Staatswappen auf der Rückseite zeigenden Vereinstalern erreichte der Frauentaler jährliche Auflagen von über einer Million. Ebensoviel schaffte der Mariengulden König Maximilians II. von 1855, aufgelegt zur Wiederherstellung der Mariensäule im gleichen Jahr und deshalb auf der Rückseite die Gerhard zugeschriebene Patrona vorzeigend.21 Wenn man also die modernen Kriterien von Image- und Markenbildung anlegt – klare Benennung des Gegenstandes, Verknüpfung mit einem Bild und damit Ausformung der Wort-Bildmarke, schließlich vielfache Verbreitung durch effiziente Marketingstrategie – kann man als entscheidenden Zeitpunkt der Innovation die frühen Regierungsjahre Kurfürst Max III. Josephs benennen. Wichtige Vorstufen gehen dem zweifellos voran, vor allem in der Regierungszeit Herzog und Kurfürst Maximilians I. Wir werden darauf noch zurückkommen. An dieser Stelle ist es mir aber wichtig, die bisher unterbelichtete Rolle Max III. Josephs und des Medailleurs Schega bei der Bildfindung und Verbreitung der Patrona Bavariae festzuhalten. Vgl. z.B. Franz Winzinger, Albrecht Altdorfer Graphik, München 1963. Nur eine gewisse Nähe zeigen die Graphiken Nr. 87, Nr. 122, Nr. 133. – Ders., Wolf Huber. Das Gesamtwerk, 2 Bände, München-Zürich 1979. – Fedja Anzelewsky, Dürer Werk und Wirkung, Erlangen 1988. Nur entfernte Anklänge zeigen die Graphiken S. 21, S. 31, S. 45, S. 74. 17 Vgl. z.B. Herbert Schindler, Bayerische Bildhauer. Manierismus, Barock, Rokoko im altbayerischen Unterland, München 1985. – Peter Volk, Rokokoplastik in Altbayern, Bayerisch-Schwaben und im Allgäu, München 1981. 18 Vgl. z.B. Fritz Meingast, Marienwallfahrten in Bayern und Österreich, München 1979. 19 Klose (wie Anm. 6) S. 60. 20 Paul Arnold – Harald Küthmann – Dirk Steinhilber, Großer Deutscher Münzkatalog von 1800 bis heute, 30. Auflage, Regenstauf 2014, S. 94 Nr. 176. 21 Ebd. S. 92 Nr. 168. 16
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Abbildungen 6 und 7: Frauentaler Kurfürst Karl Theodors und der Könige Ludwig II. und Max II. (Vorder- und Rückseite) (© HdBG/Frauentaler).
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Wie wichtig sie über Bayern hinaus gewesen sein könnte, hätte ich im monotonen Sichten und Ordnen meines kleinen Münzschatzes beinahe übersehen. Denn unter meine Frauentaler rutschten mir plötzlich zwei Münzen aus der nämlichen Zeit, gleichen Gewichts (je 28 Gramm) und annähernd identischer Rückseite, jedenfalls klar mit Schegas Ausformung der Patrona Bavariae als Ausgangspunkt. Nur hieß sie plötzlich anders: nämlich PATRONA HUNGARIAE und PATRONA FRANCONIAE. Beim Wenden auf die Vorderseite erschien dann auch nicht Max III. Joseph, sondern die von zwei Engeln über das ungarische Wappen gehaltene Stephanskrone sowie eine auf Kaiser Joseph II. als Münzherren weisende Umschrift respektive das Konterfei des Fürstbischofs von Bamberg und Würzburg Adam Friedrich von Seinsheim (amtiert 1755 bzw. 1757– 1779).22
Abbildungen 8 und 9: Frauentaler aus Bayern, Würzburg und Ungarn (Vorder- und Rückseite) (© HdBG/Frauentaler).
Was war denn jetzt passiert? Beanspruchten die Ungarn und Franken die Muttergottes gleichermaßen als Schutzherrin wie die Bayern? Dann noch dazu mit der abgekupferten bayerischen Madonna Schegas? Oder 22
Schön (wie Anm. 2) S. 1330 Nr. 148 und S. 1404 Nr. 159.
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war es am Ende sogar Schega, der seine Madonna von den Ungarn oder den Franken abgeschaut hatte? Jetzt begann mein Rätsel richtig brisant zu werden. Zu lösen war es nur über die Rückverfolgung aller drei Entwicklungen. Beginnen wir mit Ungarn. Das Land besitzt eine große Münztradition, nachdem sich in Oberungarn und Siebenbürgen die maßgebenden europäischen Goldbergwerke befanden. Bereits Karl Robert von Anjou prägte als König von Ungarn bald nach 1300 nach Florentiner Vorbild Goldgulden mit seinem Wappen auf der Rückseite und dem ungarischen Landespatron, dem hl. König Wladislaus, auf der Vorderseite.23 König Matthias Corvinus (regiert 1458–1490) führte den für uns entscheidenden Wechsel herbei: Neben Wladislaus trat die Muttergottes bzw. ersetzte ihn sogar.24 Dabei lässt sie zunächst alle Anklänge an die apokalyptische Frau vermissen. Dargestellt wird sie sitzend mit dem Jesuskind im rechten Arm ohne einschlägige Attribute. Erst unter Wladislaw Jagiello (regiert 1490–1516) wird Maria bekrönt. Diese bekrönte Maria mit Kind wird unter den Habsburger Königen bzw. Kaisern die gängige Darstellung auf den Rückseiten der Gold- und Silbermünzen aus Ungarn, und nur auf diesen. Bei den in den Erblanden und in Böhmen geprägten Münzen erscheinen auf den Rückseiten Hauswappen, Reichsadler und Doppeladler. Erst unter König Matthias (regiert 1612–1619) wird das ungarische Marienmotiv in Richtung apokalyptische Frau verändert und erhält z.B. auf dem 1614 in Kremnitz geprägten Fünf-Dukaten-Stück Mondsichel, Szepter und Strahlenkranz.25 Seither erscheinen auf den ungarischen Prägungen diese sitzende Madonna sowie eine stehende Variante. Beide bleiben in der Darstellung den beinahe naiv wirkenden mittelalterlichen Motiven verpflichtet, bis dann auf den Prägungen Maria Theresias (regiert 1740–1780) und Kaiser Josephs II. (regiert 1780–1790) – nach dem Standardwerk von Rudolf Voglhuber genau seit 1767 – die an Schega orientier-
Loehr (wie Anm. 14) S. 96. Vgl. hierzu den Katalog zu der außergewöhnlichen Sammlung von Münzen und Medaillen mit Abbildungen der hl. Maria, die für den vorliegenden Aufsatz eine unverzichtbare Grundlage bot: Anton Ziegenaus – Ernst Stempfle, Mariengeprägt. Katalog zur Ausstellung im Diözesanmuseum Augsburg, Lindenberg 2020. Frau Kollegin Melanie Thierbach vom Diözesanmuseum Augsburg danke ich herzlich dafür, dass sie mir Katalog und damit Ausstellung in Corona-Zeiten zugänglich machte und freundlicherweise meinen Aufsatz redigierte. 25 Ebd. S. 140 Nr. 373. 23 24
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Abbildungen 10 und 11: Gulden Matthias Corvinus (© Diözesanmuseum St. Afra Augsburg/Sonderausstellung „Mariengeprägt“ Nr. 349).
Abbildungen 12 und 13: Denar Wladislav (© Diözesanmuseum St. Afra Augsburg/Sonderausstellung „Mariengeprägt“ Nr. 356).
Abbildungen 14 und 15: Dukat Matthias (© Diözesanmuseum St. Afra Augsburg/Sonderausstellung „Mariengeprägt“ Nr. 373).
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te „bayerische“ Mariendarstellung auftritt.26 Erst seit 1781 wird diese hl. Maria auf den Talern als PATRONA HUNGARIAE bezeichnet.27 Sie wird seither vorherrschend, bis Kaiser Franz Josef I. (regiert 1848–1916) auf ursprünglichere ungarische Varianten zurückgeht und auch die Umschriften in ungarischer Sprache einprägen lässt.28 Nachdem sich diese Entwicklung aufgrund des Münzreichtums in Ungarn besonders klar erkennen lässt, möchte ich sie gleich hier politisch einordnen. Die Anfänge der Mariendarstellung unter Matthias Corvinus sind in Zusammenhang mit seiner Legitimitätspolitik zu sehen. Als „Nationalkönig“ aus dem mittleren Landesadel und in Dauerkonflikt mit den Habsburgern stehend, dabei übrigens besonders von den führenden Wittelsbacher Herzögen von Niederbayern unterstützt, musste er sich um besondere Rechtfertigung bemühen. Dabei stilisierte er Ungarn als Vorhut der Christenheit sowohl gegen die böhmischen Utraquisten als auch gegen die Türken. Weitere wichtige Felder boten ihm Kunst- und Kulturpolitik, um sich als großer christlicher König durch Humanismus und Renaissance zu profilieren. Besonderen Wert legte er dabei übrigens auf Schaumedaillen in italienischer Tradition.29 Vorbildlich für die Mariendarstellung auf Münzen konnten aber nicht italienische Prägungen werden, wo Maria in Münzbildern kaum vorkam, sondern byzantinische Münzen, die bereits im 10. Jahrhundert auf der Rückseite die dem Kaiser die Hand auflegende Muttergottes zeigten.30 Mit Byzanz verband Ungarn die Frontstellung gegen das Osmanische Reich. Deshalb fand um 1600 auch die Darstellung der apokalyptischen Frau in Ungarn besondere Verbreitung, weil ihre Mondsichel als Symbol für das Osmanische Reich und damit die gesamte Darstellung als Verheißung des Sieges über die Türken gesehen wurde.31 Um 1770 wurde das Motiv nach bayerischem Vorbild barockisiert, wobei Rudolf Voglhuber, Taler und Schautaler des Erzhauses Habsburg 1484–1896, St. Pölten 1971, S. 337. – Vgl. auch Ziegenaus – Stempfle (wie Anm. 24) S. 156 Nr. 435. 27 Voglhuber (wie Anm. 26) S. 364 Nr. 295. 28 Vgl. Ziegenaus – Stempfle (wie Anm. 24) S. 135–163, dazu Voglhuber (wie Anm. 26) Tafeln S. 182–192 und Loehr (wie Anm. 14) S. 98. 29 Reinhard Stauber, Matthias Corvinus, Österreich und Bayern. Politik und Kultur 1470–1490. In: Herbert W. Wurster – Manfred Treml – Richard Loibl (Hrsg.), BayernUngarn. Tausend Jahre. Aufsätze zur Bayerischen Landesausstellung 2001, Passau 2001, S. 163–172. 30 Ziegenaus – Stempfle (wie Anm. 24) S. 30–32. 31 Márta Fata, Ungarn, das Reich der Stephanskrone, im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 60), Münster 2000, S. 225. 26
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anschließend zu klären ist, ob es sich ursprünglich um ein altbayerisches oder eher fränkisches Motiv handelt. Denn wie bereits erwähnt, erscheint auf den Konventionstalern des Fürstbischofs Adam Friedrich von Seinsheim das von mir bisher für Bayern und Schega reklamierte Motiv der apokalyptischen Himmelskönigin.32 Der erste Nachweis hierfür ist der 1763 erstmals geprägte Konventionstaler.33 Der halbe Konventionstaler von 1761 zeigt noch die uns mittlerweile hinlänglich bekannte stehende apokalyptische Gottesmutter, ebenso die 20- und 10-Kreuzer-Münzen von 1760 bis 1779,34 weist aber als erster die Umschrift PATRONA FRANCONIAE auf.35 Vor 1763 finde ich die sitzende apokalyptische Muttergottes bei den Würzburger Münzen nur auf einem Taler von Franz von Hatzfeld (amtiert 1631–1642) von 1638 auf der Rückseite relativ klein dimensioniert über dem Reichsdoppeladler mit der Umschrift CUSTODES INVICTI PATRIAE, während auf der Vorderseite der Patron des Bistums Würzburg, der hl. Kilian mit Herzogsschwert und Bischofsstab dominiert. Ferner ist sie auf einem undatierten Dukaten des Fürstbischofs Julius Echter von Mespelbrunn (amtiert 1573–1617) in vergleichbarer Konstellation36 und auf der Rückseite eines Spezereireichstalers des Fürstbischofs Johann Philipp von Greiffenclau (amtiert 1699–1719) von 1707 mit der Umschrift SUSCIPE ET PROTEGE37 zu sehen. Die Muttergottes sitzt hier, umfangen vom Strahlenkranz, auf dem Wolkenthron, aus dem die Mondsichel nur auf ihrer linken Seite hervorlugt. Kind, Szepter und Reichsapfel hält sie zusammen in ihrer Linken, während die Rechte das Jesuskind abstützt. Es ist eine ganz besonders gelungene Darstellung, auf die wir noch zurückkommen werden. Von den drei Frauentalern, von denen wir ausgegangen sind, bleibt der bayerische also der älteste, wenngleich mit knappem Vorsprung: Bayern seit 1753, Bamberg/Würzburg seit 1763, Ungarn seit 1767. Die Madonna Ziegenaus – Stempfle (wie Anm. 24) S. 103 Nr. 246. Schön (wie Anm. 2) S. 1404 Nr. 159. 34 Ebd. S. 1403. 35 Ebd. S. 1403 Nr. 130. 36 Ziegenaus – Stempfle (wie Anm. 24) S. 100 f. Nr. 236 f. – Siehe auch: John S. Davenport, German church and city Talers, Galesburg Illinois 1967, S. 324 Nr. 5976. – Klaus und Rosemarie Helmschrott, Würzburger Münzen und Medaillen von 1500–1800, Kleinrinderfeld 1977. – Robert Wagner, Die Münzen der Würzburger Bischöfe ab 1845– 1802, Würzburg 1977. – Ludwig Hartinger, Münzgeschichte der Fürstbischöfe von Würzburg, Leonberg 1996. 37 Schön (wie Anm. 2) S. 1389 Nr. 28. 32 33
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Abbildungen 16 und 17: Dukat Julius Echter (© Diözesanmuseum St. Afra Augsburg, Würzburger Prägungen/Sonderausstellung „Mariengeprägt“ Nr. 236).
Abbildung 18: Taler Hatzfeld (© Diözesanmuseum St. Afra Augsburg, Würzburger Prägungen/Sonderausstellung „Mariengeprägt“ Nr. 237).
Abbildungen 19 und 20: Doppeldukat Greiffenclau (© Diözesanmuseum St. Afra Augsburg, Würzburger Prägungen/Sonderausstellung „Mariengeprägt“ Nr. 239).
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Abbildungen 21 und 22: Salzburger Taler (Vorder- und Rückseite) (© HdBG/Frauentaler).
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als Patronin des jeweiligen Landes wird erstmals auf Münzen von 1753 bzw. 1761 bzw. 1781 (wieder in der Reihenfolge wie vorher) so bezeichnet. Um dieses Ergebnis richtig einordnen zu können, sei darauf hingewiesen, dass die Muttergottes auf Münzen und Medaillen ein durchaus beliebtes Motiv darstellt, wie der aktuelle Katalog des Diözesanmuseums Augsburg Mariengeprägt wunderbar aufzeigt. Auch besitzen unsere drei bevorzugten Modelle kein Monopol auf die schönsten Marientaler. Ganz am Anfang dieses Kataloges steht der Taler des Augsburger Fürstbischofs Johann Christoph von Freyberg (amtiert 1665–1690) von 1681, der es seiner Qualität nach mit allen in diesem Aufsatz besonders hervorgehobenen Münzen aufnehmen kann.38 Eine besonders reiche Tradition von Marienmünzen weist auch das Erzstift Salzburg auf. Hier finden sich nicht nur die beiden Varianten der apokalyptischen Muttergottes, sondern zudem noch Darstellungen der Gnadenfiguren von Altötting und Maria Plain. Diese Münzen zeigen aber auch den Unterschied zu unseren Favoriten in diesem Aufsatz: Maria spielt immer nur eine Nebenrolle, die Hauptperson bleibt der hl. Rupert, der Patron des Erzbistums. Dementsprechend erscheint die hl. Maria auch nie als Patronin Salzburgs.39 Warum aber weisen ausgerechnet das Königreich Ungarn, das Kurfürstentum Bayern und das Hochstift Bamberg/Würzburg die beschriebenen Berührungen und Übereinstimmungen auf? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zuletzt die bayerische Entwicklung zeitlich rückschreitend unter die Lupe nehmen. Das ist schnell geschehen, denn bei den Münzen der bayerischen Kurfürsten dominiert bereits vor den Prägungen Max III. Josephs die auf dem Wolkenthron sitzende Gottesmutter. Von daher wird schnell klar, dass sich Schega mit seinem Frauentaler in die Tradition stellt und die Darstellung sehr gekonnt modernisiert. Zudem bereinigt er das Motiv um das kurfürstlich-bayerische Wappen, das auf den Talern Karl Albrechts und Max Emanuels zur Darstellung der Gottesmutter hinzugenommen worden war.40 Ebenfalls werden Varianten ausgemerzt: die stehende apokalyptische Gottesmutter auf Dukaten und Doppeldukaten, bei denen das Jesuskind (!) dem kurfürstlich-bayerischen Wappen weichen musste,41 die das Jesuskind im rechten Arm tragende Madonna42 und Ziegenaus – Stempfle (wie Anm. 24) S. 8. Ziegenaus – Stempfle (wie Anm. 24) S. 123–129. – Günther Propszt, Die Münzen Salzburgs, Bâle-Graz 1959. 40 Hahn (wie Anm. 2) Nr. 199 und Nr. 248. 41 Ebd. Nr. 202 und Nr. 203. 42 Ebd. Nr. 248, Nr. 251–260. 38 39
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Abbildungen 23 und 24: Zwei Taler Maximilians I. von 1627 und Max Emanuels von 1694 (Vorder- und Rückseite) (© HdBG/Frauentaler).
schließlich die Himmelskönigin mit dem ihr huldigenden Kurfürsten bzw. Herzog.43 In gewisser Weise nimmt Schega wieder stärker Bezug auf die Taler Maximilians I. (regiert als Herzog seit 1598, als Kurfürst 1623–1651), der sich bereits klar auf die sitzende apokalyptische Himmelskönigin festgelegt hatte. Allerdings wechseln wie bei seinen Madonnen an der Residenz und auf der Mariensäule die Arme, auf denen Maria das Jesuskind hält. Bei den Münzen Maximilians zeigt sich auch die Nähe zum oben erwähnten Würzburger Taler von 1707. Aus der Reihe fällt dagegen der bayerische 43
Ebd. Nr. 9, Nr. 17 f, Nr. 180.
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Taler von 1626 und 1627 mit einer beinahe nazarenischen Deutung der Gottesmutter, der sogar das Szepter fehlt.44 Insgesamt gesehen kann es kaum verwundern, dass sich Schega auf den ersten Kurfürsten bezog. Gilt er schließlich bis heute als entscheidende Figur nicht nur der Gegenreformation, sondern auch bei der Verbreitung des Marienkultes. Damien Tricoire hat dies in seiner Arbeit Mit Gott rechnen an manchen Stellen in kritischer Auseinandersetzung mit der bayerischen landesgeschichtlichen Forschung besonders eindrucksvoll herausgearbeitet.45 Danach steht Bayern bezüglich seiner Marienverehrung „am Anfang einer europaweiten Welle“.46 Die Idee zur Assoziierung der Himmelskönigin mit Bayern datiert Tricoire ziemlich überzeugend in die Jahre unmittelbar nach 1613, wobei Maria in der 1615 erschienenen Bavaria Sancta noch gar nicht als Landespatronin vorkommt, worüber sich die Herausgeber der deutschsprachigen Version von 1715 nicht genug wundern können.47 Als ersten Beleg für das Landespatronat Mariens sieht Tricoire das oben bereits behandelte Marienstandbild an der Residenz von 1615/16. Diese Annahme kann ich insoweit stützen, als auf den bayerischen Münzen die Titulatur „Patrona Bavariae“ vor 1753 fehlt. Prägend bis dahin und bereits bei Maximilian I. war die Inschrift CLYPEUS OMNIBUS IN TE SPERANTIBUS. Während des Dreißigjährigen Kriegs bekam das marianische Landespatronat einen immer höheren Stellenwert. 1620 zog das bayerische Heer mit Marienbannern48 und dem Schlachtruf „Heilige Maria“ nach Böhmen und schließlich in die Schlacht am Weißen Berg bei Prag. Der Sieg über Ebd. Nr. 110. – Sehr schön zu sehen ist die Sonderstellung der attraktiven Münze auch bei John S. Davenport, German Secular Talers 1600-1700, Frankfurt 1976, S. 26 f. 45 Damien Tricoire, Mit Gott rechnen. Katholische Reform und politisches Kalkül in Frankreich, Bayern und Polen-Litauen (Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit 1), Göttingen 2013 wohl mit der gesamten älteren Literatur. – Siehe auch Klaus Schreiner, Schutzherrin und Schirmfrau Maria. Marienverehrung als Quelle politischer Identitätsbildung in Städten und Ländern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Dieter R. Bauer u.a. (Hrsg.), Patriotische Heilige. Beiträge zur Konstruktion religiöser und politischer Identitäten der Vormoderne (Beiträge zur Hagiographie 5), Stuttgart 2007, S. 253–308. 46 Tricoire (wie Anm. 45) S. 170. Hier auch der Verweis auf die nach Tricoire wenig analytische Geschichtsschreibung zur Patrona Bavariae. 47 Hierzu und zum folgenden ebd. S. 171–194. 48 Drei solcher Banner haben sich als Kriegsbeute in Stockholm erhalten. Zwei davon zeigen die apokalyptische Himmelskönigin. Hubert Glaser (Hrsg.), Um Glauben und Reich. Kurfürst Maximilian I. Beiträge zur Bayerischen Geschichte und Kunst 1573–1657 (Wittelsbach und Bayern 2, 1), München 1980, S. 389. 44
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den Wittelsbacher Winterkönig Friedrich V. sollte Maximilian 1623 den Kurfürstentitel einbringen. Den Triumph schrieb Maximilian mit Stiftertafel in der Münchner Frauenkirche der „maxima Boiariae patrona“ zu. Es folgten die Einführung neuer für alle Untertanen verbindlicher Marienfeste, die Förderung des Rosenkranzes und die bereits erwähnte Aufrichtung der Mariensäule. Bei jeder Ab- und Anreise in seine Residenzstadt begab sich der Kurfürst zur Mariensäule, was aufgrund ihrer öffentlichen und der Kirche ein Stück weit entzogenen Stellung nicht den gesamten Klerus begeisterte. Zusammenfassend betont Tricoire, dass das Marienpatronat gegenüber den älteren, in erster Linie dynastischen Heiligenpatronaten eine gewaltige Steigerung darstellte. Dieses Modell übernahm Österreich schrittweise von der Ernennung Marias zur Generalissima des Kaisers, ihre Aufnahme auf die Fahnen der österreichischen Armeen bis zur Errichtung von Mariensäulen in Wien und andernorts.49 Sogar für Polen und Frankreich sieht Tricoire den bayerischen Modellcharakter wirken. Seine Ergebnisse kann man mithilfe der Numismatik genauer einordnen. Zum einen wird dadurch die zeitliche Dimension besonders deutlich. Tatsächlich verlief die Etablierung der Gottesmutter als Landespatronin über einen viel längeren Zeitraum. Letztlich findet sie ihren Abschluss in Bayern erst in der offiziellen Anerkennung durch Papst Benedikt XV. 1916, eigentlich bereits in der Phase zunehmender Säkularisierung, die auch den Marienkult betraf.50 Einen zweiten Höhepunkt durch das klare Festschreiben des Motivs sowie der gesamten „Corporate Identity“ wird man in der Zeit Max III. Josephs nach 1753 sehen. Und selbst der erste Höhepunkt unter Kurfürst Maximilian I. hatte eine Vorgeschichte. Wie Tricoire nicht bemerkte, zeigen schon die Dukaten Herzog Albrechts IV. ab 1506 die vom Herzog verehrte Muttergottes, auf den Goldgulden der Herzöge Wilhelm IV. und Ludwig X. 1525 dann klar erkennbar als apokalyptische Frau.51 Susan Tipton, „Super aspidem et basiliscum ambulabis…“ Zur Entstehung der Mariensäulen im 17. Jahrhundert. In: Dieter Breuer (Hrsg.), Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 25), Wiesbaden 1995, S. 375–398. 50 Hartig (wie Anm. 10) S. 53 f. – Emmeram Ritter – Adolfine Treiber, 60 Jahre Fest Patrona Bavariae, Abensberg 1977, S. 59. – Georg Schwaiger, Maria Patrona Bavariae. In: Ders., Bavaria Sancta. Zeugen christlichen Glaubens in Bayern I, Regensburg 1970, S. 11–37, hier S. 35. – Josef Kreiml – Veit Neumann (Hrsg.), 100 Jahre Patrona Bavariae (Regensburger Marianische Beiträge 1), Regensburg 2017. 51 Hahn (wie Anm. 2) Nr. 9–11, Nr. 17 f, Nr. 29 f. 49
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Abbildungen 25 und 26: Goldgulden Albrechts IV. (© Diözesanmuseum St. Afra Augsburg/Sonderausstellung „Mariengeprägt“ Nr. 80).
Abbildungen 27 und 28: Doppeldukat Max I. (© Diözesanmuseum St. Afra Augsburg/Sonderausstellung „Mariengeprägt“ Nr. 86).
Abbildungen 29 und 30: Dukat Max I. 1645 (© Diözesanmuseum St. Afra Augsburg/Sonderausstellung „Mariengeprägt“ Nr. 97).
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Hier wiederum zeigt sich, dass die bayerische Entwicklung immer auch im europäischen Kontext zu sehen ist. Wie wir bereits bei den ungarischen Prägungen gesehen haben, gewinnt die hl. Maria im 16. Jahrhundert ganz allgemein an Bedeutung auf den Münzprägungen und darüber hinaus, was man in Zusammenhang mit der expansiven Politik des Osmanischen Reiches und dann natürlich auch der Reformation sehen kann. Dass man dabei den bayerischen Einfluss auch nicht überschätzen sollte, geht daraus hervor, dass die apokalyptische Himmelskönigin der bayerischen Prägungen explizit nicht von den Habsburgern für ihre österreichischen Länder und Böhmen übernommen wurde,52 sondern in einer sehr späten Phase nur für Ungarn, das eine ganz eigene, von Bayern unabhängige Tradition der Marienverehrung besaß. Wie kam es aber nun genau zur Übernahme der von Schega entwickelten Bild- und Wortmarke? Nachweislich bestanden Verbindungen nach Wien und Würzburg. Der Bruder Schegas, Johann Bartholomäus, war Stempelschneider in Wien. Den Ruf, 1756 die Nachfolge des Wiener Hofmedailleurs Matthäus Donner anzutreten, lehnte unser Schega aus gesundheitlichen Gründen ab. Für Adam Friedrich von Seinsheim, dessen Familie in Sünching bei Regensburg residierte, hat er anlässlich seiner Wahl zum Fürstbischof von Würzburg 1755 dann sogar drei Medaillen angefertigt.53 Interessanterweise lassen sich für die infrage kommende Zeit Aufenthalte Schegas sowohl in Würzburg als auch in Wien nachweisen.54 Freilich weisen die Initialen der Kremnitzer und Würzburger Prägungen auf andere Stempelschneider. Zimperlich war man zu dieser Zeit mit Urheberrechten nicht. Mit oder ohne Zutun Schegas hätte sein Motiv ohne negative Folgen für die Abkupfernden oder die Münzherren übernommen werden können.55 Interessant ist der zeitliche Zusammenhang mit der österreichisch-bayerischen Münzkonvention 1753. Diesem Abkommen schlossen sich auch weitere süddeutsche Staaten wie Würzburg an. Dass sich die fränkischen Bistümer Bamberg und Würzburg in ihrer Politik nicht nur an Österreich, sondern – falls nicht gerade in Auseinandersetzung mit dem Kaiser befindlich – Bayern anlehnten, liegt auf der Hand. Der Münzherr unseres Würzburger Talers Bischof Adam Friedrich von Seinsheim war Hier irrt Tricoire (wie Anm. 45) S. 187, der die Übernahme des Patrona-Motivs auf die Habsburger Taler generell behauptet. 53 Grotemeyer (wie Anm. 13) S. 9, S. 22. 54 Ebd. S. 10. 55 Loehr (wie Anm. 14) S. 101. 52
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1756 der erste Reichsfürst, der sich im Konflikt mit Preußen auf die Seite des Kaisers stellte.56 Bereits hundert Jahre vorher, genau 1649, war der von Johann Kuehn für Bayern verfasste Gesang „O himmlische Frau Königin, Du aller Welten Herrscherin“ für Franken übernommen und Maria als Herzogin von Franken umtituliert worden. Heute gilt die barocke Marienfigur auf der Alten Mainbrücke als die Darstellung der Herzogin von Franken schlechthin. Ähnlich wie beim Gesang wurde mit dem Motiv Schegas verfahren, nachdem im Würzburger Stadtbild vorher lediglich die älteren stehenden Variationen der apokalyptischen Himmelskönigin präsent waren.57 Damit erscheint es politisch hinlänglich erklärlich, wie die bayerische Mariendarstellung Schegas auf in Kremnitz und Würzburg geprägte Taler kommen konnte. Hinzu tritt ein weiteres Motiv aus dem Feld der Volksfrömmigkeit: Den Frauen- oder Madonnentalern wurde heilende bzw. helfende Wirkung vor allem bei Frauenleiden und bei der Geburt nachgesagt.58 Magische Münzen sind dabei gar nicht so zahlreich. Als hilfreich für die Tiergesundheit und gegen Schädlinge galten die Regensburger Schlüsselpfennige, die die Schlüssel des Stadtwappens zeigen, und die keltischen Regenbogenschüsselchen, die man, weil sie oft bei Starkregen ausgewaschen wurden, vom Himmel gefallen glaubte und als Mittel gegen die hinfallenden Krankheiten (z.B. Epilepsie) verwendete. Besondere Bedeutung allein schon wegen der großen Gefahren, die eine Geburt für Frau und Kind mit sich brachte, kam dabei den Frauentalern zu; aber nicht allen gleich. Als allein bzw. besonders heilwirksam galten die bayerischen Prägungen.59 Probszt vermutet den Grund darin, dass die bayerischen Frauentaler, die die apokalyptische Himmelskönigin im Großformat auf der Rückseite zeigen, die ältesten ihrer Art waren. Hinzufügen könnte man, dass gerade die Maximilianeischen Prägungen, weil damit Rudolf Endres, Franken in den Auseinandersetzungen der Großmächte bis zum Ende des fränkischen Reichskreises. In: Max Spindler – Andreas Kraus (Hrsg.), Handbuch der Bayerischen Geschichte, Band 3,1, 3., neu bearbeitete Auflage, München 1997, S. 496–517, S. 510. 57 Wolfgang Brückner, Frommes Franken. Kult und Kirchenvolk in der Diözese Würzburg seit dem Mittelalter, Würzburg 2008, S. 88–90. Heute gilt die barocke Marienfigur auf der Mainbrücke als Herzogin von Franken. 58 Hanns O. Münsterer, Die Münze in der Volksmedizin. In: Medizinische Monatsschrift 6. Juni 1957, S. 380–385 und 7. Juli 1957, S. 454–459. – Ders., Marienmünzen im Volksbrauch. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1960, S. 70–72. 59 Probszt (wie Anm. 39) S. 73. 56
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während des Dreißigjährigen Krieges der Sold ausgezahlt wurde, massenhaft vorkamen, was sich übrigens noch heute auf die (vergleichsweise niedrigen) Preise dieser Münzen auswirkt. Die Prägejahre 1624 bis 1628 gelten als die zahlenmäßig größten des ganzen Jahrhunderts.60 Die schon erwähnten immer nur auf der Marienseite zerkratzten oder abgeschabten Frauentaler erklären sich die Volkskundler nicht so sehr aus den Justierungen, sondern vielmehr als Abschabungen, die man vornahm, um „heiligen Staub“ zu gewinnen. Aufgelegt auf offene Wunden schrieb man ihm heilende Wirkung zu, wobei die keimtötende Wirkung von Silber bis heute unstrittig erscheint.61 Außerdem ist überliefert, dass die Einnahme von Abschabungen von Frauentalern als hilfreich bei verspäteter Geburt galt.62 Besondere Wirkung wurde dabei Frauentalern zugebilligt, auf denen Maria das Kind auf der rechten Seite trägt. Das könnte die oben erwähnte Vermutung von Probszt stützen, weil es, wie wir schon wissen, nur bei den älteren bayerischen Frauentalern vorkommt. Dabei gilt, dass die lange Tradition der herausgehobenen Marienverehrung
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Abbildung 31: Feilspuren auf bayerischen Wappen- und Frauentalern (© HdBG/Frauentaler).
Grasser (wie Anm. 1) S. 100. Hans Hohenegg, Zu den „zerkratzten Marientalern“ und dem „heiligen Staub“. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 24 (1970) S. 149–151. – Ebenso Walter Kühn, Münzen in der Volksmedizin. In: Hermann Maué – Ludwig Veit (Hrsg.), Münzen in Brauch und Aberglauben (Katalog zur Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum), Mainz 1982, S. 75 f. 62 Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens, Band VIII, Berlin-Leipzig 1936/37, Spalten 657–659. 60 61
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in Bayern, verbunden mit einer nachhaltigen Promulgation in modern anmutender Werbestrategie, derartigen Heilglauben sicherlich begünstigte. Der Marienkult lag in Bayern millionenfach auf der Hand. In Verbindung mit öffentlichen Monumenten, Feiertagen, Prozessionen, Kriegsfahnen und -geschrei erhielt er schon früh patriotische Bedeutung. Seine schönsten Ausformungen fand er in den Meisterwerken der Gebrüder Asam, wo sich in Weltenburg und Rohr der Marienkult ganz offensichtlich mit bayerischem Abbildung 32: Mariä Himmelfahrt, Rohr Patriotismus verband: (© Haus der Bayerischen Geschichte, sei es mit der durch Foto: www.altrofoto.de). die Patrona Bavariae beschirmten separaten Behandlung der bayerischen Herzen im Deckenfresko oder der Himmelfahrt Mariae am Hochaltar vor der kurfürstlich-bayerischen Fahne. Die gerne aufgestellte These, bayerisches Nationalbewusstsein sei erst im 19. Jahrhundert von den Wittelsbacher Königen geformt worden,63 erfährt damit den schlagenden Gegenbeweis.
Vgl. z.B. Manfred Hanisch, „Für Fürst und Vaterland“. Legitimitätsstiftung in Bayern zwischen Revolution 1848 und deutscher Einheit, München 1991.
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Abbildung 5: Residenz München, Ansicht Westfassade „Patrona Boiariae“, Hans Krumpper, 1615 (© Bayerische Schlösserverwaltung, Fratelli Fabbri, Mailand; DE001078).
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Abbildungen 6 und 7: Frauentaler Kurfürst Karl Theodors und der Könige Ludwig II. und Max II. (Vorder- und Rückseite) (© HdBG/Frauentaler).
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Abbildungen 21 und 22: Salzburger Taler (Vorder- und Rückseite) (© HdBG/Frauentaler).
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Abbildungen 23 und 24: Zwei Taler Maximilians I. von 1627 und Max Emanuels von 1694 (Vorder- und Rückseite) (© HdBG/Frauentaler).
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Abbildung 31: Feilspuren auf bayerischen Wappen- und Frauentalern (© HdBG/Frauentaler).
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Abbildung 32: Mariä Himmelfahrt, Rohr (© Haus der Bayerischen Geschichte, Foto: www.altrofoto.de).
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Archive als Orte für Wissenschaft und Forschung – Bestandsaufnahme und Perspektiven am Beispiel des Landesarchivs Baden-Württemberg Von Gerald Maier Wi r k u n g s f e l d e r u n d Au f g a b e n v o n A r c h i v e n Öffentliche Archive sind auf verschiedenen Feldern in der Gesellschaft aktiv und bedienen unterschiedliche Zielgruppen mit ihren Leistungen1: Als Dienstleister von Regierung, Verwaltung, Justiz und Parlament sind sie in die Strukturen des Verwaltungshandelns und in den „Life Cycle“ des Verwaltungsschriftguts eingebunden. Sie sind landeskundliche Kompetenzzentren und Informationsdienstleister und wirken damit aktiv an der kulturellen und historisch-politischen Bildung für die Allgemeinheit mit und schließlich sind sie auch außeruniversitäre Forschungs(infrastruktur) einrichtungen und damit ein Teil von Wissenschaft und Forschung. Dieses zuletzt genannte Wirkungsfeld ist Thema des vorliegenden Beitrags. Am Beispiel des Landesarchivs Baden-Württemberg wird konkret aufgezeigt, welche Aktivitäten es in Archiven auf dem Feld Wissenschaft und Forschung bereits gibt und wie mögliche Perspektiven aussehen. Archive und die Begriffe „ Fo r s c h u n g s i n f r a s t r u k t u r “ u n d „ Fo r s c h u n g “ Unter Forschungsinfrastrukturen werden diejenigen Einrichtungen, Ressourcen und Dienstleistungen verstanden, „die speziell für wissenschaftliche Zwecke errichtet, mittel- oder langfristig bereitgestellt werden und für deren sachgerechte Errichtung, Betrieb und Nutzung spezifische Kompetenzen erforderlich sind. Ihre Funktion ist es, Forschung, Lehre Siehe dazu Gerald Maier, Die Zukunft der Archive in der Informationsgesellschaft – Herausforderungen und Perspektiven. In: Brandenburgische Archive. Berichte und Mitteilungen aus den Archiven des Landes Brandenburg Nr. 36 (2019) S. 32–36, hier S. 32 (auch online: https://blha.brandenburg.de/wp-content/uploads/2020/03/Brandenburgische_Archive_ 36.pdf ). – Soweit nicht anders vermerkt, wurden alle Internetquellen im Frühjahr 2021 aufgerufen. 1
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und Nachwuchsförderung zu ermöglichen oder zu erleichtern“2. Betrachtet man die Fachaufgaben der Archive, dann ist offensichtlich, dass Bereitstellung von Archivgut in Form von Erschließungsleistungen, in Form des analogen oder genuin digitalen Archivguts selbst oder durch Reproduktionen davon eine typische Leistung einer Infrastruktureinrichtung für die wissenschaftliche Forschung darstellt. Man kann daher auch von primären Forschungsdaten sprechen, die Wissenschaft und Forschung zur Verfügung gestellt werden. Dabei erfolgt die Bereitstellung zunehmend überregional im Archivportal-D und dort auch in thematischen Clustern3. Darüber hinaus sind Archive selbst als Forschungseinrichtungen aktiv, indem sie sich an der Forschung bezogen auf das Archivgut und in verschiedenen Forschungsdisziplinen beteiligen. Dazu gehören v.a. die Archivwissenschaft, die Informationswissenschaft, die historisch arbeitenden Geisteswissenschaften, insbesondere die Geschichtswissenschaft und dort die Geschichtliche Landeskunde sowie die Historischen Grundwissenschaften und schließlich auch die zeithistorische Forschung in enger Verbindung mit den Sozialwissenschaften, insbesondere der Politikwissenschaft und Soziologie. Leiterinnen und Leiter von öffentlichen Archiven sind daher oft Antragsteller bzw. Mitantragsteller von DFG-Forschungsprojekten zu historischen Themenkomplexen4. Genannt sei hier nur als ein Beispiel das Projekt „Aufbau einer Infrastruktur zur Implementierung sachthematischer Zugänge im Archivportal-D am Beispiel des Themenkomplexes ‚Weimarer Republik‘”5. Das Projekt wurde gemeinsam bearbeitet vom Bundesarchiv, vom Landesarchiv Baden-Württemberg sowie von der Deutschen Nationalbibliothek und FIZ Karlsruhe als Partner für die Deutsche Digitale Bibliothek (DDB)6.
https://de.wikipedia.org/wiki/Forschungsinfrastruktur. https://www.archivportal-d.de/. 4 https://gepris.dfg.de/gepris/person/208130354?context=person&task=showDetail&id=20813 0354&. 5 https://www.archivportal-d.de/themenportale/weimarer-republik. 6 https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de. 2 3
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Fo r s c h u n g s i n f r a s t r u k t u r u n d Fo r s c h u n g in den Archivgesetzen Öffentliche Archive in Deutschland haben als rechtlichen Rahmen Archivgesetze, die einerseits ihren Überlieferungsbildungsauftrag und die Nutzung von Archivgut im Sinne eines besonderen Datenschutzrechtes regeln7, andererseits auch ihre Zuständigkeiten und Wirkungsfelder festschreiben. Dabei machen die aktuellen Archivgesetze bisher keine expliziten Aussagen zur Funktion von Archiven als Einrichtungen der Forschungsin frastruktur, wohl aber zum Forschungsauftrag von Archiven. Dieser ist in den Gesetzen durch die Auswertung von Archivgut konkretisiert8. So ist der Auswertungsauftrag im Archivgesetz Nordrhein-Westfalen durch die Begriffe „erforschen“ und „veröffentlichen“ umschrieben9. Ähnlich wie das Archivgesetz Nordrhein-Westfalen zählt das Bremische Archivgesetz „Erforschen“ und „Veröffentlichen“ zu den Aufgaben des Staatsarchivs10. Ein vergleichbarer Auftrag zur „Auswertung“, „Erforschung“ oder „wissenschaftlichen Verwertung“ des Archivguts findet sich sowohl im Bundesarchivgesetz11 als auch in fast allen Archivgesetzen der Länder. Weitergehender ist das Hessische Archivgesetz, bei dem in § 4 Abs. 6 dem Hessischen Landesarchiv der Status eines „Haus der Geschichte“ zuerkannt wird, d.h. es „wirkt an der wissenschaftlichen Auswertung der von ihm aufbewahrten Unterlagen sowie an der Erforschung und Vermittlung der Geschichte des Landes mit“12. Lediglich im Landesarchivgesetz Baden-Württemberg endet die Aufzählung der archivischen Aufgaben im Gesetzestext in § 2 Abs. 1 bei der Nutzbarmachung des Archivguts. Interessanterweise ist dann aber in der Gesetzesbegründung der Auswertungsauftrag wenigstens implizit enthalEines der ersten Archivgesetze in Deutschland ist das Landesarchivgesetz Baden-Württemberg von 1987 (1990, 2004), das voraussichtlich 2022 im Hinblick auf die neuen Herausforderungen in der Informationsgesellschaft revidiert werden wird. 8 Siehe dazu Martina Wiech, Auswertung des Archivguts. In: Irmgard Christa Becker – Clemens Rehm (Hrsg.), Archivrecht für die Praxis. Ein Handbuch (Berliner Bibliothek zum Urheberrecht 10), München 2017, S. 224–229. 9 § 2 Abs. 7 ArchivG NRW vom 16.5.1989/16.3.2010/16.9.2014. 10 § 1 Abs. 1 BremArchivG vom 7.5.1991/2.4.2019. 11 § 3 Abs. 5 BArchG vom 10.3.2017/4.12.2018. 12 § 4 Abs. 6 HArchivG vom 26.11.2012. Siehe unter https://landesarchiv.hessen.de/sites/lan desarchiv.hessen.de/files/HArchivG-20121126_GVBL24-458_0.pdf (aufgerufen 30.5.2021). 7
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ten, indem dort die Publikationstätigkeit insbesondere von Inventaren und Editionen zur Förderung der Forschung als Aufgabe genannt wird13. Bei der zurzeit anstehenden Revision des baden-württembergischen Landesarchivgesetzes ist aber nun vorgesehen, die gelebte Praxis auch über den impliziten Auswertungsauftrag hinaus auf den Feldern Forschungsinfrastruktur und Forschung im Gesetz festzuschreiben. Einige Archivgesetze beschreiben den Auswertungsauftrag der Archive nicht als eigenständigen Aufgabenbereich, sondern sprechen lediglich von einer „Mitwirkung“ oder „Teilnahme“ an der Forschung sowie einer Förderung der Forschung – so z.B. in § 7 Abs. 3 des Thüringer Archivgesetzes. Fo r s c h u n g s i n f r a s t r u k t u r u n d Fo r s c h u n g in Bezug auf Archivgut Das Wirkungsfeld „Forschungsinfrastruktur“ kann man bei öffentlichen Archiven in erster Linie am Archivgut und den damit verbundenen Kernaufgaben der Übernahme, Erschließung, Bereitstellung für die Nutzung – dazu gehört auch die Digitalisierung von Archivgut – und der Bestands erhaltung festmachen. Diese Kernaufgaben erledigen Archive zunächst unabhängig von der Zielgruppe innerhalb ihrer Linienorganisation oft in Verbindung mit Drittmittelprojekten. Kommt dabei die Zielgruppe Wissenschaft und Forschung ins Spiel, dann kann man Archive zurecht als Einrichtungen der Forschungsinfrastruktur bezeichnen. In der Tat sind Wissenschaft und Forschung eine wichtige Zielgruppe für Archive. Dies gilt ganz besonders für die Geschichtswissenschaft. Geschichtswissenschaft und Archive gehören eng zusammen14. Ohne die reichhaltige schriftliche Überlieferung in Archiven ist eine auf historischen Quellen basierte Forschung nicht möglich. Daher sind Archive als fest etablierte Gedächtnisinstitutionen und Forschungsinfrastruktureinrichtungen unverzichtbare Akteure in der historisch arbeitenden und insbesondere der geschichtswissenschaftlichen Forschungslandschaft. Sie sind damit ein in Landtag von Baden-Württemberg, Drucksache 9/3345. Abgedruckt In: Hermann Bannasch (Bearb.), Archivrecht in Baden-Württemberg. Texte, Materialien, Erläuterungen (Werkhefte der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, Heft 1), Stuttgart 1990, S. 105. 14 Siehe dazu Gerald Maier, Die Bedeutung der Archive für Forschungsdaten in der Geschichtswissenschaft. In: Die Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter, VHD Journal 9 (2020) S. 36–40 (auch online: https://www.historikerverband.de//fileadmin/_vhd/vhd_jour nal_2020-09_screen.pdf ). 13
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tegrales Element der übergreifenden Forschungsinfrastruktur der Bundesrepublik. Insofern steht es außer Frage, dass Archive auch den Aufbau der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) mitgestalten und ihre einschlägige Expertise und Kompetenzen in den Prozess einbringen. Der digitale Wandel betrifft Archive und so auch das Landesarchiv Baden-Württemberg auf vielfältige Weise und führt dort zu erheblichen Veränderungen in der Organisation und im Umgang mit Archivquellen. Ursprünglich analoges Archivgut, das inzwischen digitalisiert wurde, stellt das Landesarchiv genauso vor Herausforderungen wie rein digitale Überlieferung. Ihre Erschließung und Bereitstellung muss neu gedacht, die neuen Auswertungsmöglichkeiten digitaler Quellen in den Blick genommen werden. Liegt der Fokus der archivischen Fachaufgaben bei der Zielgruppe Wissenschaft und Forschung, also auf der Forschungsinfrastruktur, spielt die Einwerbung von Drittelmitteln insbesondere über die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) eine große Rolle15. Eine projektbezogene Förderung erfolgt hier über entsprechende Förderlinien vor allem für die Bereiche Erschließung und Digitalisierung von Archivgut. Noch wichtiger ist die Einwerbung von Drittmitteln dann, wenn Archive sich selbst an der Forschung beteiligen. Hier werden vergleichbar zur universitären Forschung wesentliche Erfolge durch Projekte mit Drittmittelförderung erzielt. Eingeworben werden diese Drittmittel vor allem über spezielle Förderprogramme des Unterhaltsträgers, der bundesweiten Forschungsförderung und über Förderprogramme der Europäischen Union. Auf europäischer Ebene ist zurzeit vor allem das Förderprogramm „Horizon 2020 research and innovation program“16 der Europäischen Kommission wichtiger Geldgeber. Auf nationaler Ebene sind neben der bereits erwähnten DFG die abgeschlossenen und laufenden Förderprogramme der Bundesministerien wie z.B. des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (Förderprogramm „eHeritage“)17, des Bundesministeriums für Wirtschaft Hervorzuheben sind hier v.a. die Förderprogramme „Digitalisierung und Erschließung“ (https://www.dfg.de/foerderung/programme/infrastruktur/lis/lis_foerderangebote/digitalisie rung_erschliessung/index.html) und „e-Research-Technologien“ (https://www.dfg.de/foerde rung/programme/infrastruktur/lis/lis_foerderangebote/e-research_technologien/index.html), in der Entwicklungsprojekte zum Auf- und Ausbau überregionaler, digitaler Informationsinfrastrukturen gefördert werden. 16 https://ec.europa.eu/programmes/horizon2020/ und https://www.horizont2020.de. 17 https://www.geistes-und-sozialwissenschaften-bmbf.de/de/eHeritage-1736.html. Das Förderprogramm besteht seit 2012. 15
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(Förderprogramm „InnoNet“)18 oder des Bundesministeriums der Finanzen („Wiedergutmachung“)19 zu nennen. Auf Ebene der einzelnen Bundesländer gibt es dann ebenfalls Förderprogramme zur Forschungsförderung, an denen sich auch die öffentlichen Archive beteiligen können. In Baden-Württemberg sind dies aktuell z.B. das Programm „digital@bw“20 des Ministeriums für Inneres, Digitalisierung und Migration Baden-Württemberg oder die Landesinitiative „Kleine Fächer“21 des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg. Wenn Archive selbst Forschung betreiben, ist auch diese aus dem Archivgut abgeleitet. An erster Stelle ist dabei die Archiv- und Informationswissenschaft zu nennen. Archive betreiben hier insbesondere angewandte Forschung in den Bereichen der archivischen Fachaufgaben. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Entwicklung von Methoden und IT-Fachanwendungen für die Archivierung genuin digitaler Unterlagen, die Digitalisierung von Archivgut sowie die Bereitstellung von digitalisiertem Archivgut im Kontext der Erschließung. Ein wesentliches Ergebnis dieser Forschung sind archivische Fachinformationssysteme mit Online-Modulen im Internet und speziellen Softwarelösungen für die Archivierung digitaler Unterlagen. Eng verbunden damit sind als weiterer Bereich die Konservierungsund Restaurierungswissenschaften, in denen ebenfalls Methoden, Workflows, technische Verfahren, aber auch Hard- und Softwareentwicklungen zur Konservierung und Restaurierung analoger Objekte, reprografischer Formen von Archivgut und die Erhaltung digitaler Informationen entwickelt werden. Ein weiterer größerer Bereich für Forschungsaktivitäten sind die historischen Wissenschaften, allen voran die Geschichtswissenschaft, aber auch die Sozial- und Politikwissenschaft. Innerhalb der Geschichtswissenschaft ist vor allem – auch wieder aufgrund des auf einen Raum bezogenen Archivguts – die Landesgeschichtsforschung bzw. landeskund „Förderung von innovativen Netzwerken“ in den Jahren 1999–2008. Siehe dazu https:// fisaonline.de/forschung-strategisch-analysieren/uebersicht-foerderprogramme/details/?tx_fisare search_fundingprogrammes%5Bfp_id%5D=169&tx_fisaresearch_fundingprogrammes%5Bac tion%5D=fundingProgrammeDetails&tx_fisaresearch_fundingprogrammes%5Bcontroller%5 D=Researches&cHash=20877e1ec9c2cfed449af4ec5f601feb#more. 19 https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Oeffentli che_Finanzen/Vermoegensrecht_und_Entschaedigungen/2020-07-07-themenportal-wiedergut machung-zukunftsaufgaben.html. 20 https://www.digital-bw.de/foerderung. 21 https://mwk.baden-wuerttemberg.de/de/hochschulen-studium/hochschulpolitik/chancengleich heit/kleine-faecher/landesinitiative-kleine-faecher/. 18
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liche Forschung zu nennen. Hier spielt die überblicksmäßige landeskundliche Darstellung eines Raumes in Form von Publikationen und in Form eigens entwickelter landeskundlicher Informationssysteme eine wichtige Rolle. Neben der Landeskunde sind Archive und das wissenschaftliche Archivpersonal auch lehrend und forschend im Bereich der Historischen Grundwissenschaften, v.a. auf dem Feld der Quellenkunde, aktiv. Betrachtet man die Bedeutung der Historischen Grundwissenschaften, die heute zu den sogenannten Kleinen Fächern in der universitären Lehre gehören, dann stellt man fest, dass dieser Bereich ohne Beteiligung der Archive in der Lehre und Forschung der Hochschulen nicht mehr angemessen und sachgerecht abgedeckt werden könnte. Schließlich engagieren sich Archive auch im Bereich der historisch-politischen Forschung und Bildungsarbeit innerhalb der Zeitgeschichte im Rahmen von speziellen Forschungskooperationen, wie z.B. auf dem Feld der Extremismusforschung sowie der Personengeschichtsforschung, zu der z.B. die Aufarbeitung von Schicksalen der sogenannten Heim- und Verschickungskinder oder die Wiedergutmachung von NS-Unrecht gehören. H a n d l u n g s f e l d e r f ü r Fo r s c h u n g s i n f r a s t r u k t u r u n d Fo r s c h u n g i n A r c h i v e n Im Folgenden werden am Beispiel des Landesarchivs Baden-Württemberg die bereits oben erwähnten Handlungsfelder näher beschrieben, auf denen öffentliche Archive im Bereich Forschungsinfrastruktur und Forschung aktiv sind oder zukünftig aktiv werden sollten. Wissenschaftliche Lehre an Universitäten und Hochschulen unter Beteiligung von Archiven Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in öffentlichen Archiven sind nicht nur mit Themen der Forschung befasst, sondern wie bereits erwähnt auch in die wissenschaftliche Lehre und Ausbildung an Universitäten und Hochschulen eingebunden. So üben beim Landesarchiv Baden-Württemberg im April 2021 mehr als 20 Beschäftigte nebenberuflich Lehraufträge an Universitäten und Hochschulen aus, vorrangig an Universitäten und Hochschulen des Landes. Unter den Lehrbeauftragten gibt es sechs Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
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ter, die von der jeweiligen Universität oder Hochschule zu Honorarprofessorinnen und ‑professoren bestellt worden sind. Abgedeckt wird dabei ein breites Feld an wissenschaftlichen Disziplinen: Neun Personen unterrichten in den Archiv- und Informationswissenschaften an der Archivschule Marburg, an der Fachhochschule Potsdam und an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart22, eine Person in Verwaltungswissenschaft an der Hochschule Kehl, eine Person im Studiengang Sicherheitswesen an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Karlsruhe23, drei Personen im Studiengang Papierrestaurierung im Bereich der Restaurierungs- und Konservierungswissenschaften an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart24 und schließlich acht Personen im Bereich der Geschichtswissenschaften mit Schwerpunkt Landesgeschichte und Historische Grundwissenschaften an den Landesuniversitäten Freiburg, Heidelberg, Mannheim, Tübingen und Stuttgart. In der früheren Abteilung Landesbeschreibung und Landesforschung des Landesarchivs, die im Rahmen von Rationalisierungsmaßnahmen 2010 mit der Abteilung für den archivfachlichen Grundsatz zusammengeführt worden ist, waren zudem mehrere habilitierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Fachdisziplinen Geschichtswissenschaft und Geografie tätig. Eine dieser Personen wechselte auf einen historischen Lehrstuhl einer Landesuniversität und verfolgt bis heute von dort aus eine enge Zusammenarbeit mit dem Landesarchiv. Für die Hochschulen und das Landesarchiv ergeben sich dadurch wichtige Synergien vor allem in der Weiterentwicklung der archivischen Fachaufgaben, der damit verbundenen Informationstechnologie, der historischen Bildungsarbeit, der Akquise geeigneten wissenschaftlichen Nachwuchspersonals und bei gemeinsamen Forschungsprojekten.
Zum Studiengang „Konservierung und Restaurierung neuer Medien und digitaler Information“ siehe https://www.abk-stuttgart.de/knmdi.html. 23 https://www.karlsruhe.dhbw.de/she/studieninhalte-profil.html. Der Studiengang umfasst die Bereiche Arbeitssicherheit, Strahlenschutz und Umwelttechnik. 24 Zum Studiengang Papierrestaurierung siehe https://www.abk-stuttgart.de/papierrestaurie rung.html. 22
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Archiv- und Informationswissenschaft Bewertung und Übernahme von Archivgut Innerhalb der Archivwissenschaft spielt bei der Überlieferungsbildung seit jeher die Entwicklung von Bewertungstheorien sowie von Bewertungsmodellen eine große Rolle. Dabei zeigt sich aber immer mehr, dass die praktische Anwendung von Bewertungsprinzipien und -modellen durch das Massenproblem im Bereich des analogen Schriftguts und der sich abzeichnenden „Big Data“-Situation im Bereich der genuin digitalen Überlieferung neue archivwissenschaftliche Herausforderungen generiert. Daher ist es nur folgerichtig, dass auch neue anwendungsorientierte Forschungsfelder wie die Entwicklung von Software-Tools für die Bewertung und Übernahme von Unterlagen entstehen. Das Landesarchiv Baden-Württemberg hat seit dem Jahr 2015 aus der archivfachlichen Praxis heraus ein solches Software-Tool unter dem Namen „Selesta“ zusammen mit einem Software-Dienstleister entwickelt, das das Bewerten von Massenschriftgut, d.h. massenhaft gleichförmiger Fallakten insbesondere der Justiz, erheblich verbessert. Erstmals öffentlich vorgestellt wurde Selesta in der Zeitschrift „Archivar“ im Mai 201725. Bei der Bewertung von Massenakten wird in der Regel aus einer großen Fallmenge eine viel kleinere herausgesucht. Dies geschieht nicht nur durch Zufallsauswahl26, sondern vor allem durch das Hervorheben einer ganzen Reihe von Kriterienkonstellationen, die für die künftige historische Forschung und die Auswertung des Archivguts von Interesse sein könnten. Dieses mehrdimensionale Vorgehen prägt seit langem die archivische Arbeitsweise beim Bewerten und ist auch international das übliche Vorgehen27. Selesta kann Elke Koch – Kai Naumann – Jochen Rees – Annette Riek – Sabine Schnell – FranzJosef Ziwes, Bewertungsautomat statt Autopsie: sind jetzt zehntausend Akten in zehn Sekunden bewertet? In: Archivar 70 (2017), Heft 2, S. 173–177 und Kai Naumann, Neues vom Bewertungsautomaten. Workshop über Selesta in Stuttgart und Ludwigsburg. In: Archivar 73 (2020), Heft 1, S. 163–164. 26 Siehe dazu Matthias Buchholz, Archivische Überlieferungsbildung im Spiegel von Bewertungsdiskussion und Repräsentativität (Landschaftsverband Rheinland, Archivhefte 35), 2., überarbeitete Auflage, Köln 2011. 27 Albrecht Ernst u.a., Überlieferungsbildung bei personenbezogenen Unterlagen. In: ������� Archivar 61 (2008), Heft 3, S. 275–278. – Yunhyong Kim – Seamus Ross, Closing the loop: Assisting archival appraisal and information retrieval in one sweep (Konferenzpapier ASIST 2013, November 1–6, 2013, Montreal, Quebec, Canada), insbes. S. 8 f., online: https://www.academia.edu/10968280/. 25
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einen großen Teil der Kriterien, die in Bewertungsmodellen für Menschen zur Aktenauswahl formuliert werden, durch mehrere nacheinander und parallel ablaufende Datenbankabfragen anwenden. Technisch gesehen ist Selesta eine sogenannte LAMP-Anwendung in Webtechnologie28. In der vorliegenden Version wurde Selesta noch als Tool für die Bewertung von analogen Massenakten entwickelt. Die zukünftige Herausforderung liegt nun darin, ähnliche Tools für die Bewertung und Selektion von digitalen Massenakten zu entwickeln. Die dafür notwendige archivwissenschaftliche Bewertungsdiskussion wird zeigen, welche neuen Wege zu gehen sind, um das zu erwartende „Big Data“-Problem in den Griff zu bekommen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass für die Entwicklung der zukünftigen Tools der Einsatz von KI-Technologien Erfolg versprechend sein wird. Im Landesarchiv Baden-Württemberg gibt es seit 2016 eine eigene abteilungsübergreifende Arbeitsgruppe „Digitale Bewertungswerkzeuge“, die sich diesem Thema widmet und die Weiterentwicklung von Selesta und neuen Werkzeugen archivfachlich bzw. informationswissenschaftlich begleitet. Erschließung und Digitalisierung von Archivgut Die Erschließung von Archivgut ist heute immer eng mit der Digitalisierung von Archivgut verbunden. Beide Maßnahmen tragen wesentlich dazu bei, dass Archive ihre Aufgabe als Einrichtungen der Forschungsinfrastruktur wahrnehmen können, indem sie durch eine sachgerechte Erschließung und zielgerichtete Digitalisierung des Archivguts dessen Nutzung auch für die Zielgruppe Wissenschaft und Forschung ermöglichen. Um den Anforderungen an die Archive als Forschungsinfrastruktureinrichtungen gerecht zu werden, müssen im Rahmen der angewandten Archiv- und Informationswissenschaft Methoden, Standards und Werkzeuge für die Erschließung und Digitalisierung von Archivgut weiterentwickelt werden. Ebenso wie bei der Überlieferungsbildung ist hier das Massenproblem beim analogen und zukünftig das „Big Data“-Problem beim digitalen Archivgut eine der großen Herausforderungen. Im Rahmen einer möglichst umfassenden Digitalisierung von Archivgut wird dabei zunehLAMP ist ein Akronym für den kombinierten Einsatz von Programmen auf Basis von Linux (Linux-Apache-MySQL-PHP), um dynamische Webseiten zur Verfügung zu stellen. Als Datenbank-Engine kommt das MySQL-Derivat MariaDB zum Einsatz, die mit dem Skriptinterpreter PHP befüllt und ausgewertet wird. 28
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mend die Volltexterkennung neben die reine Image-Digitalisierung treten, die die Entwicklung neuer KI-unterstützter Methoden und Werkzeuge erfordert. Eine weitere Herausforderung ist die semantische Vernetzung der Informationen in spartenspezifischen und spartenübergreifenden OnlineInformationssystemen wie dem Archivportal-D innerhalb der Deutschen Digitalen Bibliothek oder dem landeskundlichen Informationssystem LEO-BW, die u.a. durch den Einsatz von Normdaten erfolgen kann. Hierfür müssen möglichst automatisierte Verfahren und Software-Werkzeuge für die Verschlagwortung entwickelt werden, die sich ebenfalls einer KIUnterstützung bedienen. Zusätzlich zur umfassenden Zugänglichkeit des Archivguts durch Erschließungsinformationen in Online-Findmitteln rückte für das Landesarchiv Baden-Württemberg bereits früh die Bereitstellung möglichst umfangreicher digitalisierter Unterlagen in den Fokus. So lag ein Schwerpunkt der bereits 2007 verabschiedeten Digitalisierungsstrategie auf der raschen Erhöhung der Online-Findmittelquote wie auch dem Ausbau der Infrastruktur zur komfortablen und nutzungsfreundlichen Präsentation von Digitalisaten. Das wachsende „Open Access“-Angebot und die möglichst kostenfreie Bereitstellung von Inhalten zielte neben der Forschung auch auf alle anderen Zielgruppen des Landesarchivs. Umgesetzt wird die Strategie in Abstimmung mit allen Abteilungen des Landesarchivs. Seit 2012 existiert zudem eine „Koordinierungsstelle Digitalisierung“, die den Workflow der Mikrofilmdigitalisierung koordiniert, bei der nachfrageorientierten Priorisierung der Beständedigitalisierung und der Einwerbung von Drittmitteln mitwirkt. Auf diese Weise konnte der Anteil der OnlineFindmittel in den letzten Jahren deutlich auf nunmehr ca. 65,5 % des gesamten Archivguts und die Zahl der im Internet verfügbaren Digitalisate auf fast 17 Millionen gesteigert werden. Mit Blick auf die begrenzten Spielräume im regulären Etat des Landesarchivs ist für den Erfolg der Archivgutdigitalisierung die Einwerbung von Dritt- und Sondermitteln von besonderer Bedeutung. Entsprechende Projekte werden seit Jahren mit Förderung der DFG, aber auch der Stiftung Kulturgut Baden-Württemberg29 erfolgreich durchgeführt. Nicht selten laufen in den einzelnen Abteilungen parallel Dritt- und Sondermittelprojekte mit unterschiedlichem inhaltlichen Fokus. https://mwk.baden-wuerttemberg.de/de/kunst-kultur/kultursparten/archivwesen-und-kultur gut. 29
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Neben die unter anderem auf die Bedürfnisse der Forschung ausgerichtete Datenbereitstellung treten dabei auch zunehmend eigene Forschungsaktivitäten des Landesarchivs im Bereich der Archiv- und Informationswissenschaft. So konnten in den vergangenen Jahren immer wieder Projekte umgesetzt werden, die in einem engen Forschungskontext standen und die weit über die bloße Bereitstellung digitalisierter Daten hinausgingen und -gehen. Bereits 2015 begann das Landesarchiv als eine der ersten Archivverwaltungen mit Projekten zur Klärung der Provenienz von Kulturgütern, bei denen während des Nationalsozialismus Eigentumswechsel stattfanden. Gefördert aus Mitteln des Deutschen Zentrums für Kulturgutverluste entsteht neben tief erschlossenen Online-Findmitteln mit forschungsbezogenen Angaben eine sachthematische Präsentation zu den im Landesarchiv vorhandenen Unterlagen zur Provenienzforschung30. Die jeweiligen Projektmitarbeiterinnen und Projektmitarbeiter sind zudem mit der entsprechenden Forschungscommunity vernetzt und im Austausch. Darüber hinaus hat ein zwischen 2015 und 2017 aus Sondermitteln des Landes gefördertes und zusammen mit der Universität Stuttgart durchgeführtes Forschungs- und Digitalisierungsprojekt eine themenbasierte und mit wissenschaftlichen Begleittexten versehene Präsentation zum Beginn der Weimarer Republik im landeskundlichen Informationssystem LEOBW erarbeitet31. Darauf aufbauend werden derzeit auch im Rahmen des Archivportals-D themenbezogene Präsentationen auf den Weg gebracht. Zwischen 2017 und 2020 hat das Landesarchiv anschließend mit Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung die älteste Luftbilderfassung des gesamten Bundeslandes aus dem Jahr 1968 nicht nur erschlossen und in Form von Einzelimages digitalisiert. Über ein Kooperationsprojekt mit dem Landesamt für Geoinformation und Landentwicklung gelang es darüber hinaus, die Bilder zu einem digitalen Orthophoto weiterzuverarbeiten und die vorhandenen Kenntnisse bezüglich der
https://www.landesarchiv-bw.de/de/landesarchiv/projekte/provenienzforschung-im-landesar chiv/61576. 31 https://www.leo-bw.de/web/guest/themenmodul/von-der-monarchie-zur-republik. Siehe dazu Andreas Neuburger – Simone Ruffer – Christina Wolf, „Von der Monarchie zur Republik“: ein Forschungs- und Digitalisierungsprojekt zur Demokratiegeschichte im deutschen Südwesten und seine Ergebnisse. In: Sabine Holtz – Gerald Maier (Hrsg.), Von der Monarchie zur Republik. Beiträge zur Demokratiegeschichte des deutschen Südwestens 1918–1923 (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen, 224), Stuttgart 2019, S. 3–14. 30
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Archivierung von Geodaten um solche zu deren Aufbereitung und GISPräsentation zu erweitern32. Zusätzlich zur inhaltlichen Erweiterung und Vertiefung des Angebots steht das Landesarchiv vor der ständigen Herausforderung, seine Infrastruktur und die selbst unterhaltenen Präsentationssysteme technisch und funktional weiterzuentwickeln. Neben der Optimierung etwa der Viewertechnologie für Digitalisate sind an dieser Stelle neue Services wie die Onlinebestellung von Reproduktionen über das Bestellsystem zu nennen33. Aus dem technischen Fortschritt ergeben sich dabei auch regelmäßig konzeptionell-strategische Fragen und Herausforderungen. Bei der Ausgestaltung der Forschungsdateninfrastruktur sind etwa die wachsenden Anforderungen an den Umfang und die Zugangs- und Nutzungsmöglichkeiten von Erschließungsdaten und insbesondere von Digitalisaten zu berücksichtigen. Einen zunehmenden Stellenwert bei der Weiterentwicklung der technischen Infrastruktur des Landesarchivs erhalten ferner Überlegungen, eine enge und direkte Verzahnung mit der Wissenschaftscommunity, aber auch mit Historischen Vereinen und bürgerwissenschaftlichen Projekten auf den Weg zu bringen. Konkret geht es hierbei darum, die Bereitstellung von „user generated content“ zu ermöglichen und entsprechende Daten in einem ersten Schritt in die Präsentationssysteme des Landesarchivs zu integrieren. Denkbar ist in diesem Zusammenhang neben der inhaltlichen Beschreibung etwa von Fotos, die Erstellung von Transkriptionen für einzelne Dokumente oder ganze Verzeichnungseinheiten, das Tagging von Personen und Orten oder die Anreicherung von Sachschlagworten oder Normdaten. Abhängig von Art, Umfang und Qualität der Daten können diese dann entweder als Forschungsdaten direkt im Kontext oder zusammen mit den vom Landesarchiv bereitgestellten Informationen präsentiert https://www.leo-bw.de/themen/virtuelles-kartenangebot/orthophoto-1968. Siehe dazu An dreas Weber, Virtuelle Landeserkundung der Vergangenheit. Projekt zur Erstellung eines digitalen Orthofotos von 1968 erfolgreich abgeschlossen. In: Archivnachrichten Nr. 61 (2020) S. 47. – Andreas Neuburger, Der Südwesten aus der Vogelperspektive. In: Momente. Beiträge zur Landeskunde von Baden-Württemberg 3 (2020) S. 22–25. 33 Siehe dazu Gerald Maier – Thomas Fricke, Bestellung und Lieferung von digitalen Reproduktionen aus Archiven über das Internet – Strategische und konzeptionelle Überlegungen. In: Gerald Maier – Clemens Rehm (Hrsg.), Archive heute – Vergangenheit für die Zukunft. Archivgut – Kulturerbe – Wissenschaft. Zum 65. Geburtstag von Robert Kretzschmar (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, Heft 26), Stuttgart 2018, S. 273–284 und Thomas Fricke, Direkt und bequem OnlineBestellung von Reproduktionen. In: Archivnachrichten Nr. 62 (2021) S. 54. 32
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werden. Unter bestimmten Voraussetzungen kann „user generated content“ die archivische Erschließung anreichern und ergänzen und so zur verbesserten Recherchierbarkeit archivischer Daten beitragen34. Neben der Bereitstellung von (Norm-)Indizes für Orte und Personen in digitalisiertem Archivgut sind vertiefende Erschließungsangaben dort möglich, wo beispielsweise aus universitären Forschungsprojekten heraus für das Archiv interessante Datenbestände entstehen. In dieser Zielrichtung können die Zugangs- und Präsentationssysteme des Landesarchivs somit als Plattform entweder für Forschungsprojekte oder aber für die Präsentation bestimmter sekundärer Forschungsdaten dienen. Bei allen Überlegungen hierzu bleibt dabei stets zu berücksichtigen, dass die Daten jenseits der eigenen Infrastruktur des Landesarchivs inzwischen längst Teil einer übergreifenden Portallandschaft mit jeweils eigenen Zugangs- und Recherchemöglichkeiten geworden sind. Das wichtigste Portal ist dabei das Archivportal-D innerhalb der DDB, auf das im Folgenden eingegangen wird. Das Archivportal-D als Zugangspunkt für primäre Forschungsdaten aus Archiven Für die Weiterentwicklung von öffentlichen Archiven zu Einrichtungen der Forschungsinfrastruktur spielt das Archivportal-D eine wesentliche Rolle. Für Wissenschaft und Forschung sind Archivgut und die damit verbundenen Erschließungsinformationen und Reproduktionen primäre Forschungsdaten, die im Archivportal-D in gebündelter Form nachgewiesen werden. Zunächst bietet das Archivportal-D einen Überblick über die deutsche Archivlandschaft und stellt insbesondere für wissenschaftliche Nutzerinnen und Nutzer umfassende Recherchemöglichkeiten in den Erschließungsdaten aller teilnehmenden Archive sowie gegebenenfalls eine Präsentationsmöglichkeit für Digitalisate zur Verfügung35. Für verschieAndreas Neuburger, Klares Handlungsfeld oder neue Spielwiese? Perspektiven der „Citizen Science“ für die archivische Erschließung. In: Tobias Herrmann u.a. (Redaktion), Verlässlich, richtig, echt – Demokratie braucht Archive! 88. Deutscher Archivtag 2018 in Rostock (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag 23), Fulda 2019, S. 109–118. 35 Vgl. zum Portal allgemein Christina Wolf, Eines für alle: das Archivportal-D. Neue Zugangswege zu Archivgut. In: Monika Storm u.a. (Redaktion), Neue Wege ins Archiv – Nutzer, Nutzen, Nutzung. 84. Deutscher Archivtag 2014 in Magdeburg (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag 19), Fulda 2016, S. 47–63. – Daniel Fähle – Ge34
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dene Forschungsansätze stehen unterschiedliche Rechercheansätze bereit: Eine spezifische Archivsuche nach Bundesland und Sparte in Kombination mit einer individuellen Eingabe über die Suchleiste führt schnell zu relevantem Archivgut eines bestimmten Archivs. Der Weg über die Archivtektonik eines einzelnen Archivs verdeutlicht Zusammenhänge und macht Bestände in ihren Kontexten sichtbar. Um die genannten Recherchefunktionalitäten zu ermöglichen, müssen verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein, die im Zusammenhang mit dem Aufbau der DDB und der Entwicklung des Archivportals-D erarbeitet werden: Dazu gehört zunächst ein einheitliches Lieferformat für den Export und die Übermittlung der Erschließungsinformationen und Digitalisate einschließlich der Erschließungsinformationen, wie es mit EAD(DDB) innerhalb der Community erarbeitet worden ist36. Ebenso müssen die fachlichen und technischen Voraussetzungen für den Einsatz von Normdaten in der Erschließung für die geografische und personenbezogene Recherche sowie die Anwendung einer sachthematischen Verschlagwortung parallel zur provenienzbasierten Erschließung für sachthematische Schwerpunkte innerhalb des Archivportals-D geschaffen werden. Damit die genannten Voraussetzungen auch für kleinere und mittlere Archive erfüllt werden können, ist der Aufbau von unterstützenden Strukturen und die Entwicklung geeigneter Software-Werkzeuge sinnvoll, die als Open Source nachgenutzt werden können. Im von der DFG geförderten Projekt „GND4C – GND für Kulturdaten“ bringt das Landesarchiv Baden-Württemberg seine Expertise in Sachen Normdaten ein37, um die Gemeinsame Normdatei (GND) auch für nicht-bibliothekarische Sparten wie Archive und Museen zu öffnen und deren Bestände und Kulturgüter fächer- und spartenübergreifend zu verknüpfen. Um die Verwendung von Normdaten im Archivbereich voranzutreiben, die Regelwerke an archivische Belange anzupassen und die Interessen der Archiv-Community in den wichtigen Steuerungsgremien zu vertreten, trat das Landesarchiv Ende 2020 als erster nicht-bibliothekarischer Partner der GND-Kooperative bei. Die im Rahmen des Projekts rald Maier – Tobias Schröter-Karin – Christina Wolf, Archivportal-D. Funktionalität, Entwicklungsperspektiven und Beteiligungsmöglichkeiten. In: Archivar 68 (2015), Heft 1, S. 10–19. 36 Zu EAD(DDB) siehe https://wiki.deutsche-digitale-bibliothek.de/pages/viewpage.action? pageId=19010180. 37 Projektbeschreibung und weitere Informationen auf der GND4C-Wiki-Seite: https:// wiki.dnb.de/pages/viewpage.action?pageId=134055796 (aufgerufen am 2.3.2021).
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Oberfläche des Themenportals „Weimarer Republik“ im Archivportal-D.
zusammen mit dem Bibliotheksservice-Zentrum Baden-Württemberg (BSZ) etablierte GND-Agentur „LEO-BW-Regional“38 bildet seit Ende 2020 eine erste Anlaufstelle für alle GLAM-Institutionen aus dem südwestdeutschen Raum, die sich für eine Einbringung ihrer Datenbestände in die GND interessieren und hierfür Beratung und technische Hilfe benötigen39. Webseite der Agentur: https://www.leo-bw.de/web/guest/gnd-agentur. Weiterführende Literatur zum Thema GND im archivarischen Bereich: Gerald Maier – Daniel Fähle – Andreas Neuburger, Bereitstellung, Aufbereitung, Langzeitsicherung. Funktionen der Archive in der Forschungsdateninfrastruktur. In: Archivar 73 (2020), Heft 1, S. 13–18. 38 39
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Neben dem Einsatz von Orts- und Personennormdaten für die semantische Vernetzung spielt der Einsatz von sachthematischen Schlagworten zunehmend eine Rolle für die Bereitstellung von Archivgut für Wissenschaft und Forschung. Innerhalb der Archivwissenschaft wird dieses Vorgehen kontrovers diskutiert, findet aber insbesondere bei den historisch arbeitenden Geisteswissenschaften großen Anklang, um bestimmte Themen systematisch zu bearbeiten. Innerhalb des Archivportals-D bieten das bereits gestartete Themenportal zur Weimarer Republik40 und das geplante Themenportal „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“, auf das unten noch näher eingegangen wird, mit einer intuitiven und thematischen Suche eine neue Herangehensweise an Archivgut, die insbesondere auch den wissenschaftlich Forschenden entgegenkommt41. Durch die Verknüpfung von Verzeichnungseinheiten und thematischen und geografischen Schlagwörtern wird ein neuer Zugang geboten. Dieses Archivgut lässt sich anhand von Themen filtern, auch wenn diese Begriffe nicht explizit in den Erschließungsdaten vorkommen, und nach geografischen Regionen einschränken. So lassen sich Archivalien – auch diejenigen, die sonst nicht in den Suchergebnissen aufgetaucht wären – schnell nach bestimmten Fragestellungen und Landesteilen filtern42. Mit der gemeinsamen Darstellung der Erschließungsleistung der deutschen Archive in einem übergreifenden Portal und der damit einhergehenden Etablierung eines einheitlichen Lieferformats trägt das ArchivportalD zur technischen und inhaltlichen Standardisierung der Erschließung bei und leistet einen nicht unerheblichen Beitrag zur Forschungsinfrastruktur im Archivbereich. Als Teil der DDB und Aggregator für die Europeana ist das Archivportal-D zugleich Teil einer spartenübergreifenden und europäischen Forschungsinfrastruktur für das digitale Kulturerbe43. Um die Partizipation kleinerer und mittlerer Archive an der DDB und dem Archivportal-D dauerhaft und nachhaltig zu fördern, führen das Landesarchiv Baden-Württemberg und FIZ Karlsruhe seit Februar 2021 ein von der DFG gefördertes Forschungsprojekt zur digitalen Informationsversorgung durch, mit dem Ziel, ein webbasiertes „Einfaches Erschliehttps://www.archivportal-d.de/themenportale/weimarer-republik. https://www.fiz-karlsruhe.de/de/forschung/archivportal-d-sachthematische-zugaenge. 42 Vgl. Nils Meyer, Sachthematische Zugänge im Archivportal-D. Archive und ihre Bestände zusammenführen und neu entdecken. In: Archivar 72 (2019), Heft 1, S. 37–39. 43 Vgl. Martin Reisacher – Wolfgang Krauth, Vernetzen als Herausforderung – die Deutsche Digitale Bibliothek. In: Archivnachrichten Nr. 51 (2015) S. 36 f. 40 41
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ßungs- und Zugriffssystem“ (EEZU) zu entwickeln44. EEZU soll kleinen und mittleren Archiven ermöglichen, ohne hohen finanziellen und technischen Aufwand Quellen digital zu erfassen, Digitalisate zu verwalten und über Informationsportale wie die DDB und das Archivportal-D bereitzustellen. Die Projektpartner entwickeln dazu eine webbasierte, intuitiv bedienbare Software mit fest eingebauter Exportfunktion für den Datentransfer zur Deutschen Digitalen Bibliothek. Eine Access-Plattform ermöglicht die Auslieferung von Digitalisaten in unterschiedlichen Auflösungen. Hinzu kommen Schnittstellen zu Langzeitarchivierungssystemen wie DIMAG oder RADAR45. Nächster Schritt in diese Richtung ist die gemeinsame Entwicklung eines neuartigen Archivischen Fachinformationssystems („AFIS Next Generation“), mit dem die technische Grundlage der Archivarbeit erstmals von Beginn an digital gedacht wird. Das Landesarchiv Baden-Württemberg hat dafür Ende 2021 mit FIZ Karlsruhe einen Kooperationsvertrag abgeschlossen, der auf eine längerfristige Zusammenarbeit der beiden Forschungsinfrastruktureinrichtungen auf dem Gebiet der angewandten Softwareentwicklung für den archivischen Bereich abzielt. Partizipation der Archive an der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) Eine wesentliche Herausforderung und Perspektive für Archive als Einrichtung der Forschungsinfrastruktur und Forschung ist die Partizipation an der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI)46, deren Ziele die systematische Erschließung, nachhaltige Sicherung, Zugänglichmachung und Vernetzung von Datenbeständen aus Wissenschaft und Forschung sind. Dabei gibt es folgende konkreten Herausforderungen: Eine erste ist die Weiterentwicklung des Archivportals-D bzw. der DDB als „Daten-Hub“ für primäre Forschungsdaten (d.h. analoges und genuin digitales Archivgut, Erschließungsinformationen, digitalisiertes Archivgut), die mit sekundären Forschungsdaten der Wissenschaft wie z.B. prosopographischen Auswertungen verbunden werden können47. Weitere Heraushttps://www.fiz-karlsruhe.de/de/forschung/eezu. Zu DIMAG siehe unten. Zu RADAR siehe https://www.fiz-karlsruhe.de/de/produkte-unddienstleistungen/radar. 46 Zur NFDI siehe https://www.nfdi.de und https://www.dfg.de/foerderung/programme/nfdi/. 47 So kann z.B. über sachthematische oder personenbezogene Nachweise im ArchivportalD die systematische Erforschung eines bestimmten Personenkreises in der sozialgeschicht44 45
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forderungen sind allgemein die Themenfelder „Access“, „Semantic Web“, „Interdisziplinarität“, „Standardisierung“ z.B. über Normdaten, „Technologieentwicklung“, „Datenmanagement und Datenvisualisierung“ (z.B. Knowledge Graph), „Schnittstellen“ sowie die Entwicklung von OnlineAngeboten in der Landesgeschichte und den Historischen Grundwissenschaften wie einer digitalen Quellenkunde48. Die NFDI besteht aus einem Verbund von gemeinsam von Bund und Ländern langfristig geförderten Konsortien. Für die Archive ist insbesondere das sich um eine Förderung bewerbende Konsortium „NFDI4Memory“ von Bedeutung49. Das Landesarchiv Baden-Württemberg wirkt dabei als „Co-Applicant“ mit und koordiniert zusammen mit FIZ Karlsruhe die Task Area „Data Services“. „Participants“ aus dem Archivbereich sind u.a. das Bundesarchiv, die Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns und das Hessische Landesarchiv. Ziel der Initiative ist es vor allem, Standards und Normen für historische Forschungsdaten zu etablieren, einschlägige Daten zugänglich zu machen wie auch dauerhaft zu bewahren und dabei deren Qualität und Nachnutzbarkeit zu gewährleisten. Neben den auf Forschungsdaten bezogenen archivischen Kernarbeitsfeldern wie der Zugänglichmachung von Erschließungsdaten und Digitalisaten sowie der Archivierung digitaler Forschungsdaten verfolgt das Landesarchiv innerhalb von NFDI4Memory das Ziel, auch archivische Metadaten und Digitalisate parallel zu den universitär und außeruniversitär entstehenden und vorgehaltenen Datenbeständen als Forschungsdaten zu verankern – und zwar gleichermaßen bezogen auf die analogen wie auch auf originär digitale Überlieferungen. Um die nationale Vernetzung der angestrebten Infrastruktur zu erleichtern und vor allem auch kleineren Archiveinrichtungen mit ihren Daten eine Beteiligungsperspektive zu bieten, bilden die DDB und das Archivportal-D einen zentralen und gezielt erweiterbaren Baustein des archivischen Angebots in NFDI4Memory.
lichen Forschung erleichtert werden. 48 Ein Beispiel dafür ist die „Südwestdeutsche Archivalienkunde“ in LEO-BW (https:// www.leo-bw.de/web/guest/themenmodul/sudwestdeutsche-archivalienkunde), auf die weiter unten noch eingegangen wird. 49 https://4memory.de/. Siehe dazu Johannes Paulmann – John Carter Wood – Fabian Cremer, Linkage – Digitale Gegenwart und Zukunft historischer Forschung. Die Ziele der Konsortialinitiative 4Memory. In: Die Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter, VHD Journal 9 (2020) S. 36–40 (auch online: https://www.historikerverband.de//fileadmin/_vhd/ vhd_journal_2020-09_screen.pdf, S. 26–34).
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Als Beitrag des Landesarchivs Baden-Württemberg zur NFDI ist in diesem Zusammenhang auch das Projekt FDMLab@LABW zu nennen, welches die technischen Fortschritte beim Einsatz künstlicher Intelligenz anhand konkreter Beispiele nutz- und anwendbar macht50. Das zunächst auf zwei Jahre ausgelegte Projekt startete im August 2020. Gefördert wird es im Rahmen der Zukunftsoffensive III vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg. Ziel ist der Aufbau eines Forschungsdatenzentrums und entsprechender Infrastruktur im Bereich E-Science. Dabei sollen Tools und Technologien evaluiert werden, die die Standardisierung, Verbreitung und Nachnutzung der primären Forschungsdaten rund um das Archivgut erhöhen. Das FDMLab widmet sich drei verschiedenen Arbeitsbereichen: der automatischen Texterkennung von digitalisiertem Archivgut mittels OCR und HTR für die Recherche in Volltexten, der Generierung zusätzlicher Erschließungsinformationen durch den Einsatz automatisierter Datenextraktion mit „Machine Learning“ sowie der Bereitstellung archivalischer Daten über Schnittstellen, die eine möglichst breite Nachnutzbarkeit der Daten ermöglichen51. Konservierungs- und Restaurierungswissenschaften Angewandte Forschung in Konservierung und Restaurierung von Archivgut Eng mit der Archivwissenschaft verbunden sind die Konservierungsund Restaurierungswissenschaften. Das Bindeglied ist dabei die Fachaufgabe „Bestandserhaltung“, d.h. die Erhaltung von analogem und digitalem Archivgut. Die angewandte Forschung im Bereich der Bestandserhaltung hat im Landesarchiv Baden-Württemberg – wie in vielen anderen Archiven – einen hohen Stellenwert, der sich in dem 1995 gegründeten Institut für Erhaltung von Archiv- und Bibliotheksgut als eigener Organisationseinheit widerspiegelt52. Das Institut bietet seit seiner Gründung nicht nur spartenübergreifende Serviceleistungen im Bereich der Restaurierung, https://www.landesarchiv-bw.de/de/landesarchiv/projekte/fdmlab%2540labw-/71653 und https://fdmlab.landesarchiv-bw.de/. 51 Vgl. dazu für Fotobestände: Andreas Weber, Potenziale digitalisierter Fotobestände für die Erschließung, Nutzung und Vermittlung in Archiven. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 67 (2020) Heft 5–6, S. 362–371, DOI: 10.3196/1864295020675688. 52 Siehe dazu Anna Haberditzl – Udo Herkert – Gerald Maier, Zwanzig Jahre im Dienst der Bestandserhaltung. Das Institut für Erhaltung von Archiv- und Bibliotheksgut in Ludwigsburg. In: Archivnachrichten Nr. 51 (2015) S. 40 f. 50
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Konservierung und Sicherungsverfilmung für das Landesarchiv und für die dem sogenannten Landesrestaurierungsprogramm angeschlossenen wissenschaftlichen Bibliotheken und Universitätsarchive des Landes Baden-Württemberg an, sondern führt auch selbst zusammen mit Kooperationspartnern angewandte Forschung im Bereich der Konservierung, Restaurierung, Mikrografie und Digitalisierung von analogem Archivgut durch. Eine enge Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Konservierungs- und Restaurierungswissenschaft besteht zwischen dem Institut für Erhaltung von Archiv- und Bibliotheksgut und dem Studiengang Restaurierung und Konservierung von Kunstwerken auf Papier, Archiv- und Bibliotheksgut an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Im Rahmen regelmäßiger Lehraufträge mit praktischen Workshops werden die Themen Notfallvorsorge, Papierspalten, Pergamentrestaurierung und Normung vermittelt. Praxisorientierte Forschung manifestiert sich in Semester-, Bachelor- und Masterarbeiten an diesem Studiengang; in den letzten Jahren wurden z.B. Arbeiten zur Beurteilung von Massenentsäuerungsverfahren, Fixierung von wasserlöslichen Schreibstoffen, Nachleimung von Papier sowie zu Tintenfraß an Pergament durchgeführt. Entwicklung einer digitalen Restaurierungsdokumentation Im Bereich der Restaurierung spielt die Dokumentation von Maßnahmen traditionell eine große Rolle – auch als Grundlage für die weitere
Restaurierungsdokumentation – Objektansicht einer Lieferung zu restaurierender Objekte.
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Forschung. Daher ist innerhalb der Restaurierungswissenschaften die Weiterentwicklung der Dokumentationsmethoden im Hinblick auf die Digitalisierung der Prozesse eine Herausforderung. Das Institut für Erhaltung von Archiv- und Bibliotheksgut im Landesarchiv Baden-Württemberg hat daher zusammen mit dem Studiengang Papierrestaurierung der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart in einem Forschungsprojekt einen Workflow und die notwendige IT-Anwendung für eine digitale Restaurierungsdokumentation entwickelt. Seit 2018 wird daher im Institut sukzessive die Verwaltung und Steuerung der Restaurierungsaufträge durch ein zentrales System mit Objekt- und Bearbeitungsdaten unterstützt. Das System ermöglicht darüber hinaus Restauratoren und Auftraggebern die Erstellung und den Zugriff auf die Restaurierungsdokumentation einschließlich digitaler Dokumentationsfotos. Die Dokumentation der Objekte stellt hierbei einen zentralen Baustein in der Restaurierung dar. Sie macht die Arbeiten am Objekt nachvollziehbar, legt signifikante Objekteigenschaften für eine erweiterte wissenschaftliche Erforschung der Archivalien offen und erweitert die Möglichkeiten ihrer digitalen Nutzung53. Digitale Transformation der Sicherungsverfilmung Innerhalb der Bestandserhaltung ist die Reprografie in Form der Mikrografie eine wichtige Aufgabe für Archive. Dabei wird auch im Zeitalter der Digitalisierung bewusst auf eine analoge Konversionsform als Sicherungsmedium für analoges Archivgut gesetzt. Gefördert wird diese Maßnahme seit 1961 im Rahmen der Bundessicherungsverfilmung54. Dabei werden die Archivalien des Bundes und der Bundesländer zu Sicherungszwecken mikroverfilmt und am Zentralen Bergungsort, dem Barbarastollen in Oberried im Schwarzwald, eingelagert55. Die Verfilmung ist eine Bundesaufgabe im Rahmen des Zivilschutzes, die der Bund selbst und die Länder im Auftrag des Bundes ausführen. Siehe hierzu auch Svenja Heidenreich – Thomas Fricke, In Ordnung (er)halten – Arbeitsabläufe gestalten. Ein neues System des Landesarchivs Baden-Württemberg für die Dokumentation und Auftragsverwaltung im Bereich Restaurierung. In: Archivar 72 (2019), Heft 2, S. 143–148. 54 Siehe dazu https://www.bbk.bund.de/DE/AufgabenundAusstattung/Kulturgutschutz/Siche rungsverfilmung/sicherungsverfilmung_node.html. 55 https://www.bbk.bund.de/DE/AufgabenundAusstattung/Kulturgutschutz/ZentralerBergungs ort/zentralerbergungsort_node.html. 53
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Die bewusste Entscheidung der Archive, auch in der digitalen Welt auf das analoge Sicherungsmedium mit einer physischen Haltbarkeit von mehreren hundert Jahren zu setzen, schließt nicht aus, dass das Aufnahmeverfahren auf eine digitale Aufnahmetechnik mit Scannen und Ausbelichten der digitalen Daten auf Mikrofilm umgestellt werden kann, um die neuen Möglichkeiten und Vorteile der Digitalisierung nutzbar zu machen. Daher hat sich das Institut für Erhaltung von Archiv- und Bibliotheksgut im Landesarchiv Baden-Württemberg schon Anfang der 2000er Jahre mit diesem Thema im Rahmen eines angewandten Forschungsprojekts beschäftigt, um insbesondere den auf analogem Weg aufwendig zu erstellenden Farbmikrofilm für die Sicherungs- und Schutzverfilmung besser nutzbar zu machen. Ziel war es, einen Workflow und die dafür notwendige technische Ausstattung für die Ausbelichtung digitaler Farbscans auf Farbmikrofilm zu entwickeln. Realisiert wurde dieses Vorhaben im Verbundprojekt ARCHE in den Jahren 2004 bis 200656, das im Rahmen des InnoNet-Programms vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit gefördert worden ist. Projektpartner waren das Fraunhofer-Institut für Physikalische Messtechnik IPM in Freiburg, die Universitätsbibliothek Stuttgart, das Landesarchiv Baden-Württemberg, die Firma MicroArchive Systems GmbH und weitere Industriepartner. Im Rahmen des ARCHEProjekts wurde vom Fraunhofer Institut für Physikalische Messtechnik ein Laserbelichter entwickelt, welcher es erlaubt, digitale Bilddaten mit sehr hoher Genauigkeit und Farbtreue auf alterungsbeständigem Farbmikrofilm zu speichern. Zielstellung des Teilprojekts der Universitätsbibliothek Stuttgart und des Landesarchivs Baden-Württemberg war die Entwicklung eines Workflows und der dazugehörigen technischen Lösung für die Ausbelichtung digitaler Dokumente auf Farbmikrofilm. Die Daten werden dabei in einer für den Mikrofilm optimierten Form aufbereitet, sodass zukünftige Redigitalisierungsprozesse möglichst automatisiert und fehlerfrei die analog gespeicherten Informationen zurücklesen können. Durch das Landesarchiv wurde der Prototyp einer Software entwickelt, welche digitale Bild- und Metadaten für die Ausbelichtung in analoger Form kombiniert. Innerhalb der Projektlaufzeit wurden im Ludwigsburger Institut ca. 1,2 TByte Daten aus ca. 6.000 Vorlagen gewonnen, welche aus dem Landesarchiv und Einrichtungen der Universität Stuttgart (Universitätsbibliothek, Universitätsarchiv, Institut für Leichtbau, Entwerfen Siehe dazu https://elib.uni-stuttgart.de/handle/11682/6060 und https://elib.uni-stuttgart.de/ handle/11682/6070. 56
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und Konstruieren) stammen. Anschließend wurden die Daten erfolgreich auf Ilfochrome-Farbmikrofilm ausbelichtet. Der erfolgreiche Verlauf eines vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe finanzierten Folgeprojekts veranlasste den Bund 2009 zum Ankauf des Prototypen, der im Institut für Erhaltung von Archiv- und Bibliotheksgut des Landesarchivs Baden-Württemberg erprobt worden war57. Seither werden mit dem ARCHE-Laserbelichter in Ludwigsburg Sonderprojekte der bundesweiten Sicherungsverfilmung durchgeführt. Ausbelichtet wurden bisher überwiegend hochwertige Farbscans von Objekten der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar und zuletzt Digitalisate von Handschriften des Beethoven-Archivs in Bonn. Von 2010 bis Ende 2020 wurden so insgesamt fast 377.000 Bilddateien in hoher Qualität auf langlebigem Farbmikrofilm gesichert. Insgesamt wurden in den beiden Projekten die Grundlagen für die Umstellung der Bundessicherungsverfilmung auf die digitale Ausbelichtung geschaffen, auch wenn diese nunmehr mit in der Zwischenzeit von kommerziellen Anbietern entwickelten Ausbelichtern für Schwarz-Weiß-Mikrofilm erfolgen wird, da der einzige langzeithaltbare Farbmikrofilm mit dem Konkurs der Firma Ilford Imaging Switzerland im Jahr 2013 zurzeit nicht mehr weiter produziert wird. Erhaltung digitaler Information („Digital Preservation“) Die Speicherung und Erhaltung genuin digitaler Unterlagen („Digital Preservation“) ist informationswissenschaftlich gesehen ein Teil der im OAIS-Modell beschriebenen Funktionalitäten und Verantwortlichkeiten eines digitalen Langzeitarchivs58. Es handelt sich hier um ein Forschungsfeld, das sowohl im Bereich der Archiv- und Informationswissenschaft als auch auf dem Feld der Konservierungswissenschaft angesiedelt ist.
Zum Folgeprojekt „Ausbelichtung von Farbdigitalisaten mit dem ARCHE-Laserbelichter. Erprobung des Echtbetriebs“ siehe https://www.landesarchiv-bw.de/de/themen/praesenta tionen---themenzugaenge/49137. 58 OAIS (Open Archival Information System) ist ein Referenzmodell für ein dynamisches, erweiterungsfähiges Archivinformationssystem, das im August 2012 als ISO-Standard 14721:2012 erstmals veröffentlicht wurde und seitdem ständig fortgeschrieben wird. Siehe dazu http://www.oais.info und nestor-ArbeitsgruppeOAIS-Übersetzung / Terminologie (Bearb.), Referenzmodell für ein Offenes Archiv-Informations-System (nestor-materialien 16), Frankfurt am Main 2013, auch online: https://d-nb.info/104761314X/34. 57
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Deutlich wird dies am Studiengang „Konservierung und Restaurierung neuer Medien und digitaler Information“ an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart59, der vom Landesarchiv Baden-Württemberg mitinitiiert worden ist und in dem mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landesarchivs als Lehrbeauftragte mitwirken. Das Ziel des 2006 gegründeten Master-Studiengangs ist das Vermitteln von Kenntnissen und Fähigkeiten zum langfristigen Erhalt digitaler Informationen wie Medienkunst sowie von digitalem Archiv- und Bibliotheksgut. Mit Beginn des Wintersemesters 2022/2023 wird der Studiengang als grundständiger Studiengang mit den Abschlüssen B.A. und M.A. mit der anschließenden Möglichkeit der Promotion weitergeführt. Im Bereich der angewandten Forschung liegt bei der digitalen Bestands erhaltung der Fokus vor allem auf der Entwicklung geeigneter Archivierungssysteme mit einer Komponente für ein „Preservation Planing“, das auf dem „Digitalen Magazin“ aufsetzt. Als eines dieser Systeme, das diese Anforderungen zu erfüllen versucht, hat das Landesarchiv BadenWürttemberg im Jahr 2006 das Archivierungssystem DIMAG entwickelt. Heute wird die Entwicklung von vier großen Partnern koordiniert und vorangetrieben. Neben dem Landesarchiv Baden-Württemberg sind dies das Hessische Landesarchiv, die Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns sowie die Digitale Archivierung Nord, die die Archivverwaltungen der Länder Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, MecklenburgVorpommern, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein umfasst60. Digitale Archivierung erfordert aber nicht nur technische Entwicklungen. Ebenso wichtig sind die Lernprozesse in Bezug auf die archivische Praxis61.
https://www.abk-stuttgart.de/knmdi.html. Siehe dazu zuletzt: Christian Keitel, Das Projekt DIMAG. Sachstand 2019. In: Karolína Šimůnková – Milan Vojáček (Hrsg.), 23. Tagung des Arbeitskreises Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen. 12. und 13. März 2019 in Prag, Prag 2020, S. 21–31, auch online: https://www.nacr.cz/vyzkum-publikace-akce/publikace/detail-publikace/23-tag ung-des-arbeitskreises-archivierung-der-unterlagen-aus-digitalen-systemen-am-12-und-13marz-2019-in-prag. 61 Christian Keitel, Digitale Archivierung beim Landesarchiv Baden-Württemberg. In: Archivar 63 (2010), Heft 1, S. 19–26. – Ders., Das Digitale Landesarchiv Baden –Württemberg. Eine Standortbestimmung. In: Archivar 68 (2015), Heft 4, S. 335–341. 59 60
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Geschichtliche Landeskunde und landesgeschichtliche Forschung Innerhalb der historischen Wissenschaft sind Archive insbesondere auf dem Feld der Geschichtlichen Landeskunde oder landesgeschichtlichen Forschung aktiv. So nimmt in der landeskundlichen Forschung BadenWürttembergs die sogenannte Landesbeschreibung seit jeher einen besonderen Stellenwert ein. Sie geht auf das „Statistisch-topographische Bureau“ zurück, das 1820 durch König Wilhelm I. für Württemberg eingerichtet worden war62. Im Gründungsdekret wurde der neuen Einrichtung die Aufgabe übertragen, „eine möglichst genaue und vollständige Landes-, Volks-, Staats- und Ortskunde zu liefern“. Die Landesbeschreibung hatte sich als „beschreibende Landeskunde“ im späten 18. Jahrhundert herausgebildet. Sie wurde von der führenden „Göttinger Schule“ als „Statistik“ bezeichnet. „Statistik“ wurde dabei als „Staatswissenschaft“ einzelner Territorien verstanden, die komplementär zur allgemeinen Staatswissenschaft, der Politik, die realen Gegebenheiten regionaler Räume oder Länder deskriptiv vorstellte. Bezugsgrößen in der Arbeit des Statistisch-topografischen Bureaus waren entweder das ganze Königreich Württemberg (in mehrbändigen Übersichtsdarstellungen) oder das Oberamt als regionale Verwaltungseinheit. Die Tradition der württembergischen Landesbeschreibung wurde nach der Gründung des Südweststaates 1952 auf das junge Bundesland BadenWürttemberg übertragen. Die wachsende Bedeutung der historischen Passagen in den Bänden, die nun „Kreisbeschreibungen“ genannt wurden, führte dazu, dass der Bereich der Landesbeschreibung 1964 aus dem Statistischen Landesamt ausgegliedert und der Staatlichen Archivverwaltung übertragen wurde. Mit dem großen, acht Bände umfassenden Werk „Das Siehe dazu Eugen Reinhard (Hrsg.), Regionalforschung in der Landesverwaltung. Die Landesbeschreibung in Baden-Württemberg. Ansatz, Leistung, Perspektiven (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, Heft 6), Stuttgart 1995. – Wolfgang Zimmermann, Württemberg wird Schwaben. In: Die Schwaben. Zwischen Mythos und Marke, Katalog zur Großen Landesausstellung im Landesmuseum Württemberg, Stuttgart 2016, S. 296–309. – Lioba Keller-Drescher, Vom Wissen zur Wissenschaft. Ressourcen und Strategien regionaler Ethnografie (1820–1950) (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen, 215), Stuttgart 2017. – Wolfgang Zimmermann, Staatsbildung und Landesbeschreibung im Königreich Württemberg, 1806–1918. In: Reinhard Johler – Josef Wolf (Hrsg.), Beschreiben und Vermessen. Raumwissen in der östlichen Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert (Geschichtswissenschaft 16), Berlin 2020, S. 187–206 (mit älterer Literatur). 62
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Land Baden-Württemberg. Amtliche Beschreibung nach Kreisen und Gemeinden“, das zwischen 1974 und 1983 veröffentlicht wurde, legte die Landesbeschreibung die erste umfassende Darstellung Baden-Württembergs bis hinab auf die Ebene von kleinen Wohnplätzen und abgegangenen Siedlungen vor. Zahlreiche Kreisbeschreibungen folgten bis 2010. Darüber hinaus führte das Landesarchiv ab 2002 Gespräche mit den beiden Landesbibliotheken – der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe und der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart – über den Aufbau eines landeskundlichen Informationssystems63. Weitere Einrichtungen schlossen sich bald an. Eine erste Grobkonzeption wurde 2004 erarbeitet. Der klassische Anspruch der Landesbeschreibung und Landesforschung – die interdisziplinäre Zusammenführung raumbezogenen Wissens aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und Landeseinrichtungen – wurde in ein neues Medium überführt, das zugleich ganz neue Möglichkeiten der Visualisierung, Verknüpfung und Kontextualisierung landeskundlichen Wissens eröffnete. Mit der Bereitstellung der erforderlichen Mittel durch den Landtag von Baden-Württemberg im Januar 2010 erfolgte der definitive „Startschuss“ zum Aufbau des neuen landeskundlichen Informationssystems unter der Projektleitung des Landesarchivs Baden-Württemberg. Unter dem Kürzel LEO-BW, das auf die Stauferlöwen im Wappen des Landes anspielt, wurde das neue Angebot 2012, pünktlich zum 60. Geburtstag des Landes, freigeschaltet64. Seit der Freischaltung im Jahr 2012 führt das Portal Daten aus zahlreichen renommierten Kultur-, Gedächtnis- und Wissenschaftseinrichtungen im ganzen Land zusammen und vernetzt diese untereinander65. Von Zur Genese siehe Wolfgang Zimmermann, Vernetzen, visualisieren, kontextualisieren. LEO – Das landeskundliche Informationssystem für Baden-Württemberg. In: Robert Kretzschmar (Hrsg.), Staatliche Archive als landeskundliche Kompetenzzentren in Geschichte und Gegenwart. Zum 65. Geburtstag von Volker Rödel (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, Heft 22), Stuttgart 2010, S. 313–324 und Gerald Maier, Archive als Informationsdienstleister in der digitalen Welt. Bestandsaufnahme und Perspektiven am Beispiel des Landesarchivs Baden-Württemberg. In: Ebd. S. 247–312, hier S. 292 f. 64 https://www.leo-bw.de. 65 Siehe dazu Daniel Fähle – Wolfgang Krauth, LEO-BW – Landeskundliches Informationssystem Baden-Württemberg. In: Ellen Euler u.a. (Hrsg.), Handbuch Kulturportale. Online-Angebote aus Kultur und Wissenschaft, Berlin-Boston 2015, S. 284–291, DOI: 10.1515/9783110405774-027. – Daniel Fähle – Andreas Neuburger, Landesgeschichte im digitalen Wandel: das landeskundliche Informationssystem LEO-BW. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 150 (2014) S. 559–568. 63
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zentraler Bedeutung ist der interdisziplinäre Ansatz bzw. das breite Verständnis von Landeskunde, das nicht nur in der historischen, sondern u.a. auch in ihrer geografischen, statistischen und naturkundlichen Dimension Berücksichtigung findet66. So können mit einem Zugriff in LEO-BW zu einem recherchierten Ort Basisinformationen aus dem baden-württembergischen Ortslexikon, aus Literatur, Archivbeständen, statistischen Daten und Landkarten sowie Bildmaterial abgerufen werden. Auch biografische Informationen zu zahlreichen Persönlichkeiten Baden-Württembergs sind verfügbar. Des Weiteren gibt es Dokumente aus ganz verschiedenen Bereichen. Fotos, Karten und Videos finden sich ebenso wie digitalisierte Handschriften, Bücher und Urkunden sowie Hinweise auf Sehenswürdigkeiten, Museen und Gedenkstätten. Damit bietet LEO-BW zahlreiche Einstiegs- und Anknüpfungspunkte für die regionalhistorische Forschung. Die Onlinestellung eröffnete dabei völlig neue Zugangswege zur Landeskunde – zu den vielfältigen Themenbereichen ebenso wie zu bisher nur schwer oder gar nicht erreichten Adressatengruppen. Von Beginn an bot das Portal umfangreiche Recherchefunktionen, redaktionelle Angebote und die Visualisierung von Daten über ein Kartenmodul. Klar war aber auch, dass ein fortwährender, bedarfs- und nutzerorientierter Ausbau der technischen Plattform wie der inhaltlichen Angebote unerlässlich ist. Denn im Gegensatz zu analogen Produkten sind ihre digitalen Pendants erweiterbar und müssen mit ständig steigenden und sich verändernden Anforderungen mitwachsen. Vor diesem Hintergrund ergänzten im Laufe der Zeit spezielle Themenmodule (derzeit zur Demokratiegeschichte67, zur Alltagskultur68, zur Quellenkunde69 und ganz neu zu „Heimkindheiten“70) und Komponenten wie der Digitale Historische Atlas von Baden-Württemberg71 oder ein flächendeckendes historisches Orthofoto von 196872 das Angebot. Die Zahl der Partnereinrichtungen Zu diesem Konzept der Landesgeschichte vgl. Werner Buchholz, Vergleichende Landesgeschichte und Konzepte der Regionalgeschichte von Karl Lamprecht bis zur Wiedervereinigung im Jahre 1990. In: Ders., Landesgeschichte in Deutschland: Bestandsaufnahme – Analyse – Perspektiven, Paderborn u.a. 1998, S. 11–60, hier S. 19 f. 67 https://www.leo-bw.de/themenmodul/von-der-monarchie-zur-republik. Neben redaktionellen Beiträgen bietet das Modul Zugang zu digitalisiertem Quellenmaterial des Landesarchivs zur Frühphase der Weimarer Republik. 68 https://www.leo-bw.de/themenmodul/alltagskultur-im-suedwesten. 69 https://www.leo-bw.de/themenmodul/sudwestdeutsche-archivalienkunde. 70 https://www.leo-bw.de/web/guest/themen/themenmodul-heimkindheiten. 71 https://www.leo-bw.de/web/guest/themen/historischer-atlas-von-baden-wurttemberg. 72 https://www.leo-bw.de/web/guest/themen/virtuelles-kartenangebot/orthophoto-1968. 66
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Digitales Orthofoto in LEO-BW: Historische und aktuelle Luftaufnahmen lassen sich per Schieberegler miteinander vergleichen.
(44) und des Datenumfangs (ca. 3,5 Millionen Informationseinheiten) hat sich seit der Freischaltung nahezu verdreifacht. Auch der Funktionsumfang wurde deutlich erweitert, zuletzt mit einem starken Fokus auf der Optimierung für mobile Endgeräte, Interaktivität (Merklisten, Kommentare) und auf innovative Präsentationsformate (Virtuelle Rundgänge, 3DModelle). Außerdem realisiert eine Mitmach-App73 neue Wege der Partizipation gemäß des Konzepts von Citizen Science. Flankierend erfolgt die Vermittlung landeskundlicher Themen in sozialen Medien und in einem Blog. 73
https://www.leo-bw.de/landauf-landapp.
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Für die Finanzierung der Weiterentwicklungen war eine gezielte Drittmittelakquise notwendig, denn die einsetzbaren Haushaltsmittel des Landesarchivs decken vor allem die Aufwände des Portalbetriebs und der Inhaltspflege74. Ein substanzieller Anteil der eingeworbenen Drittmittel mit fast einer halben Million Euro kam über die Digitalisierungsförderlinie der Landesregierung Baden-Württembergs „digital@bw“, die damit die Rolle von LEO-BW als zentralem Informationsinfrastrukturangebot des Landes unterstreicht. Überaus positiv gestaltet sich die Entwicklung der Nutzerzahlen und die Rezeption des Portals, das inzwischen monatlich über 100.000 Besucher verzeichnet. Dieser messbare Erfolg bestätigt das Landesarchiv darin, LEO-BW weiterhin konsequent fortzuentwickeln, um den Anforderungen der landeskundlichen Forscherinnen und Forscher noch besser gerecht werden zu können und zugleich neue Nutzergruppen zu erreichen. Historische Grundwissenschaften mit Quellenkunde Das klassische Arbeitsfeld für die gegenseitige Befruchtung von historischer Forschung, Archivpraxis und Archivwissenschaft war immer der Bereich der sogenannten Historischen Hilfswissenschaften. Seit jeher bestanden zwischen Archiven und v.a. den historischen Wissenschaften Verbindungen, die entweder institutionell konzipiert waren wie Editionsvorhaben oder historische Kommissionen oder aufgrund persönlicher Interessen und Kompetenzen entstanden; dem Fach „Historische Hilfswissenschaften“ – heute „Historische Grundwissenschaften“ genannt – mit seinen Unterdisziplinen kam dabei eine wichtige Scharnierfunktion zu. Der Abbau von Lehrstühlen im Bereich der Historischen Hilfswissenschaften an den Universitäten führt immer mehr dazu, dass die Lehre an Externe – vornehmlich an Archivarinnen und Archivare – übertragen wird75. Auch im Landesarchiv Baden-Württemberg sind acht Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Lehrbeauftragte auf dem Feld der Historischen Mit dem technischen Betrieb beauftragte das Landesarchiv das Zentrum für Datenverarbeitung (ZDV) der Universität Tübingen: https://uni-tuebingen.de/einrichtungen/zentrumfuer-datenverarbeitung. 75 Zum Abbau an der Universität Andrea Stieldorf, Die historischen Grundwissenschaf ten an den deutschen Universitäten heute – eine Bestandsaufnahme. In: Archivar 67 (2014), Heft 3, S. 257–264 und Magdalena Weileder, Quo vadis? Perspektiven der Historischen Grundwissenschaften an deutschen Universitäten (Einführungsreferat zur Doktorandentagung „Quo vadis? Neues aus den Historischen Grundwissenschaften“, 18./19. 74
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Grundwissenschaften tätig. Inzwischen ist von Seiten der Universitäten erkannt worden, dass die Geschichtswissenschaften mit Archiven gemeinsam ein neues Konzept für dieses Forschungsfeld entwickeln müssen76. Vor allem in der Digitalen Welt stellt sich die Frage der Kooperation umso mehr77. Ein wichtiger Impuls ging von der Sektion „Grundwissenschaften in der digitalen Welt“ auf dem Hamburger Historikertag 2016 aus78, der auf dem Historikertag in Münster unter dem Thema „Quo vadis Quellenkritik? Digitale Perspektiven“79 fortgesetzt wurde. Daneben spiegelt sich das Engagement auf diesem Feld auch in spezifischen Angeboten zur Quellenkunde wider, die von Archiven zusammen mit Partnern der universitären und außeruniversitären Forschung ins Leben gerufen werden. Ohne eine Kenntnis der Archivaliengattungen fehlt wissenschaftlichen Archivnutzerinnen und -nutzern das Wissen, welche Informationen in einem Archivale zu erwarten sind, wie es ausgewertet werden kann und wie die dort auffindbaren Einzelinformationen zusammenhängen, welchen Kontext sie also herstellen. Ein wesentlicher Grund für die Weiterentwicklung der historischen Quellenkunde ist die digitale Welt mit neuen Formen von Quellen. So unterscheidet sich die Auswertung einer Datenbank in vielerlei Hinsicht von den Prozessen, die bei E-Akten oder E-Mails, bei Webseiten oder digitalisierten audiovisuellen Unterlagen zum Einsatz kommen sollten. Bei den Archivalien aus Papier und Pergament kann man auf die Definitionen und Abgrenzungen, Festlegungen und Problematisierungen zurückgreifen, die seit dem epochalen Werk „De Re Diplomatica“ von Jean Mabillon im Jahr 1681 von der klasMärz 2015, Historisches Seminar der LMU München), online: http://www.hgw.geschichte. uni-muenchen.de/dokumente/perspektiven_hgw.pdf. 76 Es entstanden die AG Historische Grundwissenschaften und das Netzwerk Historische Grundwissenschaften, die sich auf einer gemeinsamen Internetseite www.ahigw.de präsentieren. 77 Vgl. auf dem Mainzer Historikertag 2012 das Podium: Wo bleibt der „Geschmack des Archivs“? Historische Forschung im digitalen Zeitalter (Sektionsleiter: Christoph Cornelißen, Düsseldorf, und Dirk van Laak, Gießen). Von archivischer Seite nahmen Michael Hollmann, Bundesarchiv, und Clemens Rehm, Landesarchiv Baden-Württemberg, teil. 78 Siehe dazu den Tagungsbericht zum Historikertag 2016 von Claudia Hefter, Grundwissenschaften in der Digitalen Welt, 20.9.2016 – 23.9.2016 Hamburg, In: H-Soz-Kult, 12.11.2016, online https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6819. 79 Die Sektionsleitung hatten Frank M. Bischoff, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, und Kiran K. Patel, Universität Maastricht/LMU München, vgl. dazu den Tagungsbericht zum Historikertag 2018 von Maik Fiedler, Digitale Geschichte. In: H-Soz-Kult, 6.12.2018, online https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-4643.
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sischen Diplomatik entwickelt wurden80. Bei genuin digitalen Unterlagen stehen wir jedoch noch ganz am Anfang. Dennoch kann diese Arbeit nicht aufgeschoben werden. Südwestdeutsche Archivalienkunde in LEO-BW Ein Beispiel für eine zeitgemäße Quellenkunde ist die vom Landesarchiv Baden-Württemberg zusammen mit dem Institut für geschichtliche Landeskunde der Universität Tübingen entwickelte „Südwestdeutsche Archivalienkunde“ als Internet-Themenmodul im landeskundlichen Informationssystem LEO-BW81. In den Vorarbeiten zu diesem Modul wurden auch einige grundsätzliche Kategorien entwickelt, entlang derer die einzelnen Gattungen beschrieben werden konnten82. Die Quellenkunde umfasst zurzeit Artikel zu mehr als 140 Archivaliengattungen verschiedener Autorinnen und Autoren aus dem Bereich der Archive und der Geschichtswissenschaft und wird ständig erweitert. Schwer eingrenzbare Themenfelder wurden als besondere Überlieferungsbereiche beschrieben (z.B. die Überlieferung zu den Theatern). Weitere Artikel befassen sich mit Einzelmerkmalen von Archivalien, wie der Aktenbindung, Wasserzeichen, Wappen oder Siegeln. Übergreifende Artikel integrieren die einzelnen Beiträge und bieten eine zeitliche Verortung nach Epochen. Die Südwestdeutsche Archivalienkunde umfasst gleichermaßen konventionelle wie auch digitale Archivaliengattungen. Die verschiedenen Gattungen illustrieren exemplaDas Werk wird in der Regel nach der 2. Auflage zitiert: Jean Mabillon, De re diplomatica libri VI in quibus quidquid ad veterum instrumentorum antiquitatem […] explicatur et illustratur, 2. Auflage, Paris 1709. 81 https://www.leo-bw.de/themenmodul/sudwestdeutsche-archivalienkunde. Christian Keitel – Robert Kretzschmar, Südwestdeutsche Archivalienkunde. Ein neues Angebot im landeskundlichen Informationssystem LEO-BW. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 167 (2019) S. 417–420. Inhaltlich und methodisch knüpft die Archivalienkunde an den Band Christian Keitel – Regina Keyler (Hrsg.), Serielle Quellen in südwestdeutschen Archiven (Sonderveröffentlichungen des Württembergischen Geschichts- und Altertumsvereins 1), Stuttgart 2005, an. 82 Christian Keitel, Vorschläge zur gemeinsamen Klassifikation konventioneller und digitaler Archivalien. In: Holger Berwinkel – Robert Kretzschmar – Karsten Uhde (Hrsg.), Moderne Aktenkunde (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Hochschule für Archivwissenschaft 64), Marburg 2016, S. 131–144. Die Südwestdeutsche Archivalienkunde nimmt die Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer ein. Eine Klassifikation aus Bestandserhaltungssicht kann auf dieselben Grundüberlegungen zurückgreifen. Allerdings zeigen sich auch einige deutlichen Unterschiede, vgl. dazu Christian Keitel, Zwölf Wege ins Archiv, Stuttgart 2018, S. 202–212. 80
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In der „Südwestdeutschen Archivalienkunde“ finden sich Erläuterungen zu über 140 verschiedenen Archivaliengattungen, hier z.B. Amtsbüchern.
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risch die großen Herausforderungen, vor denen die Archive und die quellenorientierte historische Forschung heute stehen83. Forschungsinfrastruktur für Wasserzeichen – das Wasserzeicheninformationssystem (WZIS) Innerhalb der archivischen Quellenkunde und der Historischen Hilfswissenschaften ist die Wasserzeichenforschung ein besonderes Feld, auf dem Archive, Handschriftenforschung, Papierforschung und verschiedene historische Wissenschaften zusammenkommen84. Wasserzeichen sind bildhafte Erscheinungsformen im Papier. Sie haben große Ähnlichkeit mit bildlichen Darstellungen auf Wappen, Siegeln und Münzen. Die Wasserzeichenforschung hat daher viele Berührungspunkte mit der Heraldik, Sphragistik und Numismatik, die zu den klassischen Historischen Hilfswissenschaften gehören. Im Landesarchiv Baden-Württemberg hat die Wasserzeichenforschung einen besonderen Stellenwert. Dort gibt es in der Abteilung Hauptstaatsarchiv Stuttgart mit der Sammlung „Piccard“ nicht nur eine der weltweit größten Wasserzeichensammlungen, sondern das Landesarchiv betreibt auch federführend das sogenannte Wasserzeicheninformationssystem (WZIS)85. Als Archivgut steht die Wasserzeichensammlung von Gerhard Piccard (1909–1989) als „Solitär“ in der deutschen Archivlandschaft. Die Sammlung besteht aus rund 92.000 Wasserzeichenpausen, die mit Tusche auf genormte Karteikarten aufgetragen sind. Diese Karten hatte Gerhard Piccard, einer der bedeutendsten Wasserzeichenforscher weltweit, im Laufe von rund 40 Jahren bei seinen Recherchen in verschiedenen Bibliotheken und Archiven angefertigt und als Teil seines Nachlasses dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart überlassen86. Die Erschließung und Bereitstellung der Sammlung hat im Landesarchiv eine längere Tradition. Zunächst wurden die wichtigsten Motivgruppen Siehe dazu Keitel, Zwölf Wege (wie Anm. 82) S.122–154 und Ders., Materialität. Anmerkungen zu den substantiellen Eigenschaften konventioneller Archivalien. In: Archivnachrichten Nr. 59 (2019) S. 4–6. 84 Vgl. dazu im Überblick und mit weiterer Literatur: Erwin Frauenknecht, Wasserzeichen. In: Südwestdeutsche Archivalienkunde, https://www.leo-bw.de/themenmodul/sudwest deutsche-archivalienkunde/archivalienelemente/wasserzeichen. 85 https://www.wasserzeichen-online.de/. 86 Die Wasserzeichensammlung Piccard wird im Hauptstaatsarchiv Stuttgart unter der Signatur J 340 aufbewahrt. 83
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zwischen 1961 und 1997 in 17 gedruckten Findbüchern veröffentlicht, dann 2006 die komplette Kartei digitalisiert und als Informationssystem „Piccard-Online“ einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Seit 2014 präsentiert das Landesarchiv im Wasserzeichen-Informationssystem WZIS sämtliche Zeichen aus „Piccard-Online“ und zusätzlich Wasserzeichenbelege aus mehreren Handschriftenzentren wie der SBB Berlin, UB Leipzig, BSB München oder der WLB Stuttgart87. Entwickelt wurde das WZIS mit Förderung der DFG als informationswissenschaftliche Infrastruktur. Das Ziel ist dabei die kollaborative Erweiterung der Inhalte auch über die sogenannten DFG-Handschriftenzentren hinaus und die Schaffung von Schnittstellen zu anderen Informationssystemen wie dem sich in Entwicklung befindlichen ebenfalls von der DFG geförderten Handschriftenportal88. Über die bereits erwähnten Handschriftenzentren hinaus pflegt das Landesarchiv zu mehreren Forschungseinrichtungen aus dem Umfeld der Wasserzeicheninfrastruktur und -forschung Verbindungen. Zu nennen ist hier vor allem die enge Zusammenarbeit mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, konkret mit dem Institut für Mittelalterforschung. Über das institutionelle Netz hinaus werden auch in der papiergeschichtlichen Forschung Impulse sichtbar. Dabei geht das Erkenntnisinteresse längst über datierungsgeschichtliche Fragen hinaus. Papiergeschichtliche Untersuchungen rekonstruieren über die Interpretation der Wasserzeichen Handelswege für den Rohstoff Papier, geben Aufschluss zur Genese einzelner Papiermühlen oder lassen sich allgemein auch für wirtschafts- oder mediengeschichtliche Fragestellungen nutzen. Das Landesarchiv kann dabei auch immer wieder fachliche Kompetenz mit einbringen, sei es in der Mühlenforschung oder im Bereich der Inkunabelforschung89. Aufbau und Funktionsweise von WZIS ist beispielsweise dokumentiert in mehreren Beiträgen des Sammelbandes: Erwin Frauenknecht – Gerald Maier – Peter Rückert (Hrsg.), Das Wasserzeichen-Informationssystem (WZIS). Bilanz und Perspektiven, Stuttgart 2017. – Erwin Frauenknecht – Thomas Fricke – Tilo Wütherich, WasserzeichenInformationssystem WZIS. Zur Bilanz eines DFG-Projekts. In: Archivnachrichten Nr. 51 (2015) S. 39. – Erwin Frauenknecht – Maria Stieglecker, Das Projekt WasserzeichenInformationssystem (WZIS). Innovative Wege bei der Erfassung und Präsentation von Wasserzeichen. In: IPH Congress Book 19 (2012) S. 25–33. 88 https://handschriftenportal.de/projekt/ 89 Vgl. z.B. Erwin Frauenknecht, Papiermühlen in Württemberg. Forschungsansätze am Beispiel der Papiermühlen in Urach und Söflingen. In: Carla Meyer – Sandra Schultz – Bernd Schneidmüller (Hrsg.), Papier im mittelalterlichen Europa. Herstellung und Gebrauch (Materiale Textkulturen 7), Berlin 2015, S. 93–114. – Peter Rückert, Wasser87
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Wie jedes Informationssystem muss auch das WZIS für die Zukunft weiterentwickelt werden. Ziele sind dabei u.a. der Einsatz von MachineLearning-Technologien für die Suche sowie die automatische Zuordnung, Verschlagwortung und den Abgleich von Daten. Historisch-politische Forschung Ein weiteres noch relativ neues Feld für Archive als Forschungs(infra struktur)einrichtungen ist die historisch-politische Forschung, die aus der Zeitschichte des 20. Jahrhunderts resultiert und bis in die aktuelle Gegenwart hineinreicht. Die Themenfelder sind hier v.a. Demokratiegeschichte – und eng damit verbunden – die Aufarbeitung des NS-Unrechts, die Aufarbeitung der politischen Entwicklung der jungen Bundesrepublik sowie des DDR-Unrechtsstaates. Mit den genannten Themenfeldern ebenso eng verbunden ist das Interesse an der Aufarbeitung persönlicher Schicksale, wie sie z.B. durch den Holocaust bzw. NS-Unrecht verursacht worden sind, aber auch das Schicksal der sogenannten Heim- und Verschickungskinder. Archive und Demokratiegeschichte Das Begriffspaar „Archiv“ und „Demokratie“ ist nur auf den ersten Blick in diesem Kontext eine Modekombination, die aktuellen politischen Konstellationen geschuldet scheint. Seit einigen Jahrzehnten wird die Funktion von Archiven für die Funktion des demokratischen Rechtsstaats durch die Schaffung von Transparenz von Verwaltungshandeln und Verantwortlichkeiten, die zumindest nachträglich hergestellt werden kann, als „Werkzeug der Demokratie“ beziehungsweise als wichtiger Beitrag zur demokratischen Kultur einer Gesellschaft beschrieben90. Eher neu ist allerdings der Gedanke, dass staatliche Institutionen über die pflichtgemäße Ausführung ihrer Aufgaben hinaus die demokratische Gesellschaft stützen und fördern können. Die in ihrem Arbeitsfeld mögliche proaktive historische Auseinandersetzung mit der Entwicklung einer zeichen in Inkunabeln. Neue Forschungsperspektiven in digitalem Format. In: Christoph Reske – Wolfgang Schmitz (Hrsg.), Materielle Aspekte in der Inkunabelforschung (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens 49), Wiesbaden 2017, S. 121–132. 90 Siehe dazu z.B. Clemens Rehm, Geheimnis – Gedächtnis. Archive und Archivrecht. In: Irmgard Christa Becker – Clemens Rehm (Hrsg.), Archivrecht für die Praxis. Ein Handbuch (Berliner Bibliothek zum Urheberrecht 10), München 2017, S. 1–9, hier S. 9.
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demokratischen Gesellschaft, ihren Verfahren und ihren Grundprinzipien wie Rechtstaatlichkeit sowie den ihr zugrundeliegenden Werten kann einen wesentlichen Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs um die Zukunftsgestaltung leisten. Dazu gehören die Sicherung, Erschließung, Zugänglichmachung und Präsentation von Quellen zu Unrecht und Versagen ebenso wie zu den positiven Beispiele des Gelingens von gesellschaftlichen Debatten, Konsensfindung, Partizipation und Miteinander. In das Zentrum rücken dabei Ereignisse, Orte und Personen, die für eine so verstandene Demokratiegeschichte von Relevanz sein können. Dabei ergeben sich fast notwendigerweise Auseinandersetzungen mit dem aktuellen Forschungsstand zu diesem Themenfeld und entsprechende Kontakte bzw. Kooperationen. Einschlägige Beispiele für solche Projekte neueren Datums unter Beteiligung des Landesarchivs Baden-Württemberg sind das bereits oben genannte Themenportal „Weimarer Republik“ im Archivportal-D, das 2018 freigeschaltet wurde91, sowie die Ausstellung „Demokratie wagen? Baden 1818–1919“ (2018) und das deutsch-französische Ausstellungsprojekt „Menschen im Krieg 1914–1918 am Oberrhein – Vivre en temps de guerre des deux côtés du Rhin“ (2014). In der Regel wurden die Ergebnisse der für die Erarbeitung der Ausstellungen geführten Fachdiskussionen in wissenschaftlichen Begleitbänden gesichert. Neben thematischen Herangehensweisen sind Vernetzungen mit der Wissenschaft auch im Biografischen92 oder für Orte möglich. Als Beispiel für einen solchen Ort sei hier die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ genannt, die nach dem Willen der Justizminister des Bundes und der Länder zu einen Gedenk- und Geschichtsort ausgebaut werden soll. Dieser Prozess wird gemeinsam mit der Forschung und mit Institutionen der politischen Bildung vom Bundesarchiv und vom Landesarchiv Baden-Württemberg begleitet93. Um auf diesem Themenfeld eine weitere Vernetzung zu erreichen, bringt das Landesarchiv seit 2020 als Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft
https://www.archivportal-d.de/themenportale/weimarer-republik. Monika Pohl – Clemens Rehm – Johannes Tuchel (Hrsg.), Ein Leben für Recht und Republik. Ludwig Marum 1882–1934. Begleitband zur Ausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, des Landesarchivs Baden-Württemberg und des Forums Ludwig Marum e.V., Berlin 2018. 93 Der Beschluss der Justizministerkonferenz von 2015 fordert die Kooperation der Bereiche Forschung, Dokumentation und Bildung. 91 92
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„Orte der Demokratiegeschichte“94 seine Quellen und seine Überlegungen nicht zuletzt mit Blick auf die noch bestehenden Forschungsdefizite ein. Provenienzforschung und Personengeschichtsforschung Neben diesen auf der Hand liegenden Zugängen zum Thema Demokratie sind ebenso die Bereiche zu bedenken, in denen sich archivische Arbeit unmittelbar auf den Feldern Recht, Gerechtigkeit und Menschenwürde auswirkt. Mit den Sätzen „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ des Artikels 1 Absatz 1 des Grundgesetzes ist auch für Archive ein Auftrag formuliert. Zu denken wäre hier an die Ermittlung und Schaffung von gesichertem Wissen durch archivische Quellen, um geschehenes Unrecht auszugleichen und um Unrechtskontexte aufzuarbeiten. Hierzu sind die Recherchen für ehemalige Zwangsarbeiter im Rahmen des Auftrags der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ ebenso zu nennen wie Recherchen und Projekte zur Provenienzforschung, durch die außer der Restitution von entfremdetem und geraubtem Archivgut – die Forschung zur Geschichte von einzelnen Objekten unterstützt wird95. Noch deutlicher wird die Wechselwirkung von archivischer Arbeit und Forschung bei der Aufarbeitung der Heimerziehung und Zwangsunterbringung von Kindern in seinen unterschiedlichen Formen96. Es zeigte und zeigt sich, dass die Recherchen der Archive für Betroffene zugleich neue wissenschaftliche Forschungen zu einzelnen Institutionen und zu Themen wie Medikamentenversuche an Heimkindern oder auch zu den langen Schatten der NS-Pädagogik in der Nachkriegszeit in Heimen auslösen bzw. verstärken können97. Als eine Grundlage hierfür ist im Lanhttps://www.demokratie-geschichte.de. Vgl. Michael Unger, NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut aus staatlichem Archivbesitz auf „Lostart“. In: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 57 (2009) S. 19. – Ders., Zwischen Routine und Raub: Archivalienerwerb im Nationalsozialismus. In: Archivalische Zeitschrift 96 (2019) S. 425–446. – Clemens Rehm, Provenienzforschung auf neuen Wegen. Digitale Zugänge im Landesarchiv Baden-Württemberg. In: Provenienz & Forschung 2020, Heft 1, S. 12–19. 96 https://www.landesarchiv-bw.de/de/landesarchiv/projekte/aufarbeitung-von-heimerziehungund-zwangsunterbringungen/projektueberblick/61032. 97 Vgl. Christian Keitel – Nastasja Pilz – Nora Wohlfarth (Hrsg.), Aufarbeiten im Archiv. Beiträge zur Heimerziehung in der baden-württembergischen Nachkriegszeit, Stuttgart 2018. – Nastasja Pilz, Ein Recht auf Erinnerung? Versuche der Aufarbeitung von Kinderschicksalen im Landesarchiv Baden-Württemberg. In: Sabine Andresen – Johannes 94 95
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desarchiv z.B. eine umfassende „Heimliste“98 für Baden-Württemberg entstanden, in der die Quellenlage und ein gegebenenfalls möglicher Zugang zu den Quellen beschrieben wird. Eine weitere Grundlagenarbeit ist das bereits oben erwähnte in LEO-BW integrierte Themenmodul „Heimkindheiten“, das Erfahrungen von Leid und Unrecht von Kindern und Jugendlichen in stationären Einrichtungen der baden-württembergischen Nachkriegszeit dokumentiert99. Es wurde Ende März 2022 freigeschaltet und wird sukzessive mit weiteren Informationen ergänzt. Transformation der Wiedergutmachung von NS-Unrecht Ein wichtiges Thema innerhalb der Aufarbeitung von NS-Unrecht ist die sogenannte Wiedergutmachung. Dabei geht es um von der Bundesrepublik Deutschland erbrachte Entschädigungsleistungen für die Opfer des Nationalsozialismus, die sich in zahlreichen Archivquellen niederschlagen. Unterlagen dieser Art finden sich im Bundesarchiv und den Landesarchiven der westlichen Bundesländer und so auch im Landesarchiv BadenWürttemberg. Diese Unterlagen sind eng mit der wechselhaften Genese der Wiedergutmachung im Südwesten verbunden und ermöglichen verschiedene Forschungsansätze zum Thema Wiedergutmachung und Entschädigung in der Nachkriegszeit sowie indirekt auch zum Nationalsozialismus. So gewähren sie insbesondere tiefe Einblicke in die Organisation und Verwaltung unterschiedlicher Stellen, die mit dieser wichtigen staatlichen und gesellschaftlichen Aufgabe befasst waren. Die Bestände bieten zahlreiche Informationen zur Behördengeschichte, zum Umgang von Gesellschaft und Politik mit dem Thema Wiedergutmachung und nicht zuletzt zur Bedeutung der Wiedergutmachung als Politikfeld und Verwaltungsaufgabe in Baden-Württemberg. Um diese für die zeithistorische Forschung wertvolle Überlieferung in gebündelter Form bereitzustellen, unterstützt das Bundesministerium der Kistenich-Zerfass (Hrsg.), Archive und Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Beiträge zu einer Tagung der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs und des Hessischen Landesarchivs am 27. März 2019, Darmstadt 2020, S. 55–70. – In dem Band auch archivwissenschaftliche Folgen: Clemens Rehm, Fristarchivgut und Kassationsmoratorien. Erinnerung für Betroffene im Archiv, S. 39–54. 98 Kinder- und Jugendheime: https://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/62617/ Heimverzeichnis.pdf. Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie für Kinder und Jugendliche: https://www.landesarchiv-bw.de/media/full/64907. 99 https://www.leo-bw.de/themenmodul/heimkindheiten.
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Finanzen (BMF) im Rahmen seiner Initiative „Transformation der Wiedergutmachung“ aktiv über eine langfristig angelegte finanzielle Förderung die Archive von Bund und Ländern bei der Erschließung und Digitalisierung ihrer Aktenbestände zur Wiedergutmachung mit dem Ziel, sie auf einem Themenportal „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“ als Teil des Archivportals-D für die Nachwelt und insbesondere die wissenschaftliche Forschung nutzbar zu machen. Damit dieses Ziel zeitnah erreicht werden kann, führt das Landesarchiv Baden-Württemberg seit Mai 2020 ein vom BMF finanziertes Pilotprojekt durch100. In dem auf knapp drei Jahre angelegten Projekt entwickelt es zusammen mit FIZ Karlsruhe einen Prototyp für die Erschließung, Digitalisierung und Bereitstellung von Wiedergutmachungsakten auf einem zu erstellenden Themenportal „Wiedergutmachung“ und macht diesen damit für das Gesamtvorhaben des BMF nutzbar. Ziele im Projekt sind die Erschließung ausgewählter Unterlagen zur Wiedergutmachung aus dem Landesarchiv sowie die Digitalisierung und Kl-gestützte Metadatenanreicherung von Einzelfallakten101. Hierbei werden neben den Erschließungsdaten und den aus den Digitalisaten extrahierten Informationen auch andere Quellen einbezogen, insbesondere Wissensgraphen102 wie z.B. die deutschsprachige Wikidata103. Ziel dieser Maßnahmen ist die Anreicherung der Erschließungsdaten, die im Archivportal-D eine facettierte Suche nach Orten, Personen und gegebenenfalls auch Sachbegriffen ermöglichen sollen. Im Rahmen des Projekts ist ein Austausch mit der universitären Forschung in Baden-Württemberg, unter anderem im Rahmen des von der Baden-Württemberg Stiftung bewilligten Gesamtprojekts „Reintegration, Schuldzuweisung und Entschädigung – Bewältigung und https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Oeffentli che_Finanzen/Vermoegensrecht_und_Entschaedigungen/2020-07-07-themenportal-wiedergut machung-zukunftsaufgaben.html und https://www.landesarchiv-bw.de/de/landesarchiv/projekte/projekt-zur-wiedergutmachung/71002. 101 Vgl. allgemein Brigitte Krenn, Methoden der künstlichen Intelligenz und ihre Anwendung in der Erschließung von Textinhalten. In: Elisabeth Schöggl-Ernst – Thomas Stockinger – Jakob Wührer (Hrsg.), Die Zukunft der Vergangenheit in der Gegenwart. Archive als Leuchtfeuer im Informationszeitalter (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 71), Wien 2019, S. 169–184. 102 Vgl. Tabea Tietz – Jörg Waitelonis – Alam Mehwish – Harald Sack, Knowledge Graph based Analysis and Exploration of Historical Theatre Photographs (Preprint). In: Proceedings of the Conference on Digital Curation Technologies (Qurator 2020), S. 1–9, hier S. 4 f., online: http://ceur-ws.org/Vol-2535/paper_7.pdf. 103 https://www.wikidata.org. 100
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Nicht-Bewältigung der NS-Vergangenheit in den drei Vorgängerländern Baden-Württembergs 1945–1952“ geplant ebenso wie ein solcher mit Experten in ausländischen Institutionen wie der israelischen Gedenk- und Forschungsstätte Yad Vashem. Parallel zu dem genannten Pilotprojekt werden das Bundesarchiv, das Landesarchiv Baden-Württemberg und FIZ Karlsruhe mit finanzieller Unterstützung des BMF das Themenportal „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“ innerhalb des Archivportal-D bei der DDB aufbauen. Außerdem werden mit Förderung des BMF in weiteren Landesarchiven die einschlägigen Archivalien erschlossen und – soweit sinnvoll – digitalisiert. Aufbau einer Dokumentationsstelle „Rechtsextremismus“ Wenn mit der Wissenschaft diskutiert wurde, welcher „Rohstoff“ – v.a. jenseits der üblichen Verwaltungsunterlagen – wie gesichert werden kann, geschah dies zumeist für spezielle Überlieferungsbereiche. Das war bei der Überlieferung des Sports als einer der größten Bereiche bürgerschaftlichen Engagements der Fall104 und bei der – noch immer nicht gelungenen – Sicherung der Archive der sozialen Bewegungen105. Derzeit findet dieser Austausch aufgrund der NSU-Morde in Deutschland und speziell in Baden-Württemberg zum Thema Rechtsextremismus statt. So hat das Land im Sommer 2020 im Landesarchiv Baden-Württemberg am Standort Generallandesarchiv Karlsruhe eine „Dokumentationsstelle Rechtsextremismus“ eingerichtet106. Mit dieser Maßnahme wurde eine Empfehlung des Schlussberichts des NSU-Untersuchungsausschusses II
Markus Friedrich – Clemens Rehm, Das „Sportarchiv“ im Landesarchiv Baden-Württemberg. Das „Zwei-Säulen-Modell“ als Beispiel für eine Kooperation mit bürgerschaftlichen Organisationen. In: Archivar 72 (2019), Heft 4, S. 290–293. 105 Siehe dazu das Positionspapier des Verbands deutscher Archivarinnen und Archivare e.V., Zur Zukunft der Archive von Protest-, Freiheits- und Emanzipationsbewegungen, Fulda 2016. Erstdruck in: Archivar 69 (2016), Heft 2, S. 179–186, mit anschließendem Fachgespräch mit Vertretern der Wissenschaft im Hamburg am 2. März 2017 (Bericht von Anne Vechtel und Julia Kathke: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7110). 106 https://www.landesarchiv-bw.de/de/landesarchiv/projekte/dokumentationsstelle-rechtsextre mismus/73098. Zur Einrichtung siehe https://www.landesarchiv-bw.de/de/aktuelles/nachrich ten/70807. Das Programm der Fachtagung am 27. und 28. Januar 2021: https://www.landes archiv-bw.de/de/aktuelles/termine/71855. 104
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des Landtags umgesetzt107. Im Rahmen eines Aufbauprojekts bis Ende 2021 wurde als erste Maßnahme sukzessive die umfangreiche Dokumentation des renommierten Journalisten Anton Maegerle übernommen, die aus analogen und digitalen Unterlagen besteht. Die Sammlung zu rechtsextremen Netzwerken, Personen und Denkstrukturen gilt als größte ihrer Art in Deutschland. Darüber hinaus wurden konzeptionelle Überlegungen zum Aufbau eines Netzwerks zur Dokumentation und Erforschung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik begonnen. Die Erwartungen an die neue Einrichtung sind sehr hoch und zugleich zeigt die Radikalisierung der sogenannten Querdenker-Bewegung, wie die rechtsextreme Szene sich verändert. Seit diesem Jahr ist die Dokumentationsstelle mit dauerhaften Personal- und Sachmitteln im Haushalt des Landes verstetigt worden108. Im Rahmen der Errichtung der Dokumentationsstelle wurden u.a. in einem vom Landesarchiv organisierten Expertenhearing auch Überlegungen angestellt, in welcher Form außerdem eine Forschungsstelle für Rechtsextremismus mit einer Anbindung an universitäre Wissenschaftskontexte geschaffen werden kann. Das Land hat dann Anfang dieses Jahr beschlossen, eine solche universitäre Forschungsstelle mittels eines Ausschreibungsverfahren an einer Landesuniversität einzurichten. Aus Sicht der Politik und des Landesarchivs sind Dokumentationsstelle und universitäre Forschungsstelle in enger Verbindung zu sehen, sodass eine enge Zusammenarbeit des Landesarchivs mit einer oder mehreren Universitäten im Land angestrebt wird. Unter Einbindung des Landesarchivs als außeruniversitärer Forschungseinrichtung sollen mehrere neue Lehrstühle aus unterschiedlichen Disziplinen für die Erforschung des Rechtsextremismus geschaffen werden. Die Forschungsstelle soll dabei auch in ein über die jeweilige Universität und das Land hinausgehendes Netzwerk eingebunden werden.
Landtag von Baden-Württemberg, Drucksache 16/5250, S. 1063, Nr. 25, online: https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP16/Drucksachen/5000/ 16_ 5250_D.pdf. 108 https://landesarchiv-bw.de/de/aktuelles/nachrichten/73948. 107
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Zusammenfassung Die vorliegende Bestandsaufnahme macht deutlich, dass öffentliche Archive und ihr Personal viele Handlungsfelder aus dem Bereich Wissenschaft und Forschung bespielen können und dies auch tun. Ein limitierender Faktor ist dabei die Ressourcensituation und die damit verbundene „Konkurrenz“ zu den beiden anderen Wirkungsfeldern, der Dienstleistung für die Verwaltung und der Funktion als landeskundliches Kompetenzzentrum mit der Allgemeinheit als Zielgruppe. Diese Konkurrenz der Wirkungsfelder relativiert sich aber durch die Synergien, die bei der Beschäftigung und dem Ressourceneinsatz in den einzelnen Wirkungsfeldern erreicht werden. Der Nukleus für alle Initiativen und Leistungen ist das Archivgut selbst und die damit verbundenen archivischen Fachaufgaben, die allen drei Wirkungsfeldern zugutekommen. Gerade im Zusammenspiel aller Wirkungsfelder und einer zukünftigen Stärkung der archivischen Arbeit im Bereich Forschungsinfrastruktur und Forschung können Archive ihre gesellschaftliche Relevanz auch in Zukunft erhalten und sichtbar machen.
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Oberfläche des Themenportals „Weimarer Republik“ im Archivportal-D.
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In der „Südwestdeutschen Archivalienkunde“ finden sich Erläuterungen zu über 140 verschiedenen Archivaliengattungen, hier z.B. Amtsbüchern.
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Erziehung eines Prinzen. Karl Joachim von Fürstenberg (1771–1804) Von Esteban Mauerer Einleitung Margit Ksoll-Marcon hat sich, ausgehend von ihrer Dissertation, wiederholt mit der Geschichte des Adels im Kurfürstentum Bayern beschäftigt.1 2010 hat sie typische Formen der Eheanbahnung, Eheschließung und der Erziehung des landsässigen bayerischen Adels im 17. und 18. Jahrhundert anhand repräsentativer Beispiele aus mehreren Familien aufgezeigt.2 Inspiriert von diesem Text, richte ich auf den folgenden Seiten den Blick auf eine Familie, das fürstliche Haus Fürstenberg in Schwaben, und darin auf eine Person, den 1771 geborenen Prinzen Karl Joachim, den zweitgeborenen Sohn des Fürsten Joseph Wenzel von Fürstenberg (1728–1783) und seiner Frau, der Fürstin Maria Josepha (1731–1782), einer geborenen Gräfin von Waldburg-Trauchburg.3 Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Frage nach dem Ablauf, den Formen und den Inhalten der Erziehung des Prinzen Karl Joachim, der in Wolfach, Orléans und Straßburg Elementarunterricht erhielt, bevor er universitäre Studien in Göttingen und Würzburg betrieb, um mit einer ausgedehnten Reise die Jahre der Erziehung abzuschließen. Die dem Hofmeister Geppert anvertraute Erziehung Karl Joachims wurde in jeder neuen Etappe durch Instruktionen des Vaters und Margit Ksoll, Die wirtschaftlichen Verhältnisse des bayerischen Adels 1600–1679. Dargestellt an den Familien Törring-Jettenbach, Törring zum Stain sowie Haslang zu Haslangkreit und Haslang zu Hohenkammer (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 83), München 1986. 2 Margit Ksoll-Marcon, Erziehung und Heirat – zwei Faktoren zum Erhalt der adeligen Reputation. In: Walter Demel – Ferdinand Kramer (Hrsg.), Adel und Adelskultur in Bayern (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 32), München 2008, S. 233–249. 3 Zu den genealogischen Zusammenhängen vgl. Detlev Schwennicke (Hrsg.), Europäische Stammtafeln. Stammtafeln zur Geschichte der europäischen Staaten, Neue Folge, Band (Bd.) 5: Standesherrliche Häuser II, Frankfurt am Main 1988, Tafeln 17 u. 18. – Zur Biographie Joseph Wenzels zuletzt Daten bei Thomas Gilgert, Aus patriotischem Eifer der Gemeinde für das allgemeine Beste. Herrschaft und Widerstand, Gemeinde und Staat im deutschen Südwesten im ausgehenden 18. Jahrhundert (Oberschwaben. Forschungen zu Landschaft, Geschichte und Kultur 1), Stuttgart 2017, S. 66–68. 1
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des Bruders (nach dem Tod des Vaters 1783) reguliert. Die erste Instruktion für Geppert von 1781 wird im Anhang ediert. Das Haus Fürstenberg wurde den Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts als „ein sehr altes Gräfliches und Fürstliches Haus in Schwaben“ beschrieben,4 dessen Territorialbesitz nach dem Urteil des Reichspublizisten Johann Jacob Moser (1701–1785) „zusammen ein in etwas mittelmäßiges Fürsten thum“ ausmachte.5 Es umfasste etwa 2000 Quadratkilometer, in denen an die 85.000 Menschen lebten. Dabei handelte es sich nicht um ein geschlossenes Territorium. Vielmehr verteilten sich die fürstenbergischen Herrschaften – mit einem Schwerpunkt auf dem Schwarzwald und dessen Ostabhang auf der Baar – auf das Gebiet zwischen Donau und Rhein; dazu kamen Besitzungen in Niederösterreich und Böhmen. Die Summe diverser Herrschaften in Schwaben war im reichsrechtlichen Sinn kein einheitliches Fürstentum. Gleichwohl bürgerte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Begriff Fürstentum Fürstenberg ein. Seit 1744 war der Gesamtbesitz des Hauses in der Hand des Fürsten Joseph Wilhelm Ernst (1699–1722) aus der Stühlinger Linie, Joseph Wenzels Vater, vereinigt. Aufgrund ihrer territorialen Verankerung einerseits in der traditionell königsnahen Landschaft Schwaben, andererseits in den habsburgischen Erblanden waren die Fürstenberger seit dem Mittelalter prominente Akteure in der habsburgischen Klientel, ein Faktor, der auch in der Erziehung der Fürstensöhne und -töchter eine Rolle spielte.6 Wo l f a c h Die äußeren Umstände der Erziehung Karl Joachims entsprachen seiner innerfamiliären Stellung als zweitgeborener Prinz. 1771 geboren, stand [Artikel (Art.)] Fürstenberg. In: Johann Heinrich Zedler [Verleger], Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschaften und Künste […], 64 Bde., Halle-Leipzig 1731–1754, Bd. 9, 1735, Sp. 2251–2259, hier Sp. 2251. 5 Johann Jacob Moser, Von denen Teutschen Reichs-Ständen, der Reichsritterschafft, auch denen übrigen unmittelbaren Reichsglidern, Frankfurt am Main 1767, S. 612. 6 Zur Geschichte des Hauses und zum Territorialbesitz: Ronald G. Asch, Fürstenberg. In: Meinrad Schaab – Hansmartin Schwarzmaier (Hrsg.), Handbuch der baden-württembergischen Geschichte, Bd. 2: Die Territorien im Alten Reich, Stuttgart 1995, S. 334–349. – Esteban Mauerer, Die Fürstenberger zwischen Südwestdeutschland, Böhmen und Wien. In: Ronald G. Asch u.a. (Hrsg.), Adel in Südwestdeutschland und Böhmen 1450–1850 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, Forschungen 191), Stuttgart 2013, S. 57–76. – Gilgert (wie Anm. 3) S. 60–64. 4
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Karl Joachim in der Erbfolge hinter seinem 1758 geborenen Bruder Joseph Maria Benedikt († 1796). Während für diesen ein Erziehungsplan entworfen wurde, der auf das Amt eines reichsunmittelbaren Fürsten hinführte, wurde Karl Joachim unter der Prämisse erzogen, dereinst eine Verwendung bei Hof oder im Militär zu finden. Dieses Ziel wurde 1781 explizit formuliert, nachdem Karl Joachim etwa vier Jahre lang unter der Obhut des Hofmeisters Johann Georg Eggstein im (bei dieser Gelegenheit renovierten) Schloss der kleinen fürstenbergischen Amtsstadt Wolfach im Kinzigtal verbracht hatte. Aus diesen frühen Jahren sind kaum Nachrichten auf uns gekommen, doch wissen wir, dass Eggstein – später erhielt er die Pfarrei im fürstenbergischen Löffingen7 – seinen Schüler in Latein unterrichtete; auch religiös grundierten Elementarunterricht wird er ihm erteilt haben.8 Es war üblich, am Beginn des zweiten Lebensjahrzehnts den Wohnort zu wechseln, um in einer neuen Umgebung die Ausbildung fortzusetzen. So hatte der Vater, Fürst Joseph Wenzel, es im Fall des älteren Bruders gehalten, dessen weitere Erziehung 1769 in einer umfangreichen Instruktion für den Hofmeister9 festgelegt worden war.10 Joseph Maria Benedikt stand damals kurz vor seinem zwölften Geburtstag und sollte „nicht länger in dem Väterlichen Haus“ behalten werden, sondern sich nach Salzburg begeben, um an der Universität zu studieren und gleichzeitig im Umfeld eines „mit einem zahlreichen Adel gezierten Hof[s]“ standesgemäßes Verhalten einzuüben.11 Nach dem Willen des Vaters sollte die Erziehung reErnst Münch, Geschichte des Hauses und Landes Fürstenberg. Fortgesetzt von C[arl] B[orromaeus] A[lois] Fickler, Bd. 4, Karlsruhe 1847, S. 288. 8 Der Hofmeister Geppert teilte später mit, Karl Joachim sei seit dem vierten Lebensjahr im Lesen, Schreiben und in der lateinischen Sprache unterrichtet worden. Geppert an Joseph Maria Benedikt Fürst von Fürstenberg, Würzburg 1.8.1787, Fürstlich Fürstenbergisches Archiv Donaueschingen (FFA) OB 17 Vol. XV. Die im vorliegenden Aufsatz verwendeten Archivalien sind, mit einer Ausnahme (Anm. 10–13), sämtlich aus diesem Bestand, der fortan nicht mehr eigens angegeben wird. 9 Allgemein zu Hofmeistern: Mathis Leibetseder, Die Kavalierstour. Adlige Erziehungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 56), Köln u.a. 2004, S. 86–96. – Ivo Cerman, Habsburgischer Adel und Aufklärung. Bildungsverhalten des Wiener Hofadels im 18. Jahrhundert (Contubernium 72), Stuttgart 2010, S. 205–218. 10 Instruktion vom 1. September 1769, maschinenschriftl. Abschrift ohne Datum, nicht paginiert, FFA OB 17 Vol. XIV. 11 Ebd. – Zur Benediktineruniversität Salzburg vgl. Karl Friedrich Hermann, Wissenschaft in Salzburg bis zur Wiedererrichtung der Universität (1519–1962). In: Heinz Dopsch – Hans Spatzenegger (Hrsg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. 2: Neuzeit und Zeitgeschichte, Teil (Tl.) 3, Salzburg 1991, S. 1853–1906, bes. S. 1871–1888. 7
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ligiös grundiert sein, um aus dem Sohn einen „guten Christen, und von Gott berufenen künftigen Regenten“ zu formen.12 Die angestrebte Rolle als Herrscher über Land und Leute machte es daher erforderlich, Joseph differenzierte Interaktionen mit hierarchisch abgestuften Akteuren nahezubringen, mit denen er es in seinem Fürstenamt zu tun haben würde: Gegenüber Gott hatte er „Forcht, und Liebe“ zu zeigen, gegenüber dem Papst und der Kirche „Submission“, gegenüber dem Kaiser „Devotion“, gegenüber Kurfürsten und Fürsten „Ehrerbietung“, gegenüber ständisch niedriger Positionierten „Freundlichkeit“, gegenüber eigenen Dienern „discrete Milde“, schließlich „Barmherzigkeit“ gegenüber den Armen.13 Di e E r z i e h u n g s i n s t r u k t i o n v o n 1 7 8 1 Da Karl Joachim als „cadett und nachgebohrne[r] prinz[]“ nicht zum Herrscher bestimmt war, entwarf der Vater Joseph Wenzel in seiner Instruktion vom 12. Januar 1781 für den Hofmeister Xaver von Geppert einen weniger differenzierten Plan.14 Joseph Wenzel wollte seinen damals noch nicht zehnjährigen Sohn in einer Form erzogen wissen, „um nach Umständen entweder eines der Regierungs Kunst verständigen Ministre vorstellen, oder aber in Militari eine seiner Geburt angemessene Stelle mit Ehr, und ruhmvollen Hofnung übernehmen zu können“. Die Zielperspektive der Erziehung des Sohnes war eine herausgehobene Stellung bei Hof oder ein hoher Offiziersrang, weniger die Fähigkeit eines Herrschers, in unterschiedlichen Interaktionssituationen gegenüber Untertanen und in der ständischen Hierarchie höher gestellten Akteuren zu bestehen. Um den zu erwartenden Anforderungen (und Anfechtungen) des Lebens bei Hof oder im Militärstand zu begegnen, forderte Joseph Wenzel daher mit besonderem Nachdruck, seinen Sohn auf der Grundlage des „wahre[n] christenthum[s]“ zu erziehen, ihm insbesondere Gottesfurcht und Nächstenliebe nahezubringen und ihn so zu befähigen, sich moralisch richtig zu orientieren. Mittel dazu war die Vernunft, die seinem Alter entsprechend angesprochen werden sollte. Im Ergebnis sollte sich Karl Joachim zu dem ausbilden, „was er nach seinen Verhältnuß gegen Gott, nach der Verbindung mit seinen vernünftigen Mitgeschöpfen, und nach seiner eigenen Instruktion vom 1. September 1769 (wie Anm. 10) Abschnitt 1. Ebd. Abschnitt 4. 14 Vgl. Textedition im Anhang. – Xaver von Geppert, k.k. Obristwachtmeister, war im Oktober 1780 mit einem jährlichen Gehalt von 1200 Gulden als Hofmeister bestellt worden. 12 13
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vernünftigen Natur seyn solle“. In diesen Kontext gehörte die Betonung der Ehre als verhaltensleitendem Wert. Adelige Ehre bestand darin, die standesspezifischen Verhaltensweisen anzuwenden, „welche Gott und die Natur ihme als Mensch und Christen gegen Gott, gegen sich selbst, und gegen seine Nebengeschöpfe in das Herz geleget habe“. Entfaltete Karl Joachim diese angeborenen, jedenfalls nicht durch Sozialisationsprozesse angewöhnten „Tugenden“, verhielt er sich göttlichem Auftrag gemäß und konnte „auf den Beyfall […] der Welt einen sicheren Anspruch machen“. Neben die moralische Bildung trat im Erziehungsplan von 1781 gleichberechtigt die Unterrichtung in unterschiedlichen wissenschaftlichen (Schul-)Fächern. Der Absicht des Vaters entsprechend sollte Karl Joachim einem straffen, von Stunde zu Stunde regulierten Tagesplan unterworfen werden. Dabei waren acht Lehrer einzusetzen, die in einem 12 Stunden dauernden Arbeitstag Karl Joachim anleiten sollten. Der Tag begann um 6 Uhr mit einem Morgengebet und wurde von 7 bis 8 Uhr mit Unterricht im Katechismus sowie der Moral- und Sittenlehre fortgesetzt. Von 8 bis 9 Uhr sollte Karl Joachim Unterricht in Latein erhalten, bevor das Frühstück eine Pause erlaubte, gefolgt von der Frühmesse. Zwischen 10 und 12 Uhr beschäftigte sich der Schüler mit der französischen Sprache und der „Historie“, bevor das Mittagessen und ein „Respiro“ eine Stunde der Erholung gewährten, gefolgt von der freiwilligen Lektüre der „Fabel“. Ab 14 Uhr erhielt der Schüler Unterricht im Cembalospielen und Tanzen, bevor wieder der Intellekt mit Lektionen in Geographie, dem Schreiben deutscher Texte, Rechnen und Zeichnen angesprochen wurde. Der Unterricht in der „civil und militaire Baukunst“ schloss den langen Lerntag ab. Orléans Eher beiläufig nannte Fürst Joseph Wenzel in seiner Erziehungsinstruktion den Ort, an dem sein Sohn weiter ausgebildet werden sollte: Straßburg. Allerdings sollte es nach der Niederschrift der Erziehungsinstruktion noch mehr als zweieinhalb Jahre dauern, bis Karl Joachim sein Quartier in der elsässischen Stadt bezog. In der Zwischenzeit hatte Karl Joachim in Begleitung seines Hofmeisters Geppert eine Zeit lang in Orléans gelebt und dort Unterricht erhalten, der sich an dem Entwurf vom Januar 1781 orientierte. Im Dezember 1782 berichtete Geppert davon; gleichzeitig stellte er Überlegungen an, wie der Erziehungsweg fortgesetzt werden könnte. Er brachte Dijon ins Gespräch, um dort standesgemäße Umgangsformen in der Praxis anzuwenden und sich in die Anfangsgründe der italienischen
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Sprache zu versenken. Im Anschluss, so die Überlegungen des Hofmeisters, sollte man für zwei Jahre die Ritterakademie in Turin beziehen – „la meilleure ecole d’Europe pour la noblesse“15 –, und dann die Studienjahre in Göttingen, der besten deutschen Universität, abschließen. Dort sollte der Schwerpunkt auf das Studium der Reichsgeschichte und der Rechte gelegt und nicht zuletzt die englische Sprache erlernt werden, eine Sprache, die bei einer späteren Karriere als Botschafter oder Gesandter von Nutzen sein könnte.16 St r a ß b u r g Es war womöglich der Tod des Vaters im Juni 1783, der diese Pläne wenigstens teilweise zunichtemachte (die Mutter Maria Josepha war bereits im Mai 1782 verstorben). Von Dijon und Turin war nicht mehr die Rede, als im Oktober die fürstenbergische Regierung den nun regierenden Fürsten Joseph Maria Benedikt drängte, die weitere Erziehung seines 13 Jahre jüngeren Bruders rasch in die Wege zu leiten. Favorisiert wurde nun der ältere Plan, nach Straßburg zu gehen. Der Fürst versicherte sich der Zustimmung seines Schwiegervaters, des Fürsten Joseph Wilhelm von Hohenzollern-Hechingen (1717–1798), der nach Prüfung des Erziehungs- und Kostenplans17 die Verschickung nach Straßburg billigte, „weil in jenem [Plan …] nichts außer acht geblieben ist, was zu desselben [sc. Karl Joachims] weiterer Bildung, und standesmäßigen Erziehung erfordert werden kann“.18 Die Wahl Straßburgs wurde nicht eigens begründet, musste vielleicht auch nicht begründet werden, bestanden doch seit jeher Verbindungen zwischen den fürstenbergischen Landen und der Stadt im Rheingraben, die als Wirtschaftszentrum, Verkehrsknotenpunkt und Zone kulturellen 15 Zur „Accademia Reale“ in Turin vgl. Norbert Conrads, Ritterakademien der Frühen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jahrhundert (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 21), Göttingen 1982, S. 238–265. 16 Geppert an Joseph Wenzel, Orléans 21.12.1782. 17 Der „Entwurf der monatlichen Außgaben für den nacher Straßburg abschikenden Prinz Carl“, Donaueschingen 31.10.1783, sah einen jährlichen Kostenaufwand von exakt 4964 Livre 12 Sous vor, zuzüglich Kleidung und Reisekosten. 18 Joseph Maria Benedikt Fürst von Fürstenberg an Joseph Wilhelm Fürst von Hohenzollern-Hechingen, Donaueschingen 25.10.1783. – Joseph Wilhelm an Joseph Maria Benedikt, Hechingen 28.10.1783 (Zitat).
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Transfers zwischen Frankreich und Deutschland eine bedeutende Stellung am Oberrhein einnahm.19 Viel sprach dafür, Karl Joachim in die etwa 50.000 Einwohner zählende Stadt zu schicken, „in der deutsche und französische Kultur, Gotik und Rokoko, Katholisches und Protestantisches, absolute Monarchie und die der ehemaligen Reichsstadt belassene Selbstverwaltung, Aristokratie und ein wohlhabendes, selbstbewusstes Bürgertum, Kunst und Wissenschaft eine einzigartige Mischung bildeten“.20 Die Besonderheiten Straßburgs, etwa im Vergleich zu Orléans, blieben dem zwölfjährigen Jungen wohl nicht gänzlich verborgen – sie setzten aber weder für ihn noch für seinen Hofmeister die kognitiven Rahmen, in die die Wahrnehmungen eingeordnet wurden. So ist in den umfangreichen Berichten, die Geppert nach Donaueschingen adressierte, von der Stadt und ihrer Gesellschaft nicht die Rede. Im Mittelpunkt standen immer Berichte über die Absolvierung der vorgesehenen Studien, die Fortschritte im Lernen und die Entwicklung der Persönlichkeit.21 Der konkrete Aufenthaltsort war nur in dem Maße von Interesse, als dort die Ressourcen bereitgestellt wurden, die in der entsprechenden Erziehungsphase gefordert waren. In Straßburg mit seiner gegen Ende des 18. Jahrhunderts „auch vom katholischen Reichsadel viel besuchten, eleganten“ Universität22 boten sich insofern günstige Bedingungen, um den Sprachunterricht in Französisch,
19 Bernard Vogler, Straßburg. In: Wolfgang Adam – Siegrid Westphal (Hrsg.), Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum, Bd. 3: Nürnberg–Würzburg, Berlin-Boston 2012, S. 1833–1876. 20 Eberhard Weis, Montgelas, Bd. 1: Zwischen Revolution und Reform 1759–1799, 2. Auflage, München 1988, S. 13 f. 21 Vgl. Geppert an Joseph Maria Benedikt, Straßburg 28.5.1784. Ders. an dens., ebd. 18.6.1785. 22 Notker Hammerstein, Universitäten. In: Ders. – Ulrich Herrmann (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, München 2005, S. 369–400, hier S. 375.
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Latein und Italienisch23 voranzutreiben, Geschichte,24 Geographie25 und Mathematik zu studieren, Klavierspielen und Tanzen zu üben.26 Gleichsam überwölbt wurde der Unterricht von einer nicht eng konfessionell eingefassten, aber doch dezidiert christlich grundierten Religionslehre, die nach Gepperts Absicht dem Schüler „une grande idée de Dieu et de notre sainte réligion“ vermitteln sollte.27 Ziel all dieser Bemühungen war nicht etwa die Formung Karl Joachims zum „homme savant“, sondern vielmehr zum „honnête homme“, wie Geppert seinem Dienstherrn nach Donaueschingen meldete.28 Der Hofmeister schloss damit an das am Ende des 18. Jahrhunderts noch präsente, vor allem seit der Epoche Ludwigs XIV. (reg. 1661–1715) aus dem französischen Kulturraum europaweit ausstrahlende Persönlichkeitsideal an, das insbesondere in Adelskreisen zum „führende[n] kulturelle[n] Code“ wurde.29 Der „honnête homme“ war kenntnisreich auf verschiedenen Gebieten, war gesittet, urban, weltgewandt und höflich, dabei alles andere als ein Spezialist, Pedant oder Prinzipienreiter. Er stand im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Wahrnehmung,
Karl Joachim sollte nach Gepperts Plan Fénelons (1651–1715) zuerst 1699 anonym publizierten Télémaque in italienischer Übersetzung lesen. Zu diesen auch im deutschen Sprachraum verbreiteten Übersetzungen vgl. Christoph Schmitt-Maass, Fénelons „Télémaque“ in der deutschsprachigen Aufklärung (1700–1832) (Frühe Neuzeit 20), BerlinBoston 2018, S. 691–697, 1102–1104. 24 Referenztexte waren die Principes de l’histoire pour l’éducation de la jeunesse, par années & par leçons, 6 Bde., Paris 1736–1739, des französischen Historikers Nicolas Lenglet du Fresnoy (1674–1755), die Annalen des Tacitus (55–120) in französischer Übersetzung (Oeuvres de Tacite traduites en François, avec des notes politiques et historiques, par [Abraham Nicolas] Amelot De La Houssaye [1634–1706], 4 Bde., 4. Auflage, Amsterdam 1748) sowie Michael Ignaz Schmidts (1736–1794) Geschichte der Deutschen (dazu s. unten). 25 Verwendung fanden Werke des Theologen und Geographen Anton Friedrich Büsching (1724–1793), seit 1766 Oberkonsistorialrat und Gymnasialdirektor in Berlin. Wilhelm Michel, [Art.] Büsching. In: Neue deutsche Biographie [NDB]. Hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 1 ff., Berlin 1953 ff., hier Bd. 3, Berlin 1957, S. 3 f. 26 Geppert an Laßberg, Straßburg 7.11.1783. – Ders. an dens., ebd. 5.12.1783. – Ders. an dens., ebd. 28.5.1784. 27 Geppert an Joseph Maria Benedikt, Straßburg 28.5.1784. 28 Geppert an Joseph Maria Benedikt, Straßburg 18.6.1785. 29 Gerrit Walther, [Art.] Honnête homme, Honnête femme. In: Enzyklopädie der Neuzeit Online [EdNZonline]. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachherausgebern hrsg. v. Friedrich Jaeger. http://dx.doi.org.emedien. ub.uni-muenchen.de/10.1163/2352-0248_edn_COM_281855 (aufgerufen am 1.4.2021). 23
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erfüllte „in Auftreten, Verhalten und Lebensart jederzeit alle Gebote der Ehre“ und erwies „sich so als Mitglied der Elite“.30 Auch wenn das Konzept des „honnête homme“ gegen Ende des 18. Jahrhunderts in dem Maße an Bedeutung verlor, in dem das Leben bei Hof in die Kritik geriet, blieb die Formung zum „gebildete[n] Weltmann“31 doch ein attraktives Erziehungsziel für einen nachgeborenen Prinzen. Indes: Der Weg zur Erfüllung des Ideals war lang. Als im Juli 1785 der fürstenbergische Geheime Rat Karl August Freiherr von Laßberg (1734–1801), seit 1774 Präsident des Hof- und Regierungsrats-Kollegiums,32 nach Straßburg reiste, um Karl Joachims intellektuelle und charakterliche Persönlichkeit im Hinblick auf die weitere Ausbildung zu evaluieren, bescheinigte er dem Prinzen gute Fortschritte, stellte aber auch Defizite fest. Das meiste war zu loben: Er tanzte Menuett „mit vielem Anstandt und gutter Stellung“, konnte Sonaten spielen und hatte durch Übungen im Fechten eine körperliche Konstitution erworben, die es erlaubte, mit dem Reitunterricht zu beginnen. Der Prinz konnte Französisch und Italienisch sprechen und lateinische Texte lesen und erklären – „bey denen jezigen zeitten“ war es nicht mehr nötig, lateinische Konversation zu treiben. In der Philosophie und Arithmetik hatte er die Voraussetzungen erworben, um sich auf höherer Stufe mit Geometrie, Trigonometrie und Kriegsbaukunst zu beschäftigen. Geschichte war Karl Joachims „lieblings unterhaltung“; die Lektüre der mehrbändigen Geschichte der Deutschen des kaiserlichen Hofrats und Direktors des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Michael Ignaz Schmidt (1736–1794),33 sollte durch den Abriss der fürstenbergischen
Ebd. So übersetzt Fritz Schalk „honnête homme“. Historisches Wörterbuch der Philosophie online, [Art.] Honnête homme (1974), DOI: 10.24894/HWPh.1586 (aufgerufen am 1.4.2021). 32 Biogramm bei Hermann Wieser, Der Donaueschinger Zweig der Familie Laßberg. In: Karl S. Bader (Hrsg.), Joseph von Laßberg. Mittler und Sammler. Aufsätze zu seinem 100. Todestag, Stuttgart 1955, S. 51–64, hier S. 55. 33 Michael Ignaz Schmidt, Geschichte der Deutschen, 5 Tle., Ulm 1778–1783; 2. Auflage in 8 Bänden, Wien 1783–1787. Zum Autor und seinem breit rezipierten Werk vgl. die Beiträge in Peter Baumgart (Hrsg.), Michael Ignaz Schmidt (1736–1794) in seiner Zeit. Der aufgeklärte Theologe, Bildungsreformer und „Historiker der Deutschen“ aus Franken in neuer Sicht […] (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Würzburg 9), Neustadt a.d. Aisch 1996. Biogramm: Uwe Puschner, [Art.] Schmidt, Michael Ignaz. In: NDB (wie Anm. 25) Bd. 23, Berlin 2007, S. 210 f. 30 31
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Hausgeschichte Carl Joseph Friedrich Doepsers († 1787), Archivar (und Pauker in der Hofkapelle) in Donaueschingen, ergänzt werden.34 Auch mit Charakter und Wesensart des Prinzen zeigte sich Laßberg, der gleichzeitig die Arbeit des Hofmeisters evaluierte, im Wesentlichen zufrieden. Zwar hatte er neben vielen Vorzügen auch Fehler erkannt (etwa ein „collerische[s] temperament“), doch bestand kein Zweifel, dass Karl Joachim ein „sehr gutes, und dem Staat nüzliches Suject [!] werden kann“. Wo aber sollte das Studium fortgesetzt werden? Zu bedenken war, dass Karl Joachim von seiner charakterlichen Entwicklung, auch von seinem Lebensalter her noch nicht in der Lage war, sich in den sozialen Konstellationen großer Höfe wie in Wien oder in Würzburg zu behaupten. Geppert schlug daher vor, nach Turin oder Padua zu gehen, um den Schwerpunkt auf Philosophie, Mathematik und die italienische Sprache zu legen und im Anschluss nach Rom zu reisen. Das konnte nach den üblichen Maßstäben als Abschluss einer Länderreise gelten, weil Karl Joachim von Orléans und Straßburg aus schon weite Teile Frankreichs bereist hatte, doch schloss sich Laßberg diesen Überlegungen nicht an. Zwar sei es wegen der vergleichsweise geringen Kosten und der Möglichkeit, sich in der Sprache zu perfektionieren, sinnvoll, nach Italien zu gehen. Da sich aber in Turin, Residenzstadt der Könige von Piemont-Sardinien, der königliche Hof befände, das Haus Fürstenberg dort bekannt sei und Verwandte anwesend seien, müsste man sich in aufwendigen gesellschaftlichen Verkehr begeben und etwa ein Jahr in der Stadt verbringen. Auch sei es aus gesundheitlichen Gründen nicht anzuraten, sich einem „so hizige[n] Land und Clima“ auszusetzen. Besser wäre es, wenn Karl Joachim im Oktober mit Geppert nach Göttingen ginge, um sich der Philosophie, der Mathematik und standesspezifischen Übungen zu widmen. Im kommenden Jahr – mit dann 16 Jahren – könnte er an der Universität in Würzburg mit dem Studium der Rechte beginnen und am fürstbischöflichen Hof verkehren. In Wien schließlich könnte er den juristischen Unterricht beenden und sich am kaiserlichen Hof – und beim Kaiser selbst – bekannt machen, um seine Militärkarriere in die Wege zu leiten. Womöglich könnte Karl Joachim Carl Joseph Friedrich Doepser, Kurzer diplomatischer Auszug der fürstenbergischen Genealogie […] verfast von dem Hofkammerrath und Archivario […] im Jahre 1784, FFA, ohne Signatur. Biographische Daten bei Wolfgang Leesch, Die deutschen Archivare 1500–1945, Bd. 2: Biographisches Lexikon, München u.a. 1992, S. 124 f.; vgl. Felix Loy, Harmoniemusik in der Fürstenbergischen Hofkapelle zu Donaueschingen, phil. Diss. Tübingen 2011, S. 25, 37, 41 f. 34
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in Wien eine Offiziersstelle erhalten und durch die Einbindung in eine hierarchische Ordnung „ein dem Staat sehr nüzliches Mitgliedt werden“.35 Göttingen Laßbergs Bericht wurde der Entschlussfassung in Donaueschingen ohne weiteres zugrunde gelegt, so dass im Juli 1785 beschlossen wurde, Karl Joachim nach Göttingen zu schicken, um das Studium der Philosophie und der Nebenwissenschaften Geographie und Geschichte fortzusetzen.36 Der Einwand, den Joseph Friedrich Wilhelm Fürst von HohenzollernHechingen in seiner Eigenschaft als Vormund vorbrachte, nämlich statt Göttingen Leipzig zu wählen, weil dort die Fächerauswahl größer und die Gesellschaften besser seien, setzte die Diskussion über die Wahl des Studienortes auf der praktisch-pragmatischen Ebene fort, änderte aber nichts an dem Entschluss.37 Tatsächlich sprach wenig gegen Göttingen, hatte sich die Georgia Augusta seit ihrer Gründung 1737 doch zum „Paradebeispiel einer aufgeklärten Universität“ entwickelt38, weshalb sie schon den meisten Zeitgenossen „als die erfolgreichste, typischste, modernste, gewissermaßen als die epochemachende Universität“ nicht nur des Reichs, sondern Europas galt.39 Für junge Männer von Stand war zudem attraktiv, dass das Lehrangebot und die ergänzenden Einrichtungen wie etwa die Reitbahn
Bericht Laßbergs, Donaueschingen 10.7.1785. Auszug aus dem Regierungsprotokoll vom 21.7.1785. 37 Joseph Friedrich Wilhelm Fürst von Hohenzollern-Hechingen an Laßberg, Schloss Lindich 4.8.1785. 38 Notker Hammerstein, Die deutschen Universitäten im Zeitalter der Aufklärung. In: Ders., Res publica litteraria. Ausgewählte Aufsätze zur frühneuzeitlichen Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte. Hrsg. v. Ulrich Muhlack – Gerrit Walther (Historische Forschungen 69), Berlin 2000, S. 160–174, hier S. 165. 39 Notker Hammerstein, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert, Göttingen 1972, S. 309 (Hervorhebung im Original). Gleiche Einschätzung bei Rudolf Vierhaus, 1737 – Europa zur Zeit der Universitätsgründung. In: Bernd Moeller (Hrsg.), Stationen der Göttinger Universitätsgeschichte. 1737 – 1787 – 1837 – 1887 – 1937 (Göttinger Universitätsschriften, Serie A: Schriften 11), Göttingen 1988, S. 9–26. Zu den Gründen für die Attraktivität Göttingens zusammenfassend Johanna Oehler, „Abroad at Göttingen“. Britische Studenten als Akteure des kulturellen und wissenschaftlichen Transfers 1735– 1806 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 289), Göttingen 2016, S. 41–43. 35 36
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speziell auf ein adliges Publikum zielten, so dass der Anteil adliger Studenten im 18. Jahrhundert bei etwa 15 Prozent, vielleicht sogar höher, lag.40 Für Göttingens Ruhm war zu einem wesentlichen Teil die juristische Fakultät verantwortlich und darin Johann Stephan Pütter (1725–1807),41 der bedeutendste Reichspublizist des 18. Jahrhunderts, der – über die konfessionellen Schranken hinweg – zahlreiche Studenten, auch adelige, aus dem ganzen Reich anzog.42 Es lag daher nahe, bei dem erfahrenen Universitätslehrer, der seit 1746 in Göttingen wirkte, Erkundigungen einzuholen, um die letzten womöglich noch bestehenden Zweifel hinsichtlich des Ausbildungsortes auszuräumen. Pütters Mitteilungen waren geeignet, die Entscheidung für Göttingen zu bestärken: Er schickte ein Vorlesungsverzeichnis, gab Auskünfte über den Wohnungsmarkt, lobte die Reitbahn und meldete die Anwesenheit zahlreicher Sprachlehrer. Nicht zuletzt machte er klar, dass zahlreiche Standespersonen ihre Studien in Göttingen absolvierten.43 Mit der Korrespondenz war eine soziale Beziehung geknüpft, die für beide Seiten nützlich werden konnte. Die Fürstenberger hatten den Zugang zu einem hoch angesehenen und bestens vernetzten Göttinger Hochschullehrer angebahnt, Pütter wiederum hatte sich mit einem südwestdeutUlrich Hunger, Die Georgia Augusta als hannoversche Landesuniversität. Von ihrer Gründung bis zum Ende des Königreichs. In: Ernst Böhme – Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 2: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Anschluß an Preußen – Der Wiederaufstieg als Universitätsstadt (1648–1866), Göttingen 2002, S. 139–213, hier S. 173. – Stefan Brüdermann, Studenten als Einwohner der Stadt. In: Ebd. S. 395–426, hier S. 399. – Hammerstein, Universitäten (wie Anm. 22) S. 374. – Anton Schindling, Die protestantischen Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation im Zeitalter der Aufklärung. In: Notker Hammerstein (Hrsg.), Universitäten und Aufklärung (Das achtzehnte Jahrhundert, Supplementa 3), Göttingen 1995, S. 9–19, hier S. 15. – Silke Wagener, Pedelle, Mägde und Lakaien. Das Dienstpersonal an der Georg-August-Universität Göttingen 1737–1836 (Göttinger Universitätsschriften, Serie A: Schriften 17), Göttingen 1996, S. 128. 41 Zu Pütters Leben und Werk: Wilhelm Ebel, Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien 95), Göttingen 1975. – Christoph Link, Johann Stephan Pütter (1725–1807). Staatsrecht am Ende des alten Reiches. In: Fritz Loos (Hrsg.), Rechtswissenschaft in Göttingen. Göttinger Juristen aus 250 Jahren (Göttinger Universitätsschriften, Serie A: Schriften 6), Göttingen 1987, S. 75–99. Biogramm: Martin Otto, [Art.] Pütter, Johann Stephan. In: NDB (wie Anm. 25), Bd. 21, Berlin 2003, S. 1 f. 42 Hunger (wie Anm. 40) S. 178 f. – Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800, München 1988, S. 309 f. 43 Johann Stephan Pütter an Laßberg, Göttingen 10.8.1785. 40
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schen Fürstenhaus bekannt gemacht, ein Umstand, der ihm als führender Experte im Fürstenprivatrecht und gefragter Verfasser von Rechtsgutachten durchaus gelegen kam.44 Es überrascht daher nicht, dass Karl Joachim und Geppert schon am Tag ihrer Ankunft in Göttingen am 26. Oktober Pütter einen Antrittsbesuch abstatteten und ein Empfehlungsschreiben aushändigten – das Pütter wiederum mit der Versicherung beantwortete, „zu Erreichung der Absicht des hiesigen Aufenthalts alles, was in meinen Kräften ist, beyzutragen“.45 Die Beziehung war für beide Seiten von Nutzen: Pütter gab während des Göttinger Aufenthalts des öfteren Rat in Fragen der Studienorganisation und des alltäglichen Lebens,46 lud Karl Joachim zudem zu Gesellschaften in seinem Haus ein, was nach Meinung Gepperts nur selten vorkam (und deshalb der Reputation Karl Joachims förderlich war)47. Auf der anderen Seite setzte Pütter seinem Schüler Karl Joachim in seiner Eigenschaft als Angehöriger eines reichsfürstlichen Hauses in seiner 1798 veröffentlichten Autobiographie ein literarisches Denkmal, das für jedermann sichtbar den Namen Fürstenberg mit dem Namen des renommierten Rechtslehrers in eine enge Beziehung stellte. Nach einer Aufzählung der 1785 und 1786 anwesenden Prinzen, darunter auch Karl Joachim, erinnerte sich Pütter 1798: „Alle diese Prinzen lebten auf einen sehr anständigen, aber nicht übertriebenen Fuß; meist nur so, wie bisher studierende Herren aus gräflichen Häusern bey uns gelebt hatten. Ein jeder brachte einen Begleiter mit, der die Stelle eines Hofmeisters vertrat, auch meist die Lehrstunden mit besuchte, obgleich zu deren Wiederholung nach Befinden andere Candidaten als so genannte Repetenten angenommen wurden. So ward […] dem Prinzen von Fürstenberg ein gewesener Major von Geppert aus Offenburg […] mitgegeben. Sie giengen in die Collegia, wie andere Studierende; nur daß ihnen, wie schon für die Grafen gewöhnlich war, eigne Stühle an Tischen gesetzt wurden.“ 48 Zum Fürstenprivatrecht im Werk Pütters vgl. Ebel (wie Anm. 41) S. 41, 93–97; Stolleis (wie Anm. 42) S. 315; Hunger (wie Anm. 40) S. 179; Link (wie Anm. 41) S. 99. 45 Pütter an Joseph Maria Benedikt, Göttingen 30.10.1785. 46 Geppert an Laßberg, Göttingen 24.12.1785. – Ders. an dens., ebd. 2.2.1786. 47 Geppert an Präsident [Laßberg], Göttingen 9.11.1785. 48 Johann Stephan Pütter, Selbstbiographie zur dankbaren Jubelfeier seiner 50jährigen Professorsstelle zu Göttingen, 2 Bde., Göttingen 1798, hier Bd. 2, S. 759 f. 44
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Nachdem er Karl Joachim mit Pütter bekannt gemacht hatte, führte Geppert ihn in die Universität, wovon er wenige Tage später nach Donau eschingen berichtete. Der Hofmeister und sein Zögling hatten Vorlesungen des Philosophen Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821)49 und des Historikers Ludwig Timotheus Spittler (1752–1810)50 besucht und damit zwei der berühmtesten Göttinger Universitätslehrer kennengelernt, allerlei Erkundigungen eingeholt und von allem einen zufriedenstellenden Eindruck gewonnen, so dass Geppert voraussagte: „[…] wann wir nicht als Doctoren zurückkommen, ist die Schuld nicht an der Universität“.51 Im Überschwang des ersten Eintauchens in die intellektuelle Atmosphäre der Universität Göttingen, die auf Seiten der akademischen Lehrer wie der Studenten geprägt war von Lehr- und Lernfreiheit, Disziplin, Fleiß und einem engen Praxisbezug,52 formulierte Geppert einen Anspruch, der insbesondere von einem studierenden Reichsfürsten nicht unbedingt eingelöst werden musste. Denn von ihm wurde nicht erwartet, Göttingen als „Doctor“ zu verlassen. Erwartet wurde aber, die akademischen Angebote zu nutzen und gleichzeitig die adeligen Exerzitien nicht zu vernachlässigen. Gepperts erster Bericht vom 9. November – der erste nach der Immatrikulation Karl Joachims in das sog. Fürsten Protocoll am 1. November53 – beFeder hielt im Wintersemester 1785 zwei Vorlesungen, eine über Logik und Metaphysik (diese von Karl Joachim besucht, s. Geppert an Laßberg, Göttingen 9.11.1785), die andere über philosophische Moral. Vgl. Verzeichnis der Vorlesungen, welche in dem nächsten Winter vom 17ten October 1785 an […] auf der Universität zu Göttingen gehalten werden, o.O. 1786, S. 9; Digitalisat: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN654655340_1785_WS (aufgerufen am 1.4.2021). Zum Göttinger Philosophen Feder siehe die Beiträge in HansPeter Nowitzki – Udo Roth – Gideon Stiening (Hrsg.), Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821). Empirismus und Popularphilosophie zwischen Wolff und Kant (Werkprofile. Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts 10), Berlin-Boston 2018. 50 Spittler trug im Wintersemester u.a. über die „Geschichte der vornehmsten Reiche Europens“ vor, vgl. Verzeichnis der Vorlesungen (wie Anm. 49) S. 13. Zu Spittler: Peter Hanns Reill, Ludwig Timotheus Spittler. In: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Deutsche Historiker, Bd. IX, Göttingen 1982, S. 42–60. – Dirk Fleischer, [Art.] Spittler 1). In: NDB (wie Anm. 25) Bd. 24, Berlin 2010, S. 715 f. 51 Geppert an N.N. („Monsieur“), Göttingen 29.10.1785. 52 Vgl. Hammerstein, Die deutschen Universitäten (wie Anm. 38) S. 166 f. – Rudolf Vierhaus, Göttingen vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Zeit der Französischen Revolution und Napoleons. In: Böhme – Vierhaus (Hrsg.) (wie Anm. 40) S. 19–42, hier S. 35 f. 53 Geppert hatte sich bereits am 28. Oktober immatrikuliert, um Karl Joachim in die Universität begleiten zu können. Geppert an Präsident [Laßberg], Göttingen 9.11.1785. – Götz v. Selle (Hrsg.), Die Matrikel der Georg-August-Universität zu Göttingen 1734– 1837, [Bd. 1] Text (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hannover, Ol49
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stätigte insofern die Erwartungen, meldete er doch sowohl die Teilnahme an akademischen Veranstaltungen (Vorlesungen bei Spittler und Feder, Geometrieunterricht bei Hofrat Meister54, Unterricht in englischer Sprache) als auch die Absolvierung des adelstypischen Lernprogramms (Reiten, Klavierspielen).55 An diesem Tagesablauf änderte sich auch im Sommersemester 1786 nichts. Karl Joachim hörte bei Spittler die „Geschichte der vornehmsten europ[äischen] Welthändel vom 16. Jahrh[undert] an“, bei Feder das „Naturrecht verbunden mit den Grundsätzen der Politik“, bei Pütter „deutsche Reichsgeschichte“56, übte sich in der englischen Sprache und der Geometrie, spielte Klavier, bewegte sich zu Pferd und zu Fuß. Der Prinz war, so Geppert, „genug und doch nicht zu viel occupiret“, zumal – Geometrie und Englisch ausgenommen – die Vorlesungen „den Kopf nicht sehr einnehmen“.57 Alle Stunden des Tages, auch die, in denen der „Kopf“ nicht beansprucht wurde, dienten der Formung der Persönlichkeit durch standesgemäße kulturelle Praktiken. Göttingen bot als Stadt, die im wesentlichen auf die Bedürfnisse der Universität abgestellt war – etwa zehn Prozent der gegen Ende der 1780er Jahre knapp 9000 Einwohner zählenden Stadt waren Studierende58 – zahlreiche Ablenkungen, darunter auch solche, die dem Alter Karl Joachims nicht angemessen waren oder Gefahren sittlichmoralischer bzw. finanzieller Art mit sich brachten. „Gelage, Maskeraden, Schlittenfahrten, Theater, Ausritte, Reisen oder Billardspiele“ gehörten zu den üblichen Vergnügungen der Studenten, die dabei allerdings stets un-
denburg, Braunschweig, Schaumburg-Lippe und Bremen 9), Hildesheim-Leipzig 1937, S. 291 Nr. 14020, Nr. 14024 A. 54 Albrecht Ludwig Friedrich Meister (1724–1788), seit 1764 Mathematikprofessor in Göttingen. Menso Folkerts, [Art.] Meister. In: NDB (wie Anm. 25), Bd. 16, Berlin 1990, S. 722 f. 55 Geppert an Präsident [Laßberg], Göttingen 9.11.1785. 56 Verzeichnis der Vorlesungen, welche in dem nächsten Sommer vom 1ten Mai 1786 an […] auf der Universität zu Göttingen gehalten werden, o.O. 1786, S. 9 u. 12; Digitalisat: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN654655340_1786_SS (aufgerufen am 1.4.2021). Die Vorlesung zur Reichsgeschichte bildete neben der Vorlesung zum deutschen Staatsrecht „das Kernstück“ von Pütters „akademische[r] Lehrtätigkeit über ein halbes Jahrhundert“. Ebel (wie Anm. 41) S. 36 f. 57 Geppert an Laßberg, Göttingen 26.3.1786. 58 Hunger (wie Anm. 40) S. 176. – Wieland Sachse, Bevölkerungs- und Sozialgeschichte der Stadt Göttingen vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Beginn der preußischen Zeit. In: Böhme – Vierhaus (Hrsg.) (wie Anm. 40) S. 217–254, hier S. 246.
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ter den wachsamen Augen der universitären Obrigkeit standen.59 Im Fall Karl Joachims kam diese Rolle Geppert zu, der Grenzen insbesondere dort setzen musste, wo die zu erwartenden Kosten das enge Budget gesprengt hätten. Eine Schlittenfahrt verweigerte der Hofmeister, da der „Spass“ 8 Louis d’or gekostet hätte;60 auch eine „lust reiße“ im April nach dem Vorbild anderer junger Leute musste Geppert seinem Schützling aufgrund der Kosten versagen.61 Ebenso verhielt es sich mit dem Wunsch Karl Joachims, mit seinem Lehrer Pütter nach Bad Pyrmont zu reisen.62 Die hohen Lebenshaltungskosten in Göttingen stellten Geppert ständig vor Probleme. Schon in seinem ersten ausführlichen Bericht erbat er sich einen Zuschuss zu dem ihm zugewiesenen Geld, und die „unverschähmteste Beutel-Schneidung“ durch die Göttinger Bürger empörte den Hofmeister.63 Als Beispiel führte er an, der Klavierlehrer habe 2 Louis d’or für acht Stunden Unterricht mit der Begründung verlangt, alle Schüler von „derley Stand und Geburt“ hätten soviel bezahlt. Von Pütter beraten, forderte Geppert 16 Stunden Unterricht und zahlte dem Vermieter des Klaviers 2 Reichstaler statt der geforderten drei.64 Die Ursache der hohen Forderungen sah er darin, dass die Bürger Göttingens ihre Lage als alleinige Anbieter von Dienstleistungen ausnutzten. Er nahm aber auch reiche Studenten nicht von der Kritik aus, die den Wert des Geldes nicht kannten und Distinktionsgewinne durch übertrieben hohe Ausgaben erwarteten.65 Konsumfreudige Studenten wiederum passten zu der Intention der Universitätsgründer, adelige Studenten nach Göttingen zu locken, um Wirtschaft und Gewerbe der Stadt durch den Geldzustrom in Aufschwung zu bringen – dass Göttingen durch den Erfolg dieser Standortpolitik zu einer besonders teuren Universitätsstadt wurde, konstatierten bereits die Zeitgenossen.66 Vgl. Brüdermann (wie Anm. 40) S. 412–417 zur „[s]tudentische[n] Freizeit im städtischen Raum und Umkreis“, Zitat S. 412. – Hammerstein, Universitäten (wie Anm. 22) S. 375. 60 Geppert an Laßberg, Göttingen 7.1.1786. 61 Geppert an Laßberg, Göttingen 26.3.1786. 62 Geppert an Laßberg, Göttingen 19.7.1786. Zu Pütters regelmäßigen Aufenthalten in Bad Pyrmont, dem „vornehmen norddeutschen Modebad“, s. Ebel (wie Anm. 41) S. 48 f. 63 Geppert an Präsident [Laßberg], Göttingen 9.11.1785. 64 Später meldete Geppert, er habe ein Klavier gekauft – das sei besser, als ein schlechtes „clavecin“ zu mieten. Geppert an Laßberg, Göttingen 2.2.1786. 65 Geppert an Präsident [Laßberg], Göttingen 24.12.1785. 66 Vgl. Wagener (wie Anm. 40) S. 39. – Vierhaus (wie Anm. 52) S. 28 f., 31. – Hunger (wie Anm. 40) S. 176. – Heinrich Bosse, Studien- und Lebenshaltungskosten Hallischer 59
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Gepperts Klage über die hohen Lebenshaltungskosten war auch durch die Sparzwänge bedingt, die sich aus der Zerrüttung der fürstenbergischen Finanzen ergaben. Das Fürstentum Fürstenberg bzw. der Fürst war Mitte der 1780er Jahre mit etwa 1,8 Millionen Gulden verschuldet. Dem standen bei kontinuierlichen, weitaus höheren Ausgaben jährliche Einnahmen von (geschätzt) etwa 300.000 Gulden gegenüber.67 Das hatte unmittelbar Auswirkungen auf den finanziellen Spielraum des Hofmeisters, der sich gleichzeitig herausgefordert sah, standesgemäß – das heißt: so wie es sich für den zweitgeborenen Prinzen eines mittelgroßen südwestdeutschen Fürstentums gehörte – zu leben. Das war nicht einfach, setzten die Finanzen doch immer wieder Grenzen. Die Information, dass Prinz Liechtenstein in Göttingen 1200 Gulden, der Erbprinz von Nassau-Saarbrücken gar 1500 Gulden jährlich ausgaben, beunruhigte Geppert nicht wenig – „so weit, wills Gott, soll es mit uns nicht gedeihen“.68 Gleichzeitig setzten die beiden Prinzen Standards, die nicht unterschritten werden durften. Hinter den Geschenken, die Prinz Nassau bzw. Prinz Liechtenstein dem Stallmeister gemacht hatten – eine goldene Uhr mit goldener Kette bzw. eine goldemaillierte Tabaksdose –, konnte man im Hinblick auf standesgemäße Repräsentation nicht zurückbleiben.69 Die Ankunft der drei jüngsten Söhne Georgs III. (1738–1820), Kurfürst von Hannover, König von Großbritannien und Irland,70 die ab dem Sommer 1786 in Göttingen studieren sollten,71 setzte die Maßstäbe nicht höher – mit dem Statusaufwand eines königlichen Hauses konnte sich ein fürstenbergischer Prinz nicht messen. Und doch registrierte Geppert, dass Karl Joachim von dem Gerücht sehr beeindruckt war, die Prinzen – Ernest Augustus (1771–1851), Augustus Frederick (1773–1843) und Adolphus Frederick (1774–1850) – kämen in Begleitung von vier Hofmeistern, vier Kavalieren, drei Köchen, zwei Küchenhelferinnen, zwei SilberwäscherinStudenten. In: Hammerstein (Hrsg.), Universitäten (wie Anm. 40) S. 137–158, hier S. 154 f. (Vergleich der Lebenshaltungskosten mit Halle). 67 Asch (wie Anm. 6) S. 346 f.; zur zerrütteten Finanzlage in den fürstenbergischen Territorien vgl. Gilgert (wie Anm. 3) S. 150–152. 68 Geppert an Präsident [Laßberg], Göttingen 24.12.1785. 69 Geppert an Laßberg, Göttingen 2.4.1786. 70 Hans-Christoph Schröder, Georg III., 1760–1820. In: Peter Wende (Hrsg.), Englische Könige und Königinnen der Neuzeit: Von Heinrich VII. bis Elisabeth II., 3. Auflage, München 2020, S. 220–241. 71 Vgl. Oehler (wie Anm. 39) S. 129–143. – F[erdinand] Frensdorff, Die englischen Prinzen in Göttingen. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen 1905, S. 421–481. Hinweise auch bei Wagener (wie Anm. 40) S. 139–142.
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nen, einem Konditor, vier Kammerdienern, zehn livrierten Dienern sowie 36 Pferden nach Göttingen.72 Die Neugierde war geweckt, so dass Karl Joachim den Prinzen in Begleitung Gepperts schon am Tag nach ihrer Ankunft, am 7. Juli, einen Antrittsbesuch machte, der am 9. Juli durch eine Gegenvisite beantwortet wurde, „eine Ehre die niemand auser ihme und dem Printzen von Anhalt wiederfahren“. Es folgte eine formelle Einladung zur Mittagstafel, womit alle zeremoniellen Vorschriften erfüllt waren. Fortan konnte „man sich […] ohne das mindeste Etiquette zu beobachten bey müssigen Stunden freundschaftlich besuchen und besprechen“.73 In welcher Sprache sich die Jugendlichen unterhielten, ist nicht bekannt. Aufgrund der unzureichenden Deutschkenntnisse der königlichen Prinzen bediente man sich wohl der französischen oder der englischen Sprache, womit wiederum gezeigt war, dass die Ausbildung Karl Joachims in diesen Sprachen ihren Zweck erfüllt hatte.74 Als die englischen Prinzen in Göttingen eintrafen, ging Karl Joachims Aufenthalt in der Landesuniversität des Kurfürstentums Hannover dem Ende entgegen. Natürlich durfte nicht der Eindruck entstehen, man verlasse Göttingen ihretwegen (auch wenn Geppert manche Verhaltensweisen der Prinzen nicht gefielen).75 Entsprechenden Vermutungen baute Karl Joachim im Gespräch mit den Prinzen vor. Entscheidend war, dass der vom Bruder und seinen Beratern entworfene Bildungsplan einen Ortswechsel nach Würzburg vorsah. Göttingen zu verlassen, machte Geppert wohl nicht unglücklich. Das norddeutsch-lutherische Umfeld behagte dem Hofmeister nicht.76 Das lag weniger an dem beklagenswerten Zustand der katholischen Gemeinde, die dabei war, erstmals eine (durch Kollekten fi-
Geppert an Laßberg, Göttingen 3.5.1786. – Oehler (wie Anm. 39) S. 133, spricht von einer „große[n] Zahl an Bediensteten“ und bezweifelt eine Quellenangabe, wonach das Gefolge etwa 70 Personen umfaßt habe. 73 Geppert an Laßberg, Göttingen 19.7.1786. 74 Zu den Deutschkenntnissen der Prinzen: Frensdorff (wie Anm. 71) S. 433, 443. – Oehler (wie Anm. 39) S. 133. 75 Geppert berichtete Laßberg am 19.7.1786 vom Abschuß eines Rehbocks im Hausgarten sowie von zerschlagenen Uhren und Möbeln im Haus der von ihm als „petulants“ bezeichneten Prinzen. Diese Vorkommnisse führte er auf den englischen Charakter und die englische Erziehung zurück. 76 Die Göttinger Bevölkerung gehörte fast ausnahmslos der lutherischen Kirche an. Vgl. Konrad Hammann, Geschichte der evangelischen Kirche in Göttingen (ca. 1650–1866). In: Böhme – Vierhaus (Hrsg.) (wie Anm. 40) S. 525–586, hier S. 525. – Wagener (wie Anm. 40) S. 37. 72
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nanzierte) Kirche zu bauen,77 sondern an der Stadt selbst, die ihm wenig Lustbarkeiten bot, bei Abwesenheit der Studenten „um kein Haar besser [war] als das elendste Dorf aufm Schwarzwald“ und zudem mit „nicht trinckbarem Wein“ und einer Kost aufwartete, die „für einen schwäbischen Magen schlechterdings unverdaulich“ war.78 Von persönlichen Befindlichkeiten war in dem abschließenden Bericht aus Göttingen jedoch nicht zu sprechen. Hier ging es um die Beantwortung der Frage, ob die pädagogischen Bemühungen, die auf religiösem Fundament zur „zeitlichen Glückseligkeit“ hinzielten, „Bildung des Hertzens und Aufklärung des Verstandes“ bewirkt hatten. Was die Wissenschaften anging, konnte Geppert im September 1786 eine erfreuliche Bilanz ziehen. Karl Joachim hatte Logik und Metaphysik gehört und daraus mehr Nutzen als in Straßburg gezogen. Reichsgeschichte – Pütters Hauptvorlesung – war sein „Lieblingsstudium“ gewesen. Er hatte Schmidts Geschichte der Deutschen, ein Hauptwerk der aufgeklärt-katholischen Geschichtsschreibung,79 außerdem Doepsers Abriß der fürstenbergischen Geschichte durchgearbeitet, daneben weitere Geschichtsschreiber. Das in den Anfängen stehende Studium des Naturrechts und der Staatsklugheit – „wesentliche Stücke der Erziehung eines Printzen“ – sollte im nächsten Jahr anhand von Feders Schriften fortgesetzt werden.80 Auch in der englischen Sprache hatte Karl Joachim nach anfänglicher Ablehnung erfreuliche Fortschritte gemacht. Anders verhielt es sich mit der Geometrie, einer Disziplin, von der Karl Joachim sagte, sie „tauge nichts für einen Menschen von Stand“, auch wolle er kein Ingenieur werden. Das waren taxierbare Wissensbestände, deren künftige Erweiterungen und ErgänzunSabine Wehking, Die Entwicklung der katholischen Gemeinde in Göttingen 1746– 1866. In: Böhme – Vierhaus (Hrsg.) (wie Anm. 40) S. 587–608, hier S. 595–597. – Vgl. die Mitteilungen Gepperts im Brief an Laßberg, Göttingen 9.11.1785. 78 Geppert an Laßberg, Göttingen 2.12.1785. – Ders. an dens., ebd. 26.2.1786. – Ders. an dens., ebd. 3.5.1786. Klagen über die schlechte Qualität des Essens waren unter Göttinger Studenten weit verbreitet, vgl. Brüdermann (wie Anm. 40) S. 411. 79 Puschner (wie Anm. 33) S. 210. 80 Einschlägig: Johann Georg Feder, Grundlehren zur Kenntniß des Menschlichen Willens und der natürlichen Gesetze des Rechtsverhaltens, 2 Tle., Göttingen 1782. Der zweite Band enthält das „Recht der Natur“ und die „Staatsklugheit“. Auflistung der zahlreichen Auflagen des weit verbreiteten Werks und der Rezensionen bei Diethelm Klippel, Naturrecht und Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert. Eine Bibliographie, 1780 bis 1850, Tübingen 2012, S. 14, Nr. 81–83. Zum Thema vgl. Dieter Hüning, Feders Naturrecht. Die Rechtsphilosophie des gesunden Menschenverstandes. In: Nowitzki – Roth – Stiening (Hrsg.) (wie Anm. 49) S. 255–272. 77
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gen sich planen ließen. Jus publicum, Experimentalphysik, Militär- und Zivilbaukunst standen als neue Fächer auf dem Bildungsplan, daneben Klavierspielen, Reiten und die englische Sprache. In allen diesen Fächern waren Fortschritte im Sinne des Erziehungsplans zu erwarten. Was die charakterliche Entwicklung Karl Joachims betraf, äußerte sich Geppert deutlich skeptischer. Er brachte Monita zur Sprache, die er bereits vor drei Jahren vorgebracht hatte, als erwogen worden war, Karl Joachim in das Theresianum nach Wien, eine „Hochschule für adlige Studenten“, zu schicken.81 Schon damals war beobachtet worden, dass der Prinz sich mit Personen seines Alters nicht vertrug. Insbesondere gelinge es ihm nicht, die ihm zugewiesenen Erwartungen hinsichtlich seiner Einordnung in die sich zwar auflösende, aber doch noch Orientierung bietende ständische Ordnung zu erfüllen. Personen unter seinem Stand behandele er, so Geppert, mit „beleidigende[r] Geringschätzung“, gegenüber Gleichgestellten und Höheren fordere er Vorzüge. Sein „sanguinisch-cholerische[s] Temperament“ stehe ihm im Weg.82 Wü r z b u r g Von diesen Dingen musste in Joseph Maria Benedikts Abschiedsbrief an Pütter vom 6. Oktober 1786 nicht die Rede sein, mit dem die soziale Beziehung zu dem Göttinger Rechtslehrer nicht beendet, sondern gleichsam still gestellt wurde – um sie bei Gelegenheit womöglich wieder in Geltung zu setzen.83 Das Leben in Göttingen lag hinter Karl Joachim, die Etappe in Würzburg begann. Am selben Tag noch schrieb der Fürst einen Empfehlungsbrief an den Würzburger Fürstbischof, um seinen studierenden Bruder in ein neues soziales Feld zu stellen.84 Dass dabei – ganz anders als in Göttingen – die Integration in eine adelige (Hof-)GesellZum Theresianum, 1746 als „Mischung aus Ritterakademie und Jesuitenkolleg“ (Barbara Stollberg-Rilinger, Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. Eine Biographie, 2. Auflage, München 2017, S. 707) gegründet, mit Verordnung vom 1. August 1784 von Kaiser Joseph II. aufgelöst, vgl. Cerman (wie Anm. 9) S. 219–242, Zitat S. 222. – Helmut Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs, Bd. 3: Von der frühen Aufklärung bis zum Vormärz, Wien 1984, S. 181–186. 82 Geppert an Joseph Maria Benedikt, Göttingen 1.9.1786. 83 Joseph Maria Benedikt an Pütter, Donaueschingen 6.10.1786. – Pütter an Joseph Maria Benedikt, Göttingen 26.11.1786. 84 Joseph Maria Benedikt an Fürstbischof [Franz Ludwig Freiherr von Erthal], Donau eschingen 6.10.1786. 81
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schaft von Bedeutung sein würde, wurde dem Hofmeister schon bald nach der Ankunft in der fränkischen Haupt- und Residenzstadt, die 1787 mit etwa 18.000 Einwohnern etwa doppelt so groß wie Göttingen war, verdeutlicht.85 So berichtete er im Dezember 1786 von dem „zahlreiche[n], wohlhabende[n], und ziemlich hochtrappende[n] [!] Adel“, der sich nach außen abschließe und Zugang zu seinen Verkehrskreisen nur aufgrund von Empfehlungen gewähre.86 Zwar laufe Karl Joachim aufgrund seiner familiären Herkunft keine Gefahr, abgewiesen zu werden, doch seien Empfehlungsschreiben von Vorteil gewesen, um Anschluss zu finden. So konnte Geppert berichten: „An guter Gesellschaft gebricht es nimmermehr, man ist vielmehr über die Wahl verlegen.“ Daher sei eher zu bedenken, wie die zeitlich aufwendige Teilnahme am gesellschaftlichen Leben mit den ebenso aufwendigen Pflichten des Studiums zu vereinbaren sei. Das Problem war für Geppert neu, weil in Göttingen nicht die Möglichkeit – und Notwendigkeit – bestanden hatte, Karl Joachim in Adelskreise einzuführen. Die starke Adelspräsenz legte es andererseits von Seiten der Universität nahe, das Studium an die spezifischen Erfordernisse dieser sozialen Gruppe anzupassen. Denn Geppert erkannte im Dezember, dass die Teilnahme an den schon weit fortgeschrittenen, zudem auf Latein gehaltenen Vorlesungen nicht möglich sein würde.87 Es war daher passend, dass Hofrat Zu Würzburg als Zentrum der katholischen Aufklärung, als Residenz- und Universitätsstadt sowie zur Prägung durch Architektur und bildende Kunst vgl. Frank Kleinehagenbrock, Würzburg. In: Adam – Westphal (Hrsg.) (wie Anm. 19) S. 2293–2332. – Herbert Schott, Fürstlicher Absolutismus und barocke Stadt. In: Ulrich Wagner (Hrsg.), Geschichte der Stadt Würzburg, Bd. 2: Vom Bauernkrieg 1525 bis zum Übergang an das Königreich Bayern 1814, Stuttgart 2004, S. 130–202, hier S. 178–180. – Jörg Lusin, Die städtebauliche Entwicklung 1525–1814. In: Ebd. S. 264–290, bes. S. 284–289. – Peter Baumgart, Bildungswesen und Geistesleben. In: Ebd. S. 351–381, hier S. 368–376. – Stefan Kummer, Architektur und bildende Kunst von den Anfängen der Renaissance bis zum Ausgang des Barocks. In: Ebd. S. 576–678, hier S. 611–678. Zur Bevölkerungsgröße siehe Erik Soder von Güldenstubbe, Sozialgeschichte der Stadt Würzburg 1500–1815. In: Ebd. S. 464–488, hier S. 469. 86 Das Folgende, auch die Quellenzitate, nach dem Bericht Gepperts an Laßberg vom 17.12.1786. 87 Während die ab dem 2. November 1785 angebotenen Lehrveranstaltungen auf Latein angekündigt wurden (Catalogus praelectionum publice et privatim in Academia Iulia Wirceburgi a die II. novembris MDCCLXXXV habendarum), bediente man sich ab dem Wintersemester 1786/87 der deutschen Sprache (Ordnung der öffentlichen und Privatvorlesungen auf der Julius-Hohenschule zu Wirzburg für das Wintersemester 1786–1787). Digitalisat: http://vb.uni-wuerzburg.de/ub/permalink/00rp14525ws1785ws1810_105504923 (aufgerufen am 1.4.2021). 85
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Joseph Maria Schneidt (1727–1808)88 in einem einjährigen Zyklus die ganze „bürgerliche Rechts-Gelehrtheit“ mit täglichen Erläuterungen auf Deutsch unterrichtete. Man konnte diese Vorlesungen von einem Kandidaten der Rechte mitschreiben lassen, was den adeligen Studenten entlastete und seinen Studiergewohnheiten entsprach: „Dieser Methode, wo die Institutiones und Pandecten gleichsam in eine Form gegossen vorgetragen werden, hat man sich schon mehrmalen bey Personen von Stande mit dem besten Erfolg bedient.“ Das mochte auch für das „privatissime“ vorgetragene Kolleg des Hofrats Samhaber (1754–1814)89 über deutsches Staatsrecht, Fürstenprivatrecht und Feudalrecht gelten, der seine Thesen anhand der Schriften Pütters entwickelte.90 Dazu kam von unterschiedlichen Lehrern erteilter Unterricht in Schönschrift und Orthographie, englischer Sprache, Klavierspielen, Reiten sowie Religion. Angesichts des zeitlich anspruchsvollen Programms stellte sich das Problem, die Teilnahme am Hofleben mit den Studienpflichten zu koordinieren. Besuchte Karl Joachim die Mittagstafel, mussten drei Kurse ausfallen, besuchte er die Abendtafel, litt die Vorbereitung auf den nächsten Arbeitstag. Würzburg präsentierte sich Karl Joachim – zumal im Gegensatz zu Göttingen – als „große[] Welt nach dem eigentlichen Verstand des Wortes“ mit zahlreichen Gelegenheiten zu standesgemäßem Zeitvertreib und (Kultur-)Konsum. Karl Joachim bewegte sich in einem sozialen Feld, in
Zu Schneidt, der seit 1765 in Würzburg die Pandekten und das Fränkische Recht lehrte, vgl. Friedrich Merzbacher, Joseph Maria Schneidt (1727–1808). In: Alfred Wendehorst – Gerhard Pfeiffer (Hrsg.), Fränkische Lebensbilder, Bd. 9 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Reihe VII A), Neustadt a.d. Aisch 1980, S. 204–219. – Anton Schindling, Die Julius-Universität im Zeitalter der Aufklärung. In: Peter Baumgart (Hrsg.), Vierhundert Jahre Universität Würzburg. Eine Festschrift (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Würzburg 6), Neustadt a.d. Aisch 1982, S. 77–127, hier S. 107 f. 89 Johann Baptist Aloys Samhaber, 1777 außerordentlicher Professor, lehrte seit 1786 als Ordinarius Reichsstaatsrecht und Reichsprozeßrecht, vgl. Franz X. von Wegele, Geschichte der Universität Wirzburg, Tl. 1: Geschichte, Würzburg 1882, S. 477. 90 Als Textreferenzen nannte Geppert: Johann Stephan Pütter, Kurzer Begriff des Teutschen Staatsrechts, 2. Auflage, Göttingen 1768. – Ders., Beyträge zum Teutschen Staatsund Fürsten-Rechte, 2 Tle., ebd. 1777–1779. Von Pütters „Historische[r] Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs“ – nach Gepperts Meinung „ein vortrefliches in dasigen Gegenden kaum bekanntes Werck“ (Geppert an Laßberg, Würzburg 17.12.1786) – waren im Dezember 1786 Band 1 und 2 erschienen; Band 3 erschien 1787. Zu diesen Werken vgl. Ebel (wie Anm. 41) S. 97–109. 88
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dem der fürstbischöfliche Hof und die Adelsgesellschaft einerseits,91 die akademische Umwelt andererseits Regeln etablierten und Handlungslogiken einforderten, denen der Prinz (und sein Hofmeister) entsprechen mussten. In einem Brief vom Januar 1787 versicherte Karl Joachim seinem Bruder, dass das Spannungsverhältnis nicht zuungunsten des Studiums gelöst werde,92 ähnlich äußerte sich Geppert in einem ausführlichen Schreiben wenige Tage später.93 Allerdings betonte der Hofmeister, was wirklich bedeutsam war, indem er die Fortschritte im juristischen Studium nur nebenbei erwähnte. Viel wichtiger waren ihm Mitteilungen über die Inte gration Karl Joachims in die Adelsgesellschaft bei Hof und in der Stadt, die ihre Grundlage in der Nahbeziehung des fürstenbergischen Prinzen mit dem Fürstbischof Franz Ludwig Freiherr von Erthal (1730–1795) hatte.94 Der Hofmeister konnte nach Donaueschingen melden, bei Hof werde der Prinz „mit all möglicher Achtung und Diskretion behandelt“, jeden Sonntag zur Tafel geladen und dabei vom Fürstbischof regelmäßig mit einer Privataudienz ausgezeichnet;95 zudem besuche Karl Joachim jeden Abend „Gesellschaften des höhern Adels“.96 Umso erstaunter war der Hofmeister, als er sich im Februar gegen Vorwürfe zur Wehr setzen musste, er wolle aus Karl Joachim einen „Doctorem juris“ machen. Tatsächlich, so seine Entgegnung, achte er darauf, dass dem Prinzen mit Blick auf seine spätere Karriere eine lediglich „superficielle Kantnus“ des Rechts, vor allem des deutschen Staatsrechts, vermittelt werde. Zugleich betonte Geppert, dass er seinen Schützling keineswegs vom Überblick: Frank Kleinehagenbrock, Der Hof der Fürstbischöfe von Würzburg im 18. Jahrhundert. In: Dorothea Klein – Franz Fuchs (Hrsg.), Kulturstadt Würzburg. Kunst, Literatur und Wissenschaft von der Schönbornzeit bis zur Reichsgründung, Würzburg 2013, S. 1–18. 92 Karl Joachim an Joseph Maria Benedikt, Würzburg 14.1.1787. 93 Geppert an Laßberg, Würzburg 20.1.1787. 94 Biogramm: Egon Johannes Greipl, [Art.] Erthal, Franz Ludwig Reichsfreiherr von. In: Erwin Gatz (Hrsg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1648 bis 1803. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1990, S. 93–95. – Ausführliche Darstellung bei Winfried Romberg, Die Würzburger Bischöfe von 1746 bis 1802 (Germania Sacra. 3. Folge 18. Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz. Das Bistum Würzburg 9), Berlin-Boston 2020, S. 383–558. 95 Zur unter Erthal im Vergleich zu seinen unmittelbaren Vorgängern reduzierten Hofhaltung (u.a. Beschränkung der öffentlichen Hoftafel) vgl. Romberg (wie Anm. 94) S. 416–418. 96 Geppert an Laßberg, Würzburg 20.1.1787. 91
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„Umgang mit der großen Welt“ fernhalten wolle – zahlreiche Bälle, Konzerte, Gesellschaften seien besucht worden, auch habe der Prinz am 25. Januar auf eigene Kosten einen Ball für den „hohen Adel“ gegeben.97 Das Frühjahr 1787 verlief in den Bahnen, die der Hofmeister im Einverständnis mit dem Bruder vorgezeichnet hatte. Geppert berichtete vom Abschluss des juristischen Kurses, von der Anfertigung neuer Hofkleidung, von der Teilnahme an vom Fürstbischof zelebrierten Gottesdiensten.98 Das waren Standardthemen in Briefen des Hofmeisters, die das Alltägliche abbildeten. Bald sollten allerdings andere Probleme an Bedeutung gewinnen, die ebenso alltäglich waren, aber den Rahmen des Erwünschten sprengten. Im Mai klagte Geppert über aggressive Ausfälle Karl Joachims gegenüber seinen Dienern, die bei einem Bediensteten zur Bitte um Versetzung geführt hatte. In vorsichtigen Formulierungen erinnerte Geppert daran, dass der Diener nur wenige Stunden am Tag mit dem Prinzen zu tun habe, er selbst aber den ganzen Tag „unbeschreiblichen Anzüglichkeiten“ ausgesetzt sei.99 Mit dem Verweis auf die eigene Befindlichkeit brachte der Hofmeister einen neuen Aspekt in seine Berichterstattung ein,100 der gleichwohl das Hauptthema – die Stimmungen Karl Joachims – nicht verdrängte. Anfang Juli teilte Geppert mit, der Prinz befinde sich in der „unerträglichsten Laune“ und sei nicht mehr bereit, sich den vorgeschriebenen Alltagsroutinen anzupassen. Der Hofmeister musste sich nicht nur mit Beschwerden über die angeblich nicht standesgemäße Kleidung beschäftigen, sondern vor allem mit dem Desinteresse Karl Joachims an den üblichen Vergesellschaftungsformen (Gesellschaften bei Hof, Spiele, Spaziergänge …). Auch erschüttere der Anblick eines Lehrers sein „Nervensystem“ nachhaltig, so dass die Professoren es bereuten, in die Abhaltung von Privatstunden eingestimmt zu haben. Geppert erklärte das Verhalten seines Zöglings mit der Überforderung durch das seit früher Kindheit betriebene Studium. Daher empfahl er, Karl Joachim nach Abschluss des Rechtsunterrichts für ein Jahr „von allen Kopf anstrengenden Beschäftigungen“ zu befreien.101 Bei dieser Empfehlung blieb Geppert auch in seinem eindringlich formulierten Bericht vom 1. August, in dem er die Etappe der Erziehung und Geppert an Laßberg, Würzburg 3.2.1787. Geppert an Laßberg, Würzburg 22.2.1787. – Ders. an dens., ebd. 20.3.1787. 99 Geppert an Laßberg, Würzburg 27.5.1787. 100 Später meldete Geppert: „Sorgen, Kummer, und Verdrus haben mich beynahe aufgezehrt; meine Gesundheit ist ohne Rettung dahin.“ Geppert an Laßberg, Würzburg 1.8.1787. 101 Geppert an Laßberg, Würzburg 4.7.1787. 97 98
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des Studiums in Würzburg bilanzierte.102 Auf die Leser in Donaueschingen mussten insbesondere die Abschnitte des Berichts alarmierend wirken, in denen Geppert Karl Joachims Fehlverhalten im höfischen Kontext beschrieb. Problematisch war vor allem, dass er „schlechterdings“ forderte, jedermann solle sich nach seinen „capricen“ richten und seinen Forderungen nachgeben. Die für das Hofleben unabdingbare Begabung (oder Neigung?), Distanz und Nähe im Umgang mit anderen Menschen entlang der ständischen Hierarchie und im Einklang mit Forderungen aufgeklärter Vergesellschaftungslehren auszutarieren,103 besaß Karl Joachim nicht – „was wunder, wenn ihme der Umgang mit der großen Welt zum Eckel geworden [ist]“. Dass ihm Besuche bei Hof dadurch zuwider waren, konnte Bruder und Vormund mit Blick auf den weiteren Lebensweg, der ohne Anpassung an die Konventionen des Hoflebens nicht denkbar war, nicht unbeeindruckt lassen. Vor der Entscheidung über das weitere Vorgehen wurden mehrere Argumente abgewogen. Gepperts Vorschlag, Karl Joachim zunächst nach Donaueschingen, über den Winter dann nach Straßburg oder Nancy zu schicken, um ihn im kommenden Frühjahr eine Länderreise antreten zu lassen (und ihn nach der Rückkehr „mit einer hübschen Gemahlin [zu] überraschen“), wurde nicht akzeptiert.104 Stattdessen beschloss Joseph Maria Benedikt nach Beratung mit seinem Schwiegervater im August 1787, seinen Bruder nach Beendigung der Kurse nach Wien zu schicken, um ihn im Natur-, Völker- und Staatsrecht unterrichten zu lassen (das bürgerliche Recht, das keinen praktischen Nutzen brachte, sollte nicht mehr gelehrt werden). Trete die gewünschte Verhaltensänderung, die auf sein „öffentliches Betragen“ zielte, nicht ein, sollte eine Stelle als Unterleutnant in einem kaiserlichen Regiment gesucht werden – die letzte Stufe der Disziplinierung, die zugleich den ersten Karriereschritt darstellte.105 Joseph Wilhelm von Hohenzollern-Hechingen als vom Kaiser eingesetzter Vormund schloss sich dem Stufenplan an, insbesondere dem Vorschlag, dem Prinzen eine Stelle im kaiserlichen Militär – „eine sehr nützliche Das Folgende nach dem Bericht Gepperts an Laßberg, Würzburg 1.8.1787. Als Grundsatz formulierte der Hofmeister im Bericht vom 1.8.1787: „Andern Menschen Gutes thun, und überhaupt ihre Glückseligkeit zu bedencken, und zu befördern, auch wenn nicht, wegen besonderen Verbindungen, unser eigener Vortheil uns dazu antreibt, macht uns die Natur gewißermaßen zur Bedürfnus, der göttliche Wille aber zur unzweifelhaften Pflicht.“ 104 Ebd. 105 Auszug aus dem Regierungs- und Hofkammerprotokoll vom 13.8.1787. 102 103
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Schule“ – zu besorgen, wenn sich keine „bessere Gemüthsart“ einstelle.106 Landgraf Joachim Egon von Fürstenberg (1749–1828), dessen Meinung als Agnat der Familie ebenfalls eingeholt worden war, forderte sogar, den Prinzen sogleich in den Militärdienst zu geben, um ihn die „nöthige Subordination“ erlernen zu lassen.107 Alle Stellungnahmen flossen in den Antrag ein, den Laßberg am 3. Dezember im Regierungskollegium einbrachte: Karl Joachim sollte sich nur kurz in Donaueschingen aufhalten, im nächsten Jahr an einen Hof verschickt werden und im Anschluss mit einer Offiziersstelle versehen werden. Die Fürstin Maria Antonia (1760–1797) stimmte dem Plan zu und schlug Nancy vor, das Regierungskollegium wünschte den Aufenthalt an einem deutschen Hof, etwa Brüssel oder Dresden.108 Joseph Maria Benedikt bestimmte schließlich in Übereinstimmung mit seinem Schwiegervater wegen des vielfältigen Unterrichtsangebots Brüssel als geeigneten Ort.109 Di e K a v a l i e r s t o u r Die Kavalierstour, die Karl Joachim im April 1788 in Begleitung des Hofmeisters Geppert antrat, dem, wohl mit Rücksicht auf die angegriffene Gesundheit, als weiterer Begleiter Joseph Kleiser (1760–1830)110 beigegeben wurde, war die letzte Etappe eines in den Bahnen des Üblichen verlaufenden Adelsstudiums. Die Berichte über Karl Joachims abweichendes, die familiären Normen überschreitendes Verhalten hatten in Donaueschingen erhebliche Irritationen ausgelöst. Die Rückkehr zum Standardverlauf adeliger Erziehung111 wurde zum dringenden Bedürfnis. Wohl auch deshalb Joseph Wilhelm von Hohenzollern-Hechingen an Joachim Landgraf von Fürstenberg, Hechingen 29.8.1787. Den Einfall, Karl Joachim nach Berlin zu schicken, wo er „von seinen Unarten am leichtesten abgebracht würde“, verwarf Joseph Wilhelm selbst, würde dies beim kaiserlichen Hof doch „einiges Aufsehen“ erregen. 107 Joachim Landgraf von Fürstenberg an Joseph Wilhelm, Weitra 14.9.1787 (Zitat). – Ders. an Maria Antonia Fürstin von Fürstenberg, ebd. 27.9.1787. 108 Regierungsprotokoll Nr. 758 vom 3.12.1787. 109 Joseph Wilhelm an Joseph Maria Benedikt, Hechingen 15.12.1787. – Verfügung Joseph Maria Benedikts vom 22.12.1787, Anlage zum Regierungsprotokoll Nr. 758. 110 Zu Kleiser vgl. die Angaben auf der Webseite des Landesarchivs Baden-Württemberg: https://www2.landesarchiv-bw.de/ofs21/olf/einfueh.php?bestand=14984 (aufgerufen am 1.4.2021). 111 Die Bearbeitung von Abweichung war ein Problem, das in der Adelserziehung grundsätzlich reflektiert wurde. Siehe etwa Johann Christof Wagenseil, Von Erziehung Eines 106
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lesen sich die Briefe und Berichte Gepperts und Kleisers (und auch Karl Joachims) geradezu als musterhafte Beschreibungen einer gelungenen Kavalierstour, zu der insbesondere die „Perfektionierung der standesspezifischen höfischen Umgangsformen […] sowie die Integration in die europ[äische] höfische Gesellschaft“ gehörten. Dies geschah durch den Besuch von Fürstenhöfen und den Umgang mit Adeligen, die damit einhergehende „Erprobung und praktische Einübung der höfischen Etikette und des Hof-Zeremoniells“, ein umfangreiches Besichtigungsprogramm (Baukunst, Innenarchitektur, Gärten) und die Wahrnehmung kultureller und politischer Unterschiede in den Transit- und Zielländern der Reise.112 Die Reise von Donaueschingen nach Brüssel musste mithin nicht auf schnellstem Wege erfolgen, sondern so, dass die Erwartungen an eine Kavalierstour erfüllt wurden. Aus Eichstätt konnte Geppert zufrieden berichten, dass „der Printz [vom Fürstbischof ] mit ausgezeichneten Ehren empfangen und bewürthet“ worden sei. Ebenso verhielt es sich in Triesdorf, dem Sommersitz der Markgrafen von Ansbach-Bayreuth.113 Über Ansbach, Würzburg und die kurmainzische Sommerresidenz Aschaffenburg ging es nach Frankfurt, wo das Theater besucht wurde und Geppert mit Geldgeschäften des Fürstenhauses beschäftigt war. In Mainz, der nächsten Station, hatte Karl Joachim Gelegenheit, mit dem Kurfürsten ein halbstündiges Gespräch über „zerschiedene Gegenstände“ zu führen und verbrachte den Abend in Gesellschaft adeliger Damen bei Hofe, so dass der Aufenthalt seinen Zweck erfüllte. Dass dem Prinzen kein Hofwagen gestellt worden war, schadete nicht – Geppert bestätigte, Karl Joachim sei „sehr gnädig aufgenommen“ worden. Auch in Koblenz, Neuwied (Sitz der Herrnhuter Brüdergemeine), Bonn und Köln wurden Standesgenossen und Verwandte besucht, Besichtigungen gemacht, höfische Vergnügungen gesucht.114 In Aachen besah die Reisegruppe die Reichskleinodien, Jungen Printzen, der vor allen Studiren einen Abscheu hat / daß er dennoch gelehrt und geschickt werde […], Leipzig 1705. Auszüge und Erläuterungen bei Hans-Otto Mühleisen – Theo Stammen – Michael Philipp (Hrsg.), Fürstenspiegel der Frühen Neuzeit (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens 6), Frankfurt am Main-Leipzig 1997, S. 521–559 (Abschnitt bearb. v. Konstanze Allnach). 112 Vgl. Hilmar Tilgner, [Art.] Kavalierstour. In: EdNZonline (wie Anm. 29). http://dx.doi. org.emedien.ub.uni-muenchen.de/10.1163/2352-0248_edn_COM_291322 (aufgerufen am 1.4.2021), hieraus die Zitate. – Leibetseder (wie Anm. 9). – Cerman (wie Anm. 9) S. 243–251. 113 Geppert an Maria Antonia, Würzburg 20.4.1788. 114 Geppert an Maria Antonia, Köln 3.5.1788.
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eine Reminiszenz an das Reich, das bald darauf verlassen wurde, um über Maastricht und Löwen – hier bewunderte man den 1750 gebauten Kanal, der die Stadt mit dem schiffbaren Teil der Dijle verband – Brüssel zu erreichen.115 Die Hauptstadt der österreichischen Niederlande116 sollte im Sommer 1788 der Wohnort Karl Joachims und seiner Begleiter werden. Das Studium der Wissenschaften trat ganz in den Hintergrund. Geppert berichtete nur beiläufig von der Wiederholung der „Rechts-Collegien“ und von der Beschäftigung mit Kameralwissenschaften.117 Viel wichtiger wurden die sozialen Interaktionen in der Adelsgesellschaft, die allerdings erst möglich waren, nachdem die auf der Reise verschmutzte Kleidung in einen hoffähigen Zustand versetzt worden war. Unterdessen widmete sich Karl Joachim der „Recognoscirung der Gegend und Landessitte“.118 Intensiver als in Straßburg, Göttingen oder Würzburg traten lebensweltliche Auswirkungen der Politik in den Gesichtskreis des Prinzen. So gestaltete sich die Wohnungssuche schwierig, weil das Immobilienangebot in Brüssel wegen des Zustroms zahlreicher Flüchtlinge aus den Niederlanden – Auslöser waren die mit der Patriotenbewegung einhergehenden politischen Unruhen119 – recht klein war.120 Das brachte Karl Joachim auf den Gedanken, nach Holland zu reisen, weil es gleichgültig sei, wo man einen Gasthof beziehe; auch sei eine Reise in das Nachbarland ohnehin vorgesehen. Geppert stimmte zu, was er um so leichter tun konnte, als das Hofleben genau am selben Tag seinen Höhepunkt erreicht hatte. Am 18. Mai nämlich war der fürstenbergische Prinz im Sommerschloss Laeken bei Brüssel von den Statthaltern, Erzherzogin Marie Christine (1742–1798) und ihrem Mann Albert Kasimir von Sachsen-Teschen (1738–1822),121 „ausnehGeppert an Maria Antonia, Brüssel 10.5.1788. Karl Vocelka, Österreichische Geschichte 1699–1815. Glanz und Untergang der höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im habsburgischen Vielvölkerstaat (Österreichische Geschichte 9), Wien 2001, S. 93–97. 117 Geppert an Maria Antonia, Brüssel 22.6.1788. 118 Geppert an Maria Antonia, Brüssel 10.5.1788. 119 Horst Lademacher, Geschichte der Niederlande. Politik – Verfassung – Wirtschaft, Darmstadt 1983, S. 187–197. 120 Geppert an Maria Antonia, Brüssel 10.5.1788. – Ders. an dies., ebd. 18.5.1788. – Ders. an dies., ebd. 22.6.1788. 121 Brigitte Hamann, [Art.] Maria Christine. In: NDB (wie Anm. 25), Bd. 16, Berlin 1990, S. 200 f. – Hellmuth Rössler, [Art.] Albert Kasimir. In: Ebd. Bd. 1, Berlin 1953, S. 131. – Zur Statthaltertätigkeit vgl. Renate Zedinger, Die Verwaltung der Österreichischen Niederlande in Wien (1714–1795). Studien zu den Zentralisierungstendenzen 115 116
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mend gnädig“ empfangen worden. Auch hier war – ähnlich wie in Mainz – das persönliche Gespräch mit dem Statthalterpaar (eine „geraume Zeit“ über verschiedene Gegenstände, eine Situation, die der Prinz mit „Anstand und Bescheidenheit“ meisterte) der entscheidende Indikator für die erfolgreiche Integration in die Hofgesellschaft. Dass Karl Joachim gleich darauf für Aufsehen sorgte, weil er sich vom Lottospiel, dem er nur als Zuschauer beiwohnte, entfernte, führte nicht zu Verstimmungen – und das, obwohl das Spiel unterbrochen werden musste, wie Geppert betonte.122 Karl Joachims Reputationskapital war so groß, dass es nicht leicht aufgezehrt werden konnte. Anders stand es um die Finanzen. Im Kalkül höfischer Kosten-Nutzen-Rechnungen, die nicht nur mit symbolischkulturellem Kapital zu rechnen hatten, sondern auch mit harter Geldwährung, stellte sich nicht zufällig bald nach dem Höhepunkt vom 18. Mai die Frage, wie die Reise fortgesetzt werden sollte. Denn Brüssel war ein teurer Ort. Und so kam Geppert auf den schon in der Würzburger Zeit erwogenen Vorschlag zurück, England zu besuchen. Canterbury oder Rochester waren nach Gepperts Meinung die besten Orte, um die Landessitten kennenzulernen und die Sprache zu üben. Danach wäre es sinnvoll, inkognito nach London zu gehen. Um aufwändige Hofbesuche zu vermeiden, sollte Karl Joachim erst in den letzten acht Tagen des Aufenthalts der königlichen Familie als Prinz von Fürstenberg vorgestellt werden. Das Winterquartier wäre am besten in Italien zu beziehen, doch sei mit Blick auf die Kosten, so unterstellte er, ein Umzug nach Straßburg, Dijon oder Besançon die realistischere Lösung.123 In Donaueschingen sah man die Dinge anders. Die Reise nach England wurde ohne weiteres befürwortet, außerdem bewertete man den Nutzen der Italienreise höher als das Kostenargument – die Höfe von Turin und Florenz seien „Muster von guten Einrichtungen und Sitten“, auch könne Karl Joachim dort Unterricht in allerlei Fächern nehmen.124 Geppert konnte deshalb die Reise nach England vorbereiten und darüber hinaus
des Wiener Hofes im Staatswerdungsprozeß der Habsburgermonarchie (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 7), Wien u.a. 2000, S. 135–138. 122 Geppert an Maria Antonia, Brüssel 19.5.1788. 123 Geppert an Maria Antonia, Brüssel 19.7.1788. – Ders. an Laßberg, ebd. 19.7.1788. 124 Joseph Maria Benedikt an Regierung und Hofkammer, Schloss Lindich 4.8.1788 (Zitat). – Auszug aus dem Regierungs- und Hofkammerprotokoll vom 7.8.1788.
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über die Fortsetzung der Kavalierstour nach Turin, Florenz und Mailand nachdenken.125 In England angekommen, wurden aufkommende Sorgen um die Finanzen – Geppert war überzeugt davon, „England [sei] in gantz Europa das theuerste Land“126 – schon bald von überwältigenden Wahrnehmungen überlagert. In London fasste der Hofmeister die Stimmung der Reisegruppe folgendermaßen zusammen: „Ganz London ist so zu sagen eine neue Welt für uns, und jeder Gegenstand, auf den wir stossen, ein Wunder.“ In der Hauptstadt des Königreichs Großbritannien, die mit ihrer schon nahe an eine Million reichenden Zahl an Einwohnern127 in jeglicher Hinsicht anders war als Würzburg oder Brüssel, war viel Unbekanntes zu entdecken, etwa die königliche Bank, die so viel Gold besaß, „als alle Pferdte in Donaueschingen kaum wegzuführen im Stande sind“. Auch fiel dem Hofmeister die Reinlichkeit der Häuser auf, die sogar die von Holland überträfe.128 Wenig später kehrte er zu einem nüchternen Ton der Beschreibung zurück, als er der Fürstin Maria Antonia die Aktivitäten der vergangenen Tage schilderte. Mit einem Kreditbrief des Bankhauses Thellusson versehen, besichtigten die Reisenden St. James’s Park, St. Paul’s Church, die Abtei von Westminster, die Bank von England, auch die Börse und flanierten durch die Stadt, um am Abend ein Schauspielhaus zu besuchen. Anschluss an das höfische Leben gelang entgegen der von Geppert in Brüssel gehegten Erwartung nicht, aber immerhin konnten die Reisenden bei ihrem Besuch auf Schloss Windsor, das einen „unermeslichen Umfang“ aufwies, das Königspaar beim Verlassen der Hofkapelle und auf einer Terrasse sehen. Besonders beeindruckt war Geppert, dass die Weiterfahrt nach Oxford, eine Wegstrecke von 39 Meilen, in vier Stunden absolviert werden konnte, was er auf tüchtige Fahrer, ausgebaute Straßen und ausdauernde Pferde zurückführte. Wer nicht in England gewesen sei, so resümierte er, könne sich nur „einen unzulänglichen Begriff machen“. Maria Antonia, die Adressatin des Briefes, wurde abschließend über den weiteren Verlauf der Reise in Kenntnis gesetzt. Zunächst war Stowe House, Landsitz der Herzöge von Buckingham, zu besichtigen, dann Blenheim Palace, Landsitz der Herzöge von Marlborough. An den Besuch von Adelssitzen Geppert an Maria Antonia, Brüssel 18.8.1788. Geppert an [Hofrat] Clavel, Dover 24.8.1788. 127 Zwischen 1760 und 1801 wuchs die Bevölkerung Londons von etwa 750.000 auf etwa 1,1 Millionen. https://www.oldbaileyonline.org/static/Population-history-of-london. jsp#reading (aufgerufen am 1.4.2021). 128 Geppert an Clavel, London 28.8.1788. 125 126
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schloss sich der Besuch des durch seine Architektur beeindruckenden Kurbads Bath an. Über Wilton House, Stammsitz der Grafen von Pembroke, und Salisbury mit dem nahen Stonehenge sollten die Reisenden schließlich nach London zurückkehren.129 Ab diesem Zeitpunkt reißt die Überlieferung bis auf wenige Textspuren ab. Über das Leben Karl Joachims in den Monaten nach der Englandreise haben wir keine Kenntnis. Im Dezember wies die Regierung in Donaueschingen das Pensionsgesuch Gepperts ab und ordnete an, ihn bis zur Wiederherstellung der Gesundheit zu beurlauben. Damit hing zusammen, dass Karl Joachim den Winter über von Kleiser unterrichtet werden sollte.130 Möglicherweise kehrte Geppert nicht in den Dienst zurück, wurde ihm doch am 19. Januar 1790 eine jährliche Pension von 1000 Gulden bewilligt. Was war in der Zwischenzeit geschehen? War Karl Joachim nach Italien gereist, wie es in Donaueschingen im August 1788 in Aussicht genommen worden war? Das wäre ganz im Sinne des Prinzen gewesen, der sehr an Italien interessiert war, seitdem er in Brüssel eine in Rom geborene Gräfin Colonna kennengelernt hatte, „la plus interessante personne du monde“.131 Klarer sehen wir erst wieder im Herbst 1790, als Karl Joachim seinen Bruder um einen finanziellen Zuschuss bat, um nach Frankfurt zu reisen und der Wahl und Krönung Erzherzog Leopolds (1747–1792) zum Kaiser beizuwohnen.132 Joseph Maria Benedikt entsprach dem Wunsch ohne weiteres und versicherte, alles tun zu wollen, was zur „weiteren Ausbildung und Zuwachß der Weltkenntniß“ des Prinzen beitrage. Um sich nicht dem Zwang auszusetzen, im Kontakt mit zahlreichen Adeligen kostspieligen zeremoniellen Aufwand betreiben zu müssen, forderte Joseph Maria Benedikt den Bruder auf, in Frankfurt nicht als Repräsentant eines reichsunmittelbaren Fürstenhauses, sondern „bloß als ein auf Reißen begriffener Printz“ aufzutreten, „der das deutsche Reich hier versamlet und vereiniget sehen will“ und sich ansonsten „durch einen vorzüglichen Glantz nicht auszeichne[n]“ zu wollen.133 Geppert an Maria Antonia, Oxford 1.9.1788. Auszug aus dem Regierungs- und Hofkammerprotokoll vom 9. Dezember 1788. 131 Karl Joachim an Laßberg, Brüssel 14.8.1788. 132 Die Wahl fand am 30. September 1790 in Frankfurt statt, die Kaiserkrönung am 9. Oktober ebenda. Vgl. Adam Wandruszka, Leopold II. Erzherzog von Österreich, Großherzog von Toskana, König von Ungarn und Böhmen, Römischer Kaiser, 2 Bde., WienMünchen 1964–1965, hier Bd. 2, S. 302–311. 133 Joseph Maria Benedikt an Regierung und Hofkammer, Hechingen 10.9.1790. 129 130
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Womöglich war der Wunsch, den Wahlhandlungen in Frankfurt beizuwohnen, eine späte Wirkung von Pütters Unterricht im Reichsstaatsrecht. Vielleicht besuchte Karl Joachim deshalb seinen Lehrer, der wie 1764 als „staatsrechtlicher Experte“ der hannoverschen Wahlgesandtschaft die Rechtshandlungen, Rituale und Feierlichkeiten erlebte.134 Später berichtete Pütter in seiner Autobiographie ausführlich darüber und thematisierte auch das Zusammentreffen mit dem „Prinzen von Fürstenberg“, „der zu Göttingen studiert hatte“.135 Als „auf Reisen begriffener Printz“, dessen Studium schon hinter ihm lag, stand Karl Joachim mit nicht ganz 20 Jahren am Ende seiner Lern- und Wanderjahre. Re s ü m e e Karl Joachims Erziehung folgte Mustern, die sich in der Frühen Neuzeit im Hochadel herausgebildet hatten. Er absolvierte ein typisches Adelsstudium, wie es im 18. Jahrhundert auch viele andere Söhne von Grafen und Fürsten im Reich absolvierten. Dazu gehörte die frühe Trennung von den Eltern, die Übergabe der Erziehungsverantwortung an einen Hofmeister, der Aufenthalt an verschiedenen Bildungsorten, schließlich die Kavalierstour in mehrere europäische Länder.136 Die Erziehung folgte einem elaborierten Plan, zu dem ständige Evaluationen der Fortschritte, aber auch der Defizite gehörten. Im Vordergrund stand nicht das Fachstudium, auch wenn Karl Joachim Kenntnisse in unterschiedlichen Disziplinen, insbesondere im Recht, erwarb. Wichtiger war die Formung der Persönlichkeit anhand aufgeklärter Verhaltenslehren, die gleichwohl im Kontext der sich transformierenden ständischen Ordnung standen. Die Einübung des Verhaltens bei Hof und in der adeligen Gesellschaft war ein eminent wichtiges Erziehungsziel. Als zweitgeborener Prinz wurde Karl Joachim für eine Laufbahn im Militär oder eine herausgehobene Verwendung im höfischen Dienst bzw. im Staatsdienst ausgebildet. Dazu kam es nicht – 1796 wurde Karl Joachim nach dem kinderlosen Tod seines Bruders Regierungsnachfolger. Seit 1796 mit Karoline Sophie Landgräfin zu Fürstenberg (1777– Ebel (wie Anm. 41) S. 42. – Link (wie Anm. 41) S. 81 (Zitat). Pütter (wie Anm. 48) S. 820 f. 136 Man vergleiche etwa die Erziehung des Erbprinzen Karl Alexander von Thurn und Taxis (1770–1827), dazu Julia Böttcher, Adelige Erziehungskultur im 18. Jahrhundert. Körper- und Verhaltenserziehung am Beispiel der Erbprinzen von Thurn und Taxis (Thurn und Taxis-Studien, Neue Folge 2), Regensburg 2012, S. 119–121. 134 135
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1846) aus der niederösterreichischen Linie des Hauses verheiratet, starb er 1804, nicht lange vor der Mediatisierung des Fürstentums Fürstenberg.137
Einzelheiten bei Münch – Fickler (wie Anm. 7) S. 289–296. – Gilgert (wie Anm. 3) S. 69. – Andreas Wilts, „Ausgelöscht aus der Zahl der immediaten Reichsfürsten.“ Die Mediatisierung und Neupositionierung des Fürstentums Fürstenberg 1806. In: Mark Hengerer – Elmar L. Kuhn i.Vb. mit Peter Blickle (Hrsg.), Adel im Wandel. Oberschwaben von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Bd. 1, Ostfildern 2006, S. 333–348. 137
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Te x t e d i t i o n Vorlage: Eigenhändiges Konzept des Fürsten Joseph Wenzel von Fürstenberg, datiert 12. Januar 1781, Fürstlich Fürstenbergisches Archiv Donaueschingen, OB 17 Vol. XV. Editionsrichtlinien: Der Lautstand der Vorlage wird beibehalten, ebenso Besonderheiten der Getrennt- und Zusammenschreibung. Eigenheiten des Schreibers werden nicht korrigiert, etwa „wi“ statt „wie“. Im Sinne leichterer Lesbarkeit sind Groß- und Kleinschreibung an die heutige Schreibweise angeglichen. Abkürzungen werden in eckigen Klammern aufgelöst. Seitenwechsel der Vorlage werden nicht angegeben. Zwischen *Asterisken* stehen Ergänzungen und Korrekturen des Schreibers auf der jeweils freien Seite der halbbrüchig beschriebenen Bogen. Regest: Fürst Joseph Wenzel (1728–1783) erteilt 1781 in einer Instruktion Weisungen zur Erziehung seines Sohnes Karl Joachim (* 1771). Adressat ist der Hofmeister Xaver von Geppert. Karl Joachim ist als zweitgeborener Sohn auf eine Laufbahn als Offizier oder Staatsmann vorzubereiten. Es ergehen detaillierte Anweisungen zu den Unterrichtsfächern, zur Charakter- und Körperbildung sowie zum Umgang mit Menschen. Instruktion für den Obristwachtme[ister] v[on] Geppert zu dem Erziehungs Plan des gnädigsten Prinz Carls zu Fürstenberg D[urc]hl[auch]t Die Fürsicht hat uns, an unserem zweyteren Printzen, einen Sohn geschenckt, dessen Anlagen von Talenten, wann sie behörig bearbeitet werden, vieles versprechen. Wir fühlen in uns als Vatter die Pflichten, welche dessen seiner Geburt und seinen Natur Gaben angemässene Erziehung uns zur wahren Angelegenheit macht, und da zu dessen Erziehung es fordersamst uns um einen Mann, dessen Rechtschafenheit, Tugenden und Erfahrenheit wir die Erzihung *hofnungsvoll* vertrauen dörfen, dann auch um einen vestzusetzenden Plan uns zu thun ist, nach welchen wir unsern jüngeren Sohn Carl erzogen, eingeführt, unterrichtet, und ausgebildet wünschen mögten, so haben wir auf des kays[erlich] kön[iglichen] Obristwachtmeisters von Geppert, uns theils bekannten, theils belobten guten Eigenschaften *und zu uns und unserem f[ü]rstl[ichem] Haus noch jederzeit bezeugten grosen Attachement* vor all anderen die Wahl geworfen, und dieses grose uns zu Herzen liegende Erzihungs Geschäfte fordersamst zu vertrauen, gnädigst entschlossen. Über den zur Erzihung zu entwerfenden Plan selbsten aber wohl bedächtlich erwogen, daß das künftige Schicksal unseren Sohns Carl als ca-
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dett und nachgebohrnen Prinzens noch nicht bestimet, und noch nicht entschieden seye, ob die Vorsehung ihne ad militare oder ad civile vorbehalten habe, folglichen dieser Erzihungsplan weniger auf ein, noch den anderen Stand begränzet, vielmehr dahin erweitert werden müsse, daß unser jüngere Sohn Carl zu ein, wie den andern vorbereitet, und eine solche Grundlag in ihne gebracht würde, mittelst er zu ein, wie das andere Fach durch wohl eingenomene Grundsätze und seiner Zeit selbst eigenen fürsichtlich machenden Verwendung bey anwachsend Jahren sich gar ausbilden möge, um nach Umständen entweder eines der Regierungs Kunst verständigen Ministre vorstellen, oder aber in militari eine seiner Geburt angemessene Stelle mit Ehr, und ruhmvollen Hofnung übernehmen zu können. Dieses vorausgesezt, gehet unser Wunsch mit vätterl[ichem] Anliegen fordersamst dahin, die erstere Bemühung dahin zu verwenden, daß in ihne unseren Sohn das wahre Christenthum gegründet, er in unseren heil[igen] Religion wohl unterrichtet, *dann alle Tugenden hangen an einander, alle müssen die Religion zum Anfang und zum Grund haben;* die Liebe und Forcht Gottes in seinem Herzen gepflanzet, Liebe des nächstens und aller seiner Mitmenschen angefeueret, deßwegen zur Wohlthätigkeit eingeführet, die Neigung zur Wahrheit erwecket, Haß und Abscheue gegen die Lüge beygebracht, der gedanckenlose Müßiggang als entehrend und schimplich ihme vorgestellt, dagegen das geschäftige Bemühen sich belehrt und volkomner zu machen mit Lob erhoben, dessen annoch empfindsame Herz moralisch gebildet, moralische Begrife nach denen ersten Grundsäzen beygebracht, doch aber hirinnen nicht weiter gegangen werde, als der in ihne erst aufkeimende und jener nach und nach aufzuhaiterende Verstand eine würcksame Aufnahm voraussetzen mag; dann es dermalen noch zu frühe wäre, mit grösseren Dingen in ihne zu dringen, und seine noch schwache Natur Kräften zu überladen. Hier mus man Schritt vor Schritt gehen. Vernunft und Einsichten wachsen stufenweis, es gibt eine gelehrige Jahrs Zeit, eine leere Zeit in der Jugend, welche, wann man sie ohnbenuzt, und ohne Grundlage verstreichen lasst, selten wider kommt, und eben andurch die ohne Bearbeitung sich selbst überlassene auch grösten Talenten zu denen üblest, schandvollen Folgen ausarten können. Die Natur allein bildet ordentlicher Weise, keinen grosen Mann, das ist ein Werck der Kunst. Die Erfahrung überzeuget uns, wie tief die erste Erzihung eindringet, und mit der Zeit zur Natur wird. Wi dann nichts, als was moralisch ist, für gros geachtet werden mag, und eben das Moralische den Menschen von Vihe unterscheidet. Die Jugend überhaupt hat Unter-
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richt nöthig, die Vernunft mus durch guten Unterricht aufgeklärt, und Tugend gegründet werden. Beydes erwarten wir getrost, wann unser Sohn zur Rechtschafenheit eingeführet, das ist, zu jenem zubereitet wird, was er nach seinen Verhältnuß gegen Gott, nach der Verbindung mit seinen vernünftigen Mitgeschöpfen, und nach seiner eigenen vernünftigen Natur seyn solle. Hirinnen bestehet das Christenthum, dann es hat keine andere Grundsäze. So ist auch die Lehre, anderen zu begegnen, wi wir verlangen, daß sie uns begegnen sollen, für unseren Sohn eine der wichtigsten und mit den guten tugendhaften Charactre ganz unzertrennlich verbunden. Wir wünschten, daß ihme tief eingeprägt werde: Was du nicht willst, daß dir geschehe, das thue auch keinen anderen. Umsonst würde man das Herz zu bilden suchen, wenn man solches durch Hülfe des Verstands zu bewerkstelligen, nicht mit beflissen wäre. Hierzu gehören Gedancken, und zwar ein nach vorgehenden Grundsäzen wohl geordnetes Dencken. Der so denckende Theil der Menschen ist immer der geringste; die am wenigsten dencken sind oft die geschwäzigsten. Mehr hören, und weniger sprechen, ist eine Regel, welcher man junge Leute öfters erinneren solle. Wir kennen unseres jüngeren Sohns Carls große Vivacité, und diese sowohl, als seine noch unraife Jugend wollen wir auch dessen ungeordnete Schwäzigkeit beymässen. Doch sind wir nicht gemeinet, daß dessen Vivacité unterdrückt, als vielmehr moderirt, und nur zu recht gewiesen werden mögte. Eben hizu wünschen wir, daß über alles, was er redet, so wohl, als was er immer antworthet, nach der Ursach seiner Rede, und Antworth gefragt, und zu Angebung einer Ursach, wie sie auch seyn mag, er angehalten werden mögte. Dann er andurch zu mehr bedachtsamen Reden eingeführt, und ohne vorgehends Überdenken zu reden abgehalten, so fort seine Vivacité mit Gedancken und Ursachen zu ordnen auf die beste Art gewöhnet werden könnte. So nahe uns unseres jüngeren Sohns Carl gut und mit Frucht zu bewürkende Erzihung am Herzen liegt, so wenig wollen wir es auch an denen hizu erforderlichen Maitres zu dessen Instruction auf ein so andere Art ermanglen lassen, dabey aber auch mit Austheilung derer Lehr Stunden, Ordnung beobachtet haben. Wir belassen die bishero zum Aufstehen schon eingeführte Stund früh 6 Uhr, wo er sogleich sein Morgen Gebett verrichten, dann biß 7 Uhr mit frisiren, und anzihen ganz fertig seyn solle. Von 7 biß 8 Uhr solle der 1te maitre ihme den Cathechismus nicht so wohl zum auswendig lernen, als die ächte Begrife hirüber, vernehmlich bey bringen, und in Christenthum gründlich unterrichten, so dann die ersten allgemeine Grundsäze von der Moral und Sittenlehr aufklären. Von 8 biß
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9 Uhr kommt der 2te Maitre zur Instruction in Latein, von 9 biß 10 Uhr wird das Frühstück genommen, und nach genommenen Frühstück täglich eine Frihmesse angehört. Dann von 10 biß 11 Uhr der 3te Maitre der Sprachmeister zu Erlernung der französischen Sprach zugelassen, von 11 biß 12 Uhr der 4te Maitre zur Erlernung der Historie. Von 12 biß 1 Uhr [wird] Mittag gehalten, und so dann bis halb 2 Uhr ihme ein Respiro erlaubt, von halb 2 biß 2 Uhr aber die Fabel zu lesen ihme frey gelassen. Von 2 biß 3 Uhr erscheinet der 5te Maitre zur Instruction auf den Clavecin, von 3 biß 4 Uhr der 6te Maitre zur Instruction in Danzen. Von 4 biß 5 Uhr der 7te Maitre zur Unterweisung in der Geographie und Deutschschreiben, von 5 biß 6 Uhr der 8te Maitre zum Rechnen und Zeichnen, dann gebenden Unterricht in der civil und militaire Baukunst. Und mit diesen bleiben die nach Ordnung derer Maitres ausgewiesene Tag Stunden zum Unterricht und lernen geschlossen. Wir wünschen vielmehr, daß nach beendigten Lehr Stunden auch zu munter haltendem Geist, zu einen gesellschaftlichen Umgang und zu gesund haltenden Cörper die diesem würckende Wege *mögte* angetreten werden. Die ganze selbstige Anlag des Menschens macht öftere Bewegung zu einer Nothwendigkeit, und wir würden gern sehen, wann nach Zulassung der Witterung mit unsern Sohn, so weit es immer möglich, täglich ein Spazier Gang, auch zuweilen eine Spazier Parthe unternomen hiebey aber getrachtet würde, ihne frölich, gesellig und munter zu unterhalten. Wir wollen auch gnädigst zulassen, daß zuweilen, und forderist, wann er in seinen Lehrstunden sich gelehrig und aufmerksam betraget, das Theatre mit ihne besuchet werden dörfe, nur aber erwarten wir hizu, daß das aufzuführende Piece ihme vorhero bekannt gemacht, dessen Innhalt erzehlet, und die hieraus zu nehmende Lehren wohl beygebracht würden. Es bleibet ein Werck des Herrn Obristwachtmeisters in jenen Stunden, welche für besondere Maitres nicht bestimmet sind, sich mit unseren dessen Besorgung und Bildung vertraueten Sohn so gesellschaftlich zu benehmen, daß Liebe und Vertrauen gewonnen, dessen Geist mit guten Begrifen erweiteret, edelmüthige Gesinnungen erwecket, wie sich in Gesellschaften zu praesentiren gelehret, dann zu einer auszeichnenden guten Conduite und Lebensart von Zeit zu Zeit Unterricht ertheilet werde, und da eben der Umgang mit der Welt, den anständig-gesellschaftlichen Umgang lehrreich und activ machen muß, und unser Sohn, als Prinz solchen weniger vermeyden darf, als vielmehr er alle hizu erforderliche gute Eigenschaften in einen größeren Grad zu erwerben, und gegen höhere, dann der Geburt nach ihme gleich stehende, ohne sich zu ernidrigen, mit Ehrerbietung,
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gegen sonst characterisirte aber, mit angemässenen Höflichkeit gefällig, dann gegen bürgerliche und ganz nidere Personen liebvoll und freundlich sich zu benehmen, beflissen bleiben solle, so wollen und verlangen gnädigst, daß Herr Obristwachtmeister hirauf seinen besonderen Bedacht nehme, ihne hirüber belehre, auch von Zeit zu Zeit in die grössere Häuser zu Strassburg in Gesellschaften ein und aufführe. Dabey aber dörfen wir erhofen, daß der Unterricht, wie er sich zu praesentiren, und gegen Herrn und Frau von Hauß die Anrede zu machen habe, allezeit voraus gehen, und unser Sohn erinneret werden mögte, weniger zu reden, als nur die an ihne stellende Rede anständig zu beantworthen, und gegen dortige ganze Gesellschaft ohne Ausnahm, so freundlich als höflich und gefällig sich zu bezeigen. Wir wissen, daß eben in Straßburg dermalen mehrere junge Leute von hohen Geburt in nemlichen Absichten sich aufhalten. Lebensart, und Anständigkeit erforderet zwar, von solchen, Visiten für unseren Sohn, anzunehmen, und auch widerum zurück zu geben, nur solle in ein, wie den andern Fall solches nicht anders, als unter denen Augen des Herrn Obristwachtmeisters geschehen, und diese junge Leute einander nimals allein überlassen werden, dann wir wünschen und verlangen, diesen unseren Sohn sogleich in der Education gesezt und vernünftig zu sehen, und sind überzeugt, daß durch öfteren aufmercksamen Umgang mit gestanden vernünftigen Leuten zu dieser Absicht eines Theils am sichersten zu gelangen, anderen Theils aber durch frequenteren Conversation mit jungen auch noch nicht ausgebildeten Leuten, der beste Anfang der Bildung verdorben, und die gehässigsten Folgen öfters nachgezogen werden. So wenig wir gemeinet sind, ihne unseren Sohn, seiner erhabenen Geburth wegen einen Hochmuth beybringen und ihne andurch zu verächtlichen Begegnung anderer verleiten zu lassen, so nöthig scheinet uns dagegen in ihne die Empfindung der Ehre einzupflanzen. Nur mus solche Empfindung keine falsche Richtung bekommen, sondern die Kenntnuß der wahren Ehre voraus sezen und ihme wohlbegreiflich gemacht werden, daß die wahre und größte Ehre in Ausübung jener seiner Geburt und Stand angemässen und eigenen Tugenden bestünde, und in Erfüllung jener Pflichten zu suchen, und zu erhalten seye, welche Gott und die Natur ihme als Mensch und Christen gegen Gott, gegen sich selbst, und gegen seine Nebengeschöpfe in das Herz geleget habe, und wodurch er auf den Beyfall von Gott, und der Welt einen sicheren Anspruch machen dörfe. Wir legen dem Herrn Obristwachtmeister auf sein Gewissen, ihne unseren Sohn von allen gegen Gott und Religion anstössigen Discoursen
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abzuzihen, und ja Sorg zu tragen, daß in ihne kein Saam zur verächtlich machenden Religion aufgefangen werde. Wir verlangen nicht an ihm einen Andächtler, am wenigsten aber einen Glaissner zu erzihen, nur einen wahren, guten catholischen Christen erwarten wir, und diesen auch mit Überzeugung und nach Grundsäzen. Unser Wunsch gehet auch dahin, daß er niemals zu Bethe gelassen werde, bevor sein Nachtgebet in Gegenwart des Herrn Obristwachtmeisters nicht verrichtet worden. Dann wollen wir, daß er gewohnet werde, alle 4 Wochen seine Beichte zu verrichten. Bey einer unraifen, flüchtig und flatterhaften Jugend müssen Fehler, sie seien auch gros oder klein, vorgehen, deswegen brauchen sie Unterricht, nur müssen solche auch geahndet, und gebessert werden. Niemals wird man in der übernommenen Education und solcher anhangenden Correction weit kommen, wann man nicht fordersamst des zur Education vertrauten Subjecti Temperament, dessen Biegsamkeit, dessen Leidenschaften, und forderist unter solchen die praedominirenden auszukundschaften, und mit Überzeugung kennen zu lernen aufmerksam ist. Diese zu erwerbende Kenntniß wollen wir bestens empfohlen, und sodann die mit Frucht und Nuzen, entweder mit abschlagenden Früstück, mit Verweigerung ein oder der andern Speis des Mittag Essens, oder Enthaltung von der Comedie, Spazierganges etc zu verhängende Straf dem Gutfinden des Herrn Obristwachmeisters ohne Vorschrift überlassen haben. Dagegen erachten wir für diesem, daß er auch lernen möge, mit den Geld so umzugehen, damit er in dessen Gebrauch seiner Zeit weder zu einen Verschwender, noch weniger zum Geiz und Kargheit nicht ausarten, solches vielmehr mit guten Überlegung, und mehrmalen zur Wohlthätigkeit gegen Bedürftige anwenden, zugleich gegen übel angebrachte Ausgaben fürsichtig und sparsam werden möge. Hizu wollen wir ihme monathlich eine neue Louis d’or als Spielgeld hiemit ausgeworfen haben, wünschen aber, daß er angewiesen werde, alle Zeit in ein deswegen besonders zu haltendes Register eigenhändig täglich einzutragen, was, wi viel und wohin er des Tags, an Geld ausgegeben habe? Dann solle er schuldig seyn, mit Ende des Monaths dieses Register vorzulegen, und jenes, so er noch übrig hat vorzuzehlen. Die Kost, und Logic [!] belangend haben wir allschon gnädigst resolviret, daß erstere aus den Gasthof La Vill de Lion getragen, und lezteres in der Nähe gemietet werden solle. Wir überlassen hiebey des Herrn Obristwachtmeisters Gutfinden, bey für unseren Sohn annehmenden, oder erhaltenden Gegenvisiten mit abreigenden Refraischisementi oder dergleichen
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eben so *sich* zu betragen, gleich der Prinz bei gegebenen Visiten in derley Umständen behandlet worden ist. Und für die Kleyungs Stücke überhaupt haben wir kein Bedencken, deren Besorgung Herr Obristwachtmeister auf Rechnung anheim zu stellen, zumalen eine anzuschafende große Garde des Robes noch zur Zeit für unseren Sohn so weniger vereigenschaftet wäre, als als er solche in einem Jahr auswachsen dörfte, ohne hivon einen weitern Gebrauch machen zu können. Gleichwi wir aber diesen Erzihungs Plan und respective Instruction nach den noch schwachen Jugends Kräften unseren Sohns abgemässen, und nur zu einer Grundlag aufgesezet haben, also behalten wir uns auch bevor, diesen vorgängig, und wenn nach wenig Jahren er zu größeren Begrifen stärcker werden mag, mit ihm zu höheren Verwendungen stücken weis weiter zu gehen, und das Diensame zu verordnen. Bis dahin wollen Wir gnädigst erhofen, daß Herr Obrist Wachtmeister uns über die Progreßion unsers Sohn von Zeit zu Zeit die Berichte zu machen, von selbsten bedacht seyn werde. Gegeben in unserer Residenz Donaueschingen den 12ten Jänner 1781
Im Schatten des Hakenkreuzes: Jüdische Mitglieder der Industrie- und Handelskammer München 1932–1933 Von Eva Moser „Unser Hauptfeind, der Jude, hat gegen uns mobilisiert!“ Mit diesem Aufruf im Völkischen Beobachter wollte Gauleiter Adolf Wagner im Januar 1933 möglichst viele NSDAP-Sympathisanten für die Wahlen der Industrie- und Handelskammer München aktivieren.1 Während die Abstimmungen früherer Jahre äußerst still verlaufen waren, entspann sich damals erstmals in der Geschichte der Kammer ein lebhafter Kampf um die Sitze in diesem Parlament der Wirtschaft. Und das, obwohl es sich nur um turnusmäßige Ergänzungswahlen handelte. Es gab sogar zwei Wahllisten, was völlig neu war, nämlich die Aufstellung der Wirtschaftsverbände und eine Gegenliste der Nationalsozialisten. Am Wahltag, dem 10. Januar, bildeten sich schon vor der Eröffnung um 10 Uhr lange Schlangen vor dem zum Wahllokal bestimmten Turnsaal der Polizeidirektion an der Ettstraße.2 Gegen manche Auswüchse, so das „Ausschreien politischer Kandidaten vor dem Wahllokal“, musste der Wahlvorsteher einschreiten. Die Münchner Zeitung meldete sogar, dass zudem „eine Außenseitergruppe im Einzelhandel durch lebhafte Agitation sich besondere Beachtung verschaffen“ wollte. Trotz der „rasenden Propaganda“ – so die liberale Vossische Zeitung in Berlin3 – gelang es den Nationalsozialisten nicht, ihre Vertreter durchzubringen. Tatsächlich schafften die jüdischen Kandidaten Kommerzienrat Dr. Ludwig Wassermann, Justin Lichtenauer und Kommerzienrat Max Weinmann mit großem Abstand die Wiederwahl. Der nationalsozialistische Kampfbund des Gewerblichen Mittelstandes hatte das Nachsehen. Doch schon zwei Monate später sollte sich das Bild ändern. Am Vormittag des 11. März 1933, einem Samstag, marschierte der mit KarabiBayerisches Wirtschaftsarchiv, „Industrie- und Handelskammer-Wahlen!“, Völkischer Beobachter vom 9. Januar 1933, BWA K 1/I 4, 8. Akt. 2 Bayerisches Wirtschaftsarchiv, „Die neue Industrie- und Handelskammer“, Münchner Zeitung vom 11. Januar 1933, BWA K 1/I 4, 8. Akt; „Die Wahlen zur Handelskammer“, Münchner Neueste Nachrichten vom 11. Januar 1933, BWA K 1/I 4, 8. Akt. 3 Bayerisches Wirtschaftsarchiv, „Handelskammer weiter hitlerfrei“, Vossische Zeitung vom 11. Januar 1933, BWA K 1/I 4, 8. Akt. 1
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nern bewaffnete Sturm 2/L der Leibstandarte auf, um „das Banner Adolf Hitlers“ auf dem Haus für Handel und Gewerbe am Münchner Maximiliansplatz aufzuziehen. Dort hatten die Börse und die Industrie- und Handelskammer München seit 1901 ihren gemeinsamen Sitz. Der Völkische Beobachter hielt hämisch fest: „Den anwesenden jüdischen Börsenbesuchern mag diese Unterbrechung ihrer ‚Geschäftstätigkeit‘ recht gemischte Erfahrungen verursacht haben; man sah es ihren angstvollen Gesichtern an. – Von den verantwortlichen Stellen der Handelskammer wurde der Flaggenhissung keinerlei Widerstand entgegensetzt: bereitwillig öffneten sich alle Türen.“4 Entgegen der Kommentierung in der Münchner Ausgabe des NSDAPParteiorgans war der amtierende Handelskammer-Präsident Geheimer Kommerzienrat Josef Pschorr, Teilhaber der Pschorrbräu AG, von den Ereignissen in höchstem Maße alarmiert. Schon am Dienstag, dem 14. März 1933, suchte er den neu ernannten Reichskommissar General Franz Ritter von Epp und gleich danach Staatskommissar Adolf Wagner zu einem Gespräch auf. Wie er wenige Tage später intern auf einer nichtöffentlichen Sitzung berichtete, wandte er sich gegen die Beschuldigung, die Kammer hätte „jüdisch-marxistisch-kapitalistischen Prinzipien gehuldigt.“ Was die Konfession anbelangt, so bat er dringend, „von Judenverfolgungen abzusehen.“ Er bekannte sich „zu dem dringenden Wunsch, dass jeder Jude den gleichen Schutz, was Person und Eigentum anbelangt, genießen solle, wie jeder loyale Christ.“5 Der Appell des Kammerpräsidenten kam nicht von ungefähr. Eine Reihe jüdischer Unternehmerpersönlichkeiten war schon seit Jahren für die Münchner Institution als Kammermitglied aktiv. Der Ausdruck Kammermitglied – heute spricht man von Vollversammlungsmitglied – bezeichnete die gewählten Repräsentanten der Wirtschaft aus den Wahlgruppen Großhandel, Industrie, Bergbau und Einzelhandel, außerdem die von den sog. Industrie- und Handelsgremien als Regionalorganisationen ihres Bezirkes abgeordneten Mitglieder sowie die durch Zuwahl der Industrieund Handelskammer gewählten Mitglieder. Gemeinsam bildeten sie die Bayerisches Wirtschaftsarchiv, „Auch Börse und Handelskammer“, Völkischer Beobachter vom 13. März 1933, BWA K 1/XXIII 527, 1. Akt. – Siehe auch Harald Winkel, Wirtschaft im Aufbruch. Der Wirtschaftsraum München-Oberbayern und seine Industrie- und Handelskammer im Wandel der Zeit, München 1990, S. 111. 5 Bayerisches Wirtschaftsarchiv, Niederschrift über die nichtöffentliche Sitzung der Industrie- und Handelskammer München am 17. März 1933, BWA K 1/I 0. – Zit. auch bei Winkel (wie Anm. 4) S. 112. 4
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Industrie- und Handelskammer und waren das oberste Beschlussorgan. Sie bestimmten die Richtlinien der Arbeit und waren zuständig für alle Angelegenheiten, die die gewerbliche Wirtschaft im jeweiligen Kammerbezirk betrafen.6 Von den insgesamt 60 Kammersitzen, deren Zahl durch Entschließung der Regierung von Oberbayern vom 30. Oktober 1926 festgesetzt worden war, wurden 52 in unmittelbarer Wahl vergeben.7 Die Wahlperiode selbst betrug sechs Jahre. Am Ende eines jeden dritten Jahres musste die Hälfte der Mitglieder nach dem Losverfahren ausscheiden. Die Ausscheidenden waren aber wieder wählbar.8 Zum Zeitpunkt der konstituierenden Sitzung am 3. Februar 1933 hatten sieben jüdische Mitglieder ihren Sitz in der Kammervollversammlung: bei der Wahlgruppe Großhandel Kommerzienrat Adolf Einstein, Teilhaber der Bettfedernfabrik Billigheimer & Einstein; Bruno Levi, Teilhaber der Metallgroßhandlung Holl & Cie; Justin Lichtenauer, Mitinhaber der Textilagentur Julius Lichtenauer; Kommerzienrat Richard Weinberger, Teilhaber des Bankgeschäfts Herzog & Meyer; Geheimer Kommerzienrat Max Weinmann, Inhaber einer Seiden-, Besatz- und Kurzwarengroßhandlung. Aus der Wahlgruppe Industrie kam Kommerzienrat Dr. Ludwig Wassermann, Inhaber der Spiritusraffinerie und Essigspritfabrik Max Wassermann, sowie aus der Wahlgruppe Einzelhandel Kommerzienrat Nathan Stern, Mitinhaber des Spezialhauses für Mode und Wäsche Gerstle & Löffler. Für die Gruppe Industrie wurde Dr. Willi Binswanger, Direktor der Amperwerke AG, in der konstituierenden Sitzung zugewählt.9 Industrie- und Handelskammerverordnung vom 5. Februar 1927, Gesetz- und Verordnungsblatt für den Freistaat Bayern Nr. 5 vom 5. März 1927, S. 90 ff. – Paul Helfrich, 125 Jahre Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern. Daten und Fakten, Zahlen und Namen. Nachtrag zu der 1968 erschienenen Jubiläumsschrift, München 1971, S. 13 f. 7 Bayerisches Wirtschaftsarchiv, Schreiben der Industrie- und Handelskammer München an die Regierung von Oberbayern vom 26. Oktober 1933, K 1/I 4, 9. Akt. 8 Helfrich (wie Anm. 6) S. 14. 9 In dem 1958 von Hans Lamm herausgegebenen Gedenkbuch „Von Juden in München“ findet sich das namentliche Verzeichnis jüdischer Kammermitglieder 1932/33 (S. 336). Dabei wird die Zahl der Kammermitglieder insgesamt irrtümlich mit 45 angegeben. Bei der Auflistung fehlt der Name von Dr. Willi Binswanger. Das könnte damit zusammenhängen, dass Dr. Binswanger 1931 aus der Kultusgemeinde ausgetreten war. Vgl. dazu Stadtarchiv München, Meldeunterlagen von Dr. Willi und Agnes Binswanger, EWK65-B-423. Ich danke Herrn Archivoberrat Anton Löffelmeier für seine Recherche. – Bayerisches Wirtschaftsarchiv, Niederschrift über die nichtöffentliche Sitzung der Industrieund Handelskammer München am 3. Februar 1933, BWA K 1/I 0. 6
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Willi Binswanger wurde 1878 als Sohn einer Augsburger Kaufmannsfamilie geboren. Das Studium der Elektrotechnik an den Hochschulen München und Darmstadt beendete er als Diplomingenieur, 1927 erhielt er den Doktortitel. Als junger Ingenieur wurde ihm 1910/11 die Bauleitung für den Maschinen- und elektrischen Teil der Leitzachwerke übertragen. Für das Kraftwerk wurde der Seehamer See aufgestaut und ein Zuleitungsstollen von der Leitzach errichtet. Nach Gründung der Bayerischen Überlandzentrale 1912 wurde der renommierte Fachmann als Direktor berufen und wechselte nach der Fusion mit den Amperwerken E.-A. dort in die Direktion über. 1934 starb Willi Binswanger nach kurzer Krankheit.10 1861 kam Adolf Einstein in Jebenhausen, seit 1939 ein Ortsteil von Göppingen, zur Welt. 1888 gründete er zusammen mit seinem Schwager Julius Billigheimer in München eine Bettfedernfabrik, die sich zum größten Betrieb dieser Art entwickelte. Die Firma beschäftigte in ihrem Werk am Nockherberg rund 65 Arbeiter und Angestellte. 1925 wurde Adolf Einstein zum Kommerzienrat ernannt.11 Das Ende seines Unternehmens erlebte er nicht mehr, er starb Anfang 1938. Der 1886 in München geborene Bruno Levi war seit 1911 Inhaber der Firma Holl & Cie, einer Metallhandlung und Agentur, die an ihrem Firmensitz in der Paul-Heyse-Straße auch eine Metallschmelze betrieb. Die Geschäfte liefen sehr gut. Levi konnte seiner Sammelleidenschaft nachgehen und trug eine weltweit einzigartige Kollektion aus über 400 Einzelobjekten der Nymphenburger Porzellanmanufaktur zusammen. Sie wurde 1938 von der Gestapo beschlagnahmt. Auf Umwegen gelang Bruno Levi die Emigration nach Montevideo, wo er 1972 starb.12 Justin Lichtenauer, Jahrgang 1877, stammte aus dem unterfränkischen Gerolzhofen. Er betrieb zusammen mit seinem Kompagnon Heinrich Ull Bayerisches Wirtschaftsarchiv, Nachruf auf Diplom-Ingenieur Dr. Willi Binswanger. In: Nachrichten für das Gebiet der Amperwerke E.-A., 23. Jg. Nr. 4, Oktober 1934, BWA F 78/207. 11 Marita Krauss (Hrsg.), Die bayerischen Kommerzienräte. Eine deutsche Wirtschaftselite von 1880 bis 1928, München 2016, S. 440. – Stadtarchiv München: Biographisches Gedenkbuch der Münchner Juden 1933–1945: Eintrag zu Adolf Einstein, https://gedenkbuch. muenchen.de/index.php?id=gedenkbuch_link&gid=13193. 12 Wolfram Selig, „Arisierung“ in München. Die Vernichtung jüdischer Existenz 1937– 1939, Berlin 2004, S. 543 ff. – Alfred Grimm, „Ich freue mich unsagbar, meine Nymphenburger geliebten Freunde wiederzusehen“. Zum Schicksal der von der Gestapo in München beschlagnahmten Porzellansammlung von Bruno und Antonie Levi. In: aviso. Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern, 4/2016, S. 46 ff. 10
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mann eine Textilagentur. Lichtenauer war Zionist und engagierte sich stark in der jüdischen Kultusgemeinde sowie im Landesverband Bayerischer Israelitischer Gemeinden. Er setzte sich auch für den Keren Hajessod in München ein, eine Spendenorganisation für den Aufbau Israels. Der Handelskammer war er nicht nur als Mitglied verbunden, sondern er amtierte auch als Handelsrichter. 1938 starb Justin Lichtenauer in München.13 Nathan Stern wurde 1871 im unterfränkischen Mellrichstadt geboren, wo seine Eltern ein Bekleidungshaus und ein Bankhaus besaßen. In Chemnitz wurde Stern Mitinhaber einer Strumpffabrikation, später gehörte ihm in der sächsischen Industriestadt die Strumpfwaren- und Handschuhfabrik Max Bergmann. Er zählte damals zu den prominentesten Vertretern der dortigen jüdischen Gemeinde. 1912 – damals erhielt er den Titel eines Kommerzienrates – siedelte er nach Berlin über und wechselte 1920 nach München. Dort betrieb er die alteingesessene Firma Gerstle & Löffler, ein Wäsche- und Ausstattungsgeschäft mit 90 Beschäftigten. 1939 konnte er gemeinsam mit seiner Frau nach London emigrieren, wo er ebenfalls ein Damenwäschegeschäft führte. 1948 verstarb Nathan Stern in London.14 Dr. Ludwig Wassermann erblickte 1885 in München als Sohn des Spiritusfabrikanten Kommerzienrat Karl Wassermann das Licht der Welt. Er studierte in München, Berlin und Erlangen und besuchte auch die Handelshochschulen Berlin und Leipzig, wo er sein Diplomexamen bestand. 1908 wurde er mit einer Dissertationsschrift über den Einfluss der Technik auf die Spiritusindustrie promoviert. Nach dem Tod des Vaters übernahm er den Betrieb. Er war bei der Zulassungsstelle der Münchner Börse aktiv und gehörte dem Präsidium des Bayerischen Industriellen-Verbands an. Er amtierte auch als Vorsitzender des Verbands Bayerischer Alkoholessigfabrikanten und war Aufsichtsratsmitglied verschiedener Gesellschaften. Darüber hinaus war er auch als Handelsrichter tätig. 1927 wurde er mit dem Titel eines Kommerzienrates ausgezeichnet. Politisch stand Dr. Ludwig Wassermann der Bayerischen Volkspartei nahe. 1923 wurde er beim Hitlerputsch am 8. November im Bürgerbräukeller als Geisel festgenommen, aber am Folgetag wieder freigelassen. Nach dem Verkauf seines Unterneh Stadtarchiv München: Biographisches Gedenkbuch der Münchner Juden 1933–1945: Eintrag zu Justin Lichtenauer, https://gedenkbuch.muenchen.de/index.php?id=gedenkbuch_ link&gid=10170. 14 Krauss (wie Anm. 11) S. 673 f. – Selig (wie Anm. 12) S. 218 f. – Nathan Stern – ein Ehrenbürger von Mellrichstadt: Die verlorenen Juden von Mellrichstadt, https://judaicamellrichstadt.de/juedische-persoenlichkeiten/nathan-stern/. 13
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mens emigrierte Dr. Ludwig Wassermann in die Schweiz, wo er 1941 in St. Gallen starb.15 Bankier Richard Weinberger wurde 1871 in Nürnberg geboren und zog 1905 nach München. Zusammen mit seinem Schwager Siegmund Mayer, seinem Neffen Max Meyer und dem Schwager Hermann Schild war er Teilhaber des Bankhauses Herzog & Meyer. Er gehörte dem Vorstand des Münchner Börsenvereins, dem Träger der Bayerischen Börse, an und fungierte als erster Vorstand der Münchner Bankiervereinigung. 1926 erhielt er den Titel eines Kommerzienrates. Richard Weinberger starb 1935 in München.16 Max Weinmann, 1873 in München geboren, war seit 1932 Alleininhaber des elterlichen Textilbetriebs D. M. Neuburger, einem bedeutenden Großhandelsgeschäft mit Posamentier-, Seiden- und Kurzwaren und beschäftigte 88 Angestellte. 1924 wurde er zum Kommerzienrat und vier Jahre später zum Geheimen Kommerzienrat ernannt. Er war königlichdänischer Generalkonsul und erhielt vom dänischen Königshaus den Titel eines Ritters des Danebrog-Ordens. Außerdem war er Mitglied der Zulassungsstelle der Münchner Effektenbörse und gerichtlich vereidigter Sachverständiger für Seiden-, Samt- und Plüschwaren. Darüber hinaus gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Rotary Clubs München, dessen Vizepräsident er 1931 wurde. 1940 nahm er sich gemeinsam mit seiner Ehefrau in München das Leben.17 Die jüdischen Kammerrepräsentanten waren arriviert, geschäftlich erfolgreich und vermögend. Sie verfügten zudem über hohes gesellschaftliches Ansehen und waren Teil einer wirtschaftsbürgerlichen Elite. Das brachte auch die Auszeichnung mit dem Titel eines Kommerzienrates zum Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft. Das Handbuch der Persönlichkeiten in Wort und Bild, hrsg. vom Deutschen Wirtschaftsverein AG, Band 2, Berlin 1931, S. 1990. – Krauss (wie Anm. 11) S. 696. 16 Krauss (wie Anm. 11) S. 700. – Stadtarchiv München: Biographisches Gedenkbuch der Münchner Juden 1933–1945: Eintrag zu Richard Weinberger, https://gedenkbuch.muen chen.de/index.php?id=gedenkbuch_link&gid=12075. 17 Frank Sambeth, Max Weinmann (1873–1940). In: Karl Huber – Wolfram Göbel für den Rotary Club München (Hrsg.), Erinnern und Gedenken. Der Ausschluss von 14 Münchner Rotariern im April 1933, München 2021, S. 198–206. – Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft, Band 2 (wie Anm. 15) S. 2006. – Krauss (wie Anm. 11) S. 701. – Selig (wie Anm. 12) S. 476–479. – Stadtarchiv München: Biographisches Gedenkbuch der Münchner Juden 1933–1945: Eintrag zu Max Weinmann, https://gedenkbuch.muen chen.de/index.php?id=gedenkbuch_link&gid=1971. – Rotary und Nationalsozialismus, https://memorial-rotary.de/index.php/members/1048. 15
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Ausdruck, über den mehr als die Hälfte von ihnen verfügte. Vom anderen Ende der sozialen Leiter kam dagegen Georg Sturm, der als Führer des nationalsozialistischen Kampfbundes des Gewerblichen Mittelstands München-Oberbayern bei den Kammerwahlen angetreten war und die Abstimmung zu „einem deutschen Sieg“18 machen wollte. Georg Sturm wurde 1899 als Sohn der Gürtlerstochter Maria Sturm in Wiedenzhausen, einem kleinen Dorf bei Dachau, geboren. Nach dem Besuch der Volksschule war er in mehreren gewerblichen Betrieben tätig, leistete seinen Militärdienst ab und nahm als Soldat am Ersten Weltkrieg teil. Von 1918 an arbeitete er in verschiedenen Industrie- und Handwerksbetrieben, bis er 1921 heiratete und mit dem Vermögen seiner Ehefrau ein Lebensmittelgeschäft in München eröffnete. Er wurde Vorstandsmitglied beim Landesverband bayerischer Lebensmittelhändler und gehörte ab 1931 dem Kleingewerbetreibenden-Ausschuss der Handelskammer München an, hatte dort aber kaum Einfluss.19 Sturm baute die Kampfgemeinschaft gegen Warenhaus und Konsumverein auf und wurde später Führer des Kampfbunds des Gewerblichen Mittelstands für München-Oberbayern.20 Diese Vereinigung bildete ein Sammelbecken für kleine Selbstständige und Einzelhändler, die der „Ausbeutung durch jüdisches Kapital“ ein Ende machen wollten und gegen „Billigläden und Warenhäuser“ kämpften. Seinen großen Auftritt in der Handelskammer hatte Georg Sturm bei der nichtöffentlichen Sitzung am 10. April 1933, an der er als „Sonderkommissar“ und „Gaukampfbundführer“ teilnahm. Er machte deutlich, dass eine Neuwahl durchgeführt werden müsse, bei der „die Nationalsozialisten mit mehr als 51 % in die Kammer einzögen.“ Falls die Zusammensetzung nicht erreicht werde, drohte er mit der kommissarischen Zwangsverwaltung. Die Entscheidung über die Aufstellung der Kandidaten müsse allerdings dem Gauleiter Adolf Wagner überlassen bleiben. Im Bayerisches Wirtschaftsarchiv, „Ein letztes Wort zur Industrie- und Handelskammerwahl“, Völkischer Beobachter vom 10. Januar 1933, BWA K 1/I 4, 8. Akt. 19 Mathias Rösch, Die Münchner NSDAP 1925–1933. Eine Untersuchung zur inneren Struktur der NSDAP in der Weimarer Republik (Studien zur Zeitgeschichte 63), München 2002, S. 450. 20 Staatsarchiv München, Spruchkammerakt Georg Sturm, K 1810. – Helmut M. Hanko, Kommunalpolitik in der „Hauptstadt der Bewegung“ 1933–1935. Zwischen „revolutionärer“ Umgestaltung und Verwaltungskontinuität. In: Martin Broszat – Elke Fröhlich – Anton Grossmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit III, Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, Teil B, Teil 2, München-Wien 1981, S. 329–441, hier S. 357. – Zur Rolle von Georg Sturm siehe auch Rösch (wie Anm. 19) S. 285–288, 334–336, 385–386, 450. 18
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Verlauf der Sitzung kam es zu einem kleinen verbalen Schlagabtausch, als es um die Verleihung des Goldenen Ehrenbriefs an den Schatzmeister der Kammer München, Geheimer Kommerzienrat Max August Wimmer, Inhaber einer Web- und Strickwareneinzelhandlung, ging. Sturm begrüßte die Entscheidung und betonte, dass auch „einem aufrechten, ehrlichen deutschen Manne diese Ehre zuteil werden solle, die bisher nur einem Juden zuerkannt wurde.“21 In seiner Rede führte Sturm weiter aus, dass die Juden die Feinde der Wirtschaft seien, denen der Kampf angesagt werden müsse. Deshalb habe er als erstes angeordnet, dass keines der bisherigen Kammermitglieder jüdischer Abstammung die Kammer wieder betreten dürfe. Es konnte also keine Rede davon sein, dass er die Rassenideologie des „Dritten Reiches“ ablehnte, wie Sturms Anwalt später im Spruchkammerverfahren 1947 zur Entlastung anführte.22 Mit dem Juden, dem der Goldene Ehrenbrief verliehen worden war, meinte Sturm den bedeutenden Bankier Franz von Mendelssohn aus ursprünglich jüdischer Familie, der bis 1931 Präsident der Berliner Handelskammer wie auch des Deutschen Industrie- und Handelstages war und als erster Deutscher zum Präsidenten der Konferenz der Internationalen Handelskammer gewählt wurde.23 Die Münchner Kammer hatte ihn 1932 mit dem neu geschaffenen Goldenen Ehrenbrief ausgezeichnet.24 Geheimer Kommerzienrat Prof. Dr. Hans-Christian Dietrich, Vorstand der Bayerischen Vereinsbank, protestierte scharf gegen die Vorhaltungen: „Im übrigen habe Herr von Mendelssohn für die deutsche Wirtschaft Großes geleistet, er bitte den Herrn Staatskommissar, dies zur Kenntnis nehmen zu wollen.“25 Sturm gab sich daraufhin etwas zahmer: Jude bleibe Jude, doch die Verdienste Mendelssohns seien auch ihm bekannt. Präsident Bayerisches Wirtschaftsarchiv, Niederschrift über die nichtöffentliche Sitzung der Industrie- und Handelskammer München am 10. April 1933, BWA K 1/I 0. 22 Staatsarchiv München, Spruchkammerakt Georg Sturm, K 1810. 23 Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft, Band 2 (wie Anm. 15) S. 1226 f. – Elisabeth Komar, Franz von Mendelssohn. In: Neue Deutsche Biographie 17 (1994), S. 61-62 [Online-Version]; https://www.deutsche-biographie.de/pnd116877138.html#ndbcontent. – Mendelssohn-Gesellschaft, Franz von Mendelssohn der Jüngere https://www.mendelssohnGesellschaft.de/mendelssohns/biografien/franz-von-mendelssohn – Thomas Hertz, Die Industrie- und Handelskammer zu Berlin. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte Berlins, Berlin 2008, S. 24–41. 24 Bayerisches Wirtschaftsarchiv, Niederschrift über die öffentliche Sitzung der Industrieund Handelskammer München am 6. Mai 1932, BWA K 1/I 0. 25 Bayerisches Wirtschaftsarchiv, Niederschrift über die nichtöffentliche Sitzung der Industrie- und Handelskammer München am 10. April 1933, BWA K 1/I 0. 21
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Pschorr betonte, dass die Industrie- und Handelskammer bisher nur einen Unterschied zwischen tüchtigen und untüchtigen Leuten gemacht habe. Mendelssohn sei „ein Mann von echtem deutschen Schrot und Korn, ein Kaufmann, wie er in der Hansazeit gegolten habe.“26 Sturms erklärtes Anliegen war es, auch in der Kammer „das alte und junge Deutschland“ zusammenzuführen. Als Symbol dafür hatte er die Bilder von Hindenburg und Hitler in den Diensträumen anbringen lassen. Zum Schluss seiner Ansprache in der konstituierenden Sitzung forderte er die Teilnehmer auf, sich von den Sitzen zu erheben und auf die „Führer im kommenden Reiche, Hindenburg und Hitler“ ein dreifaches Sieg Heil auszubringen. Das Sitzungsprotokoll vermerkte an dieser Stelle: „Dies geschieht.“27 Tatsächlich waren die jüdischen Mitglieder der Kammer schon bald nach der Flaggenhissung nicht mehr zu Sitzungen gekommen. Nach den Neuwahlen im Frühsommer 1933 rückte Sturm im Juni offiziell als Vizepräsident in den Vorstand der Kammer ein. Allerdings währte seine Karriere dort nur kurz. Schon im August 1933 musste er dieses Amt wieder aufgeben. Auch seinen Sitz im Stadtrat musste er damals räumen. Im Spruchkammerverfahren machte er geltend, dass er im Kampf um die Sauberkeit der politischen Führung diese Ämter niedergelegt hätte und deswegen verfolgt worden wäre.28 Tatsächlich kam es damals zu einer Auseinandersetzung mit dem stellvertretenden Gauleiter Otto Nippold, der Sturm einer Unterschlagung beim Kampfbund des gewerblichen Mittelstandes beschuldigte. Nach dem parteigerichtlichen Verfahren durfte Sturm drei Jahre lang nicht mehr als Redner auftreten und auch keine Posten in der Partei übernehmen.29 Ob nach den Kammerwahlen im Sommer 1933 tatsächlich – wie von Sturm gefordert – mehr als die Hälfte der Kammermitglieder der NSDAP angehörte, ist nicht geklärt. Sicher ist, dass der neue Kammerpräsident Albert Pietzsch, Vorstand der Elektrochemischen Werke in Höllriegelskreuth, ein „alter Kämpfer“ war. Vizepräsident Otto Pfaeffle, Generaldirektor des bedeutenden Kolonialwarengroßhandels Barbarino & Kilp, war Ebd. Bayerisches Wirtschaftsarchiv, Niederschrift über die nichtöffentliche Sitzung der Industrie- und Handelskammer München am 10. April 1933, BWA K 1/I 0. – Winkel (wie Anm. 4) S. 112–113. 28 Staatsarchiv München, Spruchkammerakt Georg Sturm, K 1810. 29 Staatsarchiv München, Spruchkammerakt Georg Sturm, K 1810. – Hanko (wie Anm. 20) S. 357. 26 27
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ebenfalls Parteimitglied. Auch die Hauptgeschäftsführung der Kammer wurde auf Linie gebracht. Als erste Amtshandlung hatte Sonderkommissar Sturm den bisherigen Chefsyndikus Dr. Edmund Simon, der mit einer Jüdin verheiratet war, entlassen. Für ihn kam der Wirtschaftsredakteur des „Völkischen Beobachter“ Dr. Hans Buchner, der mit 26 Jahren in die NSDAP eingetreten war und auch am Hitlerputsch teilgenommen hatte.30 Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurden die Kammern gleichgeschaltet. Seit 1934 unterstanden sie der Aufsicht des Reichswirtschaftsministers, der die Kammerpräsidenten ernannte. An die Stelle der gewählten Vollversammlung trat ein vom Präsidenten berufener Beirat, der lediglich beratende Funktion hatte. 1943 erfolgte in Bayern die Überführung der Industrie- und Handelskammern – soweit nicht aufgelöst – zusammen mit den Handwerkskammern in die neue Organisationsform der Gauwirtschaftskammern. Die Kammer München ging in der „Gauwirtschaftskammer München-Oberbayern“ auf. Nach dem Zusammenbruch 1945 löste eine Direktive der US-Militärregierung im August die Gauwirtschaftskammern auf. Wenige Monate später ließ das bayerische Wirtschaftsministerium zunächst sechs, später zehn bayerische Industrie- und Handelskammern, darunter auch München, zu, allerdings auf der Rechtsgrundlage der freiwilligen Mitgliedschaft von Unternehmen und nur in beratender Funktion. Ihr Kammerbezirk entsprach dabei dem jeweiligen Regierungsbezirk. Erst das „Gesetz zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern“ brachte 1956 auch der IHK München erneut den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft und die grundsätzliche Pflichtmitgliedschaft der Unternehmen ihres Bezirks. 1955 wurde erstmals nach 1933 wieder ein prominentes Mitglied der jüdischen Gemeinde München in die IHK-Vollversammlung gewählt: Konsul Otto Bernheimer, persönlich haftender Gesellschafter der Kunst- und Antiquitätenhandlung L. Bernheimer KG, der nach dem Exil in Venezuela gleich nach Kriegsende in seine Heimatstadt zurückgekehrt war.31 Auch er war noch in den Jahren der Weimarer Republik mit dem Titel eines Kommerzienrates ausgezeichnet worden. Eva Moser, „… geht damit in arischen Besitz über.“ Die Verdrängung der Juden aus der Münchner Wirtschaft. In: Andrea Baresel-Brand (Hrsg.), Entehrt. Ausgeplündert. Arisiert. Entrechtung und Enteignung der Juden (Veröffentlichungen der Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste 3), Magdeburg 2005, S. 131–146, hier S. 132. 31 Bayerisches Wirtschaftsarchiv, Industrie und Handel. Mitteilungsblatt der Industrieund Handelskammer München, 20. März 1955, 11. Jg., Nr. 6, S. 3. – Alle zitierten onlineRessourcen wurden im Frühling 2021 aufgerufen. 30
Virtueller Dienstleister oder dritter Ort – Überlegungen zur Positionierung staatlicher Archive im digitalen Zeitalter Von Peter Müller Archive haben im Laufe der letzten Jahrhunderte einen bemerkenswerten Funktionswandel durchgemacht. Bis zum Ende des Ancien Regime gehörten sie in Europa zum Arcanum der Herrschaft, dienten als Teil der Verwaltung der Rechtswahrung und waren aus diesem Grund keine öffentlich zugänglichen Einrichtungen. Entsprechend standen an ihrer Spitze Juristen oder Verwaltungsbeamte. Beginnend mit der Französischen Revolution und der Etablierung eines Zugangsrechts zu archivalischen Dokumenten jenseits von Zwecken der Verwaltung wandelten sie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu Quellenreservoiren für die historische Forschung. Nutzer waren jetzt neben der Verwaltung die Archivare selbst, von denen zunehmend statt einer juristischen eine historische Ausbildung verlangt wurde. Im Laufe der Jahrzehnte erfolgte zudem sukzessive eine Öffnung auch für Forschende, die nicht dem Archiv angehörten. Diese Funktion nahmen die Archive letztlich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wahr. Die Archivgesetze seit Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, die in Deutschland ein – inzwischen meist gar nicht mehr an ein berechtigtes Interesse gebundenes – Jedermannsrecht auf Einsichtnahme in Archivalien etablierten, bildeten die Rechtsgrundlage für eine weitere Öffnung der Archive auch für Interessenten jenseits der historischen Fachwissenschaften. Familienforscher und interessierte Laien waren zwar vorher schon in den Lesesälen der Archive präsent; ein Rechtsanspruch auf Zugänglichkeit wurde aber erst mit den Archivgesetzen verwirklicht. Viele Archivgesetze haben den Archiven zudem Aufgaben im Bereich der historischen Bildung übertragen und ihnen damit ermöglicht, Angebote jenseits von archivspezifischen Dienstleistungen zu machen. Seither bemühen sich die meisten Archive mit mehr oder weniger großem Engagement, mit Ausstellungen und diversen Bildungsangeboten ein breiteres Publikum anzusprechen. Primäre Zielgruppen dieser Aktivitä-
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ten sind neben dem historisch interessierten Bildungsbürgertum in allen Schattierungen nicht zuletzt Schülerinnen und Schüler.1 Mit dem Aufkommen des Internets ergaben sich zudem Möglichkeiten zur Erschließung von Zielgruppen, die man mit analogen Angeboten kaum erreicht hätte. Dabei spielt die Bereitstellung von Erschließungsinformationen genauso eine Rolle wie neue digitale Services oder auch die Nutzung elektronischer Kommunikationskanäle in Form von Newslettern oder über die sozialen Medien. Mit all diesen auf ein breiteres Publikum ausgerichteten Aktivitäten verfolgen die Archive natürlich auch das Ziel, Image und Bekanntheit ihrer Einrichtungen zu erhöhen. In Zeiten, in denen Aufmerksamkeit zu einem der wichtigsten Kriterien für das Ranking von Kultureinrichtungen geworden ist2, kommt eine Steigerung der Reichweite der eigenen Angebote und die Verbesserung des eigenen Images nicht nur dem Selbstwertgefühl der Einrichtung zugute, sondern wird zu einem, wenn nicht dem entscheidenden Faktor bei der Sicherung und Erweiterung ihrer Ressourcen. Archive als unbekannte Institutionen mit einem eher schwach ausgeprägten Image tun sich auf diesem Gebiet schwerer als andere, haben also einen besonders großen Nachholbedarf.3 Wie die Erschließung neuer Zielgruppen und eine Steigerung der Bekanntheit der Archive erreicht werden kann, soll in diesem Beitrag diskutiert werden. Die Vorüberlegungen für den Artikel begannen noch zu einer Zeit, als man nicht im mindesten erahnen konnte, welche tiefgreifenden Auswirkungen die Corona-Pandemie auf das Alltagsleben in aller Welt haben würde. Sie haben ihren Ausgangspunkt nicht zuletzt von der konkreten Situation in Ludwigsburg genommen, wo das von dem AuVon den zahlreichen Veröffentlichungen zur Thematik seien erwähnt: Jens Murken, Archivpädagogik und Historische Bildungsarbeit. Gesammelte Beiträge zu Methode und Praxis, Bielefeld 2020. – Clemens Rehm (Hrsg.), Historische Bildungsarbeit – Kompass für Archive? Vorträge des 64. Südwestdeutschen Archivtags am 19. Juni 2003 in Weingarten, Stuttgart 2006. 2 Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf (Edition Akzente), München u.a. 1998. – Zur Einordnung des Begriffs v.a. Jörg Bernady, Aufmerksamkeit als Kapital. Formen des mentalen Kapitalismus, Marburg 2014. 3 In anderen Kultureinrichtungen hat sich das „Audience Development“ zwischenzeitlich als Aufgabenbereich etabliert; vgl. dazu zusammenfassend insbes. Birgit Mandel (2013 / 2012), Kulturvermittlung, Kulturmanagement und Audience Development als Strategien für Kulturelle Bildung. In: KULTURELLE BILDUNG, https://www.kubi-online.de/artikel/kulturvermittlung-kulturmanagement-audience-development-strategien-kulturelle-bildung (aufgerufen am 20.4.2021). 1
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tor geleitete, im Zentrum der Stadt gelegene Staatsarchiv auf Druck des zwischenzeitlich abgewählten Oberbürgermeisters vor einigen Jahren zum Gegenstand einer Debatte über die künftige Entwicklung der Innenstadt wurde.4 Die Stadtspitze vertrat dabei explizit die Meinung, die Zukunft eines Staatsarchivs sei langfristig im digitalen Raum zu verorten, seine Präsenz im Zentrum der Stadt aus diesem Grund nicht erforderlich. In den analogen Angeboten, seien es Ausstellungen, Vorträge oder archivpädagogische Veranstaltungen, glaubte man wegen ihrer überschaubaren Reichweite keinen nennenswerten Beitrag für die Belebung der Innenstadt sehen zu können und hielt es deshalb für zweckmäßiger, in dem weitläufigen Gebäudeareal andere, kommerzielle oder zumindest publikumsträchtigere Nutzungen unterzubringen. Vieles, was vor Ausbruch der Coronakrise selbstverständlich oder naheliegend erschien, ist allerdings seither ins Wanken geraten. Abstandsregeln und Kontaktverbote führten Kultureinrichtungen, die ausschließlich oder überwiegend analoge Angebote bereithalten, die Fragilität ihrer Existenz vor Augen. Gleichzeitig boomen seither Anbieter digitaler Formate sowie insgesamt alles, was online vertrieben werden kann. Das hat die auch durch den wachsenden Onlinehandel ohnehin schon prekäre Situation in den Innenstädten weiter verschärft. Zwischenzeitlich mehren sich Stimmen, die die Zukunft der Innenstädte nicht mehr primär in einem florierenden Einzelhandel sehen, sondern in einem Mix unterschiedlicher Nutzungen, zu denen auch und gerade kulturelle Einrichtungen mit ihren Angeboten einen Beitrag leisten können. Dies könnte auch eine Chance für Archive in Innenstadtlagen sein, wenn sie das Portfolio ihrer Angebote auf ein breiteres Publikum abzustellen bereit sind. Die Coronakrise hat freilich auch gezeigt, welches Potential digitale Angebote für die Archive haben, denn anders als viele klassische Kultureinrichtungen wie Museen oder Theater können die Archive den Kern ihrer Dienstleistungen, die Bereitstellung von Archivalien zur Einsichtnahme, auch sehr gut elektronisch abwickeln, vorausgesetzt, sie verfügen über die dafür nötige Infrastruktur und die erforderlichen Ressourcen. Alte Gewissheiten über die Bedeutung der beiden Welten gerieten mithin im Zuge Vgl. dazu etwa Tim Höhn, Neue Pläne für das Staatsarchiv in Ludwigsburg – Das Zeughaus soll geräumt werden. In: Stuttgarter Nachrichten vom 22.12.2016, https://www. stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.neue-plaene-fuer-das-staatsarchiv-in-ludwigsburg-das-zeughaus-soll-geraeumt-werden.12c97fd8-0b59-4a1e-a5fe-714f0b8bef68.html (aufgerufen am 20.4.2021) 4
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der Pandemie ins Wanken; ob Aktivitäten im analogen oder im digitalen Raum für die Steigerung der Aufmerksamkeit erfolgversprechender sind, lässt sich seither nicht mehr so ohne Weiteres sagen. Es bleibt zu fragen, wie sich unter den sich wandelnden Rahmenbedingungen die staatlichen Archive positionieren sollen, um das angestrebte Ziel einer größeren Bekanntheit und eines positiveren Images in der Öffentlichkeit zu erreichen. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf die staatlichen Archive, weil sich hier das Problem mit größerer Brisanz stellt als bei lokalen Archiven mit eher kleinen Sprengeln und einer primär vor Ort situierten Zielgruppe. Wenn lokale Archive ihre Aktivitäten auf den analogen Raum konzentrieren, dann scheint das von vorneherein erfolgversprechender als bei den meisten staatlichen Archiven, die ein Publikum einer ganzen Region bedienen müssen und häufig sogar über Bestände verfügen, die von nationalem oder gar internationalem Interesse sind. Bei den kommunalen Archiven bestehen überdies nicht selten räumliche oder organisatorische Überschneidungen mit anderen städtischen Einrichtungen wie Museen, Bibliotheken oder Mediatheken, die eine Vermarktung der Angebote des Archivs im Verbund leichter machen. Betrachten wir zunächst einmal die Möglichkeiten zur Steigerung der Reichweite, Attraktivität und Bekanntheit eines staatlichen Archivs im analogen Raum. Wenn man sich fragt, ob Archive mehr sein können als Informationsspeicher mit einem Lesesaal für ein in der Regel sehr überschaubares Publikum, dann lohnt es sich, einen Blick auf andere Kultureinrichtungen, insbesondere die ebenfalls vom digitalen Wandel massiv betroffenen Bibliotheken zu werfen. Für deren Neupositionierung spielt seit geraumer Zeit das Konzept des Dritten Orts eine zentrale Rolle.5 Danach sollen Bibliotheken mehr sein als Orte, die Literatur bereitstellen. Mit einem attraktiven Veranstaltungsangebot, aber auch durch eine Ausstattung mit Räumen von hoher Aufenthaltsqualität und ganz unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten wollen sie sich als soziale Treffpunkte und Orte der Kommunikation jenseits der Arbeitswelt auf der einen Seite und der Privatsphäre auf der anderen Seite etablieren. Als Kulturzentren im weitesDas Konzept geht auf Ray Oldenburg zurück und wurde von ihm schon 1989 entwickelt; vgl. Ray Oldenburg, The Great Good Place. Cafés, Coffee Shops, Bookstores, Bars, Hair Salons, and other Hangouts at the Heart Community, New York 1989. – Zur Übertragung des Begriffs auf Bibliotheken u.a. Robert Barth, Die Bibliothek als Dritter Ort. In: Forum Bibliothek und Information 67 (2015), Heft 7, S. 426–429; weitere Beiträge zur Thematik im gleichen Heft. 5
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ten Sinn können sie zu einem essentiellen Bestandteil der Stadtgesellschaft werden und damit auch einen Beitrag zur Belebung der Innenstädte leisten. Attraktive Beispiele für solch neuen Bibliotheken finden sich in Europa insbesondere im skandinavischen Raum – baulich besonders eindrucksvoll etwa in Oodi in Finnland6 – oder auch in den Niederlanden. Auffällig ist allerdings, dass es sich in aller Regel um kommunale Institutionen handelt und nicht um Einrichtungen mit einem Einzugsbereich, der über die Stadtgrenze hinausreicht. Im archivischen Bereich ist das Konzept bislang kaum aufgegriffen worden. Es bleibt zu fragen, ob eine solche Neupositionierung für die staatlichen Archive Sinn machen könnte und welche Voraussetzungen für eine Etablierung als drittem Ort nötig sind. Grundvoraussetzung, um überhaupt über den Ausbau eines Archivs zum dritten Ort nachzudenken zu können, sind passende räumliche und bauliche Rahmenbedingungen. Räumliche Voraussetzungen meint die Lage des Dienstgebäudes; bei den baulichen Voraussetzungen geht es um die Ausstattung des Archivs mit Flächen für neue öffentliche Nutzungen jenseits eines Lesesaals. Beides ist leider derzeit vielfach nicht gegeben. In den südlichen Bundesländern liegen längst nicht alle staatlichen Archive an einem Standort, der eine Weiterentwicklung zum dritten Ort erfolgversprechend erscheinen lässt. In Baden-Württemberg bringt die besten Voraussetzungen sicherlich das Staatsarchiv Ludwigsburg mit seiner Lage unmittelbar in der Innenstadt mit. Beim Hauptstaatsarchiv Stuttgart, dessen Hauptgebäude an der sog. Kulturmeile der Landeshauptstadt situiert ist, lässt sich ein vergleich bares Potential vermuten. Für das ebenfalls in der Innenstadt gelegene Staatsarchiv Sigmaringen gilt Ähnliches; in einer Kleinstadt wie Sigmaringen dürfte die Zugkraft eines dritten Orts aber beschränkt bleiben. Das Generallandesarchiv in Karlsruhe verfügt zwar seit einiger Zeit über einen modernen Anbau mit zusätzlichen Flächen für öffentlichkeitswirksame Aktivitäten, sein über öffentliche Verkehrsmittel nicht allzu leicht erreichbarer Standort am Rand der Innenstadt in einem Behördenquartier ist aber sicherlich ein Hemmnis für eine weitere Öffnung. Gleiches gilt für das Staatsarchiv in Freiburg, das ohnehin nur provisorisch in einem Wohngebäude untergebracht ist. Hier könnte ein Neubau an einem attraktiven Standort neue Entwicklungsperspektiven eröffnen. Und das Staatsarchiv Vgl. u.a. Laura Weissmüller, Ein Wohnzimmer für Helsinki – Park und Bibliothek „Oodi“ fertig. https://www.deutschlandfunk.de/park-und-bibliothek-oodi-fertig-ein-wohnzimmer-fuer-helsinki.691.de.html?dram:article_id=452671 (aufgerufen am 22.2.2021). 6
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Wertheim im Kloster Bronnbach trägt zwar einen Teil zur Belebung eines denkmalgeschützten Gebäudeensembles bei, liegt aber außerhalb der namengebenden Stadt und wird sich an diesem Standort sicherlich schwer lich zu einem dritten Ort weiterentwickeln lassen. Im Nachbarland Bayern ist die Situation nicht sehr viel anders. Wirklich zentral im Kern der Innenstadt liegt nur das Staatsarchiv Coburg. Die anderen Standorte finden sich eher in Randlage in durchaus unterschiedlicher Nachbarschaft. Das Staatsarchiv Augsburg am Rande des Universitätscampus könnte sicherlich mit einem erweiterten Angebot als Anlaufpunkt für ein studentisches Publikum etabliert werden, dürfte aber an diesem Standort kaum eine breitere Öffentlichkeit erreichen. In München profitieren die staatlichen Archive in ähnlicher Weise von der Nähe zur Universität und anderen Kultureinrichtungen. Und weiter im Westen findet man in Rheinland-Pfalz ebenfalls zwei staatliche Archive weitab am Rande der Stadt (Speyer, Saarbrücken) und nur eines (Koblenz) in einer Lage, die vielleicht Chancen zu einem Ausbau zum dritten Ort bieten könnte. Alles in allem mangelt es also bei den meisten staatlichen Archiven an einem passenden Standort für einen Ausbau zu einem dritten Ort. Aber selbst wenn die Standortbedingungen gut sind, bedarf es zur Aufwertung eines Archivs zu einem attraktiven Ort mit zusätzlichen Angeboten erheblicher baulicher Veränderungen, die sich längst nicht überall umsetzen lasse. Schon die Einrichtung eines auch nur bescheidenen Gastronomiebetriebs wird sich in den meisten Fällen ohne Anbauten kaum realisieren lassen, geschweige denn die Bereitstellung von Co-WorkingZonen oder Arealen mit attraktiven, interaktiven Stationen für jedermann jenseits der klassischen Vitrinenausstellung, wie sie in den Archiven bis heute dominiert. In Baden-Württemberg bieten sich am ehesten Chancen zur Realisierung eines solchen Konzepts im Zuge von Neu- oder Erweiterungsbauten, wie sie in Ludwigsburg und Freiburg geplant sind. An den anderen Standorten würde man, wollte man zusätzliche Nutzungen in die bestehenden Gebäude integrieren, rasch an Grenzen stoßen. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass eine nur teilweise Umsetzung des Konzepts – etwa durch Schaffung von Zonen mit höherer Aufenthaltsqualität im Eingangsbereich – die Attraktivität des jeweiligen Archivs für dessen klassische Klientel zwar sicher steigert, aber wohl kaum einen nennenswerten Beitrag zur Steigerung der Besucherzahlen und damit zur Imageverbesserung der Archive insgesamt oder gar zur Innenstadtentwicklung leisten dürfte.
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Klar ist zudem, dass eine Aufwertung der staatlichen Archive zu Orten mit größerem Publikumsverkehr eine inhaltliche Öffnung zur Voraussetzung hat. Wer möchte, dass Archive zu sozialen Treffpunkten werden, muss deren Angebote ausbauen, sei es durch die Bereitstellung von Flächen, die Aufenthalte auch jenseits der klassischen Archivnutzung erlauben, sei es durch attraktive Vermittlungsformate, die einen innovativen, spielerischen und interaktiven Umgang mit Geschichte und Dokumenten aus dem Archiv ermöglichen. Das Angebot an einem solchen Ort müsste überdies so attraktiv sein, dass es nicht nur das Publikum unmittelbar am Standort des Archivs anspricht, sondern eine Strahlkraft weit in den Archivsprengel hinein entwickelt. Dass der Aufbau solcher Angebote ohne zusätzliche Personalressourcen kaum zu leisten ist, sollte dabei freilich nicht verschwiegen werden. Immerhin: Archive, die ihr Portfolio um interessante Ausstellungen oder Bildungsangebote für jedermann in Gestalt von Führungen, Vorträgen und Seminaren oder speziellen pädagogischen Programmen für Schulklassen erweitert haben, konnten ihre Bekanntheit vor Ort und ihr Image als lokale Kultureinrichtungen durchaus steigern, haben aber selten ein Publikum jenseits des Einzugsbereichs des Öffentlichen Personennahverkehrs erreicht. Ihre Reichweite ist nirgendwo auch nur im Ansatz mit der von renommierten Museen zu vergleichen. Dieses Manko lässt sich durch die systematische Erarbeitung von Wanderausstellungen, die im jeweiligen Archivsprengel oder sogar darüber hinaus gezeigt werden können, sicherlich ein Stück weit kompensieren. Wanderausstellungen sind häufig aber aus Praktikabilitätsgründen weniger attraktiv gestaltet und lassen überdies auch keine Präsentation von Originalen zu. An den Orten, die eine solche Ausstellung zeigen, wird das Archiv sicher an Zuspruch gewinnen; ob es ausreicht, einen substantiellen und dauerhaften Imagegewinn zu erzielen, bleibt zweifelhaft. Sucht man nach möglichen Vorbildern für dritte Orte im Archivbereich, so wird man am ehesten im Ausland fündig. Weitgehend realisiert wurde ein solches Konzept im Staatsarchiv des Kantons Wallis in Sion, das zusammen mit der örtlichen Bibliothek einen umgenutzten Altbau – das ehemalige Arsenal – bezogen hat. Im Gebäude finden sich neben den klassischen Zonen für den Bibliotheks- und Archivbetrieb zusätzliche Flächen mit archiv- und bibliotheksfernen Nutzungen insbesondere in Form eines viel besuchten Bistros, Lesezonen, Ausstellungsflächen und eine Artothek. Die neue Einrichtung hat sich rasch zu einem Publikumsmagnet in der Stadt auch am Wochenende entwickelt und die Bekanntheit des im Ge-
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bäude befindlichen Archivs gesteigert.7 Bei der Bewertung des Konzepts sollte man aber berücksichtigen, dass das Profil der Kantonsarchive in der Schweiz angesichts ihrer überschaubaren Sprengel eher denen der größeren kommunalen Archive in Deutschland entspricht. Ihr primäres Publikum sitzt wesentlich näher am Standort des Archivs als dies bei den allermeisten staatlichen Archiven in Deutschland der Fall sein dürfte. So muss man festhalten, dass der Ausbau eines staatlichen Archivs zu einem attraktiven dritten Ort zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen zu sein scheint, in den meisten Fällen aber an den räumlichen und baulichen Voraussetzungen scheitern dürfte. Wo Erweiterungs- oder gar Neubauten in absehbarer Zeit geplant sind, wird man diese schon allein wegen der benötigten Magazinflächen eher in städtischen Randlagen zu realisieren versuchen. Diese mögen gut erreichbar sein, werden als Standort für einen dritten Ort aber nur dann in Frage kommen, wenn in der Umgebung andere attraktive kulturelle Einrichtungen positioniert sind und somit das gesamte Quartier eine gewisse Attraktivität besitzt. Zu fragen bleibt aber auch in diesen Fällen, ob ein um neue öffentlichkeitswirksame Angebote angereichertes Archiv tatsächlich eine Strahlkraft über seinen Standort hinaus entwickeln kann und damit einen essentiellen Beitrag zur Imageverbesserung der staatlichen Archive insgesamt zu entwickeln vermag. Wenn eine staatliche Archivverwaltung trotzdem einen oder mehrere solcher dritten Orte schaffen möchte, dann sollte zumindest überlegt werden, ob man solch ein Besucherzentrum nicht unabhängig von den traditionellen Archivstandorten einrichten könnte. Da die Angebote an einem solchen dritten Ort die eigentliche Einsichtnahme in Archivalien – zumindest soweit es nicht um Digitalisate geht – gar nicht zu umfassen brauchen, könnte ein solches Besucherzentrum auch unabhängig von den Archiven selbst an einem möglichst attraktiven und gut erreichbaren Standort auf die Archive, ihre Bestände und ihre Nutzungsmöglichkeiten aufmerksam machen. Dies entspräche dem Konzept mancher Onlinehändler, die neben ihren Shops im Internet zwischenzeitlich vereinzelt auch Stores vor Ort aufzubauen begonnen haben. Ob dieses Konzept langfristig trägt, hängt letztlich von seiner Ausgestaltung ab. Wichtig wäre es, dass in einem solchen Besucherzentrum etwas zu finden ist, was bei keiner anderen Einrichtung angeboten wird. Die Chancen zur Einrichtung solcher, von den eigentlichen Archiven getrennt situierten Besucherzentren stehen derzeit gar nicht einmal so schlecht, denn schon jetzt wird in manchen Kommu7
Vgl. https://www.vs.ch/de/web/culture/les-arsenaux-sion (aufgerufen 19.3.2021).
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nen händeringend nach alternativen Nutzungen für die sich abzeichnenden Leerstände in den Innenstädten gesucht. Blicken wir aber nun in einem zweiten Teil auf die Potentiale in der digitalen Welt. Wenn man nach den Faktoren fragt, die den Archiven in den letzten Jahren einen Zuwachs an Bekanntheit und Nachfrage beschert haben, so wird man neben erweiterten und attraktiver gestalteten Angeboten vor Ort der Digitalisierung und der damit einhergehenden Bereitstellung elektronischer Services die größte Bedeutung beimessen müssen. Mit Beständeübersichten, Findbüchern und Digitalisaten von Archivalien im Internet haben sich viele staatliche Archive ein Publikum erschlossen, das sie vor dem „digital turn“ auch in Ansätzen nie hätten erreichen können. Sobald solche Informationen über die großen Suchmaschinen auffindbar sind, kann ein Publikum weit jenseits des eigenen Orts und der Sprengelgrenzen auf das Angebot der Archive aufmerksam gemacht werden. Besonders attraktiv sind hierbei personenbezogene Unterlagen, angefangen von klassischen genealogischen Quellen wie den Standes- respektive Kirchenbüchern bis hin zu Personalakten, Gerichtsakten oder ähnlichen Aktengruppen. Ablesen lässt sich der Zuwachs beispielsweise an den Zugriffszahlen auf die zwischenzeitlich mehr als 4 Millionen Digitalisate, die das Staatsarchiv Ludwigsburg derzeit bereits im Netz anbietet. Diese werden – ohne dass dazu größere Marketingaktivitäten entfaltet worden wären – im Monat zwischenzeitlich von bis zu zwanzigmal mehr Personen konsultiert als Nutzer in den Lesesaal kommen. Dabei sind die User, die nur in den Katalogen recherchieren oder Archivalien on demand als Scan bestellen, noch gar nicht mitgezählt. Während der Coronakrise hat diese Entwicklung einen weiteren Schub erfahren – natürlich auch, weil Lesesaal, Ausstellungen und Veranstaltungen vor Ort wegen der Lockdowns zeitweise gar nicht zugänglich waren oder ein Besuch des Archivs aus Gründen des Infektionsschutzes von den Nutzern lieber vermieden wurde. Viele nutzten die Zeiten des Lockdowns für zumeist familien- und personenbezogene Recherchen im Internet und entdeckten auf diesem Weg die Angebote der Archive. Bezüglich ihrer digitalen Services besteht in vielen Archiven allerdings noch ein erheblicher Nachholbedarf. Der Aufbau sogenannter elektronischer Lesesäle steht in vielen staatlichen Archivverwaltungen erst am Anfang. Kostenlose oder zumindest kostengünstige Scans on demand, Beratungen per Chat oder Videogespräch, wie sie beispielsweise das Schwei-
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zerische Bundesarchivs seit einiger Zeit anbietet8, sucht man in den deutschen Staatsarchiven noch vergebens. KI-gesteuerte Recherchetools, sei es in Form einer Volltextsuche in Digitalisaten oder zur Ermittlung bestimm ter Bildinhalte, wie sie sich teilweise schon in Erprobung befinden9, sind derzeit noch Zukunftsmusik. Aber selbst die Bereitstellung digitalisierter Archivalien im Netz geht in Bereichen, wo sie – wie bei der Verfügbarmachung von Mikrofilmscans - mit vergleichsweise geringem Aufwand zu realisieren wäre, nur langsam voran. Das hängt natürlich mit fehlenden Ressourcen zusammen, hat unter Umständen aber auch damit zu tun, dass die Archive selbst sich nicht mit dem nötigen Nachdruck um eine Einwerbung der dafür nötigen Mittel bemühen und den Trägern deshalb die Digitalisierung der Angebote ihrer Einrichtungen kein besonders drängendes Anliegen ist10. Während der Coronakrise hat sich aber gezeigt, dass man im Netz auch mit Angeboten außerhalb eines digitalen Lesesaals Aufmerksamkeit generieren kann. Im baden-württembergischen Landesarchiv haben verschiedene Standorte damit begonnen, klassische Vorträge in rein virtueller oder zumindest hybrider Form anzubieten; Workshops über Themen rund um die Benutzung und Auswertung von Archivalien finden seit kurzem als Marco Majoleth, Online-Beratung im Schweizerischen Bundesarchiv. In: Thomas Just – Peter Müller (Hrsg.), Archivnutzer im Wandel. Vorträge des 77. Südwestdeutschen Archivtags am 22. und 23. Juni 2017 in Bretten, Stuttgart 2018, S. 9–12. – Allgemein zur Thematik Joachim Kemper, „Anfragen“ über soziale Medien, Blogposts, Chats, Twitter & Co. – Aspekte einer virtuellen Nutzerberatung im Web 2.0. In: Archivar 69 (2016) S. 224–227. – Bastian Gillner, Mehr als nur Bereitstellung. Proaktiver Nutzerkontakt mittels Sozialer Medien. In: Monika Storm (Redaktion), Neue Wege ins Archiv – Nutzer, Nutzung, Nutzen. 84. Deutscher Archivtag 2014 in Magdeburg (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag 19), Fulda 2016, S. 71–86. 9 Ein entsprechendes Projekt hat vor kurzem das Stadtarchiv Heilbronn gestartet; vgl. dazu https://www.heilbronn.de/rathaus/aktuelles/details/artikel/was-leistet-kuenstliche-intelligenz. html (aufgerufen am 22.3.2021) 10 Die Ausweitung der digitalen Services im Schweizerischen Bundesarchiv beispielsweise ist Teil einer Gesamtstrategie der Bundesverwaltung zum Ausbau digitaler Dienstleistungen. An vergleichbaren Programmen, von denen auch die staatlichen Archive profitieren könnten, mangelt es in Deutschland bislang noch. Vgl. dazu: Stefan Kwasnitza, Der neue Online-Zugang zum Schweizerischen Bundesarchiv. In: Arbido 2019 (Heft 3). – Eine ähnlich ambitionierte Digitalisierungsstrategie verfolgt die schwedische Regierung: vgl. Christina Wolf, Kulturgutdigitalisierung in Schweden. Umsetzung einer nationalen Digitalisierungsstrategie. In: Gerald Maier – Clemens Rehm (Hrsg.), Archive heute – Vergangenheit für die Zukunft. Archivgut – Kulturerbe – Wissenschaft. Zum 65. Geburtstag von Robert Kretzschmar (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, A 26), Stuttgart 2018, S. 251–264. 8
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Webinare statt und stoßen auf großes Interesse. Was zunächst als „Notlösung“ für Phasen eines Lockdowns entwickelt wurde, hat binnen kurzer Zeit eine eigene Dynamik entwickelt. Überrascht stellte man beispiels weise im Landesarchiv Baden-Württemberg fest, dass mit den virtuellen Formaten ein Publikum erreicht wird, das an einer analogen Veranstaltung vor Ort aus den verschiedensten Gründen nie teilgenommen hätte. Hinderungsgründe konnten die Entfernung zum Veranstaltungsort sein, aber auch eine Unabkömmlichkeit zu Haus, wie sie etwa bei Interessenten mit schulpflichtigen Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen gegeben sein kann. Wie groß das Interesse an solchen Angeboten ist, zeigte sich an deren großer geographischen Reichweite. Nicht nur Interessenten von außerhalb des Archivsprengels nutzten das Angebot, sondern sogar solche aus dem Ausland. Gefragt waren Veranstaltungen mit historischen Inhalten ebenso wie Seminare zu archivspezifischen Fragen. Das große Interesse an Inhalten rund um die Nutzung und Auswertung von Archivalien belegt zudem, dass gerade im außeruniversitären Bereich eine große Nachfrage nach Schulungen im Umgang mit Archivgut besteht, die mit den wenigen analogen Angeboten, die es bislang gibt, offenbar nicht befriedigt werden konnte. Möglicherweise lassen sich solche Angebote auch zum Aufbau eines virtuellen dritten Raums ausbauen. Die mancherorts bereits erprobten Citizen-Science oder Crowdsourcing-Projekte könnten ein Baustein eines solchen Konzepts sein, wenn man sie nicht nur als Quelle für zusätzliche Ressourcen in der Erschließung begreift, sondern als einen Weg, um Interaktionen zwischen Nutzer und Archiv zu ermöglichen und damit eine stärkere Nutzerbindung zu erreichen.11 Wie wenig Wert viele Archive aber bislang auf eine Präsenz im digitalen Raum legen, lässt sich ebenfalls an ihren Aktivitäten in den sozialen Medien ablesen.12 Dies gilt in besonderem Maße für die staatlichen Archive. Diese betreiben zwar zwischenzeitlich vermehrt Accounts auf den einschlägigen Plattformen. Deren Reichweite bleibt aber im Vergleich zu denen von manch größerem ausländischen Archiv meist überschauVgl. u.a. Christian J. Huber – Lambert Kansy – Martin Lüpold, Crowdsourcing in Archiven: ein Werkstattbericht. In: Archivar 73 (2020) S. 145–149. – Mia Ridge (Hrsg.), Crowdsourcing our cultural heritage, Farnham 2014. 12 Vgl. dazu u.a.: Karsten Kühnel, Soziale Medien und Archive – Top oder Flop? In: Archive in Bayern 10 (2018) S. 277–288. – Bastian Gillner, Archive im digitalen Nutzerkontakt – virtuelle Lesesäle, soziale Medien und mentale Veränderungszwänge. In: Archivar 66 (2013) S. 224–227. 11
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bar. Auch scheinen die Posts der staatlichen Archive auf Twitter, Facebook oder Instagram häufig vor allem die eigene Community im Blick zu haben und nicht Zielgruppen außerhalb des Archivs. Aber selbst wenn Angebote für andere Zielgruppen gemacht werden, so dürften diese – darauf lassen zumindest die meist recht niedrigen Zugriffszahlen schließen – den Erwartungen netzaffiner Nutzer insbesondere jüngeren Alters eher weniger entsprechen. Überlegungen, wie man ein größeres Publikum oder neue Zielgruppen erreichen könnte, gibt es kaum. Zudem fehlt es an einem gezielten Onlinemarketing zur Steigerung der Reichweite der Angebote. Dies ist umso bedauerlicher, als sich im Zuge der Coronakrise die Nutzung solcher Medien deutlich beschleunigt hat.13 In besonderer Weise gilt das für Streaming-Plattformen, die einen regelrechten Boom verzeichnen. Neben Videos werden zunehmend auch Podcasts, also reine Audioformate – für die es wieder spezielle Plattformen gibt – nachgefragt. Gerade hier sind die Archive bislang aber kaum präsent, obwohl sie nicht selten audiovisuelle Quellen in ihren Beständen verwahren. Ein Blick auf die Aktivitäten staatlicher Archive auf der populärsten Videoplattform Youtube kann das verdeutlichen. In Deutschland verfügen nur die Landesarchive in Baden-Württemberg, Hessen und NordrheinWestfalen sowie das Sächsische Staatsarchiv und das Staatsarchiv Bremen über einen eigenen Kanal. Die Zahl der Abonnenten dieser Kanäle bewegt sich zumeist im zweistelligen Bereich; lediglich das Hessische Landesarchiv und das Landesarchiv Baden-Württemberg verzeichnen mehr als 100 Abonnenten. Bescheiden bleibt bis auf wenige Ausnahmen die Reichweite der veröffentlichten Videos; die Zahl der Aufrufe bewegt sich zumeist im zwei- bis dreistelligen Bereich. An der Spitze liegen die vom Landesarchiv Baden-Württemberg im Sommer 2020 veröffentlichten Tonband aufnahmen von der Urteilsverkündung im Ulmer Einsatzgruppenprozess mit Zugriffszahlen bis in den fünfstelligen Bereich sowie einige historische Videos des Hessischen Landesarchivs mit teilweise mehreren Tausend Aufrufen.14 Dass Videos mit historischen Inhalten durchaus ihr Publikum finden, zeigt ein Blick ins Ausland. Im angelsächsischen Bereich, aber auch in Die Facebookgruppe, die das Staatsarchiv Ludwigsburg seit 2017 unterhält, hat ihre Mitgliederzahl während der Coronakrise binnen zwölf Monaten mehr als verdoppelt. 14 Zum Youtube-Auftritt des Hessischen Landesarchivs jetzt auch Maria Kobold – Rouven Pons, Archivische Vermittlungsarbeit als gesellschaftlicher Auftrag. Das Hessische Landesarchiv auf Youtube. In: Archivar 74 (2021) S. 278–281. 13
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den Niederlanden und Frankreich erzielen staatliche Archive mit ihren Youtube-Accounts eine deutlich größere Reichweite. An der Spitze liegen sicherlich die National Archives in den USA, die nicht nur mehr als 250.000 Abonnenten auf ihrem Youtube-Kanal ver zeichnen, sondern mit historischen Filmen sogar ein Millionenpublikum erreichen. Zahlreiche Aufrufe – ebenfalls überwiegend mit historischen Filmen – erzielen auch die Nationalarchive in Kanada und Großbritannien. In Relation zur Sprengelgröße ähnlich erfolgreich sind diverse Archive in den Niederlanden, deren Youtube-Kanäle vereinzelt mehr als 1000 Abonnenten haben. 15 Auch ihre Angebote – meist Filmdokumente aus den eigenen Beständen – verzeichnen Aufrufe im sechsstelligen Bereich. Die Beispiele belegen, dass es auch auf den Streamingplattformen ein Publikum für Angebote der Archive gibt – wenn es den Interessen sowie Seh- und Hörgewohnheiten der Netzcommunity entspricht. Voraussetzung für ein erfolgreiches Platzieren solcher Videos ist eine professionelle Auswahl, Gestaltung und Bewerbung der entsprechenden Angebote. Hier gibt es auch bei den Archiven, die auf diesem Gebiet aktiv sind, zweifellos noch Nachholbedarf. Podcasts werden zwischenzeitlich von spezialisierten Agenturen produziert, die nicht zuletzt für Medien tätig sind und sich für Inhalte aus dem Archivbereich durchaus begeistern lassen. Sie kümmern sich auch um ein professionelles Marketing und die Platzierung auf den einschlägigen Plattformen. Die besonderen Bedingungen während der Coronakrise haben sichtbar werden lassen, was sich im Zuge einer fortschreitenden Digitalisierung ohnehin abzuzeichnen begonnen hat – nämlich der allmähliche Funktionswandel der traditionellen Standorte der Staatsarchive. Bislang konnten die Dienstleistungen eines Archivs nur vor Ort erbracht werden, weil es dazu des Rückgriffs auf die analogen Speichermedien und damit der entsprechenden Magazine bedurfte. Mit der fortschreitenden Digitalisierung von Archivalien, aber auch mit dem Anwachsen der Bestände an genuin digitalen Unterlagen wird sich diese Beziehung grundlegend verändern. In nicht allzu ferner Zukunft wird man einem Nutzer kaum mehr plausibel machen können, warum er zur Einsichtnahme in digitale Archivalien den Lesesaal eines ganz bestimmten Archivs aufsuchen soll. Sollte für bestimmte elektronische Archivalien aus rechtlichen Gründen eine Nutzung nur vor Das Angebot in Großbritannien zielt dabei mit einer Reihe von Filmen über UFOs natürlich bewusst auf das Interesse eines Massenpublikums ab. Das niederländische Nationalarchiv verzeichnet eine große Reichweite mit comicartigen Filmen. 15
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Ort möglich sein, so wird man dem Nutzer dann aber doch eine Einsichtnahme in einem Lesesaal in seiner Nähe anbieten wollen. Aber selbst bei der Einsichtnahme in Archivalien, die nur in analoger Form vorgehalten werden, wird sich über kurz oder lang ein Druck zur digitalen Nutzung entwickeln. Die sprunghaft angestiegene Zahl an Reproduktionsaufträgen während der Coronakrise hat gezeigt, dass viele Nutzer bereit sind, solche Services in Anspruch zu nehmen, selbst wenn damit Kosten verbunden sind. Das Schweizerische Bundesarchiv hat bereits damit begonnen, kostenfreie On-demand-Digitalisierungen anzubieten und wurde von der Nachfrage nach diesem neuen Service förmlich überrollt.16 Eine rein digitale Nutzung wird sicher nicht für alle Nutzungsszenarien in Frage kommen – so wird bei einer Auswertung von Massenakten der Digitalisierung möglicherweise eine Sichtung vor Ort vorangehen müssen – und wird sich in der Breite auch nur durchsetzen, wenn sie für den Nutzer keine höheren Kosten verursacht als die klassische Nutzung im Lesesaal und sofern die Bereitstellung der Digitalisate zügig erfolgt. Irgendwann wird man dem Publikum im Zuge einer zunehmenden Digitalisierung öffentlicher Dienstleistungen aber nicht mehr erklären können, warum solche digitalen Dienstleistungen von einem Archiv nur zu extrem ungünstigen finanziellen Konditionen in Anspruch genommen werden können, wenn gleichzeitig eine – unter konservatorischen Gesichtspunkten zudem problematische – Einsichtnahme im Lesesaal kostenlos angeboten wird. Sollten nach einer flächendeckenden Einführung der E-Akte die bestehenden Papierregistraturen aufgelöst werden, steht zu befürchten, dass die massenhafte Abgabe von analogen Altakten die Magazinkapazitäten an den bestehenden Archivstandorten rasch übersteigen könnte. Die Einrichtung von zentralen Archivdepots oder Zwischenarchiven wird dann sicherlich diskutiert werden. Für einzelne Überlieferungszweige sind solche zentralen Archivierungen bereits umgesetzt. Erinnert sei an das Grundbuch zentralarchiv innerhalb des Landesarchivs Baden-Württemberg, das die Zum überwältigenden Zuspruch: Oliver Schneider, Bundesarchiv von der eigenen Digitalisierung überrumpelt. In: Netzwoche https://www.netzwoche.ch/news/2019-10-29/ bundesarchiv-von-der-eigenen-digitalisierung-ueberrumpelt (aufgerufen am 22.3.2021). – Konzeptionelle Überlegungen dazu auch: Gerald Maier – Thomas Fricke, Bestellung und Lieferung von Reproduktionen aus Archivalien über das Internet. In: Gerald Maier – Clemens Rehm (Hrsg.), Archive heute – Vergangenheit für die Zukunft. Archivgut – Kulturerbe – Wissenschaft. Zum 65. Geburtstag von Robert Kretzschmar (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, A 26), Stuttgart 2018, S. 273–284. 16
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gesamte Grundbuchüberlieferung unabhängig von den Sprengeln der eigentlich zuständigen Staatsarchive verwahrt und zugänglich macht.17 Ähnliche Überlegungen hat es auch schon für andere Bereiche der Justiz – insbesondere die Überlieferung der Staatsanwaltschaften – gegeben. Ohnehin nicht mehr an einen Standort gebunden sind die digitalen Magazine, die überall im Entstehen begriffen sind.18 Hier erfolgt im Landesarchiv Baden-Württemberg im Augenblick noch über ein Rechtemanagement eine Zuordnung zu den Sprengelarchiven und ihren Zuständigkeiten. Es zeichnet sich aber bereits ab, dass zumindest die Nutzung über kurz oder lang sprengelunabhängig möglich sein wird. Gleiche Tendenzen gibt es bei der Überlieferungsbildung mit dem vermehrten Einsatz digitaler Bewertungsinstrumente und der Bewertung landesweiter E-Aktenbestände. Im Falle der vom Landesamt für Besoldung und Versorgung gehosteten elektronischen Personalakte hat sich das Landesarchiv Baden-Württemberg zwar entschieden, bis auf Weiteres an der provenienzgerechten und damit standortbezogenen Aufteilung dieser Akten festzuhalten. Ob sich dieses Verfahren in der Praxis bewährt, bleibt freilich abzuwarten, denn gerade bei diesem Aktentyp erfolgt der Zugriff primär über den Personennamen und nicht über die Provenienz oder die aktenführende Dienststelle, die zudem auch wechseln kann. Diese Entwicklungen werden alle über kurz oder lang dazu führen, dass hergebrachte Strukturen und Zuständigkeiten der einzelnen Standorte auf den Prüfstand gestellt werden. Eine stärkere Zentralisierung aller digital zu erledigenden Aufgaben und ein Funktionsverlust der Organisations einheiten in der Fläche sind dabei wahrscheinlich. Auch dies spricht dafür, dass das Image der staatlichen Archive langfristig stärker von standortübergreifenden digitalen Services geprägt werden wird als von den Angeboten an den klassischen Archivstandorten in der Fläche. Zusammenfassend wird man festhalten können: 1. Die staatlichen Archive werden am ehesten Aufmerksamkeit generieren können, wenn sie konsequenter als bisher ihre Potentiale im digitalen Raum auszubauen versuchen. Das betrifft zum einen die klassischen archivischen Dienstleistungen, die viel konsequenter als Clemens Rehm, Das Baden-Württembergische Grundbuchzentralarchiv. In: Archivar 67 (2014) S. 14–22. 18 Christian Keitel, Das Projekt DIMAG: Sachstand 2019. In: 23. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“. 12. und 13. März 2019 Nationalarchiv Prag. Hrsg. von Karolína Šimůnková, Milan Vojáček, Prag 2020, S. 21–31. 17
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bislang digitalisiert und um neue Services rund um die Arbeit mit historischen Dokumenten ergänzt werden müssen, zum anderen aber auch speziell für das Netz konzipierte Angebote, die nicht nur bildenden Charakter zu haben brauchen, sondern auch einen spieleri schen oder unterhaltenden Zugang zu Archivgut eröffnen können. Coworking-Projekte im Netz können das Angebot ergänzen, sollten dann aber nicht nur als Beitrag zur besseren Erschließung, sondern insbesondere als Instrument zur Nutzerbindung betrachtet werden. 2. Um die Attraktivität im analogen Raum zu erhöhen, bedarf es neuer innovativer Angebote rund um das Archiv, die über die klassischen archivpädagogischen Formate hinausreichen. Als Schaufenster und Besuchermagnet könnten hier beispielsweise eigens eingerichtete Besucherzentren fungieren, die nicht unbedingt am Standort eines bestehenden Staatsarchivs liegen müssen. Gerade in größeren Bundesländern wäre es durchaus vorstellbar, solche Angebote separiert von den eigentlichen Staatsarchiven an attraktiven Innenstadtlagen und in der Nähe anderer kultureller Einrichtungen anzusiedeln. Entscheidend für deren Erfolg dürfte dabei die Attraktivität und Einzig artigkeit des Angebots sein, nicht so sehr seine räumliche Anbindung an ein bestehendes Archiv. 3. Um den ganzen Sprengel auch außerhalb des Netzes zu erreichen, müssen sich die Archive auch mit ihren analogen Angeboten verstärkt in die Fläche begeben. Das kann ganz klassisch durch Wanderausstellungen geschehen, oder auch innovativ mit Besuchen der ArchivarInnen vor Ort – sei es in Schulen oder auch mit Ständen auf viel besuchten Events – oder eben auch durch virtuelle Angebote, die im Rahmen einer Live-Veranstaltung online einen Einblick hinter die Kulissen des Archivs ermöglichen.
Illusorische Ordnung – Das Stadtarchiv Schweinfurt im Königreich Bayern Von Uwe Müller E n d e d e r Re i c h s s t a d t u n d Ü b e r g a n g a n Ba y e r n Bei seinem Amtsantritt zur Jahreswende 1791/1792 fand Johann Heinrich Will (1742–1819)1, der letzte Archivar der Reichsstadt Schweinfurt, die beiden reichsstädtischen Archive, nach ihren Lokalen im Rathaus Oberes bzw. Unteres Archiv genannt, in einem sehr unbefriedigenden Ordnungs- und Erschließungszustand vor. Zum Oberen Archiv, in dem auch die Urkunden verwahrt wurden, berichtete er: „Die ad me informandum hinlänglich benöthigt gewesene Repertorien waren zerstreut und ungebunden in diesem und jenem Fach gelegen. Mit den Crais-Akten, Comitialien, Reichs-Städtischen und Unions-Akten hatte es gleiche Bewandsam gehabt. Außer diesen sind Inventarien, Curatel-Rechnungen, Handlungs-Bücher, gedruckte Impressa von verschiedenen Materien, viele Rechnungs-Belege in diesen und jenen Aemtern, vom vorigen Seculo, und Abrechnungen etc. sogar auf dem Fußboden gelegen.“2 Im Untern Archiv war die Lage ähnlich. Zudem standen umfängliche Kassationsentscheidungen aus. Eine der praktischen Ordnungs- und Erhaltungsmaßnahmen, die Will damals ergriff, war die Ordnung und Formierung der Reichs-, Kreis-, Städtetags- und Unions-Akten zu „Folianten-Bänden“ und „Fasziculn“3. Diese sollten im Jahre 1810 zum Objekt einer ersten Einziehung Schweinfurter Archivalien durch die königlich-bayerische Archivverwaltung werden. Durch die Mediatisierung blieben die Bemühungen Johann Heinrich Wills, einen homogenen reichsstädtischen Archivkörper mit den entsprechenden Findmitteln zu bilden, unvollendet. Bis heute sind als ArchivUwe Müller, Johann Heinrich Will (1742–1819), „ein Mann ohne Sinn und Geist für die archivalische Wissenschaft“? Anmerkungen zur Beurteilung des letzten Archivars der Reichsstadt Schweinfurt. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken 95 (1990/1991) S. 325–337. 2 Stadtarchiv Schweinfurt (künftig StadtASw), RR I, I-43(8), Pro Memoria, 1798 VIII 25 (unpaginiert). 3 Ebd. 1
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repertorien über die reichsstädtischen Acta publica und privata im Gebrauch das „Repertorium über die Privatakten“ (heute sog. Privatrepertorium) und das „Verzeichnis der Rubriquen über die in hiesiger Registratur befindliche Acta publica“ (heute sog. Reichsstädtisches Repertorium II). Bei beiden Repertorien handelt es sich eigentlich um die Register zu den gegen Ende der Reichsstadtzeit aktuellen Aktenbeständen des 18. Jahrhunderts der verschiedenen reichsstädtischen Registraturen. Durch den Neuaufbau der Verwaltung in bayerischer Zeit verloren diese Registraturen ihren aktuellen Gebrauchswert und wurden im Verlaufe des 19. Jahrhunderts weitgehend unberührt als eigene Bestände ins Stadtarchiv integriert. Von der Genese her ist das Reichsstädtische Repertorium II als Fortsetzung des Reichsstädtischen Repertoriums I zu charakterisieren, das der Stadtschreiber Johann Heberer 1612, nach den 42 Schubladen des sog. großen Ratsschrankes in 42 Sachbetreffe gegliedert, angelegt hatte: „Registratura ober alle undt jede eines Erbarn Raths deß Heiligen Reichs Statt Schweinfurt habende Privilegia, Freiheiten, Verträg, Kauf- undt Verkaufbrieff, Ordnung, Statuta, Acta, Mißiven undt andere schrieftliche Documenta. Wie dieselbst in underschiedtlichen Repositoriis ordentlich registrirt zu befinden.“4 Das Hebersche Repertorium, heute Gruppe I des Reichsstädtischen Repertoriums I wurde bis ins 18. Jahrhundert evident gehalten und durch die jeweils neu anfallenden acta publica erweitert (heute die Gruppe II des Reichsstädtischen Repertoriums I). Separiert von den Akten wurden im Oberen Archiv, besonders gesichert in einer eisernen Truhe oder Kiste, die „Originalien und vidimirten Abschriften“ aufbewahrt. Dieses von Will als „Originalien-Archiv“ bezeichnete Urkundenarchiv gedachte er als Abschluss seiner Ordnungsarbeiten „ordentlich herzustellen“5, nach den von Spieß geforderten Kriterien.6 Auch zur Neuordnung und Repertorisierung des Urkundenarchivs durch Will ist es infolge der Mediatisierung der Reichsstadt Schweinfurt nicht mehr gekommen.7
StadtASw, RR I, I-43. Pro Memoria (wie Anm. 2). 6 Philipp Ernst Spiess, Von Archiven, Halle 1777. 7 Bis heute existiert kein archivischen Ansprüchen genügendes Repertorium über den reichsstädtischen Urkundenbestand. Die 1818 ausgesonderten Urkunden liegen seit der Beständebereinigung innerhalb der bayerischen Archivverwaltung 1993 wieder vereint im Staatsarchiv Würzburg (künftig StAWü): Bestand Reichsstadt Schweinfurt Urkunden; 157 Urkunden, darunter 24 vor 1401: https://www.gda.bayern.de/findmitteldb/Findbuch/133/ 4 5
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Bereits am 6. September 1802 wurde die Reichsstadt im Vorgriff auf die Bestimmungen des Reichsdeputationshauptschlusses vom 25. März 1803 von kurpfalzbayerischen Truppen besetzt. Am 2. Dezember wurde in der nunmehr ehemaligen Reichsstadt Schweinfurt die zivile Besitzergreifung durch die Vereidigung der städtischen Amtsträger vollzogen. Der als kurfürstlicher Regierungskommissär eingesetzte Hof- und Regierungsrat Adam Molitor sah sich umgehend mit dem mangelhaften Zustand des Archives konfrontiert. Entsprechend der Instruktion seiner vorgesetzten Behörde, des kurfürstlichen Generalkommissariates in Franken mit Sitz in Würzburg, sollte er „alle Erwerbsurkunden und Titel der sämmtlichen Bestandtheile der vormaligen Reichsstadt Schweinfurt und ihres Gebiethes“8 sammeln und Abschriften davon fertigen lassen samt einer Darstellung der Erwerbsgeschichte. Gegenüber dem kurfürstlichen Generalkommissariat in Franken beklagte sich Molitor heftig über den Zustand des Archivs und die mangelnde Kooperationsbereitschaft des Schweinfurter Archivars Will, dem er unterstellte „von der Archivarpraxis keine Begriffe“ zu haben: „Ein großer Theil der in dem Archiv vorräthigen Urkunden lagen wie gemischte Kartenblätter, ohne alle Conservationsmaasregeln, in Kasten und anderswo zerstreuet.“9 Dementsprechend beauftragte Molitor nicht Will, sondern den Ratskonsulenten Johann Heinrich Stepf mit der Ausführung des Auftrags, der Molitors Befund bestätigte.10 Der Versuch, das vom Staat beanspruchte vom kommunalen Vermögen zu scheiden, brachte vielerlei Gelegenheiten zu juristischem Streit mit sich und machte den Rückgriff auf die Urkunden nötig. Da die vielfältigen Suchbemühungen des Bürgermeisters Johann Philipp Cramer in verschiedenen Registraturen erfolglos blieben, wandte Cramer sich schließlich an das vorgesetzte Generalkreiskommissariat in Bamberg mit der Bitte um Übermittlung der Urkundenabschriften Stepfs.11 Das Generalkommissariat holte zunächst eine Stellungnahme des Archivars Paul Oesterreicher ein, der im Sommer 1806 Einsicht in das Schweinfurter Archiv genommen hatte und damals die nunmehr vermissten Urkunden noch zu Gesicht (aufgerufen am 6.2.2021). – Digitalisate: https://www.monasterium.net/mom/DE-StAW/ SchweinfurtReichsstadt/fond (aufgerufen am 6.2.2021). 8 StadtASw, Pol 52, Würzburg, 1802 XII 28. 9 StadtASw, Pol 52, Schreiben Molitors (Konzept) an das Generalkommissariat in Würzburg, 1803 I 6. 10 StadtASw, HR, VR III, VIII-B-1-9/10, Vorerinnerung zu Stepfs „Historischer Beschreibung …“ StAWü, Statistische Sammlung 158–161. 11 StadtASw, Protokoll des Verwaltungsrats 166/9a, 1809 IX 9.
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bekommen hatte: „Der größte Theil der Urkunden war in einem langen Kasten, der mit zweyen Schlössern, so viel ich mich erinnere, versehen war. […] Bürgermeister Cramer selbst war es, der uns in dem ganzen Rathhause umher führte und namentlich die Urkunden zeigte.“ Oesterreicher empfahl seiner vorgesetzten Behörde eine strenge Untersuchung des Vorgangs, „besonders da nach der jüngsten Königl. Verordnung die Gemeinheiten ihre Urkunden in ihren Registraturen selbst bewahren sollen.“12 In seinem Rechtfertigungsbericht wies Bürgermeister Cramer jede Verantwortung für den üblen Zustand des Archivs von sich und schob diese auf den Archivar Will.13 Unterstützt wurde er dabei vom Stadtkommissär Wilhelm Philipp Cramer. Dieser machte für den desolaten Zustand des Archivs und der Amtsregistraturen ebenfalls die schlecht bezahlten und inkompetenten reichsstädtischen Archivare verantwortlich und die im Zuge der bayerischen Besitzergreifung ausgetauschten reichsstädtischen Amtsträger, die ihre Nachfolger nicht gebührend auf den Wert der bei den Ämtern und Stiftungen verwahrten Erwerbsurkunden über Realitäten und Rechte hingewiesen hätten und dadurch der Vorstellung Vorschub geleistet hätten „daß diese alten Papiere bei den eingetretenen Veränderungen keinen Werth mehr gewähren könnten.“14 Für weitere Unordnung und Verluste sorgte nach Cramer die Ende 1804 zugunsten des neu eingerichteten bayerischen Landgerichtes und Rentamtes erfolgte Räumung des Archivzimmers: „Das Archiv ward eine Treppe höher im Hintertheile des Rathhaußes in einer mit einer bretternen Wand blos verwahrten Stube wieder untergebracht […] wo Archivar Will, ohne alle Ordnung, selbige Theils in die Repositorien und auf den Stubenboden geworfen, Theils in einem Kasten untergebracht hat. […] So stand die-
StadtASw, Pol 481, Bericht Oesterreichers an das Generalkommissariat, 1809 IX 25. – Verordnung vom 4. August 1809, die Archive der Gemeinden betreffend (KöniglichBaierisches Regierungsblatt 1809, Sp. 1307–1309). – Wilhelm Fürst, Die reichsstädtischen Archive Bayerns im Zeitpunkt der Mediatisierung, mit besonderer Berücksichtigung des Regensburger Archives. In: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der Deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 73 (1925) Sp. 235–248, hier Sp. 239 f. – Grieser – Pfeiffer – Zimmermann, Die Scheidung von staatlichen und städtischen Archivgut. In: Der Archivar 3 (1950) Sp. 55–77. – Walter Jaroschka, Franken in Geschichte und Gegenwart der staatlichen Archive Bayerns. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 40 (1980) S. 1–8. 13 StadtASw, Pol 481, Bericht Bürgermeister Cramer an das Stadtkommissariat, 1809 X 3. 14 StadtASw, Pol 481, Bericht des Stadtkommissärs Cramer an Generalkommissariat des Mainkreises (Bamberg), 1809 X 8. 12
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se Archiveinrichtung, als sie der königliche Archivar Oestreicher gesehen hat.“15 Au s s o n d e r u n g e n 1 8 1 0 u n d 1 8 1 8 In der „Allerhöchste[n] Verordnung die Archive der Gemeinden betr.“ vom 4. August 180916 wurden erstmals auf gesamtstaatlicher Ebene einheitliche „Reglementar-Grundsäze“ für die Archive der „Kommunitäten“ im Königreich Bayern aufgestellt. Erstmals wurde versucht, die Frage nach der Scheidung von staatlichem und kommunalen Archivgut auf eine systematische Grundlage zu stellen. Als kommunales Archivgut, das mit den Staatsarchiven nicht vereinigt werden sollte, wurde definiert: „Die Archive der Gemeinden enthalten die Urkunden über ihre öffentlichen und PrivatVerhältnisse, sohin über ihre ursprüngliche Bildung, über ihre Privilegien, über ihre vorzüglichen Verdienste um den Staat, über die Erwerbung und Erhaltung ihres Vermögens, über Verträge u. dgl. Diese Urkunden sind unverlezbares Eigenthum einer Gemeinde.“ Die Eingriffsrechte der Regierung in das kommunale Archivwesen wurden eng begrenzt: „Der Regierung steht die Aufsicht und Leitung hinsichtlich einer zweckmässigen Verfassung der Gemeinde-Archive, und die Einsicht in dieselben zu.“ Offensichtlich unter dem Druck des am 24. September 1810 vollzogenen Übergangs der Stadt an das Großherzogtum Würzburg17 wurde im Juni 1810 unter Anwendung der Prinzipien der Verordnung von 1809 eine erste Aussonderung des Schweinfurter Archivs durchgeführt. Am 1. Juni 1810 wies das königliche Generalkommissariat des Mainkreises zu Ebd. Zu den Archivlokalitäten: Anton Oeller, Das Stadtarchiv Schweinfurt. In: Schweinfurter Heimatblätter 31 (1962) S. 41 f., 45–47, 50 f. – Erich Saffert, Rückblick und Ausblick eines Stadtarchivars. In: Erich Saffert, Studien zur Geschichte der Reichsstadt Schweinfurt, hrsg. von Uwe Müller (Veröffentlichungen des Historischen Vereins Schweinfurt 1), Schweinfurt 1993, S. 1–11. – Hubert Schöffel, Das Rathaus zu Schweinfurt erbaut 1569–1572 von Nikolaus Hofmann aus Halle an der Saale (Mainfränkische Studien 36), Würzburg 1985, S. 59 f. 16 Verordnung vom 4. August 1809, die Archive der Gemeinden betreffend (wie Anm. 12). 17 Nach dem österreichisch-französischen Krieg von 1809 wurde der Verlauf der Grenzlinie am Main zwischen dem Königreich Bayern und dem Großherzogtum Würzburg durch die Pariser Verträge vom 8. und 26. Mai 1810 festgelegt. Als Teil des Großherzogtums Würzburg fiel Schweinfurt nach Beendigung der napoleonischen Kriege auf Grund der Pariser Konvention vom 3. Juni 1814 wieder ans Königreich Bayern zurück (Uwe Müller, Die freie Reichsstadt Schweinfurt: In: Peter Kolb – Ernst-Günter Krenig (Hrsg.), Unterfränkische Geschichte, Band 4/1, Würzburg 1998, S. 217–264. 15
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Bamberg den Archivar Oesterreicher an, sich nach Schweinfurt zu begeben, um das städtische Archiv auszusondern. Tags darauf, am 2. Juni, quittierte Oesterreicher den Schweinfurtern den Empfang von: „Städtische Unions-Acten von 1609 bis 1621 in 14 Bänden in fol. Acta unionis de anno 1609 bis incl. 1620 in 9 fasciculis. Städte-Tags-Abschiede von 1431 bis 1618 in 7 Bänden. Acta über den Mühlhaußer Unionstag von 1583.“18 Gegenstand dieser Aussonderung war offensichtlich die auswärtige Politik der Reichsstadt Schweinfurt als Reichsstand. Die Konsolidierung und Neuorganisation des Königreichs Bayern in Staatsaufbau und -verwaltung brachte auch für das Archivwesen grundlegende Veränderungen, darunter die Gründung des Allgemeinen Reichsarchivs in München im Jahr 1812.19 Durch kgl. Entschließung vom 17. Januar 1818 wurde das Reichsarchiv angewiesen, das sich noch in Schweinfurt befindliche Reichsstädtische Archiv „auszuscheiden“ und „all dasjenige, was sich in Bezug auf die ältern Verhältnisse gegen Kaiser und Reich, auf die Landes- und Territorial-Hoheit der Reichsstadt, auf Grenz- und andere Differenzien mit den Nachbar-Staaten, auf KirchenVerfassung und Lehenwesen u. d. g. darinnen vorfindet, in das Königl. Archivs-Conservatorium nach Würzburg zur ferneren Aufbewahrung“20 zu übernehmen. Damit beauftragt werden sollte der kgl. Archivar Seidner vom Archivkonservatorium in Würzburg. In seinem ausführlichen Bericht über die fünftägige Aussonderungsaktion an das Reichsarchiv führt Seidner im Einzelnen die an den Staat gezogenen Archivalien auf21: Die kaiserlichen Privilegien und Freiheiten von Ludwig dem Bayern 1330 bis Franz II. 1793, welche „der Inbegriff der hohen Regalien sind“, darunter eine Goldene Bulle Kaiser Sigismunds von 1437, Reichstags- und Kreisakten, die Territorial- und Landeshoheit einschließlich der zentbarlichen hohen Obrigkeit, Grenz- und andere DifStadtASw, Protokoll des Verwaltungsrates, 1810 Juni 4, XX/1, S. 114. – Michel Hofmann, Die Schweinfurter Unions- und Städtetagsakten im Staatsarchiv Würzburg. In: Veröffentlichungen des Historischen Vereins und des Stadtarchivs Schweinfurt, Sonderreihe, Heft 3, Schweinfurt 1959, S. 199–209. – Walter Scherzer, Schweinfurter Archivalien im Staatsarchiv Würzburg. In: Ebd. S. 183–197. 19 Bekanntmachung vom 21. April 1812 „Das allgemeine Reichs-Archiv betreffend“ (Königlich-Baierisches Regierungsblatt 1812, Sp. 808–812). 20 Bayerisches Hauptstaatsarchiv (künftig BayHStA), MInn 45980. Zur Aussonderung 1818 auch: BayHStA, Generaldirektion der Staatlichen Archive 336. – StAWü, Altregistratur 113. – StadtASw, HR, VR I, VII-A-19-5 und Protokoll des Verwaltungsrates, 1818 II 3, 6.9, S. 19. 21 BayHStA, MInn 45980 und StAWü, Altregistratur 113, fol. 11–14, 1818 IV 23. 18
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ferenzen, Kirchenverfassung und Lehenwesen Betreffendes. Zu dem der Stadt verbliebenen Archivanteil bemerkt Seidner: „Das städtische Eigen thum, und die Erwerbungsurkunden, wie auch jenes der 4 sonst eingehörigen Dorfschaften blieb von mir unangetastet – die Weißthume, gute Gewonheiten und Gerechtigkeiten, Stadt- und Magistratsordnungen der Stadt wurden nicht in Anspruch genommen.“ Ausdrücklich weist er aber hin auf die älteste, später verloren gegangene Urkunde des Stadtarchivs: „Die älteste, dem Verwaltungsrath belassenen Urkunde des dortigen Archivs ist von dem J. 128222 und in teutscher Sprache ausgestellt, vermög welcher der teutsche König Rudolph von Habsburg unter Anhängung seines Majestäts-Insiegels eine Streitigkeit zwischen der Stadt Schweinfurt, und dem dortigen teutschen Ordenshause schlichtet. Die Commission machte erst den Verwaltungsrath auf diese unbekannte Seltenheit aufmerksam.“ Vom Verwaltungsrat ließ sich Seidner dazu überreden, ein Exemplar der kaiserlichen Privilegien dem Stadtarchiv zu überlassen: „Ein Exemplar der kaiserlichen Privilegien, welches von dem Kaiser Leopold dem Zweiten im J. 1791 ausgefertiget worden, ward dem Verwaltungsrath auf eingelegte Vorstellung zur geschichtlichen Reminiscenze salva ratificatione clementissima in Handen gelassen.”23 Reichsarchivar Samet zeigte sich „im ganzen sehr zufrieden“ mit der „schonenden doch zugleich strengen und schnellen Vollziehung des Auftrags zur Ausscheidung des Archivs der ehemaligen Reichsstadt Schweinfurt“, bemängelte aber: Mit der Überlassung des Privileg Leopolds II. 1791 sei „der Vollständigkeit der Privilegien-Sammlung“ des Reichsarchives geschadet worden. Eine beglaubigte Abschrift wäre „zur geschichtlichen Reminiszenz vollends hinreichend“ gewesen. Das Diplom Kaiser Rudolfs hätte „nach dessen weiterm Inhalt, auf den Grund einer Differenz mit einem Nachbarstaat [Deutscher Orden], in Anspruch genommen“ werden können. 24 Stein geht demnach irrtümlich davon aus, dass diese Urkunde bereits zwischen 1685 und 1789 verloren gegangen sei; s. Friedrich Stein, Monumenta Suinfurtensia historica inde ab anno DCCXCI usque ad annum MDC. Denkmäler der Schweinfurter Geschichte bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, Schweinfurt 1875, S. 19. 23 Wie Anm. 21. – StadtASw, U 947a, 1791 I 24, Leopold II. 24 StAWü, Altregistratur 113, fol. 34, Reichsarchiv an das Archivkonservatorium Würzburg, 1818 V 1. – Zu Samet: Walter Jaroschka, Reichsarchivar Franz Joseph von Samet (1758–1828). In: Archive. Geschichte – Bestände – Technik. Festgabe für Bernhard Zittel (Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern, Sonderheft 8), München 1972, S. 1–27. 22
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Seidners Rechtfertigung zeigt den Ermessensspielraum, den die Verordnung vom 4. August 1809 der bayerischen Archivverwaltung eröffnete. Zum Privileg Leopolds: „[…] weil die Concessionen der Hoheitsrechte zwar gröstentheils, doch nicht ausschlüßig der Innbegriff dieser Privilegien sind; es erscheinen auch in denselben Bestätigungen der Kaiser und Könige über die öffentlichen und Privatverhältnisse, über die Erwerbung, und Erhaltung des Vermögens dieser Gemeinde z. B. über Käuffe und Verkäuffe, gute Gewohnheit, Stadt- und Polizey-Ordnungen etc., welche in der königlichen Verordnung wegen den Archiven der Gemeinden ddo München 4ten August 1809 als unverlezbares Eigenthum einer Gemeinde erklärt werden.“ Zur Urkunde Rudolfs: „So sehr ich als Archivar nach der deutschen k. Rudolphinischen Urkunde vom J. 1282 lüstern war, in eben dem Grade glaubte ich meiner Neigung im Hinblick auf die […] allerhöchste Verordnung Zwang anlegen zu müssen, da der streitige Gegenstand des königlichen Ausspruchs ein dem Stadteigenthum ganz inclavirter District war, welcher auch in der Folge an diese Gemeinde käuflich überging.“25 Schlussendlich akzeptierte Reichsarchivar Samet Seidners Argumente und das Reichsarchiv brachte Seidner gegenüber die „allerhöchste Zufriedenheit“26 für die „zweckmäßige Ausscheidung“ zum Ausdruck. Erschwert wurde Seidner die Aussonderung durch den (Ordnungs) zustand des Schweinfurter Archivs. Auch aus seinem, aus der Perspektive der bayerischen Archivverwaltung geschriebenen Bericht, geht hervor, dass seit der bayerischen Besitzergreifung 1802 offensichtlich keinerlei Fortschritte in der Aufbewahrung und Ordnung der Archivalien erzielt worden waren, dass der Verwaltungsrat in dieser Frage während seiner gesamten Amtsdauer 1805 bis 1818 untätig geblieben war: Sein Fazit: „das ganze Archiv befand sich in dem erbärmlichsten Zustande.“27 Ne u o rd n u n g 1 8 4 4 An dem von Seidner 1818 beklagten „erbärmlichsten Zustande“ des Archivs und dem Desinteresse des Stadtmagistrats an einer grundlegenden Verbesserung der Archivverhältnisse scheint sich in den folgenden beiden Jahrzehnten nichts Entscheidendes geändert zu haben. StAWü, Altregistratur 113, fol. 35 f., 1818 V 7. StAWü, Altregistratur 113, fol. 40, Reichsarchiv an das Archivkonservatorium Würzburg, 1818 VI 3. 27 Wie Anm. 21. 25 26
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Der desolate Zustand des Archivs erschwerte auch die Recherchen des Pfarrers Heinrich Christian Beck, der als Festschrift zum 300jährigen Reformationsjubiläum 1842 eine Biographie des Schweinfurter Reformators Johann Sutellius vorlegen wollte.28 Beck hatte große Schwierigkeiten, die von Sixt in dessen Reformationsgeschichte von 179429 abgedruckten Urkunden und Briefe aus dem Nachlass des Sutellius wieder aufzufinden. Beck selbst ist vermutlich für die Entfremdung einer stattlichen Anzahl von Akten zur Schweinfurter Kirchengeschichte, darunter auch Originale aus dem Sutellius-Nachlass, verantwortlich, die heute, gemeinsam mit weiteren Teilen des Beckschen Nachlasses in der Sammlung Emil Marschalcks von Ostheim im Staatsarchiv Bamberg aufbewahrt werden.30 Diese Entfremdung von Archivgut wurde durch den mangelhaften Ordnungszustand des Archivs zweifelsohne begünstigt. Sie fand zu einer Zeit statt, als die Regierung schon längst – unter dem Datum des 14. September 1838 – energisch eine Abstellung der Mißstände gefordert hatte: „Von dem Regierungspräsidenten wurde das magistratische Archiv auf seiner jüngsten Inspectionsreise in großer Unordnung, die alten Akten zum Theile verdorben, auf Tischen und dem Fußboden zerstreut, betroffen.“ Der Magistrat erhielt die Weisung, „ungesäumt für Unterbringung dieses Archivs ein geeignetes Lokale auszumitteln und die vollständige Richtung und Ordnung der Akten nach einem voraus festzustellenden Plane einem dazu befähigten Subjekte zu übertragen und rasch bethätigen zu lassen.“31 Zwar gelang es dem Magistrat bald, mit dem „an das Sitzungszimmer anstossende Zimmer“ ein „geeignetes Lokale auszumitteln“32, aber bei der Ordnung konnten keine Fortschritte erzielt werden. Trotz mehrfacher An-
Heinrich Christian Beck, M. Johannes Sutellius. Reformator und erster Superintendent der Kirchen zu Göttingen und Schweinfurt, Superintendent zu Allendorf und Northeim nach gedruckten und ungedruckten Quellen, Schweinfurt 1842. 29 Johann Michael Sixt, Reformations-Geschichte der Reichsstadt Schweinfurt, Schweinfurt 1794. 30 Anton Oeller, Verzeichnis der Schweinfurt betreffenden Archivalien aus dem Nachlaß des Marschalcks von Ostheim im Bayerischen Staatsarchiv Bamberg. In: Miscellanea Suinfurtensia Historica IV, Schweinfurt 1964, S. 153–184. Zur Rekonstruktion des SutelliusNachlasses: Uwe Müller, „Anno 1542 alß das Wortt Gottes alhier auffkommen“. Die Einführung der Reformation in der Reichsstadt Schweinfurt 1542 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Schweinfurt 30), Schweinfurt 2017, S. 51–71. 31 StadtASw, HR, VR III, IX-A-5-6[1]. 32 StadtASw, Protokoll des Magistrats, 1838 IX 24, 69/1. 28
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mahnungen und Fristsetzungen durch die Regierung33 verharrte der Magistrat letztlich in Untätigkeit. Auch die Regierung legte den Vorgang vorläufig zu den Akten, kam aber mit Rescript vom 17. März 1843 „die Beschaffenheit und Sicherstellung der Urkundensammlungen in Unterfranken und Aschaffenburg“ betreffend darauf zurück und forderte einen Bericht über den aktuellen Stand binnen vier Wochen.34 Der Magistrat verzichtete auf weitere Ausflüchte und beschloss „um Verlängerung des Termins zur Ordnung des städtischen Archivs zu bitten“35. Mit der Neuordnung des Archivs wurde Pfarrer Christian Friedrich Albrecht Höfer (1803–1853) betraut, der diese im Sommer 1844 durchführte. Die 1844 durchgeführte Neuverzeichnung des Archivs ignorierte die in „den [zwölf ] Schränken der Rathaus-Sääle aufbewahrten Kassebücher, Manualien, Rechnungen p.p. und sonstigen Papiere von den verschiedenen gemeindlichen Aemtern“, die in einem „Repertorium“ von 1856 aufgeführt sind.36 Offensichtlich wurden sie als aktuelles Registraturgut angesehen. Dass der Bestand z.B. auch bis 1580 zurückreichende Rechnungen enthielt, wurde ignoriert, da solchen Dokumenten immer noch die Archivwürdigkeit abgesprochen wurde. Diese schon zum damaligen Zeitpunkt antiquierte und ignorante Ansicht vertrat der Magistrat gegenüber der Regierung dezidiert, als er 1839 seine zögerlichen Bemühungen um die höheren Orts angemahnte Archivordnung zu rechtfertigen suchte: Eine Untersuchung der „in dem sogenannten Archive des hiesigen Rathhauses befindlichen Scripturen, Akten und Rechnungen“ habe ergeben, dass „der Haupt-Inhalt dieser Papiere nicht in würklichen archivalischen Documenten und Urkunden“ bestehe, sondern aus „nach veränderter Stadtverfassung zum Theil unwichtigen, zum Theil höchstens nur in historischen Hinsicht noch merckwürdigen Gegenstände[n]“. Diese erforderten „nicht allein noch einen grossen Raum, sondern zur Durchsicht auch eine lange Zeit und Geduld, wofür wenig Gewinn voraussichtlich ist“.37 Als Ergebnis der Neuverzeichnung von 1844 ist festzuhalten: Einerseits wurde das Reichsstädtische Repertorium II formal bestehen gelassen, andererseits aber wurden ihm Betreffe entzogen, die den Untergruppen I StadtASw, HR, VR III, IX-A-5-6[1], 1838 XI 10, XI 30, 1839 VII 3, VII 16, VII 24; Protokoll des Magistrats 1838 XI 23, 1839 VII 9; 1839 VII 9, 1839 VIII 5. 34 Wie Anm. 31. 35 StadtASw, Protokoll des Magistrats, 1843 III 28. 36 StadtASw, RR I, I-43. 37 StadtASw, HR, VR III, IX-A-5-6[1], Magistrat an Regierung, 1839 VII 16. 33
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(Acten und Schreiben, so den Rath, die Bürger und die innere Verwaltung der ehemaligen Reichsstadt Schweinfurt betreffen) und II (Acten und Schreiben, so die öffentlichen Handlungen mit Kaiser und Reich, Curfürsten und Fürsten, und andern Ständen betreffen) des heute sog. Reichsstädtischen Repertoriums I, zugeordnet werden konnten; wobei letzteres nichts anderes als eine aktualisierte Rekonstruktion des Heberschen Repertoriums von 1612 und seiner Fortschreibungen darstellt. Die Untergruppe III (Rechnungen, Lehen- und Zinsbücher, und einschlägige Acten und Protocolle) wurde neu formiert als „Sammelbecken“ für Teile der 1839 vorgefundenen „Scripturen, Akten und Rechnungen“, die damals zu einem großen Teil für nicht archivwürdig gehalten wurden und deren vollständige Erschließung bis heute aussteht. Die Verzeichnung von 1844 erfasst vermutlich die 1839 genannten Archivalien lediglich in einer kleinen Auswahl, die im „Repertorium“ über die 12 Schränke im Rathaus von 1856 und die vom Germanischen Nationalmuseum entfremdeten Bestände überhaupt nicht. Abgesehen von der rudimentären Gruppe III umfasst die Verzeichnung von 1844 lediglich den schon zu Zeiten der Reichsstadt als Aktenarchiv definierten Bestand. Die 1844 gebildete Untergruppe I-44 (Unterschiedliche, zerstreute Schreiben und Briefe, so noch einer genaueren Durchsicht bedürfen) wurde 1965 als Reichsstädtisches Repertorium I, Gruppe IV (Varia) ausgegliedert, allerdings ohne Erschließung.38 Archivaliensammlung durch das G e r m a n i s c h e Na t i o n a l m u s e u m Nü r n b e r g Im Zusammenhang mit der Sammlungstätigkeit des Germanischen Nationalmuseums zum Aufbau einer exemplarischen Archivaliensammlung konnte der Freiherr Max von Aufseß in den Jahren 1858/1859 unter persönlichem Einsatz wesentliche Teile des Schweinfurter Reichsstädtischen Archivs für das Museum „erwerben“. Die unter Eigentumsvorbehalt erfolgte Leihgabe – allerdings wurden die diesbezüglichen Übergabelisten beiderseits nicht gegengezeichnet – umfasste ca. vier laufende Meter Amtsbücher, Rechnungen, Akten und Urkunden, die teilweise bis in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts zurückreichen. Sie wurden vom Museum unter Zustimmung des Magistrats selbst ausgewählt. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass diese Archivalien bei der Ordnung und Verzeichnung des StadtASw, RR I, I-43, Repertorium zum Städtischen Archive wie solches im Jahre 1844 wieder geordnet wurde. 38
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Archivs im Jahre 1844 berücksichtigt worden waren. Auf die von Max von Aufseß neben den Archivalien in Betracht gezogenen „Gläser, Instrumente und andere Dinge, z.B. Brettspielsteine“39 wollte der Magistrat dann doch nicht verzichten. Die „wenigen Fragmente von Alterthümern, welche wir im Rathhaus haben“ – diese bildeten später neben den Rückertiana den Grundstock des städtischen Museums – erschienen ihm wichtiger als die Integrität des Reichsstädtischen Archivs: Er sah keine Hinderungsgründe, auf „ältere Documente, kaiserl. Privilegien, Originalschreiben, Acten etc.“ zu verzichten.40 Das Angebot des Germanischen Nationalmuseums, diese Archivalien käuflich zurück zu erwerben, nahm die Stadt Schweinfurt 1970/1971 wahr.41 Bei der Bildung und Verzeichnung des Bestandes „Varia“ im Jahre 1981, der in erster Linie die bis dahin unverzeichneten Amtsbuchbestände der Reichsstadt, bzw. deren zusammengetragene Überreste, erfasste, wurden die Rückkäufe aus dem Germanischen Nationalmuseum bis auf wenige Ausnahmen integriert. Ne u o rd n u n g d u r c h Fr i e d r i c h St e i n 1 8 7 2 b i s 1 8 8 6 Die Archivalienabgabe an das Germanische Nationalmuseum 1858/1859 durch den Magistrat und die Schenkung von rund 100 Bänden, darunter wertvolle Handschriften, aus der Reichsstädtischen Bibliothek, zum Aufbau der sog. Reichsuniversität Straßburg 1872 nach der Zerstörung der Straßburger Bibliothek im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, zeigen den Magistrat in patriotischer Begeisterung und Verantwortung handelnd. Dass die Belange der lokalen Überlieferungsbildung und -bewahrung dabei missachtet wurden, war ihm offensichtlich nicht bewusst. Dass 1872 nicht jedem Straßburger Wunsch nachgegeben wurde, ist dem kritischen Urteil des kgl. Advokaten Dr. Friedrich Stein (1820–1905) zu verdanken, der bei der Auswahl hinzugezogen wurde.42 Stein setzte sich seit den frühen 1870er Jahren intensiv mit der Geschichte Schweinfurts StadtASw, HR, VR III, IV-C-8-5, Aufseß an Stadtmagistrat, 1858 III 16. StadtASw, HR, VR III, IV-C-8-5, Bürgermeister Schultes an das Germanische Nationalmuseum, 1858 III 25. Zum Umfang der abgegebenen Archivalien s.a. Archiv des Germanischen Nationalmuseums, Kapsel 251 11/1, Einzelheiten, die Archivverwaltung betr. 1866 III 15. 41 StadtASw, Altregistratur 41-11-20-01. 42 StadtASw, HR, VR III, IX-A-12-6. – Uwe Müller, Artikel Schweinfurt 1, Stadtarchiv und Stadtbibliothek. In: Bernhard Fabian (Hrsg.), Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Band 13, Hildesheim u.a. 1997, S. 27–39, hier S. 30. – Uwe 39 40
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auseinander. Er gehörte seit 1872 dem Kollegium der Gemeindebevollmächtigten an, dem er von 1876 bis 1890 vorstand. Bei der Straßburger Schenkung 1872 und im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Edition seines Schweinfurter Urkundenbuches43, das neben den Urkunden auch die damals dem Bibliotheksbestand zugerechneten Handschriftenbände mit chronikalischen Aufzeichnungen einbezog, fand Stein Aufbewahrung und Ordnung des Archivs sehr vernachlässigt vor. Da für den Zeitraum seit 1844 keine nennenswerten Benutzungen dokumentiert sind, ist zu vermuten, dass die Ordnungsarbeiten Pfarrer Höfers 1844 nur sehr provisorisch abgeschlossen wurden. Die Ordnung des Archivs wurde zu einem langfristigen Projekt. Erstmals befasste sich der Magistrat auf Antrag Steins am 29. Oktober 1872 mit der Archivmisere, da „es dringend nothwendig erscheint, die im städtischen Archive hinterlegten Urkunden und Papiere besser aufzubewahren, welche bei Fortdauer des jetzigen Zustandes in Bälde dem Verderben preis gegeben sein würden“.44 Bis 1877, als die unter Zugrundelegung des Höferschen Systems von 1844 durchgeführte Arbeit wieder einmal ins Stocken kam, waren unter Anleitung Steins zumindest 2/3 der geplanten Ordnungsarbeiten durch verschiedene Bearbeiter abgeschlossen (vermutlich Reichsstädtisches Repertorium II und Teile des Reichsstädtischen Repertoriums I, Gruppe I). Stein führte die bis heute am Fach nachvollziehbare Untergliederung der einzelnen Faszikel in chronologisch zusammengefasste „Päcke“ gleichen Betreffs ein, die mit Inhaltsverzeichnissen in verschiedenen Farben (grün: 1500–1600, rot: 1600–1700, gelb: 1700–1800, blau: 1800–1876) erschlossen wurden.45 Steins optimistische Prognose eines Abschlusses der Ordnungsarbeiten im Sommer 187746 sollte sich nicht bewahrheiten. 1884 wies er darauf hin, wegen der steigenden Anzahl der Anfragen dürfe „der Zustand nicht
Müller, Friedrich Stein (1820–1905), der Geschichtsschreiber Frankens und Schweinfurts – Erinnerung zum 100. Geburtstag. In: Schweinfurter Mainleite 2005/2, S. 4–13. 43 Stein (wie Anm. 22). Benutzungsgesuch: StadtASw, Protokoll des Magistrats, 1873 Mai 1, 17/26, S. 290. 44 StadtASw, Protokoll des Magistrats 1872, 44/7, S. 604, 1872 X 29. 45 StadtASw, RR I, I-43: „Instruktion des mit der Ordnung des Archives beauftragten Registraturgehülfen.“ 46 StadtASw, HR, VR III, IX-A-12-4, Anfrage des Archivkonservatoriums Würzburg, 1876 III 30, Entwurf der Antwort.
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fortdauern, daß ein Theil im Archivlokale, ein anderer in der Bibliothek liegt theils geordnet, theils ungeordnet.“47 Erst gegen Jahresende 1886 konnte Stein dem Magistrat gegenüber den Abschluss seiner seit den 1870er Jahren betriebenen Ordnungs- und Erschließungsmaßnahmen in Archiv und Bibliothek vermelden: Die Ordnung in Archiv und Bibliothek sei „wenigstens insoweit hergestellt, daß man sich in beiden Sammlungen ohne sonderliche Mühe orientieren kann.“48 Noch heute bilden die von Stein eingeführten farbigen Tekturen, sofern sie erhalten geblieben sind, ein wichtiges Orientierungsmittel innerhalb der späterhin wieder in Unordnung geratenen Faszikel des Reichsstädtischen Repertoriums I. Die 1884 erwogene Idee, die Neuordnung des Archivs mit einem Umzug in das Alte Gymnasium zu verbinden, das durch den Gymnasiumsneubau frei geworden war (1881), war offensichtlich nicht weiterverfolgt worden.49 E i n s e t z u n g e i n e s Cu s t o s u n d s t a a t l i c h e A r c h i v p f l e g e 1887 bis 1918 Nach Abschluss der Arbeiten forderte Stein energisch die Einrichtung einer „spezielleren Obsorge“, d.h. die „Aufstellung eines besonderen Pflegers oder sogenannten Custos“, um das Erreichte nicht wieder zu gefährden – „wenn die hergestellte Ordnung nicht allmählich wieder illusorisch werden soll“50 – und den gestiegenen Anforderungen in Benutzung und Aktenübenahme gerecht werden zu können. Stein erklärte sich bereit, interimistisch selbst die Funktion des Custos zu versehen und ihr wöchentlich mindestens einen Nachmittag zu widmen. Dementsprechend wurde durch die Gemeindebevollmächtigten und den Magistrat zum 1. Januar 1887 „die Bestellung eines Pflegers oder StadtASw, Protokoll des Magistrats 1884, 30/8, S. 377, 1884 VII 15, (1884 VII 9, Stein an Stadtmagistrat). 48 StadtASw, HR, VR III, IX-A-12-7, 1886 X 16. – S.a. 1886 XII 5. Der Versuch einer Bestandsrevision, verbunden mit der Eingliederung losen Schriftgutes schlug in der Mitte der 1960er Jahre fehl. Eine tiefere Verzeichnung liegt nur für die Untergruppe I, 1 bis 11 vor (Druck 1 bis 4: Repertorium zum städtischen Archive in Schweinfurt, in: Archiv für Stadt und Bezirksamt Schweinfurt. Beilage zum Schweinfurter Tagblatt 1906, S. 50, 62, 90, 102, 114, 126; 1907, S. 10, 28, 38, 54, 70; 1908, S. 20). 49 StadtASw, Protokoll des Magistrats 1884, 42/15, S. 535, 1884 X 7. 50 StadtASw, HR, VR III, IX-A-12-7, Stein an Magistrat, 1886 X 16. 47
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Custos für das städtische Archiv, die Stadtbibliothek und das städtische Antiquitätenmuseum in widerruflicher Eigenschaft mit einem jährlichen Funktionsbezuge von Einhundert Mark“51 beschlossen und bis auf Weiteres Dr. Friedrich Stein übertragen, der dieses Amt bis zu seinem altersbedingten Rücktritt im Jahre 1905 versehen sollte. Damit wurde erstmals seit dem Ende der Reichsstadtzeit vor 84 Jahren wieder eine offiziell für das Archiv verantwortliche eigenständige Instanz eingerichtet. Als Nachfolger Steins wurde noch 1905 Pfarrer Dr. Franz Christoph Preger (1871–1957) bestellt, der in seiner kurzen Amtszeit immerhin eine Verzeichnung der ersten vier Faszikel der Untergruppe I des Reichstädtischen Repertoriums I verfertigen und publizieren konnte. Pregers Nachfolger wurde 1908 (bis 1922 und 1926 bis 1939) der Gymnasialprofessor Richard Rösel (1868–1940), der neben der sorgfältigen Beantwortung von Anfragen sein Hauptaugenmerk auf die Auswertung der Bestände richtete und eine reiche Publikationstätigkeit entfaltete.52 In die Amtszeit Rösels fällt auch die Formierung eines ersten Sammlungsbestandes im Stadtarchiv Schweinfurt, heute „Kriegsarchiv“, worüber er in seinem Geschäftstagebuch festhielt: Durch Ministerialentschließung vom 3. Mai 1917 wurde eine Sammlung des gesamten heimatlichen Kriegsschrifttums angeordnet, „um der Geschichtsschreibung die Mittel zu einer lebendigen Darstellung des größten Waffenganges unserer Nation bereit zu stellen. […] Einstweilen werden gesammelt: die amtlichen Veröffentlichungen (Schweinfurter Tagblatt), Predigten (Dr. Stein, prot. Predigten), Postkarten aus dem Feld, der Gefangenschaft, Gelegenheitsgedichte, Juxkarten, Kartenfotogramme v. Uhlenhut, Pröschl, Medaillen, Notgeld, Verpflegungsmarken, Plakate.“ 53 Im Jahre 1921 ließ Rösel den Handschriftenbestand, darunter viele Stadtchroniken, bis dahin als Bestandteil der Stadtbibliothek betrachtet, StadtASw, Protokoll des Magistrats, 1886 X 26, 43/10, S. 561; StadtASw, RRI I-43, Tagebücher des Stadtarchivs, I (1887–1929), Vorbericht (Stein); StadtASw, Protokoll des Magistrats 1886, 42/8, S. 549, 1886 X 19; 43/10, S. 561, 1886 X 26; Protokoll der Gemeindebevollmächtigten, 1886 X 20. 52 StadtASw, HR, VR III, IX-A-12-7; Protokolle des Magistrats: 1905 VII 4 (Nr. 29/61), 1905 IX 19 (Nr. 40/28), 1908 X 6 (Nr. 43/38). – Zu Pregers Verzeichnung s. Anm. 47. 53 StadtASw, RR I, I-43. Tagebücher des Stadtarchivs, I (1887–1929), S. 95, 17. Juni 1917; S. 101–111: Verzeichnis Kriegsschriftsammlung. – Entschließung des K. Staats ministeriums des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten vom 3.5.1917 Samm lung des heimatlichen Kriegsschrifttums betr. (Ministerialblatt für Kirchen- und Schul angelegenheiten im Königreich Bayern 1917, S. 77–83). – StadtASw, KA 119, Erlass des Stadtmagistrats zur Einrichtung einer Kriegsschriftensammlung, 1917 VIII 2. 51
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als weiteren Sammlungsbestand durch Dr. Max Ludwig (1881–1944), der damals kurzzeitig als Hilfskraft das Archiv unterstützte, ins Stadtarchiv überführen.54 Noch unter Stein hatte dieser Bestand durch den auf seine Initiative hin erfolgten Erwerb einer Reihe von Stadtchroniken aus der Bibliothek Wilhelm Sattlers auf Schloss Mainberg eine wertvolle Bereicherung erfahren. Stein hatte diese Handschriften für seine Edition der Monumenta Suinfurtensia Historica in den 1870er Jahren auswerten können und drang erfolgreich auf den Erwerb, als sie mit der gesamten Mainberger Schlossbibliothek im Jahre 1901 verauktioniert werden sollten.55 Mit der Einrichtung der Funktion eines Custos übernahm der Stadtmagistrat erstmals in angemessener Weise die Verantwortung für das Archivgut, das die Verordnung von 1809 den Gemeinden als „unverlezbares Eigenthum“ zugesprochen hatte und der Regierung das Recht der „Aufsicht und Leitung hinsichtlich einer zweckmässigen Verfassung der GemeindeArchive“. Auf die Ministerialentschließung vom 18. Mai 1888 die GemeindeArchive betreffend, die die Erhaltung der Archive der Gemeindebehörden und Stiftungsverwaltungen „als eine in der Gemeinde-Ordnung begründete Pflicht“56 einforderte und die entsprechende Aufforderung der Würzburger Regierung vom 5. April 190057 zur Berichterstattung reagierte der Stadtmagistrat wie folgt: Im Stadtarchiv und in der Stadtbibliothek sei zur Geschichte Schweinfurts „ein reiches Dokumentenmaterial“ vorhanden. „Die Sichtung und Repertorisierung desselben fand in den Jahren 1874 mit ff, dann 1884 unter der bewährten Leitung des treffl. Kenners der fränk. Geschichte u. damaligen I. Vorstands des Gemeinde-Collegiums Rechtsanwalt nachmaligen Justizraths Dr. Stein statt. Unter diesen Umständen ist die Fuersorge für Erhaltung und wissenschaftliche Verwerthung des städtischen Archivgutes die denkbar sorgfältigste gewesen, wie auch konstatiert werden kann, daß die Art der Aufbewahrung nach keiner Richtung hin Anlaß zur Gefährdung bietet.“ Der „gesammte Fonds der StadtASw, HR, VR III, IX-A-12-6. StadtASw, HR, VR III, IX-A-12-9. – Uwe Müller, „Mannigfaltiges und meist Wertvolles aus fast allen Wissenschaften“ – Die 1901 versteigerte Bibliothek Wilhelm Sattlers und sein sonstiger Buchbesitz. In: Thomas Horling – Uwe Müller (Hrsg.), Fürsten und Industrielle. Schloss Mainberg in acht Jahrhunderten, Schweinfurt 2011, S. 311–346, hier: S. 315–319. – Stein (wie Anm. 22). 56 Entschließung vom 18. Mai 1888, Gemeinde-Archive betr. (Amtsblatt des K. Staatsministeriums des Innern 1888, S. 199–201). 57 StadtASw, HR, VR III, IX-A-5-1, 1900 III 30, 1900 IV 5. 54 55
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städtischen Geschichtsquellen“ werde „nutzbar“ gemacht in Steins Urkundenbuch, Geschichte der Reichsstadt und Chronik des 19. Jahrhunderts.58 Die Entschließung des Staatsministeriums des Innern vom 8. August 1906, die Archive der Gemeinden betreffend, stellte die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abzeichnende Entwicklung der staatlichen Fürsorge für das kommunale Archivgut – „von der Staatsaufsicht zur Staatshilfe“59 – auf eine feste Grundlage. Bei der Anfertigung der geforderten Verzeichnisse und der Ordnung der Gemeindearchive wurde eine weitgehende Unterstützung durch die Kreisarchive in Aussicht gestellt, bis hin zur Deponierung in denselben unter Eigentumsvorbehalt. Die in den Gemeinden verbliebenen Archivbestände waren demnach „in trockenen, luftigen Räumen sicher unterzubringen, möglichst rein zu halten und übersichtlich zu ordnen.“60 Im diesbezüglichen Bericht des Magistrats vom 26. August 1908 wurden lediglich Probleme bei der Feuersicherheit eingeräumt, Sauberkeit und Ordnung bestätigt, auf die Ordnung und Repertorisierung durch „den bekannten Geschichtsforscher Dr. Friedrich Stein“ und die damalige fachkundige Betreuung durch Pfarrer Dr. Preger hingewiesen. Eine Übergabe der Archivalien an das Kreisarchiv sei nicht beabsichtigt.61 Zur Unterstützung der Gemeinden und Kreisarchive wurden schließlich mit Ministerialentschließung vom 1. September 1908 beim Allgemeinen Reichsarchiv zwei neue Beamtenstellen für „Kreisarchivsekretäre“ geschaffen, „die sich mit und neben den Kreisarchiven der Förderung der Gemeindearchive zu widmen“ hätten. Bei größeren Gemeinden und unmittelbaren Städten ging die Entschließung davon aus, dass von ihnen erwartet werden konnte, „daß sie ihre Archive als wichtigen Bestandteil ihres Gemeindeguts und als Quellen ihrer Geschichte auf eigene Kosten StadtASw, HR, VR III, IX-A-5-1, 1900 IV 11. Bodo Uhl, Die Archivpflege in Bayern. In: Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern 29/30 (1983/84) S. 48–59, hier S. 48. – Maria Rita Sagstetter, Die kommunale Archivpflege in Bayern – Grundlagen, Konzeption, Praxis. In: Dorit Maria Krenn – Michael Stephan – Ulrich Wagner (Hrsg.), Kommunalarchive – Häuser der Geschichte. Quellenvielfalt und Aufgabenspektrum, Würzburg 2015, S. 521–557, hier S. 522. 60 Entschließung vom 8. August 1906, die Archive der Gemeinden betr. (Amtsblatt der K. Staatsministerien des Königlichen Hauses und des Äußern und des Innern 1906, S. 325–328). – Zum System der landschaftlichen Archivpflege in Bayern: Otto Riedner – Alois Mitterwieser, Das bayerische Gemeindearchivwesen Ende 1913. In: Archivalische Zeitschrift 33 [Neue Folge 20] (1914) S. 231–270. – Uhl (wie Anm. 59). – Sagstetter (wie Anm. 59). 61 StadtASw, HR, VR III, IX-A-5-1; Protokoll des Magistrats 1908 VIII 25, 37/65. 58 59
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womöglich fachmännisch oder sonst durch geeignete Kräfte ordnen und verwalten“ ließen62, sicherte jedoch Beratung und Anleitung zu. Auf dieser Grundlage sollten das Allgemeine Reichsarchiv in München bzw. ab 1921 der Generaldirektor der Staatlichen Archive und das Staatsarchiv in Würzburg die Stadt Schweinfurt nach dem Ersten Weltkrieg intensiv in allen Fragen der sachgemäßen Ordnung, Erschließung und Unterbringung des Stadtarchives beraten. Eine erste Besichtigung des Archivs fand durch den Reichsarchivassessor Dr. Otto Riedner am 24. Juli 1914 statt. Riedner wies auf die fehlende Feuersicherheit hin und stellte eine mangelhafte Ordnung und Verzeichnung der Bestände fest: „Am besten sind die Urkunden verwahrt: sie hinterliegen in einem feuerfesten Schrank, jedes einzelne Stück mit einem blauen Umschlag versehen. Das sog. „Aktenarchiv“, das jedoch auch Pergamenturkunden, Rechnungen, und Bände umfasst, erhielt ein eigenes Zimmer eingeräumt; diese Archivalien sind stark verstaubt. Die Ratsprotokolle stehen auf einem Gestell in einem der grossen Bibliothekssäle. Den wertvollsten Teil des Archivs bilden jene Bände, die mit der Signatur „H“ als Handschriften der Bibliothek gerechnet werden, aber in Wirklichkeit eigentliche Archivalien darstellen […] Die Ordnung und Verzeichnung des Stadtarchivs ist mangelhaft. Zusammengehörige Archivalien sind keineswegs vereinigt, die chronologisch gelegten Urkunden entbehren einer durchlaufenden Nummerierung, die Auffindung von Akten und Bänden ist vielfach nur auf Grund von Angaben in der Literatur möglich, die handschriftlichen Verzeichnisse lassen den reichen Inhalt des Archivs kaum ahnen, nicht einmal die Jahreszahlen sind regelmässig beigesetzt usw.“ Das fehlende Verständnis der Stadt für die Aufgaben eines Archives und die dementsprechend schlechte Besoldung des Archivars ließen darauf schließen, „dass die Stadt bisher auf eine ausgedehntere Tätigkeit des Archivars gar nicht rechnete, sondern lediglich die Besorgung der laufenden Verwaltung des Archivs, also vornehmlich die Erledigung von Anfragen und die Ueberwachung der Benützung voraussetzte.“ 63 Riedners realistische Beschreibung des Zustandes des Stadtarchivs gegen Ende des Königreichs Bayern, verbunden mit dem Angebot intensiver Entschließung vom 1. September 1908, die Archive der Gemeinden betr. (Amtsblatt der K. Staatsministerien des Königlichen Hauses und des Äußern und des Innern 1908, S. 485–488). 63 StadtASw, HR, VR III, IX-A-5-1. Infolge des Krieges wurde der Bericht Riedners erst 1919 X 13 an den Magistrat zur Stellungnahme übermittelt. 62
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Beratung und Unterstützung, schuf nach Ende des Ersten Weltkrieges die Grundlage für die darauffolgende vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Stadt und Generaldirektion.64 Am Ende des Königreichs war trotz der Aufstellung eines Custos, die im Jahre 1887 hergestellte Ordnung „wieder illusorisch“65, die Stadt ihrer Verantwortung für die Bewahrung ihres Archivgutes und ihres historischen Erbes nicht gerecht geworden. Ein Zustand, der sich erst mit der Bestellung eines hauptamtlichen Archivars im Jahre 1952 und dem Umzug in einen mit einem multifunktionalen Kulturzentrum verbundenen neu errichteten Archivzweckbau66, dem Friedrich-Rückert-Bau, im Jahre 1962 zum Besseren wenden sollte.
Zur Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg: Uwe Müller, Das Stadtarchiv Schweinfurt im Dritten Reich. In: Peter Fleischmann – Georg Seiderer (Hrsg.), Archive und Archivare in Franken im Nationalsozialismus (Franconia, Beiheft zum Jahrbuch für fränkische Landesforschung 10), Neustadt an der Aisch 2019, S. 471–507. 65 StadtASw, HR, VR III, 1886 X 16, Stein an Magistrat. 66 Erich Saffert, Das Stadtarchiv Schweinfurt im Friedrich-Rückert-Bau. In: Archivalische Zeitschrift 59 (1963) S. 177–183. 64
Die brandenburgischen Kirchenvisitations-Abschiede des 16. Jahrhunderts als Quellen des Reformations- und konfessionellen Zeitalters. Dargestellt am Beispiel der Stadt Kyritz (Prignitz) Von Klaus Neitmann Im Kurfürstentum Brandenburg fanden zwischen 1540 und 1600 vier Generalkirchenvisitationen statt. In ihnen überprüften die vom Kurfürsten beauftragten Visitationskommissionen die kirchlichen Verhältnisse in den Städten und Dörfern der märkischen Landschaften und regelten sie gemäß den maßgeblichen reformatorischen Ordnungen, nämlich der von Kurfürst Joachim II. (1535–1571) 1540 erlassenen „Brandenburgischen Kirchenordnung“ bzw. der auf ihrer Grundlage von seinem Sohn und Nachfolger Johann Georg (1571–1598) nach seinem Regierungsantritt 1572/73 überarbeiteten und ergänzten „Brandenburgischen Kirchenordnung“ und „Brandenburgischen Visitations- und Konsistorialordnung“, neu.1 Die erste Generalkirchenvisitation von 1540 bis 1545 diente dazu, die in der Ordnung von 1540 beschriebene Lehre und Organisation der neugeschaffenen lutherischen Landeskirche vor Ort einzuführen, indem die Visitatoren mit den lokalen geistlichen und weltlichen Verantwortlichen die Grundelemente des dortigen evangelischen Kirchenlebens festlegten. Die nach diesem ersten Anlauf auftretenden Unzulänglichkeiten führten dazu, dass sich eine weitere Generalkirchenvisitation bereits von 1551 bis 1558 anschloss. Johann Georg befahl, auf Grundlage der nach Vgl. dazu nur: Iselin Gundermann, Kirchenregiment und Verkündigung im Jahrhundert der Reformation (1517 bis 1598). In: Gerd Heinrich (Hrsg.), Tausend Jahre Kirche in Berlin-Brandenburg, Berlin 1999, S. 147–241, hier S. 181–191, 211–214, 218–225; Christiane Schuchard, Landesherr und Reformation – Visitationen in der Mittelmark. In: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 71 (2017) S. 263–277; Dies., Visitationen (1540–1602). In: Historisches Lexikon Brandenburgs, http://www. brandenburgikon.de (publiziert am 13.1.2020) (aufgerufen am 9.7.2021). – Die genannten Ordnungen sind jetzt in wesentlich verbesserter Gestalt neu ediert in: Quellen zur brandenburgischen Reformationsgeschichte (1517–1615), bearb. v. Andreas Stegmann (Einzelveröffentlichung des Brandenburgischen Landeshauptarchivs 25), Tübingen 2020, Teilband 2, S. 787–1084 (Kirchenordnung 1540), S. 1085–1461 (Kirchenordnung 1572), S. 1463–1565 (Visitations- und Konsistorialordnung 1573). 1
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seinem Befehl von seinen Theologen und Juristen neu gefassten kirchlichen Ordnungen, vornehmlich der Visitationsordnung, die kirchlichen Gegebenheiten überall in den einzelnen Landesteilen erneut zu kontrollieren und zu verbessern, was zwischen 1573 und 1581 geschah. Die letzte Generalkirchenvisitation vor einer über ein Jahrhundert dauernden Unterbrechung ordnete sein Sohn und Nachfolger Joachim Friedrich (1598– 1608) nach seinem Herrschaftsantritt an, sie wurde unter Zugrundelegung der Visitationsordnung von 1573 auf Grund einer veränderten Organisation innerhalb kürzerer Zeit von 1600 bis 1602 durchgeführt. Die Visitatoren hielten die Ergebnisse ihrer auf ihren Rundreisen in der Mark Brandenburg vor Ort angestellten Untersuchungen in zwei Schriftgutarten fest, in den „Visitationsabschieden“ und in den „Visitationsregistern“. „Die Abschiede sind Richtlinien für das kirchliche Leben in der Gemeinde, sie enthalten Bestimmungen über das Patronat, über die Rechte und Pflichten der Kirchendiener und der Gemeinde sowie über die Vermögensverwaltung der Kirche und der Einrichtungen in Diensten der charitativen Fürsorge; die Register sind detaillierte Einkommensverzeichnisse der Kirchen, ihrer Diener und ihrer Institute.“2 Für die reformatorische Um- und Neugestaltung der Kirche und ihrer Daseinsformen in Brandenburg sind die Generalkirchenvisitationen von herausragender Bedeutung, weil sie entscheidend dazu beitrugen, dass die genannten landesherrlichen Ordnungen in Stadt und Land umgesetzt wurden. Sie gewährleisteten ferner, dass die konkreten Bedingungen des evangelischen Gemeindelebens von Geistlichkeit und Laienschaft festgelegt und beachtet wurden. Wer immer der kirchlichen Umwälzung des 16. Jahrhunderts, der raschen Einführung und langfristigen Durchsetzung der lutherischen Reformation in der Mark Brandenburg und den Vorgängen, die die Forschung unter die Leitbegriffe der „Konfessionsbildung“, „Konfessionalisierung“ und „Konfessionskultur“ zu bringen gesucht hat, nachgehen will, kommt an der von den Generalkirchenvisitationen hinterlassenen schriftlichen Überlieferung nicht vorbei – und ist daher zuerst dazu aufgerufen, sich im Sinne einer Quellenkunde ihrer Eigenarten zu vergewissern. Der diesem Beitrag vorgegebene begrenzte Platz lässt eine umfassende Analyse der brandenburgischen Visitationsabschiede und -register von Die brandenburgischen Kirchenvisitations-Abschiede und -Register des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Band 1: Die Prignitz, hrsg. v. Victor Herold (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin 4), Berlin 1931, S. VII. 2
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1540 bis 1600, also eine systematische Untersuchung ihrer Entstehungsumstände und ihres inhaltlichen Gehaltes nicht zu. Stattdessen soll hier im Sinne eines beispielhaften Ansatzes allein zur vorläufigen Kennzeichnung der anstehenden Forschungsaufgabe ein anderer Weg beschritten werden, um die Aussagekraft (allein) der Visitationsabschiede3 für die Erkenntnis der evangelischen (Kirchen-)Gemeinde des 16. Jahrhunderts zu verdeutlichen, indem die vier Abschiede für eine einzige märkische Stadt, Kyritz in der Prignitz, im Nordwesten der Mark Brandenburg nördlich der Elbe gelegen, ausgebreitet und erläutert werden; die Visitationsregister werden wegen ihrer Beschränkung auf die sehr komplexen kirchlichen Finanzierungsquellen ausgespart, ebenso wie die für die umliegenden Dörfer der Inspektion Kyritz erstellten Matrikel, die den städtischen Abschieden nachgebildet, aber im Vergleich mit ihnen inhaltlich wesentlich reduziert sind. Register wie Matrikel für die Dörfer verdienen wegen der schwierigen Materien eigene Studien. Kyritz gehörte zum Typus der von Handel und Gewerbe (Brauwesen und Tuchmacherei) wie Landwirtschaft lebenden märkischen Landstadt des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit.4 Es stand einerseits hinter den „großen“ Städten des Landes, insbesondere den „Hauptstädten“ der Die Generalkirchenvisitationen werden zwar in jeder brandenburgischen Reformationsgeschichte berührt, aber eine eindringliche Erhellung des von ihr hinterlassenen Quellencorpus, das inzwischen von Victor Herold und seinen Nachfolgern immerhin in beachtlichen Teilen mustergültig ediert worden ist, im Hinblick auf dessen historische Auswertbarkeit steht immer noch aus. Vgl. außer dem von Herold selbst veröffentlichten Band (siehe Anm. 2) die aus seinen Nachlassmaterialien unter demselben Obertitel herausgegebenen Bände: Band 2: Das Land Ruppin. Inspektionen Neuruppin, Wusterhausen, Gransee und Zehdenick, hrsg. v. Gerhard Zimmermann, bearb. v. Gerd Heinrich (Veröffentlichungen der Berliner Historischen Kommission beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin 6. Quellenwerke 2), Berlin 1963; Band 4: Die Mittelmark, hrsg. v. der Historischen Kommission zu Berlin, bearb. v. Christiane Schuchard (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 109/1–3), Teilband 1: Mittlere Mittelmark, Teilband 2: Westliche Mittelmark, Teilband 3: Östliche Mittelmark, Berlin-Boston 2019–2021. – Wegen der Konzentration dieser Darstellung auf die Quellenanalyse und zur Begrenzung von deren Umfang wird auf die Anführung von Literatur und die Auseinandersetzung mit ihr hier verzichtet; dies bleibt einer geplanten künftigen Studie vorbehalten. 4 Gerd Heinrich (Hrsg.), Handbuch der Historischen Stätten Deutschlands, Band 10: Berlin und Brandenburg, 2. Auflage, Stuttgart 1985, S. 248–250; Evamaria Engel u.a. (Hrsg.), Städtebuch Brandenburg und Berlin (Deutsches Städtebuch. Handbuch städtischer Geschichte, Neubearbeitung 2), Stuttgart u.a. 2000, S. 267–273; zahlreiche Erwähnungen bei Lieselott Enders, Die Prignitz. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft vom 12. bis zum 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs 38), Potsdam 2000 (sub voce Kyritz, S. 1273). 3
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einzelnen Landschaften, in der Prignitz mithin hinter Perleberg, zurück, erhob sich andererseits über die „Städtlein“/„Städtchen“ mit schmaler städtischer Infrastruktur, war in der Prignitz mit Pritzwalk, Lenzen und Wilsnack auf dieselbe Ebene zu stellen. Dass für die Betrachtung der wichtigsten aus den Generalkirchenvisitationen hervorgegangenen Schriftgutart ausgerechnet Kyritz ausgewählt worden ist, hängt neben einer guten Überlieferung der Abschiede zu allen vier Visitationen daran, dass der Verfasser in einer jüngst andernorts erschienenen Studie die kirchlichen Verhältnisse der Prignitzer Hauptstadt Perleberg betrachtet hat5 und sich deshalb zum Kontrast die Beleuchtung einer kleineren, rangniederen Stadt der Region ausgesucht hat. Bevor wir die Kyritzer Visitationsabschiede von 1541, 1558, 1581 und 1600 genauer beschreiben, wenden wir uns dem äußeren Ablauf der Visitationen zu, betrachten wir die Voraussetzungen und Begleitumstände der Tätigkeit der Visitationskommissionen, nämlich ihre personelle Zusammensetzung, ihren allgemeinen Auftrag, ihre Aufenthaltsdauer in der visitierten Stadt, ihre Prüfung der dortigen kirchlichen Verhältnisse, ihr Ergebnis, schließlich das im Rahmen ihrer Wirksamkeit entstandene Schriftgut. Wir wollen so zu erkennen suchen, wie die Kyitzer Abschiede überhaupt zustande kamen, denn wie gerade der quellenerfahrene Archivar weiß, müssen die Entstehungsumstände einer archivalischen Überlieferung durchleuchtet werden, wenn man ihre Aussagen mit der notwendigen quellenkritischen Vorsicht für historische Fragestellungen auswerten und nicht aus ihnen wegen fehlenden Verständnisses ihrer Charakteristika falsche Schlussfolgerungen ziehen will. Der ersten Visitationskommission, die Kyritz Ende Juli 1541 aufsuchte, standen der Generalsuperintendent der Kurmark Johann Stradner, der damals maßgebliche Theologe, und der kurfürstliche Rat und Kanzler Johann Weinlöben, ein vorzüglicher Verwaltungsjurist und -praktiker, vor, die vielleicht von einem oder zwei weiteren Helfern und dem Landeshauptmann der Prignitz, Kurt von Rohr, begleitet wurden.6 Die Visitatoren kamen aus dem Ruppiner Land, von Neuruppin und WusterhauKlaus Neitmann, Die lutherische Konfessionskultur der Prignitzer Hauptstadt Perleberg im Spiegel der Visitationsabschiede des 16. Jahrhunderts. In: Alexander Sembdner – Christoph Volkmar (Hrsg.), Nahaufnahmen. Landesgeschichtliche Miniaturen für Enno Bünz zum 60. Geburtstag (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 67), Leipzig 2021, S. 219–241. 6 Victor Herold, Zur ersten lutherischen Kirchenvisitation in der Mark Brandenburg 1540 – 45. In: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 20 (1925) S. 5–101; 21 5
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sen, wo ihre Abschiede nach einem neun- bzw. dreitägigen Aufenthalt am 17. bzw. am 21. Juli ausgefertigt worden waren. Ihr Abschied für Kyritz, der einzigen Stadt, die sie auf ihrer damaligen Rundreise in der Prignitz aufsuchten, datiert auf den 27. Juli 1541 und sie reisten von dort aus in die Altmark weiter.7 Den besten Aufschluss über den Ablauf einer Visitation in der Prignitz geben die Quellen zur dritten von 1581. Zu Visitatoren bestimmte Kurfürst Johann Georg am 12. April 1581 seinen Hofprediger und Doktor der Heiligen Schrift Andreas Prätorius – anstelle des krankheitshalber verhinderten Generalsuperintendenten D. Andreas Musculus –, den Professor Dr. jur. Bartholomäus Rathmann und Dr. jur. Mathias Kemnitz und stellte ihnen noch seinen Lehnssekretär Joachim Steinbrecher zur Seite. Mit von ihm besiegeltem und unterschriebenem Schreiben vom 12. Mai unterrichtete er die Stände, landesherrlichen Amtleute sowie Pfarrer, Bürgermeister, Räte, Vorsteher, Schulmeister, Schulzen, Gotteshausleute (= Kirchenvorsteher), Küster und Gemeinden in Städten, Flecken und Dörfern von der Bevollmächtigung der benannten Visitatoren und forderte sie alle dazu auf, vor ihnen auf deren Anweisung zu erscheinen, ihnen in den geistlichen Sachen zu glauben und ihren Verordnungen Gehorsam zu leisten. In der ersten Junihälfte reiste die Kommission von Berlin ab, am 12. Juni sollte sich ihr der ihr beigegebene Sekretär Steinbrecher in Perleberg anschließen, wo seine Kollegen aus Lenzen nach dem dort am 11. Juni vollendeten Abschied zu ihm stießen; der Perleberger Abschied datiert vom 20. Juni, die nachfolgenden wurden zu Pritzwalk am 25. Juni, zu Kyritz am 29. Juni und zu Havelberg am 2. Juli ausgefertigt.8 Wie die Visitatoren in ihrem Kyritzer Abschied eingangs darlegten, hatten sie sich nach Kyritz begeben, die Mängel der Kirchen, Schulen, des Gemeinen Kastens und der Hospitäler und andere geistliche Sachen „gehörett“ und nach „gehaltener, angestallter inquisition“ bzw. „nach genugsamer vorhör vnnd erwegung, wie folget, reguliret und vorabscheidet“ (35–38).9 Für die vierte Generalkirchenvisitation von 1600 in der Altmark und der Prig(1926) S. 59–128; 22 (1927) S. 25–137, hier 20 (1925) S. 47–61, besonders zur Rollenund Aufgabenverteilung zwischen Weinlöben und Stradner. 7 Herold (wie Anm. 6) hier 22 (1927) S. 79–89; Kirchenvisitationsabschiede, Band 2: Land Ruppin (wie Anm. 3) S. 6, 29, 191; Kirchenvisitationsabschiede, Band 1: Prignitz (wie Anm. 2) S. 2, 8. 8 Kirchenvisitationsabschiede, Band 1: Prignitz (wie Anm. 2) S. 36, 53, 147, 357, 582. 9 Zur Reduzierung des Anmerkungsapparates werden im Folgenden die Belegstellen (Seitenzahlen) aus der hier durchgängig zugrunde gelegten Heroldschen Edition der Prignitzer
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nitz war eine sechsköpfige Kommission eingesetzt worden, bestehend aus Matthäus Ludicke, Dechant zu Brandenburg und Havelberg, Gebhard von Alvensleben zu Calbe, Kammergerichtsrat Arnold de Reyger, Dr. theol., Hofprediger und Assessor im Konsistorium Simon Gödecke, Sabellus Chemnitius – allerdings ausschließlich für seine Inspektion Stendal – und der Sekretär Siegmund Hartmann. Den von den altmärkischen und prignitzschen Landständen vorgeschlagenen Chemnitius in die Kommission aufzunehmen, war der Kurfürst bereit gewesen, auch wenn er betonte, dass es „bei vnser, alß deß chur- vnd landesfursten ordenantz beruhett, wen wir zu den generallvisitationibus adhibiren vnd gebrauchen wollenn, auch kein anders herbracht“.10 Die Visitation fand in der Prignitz von Ende September bis Anfang November 1600 statt, die Visitatoren begannen ihre Arbeit am 25. September in Havelberg und erreichten über Wilsnack (27. September), Perleberg (9. Oktober), Lenzen (15. Oktober) und Pritzwalk (20.–23. Oktober) schließlich Kyritz (mit Abschied vom 29. Oktober) und Wittstock (1. November). Gemäß der ihnen erteilten kurfürstlichen Instruktion hatten sie genauso wie 1581 alle (adligen und landesherrlichen) Patrone sowie die Pfarrer, Schulmeister, Küster, Vorsteher, Bürgermeister, Räte und Schulzen aus Städten, Flecken und Dörfern zur Untersuchung vorzuladen.11 Über die Aufgaben der Visitatoren geben die beiden angesprochenen kurfürstlichen Schreiben von 1581, das Berufungsschreiben für die Visitatoren und das Ankündigungsschreiben an die Landstände, näheren Aufschluss. Die Berufung spricht kurz und knapp davon, dass „die examina der predicanten vnd anordnung inn den kirchen vnd schulen“ verrichtet werden sollen (36). Ausführlicher und bestimmter umschreibt die Ankündigung die den Visitatoren gewährte Vollmacht, nach der sie befugt sind, die Kirchen- und Visitationsordnung von 1572/73 „zu publiciren“ und gemäß ihren Bestimmungen die geistlichen Sachen und Händel einzurichten, vornehmlich aber darauf zu achten haben, „das das gotteswort lautter vnnd rein gepredigett, die hochwirdigen sacrament ohn einige secterey gebraucht, die alten christlichen responsoria, cantica vnnd ceremonien vnVisitationsabschiede (siehe Anm. 2) in den darstellenden Text an den jeweiligen Stellen eingefügt. 10 Quellen zur brandenburgischen Reformationsgeschichte (wie Anm. 1), Teilband 1, S. 665; Kirchenvisitationsabschiede, Band 1: Prignitz (wie Anm. 2) S. 63 mit Anm. 3. 11 Vgl. die Zeittafel aller vier Visitationen in der Prignitz in Kirchenvisitationsabschiede, Band 2: Prignitz (wie Anm. 2) S. 847 f. Für die Instruktion vgl. die nachfolgende Anmerkung.
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abgethann pleiben vnnd also ihn vnserer lande kirchen gleicheytt vnnd ihn eine wie ihn der andern“ gemäß der Kirchen- und Visitationsordnung „gehalten werden möge“, worin sie ohne ausdrückliche kurfürstliche Bewilligung keine Änderung gestatten oder selbst vornehmen sollen (36–38). 1600 erhielten die Visitatoren von Kurfürst Joachim Friedrich eine umfangreiche, aus 24 Punkten bestehende Instruktion, in der sehr detailliert die einzelnen Punkte beschrieben wurden, auf die sie ihr Augenmerk zu richten hatten. Dabei standen im Mittelpunkt die verkündete Glaubenslehre und die alltägliche Glaubenspraxis ebenso wie die wirtschaftlichen und finanziellen Grundlagen der Gemeinden. Der Kurfürst betonte die Orientierung der Visitatoren an der Konsistorial- und Visitationsordnung von 1573, die das „maß gibtt,“ ließ ihnen aber zugleich die Freiheit zu darüber hinausgehenden Prüfungen und Entscheidungen.12 Vergleicht man die Themenliste der Instruktion mit den Gegenständen des Kyritzer Abschiedes, fällt auf, dass die beiden gesetzten Schwerpunkte eingehend behandelt wurden, aber der kurfürstliche Fragenkatalog nicht vollständig Paragraph für Paragraph abgearbeitet, sondern nur in Auswahl aufgegriffen und bewältigt wurde. Wie sich aus den vorstehenden Einzelbeobachtungen ergibt, beanspruchte der Kurfürst für sich, selbst über die Zusammensetzung der Visitationskommission zu befinden, ohne im Einzelfall ständische Vorschläge vollständig auszuschließen. Aber vorrangig entstammten deren Mitglieder seinem unmittelbaren Umfeld, seinem engsten Mitarbeiterkreis, waren es sowohl Theologen als auch Juristen bzw. Verwaltungsbeamte aus dem Konsistorium und aus dem Rat mit theologischen und (kirchen-)rechtlichen Kenntnissen. Die zwei unterschiedlichen Arten der herangezogenen Fachleute zeugen schon davon, dass einerseits die in den Gemeinden von der Geistlichkeit verkündete und vom Kirchenvolk aufgenommene Lehre auf ihre Übereinstimmung mit den landeskirchlichen Auffassungen überprüft und dass andererseits das Vermögen der Kirchen, ihre Einnahmen und Ausgaben, auf rechtliche Begründung und wirtschaftlichen Ertrag untersucht werden sollte – damit die Kirchengemeinde mit ihrem Personal und ihren Aufgaben in ihrer wirtschaftlichen Existenz gesichert war. Die Visitatoren gingen einerseits auf die individuellen lokalen Gegebenheiten ein, von denen etwa die Finanzverhältnisse der Gemeinde und damit das Ausmaß ihrer Tätigkeit abhingen, andererseits zielten sie auf eine Quellen zur brandenburgischen Reformationsgeschichte (wie Anm. 1), Teilband 1, Nr. 215 S. 664–672. 12
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Einheitlichkeit oder Vereinheitlichung gerade in kirchlicher Lehre und Liturgie, so dass die Vorgaben der erwähnten gemeinbrandenburgischen Ordnungen allseits annähernd gleichmäßig befolgt wurden. Berufung, Zusammensetzung und Instruierung ihrer Kommission zeigen sie deutlich als Instrument des landesherrlichen Kirchenregimentes, wenn auch die Generalkirchenvisitationen wiederholt zur Verbesserung der kirchlichen Ordnung von den Ständen gewünscht wurden und ihr Gelingen maßgeblich von deren Mitwirkung in den lokalen Prüfungen abhing. Die Visitatoren zogen in den einzelnen märkischen Landschaften von Stadt zu Stadt, nachdem ihre Ankunft und ihre Aufgabe den lokalen Ständen und Untertanen durch kurfürstliches Rundschreiben angekündigt worden waren. Darin waren die lokalen geistlichen und weltlichen Verantwortlichen in Stadt und Land, also in der Stadt, die die Visitatoren aufsuchten, aber auch in den sie umgebenden, der jeweiligen Inspektion zugehörigen Dörfern, mithin vorrangig auf der geistlichen Seite die Pfarrer, Kapläne, Küster und Schulmeister sowie auf der weltlichen Seite die Adligen und landesherrlichen Amtsträger mit Patronatsrechten, (Stadt-)Bürgermeister und Ratmannen, (Dorf-)Schulzen, die Kirchen-, Kasten- und Spitalvorsteher, aufgefordert worden, vor der Visitationskommission in der Stadt, in unserem Fall in Kyritz, zu erscheinen und ihr dort zu den aufgeworfenen Fragen und Punkten Rede und Antwort zu stehen und ihre Verhältnisse, vornehmlich die finanziellen, gegebenenfalls mit schriftlichen Unterlagen zu belegen. Die Reisezeiten der Visitatoren in der Prignitz offenbaren, dass deren Aufenthaltsdauer in den einzelnen Städten eng begrenzt war, dass ihnen allenfalls wenige Tage, äußerstenfalls nur zwei bis drei Tage zur Prüfung der kirchlichen Gegebenheiten zur Verfügung standen. Als Maßstab dienten den Visitatoren dabei die Kirchen- und Visitationsordnungen von 1540 bzw. von 1572/73 mit ihren ins Detail gehenden Vorschriften sowie die ihre Tätigkeit präzisierenden und ergänzenden kurfürstlichen Instruktionen, auf deren Grundlage sie die ordnungsgemäße Einrichtung des lokalen kirchlichen Lebens zu kontrollieren hatten. Das oberste Ziel war es zu erkennen, ob die jeweilige Kirchengemeinde der „reinen Lehre“ folgte oder von ihr abwich, davon hing das abschließende Urteil der Visitatoren ab. So hielten sie 1581 eingangs ihres Abschiedes fest, der Kyritzer Pfarrer und seine Kirchendiener in der Stadt ebenso wie in den Dörfern der Inspektion seien in den vornehmsten Artikeln des kirchlichen Glaubens „– gott lob – reiner lehr vnnd wol fundiret, das sie auch keiner vordamlichen, ihnsonderheitt der sacramentirischen oder ander secten anhengigk, […] befunden“ worden, und befahlen ihnen, die rechte christliche Lehre des heiligen
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Evangeliums in ihren Kirchen ihren Schäflein zu predigen und ihnen die Sakramente nach rechtem Gebrauch zu spenden (38). In gleichartiger Weise stellten die Visitatoren 1600 fest, dass die Kirchen- und Schuldiener von Kyritz sich der reinen Lehre befleißigten (63). Zu berücksichtigen ist, dass für solche Bewertungen die Visitatoren stark auf die Berichte angewiesen waren, die ihnen von den Kirchen- und Schuldienern und vom Rat der Stadt vorgetragen wurden und die, insbesondere für den Bereich des Kirchenvermögens, durch deren schriftliche Aufstellungen über Einnahmen und Ausgaben der Kirche zu ergänzen waren. Eine umfassende, weit ausgreifende und in die Tiefe gehende Prüfung der Lage vor Ort war in der knapp bemessenen Zeit ausgeschlossen. 1581 mussten die Visitatoren bekennen, dass sie zwar „aus vbergebenen regis traturen“ wegen der fälligen Zahlungen und Rückstände viele Mängel vorgefunden hätten, aber diesen „ihn solcher eyll nicht können abgeholffen werden“, so dass sie den Kirchen-, Kasten- und Hospitalvorstehern befahlen, sich unter Einbeziehung des Rates mit den Schuldnern zu vergleichen (51 f.). Den Visitatoren stand eine größere Schar von geistlichen und weltlichen Herren in unterschiedlichen Stellungen und mit verschiedenartigen Interessen gegenüber, die sich allesamt hätten verschwören müssen, wenn sie den Visitatoren ein allzu gefärbtes oder gar völlig verfälschtes Bild der lokalen Situation hätten vorspiegeln wollen. Selbst wenn man annimmt, dass die Stadt insgesamt sich ihnen sicherlich gemäß deren Erwartungen darbieten wollte, braucht nicht von vornherein insbesondere das Einvernehmen zwischen geistlicher und weltlicher städtischer Obrigkeit bezweifelt zu werden, wenn es wie in Kyritz 1581 von beiden Seiten bekundet wurde. Pfarrer und andere Kirchendiener berichteten, dass alle ihre Schäflein, die Ratspersonen ebenso wie die gemeine Bürgerschaft, sich fleißig zur Kirche hielten und die Sakramente gebräuchten, sie sich also über sie nicht zu beklagen hätten; umgekehrt berichtete der Rat, er könne sich über die Kirchen- und Schuldiener nicht beklagen und keine Mängel in ihrer Lehre und in ihrem Leben anzeigen, „welchs die visitatores vor ihre persohn gerne gehörett vnnd erfahren“ (39). Für andere Orte wie etwa Prenzlau im späten 16. Jahrhundert wird von heftigen Auseinandersetzungen zwischen Pfarrer und Rat berichtet, so dass ein Konflikt vor den Visitatoren schwerlich hätte unterdrückt werden können (und wollen). Welches Schriftgut entstand im Verlauf einer Visitation? Am Anfang stand ein Generalmandat des Kurfürsten – im Jahre 1573 ein gedrucktes –, ein Rundschreiben, mit dem er seinen Landständen, Amtsträgern, vor allem den betroffenen lokalen geistlichen und weltlichen Amtsinhabern
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die Durchführung einer Generalkirchenvisitation ankündigte (36 f./63). Dieser erste allgemeine Hinweis wurde unmittelbar vor Beginn einer Visitation in einzelnen Landschaften durch ein Beglaubigungsschreiben („credentz“) des Kurfürsten ergänzt, in dem er demselben Empfängerkreis die personelle Zusammensetzung der Visitationskommission sowie ihre grundsätzliche Aufgabe beschrieb und die Befolgung von deren Prüfungen und Entscheidungen befahl (36 f.). Die Ergebnisse und Entscheidungen ihrer Untersuchungen vor Ort, in den einzelnen aufgesuchten Städten, hielten die Visitatoren wie schon bemerkt in den Visitationsabschieden und -registern fest. Überliefert sind sowohl Konzepte als auch Abschriften der Abschiede sowie deren Ausfertigungen. Die Niederschrift wurde entworfen von einem Mitglied der Kommission, in der ersten Generalkirchenvisitation 1540/45 weitgehend, so auch in und für Kyritz, vom Kanzler Johann Weinlöben, während sie in späteren Generalkirchenvisitationen dem beteiligten Sekretär anvertraut war. Im günstigen Fall sind sowohl das Konzept als auch die davon angefertigte Reinschrift in den Akten der Berliner Zentralbehörden, in denen der kurfürstlichen Kanzlei oder des Konsistoriums, erhalten. Für den Empfänger, also die betroffene (Kirchen-)Gemeinde, ließen die Visitatoren eine von ihnen besiegelte und unterschriebene Ausfertigung erstellen: „Vrkundtlich ist dieser abscheidt mitt der visitatorn insiegill wissentlichen besigeldt vnnd mitt eigenen handen vnderschrieben. Ist geschehen alhier zu Kyritz am Tage Petri Pauli, ist der 29. tagk Junii anno 1581“ (53). Wenn die Visitationsabschiede bleibende Wirkung entfalten sollten, mussten sie für alle Interessenten für den erforderlichen Rückgriff in den eigenen Registraturen leicht greifbar sein, sowohl in Berlin als auch in Kyritz. Von heute aus gesehen, haben die Visitationsakten die Jahrhunderte besser in den zentralen Behörden als in den lokalen Stellen, in der Rats- oder Pfarrregistratur, überstanden; in letzteren sind große Verluste eingetreten, nicht erst durch die Kriegsverwüstungen des 20. Jahrhunderts. Vorgesehen war, dass bei einer Visitation die Pfarrer den vorangegangenen älteren Abschied und die dazugehörigen Register den Visitatoren vorlegten, damit so der Vergleich der vormaligen Verhältnisse und Beschlüsse mit den aktuellen Gegebenheiten ermöglicht und auf dieser Grundlage neue Entscheidungen getroffen werden konnten. Aber als diese Situation in Kyritz auf der zweiten Visitation 1558 erstmals eintrat, waren dort offensichtlich weder Ausfertigung noch Abschrift des Abschiedes von 1541 mehr vorhanden, man konnte nur auf das in der landesherrlichen Kanzlei aufbewahrte und von der Kommission mitgebrachte Konzept Weinlöbens von 1541 zurückgrei-
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fen. So wurden 1558 in dieses Konzept die aus der neuen Prüfung resultierenden Ergänzungen und Korrekturen eingetragen. Eine Ausfertigung oder Abschrift des gleichzeitigen Abschiedes von 1558 ist wohl angefertigt worden, konnte allerdings von dem Editor Herold in den 1920er Jahren nicht mehr in den Visitationsakten aufgefunden werden, während sein Vorgänger Riedel in der Mitte des 19. Jahrhunderts in seinem „Codex diplomaticus Brandenburgensis“ daraus noch Auszüge mitgeteilt hatte (2/3 Anm. 1). Das gleichzeitige Visitationsregister ist im Konzept Weinlöbens und in einer Schreiberabschrift erhalten geblieben (8 Anm. 1). Während die Visitation von 1558 unmittelbar, wie auch der gerade referierte Befund zur Schriftgutüberlieferung belegt, an die vorangegangene von 1541 anknüpfte und den Abschied nur in einzelnen Punkte aktualisierte oder vervollständigte, setzte die Visitation von 1581 ganz neu an, indem sie für den Abschied eine vollständig neue Bestandsaufnahme und Darstellung der kirchlichen Verhältnisse erarbeitete und einen neuen Text entwarf. Der Rückgriff auf die älteren Abschiede war zum Zwecke der Informationsgewinnung dadurch aber nicht ausgeschlossen. So zogen die Visitatoren für ihre Beurteilung der strittigen Patronatsverhältnisse „aus der registratur“ die älteren Abschiede von 1541 und 1558 heran, um sich der rechtlichen Ausgangslage zu vergewissern (40). Die Visitation von 1600 wiederum ging vom Abschied von 1581 aus, übernahm weitgehend dessen Text und überarbeitete und erweiterte ihn an mancherlei Stellen mit zusätzlichen Festlegungen. Der moderne Editor konnte für den Kyritzer Abschied von 1581 auf die Abschrift im Konsistorialarchiv zurückgreifen, für den Abschied von 1600 auf die von Erhard Heyde, dem Notar des Konsistoriums, stammende Abschrift ebenfalls im Konsistorialarchiv (36 Anm. 3/63 Anm. 6). Für den Historiker sind somit die Abschiede von 1541 und 1581 besonders ergiebig: Während der erste davon zeugt, wie die neue reformatorische Ordnung des Kirchenlebens in Kyritz eingeführt wurde, belegt der zweite, wie sie nach einer jahrzehntelangen Bewährung mit erneuertem Anlauf erheblich vertieft und erweitert wurde. *** Wenden wir uns nun den hauptsächlichen inhaltlichen Themen der Kyritzer Visitationsabschiede zu und folgen dabei in unserer Darstellung im wesentlichen ihrer annähernd gleichartigen Gliederung: Auf welche Sachverhalte war die Prüfung vorrangig ausgerichtet? Wir beginnen für die Schilderung der Kyritzer Kirchenverhältnisse, wie die Visitatoren es
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tun, mit dem Kirchenpatronat. Dieser Gesichtspunkt ist nicht zufällig an die Spitze gerückt, denn die Rechtslage einer Kirchengemeinde hing entscheidend davon ab, wem das Patronat mit seinen Rechten und Pflichten zustand, wer mithin für die dortigen kirchlichen Verhältnisse gegenüber den Visitatoren die Verantwortung trug und gegebenenfalls von ihnen im reformatorischen Sinne zur Verantwortung gezogen werden konnte. Abschied und Register von 1541 werden daher eingeleitet mit einer Bemerkung zum Patronats- bzw. Präsentationsrecht an der Kyritzer Stadtpfarrkirche, die im Abschied von 1581 zu Beginn des Abschnittes über den Pfarrer wiederaufgenommen wird.13 Den Visitatoren von 1541 war bewusst, das das Patronat dem Domkapitel zu Havelberg zustand: „Ist alhier collator [Patron] das capittel zu Hauelberg, welchem stifft solche pfarre incorporirt sein soll.“ Trotzdem bestimmten sie mit der allerersten Entscheidung ihres Abschiedes, dass nach dem Tode oder einem andersartigen Rückzug des amtierenden Pfarrers der Kurfürst um die Präsentation eines anderen „geschickten“ Pfarrers ersucht werden solle – und ließen dabei offen, von wem die Präsentation ausgehen solle. Die ihren Beschluss leitende Überlegung ist leicht zu erraten, wird aber knapp sieben Jahre später mit aller Deutlichkeit ausgesprochen, als das Domkapitel unter Berufung auf sein Patronat den Markgrafen Johann Georg und Friedrich als Statthaltern ihres abwesenden Vaters Joachim II. Joachim Bars zur Berufung auf die Kyritzer Pfarre präsentierte – und damit insofern den kurfürstlichen Anspruch anerkannte, als es sein eigentlich unabhängig vom Landesherrn bestehendes Nominationsrecht zu einem bloßen Präsentationsrecht herabstufte. Gleichwohl betonten die beiden Markgrafen, das überkommene Patronat des Domkapitels müsse nach der Einführung der Reformation in der Mark Brandenburg in dem Sinne neu ausgerichtet werden, dass die Pfarramtsinhaber allein zur Ehre Gottes und zur Störung des Teufelsreiches eingesetzt seien: Bars habe sich in seiner Person, seiner Predigt und seiner Sakramentsausteilung an die Kirchenordnung von 1540 zu halten und sich dazu Markgraf Friedrich persönlich zu verpflichten, denn „das er sonst solte bei euch eines vndt zu kiritz das ander halten“, sei unerträglich.14 Der Kandidat des Domkapitels wurde mithin von den Statthaltern Kirchenvisitationsabschiede, Band 1: Prignitz (wie Anm. 2) S. 3, 8 (1541), 40 (1581), danach die folgenden Ausführungen zum Patronat, soweit nicht andere Quellen angegeben sind. 14 Codex diplomaticus Brandenburgensis. Sammlung der Urkunden, Chroniken und sonstigen Geschichtsquellen für die Geschichte der Mark Brandenburg und ihrer Regenten, 13
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nur angenommen, wenn er sich zu der in der Kirchenordnung verankerten lutherischen Lehre eindeutig und uneingeschränkt bekannte und sich in Kyritz nach evangelischer Art und nicht – wie das in der Mehrheit seiner Mitglieder damals noch katholischen Domkapitel – nach katholischer Art verhielt. Die Visitatoren von 1541 hatten dessen Recht beiseitegeschoben, weil die letzte Entscheidung über die Bestellung des – fortan selbstverständlich evangelischen – Pfarrers allein in die Hand des Kurfürsten gelegt werden musste, wenn der bisherige Patron noch im Katholizismus verharrte, damit der vor Ort verantwortliche Pfarrer gemäß den Forderungen der Reformation sein Amt wahrnahm. Die Visitatoren von 1558 erneuerten nach Einsichtnahme in die Akten die Festlegung ihrer Vorgänger zur Übertragung des Patronates auf den Kurfürsten und schlossen die damals noch gelassene Lücke, indem sie anordneten, nach Absterben oder Verzicht eines Pfarrers solle der Kyritzer Rat den Kurfürsten um die Präsentation eines anderen „geschickten, gelarten unnd friedsamen pfarher[s]“ ersuchen. Die Visitatoren von 1581 bestätigten die Entscheidungen der beiden vorangegangenen Visitationen über das Patronat und verwiesen den erwarteten Widerspruch des Havelberger Domkapitels an den Kurfürsten. Johann Georg gab diesem aber statt wegen der vorgelegten urkundlichen Nachweise, wie die Visitatoren in der nachträglichen Korrektur ihrer ursprünglichen Darstellung im Abschied vermerkten. Denn inzwischen hatte sich das Domkapitel in seiner Gesamtheit dem evangelischen Glauben angeschlossen, so dass die Befürchtungen von 1541 und 1558 vor seinem negativen Einfluss hinfällig geworden waren und seine Patronatsrechte im Form des Nominationsrechtes gefahrlos wieder anerkannt werden konnten. So bat das Domkapitel im Mai 1601 Kurfürst Joachim Friedrich zuzustimmen, dass die Kyritzer Pfarre seinem „an lehre, leben vndt wandell vnstreflich[en]“ und von der Kyritzer Kirchengemeinde gewünschten Domprediger Elias Hering übertragen werde, die es ihm, einst dreieinhalb Jahre lang dort als Diakon tätig gewesen, bereits vor zehn Jahren wegen ihrer besseren Einkünfte zugesagt habe. Freilich beugte sich der Kyritzer Rat nicht widerspruchslos dem kurfürstlichen Beschluss, sondern beharrte mit allem Nachdruck auf seinem Anspruch auf Mitwirkung an der Pfarrerbestellung. Als wohl in der Mitte der 1580er Jahre das Domkapitel kraft seines Patronates den nach seiner hrsg. v. Adolph Friedrich Riedel, Erste Abteilung Band I (im Folgenden: CDB A I), Berlin 1838, S. 382 Nr. 33 (1548 Januar 12).
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Aussage in seiner Lehre und in seinem Leben untadeligen und langdienenden zweiten Kaplan Johann Wiese zum neuen Pfarrer berufen hatte und ihn in einem Sonntagsgottesdienst in sein Amt einführen wollte, verschloss der Rat die Kirche, so dass die Amtseinweisung Wieses in Anwesenheit des Rates und vieler Bürger auf dem Kirchhof erfolgen musste, und als Wiese später das Pfarrhaus beziehen wollte, fand er dessen Türen und Fenster verschlossen und vernagelt vor – für das Domkapitel zu Recht sinnfällige Handlungen dafür, dass der Rat vermeinte, ihm dadurch „das Jus nominandi abzutrotzen“. Dagegen rief das Domkapitel den Kurfürsten an und ersuchte ihn um den Befehl an den Rat, den qualifizierten berufenen Pfarrer nicht an seinem Amt zu hindern oder gegebenenfalls die Angelegenheit dem Konsistorium zu übergeben.15 Der Rat gab zwar in der Folge nicht auf, aber letztlich vergeblich, denn auf seine Klage über seine unterlassene Anhörung bekräftigte das Konsistorium 1613 das Patronatsrecht des Domkapitels über die Kirche, allerdings mit dem Zusatz, es solle seinen zu berufenden Kandidaten gemäß Landesrecht und Landesgebrauch dem Rat zwecks einer Probepredigt präsentieren. Von der Prüfung und Wahl der Gemeinde zwischen zwei ihr vorgeschlagenen Kandidaten, die angeblich in Gebrauch gewesen waren, war allerdings nicht die Rede. Wenn jedoch Rat und gemeine Bürgerschaft gegen die empfohlene Person „qvoad doctrinam et vitam“, also in Bezug auf Lehre und Leben, nichts Erhebliches vorzubringen hätten, seien sie zu ihrer Annahme verpflichtet.16 Der Visitationsabschied vom 27. Juli 1541 wurde, wie es in seiner Überschrift heißt, „der pfarren, predigstuels, capellanei, schulen, hospitaln vnd geistlichen lehen halben“ (3) erlassen. Die Begriffe deuten seine inhaltlichen Schwerpunkte an, die Akzente, die nach reformatorischen Vorstellungen gesetzt wurden: die Pfarrei und die ihr zugehörigen Schule und Hospitäler, das in ihnen tätige Personal und das in den Lehen bzw. Stiftungen enthaltene Kirchenvermögen. Das geistliche Personal bestand aus dem Pfarrer, dem Prediger und Kaplan – derzeit gab es nur einen einzigen Amtsinhaber, während es zuvor zwei Kapläne gegeben hatte – und dem Küster. Das schulische Personal bestand aus dem Schulmeister und dem Gesellen. Da nach der Einschätzung des Abschiedes die Schule „etwas in abfal kommen“ ist, werden Pfarrer, Prediger und Rat dazu aufgefordert, sich um einen „geschickten“ Schulmeister und Gesellen zu bemühen (4). CDB A I (wie Anm. 14) S. 385 f. Nr. 37. Entscheidungen des Cöllnischen Konsistoriums 1541–1704, hrsg. v. Burkhard von Bonin, Weimar 1926, S. 283. – CDB A I (wie Anm. 14) S. 349 f. 15 16
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Vorrangig werden die Unterhaltung und Versorgung des gesamten Personals behandelt: Wo soll es untergebracht werden? Wie soll es entlohnt werden? Aus welchen Quellen fließen die dafür erforderlichen Mittel? Festlegungen werden getroffen für die Häuser bzw. Wohnungen der Bediensteten, für die ihnen zustehenden Geld- und Naturaleinkünfte (einschließlich der Besitzungen und Rechte, aus denen sie finanziert werden) sowie für die ihnen anlässlich ihrer Amtshandlungen zufallenden Gebühren. Dem Pfarrer ist das Pfarrhaus zur Wohnung eingeräumt. Die Pfarrei besitzt fünf vor der Stadt gelegene Hufen – die verpachtet werden gegen eine Pacht von je einem halben Wispel Roggen und Gerste pro Hufe und gegen die Leistung des Kornzehnten – sowie einen Baumgarten vor dem Stadttor und eine Wiese mit drei Fuder Heu (3). Das ihr zustehende Korn – vornehmlich Roggen und Gerste – wird an verschiedenen Terminen im Laufe des Jahres im Umfang von insgesamt 32 Wispel gedroschen, hinzu kommt ein Gartenzins von 3 Pfund 8 Schilling. Der Rat hat in jedem Quartal an den Quatembern in einem Rundgang von Haus zu Haus von jedem Sakramentempfänger den Vierzeitenpfennig einfordern zu lassen. – Dem Prediger/Kaplan wird eine freie Wohnung überlassen, jetzt in einem vom Rat gekauften Haus, künftig in einem einem geistlichen Lehen zugehörigen und dem Gemeinen Kasten zugeschlagenen Haus, also der neugeschaffenen, vornehmlich aus den zahlreichen bisherigen Stiftungen und ihren Stiftungskapitalien gespeisten zentralen Kasse der Gemeinde. Seine jährliche Entlohnung besteht aus einem festen Gehalt von 40 Gulden, von denen 20 Gulden aus dem Gemeinen Kasten und je 10 Gulden aus der Kalandsbruderschaft und aus dem Heilig-Geist-Hospital stammen, sowie vier Wispel Roggen, davon drei aus dem Gemeinen Kasten und einer aus dem Heilig-Geist-Hospital. – Der Küster behält wie seit alters her das Küsterhaus zu seiner Wohnung. Seine Einnahmen kommen aus mehreren Quellen. Der Rat sammelt in jedem Quartal zusammen mit dem erwähnten Vierzeitenpfennig für den Pfarrer von jedem Haus zusätzlich einen Pfennig für den Küster ein, der sich allerdings über den mangelnden Eingang beklagt hat. Aus dem Gemeinen Kasten, dem mehrere dem Küster bis dahin zustehende Geldzahlungen u.a. für das Läuten der Glocken und das Anzünden von Lampen zugeschlagen wurden, erhält er in jedem Quartal acht Schillinge. Die 10 Schillinge, die ihm das Havelberger Domkapitel jährlich für die letzte Ölung gegeben hat, kommen ihm weiterhin zu, schließlich noch 4 Pfennige vom Pfarrer (4). – Aus dem Gemeinen Kasten werden der Schulmeister mit 20 Gulden und der Schulgeselle mit 10 Gulden besoldet, zudem erhalten sie jeweils die Hälfte des von ihren ca.
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40 Schülern zu erhebenden Schulgeldes in Höhe von einem Groschen für den Schuleintritt und anschließend einem Groschen pro Quartal, „damit sie beide desdo vleissiger auff die jungen warten vnd instituiren“ (4). Schließlich kommen dem kirchlichen und schulischen Personal Gebühren für kirchliche Amtshandlungen zu. Der Küster erhält für die Taufe so viel wie seit alters her. Für die Einleitung der Braut und die Sechswöchnerin (anlässlich ihres ersten Kirchganges nach Entbindung des Kindes) sollen dem Prediger/Kaplan ein Groschen und dem Küster sechs Pfennige gegeben werden. Dem Schulmeister steht für den Gesang einer Brautmesse ein Schilling zu (5). Die Gebühren eines Begräbnisses hängen von dessen Ausmaß ab, das wie bislang im Ermessen der Hinterbliebenen liegt. Wenn der Pfarrer, Prediger/Kaplan und die ganze Schule zur Mitwirkung aufgefordert werden, sind dem Pfarrer zwei Groschen, dem Prediger ein Schilling, dem Kaplan ein Groschen, dem Schulmeister drei Schilling und dem Küster sechs Pfennige (für das Läuten) zu reichen. Wenn nur der Prediger oder Kaplan mit dem Schulmeister und einigen Schülern aufgefordert wird, sollen dem ersteren ein Groschen und dem Schulmeister wiederum drei Schillinge gereicht werden (5). Der Visitationsabschied vom 29. Juni 1581 handelt unter denselben Gesichtspunkten wie 1541, aber ausführlicher und detaillierter von Einkommen und Besoldung des Kirchen- und Schulpersonals. Der Pfarrer wohnt im Pfarrhaus, das in seinem baulichen Stand zu erhalten die Vorsteher des Gemeinen Kastens verpflichtet sind (41). Wegen dessen Baufälligkeit wird in der Visitation von 1600 ein Neubau beschlossen und dessen Finanzierung mit Zustimmung des Rates in der Weise geregelt, dass dafür 50 Taler aus dem Einkommen des Heilig-Geist-Spitals entnommen und die übrigen benötigten Baumittel vom Rat und den Kastenherren beschafft werden sollen; der Pfarrer hat auf die Erhaltung des baulichen Zustandes zu achten (64). Für sein Haus genießt er, wie es 1581 heißt, freies Braurecht. Seine fünf Stadthufen bewirtschaftet er derzeit nicht selbst, sondern hat die Hälfte davon ausgegeben. Von diesen Hufen wie von weiteren Landstücken bezieht er den Zehnten. An Naturalabgaben empfängt er Roggen, Gersten, Hafer, Buchweizen und Erbsen, daraus hat er im Jahr 1580 u.a. 10 Wispel 5 Scheffel Roggen und 10 Wispel 9 Scheffel Gersten dreschen lassen, vom Scheffelgeld ist er befreit. Geld- und Gartenzinsen stehen ihm zu, der Vierzeitenpfennig erbringt ihm in einem ganzen Jahr 14 Gulden (41). Der erste Kaplan (der offensichtlich mit dem Prediger von 1541 identisch ist und 1600 auch erster Diakon genannt wird), Mauritius Dannuell
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(oder: Danniel), hat eine „capellanei“, ein Haus, das die Vorsteher des Gemeinen Kastens unterhalten, dazu einen kleinen Garten und ein schmales Stück Kohlland. Aus dem Gemeinen Kasten bezieht er eine Besoldung von 63 Gulden, ferner stehen ihm verschiedene Akzidentien zu, von einer Sechswöchnerin, für die Abnahme der Beichte (Beichtpfennig), für den Gesang vor den Türen anlässlich eines Begräbnisses, für die Abendmahlsfeier im Hause eines Kranken. Die Naturallieferungen bestehen aus drei Wispel Roggen seitens des Gemeinen Kastens und ½ Wispel Malz seitens der Vorsteher des Heilig-Geist-Spitals (42). 1600 werden ihm zusätzlich 6 Gulden Holzgeld aus dem Gemeinen Kasten bewilligt sowie für sein Haus Brau- und Mahlfreiheit eingeräumt. Für seinen künftigen Ruhestand erhält er vom Rat ein halbes Viertelland zur halben Pacht (64). Der „andere“ bzw. zweite Kaplan, Johann Winse (oder Wiese), wohnt derzeit in seiner eigenen Behausung, obwohl ihm doch der Rat und die Kastenherren eine freie Wohnung hätten geben sollen, so dass die Visitatoren im Gegenzug dem Rat befehlen, ihn von Schoss- und Vorschosszahlungen und anderen bürgerlichen Lasten auf seinem Haus zu befreien, bis Rat und Kastenherren ihm ein Kirchenhaus als Wohnung eingeräumt haben. Ähnlich wie der erste Kaplan besitzt er ein Stück Land und einen kleinen Kohlgarten (42). An fester Besoldung genießt der zweite Kaplan 40 Gulden aus dem Gemeinen Kasten. 1600 wird festgestellt, dass der damalige zweite Kaplan (auch Subdiakon genannt) statt 40 Gulden nur noch 24 Gulden aus dem Gemeinen Kasten und 6 Gulden aus einem Testament erhielt und er infolge der Kürzung seiner Barbezüge mit Getreidelieferung von Roggen, Gerste und Malz entschädigt worden war; Rat und Kastenvorsteher sind allerdings bereit, sein Einkommen um jährlich 6 Gulden zu erhöhen (64). In der Einnahme der Akzidentien wechselt er sich 1581 wöchentlich mit seinem Mitkaplan ab, für Begräbnisse erhält er ebenso viel wie dieser. Ebenso wie der erste Kaplan erhält er 1600 ein halbes Viertelland aus dem Vermögen des Heilig-Geist-Spitals und 6 Gulden Holzgeld aus dem Gemeinen Kasten (64). Der Küster hat 1581 eine freie Behausung, erhält 12 Schillinge sowie ein Wispel Roggen aus dem Gemeinen Kasten sowie 10 Gulden und vier Scheffel Roggen vom Rat, wofür er die Uhr zu stellen hat (44). 1600 stehen ihm zehn Gulden vom Rat, zwei Gulden vom Gotteshaus, ein Gulden wegen Ablesung des Katechismus, ein Wispel Roggen aus dem Gemeinen Kasten zuzüglich je drei Scheffel Roggen und Gerste aus einem dem Kasten zugeschlagenen Kirchenlehen zu. Außerdem sollen ihm die von ihm
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aufgewandten Baukosten von 20 Gulden bis Ostern 1601 von den Kastenherren erstattet werden (65). Der Visitationsabschied von 1581 benennt, über den Abschied von 1541 hinausgehend, noch weiteres kirchliches Personal, nämlich den Kantor, den Organisten und den Kalkanten (Bälgetreter). Der Kantor erhält 25 Gulden aus dem Gemeinen Kasten (1600: 30 Gulden) und Gebühren aus Begräbnisfeiern. Der Organist hat eine freie Behausung, wird aus dem Gemeinen Kasten besoldet mit 40 Gulden sowie versorgt mit je einem Wispel Roggen und Gerste (44); hinzu kommen 1600 noch 3 Gulden Holzgeld und 2 Schock vom Rat zu Perleberg (65). Dafür, dass er Braut und Bräutigam zu Ehren die Brautmesse mit seinem Orgelspiel begleitet, soll ihm ein halber Taler oder ein Ortstaler nach Vermögen des Bräutigams und gemäß der Visitationsordnung entrichtet werden (44). Das Einkommen des Kalkanten besteht (1581/1600) aus 5 Gulden 8 Schillingen, dazu 20 Schillingen für seine Schuhe, ferner aus sechs Scheffel Roggen und einem freien Garten (44/65). Der Schulmeister erhält 30 Gulden (1600: 40 Gulden) aus dem Gemeinen Kasten, ferner seinen Anteil am Schulgeld – 1 Stendalischer Schilling pro Schüler in jedem Quartal –, das in seiner Gesamtheit auf alle Schulbediensteten gleichmäßig aufgeteilt wird, sowie Gebühren für Begräbnisse. Die Visitatoren fordern den Rat dazu auf, wegen der „zimliche[n] anzahl der schüler“ zusätzlich einen Baccalaureus mit hinreichendem Unterhalt anzustellen, damit die Knaben umso gründlicher unterrichtet werden. Zudem erklären sie sich damit einverstanden, dass der zweite Kaplan Johann Winse angestellt worden ist unter der Auflage, täglich in der Schule zu lesen und mit den anderen Lehrern die Aufsicht über die Schüler auszuüben. Den Lehrern wird ein halber Taler gereicht, wenn sie auf einer Brautmesse Bräutigam und Braut zu Ehren singen. 1600 wird der neubestellte Konrektor mit einem Einkommen von 30 Gulden erwähnt (43 f./64). 1581 weisen die Visitatoren den Rat darauf hin, wie in anderen Städten zusammen mit den Bürgern dafür zu sorgen, dass die Schule und ihre Lehrerschaft mit etlichen Fuhren Brennholz bedacht werden, „damitt die knaben kelde halben an ihren studiis nicht mögen verseumet werden“ (44). Am Ende der Zusammenstellungen über die Einkommen der einzelnen Kirchen- und Schuldiener bekannten die Visitatoren 1581, dass sie gerne deren Besoldung gemäß der kurfürstlichen Visitationsordnung hätten verbessern wollen, allein nach Sichtung der Register der Kirchen, des Gemeinen Kastens und der Hospitäler sähen sie sich wegen der unzureichenden Mittel dazu außerstande. Stattdessen suchten sie das Personal damit zu
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trösten, dass die Einnahmen der verschiedenen Kassen etwa durch bürgerliche Testamente oder durch die von den Predigern erbetenen Gaben der Gottesdienstbesucher und der von ihnen aufgesuchten Kranken vermehrt werden könnten und unter solcher Voraussetzung der Rat entsprechend dem Vermögen des Kastens ihre Entlohnung erhöhen solle (44 f.). Diese bemerkenswerte Aussage könnte in Verbindung mit den vorstehend angeführten beiläufigen Bemerkungen eine Erklärung dafür bieten, warum die Abschiede in einem solch erstaunlich wirkenden Ausmaß und einer solchen Detailtiefe, von der hier nur eine Auswahl geboten werden konnte, die Unterhaltung der Kirchen- und Schuldiener regelten: Ihnen war vorrangig daran gelegen, dass sie ihren kirchlichen und schulischen Aufgaben auf der Grundlage eines gesicherten auskömmlichen Einkommens und angemessener Unterbringung nachgingen und dass sie, von einem solchen angetrieben, ihre Pflichten umso zufriedenstellender im Sinne der landesherrlichen Ordnungen erfüllten (auch wenn die begrenzten Mittel nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen ließen). Die Abschiede gewährten ihnen einen gesicherten Rückhalt, indem sie die ihnen von den Laien zustehenden Einkünfte umfassend und rechtsverbindlich zusammenstellten, so dass mit ihrer Hilfe Mängel festgestellt und beseitigt werden konnten. Ohne eine geregelte Mittelaufbringung war der Erfolg des reformatorischen Neuaufbaues in Frage gestellt, so dass die Visitatoren so viel Nachdruck auf sie legten. Die einzelnen Aufgaben, die die Kirchen- und Schuldiener wahrzunehmen hatten, werden 1541 nur beiläufig genannt, indem – wie gezeigt – die mit bestimmten Zwecken verknüpften Einnahmen zusammengestellt, ansonsten aber offenbar weitgehend als selbstverständlich vorausgesetzt werden. 1581 werden sie ausdrücklicher und gezielter, wenn auch keinesfalls mit dem Anspruch auf Vollständigkeit angesprochen. Die im Folgenden skizzierten Tätigkeiten der Bediensteten mündeten letztlich in das übergreifende Ziel ein, das gesamte jugendliche ebenso wie das erwachsene Kirchenvolk durch Predigt, Gesang und Unterricht mit der christlichen Lehre vertraut zu machen und sie dadurch zu deren Befolgung und Umsetzung im Alltagsleben anzuleiten. Die ständische Ordnung der Stadt mit ihrer Staffelung der Vermögen wurde vorausgesetzt und anerkannt, indem es in das Belieben des einzelnen und seines Geldbeutels gestellt wurde, ob er kirchliche Akte mit größerem oder kleinerem Aufwand feiern wollte, ob er etwa an vornehmerem oder einfacherem Ort begraben sein oder sein Andenken mit einer Leichenpredigt gepflegt wissen wollte. Andererseits wurde dazu ermahnt, die geltenden Gebührensätze am Vermögen der
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betroffenen Gläubigen auszurichten oder bedürftigen Eltern das Schulgeld für den Schulbesuch ihrer Kinder zu ermäßigen oder zu erlassen. Die notwendige Finanzierung des Kirchen- und Schulwesens stand zuweilen im Spannungsverhältnis zu den Geboten christlicher Nächstenliebe, beides war im Einzelfall immer wieder neu auszugleichen. Gerade weil die Einkünfte der Kirche „gar geringe“ waren (48), sollten die Pfarrer und sonstigen Prediger im Sinne der Nächstenliebe die Gottesdienstbesucher dazu ermahnen, für den Gemeinen Kasten wie für den Armen Kasten entsprechend ihrem individuellen Vermögen Almosen zu spenden, damit die Armen in der Gemeinde ausreichend unterhalten und die Kirchendiener angemessen besoldet werden könnten (48). Als zentrale, vorrangigste Aufgabe der Geistlichen beschrieb der Abschied von 1581 gleich im Eingang, dass sie die christliche Lehre des Evangeliums und das alleinseligmachende Wort Gottes nach Altem und Neuem Testament und gemäß der Augsburgischen Konfession in ihren Kirchen den ihnen anbefohlenen Gemeindemitgliedern zu predigen und ihnen die Sakramente zu reichen hätten. Im selben Atemzug schärften die Visitatoren dem Pfarrer und den anderen Kirchendienern die ihnen obliegende Verantwortung ein, die unter ihren Schäflein befindlichen räudigen Schafe, die göttliches Wort und Sakramente verachteten und anderen Sünden wie Unzucht, Ehebruch, Zauberei oder Sauferei verfallen waren, zu ermahnen und, sofern sie sich nicht besserten, zu bestrafen, so dass nötigenfalls Rat und Gerichte solche Personen aus der Stadt wiesen. Der Gedankengang der Visitatoren kulminierte darin, von den Inhabern eines solchen hohen Amtes auch hohe Pflichterfüllung verlangen zu dürfen, so dass, wenn sie darin nachlässig befunden würden, unter angedeuteter Androhung des göttlichen Gerichts „das blutt ihrer scheflein von ihren henden als den wechtern abgefordert wird werden“ (39). Unterhalb solcher prinzipieller Betrachtungen zählten die Abschiede einzelne konkrete Pflichten auf, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Pfarrer, Prediger und Kaplan hatten nach dem Abschied von 1541 gemeinsam dafür zu sorgen, dass die „armen Leute“ im Heilig-Geist-Hospital wöchentlich oder zumindest 14tägig mit Predigten, Sakramentsfeiern und Trostgewährung in ihren Nöten besser und nachdrücklicher versorgt wurden (wofür im Gegenzug die Vorsteher des Hospitals jährlich 10 Gulden und ein Wispel Roggen dem Gemeinen Kasten zukommen ließen) (4/7). Ganz ähnlich wurden 1581 die Prädikanten dazu aufgefordert, die Insassen des St. Georgs-Hospitals aufzusuchen, ihnen zu predigen und sie mit dem göttlichen Wort zu trösten, schließlich dafür zu sorgen, dass sie tag-
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täglich sangen und beteten (50). Der Pfarrer sollte sein Amt wie gebräuchlich ausfüllen, ordentlich predigen und freitags wie in anderen Städten zur Erinnerung an die Passion Christi dazu passende christliche Lieder singen lassen, damit in diesem Punkt „ein consensus ecclesiarum marchicarum möge befunden werden“ (41 f.). Vermutlich auf Grund von Beschwerden aus der Gemeinde wurde er 1600 von den Visitatoren dazu ermahnt, nicht länger als eine Stunde zu predigen und die Evangelien und Briefe des Neuen Testaments deutlich und verständlich von Altar und Kanzel zu verlesen (64). Der erste Kaplan kümmerte sich um die häusliche Abendmahlsfeier der Kranken (42). Der Kantor wurde ermahnt, die Gesänge wöchentlich an die Tafel zu schreiben und sie mit den jungen Knaben einzuüben, damit sie sie vor den Türen der Bürger sangen und dadurch als Schüler erkannt wurden. Überhaupt sollte der Kantor fleißig musikalische Übungen entsprechend Alter und Verstand seiner Schüler halten (43). Der Organist war dadurch gerechtfertigt, dass nach der Heiligen Schrift Gott durch In strumente und Orgeln gelobt und gepriesen werden solle, und daher sollte er seinem Dienst in der Kirche an Sonn- und Festtagen nachgehen, dabei darauf achten, dass die Orgel nicht beschädigt wurde (44). – Unter den kirchlichen Amtshandlungen genoss die Beerdigung die größte Aufmerksamkeit. Ein Verstorbener sollte „wegen der frölichen aufferstehung der todten […] mitt christlichen gesengen billich begraben“ werden, unter der vom Rat zu gewährleistenden Wahrung von Zucht und Ordnung unter den Teilnehmern der Beerdigung, die dabei zu Spenden für den Gemeinen und Armen Kasten zur Unterhaltung der Kirchendiener und der Armen aufgefordert waren, da „solchs der liebe, getrewe gott reichlichen alhier vnd ihm ewigen leben vorgelten vnnd belohnen wirdt.“ Wenn ein Gemeindemitglied in der Kirche begraben werden sollte, werde sich dessen Verwandtschaft, so heißt es 1581, mit den Kirchenvorstehern über die Höhe der zu leistenden Zahlung verständigen (50 f.). 1600 wurden Gebührensätze für das Begräbnis festgesetzt: Für das Grab auf dem Kirchhof zahlt der Einheimische 6 Gulden, ein junger Mensch 3 Gulden; für das Grab in der Kirche zahlt der Einheimische 10 Gulden, ausgenommen Angehörige der Kyritzer Familie Maß (aus der im 16. Jahrhundert zwei Stadtrichter stammten und die eine Studienstiftung eingerichtet hatte), die das Recht des freien Begräbnisses in der Pfarrkirche unter freiem Glockengeläut behält (66). Pfarrer und Kaplan sollten dem Wunsch der Verwandten nach einer Leichenpredigt auf den Verstorbenen möglichst nachkommen, gegebenenfalls unter Ermäßigung der von der Konsistorialordnung vorgegebenen Gebühr von einem halben Taler auf drei Silbergroschen (51).
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Dem Schulmeister und seinen Lehrern befahlen die Visitatoren 1581, die Schüler „in pietate, doctrina et moribus vleysigk [zu] informiren“, mit ihnen insbesondere den Katechismus Luthers zu lesen und sie ansonsten nach der Visitationsordnung17 dazu anzuhalten, dass sie die Grammatik lernten und Virgil und andere gute Autoren entsprechend ihrem Alter und Verstand lasen (43). Der Nachwuchs sollte ebenso mit lutherischer Frömmigkeit, Lehre und Lebenswandel wie mit humanistischer Bildung vertraut gemacht und in sie eingeübt werden. Schulmeistern und Lehrern wurde 1541 das Recht eingeräumt, Schülern gegebenenfalls die Zahlung des Schulgeldes zu erlassen, damit niemand „die schuel vnvermugenheit halb mus meiden“ (4). Damit die Qualität des Schulunterrichtes regelmäßig überwacht wurde, bestellten die Visitatoren 1581 ein aus den geistlichen und weltlichen Spitzen der Stadt hochrangig zusammengesetztes Aufsichtsgremium, sowie es die Visitationsordnung von 1573 grundsätzlich vorsah.18 Dazu beriefen sie den Pfarrer Martin Doberzin, den ersten Kaplan Mauritius Dannel, den regierenden Bürgermeister Johann Weise, den Stadtrichter Johann Maß, den Stadtschreiber und gegebenenfalls weitere vom Rat ausgewählte Personen zu Inspektoren der Schule, mit der Aufgabe, ihre Verhältnisse und die Leistungen von Lehrer- und Schülerschaft einmal im Quartal einer Prüfung zu unterziehen sowie die Lehrer gemäß der Visitationsordnung anzustellen oder zu entlassen (43). Dem Rat wurde auch die Fürsorge für die bauliche Unterhaltung der Schule übertragen (4). Den Besuch von Hochzeiten sollten die Lehrer gemäß der Visitationsordnung19 zur Vermeidung der Teilnahme an übermäßigen Gelagen unterlassen (43). Da die Ordnung von 1573 die Einrichtung einer Jungfrauenschule in jeder märkischen Stadt angeordnet hatte,20 wurden die Visitatoren 1581 in Kyritz über die dort bereits bestehende, von der Ehefrau des Nikolaus Sommer geleitete Jungfrauenschule unterrichtet. Sie bestätigten deren Existenz (unter Verbot aller Winkelschulen), forderten aber die SchulmeisQuellen zur brandenburgischen Reformationsgeschichte (wie Anm. 1), Teilband 2, S. 1512–1514; hier beklagt die Visitationsordnung u.a. (S. 1513), dass die Schulmeister und -gesellen, weil viel Arbeit „zu Lesunge vnd Repetierunge der Grammatica gehört / zu den Poeten vnd andern grosen lectionibus, die lustiger zulesen sei / dann die Grammatica zu Repetirn ist / Eylen“, also zu schnell die Grammatikübungen zugunsten der Klassikerlektüre aufgeben. 18 Ebd. S. 1514. 19 Ebd. S. 1515. 20 Ebd. S. 1517. 17
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terin dazu auf, sich in ihrer Tätigkeit an die gedruckte Jungfrauenschulordnung des Generalsuperintendenten Andreas Musculus zu halten, die Jungfrauen „ihn der furcht des almechtigen gottes, zucht vnnd ehrbarkeytt“ zu erziehen und die Eltern nicht durch deren Vermögen überschreitendes Schulgeld zu belasten. Der Rat wurde zu guter Förderung der Schule und in seinem Verhalten ihr gegenüber auf die Visitationsordnung verwiesen (50). Der Abschied von 1600 bestätigte die Festlegungen von 1581 und ergänzte sie um die Festsetzung des Schulgeldes, das 3 Schillinge nicht übersteigen sollte, und um die Entlohnung der damaligen Schulmeisterin, der Hausfrau des Küsters Jochim Kortebeck, der aus dem Gemeinen Kasten 3 Scheffel Gerste zu Martini und 16 Schillinge jährlich aus einem Vermächtnis zukamen (66). Zur Förderung und Verbesserung der Bildung achteten die Visitatoren zwar vorrangig auf das städtische Schulwesen, berücksichtigten aber auch das universitäre Studium des Nachwuchses, indem sie für die Einrichtung und Unterhaltung von Stipendien sorgten. Das Lehen St. Johannis hatte 1541 Martin Sarnaw aus Wittstock inne und verwendete seine (aus Getreideabgaben stammenden) Einnahmen für sein Studium in Frankfurt. Ausschließlich dafür wurde ihm das Lehen jetzt noch weitere fünf Jahre zugestanden. Danach sollte es der Rat mit kurfürstlichem Wissen einer anderen geschickten Person für ein Frankfurter Studium verleihen. Diese Zweckbestimmung des Lehens scheint aber nicht dauerhaft beachtet worden zu sein, denn nach dem Register von 1558 sollte es nach dem Tode seines damaligen Inhabers Joachim Britze in den Gemeinen Kasten fallen (7/22). Der erste und der zweite Kaplan, Mauritius Dannuell und Johann Winse, erhielten 1581 aus der Stiftung trium regum des Richters Johann Maß drei bzw. sechs Gulden, aber sie selbst und ihre Verwandtschaft behielten sich selbst als deren Patrone vor, die Einkommen ihren studierwilligen Verwandten zu verleihen (42). Wie der Visitationsabschied von 1600 feststellte, hatte der erste Kaplan Jacob Giese auf die drei Gulden aus der Maßschen Stiftung zugunsten des Studierenden Nikolaus Witte verzichtet; wenn er es noch ein letztes Jahr gebraucht hatte, sollten es die Patrone erneut für Studien verleihen. In gleicher Weise wurde bestimmt, dass der zweite Kaplan Magister Andreas Röber auf seine sechs Gulden zugunsten eines Studierenden verzichtete (64). Die Verantwortung für das ordnungsgemäße kirchliche und geistliche Leben der Stadt und ihrer Bürgerschaft oblag nicht allein der geistlichen, sondern auch der weltlichen Obrigkeit, dem Rat, wie die Visitatoren am Ende ihres Abschieds von 1581 mit ihrer Wortwahl nachdrücklich betonten. Denn
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sie wollten dem Rat „auferlegt vnnd befohlen haben“, „erstlichen vnnd vor allen dingen“ darauf zu achten, dass die Kirchen- und Schuldiener sich gemäß der brandenburgischen Kirchen- und Visitationsordnung und dem vorliegenden Abschied verhielten und ihnen Gehorsam leisteten, widrigenfalls er zur Anzeige der Ungehorsamen an den Kurfürsten verpflichtet war (51). Die weltliche Obrigkeit war, wie es in der Überschrift dieses Abschnittes heißt, „ampts halben“ zur Aufsicht über die geistlichen Sachen gehalten und übte dazu die Kontrolle über die Kirchen- und Schuldiener im landesherrlichen Auftrag aus – weil sie eine „christliche Obrigkeit“ war und als solche für die christliche Lebensweise ihres Gemeinwesens unter all seinen Gliedern einzutreten hatte. So waren folgerichtig die jeweiligen Obrigkeiten, sei es der Rat der Stadt gegenüber seinen Bürgern, sei es der landesherrliche Landreiter gegenüber ländlichen Adligen, unter Androhung von Strafe und Ungnade gehalten, mit ihren Befugnissen an den Orten, an denen sie „die jurisdiction vnnd bodtmussigkeytt“ hatten, auf Antrag der Kirchen-, Kasten- und Hospitalvorsteher zu veranlassen, dass die Zinspflichtigen ihre rückständigen Zahlungen leisteten und widrigenfalls gepfändet wurden; und es gehörte auch zu den Pflichten des Rates, alljährlich ohne Verzug zu Jahresbeginn am Dreikönigstag die Rechnungslegung der Kirchen-, Kasten- und Hospitalvorsteher in Anwesenheit des Pfarrers entgegenzunehmen (52 f.). Damit sollte gewährleistet werden, dass die finanziellen Grundlagen des Kirchenwesens nicht gefährdet wurden. Der Rat wurde dazu aufgefordert, die Geistlichkeit in ihrem Kampf gegen die öffentlichen Laster mit allen Mitteln zu unterstützen (66). Er stand somit im Dienste der Geistlichkeit und hatte sie mit seinen eigenen Mitteln in ihrer Aufgabenerfüllung zu unterstützen, aber zugleich war ihm durch seine Aufsichtsfunktion ein gewichtiger Einfluss eingeräumt, ohne dass er dazu der Inhaberschaft des Patronates bedurfte. Kirche und Welt standen nicht getrennt nebeneinander, sondern sie hatten sich gegenseitig zu kontrollieren, gemeinsam für das zeitliche und ewige Wohl des Gemeinwesens zu sorgen und notfalls gegen Übertretungen und Übertreter der Ordnungen vorzugehen – in gegenseitigem Einvernehmen, ohne öffentliche Austragung ihrer eventuellen Differenzen. 1600 wurde den Predigern aufgetragen, den Rat nicht von der Kanzel anzugreifen, sondern die beiderseitigen Streitigkeiten nach dem in der Kirchenordnung beschriebenen Verfahren zu regeln, also dem Konsistorium zur Begutachtung und Entscheidung vorzulegen (64).21 21
Ebd. S. 1526 f.
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*** Den Kyritzer Abschied von 1541 beschlossen die Visitatoren mit einem Satz, in dem sie den inneren Antrieb ihres Werkes bekundeten: Sie hätten ihre Ordnung vorgegeben in „der zuuersicht, wie derselben also nachgangen wirdet, das es gemeiner stadt vnd einem jeden zu seiner sehelen sehligkeit zum besten gereichen werde“ (8). Die Neuordnung des kirchlichen und geistlichen Lebens, wie sie in der Brandenburgischen Kirchenordnung von 1540 und in deren Folge in jedem Visitationsabschied grundsätzlich und detailliert beschrieben wurde, diente letztlich dazu, dass die Bürger und Einwohner der Stadt durch ihren Glauben an Christi Erlösungswerk und durch eine an Christi Vorbild und Lehre orientierte Lebensführung für sich die wohlbegründete Hoffnung auf eine „fröhliche Auferstehung“ und auf die ewige Seligkeit jenseits ihres endlichen irdischen Daseins gewannen. Diesen die Visitation bestimmenden Leitgedanken betonte Kurfürst Johann Georg noch deutlicher und umfassender, als er 1581 in seinem Beglaubigungsschreiben für die Prignitzer Visitatoren herausstrich, er wolle seine Regierung so führen, dass sie „nicht allein zu vnserer vnderthanen zeittliches bestes, leibs vnnd guts, sondern viel mehr vnnd zuuorab gott dem almechtigen zu lob, ehren vnnd ausbreittunge seines heyligen worts vnnd nahmens, desgleichen zu beförderungk der reinen lehr des euangelii ihn vnserer lande kirchen vnnd schulen, auch zu erhaltunge vnnd pflantzunge rechtes gottes dienstes, erbarkeytt, zucht vnnd christlicher ordnung gereichen möge“ (37). In einem weitgehend gleichartigen Gedankengang wünschte sein Nachfolger Joachim Friedrich in seiner Instruktion für die Visitatoren, dass ihr Werk „zuer vortpflantzungk des allein reinen seligmachenden göttlichen wortts, erbauwung kirchen vnd schulen“ diene, mit dem Ergebnis, dass er, der Kurfürst, seine Lehnleute und Untertanen „nach seinem heiligen wortte göttlich leben, ihn loben, hie zeitlich vnd dortt ewigklich.“22 Die Visitationen sollten durch ihre Kontrolle und gegebenenfalls Korrektur der gemeindlichen Verhältnisse überall in der Mark gewährleisten, dass in den Kirchen und Schulen das Wort Gottes gepredigt, die reine Lehre des Evangeliums verbreitet und eine christliche Ordnung eingerichtet und eingeübt wurde, damit alle Untertanen nicht nur von dem Vertrauen auf ihre zeitliche, irdische Wohlfahrt, sondern darüber hinaus vor allem von Quellen zur brandenburgischen Reformationsgeschichte (wie Anm. 1), Teilband 1, S. 666. 22
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der Zuversicht auf ihre ewige, göttliche Wohlfahrt erfüllt wurden. Durch eine solche Zielvorstellung waren die Visitationen gerechtfertigt, und ihre Abschiede bezweckten, dass das angestrebte Ziel so weit wie möglich nahegerückt wurde. Die Kyritzer Abschiede verdeutlichen exemplarisch, welche Vorkehrungen die geistlichen und weltlichen Verantwortlichen in diesem Sinne treffen zu müssen glaubten. Vorrangig ging es ihnen um die Qualität der Kirchen- und Schuldiener, nur durch die von ihnen ständig verkündete, auf der Bibel und den zentralen reformatorischen Bekenntnisschriften beruhende „reine“ Lehre und durch ihren vorbildlichen, zur Nachahmung anreizenden Lebenswandel war zu gewährleisten, dass sie unter ihren Gemeindemitgliedern den rechten Glauben und die rechte Glaubenspraxis verbreiteten. Und die gewünschte Qualität des Kirchenund Schulpersonals und des von ihnen geleiteten gemeindlichen Kirchenlebens setzten voraus, dass geordnete wirtschaftliche und finanzielle Verhältnisse die auskömmliche Besoldung des Personals wie die hinreichende Finanzierung der vorrangigen Aufgaben garantierten. Dabei lauteten die wesentlichen Stichworte Predigt und Verkündigung des Wortes Gottes, Sakramentsfeiern, vor allem des Abendmahls, Taufe, Hochzeit, Beerdigung, Unterrichtung der Jugend in christlicher Lehre, Fürsorge für Arme und Kranke in Hospitälern. Die Visitationsabschiede beruhten auf den immer wieder angerufenen Kirchen- und Visitationsordnungen des Landesherrn, sie suchten die Umsetzung des darin enthaltenen Programms in Städten und Dörfern der Mark unter Kontrolle zu halten und im Leben der Bevölkerung fest zu verankern. Insofern ist ihnen zunächst das Bemühen des landesherrlichen Normgebers um die Schaffung möglichst gleichartiger kirchlicher Verhältnisse in der gesamten Mark zu entnehmen. Aber die Visitatoren stießen an jedem aufgesuchten Ort, wie hier für Kyritz und dessen Bürgerschaft vorgestellt, auf eine lokale Wirklichkeit, die sie wahrnahmen, die sie gegebenenfalls mit ihren kritischen Kommentaren und Anweisungen bedachten und gemäß ihren Vorstellungen zu verändern und zu formen trachteten. Und insofern zeugen die Kyritzer Abschiede vom gemeinsamen Ringen von Visitatoren und Gemeinde um die Vertiefung und Steigerung des christlichen, evangelischen bzw. lutherischen Kirchenlebens in einer kleinen brandenburgischen Landstadt, kreisen ihre Überlegungen und Handlungen darum, wie ein solches Leben im Gemeinwesen gestaltet werden sollte, wenn es seine selbst gesetzten Ziele, wie sie Johann Georg in seiner gerade zitierten Aussage so pointiert auf den Punkt gebracht hat, erreichen wollte.
Nichtstaatliches Archiv- und Sammlungsgut im Bayerischen Hauptstaatsarchiv: Von gewachsenen Strukturen zu aktiver Schwerpunktbildung. Ein Sachstandsbericht Von Thomas Paringer Bald nach Beginn der Corona-Pandemie (der Zeitraum, in dem dieser Beitrag entstand) wurden auch in Deutschland ab dem Frühjahr 2020 politische Maßnahmen zur Zurückdrängung des Corona-Virus ergriffen. Diese Maßnahmen beschränkten teilweise stark die gewohnten bürgerlichen und individuellen Freiheiten – so stark, dass sie für viele Menschen beispiellos waren und dadurch das Gefühl erzeugten, einem außergewöhnlichen Zeitalter anzugehören. Sehr bald wurde daher der Ruf laut, Zeugnisse dieser besonderen Maßnahmen und Ereignisse zu sammeln und für die Zukunft zu bewahren. Interessanterweise waren es überwiegend Museen und Forschungseinrichtungen, die solche Aufrufe und Initiativen starteten bzw. in der Öffentlichkeit damit wahrgenommen wurden.1 So startete etwa das Münchner Stadtmuseum einen Aufruf zum Sammeln von „Fotografien, Videos oder Texte[n] wie beispielsweise Aushänge zu Restaurantschließungen, Hygienevorschriften oder Verhaltensregeln und Flugblätter, die die Veränderungen abbilden“ (6.5.2020, Passauer Neue Presse: Münchner Stadtmuseum sammelt Corona-Erinnerungen (https://www.pnp.de/nachrichten/bayern/Muenchner-Stadtmuseum-sammelt-Corona-Erinnerungen-3676274.html; aufgerufen am 1.2.2021). In eigentümlicher Vermischung der beteiligten Gedächtnisinstitutionen wurde breit berichtet: „Im Verborgenen sammeln Archivare Erinnerungen an die Corona-Pandemie. Exponate aus dem Alltag der Menschen in dieser Zeit werden im Kölner Stadtmuseum aufbereitet. Vom Mundschutz aus einem Brautkleid bis zu Zeugnissen der Solidarität für die Kneipe im Viertel“ (22.10.2020, Deutsche Welle: Deutschland: Museum sammelt Erinnerungen an die Pandemie, https://www. dw.com/de/deutschland-museum-sammelt-erinnerungen-an-die-pandemie/av-55358359; aufgerufen am 1.2.2021); „Noch nie gab es einen derartigen Aufruf: Museen sammeln Alltagsobjekte, um unsere aktuelle Situation für die Nachwelt festzuhalten. Ist eine neue Dingkultur angebrochen?“ (21.4.2020, Der Standard: Krisen-Dokumentation – Museen sammeln zu Corona: Der Ausnahmezustand als Erinnerung, https://www.derstandard.de/ story/2000116992741/museen-sammeln-zu-corona-der-ausnahmezustand-als-erinnerung; aufgerufen am 1.2.2021); „Diese Tage und Wochen sind historisch. Museen fangen deswegen schon an, Gegenstände aus unserem veränderten Alltag zu sammeln“ (30.3.2020, Süddeutsche Zeitung: Erinnerungen für die Zukunft, https://www.sueddeutsche.de/panorama/corona-pandemie-corona-krise-museum-atemschutzmaske-1.4862222; aufgerufen am 1.2.2021); „Über ein Onlineportal wollen Wissenschaftler Material zur Dokumentation 1
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Etwas mehr als ein Jahrhundert früher hatte der in München ansässige Fotograf Friedrich Josef Maria Rehse2 (1870–1952) mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges ebenfalls das Gefühl, einem besonderen Zeitalter anzugehören. Obwohl diese Phase von ihm (zumindest anfangs) nicht als Krise, sondern als nationales Erwachen verstanden und wahrgenommen wurde, dessen weiteren Verlauf er über die Revolution und die Begründung und Erstarkung der nationalsozialistischen Bewegung hinweg wohlwollend und nicht ohne persönliche Vorteile bis über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus begleitete, so war doch sein Reaktionsmuster mit dem der Zeitgenossen der Corona-Krise vergleichbar: Sammeln und bewahren, um künftig an diese Zeiten authentisch und angemessen erinnern zu können. Der Beitrag will im Folgenden die nichtstaatliche Überlieferung am Bayerischen Hauptstaatsarchiv in den Blick nehmen und aus der Praxis den weder einfachen noch selbstverständlichen Weg von einer eher zufälligen hin zu einer überwiegend gesteuerten Überlieferungsbildung in diesem Bereich aufzeigen. Das Bayerische Hauptstaatsarchiv ist als zentrales Archiv seines Trägers, des Freistaates Bayern und seiner Rechtsvorgänger, zunächst für dessen eigene Überlieferung aus Justiz und Verwaltung zuständig, und zwar auf der Ebene der Zentral- und Oberbehörden. Diese Aufgabe wurde und wird mit Recht als so zentral und umfassend verstanden, dass auch der Hauptteil der vorhandenen personellen Ressourcen hierfür aufzubieten ist. Auf diese Weise findet – quasi selbstverständlich und bestimmungsgemäß – der Großteil der Überlieferungsbildung statt. der Coronakrise sammeln. Dazu haben die Universitäten Hamburg, Gießen und Bochum das Projekt „Coronarchiv“ ins Leben gerufen. […] Mit dem Archiv entstehe eine zentrale Anlaufstelle, die nicht nur eine spätere Rückschau auf die Ereignisse ermögliche, sondern auch für die künftige Forschung zur Verfügung stehe […]“, 27.3.2020, Ärzteblatt: Hochschulen: Wissenschaftler sammeln Erinnerungen an Coronakrise, https://www.aerzteblatt. de/nachrichten/111448/Wissenschaftler-sammeln-Erinnerungen-an-Coronakrise; aufgerufen am 1.2.2021); der Eintrag zum Lemma „Coronarchiv“ in Wikipedia wurde bereits am 26.3.2020 und damit zeitnah zum Start des Projekts angelegt (https://de.wikipedia.org/wiki/ Coronarchiv; aufgerufen am 1.2.2021). 2 Siehe zu ihm und seiner Sammlung den Nachlassbestand im Bayerischen Hauptstaatsarchiv (künftig BayHStA), der 2009 von Dr. Laura Scherr neu geordnet und erschlossen wurde. Siehe auch Claus Brügmann, Das Erbe eines fanatischen Sammlers. F.H.M. Rehse und seine zeitgeschichtliche Sammlung. In: Unser Bayern. Heimatbeilage der Bayerischen Staatszeitung 36 (1987) S. 6–8. – Ders. F.J.M. Rehse. Person und Sammlung (Begleitheft zur Lehrausstellung des BayHStA 1985). – Brigitte Schütz, Die „Sammlung Rehse“. In: Ulrike Haerendel – Bernadette Ott (Redaktion), München – „Hauptstadt der Bewegung“ (Ausstellung im Münchner Stadtmuseum – Katalog), München 1993, S. 280 f.
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Sa m m e l n i m A r c h i v Bereits im 19. Jahrhundert kamen erste Stimmen auf, die dafür plädierten, über das amtliche Registraturgut hinaus weiteres Quellenmaterial für die Archivierung in den Blick zu nehmen, das aus anderen, meist privaten oder zumindest nichtstaatlichen Kontexten stammt. Hiervon versprach man sich nicht nur eine Verbreiterung der Quellenbasis, sondern wohl auch eine veränderte Konnotierung der amtlichen Überlieferung: Es spielt eben auch für die Rezeption der Unterlagen eine Rolle, ob etwa die Überlieferung zur frühen Arbeiterbewegung von organisierten Arbeitervereinen stammte oder nur über den Umweg staatlicher Behörden, die diese kontrollierten oder deren Verbote zu exekutieren hatten. Es war eine Versammlung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine und somit eine Stimme der Forschung, die 1879 in Landshut in einem Thesenpapier die Forderung nach der Berücksichtigung zeitgenössischer Quellen und der Hinwendung zu anderen Archivalientypen wie Flugblättern und Gelegenheitsschriften aufstellte und damit die Grundlage für die Sammeltätigkeit der Archive in Deutschland unter zeitgeschichtlichen Aspekten schuf.3 Bis in das 20. Jahrhundert hinein wurden die durch reguläre Aussonderung erlangten Bestände aber weiterhin als der Hauptgegenstand archivischer Überlieferungsbildung betrachtet, während das Sammeln nur als ergänzende Tätigkeit galt. Dennoch verbreiterte sich damit die Quellenbasis einerseits durch die Berücksichtigung der wichtigen Archivaliengruppen der persönlichen Nachlässe und Familienarchive, andererseits durch sonstiges Quellenmaterial, soweit es „für die Geschichte [des] Archivsprengels von Wichtigkeit ist“ und für die Überlieferungsbildung Berücksichtigung finden sollte.4 Allerdings ging diese Ausweitung des Quellenbegriffs lange an den staatlichen Archiven vorüber. Es waren vorwiegend kommunale Archive und das 1919 neugegründete Reichsarchiv in Potsdam, die den Bereich des privaten Archiv- und Sammlungsgutes in den Blick nahmen. In letzterem – nicht zuletzt aufgrund anfangs
Thesen Nr. 34 und 35 für die Archivsektion der Generalversammlung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine in Landshut 1879. In: Beilage Nr. 9 (ohne Seitenzählung) zum Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine 27 (1879). 4 Vgl. Paul Zimmermann, Was sollen Archive sammeln? In: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine 59 (1911) Sp. 465–477, Zitat Sp. 466. 3
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fehlender Aktenbestände – entstand ein zeitgeschichtliches Archiv mit privatem Schriftgut, Anschlägen, Plakaten, Flugblättern und Bildern.5 Während und nach dem Ersten Weltkrieg nahm die Sammlungstätigkeit zu.6 Nicht zuletzt begann der bereits erwähnte Rehse damit, zunächst Zeitungsausschnitte zu sammeln, um die besonderen Entwicklungen seiner Zeit festzuhalten. Diese breite Bewegung fand schließlich auch Eingang in die Archivwissenschaft, insbesondere da sich nun auch der Begriff der „Zeitgeschichte“ wandelte.7 Sollte sich Zeitgeschichte als „Ausdruck eines allgemeinen Gefühls von der historischen Bedeutung der miterlebten Zeit“, von „einer Zeit unerhört gesteigerter Geschichtlichkeit“ nun insbesondere auf diejenigen Quellen stützen, die das spezifische Denken, Handeln und Fühlen der jeweiligen Generation über Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft dokumentieren,8 so musste spätestens jetzt erkennbar werden, dass dieser Anspruch mit amtlichem Aktengut alleine nicht darstellbar war. Seither ist für viele Fragestellungen stets eine außeramtliche Überlieferung zusätzlich zu berücksichtigen. Diese speist sich einerseits aus privatem bzw. nichtamtlichem Registraturgut (Nachlässe und FamiEinen Einblick in den frühen Zustand der Gründungsjahre des Reichsarchivs gibt etwa Helmut Rogge, Das Reichsarchiv. In: Archivalische Zeitschrift (künftig AZ) 35 (1925) S. 119–133. – Zum gegenwärtigen Stand vgl. Susanne Waidmann, Zeitgeschichtliche Sammlungen – Grenzen und Perspektiven der Sammlungstätigkeit anhand näherer Betrachtung der zeitgeschichtlichen Sammlungen in der Abteilung Bundesrepublik Deutschland des Bundesarchivs. In: Karsten Uhde (Hrsg.), Von A(mtsdruckschriften) bis Z(eitgeschichtliche Sammlungen). Ausgewählte Transferarbeiten des 43. und 44. wissenschaftlichen Kurses an der Archivschule Marburg (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 56), Marburg 2013; Annegret Neupert, Erwerb und Bestandsbildung der Zeitgeschichtlichen Sammlungen. Ein Überblick. In: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv, Heft 12/2004, S. 35–41. – Dorothe Ganser, Aus der Arbeit des Referates LS 5 – Schriftgut privater Herkunft: Nachlässe, Kleine Erwerbungen, Politische Parteien, Verbände und Organisationen, Alliierte Kriegsverbrecherprozesse, Zeitgeschichtliche Sammlungen. In: Ebd. Heft 8/2000, S. 36–40. 6 Vgl. Julia Hiller von Gaertringen (Hrsg.), Kriegssammlungen 1914–1918 (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, Sonderbände 114), Frankfurt a.M. 2014. – Rainer Hering – Robert Kretzschmar – Wolfgang Zimmermann (Hrsg.), Erinnern an den Ersten Weltkrieg. Archivische Überlieferungsbildung und Sammlungsaktivitäten in der Weimarer Republik (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg A 25), Stuttgart 2015. 7 Vgl. Helmut Rogge, Zeitgeschichtliche Sammlungen als Aufgabe moderner Archive. In: AZ 41 (1932) S. 167–177. Er beschreibt darin das Anlegen von Sammlungen zwar als „Nebenaufgabe“ der Archive, aber als eine „zukunftshaltige“ und daher „wichtige und fruchtbare“, ebd. S. 177. 8 Ebd. S. 167 f. 5
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lienarchive sowie Überlieferung von Vereinen, Verbänden, Parteien und anderen privatrechtlichen Institutionen und Zusammenschlüssen), andererseits aus genuinem Sammlungsgut, das in der Regel zuständigkeitsfrei und nicht registraturgebunden ist, dessen Ordnung also nicht durch die Herkunft, sondern durch den Sammlungszusammenhang gestiftet wird. Die Öffnung hin zu neuen Quellentypen setzte sich jedoch gerade in staatlichen Archivkreisen nur zögerlich durch. Auch das Bayerische Hauptstaatsarchiv und die bayerischen Staatsarchive machten lange keine aktiven Anstrengungen, Nachlässe zu erwerben oder zeitgeschichtliche Sammlungen anzulegen. In der Tradition der Archivare des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sahen sie ihre Hauptaufgabe weiterhin im Bewahren, Pflegen und Erschließen der mittelalterlichen Quellen und hatten dabei überwiegend Interesse an hilfswissenschaftlichen und mediävistischen Fragestellungen, in denen zeitgeschichtliche Sammlungen und Sammlungsgut keinen Platz hatten bzw. als fachfremd angesehen und daher den Bibliotheken oder Museen überlassen wurden. Letztlich wurde das Sammeln ergänzender gegenwartsgeschichtlicher Quellen erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer unbestrittenen Kernaufgabe auch der staatlichen Archive.9 Größere Kommunalarchive dagegen besaßen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts meistens bereits ausgebaute Sammlungen, die man nun zu zeitgeschichtlichen Sammlungen aufwertete, etwa das Stadtarchiv München.10 Viele davon setzten im Ersten Weltkrieg ein und waren urVgl. früh z.B. Wolfgang Kohte, Gegenwartsgeschichtliche Quellen und moderne Überlieferungsformen in öffentlichen Archiven. In: Der Archivar 8 (1955) Sp. 197–210. – Für die Gegenwart vgl. Petra-Maria Dallinger – Georg Hofer (Hrsg.), Logiken der Sammlung. Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik (Literatur und Archiv 4), Berlin 2020 (v.a. zu Literatur- und Spezialarchiven). – Norbert Reimann (Hrsg.), Sammlungen in Archiven (Veröffentlichungen der brandenburgischen Landesfachstelle für Archive und öffentliche Bibliotheken 3), Berlin 2006. – Brigitta Nimz, Sammlungsqualifizierung im Staatsarchiv Bremen. „Die wesentliche Dokumentation auszusondern und aufzubewahren ist in allen Jahrhunderten seine Aufgabe gewesen“. In: Archivar 70 (2017) S. 41–47. – Dennoch ist bis heute eine gewisse (zumindest begriffliche) Reserviertheit gegenüber Sammlungen in Archiven unverkennbar, vgl. z.B. Reinhold Brunner, Archivische Sammlungen – notwendiges Übel oder zentrale Archivgutkategorie? Überlegungen am Beispiel des Stadtarchivs Eisenach. In: Archive in Thüringen, Sonderheft 2003: Sammlungen in Archiven, S. 6–14, oder auch beim Tagungstitel des 8. Bayerischen Archivtags „Pflicht oder Kür? Nachlässe, Sammlungen, Verbandsschriftgut“ (Tagungsbericht von Christian Kruse, 8. Bayerischer Archivtag in Schwandorf befasst sich mit Nachlässen, Sammlungen und Verbandsschriftgut. In: Archive in Bayern 8 (2014) S. 83–94). 10 Vgl. etwa Michael Schattenhofer, Zeitgeschichtliche Sammlungen in Stadtarchiven. In: Der Archivar 17 (1964) Sp. 43–52. – Zum aktuellen Stand vgl. z.B. Josef Fischer, 9
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sprünglich Kuriositätensammlungen von Kriegs- und Notgeld sowie Lebensmittelkarten. Im Vordergrund standen zudem Presseausschnitte aus der reichhaltigen Zeitungs- und Zeitschriftenliteratur, aber auch die massenhaft auftretenden, damals z.T. noch eher neuen Medien wie Plakate, Flugblätter und Propagandamaterial, dazu Druck- und Flugschriften sowie Fotografien, Bildpostkarten und sonstiges Bildmaterial. Die fachliche Unschärfe, die das archivische Sammlungsgut letztlich noch heute begleitet, zeigte sich bereits früh: Zeitgeschichtliche Sammlungen entstanden damals nicht nur in Archiven, sondern auch in Bibliotheken und Museen, die mit einigem Recht ebenfalls fachlichen Anspruch darauf erheben konnten und können.11 Ni c h t s t a a t l i c h e s A r c h i v g u t i m Ba y e r i s c h e n H a u p t s t a a t s a r c h i v Im Jahr 1925 lud der unermüdliche Sammler Rehse den Generaldirektor der Staatlichen Archive Dr. Otto Riedner (1879–1937) zu einer Besichtigung seiner Sammlung ein. Die danach angebotenen Sonderführungen für interessierte Archivbeamte stießen auf mäßiges Interesse.12 Auch eine bald darauf veranlasste Umfrage Riedners bei den bayerischen Staatsarchiven, ob derlei Sammlungsgut vorhanden sei, zeigte nur geringe Sammlungsbestände auf.13 Im Bereich privater Nachlässe sticht der Nachlass von Ludwig Freiherr von der Pfordten (1811–1880) heraus, der zwischen 1849 und 1866 unter anderem als Minister und Vorsitzender des Ministerrats politische Spitzenämter bekleidete. Sein Nachlass wurde 1926 von seinen Nachkommen durch die Archivverwaltung angekauft, nachdem diese im Vorjahr Teile des Nachlasses zunächst an die Bayerische Staatsbibliothek gegeben hatten.14 Sonstige ältere Nachlässe waren dagegen zumeist über Sammlungsgut in Kommunalarchiven – Pflicht oder Kür? In: Archive in Bayern 8 (2014) S. 177–181. – Janka Deicke, Zum Stellenwert von Sammlungsgut in kommunalen Archiven und Einsatzmöglichkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit, Diplomarbeit, Potsdam 2007. 11 Vgl. etwa Heinrich Otto Meisner, Archive und Museen. In: Archivmitteilungen 2 (1957) S. 38–41, mit der Forderung, Zeitgeschichtliche Sammlungen sollen sowohl in Archiven als auch in Museen angelegt werden, vgl. ebd. S. 41. 12 Vgl. BayHStA, Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns (künftig: GDion Archive) 2487d; von 14 angefragten Beamten entschuldigten sich 9, nur 5 nahmen an dem Besichtigungstermin teil. 13 Vgl. BayHStA, GDion Archive 882. 14 Wie wenig Routine die damaligen Archivbeamten mit dem Erwerb eines politischen Nachlasses hatten, belegt der Erwerbungsakt in der Abteilungsregistratur V des BayHStA:
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amtliche Registraturen ans Archiv gelangt und im Abgabezusammenhang bei den Ministerialakten verblieben oder in einen Pertinenzbestand „Personenselekt“ eingereiht worden. Substanzielle Sammlungsbestände waren dagegen im Bayerischen Kriegsarchiv vorhanden, das allerdings erst 1946 dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv eingegliedert wurde. Mit diesem Zusammenschluss erlangte das Bayerische Hauptstaatsarchiv eine zeitgeschichtliche Sammlung militärischen Ursprungs.15 Bis heute ist diese Abteilung diejenige mit dem größten Bildbestand. Di e Sa m m l u n g Re h s e Trotzdem sollte es ausgerechnet die Sammlung von Friedrich Rehse werden, die auf lange Sicht den Grundstock der archivischen Sammlungen des Bayerischen Hauptstaatsarchivs bilden würde. Nachdem Rehse Mitte der 1920er Jahre bereits eine gewaltige Sammlung angehäuft hatte und dafür nicht nur seinen Beruf als Fotograf aufgegeben und sein Atelier verkauft hatte, konnte er den Unterhalt und die Unterbringung der Sammlung nur noch mit der finanziellen Unterstützung eines Freundeskreises, der „Gesellschaft für Zeitgeschichte und Publizistik e.V.“, stemmen.16 Seine Verkaufsangebote an öffentliche Stellen, darunter die Stadt München und die staatliche Archivverwaltung, scheiterten jedoch nicht nur an der klammen Haushaltslage oder dem latenten Unverständnis der angefragten Institutionen, sondern auch an den stolzen Gehalts- und Preisforderungen Rehses.17 Inwieweit die breit kolportierten Ankaufsangebote aus Stanford und insbesondere Moskau den Tatsachen entsprachen, ist aufgrund der nachträglich propagandistisch überhöhten Darstellung des Verkaufs nur schwer zu entscheiden.18 Denn schließlich gelang es Rehse im Jahr 1929, Erst 1932 wurde die Erschließung in Angriff genommen, nachdem Generaldirektor Riedner den dienstlichen Auftrag zur ungesäumten Ordnung und Verzeichnung des Bestandes mit Schreiben vom 3.3.1932 erteilte, das zusammen mit dem Schlüssel zum Vorhängeschloss der zugehörigen Kiste an die Abteilung Geheimes Staatsarchiv ging. Der seit den 1930er Jahren beabsichtigte Erwerb des Nachlasses Maximilian von Montgelas‘ konnte erst 1970 vollzogen werden. 15 Vgl. BayHStA, Nachlass (künftig NL) Jaroschka 110. 16 Vgl. BayHStA, GDion Archive 2487d; BayHStA, NL Rehse 9. 17 Vgl. BayHStA, GDion Archive 2487d: Demzufolge verlangte Rehse für die Sammlung nicht nur 300.000 Reichsmark, sondern auch eine Festanstellung mit 12.000 RM Jahresgehalt und 6.000 RM Pension. 18 Es scheint, als wäre die Kontaktaufnahme zumindest mit der Hoover War Library an der Stanford University Library von Rehse selbst ausgegangen; über das angebliche Angebot
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seine Sammlung an die NSDAP zur Einreihung in deren Hauptarchiv zu verkaufen, und die neuen Eigentümer nutzten die Vorlage gerne, um die ablehnende Haltung der „System-Behörden“ nicht ohne Häme zu kommentieren.19 Seither firmierte die Sammlung Rehse unter der Bezeichnung „Archiv für Zeitgeschichte und Publizistik“ (zeitweilig mit Varianten wie „Archiv und Museum für Zeitgeschichte und Publizistik“ etc.) auch als zentrales Gedächtnis der nationalsozialistischen Bewegung im Rang einer Parteidienststelle und publizierte in dieser Funktion einige Druckwerke, die sich ausschließlich auf das eigene Quellenmaterial stützten.20 Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten konnte Rehse sich nicht nur auf einen großen Stab von zeitweise bis zu 60 Mitarbeitern stützen, sondern erhielt ab 1935 die Erlaubnis, seine Sammlung an höchst prominenter Stelle, nämlich in der Münchner Residenz, unterzubringen und dort eine ganze Saalflucht zu nutzen. Rehse hatte sich persönlich bereits zu Beginn der 1920er Jahre der NSDAP angenähert; seit dem Verkauf war er als fest angestellter Sammlungsleiter in der Lage, selbst Sammlungsreisen zu unternehmen. So kam er etwa 1938 in das Protektorat Böhmen und Mähren und nach Kriegsausbruch nach Polen (1939) und in die Niederlande (1940, 1941). Zudem stand er – der in München seit den 1920er Jahren unter dem Namen „Vater Rehse“ als auffälliges Original durchaus Bekanntheit erlangt hatte – nun deutschlandweit mit zahlreichen Personen des öffentlichen Lebens und anderen Sammlern in regem brieflichem Kontakt, wodurch die Sammlungsbestände durch Schenkungen und Tausch weiter ausgebaut werden konnten.21 aus dem Revolutionsarchiv in Moskau sind nur Schreiben eines Reichstagsabgeordneten vorhanden; vgl. BayHStA, NL Rehse 10. 19 Vgl. Edi Steiner, Friedrich Josef Maria Rehse. Ein Leben im Dienste der Zeitgeschichte, München 1940, bes. S. 15 u. 17 f. (BayHStA, NL Leinhaas, Gustav 14; BayHStA, NL Rehse 4). 20 Adolf Dresler (Hrsg.) – Fritz Maier-Hartmann (Verf.), Dokumente der Zeitgeschichte (Die Sammlung Rehse), München 1938; Diess., Dokumente des Dritten Reiches (Die Sammlung Rehse), München 1939. 21 Anlässlich des 65. Geburtstags Rehses schrieben die Münchner Neuesten Nachrichten am 20.3.1935: „Anfang des Krieges kam in alle Redaktionsstuben, Behördenräume und andere Büros ein seltsamer Mann. Er hatte eine unglaubliche Ueberredungsgabe, und sein Wunsch war äußerst merkwürdig: Er wollte das haben, was an Gedrucktem weggeworfen wurde. Kaum hatte man verständnislos genickt, als er schon die Papierkörbe ausleerte und alles in eine Aktenmappe stopfte. […] Zuerst lachte man über ihn. Dann nannte man ihn ein Sammleroriginal. Wiederum nach einiger Zeit hieß es, er sei einer der größten Sammleroriginale aller Jahrhunderte, und endlich nannte man ihn nur mehr den „Vater Rehse“, den Schöpfer einer der eigenartigsten und wertvollsten Dokumentensammlungen
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Friedrich Josef Maria Rehse (1870–1952), Porträtbüste gestaltet von Bildhauer Georg Mattes (1874–1942) (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Nachlass Rehse).
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Bei einem Fliegerangriff im April 1944 wurde die Münchner Residenz schwer getroffen und die Sammlung Rehse erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Das Ende für die Sammlung kam bei Kriegsende, als die verbliebenen unversehrten Reste von amerikanischen Besatzungstruppen beschlagnahmt und an die Library of Congress in Washington verschifft wurden. Rehse, der danach seine Sammlungstätigkeit wieder aufnahm, starb 1952 in München, seine neue Sammlung, deren Zusammensetzung und Umfang unbekannt sind, ging danach verloren. Zusammen mit anderem beschlagnahmten Kulturgut wurden ab 1963 Teile der nach Amerika verbrachten ursprünglichen Sammlung Rehse – ein Begriff, der sich seither wieder fest einbürgerte – restituiert. Ohne die ei-
der Welt“; vgl. BayHStA, GDion Archive 2487d. Zum gleichen Anlass wollte es Generaldirektor Riedner nicht unterlassen, anlässlich seiner Geburtstagsgratulation an Rehse als polemisches Geburtstagsgeschenk den fachlichen Rat zu geben, seine Institution nicht „Archiv für Zeitgeschichte …“, sondern „Sammlung für Zeitgeschichte …“ zu nennen („Und da man mit den Wünschen immer zugleich eine Art Angebinde bringen soll, will ich gnädig, wie ich bin, eine kleine Fachbelehrung hinzufügen … Wir Archivare verstehen […]“), vgl. ebd.
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gentliche Rechtsnachfolge zu beachten, nach der das Sammlungsgut Rehses als Eigentum der NSDAP an den Freistaat Bayern hätte gehen müssen, übergaben die USA im Januar 1964 ca. 1.000 Seekisten mit Material an die Bundesregierung.22 Nach einer ersten Aufteilung auf die Bundeswehr, das Bundesarchiv, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz und die Bibliotheksverwaltungen der Länder fanden sich über 300 Kisten der Sammlung Rehse und sogenannter parteiamtlicher Literatur beim Bundesarchiv, während die Bayerische Staatsbibliothek rund 250 Kisten mit Büchern erhalten hatte. Nach Protesten des bayerischen Kultusministeriums, das die geschlossene Abgabe zumindest der Sammlung Rehse nach München forderte, kam es Anfang 1965 zu einem Vergleich mit dem Bundesarchiv, mit dem die Sammlung aufgeteilt wurde: Während die Presseausschnittsammlungen und weiteres unspezifisches Sammlungsgut insgesamt an das Bayerische Hauptstaatsarchiv kamen, wurde der gewaltige Plakatbestand für das Bundesarchiv reserviert, allerdings unter Aussortierung von Mehrfachexemplaren sowie von Einzelstücken, die von bayerischen Behörden herausgegeben worden waren. Ende 1965 übernahm das Bayerische Hauptstaatsarchiv damit immerhin noch rund 25.000 Plakate, fast 700 Bündel mit Presseausschnitten und sonstigem Sammlungsgut und in einer Nachlieferung nochmals Plakate, Flugblätter, Bücher und Druckschriften. Lagerungstechnisch und fachlich wurde die Sammlung der Abt. Kriegs archiv zugewiesen, da sie zunächst als Erweiterung der dortigen zeitgeschichtlichen Sammlung militärischen Ursprungs vorgesehen war. Nach einigen konzeptionellen Neuansätzen in den 1970er Jahren wurden die Bestände erst nach der Gründung der Abt. V Nachlässe und Sammlungen 1978 physisch und von der Zuständigkeit her in das bis heute dafür genutzte Amtsgebäude Ludwigstraße 14 überführt.23 Vgl. Hans Booms, Die „Sammlung Rehse“. In: Der Archivar 22 (1969) Sp. 57–60; in seinem fast apologetischen Kurzbeitrag verteidigt er einerseits die in Fachkreisen umstrittene Vorgehensweise des Bundesarchivs im Umgang mit der Sammlung Rehse (Aufteilung auf verschiedene Institutionen und großflächige Nachkassationen) mit dem Hauptargument, es handele sich bei den zurückgegebenen Resten um „das ausgeschlachtete heterogene Sammelsurium“ einer konturlosen Sammlung ohne „jegliche Begrenzung“, das Rehse nicht eigentlich gesammelt, sondern „stupide auf[gelesen]“ habe; anderseits gibt er an, dass das in die zeitgeschichtlichen Sammlungen des Bundesarchivs eingearbeitete Material teilweise „äußerst wertvolle Ergänzungen“ vorhandener Bestände darstellt. 23 Vgl. Dieter Bernd, Sammeln im Archiv. Zur Bildung der Abteilung „Nachlässe und Sammlungen“ im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. In: Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern 24 (1978) S. 8–24. – Als Aufgabenbeschreibung gibt er an, „Material zu sammeln, das geeignet ist, die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung Gesamtbayerns im 22
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Dort bildeten die Reste der sogenannten Sammlung Rehse allerdings niemals – wie häufig fälschlich angenommen – einen eigenen Archivbestand, sondern wurden nach Archivalientypus bzw. nach inhaltlicher Zusammengehörigkeit zu verschiedenen Sammlungsbeständen formiert. Die Plakate sind erschlossen im Bestand „Plakatsammlung“, die Flugblätter in den Beständen „Flugblattsammlung“ bzw. „Sammlung Feindflugblätter 1. Weltkrieg“ und „Sammlung Feindflugblätter 2. Weltkrieg“, Fotografien sind in der „Bildersammlung“ bzw. der „Bildersammlung Personen“ enthalten, Druckschriften wurden in mehreren Druckschriftensammlungen („Druckschriften Periodika“ / „Einzelstücke“ etc.) aufgestellt, durch eine größere Bereinigungsmaßnahme vor einigen Jahren im Abgleich bzw. Austausch mit den Beständen der hauseigenen Amtsbibliothek und den staatlichen Bibliotheken als eigenständige Archivbestände allerdings aufgelöst. Die Presseausschnitte – Ursprung und Kern der Sammlungstätigkeit Rehses – finden sich in den Beständen „Sammlung Personen“ und „Presseausschnittsammlung“. Alle anderen Dokumente und Sammlungsgegenstände sind in der „Sammlung Varia“ erschlossen, die als Sammlung historisch-politischer und gesellschaftlich-sozialer Unterlagen einen schier unerschöpflichen Fundus an Material für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bietet. Aufgrund ihrer Qualität und Reichhaltigkeit bilden die Archivalien aus der Sammlung Rehse (durch ihren charakteristischen Sammlungsstempel stets leicht erkennbar) heute den Kern der genannten Bestände. In ihrer Gesamtheit sind sie einer der Hauptgründe dafür, dass die erklärten Sammlungsschwerpunkte des Bayerischen Hauptstaatsarchivs bis heute die Geschichte Bayerns in der Zeit des Ersten Weltkriegs und der Revolution von 1918/19, dann die Zeit der Weimarer Republik mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus und schließlich die NS-Zeit selbst sind. Hier hat der Sammlungsbereich des Bayerischen Hauptstaatsarchivs herausragendes und vielfach unikales Quellenmaterial zu bieten. Außer für die Sammlungen und Nachlässe24 ist die genannte Abteilung V für das weitere nichtstaatliche Archivgut des Bayerischen Hauptstaatsar19. und 20. Jahrhundert zu dokumentieren. [Die Abteilung V] sammelt Schrift-, Bildund Tongut, deren Produzenten in Bayern ansässig und ausschließlich oder überwiegend in Bayern öffentlich aktiv sind oder waren […]“, vgl. ebd. S. 22. – Zum Archivgebäude zuletzt: Elisabeth Weinberger, Geschichte des Archivgebäudes an der Ludwig-/Schönfeldstraße. In: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 76 (2019) S. 67–72. 24 Vgl. Sylvia Krauss u.a. (Bearb.), Verzeichnis der Nachlässe im Bayerischen Hauptstaatsarchiv (Bayerische Archivinventare 58), 2. Auflage, München 2019. Die Zahl der Nach-
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chivs (ohne militärische Bestände) zuständig, also im Wesentlichen für die Überlieferung von Parteien, Verbänden und Vereinen (mit bayernweiter Bedeutung entsprechend dem Archivsprengel) bzw. im Einzelfall von Firmen oder sonstigen privaten Zusammenschlüssen, an deren Überlieferung öffentliches Interesse besteht.25 Durch diesen breiten Ansatz der nichtstaatlichen Überlieferungsbildung (Sammlungsgut, Vereins- bzw. Verbandsüberlieferung und Nachlässe) kann in Kombination mit der auf dem Weg der Aussonderung anfallenden amtlichen Überlieferung im Idealfall eine umfassende Dokumentation bestimmter politisch-gesellschaftlicher Phänomene und Ereignisse erreicht werden. Erwerbungsprofil und Schwerpunktbildung Ein Zentralarchiv wie das Bayerische Hauptstaatsarchiv mit seiner umfassenden und zeitlich knapp anderthalb Jahrtausende übergreifenden Aufgabenstellung ist nicht in ein starres Dokumentationsprofil zu übersetzen; die Vielfalt der zu berücksichtigenden Bereiche aus Staat und Gesellschaft würde eine Breite verlangen, die letztlich in Beliebigkeit enden muss.26 Zudem ist es schon angesichts der begrenzten Ressourcen unumgänglich, dass Erwerbungen im nichtstaatlichen Bereich einer Strategie folgen und nicht nur zufällig getätigt werden.27 Neben den grundlegenden Fragen nach dem Bezug zum eigenen Archivsprengel und zum Beständeprofil, also der Frage, ob eine Neuerwerbung die vorhandenen Bestände ergänzen lässe und Familienarchive beträgt (Stand: Ende 2020) 340, die der Sammlungsbestände rund 25. 25 Die Zahl der Bestände von Vereinen und Verbänden beträgt rund 75. Auch die Überlieferung von Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, die nicht selbst archivieren, fällt in den Aufgabenbereich der Abt. V, allerdings zählen diese (derzeit rund 15 Bestände) als Teil der mittelbaren Staatsverwaltung nicht unter das private Schriftgut. Die am frühesten ans BayHStA gelangten Bestände dieser Art waren der Bayerische Brauerbund, der Bayerische Jugendring, die Bayerische Landessiedlung und Überlieferung der Bayernpartei. 26 Hier sei nur daran erinnert, dass das BayHStA neben der regulären Überlieferung des Staates bzw. der jeweiligen Landesherren im Ausnahmefall eben auch Überlieferung zugewachsen ist, die sonst von eigenen Archivsparten bzw. -trägern verwahrt wird, etwa die Überlieferung parlamentarischer Körperschaften (wie dem Bayerischen Senat oder der Kammer der Reichsräte) oder kirchlicher Einrichtungen (z.B. Klöster). 27 Vgl. Bernhard Grau, Sammlungs- und Dokumentationsprofile – Eine Einführung aus Sicht der staatlichen Archive. In: Archive in Bayern 8 (2014) S. 157–175, v.a. S. 164 f. und S. 169–171.
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und damit die Quellengrundlage für die Forschung verbessern kann, spielt selbstverständlich die Frage nach der Archivwürdigkeit und der dauerhaften Archivierbarkeit der Überlieferung eine zentrale Rolle.28 Unter dem Eindruck der in den vergangenen Jahren verstärkt geführten Fachdiskussion zur Überlieferungsbildung unter den Stichworten „Dokumentationsprofile“29 und „Überlieferung im Verbund“30 haben auch die Staatlichen Archive Bayerns ein Dokumentations- und Erwerbungsprofil für nichtstaatliches Archivgut erarbeitet und in Kraft gesetzt.31 Im Jahr 2020 hat ergänzend dazu das Bayerische Hauptstaatsarchiv ein Erwerbungsprofil (zunächst für den Bereich Nachlässe) erarbeitet. In Anknüpfung an seinen gesetzlichen Auftrag bemüht es sich demnach vorrangig um Nachlässe von Persönlichkeiten von landesweiter oder zumindest überregionaler Bedeutung, die das öffentliche Leben in Bayern beeinflusst oder geprägt haben. Der Schwerpunkt liegt dabei in den Bereichen Politik, Militär, Verwaltung und Medien. Im Fokus stehen somit HerrscherEbd., v.a. S. 165 und 167. Vgl. Peter K. Weber, Das Dokumentationsprofil als Steuerungsinstrument archivischer Überlieferungsbildung. Ein Beitrag aus kommunaler Perspektive. In: Archive in Thüringen, Sonderheft 2005: Bewertung und Bestandsergänzung, S. 7–12. – Matthias Jehn, Dokumentationsprofil oder Samplebildung? Überlieferungsbildung am Beispiel von Prozessverfahrensakten der Staatsanwaltschaft Bochum. In: Alexandra Lutz (Hrsg.), Neue Konzepte für die archivische Praxis. Ausgewählte Transferarbeiten des 37. und 38. Wissenschaftlichen Kurses an der Archivschule Marburg (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 44), Marburg 2006, S. 157–188. – Dokumentationsprofil für Archive wissenschaftlicher Hochschulen. Eine Handreichung von Thomas Becker, Werner Moritz, Wolfgang Müller, Klaus Nippert und Max Plassmann, Saarbrücken 2009 – Irmgard Christa Becker, Arbeitshilfe zur Erstellung eines Dokumentationsprofils für Kommunalarchive. Einführung in das Konzept der BKK zur Überlieferungsbildung und Textabdruck. In: Archivar 62 (2009) S. 122–131. 30 Vgl. Matthias Röschner, Sammeln im Verbund. Archive und eine nationale Sammlungsstrategie. In: Archivar 67 (2014) S. 76–78. – Wilhelm Füssl, Sammlungsgut in Archiven – Strategien zu einer verteilten Sammlungspolitik. In: Archive in Bayern 5 (2009) S. 307–320. – Andreas Pilger, Ein neues Positionspapier des VdA-Arbeitskreises „Archivische Bewertung“ zur Überlieferungsbildung im Verbund. In: Archivar 65 (2012) S. 6–11. An der Formulierung des Positionspapiers war der Verfasser als Mitglied des Arbeitskreises Archivische Bewertung im VdA in den Jahren 2009–2013 – übrigens auf Anregung von Generaldirektorin Margit Ksoll-Marcon – mitbeteiligt. 31 Vgl. Grau (wie Anm. 27) S. 171–175. – Zu Erwerbungsprofilen weiterer Archive vgl. z.B. Manuela Lange, Sammlungsprofil Nachlässe und Bewertung von Nachlassbeständen. In: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv, Heft 16/2008, S. 58–59; Christian Schlöder, Überlieferungsprofil für nichtamtliches Archivgut im Niedersächsischen Landesarchiv. Überlegungen und Empfehlungen für die archivische Praxis (E-Papers der Archivschule Marburg 7), Marburg/Lahn 2019. 28 29
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persönlichkeiten, führende Repräsentanten aus Staat und Politik, leitende Bedienstete des Staates und der öffentlichen Verwaltung, Militärangehörige, politische Publizistinnen und Publizisten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Kulturschaffende, führende Vertreterinnen und Vertreter aus Vereinen und Verbänden und in Einzelfällen Personen, die ohne amtliche Funktion das öffentliche Leben geprägt haben. Das Bayerische Hauptstaatsarchiv übernimmt ferner Nachlässe und Ego-Dokumente eines darüber hinaus gehenden Personenkreises, wenn diese geeignet sind, wichtige politische und soziale Ereignisse und Phänomene zu erhellen. Als zeitlich-inhaltliche Schwerpunkte werden zudem bestimmte, in der amtlichen Überlieferung und im Bereich des Sammlungsgutes besonders breit dokumentierte Phänomene benannt, nämlich der Erste Weltkrieg, die Revolution 1918/1919, der Aufstieg des Nationalsozialismus, die Zeit der NS-Diktatur und die NS-Verfolgung (hier ist das Bayerische Hauptstaatsarchiv bestrebt, neben der Überlieferung zu den Tätern insbesondere auch das Andenken an die Opfer zu sichern), der Themenbereich Flucht und Vertreibung nach 1945 sowie allgemein die Staats- und Verfassungsentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Neben dem zunehmenden Fokus auf die Abdeckung des gesamten politischen Spektrums bei Nachlassgebern werden als neue Schwerpunkte für die Nachlasserwerbung insbesondere noch die Themenbereiche Umwelt-, Natur- und Klimaschutz sowie direkte Demokratie und bürgerschaftliches Engagement benannt.32 Durch die fachliche Verzahnung von Nachlasserwerb und dem Erwerb von sonstigem nichtstaatlichem Archivgut liegt es nahe, Synergieeffekte zu nutzen und bei Nachlassanfragen von vorneherein mehrgleisig zu fahren. Ein breiter Ansatz ist bislang vor allem im Bereich von Natur- und Umweltschutz sowie beim Thema bürgerschaftliche Mitwirkung und direkte Demokratie gelungen: Parallel zum Erwerb des Nachlasses des Vorkämpfers der Nationalparkbewegung und Gründungsdirektors im Bayerischen Wald, Hans Bibelriether (geb. 1933), konnten Verhandlungen mit dem national agierenden „Verein der Nationalpark-Freunde e.V.“ aufgenommen werden. Der Erwerb des Nachlasses von Prof. Hubert Weiger (geb. 1947), BUND-Vorsitzender und Mitglied der Kohlekommission der Bundesregierung, ging einher mit Verhandlungen über das Verbandsschriftgut des BUND Naturschutz in Bayern e.V., einem der ältesten und größten Das Erwerbungsprofil ist online zugänglich: https://www.gda.bayern.de/fileadmin/user_ upload/Medien_fuer_Unterseiten/BayHStA_Erwerbungsprofil-Nachlaesse.pdf (aufgerufen am 23.2.2021). 32
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Natur- und Umweltschutzverbände in Deutschland. Aus den Bemühungen um die Sicherung des Nachlasses verschiedener Politiker der in Bayern nicht unbedeutenden Ökopartei ÖDP entstanden Verhandlungen um eine Archivierungsvereinbarung zur Sicherung des Parteischriftgutes. Auch im Bereich der Bürgerinitiativen boten sich Synergieeffekte: Zwar sind die Unterlagen des bayernweiten Nichtraucher-Volksbegehrens 2010 weitgehend einem Donauhochwasser zum Opfer gefallen, der digitale Nachlass des Initiators Sebastian Frankenberger (geb. 1981) konnte aber erfolgreich übernommen werden. Auch das Gesicht des sogenannten Bienenvolksbegehrens (Volksbegehren Artenschutz 2019), die ÖDP-Politikerin Agnes Becker (geb. 1980), erhielt eine Nachlassanfrage, nicht ohne dabei die Überlieferung des Organisationsbüros des politischen Zweckbündnisses einzubeziehen. Der Erwerbungsschwerpunkt mit dem bisher größten Niederschlag ist der Bereich Flucht und Vertreibung als Folge der NS-Politik. Allein durch die Übernahme der reichhaltigen Bestände des damaligen Vereins „Sudetendeutsches Archiv e.V.“ 2007 als Depositum gelangten Unterlagen überwiegend privater Natur (Nachlässe, Sammlungen und die Überlieferung sudetendeutscher Gremien, Verbände und Vereine) im Umfang von einem knappen laufenden Kilometer an die Abt. V.33 Flankiert wird diese derzeit in rund 150 erschlossene Einzelbestände gegliederte Bestandsgruppe durch weitere Nachlässe von Vertriebenenpolitikern oder die erst jüngst neu erschlossene „Sammlung Flüchtlingswesen“, die sich aus den Druckschriftensammlungen zweier hoher, für das Flüchtlingswesen zuständiger Ministerialbeamter herleitet. Doch auch die zeitlich wesentlich früher fixierten Erwerbungsschwerpunkte können bisweilen noch erfolgreich mit Leben gefüllt werden. Volle 100 Jahre nach dem Tod des blinden Revolutionsführers Ludwig Gandorfer (1880–1918) konnte 2018 ein kleiner Nachlass zusammen mit dem seines Bruders, des Landtags- und Reichstagsabgeordneten Karl Gandorfer (1875–1932), von seinen Nachkommen übernommen werden.34 Hier ist zudem durch den Erwerb von Flugblättern und Plakaten aus der Zeit der Revolution und Räterepublik aus der Sammlung Friedrich Tretter Vgl. Ingrid Sauer, 10 Jahre Sudetendeutsches Archiv im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. In: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 73 (2017) S. 10. – Der Umfang hat sich durch die seither getätigten Neuerwerbungen nahezu verdoppelt. 34 Vgl. Thomas Paringer, Revolutionäres Bauerntum in Niederbayern: Nachlässe der Gebrüder Gandorfer übernommen. In: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 76 (2019) S. 61–62. 33
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(1877–1935) eine Ergänzung des Sammlungsbereiches gelungen. Der für das Bayerische Hauptstaatsarchiv besonders wichtige Themenbereich der NS-Geschichte ist in jüngerer Zeit ebenfalls durch neue Nachlässe, z.B. des führenden Statistikers der Nationalsozialisten Richard Korherr (1903– 1989) oder des Publizisten und frühen Nazigegners Fritz Gerlich (1883– 1934), unterfüttert worden.35 Besonders im Fokus steht in der Forschung natürlich die Überlieferung zu Adolf Hitler (1889–1945). Ergänzend zu seinem hier verwahrten Nachlass ist es durch Zukäufe und Schenkungen gelungen, sein persönliches Umfeld näher zu beleuchten. Mit Hilfe des Erwerbs eines kleinen Nachlasses seines Münchner Vermieters Hugo Schühle (1892–1954) lassen sich seine Wohnumstände am Prinzregentenplatz näher beleuchten, und durch die Schenkung einer Speisenliste aus dem Umfeld des Berchtesgadener Berghofs sind, wenn auch nur für einen kurzen Zeitraum, seine Speisegewohnheiten in außergewöhnlicher Deutlichkeit dokumentiert.36 Au ß e r p l a n m ä ß i g e E r w e r b u n g e n Bei aller Planung wird es bei einer großen Institution wie dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv jedoch nicht ausbleiben können, dass fallweise auch Zugänge zu verarbeiten sind, die nicht gezielt erworben wurden. Alternativ sind verschiedene Erwerbungswege vorstellbar: Neben dem anlassbezogenen Ankauf kommen insbesondere noch die Erwerbungswege Überlassung durch ausdrücklichen Schenkerwillen oder testamentarische Verfügung sowie – wenigstens in historischen Fällen – durch behördliche Sicherstellung bzw. Einziehung in Frage. Dass hier Ankäufe vorkommen, ist nur scheinbar widersprüchlich, denn es kann durchaus die Möglichkeit gegeben sein, dass Unterlagen zum Schutz vor der Verbringung ins Ausland oder vor dem Entzug für die Öffentlichkeit durch Einreihung in Vgl. Joachim Glasner, Nachlass Richard Korherr erschlossen. In: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 78 (2020) S. 43–44. – Thomas Paringer, Neuer Nachlass: Fritz Gerlich – Publizist, Archivar, Nazigegner … und bald auch Märtyrer? In: Ebd. Nr. 76 (2019) S. 62–63. 36 Das anhaltende wissenschaftliche Interesse am persönlichen Umfeld Adolf Hitlers (zuletzt etwa Roman Sandgruber, Hitlers Vater. Wie der Sohn zum Diktator wurde, Wien 2021, mit bis dahin unbekannten Briefen Alois Hitlers an den Verkäufer seines Bauernhofs) belegt die dringliche Notwendigkeit, diese (auch immer wieder im Handel auftauchenden) staatsfernen Privatquellen in öffentlichen Archiven für die Forschung zugänglich zu machen. 35
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eine private Sammlung sozusagen präventiv vom Staat erworben werden. Zudem entsteht durch bereits vorhandene Bestände natürlich ein gewisser Erwartungsdruck, dem argumentativ nur schwer zu begegnen ist.37 Die Überlassung durch Schenkung oder letztwillige Verfügung kann ebenfalls eine Ursache für die Übernahme von eigentlich nicht unmittelbar ins Überlieferungsschema passenden Inhalten sein. Als Beispiel könnte hier die exquisite Sammlung von Ex-Libris-Drucken genannt werden, die im Zusammenhang mit der Überlassung eines Familienarchivs als in sich geschlossene Sammlung, aber Teil der Gesamtschenkung, hierher gelangt ist. Diese klassischerweise mit Bibliotheksgut in Verbindung stehende Sammlung wäre eigenständig niemals Teil des Bayerischen Hauptstaatsarchivs geworden, wo sie aber nun als Bestand „Ex-Libris-Sammlung Waldenfels“ in die Bestandsgruppe der Spezialsammlungen eingereiht wurde. Die Überlieferung des Organisationskomitees der Karate-Weltmeisterschaft, die im Jahr 2000 in München stattfand, wäre hier als Beispiel zu nennen.38 Auch wenn die Unterlagen, die vom Geschäftsführer der zu diesem Anlass gegründeten GmbH schenkungsweise angeboten wurden, zunächst nur einen oberflächlichen Bezug zur Geschichte Bayerns erkennen lassen, so ist doch spätestens seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 unbestritten, dass sportliche Großereignisse von gesellschaftlicher Relevanz sind. Die Übernahme dieses Bestandes, der einen breiten Einblick in die Abläufe einer solchen Sportveranstaltung von der ersten vorbereitenden Korrespondenz volle zehn Jahre vor dem Ereignis bis zur abschließenden Rechnungslegung gibt und dabei alle Aspekte der Großveranstaltung beleuchtet, erfolgte auch aufgrund der Ankündigung des Eigentümers, ihn ansonsten zu vernichten. Noch geringeren eigenen Ermessensspielraum hat das Bayerische Hauptstaatsarchiv, wenn Unterlagen oder Gegenstände infolge behördlicher Sicherstellung quasi zugewiesen werden. Der prominenteste dieser Fälle ist sicherlich der Nachlass Adolf Hitler, der infolge einer Sicherstellung bei dessen ehemaliger Haushälterin Anni Winter (1905–1970) im Jahr 1950 über die Staatsanwaltschaft bzw. das Landesamt für Vermögensverwaltung Im Fall eines Familienarchivs, das im BayHStA als Depositum unter Eigentumsvorbehalt verwahrt worden ist und zu dem im Auktionshandel bisher vermisste Inhalte aufgetaucht sind, hat die staatliche Archivverwaltung den Ankauf übernommen, nachdem die Eigentümerfamilie einen Erwerb abgelehnt hat; zwischenzeitlich wurde das Eigentum am Familienarchiv aber auf den Freistaat übertragen. 38 Thomas Paringer, Unterlagen des Organisationskomitees der Karate-WM 2000 GmbH. In: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 76 (2019) S. 64. 37
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und Wiedergutmachung an die Staatlichen Archive Bayerns gelangte. Dort hat man diesen Bestand zunächst über lange Jahre unangetastet verwahrt, ehe er überhaupt erstmals gesichtet und schließlich als Bestand formiert und verzeichnet wurde. Zumindest handelt es sich hier im Kern um einen echten Nachlass, was den fachlichen Umgang erleichtert. Dennoch führte die bloße Tatsache seiner Existenz seither schon mehrmals dazu, dass dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv gegenständliches Sammlungsgut überlassen wurde, das dem vermeintlich musealen Nachlass ein- oder angereiht werden sollte; dadurch verwahrt das Bayerische Hauptstaatsarchiv inzwischen eine silberne Besteckgarnitur und ein Kleid aus der Hinterlassenschaft Eva Brauns (1912–1945).39 Noch unerwarteter erreichte das Bayerische Hauptstaatsarchiv eine Sammlung von NS-Devotionalien, die über eine Vermögenssteuerveranlagung der Witwe des letzten Besitzers auf Anregung der Finanzverwaltung dem Freistaat Bayern übereignet und dann der Archivverwaltung übergeben wurde. Obwohl auch hier schriftliche Dokumente und archivtypisches Sammlungsgut überwiegen, so findet sich doch eine ganze Reihe von – teils größerformatigen – Gegenständen. Durch den geschlossenen Sammlungscharakter, der sich u.a. in einer Nummernsystematik und einem Sammlungsstempel manifestiert, verbietet sich eine Aufteilung dieser Sammlung. Daher wurden die einzelnen Bestandteile gemäß der archivfachlichen Praxis eben mit Archivsignaturen versehen, die bei den gegenständlichen Elementen die Funktion einer im Museumsbereich üblichen Inventarnummer erfüllen und die Stücke damit identifizierbar und vor allem zitierbar machen. Die Erschließung der aus dem Besitz des zwielichtigen Fälschers Johannes von Müllern-Schönhausen (1901–1996, eigentlich Hans Müllern) stammenden sog. HBH-Sammlung (nach dem angeblichen Sammler Hans Bleyer-Härtl (vermutlich 1880–1942), einem Wiener NS-Anwalt, dessen Identität Müllern-Schönhausen zur Vortäuschung der Echtheit seiner Sammlung zweckentfremdete) bot zumindest die Gelegenheit, sämtliche vermeintlich oder wirklich auf Adolf Hitler und sein Umfeld bezogenen Sammlungsgegenstände der Abteilung Nachlässe und Sammlungen in einer Spezialsammlung zu vereinen und in die Beständesystematik als sonstige Sammlung einzureihen.40 Auch wenn sich Heute erfasst im Bestand BayHStA, Sammlung HBH et al. (Nr. 78–79). Bestand BayHStA, Sammlung HBH et al.; der durch Findbuch erschlossene Sammlungsbestand vereint nun neben der ursprünglichen HBH-Sammlung (mit einer Vielzahl von gefälschten Hitler-Autographen, Sammlungsstücken wie Briefmarken mit Widmungs39 40
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die im Steuerverfahren zunächst vermuteten siebenstelligen Wertansätze für die Sammlung nicht einmal ansatzweise erreichen ließen,41 so stellt dieser Bestand jedes Archiv nicht nur vor konservatorische und lagerungstechnische Herausforderungen,42 sondern gegebenenfalls auch vor benutzungsrechtliche Probleme. Schließlich soll eine missbräuchliche Nutzung für ideologische Ziele ausgeschlossen werden, während eine Zugänglichmachung zu wissenschaftlichen Zwecken natürlich ermöglicht werden soll. Um auch solche eher randständigen Bestände angemessen zugänglich machen zu können, ist es daher notwendig, die Archivtektonik möglichst nachvollziehbar und stringent, dennoch offen und erweiterbar zu gestalten. Nur auf diese Weise kann ein Archiv seiner Kernaufgabe, der Zugänglichmachung von Quellen für die Allgemeinheit, angemessen und verlässlich nachkommen. Die Führung von quasi geheimen, der Öffentlichkeit vorenthaltenen Sonderbeständen und Sammlungen abseits der archivgesetzlich geregelten Schutz- und Sperrfristen ist mit der Aufgabenstellung öffentlicher Archive nicht vereinbar. Sofern berechtigte Vorbehalte gegen eine Vorlage vorhanden sind, so sind diese mit dem vorhandenen rechtlichen Instrumentarium umzusetzen, nicht aber durch Geheimwissen des Archivpersonals.43 Je geringer also die Abweichungen einerseits vom Sammlungs- und Erwerbungsprofil und andererseits von der phänotypischen bzw. typologitexten, Gemälden und Zeichnungen angeblich von der Hand Adolf Hitlers, Gegenständen aus dem angeblichen Besitz Adolf Hitlers oder anderer bekannter Persönlichkeiten und nicht zuletzt mit Schriftverkehr und Gutachten, die die Authentizität der Sammlung belegen sollen) auch weitere NS-konnotierte Sammlungsstücke, etwa die oben erwähnte Hinterlassenschaft von Eva Braun oder weitere Gemälde und Zeichnungen, die der Urheberschaft Adolf Hitlers zugeschrieben wurden. Vgl. auch die Internetveröffentlichung „Hans Müllern alias Dr. Johannes von Müllern-Schönhausen. Poet, Nazi journalist, song writer and swindler. Version 1.4“, verfasst von Jaap van den Born, with assistance of Bart FM Droog, 2020 (https://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja &uact=8&ved=2ahUKEwjZtq_FtY_vAhUDrKQKHYNxD0oQFjAEegQICBAD&url=https %3A%2F%2Fwww.droog-mag.nl%2Fhitler%2Fdr-johannes-von-muellern-schoenhausen.pd f&usg=AOvVaw0OdBHTBQ1FLB907vxDB39e; aufgerufen am 27.2.2021). 41 Vgl. Staatsarchiv München, Finanzämter 35105 und 35106. 42 Vgl. Elke Höhny, Aufbewahrung von Sammlungsgut – konservatorische und restauratorische Maßnahmen. In: Archive in Thüringen, Sonderheft 2003: Sammlungen in Archiven, S. 33–36. 43 Vgl. dazu auch den Einführungsvortrag des Präsidenten des Bundesarchivs am 8. Bayerischen Archivtag 2013: Michael Hollmann, Die Welt ist bunt. Nicht-staatliche Bestände in staatlichen Archiven – Pflicht oder Kür? In: Archive in Bayern 8 (2014) S. 147–156, hier S. 156.
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schen Gestalt des Sammlungsguts sind, desto geringer werden die Zusatzaufwände und ablauforganisatorischen Probleme sein, die im Benutzungsfall bei derlei Sammlungen zu erwarten sind. Dennoch zeigen die vorgestellten Beispiele deutlich, dass ein striktes Beharren auf einem thematisch eng geführten Sammlungs- und Erwerbungsprofil für eine große Archivinstitution praktisch nicht möglich ist, sondern dass mit einer gewissen Unschärfe zu rechnen ist. Sie rührt aus der grundlegenden Eigenschaft der Archive als Gedächtnisorganisationen und der damit verbundenen Wahrnehmung in Gesellschaft und Verwaltung her. Sa m m e l n i m d i g i t a l e n Z e i t a l t e r So wie sich eingangs eine Analogie zwischen dem Bedürfnis nach Sammlung und Bewahrung der besonderen Zeiteindrücke der Corona-Krise und dem Bedürfnis Friedrich Rehses nach Bewahrung des Andenkens an Weltkrieg und Revolution herstellen ließ, so lässt sich jeweils eine Analogie bei der Beteiligung der (staatlichen) Archive an dieser Sammlungstätigkeit erkennen: In beiden Fällen war bzw. ist zunächst keine aktive Sammlungstätigkeit feststellbar. Die „riesige und sehenswerte Schriften- und Bildersammlung zur Kriegs- und Nachkriegszeit (Bücher, Broschüren, Zeitungen, Flugschriften, Handschriften, Plakate und Bilder von 1914–1924)“ mit vielen Einzelstücken, die ohne die Bemühungen Rehses „verloren gegangen oder doch mindestens für die Oeffentlichkeit unerreichbar geblieben wären (namentlich Plakate, Handschriften, Bilder)“44, wurde 1925 zwar von der bayerischen Archivverwaltung gefällig zur Kenntnis genommen, eigene Initiativen zog dieses Beispiel jedoch noch für Jahrzehnte kaum nach sich.45 Dennoch ist derlei Sammlungsgut ein Jahrhundert später nicht nur selbstverständlich im Blick der Archive, sondern bildet im Fall des Bayerischen Hauptstaatsarchivs sogar die Ursprünge und den Schwerpunkt der großen allgemeinen Sammlungsbestände. Diese werden dort inzwischen erwartet, gesucht und gefunden – dies jedoch erst, nach-
So der damalige Generaldirektor der Staatlichen Archive Riedner 1925 an Rehse bzw. in einem Umlauf an seine Mitarbeiter, vgl. BayHStA, GDion Archive 2487d. 45 Eine Weisung der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns an das BayHStA zum Aufbau einer zeitgeschichtlichen Sammlung erging erst 1965, vgl. BayHStA, Altablage Abteilungsregistratur V und BayHStA, NL Jaroschka 110. 44
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dem auch die Geschichtswissenschaft ihre Methodik erweitert und die „neuen“ Quellengruppen in den Blick genommen hatte.46 In der Gegenwart mag es noch vereinzelt Archivar*innen geben, die dem Aufruf des „coronarchivs“ zur „Sammlung, Archivierung, Kontextualisierung und langfristigen Bereitstellung von persönlichen Erinnerungen und Fundstücken zur „Corona-Krise“ […]“ von „Texten, wie Tagebücher, Briefe, E-Mails, Gedichte, Artikel in Zeitungen und Zeitschriften, Einkaufszettel, Einsatzberichte, Aushänge, Warnhinweise, Verordnungen über Fotos, Zeichnungen, Bilder, Videos, Chats und Social Media Posts bis hin zu Sprachnachrichten, Songs und Lesungen“ in digitaler oder digitalisierter Form mit Skepsis gegenüber stehen.47 Dies dürfte teilweise dem Medienbruch geschuldet sein, der mit dem Eintritt des digitalen Zeitalters einhergeht und der sicherlich deutlich spürbarer ist, als die Öffnung für privates Sammlungs- und Nachlassschriftgut, wie sie die Archivarinnen und Archivare des frühen 20. Jahrhunderts erlebt haben. Tatsache ist aber, dass die derzeitigen organisatorischen wie technischen Voraussetzungen zur Sammlung solcher Gegenwartszeugnisse auf Seiten vieler Archive (und wohl gleichzeitig zur Rezeption und Auswertung auf Seiten der Wissenschaft) zwar konzeptionell angelegt, praktisch aber noch nicht hinreichend vorhanden sind.48 Dies mag kritisiert werden, lässt sich aber kurzfristig Vgl. zu aktuellen zeitgeschichtlichen Forschungshürden vorwiegend für den österreichischen Raum Iris Eisenberger – Daniel Ennöckl – Ilse Reiter-Zatloukal (Hrsg.), Zeitgeschichtsforschung im Spannungsfeld von Archiv-, Datenschutz- und Urheberrecht, Wien 2018. 47 Projektbeschreibung „coronarchiv“ (https://coronarchiv.geschichte.uni-hamburg.de/projec tor/s/coronarchiv/page/basics; aufgerufen am 1.2.2021). 48 Vgl. Tamara Kefer, Nutzungsorientierung, Standardisierung und Open Data. Überlegungen zur Erschließung von Sammlungsgut am Beispiel des Grazer Archivinformationssystems (GAIS). In: Scrinium 73 (2019) S. 27–38. – Corinna Knobloch, Digitale Sammlungen der Johannes-Wagner-Schule Nürtingen. Ein internationales Projekt zur Bewertung und Erschließung digitaler Unterlagen. In: Landesarchiv Baden-Württemberg, Archivnachrichten Nr. 54 (2017) S. 44. – Peter Haslinger, Wissensvermittlung im Zeitalter der Informationsgesellschaft. Archive und Sammlungen im digitalen Wandel. In: Jens Aspelmeier (Hrsg.), Transparenz für die Bürger? Perspektiven historischer Öffentlichkeitsund Bildungsarbeit in Archiven. Beiträge zum 17. Archivwissenschaftlichen Kolloquium der Archivschule Marburg (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 57), Marburg 2014, S. 31–50. – Ulrich Niess – Michael Wettengel – Robert Zink, Digitalisierung von archivischem Sammlungsgut. Empfehlungen der Bundeskonferenz der Kommunalarchive beim deutschen Städtetag. In: Der Archivar 59 (2006) S. 323–329. – Edward M. Corrado – Heather Léa Moulaison, Digital preservation for libraries, archives, and museums, 2. Auflage, New York-London 2017. 46
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nur schwer ändern. Dagegen vermag der Blick zurück als Analogie für die Zukunft durchaus Hoffnung geben: In nicht allzu ferner Zeit werden auch die Archive uneingeschränkt willens und in der Lage sein, derlei digitale Gedächtnisprojekte selbstverständlich in ihren digitalen Quellenfundus zu übernehmen und damit auf Dauer zu verwahren und zugänglich zu machen. Spätestens wenn private oder institutionelle Sammler ihre Datenmengen nicht mehr sinnvoll verwalten bzw. den digitalen Wandel technisch nicht mehr mitgehen können, werden die Archive und andere Gedächtnisinstitutionen die gesuchten Ansprechpartner sein, da nur sie eine im Wortsinn dauernde Aufbewahrung garantieren können. Dass sich auch die Staatlichen Archive Bayerns dieser notwendigen Wandlung gestellt haben, dafür hat die scheidende Generaldirektorin Dr. Margit Ksoll-Marcon in ihrer Amtszeit die Weichen gestellt.49
Kai Naumann – Michael Puchta (Hrsg.), Kreative digitale Ablagen und die Archive. Ergebnisse eines Workshops des KLA-Ausschusses Digitale Archive am 22./23. November 2016 in der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns (Sonderveröffentlichungen der Staatlichen Archive Bayerns 13), München 2017. – Michael Puchta, Von den „born“ zu den „used digitals“. Der künftige digitale Lesesaal der Staatlichen Archive Bayerns. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs (Digitale Archivierung. Innovationen – Strategien – Netzwerke) 59 (2016) S. 101–108. – Ders., EAD(DDB) – ein neues Metadatenprofil für die Staatlichen Archive Bayerns. In: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 67 (2014) S. 19. – Ders., Der Aufbau des Digitalen Archivs der Staatlichen Archive Bayerns – ein Werkstattbericht. In: Ebd. Nr. 64 (2013) S. 36. – Ders., Die Reform der Datenstrukturen in FAUST – ein Schlüsselprojekt der Staatlichen Archive Bayern. In: Ebd. Nr. 63 (2012) S. 16–17. 49
Brauchen wir eine neue Archivwissenschaft? – Plädoyer für eine kritische Debatte über aufgabenspezifische Anforderungen bei der digitalen Archivierung Von Michael Puchta Archivwissenschaft – eine von Obsoleszenz b e d r o h t e Fa c h d i s z i p l i n In ihrer Amtszeit als Generaldirektorin der Staatlichen Archive hat sich Margit Ksoll-Marcon stets für einen lebendigen archivwissenschaftlichen Diskurs eingesetzt und dabei betont, dass archivarisches Handeln auch „in Zeiten digitaler Transformation“ nicht ohne eine theoretische Fundierung zum Erfolg führen kann: „Die Vorstellung und Diskussion von best practices im Rahmen der praktischen oder angewandten Archivwissenschaft ist nur eine Herangehensweise. Parallel dazu muss die theoretische Archivwissenschaft in Verbindung mit digitalen Objekten und Informationen fortgeschrieben werden“1. Dieser Appell hat bis heute nichts von seiner Gültigkeit verloren: Angesichts der Herausforderung der Archivierung digitaler Unterlagen wurde und wird wie schon lange nicht mehr um grundlegende, sich oft diametral unterscheidende archivwissenschaftliche Positionen gerungen. Gegenstände dieses Diskurses sind dabei keineswegs nur konkrete archivtheoretische Sachfragen, sondern auch die Daseinsberechtigung der Archivwissenschaft als einer ex institutionibus erwachsenen und durch ihre wissenschaftliche Methodik mit dem Bezugspunkt des Archivs definierte Fachdisziplin2. Brauchen wir also überhaupt noch die Archivwissenschaft in ihrer tradierten Form? Margit Ksoll-Marcon, Bayerische Archivschule startet Reihe der Fachgespräche. In: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayern Nr. 76/2019, S. 31–32, hier S. 31 (Zitat ebd.). – Laura Scherr, Fachgespräch „Archivwissenschaft in Zeiten digitaler Transformation“. In: Ebd. S. 32–34, hier S. 32 (Zitat ebd.). 2 Johannes Papritz, Archivwissenschaft Band (Bd.) 1. Teil I: Einführung, Grundbegriffe, Terminologie. Teil II,1: Organisationsformen des Schriftgutes in Kanzlei und Registratur – Erster Teil, 2. Auflage, Marburg 1983, S. 1–34. – V. N. Avtokratov, Die allgemeine Theorie der Archivwissenschaft. In: Archivmitteilungen 24 (1974) S. 86–93, hier S. 86–92. – Hermann Rumschöttel, Die Entwicklung der Archivwissenschaft als wissenschaftliche Disziplin. In: Archivalische Zeitschrift (AZ) 83 (2000) S. 7–21, hier S. 7–17. – Robert 1
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Digitale Archivierung – Von der fachspezifischen Wissenschaft zum universalen Handwerk? 2012 erklärten die Veranstalter eines der traditionsreichsten Foren des archivfachlichen Austausches, dem 72. Südwestdeutschen Archivtag, den Umgang mit der digitalen Überlieferung zu nicht weniger oder mehr (?) als einem „neue[n] Handwerk“3. Bei der Wahl des Tagungsmottos ging es zweifellos darum, die – gar nicht mehr so große – Novität der archivfachlichen Beschäftigung mit (Retro)-Digitalisaten und genuin elektronischen Unterlagen als „neue Formen von Archivgut“ herauszustellen, die auch „der Forschungs- und Bildungsarbeit in den Archiven neue Horizonte“ erschließen sollte4. Im Rückblick von einem Jahrzehnt entfaltet der Slogan vom „neue[n] Handwerk“ jedoch eine geradezu prophetische, damals sicher nicht intendierte zweite Bedeutungsebene: Sowohl im heute dominierenden Diskurs als auch in der gelebten Praxis zu den verschiedenen Facetten der digitalen Archivierung in Deutschland ist eine bewusste Distanzierung von einer Auseinandersetzung mit den Archiven als mit spezifischen Fachaufgaben per Legaldefinition betrauten Institutionen festzustellen. D.h. ungeachtet unterschiedlicher Aufgaben, vielfach kaum vergleichbarer digitaler Objekte sowie eigenständiger fachwissenschaftlicher Traditionen ist ein seit der Jahrtausendwende immer stärkerer Trend zu einer kulturgutspartenübergreifenden Informationswissenschaft von der digitalen Archivierung festzustellen. Symbolisch steht hierfür die In stitutionalisierung des aus einer Abfolge von Förderprojekten hervorgegangenen Kooperationsverbundes nestor „für die Langzeitarchivierung und
Kretzschmar, Quo vadis – Archivwissenschaft? Anmerkungen zu einer stagnierenden Diskussion. In: AZ 93 (2013) S. 9–32, hier S. 9–16, 27–31. – Zuletzt hat Gerhard Leidel (Untersuchungen zur Achivwissenschaft. In: AZ 95 (2017) S. 27–86, hier passim, insbesondere aber S. 27, 32) den Versuch unternommen, die Archivwissenschaft von der Ebene der paktischen Aufgaben der Archive und des in ihnen verwahrten Materials zu lösen und auf ein vom Praxiszweck losgelöstes, in sich logisches System von Termini und Feststellungen zu abstrahieren. 3 Robert Kretzschmar, Vorwort. In: Kai Naumann – Peter Müller (Hrsg.), Das neue Handwerk. Digitales Arbeiten in kleinen und mittleren Archiven. Vorträge des 72. Südwestdeutschen Archivtags am 22. und 23. Juni 2012 in Bad Bergzabern, Stuttgart 2013, S. 4–5, hier S. 4 (Zitat ebd.). Kai Naumann, Einführung. In: Ebd. S. 6–7, hier S. 7. 4 Kretzschmar, Vorwort (wie Anm. 3) S. 4 f. – Naumann, Einführung (wie Anm. 3) S. 6 (Zitate ebd.).
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Langzeitverfügbarkeit digitaler Ressourcen“ im Jahr 20095. Unter dessen aktiven und assoziierten Partnern bilden ungeachtet des zitierten Zwecks des Zusammenschlusses die Archive eine verschwindende Minderheit6. Aber auch der jährliche Reigen wissenschaftlicher Tagungen kommt selbst bei genuin archivischen Veranstaltungen ohne die Beiträge der Experten anderer Fachdisziplinen zur digitalen Archivierung nicht mehr aus7. Auch nestor – Kompetenznetzwerk digitale Langzeitarchivierung https://www.langzeitarchivierung.de/Webs/nestor/DE/nestor/nestor_node.html (Zitat ebd.) (aufgerufen am 15.11.2020). nestor – Projektgeschichte https://www.langzeitarchivierung.de/Webs/nestor/DE/nestor/Ueber_uns/projektartikel.html?nn=182312#doc187308bodyText4 (aufgerufen am 15.11.2020). – Christian Keitel – Kai Naumann, Einleitung. In: Dies. (Hrsg.), Digitale Archivierung in der Praxis. 16. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ und nestor-Workshop „Koordinierungsstellen“ (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, H. 24), Stuttgart 2013, S. 11–15, hier S. 11. 6 nestor – Partner https://www.langzeitarchivierung.de/Webs/nestor/DE/nestor/Partner/partner_node.html (aufgerufen am 15.11.2020). – Vgl. auch: Christian Keitel, Warum ist Kooperation bei der digitalen Archivierung unumgänglich? In: Christian Keitel – Kai Naumann (Hrsg.), Digitale Archivierung in der Praxis. 16. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ und nestor-Workshop „Koordinierungsstellen“ (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, H. 24), Stuttgart 2013, S. 281–288, hier S. 288. 7 Beispielhaft: Keitel – Naumann, Einleitung (wie Anm. 5) S. 11–15. – Jörg Filthaut, Vorwort des Herausgebers. In: Ders. (Hrsg.), Von der Übernahme zur Benutzung. Aktuelle Entwicklungen in der digtalen Archivierung. 18. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ am 11. und 12. März 2014 in Weimar (Schriften des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar 6), Weimar 2014, S. 7. – Maurice Heinrich – Felix Schäfer, IANUS: Archivierung von digitalen Forschungsdaten in den Altertumswissenschaften. In: Ebd. S. 11–20. – Christoph Ferle, Ein integriertes, digitales Bewertungsmodell am Beispiel eines Vorgangsbearbeitungssystems. In: Ebd. S. 43–46. – Jürgen Enge – Heinz Werner Kramski, „Arme Nachlassverwalter …“. Herausforderungen, Erkenntnisse und Lösungsansätze bei der Aufbereitung komplexer digitaler Datensammlungen. In: Ebd. S. 53–62. – Dietrich von Seggern, Systemunabhängige Archivierung von Projektakten mit PDF/3. In: Ebd. S. 65–66. – Martin Lüthi – Lambert Kansy, Machbarkeitsstudie zum digitalen Lesesaal. Ein gemeinsamer Ansatz der Staatsarchive Basel-Stadt und St. Gallen. In: Ebd. S. 105–112. – Felix Akeret, Anforderungen an und Praxisbeispiele für das Rechtemanagement beim Access in der digitalen Archivierung. In: Ebd. S. 113–115. – Lone Smith Jespersen, Sofia – a tool for access to data and documents from IT-Systems. In: Ebd. S. 117–118. – Andreas Hitzel – Jürgen Tabert, Nutzung von Daten im Ursprungsformat. In: Ebd. S. 119–120. – Stefan Lucks, Digitale Magazine ohne eigenen Speicher. Wie man die Integrität „fremdgespeicherter“ Archivalien sicherstellen kann. In: Ebd. S. 123–127. – Karlheinz Schmitt, Kosten der digitalen Archivierung. Ein mögliches Vorgehensmodell und erste Erfahrungen. In: Christian Keitel – Kai Naumann (Hrsg.), Digitale Archivierung in der Praxis. 16. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ und nestor-Workshop „Koordinierungsstellen“ (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, H. 24), Stutt5
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die beiden DIN-Normen 31644 zur vertrauenswürdigen digitalen Archigart 2013, S. 19–29. – Rolf Lang, Die elektronische Grundakte in G-DIMAG. In: Ebd. S. 129–141. – Claire Röthlisberger-Jourdan, Formaterkennung und Formatvalidierung. Theorie und Praxis. In: Ebd. S. 193–209. – Steffen Schwalm, Der Nachfolger des DOMEA®-Konzepts Das Organisationskonzept elektronische Verwaltungsarbeit und seine Auswirkungen auf die elektronische Archivierung. In: Ebd. S. 231–252. – Ders., Nutzung zentraler IT-Dienstleister zur elektronischen Archivierung – Chancen, Risiken, Lösungen. In: Matthias Manke (Hrsg.), Auf dem Weg zum digitalen Archiv. Stand und Perspektiven von Projekten zur Archivierung digitaler Unterlagen. 15. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ am 2. und 3. März 2011 in Schwerin (Veröffentlichung des Landeshauptarchivs Schwerin), Schwerin 2012, S. 22–34. – Ders., Normung und Best Practices im Records Management. Mehrwert der ISO-15489. In: Staatsarchiv St. Gallen (Hrsg.), Entwicklung in den Bereichen Records Management / Vorarchiv – Übernahme – Langzeitarchivierung. 13. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ vom 27./28. April 2009 ausgerichtet vom Staatsarchiv St. Gallen (Veröffentlichungen des Staatsarchivs St. Gallen), St. Gallen 2009, S. 27–30. – Jens Ludwig, Wege ins Archiv – Der nestor-Leitfaden für die Informationsübernahme. In: Ebd. S. 50–56. – Reinhard Schal, Langzeitarchivierung. Umsetzung im DV-Verbund Baden-Württemberg. In: Kai Naumann – Peter Müller (Hrsg.), Das neue Handwerk. Digitales Arbeiten in kleinen und mittleren Archiven. Vorträge des 72. Südwestdeutschen Archivtags am 22. und 23. Juni 2012 in Bad Bergzabern, Stuttgart 2013, S. 51–53. – Karl-Theo Heil, Die Schnittstellen von Augias-Archiv – Schnittstellen zu DMS, Digitalen Archiven und Archivportalen. In: Staatsarchiv Österreich, Generaldirektion (Hrsg.), Digitale Archivierung. Innovationen – Strategien – Netzwerke (= Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 59, 2016) S. 49–56. – Felix Akeret, Dedicated Private Cloud – ein Lösungsansatz im Spannungsfeld zwischen Datenhoheit und Mandantenfähigkeit. In: Ebd. S. 57–62. – Steffen Schwalm, Langzeitspeicherung und Archivierung – zwei Seiten einer Medaille! Aktuelle Standards und Normen zur beweiswerterhaltenden Aufbewahrung elektronischer Unterlagen. In: Ebd. S. 71–89. – Martin Lüthi – Lambert Kansy, digitalAccess2archives: Werkstattbericht digitaler Lesesaal. Ein Projekt der Staatsarchive St. Gallen und Basel-Stadt. In: Ebd. S. 109–123. – Michael Panitz – Michelle Lindlar, Preservation Planning im Kontext des EU-Projekts „DURAARK“. In: Ebd. S. 135–148. – Claire Röthlisberger-Jourdan, TIFF – Preservation Process in der Praxis. In: Ebd. S. 149–162. – Alexander Herschung, Zur Langzeitarchivierung von Webseiten – Ein Lösungsvorschlag. In: Ebd. S. 189–201. – Michaela Mayr, Kulturgut Web. In: Ebd. S. 215–220. – Gabriele Fröschl – Johannes Kapeller, Digitale Nachhaltigkeit – Ansätze an der Österreichischen Mediathek. In: Ebd. S. 233–241. – Christian Fabian Näser – Alexander Herschung, Übernahme unstrukturierter Dateisammlungen mit startext COMO. In: Kai Naumann – Michael Puchta (Hrsg.), Kreative digitale Ablagen und die Archive. Ergebnisse eines Workshops des KLA-Auschusses Digitale Archive am 22./23. November 2016 in der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns (Sonderveröffentlichungen der Staatlichen Archive Bayerns 13), München 2017, S. 79–84. – Bart Klein – Andreas Steigmeier – Tobias Wildi, docuteam packer – Informationspakete bilden und kontrolliert bewirtschaften. In: Ebd. S. 93–96. – Rainer Ullrich, Schriftgutverwaltung und elektronische Akten: Ein unterschätzter Erfolgsfaktor. In: Barbara Hoen (Hrsg.), Planungen, Projekte, Perspektiven. Zum Stand der Archivierung elektronischer Unterlagen. 10.
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vierung und insbesondere 31645 zur Informationsübernahme in digitale Langzeitarchive zielen ebenso auf ein institutionen- und disziplinübergreifendes Zielpublikum wie die derzeit verfügbaren Zertifizierungsangebote für digitale Archive: das auf DIN 13644 basierende nestor-Siegel für vertrauenswürdige digitale Langzeitarchive, das CoreTrustSeal als Nachfolger des Data Seal of Approval sowie ISO 16363 und 169198. Auf archivariTagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“. 14. und 15. März 2006 in Düsseldorf (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen 10), Düsseldorf 2006, S. 29–37. – Hans Liegmann, Web-Harvesting: Aktivitäten von Nationalbibliotheken. In: Ebd. S. 57–65. – Reinhard Altenhöner, Zur Archivierung Digitaler Amtlicher Druckschriften – Überlegungen im Kontext der Bibliotheken. In: Ebd. S. 67–80. – Tim Dahlmanns – Kai Naumann, Von der Theorie zur Praxis: Bestandserhaltung digitaler Unterlagen. Workshop des KLA-Ausschusses Digitale Archive. Bundesarchiv Koblenz, 7./8. November 2018. Tagungsdokumentation https://www.bundesarchiv. de/DE/Content/Downloads/KLA/tagungsdokumentation-bestandserhaltung-dig-unterlagen. pdf?__blob=publicationFile (aufgerufen am 1.1.2021). Vgl. hierzu: Die Autorinnen und Autoren. In: Kai Naumann – Peter Müller (Hrsg.), Das neue Handwerk. Digitales Arbeiten in kleinen und mittleren Archiven. Vorträge des 72. Südwestdeutschen Archivtags am 22. und 23. Juni 2012 in Bad Bergzabern, Stuttgart 2013, S. 94–95, hier passim Autorinnen und Autoren. – In: Christian Keitel – Kai Naumann (Hrsg.), Digitale Archivierung in der Praxis. 16. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ und nestor-Workshop „Koordinierungsstellen“ (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, H. 24), Stuttgart 2013, S. 317–321, hier S. 318–320, Verzeichnis der Autorinnen und Autoren. – In: Staatsarchiv Österreich, Generaldirektion (Hrsg.), Digitale Archivierung. Innovationen – Strategien – Netzwerke (= Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 59, 2016) S. 243–244, hier passim, Autorenverzeichnis. – In: Kai Naumann – Michael Puchta (Hrsg.), Kreative digitale Ablagen und die Archive. Ergebnisse eines Workshops des KLA-Auschusses Digitale Archive am 22./23. November 2016 in der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns (Sonderveröffentlichungen der Staatlichen Archive Bayerns 13), München 2017, S. 104, Autorenverzeichnis. – In: Barbara Hoen (Hrsg.), Planungen, Projekte, Perspektiven. Zum Stand der Archivierung elektronischer Unterlagen. 10. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“. 14. und 15. März 2006 in Düsseldorf (Veröffentlichungen des Landesarchivs NordrheinWestfalen 10), Düsseldorf 2006, S. 123–125, hier passim u. Autorinnen und Autoren. – In: Jörg Filthaut (Hrsg.), Von der Übernahme zur Benutzung. Aktuelle Entwicklungen in der digtalen Archivierung. 18. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ am 11. und 12. März 2014 in Weimar (Schriften des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar, Bd. 6), Weimar 2014, S. 129–131, hier passim. 8 DIN 31644: Information und Dokumentation – Kriterien für vertrauenswürdige digitale Langzeitarchive, S. 4–6, 22. – DIN 31645: Information und Dokumentation – Leitfaden zur Informationsübernahme in digitale Langzeitarchive, S. 7–9. – nestor-Siegel für vertrauenswürdige digitale Langzeitarchive https://www.langzeitarchivierung.de/Webs/nestor/ DE/Zertifizierung/nestor_Siegel/siegel.html (aufgerufen am 30.11.2020). – ����������� PTAB – Primary Trustworthy Digital Repository Authorisation Body Ltd – Audit & Certification
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scher Seite hat Christian Keitel bereits 2008/2011 sowie erneut in seinem lesenswerten Thesenbuch von 2018 diesen Trend durch ein Plädoyer für eine disziplin- und institutionenübergreifende, den verschiedenen Gedächtnisinstitutionen gemeinsame „erneuerte und umfassender verstandene“, „integrative“ oder schlicht „neue Archivwissenschaft“ Rechnung getragen9. Doch nicht nur die Distanzierung von einer klassisch-achivwissenschaftlichen Betrachtungsweise der Herausforderungen der digitalen Archivierung zugunsten einer allgemeinen, wesentlich auf den Arbeiten der sogen. neuen digitalen Archive aufbauenden Informationswissenschaft bestimmt heute den Diskurs10. Hinzu kommt eine Entwicklung, die nicht erst auf der Tagung von Bergzabern 2012 deutlich hervortrat: die Betonung der manuellen Tätigkeiten bei der digitalen Archivierung und des sich aus derartiger praktischer Erfahrung ableitenden Erkenntnisgewinns11. Vor – Certified clients http://www.iso16363.org/iso-certification/certified-clients/ (aufgerufen am 30.11.2020). – Data Seal of Approval Synopsis (2008–2018) https://www.coretrustseal. org/about/history/data-seal-of-approval-synopsis-2008-2018/ (aufgerufen am 30.11.2020). – Core Certified Repositories https://www.coretrustseal.org/why-certification/certified-repositories/ (aufgerufen am 30.11.2020). – Natascha Schuhmann, Vertrauenswürdige digitale Archive. Aufwand und Nutzen von Selbst-Evaluierung und Zertifizierung. In: Staatsarchiv Österreich, Generaldirektion (Hrsg.), Digitale Archivierung. Innovationen – Strategien – Netzwerke(= Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 59, 2016) S. 91–99, hier S. 92–95. – Christian Keitel, Zwölf Wege ins Archiv. Umrisse einer praktischen und offenen Archivwissenschaft, Stuttgart 2018, S. 150 f. – Ders., Authentische Archive: Wunsch und Wirklichkeit. In: Tobias Herrmann (Redaktion), Verlässlich, richtig, echt – Demokratie braucht Archive! 88. Deutscher Archivtag 2018 in Rostock (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Achivtag 23), Fulda 2019, S. 123–131, hier S. 130. 9 Keitel, Wege (wie Anm. 8) passim, insbes. aber S. 9 f., 14–21, 241 f. (Zitate ebd., S. 9 f., 17, 21). – Ders., Archivwissenschaft zwischen Marginalisierung und Neubeginn. In: Archivar 64 (2011) S. 33–37 (Zitat ebd., S. 33). – Vgl auch: Kretzschmar, Quo vadis (wie Anm. 2) S. 11. 10 Christian Keitel, Der nestor-Leitfaden zur Digitalen Bestandserhaltung und seine Folgen für die Archive. In: Christian Keitel – Kai Naumann (Hrsg.), Digitale Archivierung in der Praxis. 16. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ und nestor-Workshop „Koordinierungsstellen“ (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, H. 24), Stuttgart 2013, S. 267–277, hier S. 267 f. (Zitat ebd., S. 267). 11 Kretzschmar, Vorwort (wie Anm. 3) S. 4 f. – Naumann, Einführung (wie Anm. 3) S. 6–7. – Joachim Kemper – Kai Naumann, Selbermachen! Praktische Tipps zur Archivierung digitaler Unterlagen, Digitalisierung und Öffentlichkeitsarbeit im Netz. In: Kai Naumann – Peter Müller (Hrsg.), Das neue Handwerk. Digitales Arbeiten in kleinen und mittleren Archiven. Vorträge des 72. Südwestdeutschen Archivtags am 22. und 23. Juni 2012 in Bad Bergzabern, Stuttgart 2013, S. 85–92, hier S. 85–88. – Ivar Fonnes,
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diesem Hintergrund ist auch die Diskussion über die Erfordernis zur Vermittlung informationstechnischer Fähigkeiten in der archivischen Ausbildung bis hin zum „Archiv-Informatiker“ und „EDV-Archivar“ zu sehen12. Die skizzierten Entwicklungen – insbesondere die Übertragung von Konzepten, die nicht in den Archiven selbst entwickelt worden sind – auf die archivischen Tätigkeitsfelder der digitalen Überlieferungsbildung und -sicherung sind keineswegs ohne Widerspruch geblieben. Frank M. Bi-
Methoden zur Langzeiterhaltung elektronischer Informationen. In: Udo Schäfer – Nicole Bickhoff (Hrsg.), Archivierung elektronischer Unterlagen (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, H. 13), Stuttgart 1999, S. 213–222, hier S. 217–218. – Vgl. auch: Keitel, Archivwissenschaft (wie Anm. 9) S. 34. – Annekathrin Miegel – Sigrid Schieber – Christoph Schmidt, Vom richtigen Umgang mit kreativen digitalen Ablagen. In: Kai Naumann – Michael Puchta (Hrsg.), Kreative digitale Ablagen und die Archive. Ergebnisse eines Workshops des KLA-Auschusses Digitale Archive am 22./23. November 2016 in der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns (Sonderveröffentlichungen der Staatlichen Archive Bayerns 13), München 2017, S. 7–16, hier S. 7. – Kai Naumann, Welche Schritte erfordert die Aufbereitung von Dateisammlungen und welche Querschnitts- und Spezialwerkzeuge werden gebraucht? In: Ebd. S. 44–60, hier S. 44. – Ders., Ungelöstes Problem oder ignorierte Aufgabe? Web-Archivierung aus Sicht deutschsprachiger Archive. In: Archive in Bayern 6 (2010) S. 83–95, hier S. 85. 12 Karin Schwarz, Wir verändern uns, aber wir bleiben, was wir sind: Archivarinnen und Archivare! Archivarische Kompetenzen im digitalen Zeitalter. In: Monika Storm (Redaktion), Transformation ins Digitale. 85. Deutscher Archivtag 2015 in Karlsruhe (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Achivtag 20), Fulda 2017, S. 193–206, hier S. 195 f., 205 f. – Wolfgang Krauth, (Nicht nur) Archivare in der digitalen Welt. In: Ebd. S. 207– 210, hier S. 208 f. (Zitat ebd., S. 208). – Hans Christian Herrmann, Digitale Herausforderung meistern Organisation, Selbstverständnis und Methoden der Archive im Wandel. In: Kai Naumann – Peter Müller (Hrsg.), Das neue Handwerk. Digitales Arbeiten in kleinen und mittleren Archiven. Vorträge des 72. Südwestdeutschen Archivtags am 22. und 23. Juni 2012 in Bad Bergzabern, Stuttgart 2013, S. 8–19, hier S. 12. – Karljosef Kreter, Modelle für den Umgang mit digitalem Schriftgut in Kommunalarchiven. In: Udo Schäfer – Nicole Bickhoff (Hrsg.), Archivierung elektronischer Unterlagen (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, H. 13), Stuttgart 1999, S. 51–64, hier S. 53 (Zitat ebd.). – Fonnes (wie Anm. 11) S. 215, 222.
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schoff13, Michael Unger14, Benjamin Bussmann15, Bernhard Grau16, Peter Worm mit Nicola Bruns17, der Verfasser dieser Zeilen18 und andere19 haben Frank M. Bischoff, Bewertung elektronischer Unterlagen und die Auswirkungen archivarischer Eingriffe auf die Typologie zukünftiger Quellen. In: Archivar 67 (2014) S. 40–52, hier S. 40–48, insbes. aber S. 44–50. 14 Michael Unger, Vom Archivale zum Archival Information Package. Digitales Archivgut als Herausforderung für die Archivwissenschaft? In: AZ 97 (2021) S.129–146, hier S. 134–146. – Ders. – Markus Schmalzl, Digitales Verwaltungshandeln nachvollziehbar archivieren oder: Was ist die (E)Akte? In: Archivar 73 (2020) S. 371–378, hier S. 375 f. 15 Benjamin Bussmann, Die Bestandserhaltung digitaler Informationen mittels der Definition von signifikanten Eigenschaften. Masterarbeit im berufsbegleitenden Fernstudiengang Archivwissenschaft an der Fachhochschule Potsdam Fachbereich Informationswissenschaft, Potsdam 2014/15 https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:kobv:525-8831 (aufgerufen am 29.12.2020), hier S. 80–87, 92–104. 16 Bernhard Grau, „Original“ – Archive und historische Authentizität. In: Original! Pracht und Vielfalt aus den Staatlichen Archiven Bayerns. Eine Ausstellung der Staatlichen Archive Bayerns im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, München, 11. Oktober – 5. Dezember 2017 (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 59), München 2017, S. 11–26, hier S. 18–21. – Ders., Authentizität als neues Paradigma – Wert und Nutzen der traditionellen archivischen Methoden im digitalen Zeitalter. In: Tobias Herrmann (Redaktion), Verlässlich, richtig, echt – Demokratie braucht Archive! 88. Deutscher Archivtag 2018 in Rostock (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Achivtag 23), Fulda 2019, S. 133– 144, hier S. 140–144. 17 Peter Worm – Nicola Bruns, Form follows Function – ein Grundsatz für die elektronische Überlieferungsbildung? In: Katharina Ernst – Peter Müller (Hrsg.), Aktuelle Fragen der Überlieferungsbildung. Vorträge des 79. Südwestdeutschen Archivtags am 16. und 17. Mai 2019 in Ludwigsburg, Stuttgart 2020, S. 18–27, hier S. 18–21, 25 f. 18 Michael Puchta, Bewertungskriterium Standardformat? Die Auswirkungen der Formatund Schnittstellenproblematik auf die Aussonderung und die Auswertbarkeit elektronischer Unterlagen im Digitalen Archiv. In: Katharina Tiemann (Hrsg.), Bewertung und Übernahme elektronischer Unterlagen – Business as usual? Beiträge des Expertenworkshops in Münster am 11. und 12. Juni 2013 (Texte und Untersuchungen zur Archivpflege 28), Münster 2013, S. 30–45, hier S. 33–37, 44 f. – Ders., Signifikante Eigenschaften für eine „unknown community“. In: Archivar 73 (2020) S. 259–268, hier S. 260–268. 19 Carsten Müller-Boysen, Das Archiv als „Informationsrecycling“. Gedanken zur Neudefinition archivischer Arbeitsfelder. In: Udo Schäfer – Nicole Bickhoff (Hrsg.), Archivierung elektronischer Unterlagen (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung BadenWürttemberg, Serie A, H. 13), Stuttgart 1999, S. 15–24, hier S. 16. – Sina Westphal, Digital Preservation Management im Bundesarchiv. Aktueller Stand. In: Jörg Filthaut (Hrsg.), Von der Übernahme zur Benutzung. Aktuelle Entwicklungen in der digtalen Archivierung. 18. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ am 11. und 12. März 2014 in Weimar (Schriften des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar 6), Weimar 2014, S. 37–40, hier S. 38. – Weniger direkt auch: Christoph Schmidt, Signifikante Eigenschaften und ihre Bedeutung für die Bewertung elektronischer Unterlagen. In: Katharina Tiemann (Hrsg.), Bewertung und Übernahme elektroni13
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dafür plädiert, den archivischen Umgang mit dem digitalen Medium mit demjenigen theoretischen Rüstzeug zu bestreiten, das im Diskurs um die Archivierung analoger Unterlagen entwickelt worden ist. Diese kritischen Einwände sind jedoch, dies lässt sich anhand einschlägiger Publikationen und des Lehrkanons von zweien der drei deutschen Ausbildungsstätten für die Archivar*innen unschwer feststellen, bisher Mindermeinungen geblieben20.
scher Unterlagen – Business as usual? Beiträge des Expertenworkshops in Münster am 11. und 12. Juni 2013 (Texte und Untersuchungen zur Archivpflege 28), Münster 2013, S. 20–29, hier S. 28. 20 Bernhard Rieder, Datenübernahme aus dem Polizei-Informationssystem (POLIS). In: Christian Keitel – Kai Naumann (Hrsg.), Digitale Archivierung in der Praxis. 16. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ und nestor-Workshop „Koordinierungsstellen“ (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, H. 24), Stuttgart 2013, S. 71–83, hier S. 79–82. – Burkhard Nolte – Karsten Huth, Einführung der elektronischen Archivierung im Sächsischen Staatsarchiv. In: Ebd. S. 119–127, hier S. 122. – Ulrike Gutzmann, Überlegungen zu Anforderungen an Archivierungssysteme. In: Matthias Manke (Hrsg.), Auf dem Weg zum digitalen Archiv. Stand und Perspektiven von Projekten zur Archivierung digitaler Unterlagen. 15. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ am 2. und 3. März 2011 in Schwerin (Veröffentlichung des Landeshauptarchivs Schwerin), Schwerin 2012, S. 36–41, hier S. 40 f. – Christine Träger, Planung und Durchführung der Erhaltung digitaler Archivalien. Systementwurf für das digitale Magazin des Freistaats Thüringen. In: Staatsarchiv Österreich, Generaldirektion (Hrsg.), Digitale Archivierung. Innovationen – Strategien – Netzwerke (= Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 59, 2016) S. 163–180, hier S. 165. – Christian Keitel, Prozessgeborene Unterlagen. Anmerkungen zur Bildung, Wahrnehmung, Bewertung und Nutzung digitaler Überlieferung. In: Archivar 67 (2014) S. 278–285, hier S. 278–284. – Ders., nestor-Leitfaden (wie Anm. 10) S. 267–276. – Ders., Wege (wie Anm. 8) S. 223–239, 241–242. – Miegel – Schieber – Schmidt (wie Anm. 11) S. 8–15. – Kai Naumann, Wie es mit der Projektsammlung von Susanne Belovari weiterging. In: Kai Naumann – Michael Puchta (Hrsg.), Kreative digitale Ablagen und die Archive. Ergebnisse eines Workshops des KLA-Auschusses Digitale Archive am 22./23. November 2016 in der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns (Sonderveröffentlichungen der Staatlichen Archive Bayerns 13), München 2017, S. 30–31, hier S. 30. – Naumann, Welche Schritte (wie Anm. 11) S. 45 f. – FH Postdam – Fachbereich Informationswissenschaften (Hrsg.), Modulhandbuch Archivwissenschaft (Master of Arts), https://www.fh-potsdam.de/fileadmin/user_dateien/2_studieren-FB_Infowiss/studium/modulhandbuecher/Modulhandbuch_Archivwissenschaft-MA.pdf (aufgerufen am 10.1.2021), S. 22, 25. – Vgl. auch: Archivschule Marburg – Hochschule für Archivwissenschaft: Die Transferarbeiten der Archivschule Marburg https://www.archivschule.de/ DE/ausbildung/liste-der-transferprojekte/transferarbeiten.html/ (aufgerufen am 10.1.2021).
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Di g i t a l e In f o r m a t i o n s w i s s e n s c h a f t s t a t t analoger Archivwissenschaft? Wissenschaft lebt vom Austausch der Argumente, gerade auch dem interdisziplinären. Auch besteht wenig Zweifel, dass die Archivwissenschaft, die von ihren Anfängen bis zur Gegenwart eine stark interdisziplinär angelegte Wissenschaft (Grundwissenschaften, Rechtskunde, Philologie, Historiographie, Records Management etc.) war und ist, durch den Diskurs mit anderen Fachlichkeiten über den Umgang mit digitalen Unterlagen sich noch weiter in Richtung einer „Interdisziplin“ entwickeln wird21. Aber dennoch stellt sich die Frage, ob die eingangs skizzierte Entwicklung hin zu einer allgemeinen, praxisgetriebenen Informationswissenschaft von der digitalen Archivierung die genuin archivfachlichen Interessenslagen korrekt abbilden kann. Dies wäre nicht der Fall, wenn es spezifisch archivwissenschaftliche Anforderungen bei der digitalen Archivierung gäbe, die beim Langzeiterhalt anderer kulturgutverwahrender Einrichtungen keine Rolle spielen oder gar mit diesen unvereinbar sind. Bereits der Diskurs um den universalen Begriff der Dokumentation und der darauf aufbauenden Fachlichkeit des Dokumentars im Nachkriegsdeutschland zeigte, dass die Archive als – sehr spezifischer – Teil einer Museen, Bibliotheken und andere Einrichtungen umfassenden Gemeinschaft an Dokumentationsstellen verstanden werden können22. Auch haben die Retrodigitalisierungs- und Onlinestellungsinitiativen auf Landes-, Bundes- und europäischer Ebene, in deren Folge Internetportale entstanden, die Bild- und Metadaten zu Kulturgut unterschiedlicher Institutionen und Fachdisziplinen zusammenführten, einer gemeinsamen Wahrnehmung von Museen, Archiven und Bibliotheken Vorschub geleistet23. Lorcan Papritz (wie Anm. 2) S. 2–34. – Rumschöttel (wie Anm. 2) S. 8–13, 18–20. – Kretzschmar, Quo vadis (wie Anm. 2) S. 11, 19–28. – Leidel (wie Anm. 2) S. 29 f. (Zitat ebd., S. 30). – 2010 charakterisierte Hermann Rumschöttel (ebd. S. 19) zutreffend die Stellung der Archivwissenschaft im Spannungsfeld der ihr verwandten Disziplinen: „Selbständigkeit und Kooperation sind kein Widerspruch“. 22 Hermann Meinert, V. Probleme der Massenverfilnung – a) Archive und Dokumentation. In: Der Archivar 4 (1951) Sp. 25–33, hier Sp. 27–33. – Fritz Zimmermann, Die Stellung der Archive innerhalb eines Systems der Dokumentation. In: AZ 62 (1966) S. 87–125, hier passim. – Holm A. Leonhardt, Was ist Bibliotheks-, was ist Archiv- und Museumsgut? Ein Beitrag zur Kategorisierung von Dokumentationsgut und -institutionen. In: Der Archivar 42 (1989) Sp. 213–224, hier Sp. 213–222. 23 Markus Walz, Metastrukturen und Abgrenzung zu anderen Institutionen: Kultur – Gedächtnis – Kulturerbe – Information und Dokumentation. In: Ders. (Hrsg.), Hand21
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Dempsey hat in diesem Kontext im Jahr 2000 den Begriff der „Memory Institutions“ definiert: „Archives, libraries and museums are memory institutions: they organise the European cultural and intellectual record. Their collections contain the memory of peoples, communities, institutions and individuals, the scientific and cultural heritage, and the products throughout time of our imagination, craft and learning. They join us to our ancestors and are our legacy to future generations. They are used by the child, the scholar, and the citizen, by the business person, the tourist and the learner. These in turn are creating the heritage of the future. Memory institutions contribute directly and indirectly to prosperity through support for learning, commerce, tourism, and personal fulfilment“24. Der Diskurs um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den sogen. Gedächtnisinstitutionen, insbesondere jedoch den Bibliotheken und Archiven reicht jedoch deutlich weiter zurück: Er wurde vor allem in den 1920er und 1950er Jahren geführt und flakerte mit den Thesen Holm A. Leonhardts 1989 noch einmal ohne nennenswerte Resonanz auf25. Interessanterweise buch Museum, Stuttgart 2016, S. 26–32, hier S. 26. – Gabriele Stüber, Schöne neue Archivwelt? Chance und Risiko digitaler Wahrnehmung. In: Monika Storm (Redaktion), Transformation ins Digitale. 85. Deutscher Archivtag 2015 in Karlsruhe (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Achivtag 20), Fulda 2017, S. 159–168, hier S. 160 f. – Christof Mainberger – Thomas Fritz – Frank von Hagel, Werkstattbericht: BAM Ein gemeinsames Internetportal für Bibliotheken, Archive und Museen. In: Gerald Maier – Thomas Fricke (Hrsg.), Kulturgut aus Archiven, Bibliotheken und Museen im Internet. Neue Ansätze und Techniken (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung BadenWürttemberg, Serie A, H. 17), Stuttgart 2004, S. 111–125, hier S. 111, 114. – BAM, das gemeinsame Portal zu Bibliotheken, Archiven, Museen [eingestellt] http://www.bam-portal. de/ (aufgerufen am 29.12.2020). – bavarikon – Institutionen https://www.bavarikon.de/ institutions?lang=de (aufgerufen am 29.12.2020). – LEO-BW – Partner https://www.leo-bw. de/web/guest/partner (aufgerufen am 29.12.2020). – Bayerische Landesbibliothek Online – Das Portal zur Geschichte und Kultur des Freistaats: Projektpartner https://www.bayerischelandesbibliothek-online.de/projektpartner (aufgerufen am 29.12.2020). – Deutsche Digitale Bibliothek – Kultur und Wissen online: Willkommen bei der Deutschen Digitalen Bibliothek! https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/content/journal/aktuell/willkommen-bei-derdeutschen-digitalen-bibliothek (aufgerufen am 29.12.2020). – europeana – Willkommen bei Europeana Collections https://www.europeana.eu/de/about-us (aufgerufen am 29.12.2020). – Kretzschmar, Quo vadis (wie Anm. 2) S. 24. 24 Lorcan Dempsey, Scientific, Industrial, and Cultural Heritage: a shared approach: a research framework for digital libraries, museums and archives. In: Ariadne Issue 22 (2000) http://www.ariadne.ac.uk/issue/22/dempsey/ (aufgerufen am 6.12.2020). – Walz (wie Anm. 23) S. 26. 25 Janka Deicke, Zum Stellenwert von Sammlungsgut in kommunalen Archiven und Einsatzmöglichkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit. Diplomarbeit zur Erlangung des Grades ei-
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wurde diese Diskussion nicht primär anhand der unterschiedlichen Aufgaben der verschiedenen kulturgutverwahrenden Institutionen bestritten, sondern vor allem über den Mittler der von ihnen verwahrten Objekte26. Dabei betonten die Verfechter der institutionellen Unterschiede v.a. den unikalen und meist zweidimensionalen Charakter des Archivguts, das überwiegend aus einer festen Zuständigkeit und einem Registraturzusammenhang erwachse, auf einen konkreten rechtlichen bzw. geschäftlichen Entstehungs- oder gar Endzweck radizierbar sei sowie einer unbefristeten Aufbewahrungsdauer unterliege27. Doch haben sich diese Grenzen nicht im Zuge der digitalen Transformation längst aufgelöst? Dauernd ist nicht ewig Schon in der analogen Welt wurden die zitierten Kriterien einer materialbasierten Zuständigkeitsabgrenzung keineswegs absolut verstanden. Vielmehr erkannte der Fachdiskurs zahlreiche Ausnahmen und Graubener Diplom-Archivarin (FH), Potsdam 2007 https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:kobv:525opus-698 (aufgerufen am 30.12.2020), S. 5 f. – Ivo Stridinger, Was ist Archiv-, was ist Bibliotheksgut? Aus einem Vortrage, gehalten am 17. August 1926 auf der Gesamtvereinstagung zu Kiel. In: AZ 36 (1926) S. 151–163, hier passim. – Hans-Stephan Brather, Registraturgut – Archivgut – Sammlungsgut. Beiträge zu einer Diskussion. In: Archivmitteilungen 12 (1962) S. 158–167, hier S. 159 f. – Leonhardt (wie Anm. 22) passim. 26 Deicke (wie Anm. 25) S. 6–9. – Stridinger (wie Anm. 25) S. 151–163. – Brather (wie Anm. 25) S. 159 f., 165–167. – Leonhardt (wie Anm. 22) Sp. 213–220. 27 Deicke (wie Anm. 25) S. 6–15. – Heinrich Otto Meissner – Wolfgang Leesch. Grundzüge einer deutschen Archivterminologie. Referentenentwurf des Ausschusses für deutsche Archivsprache. Neubearbeitung. In: Archivmitteilungen 10 (1960) S. 134–152, hier S. 142. – Stridinger (wie Anm. 25) S. 150–163. – Brather (wie Anm. 25) S. 159 f., 165– 167. – Leonhardt (wie Anm. 22) Sp. 215, 222. – Norbert Reimann – Marcus Stumpf, Grundlagen und Organisation des Archivwesens. In: Marcus Stumpf (Hrsg.), Praktische Archivkunde. Ein Leitfaden für Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste. Fachrichtung Archiv, 4. Auflage, Münster 2018, S. 25–53, hier S. 27–29. – Papritz (wie Anm. 2) S. 57–59, 74–89. – Eckhart G. Franz, Einführung in die Archivkunde, 6. Auflage, Darmstadt 2004, S. 2. – Gerhart Enders, Archivverwaltungslehre, Nachdruck der 3., durchgesehenen Auflage mit einem bio-bibliographischen Vorwort hrsg. von Eckart Henning und Gerald Wiemers, Leipzig 2004, S. 9–15. – Botho Brachmann u.a., Archivwesen der Deutschen Demokratischen Republik. Theorie und Praxis, Berlin 1984, S. 152–163. – Adolf Brenneke, Archivkunde. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte des europäischen Archivwesens – bearb. nach Vorlesungsnachschriften und Nachlaßpapieren und ergänzt von Wolfgang Leesch, Leipzig 1953, ND München u.a. 1988, S. 32–37. – Michael Hollmann, Archivgut im Zeitalter seiner digitalen Verfügbarkeit. In: AZ 95 (2017) S. 9–26, hier S. 9. – Leidel (wie Anm. 2) S. 43–46.
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reiche mit konkurierenden Kompetenzansprüchen an – von Druckmaterialien im Aktenzusammenhang bis hin zu Nachlässen und Sammlungsgut. Auch in der Praxis gab und gibt es Überschneidungen28: Beispielsweise fand 1913 die in über 400 Bände gebundene ungedruckte sogen. Montgelaszählung bzw. -statistik – nach allen oben genannten Kriterien Archivgut par excellence – nicht Eingang in die Bestände des Allgemeinen Reichsarchivs in München, sondern der benachbarten Hof- und Staatsbibliothek29. In der Gegenwart engagieren sich gerade die Landes- und Nationalbibliotheken bei der Sicherung von Internetauftritten – Informationen, an denen vielfach auch die Archive ihr Interesse bekunden30. Das bibliothekarische Handeln entspringt dabei einem konkreten Sammlungsprofil, das teilweise auf Verordnungswege, teilweise – wie im Falle der Deutschen Nationalbibliothek unter dem Begriff der „Medienwerke in unkörperlicher Form“ (§ 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 3 Abs. 3 DNBG) – gesetzlich über die Pflichtexemplargesetze abgesichert ist. Die bibliothekarische Sicherung Deicke (wie Anm. 25) S. 8–10. – Stridinger (wie Anm. 25) S. 155–162. – Brather (wie Anm. 25) S. 163–167. – Leonhardt (wie Anm. 22) Sp. 222–224. – Franz (wie Anm. 27) S. 58–71. – Brenneke (wie Anm. 27) S. 33–37. – Leidel (wie Anm. 2) S. 38. 29 Bayerischen Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung (Hrsg.), 200 Jahre amtliche Statistik in Bayern. 1808 bis 2008, München 2008, S. 11 f. – Nicola Schühmann, Kaum noch Pocken-Tote in Bayern – Die frühe Impflicht zahlt sich aus. In: Bayerns Anfänge als Verfassungsstaat. Die Konstitution von 1808. Eine Ausstellung im Bayerischen Hauptstaatsarchiv (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 49), München 2008, S. 165–167, hier S. 167. 30 Kai Naumann, Gemeinsam stark. Web-Archivierung in Baden-Wüttemberg, Deutschland und der Welt. In: Archivar 65 (2012) S. 33–41, hier S. 33, 38–40. – Stephanie Kortyla, Webarchivierung per ISO-Image. In: Staatsarchiv Österreich, Generaldirektion (Hrsg.), Digitale Archivierung. Innovationen – Strategien – Netzwerke (= Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 59, 2016) S. 203–213, hier S. 203. – Mayr (wie Anm. 7) S. 216. – Tobias Beinert – Ulrich Hagenah – Anna Kugler, Es war einmal eine Website … Kooperative Webarchivierung in der Praxis. In: o-bib 1 (2014) H. 1, S. 291–304, hier S. 291–296 http://dx.doi.org/10.5282/o-bib/2014H1S291-304 (aufgerufen am 28.12.2020). – Herschung (wie Anm. 7) S. 189. – Tobias Beinert – Franz Götz – Astrid Schoger, Sammel- und Archivierungsprofil der Bayerischen Staatsbibliothek für Websites. Stand: 1.6.2016 https://www.babs-muenchen.de/content/DFG-Projekt_Webarchivierung/Sammel_ und_Archivierungsprofil_Websites_BSB.pdf (aufgerufen am 29.12.2020). – Angela Ullmann, Heute im Netz – morgen im Archiv. Die Archivierung des Internetangebotes des Deutschen Bundestages. In: Barbara Hoen (Hrsg.), Planungen, Projekte, Perspektiven. Zum Stand der Archivierung elektronischer Unterlagen. 10. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“. 14. und 15. März 2006 in Düsseldorf (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen 10), Düsseldorf 2006, S. 51–55, hier S. 51 f. – Liegmann (wie Anm. 7) S. 59–65. 28
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von Webauftritten kann als komplementäre Tätigkeit zur Übernahme der grauen Literatur im analogen Zeitalter verstanden werden31. Von den Archiven werden Internetseiten ebenfalls im Rahmen ihres eigenen Sammlungsprofils übernommen, vielfach aber auch als Teil der Selbstdarstellung und Öffentlichkeitsarbeit ihrer Abgabebehörden und damit gewissermaßen als veröffentlichtes Registraturgut und Erschließungshilfe (Organigramme usw.)32. Es bietet sich daher an, einmal genauer hinzusehen und zu fragen, ob gleichartige digitale Objekte im Sinne einer institutionenübergreifenden, an den Erfahrungen der Praxis orientierten Informationswissenschaft wirklich auch zu gleichen Verfahrensweisen in unterschiedlichen Gedächtnisinstitutionen führen. Bei der Webarchivierung kommt meist remote- bzw. clientseitig ein (Web)-Crawler oder Harvester zum Einsatz. D.h. ein Bot, ein teilautomatisiertes spezifisches Softwareprogramm, kopiert den Internetauftritt. Diese Kopie der proprietären Dateien der Homepage, die gerade bei dynamischen und interaktiven Inhalten bestimmte Verluste in Kauf nimmt, wird anschließend mit für den Langzeiterhalt relevanten Metadaten in einem speziellen Container, meistens im WARC-, gelegentlich auch noch im ARC-Format, abgespeichert33. Interessant für die vorliegende Frage, ob Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek (DNBG) vom 22. Juni 2006 (BGBl. I S. 1338), zuletzt geändert durch Gesetz vom 1. September 2017 (BGBl. I S. 3346) (Zitat ebd.). – Bekanntmachung der Bayerischen Staatsregierung vom 2. Dezember 2008 (Abgabe Bibliotheken – Abg-Bibl): Az.: B II 2-480-30, 2240-WFK, KWMBl. BY 2009 S. 27, JMBl. BY 2009 S. 2, AllMBl. BY 2008 S. 818. – Nina Balz – Karin Knaf, Der Ablieferungspflicht unterliegen jetzt auch Netzpublikationen, In: Bibliotheksforum Bayern 3 (2009) S. 128–129, hier S. 128. – Beinert – Hagenah – Kugler (wie Anm. 30) S. 292–301. – Naumann, Gemeinsam stark (wie Anm. 30) S. 37–39. – Ders., Problem (wie Anm. 11) S. 93. – Mayr (wie Anm. 7) S. 216. – Liegmann (wie Anm. 7) S. 60, 64. 32 Naumann, Problem (wie Anm. 11) S. 92. – Vgl. z.B. Art. 2 Abs. 1 Satz 1 des Bayerischen Archivgesetzes (BayArchivG) vom 22. Dezember 1989 (BayRS 2241-1-WFK, GVBl. BY S. 710), geändert durch Gesetz vom 16. Dezember 1999 (GVBl. BY S. 521): „Archivgut sind alle archivwürdigen Unterlagen einschließlich der Hilfsmittel zu ihrer Nutzung, die bei Behörden, Gerichten und sonstigen öffentlichen Stellen oder bei natürlichen Personen oder bei juristischen Personen des Privatrechts erwachsen sind“. 33 Beinert – Hagenah – Kugler (wie Anm. 30) S. 293–299. – Naumann, Gemeinsam stark (wie Anm. 30) S. 33 f. – Kortyla, Webarchivierung (wie Anm. 30) S. 204 f., 211. – Mayr (wie Anm. 7) S. 217. – Ioannis Charalambakis – Tobias Beinert – Marcus Bitzl – Astrid Schoger, Erfahrungsbericht: Retrospektive Langzeitarchivierung von in Academic Linkshare erschlossenen Internetressourcen. Stand: 20.4.2016 https://www.babsmuenchen.de/content/DFG-Projekt_Webarchivierung/Erfahrungsbericht_LZA_von_Internetressourcen.pdf (aufgerufen am 29.12.2020), hier S. 6, 12 f., 17 f. – Ioannis Charalambakis – Tobias Beinert, Qualität und Prozessoptimierung bei der Langzeitarchivierung 31
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selbst vergleichbares digitales Kulturgut in unterschiedlichen Fachdisziplinen gleiches Handeln impliziert, ist nun, dass das oben skizzierte Standardverfahren zur Homepagearchivierung gerade von archivischer Seite in Frage gestellt wird. Während ein Teil der Archive schon aus Aufwandsgründen auf die etablierten Methoden des Webcrawling setzt34, gehen andere hier einen speziellen Weg: Angesichts des weiterhin proprietären Inhalts der WARC- und ARC-Container setzen diese Archive auf eine Informationsarchivierung in Form statischer Abzüge der Webseiten in offen dokumentierten sogen. Archivformaten (TIFF u.a.)35. Auch die Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns ist bisher diesen Weg gegangen. Dabei werden deutlich mehr Funktionsverluste wie beim Ansatz der Bibliotheken in Kauf genommen. Der Grund für diese erklärungsbedürftige Strategie liegt in der Möglichkeit, die Erhaltung der gecrawlten Webseiten mittels Emulation zugunsten einer auf der langfristigen Zeitschiene als erfolgversprechender bewerteten Formatmigrationsstrategie umgehen zu
von Websites: Konzeptuelle Überlegungen zur Steuerung des Ressourceneinsatzes bei der selektiven Webarchivierung. Stand: 9.3.2016 https://www.babs-muenchen.de/content/DFGProjekt_Webarchivierung/Webarchivierung_Qualitaet_und_Prozessoptimierung.pdf (aufgerufen am 29.12.2020), hier S. 11–13. – Beinert – Götz – Schoger (wie Anm. 30). – Ioannis Charalambakis – Tobias Beinert, Ausführliche Anleitung für die Langzeitarchivierung von Websites mit der Software Web Curator Tool (WCT). Stand: 9.3.2016 https://www.babs-muenchen.de/content/DFG-Projekt_Webarchivierung/Anleitung_Archivierung_von_Webseiten_WCT.pdf (aufgerufen am 29.12.2020), hier S. 4, 8, 45–47. – Dies., Ausführliche Anleitung zur Qualitätskontrolle für die Langzeitarchivierung von Websites mit der Software Web Curator Tool. Stand: 9.3.2016 https://www.babs-muenchen.de/content/DFG-Projekt_Webarchivierung/Anleitung_Qualitaetskontrolle_WCT.pdf (aufgerufen am 29.12.2020), hier S.41–43. – Herschung (wie Anm. 7) S. 189–194. – Web ARChive https://en.wikipedia.org/wiki/Web_ARChive (aufgerufen am 29.12.2020). – Webcrawler https://de.wikipedia.org/wiki/Webcrawler (aufgerufen am 29.12.2020). – Rudolf Schmitz, Handreichungen zur Webarchivierung des Arbeitskreises Dokumentation und Archivierung von Webpräsenzen. In: Staatsarchiv St. Gallen (Hrsg.), Entwicklung in den Bereichen Records Management / Vorarchiv – Übernahme – Langzeitarchivierung. 13. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ vom 27./28. April 2009 ausgerichtet vom Staatsarchiv St. Gallen (Veröffentlichungen des Staatsarchivs St. Gallen), St. Gallen 2009, S. 57–45, hier S. 59. – Ullmann (wie Anm. 30) S. 52–54. – Liegmann (wie Anm. 7) S. 57–63. 34 Naumann, Gemeinsam stark (wie Anm. 30) S. 38–41. – Ullmann (wie Anm. 30) S. 53 f. 35 Vgl. auch: Herschung (wie Anm. 7) S. 195–197 und Kortyla, Webarchivierung (wie Anm. 30) S. 203–207, 212.
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können36. Ob diese Haltung dauerhaften Bestand hat, mag angesichts des regen Interesses vieler Archive an Diensten, wie der aus dem universitären und bibliothekarischen Umfeld erwachsenen und inzwischen auch privatwirtschaftlich angebotenen „Emulation as a Service“ (EaaS) mit guten Gründen hinterfragt werden37. Dennoch ist erst einmal zu konstatieren, dass anstelle der Emulation ein Teil der (klassischen) Archivlandschaft einen alternativen Ansatz verfolgt. Letzterer wurzelt dabei in einem archivfachlich fundierten Verständnis von der zeitlichen Perspektive des LangHerschung (wie Anm. 7) S. 194–197. – Kortyla, Webarchivierung (wie Anm. 30) S. 212. – Vgl auch: Christian Keitel, Aufgaben der digitalen Bestandserhaltung. In: Monika Storm (Redaktion), Transformation ins Digitale. 85. Deutscher Archivtag 2015 in Karlsruhe (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Achivtag 20), Fulda 2017, S. 123–130, hier S. 125. – Ders. – Rolf Lang, Ingest von Fachverfahren im Landesarchiv Baden-Württemberg. Anmerkungen zu Authentizität, Prozessen und Softwareentwicklung. In: Staatsarchiv St. Gallen (Hrsg.), Entwicklung in den Bereichen Records Management / Vorarchiv – Übernahme – Langzeitarchivierung. 13. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ vom 27./28. April 2009 ausgerichtet vom Staatsarchiv St. Gallen (Veröffentlichungen des Staatsarchivs St. Gallen), St. Gallen 2009, S. 35–45, hier S. 35. – Frank M. Bischoff, Emulation – das Archivierungskonzept der Zukunft? In: Michael Wettengel (Hrsg.), Digitale Herausforderungen für Archive 3. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ am 22. und 23. März 1999 im Bundesarchiv in Koblenz, Koblenz 1999, S. 15–23, hier S. 19–23. – Naumann, Problem (wie Anm. 11) S. 94. 37 Isgandar Valizada – Klaus Rechert – Konrad Maier – Dennis Wehrle – Dirk von Suchodoletz – Leander Sabel, Cloudy Emulation – Efficient and Scalable Emulationbased Services. In: José Borbinha – Michael Nelso – Steve Night (Hrsg.), Proceedings of the 10th International Conference on Digital Preservation, iPRES 2013, Lisbon, Portugal, September 2–6, 2013, Lissabon 2013, Kap. 24, S. 1–9, hier: Kap. 24, S. 1–2. – OpenSLX GmbH – Emulation Solutions by OpenSLX https://openslx.com/ (Zitat ebd.) (aufgerufen am 16.10.2021). – About Us – OpenSLX GmbH https://openslx.com/posts/About_Us.html (aufgerufen am 16.10.2021). – Dirk von Suchodoletz, Emulation as-a-service, o.O. 2013 https://openpreservation.org/blogs/emulation-service/ (aufgerufen am 16.10.2021). – bwFLA – Funktionale Langzeitarchivierung – Lehrstuhl für Kommunikationssysteme – Albert-Ludwigs-Universität Freiburg https://web.archive.org/web/20130216101141/http:// bw-fla.uni-freiburg.de:80/wordpress/?page_id=7 (aufgerufen am 16.10.2021). – ������������ Yale University Library News – New „emulation as a service” technology opens up new opportunities for engagement with historic digital content https://web.library.yale.edu/news/2014/02/ new-emulation-service-technology-opens-new-opportunities (aufgerufen am 16.10.2021). – Software Preservation Network – EaaSI. Emulation-as-a-Service Infrastructure: overview https://www.softwarepreservationnetwork.org/emulation-as-a-service-infrastructure/ (aufgeru fen am 16.10.2021). – Nathalie Lubetzki, EMiL – Emulationsbasierte Langzeiterhaltung in Gedächtnisinstitutionen. In: Information – Wissenschaft & Praxis 68 (2017) Nr. 2–3, S. 177–178, hier: S. 177–178 https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/iwp-20170028/html (aufgerufen am 16.10.2021). 36
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zeiterhalts und dem Bewusstsein, dass einmal archivierte Informationen nicht durch Zeitablauf ihre Archivwürdigkeit wieder verlieren können. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die bibliothekarische Absicht einer dauerhaften Aufbewahrung der geharvesteten Webseiten zu einem gänzlich anderen methodischen Ansatz führt als das Vorgehen eines Teils der Archive, das aufgrund der zeitlichen Ewigkeitsperspektive bereits bei der Übernahme der Daten die Emulation zugunsten der Formatmigration ausschließt. Dies alles ist sicher kein Beweis für eine grundsätzlich unterschiedliche Behandlung vergleichbarer digitaler Objekte beim digitalen Langzeiterhalt in den verschiedenen Fachdisziplinen, aber doch wenigstens ein erstes Indiz hierfür. Authentisch ist nicht immer auch nachvollziehbar Neben der Integrität der Daten ist die Sicherstellung der Authentizität zum Leitbegriff schlechthin geworden, wenn es um die Beschreibung der Ziele der Archivierung digitaler Unterlagen geht38. Der Begriff der AuCommittee on electronic records (Hrsg.), Guide for managing electronic records from an archival perspective (ICA Studies/Études CIA 8), Paris 1997 https://www.ica.org/sites/ default/files/ICA%20Study%208%20guide_eng.pdf (aufgerufen am 22.11.2020). – Holl mann (wie Anm. 27) S. 9, 19, 24. – Keitel, Aufgaben (wie Anm. 36) S. 129. – Ders., Archivwissenschaft (wie Anm. 9) S. 35. – Ders., Wege (wie Anm. 8) S. 147–152. – Ders., Prozessgeborene Unterlagen (wie Anm. 20) S. 278, 284 f. – Ders., Authentische Archive (wie Anm. 8) S. 123–130. – Ders., Digitale personenbezogene Unterlagen. Konzepte und Erfahrungen des Landesarchivs Baden-Württemberg. In: Katharina Tiemann (Hrsg.), Bewertung und Übernahme elektronischer Unterlagen – Business as usual? Beiträge des Expertenworkshops in Münster am 11. und 12. Juni 2013 (Texte und Untersuchungen zur Archivpflege 28), Münster 2013, S. 46–59, hier S. 48. – Ders. – Lang (wie Anm. 36) S. 37–40. – Schmitz (wie Anm. 33) S. 60–63. – Udo Schäfer, Authentizität: Elektronische Signaturen oder Ius Archivi? In: Rainer Hering – Udo Schäfer (Hrsg.), Digitales Verwalten – Digitales Archivieren. 8. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ am 27. und 28. April 2004 im Staatsarchiv Hamburg (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg 19), Hamburg 2004, S. 13–31, hier S. 13 f., 26. – Ders., Authentizität. Vom Siegel zur digitalen Signatur. In: Udo Schäfer – Nicole Bickhoff (Hrsg.), Archivierung elektronischer Unterlagen (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, H. 13), Stuttgart 1999, S. 165–181, hier S. 172–181. – Frank M. Bischoff, Zur Archivfähigkeit digitaler Signaturen in elektronischen Registern. In: Ebd. S. 183–198, hier S. 184 f., 194–198. – Thomas Schärli, Authentische Überlieferungsbildung in elektronischer Systemumgebung. Eine Standortbestimmung aus schweizerischer Perspektive. In: Ebd. S. 199–210, hier S. 199 f., 207–210. – Grau, Original (wie Anm. 16) S. 14–20. – Ders., Authentizität (wie Anm. 16) S. 133–144. – DIN 31644 (wie Anm. 8) S. 4–6, 16, 28–30. – DIN 38
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thentizität wird heute von allen kulturgutverwahrenden Einrichtungen für ihre Objekte, insbesondere die digitalen, in Anspruch genommen: Bereits die für die Denkmalpflege wegweisende Charta von Venedig von 1964 betonte deren Bedeutung. Daher konnte die von der UNESCO, dem ICCROM und dem ICOMOS getragene „Nara-Konferenz zur Authentizität bezogen auf die Welterbe-Konvention“ von 1994 formulieren: „Authenticity […] affirmed in the Charter of Venice, appears as the essential quali-
31645 (wie Anm. 8) S. 6. – Gunnar Wendt – Sina Westphal, Eine Herausforderung des Übergangs: Fileablage als Quellen der digitalen Überlieferungsbildung. In: Monika Storm (Redaktion), Transformation ins Digitale. 85. Deutscher Archivtag 2015 in Karlsruhe (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Achivtag 20), Fulda 2017, S. 105–113, hier S. 112. – Schwarz (wie Anm. 12) S. 198–203. – Herrmann (wie Anm. 12) S. 18. – Klaus Nippert, Digitale Archivierung astrophysikalischer Forschungsdaten. In: Kai Naumann – Peter Müller (Hrsg.), Das neue Handwerk. Digitales Arbeiten in kleinen und mittleren Archiven. Vorträge des 72. Südwestdeutschen Archivtags am 22. und 23. Juni 2012 in Bad Bergzabern, Stuttgart 2013, S. 73–80, hier S. 78–80. – Kreter (wie Anm. 12) S. 54. – Fonnes (wie Anm. 11) S. 214–215. – Susanne Fröhlich, Kostenfragen in digitalen Archiven. Erfahrungen des Digitalen Archivs Österreich. In: Christian Keitel – Kai Naumann (Hrsg.), Digitale Archivierung in der Praxis. 16. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ und nestor-Workshop „Koordinierungsstellen“ (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, H. 24), Stuttgart 2013, S. 31–49, hier S. 36. – Peter Sandner, 10 FAQs. Argumente zu Bedarf und Notwendigkeiten der digitalen Archivierung. In: Ebd. S. 57–70, hier S. 60, 65–67. – Corinna Knobloch, Neu im Digitalen Archiv. Ein Streifzug durch Bestände und Methoden. In: Ebd. S. 97–109, hier S. 105. – Christian Keitel, DIMAG-Kooperationen. In: Ebd. S. 147–155, hier S. 150. – Mike Zuchet, Pilotprojekt zur Langzeitarchivierung digitaler E-Mail-Korrespondenzen des Bundesvorstandes der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. In: Ebd. S. 165–170, hier S. 168 f. – Kai Naumann, Auf dem Weg zum Retro-GIS? Dauerhafte Erhaltung und Nutzbarmachung digitaler Geobasisdaten beim Landesarchiv Baden-Württemberg und darüber hinaus. In: Ebd. S. 171–191, hier S. 184. – Schwalm, Nachfolger (wie Anm. 7) S. 247. – Keitel, nestor-Leitfaden (wie Anm. 10) S. 270, 276. – Gutzmann (wie Anm. 20) S. 37, 40. – Nolte – Huth, Einführung (wie Anm. 20) S. 150. – Bischoff, Bewertung (wie Anm. 13) S. 42–51. – Schmidt (wie Anm. 19) S. 21, 25. – Worm – Bruns (wie Anm. 17) S. 19. – Westphal (wie Anm. 19) S. 37–39. – Konrad Meckel, Aussonderung elektronischer Akten nach DOMEA: Ergebnisbericht zur Testphase im DMS VISkompakt. In: Jörg Filthaut (Hrsg.), Von der Übernahme zur Benutzung. Aktuelle Entwicklungen in der digtalen Archivierung. 18. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ am 11. und 12. März 2014 in Weimar (Schriften des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar 6), Weimar 2014, S. 47–50, hier S. 49. – Jan Lehmann – Maria Marten, Logisches versus physisches AIP. Ein Lösungsvorschlag aus Mecklenburg-Vorpommern. In: Ebd. S. 73–80, hier S. 73–79. – Christine Rost, Konzeptionelle Überlegungen zur Strukturierung von Metadaten digitaler Objekte. In: Ebd. S. 81–90, hier S. 86.
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fying factor concerning values“39. Aber erst der institutionen- und fachdisziplinübergreifende Siegeszug der Konzepte OAIS (ISO 14721) und PREMIS für die sogen. Langzeitarchivierung hat dem Begriff der Authentizität im (klassischen) Archivwesen zum Durchbruch verholfen40: 2011 wurde von der 36. Vollversammlung der UNESCO die Weltweite Erklärung über Archive angenommen, die Letztere in ihrem Handeln auf die Bewahrung der Authentizität des Archivgutes verpflichtete41. 2018 widmete der 88. Deutsche Archivtag in Rostock eine eigene Sektion allein „Fragen der Authentizität, insbesondere hinsichtlich der Prämisse, dass Authentizität ein Alleinstellunksmerkmal der Archive innerhalb der anderen Gedächtnis- und Informationseinrichtungen ist“42.
International Council on Monuments and Sites (ICOMOS) (Hrsg.), International charter for the conservation and restauration of monuments and sites (The Venice Charter 1964) https://www.icomos.org/charters/venice_e.pdf (aufgerufen am 12.12.2020). – Déclaration de Nara/Declaration of Nara. In: United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (Hrsg.), Convention Concerning the protection of the World Cultural and Natural Heritage Comittee. Eighteenth session Phuket (WHC-94/CONF.003/INF.008 vom 21. November 1994), Thailand 12–17 December 1994 https://whc.unesco.org/archive/1994/whc-94-conf003-inf8e.pdf (aufgerufen am 12.12.2020) (Zitat ebd.). – UNESCO – ICCROM – ICOMOS (Hrsg.), Das Nara-Dokument zur Echtheit/Authentizität. NaraKonferenz zur Authentizität bezogen auf die Welterbe-Konvention. Nara, 1. bis 6. November 1994 http://www.dnk.de/_uploads/media/174_1994_UNESCO_NaraDokument.pdf (aufgerufen am 12.12.2020). – Grau, Original (wie Anm. 16) S. 11. – Ders., Authentizität (wie Anm. 16) S. 137. 40 nestor-Kompetenznetzwerk Langzeitarchivierung und Langzeitverfügbarkeit Digitaler Ressourcen für Deutschland (Hrsg.), Referenzmodell für ein Offenes Archiv-InformationsSystem – Deutsche Übersetzung 2.0 (nestor-Materialien 16), o.O. 2013 http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0008-2013082706 (aufgerufen am 9.1.2021), S. I, 9, 13–17, 28, 38, 45, 61 f., 89, 92, 107. – PREMIS Editorial Committee (Hrsg.), PREMIS Data Dictionary for Preservation Metadataversion 3.0, o.O. 2015 https://www.loc.gov/standards/premis/v3/ premis-3-0-final.pdf (aufgerufen am 9.1.2021), S. 1, f., 15, 258–260, 267. 41 International Council on Archives / Conseil International des Archives (ICA) (Hrsg.), Universal Declaration on Archives https://www.ica.org/en/universal-declaration-archives (aufgerufen am 12.12.2020). – Ders. (Hrsg.), Weltweite Erklärung über Archive https://www. ica.org/sites/default/files/UDA_Sept%202013_press_GE.pdf (aufgerufen am 12.12.2020). 42 Torsten Musial, Rahmenthema, Programm und Ergebnisse des 88. Deutschen Archivtages. In: Tobias Herrmann (Redaktion), Verlässlich, richtig, echt – Demokratie braucht Archive! 88. Deutscher Archivtag 2018 in Rostock (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Achivtag 23), Fulda 2019, S. 11–14, hier S. 11 f. (Zitat ebd., S. 12). – VDA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e.V. (Hrsg.), 88. Deutscher Archivtag in Rostock. Verlässlich, richtig, echt – Demokratie braucht Archive [Programmheft], Fulda 2018, S. 12. 39
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So erklärbar diese Entwicklung durch die skizzierte Rezeption des Konzepte OAIS und PREMIS ist, so überraschend ist es, dass der Begriff der Authentizität, der eine jahrhundertealte historiographische Tradition aufzuweisen hat, sich nicht weit früher im archivwissenschaftlichen Fachdiskurs durchsetzte43. Der Befund einer retardierten Rezeption des Authentizitätsbegriffs wird erklärbar angesichts der Tatsache, dass das OAIS-Modell eine rein theoretische Beschreibung der Bestandteile eines digitalen Archivs ist, die vor dem Hintergrund der konkreten Bedürfnisse einer bestimmten US-amerikanischen Regierungsbehörde entstanden ist. OAIS war und ist aber keine Extrapolation aus historiographischen Arbeitsmethoden oder dem deutschen Verwaltungsrecht44. Ähnliches gilt für PREMIS: Auch hier standen bei der Geburt vor allem bibliothekarische und nur wenige archivarische Paten an der Wiege und erst recht nicht das deutsche Bundesund Landesrecht45. Nach dem OAIS-Modell ist Authentizität „das Ausmaß, in dem eine Person (oder System) ein Objekt als das ansieht, was es vorgibt zu sein. Authentizität wird auf der Basis von Evidenz beurteilt“46. Ganz ähnlich formuliert es PREMIS: „The authenticity of a digital object is the quality of being what it purports to be”47. Noch etwas rigoroser spricht der Grau, Authentizität (wie Anm. 16) S. 133. – Keitel, Authentische Archive (wie Anm. 8) S. 123. 44 Achim Osswald, Einführung. In: Heike Neuroth – Achim Osswald – Regine Scheffel – Stefan Strathmann – Karsten Huth (Hrsg.), nestor Handbuch: Eine kleine Enzyklopädie der digitalen Langzeitarchivierung. Version 2.3, Göttingen o.J. http://nbnresolving.de/urn:nbn:de:0008-2010071949 (aufgerufen am 6.1.2021), Kap. 4:1–4:2, hier Kap. 4:1. – Nils Brübach u.a., Das Referenzmodell OAIS. In: Ebd. Kap. 4:3–4:14, hier Kap. 4:3–4:5. Referenzmodell für ein Offenes Archiv-Informations-System (wie Anm. 40) S. I. – Keitel, Wege (wie Anm. 8) S. 16. – An der Abfassung des OAIS-Modells wirkte nur ein einziger Archivar mit (Keitel, Archivwissenschaft (wie Anm. 9) S. 34). 45 Priscilla Caplan, PREMIS verstehen. Übers. v. Tobias Beinert, Bayerische Staatsbibliothek, im Auftrag von nestor-Kompetenznetzwerk Langzeitarchivierung und Langzeitverfügbarkeit digitaler Ressourcen für Deutschland im Rahmen eines Projekts des Masterstudiengangs Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Fachhochschule Köln, hrsg. v. Library of Congress Network Development and MARC Standards Office, o.O. 2009 https:// www.loc.gov/standards/premis/understanding_premis_german.pdf (aufgerufen am 9.1.2021), S. 4. – Data Online Computer Library Center – Research Libraries Group, Dictionary for Preservation Metadataversion [1.0]. Final Report of the PREMIS Working Group. May 2005, o.O. 2005 https://www.loc.gov/standards/premis/v1/premis-dd_1.0_2005_May. pdf (aufgerufen am 9.1.2021), S. IV. – Keitel, Archivwissenschaft (wie Anm. 9) S. 34. – Ders., nestor-Leitfaden (wie Anm. 10) S. 267. 46 Referenzmodell für ein Offenes Archiv-Informations-System (wie Anm. 40) S. 9 (Zitat). 47 PREMIS Data Dictionary (wie Anm. 40) S. 259 (Zitat), 267. 43
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ISO-Standard 15489-1 zur Schriftgutverwaltung denjenigen Unterlagen Authentizität zu, deren vorgegebener Anschein bewiesen werden könne48. Aufbauend auf diesen Definitionen von Authentizität wurde jüngst im Sinne der DIN 31644 postuliert, dass Authentizität dann gegeben sei, wenn die archivischerseits als dauerhaft zu erhalten bestimmten Signifikanten Eigenschaften der digitalen Informationen nach Migrations- oder Emulationsmaßnahmen weiterhin überprüfbar vorhanden sind49. Das Konzept der Authentizität mag aufgrund seiner internationalen und kulturgutspartenübergreifenden Verbreitung mittels OAIS und PREMIS attraktiv sein. Aber es trägt wenig zum Erkenntnisgewinn für die Theorie und Praxis der digitalen Archivierung bei, wenn es im Kontext der Archivwissenschaft und der allgemeinen Archivlehre analysiert wird: Bekanntlich dienen öffentliche Archive neben ihrer ursprünglichen und bis heute in vermindertem Umfang fortbestehenden Nachweisfunktion für Rechtsansprüche seit dem 19. Jahrhundert zunehmend auch der Wissenschaft und der Forschung50. In beiden Fällen ist die Authentizität im Sinne von PREMIS und des OAIS-Modells, also die Frage, ob den vom Archiv bereitgestellten Unterlagen jenseits der Frage ihrer inhaltlichen Aussage auch Glauben hinsichtlich ihrer Unverfälschtheit im Gang der Überlieferung zu schenken ist, stets auch eine Zuschreibung von außen51. Diese kann sich jedoch in der Welt der nur noch als Kopien und in unterschiedlichsten Views anzeigbaren digitalen Archivalien nicht mehr wie bei den analogen Originalen auf die „Selbstvalidierung“ anhand der Kombination von Inhalt und Informationsträger stützen52. Daher fragen, um sich im Keitel, Authentische Archive (wie Anm. 8) S. 123. – Ders., Wege (wie Anm. 8) S. 150 f. 49 DIN 31644 (wie Anm. 8) S. 5, 16. – Keitel, nestor-Leitfaden (wie Anm. 10) S. 271– 276, insbes. aber S. 276. – Ders., Prozessgeborene Unterlagen (wie Anm. 20) S. 284 f. – Ders. – Lang (wie Anm. 36) S. 39. – Schmidt (wie Anm. 19) S. 21. – nestor-Arbeitsgruppe Digitale Bestandserhaltung (Hrsg.), Leitfaden zur digitalen Bestandserhaltung. Vorgehensmodell und Umsetzung. Version 2.0 (nestor-Materialien 15), o.O. 2012 http:// nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0008-2012092400 (aufgerufen am 9.1.2020) S. 22. – Vgl. auch: Keitel, Authentische Archive (wie Anm. 8) S. 129. 50 Grau, Original (wie Anm. 16) S. 15–17. – Ders., Authentizität (wie Anm. 16) S. 138 f. – Franz (wie Anm. 27) S. 9–12, 115. – Enders (wie Anm. 27) S. 16–18. – Anett Lütteken, Aufklärung und Historismus. In: Marcel Lepper – Ulrich Raulff (Hrsg.), Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, Stuttgart 2016, S. 45–56, hier S. 46–52. 51 Grau, Original (wie Anm. 16) S. 15–21. – Ders., Authentizität (wie Anm. 16) S. 137– 143. 52 Grau, Original (wie Anm. 16) S. 13–16. – Ders., Authentizität (wie Anm. 16) S. 134, 141–143. – Keitel, Authentische Archive (wie Anm. 8) S. 127 f. (Zitat ebd., S. 127). 48
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besagten Zuschreibungsprozess ihr Urteil zu bilden, sowohl die Gerichte im Augenscheinsbeweis als auch die Wissenschaften nach der Nachvollziehbarkeit der archivischerseits am digitalen Archivgut vorgenommenen Arbeiten im Sinne der angesprochenen Evidenz53. Schließlich kennt das deutsche Verwaltungs- und Archivrecht keine der Nachvollziehbarkeit des archivischen Umgangs mit der digitalen Information und damit dem Augenscheinsbeweis vorgehenden Konstrukte wie sie Jenkinson anhand der angelsächsischen Theorie des Common Law von der „unbroken custody“ geschildert hat54. Auch das vor einigen Jahren noch ins Feld geführte, aus dem Staatsrechtsdiskurs der Frühen Neuzeit stammende passive ius archivi wird heute kaum mehr als Ersatz für die Nachvollziehbarkeit des archivischen Handelns dienen können. Dieses Institut wider eine freie richterliche Beweiswürdigung und zugunsten der besonderen Glaubwürdigkeit der im Archiv verwahrten Unterlagen war schon im Alten Reich allem Anschein nach weit mehr gelehrte Theorie als eine vor Gericht vergleichbar rege genutzte oder dort gar allgemein anerkannte Rechtsfigur55. Nicht ein inhaltliches Desinteresse am Inhalt der archivierten Unterlagen durch das Archiv selbst – wie postuliert wurde56 –, sondern die Nachvollzieh– Ders., Aufgaben (wie Anm. 36) S. 123. – Ders., Kooperation (wie Anm. 6) S. 286. – Ders., Wege (wie Anm. 8) S. 122–129. – Ders. – Lang (wie Anm. 36) S. 38. – Bussmann, Bestandserhaltung (wie Anm. 15) S. 8–15. 53 Grau, Original (wie Anm. 16) S. 20 f. – Ders., Authentizität (wie Anm. 16) S. 143. – Schwarz (wie Anm. 12) S. 198–202. – Dass der archivinterne, ebenfalls Authentizität konstituierende Umgang mit der Überlieferung auf fachspezifischen und insbesondere nachvollziehbaren Methoden und Konzepten beruht, hat jüngst Bernhard Grau (Original (wie Anm. 16) S. 17–21, Authentizität (wie Anm. 16) S. 140–144) hervorgehoben. 54 Hilary Jenkinson, A Manual of Archive Administration. New and revised Edition, Lon���� don 1937, S. 10–15, 32–43 (Zitat ebd. S. 14). – Papritz (wie Anm. 2) S. 70 f. – Schäfer, Authentizität 2004 (wie Anm. 38) S. 26. – Grau, Authentizität (wie Anm. 16) S. 141 Anm. 26. 55 Schäfer, Authentizität 1999 (wie Anm. 38) S. 169–171, 180 f. – Ders., Authentizität 2004 (wie Anm. 38) S. 15 f., 26–31. – Ernst Pitz, Beiträge zur Geschichte des Ius Archivi. In: Der Archivar 16 (1963) Sp. 279–286, hier Sp. 279–280, 285–286. – Johann Heinrich Zedler (Hrsg.), Grosses vollständiges Universal[-]Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Bd. 2. Halle-Leipzig 1732, Sp. 1241–1243 (Archiv), hier Sp. 1242 f. – Ders., ebd. Sp. 1244 (Archivum regni), hier. Sp. 1244. – Friedrich Merzbacher, Ius Archivi. Zum geschichtlichen Archivrecht. In: AZ 75 (1979) S. 135–147, hier S. 135–146. – Bischoff, Archivfähigkeit (wie Anm. 38) S. 197 f. – Grau, Authentizität (wie Anm. 16) S. 138 f. – Joseph S. Freedman, The Origin and Evolution of the ius archivi concept in Early Modern Central Europe. In: AZ 97 (2021) S. 15–52, hier S. 20–26, 31–36. 56 Keitel, Archivwissenschaft (wie Anm. 9) S. 35.
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barkeit im Umgang mit dem digitalen Archivgut konstituiert die Vertrauenswürdigkeit von Institution und verwahrtem Material. Wenn es aber bei den vielbeschworenen archivischen Bemühungen zur Gewährleistung der Authentizität im Kern um die Nachvollziehbarkeit des Handelns im (öffentlichen) Archiv gehen muss, dann sind ganz andere Kriterien des Authentizitätsnachweises – beispielsweise durch den Abgleich der Signifikanten Eigenschaften zweier Repräsentationen desselben Objekts – kritisch zu hinterfragen. Authentizität im Sinne einer Nachvollziehbarkeit des archivischen Handelns erfordert dann nämlich nicht nur den Abgleich des Vor- und des Nachher, sondern auch den Nachweis, wie es vom einen zum anderen Zustand gekommen ist57. Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen einer archivfachlich verstandenen Authentizität und derjenigen einer allgemeinen, stark an manuellen Arbeitsprozessen orientierten und damit genuin schlechter nachvollziehbaren, erfahrungsbasierten Informationswissenschaft. Diskursive Inklusion statt Exklusion Abschließend soll noch der Frage nachgegangen werden, ob der fachdisziplinübergreifende, den Wert praktischer Erfahrungen unterstreichende Diskurs über die sogen. Langzeitarchivierung der letzten zwanzig Jahre wirklich stets dem methodischen Fortschritt und damit dem Interesse der Archive sowie ihrer Träger gedient hat. Der VdA – der Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e.V. – ist nach eigenen Angaben „mit rund 2400 Mitgliedern […] der größte nationale Fachverband für das Archivwesen in Europa“58. Der Diskurs Vgl. Grau, Original (wie Anm. 16) S. 20 f. – Ders., Authentizität (wie Anm. 16) S. 142 f. – Wendt – Westphal (wie Anm. 38) S. 112. – Keitel, Aufgaben (wie Anm. 36) S. 129 f. und Ders., Authentische Archive (wie Anm. 8) S. 129. – Die Protokollierung und Dokumentation des vor- und archivischen Handelns zur Gewährleistung von Nachvollziehbarkeit bzw. Authentizität betonen sowohl „DIN ISO 15489-1: Information und Dokumentation – Schriftgutverwaltung“ (Grau, Authentizität (wie Anm. 16) S. 136. – Schwalm, Normung (wie Anm. 7) S. 28 f.), als auch „DIN 31644: Information und Dokumentation – Kriterien für vertrauenswürdige digitale Langzeitarchive“ (Ebd. S. 5–19). Die Unverzichtbarkeit der Protokollierung unterstreicht zudem „DIN 31645: Information und Dokumentation – Leitfaden zur Informationsübernahme in digitale Langzeitarchive“ (Ebd. S. 17–21). 58 Der VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e.V. – Ihr Fachverband [Imageflyer] https://www.vda.archiv.net/fileadmin/user_upload/VDA_Flyer_2015_V01_ Web.pdf (aufgerufen am 15.11.2020) (Zitat ebd.). 57
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über die Fragen der digitalen Archivierung, die alle Archive von Trägern mit noch aktiver Überlieferungsbildung umtreiben müssten, wird aber aktiv von vielleicht zwei Dutzend Archivar*innen in Deutschland geführt59. Dieses vermeintliche Expertentum führt nicht nur zu einer Verarmung der archivwissenschaftlichen Diskussion durch die unvermeidlichen Zitierkartelle, sondern auch dazu, dass eine breite, kritische Auseinandersetzung mit einzelnen Thesen gar nicht mehr stattfindet. Zweifellos gibt es viele Gründe für die archivwissenschaftliche Abstinenz weiter Teile der archivarischen Fachcommunity, wenn es um Fragen der digitalen Archivierung geht. Aber die Vermutung liegt nahe, dass diese beunruhigende Entwicklung auch damit zu tun hat, dass vielen Archivar*innen der Eindruck vermittelt wurde, dass sie mit dem herkömmlichen Rüstzeug ihres Berufes und der Kenntnis des archivwissenschaftlichen Diskurses über die Archive in der analogen Welt nicht die Kompetenz hätten, um sich an der Diskussion über das „neue Handwerk“ zu beteilgen60: Zum einen führt die Heraushebung der praktischen Erfahrung – so unverzichtbar diese zweifellos in dem von einem dynamischen Try-and-Error-Fortschritt geprägten Geschäftsfeld der digitalen Archivierung ist – fast zwangsläufig dazu, dass all diejenigen Archivar*innen vom Fachdiskurs ausgeschlossen werden, die noch nicht selbst Erfahrungen im Umgang mit den born digitals gesammelt haben. Diese Schmälerung der personellen Basis des fachlichen Austauschs wird zum anderen flankiert von einer inhaltlichen Verarmung Bischoff stellt zwar fest, dass das Thema der Bewertung der digitaler Unterlagen inzwischen in der Breite angekommen sei, konstatiert aber gleichzeitig die Existenz von sogen. Experten: Der Arbeitskreis zur Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen (AUdS) wird – wie ähnlich auch von Jörg Filthaut (Vorwort (wie Anm. 7) S. 7) – als „Expertengremium mit einer immer nur ausgewählten Teilnehmerschaft“ charakterisiert, ein Workshop des Jahres 2013 – die Diktion der Veranstalter übernehmend – als „Expertenworkshop“, der ursprünglich auf einen kleinen „Expertenkreis“ zugeschnitten gewesen sei (Bischoff, Bewertung (wie Anm. 13) S. 42 (Zitate ebd.). – Katharina Tiemann, Vorwort. In: Dies. (Hrsg.), Bewertung und Übernahme elektronischer Unterlagen – Business as usual? Beiträge des Expertenworkshops in Münster am 11. und 12. Juni 2013 (Texte und Untersuchungen zur Archivpflege 28), Münster 2013, S. 5–6, hier S. 5. 60 Bereits 2010 umriss Robert Kretzschmar „das drohende Auseinanderbrechen [der Archivwissenschaft] in eine analoge und eine digitale Archivwelt“ (Irmgard Becker, Protokoll der Lehrveranstaltung „zur Weiterentwicklung der Archivwissenschaft. Vortrag und Diskussion“ an der Archivschule Marburg, am 29. März 2010. In: Kretzschmar, Quo vadis (wie Anm. 2) S. 29–32, hier S. 29). – 2013 beschrieb Kretzschmar (Ebd. S. 12 f.) noch deutlicher die Entwicklung: „Die deutsche „community“ der Archivarinnen und Archivare teilt sich heute im [sic] Blick auf das gebrauchte Vokabular in zwei Gruppen: Die eine spricht diese Sprache der digitalen Welt, der anderen ist sie noch weitgehend ungeläufig“. 59
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des Diskurses: Mit Verweis auf die Novität von (fast) allem, was mit dem Thema der digitalen Archivierung einhergeht, werden zahlreiche der für den Umgang mit der analogen Überlieferung erarbeiteten archivfachlichen Prinzipien in ihrer Anwendbarkeit auf die digitale Archivierung teils ignoriert, teils grundsätzlich in Frage gestellt61. Digitale Archivierung erscheint dabei weit weniger eine auf der Grundlage eines stets kritisch zu überprüfenden und bei Bedarf anzupassenden archivwissenschaftlichen Instrumentenkastens zu erkundende Terra incognita. Vielmehr tritt sie dem archivarischen Fachpublikum als Tabula rasa entgegen, auf der unbelastet vom theoretischen Diskurs der analog geprägten Vergangenheit die digitale Zukunft des Archivwissenschaft errichtet wird. Dass diese Entwicklungen des archivwissenschaftlichen hin zu einem informationswissenschaftlichen Diskurs ganz eigener Prägung weit weniger eine wissenschaftsgeschichtliche Dimension haben als ganz handfeste Auswirkungen auf die alltägliche Berufspraxis und das fachliche Selbstverständnis der Archivarinnen und Archivare, wird an bereits öffentlich diskutierten Beispielen wie der Frage der Archivfähigkeit62, der Bestimmung von Zielgruppen (Designated Community) und ihren Nutzungszielen63 Der Grundton des archivwissenschaftlichen Diskurses insgesamt hat dieser Entwicklung sicher mit Vorschub geleistet: In diesem wurde u.a. die archivische „Verwaltung elektronischer Aufzeichnungen, ohne Zweifel [als] die größte Herausforderung unserer Zeit, wenn nicht sogar die größte Herausforderung überhaupt“ apostrophiert (Fonnes (wie Anm. 11) S. 214) und „das digitale Archiv als Zäsur der Archivgeschichte“ hervorgehoben (Herrmann (wie Anm. 12) S. 9). 62 Frank M. Bischoff, Elektronisches Grundbuch in Nordrhein-Westfalen. Möglichkeiten der Überlieferungssicherung aus archivischer Perspektive. In: Udo Schäfer – Nicole Bickhoff (Hrsg.), Archivierung elektronischer Unterlagen (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, H. 13), Stuttgart 1999, S. 101–110, hier S. 106 f. – Ders., Archivfähigkeit (wie Anm. 38) S. 185 f., 194–196. – Ders., Bewertung (wie Anm. 13) S. 44–50. – Rieder (wie Anm. 20) S. 79–82. – Nolte – Huth, Einführung (wie Anm. 20) S. 125. – Puchta, Bewertungskriterium (wie Anm. 18) S. 33–37. – Miegel – Schieber – Schmidt (wie Anm. 11) S. 8, 10. – Naumann, Projektsammlung (wie Anm. 20) S. 30. – Ders., Welche Schritte (wie Anm. 11) S. 46. – Unger (wie Anm. 14) S. 134 f., 141. – Stephanie Kortyla, Übernahme aus komplexen digitalen Systemen und die Bedeutung der Nutzersicht. In: Jörg Filthaut (Hrsg.), Von der Übernahme zur Benutzung. Aktuelle Entwicklungen in der digtalen Archivierung. 18. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ am 11. und 12. März 2014 in Weimar (Schriften des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar 6), Weimar 2014, S. 93–97, hier: S. 95, 97. 63 Keitel, nestor-Leitfaden (wie Anm. 10) S. 267–276. – Ders., Prozessgeborene Unterlagen (wie Anm. 20) S. 278–282. – Ders., Wege (wie Anm. 8) S. 223–239, 241–242. – Ders., Personenbezogene Unterlagen (wie Anm. 38) S. 51–54. – Träger (wie Anm. 20) 61
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oder der Formierung der Archivalieneinheiten64 bei der elektronischen Archivierung unübersehbar. Re s ü m e e Christian Keitel hat die durch die „klassische Archivwissenschaft“ vorgenommene Abgrenzung von anderen mit der langfristigen Erhaltung digitaler Objekte befassten Institutionen in „fast schon verzweifelten Bemühungen, die Eigenständigkeit des Fachs zu begründen“ beklagt und konstatiert, dass dies zu einer geradezu schädlichen Selbstisolierung und einer weitgehenden Sprachlosigkeit gegenüber den praktischen Fragen der digitalen Archivierung geführt habe65. Dieser Diagnose kann hier nicht grundsätzlich widersprochen werden. Allerdings sollte die konstatierte Sprachlosigkeit auf Seiten der (klassischen) Archivwissenschaft nicht dadurch überwunden werden, indem – wie es Keitel vorschlägt – ein abstrahierter Archivbegriff und ein dahinter stehendes „Archivkonzept“ als verbindendes Element der digitale Objekte erhaltenden Gedächtinisin stitutionen in den Vordergrund gerückt wird. Hinter einer solchen global verstandenen „Wissenschaft der Archive“ drohen der eigentliche Gegenstand der jeweiligen Beschäftigung, aber auch die dabei maßgeblichen handlungsleitenden Zielvorgaben als bloße „Binnendifferenzierung[en]“
S. 165. – Gutzmann (wie Anm. 20) S. 40 f. – Bischoff, Bewertung (wie Anm. 13) S. 44, 50 f. – Bussmann, Bestandserhaltung (wie Anm. 15) S. 80–87, 92–104. – Schmidt (wie Anm. 19) S. 26, 28. – Puchta, Bewertungskriterium (wie Anm. 18) S. 44 f. – Ders., Eigenschaften (wie Anm. 18) S. 260–268. – Miegel – Schieber – Schmidt (wie Anm. 11) S. 14. – Unger (wie Anm. 14) S. 141–145. – Ders. – Schmalzl (wie Anm. 14) S. 375 f. – Worm – Bruns (wie Anm. 17) S. 25. – Westphal (wie Anm. 19) S. 38. – Kortyla, Übernahme (wie Anm. 62) S. 95–97. 64 Müller-Boysen (wie Anm. 19) S. 19–21. – Grau, Original (wie Anm. 16) S. 18. – Bischoff, Bewertung (wie Anm. 13) S. 47–51, insbes. aber S. 48–51. – Nicola Bruns, Das elektronische Liegenschafts- und Gebäudeinformationssystem des LWL: Überlieferungsbildung auf neuen Wegen – ein Werkstattbericht. In: Katharina Tiemann (Hrsg.), Bewertung und Übernahme elektronischer Unterlagen – Business as usual? Beiträge des Expertenworkshops in Münster am 11. und 12. Juni 2013 (Texte und Untersuchungen zur Archivpflege 28), Münster 2013, S. 60–69, hier S. 66–69. – Miegel – Schieber – Schmidt (wie Anm. 11) S. 14 f. – Naumann, Welche Schritte (wie Anm. 11) S. 45. – Worm – Bruns (wie Anm. 17) S. 19–24. – Unger (wie Anm. 14) S. 135–141. – Vgl. auch: Keitel, Prozessgeborene Unterlagen (wie Anm. 20) S. 281, 284. 65 Keitel, Wege (wie Anm. 8) S. 9, 17 (Zitate ebd. S. 17). – Ders., Archivwissenschaft (wie Anm. 9) S. 33–37.
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einer gemeinsamen Informationswissenschaft zu verschwinden66. Dafür sind die Unterschiede in den Aufgaben der Gedächtnisinstitutionen zu unterschiedlich. Nicht umsonst gibt es in Deutschland Archiv-, aber erst seit jüngster Zeit und nur eine Handvoll Bibliotheks- und praktisch keine funktionsbeschreibenden Museumsgesetze67. Diese Unterschiede wurden nicht in archivarischen Elfenbeintürmen ersonnen, um die Chimäre einer eigenen artifiziellen Wissenschaft zu konstituieren, sondern um Lösungen Keitel, Wege (wie Anm. 8) S. 10–13, 16–21, 240–242 (Zitat ebd. S. 10). – Ders., Archivwissenschaft (wie Anm. 9) S. 35–36 (Zitate ebd. S. 35 und 36). 67 Gesetz über die Pflege und Nutzung von Archivgut (Landesarchivgesetz – LArchG) vom 27. Juli 1987 (GBl. BW S. 230), zuletzt geändert durch Gesetz vom 1. Juli 2004 (GBl. BW S. 503). – BayArchivG (wie Anm. 32). – Gesetz über die Sicherung und Benutzung von Archivgut des Landes Berlin (Archivgesetz des Landes Berlin – ArchGB) vom 14. März 2016 (GVBl. BE S. 96), zuletzt geändert durch Gesetz vom 12. Oktober 2020 (GVBl. BE S. 807). – Gesetz über die Sicherung und Nutzung von öffentlichem Archivgut im Land Brandenburg (Brandenburgisches Archivgesetz – BbgArchivG) vom 7. April 1994 (GVBl. BB I S. 94), zuletzt geändert durch Gesetz vom 8. Mai 2018 (GVBl. I BB S. 20). – Gesetz über die Sicherung und Nutzung öffentlichen Archivguts im Lande Bremen (Bremisches Archivgesetz – BremArchivG) vom 7. Mai 1991 (GBl. HB S. 159), zuletzt geändert durch Gesetz vom 2. April 2019 (GBl. HB S. 133). – Hamburgisches Archivgesetz (HmbArchG) vom 21. Januar 1991 (GVBl. HH S. 7), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. Juni 2005 (GVBl. HH S. 233). – Hessisches Archivgesetz (HArchivG) vom 26. November 2012 (GVBl. HE S. 458), zuletzt geändert durch Gesetz vom 5. Oktober 2017 (GVBl. HE S. 294). – Archivgesetz für das Land Mecklenburg-Vorpommern (Landesarchivgesetz – LArchivG M-V) vom 7. Juli 1997 (GVBl. MV S. 282), zuletzt geändert durch Gesetz vom 8. Mai 2018 (GVBl. MV S. 172). – Gesetz über die Sicherung und Nutzung von Archivgut in Niedersachsen (Niedersächsisches Archivgesetz – NArchG) vom 25. Mai 1993 (GVBl. NI S.129), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. Mai 2018 (GVBl. NI S. 66). – Gesetz über die Sicherung und Nutzung öffentlichen Archivguts im Lande Nordrhein-Westfalen (Archivgesetz Nordrhein-Westfalen – ArchivG NRW) vom 16. März 2010 (GVBl. NW S. 188), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. September 2014 (GVBl. NW S. 603). – [Rheinland-Pfälzisches] Landesarchivgesetz (LArchG) vom 5. Oktober 1990 (GVBl. RP 1990, S. 277), zuletzt geändert durch Gesetz vom 11. Februar 2020 (GVBl. RP S. 42). – Saarländisches Archivgesetz (SArchG) vom 23. September 1992 (Amtsbl. SL S. 1094), zuletzt geändert durch Art. 7 G zur Anpassung des bereichsspezifischen Datenschutzrechts an die VO (EU) 2016/679 vom 22.8.2018 (Amtsbl. I SL S. 674). – Archivgesetz für den Freistaat Sachsen vom 17. Mai 1993 (GVBl. SN S. 449), zuletzt geändert durch Gesetz vom 26. April 2018 (GVBl. SN S. 198). – Archivgesetz Sachsen-Anhalt (ArchG LSA) vom 28. Juni 1995 (GVBl. ST S. 190), zuletzt geändert durch Gesetz vom 18. Februar 2020 (GVBl. ST S. 25). – Gesetz über die Sicherung und Nutzung öffentlichen Archivgutes in Schleswig-Holstein (Landesarchivgesetz – LArchG) vom 11. August 1992 (GVBl. SH S. 444), zuletzt geändert durch Gesetz vom 2. Mai 2018 (GVBl. SH S. 162). – Thüringer Gesetz über die Sicherung und Nutzung von Archivgut (Thüringer Archivgesetz – ThürArchivG) vom 29. Juni 2018 (GVBl. TH S. 308). – Gesetz über die Nutzung und Sicherung 66
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auf spezifische rechtliche und wissenschaftliche Aufgabenstellungen ihrer Träger zu finden. Vor diesem Hintergrund lässt sich selbst das als „Keimzelle der Wissenschaft von den digitalen Archiven“ gewürdigte, mancherorts als nahezu übergesetzlicher Standard missverstandene und geradezu als Qualitätsmerkmal des eigenen Handelns gern zitierte OAIS-Modell auch deutlich nüchterner betrachten68. Sein Erfolg auch in den Archiven von Archivgut des Bundes (Bundesarchivgesetz – BArchG) vom 10. März 2017 (BGBl. I S. 410), zuletzt geändert durch Gesetz vom 4. Dezember 2018 (BGBl. I S. 2257). Hessisches Bibliotheksgesetz (HessBiblG) vom 20. September 2010 (GVBl. I HE S. 295), zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. Juni 2020 (GVBl. HE S. 430). – [Rheinland-Pfälzisches] Landesbibliotheksgesetz (LBibG) vom 3. Dezember 2014 (GVBl. RP S. 245), zuletzt geändert durch Gesetz vom 19. Dezember 2018 (GVBl. RP S. 448). – Bibliotheksgesetz des Landes Sachsen-Anhalt (BiblG LSA) vom 16. Juli 2010 (GVBl. ST S. 434), zuletzt geändert durch Gesetz vom 3. Juli 2015 (GVBl. ST S. 314). – Gesetz für die Bibliotheken in Schleswig-Holstein (Bibliotheksgesetz – BiblG) vom 30. August 2016 (GVBl. SH S. 791), zuletzt geändert durch Gesetz vom 13. Dezember 2019 (GVBl. SH S. 612). – Thüringer Bibliotheksgesetz (ThürBibG) vom 16. Juli 2008 (GVBl. TH S. 243), zuletzt geändert durch Gesetz vom 10. Mai 2018 (GVBl. TH S. 149). – DNBG (wie Anm. 31). 68 Keitel, Wege (wie Anm. 8) S. 16 (Zitat ebd.). – Ders., DIMAG-Kooperationen (wie Anm. 38) S. 148–149, 154. – Ders., nestor-Leitfaden (wie Anm. 10) S. 267 f., 276. – Ders., Kooperation (wie Anm. 6) S. 281–285. – Ders., Personenbezogene Unterlagen (wie Anm. 38) S. 47, 51. – Herrmann (wie Anm. 12) S. 9. – Nippert (wie Anm. 38) S. 79. – Fröhlich (wie Anm. 38) S. 36. – Nolte – Huth, Einführung (wie Anm. 20) S. 122–125. – Zuchet, Pilotprojekt (wie Anm. 38) S. 166–169. – Ders., Von ELO nach FAUST – Konzeptuelle Überlegungen zur Langzeitarchivierung digitaler Überlieferungen und Anwendung im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. In: Staatsarchiv St. Gallen (Hrsg.), Entwicklung in den Bereichen Records Management / Vorarchiv – Übernahme – Langzeitarchivierung. 13. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ vom 27./28. April 2009 ausgerichtet vom Staatsarchiv St. Gallen (Veröffentlichungen des Staatsarchivs St. Gallen), St. Gallen 2009, S. 46–49, hier S. 46. – Kai Naumann, Auf dem Weg (wie Anm. 38) S. 173, 180–184. – Heinrich – Schäfer (wie Anm. 7) S. 16. – Jörg Filthaut, Einführung der digitalen Archivierung im Freistaat Thüringen. In: Ders. (Hrsg.), Von der Übernahme zur Benutzung. Aktuelle Entwicklungen in der digtalen Archivierung. 18. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ am 11. und 12. März 2014 in Weimar (Schriften des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar 6), Weimar 2014, S. 25–29, hier S. 26. – Angela Ullmann, Wir gehören zusammen! Archivalien und ihre Repräsentationen. In: Ebd. S. 67–72, hier S. 67–72. – Westphal (wie Anm. 19) S. 37 f. – Lehmann – Marten (wie Anm. 38) S.73–79. – Kansy – Lüthi, Machbarkeitsstudie (wie Anm. 7) S. 105 f. – Akeret, Anforderungen (wie Anm. 7) S. 113–115. – Hitzel –Tabert (wie Anm. 7) S. 119. – Felix Stadler, Erfahrungen bei der Übernahme von digitalen Unterlagen aller Art im Staatsarchiv St. Gallen – und kritischer Rückblick. In: Christian Keitel – Kai Naumann (Hrsg.), Digitale Archivierung in der Praxis. 16. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ und nestor-Workshop „Koordinierungsstellen“ (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, H.
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liegt weniger in seiner atemberaubenden Innovationskraft, sondern eher 24), Stuttgart 2013, S. 221–229, hier S. 222. – Maria Marten, Der Kooperationsverbund Digitales Archiv Bord (DAN) – Stand und Perspektiven der Umsetzung. In: Staatsarchiv Österreich, Generaldirektion (Hrsg.), Digitale Archivierung. Innovationen – Strategien – Netzwerke (= Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 59, 2016) S. 13–19, hier S. 16. – Zbyšek Stodůlka, Digitales Archiv mit eigenen Kräften? Erfahrungen und Herausforderungen. In: Ebd. S. 33–38, hier S. 34. – Christine M. Gigler, Hoffen auf ein Wunder? Oder: kirchliche Archive in Österreich und digitale Archivierung. In: Ebd. S. 39–47, hier S. 41, 46 f. – Jörg Filthaut, So viel wie nötig – so wenig wie möglich. Die Funktionseinheit Administration aus Sicht des Datenschutzes und der archivischen Anwender. In: Ebd. S. 63–70, hier S. 70. – Michael Puchta, Von den born zu den uses digitals – Der künftige Lesesaal der Staatlichen Archive Bayerns. In: Ebd. S. 101–107, hier S. 101–103. – Hannes Kulovitz, Preservation Planning im Österreichischen Staatsarchiv. In: Ebd. S. 181–188, hier S. 182–183. – Träger (wie Anm. 20) S. 163–165. – Schwalm, Langzeitspeicherung (wie Anm. 7) S. 73–89. – Ders., Nutzung (wie Anm. 7) S. 27–33. – Lüthi – Kansy, digitalAccess2archives (wie Anm. 7) S. 111. – Panitz – Lindlar (wie Anm. 7) S. 135–144. – Kortyla, Webarchivierung (wie Anm. 30) S. 207, 212. – Dies., Übernahme (wie Anm. 62) S. 97. – Georg Büchler, bentō: Rahmenspezifikation für die digitale Archivierung. In: Matthias Manke (Hrsg.), Auf dem Weg zum digitalen Archiv. Stand und Perspektiven von Projekten zur Archivierung digitaler Unterlagen. 15. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ am 2. und 3. März 2011 in Schwerin (Veröffentlichung des Landeshauptarchivs Schwerin), Schwerin 2012, S. 6–9, hier S. 7. – Ralf Maria Guntermann – Christoph Schmidt, Akzession Digitaler Daten im Landesarchiv NordrheinWestfalen – Ein Sachstandsbericht zum Projekt ADD+LAV. In: Ebd. S. 16–20, hier S. 19 f. – Jörg Homberg, Umsetzung des OAIS-Konzepts im Brandenburgischen Landeshauptarchiv. Ein Arbeitsbericht. In: Ebd. S. 42–44, hier S. 43 f. – Ilka Stahlberg, Konzipierung des digitalen Zwischenarchivs in Brandenburg und der Sachstand bei der DMS-Einführung in der Brandenburgischen Landesverwaltung – ein Arbeitsbericht. In: Ebd. S. 46–51, hier S. 48 f. – Karsten Huth – Burkhard Nolte, Der Freistaat Sachsen auf dem Weg zum Langzeitspeicher und elektronischen Archiv. In: Ebd. S. 52–58, hier S. 55–58. – Joachim Rausch, Datenbankarchivierung – Erfahrungen und Perspektiven im Bundesarchiv. In: Ebd. S. 74–78, hier S. 76. – Mike Zuchet, Pilotprojekte zur Langzeitarchivierung digitaler Email-Korrespondenz. In: Ebd., S. 80–82, hier S. 80. – Heike Maier, Digitale Langzeitarchivierung im Stadtarchiv Stuttgart mit PADUA. Ein Erfahrungsbericht. In: Ebd. S. 84–88, hier S. 85, 88. – Gutzmann (wie Anm. 20) S. 37– 39. – Puchta, Bewertungskriterium (wie Anm. 18) S. 30–34. – Kristina Starkloff, Überlieferung von E-Mail-Konten als genuin digitale Unterlagen. Archivwürdigkeit, Übernahmemethodik und Einblicke in die Entwicklung eines Werkzeugs. In: Kai Naumann – Michael Puchta (Hrsg.), Kreative digitale Ablagen und die Archive. Ergebnisse eines Workshops des KLA-Auschusses Digitale Archive am 22./23. November 2016 in der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns (Sonderveröffentlichungen der Staatlichen Archive Bayerns 13), München 2017, S. 39–43, hier S. 41 f. – Kathrin Schroeder – Karsten Huth – Niels Hoppe – Ekkehard Fertig-Bilger, Das „Digitale Archiv“ des Bundesarchivs. In: Staatsarchiv St. Gallen (Hrsg.), Entwicklung in den Bereichen Records Management / Vorarchiv – Übernahme – Langzeitarchivierung. 13. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ vom 27./28. April 2009 ausgerichtet
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im Gegenteil: Die im ISO-Standard 14721 beschriebenen theoretischen Konzeptionen für die digitale Welt formulieren für die funktionalen Aufgabenbereiche eines OAIS weitestgehend das, was die klassischen Archive seit jeher für ihre analogen Unterlagen praktiziert haben69. vom Staatsarchiv St. Gallen (Veröffentlichungen des Staatsarchivs St. Gallen), St. Gallen 2009, S. 18–26, hier S. 18–24. – Jörg Homberg, Planung, Ausbau und Betrieb des brandenburgischen revisionssicheren digitalen Langzeitarchivs nach OAIS. In: Ebd. S. 67–73, hier S. 67–73. – Andreas Jüngling – Ulrich Kamp, Das Archivierungssystem AMphora der Aktion Mensch. In: Ebd. S. 78–88, hier S. 78, 80, 88. – Katharina Ernst – Heike Maier, PADUA: Produktivsystem für die Archivierung digitaler Unterlagen im (Stadt-) Archiv Stuttgart. In: Ebd. S. 89–97, hier S. 89. – Martin Kaiser, arcun. Überlegungen zur digitalen Langzeitarchivierung als Dienstleistungsangebot. In: Ebd. S. 98–108, hier S. 105–108. – Martin Lüthi, Archivierung von Unterlagen aus Geschäftsverwaltungssystemen (GEVER): Projekt AUGev und Pilotprojekt LARIS I. In: Ebd. S. 109–124, hier S. 111–115. – Keitel – Lang (wie Anm. 36) S. 35 f. – Sigrid Schieber, Das Digitale Archiv der hessischen Staatsarchive. Einrichtung und Ausblick. In: Susanne Wolf (Hrsg.), Neue Entwicklungen und Erfahrungen im Bereich der digitalen Archivierung: von der Behördenberatung zum Digitalen Archiv. 14. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ vom 1. und 2. März 2010 in München (Sonderveröffentlichungen der Staatlichen Archive Bayerns 7), München 2010, S. 37–42, hier S. 39–41. – Michael Kirstein – Karl-Ernst Lupprian, Das Digitale Archiv der staatlichen Archive Bayerns – Konzeption und Planung. In: Ebd. S. 43–47, hier S. 43, 45. – Burkhard Nolte – Karsten Huth. LeA: Langzeitspeicherung und elektronische Archivierung im Freistaat Sachsen – Ausgangslage und aktueller Sachstand. In: Ebd. S. 48–54, hier S. 53 f. – Lambert Kansy, Aufbau einer Infrastruktur für die digitale Archivierung im Staatsarchiv BaselStadt. Werkstattbericht. In: Ebd. S. 55–62, hier S. 55–59. – Susanne Knoblich, Übernahme und Archivierung elektronischer Unterlagen durch das Landesarchiv Berlin – Ein Werkstattbericht. In: Ebd. S. 63–68, hier S. 66. – Christian Keitel, Das Repräsentationenmodell des Landesarchivs BadenWürttemberg. In: Ebd. S. 69–82, hier S. 75–80. – Vgl. auch Rost (wie Anm. 38) S. 81–90, insbesondere aber S. 83 f., 90), die eine kritische Distanz zum OAIS-Modell im Interesse archivwissenschaftlicher und pragmatischer Überlegungen wahrt. – Henrike Hoff (Die Erweiterung des Lesesaals zur Nutzung digitaler Archivalien. In: Jörg Filthaut (Hrsg.), Von der Übernahme zur Benutzung. Aktuelle Entwicklungen in der digtalen Archivierung. 18. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ am 11. und 12. März 2014 in Weimar (Schriften des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar 6), Weimar 2014, S. 99–104, hier S. 100) argumentiert ähnlich aus rechtlicher Perspektive. 69 Gemeint sind die Übernahme (Ingest), die Magazinierung (Archival Storage), die Verwaltung (Administration), die Erschließung (Data Management), die Zugänglichmachung (Access) und die Erhaltung (Preservation Planning) des Archivgutes im Sinne der Aufgabenbereiche des OAIS-Modells (Referenzmodell für ein Offenes Archiv-Informations-System (wie Anm. 40) S. 33–35. Brübach (wie Anm. 44) Kap. 4:9–4:12. – Vgl. hierzu z.B. die Definition der Archivierung in Art. 2 Abs. 3 BayArchivG (wie Anm. 32): „Archivierung umfaßt die Aufgabe, das Archivgut zu erfassen, zu übernehmen, auf Dauer zu verwahren und zu sichern, zu erhalten, zu erschließen, nutzbar zu machen und auszuwerten“.
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Zu Beginn dieser Ausführungen wurde die Frage aufgeworfen, ob es der Archivwissenschaft in ihrer überkommenen Form überhaupt noch bedarf. Um sich einer Antwort zu nähern, wurden ausschnittartig Beobachtungen aus den Bereichen der Datenstrukturierung und -formate und des damit verbundenen Verständnisses von Dauerhaftigkeit, der Rolle der Nachvollziehbarkeit im Authentizitätsdiskurs sowie der personellen Beschränkung des archivarischen Fachdiskurses zuammengetragen. Ohne auf dieser Grundlage ein vollumfassendes Urteil fällen zu können, so wird doch eines bereits sehr deutlich: Dass auf zentrale Fragen der digitalen Archivierung in den klassischen Archiven teilweise sehr unterschiedliche und manchmal sogar konträre Antworten gefunden wurden und werden, diskreditiert weder die eine noch die andere Seite in ihrem fachwissenschaftlichen Anspruch und Handeln. Aber es zeigt, dass es sich lohnen kann, über institutions- und aufgabenfundierte Rahmenbedingungen der klassischen Archive in der digitalen Welt noch mehr nachzudenken. Schließlich kann der Herausforderung der digitalen Archivierung nicht damit begegnet werden, indem der Dominanz aus der Praxis geborener Lösungen ohne ausreichende Rückkoppelung an spezifisch archivfachliche Anforderungen das Wort geredet wird. Ein solcher archivwissenschaftlicher Aufbruch sui generis in die Welt der digitalen Archivierung kann dann auch zur Überwindung der archivarischen Sprachlosigkeit beitragen. In ihm müssen die Erkenntnisse eines fortzuführenden und noch weiter zu intensivierenden interdisziplinären informationswissenschaftlichen Diskurses weiterhin ihren Platz finden, aber nicht um den Preis, auf unterschiedliche Herausforderungen unreflektiert mit denselben Lösungen zu antworten und die Ergebnisse des eigenen Fachdiskurses der letzten 150 Jahre aus dem Auge zu verlieren.
Eine Reise durch Bayern Von Martin Rüth Im Jahre 2008 übernahm das Staatsarchiv Landshut eine Reihe von Unterlagen aus dem Familienarchiv der Grafen von Lösch auf Gern bei Eggenfelden (Lkr. Rottal-Inn). Die Familie von Lösch besitzt diese niederbayerische Herrschaft erst seit knapp 100 Jahren und hatte ihre früheren Hauptsitze in Schloss Hilgertshausen (heute Gde. Hilgertshausen-Tandern, Lkr. Dachau) sowie in Stein an der Traun (heute Stadt Traunreuth, Lkr. Traunstein). Unter den damals erworbenen Archivalien befindet sich auch ein Konvolut von Reisebeschreibungen, die Max Emanuel Graf von Lösch (1773–1840) auf seinen Reisen zwischen 1797 und 1831 anlegte1. In Tagebuchform beschreibt er dort die bereisten Landschaften und Sehenswürdigkeiten sowie die jeweilige Bevölkerung. Vor allem seine Reise 1803 durch das damals von den napoleonischen Kriegen und Umbrüchen geprägte Bayern, von München über Niederbayern, die Oberpfalz und dann in die neubayerischen Gebiete in Ober- und Unterfranken bis Aschaffenburg ist sehr ausführlich dargelegt und soll der Inhalt dieses kleinen Aufsatzes sein. Von Interesse an diesen Aufzeichnungen ist vor allem der Blick, mit dem ein den Idealen der Aufklärung verpflichteter altbayerischer Adeliger aus dem Umkreis des Münchener Hofes – Max Emanuel war Kammerherr und Hofrat und verbrachte einen Großteil seiner Lebenszeit in München – das Land und seine Bewohner erlebte. Besonders interessant sind darüber hinaus seine Eindrücke von den großen Gebieten in Franken, die Bayern nach der Auflösung der Hochstifte Bamberg und Würzburg in der gerade erst vollzogenen Säkularisation erworben hatte. Diese Gebiete waren noch kein ganzes Jahr bayerisch, als sie Lösch im Sommer 1803 bereiste, und seine Eindrücke geben ein fesselndes Bild auf die Verhältnisse in diesem „Neubayern“, das er per Schiff, per Kutsche, aber auch häufig zu Fuß durchquerte. Ursache dieser Reise war im Übrigen ein privates Ungemach, eine gescheiterte Verbindung mit Gräfin Charlotte von Leiningen-Heidesheim. Dies trieb ihn aus München, um eine bereits seit längerem geplante Reise Signatur: Staatsarchiv Landshut, Nachlässe und Nachlasssplitter Nr. 440; alle nachfolgenden Zitate stammen aus diesem Archivale. 1
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in „einige der süd- und westdeutschen Provinzen“ anzutreten. Der Zeitpunkt war auch generell günstig, denn der Friede von Lunéville 1801 hatte die Kriege des Reichs mit dem nachrevolutionären Frankreich zumindest vorübergehend beendet und Süddeutschland wieder zu einem sicheren Reiseland gemacht. Die Reise begann am 21. Juli 1803. Graf Max Emanuel von Lösch bestieg gegen Mittag in München ein Floß und fuhr isarabwärts bis Freising, wo er übernachtete. Freising war gerade bayerisch geworden und der Reisende bemerkte den Niedergang, den die Stadt erlitt, die „von einer Bischöflich-Reichsfürstlichen Residenz in eine bayerische Randstadt“ herabgesunken war. Der Dom, den er besichtigte, gefiel ihm nicht besonders, es sei eine „von außen unansehnliche Klosterkirche … von innen ist selbe etwas nieder und mit Verzierungen überladen“, das typische Urteil eines Mannes der Aufklärung und Anhängers der zeitgenössischen klassizistischen Formensprache, dem die Welt des Barock nichts mehr zu sagen vermochte. Immerhin bemerkt er das damals noch im Dom vorhandene große Altarblatt „die unbefleckte Empfängnis vorstellend, von Rubens, welches nach München überbracht wird“. Von Freising aus geht es am nächsten Tag wieder per Floß weiter über Moosburg und Isareck (Gde. Wang, Lkr. Freising) nach Landshut, wo er wieder Station macht. Er beschreibt die Stadt nicht näher, erwähnt nur die Martinskirche und die Burg Trausnitz und bemerkt wohlwollend, „die Lage dieser Stadt ist sehr schön, fruchtbar, manigfaltig und hier und da mit Weinbergen umgeben“, deren Weine aber nur wenig Qualität hätten. Diese Erkenntnis bestand auch in Landshut bereits seit langer Zeit und führte dazu, dass der Weinbau einhundert Jahre später aus der Gegend völlig verschwunden war. Der Hauptgrund für den Besuch der Stadt war für ihn jedoch die Anwesenheit des Kurprinzen, des späteren Ludwigs I., der in dieser Zeit an der erst kurz zuvor von Ingolstadt nach Landshut verlegten Landesuniversität studierte2. Ihm macht von Lösch nun seine Aufwartung. Leider beschreibt er den damals knapp 17jährigen Prinzen nicht näher. Das hohe Ansehen, das dieser bei seinen Lehrern wie auch bei den Bürgern der Stadt genoss, wird aber eigens betont. Von Landshut aus führt die Reise noch bis Landau an der Isar weiter auf dem Fluss, ab hier reist er mit der Kutsche zu verschiedenen Adelssitzen in diesem Raum, Münchsdorf (Gde. Roßbach, Lkr. Rottal-Inn) der Freiherrn von Mandel, Arnstorf (Lkr. Rottal-Inn) der Freiherrn von Leyden bzw. von 2
S. Heinz Gollwitzer, Ludwig I. von Bayern, München 1986, S. 96 ff.
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Closen und Mariakirchen (Markt Arnstorf, Lkr. Rottal-Inn) der Freiherrn von Pfetten bzw. von Closen, wo er jeweils gastfreundlich aufgenommen wird und mehrere Tage bleibt. Neben seinen gesellschaftlichen Pflichten wie Jagdausflügen und Familiendiners widmet er sich auch der dortigen landwirtschaftlichen Ökonomie, bemerkt den schlechten Zustand der Rinder, ausgelöst durch den Futtermangel nach der schlechten Ernte des vergangenen, verregneten Jahres und ärgert sich über die Dummheit und Kurzsichtigkeit des „Pöbels“, der die neu gepflanzten Obstbäume immer wieder beschädigt oder fällt. Ganz der standesbewusste Adelige berichtet er ausführlich aus dem ebenfalls von ihm besuchten Schloss Göttersdorf (Stadt Osterhofen, Lkr. Deggendorf ), dass sich der dortige Graf Fugger, dessen Familie Schloss und Hofmark im 17. Jahrhundert erworben hatte3, „ausser Stand“ vermählt habe, bemerkt aber immerhin: „seine bürgerliche Gemahlin scheint sich sehr gut in eine Lage zu fügen, welche so hoch über ihrer Geburt und Aussicht erhoben war“. Am 3. August trifft er in Straubing ein. Auch diese Stadt gefällt ihm recht gut, obwohl er das Bettlerunwesen und die mangelnde Reinlichkeit der Straßen kritisiert. Sehr unangenehm fällt ihm, dem Mann der Aufklärung und Befürworter der Säkularisation, die lebhafte Frömmigkeit auf: „Andächteley und Bigottismus scheint hier unter dem Volk noch sehr zu thronen, da nicht nur Mirakelbilder noch in der Tagesordnung sind sondern die alten Weiber den ganzen Tag in den stets offenen Kirchen ihr Unwesen treiben“. Von Straubing aus geht sein Weg über die Ausläufer des Bayerischen Waldes nach Norden, wo er mehrmals Station macht. Anschaulich schildert er eine durch ein Unwetter bedingte ungeplante Übernachtung in einem Bauernhof in Wäscherszell (heute Gde. Rattiszell, Lkr. Straubing-Bogen), wo er die anwesende Bäuerin erst davon überzeugen muss, kein Räuber zu sein, von denen es in dieser Gegend damals wirklich etliche gegeben habe. Sie gewährt ihm dann auch Obdach und unterhält ihn unter anderem mit ihren Klagen über die Aufhebung der Feiertage, deren unglückliche Folgen sich schon noch zeigen würden. Nach Überschreitung der Grenze zur Oberpfalz meidet er die Stadt Regensburg, damals Territorium des gerade neu gegründeten Fürstentums Regensburg unter Karl Theodor von Dalberg, was von Bayern aber erst
Otto Helwig, Das Landgericht Landau a.d. Isar (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern, Reihe I, Heft 30), München 1972, S. 137 f. 3
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1805 anerkannt werden sollte4, und reist stattdessen über mehrere Etappen nach Amberg, wo er am 8. August eintrifft. Die Oberpfälzer Bevölkerung schildert er sehr kritisch, aber wohl auch stereotyp als verschlagen, roh, gewalttätig und jederzeit bereit, Fremde zu betrügen und auszubeuten. Er betont aber auch, dass dies vor allem durch die Armut zu erklären sei, die in diesem kalten Land mit seinem unfruchtbaren und steinigen Boden herrsche und dass das Volk von seinen bayerischen Herren zudem immer mehr ausgebeutet als klug verwaltet worden sei. Viele Menschen würden es schon in jungen Jahren verlassen, um anderswo ein Auskommen zu finden, und zögen oft in Scharen auf der Suche nach Arbeit durch die benachbarten Länder. Die Aufklärung, wie er sehr unspezifisch erklärt, sei hier noch nicht richtig angekommen. Auf der Zwischenstation in Schwandorf erwähnt er dagegen die „niedliche Wallfahrtskirche“ mit dem nun aufgelösten Kapuzinerkloster, deren Wallfahrten früher viel Geld in die Stadt gebracht hätten, eines der ersten Male, wo Graf Lösch auch die negativen Folgen der Säkularisation und der neuen Religionspolitik als Teil der von ihm vermissten „Aufklärung“ nennt. Amberg findet bei ihm nur sehr mäßiges Lob, er beschreibt die noch vollständig vorhandene Befestigung mit Stadtmauern, Türmen und Gräben, innerhalb deren aber meist enge und dunkle Gassen mit nur wenigen „ansehnlichen Gebäuden“ vorherrschen würden. Die wichtigen Gebäude und Kirchen werden von ihm nur erwähnt aber nicht beschrieben, außer dass er kritisch anmerkt, in der Hauptpfarrkirche St. Martin seien 23 Altäre zu finden, in seinen Augen viel zu viele. Die Einwohner – in diesem Falle sicherlich nur die wenigen höheren Beamten und Bildungsbürger, mit denen er Kontakt fand – würden sehr über Langeweile klagen, doch immerhin sei nun eine Musen- und Lesegesellschaft entstanden, die in einem dafür angemieteten Haus zum Lesen, Spielen und Musizieren einlade. Ab und an gäbe es dort auch Bälle oder Konzerte. Das Warenangebot, das er scheinbar genau studierte, sei mager, bei den Lebensmitteln gäbe es vor allem Obst nur selten und wenn, dann aus Franken importiert, die Fleisch- und Brotpreise seien zudem bei meist schlechter Qualität sehr hoch. Ursache dafür dürften zumindest auch die geringen landwirtschaftlichen Erträge der näheren Umgebung sein, die zu teuren Lebensmitteltransporten zwängen. In der Umgebung der Stadt interessieren ihn insbesondere einige Bergwerke, die er besuchte. Vor allem wird ein großes Eisenbergwerk „eine halbe Stunde vor der Stadt“ Konrad M. Färber – Albrecht Klose – Hermann Reidel (Hrsg.), Carl von Dalberg. Erzbischof und Staatsmann (1744–1817), Regensburg 1994, S. 126 ff. 4
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geschildert, das 30–40 Bergleute beschäftige, die Erz für 32 Schmelzöfen („worunter sich auch zwei ausländische befinden“) förderten. Der Transport dorthin erfolge auf landesherrliche Kosten auf großen, vierspännigen Wägen und würde zumeist im Winter durchgeführt, um der ländlichen Bevölkerung auch in dieser Zeit ein Einkommen zu geben. Ein nahebei gelegenes Steinkohlebergwerk sei dagegen mangels Absatzmöglichkeiten zur Zeit stillgelegt. Nach zwei Tagen Aufenthalt verlässt er dann Amberg und gelangt „auf der Nürnberger Straße durch eine neu angelegte Pappelallee“ in das „Ländchen Sulzbach“. Lösch ist noch bewusst, dass dies bis vor wenigen Jahren ein eigenes Reichsterritorium bildete, auch wenn Kurfürst Karl Theodor als letzter Sulzbacher Herrscher mit dem Erbe von Bayern und der Kurpfalz dieses in seine neue Ländermasse eingebracht, seine Regierung bereits 1791 aufgehoben und mit der der Oberpfalz in Amberg vereinigt hatte5. Er rühmt die augenscheinliche Fruchtbarkeit des kleinen Landes und seine grünen Wiesen, Basis für eine erfolgreiche Viehzucht. Auch ein umfangreicher Flachs- und Hopfenabbau wird von ihm registriert. Die Stadt Sulzbach selbst beschreibt er als klein, stark befestigt, aber nicht sehr schön: „… nur wenige Häuser zeichnen sich von aussen aus“. Dass Katholiken und Lutheraner eine gemeinsame Kirche nutzen, wird von ihm eigens erwähnt, die Kirche selbst (St. Marien, heute die Katholische Hauptkirche, aber bis ins 20. Jahrhundert hinein simultan genutzt) aber nicht weiter beschrieben. Sie ist ein Symbol für die seit 1652 hier bestehende Gleichberechtigung dieser beiden Konfessionen.6 Daneben nennt er eine Synagoge für den jüdischen Bevölkerungsteil. Leider erwähnt er nicht (oder es fällt ihm nicht auf ), dass Sulzbach einer der wenigen Orte Altbayerns war, in dem es im 17. und 18. Jahrhundert eine jüdische Gemeinde hatte geben dürfen, deren Bevölkerungsanteil in Sulzbach um 1800 bei ca. 15 % lag. Das Schloss wird als groß, alt, weitläufig, aber leerstehend beschrieben. Dass hier 1792 als letzte Bewohnerin Maria Franziska von Pfalz-Sulzbach starb, immerhin die Mutter seines jetzigen Souveräns, Kurfürst Maximilian IV. (bald darauf König Maximilian I. von Bayern), wird von ihm mit keinem Wort erwähnt. Wahrscheinlich wusste er um die „Verbannung“ dieser Dame nach Sulzbach, nachdem sie aus einer Beziehung mit einem Bürgerlichen ein uneheliches Kind bekommen und daraufhin vom Hof ihres Mannes entfernt worden war, und ignorierte Max Piendl, Herzogtum Sulzbach, Landrichteramt Sulzbach (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern, Reihe I, Heft 10), München 1957, S. 83 f. 6 Ebd. S. 13. 5
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daher diese Verbindung mit dem Münchener Hof. Auffallend ist aber auch das gänzliche Verschweigen der hohen Bedeutung des Bergbaus in diesem Gebiet bis in die Neuzeit hinein, obwohl ihn sonst der Bergbau sehr interessiert. Um 1800 war dieser scheinbar völlig in Vergessenheit geraten. Das damalige Dorf Rosenberg nahe Sulzbach, in dem 1853 die Maxhütte gegründet werden sollte, die die Montanindustrie nach Sulzbach zurückbrachte, wird zwar genannt, aber nur als hübsches kleines Dorf mit einem Forellenbach und einem „niedlichen herzoglichen Lustschlößchen“ (vermutlich Schloss Franziskaruh, ab 1785 von Maria Franziska von PfalzSulzbach errichtet) beschrieben. Von dort aus reist er am 10. August weiter, entlang der Grenze zu den Territorien der Reichsstadt Nürnberg (die noch bis 1806 bestehen sollte) und der Markgrafschaft Ansbach (seit 1791 unter preußischer Verwaltung) in den „Fränkischen Reichskreis“. Er beschreibt diesen Kreis gleich zu Anfang als einen der schönsten und fruchtbarsten in Deutschland mit „gefälligen“ und wohlhabenden Einwohnern. Durch die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit – der Reichsdeputationshauptschluss mit der Säkularisation der geistlichen Reichsterritorien sowie der Mediatisierung der meisten Reichsstädte lag noch kein halbes Jahr zurück – war unter anderem mit dem ehemaligen Hochstift Bamberg (das allerdings bereits im September 1802 von bayerischen Truppen besetzt worden war) ein großer Teil davon an Bayern gefallen7. Und nach einigen Etappen in Dörfern des Territoriums der Reichsstadt Nürnberg gelangt er am 11. August in diesen neuen bayerischen Herrschaftsbereich. Gleich zu Anfang stellt er der bayerischen Politik in diesen neu erworbenen Gebieten ein vernichtendes Zeugnis aus. Die rigide Durchführung der Säkularisation, die radikale Abschaffung der meisten bisherigen Strukturen und Regeln, die Arroganz und Herrschsucht der neuen Beamten, die Plünderung des Kirchenguts und die harte Durchsetzung der neuen bayerischen Ordnung habe das eigentlich lebhafte und offene Wesen der hiesigen Einwohner in Furcht, Misstrauen und Empörung verwandelt. Bayern habe unter anderem nicht verstanden, dass es mit der Abschaffung der großen Klöster und sonstiger geistlichen Einrichtungen viele Menschen nicht nur wegen ihrer noch immer starken Religiosität empört, sondern auch um ihr Einkommen gebracht habe und die Tatsache, dass die dort in Besitz genommenen Kostbarkeiten an Gold und Kunstschätzen allesamt nach München verbracht würden, mache diesen Vgl. Hildegard Weiss, Stadt- und Landkreis Bamberg (Historischer Atlas von Bayern, Teil Franken, Reihe 1, Heft 21), München 1974, S. 192 ff. 7
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Missmut nur umso größer. Dem letzten Fürstbischof (Christoph Franz von Buseck) würde man nicht groß nachweinen, wohl aber dessen Vorgänger (Franz Ludwig von Erthal). Der einzige Trost sei, dass die neuen bayerischen Untertanen zumindest lieber unter dem bayerischen als dem preußischen Joch leben wollten. Über Neunkirchen am Brand und Forchheim gelangt er am 12. August in die Stadt Bamberg. Er schildert sie als „von einem beträchtlichen Umfang“, mit einer schönen Umgebung, von der sie auch keine Stadtmauer trennen würde. Es gäbe zahlreiche stattliche Gebäude, viele Klöster, „große meistens antique Kirchen“, bunte Märkte mit einem breiten Angebot an allen Nahrungsmitteln und einen lebhaften Verkehr. Die Bewohner seien höflich, munter und überaus andächtig, gingen mit ihren neuen bayerischen „Mitbürgern“ sehr „behutsam“ um und liebten alle Gattungen öffentlicher Vergnügungen. Doch auch hier habe das neue Regiment für eine spürbare Reduzierung des allgemeinen Wohlstands und damit auch des Gesellschaftslebens gesorgt. Von Einzelgebäuden wird der Dom als „altes, großes, gotisches, schwarzes Gebäude“ beschrieben, innen mit zwei Chören, zahlreichen Grabmälern und „vor der bayerischen Kirchenplünderung“ einem ansehnlichen Kirchenschatz versehen. Die fürstbischöfliche Residenz findet seine Anerkennung, ebenso das Kloster auf dem Michelsberg, das gerade aufgehoben worden war und von dessen umfangreicher Bibliothek er schreibt: „Deren Bibliothek sowie alle in selber befindlichen Kunstsachen waren bereits obsigniert und die Untersuchung der Bücher dem sehr geschickten Kapuzinerguardian von hier übertragen. Sie sollen sehr seltene Manuscripte besessen haben.“ Daneben finden vor allem „nützliche“ Gebäude wie das „Aufsessische Erziehungsinstitut, das bürgerliche Spital und das „Zeichnungsinstitut“ sowie das Privathaus des Majors Westen mit seiner umfangreichen Kunstsammlung seine Aufmerksamkeit. Bei der Beschreibung des Dominikaner-Klosters kommt dann wieder der Aufklärer und Mönchsgegner zum Vorschein: „ein altes, finsteres Gebäude mit einer Herde gemästeter Mönche, welche in ihrer Bibliothek manches alte, aber in ihren in Weinkrügen geübten Händen totes Werk besitzen“. Und er fügt sarkastisch hinzu: „Sehr weislich ließ man dieses zwecklose Kloster stehen, um die nützlichen Benediktiner zu vertreiben“. Dies ist ein Vorwurf, den er der bayrischen Regierung häufig macht, dass man nämlich die reichen, aber wirtschaftlich wie caritativ „nützlichen“ Feldklöster aufhob, die weitaus ärmeren und in seinen Augen unnützen Bettelordensklöster aber noch weiter betreibe und somit den Vorwurf der Bevölkerung bekräftige, es gehe bei der Säkularisation nicht um eine religiöse Reform, sondern nur um Geld. Auch
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die übrigen Kirchen der Stadt werden, wenn auch oft nur sehr kurz, erwähnt, etwa die „passable“ Jesuitenkirche (heute Martinskirche) sowie die 1805 abgerissene ehemalige Martinskirche am Maxplatz. Diese erlebte er bei einer religiösen Feier: „Bei einer großen Prozession aus dieser Kirche herrschte viel Andacht, welche durch das gemeinschaftliche Singen des Volks noch erbaulicher war.“ Dies dürfte eine der letzten gottesdienstlichen Handlungen in dieser Kirche gewesen sein, denn nur wenige Tage später ordnete die bayerische Regierung die Verlegung dieser Kirche (die damalige untere Pfarre) in die ehemalige Jesuitenkirche an, die neben einigen Ausstattungselementen auch das Patrozinium der alten Martinskirche übernahm.8 Von den drei Kollegiatskirchen schreibt er nur: „Die drei Collegiatskirchen mit ihren schönen Gebäuden, welche dermalen aber alle geschlossen und aufgehoben sind“. Die „Obere Stadtpfarre“ wird herablassend als „großes, altes, schwarzes Gebäude … in welcher soeben eine Litaney komisch abgesungen wurde“ beschrieben. Er fährt fort: „Die Leuthe betrachteten mich als wie einen Ankommer, die Kirche auszuplündern“. Auch sonst zeigt er sich sehr kritisch. Die Bekleidung der weiblichen Bevölkerung am Sonntag sei „geschmacklos“, der Regierungspräsident Baron von Stengel sei „ein Mann, der den übertriebenen Stolz des zweiten Adels und der Parvenues im vollsten Grade besitzt, hervorleuchten lässt und dessenthalben allgemein gehasst ist“, der Gottesdienst im Dom würde „mit einer erbärmlichen Musik abgesungen“ und auch der nachmittägliche Tanz in einem Vorortlokal findet nicht seinen Beifall: „Man tanzt nur sehr mittelmäßig die Walzer und sehr schlecht die Hupfer, mithin beide ohne Grazie und Anstand“. Auch die am Feiertag Maria Himmelfahrt nach der Jesuitenkirche führende Prozession findet keine Gnade vor seinen Augen: „Den Anfang machte ein schwerer versilberter Klotz d.h. ein Heiliger … diesem folgte ein nicht besser gearbeitetes Marienbild … Die Komposition des Hochamtes war von Mozart, welche aber erbärmlich herabgemacht wurde“. An einem Tag wandert er nach Schloss Seehof, der ehemaligen fürstbischöflichen Sommerresidenz, doch auch dieses gefällt ihm nicht, wie ja barocke Architektur generell nur selten von ihm gelobt wird: „… ein starkes, massives Viereck … und vier Thürmen, mit schwerfälligen Verzierungen ohne allen Geschmack und Architektur. … Die Zimmer sind geräumig und hell, enthalten aber nichts besonderes“.
Bruno Neundorfer, St. Martin in Bamberg (Schnell, Kunstführer Nr. 72), 2. Auflage, München-Zürich 1987, S. 2 ff. 8
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Am 17. August verläßt er die Stadt und reist weiter westwärts in das ehemalige Hochstift Würzburg, das sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in bayerischem Besitz befand und erst 1805 wieder als eigenständiger Staat an Ferdinand von Toskana fallen sollte. Erst nach dessen Auflösung 1815 wurde es dann endgültig ein Teil des bayerischen Staates9. Auch hier schildert er das Land sehr positiv, es sei reich und fruchtbar mit einer höflichen, gebildeten, arbeitsamen, aber auch schlauen und eigennützigen Bevölkerung, die frühere (geistliche) Regierung sei gut gewesen, doch heute klage das Volk über die Teuerung und die bereits von Bamberg her bekannten Probleme mit der neuen Obrigkeit. Über Haßfurt reist er zunächst nach Schweinfurt, der gerade mediatisierten ehemaligen Reichsstadt. Von der Umgebung ist er sehr angetan: „… überaus lachend und wie ein großer Garten … von Weinbergen und Obstbäumen geschmückte Gegend“. Die Stadt selbst besitze noch umfangreiche Befestigungen, im Innern reinliche Straßen und „niedliche Häuser“, aber eine stagnierende, rein auf die Produktionen aus dem Agrarbereich und den Handel mit allen möglichen fremden Produkten orientierte Wirtschaft, die nach seiner Vermutung von der früheren „despotischen“ Herrschaft des einheimischen Patriziats herrührt. Auch die wenigen Gebiete außerhalb der Stadt, die zur ehemaligen Reichsstadt gehörten, seien froh, diesem Regime entronnen zu sein. Die Stadt selbst war wohl über den Regierungswechsel keineswegs so froh und die Kritik an den wirtschaftlichen Verhältnissen zeugt auch von einem gewissen Unverständnis gegenüber den Strukturen der alten Handelsstädte, die ja häufig wesentlich mehr Handel und Zwischenhandel trieben als nur selbst hergestellte Produkte zu verkaufen.10 Immerhin berichtet er später selbst über die Bleiweißfabrik am Main, vermutlich die um 1770 errichtete Wolff´sche Bleiweißmühle, der Beginn der später so erfolgreichen Chemie- und Farbenindustrie Schweinfurts. Am 19. August gelangt Lösch dann in die Stadt Würzburg, wo er bis zum 25. bleiben wird. Von ihrer Schönheit und Pracht ist er stark beeindruckt, beobachtet aber auch hier, dass die im Allgemeinen wohlhabend und umgänglich wirkende Bevölkerung von dem Regierungswechsel sehr wenig angetan sei. Die herrschende Teuerung verbunden mit dem Verschwinden S. Ivo Striedinger, Das Großherzogtum Würzburg. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 6 (1933) S. 250–256. 10 S. hierzu Uwe Müller, Schweinfurt – von der kaiserlich freien Reichsstadt zur königlich bayerischen Stadt zweiter Klasse. In: Rainer A. Müller – Helmut Flachenecker – Reiner Kammerl (Hrsg.), Das Ende der kleinen Reichsstädte 1803 im süddeutschen Raum (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Reihe B, Beiheft 27), München 2007, S. 139–163. 9
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des einstmals glänzenden fürstbischöflichen Hofes und des dort lebenden weltlichen und geistlichen Adels, die Schließung der zahlreichen Klöster und ihrer caritativen Einrichtungen und der Verlust vieler mit diesen In stitutionen verbundenen Einnahmequellen führten wie in Bamberg zu großen Spannungen. Auch hier würden die bayerischen Behörden nicht sehr glücklich agieren. Am ersten Tag beginnt er nach Visiten bei den führenden bayerischen Beamten mit der Besichtigung der Stadt. Die ehemalige fürstbischöfliche Residenz findet seinen vollen Beifall, sie sei ein „prächtiges, königliches Gebäude von neuem Geschmack“ – der erste Fall, dass er ein barockes Gebäude lobt. Auch von dem Inneren ist er sehr angetan, vor allem von dem große Treppenhaus „… nach dem neuisten florentinischen Styl … das Plafond dieser herrlichen Treppe ist von Diaboli gemahlen“, der Name Tiepolo war ihm offenbar nicht so geläufig. Auch den Kaisersaal, die Residenzkirche und die kaiserlichen Appartements mit dem Spiegelkabinett beschreibt er voll Bewunderung. Lange scheint er sich bei seinen Besichtigungen aber nicht aufgehalten zu haben, denn er besieht noch das Jesuitenkolleg, die Universität, das „Planck´sche Naturalienkabinett“ im ehemaligen Franziskanerkloster – heute bekannt als die Sammlung des Joseph Anton Bonavita Blanck (1740–1827), Franziskanerpater und Professor an der Universität Würzburg, und Kern der heutigen zoologischen Sammlung der Universität –, daneben den Dom und die Neumünsterkirche, bevor er mit dem Domherrn Baron von Hornstein bei Regierungspräsident Baron von Leyden zu Mittag speist. Alle die genannten Gebäude, obwohl mehrheitlich im Barockstil erbaut oder ausgestattet, finden erstaunlicherweise seinen vollen Beifall. Am Nachmittag besieht er noch die Marienkapelle auf dem Marktplatz, die Mainbrücke und dann die Festung Marienberg, die er mit all ihren Gebäuden und Befestigungen ausführlich beschreibt. Am folgenden Tag, einem Sonntag, besucht er gleich drei Messen in der Jesuitenkirche, im Dom und in der Residenzkirche. Scheinbar interessiert ihn dort primär die Kirchenmusik, denn nur sie wird – lobend – erwähnt. Danach ist er Zuschauer der Truppenparade auf dem Residenzplatz, speist dann bei Oberst Graf von Preysing, aus München stammend wie er, und vergnügt sich am Nachmittag in dem „Huttischen Garten, einer artigen öffentlichen Promenade mit schattigen Bäumen, mehreren Billards und anderer Spiele nebst einem guten Traitteur“. Der kommende Tag gehört neben einigen weiteren Kirchen – Lösch bemerkt, dass es in Würzburg 12 Klöster gäbe, zum Teil bereits aufgelöst, zum Teil in Auflösung begriffen – vor allem dem Julius-Spital, „einem der größten, reichsten und prächtigsten Deutschlands“. Es sei gut geführt, könne aber noch ei-
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nige Verbesserungen vertragen. Die noch verbleibenden Tage werden dem Schul- und Universitätsbesuch gewidmet. Lösch bemerkt positiv, wie viele Schulen es in der Stadt gäbe, auch wenn die Schullehrer sehr schlecht bezahlt würden. Daneben beschäftigen ihn zahlreiche gesellschaftliche Verpflichtungen. Er scheint es zu genießen, hier wieder in einem größeren städtischen Umfeld mit gemeinsamen Diners, Promenaden, Einladungen und Bällen zu sein, bei denen er ungezwungen mit Standesgenossen verkehren kann. Er lobt das Gesellschaftsleben ausdrücklich, auch wenn er weiß, dass dies nur noch ein Schatten des früheren glänzenden Hoflebens ist, und versichert wohlwollend, die Feier- und Genussfreude aller Stände in dieser Stadt sei sehr groß. Am 25. August bricht er auf, um weiter nach Westen in Richtung Aschaffenburg zu reisen. In Triefenstein, bei dem er das gerade säkularisierte ehemalige Augustiner-Chorherrnstift erwähnt, passiert er die Grenze zu einem der bisher noch verbliebenen Kleinstaaten, der ehemaligen Grafschaft Wertheim, nunmehr Territorium der Fürsten von LöwensteinWertheim. Diese hatten durch die gerade vollzogene Säkularisation mit Triefenstein und Kloster Bronnbach einige ehemalige Hochstift-Würzburgische Gebiete hinzugewonnen, sollten dieses Territorium aber nur noch wenige Jahre bis zur Mediatisierung 1806 regieren können.11 Lösch hält augenscheinlich wenig von solchen Kleinstaaten und beschreibt dieses als „Ländchen … so aber unter mehreren Herrn getheilt ist und seiner Unbedeutheit wegen hier nicht besonders anzumerken verdienet. In diesem Ländchen findet man nun schon alle Spuren eines Duodez Souverains und besonders schlechte Landstrassen, welche noch obendrein mit Weegzöllen besaet sind“. In kurzer Zeit durchquert er es und gelangt in das Territorium des Fürstentums Aschaffenburg. Dieses war gerade eben aus den rechtsrheinischen Teilen des ehemaligen Erzstifts Mainz neu gebildet worden und wurde, wie Regensburg, von dem letzten Mainzer Erzbischof Karl Theodor von Dalberg regiert. Mit Auflösung des Rheinbunds 1814 sollte es gut zehn Jahre später gleichfalls an Bayern fallen12. Wie Lösch gleich bemerkt, wird dieses Land von dem waldreichen Mittelgebirge des Spessarts S. etwa Harald Stockert, Adel im Übergang. Die Fürsten und Grafen von LöwensteinWertheim zwischen Landesherrschaft und Standesherrschaft (1780–1850) (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, Forschungen, 144), Stuttgart 2000. 12 Vgl. Günther Christ, Aschaffenburg. Grundzüge der Verwaltung des Mainzer Oberstifts und des Dalbergstaates (Historischer Atlas von Bayern, Teil Franken, Reihe 1, Heft 12), München 1963. 11
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mit seinen mächtigen Eichen und Buchen geprägt, von denen er kritisch bemerkt: „… die Franzosen haben viele der schönsten Bäume aus selbem nach Mainz und Holland geschifft“. Hier wird ein Raubbau angedeutet, den viele Wälder dieser Zeit schon seit langem erlitten – man denke nur an die Salinenwälder des Alpenvorlandes – und dem der Spessart als bevorzugtes Jagdgebiet der Mainzer Kurfürsten bisher weitgehend entgangen war. Durch dieses Waldland reist Lösch nun in Richtung auf Aschaffenburg. Unterwegs bemerkt er „einige Kreuzzieher mit haarigen Kutten, ein Beweiß, daß es noch hie und da ausser Bayern weit religiöse Gebräuche gibt, welches also die Herrn Reformatoren zur Bescheidenheit und Mäßigung anhalten solle“. Diese Begegnung, wohl mit einem Wallfahrts- oder Büßerzug, zeigt eine doch bemerkenswerte Veränderung seines Denkens, das ja bereits seit Bamberg erkennbar wird. Der überzeugte Aufklärer und Säkularisierer scheint auf dieser Reise immer mehr zu erkennen, welche materielle und immaterielle Bedeutung kirchliche Einrichtungen für die breite Masse seiner Zeitgenossen hatten und welch schlimme Folgen es haben kann, wenn diese von der bayerischen Regierung und ihren Abgesandten bedenkenlos und von heute auf morgen aufgelöst und abgeschafft werden. Am 25. August kommt er dann in der Stadt Aschaffenburg an. Die Stadt selbst findet nur einen mäßigen Beifall, sie habe nur schmale Straßen, keine schönen Plätze und nur wenige ansehnliche Gebäude, von der Bevölkerung ist er jedoch sehr angetan: „Die Einwohner sind ungemein munter und das Frauenzimmer in Durchschnitt schön, besonders, da es sich ganz nach dem französischen Geschmack durch alle Klassen kleidet“. Er lobt das vergleichsweise lebhafte gesellschaftliche Leben und fügt hinzu: „… der Hof, wenn er sich hier befindet, soll das Städtchen sehr angenehm und lebhaft machen“. Am folgenden Tag besichtigt er die Sehenswürdigkeiten, vor allem den auf der anderen Mainseite gelegenen „Schönbusch“, einen großen englischen Landschaftspark mit einem kleinen Schloss und zahlreichen Parkbauten, der in den 1770er Jahren von dem damaligen Mainzer Kurfürst Friedrich Karl von Erthal angelegt worden war. Dieser gefällt ihm sehr gut, ebenfalls die weiteren, in und bei der Stadt gelegenen Parkanlagen, während ihm das große Renaissanceschloss nicht viel sagt und er für die hier vorhandenen Kirchen, auch das große Stift St. Peter und Alexander, nur einen flüchtigen Blick übrig hat. Noch am Abend begibt er sich auf das „Nachtschiff“, das ihn auf dem Main nach Hanau und damit aus dem Bereich bringt, der in kurzer Zeit bayerisch werden wird.
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Lösch wird weiterreisen, wird Hessen bis hinauf nach Kassel besehen, dann nach Frankfurt zurückkehren und von dort aus durch die von Baden neu erworbenen ehemals pfalz-bayerischen Provinzen, Württemberg und die „neubayerischen“ Gebiete Schwabens wieder nach München zurückkehren, wo er am 8. Oktober 1803 eintreffen wird. Er scheint auf dieser Reise einige Erfahrungen gemacht zu haben. Zu Anfang noch überzeugter Vertreter der Aufklärung und Feind aller „Frömmelei“ und des Klosterwesens, lernt er mit der Zeit, dass das religiöse Leben für die breite zeitgenössische Bevölkerung Werte verkörpert, die nicht nur emotional, sondern auch wirtschaftlich hoch bedeutend sind und deren radikale Abschaffung nicht nur Unmut und Unruhe, sondern auch Armut und Elend hervorbringen kann. Der „Missionseifer“, mit dem die bayerischen Beamten gerade in den neu erworbenen Gebieten hierbei vorgehen, erscheint ihm, einmal vor Ort, doch sehr fragwürdig und fehlerhaft zu sein und er erkennt klar, dass sich Bayern damit keine zufriedenen neuen Untertanen macht. Er vermag nun mehr zu differenzieren, lehnt nicht mehr blind alles Klosterwesen ab, sondern billigt gerade den großen Feldklöstern mit ihren umfangreichen Wirtschaftsstrukturen einen nicht zu unterschätzenden Wert zu. Damit steht er etwa auf der Linie der Josephinischen Klosterreform in Österreich ab 1782, die die großen Feldklöster großteils bestehen ließ, die Bettelorden und rein kontemplativen Klöster aber fast vollständig aufhob13. Freilich bleibt Graf von Lösch auch jetzt immer noch ein Mann seiner Zeit, ein Mann der Aufklärung und eines an den zeitgenössischen Idealen des Klassizismus angelehnten Geschmacks, zudem ein Adeliger, der in den Kategorien seines Standes denkt und andere auch immer wieder danach beurteilt. Aber gerade damit bieten diese Erlebnisse und Beobachtungen einer politisch unbedeutenden, aber für seine Zeit und innerhalb seines sozialen Umfelds typischen Privatperson einen guten Einblick in den Zeitgeist dieser unruhigen, von großen Umwälzungen geprägten und für die weitere Entwicklung Bayerns so entscheidenden Epoche.
S. hier etwa Andreas Freye, Die Josephinischen Reformen in Österreich unter Maria Theresia und Joseph II. mit dem Schwerpunkt der Kirchenreform, München 2007. 13
Paul Glück (1873–1947) – Archivar in Würzburg und Bamberg Von Klaus Rupprecht He r k u n f t u n d Fa m i l i e Paul Glück wurde am 7. August 1873 im mittelfränkischen (Bad) Windsheim geboren.1 Seine Eltern waren Friedrich Christian Karl Glück (1826–1887), zuletzt Landgerichtsrat in Nürnberg, und dessen Ehefrau Rosa, geb. Reinsch (1842–1917). Auch der Großvater Dr. Carl Christian Glück (1791–1867) hatte eine Karriere im königlich bayerischen Justizdienst durchlaufen, die ihn bis an das Oberappellationsgericht in München brachte. Er war zugleich Mitglied des Frankfurter Parlaments 1848, machte sich aber auch einen Namen als religiöser Dichter und als Sammler mit einer wertvollen und sehr umfangreichen Porträtgalerie.2 Carl Christian Glück war mit Justine Macco (1797–1833) verheiratet, einer Großnichte des berühmten Porträt- und Historienmalers Alexander Macco. Die prägende Gestalt innerhalb der Juristenfamilie Glück war sicherlich Carl Christians wissenschaftlich hoch geschätzter Vater Christian von Glück (1755–1831), der 1784 von Halle als Professor für Rechtswissenschaften an die Universität in Erlangen gewechselt war und sich dort vor allem der Erläuterung der Pandekten widmete.3 Sein Ansehen drückt sich in AnDie folgenden Angaben nach den Personalstammblättern des Paul Glück in seinen Personalakten Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns 2870 und MK 36253, dann der Personalakte im Staatsarchiv Bamberg, in welcher sich auch die Vorgängerakte des Staatsarchivs Würzburg befindet, vgl. StABa, Staatsarchiv Bamberg, Altregistratur – Verwaltungsakten K 515 Nr. 370; eine Kurzbiographie bei Wolfgang Leesch, Die deutschen Archivare 1500–1945, Band 2: Biographisches Lexikon, München u.a. 1992, S. 189. 2 Hyacinth Holland, „Glück, Carl Christian“. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Band 9, Leipzig 1879, Sp. 258. 3 Erlanger Stadtlexikon, hrsg. v. Christoph Friedrich – Bertold Frhr. von Haller – Andreas Jakob, Nürnberg 2002, S. 316–317. – Roderich von Stintzing, „Glück, Christian Friedrich von“. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Band 9, Leipzig 1879, Sp. 253–256 [Online-Version]; https://www.deutsche-biographie.de/pnd116667826.html#adbcontent (zuletzt eingesehen 14.7.2021). Als sein Hauptwerk gelten die in 34 Bänden zwischen 1790 und 1830 erschienenen „Ausführlichen Erläuterungen der Pandekten“. 1
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erkennungen aus wie etwa die Ernennung zum Geheimen Hofrat durch König Max I. Joseph 1820, die Verleihung des Verdienstordens der Bayerischen Krone verbunden mit der Erhebung in den persönlichen Adelsstand 1827 und die Ehrenbürgerwürde der Stadt Erlangen. Ihm zu Ehren wurde 1884 in Erlangen eine Straße benannt, die Glückstraße. S c h u l e , Un i v e r s i t ä t u n d Au s b i l d u n g Nach dem frühen Tod des Vaters Friedrich Christian Karl Glück im Jahr 1887 zog die Witwe mit ihren fünf Söhnen von Nürnberg in das Familienanwesen in Erlangen. In der dortigen Stadtpfarrkirche wurde der 14-jährige Paul im darauffolgenden Jahr konfirmiert. Seit dem Umzug besuchte er die Studienanstalt Erlangen, in welcher er im Sommer 1893 das Gymnasial-Absolutorium ablegte. Besonders hervorgehoben werden sein Fleiß und sein gutes Benehmen sowie seine sehr guten bis guten Leistungen in Geschichte und Religion sowie in sämtlichen Sprachen (Deutsch, Latein, Griechisch und Französisch).4 Bei der Wahl seines Studienfachs orientierte sich Paul Glück an der Familientradition. Er begann im Wintersemester 1893/94 das Studium der Rechtswissenschaften an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen, das er dort im Sommer 1897 mit dem ersten juristischen Staatsexamen abschloss. Zur Erweiterung des eigenen Horizonts hatte er das Wintersemester 1895/96 und das Sommersemester 1896 an der Friedrich-WilhelmsUniversität in Berlin verbracht. Sowohl in Erlangen wie in Berlin war es Paul Glück offenbar wichtig, neben den juristischen Pflichtveranstaltungen philosophische und rechtsgeschichtliche Vorlesungen und Übungen zu besuchen. Dazu gehörten kunstgeschichtliche Vorlesungen wie auch drei Semester lang Übungen im Zeichnen, dann Vorlesungen zur Geschichte der politischen Theorie bei Heinrich von Treitschke (1834–1896) in Berlin, zur Neuesten Geschichte von 1850 bis 1871 bei Friedrich Gustav Johannes von Bezold (1848–1928) in Erlangen oder zur Allgemeinen Weltgeschichte bei Hans Gottlieb Leopold Delbrück (1848–1929) in Berlin. Auf das erste Staatsexamen folgte – ganz im Sinne einer Karriere als Jurist im Staatsdienst – der Vorbereitungsdienst für die höhere Justiz- und Verwaltungslaufbahn. Vom 20. Oktober 1897 an war Paul Glück als Rechtspraktikant am Amtsgericht Erlangen tätig, um dann vom 19. Juli bis zum Dies und das Folgende nach dem von Paul Glück selbst zusammengestellten biographischen Ordner in: Staatsarchiv Würzburg (StAWü), Familienarchiv Glück 106. 4
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11. Oktober 1898 an das Landgericht Nürnberg zu wechseln. Seine Leistungen werden als vortrefflich bezeichnet, sein Fleiß und sein dienstliches wie außerdienstliches Verhalten sehr gelobt. Und doch scheint in dieser Zeit bei Glück ein Umdenken in Bezug auf sein Berufsziel stattgefunden zu haben. Schon Ende Juli 1898 bewarb er sich als Praktikant für den Archivdienst – wenn möglich im Kreisarchiv Nürnberg – und bat zugleich um Zulassung zum archivalischen Vorbereitungsdienst beim Allgemeinen Reichsarchiv in München.5 Was genau seine Neuorientierung bewirkte, dazu konnte bisher keine Äußerung gefunden werden. Seine Neigungen zur Geschichte und insbesondere zur Rechts- und Verwaltungsgeschichte werden jedoch schon aus seinen Kursbelegungen im Studium offenbar. Die Aufnahme zum archivischen Vorbereitungsdienst wurde gewährt. Vom Tag der ersten dienstlichen Verpflichtung am 20. Oktober 1898 an war er zunächst am Allgemeinen Reichsarchiv in München tätig, wurde dann ab dem 1. März 1899 an das Geheime Staatsarchiv abgeordnet und leistete vom 15. August 1900 an die letzte Phase des Vorbereitungsdiensts wieder am Allgemeinen Reichsarchiv ab. Die Staatsprüfung für den höheren Archivdienst absolvierte er Anfang Januar 1902 mit der Note II 7/28, was ihm den ersten Rang unter den Absolventen einbrachte. Di e n s t z e i t a m K re i s a r c h i v Wü r z b u r g Nach dem erfolgreichen Abschluss der Ausbildung für den höheren Archivdienst suchte Paul Glück Mitte Februar 1902 beim Prinzregenten Luitpold von Bayern um Anstellung als Kreisarchivsekretär nach. Als möglichen Dienstort favorisierte er Würzburg, da er, wie er betonte, Franke sei und die Universitätsstadt ihm für seine wissenschaftliche Fortbildung die nötigen Hilfsmittel bieten würde. Der Prinzregent oder besser die Archivverwaltung kamen diesem Wunsch nach; zum 1. März 1902 erfolgte Paul Glücks Übernahme als Kreisarchivsekretär im Kreisarchiv Würzburg unter dem damaligen Leiter Sebastian Göbl6. Nach kurzer Einarbeitungsphase Vgl. BayHStA, Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns 2870 und MK 36253. Vgl. Leesch (wie Anm. 1) S. 190; dann der Nachruf von Paul Glück auf seinen ehemaligen Chef in Archivalische Zeitschrift 33 [Neue Folge 20] (1914) S. 293–300. Darin schreibt Glück S. 295, damit auch Einblick in seine eigene Idee vom Beruf des Archivars gewährend: „Was der Archivar vornehmlich sein soll: der Sammler und Bewahrer, der Ordner und Kenner seiner Archivbestände; der Darsteller und Erläuterer ungeklärter rechtlicher und geschichtlicher Fragen aus seinem Archivbereiche; der teilnehmend mitschaffende Berater und Förderer aller im Archive Arbeitenden; das war Göbl voll und ganz.“ 5 6
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Paul Glück an seinem Arbeitsplatz im Kreisarchiv Würzburg, vor 1916, Fotograf unbekannt (StAWü, Familienarchiv Glück 96).
wurde er zunehmend in den Recherchedienst eingebunden. Als Verzeichnungsprojekte wurden ihm die Würzburger Reichstagsgesandtschaftsberichte übertragen sowie die Regestierung von Mainzer Urkunden, die aus diversen Aktenbeständen entnommen worden waren. Zusätzlich verfasste er Regesten zu den in den Libri diversarum formarum (Urkundenbücher des Hochstifts Würzburg) enthaltenen Urkundenabschriften.7 Nur knapp zwei Jahre nach seinem Dienstantritt in Würzburg stellte Paul Glück allerdings am 26. Mai 1904 ein Gesuch um Versetzung an das Kreisarchiv München8. Seinen Wunsch begründete er mit dem heißen und trockenen Klima in Würzburg sowie den bedeutenden Münchner StAWü, Staatsarchiv Würzburg – Altregistratur 288 (Geschäftsberichte der Jahre 1903 ff.). BayHStA, Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns 2870, Schreiben vom 26. Mai 1904. 7 8
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Staatssammlungen. Eine Reaktion darauf findet sich nicht in den Akten; eine Versetzung fand auch nicht statt. Möglicherweise spielte bei dem Versetzungswunsch auch bereits die Liasion mit Elisabeth Kaiser, Tochter des Eisenbahnoberexpeditors Benedikt Kaiser in Ostermünchen (Lkr. Rosenheim) eine Rolle. Die Eheschließung fand am 26. April 1906 in Rosenheim statt9, der Lebensmittelpunkt blieb jedoch Würzburg. Dort wohnte das frisch vermählte Ehepaar in der Heidingsfelder Straße 25. Mit der Tochter Rosa kam am 8. März 1907 das erste und einzige Kind aus dieser Ehe in Würzburg zur Welt. Seine Ehefrau Elisabeth verstarb bereits am 31. März 1909. Das anfängliche Jahresgehalt von 2280 Mark konnte der Kreisarchivsekretär Paul Glück durch Gehaltszulagen und das regelmäßige Vorrücken in höhere Dienstaltersstufen auf bis zu 3360 Mark steigern. Zum 1. Januar 1909 wurde er zum Kreisarchivassessor befördert mit einem Gehalt von 4000 Mark jährlich, seit dem 1. März 1911 mit 4500 Mark. Nachdem der Amtsleiter Sebastian Göbl krankheitsbedingt ab dem Jahresbeginn 1910 ausfiel (und seinen Dienst auch nie wieder antrat), leitete Paul Glück das Kreisarchiv Würzburg kommissarisch bis zum Amtsantritt von August Sperl am 1. Juni 1910, wie dieser betonte, „sehr gewissenhaft“. Mit Rücksicht auf die in diesem Zeitraum vollbrachten außergewöhnlichen Leistungen wurden ihm ab Juli 1910 ausnahmsweise sechs Wochen Urlaub am Stück genehmigt. Dass man Paul Glücks inzwischen erworbene regionalhistorische Kenntnisse sowie seinen wissenschaftlichen Eifer in Würzburg schätzte, ist der Tatsache zu entnehmen, dass man ihn als Verfasser der historischen Einleitungen der frühen, zwischen 1911 und 1912 erschienenen Bände der Reihe der Kunstdenkmalinventare von Unterfranken erwählte. Es handelte sich um die Werke zu den Bezirksämtern Ochsenfurt, Würzburg, Kitzingen, Karlstadt, Haßfurt und Hofheim. Zugleich war es ihm aber auch ein wichtiges Anliegen, den Benützern des Kreisarchivs Würzburg eine starke Stütze zu sein und Hilfsmittel an die Hand zu geben. So verfasste Paul Glück zusammen mit seinem Kollegen Josef Friedrich Abert 1912 „Literaturnachweise für Benützer des Kgl. Kreisarchivs Würzburg“, was ihm noch im gleichen Jahr eine besondere Anerkennung durch das Allgemeine Reichsarchiv in München einbrachte.10 StAWü, Familienarchiv Glück 106 (Heiratsurkunde Nr. 47 von 1906, Standesamt Rosenheim). 10 BayHStA, Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns 2870. 9
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Paul Glück gehörte, wie auch Josef Friedrich Abert, zur ersten Generation von Archivaren, die auf das Provenienzprinzip als innerarchivisches Ordnungsprinzip setzten. Dies stieß bei ihren älteren Vorgesetzten nicht immer auf Gegenliebe. Abert hat dies in seinem Nachruf auf August Sperl sehr schön herausgearbeitet, in dem er schreibt: „Sperl war in einer Zeit aufgewachsen, die das Provenienzprinzip in seiner scharfen Herausstellung als Grundlage jeder Archivordnung noch nicht kannte; seine jüngeren Beamten waren von der Alleingültigkeit dieses Prinzips durchdrungen. Das gab manchen scharfen sachlichen Gegensatz […].“11 Sowohl in der Theorie wie in seiner praktischen Arbeit betonte Paul Glück auch an seinem späteren Arbeitsort in Bamberg, dass ein Archiv nicht nach Pertinenzen geordnet werden solle, sondern, dass dessen innere Ordnung die Einteilung nach oder die Erhaltung der alten Kanzleizusammengehörigkeit (Provenienzprinzip) verlange.12 In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg bemühte sich die staatliche Archivverwaltung Bayerns intensiv um die oft sich selbst überlassenen kommunalen Registraturen und Archive. Man entsandte sog. Wanderarchivare, um vor Ort zumindest die älteren Bestände zu sichten und zu ordnen. Zum Teil wurden die älteren kommunalen Archivalien unter
Josef Friedrich Abert, August Sperl – Zum Gedächtnis. In: Archivalische Zeitschrift 36 (1926) S. 293–302, hier S. 296. 12 „Aus der Werkstatt des Archivars“, Vortrag von Paul Glück beim Historischen Verein Bamberg, vgl. Zeitungsausschnitte in StAWü, Familienarchiv Glück 109. – In seinen Jahresberichten des Staatsarchivs Bamberg betont Glück in den späten 1920er Jahren immer wieder die „Fortsetzung der provenienzgemäßen Ordnung der Bestände“ und sein Bemühen um eine Materialsammlung zum Thema Provenienz. Dazu beabsichtigte er eine Publikation, zu welcher es aber offenbar nie kam. Interessant ist z.B. die zwischen Paul Glück und dem Leiter des Staatsarchivs Amberg Eberl geführte Diskussion um die Anwendung des Provenienzprinzips mit Bezug zum hochstiftisch bambergischen Amt Vilseck vom Sommer 1933. Während Eberl die in den bambergischen Zentralbehörden geführten Akten mit Bezug zu Vilseck abgeben wollte und die Akten des Amtes Vilseck selbst sowie der herzoglich oberpfälzischen Akten mit Bezug zu Vilseck behalten wollte, postulierte Glück einen Unterschied zwischen einer echten und einer unechten Provenienzordnung. Die unechte Provenienz war für ihn die registraturmäßige Herkunft einer Akte oder einer Urkunde; die echte, von ihm favorisierte Provenienzordnung sollte die Rechtsfolge eines Dokuments beachten und damit nicht den Kanzleiursprung, sondern die „letzte Herkunft“, weshalb für Glück die Dokumente mit Bezug zum bambergischen Amt Vilseck letztlich alle im Staatsarchiv Amberg verbleiben sollten. Vgl. StABa, Staatsarchiv Bamberg, Altregistratur – Verwaltungsakten (K 515), Nr. 864. 11
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Eigentumsvorbehalt in die staatlichen Archive verbracht.13 Zum anderen kümmerten sich auch staatliche Archivare vor Ort um die kommunalen Archive. So verzeichneten Paul Glück und sein Kollege Alois Mitterwieser 1903 und 1904 außerhalb der Dienststunden und ohne Entgelt die Archivalien der Stadt Ochsenfurt.14 Und am 6. August 1908 bedankte sich der Marktgemeinderat Sommerhausen herzlich bei Paul Glück für die gelungene Ordnung des dortigen Gemeindearchivs. Die Geschäftsberichte des Kreisarchivs dieser Jahre zeigen ganz deutlich, wieviel Zeit die staatlichen Archivare mit der Sichtung und Aufarbeitung kommunaler Archivalien verbrachten. Von 1913 bis 1916 versah Paul Glück gar im Nebenamt die Funktion des Stadtarchivars von Würzburg, eine in diesen Jahrzehnten noch durchaus übliche Lösung.15 Die allgemeine Wertschätzung, die Paul Glück sich in über zehn Jahren als Archivar in Würzburg auch überregional erarbeitete, kam auch darin zum Ausdruck, dass das Allgemeine Reichsarchiv in München ihn als Vertreter der bayerischen Landesarchive zum 13. Deutschen Archivtag im März 1913 in Breslau entsandte. Als Delegierter des Historischen Vereins von Unterfranken und Aschaffenburg nahm er dort ebenfalls an der Hauptversammlung des Gesamtvereins der Deutschen Geschichts- und Altertumsvereine teil. Im gleichen Monat legte sein Amtsleiter August Sperl einen Beurteilungsentwurf zu Paul Glück vor, in welchem er ihn sowohl bezüglich der Kenntnisse, der Geschäftsgewandtheit, des Fleißes und Diensteifers und des schriftlichen und mündlichen Vortrags mit besten Bewertungen versah und abschließend urteilte, er sei „zum Vorstand eines jeden Kreisarchivs geeignet, später zur Einberufung an das Allgemeine Reichsarchiv; ein lauterer Charakter, ein steter Arbeiter von vorbildlicher Gewissenhaftigkeit, ein seinem Beruf mit Wärme ergebener Archivar; geKlaus Rupprecht, Die „landschaftliche Archivpflege“ in der NS-Zeit in Bayern. In: Archivalische Zeitschrift 96 (2019) S. 375–404. – Maria Rita Sagstetter, Die kommunale Archivpflege in Bayern – Grundlagen, Konzeption und Praxis. In: Dorit-Maria Krenn – Michael Stephan – Ulrich Wagner (Hrsg.), Kommunalarchive – Häuser der Geschichte. Quellenvielfalt und Aufgabenspektrum, Würzburg 2015, S. 521–558. – Bodo Uhl, Die Archivpflege in Bayern. In: Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern 29/30 (1983/84) S. 48–59. 14 Paul Glück – Alois Mitterwieser, Das Stadtarchiv zu Ochsenfurt. In: Archivalische Zeitschrift 25 [Neue Folge 12] (1905) S. 285–320. 15 Um die – zumindest nach der Aussage Glücks – bis dahin nahezu unbekannte Quellenfülle im Stadtarchiv Würzburg vorzustellen, verfasste Paul Glück 1914 folgenden Artikel: Vgl. Paul Glück, Das Stadtarchiv in Würzburg. Eine vorläufige Übersicht. In: Frankenland 1 (1914) S. 327–330. 13
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wandt, zuvorkommend und vollkommen gebildet.“16 Mit seinem Amtsvorstand August Sperl verband Paul Glück ein enges, vertrauensvolles Verhältnis. Dies wird insbesondere in den persönlichen Briefen offenbar, die beide in der Zeit des Dienstausfalls von Paul Glück in den Monaten Dezember 1913 bis Februar 1914 wechselten.17 Wegen offensichtlicher Überarbeitung litt Paul Glück an einer „heilbaren Nervenschwäche“. Um Abstand von seinem Beruf und seinem Dienstort zu bekommen, hatte er sich vorübergehend in seine alte Heimatstadt Erlangen zur Behandlung begeben. Dass auch der vorerst noch nicht zum Militärdienst eingezogene Paul Glück bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs von der allgemeinen Begeisterungswelle erfasst wurde, ist der Tatsache zu entnehmen, dass er bald nach Kriegsausbruch auf 1000 Mark von seinem jährlichen Gehalt zugunsten der Kriegskasse verzichtete sowie auf sein Gehalt als Stadtarchivar von Würzburg zugunsten des Roten Kreuzes. Privat fand Paul Glück ein neues Glück mit Wilhelmine (Minna) Holländer, Tochter des bereits verstorbenen Geheimen Rechnungsrats Georg Holländer aus Würzburg. Die Eheschließung fand am 31. Oktober 1914 in Würzburg statt. Dienstlich wie privat nun bereit, den nächsten Karriereschritt zu gehen, richtete Paul Glück im Oktober 1915 ein Gesuch um Beförderung auf eine Kreisarchivarsstelle an die vorgesetzte Behörde in München. Er verband dies mit der Bitte, ihm eine solche, wenn möglich, in gesünderem höher gelegenem Klima anzuvertrauen, womit er wohl wieder Oberbayern anstrebte. Angeboten wurden Paul Glück im Februar 1916 dann allerdings die Archivleiterstellen in Neuburg und Bamberg, woraufhin Glücks Wahl auf Bamberg fiel. Er wurde zum 1. März 1916 zum Kreisarchivar befördert unter gleichzeitiger Versetzung an das Kreisarchiv in Bamberg und der Berufung zu dessen Amtsvorstand; mit einem Gehalt von 5300 Mark. Di e n s t z e i t a m K re i s a r c h i v b z w. St a a t s a r c h i v Ba m b e r g In Bamberg folgte Paul Glück auf den bereits im Oktober 1913 aus dem Amt geschiedenen langjährigen Amtsvorstand Joseph Sebert18. Mit dessen StAWü, Familienarchiv Glück 106 (Entwurf vom 13. März 1913). Vgl. StABa, Staatsarchiv Bamberg, Altregistratur – Verwaltungsakten (K 515), Nr. 370 (Personalnebenakten Paul Glück). 18 Vgl. Leesch (wie Anm. 1) S. 565. 16 17
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Namen ist der zwischen 1902 und 1905 errichtete neobarocke schlossartige Archivneubau in der Hainstraße verbunden.19 So fand Paul Glück in Bamberg einen erst knapp zehn Jahre alten Magazin- und Verwaltungsneubau vor, der ihm gemessen an den damaligen Verhältnissen genauso beste Arbeitsbedingungen bot, wie eine repräsentative und mit 8 Zimmern und weiteren Kammern sehr geräumige Amtsleiterwohnung, in welche er mit seiner zweiten Ehefrau Minna und der neunjährigen Tochter Rosa aus erster Ehe einzog. Mit der Geburt des Sohnes Hans am 13. September 1917 erhielt die Familie weiteren Zuwachs. Der Dienstbeginn in Bamberg mitten im Krieg war für Paul Glück alles andere als einfach. Eine Einarbeitungszeit blieb ihm nicht. Als einzig vor Ort verbliebener Mitarbeiter hatte er den Dienstbetrieb am Laufen zu halten, sämtliche Recherchen zu beantworten und die laufenden Bauarbeiten im Gebäude zu beaufsichtigen. Alle weiteren Kollegen des Kreisarchivs waren zum Kriegsdienst eingezogen. In freundschaftlich verbundenen Briefen an seinen ehemaligen Amtsleiter in Würzburg August Sperl schilderte er im Herbst 1916 die hohe Benützungsintensität in Bamberg, die ihn schier überforderte.20 Er selbst war als kriegsverwendungsfähig (k.v.) eingestuft, aber auf Bitten des Allgemeinen Reichsarchivs durch das Generalkommando Würzburg unabkömmlich gestellt. Mit Bezug zu seiner Vorerkrankung von 1913/14, dem auf Arbeitsüberlastung zurückzuführenden Nervenzusammenbruch, sah sich Paul Glück für den Kriegseinsatz als untauglich an, als körperlich und nervlich nicht dazu geeignet.21 Er engagierte sich jedoch im Heimatschutz, wofür er Ende August 1916 durch die Verleihung des König Ludwig-Kreuzes geehrt wurde. Im Mai 1917 allerdings lehnte das Innenministerium das erneut vom Allgemeinen Reichsarchiv gestellte Zurückstellungsgesuch für Paul Glück ab, mit Verweis auf die unbedingte Notwendigkeit, alle kriegsverwendungsfähigen Beamten einzuziehen. Eine neuerliche ärztliche Untersuchung hatte seine Einstufung in „garnisonsverwendungsfähig Heimat“ (g.v.H.) geändert und so blieb Paul Glück der Fronteinsatz erspart. Die damit verbundene Hoffnung auf vorzeitige Entlassung aus dem Heeresdienst erfüllte sich aber nicht. Er wurde dem Landsturm-Infanterie-Ersatzbataillon Unterfranken I zugewiesen und versah seinen Militärdienst als Joseph Sebert, Das Königlich Bayerische Kreisarchiv Bamberg und sein Neubau. In: Archivalische Zeitschrift 28 [Neue Folge 15] (1908) S. 161–234. 20 StABa, Staatsarchiv Bamberg, Altregistratur – Verwaltungsakten (K 515) Nr. 370. 21 BayHStA, Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns 2870. 19
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Landsturmmann ab dem 12. Juni 1917 auf der ihm so vertrauten Festung Marienberg über Würzburg.22 In den letzten vier Wochen vor seiner Entlassung am 9. Februar 1918 fungierte er als Kanonier der ersten Ersatzabteilung des 11. Feldartillerie-Regiments in Würzburg. Seinen Dienstantritt im Kreisarchiv Bamberg meldete Paul Glück zum 10. Februar 1918. In der Zwischenzeit hatte der Reichsarchivrat Hans Oberseider aus München die Dienststelle in Bamberg versehen. Da dieser aber nun dringend wieder in München gebraucht wurde, hatte der Leiter des Allgemeinen Reichsarchivs Dr. Jochner um die Freigabe Paul Glücks gebeten und diese auch erreicht. Dass sich Paul Glück – wie in Würzburg – nicht nur voll seinen Archivarstätigkeiten widmen, sondern sich auch in Bamberg in das gesellschaftliche Leben der historisch interessierten Kreise schnellstmöglich integrieren wollte, zeigt die Tatsache, dass er noch im Jahr seines Amtsantritts zum zweiten Vorsitzenden des Historischen Vereins Bamberg gewählt wurde. Er engagierte sich stark für die Belange des 1830 gegründeten Vereins, der sich für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Hochstifts Bamberg einsetzte. Zu seinen Tätigkeiten im Verein gehörte auch die Funktion als Urkundenkonservator. Zur besseren Verwahrung und Betreuung des umfangreichen und historisch wertvollen Vereinsarchivs veranlasste er 1920 dessen Hinterlegung im Staatsarchiv Bamberg.23 1923 wurde Paul Glück sogar zum Ersten Vorsitzenden des Historischen Vereins gewählt, gab dieses Amt aber schon ein Jahr später krankheitsbedingt wieder ab. Bei ihm hatte sich – wie zwölf Jahre zuvor – eine „nervöse Erschöpfung“ eingestellt, die er auf Überbeanspruchung im Dienst, die Führung des Historischen Vereins und sonstige Nebenarbeiten zurückführte.24 Die enge Verbindung zum Verein blieb aber auch in den folgenden Dienstjahren erhalten, 1926 ernannte ihn der Historische Verein zu seinem Ehrenvorsitzenden. Neuer und dann langjähriger erster Vorsitzender wurde sein Stellvertreter im Staatsarchiv, Dr. Hans Burkhard, und dann ab 1930 dessen Nachfolger, Dr. Hans Ring, womit sich auch die seit den Anfangsjahren des Vereins Seine Befindlichkeiten im Sommer 1917 fasste Paul Glück in einem Gedicht zusammen, das er an August Sperl schrieb: „Sommerausblick! Heute Papier und Tinte, morgen Helm und Flinte, übermorgen ins Feindesland, das wird des Glücks Lauf genannt, – vielleicht kratzen sich die Doktoren, hinter ihren gelehrten Ohren. Wer weiß?“ StABa, Staatsarchiv Bamberg, Altregistratur – Verwaltungsakten (K 515) Nr. 370. 23 StABa, Staatsarchiv Bamberg, Altregistratur – Verwaltungsakten (K 515) Nr. 33. 24 BayHStA, Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns 2870 (Ärztliche Zeugnisse sowie Schreiben Glücks vom März 1924 an den Generaldirektor Riedner). 22
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gepflegte enge Beziehung zwischen Staatsarchiv und Historischem Verein fortsetzte. Einer Beziehung im Übrigen, die Paul Glück in seiner Festansprache zum hundertjährigen Jubiläum des Vereins 1930 besonders betonte, wobei er auch die Grüße des geladenen aber leider nicht erschienenen bayerischen Ministerpräsidenten übermitteln durfte.25 Der Gesellschaft für fränkische Geschichte gehörte Paul Glück von 1920 bis 1938 an. In diesem Jahr mussten, auf Weisung des Generaldirektors Dr. Joseph Franz Knöpfler, alle drei fränkischen Staatsarchive ihrer Patronatsverhältnisse zur Gesellschaft beenden.26 In regelmäßigen Abständen wurde Paul Glück dienstlich befördert mit jeweiligen Gehaltsaufbesserungen. Ab dem 1. April 1920 – nach vier Jahren im Amt in Bamberg – erhielt er den Rang eines Archivrats, exakt zwei Jahre später wurde er zum Staatsoberarchivar befördert. Nachdem bereits sämtliche dienstältere Archivare, wie er selbst bei seiner vorgesetzten Stelle im Juni 1923 monierte, den Titel eines Oberarchivrats verliehen bekommen hatten, wurde ihm dieser zum 1. Juli 1923 ebenfalls zugesprochen. Die Endstufe seiner Beförderungsmöglichkeiten erreichte der Vorstand des Staatsarchivs Bamberg dann, als er mit Wirkung vom 1. Februar 1929 zum Archivdirektor befördert wurde. Im Dienst rieb er sich für sein Staatsarchiv auf, zugleich war er vielseitig wissenschaftlich und künstlerisch interessiert und auch engagiert. In diesen Jahren spielte Paul Glück auch eine wichtige Rolle bei der Gründung der Staatsarchivalienabteilung Coburg. Gegen anfängliche Widerstände hatte sich die Coburger Landesstiftung mit ihrem Ansinnen durchsetzen können, das herzogliche Archiv und die Unterlagen aus den herzoglichen Behördenregistraturen in Coburg zu belassen und nicht etwa dem Staatsarchiv in Bamberg zu integrieren. Im Rahmen einer Konferenz der bayerischen Archive zur Neuorganisation und zu Beständefragen unterbreitete Paul Glück den Vorschlag, ein eigenes bayerisches Archiv in Coburg zu schaffen. Er habe, wie er in einem Aktenvermerk vom Juli 1925 festhielt27, schon die Überführung des Ministerialarchivs von Coburg nach Text der Rede vgl. StABa, Staatsarchiv Bamberg, Altregistratur – Verwaltungsakten (K 515) Nr. 370. 26 StABa, Staatsarchiv Bamberg, Altregistratur – Verwaltungsakten (K 515) Nr. 91. 27 Vgl. Johannes Haslauer, Vom sachsen-coburgischen Haus- und Staatsarchiv zum Staatsarchiv Coburg (1939). Die Eingliederung eines neuen Landesteils in die bayerische Archivverwaltung. In: Archivalische Zeitschrift 96 (2019) S. 277–294, hier S. 282 f. – Der Aktenvermerk in StABa, Staatsarchiv Bamberg, Altregistratur-Verwaltungsakten (K 515) Nr. 1788. Da er nicht wisse, ob sein ausschlaggebender Vorschlag irgendwo in den Münch25
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Bamberg für eine unzweckmäßige Aktenverteilung gehalten. Vergleichbar mit der Schaffung eines eigenen Landgerichts Coburg sollte daher ein eigenes bayerisches Archiv in Coburg entstehen, weitere Aktenabgaben nach Bamberg sollten – wegen der dort bald drohenden Raumnot – gestoppt und bereits geschehene wieder rückgängig gemacht werden. Zudem sollte der von München nach Coburg entsandte Staatsarchivar Dr. Fürst dort als selbständiger Archivar installiert werden. Zumindest bezüglich der Bestände folgte die Generaldirektion diesem Vorschlag, allerdings entstand in Coburg kein eigenständiges Archiv, sondern zum 1. Juli 1924 eine „Staatsarchivalienabteilung Coburg des Staatsarchivs Bamberg“, im Grunde also eine Zweigstelle des Staatsarchivs Bamberg. Vom Geheimen Hausarchiv in München wurde Dr. Walter Heins als Archivar nach Coburg berufen und in allen Dienstangelegenheiten dem Amtsvorstand in Bamberg Paul Glück unterstellt. Damit oblag diesem nun eine weitere anspruchsvolle und zeitraubende Aufgabe, auch wenn für die praktischen Arbeiten wochenweise bei Bedarf der Kollege Hans Krausert von Bamberg nach Coburg kommen sollte. Die Verselbständigung des Staatsarchivs Coburg zum 1. Oktober 1939 fiel schon nicht mehr in die Amtszeit Paul Glücks. Dass diese von Paul Glück angestrebt wurde, ist einem Schreiben des Coburger Archivars Walter Heins vom 2. Oktober 1939 an Paul Glück28 zu entnehmen. Seit 1933 – und damit seit Beginn der Verhandlungen um die Vereinigung des der Landesstiftung zugehörenden herzoglichen Archivs mit den Beständen der Staatsarchivalienabteilung Coburg unter einem auch organisatorischen Dach – habe sich Paul Glück gemeinsam mit den Coburger Verantwortlichen vor Ort für die Verselbstständigung des Coburger Archivs eingesetzt. Tatsächlich hatte Paul Glück in einer Denkschrift vom Dezember 1935 die wesentlichen Argumente für ein eigenständiges Staatsarchiv in Coburg gegenüber Generaldirektor Otto Riedner noch einmal zusammengefasst. Der politische Wille vor Ort sei gegeben, die Verwaltungsstrukturen und das nötige fachliche Personal vorhanden, ebenso die Räumlichkeiten, zudem seien die aktuellen Organisationsstrukturen durch Umständlichkeit und Schwerfälligkeit geprägt.29 Paul Glück hatte hier sicherlich die Arner Akten notiert werde, fertigte der offenbar um seinen Nachruhm besorgte Paul Glück diesen Aktenvermerk „der geschichtlichen Überlieferung und der Vollständigkeit“ halber. 28 StAWü, Familienarchiv Glück 108, siehe auch Haslauer (wie Anm. 27) S 288–290. 29 Alexander Wolz, „Von den äußerlichen Ereignissen der nationalen Revolution blieb die Staatsarchivalienabteilung unberührt.“ Die Entstehung des Staatsarchivs Coburg im
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beitsentlastung des Staatsarchivs Bamberg und seine eigene im Blick, die aufgrund rapide steigender Benützerzahlen wegen der nun notwendigen Recherchen zur Ausstellung der Ariernachweise umso verständlicher waren. Ein wichtiges Anliegen blieb für Paul Glück in seiner Bamberger Zeit das kommunale Archivwesen. „Unermüdliche und große Verdienste erwarb sich der Jubilar um das Entstehen der Stadtarchive. Seine fachmännische, zielbewußte Beratung oder Befähigung bei Begründung, Organisation bzw. Ordnung der Stadtarchive Bamberg, Bayreuth, Hof a.S., Kulmbach, Ochsenfurt, Würzburg und Selb wird man ihm stets zu danken wissen“, so urteilte Hanns Pfau in einem Zeitungsartikel zum 40-jährigen Dienstjubiläum Paul Glücks 1937.30 Bereits in seiner Würzburger Zeit leitete Paul Glück parallel zu seiner Tätigkeit im Kreisarchiv von 1912 bis 1916 das Stadtarchiv Würzburg. Als dann in den 1920er Jahren die staatliche bayerische Archivverwaltung ihre kommunale Archivpflegepolitik änderte und mehr auf die Eigenverantwortung der Kommunen setzte31, intensivierte Paul Glück seine Bemühungen bei den größeren oberfränkischen Kommunen. Als z.B. das Stadtarchiv Hof zum 1. März 1931 feierlich eröffnet wurde, wurde er im begleitenden Zeitungsartikel als eigentlicher Gründer des Stadtarchivs genannt32, in einem Glückwunschreiben zum 60. Geburtstag 1933 bezeichnete ihn der Hofer Stadtarchivar Ernst Dietlein als „Gründer, warmherzigen Förderer und stets hilfsbereiten Schutzpatron des Stadtarchivs Hof.33 Nimmermüde hätte er in der Stadt für ein eigenes Archiv geworben, so dass es 1929 zum wegweisenden Stadtratsbeschluss kam und zwei Jahre später zur eigentlichen Inbetriebnahme. Es wird als einer der bleibenden Verdienste von Paul Glück bezeichnet, dass er eine Reihe Dritten Reich. In: Peter Fleischmann – Georg Seiderer (Hrsg.), Archive und Archivare in Franken im Nationalsozialismus (Franconia, Beiheft 10), S. 143–152, hier S. 145 f. 30 Enthalten in StAWü, Familienarchiv Glück 107. 31 Vgl. Rupprecht (wie Anm. 13) S. 377–380. 32 Enthalten in StABa, Staatsarchiv Bamberg, Altregistratur – Verwaltungsakten (K 515) Nr. 370. 33 StAWü, Familienarchiv Glück 108; vgl. auch Arnd Kluge, Das Stadtarchiv Hof 1933 bis 1945. In: Fleischmann – Seiderer (Hrsg.), Archive und Archivare (wie Anm. 29) S. 381–388. – Ein weiteres Beispiel wäre etwa Herzogenaurach. Bürgermeister und Stadtrat wollten 1927 das Stadtarchiv im Staatsarchiv Bamberg deponieren. Energisch unterstützt von dem Lehrer Bernhard Dietz vor Ort warb Paul Glück um die Belassung des Archivs vor Ort (vgl. Entwurf vom 25.7.1927) und so konnte man sukzessive bis in die 1930er Jahre hinein die Einrichtung eines Stadtarchivs erreichen, vgl. in StABa, Staatsarchiv Bamberg, Altregistratur – Verwaltungsakten (K 515) Nr. 1177.
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von Stadtverwaltungen von der absoluten Notwendigkeit eines fachmännisch geführten Stadtarchivs überzeugt habe. In dem in einer kurzen Zusammenfassung auch veröffentlichten Vortrag „Aus der Werkstatt des Archivars“34 findet sich im Kern das berufliche (Selbst-) Verständnis Paul Glücks. Danach hätten die Archive drei große Aufgaben. Mit Bezug zu den Beständen sei dies zunächst das Sammeln, Ordnen, Erhalten und Verwalten der wertvollen schriftlichen Urkunden, das Bewerten und die Übernahme von Schriftgut aus den staatlichen Ämtern und die Sorge um die konservatorische Sicherung des Archivguts bzw. dessen Schutz vor möglichen Schäden. Die zweite Hauptaufgabe der Archive sei die Förderung und die Pflege der Wissenschaft durch Auskunftserteilung zu geschichtlichen Fragen oder Benützerberatung vor Ort. Und schließlich war für ihn drittens das Archiv eine Anstalt für die angewandte Geschichtsforschung mit erheblichem praktischem Wert etwa bei der Klärung von Eigentumsrechten oder etwa – was in jenen Jahren gerade aktuell war – der Klärung von Kirchen- und Schulreichnissen, die angesichts der in der Weimarer Verfassung festgelegten Trennung von Schul- und Kirchendiensten nun voneinander abzugrenzen bzw. abzulösen waren. Explizit betont Paul Glück in seinen Schlussworten in aller Bescheidenheit aber doch mit einem Schuss Selbstüberzeugtheit – modern gesprochen – den Dienstleistungscharakter des Archivs: „Das Archiv liegt nicht an den allgemein bekannten Hauptstraßen des Lebens. Es spricht ja auch nie selbst das letzte und entscheidende Wort in den Fragen der Wissenschaft und des Rechtes, für die es doch arbeitet. Immer reicht es vielmehr hilfsbereit dem Nächsten [die Hand], der dann oft genug hiedurch besonders gerüstet selbst vor die Welt hintritt, als Forscher, als Denker, als Sieger um Wahrheit und Recht.“35 Den Benützern die Archivalien bieten zu können, die nach dem Zuständigkeitsprofil des Staatsarchivs Bamberg dort zu erwarten waren, war Paul Glück ein wichtiges Anliegen. Gezielt bemühte er sich bei Behörden um Aktenaussonderungen. Ein zentrales, zum Erfolg führendes Beispiel sind hier die massiven Aktenabgaben der Regierung von Oberfranken ab 1930, die Paul Glück in Abstimmung mit der Generaldirektion der Staatlichen StAWü, Familienarchiv Glück 109. Ebd.; vgl. auch StABa, Staatsarchiv Bamberg, Altregistratur – Verwaltungsakten (K 515) Nr. 112 („Inhalt, Tätigkeit und Zweck des Archivs“), darin Korrespondenz des Paul Glück mit Kollegen, Nutzern und Gelehrten, insbesondere um den besonderen Wert archivischer Tätigkeiten. 34 35
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Archive beim Präsidium der Regierung von Oberfranken zunächst schriftlich und danach mit eigenen ausführlichen Registraturbesuchen wesentlich anregte und sukzessive umsetzte. Eines seiner wesentlichen Ziele war dabei, aus den Überlieferungen der Kammer des Inneren, der Kammer der Finanzen und der Kammer der Forsten Überlieferungslücken im Bereich des Markgraftums Brandenburg-Bayreuth-Kulmbach bzw. des preußischen Fürstentums Bayreuth zu schließen. Die Aussonderung umfasste dann jedoch im Wesentlichen die archivreifen Akten der Kammer des Inneren und der Kammer der Finanzen aus dem 19. Jahrhundert.36 Zu den Wesenszügen von Paul Glück gehörte seine praktisch-innovative Ader. Aus den Erfahrungen der zahllosen Ordnungsarbeiten, aber auch des Umgangs mit wissenschaftlichen Themen war bei ihm der Gedanke an die Schaffung eines sog. Zettelkatalogs oder „Zettelschaltbuchs“ gereift, das jederzeit und an jeder beliebigen Stelle ergänzt werden konnte. Ein solches Modell legte er als seine Erfindung erstmals 1928 anlässlich einer Tagung in Eichstätt dem Generaldirektor Dr. Otto Riedner vor. Dieser machte einige Verbesserungsvorschläge wie etwa die Anpassung der Zettelgrößen an die unterschiedlichen DIN-Formate A 4 bis A 6, äußerte sich ansonsten aber äußerst positiv. Die Erfindung konnte sich Paul Glück nach einem aufwendigen Verfahren am Reichspatentamt patentieren lassen. Als „Normschaltbuch Rothahn (System Glück) mit Halteleiste“ kam diese schließlich auf den Markt und wurde im Archiv- und Bibliotheksbereich wie im Wissenschaftsbetrieb gut angenommen. Im entsprechenden Werbeflyer heißt es dazu: „Das Schaltbuch ist ein leicht zu ordnendes, nach Bedarf stets veränderliches und trotzdem festes Zettelschaltbuch – auf Wunsch auch verschließbar lieferbar – mit ein- und ausschaltbaren Normblättern für alle ordnende und sichtende Arbeit, die denkbar ist. Wissenschaftler, Sammler, Statistiker, Verwaltungen, Geschäfte, Hochschulen, Schulen, Vereine und Private können daraus ein nützliches, billiges Arbeitsgerät machen. Es ist ein Ordnungswerkzeug für jedermann.“37 Für jeden Schaffenden, der auf das Zusammentragen von Notizen, das Gruppieren von Geistesarbeit angewiesen ist, stellte das neue Zettelschaltbuch ein immer bewegliches, nie festsitzendes Sammel- und Registrierinstrument dar. Die zahlreichen Referenzen aus dem Archiv-, Bibliotheks- und Museumsbereich, die dem Werbeflyer beiliegen, loben insbesondere die Einfachheit in der Handha-
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bung, die Preisgünstigkeit und die Gewährleistung einer wirklichen Ordnung, eine gelungene Kombination aus Kartei und Buch. Am 7. August 1933 beging Paul Glück seinen 60. Geburtstag. Typisch für ihn war, dass er einen solchen Tag nicht in Bamberg verbrachte, sondern mit einem Urlaub in Fleckl im Fichtelgebirge verband. Welches Ansehen er unter Kollegen und in historisch interessierten Kreisen genoss sowie welchen großen Freundeskreis er hatte, kann man an den knapp hundert Glückwunschschreiben ablesen, die ihn zu seinem Jubiläum erreichten38. Zudem veröffentlichte Hanns Pfau im Bamberger Tagblatt vom 5. August 1933 eine erste zusammenfassende Würdigung des Staats archivdirektors, dem er hervorragendes Wissen, Porträtaufnahme von Paul Glück, um 1930, Schärfe der gedanklichen Fotograf unbekannt Beweisführung und Lau(StAWü, Familienarchiv Glück 96). terkeit des Charakters bescheinigte. Neben den besonderen Verdiensten um die Organisation und den Aufbau zahlreicher Stadtarchive in Ober- und Unterfranken, betonte er vor allem das besondere Engagement des Jubilars in der Beratung der Benützer. Mit großer Sachkenntnis und mit stets liebenswürdigem Entgegenkommen stünde er diesen allzeit mit Rat und Tat zur Seite. Über diesen alltäglichen Dienst hinaus schuf er, wie schon an seiner ersten Arbeitsstelle im Kreisarchiv Würzburg, den Benützern wichtige Hilfsmittel. Dazu zählten Veröffentlichungen wie „Richtlinien für die Archivbenützung zur Ortsgeschichte Oberfrankens (1921)“, die Herstellung einer Handschriftenschule für die Benützer sowie die Schaffung einer ständigen Urkundensammlung für StAWü, Familienarchiv Glück 107; die Glückwünsche des Generaldirektors Dr. Riedner sowie die Dankeskarte Glücks mit seinem Gedicht „Am Grenzstein“ in BayHStA, Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns 2870. 38
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Studienzwecke mit einer bis dato nirgends sonst eingerichteten Abteilung zu den „Leistungen des Archivs für das praktische Leben“ sowie über „historische Graphologie“. In diesem Zusammenhang erwähnt Pfau als zweite „Erfindung“ Paul Glücks neben dem Normschaltbuch besondere Urkundenausstellungskästen mit verstellbaren Böden zur Erleichterung der Betrachtung durch den Besucher. Wie den Jahresberichten zu entnehmen ist, erweiterte Paul Glück seine „ständige Urkundenausstellung“ immer wieder um neue Aspekte. Die Öffentlichkeit in das Archiv zu holen, war ihm sehr wichtig. Regelmäßig bot er auch Führungen für das historische Seminar der Universität Erlangen an, für Bamberger Schulen oder im Rahmen von Juristentreffen in Bamberg. Die stellvertretend für unterschiedliche Urkundentypen und Rechtsbereiche ausgewählten Diplome ergänzte er bald durch Karten und Pläne sowie weitere Archivalien, etwa Gerichtsbücher. Zunehmend wichtig wurde ihm, wie bereits betont, den lebensnahen praktischen Wert der Archivarbeit darzustellen, etwa durch Beispiele bei der Klärung von Wegerechten oder Gastwirtschaftskonzessionen oder bei Wappenverleihungen.39 Die zeitgemäße funktionale Ausstattung des Staatsarchivs Bamberg war Paul Glück ein wichtiges Anliegen. So legte er großen Wert darauf, sukzessive sowohl in den Büros im Verwaltungstrakt wie im Beständehaus eine elektrische Beleuchtung zu installieren. Dem Platzmangel aufgrund großer Behördenabgaben am Ende der 1920er Jahre und zu Beginn der 1930er Jahre begegnete er mit neuen Regalgestellen, die auch in den eigentlich nicht für die Archivalienlagerung vorgesehenen Kellerräumen aufgestellt wurden. Besonders zukunftsweisend aber war seine erfolgreiche Initiative zum Erwerb der dem Beständehaus unmittelbar benachbarten Flächen an der Ecke Sodenstraße/Schützenstraße als potentielle Erweiterungsflächen.40 Mit Vertrag vom 6. Juni 1921 verkaufte die Stadt Bamberg dieses große Grundstück an den bayerischen Staat. Bald schon wurde der eigentliche Erwerbungszweck jedoch durch den Fiskus in Frage gestellt und Paul Glück musste energisch und auch erfolgreich Bemühungen zurückweisen, dort Beamtenwohnungen zu errichten.41 Die Flächen wurden vielmehr an die Archivbeamten als Gartengrundstücke verpachtet. Dort entstand in StABa, Staatsarchiv Bamberg, Altregistratur – Verwaltungsakten (K 515) Nr. 134. Wilhelm G. Neukam, Der Erweiterungsbau des Staatsarchivs Bamberg. In: Archivalische Zeitschrift 58 (1962) S. 146–154, hier S. 146. 41 Vgl. StABa, Staatsarchiv Bamberg, Altregistratur – Verwaltungsakten (K 515) Nr. 1947 (Jahresbericht 1921 zum Erwerb und 1923 wegen der Beamtenwohnungen). 39 40
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den Jahren 1959 bis 1961 der erste Erweiterungsbau entlang der Sodenstraße und zwischen 2016 und 2019 ein weiterer großer Magazintrakt an der Schützenstraße.42 Über seine erfüllende Tätigkeit als Archivar und Historiker hinaus verfügte Paul Glück über zahlreiche weitere Talente und Interessen. Die vielen in seinem Nachlass im Familienarchiv erhaltenen Skizzenbücher (v.a. aus jungen Jahren) zeigen sein künstlerisches Talent. Zudem schlummerte in ihm, wie im Übrigen bei seinem Großvater und etlichen anderen zeitgenössischen Archivaren wie etwa August Sperl oder Ludwig Friedrich Barthel eine Ader als Dichter, v.a. als Lyriker. Die meisten seiner Werke blieben im privaten Umfeld und wurden nie veröffentlicht.43 Vereinzelt publizierte er jedoch „lyrische Lieder“; als Verfasser beteiligt war er z.B. an der 1930 erschienenen Sammlung „Fränkische Liedstimmen der Gegenwart. Ein neu Geschrei“. Seine Liebe zur Natur und zu ausgedehnten Wanderungen durch die fränkische Landschaft verband er des Öfteren mit seinen historischen Interessen. Hierbei spielte neben den Flur- und Geländenamen auch die Vorund Frühgeschichte eine wichtige Rolle. So schrieb man ihm für das Jahr 1932 die Entdeckung einer vorgeschichtlichen Wallburg auf der Friesener Warte (bei Hirschaid, Lkr. Bamberg) zu. Gelegentlich wurde Paul Glück auch als Heraldiker angefragt. Für den Ratskeller der Stadt Würzburg hatte er die vier Fakultätswappen entworfen und dem Ruder-Regattaverein Bamberg ein Wappen erstellt. 1934 fertigte er schließlich sechs Wappenentwürfe für die Stammfahnen des deutschen Jungvolks der Hitlerjugend in Tütschengereuth. Schließlich muss noch sein besonderes Interesse für die Handschriftenforschung Erwähnung finden. Des Öfteren wurde von Kollegen seine Expertise als Handschriftensachverständiger nachgefragt, insbesondere wenn es um die Untersuchung möglicher Fälschungen ging. Besonders intensiv beschäftigte er sich, wie aus seinem Nachlass ersichtlich ist, mit der Handschrift und Unterschrift des schwedischen Königs Gustav Adolph. Zu dem Stellenwert, den die Handschriftenkunde für die Geschichtswissenschaft haben könne, veröffentlichte Paul Glück ei-
Neukam (wie Anm. 40). – Laura Scherr, Erweiterungsbau des Staatsarchivs Bamberg eingeweiht. In: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 76 (2019) S. 72–73. 43 Eine umfassende Sammlung seiner Gedichte findet sich als kleiner Nachlass in der Staatsbibliothek Bamberg, Msc. Add. 302/1–3; dann aber auch StAWü, Familienarchiv Glück 92 und 93. 42
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nen tiefgründigen Beitrag in der Archivalischen Zeitschrift.44 Neben vielen kleinen geschichtlichen Beiträgen in den Lokalzeitungen der Region, etwa aus Anlass von Jubiläen, wie jenem der Bamberger Stiftskirche St. Stephan 1920, darf als sein weiteres Hauptwerk „Der geschichtliche Führer zur Feste Marienberg ob Würzburg“ gelten. Die Forschungsarbeiten dazu gingen sicherlich auf seine Zeit im Kreisarchiv Würzburg zurück, veröffentlicht wurde dieser jedoch erstmals 1923 und dann in erweiterten und überarbeiteten Fassungen 1932, 1938 und sogar noch nach seinem Tod 1951. Intensiv beschäftigt hat er sich auch mit einem weitläufigen Vorfahren, dem Historien- und Porträtmaler Alexander Macco und dessen künstlerischem Schaffen. Im Bamberger Jahrbuch veröffentlichte er 1936 den Beitrag: Alexander Macco und das Maccozimmer in der Bamberger Residenz45. Politisch aktiv, also in und durch bestimmte Parteiämter wirkend, war Paul Glück offenbar nie. Seine Einstellung war wohl eher rechtskonservativ und nationalistisch. 1917 und 1918 war er Mitglied im Alldeutschen Verband, von 1919 bis 1933 gehörte er der Deutschnationalen Volkspartei, Ortsgruppe Bamberg, an. Aus verschiedenen Randnotizen und Bemerkungen gerade in Hinblick auf den schnellen Wechsel der Staatsformen 1918/1919 und den damit zusammenhängenden Beflaggungen des Amtsgebäudes werden Glücks nicht geringe Vorbehalte gegen die Weimarer Verfassung und die neuen Farben schwarz-rot-gold deutlich.46 Bei entsprechenden Abfragen in der NS-Zeit gibt Glück stets an, dass er weder anderen politischen Parteien, politischen Verbänden, Freimaurerlogen, anderen Logen oder logenähnlichen Organisationen angehörte. Von der NSDAP hielt er sich, wie er immer betonte, zunächst fern, trat dann aber zum 1. Mai 1937 doch bei. Seiner Meinung nach war der Beitritt erzwungen und geschah mit Rücksicht auf die möglichen Konsequenzen für Frau und Kinder. Wie viele andere sei er, da er Amtsvorstand war, durch Androhung des Amtsverlustes gezwungen worden, beizutreten, da insbesondere von Seiten des Beamtenbunds proklamiert wurde, wer nicht würdig sei ParteiPaul Glück, Graphologie und Geschichtsforschung. In: Archivalische Zeitschrift 41 (1932) S. 178–194 und 42/43 (1934) S. 362–370. 45 Paul Glück, Alexander Macco und das Maccozimmer in der Bamberger Residenz. In: Bamberger Jahrbuch 9 (1936) S. 16–20. 46 StABa, Staatsarchiv Bamberg, Altregistratur – Verwaltungsakten (K 515) Nr. 266. – Vgl. auch 100 Jahre Staatsarchiv im Hain. Eine Ausstellung des Staatsarchivs Bamberg 2005 (Staatliche Archive Bayerns, Kleine Ausstellungen 26), München 2005, S. 48–50 (Rainer Hambrecht). 44
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mitglied zu sein, kann auch nicht würdig sein, Beamter zu sein.47 Glück war es jedoch wichtig zu betonen, dass er nie einen Dienstrang oder eine Führerstelle in der Partei oder einem angeschlossenen Verband innehatte. Er sei lediglich Mitglied im Reichsbund Deutscher Beamter (RDB), der NS-Volkswohlfahrt, des RLB und der NS-Kulturgemeinde gewesen.48 In seinem Spruchkammerverfahren49 – das wegen seines Todes am 17. September 1947 und wegen der „aktenkundigen geringen politischen Verantwortlichkeiten des Betroffenen“ eingestellt wurde – stufte er sich selbst als Mitläufer ein. Für das mögliche Verhör bei der Spruchkammerverhandlung hatte sich Paul Glück „Gedanken zur Verteidigung“50 gemacht. Darin betonte er, dass er nie aktiv nach einem Amt in der Partei gestrebt und nie aktiv für diese geworben habe; nie sei er juden- oder kirchenfeindlich, sondern immer tolerant eingestellt gewesen. Er sah sich als Patrioten, seine Einstellung sei deutsch und nicht nationalsozialistisch gewesen. Wenn er für Hitler eintrat, dann „geschah es als für das auch vom Ausland anerkannte Staatsoberhaupt Deutschlands, nicht für den fanatischen überspannten Führer der Partei.“ Dass er im Prinzip jedoch dem Führerkult und der nationalsozialistischen Ideologie nicht abgeneigt war, zeigen folgende Auszüge aus einer Rede Glücks, die er zum 5-jährigen Jubiläum der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus am 31. Januar 1938 in seinem Amt vor seinen Mitarbeitern („Gefolgschaft“) hielt. Selbst wenn man weiß, dass diese Gedenkfeiern zentral veranlasst waren und Glück mit Dr. Michel Hofmann einen Stellvertreter hatte, der der NSDAP sehr nahestand und seinen Chef sicherlich streng beobachtete, so hätte Glück sicherlich auch anders formulieren können, wenn es seine Überzeugung gewesen wäre. So äußerte er: „In den letzten fünf Jahren hat Deutschland eine glänzende Wiedererstehung erlebt. Mit beispielloser zielsicherer Wucht hat der Führer das deutsche Volk zusammengefasst und neu geeinigt, so fest wie nie zuvor. Er hat ihm Arbeit und Brot, Wehrmacht und Frieden, Ehre und Freiheit wieder geschenkt und Deutschland aufs Neue zur Großmacht erhoben. […] Er hat Deutschland und damit das Herz Europas vom Kommunismus und der Judenherrschaft befreit.“51 Aus einem nicht abgesandten Brief an den Oberbürgermeister von Bamberg vom 11.5.1945, StAWü, Familienarchiv Glück 108. 48 BayHStA, MK 36253. 49 StABa, Spruchkammer Bamberg – Stadt G 134 50 Enthalten in StAWü, Familienarchiv Glück 104. 51 Redemanuskript in StABa, Staatsarchiv Bamberg, Altregistratur – Verwaltungsakten (K 515) Nr. 370. In einem Umlauf vom 14.11.1933 legte Glück seinen Mitarbeitern die 47
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Zum 40jährigen Dienstjubiläum von Paul Glück am 20. Oktober 1937 reiste auch der Generaldirektor der Staatlichen Archive Dr. Otto Riedner an. Zu diesem hatte er ein gutes und vertrauensvolles Verhältnis. Riedner überbrachte neben einer eigenen Würdigung ein Dank- und Glückwunsch-Schreiben des Führers und Reichskanzlers.52 Anschließend gab es eine kleine Feierstunde im Amtsvorstandszimmer mit allen Mitarbeitern. Knapp ein Jahr später, zum 1. September 1938, wurde Paul Glück wegen Erreichens der Altersgrenze in den Ruhestand verabschiedet. Generaldirektor Dr. Riedner war inzwischen verstorben und sein Nachfolger Dr. Joseph Franz Knöpfler, ein treuer Verfechter der NS-Ideologie, konnte nicht persönlich an der Abschiedsfeier teilnehmen, da er zeitgleich bei einem internationalen Historikerkongress in Zürich weilte. Mit Schreiben vom 29. August 1938 dankte er Paul Glück, für knapp 41 Jahre Dienst an den Staatsarchiven Würzburg und Bamberg, darunter 22 Jahre als Amtsvorstand in Bamberg (und Coburg); er habe „in geradezu vorbildlicher Weise treu und in Ehren Volk und Vaterland gedient, sich auch außerdienstlich um das geistige Leben seines Wirkungskreises große Verdienste erworben und es vor allem verstanden, die gute alte Tradition des deutschen Beamten mit den Erfordernissen einer neuen Zeit glücklich in Einklang zu bringen.“53 Dem Staatsarchiv Bamberg sei er ein peinlich gewissenhafter Vorstand gewesen und habe dieses zu hohem Ansehen unter den bayerischen Archiven gehoben. Mit der kommissarischen Leitung des Staatsarchivs Bamberg wurde Glücks ehemaliger Stellvertreter Dr. Michel Hofmann betraut, ein Mann mit streng nationalsozialistischer Einstellung. Wohl um ihn gegenüber dem Staatsministerium als potentiellen Nachfolger in Stellung zu bringen, warb der Generaldirektor im April 1939 für Hofmann und zeichnete dabei ein ganz anderes Bild von Paul Glück. Hofmann sei seit einigen Jahren die eigentliche Seele des Archivs gewesen, da der damalige Amtsvorstand „eine von Haus aus zögernde und unschlüssige Persönlichkeit, ein allmähliches Nachlassen der Kräfte zeigte und in der neuen Zeit nicht mehr ganz Verwendung des deutschen Grußes „Heil Hitler“ als amtlichen Gruß sehr ans Herz. Er begründet dies mit dem in den Wahlen bekundeten ganz einzigartigem Zusammenhalt Deutschlands zu einem Vaterland und dem Bekenntnis zum Schöpfer dieser Einigkeit, dem Reichskanzler Adolf Hitler, vgl. StABa, Staatsarchiv Bamberg, Altregistratur – Verwaltungsakten (K 515) Nr. 333. 52 Urkunde in StAWü, Familienarchiv Glück 106, weitere Glückwunschschreiben siehe StAWü, Familienarchiv Glück 108. 53 BayHStA, Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns 1697.
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mitzukommen vermochte.“54 Unter Michel Hofmann würde im Staatsarchiv Bamberg jetzt „ein ganz anderer Geist, der von der richtigen Erfassung der volksverbundenen Aufgaben eines staatlichen Archivs in neuerer Zeit spricht“, wehen. De facto wurde zum 1. April 1941 Wilhelm Biebinger Leiter des Staatsarchivs Bamberg, sehr zur Kränkung Hofmanns. Da Biebinger allerdings im Heeresdienst eingesetzt war, versah Hofmann das Amt kommissarisch bis in das Frühjahr 1945 hinein. Nach einer gewissen Übergangsphase war die Familie Glück aus der Amtsleiterwohnung in der Hainstraße in eine Mietwohnung am Fuße des Klosters Michelsberg in Bamberg umgezogen. Dort lebte Paul Glück eher zurückgezogen von der Öffentlichkeit. Er widmete sich seinen Forschungsinteressen wie etwa der Siedlungs-, Flur- und Ortsnamen- sowie der Burgenforschung, ohne jedoch weiter zu publizieren. Seinen Stimmungswandlungen verlieh er zudem weiter in seinem lyrischen Schaffen Ausdruck. Zu schaffen machte ihm auch immer wieder sein Nervenleiden. Paul Glück verstarb am 17. September 1947 im Alter von 74 Jahren. Er fand seine letzte Ruhestätte im Bamberger Hauptfriedhof. In einem Nachruf für das Bamberger Jahrbuch heißt es: „Mit dem Verblichenen haben wir einen Wissenschaftler verloren, dessen Grundzüge Pflichttreue und Gerechtigkeitsliebe waren, einen strengen und kritischen Archivar von vornehmem und edel denkendem Charakter, einen stets hilfsbereiten Menschen von seltenster Herzensgüte.“55 Der inzwischen mit einem Berufsverbot behaftete und als Redakteur tätige Michel Hofmann urteilt in seinem Kondolenzschreiben an die Witwe ähnlich, blickt aber auch auf die Differenzen in der Amtsführung zurück. Er werde dem Verstorbenen stets das beste Gedenken bewahren, „wie es ein Mann verdient, dessen Grundzug Pflichttreue, Gerechtigkeitsliebe, Wohlwollen und guter Wille war. Mögen der Generationen-Unterschied, der Abstand der persönlichen Eigenart und sozialen Herkunft, der politischen Zielvorstellungen und daneben auch ganz einfache Mißverständnisse die Zusammenarbeit manchmal belastet haben, so ist doch das alles wesenslos gegenüber dem ehrlichen, gütigen und vornehmen Grundzug seines Charakters. Dies zu vergessen, wäre ein großes Unrecht.“56 Zitiert bei Stefan Nöth, Ubi bene, ibi patria. Michel Hofmann (1903–1968) und seine Dienstzeit am Staatsarchiv Bamberg im Nationalsozialismus. In: Fleischmann – Seiderer (Hrsg.), Archive und Archivare (wie Anm. 29) S. 219–234, hier S. 234, auch für das folgende Zitat. 55 StAWü, Familienarchiv Glück 99. 56 Ebd. 54
Zum Zwecke guter Ordnung, erbaulicher Sitten und wohlgefälliger Harmonie. Ehaftordnungen des Stiftlands Waldsassen aus dem 18. Jahrhundert Von Maria Rita Sagstetter Das Staatsarchiv Amberg verwahrt unter der Signatur „Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 777“ ein Konvolut von elf Geheften, das ein beigefügtes Titelblatt als „Fasciculus, die ehehaftspuncten betrefend, welche denen samentlichen waldsassischen unterthannen bey haltung des ehehafts- oder Wallburgisrecht vorgelesen werden“, ausweist. Das Schriftbündel war erst vor einigen Jahren bei Provenienzanalysen im Pertinenzbestand „Appellationsgericht“ entdeckt und bei dessen Auflösung dem Waldsassener Bestand zugeordnet worden. Den Angaben im Altrepertorium nach zu schließen gehörte das Archivale zu jenen Akten, die das Oberpfälzer Appellationsgericht 1869 wegen Raumnot als Altpapier an die Papiermühle der Firma Pustet in Alling verkauft und die das Archivkonservatorium Amberg 1870 durch Rückkauf vor dem Einstampfen hatte retten können.1 Das Appellationsgericht hatte seinen Sitz im ehemaligen Regierungsgebäude in Amberg und nutzte für seine Registratur Räume, in denen noch umfangreiche Bestände der ehemaligen Regierung des Fürstentums der Oberen Pfalz lagen, die bei Errichtung der Kreisregierung in Regensburg 1810 nicht dorthin transferiert worden waren. Zwar gab das Appellationsgericht Teile der alten Regierungsregistratur im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf dem regulären Weg an das Archivkonservatorium ab, eine größere Anzahl an Unterlagen jedoch – unter ihnen der Waldsassener Faszikel – vermengte sich offenbar mit zunehmender Raumknappheit mit den Registraturbeständen des Gerichts und gelangte schließlich 1869, ohne vorher dem Archivkonservatorium zur Archivierung angeboten worden zu sein, als Teil einer großen Makulaturmasse in die Allinger Papiermühle. Als der Amberger Archivsekretär Felix Nigg in dienstlichem Auftrag die auf dem obersten Dachboden des FabrikgebäuRepertorium „Oberpfälzisches Appellationsgericht“, Band I, Zugang 30: „Verzeichniß über ausgewählte Akten in der Papierfabrik der HH. Gebrüder Pustet in Alling bei Regensburg 1870“, vor Ort erstellt durch Felix Nigg vom 29. September bis 16. Dezember 1870 (Staatsarchiv Amberg, Altrepertorien). 1
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des gelagerten Papierberge, die infolge des Transports „in ein schauderhaftes Chaos“ geraten waren, nach archivwürdigem Schriftgut durchsuchte, gehörte das Konvolut zu jenen Dokumenten, die er für den Rückkauf durch das Archivkonservatorium sicherstellen konnte.2 Inhaltlich handelt es sich bei den elf Geheften, die das Konvolut umfasst, um 1786 entstandene Niederschriften („Protocolla“) der Rechtsordnungen Waldsassener Gerichte, wie sie jährlich bei im Mai oder Juni stattfindenden Versammlungen, dem Ehaft- oder Walburgi(s)recht, den Untertanen durch öffentliches Vorlesen zur Kenntnis und in Erinnerung gebracht wurden. Durch dieses jährliche Ritual sollten im Interesse der guten Ordnung die Regeln für das Zusammenleben in den Dorfgemeinschaften evident gehalten und im Bewusstsein verankert werden – zur besseren Kenntnis des geltenden Rechts wie der im Übertretungsfall zu erwartenden Straffolgen und zur besseren Rechtsbefolgung. Das Wort „e(he)haft“ begegnet in den Rechtsquellen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als Adjektiv in der Bedeutung von „rechtlich“, „gesetzlich“, „vorschriftsmäßig“, „rechtsgültig“ oder „berechtigt“.3 „Allen Bedeutungen gemeinsam ist der Bezug zum Recht, sei es als Gesetz oder als Gewohnheitsrecht.“4 Als Substantiv findet es häufig in der Form der Komposita „Ehaftrecht“ oder „Ehaftordnung“ zur Bezeichnung von ländlichen Rechtsquellen, die andernorts auch als „Dorfrecht“, „Dorfordnung“, „Hofmarksordnung“ oder „Öffnung“ bezeichnet wurden, Verwendung. In diesem Sinne steht „Ehaftrecht“ für eine lokale Rechtsordnung, die auf der Basis genossenschaftlichen Gewohnheitsrechts und herrschaftlicher Normsetzung den bäuerlich-dörflichen Lebensbereich regelt und dabei insbesondere die Rechte und Pflichten der Untertanen im Zusammenleben in der Dorfgemeinschaft und im Verhältnis zur Grund- und
Staatsarchiv Amberg, Altregistratur 411-11. – Siehe auch die Einleitung von Wilhelm Volkert (1960) zu Band II des Repertoriums „Oberpfälzisches Appellationsgericht“. – Rudolf Fritsch, Entwicklung zum modernen Sprengelarchiv für den Regierungsbezirk (Kreis) (1820–1910). In: Karl-Otto Ambronn – Rudolf Fritsch, Vom mittelalterlichen Briefgewölbe zum modernen Staatsarchiv. Eine Ausstellung zur Geschichte des Staatsarchivs Amberg (Staatliche Archive Bayerns – Kleine Ausstellungen 20), München 2003, S. 74–91, hier S. 76. 3 Dieter Werkmüller, Artikel „Ehaft“. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Band I, Berlin 2008, Sp. 1191 f. – Johann Andreas Schmeller, Bayerisches Wörterbuch, bearb. von Georg Karl Frommann, Band 1, München 1872, Sp. 6 f. 4 Werkmüller (wie Anm. 3) hier Sp. 1191. 2
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Gerichtsherrschaft festhält.5 Typische Regelungsinhalte sind die Nutzung und Erhaltung der Gemeindegründe, die Wahrnehmung von Weide-, Flur-, Wald- und Wasserrechten, Viehhaltung und Ackerbau, die primäre Versorgung der Bevölkerung gegenüber dem Verkauf außer Landes, Betrieb und Nutzung der Gemeinschaftseinrichtungen („Ehaften“, „Ehaftgewerbe“) wie Badstube, Schmiede, Wirtshaus und Mühle, Instandhaltung der Wege und Stege, die Bau-, Feuer-, Gewerbe- und Gesundheitspolizei, religiöses Leben, sittliches Verhalten, standesgemäße Kleidung, Familienfeiern, Geselligkeit und Unterhaltung. Die Auswahl der Normen ist begründet in der Sorge der Herrschaft um die Aufrechterhaltung ihres Besitzstandes und ihrer Rechte durch ein geordnetes, gesittetes und friedliches Zusammenleben und pflichtgemäßes, ökonomisch erfolgreiches Zusammenwirken der Untertanenschaft sowie von der Sorge der Bauern um die Erhaltung ihrer eigenen wirtschaftlichen Existenzgrundlage.6 Werkmüller (wie Anm. 3). – Dieter Werkmüller, Artikel „Ländliche Rechtsquellen“. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Band III, Berlin 2016, Sp. 541–543. – Schmeller (wie Anm. 3). – Als Beispiele für Quelleneditionen seien genannt: Walter Hartinger, „… wie von alters herkommen …“ Dorf-, Hofmarks-, Ehehaft- und andere Ordnungen in Ostbayern, 3 Bände (Passauer Studien zur Volkskunde 14, 15, 20), Passau 1998–2002. – Pankraz Fried (Hrsg.), Die ländlichen Rechtsquellen aus den pfalz-neuburgischen Ämtern Höchstädt, Neuburg, Monheim und Reichertshofen vom Jahre 1585, unter Mitarbeit von Reinhard Heydenreuter u.a. bearb. von Franz Genzinger (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft, Reihe 5b: Rechtsquellen 1), Sigmaringen 1983. – Rolf Kiessling – Thaddäus Steiner (Hrsg.), Die ländlichen Rechtsquellen aus der Grafschaft Oettingen, bearb. von Bernhard Brenner (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft, Reihe 5b: Rechtsquellen 2), Augsburg 2005. – Thaddäus Steiner (Hrsg.), Ländliche Rechtsquellen aus dem Allgäu. Klösterliche Herrschaften und hochstiftische Pflegämter, bearb. von Bernhard Brenner (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft, Reihe 5b: Rechtsquellen 4), Augsburg 2008. 6 Zum Inhalt ländlicher Rechtsquellen mit Auswertung von Beispielen siehe etwa: Rudolf Wilhelm, Rechtspflege und Dorfverfassung. Nach niederbayerischen Ehehaftsordnungen vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. In: Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 80 (1954) S. 1–154. – Walter Hartinger, „… wie von alters herkommen …“ Dorf-, Hofmarks-, Ehehaft- und andere Ordnungen in Ostbayern, Band 1 (Passauer Studien zur Volkskunde 14), Passau 1998, S. 15–53. – Walter Keller, Dorfordnungen als ländliche Rechtsquellen – dargestellt am Beispiel des fränkisch-sächsischen Ganerbendorfes Unfinden. In: Hans-Georg Hermann – Hans-Joachim Hecker (Hrsg.), Rechtsgeschichte des ländlichen Raums in Bayern (Rechtskultur Wissenschaft 8), Regenstauf 2012, S. 53–65. – Lorenz Baumann, Dorfordnungen aus dem 16./17. Jahrhundert im nördlichen Gebiet der Herrschaft Rothenberg. Die Dorfordnungen von Hüttenbach (1513), Oberndorf (1531) und Simmelsdorf (1664) (Altnürnberger Landschaft e.V. Sonderheft 40), Simmelsdorf 1993. – Zur Dorfgemeinde in Mittelalter und Früher Neuzeit siehe auch 5
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Der Begriff „Ehaftrecht“ meint ähnlich wie „Ehaftgericht“ oder „Ehafttaiding“ aber auch den jährlich wiederkehrenden Termin, an dem sich die zu einem Gericht oder einer Herrschaft gehörigen Untertanen zu Versammlungen trafen, bei denen durch die Obrigkeit Recht gesprochen, allgemeine Angelegenheiten oder Beschwerden von Einzelnen oder Gruppen verhandelt und landesherrliche Gesetze und Mandate sowie Ordnungen und Weisungen der lokalen Herrschaft neu verkündet oder wiederholt verlesen wurden. Den Vorsitz führte der herrschaftliche Richter.7 Die als „ehehaftspuncten“ titulierten Rechtsordnungen des Waldsassener Stiftlands geben den Rechtsstand Anfang der 1780er Jahren wieder. Der Inhalt dürfte im Kern auf altem, ursprünglich gewohnheitsmäßig geübtem und irgendwann schriftlich fixiertem Recht basieren, das über die Jahrhunderte hinweg bedarfsbedingt durch herrschaftliche Normsetzung präzisiert, ergänzt oder angepasst wurde. Dokumentiert sind die Rechtsordnungen durch 1786 entstandene Abschriften von „Protocolla“ der den Untertanen vorgetragenen Rechtssätze. Die einzelnen Protokolle sind nur zum Teil datiert; soweit entsprechende Angaben vorhanden sind, beziehen sich diese entweder auf den Tag oder das Jahr des protokollierten Ehafttermins oder auf das Datum der Beglaubigung der Abschrift durch den jeweiligen Amtsrichter bzw. Amtsverweser (mit eigenhändiger Unterschrift und Lacksiegel). Die Aufzeichnungen stammen von den Gerichten Waldsassen
den Überblick bei: Julian Holzapfl, Von der Reichsstadt bis zur Dorfgemeinde – Die Vorgeschichte der gemeindlichen Selbstverwaltung in Bayern. In: Gerhard Hetzer u.a., 100 Jahre Bayerischer Gemeindetag – 1000 Jahre gemeindliche Selbstverwaltung (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 55), München 2012, S. 105–141, bes. S. 108–110, 124 f. 7 Nach Wiguleus Hundt, Bayrisch Stammen-Buch, Band 2, Ingolstadt 1598, S. 401 sind die „EhehafftRecht oder Gericht“ den Dorfgerichten vergleichbar, die im Herzogtum Bayern eine begrenzte, unterhalb der Hofmarksgerichtsbarkeit liegende Strafkompetenz (Vergehen, die nicht höher als um 72 Pfennige abzustrafen sind) besaßen, jedoch „werden im EhehafftRecht järlich den Vnderthonen etliche vnd die fürnembste an jedes Ort taugliche vnd nöttigiste Articul auß der PolliceyOrdnung vnd was sonst zur Zucht, Erbarkeit, Frid vnd Einigkeit, auch zu Befridung der Velder, Trib, Besuch etc. dienstlich, mit ernst vnd bey der Straff fürgehalten vnd aufferlegt“. – Siehe auch: Schmeller (wie Anm. 3). – Eduard Rosenthal, Geschichte des Gerichtswesens und der Verwaltungsorganisation Baierns, Band I, Würzburg 1889 [2. Neudruck Aalen 1984], S. 206–211. – Wilhelm (wie Anm. 6) S. 34–36, 73 f.
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und Konnersreuth (ohne Datierung)8, Wiesau (Ehaftrecht 1783)9, Waldershof (Ehaftrecht 16. Juni 1781), Hardeck10 (Ehaftrecht 11. Mai 1785), Tirschenreuth (ohne Datierung), Liebenstein (Ehaftrecht 24. Mai 1785, Beglaubigung 14. April 1786), Falkenberg und Beidl (Beglaubigung 15. April 1786), Neuhaus (Ehaftrechte 31. Mai 1770 – 24. Mai 1785), Mitterteich (Ehaftrecht 25. Juni 1785), Mähring und Poppenreuth (Ehaftrecht 2. Juli 1785 bzw. 30. Juni 1785). Die beiden übrigen Waldsassener Richterämter Großkonreuth und Wondreb fehlen, entweder hatten sie keine Abschriften vorgelegt oder diese haben sich nicht erhalten.11 Die Rechtsordnungen haben einen unterschiedlichen Umfang. Die Anzahl der den Untertanen vorgetragenen Rechtssätze reicht von 50 Nummern im Falle des Richteramts Waldershof bis 103 beim Richteramt Waldsassen und Konnersreuth. Die Texte bieten keine umfassenden oder erschöpfenden Rechtskodifikationen, sondern nur Ausschnitte des bestehenden Normensystems. Dabei lässt sich für einen Großteil der behandelten Rechtsmaterien Übereinstimmung feststellen, wenngleich Reihenfolge, Ausführlichkeit und Formulierungen variieren. Regelmäßig stehen am Anfang Bestimmungen über Gottesdienstbesuch und Arbeitsverbot an Sonn- und Feiertagen, Kommunionempfang, Teilnahme an der Christenlehre und Verbot von Gotteslästerung, Fluchen, Schelten und Waffentragen. Ansonsten fehlt es an einer durchgehenden Systematik. Dies spricht dafür, dass im Laufe der Jahrhunderte nur die wichtigsten aktuell geltenden oder anlassbezogen unmittelbar notwendigen Regelungen festgehalten und durch weitere, auf neuen Gesetzen oder obrigkeitlichen Weisungen beruhende Normen ergänzt wurden (an verschiedenen Stellen Vgl. hierzu die Konzeptvorlage in: Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 228. 9 Maria Rita Sagstetter, Zur Erhaltung guter Ordnung und erbaulicher Sitten – Die Ehaftordnung des Gerichts Wiesau von 1783. In: Oberpfälzer Kulturbund e.V. – Markt Wiesau (Hrsg.), Stiftland – Steinwald: Beiträge zur regionalen Kulturgeschichte. Das Kulturfest der Oberpfälzer – 42. Bayerischer Nordgautag in Wiesau, Regensburg 2018, S. 64–75. 10 Identisch mit dem Richteramt (Neu-)Albenreuth, das zeitweise auch nach der Burgpflege Hardeck benannt wurde. Siehe Heribert Sturm, Tirschenreuth (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern, Reihe I, Heft 21), München 1970, S. 274. 11 Zum Stiftland und seiner Verwaltungs- und Gerichtsorganisation siehe: Sturm (wie Anm. 10) bes. S. 234–343. – Maria Rita Sagstetter, Kloster Waldsassen und sein Stiftland – von der Reichsunmittelbarkeit zur Landsässigkeit. In: Peter Pfister (Hrsg.), Die Zisterzienserinnen in Waldsassen. „Die auf den Herrn vertrauen, schöpfen neue Kraft“, Regensburg 2020, S. 37–59, bes. 51–54. 8
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wird auf „generalien“, die Oberpfälzer Landes- und Polizeyordnung von 165812 sowie auf landesherrliche Mandate und Spezialbefehle, ebenso auf Patente und Anordnungen der Regierung in Amberg – häufig mit Datumsangabe – Bezug genommen), während die eine oder andere obsolet gewordene Rechtsmaterie weggefallen sein dürfte. Bei den meisten Protokollen ist der jeweiligen Rechtsordnung eine Präambel („erster vortrag“, „vortrag“, „eingang“, „proposition oder vorredt“) vorgeschaltet, mit der der Amtsrichter, der dem Ehaftrecht vorsaß, den offiziellen Teil der Versammlung einleitete. Diese Präambel hat im Falle von Waldsassen und Konnersreuth, Mitterteich, Wiesau, Mähring und Poppenreuth den im Wesentlichen gleichen Wortlaut, was auf eine gemeinsame Vorlage oder eine frühere herrschaftliche Initiative zur Vereinheitlichung schließen lässt. Die Einführung benennt Anlass und Zweck der Zusammenkunft, nämlich die Abhaltung des hergebrachten Ehaft- oder Walburgisrechts mit öffentlichem Verlesen der Rechtsnormen („ihnen unterthanen diejenige puncten, so sie vor allen in obacht zu nehmen und sich darnach zu richten, was sie nämlich zu thun oder bey vermeidung straf und andern schweren einsehen zu lassen und sich darvon zu hütten haben, vortragen und ablesen zlassen“13). Zur Begründung wird die intendierte Wirkung des einer alten Tradition entsprechenden Vortrags herausgestellt. Dieser Brauch sei „eine sehr gute und nuzbare sache […], weilen nämlich in einem jeden reich, regiment, land und communität oder gemein nichts nüzlicher und wohlanständigers ist als die erhaltung guter ordnung, wordurch auferbauliche sitten eingepflanzet und alle einem unterthan übl anständig laster ausgerottet, wormit durch andere ursachen wenigist durch forcht der straf Landts- vnd PoliceyOrdnung der Churfl. Durchl. In Bayrn etc. Fürstenthumbs der Obern Pfalz, München 1658 (Staatsarchiv Amberg, Amtsbücherei GF 42). – Wolfgang Wüst, Die „gute“ Policey im Reichskreis. Zur frühmodernen Normensetzung in den Kernregionen des Alten Reiches, Band III: Die „gute“ Policey im Bayerischen Reichskreis und in der Oberpfalz, Berlin 2004, S. 122–125, 687–755. – Friedrich-Christian Schroeder, Die Rechtskodifikationen der Oberpfalz. In: Hans-Jürgen Becker (Hrsg.), Der Pfälzer Löwe in Bayern. Zur Geschichte der Oberpfalz in der kurpfälzischen Epoche (Schriftenreihe der Universität Regensburg 24), Regensburg 1997, S. 200–218. – Zur Oberpfälzer Landes- und Polizeyordnung als Teil des Oberpfälzer Landrechts von 1657/59 siehe: Karl-Otto Ambronn, Der Landesherr. In: Karl-Otto Ambronn – Maria Rita Sagstetter, Das Fürstentum der Oberen Pfalz. Ein wittelsbachisches Territorium im Alten Reich (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 46), München 2004, S. 265–295, hier 274 f., 281–285. 13 Zitiert nach der Ehaftordnung von Waldsassen und Konnersreuth (Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 777, Nr. 1). 12
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von dem bösen abgehalten, fried und einigkeit zwischen denen unterthanen gestift und ein gott und der herrschaft wohlgefällige harmonie oder verständnis eingeführt werden“. Entsprechend werden die Versammelten ermahnt, den „puncten, so man anizt selben vortraget und vorgesezter obrigkeit wegen wurdet ab- und vorgelesen, fleißig nachzuleben und sich dießfals vor straf und andern […] selbst zu hütten“.14 Der Richter von Waldershof hatte hinsichtlich der Umsetzung und Befolgung der beim Ehaft- oder Walburgisrecht vorgetragenen Normen offenbar schlechte Erfahrungen gemacht, da er dort eingangs anzumerken pflegte, dass man entgegen aller Hoffnung „erfahren und wahrnehmen“ müsse, dass der ein oder andere Untertan „alle heilsame amtliche verwahrnung nur schlechterdings beyseits sezet, wie auch zuweilen die sowohl hochst landsherrlich gnädigste als auch herrschaftliche befehle, aufträge und gebotten in den wind schlage, ja denen selben straks zuwider lebe, als wann ein solcher keinen herrn und obrigkeit zu gehorchen hätte“. Da jeder Untertan aber verpflichtet sei, den landesherrlichen und herrschaftlichen Weisungen und Geboten Folge zu leisten und ein gottgefälliges Leben zu führen, müsse man gegenüber denen, die der landesherrlichen Policey und anderen Anordnungen zuwiderhandeln, „geschärften zwang“ anwenden und von ihnen „den pflichtschuldigsten gehorsam und nachlebung deren anordnungen“ einfordern.15 Nach gehaltener Vorrede wurden – so das Protokoll des Waldsassener und Konnersreuther Ehaftrechts – die Namen der Gerichtsgeschworenen, also derjenigen Gerichtsgenossen, die als Beisitzer bei Gericht fungierten, verlesen; hatten sich durch Tod oder aus anderen Gründen Ausfälle ergeben, wurden neue Geschworene bestimmt. Durch anschließendes Ablesen der Namen der Untertanen wurde kontrolliert, ob diese ihrer Anwesenheitspflicht bei den Ehaftterminen nachgekommen waren. Wer unentschuldigt („ohne habende ehehaftursachen“) fehlte, riskierte eine Geldbuße, die beim ersten Mal 15 Kreuzer betrug.16 Die „gemeinmeister“ (ein bis zwei pro Gemeinde) des vergangenen Jahres, in anderen Gerichten auch Zitiert nach der Ehaftordnung von Waldsassen und Konnersreuth (Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 777, Nr. 1). 15 Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 777, Nr. 3. 16 Zutritt zum Ehaftrecht wie zur „Gemein“ im Sinne von Gemeindeversammlung hatten primär männliche Hausbesitzer mit bewirtschaftbarem Grund, nicht dagegen Frauen, Kinder, Dienstboten, Taglöhner, Inleute, Söldner oder Leerhäusler. Siehe Hartinger (wie Anm. 6) S. 38–40. 14
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als „gemeinleute“, „gemeinführer“, „dorfsgemeiner“ oder „dorfführer“ bezeichnet, wurden ihres Amts entbunden und an ihrer Stelle neue „gemeinmeister“ gewählt und verpflichtet. Als weitere Funktionsträger begegnen etwa Geschworene zur Schätzung von Gütern und Höfen, Feuer-, Bier-, Brot- und Malzschauer, Bier-, Brot- und Fleischsetzer, Weg- und Stegmeister, Feldschauer und Nachtwächter. In jenen Fällen, in denen sich der Gerichtssitz in einem Markt mit Ratsverfassung befand, wurden auch die Bürgermeister, Ratsmitglieder und Viertelmeister genannt. Ebenso wurden „alle in- und herbergsleute, mann und weibspersonen“ erfasst, von denen jährlich pro Mann 15, pro Frau 7 ½ Kreuzer Schutzgeld „einzufordern ist, welches fürders allwegen der hausvater zu erlegen schuldig seyn und gleichwohlen wieder einbringen solle“.17 Daraufhin folgte der Vortrag der lokalen Rechtsordnung sowie – wie etwa im Protokoll des Richteramts Waldershof ausdrücklich vermerkt18 – die ebenfalls jährlich erfolgende Verlesung von „generalien“ und namentlich der Mühlenordnung (Titel 25) aus der Oberpfälzer Landes- und Polizeyordnung. In Wiesau wurde abschließend noch die Forstordnung (von 1659) „repetirt“.19 Das 1669 wieder begründete Kloster Waldsassen unterstand mit seinem Territorium der Landeshoheit des bayerischen Kurfürsten, deshalb galten hier auch alle Gesetzeswerke, die für die gesamte Obere Pfalz Gültigkeit besaßen. Nur zwei der Protokollabschriften von 1786 benennen den Tagungsort des Walburgisrechts: In Mähring fand das Ehaftrecht „in loco des schullZitiert nach Ehaftprotokoll von Waldsassen und Konnersreuth (Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 777, Nr. 1). – „Inleute“, „herbergsleute“, auch „herberger“, waren Inwohner oder zur Miete wohnende Personen, insbesondere Maurer, Zimmerleute, Taglöhner, Gemeindebedienstete oder Landhandwerker, die sich kein eigenes Haus leisten konnten, aber den Schutz von Stadt, Markt oder Gemeinde, die ihren Aufenthalt duldeten, genossen, wofür von ihnen als Gebühr ein Schutzgeld erhoben wurde (Reinhard Heydenreuter – Wolfgang Pledl – Konrad Ackermann, Vom Abbrändler zum Zentgraf. Wörterbuch zur Landesgeschichte und Heimatforschung in Bayern, 3. Auflage, München 2010, S. 98, 109, 192). 18 Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 777, Nr. 3. 19 Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 777, Nr. 2. – Sagstetter (wie Anm. 9) S. 74. – Druckausgabe der Forstordnung: ForstOrdnung der Churfl. Durchl. in Bayrn etc. Deß Fürstenthumbs der Obern Pfaltz, München 1659 (Staatsarchiv Amberg, Amtsbücherei GF 42). – Vgl. Maria Rita Sagstetter, Forstordnung Friedrichs III. für die Obere Pfalz. In: Alfred Wieczorek u.a. (Hrsg.), Die Wittelsbacher am Rhein. Die Kurpfalz und Europa (Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim 60), Regensburg 2013, Band II: Neuzeit, S. 101. 17
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und gemeinhauses“ statt, während in Waldsassen die von höchster Stelle „von zeit zu zeit ausgeschriben werdende verordnungen und gesäze […] iedes malen durch den oberschreiber auf dem kirchplaz offentlich verlesen“ wurden, was auch bei Gelegenheit des Walburgisrechts so geschehen sein dürfte.20 Nicht nur die Präambeln und die ausdrückliche Bezugnahme auf die Landes- und Polizeyordnung, sondern auch der Inhalt vieler Regeln verleihen den Waldsassener Ehaftrechten den Charakter lokaler Polizeyordnungen.21 Sie vermitteln Einblicke in die Organisation der Dorfgemeinden, in soziale Strukturen und Spannungsfelder, religiöse Vorschriften und sittliche Verhaltensmuster, Wirtschaftsformen und -bedingungen, Sicherheitszwänge, ja sogar in Belange der ländlichen Bauweise, weshalb sie für die Lokalgeschichtsforschung eine wertvolle Quelle bilden können. Im Einzelnen begegnen beispielsweise folgende Themenbereiche22: religiöses Leben und Schulbildung (Gottesdienstbesuch, Sonn- und Feiertagsruhe, Christenlehre und Schulbesuch, Verbot von Gotteslästerung, Fluchen und abergläubischen Handlungen, Gebetläuten, Verbot des Wetterläutens, Arbeitspflicht an abgeschafften Feiertagen), sittliches und soziales Verhalten (Verbot nächtlicher Zusammenkünfte und der Rockenstuben sowie heimlicher Tänze und Glücksspiele, Verbot nicht standesgemäßer Kleidung und der Vorführung von Kammerwägen an Sonn- und Feiertagen „zu einer hoffärtigen pracht“, Obergrenzen für Gästezahlen und die Dauer von Hochzeiten, Tauffeiern und Leichenbegängnissen zur Eindämmung von Völlerei und Trunksucht, getrennte Schlafkammern für Knechte und Mägde, Sperrstunden für Wirtshäuser), Schutz gegen Fremde und verdächtige Personen (Beherbergungsverbot für Bettler und fahrendes Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 777, Nr. 1 und 10. 21 Karl Härter, Artikel „Policey“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, 27. Lfg., Berlin 2018, Sp. 645 f. – Ders., Artikel „Policeyordnungen“. In: Ebd. Sp. 646–652. – Wüst (wie Anm. 12) S. 15–117 [Historische Einleitung]. – Zum Vergleich siehe auch: Monika Ruth Franz, Die Landesordnung von 1516/1520. Landesherrliche Gesetzgebung im Herzogtum Bayern in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Bayerische Rechtsquellen 5), München 2003. – Horst Gehringer – Hans-Joachim Hecker – Reinhard Heydenreuter (Hrsg.), Landesordnung und Gute Policey in Bayern, Salzburg und Österreich (Studien zu Policey und Policeywissenschaft), Frankfurt am Main 2008. – Johannes Staudenmaier, Gute Policey in Hochstift und Stadt Bamberg. Normgebung, Herrschaftspraxis und Machtbeziehungen vor dem Dreißigjährigen Krieg (Studien zu Policey und Policeywissenschaft), Frankfurt am Main 2012. 22 Zum Inhalt der Wiesauer Ehaftordnung siehe: Sagstetter (wie Anm. 9). 20
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Volk, Verbot des Umgangs mit Juden, Meldung von Freimaurern und heimlichen Zusammenkünften), Seuchenprävention (Meldepflicht für ansteckende Krankheiten bei Mensch und Tier), Maßnahmen des Brandschutzes (gemauerte Kamine und Küchen, Kaminreinigung und Herdstättenbeschau, Verbot offener Lichtspäne, Vorhalten von Feuerlöschgeräten, Verpflichtung zum gemeinsamen Löscheinsatz, Genehmigung von Flachsdörröfen und Brechschupfen nur außer Orts, Lagerung von Heu, Stroh, Holz und Reisig ausschließlich an nicht feuergefährdeten Stellen), Flurordnung, Vieh- und Feldwirtschaft (Instandhaltung von Wegen, Stegen und Zäunen, Anzeige versetzter Grenzsteine, Betretungsverbot für Wiesen ab Georgi, Verbot des Grasens und Hütens auf Feldern, Wiesen und Rainen, Verbot des Umackerns von Brachfeldern vor Johanni, Verpflichtung zu gemeinsamem Viehhüten in der Gemeindeherde, separates Hüten von Gänsen), Teichwirtschaft und Fischzucht (Regeln für Fischen und Krebsen in Teichen und Bächen, Sauberhaltung der Fischwässer, Freihaltung der Fischstraßen, Anbringen von Rechen und Zäunen an Wasserab- und -zuläufen, Verbot des Hütens auf den Teichdämmen)23, Kultivierung von Obst, Schutz der Obstbäume, Schutz der Wälder zur Sicherstellung der dauerhaften Holzversorgung (reglementierte Holzabgabe nach Anweisung durch Förster, Verbot des Tabakrauchens, Waldbrandgefahr, Verbot des Viehhütens in den herrschaftlichen Wäldern, Verbot des Pottaschesiedens), Handwerk und Handel (Versorgung mit Grundnahrungsmitteln durch Bäcker, Metzger und Wirt, Schlachtung und Fleischbeschau, Vorrang von Dienstleistungen und Produkten inländischer Handwerker gegenüber ausländischer Konkurrenz, Verbot der Auftragsvergabe an Pfuscher und Stümper24, Anbietung von Viktualien und „feilschaften“ wie Getreide, Flachs, Hanf, Wolle, Eiern und Karpfen primär an das Stift Waldsassen und erst sekundär auf den öffentlichen Wochenmärkten, Gebrauch rechter Maße und Gewichte).
Zur Fischzucht und Teichwirtschaft im Stiftland und ihrer die Landschaft bis heute prägenden Wirkung siehe: Adalbert Busl, Zur Geschichte der Teichwirtschaft im Stiftland. In: Oberpfälzer Heimat 35 (1991) S. 101–120. – Handbuch der historischen Kulturlandschaftselemente in Bayern (Heimatpflege in Bayern – Schriftenreihe des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege e.V. 4), München 2013, S. 142–145. 24 Handwerklich tätige Personen, die nicht Mitglied eines geschworenen Handwerks sind, auf dem Land herumziehen und auf dem Hof des Kunden ihr Gewerbe ausüben oder unberechtigterweise Waren herstellen. Siehe: Vom Abbrändler zum Zentgraf (wie Anm. 17) S. 162, 205. 23
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Keine Hinweise geben die Ehaftprotokolle jedoch auf Rechtsprechungstätigkeit. Bereits im 17. Jahrhundert war diese bei Abhaltung der Ehaftrechte im Stiftland außer Übung gekommen und hatte sich in der Folge auf die Prozesstermine vor dem ordentlichen Gericht konzentriert. Bei einer groß angelegten Umfrage der Münchner Hofkammer zu Ehaftrechten in der Oberen Pfalz berichtete der damalige Superior und Administrator von Waldsassen P. Nivard Christoph am 23. April 1678 an die Regierung in Amberg, dass bei allen Gerichten des Stifts seit weit über 100 Jahren – den genauen Anfang wisse man nicht – jährlich einmal und zwar um Walburgi Ehaftrecht gehalten und durch den Richter sowie zwölf Gerichtsgeschworene besetzt werde. Früher seien den Ehaftbüchern nach zu schließen auch verschiedene Klagen und Parteisachen verhört und verbeschieden worden, neuerdings würden solche Gerichtshandlungen jedoch vor dem zuständigen Richter des jeweiligen Gerichts vorgenommen und erörtert – „villeicht aus dennen ursachen, dieweil obgedachte gerichtsgeschworne als ainfeltige pauernsleuth nit geschickht seindt formblichen zu votiren“ –, so dass beim Ehaftrecht nur noch die Wahl und Verpflichtung der Gemeindefunktionäre stattfinde, die Mühlen- und Waldordnung mit kurfürstlichen Generalmandaten und Befehlen in Polizey- und anderen Sachen vorgelesen und die Registrierung der schutzgeldverpflichteten Herbergsleute durchgeführt werde.25 Im Kontext der Umfrage hat sich die Aufzeichnung eines aus dem Stiftland (vermutlich vom Richteramt Mitterteich) stammenden „Ehehaftrechts“ von 1674 erhalten. Sie führt ergänzend zu der 36 Nummern umfassenden lokalen Rechtsordnung die Folioangaben zu den Rechtssätzen an, die den Untertanen aus der Oberpfälzer Landes- und Polizeyordnung „vorgehalten“ wurden; die Folioangaben sind identisch mit den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe von 1658.26
Staatsarchiv Amberg, Landgericht ä.O. Waldsassen 608. – Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Regierung – Landrechtspolizeiakten 269. – Walter Hartinger, „… wie von alters herkommen …“ Dorf-, Hofmarks-, Ehehaft- und andere Ordnungen in Ostbayern, Band 3: Nachträge, Ehehaft-Gewerbe (Bader, Schmiede, Wirte) und andere Detail-Ordnungen (Passauer Studien zur Volkskunde 20), Passau 2002, S. 165–244, hier bes. S. 167 f., 184 f., 221 f. – Josef Breitenbach, Die Ehehaftgerichte in der alten Kuroberpfalz. In: Verhandlungen des Historischen Vereins von Oberpfalz und Regensburg 72 (1922) S. 1–20. 26 Staatsarchiv Amberg, Landgericht ä.O. Waldsassen 608. – Zur Oberpfälzer Landes- und Policeyordnung siehe Anm. 12. 25
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Niederschriften über die Abhaltung von Ehaftrechten im 18. Jahrhundert haben sich auch anderweitig in der Aktenüberlieferung des Klosters Waldsassen bzw. seiner Richterämter erhalten, z.B. für das Richteramt Waldershof 1727 bis 173627 und 1746 bis 178128, für das Oberamt Waldsassen 1755 bis 177929 und für das Gericht Konnersreuth 1757 bis 177930. Sie geben zwar nicht die Ehaftordnungen wieder, dokumentieren neben dem Termin und der Wahl der Dorfführer und sonstigen Amtsträger aber auch vorgebrachte Anträge und Beschwerden mit den hierüber getroffenen amtlichen Entscheidungen sowie anlassbezogene Anordnungen, die zum Teil – je nach Gültigkeitsdauer – als grundsätzliche Bestimmungen in den Folgejahren wiederholt wurden.31 Die gebündelte Überlieferung der stiftländischen Ehaftordnungen in von den einzelnen Richtern beglaubigten Abschriften lässt auf einen besonderen Anlass für ihre Entstehung schließen. Nachträgliche Bearbeitungsvermerke („expedirt“, „entschiden“, „abgethan“, „regulirt“, „abgeändert“, „ist nachzuschlagen“) sowie Streichungen oder Ergänzungen einzelner PassaStaatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 226. 28 Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen – Richteramt Waldershof 3. – Magistrat und Bürgerschaft des Markts Waldershof weigerten sich (im Unterschied zu den Gerichtsuntertanen auf dem Land) seit 1774 unter Berufung auf ihre Marktfreiheit, zum Walburgis- oder Ehaftrecht zu erscheinen. Als sie später auch der Publikation des durch die Hofratsdeputation verfassten Generalregulativs für sämtliche waldsassischen Untertanen von 1786 nicht beiwohnen wollten – mit der Begründung, dass der Markt in der „allgemeinen streittsache“ zwischen dem Stift und seinen Untertanen nicht involviert gewesen sei –, wurde 1787 durch den Hofrat eine Geldstrafe in Höhe von 50 Reichstalern über sie verhängt, die sie innerhalb von 14 Tagen bei Androhung einer weiteren Strafe von 100 Reichstalern und nötigenfalls sogar der militärischen Exekution zu bezahlen hatten (Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 226). 29 Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 228. 30 Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 227. 31 Beispiele aus Ehaftprotokollen des Richteramts Waldershof von 1749, 1754 und 1764 (Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen – Richteramt Waldershof 3): „Eine gemain zum Walmbreuth beschwehret sich wider die 2 dorffsgemainden Masch und Wolfersreuth wegen unberechtigten überhüettens mit dennen schaafen, worauf denenselben das verboth eingelegt worden, das sye sich frembter unberechtigter waydt und trifft bey straff enthalten sollen.“ – „Auf anbringen der müller würd das mallen ausser landts bey straff verbotten.“ – „Vermög dess unterm 9. martii 1764 ergangenen oberamtsbefelchs sollen die underthannen künfftig den Mitterteucher caminfeeger gebrauchen.“ 27
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gen weisen darauf hin, dass die Aufzeichnungen als Vorlagen für eine Neufassung dienten. Durch weiterführende Quellenrecherchen ließen sich die „Protocolla“ mit einem langwierigen Prozess zwischen dem Kloster Waldsassen und seinen Untertanen, zu dessen Beilegung der Hofrat 1785 eine Spezialdeputation eingesetzt hatte, in Verbindung bringen. Auslöser der Auseinandersetzung war die Verweigerung des Kartoffelzehnts durch die stiftischen Untertanen im Jahr 1779. Der mit der Untersuchung befasste Amberger Regierungsrat (und spätere Regierungskanzler) Felix Adam Löwenthal32 ermunterte die Gemeinden und Untertanen des Stiftlands, generell ihre Gravamina gegen das Kloster und dessen Beamte zu melden. Im Ergebnis kam ein Katalog von 4000 Beschwerdepunkten zusammen, in dem offenbar über Jahre oder Jahrzehnte gewachsene Unzufriedenheit und Differenzen bis hin zu bereits länger schwelenden Konflikten ihren Kulminationspunkt erreichten. Dieser Beschwerdeprozess wurde zunächst vor dem Hofgericht an der Regierung in Amberg, dann vor dem Münchner Hofrat als oberer Gerichtsinstanz geführt.33 Mit Reskript vom 13. August 1785 ließ Kurfürst Karl Theodor dem Revisorium, das in der Angelegenheit ein Gutachten erstellt hatte, mitteilen, dass er, „nachdem die strittigkeiten zwischen dem kloster Waldsassen, dann deßen unterthanen schon so lange andauern und auf 4000 puncten erwachsen, mithin so beschaffen sind, daß sie entweder gar nicht oder in längster zeit nicht ausgehen und sowohl das kloster als viele hundert und tausend unterthanen, welche keinen geringen theil der oberpfälzischen lande ausmachen, zum größten schaden der landesherrschaft gänzlich entkräftet würden“, die „so geartete causam nicht so viel pro privata als publica“ einstufe. Beide Streitparteien hätten sich „selbst über all und iede strittige puncten selbst um so gewißer in güte mit einander zu vereinigen und zu vergleichen“; widrigenfalls wolle man „über die unverglichenen puncten keinen weitern proceß gestatten, sondern eine commission verordnen“, in der beide Seiten „durch den weltlichen und geistlichen fiscum vertretten“ werden sollen.34 Da keine Einigung zustande kam, berief der Hofrat 1785 eine Spezialdeputation, die im Januar 1786 ihre Tätigkeit Caroline Gigl, Die Zentralbehörden Kurfürst Karl Theodors in München 1778–1799 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 121), München 1999, S. 129. 33 Franz Binhack, Geschichte des Cisterzienser-Stiftes Waldsassen unter dem Abte Wigand von Deltsch (1756–1792) (Programm des K. Gymnasiums Eichstätt 1895/96), Eichstätt 1896, S. 27–30. 34 Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Regierung – Amt Waldsassen 2336a, S. 161 f. 32
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aufnahm. Ihr gehörten an die Hofräte Johann Nepomuk Freiherr von Rummel zu Waldau als Vorsitzender, Friedrich August von Courtin als Proponent, Marcus Freiherr von Erdt, Johann Baptist Maria Edler von Vacchiery, Carl Ludwig von Branca, Johann Nicola Prößl und Joseph Köstler, des Weiteren Maximilian Edler von Mayrhofen, Geistlicher Ratsfiskal, als Vorstand der klösterlichen Seite und Johann Anton von Destouches, Hofkammerfiskal, als Vorstand der Untertanen, außerdem P. Basilius Bauer als Vertreter des Klosters sowie Lic. Sigritz und die Abgeordneten der Gemeinden im Namen der Untertanen.35 Entgegen den Erwartungen schritten die Bearbeitung der Beschwerdepunkte und deren Verbescheidung nur langsam voran.36 Bis Anfang März 1786 hatte die Spezialdeputation trotz „all angewandtem fleiß“ nicht mal 100 („kaum der 40te theil“) der insgesamt 4000 strittigen Punkte erledigt. Dieser Befund ließ „ermessen, wie viel zeit zu erledigung des ueberrestes erfoderlich sey und wie hoch sich endlich die kösten belaufen dürften“, besonders wenn der 18-köpfige Ausschuss der in den Streit involvierten Gemeinden und Untertanen und die Klosterabordnung „bis zu völligen ausgang der sache beständig hier [= München] verbleiben und der deputation beywohnen sollte“. Der Hofrat wurde daher mit Reskript vom 9. März 1786 angewiesen, „diesem grundverderblichen handel ein ende zu machen“, vorerst die Behandlung der noch „unverglichenen“ Punkte abzubrechen und „bey der deputation dermal nur das futurum wenigst provisionaliter zu reguliren, in das praeteritum aber erst alsdann bey den Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 229 (Innentitel). – Zur Identifizierung der Personen siehe: Gigl (wie Anm. 32). – Dass P. Basilius Bauer, stiftischer Kastner, in der Streitsache das Kloster vertreten sollte, war ohne Wissen von Abt und Konvent durch den Hofrat entschieden worden; er wurde Abt Wigand Deltsch und Prior Theobald Schwarz als Koadministrator zur Seite gestellt. Siehe Binhack (wie Anm. 33) S. 18–20 Anm. 1. 36 Zur Tätigkeit der Spezialdeputation siehe: Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 232 (Entscheidungen der Spezialdeputation zu alle Untertanen betreffenden Gravamina vom Januar bis März 1786, Abschrift), 229 (Entscheidungen zu „gravamina specialia et specialissima der stift waldsassischen unterthannen wider ihre herrschaft daselbst puncto variorum“, nach Gerichten und Orten gegliedert, von März bis September 1786, Abschrift), 231 (an die waldsassische „coadministration“ adressierte Befehle und Resolutionen der Spezialdeputation 1786 bis 1789, Abschriften), 230 (Beschwerdeführung des Klosters gegen Resolutionen der Regierung Amberg zum Vollzug von Entscheidungen der Deputationen 1786/87, Korrespondenzunterlagen des stiftischen Anwalts). – Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Regierung – Amt Waldsassen 2336a und 2336b (Entscheidungen zu Spezialbeschwerden von März bis Mai 1786, Abschriften). 35
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beträchtlichen puncten, wo noch etwas bey todt- oder lebendigen zu erholen seyn mag, nach und nach einzugehen“. Eine so zahlreiche wie kostspielige Abordnung wie bisher sei für weitere Verhandlungen nicht mehr erforderlich, da ohnehin nur noch über die bereits vorliegenden „acta“ zu sprechen sei, weshalb der größte und entbehrliche Teil der Abgeordneten entlassen und damit weiterer unnötiger Aufwand vermieden werden solle.37 Der Vorsitzende der Deputation, Freiherr von Rummel, entließ daraufhin weisungsgemäß die bisherigen Abgeordneten des Stifts mit Ausnahme von P. Basilius Bauer als einzigem in den Lokalverhältnissen „gut bewanderten“ Ansprechpartner. Was die Untertanenseite anbelangte, so sollte künftig bei sukzessiver Erledigung der über die „jura perpetua“ zu treffenden Entscheidungen nur noch ein Bevollmächtigter des jeweiligen stiftischen Richteramts zwecks Erläuterung der örtlichen Bedingungen erscheinen.38 Dem Auftrag, „das futurum … zu reguliren“, gemäß erarbeitete die Deputation in der Folge ein Regelwerk, das als „Regulativ respective ehehaftspunkten für samtliche stift-waldsassische unterthanen“ tituliert und zum 19. August 1786 publiziert wurde.39 Als Grundlage dienten die oben vorgestellten Ehaftordnungen der waldsassischen Richterämter. Die Hofratskommission hatte zu diesem Zweck im April 1786 „die ehehaftprotocolla von jedem gericht und auch das darbey gehaltene protocoll“ bei Abt Wigand angefordert.40 Durch Bestandsaufnahme, Prüfung und Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Regierung – Amt Waldsassen 2336a, fol. I–I‘. 38 Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Regierung – Amt Waldsassen 2336a, fol. II‘–IV. 39 Ausfertigung für das Kloster Waldsassen (Papierhandschrift mit Goldschnitt und in Ledereinband mit Goldprägungen und kurfürstlichem Wappen auf Vorder- und Rückseite und mit weiß-blauer Kordel im Rücken; das Siegel, das ursprünglich daran befestigt war und außerhalb des zugehörigen Originalschubers frei abhing, wurde abgeschnitten): Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 412, mit Originalunterschriften des Freiherrn von Rummel nach einzelnen Abschnitten und am Ende. – Beglaubigte Abschriften vom 9. Januar 1787 (mit Unterschriften von Abt Wigand, Prior P. Theobald Schwarz und P. Basilius Bauer): Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 233 und 234. – Abschrift von 1792 (mit Sachregister): Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Regierung – Amt Waldsassen 2336a. – Zwei weitere Abschriften siehe: Staatsarchiv Amberg, Landgericht ä.O. Waldsassen 608. 40 Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen – Richteramt Waldershof 3. 37
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Fortschreibung des geltenden Rechts sollte in die Zukunft wirkend ein Beitrag zur Beendigung des Streits geleistet werden, wobei die Intention sich nicht darauf beschränkte, klare Rechtsverhältnisse zu schaffen und den stiftischen Untertanen ihre Pflichten und Regeln für ein diszipliniertes und gehorsames Verhalten gegenüber der Obrigkeit und für ein geordnetes Zusammenleben im bäuerlich-ländlichen Alltag zu vergegenwärtigen. Die Deputation nutzte überdies die Gelegenheit zur Rechtsvereinheitlichung – in allen stiftischen Richterämtern sollte künftig ein- und dieselbe Ehaftordnung gelten – und überdies zur Annäherung an die allgemeine Landes-Policeyordnung41. Begründet wurde der landesherrliche Normsetzungsakt dadurch, dass die Spezialdeputation bei Sichtung der prozessrelevanten Unterlagen auf Seiten der Beamten und Diener des Klosters Waldsassen „sehr vielle excesse und müsverständnise an bestrafungen, so andern beschehen“, und bei den Stiftsuntertanen „die gänzliche entsagung“ des Gehorsams und der schuldigen Pflichten vorgefunden habe, auch dass verschiedene Fälle für nicht strafbar gehalten worden seien, „welches es doch gewesen sind“, und man umgekehrt nicht justiziable Fälle abgestraft habe. Auf Weisung von höchster Stelle habe man deshalb auf der Grundlage der älteren „ehehaftspunckten“, die zum Teil abgeändert, vermehrt oder vermindert worden seien, das vorliegende Regulativ verfasst, das sowohl dem Stift, dessen Beamten und Dienern als auch seinen Untertanen zur genauesten Beachtung auferlegt werde. Das Regelwerk erschöpft sich nicht in einer Kompilation oder bloßen Angleichung der hergebrachten Ordnungen, sondern greift zudem Entscheidungen, die die Deputation zu einzelnen Gravamina bereits getroffen hatte, auf und formuliert sie als allgemein verbindliche Normen. Daneben wird wiederholt auf Bestimmungen in der Landes- und Policeyordnung Bezug genommen, die dort ausführlicher formuliert erscheinen. Anders als bei den als Vorlagen dienenden Ehaftordnungen, in denen die Rechtssätze weitgehend unsystematisch aufeinander folgen, ist das Regulativ gegliedert in Religions- und Kirchensachen, Pflichten gegenüber dem Landesherrn und seinen Verordnungen, Pflichten gegenüber dem Stift Waldsassen als Vogt-, Grund-, Zehnt- und Lehenherrn, „pflichten gegen das stift qua privat und gegen die mitunterthanen“, Angelegenheit der Policey, des Handels und der Landwirtschaft („in die pollicey, comercien und cultur einschlägige sachen“), Mühlen, Forst- und Waldwesen sowie Instruktion für die Dorfsführer und Gemeiner. 41
Vgl. Hartinger (wie Anm. 6) S. 28 f.
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Bei den Religions- und Kirchensachen steht die Anleitung zu einem frommen, gottesfürchtigen Leben nach der katholischen Lehre, zum Besuch der Gottesdienste und zum disziplinierten und andächtigen Verhalten während derselben im Mittelpunkt. Jeder Untertan soll sich, so gleich die erste Bestimmung, gemäß den ergangenen Mandaten allen Aberglaubens, des abergläubischen Schatzgrabens und der Wahrsagerei bei Androhung der für „dergleichen aberglaubische laster“ im Codex Iuris Bavarici Criminalis (Teil I Kap. 7 § 7) festgesetzten Strafe enthalten. Außerdem solle er sich vor Gotteslästerung, Schelten, Fluchen oder „andern ärgerlichen leben“ hüten. In die Lehre eines „praedicanten“ zu gehen – gemeint sind Prediger der lutherischen Lehre – ist „sammentlichen unterthanen alt- und jungen“ verboten, „und zwar bey straf eines ganzen oder halben pfund wachses zu seiner pfarrkürche zu geben“. Wird bei einer Prozession oder auf dem Weg zur Krankenkommunion das „venerabile“ vorbeigetragen, hat man „gebührend niderzuknien“. Soweit sie nicht aus anerkannten Gründen („ehehafter ursachen“) verhindert sind, haben alle Untertanen bei der ewigen Anbetung zu erscheinen (bei einer Geldstrafe in Höhe von 15 Kreuzern, die an die Kirche zu leisten ist) und auch ihre Dienstboten („ehehalten“) (bei einer Strafe von einem halben Pfund Wachs für die Kirche) dorthin zu schicken; kommen die Dienstboten dem nicht nach, sollen sie „bey stock- und geigenstrafe gebüesset werden“. Alle Männer und Frauen, alte und junge Leute, auch Ehalten, „sohin jederman, wer nur von haus abkomen kann“, hat an Sonn- und Feiertagen dem Pfarrgottesdienst beizuwohnen. Knechtarbeit hat während dieser Zeit, außer der Pfarrer erteilt wegen Ernte Dispens, zu ruhen. Auch Fischen und Krebsen ist außer im Notfall zu unterlassen. Wirte auf den Dörfern dürfen während der Gottesdienste nichts ausschenken, die berechtigten Wirte in den Märkten ihr Gewerbe nur „über die gasse“ oder „bey halb eröfneter thür“ ausüben. Bürgermeister und Ratsmitglieder haben an den Kirchenfesttagen sowie bei Kirchweihen und Bitttagen mit dem Mantel zum Kommunionempfang zu erscheinen bei Strafe eines halben Pfundes Wachs an die Kirche, „auch die überigen unterthanen werden gemahnet zu opfer zu gehen“. Wer sich in der Kirche „durch erregung eines tumults ungebührlich aufführt, soll strafbahr behandlet werden“, die fällige Geldstrafe kommt der Kirche zugute. Insbesondere sollen sich Erwachsene und ebenso junge Leute auf der Empore „alles schwäzens, trängens und andern unanständigkeiten“ enthalten. Kinder und junge Burschen sollen sich nicht in die Stuhlreihen „oder gar in die baardill unter die männer“ setzen, sondern die Hausväter sollen sie „vorn in die kleine bäncke und zur an-
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dacht und ehrerbiethung anweisen“. Ebenso wird diesen anbefohlen, ihre Kinder, Ehalten, Lehrjungen und Handwerksburschen in die Christenund Kinderlehre zu schicken. Über deren Teilnahme hat der Schulmeister eine Anwesenheitsliste zu führen. Bei unentschuldigtem Fernbleiben hat der Hausvater 15 Kreuzer zu leisten, die teils dem Schulmeister als Salär dienen sollen, teils für „verehrungen“, die als Anerkennung für die Fleißigen eingekauft werden sollen, zu verwenden sind. Der Besuch der Christenlehre wird als Voraussetzung für eine spätere kirchliche Eheschließung gefordert: Ehalten, Kinder und Handwerksburschen werden „nicht eher zu einer verehligung gelassen […], bis sye nicht ehevor bey dem pfarrer hinlängliche proben ihres erfoderlichen unterrichts in glaubenssachen abgelegt haben werden“. Das Arbeitsverbot für Sonn- und anerkannte Feiertage soll jedoch ausdrücklich nicht mehr für die abgeschafften Feiertage gelten: „Wer sich aber an abgeschaften feyrtägen der arbeith widersezt oder wer dem disertwegen ergangenen gnädigsten mandat de dato 14. junii 1785 nicht die schuldigiste folge leysten wird, soll mit den in gedachten mandat enthaltenen strafen gebüesset werden“. Erinnert wird auch an das Mandat vom 23. Juli 1784 über die Abschaffung des Wetterläutens. Die Unterhaltspflicht für Kirchenstege obliegt der Gemeinde. Kirchenuhren sind „accurat nach dem sonnenlauf“ zu richten, „daß iederman sehen und hören kan, wie er in der zeit ist“. Im Abschnitt über die Pflichten gegenüber dem Landesherrn werden die stiftischen Untertanen einleitend zu Gehorsam und Ehrerbietung gegenüber dem „landesregenten“ sowie zur genauesten Befolgung der ihnen in Auszügen beim Walburgirecht eröffneten („bereits erlassenen als kinftig noch zu erlassen komenden“) Verordnungen „aufs nachdrucksamste angewisen“. Als konkrete Pflichten werden genannt die Leistung von Steuern und Abgaben, die bei den zwei Oberämtern Waldsassen und Tirschenreuth zu erlegen sind, die Anzeige von im Land sich aufhaltenden Freimaurern oder anderen nicht tolerierten Zusammenkünften, die Meldung von Deserteuren oder Ausreißern, denen außerdem „bey vermeidung der in den generalmandaten bestimten strafen“ keine „hilfliche hand geleistet“ werden darf, die Beförderung von Saliterwachstum (zwecks Verwendung zur Munition), die Meldung von Grenzsteinversetzungen oder -abgängen, die Erhebung von Warenaufschlägen beim Verkauf von Vieh, Getreide, Bier und Branntwein, die ausschließliche Verwendung von gestempelten Spielkarten und das Verbot, sich als „fornicant ausser landes abstrafen zu lassen“. Wer Kinder „in die fremte schickt“, hat bei Geldstrafe von 5 Gulden dies der Obrigkeit zu melden und alljährlich Bericht zu erstatten, ob
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sich diese Kinder in einem Arbeitsverhältnis oder „in andere potentaten kriegsdienste […] befünden“. Neben dem Landesherrn haben die Untertanen auch gegenüber dem Kloster Waldsassen als dessen Vogt-, Grund-, Zehnt- oder Lehenherrn sowie dessen Beamten „allen gehorsam in billigen dingen und die demselben gebührende ehrerbittung zu bezeigen“. Ladungen vor das stiftische Amt oder zur Verrichtung von dem Kloster schuldigen Leistungen ist „ungesäumt“ zu den festgesetzten Zeiten Folge zu leisten „bey exemplarischer leibsstrafe“. Insbesondere sind der Walburgi- und Michaelizins sowie andere Abgaben termingerecht zu entrichten. Lehen- oder zu Erbrecht verliehene Güter dürfen nicht ohne vorherige Anzeige und schriftlichen Antrag auf Konsens verpfändet oder veräußert werden. Stirbt der Inhaber, ist dies sogleich anzuzeigen. Insbesondere Lehenuntertanen sollen „sich all aigenmächtiger veräusserung enthalten und in der gesäzlich bestimten zeit das lehen bey vermeidung der felonie oder lehensverworchung … recognos ciern“, also rechtzeitig den Lehenfall kommunizieren und um Belehnung ersuchen. Niemand soll sich ohne Vorwissen der Herrschaft als Beklagter vor das Gericht einer anderen Obrigkeit stellen lassen. Zum Handscharwerk (außer zum „klopfen“) darf kein Kind geschickt werden. Wer öde Gründe oder schon „fruchtbahr gewessene“ Ödgründe „nuzrechtsweis“ innehat, darf diese nicht ohne Zustimmung des Stifts verändern. Weitere Bestimmungen betreffen die Meldepflicht (zum Walburgisrecht) bezüglich der Anzahl der Kühe in den Ställen, die Reichung des Zehnts in Form von Getreidegarben, Lämmern und Gänsen und den hierbei möglichen Betrug (durch „untermischung“, „verheimlichung oder versteckung“) – in diesem Fall ist das Stift berechtigt, „nicht nur den betrüger mitls offentlicher stockstrafe zu büessen, sondern auch eine andere garbe für die ausgeworffene zu fodern“ bzw. sich ein anderes Lamm zu nehmen. Auch Schäfer haben zum Zweck der Bemessung der Schäfersteuer ehrliche Angaben hinsichtlich der Anzahl ihrer Schafe zu machen. Söhne von Untertanen, die heiraten wollen, ohne ein Anwesen zu besitzen, müssen die Heiratserlaubnis gegen Gebühr einholen. Alle Untertanen haben bei Strafe von 1 Gulden persönlich beim Walburgisrecht anwesend zu sein, „ausser es wäre einer ehehafter ursache hieran verhindert“. Ebenso haben die Untertanen jederzeit auf vorherige Aufforderung hin zu erscheinen, wenn ein Gemeiner oder Dorfsführer auf Befehl des Klosters oder des Richteramts etwas vorzutragen oder zu verkünden hat. Sollte ein Förster oder Gerichtsdiener bei Amtshandlungen gegenüber den Untertanen Gewalt anwenden – außer dies ist in Malefizfällen erforderlich –, dürfen diese
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sich nicht mit Gewalt dem sich solchermaßen verfehlenden Förster oder Gerichtsdiener widersetzen, „und zwar bey zuchthausstraf“, jedoch bleibt ihnen anheimgestellt, bei der Obrigkeit gegen ihn zu klagen. Wer Beamte, Förster oder Gerichtsdiener „oder die ihrigen“ besticht, riskiert beim ersten Mal mit „karbatsstreichen42 offentlich abgestraft“, bei Wiederholung „in das zuchthaus … gelifert und des geschencks verlurstigt“ zu werden. Will der Gerichtsdiener bei Visitationen oder anderen stiftischen Verrichtungen ein Mitglied aus der Gemeinde als Geschäftszeugen hinzuziehen, soll ihm der Dorfsführer oder Gemeiner „einen aus der gemeinde bey stockstraf wechslweis stellen“, der bei gleicher Strafe den Gerichtsdiener zu begleiten schuldig ist. Im Abschnitt über die „pflichten gegen das stift qua privat und gegen die mitunterthanen“ werden die Straffolgen für eine Reihe von Ordnungswidrigkeiten oder Vergehen aufgelistet, die insbesondere Wege in der Flur, Fischgewässer und Obstbäume betreffen. So soll jeder Untertan, der Wege, Stege und Raine durch Überackern zu seinen Gründen schlägt, 3 Gulden Strafe und Schadensersatz zahlen. Das Überackern von Gemeindegründen und Fahrtwegen wird von Amts wegen geahndet, das Überackern von Privatgründen nur auf erfolgte Privatklage hin. Umgekehrt macht sich strafbar, wer neue Wege durch fremde Gründe anlegt. Unterschlagung von Vermögen ist jederzeit strafbar und kann je nach Umständen sogar als Malefizfall behandelt werden. Jeder Untertan soll seine Verheiratung gebührend registrieren („beschreiben“). Schmähungen („pasquille“) sind bei Zuchthausstrafe, Diebstahl von Obst und anderen Früchten und ebenso das Einsteigen in Gärten bei Leibesstrafe und gegen Schadensersatz verboten. Besonderen Schutz genießen Fischgewässer, weshalb das Verbauen der Fischstraßen, das Fischen und Krebsen in fremden Gewässern ohne Erlaubnis des Eigentümers mit Geldstrafe und Schadensersatz, das Ableiten von fremdem Wasser und dessen Umleitung auf die eigenen Gründe mit Stockstrafe und Schadensersatz verfolgt wird. Enten, die sich in Teichen aufhalten, kann der jeweilige Eigentümer des Gewässers sich aneignen. Wer Wasser, das aus fremden Fischwässern oder Forellenbächen abläuft, nutzt, hat (um den Fischbestand nicht zu gefährden) bei den Ausläufen Zäune oder Rechen anzubringen. Der Unterhalt und die Instandsetzung der „wasserabfälle oder usch“ sind sicherzustellen; „gegen den säumigen Die Karbatsche ist eine aus Lederriemen oder Hanfseilen geflochtene Peitsche, die u.a. als Straf- oder Folterwerkzeug eingesetzt wurde. Siehe: Vom Abbrändler zum Zentgraf (wie Anm. 17) S. 115. – https://de.wikipedia.org/wiki/Karbatsche (aufgerufen am 10.5.2022). 42
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aber soll das stift die herstellung oder reparierung derselben auf dessen kösten vornehmen lassen“. Bei Bränden in Waldungen des Klosters oder der Untertanen oder andernorts, die durch Gewitter oder aus anderen Ursachen entstehen, sind alle verpflichtet, „sogleich retten [zu] helfen“. Zinsen für Vormundschafts- oder Kirchengelder sind fristgerecht und korrekt zu bezahlen. Es folgen Bestimmungen, die Polizei- und Wirtschaftsangelegenheiten betreffen: Wer nach den festgesetzten polizeilichen Sperrstunden (diese können bei Hochzeiten oder Kirchweihen durch die Beamten verlängert werden) im Wirtshaus angetroffen wird, ist mit 15 Kreuzern, der betreffende Hausvater oder Wirt mit 1 Gulden 30 Kreuzer zu bestrafen. Verboten sind alle privaten Tänze außerhalb der Wirtshäuser (außer mit besonderer Erlaubnis zur Kirchweih), ebenso alle „ungebührlichen tänze“. Hochzeiten dürfen nicht länger als zwei Tage dauern, sondern an dem Tag, „als man zur kirche gehet, ihren anfang nehmen, zu nacht über 10 uhr“ ohne richterliche Erlaubnis „nicht getriben werden“. Das Brautvolk soll nur durch die nächsten Verwandten und die Brautführer nach Haus geführt und diesen dabei nur Trunk und Brot gereicht, aber weder Tanz noch Mahlzeit angeschlossen werden. Überhaupt sollen nur bis zu zehn Personen zu Hochzeitsfeiern geladen und ihnen „nur eine abendsuppe gegeben“ werden. Bauernsöhne und -töchter oder Knechte und Mägde aus ein bis zwei Stunden weit entfernten Nachbarorten dürfen an den Feiern nicht teilnehmen, außer wenn sie als Gäste oder Verwandte geladen sind, bei 1 Reichstaler oder Stock- und Geigenstrafe. Bei einer Kindbettfeier (Feier nach der Taufe) dürfen nicht mehr als drei Eimer Bier und keine Kindbettmahlzeiten ausgegeben werden; grundsätzlich sollen nur die Patin („gevaterinn“) und die „ahnfrau“ (Großmutter des Kindes) bei 1 Reichstaler Strafe beigezogen werden – „alles nach inhalt der oberpfälzischen polizeyordnung fol. 335, 339 und 340“. Auch „leichtbier und leichenmall“ darf bei 5 Gulden Strafe nur jenen Trauergästen gereicht werden, die Verwandte und bei den Begängnissen notwendig sind und hierfür von entfernten Orten anreisen müssen. Verboten sind das Abhalten der Nachkirchweih an einem Werktag und das (Böller-)Schießen (außer im Notfall und bei den Fronleichnamsprozessionen). Es folgt eine Reihe von Ver- und Geboten zum Zweck des Brandschutzes sowie von Verhaltensregeln für die Feuerbekämpfung, eingeleitet mit dem tadelnden Hinweis, dass „die unterthanen vielle feurfehler nicht für strafbahr ansahen“, obwohl man doch „nicht behuetsam genug mit dem feur umgehen kan“: Für verboten erklärt werden Backöfen ohne „schüberle“ aus Stein, das Einkleiden („verschlichtung“) der Kamine
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mit Stroh, Heu, Holz oder sonstigen brennbaren Materialien, „offenthürl“ ohne „einfahl“, offenes Licht bei Hantieren mit Flachs, das Trocknen von Flachs, Wolle und anderen brennbaren Sachen auf dem Ofen, die Verwendung von Kienspänen als Lichtquelle („schleissenlicht“) auf der Gasse oder an anderen gefährlichen Orten wie in Wäldern, die unerlaubte Wegnahme von Teilen der für Notfälle bereitgelegten Löschrequisiten („feurristung“, z.B. Feuerleiter, Feuerhacke), ebenso das Vorhalten schadhafter oder sogar unbrauchbarer Löschgeräte, das Tabakrauchen in Stadeln und Schupfen und an anderen gefährlichen Orten (in Wäldern nur mit offener Pfeife), das Abbrennen von Sonnenwend- oder Johannisfeuern und das „feurbrenen“ auf mit Holz überwachsenen Feldern und Wiesen. Strafbar macht sich überdies, in wessen Küche bei der Feuerbeschau („visidation“) Flachs und andere nicht dorthin gehörige brennbare Sachen vorgefunden werden. Neu zu errichtende Häuser sind mit gemauerten und gewölbten Küchen und Schloten auszustatten; brandgefährdete Küchen aus Holz in bereits bestehenden Häusern müssen mit Leim, Kalk und Sand verkleistert werden. Baufällige Kamine sind spätestens acht Tage nach Meldung durch den Kaminkehrer beim Amt zu reparieren. Bei großer Hitze und zu sonstigen gefährlichen Zeiten ist vor den Häusern oder auf den Dachböden Löschwasser in Zubern oder Fässern vorzuhalten. Jeder neu aufgenommene Bürger ist verpflichtet, sich einen ledernen Wassereimer zu beschaffen. Die Brunnen sind in gutem Zustand zu erhalten und mindestens einmal jährlich zu reinigen. Der Wasserlauf im Markt Neuhaus soll sowohl im Sommer als auch im Winter am Laufen gehalten werden. Wägen oder Pflüge dürfen nicht auf offener Gasse oder Straße stehen gelassen werden. Gemeindegebäude, zu denen auch die Hirtenhäuser gehören, sind in einem guten Zustand zu bewahren, bei den Malzhäusern ist „fleisige obsorge auf das feur“ zu halten. Der Nachtwächter hat auf Feuer, „nächtliches ausschweifen“, Tumulte und Diebereien zu achten und diese anzuzeigen sowie die Stunden auszurufen. Seiner Verantwortung im Hinblick auf das Entdecken von Bränden, Unruhen oder Straftaten entsprechend droht ihm bei Nichterfüllung seiner Pflichten eine Körperstrafe. Jeder Untertan, der bestohlen oder ausgeraubt wird, hat dies sogleich beim Amt zur Anzeige zu bringen. Herrenlosem Gesindel männlichen oder weiblichen Geschlechts, das noch imstande wäre zu dienen, darf ohne obrigkeitliche Erlaubnis kein Aufenthalt gewährt werden; welcher Hausvater ihm dennoch Unterkunft gibt, hat pro Person 30 Kreuzer Strafe zu zahlen, die Person erwartet eine Leibesstrafe. Kranke Tiere dürfen nur nach vorheriger Meldung beim Amt geschlachtet und vergraben werden. Hirten müssen ihre toten Tiere or-
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dentlich oder auf einer Hutweide vergraben, widrigenfalls haben sie dies „mit 15 bis 20 leibsconstitutionsmessigen karbatsstreichen“ zu büßen. Hat ein Untertan krankes oder „so schathaftes viech“, dass er nicht auf den „fleischhacker, dem sonst allein das schlachten gebührt“, warten kann, wird ihm erlaubt, das Tier selbst zu schlachten, doch muss er dies ebenfalls beim Amt anzeigen und mit dem Zerlegen warten, „bis solches gehörig beschauet worden“. Ansteckende („contagiose“) Krankheiten bei Mensch oder Vieh sind bei Leibesstrafe „sogleich und ungesäumt“ beim Amt anzuzeigen. Bader, die „einen mit einer innerlichen kranckheit überfallenen unterthan in die kur“ nehmen, werden mit einer Geldstrafe in Höhe von 5 Reichstalern belegt, wovon ein Drittel dem eigentlich zuständigen Stadtund Landphysikus in Tirschenreuth auszuhändigen ist. Bei äußerlichen Schäden oder Arm- und Beinbrüchen ist es jedoch jedem Untertan erlaubt, „sich eines baaders zu gebrauchen“. Das „herumklatschen“ in Dörfern und Märkten ist zu allen Zeiten strafbar. Eltern sollen ihre Kinder nicht auf der Gasse herumziehen lassen, sondern sie während der Gottesdienste und Abends nach dem Gebetläuten im Haus behalten. Außerdem sollen sie die Kinder in die Schule zum Kantor oder approbierten Schulmeister (nicht jedoch in eine Winkelschule) schicken und hierfür Schulgeld zahlen. Lehrjungen dürfen nur aufgenommen werden, wenn sie „genugsamen unterricht in christenthum, lesen, schreiben und rechnen“ erfahren haben. Jeder Schulmeister soll „der ihm zugestelten schuell- und zuchtordnung fleissig nachkomen“ und bei Bedarf „dichtige, dann ehrbare praeceptores“ (Gehilfen) beschäftigen. Alle Glücksspiele sind gemäß Generalmandat verboten, ebenso das Tragen „nicht gebührender kleydung“ oder von ausländischem Tuch durch „gemeine bürger und bauern“ gemäß Polizeyordnung und den „destwegen ergangenen gnädigsten verordnungen“. Ein Gewehr zu tragen ist nur den stiftischen oder obrigkeitlichen Amtleuten erlaubt. Taglöhner haben sich mit dem ihnen zugemessenen Lohn zu begnügen, ihre Arbeit fleißig zu verrichten und dürfen bei Androhung einer Leibesstrafe „keine ungebühr ausüben oder gar untreu werden“. Dienstherren dürfen Knechte und Mägde nicht in einer Kammer zusammenlegen, auch wenn darin verschiedene Bettstätten stehen. In Märkten und Dörfern sollen (gemäß der zum 42. Beschwerdepunkt bereits erfolgten Erläuterung) Bettelvögte bestellt werden, arme und almosenwürdige Leute einquartiert, verpflegt und mit Aufstellung der Almosenbüchse für sie gesammelt werden, damit „denselben zum nothwendigen unterhalt und kleidung die erforderliche hilfe geleistet werden und das verbothene betln vor den thürn und häusern oder andern orten desto sicherer abgestelt werden kann“.
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Eine Reihe von Rechtssätzen betrifft das Treiben und Weiden von Vieh und die Vermeidung von Schäden an Kulturen durch dasselbe oder von Beeinträchtigungen der Fischzucht. Unberechtigte Ausübung der Hutweide ist nicht gestattet, auf gesperrte Gangsteige oder auf Weiherdämme darf kein Vieh getrieben werden. Die Hirten dürfen das Vieh nicht außerhalb der sonst üblichen Zeiten oder „früher, als das gewöhnliche zeichen gegeben wird“, auch nicht „vor abgang des thaues“ auf die Weide treiben. Mietern („hörbergern“) ist die (Rind-)Viehhaltung bei einem Gulden Strafe nicht erlaubt. Schafe dürfen die Untertanen nur so viele halten, als einer aus eigenem, „von seinen gründen erzigleten fuetter überwintern kan“. Wollen sie ihr Vieh selbst zu Hause hüten, dürfen sie dem Hirten den schuldigen Lohn dennoch nicht verweigern. Hinsichtlich der Ziegen wird ebenso wie in Bezug auf das Jungvieh auf die bereits erfolgte Entscheidung zum 28. Beschwerdepunkt („gravamen generale“) verwiesen. Schaden durch Gänse ist bei Klage und Pfändung durch den Geschädigten strafbar. Jede Gemeinde hat für das Hüten der Gänse einen besonderen Hirten anzustellen, der bei Androhung einer Leibesstrafe dafür zu sorgen hat, dass die Gänse auf der „separirten gänswayde“ bleiben und nicht außerhalb auf anderen Weideflächen angetroffen werden. Feldwege sind in gutem baulichen Zustand, Wege und Gangsteige vor jedem Haus „passierlich“ zu erhalten. Strafbar macht sich, wer die Einfriedung („schrenck“) von Feldern entfernt, Zäune zerreißt oder lebendige Zäune verdirbt. Ohne Erlaubnis des Eigentümers darf niemand während der Laichzeit der Fische in fremden Weihern grasen. In die Bäche darf kein Reisig oder Schmutz („unflat“) geworfen werden. Zur Unterstützung des einheimischen gelernten Handwerks ist es den Untertanen verboten, für jemanden anderen „eine ihm nicht zueständige arbeith zu machen und dadurch den berechtigten handwerkern einzupfuschen“, ebenso etwas außer Landes herstellen zu lassen. Zwischenhandel („kauderey“), insbesondere mit Getreide oder Brot, ist ohne Vorliegen einer Konzession oder eines Patents ebenfalls verboten. Der Getreidekauf auf den stiftischen Getreidekästen (mit Berechnung der Messgebühren) ist für den Hausbedarf erlaubt. Der Verkauf von Fleisch ist nur Berechtigten gestattet. Fleischhacker dürfen nicht außerhalb des Distrikts, wo sie „eingezünftet“ sind, schlachten, dies gilt auch für Arbeiten aller anderen Handwerker – und zwar bei Strafe des doppelten Lohns sowie Ersatz des „den eingezinfteten meistern dadurch zugegangenen schadens“. Fleischhacker dürfen Fleisch nur in der Fleischbank öffentlich zum Kauf anbieten und nicht etwa „in die häuser bestellungsweis tragen“. Um „das publicum keinen mangl am fleisch leiden zu lassen“, hat der Metzger, den
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die Ordnung zu schlachten trifft, frisches, auch hinlänglich altes und junges Fleisch anzubieten. Ebenso soll der Bäcker stets Weiß- und Roggenbrot vorhalten, damit sowohl Reisende als auch andere ihren Bedarf decken können. Die Brauer haben ein gutes und preiswertes sowie „der gesundheit unschädliches bier“ auszugeben; sollte es bei der Beschau durch die Biersetzer diese Qualitäten nicht erfüllen, ist im ersten Fall der Preis herunterzusetzen, im zweiten Fall den Fässern der Boden einzuschlagen und das Bier auszulassen. Wird noch nicht ausgegorenes und nicht mindestens drei Tage im Fass gelegenes Bier angeboten, ist das Kloster berechtigt, den Bierkeller zu sperren. Alle Handwerker, insbesondere Fleischhacker, Wirt, Bäcker, Krämer und Weber werden ernsthaft ermahnt, die Öffentlichkeit („publicum“) mit „gerechten“ Waren zu versorgen und niemanden mit gefälschten Maßen oder Waren zu hintergehen. Ausdrücklich werden sie erneut angewiesen, die „bayrische elle, gewicht und maas bey allen gelegenheiten und zwar bey confiscationsstrafe in gemesheit des generalmandats de dato 20. november 1761 zu gebrauchen“. Schafe sind vor dem Scheren sauber zu waschen und danach soll ihnen „gut eingeströhet werden“, damit die Wolle sauber bleibt und schließlich trocken zur Beschau und zum Verkauf auf die Wochenmärkte gebracht werden kann. Stiftische und auch andere inländische Tuch- und Zeugmacher dürfen „auf obrigkeitliche certificata“ die Wolle auch vom Haus ab einkaufen. Hinsichtlich des Leins jedoch sollen „bey häusern“ weder die Müller, Seiler noch andere stiftische Untertanen gegenüber anderen Inländern (zu denen Pfalz-Neuburger und Pfalz-Sulzbacher Untertanen ausdrücklich nicht gezählt werden) ein Vorzugsrecht haben, wenn diese persönlich oder durch Diener kaufen wollen und sich mit obrigkeitlichen Zertifikaten legitimieren. Der Bedarf der stiftischen Untertanen an Leinsamen soll dem Materialbedarf der Seiler und dieser wiederum dem der Müller vorausgehen. Die an den verschiedenen Orten hergebrachten Wochenmärkte sollen „fleissig von den auf dem markt zu erscheinen bestimten unterthanen beschlagen werden“. Diese müssen ihre Gebrauchs- und Lebensmittelwaren („venalien und victualien“), worunter auch Holz und alle Getreidesorten verstanden werden, bei drohender Strafe der Beschlagnahme („sub poena confiscationis“) zuerst auf den etablierten Wochen- und Schrannenmärkten anbieten und dürfen sie erst „im nichtverkaufungsfalle“, worüber sie eine obrigkeitliche Bescheinigung („marktspollete“) zur Vorlage an der Mautstation ausgestellt bekommen, anderweitig, auch außer Landes, veräußern. Alle Untertanen sind aufgerufen, jährlich in ihren Gärten oder in Ermangelung derselben auf Wiesen und Äckern – jedoch nicht zum Nachteil
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von Getreide, Heu und Grummetfutter – fünf, wenn es sich um einen ganzen Hof, bzw. drei, wenn es sich um einen halben Hof oder ein Söldengut handelt, gute wilde oder gesäte Stöcke zu setzen und zu veredeln („abzupelzen“), bis es gelingt, auf dem Hof 16 und auf dem halben Hof oder Söldengut acht fruchtbare Bäume heranzuziehen. Wo jedoch die Baumzucht vergebens ist und nicht zum Ziel führt, sollen gemäß Verordnung vom 6. April 1750 pro halber oder Viertelhof vier Stöck Hopfen gepflanzt werden, „ausser es wäre der grund oder die lage des orts auch dazu im geringsten tauglich“, und zwar „solang damit fortzufahren, bis der hof 32 stöcke in flor erreicht haben wird“. Schließlich sind die Untertanen gehalten, Erbsen, Linsen, Hirse („hirsch“) und andere Küchensachen anzubauen. Im nächsten Abschnitt folgt ein Katalog von Tatbeständen im Zusammenhang mit dem Handwerk des Müllers mit Angaben der jeweils zu erwartenden Strafen („normativ des strafsbetrags bey den mühlfällen“). Im Einzelnen aufgeführt werden Sanktionen für technische Mängel am Mahlwerk und an den Wasserrädern sowie für dadurch bedingte Beeinträchtigungen des Mahlgangs, Vorschriften für die korrekte Ausführung, Reinigung und Instandhaltung der einzelnen Bestandteile, das Gebot absoluter Sauberkeit und der Gebrauch rechter Maße.43 Holzeinschlag und Nebennutzungen im Wald unterstehen zum Erhalt des Waldbestandes und der Holzversorgung der strengen Aufsicht des Försters. Jeder, der mehr als die ihm angewiesenen Bäume abschlägt oder mehr als das ihm zugeteilte Holz aus dem Wald wegführt, macht sich strafbar und hat Schadensersatz zu leisten. Auch wer ein angewiesenes „bäuml“ auf einem eingeschlagenen Waldstück („auf dem hau“) stehen lässt, macht sich strafbar. Das Überfahren eines „bäumls“ hat, wenn es absichtlich geschieht, Schadensersatzpflicht und eine Körperstrafe zur Folge. Auch darf in den stiftischen Wäldern ohne Wissen des Försters kein wilder Birnen- oder Apfelbaum ausgehoben noch das daran wachsende Obst abgeschlagen werden. Bei der Holzanweisung durch den Förster hat jeder Untertan persönlich zu erscheinen oder im Verhinderungsfall sich vertreten zu lassen. Aber auch in eigenen („aigenthümlichen“) Wäldern darf ohne Anweisung des Försters kein Holz geschlagen, ebenso keine Streu „Wan ein mühl nicht sauber gehalten wird, also daß der mahlgast sein feins mehl nicht sauber zusamenkehren kann oder von spinnen oder andern unreinen wesen gefährlich ist, thuet die straf 1 gulden“ (Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 412). 43
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gerecht werden – beides bei Stockstrafe. Bei der Rechstreu „rauchgärtten“ oder „holzschneiter“44 mit sich zu führen, Birken- oder anderes Reisig zum Besenbinden ohne Erlaubnis des Försters zu schlagen oder auf unmittelbar stiftischem Boden eigenmächtig Steine auszuschlagen oder auszubrechen, ist verboten. Beim Streurechen vom angewiesenen Platz abzuweichen hat eine Buße von 15 Kreuzern und Schadensersatz zur Folge. Ebenfalls 15 Kreuzer hat zu zahlen, wer den Weg über Waldstücke mit Holzeinschlag („heuschläge“) nimmt, dort mit Ochsengespann angetroffen wird oder beim ersten Schnee absichtlich („geflüssentlich“) von den Holz- und gewöhnlichen Wegen abweicht und die „wildspur“ verdirbt. Gänsehüten im Wald kostet zwei Pfennige pro Stück, Ziegenhüten in eigenen Wäldern (auch wenn es nur eine einzige „geis“ wäre) 15 Kreuzer, in stiftischen oder anderen Wäldern zusätzlich Schadensersatz. Das Verbot, Jagdhunde zu halten, wurde bereits mit Entscheidung zum Beschwerdepunkt 93 ausgesprochen. Davon sind weder die Fleischhacker noch Schäfer oder Hirten ausgenommen, widrigenfalls ist mit der Beschlagnahme oder Erschießung des Jagdhunds zu rechnen. Das Brennholz darf pro Klafter nicht über sechs Schuh hoch noch drei Schuh breit gemacht werden. Baumgipfelholz („giblholz“) darf nur so lang abgeschlagen werden, wie es sich nicht spalten („klieben“) lässt. Beim Holzvermessen haben die Untertanen wie bei der Anweisung persönlich anwesend zu sein oder sich vertreten zu lassen. Weder Hirte noch sonst jemand soll sich – „bey ersezung des schadens und exemplarischer leibsstrafe“ – anmaßen – außer es wurde ihm von Seiten des Stifts befohlen –, einen Dachs, Fuchs oder Marder zu „hezen“ oder auf andere Art zu fangen, Schleifen oder Fallen für das Auer- und Haselhuhn auszulegen, Vogelnester, insbesondere von Wildgänsen und Enten, auszunehmen oder mit einer Flinte im Wald zu erscheinen. Jeder Untertan ist „natierlicher pflichten halber“ dazu verpflichtet, vom Stift und seinen Mitmenschen Schaden abzuwenden. Deshalb soll auch jeder auf Brandstifter im Wald („holzbrenner“) achten und, wenn er von solchen erfahren oder sie auf frischer Tat selbst erwischen sollte, diese sogleich beim Amt anzeigen. Das Regulativ schließt mit einer „instruction für die dorfsführer und gmainer“, die zwar als durch die Dorfschaften gewählte Amtsträger fungierten, jedoch auch gegenüber der Obrigkeit in der Verantwortung stanKleine Beile zum Abschneiden oder Zerhauen von Reiser bzw. Messer zum Kleinhauen von Reisig (Johann Andreas Schmeller, Bayerisches Wörterbuch, bearb. von Georg Karl Frommann, Band 1, München 1872, Sp. 942, Band 2, München 1877, Sp. 584). 44
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den. Sie werden angewiesen, „ihrem amt, wie es sich gebührt, getreulich vor[zu]stehen“ und im Bedarfsfall die Gemeindemitglieder „auf behörige weis“, nach Maßgabe der oberpfälzischen Landes- und Polizeyordnung, zusammenzurufen, um ihnen die stiftischen Ge- und Verbote, „wann solche einlauffen“, bekannt zu machen. Sie sind des Weiteren verpflichtet, alle gegen den Landesherrn oder das Gemeinwohl gerichtete Verbrechen und Verschwörungen, das Verbergen inländischer Deserteure und Nachlässigkeiten im Brandschutz anzuzeigen, jährlich die „dorfsrainung und grundstücke“ zu besichtigen und darüber zu wachen, dass die Untertanen Wiesen, Äcker und Wälder der Gemeinde ordentlich bewirtschaften. Eventuell festgestellte fehlende oder versetzte Grenzsteine sind zu melden. Ausdrücklich betont wird schließlich, dass die Dorfsführer allem, was in den bereits ergangenen Generalverbescheidungen zu den Gravamina der Untertanen sowie in den „ehehaftspunckten“ des vorliegenden Regulativs enthalten ist, Folge zu leisten haben. Zusammen mit dem Regulativ für die stiftischen Untertanen wurde am 19. August 1786 ein Regulativ für das Kloster Waldsassen selbst und dessen Beamte, Jäger, Gerichtsknechte und „andere dienerschaft“, also für die Grund- und Gerichtsherrschaft des Stiftlandes, publiziert.45 Es stellt das Pendant zum Regelwerk für die Untertanen dar. Beide Streitparteien des langwierigen Prozesses sollten hinsichtlich der rechtlichen Direktiven in die Pflicht genommen werden. Das Kloster sowie seine Beamten- und Dienerschaft hatten laut Publikationspatent dem von höchster Stelle erlassenen Regulativ „genaueste folge zu leisten“. Zugleich wurde es ihnen bei Androhung einer Geldstrafe von 100 Dukaten für die Armenkasse untersagt, in dem separat an die Adresse der Untertanen gerichteten Regulativ bzw. den darin enthaltenen „ehehaftspuncten“ etwas zu ändern oder zu ergänzen. Die für Waldsassen und seine Amtleute bestimmte Ordnung gliedert sich in Kirchen- und Religionssachen, Pflichten gegenüber dem Landesherrn und seinen Verordnungen, Pflichten des Stifts als Lehen-, Vogt- und Grundherr sowie von dessen Beamten, Förstern und Ausfertigung für das Kloster Waldsassen (äußere Merkmale wie beim Regulativ für die Untertanen, das Siegel fehlt auch hier): Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 411. – Beglaubigte Abschrift vom 9. Januar 1787 (mit Unterschriften von Abt Wigand, Prior P. Theobald Schwarz und P. Basilius Bauer): Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 233. – Abschrift von 1792 (unbeglaubigt, mit Sachregister): Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Regierung – Amt Waldsassen 2336a. – Zwei weitere Abschriften siehe: Staatsarchiv Amberg, Landgericht ä.O. Waldsassen 608. 45
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Amtsknechten gegenüber den lehen-, vogt- und grundbaren Untertanen, Pflichten des Stifts „qua privat“ gegenüber den Untertanen, Polizeistrafen (auffälligerweise mit einer Reihe von Tatbeständen, die ausdrücklich „künftighin mit keiner straf mehr belegt werden“), Gerichtssporteln sowie Forst- und Waldordnung (mit Bezugnahme auf die oberpfälzische Forstordnung von 1659). Nummer 3 der Pflichten gegenüber dem Landesherrn enthält die Weisung an die stiftischen Beamten, dass sämtliche kurfürstlichen Verordnungen „bey jedmahligen empfang auf der kanzel oder bei der kirche“ zu publizieren sind, ebenso ist der Paragraph über heimliche Geburten im Codex Iuris Bavarici Criminalis von 1751 dort vierteljährlich öffentlich zu verlesen. Desgleichen sind sämtliche Generalien, die nicht im „regulativ respective ehehaftspunckten“ ohnehin schon enthalten sind, alljährlich bei den „ehehaftspunckten auszugsweis zu recapitulieren, bey jeder ehehaft ein ordentlich publicationsprotocoll zu verfassen, in selbem alle zu recapitulieren gnädigst angeschafte mandaten specifice anzuzeigen und das protocoll von den dorfsführern aigenhändig unterschreiben zu lassen“. Im Rahmen der lehen-, vogt- und grundherrschaftlichen Pflichten des Stifts wird bestimmt, dass „das walburgirecht […] alle jahr bey schwerester ahntung unnachlässig gehalten und bey selbem alle gnädigste mandata auszugsweis wie obstehendermassen ad punctum 3tium schon gnädigst anbefohlen worden, widerholt und nebst dennen gegenwerttig getrofenen regulativ respective ehehaftspuncten publicirt werden“ soll.46 Statt der bisherigen Ehaftordnungen sollte den Untertanen beim Walburgisrecht künftig also das Regulativ von 1786 vorgelesen werden. Tatsächlich lässt sich durch Protokolle nachweisen, dass etwa in Waldsassen, Mitterteich, Wiesau und Waldershof noch bis 1805, also über das Jahr der Säkularisierung des Klosters Waldsassen hinaus, weiterhin vorschriftsgemäß alljährlich das „Walburgi- oder ehehaftrecht“ abgehalten wurde. Dass der Bürgerschaft bzw. der Untertanenschaft vom Land dabei die Ehaftspunkte „richtig vorgelesen worden“, bestätigten Bürgermeister und Viertelmeister des jeweiligen Markts bzw. „gemeinmeister oder dorfsführer“ der Gemeinden mit ihrer eigenhändigen Unterschrift.47
Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 411. 47 Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldassen – Richteramt Waldershof 3. – Landgericht ä.O. Waldsassen 608. 46
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Nach der Säkularisation wurde die ehemals waldsassische Territorialverwaltung in die 1802 neu strukturierte Behördenorganisation des Kurfürstentums Bayern integriert. Das in die zwei Pflegen Waldsassen und Tirschenreuth mit den Richterämtern als deren regionale Untergliederungen eingeteilte Stiftland bestand zunächst als provisorisches kurfürstliches Oberhauptmannamt weiter, bis 1804 auf seiner Grundlage die beiden bayerischen Landgerichte (älterer Ordnung) Waldsassen und Tirschenreuth gebildet wurden.48 Die Landrichter führten die Tradition der Ehaftrechte zunächst bis 1805 noch fort, ließen sie dann jedoch als nicht mehr zeitgemäß auslaufen. Endgültig ihre Berechtigung verloren die Ehaftrechte mit dem bayerischen Gemeindeedikt von 1818, das den neu geschaffenen, mit Selbstverwaltungsrechten ausgestatteten Ruralgemeinden (seit 1834: Landgemeinden) neben Kompetenzen hinsichtlich des Gemeinde- und Stiftungsvermögens, der Bürgeraufnahmen und Gewerbekonzessionen sowie der Kirchenverwaltung und des Volksschulwesens auch die Zuständigkeit für die Ortspolizei übertrug.49 Was den weiteren Verlauf des großen Untertanenprozesses anbelangt, so bleibt noch zu berichten, dass sich die den beiden Streitparteien entstandenen Kosten im Jahr 1791 bereits auf je 100.000 Gulden beliefen, ohne dass ein Ende absehbar gewesen wäre.50 Mit kurfürstlichem Reskript vom 23. Juni 179651 wurde die Spezialdeputation, ohne ihre Arbeit abgeschlossen zu haben, aufgehoben. Ihr Auftrag war es gewesen, die Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Kloster Waldsassen und mehreren Gemeinden im Stiftland „zu herstellung der allgemeinen öffentlichen ruhen“ und zwecks „ersparnis der auserordentlichen streitskösten“ zu entscheiden. Nun musste man eingestehen, dass sie diesem Auftrag „nicht ganz entsprochen“ Sturm (wie Anm. 10) S. 350 f. Gesetzblatt 1818, Sp. 49–96. – Laura Scherr, Die bayerische Gemeindeverfassung in ihrer historischen Entwicklung (1799–2011). In: Gerhard Hetzer u.a., 100 Jahre Bayerischer Gemeindetag – 1000 Jahre gemeindliche Selbstverwaltung (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 55), München 2012, S. 143–179, bes. 150, 162. – Emma Mages, Gemeindeverfassung (19./20. Jahrhundert), publiziert am 11.05.2006. In: Historisches Lexikon Bayerns, http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Gemeindeverfassung (19./20. Jahrhundert) (aufgerufen am 10.5.2022). – Zum definitiven Ende der Ehaftgerichte in der Oberpfalz (Regenkreis und Obermainkreis) siehe: Staatsarchiv Amberg, Regierung des 3. Regenkreises, Kammer des Innern 1342. – Staatsarchiv Bamberg, Regierung von Oberfranken, Kammer des Innern (K3 AII) 592. 50 Binhack (wie Anm.33) S. 28. 51 Staatsarchiv Amberg, Fürstentum Obere Pfalz, Kloster Waldsassen Amtsbücher und Akten 236. 48 49
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habe, „indem eine große menge der waldsassischen beschwerden ohnendschieden geblieben“ seien und „inzwischen auch die umstände, die dortmals die niedersezung benannter deputation veranlasst, sich gänzlich geändert“ hätten. Einem Gutachten des Revisoriums folgend beschloss Kurfürst Karl Theodor, „erwehnte deputation hiemit wider aufzuheben und beyden theillen, dem kloster Waldsassen und den klagenden gemeinden, das beneficium trium instantiarum wie vorhin zu gestatten“. Die Streitparteien wurden also auf den ordentlichen Rechtsweg mit den drei Instanzen Regierung, Hofrat und Revisorium zurückverwiesen. Der Regierung in Amberg wurde aufgetragen, alle älteren und noch ungeklärten sowie künftig neu entstehende Streitsachen nach den Bestimmungen des Gesetzes und den Grundsätzen der „strengsten gerechtigkeit“ zu entscheiden, wobei den Parteien das Rechtsmittel der Berufung offen stehen sollte („salva appellatione“). Die Regierung wurde außerdem angewiesen, die bereits vorliegenden Entscheidungen der Deputation, von denen ihr Abschriften zugehen sollten, zu berücksichtigen und zudem für deren Vollzug sorgen. Als die Säkularisation ihre Schatten vorauswarf, dürfte das Interesse von Regierung und Hofrat an einer abschließenden Streitbeilegung geschwunden sein. Mit der Aufhebung des Klosters 1803 und der Integration des Stiftlands in die Verwaltungsorganisation des kurbayerischen Staates ergab sich Gelegenheit, das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen auf eine neue Basis zu stellen.
Das Hamburgische Schiffsrecht. Eine frühe Aufzeichnung nordeuropäischen Seerechts Von Udo Schäfer 1 . Z u m Se e re c h t a l s H a n d e l s re c h t Für die Zeit von der Mitte des 13. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts haben der Rechtshistoriker und Historiker Albrecht Cordes und der Historiker Philipp Höhn in einem im Jahre 2018 erschienenen Beitrag1 die Möglichkeiten des „Extra-Legal and Legal Conflict Management among Long-Distance Traders“ umrissen. „The forums for conflict management were numerous and the wealth of variation of legal and extra-legal rules was chaotically broad“.2 Allerdings hätten die Fernhandelskaufleute über das Wissen verfügt, um die Rechtsvielfalt sowie den Pluralismus außergerichtlicher und gerichtlicher Formen der Konfliktbeilegung zu nutzen. Die Regeln, nach denen Konflikte zwischen Fernhandelskaufleuten entschieden wurden, beruhten auf Rechtsgewohnheiten, die seit dem 11. Jahrhundert verschriftlicht wurden. Insbesondere fanden die Handelsrechtsgewohnheiten Eingang in die von autonomen Gemeinden veranlassten Aufzeichnungen des kommunalen Rechts.3 Im deutschen „regnum“ wurden solche Aufzeichnungen seit der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts nicht mehr in mittellateinischer, sondern in mittelniederdeutscher oder mittelhochdeutscher Sprache vorgenommen.4 Neben dem Landhandel bedurfte auch der Seehandel handelsrechtlicher Normen zur Regelung von Konflikten. So sind in das in den Jahren 1156 bis 1160 in mittellateinischer Sprache Albrecht Cordes – Philipp Höhn. In: The Oxford Handbook of European Legal History, hrsg. von Heikki Pihilajamäki, Markus D. Dubber und Mark Godfrey, Oxford 2018, S. 509–527. 2 Cordes – Höhn (wie Anm. 1) S. 526. 3 Karl-Otto Scherner. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Band (Bd.) 2, Berlin 22012, sub voce Handelsrecht, Sp. 714–724. 4 Christa Bertelsmeier-Kirst, Kommunikation und Herrschaft. Zum volkssprachlichen Verschriftlichungsprozeß des Rechts im 13. Jahrhundert (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Beiheft 9), Stuttgart 2008, S. 19 f. – Albrecht Cordes, The Language of the Law: The Lübeck Law Codes, ca. 1224–1624. In: Stefania Gialdroni u.a. (Hrsg.), Migrating Words, migrating Merchants, migrating Law. Trading Routes and the Development of Commercial Law, Leiden-Boston 2020, S. 137–162. 1
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verfasste5 „constitutum legis“ der Seehandelsstadt Pisa auch Regelungen des Seehandelsrechts aufgenommen worden.6 Für Nordeuropa sind einzelne seehandelsrechtliche Normen ebenfalls seit dem 12. Jahrhundert überliefert.7 Das Seerecht als Handelsrecht regelte die Rechtsverhältnisse zwischen den am Seehandel beteiligten Gruppen – den Reedern als Verfrachtern, den Schiffern, den Schiffsleuten und den Fernhandelskaufleuten als Befrachtern. In einem im Jahre 2020 veröffentlichten Aufsatz8 hat sich Albrecht Cordes den noch in mittellateinischer Sprache verfassten, aber schon mit altitalienischen Phrasen durchsetzten „statuta navium“9 der Stadt Venedig aus dem Jahre 1255, den in altkatalanischer Sprache verfassten und innerhalb des Stadtrechts von Tortosa überlieferten „consuetudines et usus maris“10 aus dem Jahre 1272 und dem in altnorwegischer Sprache verfassten und innerhalb des Stadtrechts von Bergen überlieferten „farmannalǫg“11 aus dem Jahre 1276 sowie den aquitanischen Rôles d’Oléron und dem hamburgischen „schiprecht“ gewidmet. Auch die Rôles d’Oléron und das Schiffsrecht der Stadt Hamburg sind in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts in der jeweiligen Volkssprache aufgezeichnet worden. Der Aufsatz bietet eine vergleichende Analyse der Normen zur großen Haverei,12 zum Arbeitsrecht der Schiffsleute13 und zu kollektiven Entscheidungen14 an Bord eines Schiffes. Bei einer großen Haverei entstand eine Risikogemeinschaft, innerhalb derer die Schäden ausgeglichen wurden, die vorsätzlich verurGernot Schmitt-Gaedke, Die Constituta legis et usus von Pisa 1160. Gesetzbuch im Kosmos hochmittelalterlicher Rechtsgelehrtheit, Berlin 2009, S. 115–134. 6 Schmitt-Gaedke (wie Anm. 5) S. 255–263. 7 Karl-Friedrich Krieger, Die Anfänge des Seerechts im Nord- und Ostseeraum von der Spätantike bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts. In: Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittel- und Nordeuropa, Teil 4, Der Handel der Karolinger- und Wikingerzeit, Bericht über die Kolloquien der Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas in den Jahren 1980 bis 1983, hrsg. von Klaus Düwel u.a. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. PhilologischHistorische Klasse. Dritte Folge 156), Göttingen 1987, S. 246–265. 8 Albrecht Cordes, Die Regelung von Interessenkonflikten im Seerecht des späten 13. Jahrhunderts. Ein Vergleich. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 137 (2020) S. 52–90. 9 Cordes (wie Anm. 8) S. 53, 61 f. 10 Cordes (wie Anm. 8) S. 53, 62 f. 11 Cordes (wie Anm. 8) S. 54, 65 f. 12 Cordes (wie Anm. 8) S. 67–72. 13 Cordes (wie Anm. 8) S. 72–79. 14 Cordes (wie Anm. 8) S. 79–84. 5
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sacht worden waren, um Menschen, Fracht und Schiff aus einer Gefahr zu retten. So wurde im Falle des Seewurfs Fracht über Bord geworfen, um die Gefahr abzuwenden.15 Die Normen haben sich in der Analyse vielfach als Ergebnis von Aushandlungsprozessen in den Volkssprachen zwischen den am Seehandel beteiligten Gruppen erwiesen. In diesen Prozessen hatten sich die Normadressaten selbst auf die Regelungen verständigt.16 In der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts befand sich das Seerecht in einer Phase des Übergangs von einer mündlichen zu einer schriftlichen Rechtskultur.17 Dem Wechsel von der Oralität zur Literalität entsprach der „linguistic turn“ in der Aufzeichnung des Rechts von der mittellateinischen Sprache zur jeweiligen Volkssprache.18 2 . Z u m Se e re c h t i n No rd e u r o p a In einer im Jahre 2012 erschienenen, aus einer Dissertation aus dem Jahre 2004 hervorgegangenen Monographie zum mittelalterlichen Seerecht in Nordeuropa ist die Historikerin Edda Frankot zu folgendem Ergebnis gelangt: „A detailed analysis of legal practice has proven that a common maritime law never came into being in medieval northern Europe. Instead, local variations continued to exist throughout the period, revealing themselves in varying collections of manuscripts, diverging regulations in the law books, a different use of the written laws and dissimilar judgements
Cordes (wie Anm. 8) S. 67 f. – Vgl. zum Begriff der großen Haverei auch Götz Landwehr, Die Haverei in den mittelalterlichen deutschen Seerechtsquellen (Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e.V., Hamburg, Bd. 3, 2) Hamburg 1985, und Estelle Rothweiler – Stefan Geyer. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 22012, sub voce Haverei, Sp. 839–841. 16 Cordes (wie Anm. 8) S. 57. 17 Cordes (wie Anm. 8) S. 89 f. 18 Cordes (wie Anm. 4) S. 143–148. 15
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in the town courts.“19 In Kenntnis der Dissertation20 beschrieb jedoch der Historiker Carsten Jahnke in seinem im Jahre 2008 veröffentlichten Vortrag auf der 121. Jahresversammlung des Hansischen Geschichtsvereins in Rostock im Jahre 2005 ein allgemeines mittelalterliches Seerecht im nördlichen Europa, dem die als Rôles d’Oléron bekannte Aufzeichnung seerechtlicher Normen zu Grunde gelegen habe und das durch das seit der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts einem Prozess der Verschriftlichung unterliegende Seerecht der Hanse lediglich modifiziert worden sei.21 Eine präzise Darstellung dieses Prozesses ist der im Jahre 2003 erschienenen Studie „Das Seerecht der Hanse (1365–1614). Vom Schiffsordnungsrecht zum Seehandelsrecht“22 des Rechtshistorikers Götz Landwehr zu verdanken. „Seit dem Jahre 1365 wurden immer wieder seerechtliche Normen auf Hansetagen beschlossen und in den Hanserezessen schriftlich niedergelegt.“23 Unabhängig von der jeweiligen Antwort auf die Frage, Edda Frankot, „Of Laws of Ships and Shipmen“. Medieval Maritime Law and its Practice in Urban Northern Europe (Scottish Historical Review. Monograph Series 20), Edinburgh 2012, S. 199. – Vgl. auch Dies., Medieval Maritime Law from Oléron to Wisby: Jurisdictions in the Law of the Sea. In: Juan-Pan Montojo – Frederik Pedersen (Hrsg.), Communities in European history: representations, jurisdictions, conflicts, Pisa 2007, S. 151–172, und Dies., „Der Ehrbaren Hanse-Städte See-Recht“: Diversity and Unity in Hanseatic Maritime Law. In: Justyna Wubs-Mrozewicz – Stuart Jenks (Hrsg.), The Hanse in Medieval and Early Modern Europe (The Northern World 60), Leiden-Boston 2013, S. 109–128. 20 Carsten Jahnke, Hansisches und anderes Seerecht. In: Albrecht Cordes (Hrsg.), Hansisches und hansestädtisches Recht (Hansische Studien 17), Trier 2008, S. 41–67, hier S. 44 f. 21 Jahnke (wie Anm. 20) S. 41–67. 22 Götz Landwehr, Das Seerecht der Hanse (1365–1614). Vom Schiffsordnungsrecht zum Seehandelsrecht (Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e.V., Hamburg, Bd. 21, 1), Hamburg 2003. – Vgl. auch Ders., Die Hanseatischen Seerechte des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Kjell Å. Modéer (Hrsg.), 1667 års sjölag it ett 300-årigt perspektiv (Rättshistoriska studier 8), Stockholm 1984, S. 75–127, hier S. 77–82; Ders., Das Seerecht im Ostseeraum vom Mittelalter bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. In: Jörn Eckert – Kjell Å. Modéer (Hrsg.), Geschichte und Perspektiven des Rechts im Ostseeraum. Erster Rechtshistorikertag im Ostseeraum, 8.–12. März 2000 (Rechtshistorische Reihe 251), Frankfurt am Main u.a. 2002, S. 275–303, hier S. 275–291, und Ders. In: Seerecht im Hanseraum des 15. Jahrhunderts. Edition und Kommentar zum Flandrischen Copiar Nr. 9, hrsg. von Carsten Jahnke und Antjekathrin Grassmann (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck B 36), Lübeck 2003, S. 97 f. 23 Udo Schäfer, Hanserezesse als Quelle hansischen Rechts. In: Albrecht Cordes (Hrsg.), Hansisches und hansestädtisches Recht (Hansische Studien 17), Trier 2008, S. 1–14, hier S. 10. 19
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ob es in Nordeuropa ein allgemeines mittelalterliches Seerecht gegeben habe,24 sind sich die Autorin und die beiden Autoren darin einig, dass das im Hamburger Roten Stadtbuch aufgezeichnete Schiffsrecht eine besondere Rolle bei der Entwicklung seerechtlicher Normen im hansischen Raum gespielt habe.25 Nach Ansicht von Götz Landwehr sei die Entwicklung des mittelalterlichen Seerechts in den deutschen Seehandelsstädten sogar von Hamburg und Lübeck ausgegangen und dann seit dem 15. Jahrhundert durch die Hanse geprägt worden.26 Jedenfalls sehen sowohl die rechtshistorische als auch die historische Forschung in der Aufzeichnung des Schiffsrechts im Hamburger Roten Stadtbuch einen sehr bedeutsamen Textzeugen. 3 . D a s S c h i f f s re c h t i m H a m b u r g e r Ro t e n St a d t b u c h Das Rote Stadtbuch bietet eine in den Jahren 1301 bis 1306 entstandene27 Redaktion28 der lediglich in Abschriften des 14. und 15. Jahrhunderts überlieferten29 Aufzeichnung30 des hamburgischen Rechts in mittelniederdeutscher Sprache aus dem Jahre 127031 – des „Ordeelbook“. An das Revidierte Stadtrecht schließt sich die erste überlieferte Aufzeichnung des Vgl. zum aktuellen Stand der Forschung auch Carsten Groth, Hanse und Recht. Eine Forschungsgeschichte (Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen Neue Folge 74), Berlin 2016, S. 251–256. 25 Frankot, Medieval Maritime Law from Oléron to Wisby (wie Anm. 19) S. 153 f. – Dies., Medieval Maritime Law and its Practice (wie Anm. 19) S. 16–20, 126–134. – Dies., Diversity and Unity (wie Anm. 19) S. 110–113. – Jahnke (wie Anm. 20) S. 45 f., 58 f. – Landwehr, Das Seerecht der Hanse (wie Anm. 22) S. 12. – Ders., Das Seerecht im Ostseeraum (wie Anm. 22) S. 278. – Ders. In: Seerecht im Hanseraum (wie Anm. 22) S. 96. 26 Götz Landwehr. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, Berlin 1990, sub voce Seerecht (Seehandelsrecht), Sp. 1602–1605. 27 Heinrich Reincke. In: Bilderhandschrift des Hamburgischen Stadtrechts von 1497, hrsg. von Jürgen Bolland und erläutert von Heinrich Reincke (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg 10), Hamburg 1968, S. 139 f. 28 Die ältesten Stadt-, Schiff- und Landrechte Hamburgs, hrsg. von Johann Martin Lappenberg (Hamburgische Rechtsalterthümer 1), Hamburg 1845, S. 87–162. 29 Frank Eichler. In: Das Hamburger Ordeelbook von 1270 samt Schiffrecht nach der Handschrift von Fredericus Varendorp von 1493 (Kopenhagener Codex). Textausgabe und Übersetzung ins Hochdeutsche mit rechtsgeschichtlichem Kommentar, hrsg. von Dems., Hamburg 2005, S. 16 f., 19–22. 30 Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29). 31 Nadine Wallmeier, Sprachliche Muster in der mittelniederdeutschen Rechtssprache. Zum Sachsenspiegel und zu Stadtrechtsaufzeichnungen des 13. bis 16. Jahrhunderts (Niederdeutsche Studien 55), Köln u.a. 2013, S. 132–139. 24
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Hamburgischen Schiffsrechts als separates Element an. Auch das Schiffsrecht ist in mittelniederdeutscher Sprache verfasst. Zu dieser Aufzeichnung liegen drei moderne Editionen vor.32 Regelungen des Schiffsrechts waren bereits Gegenstand intensiver historischer und rechtshistorischer Forschung.33 Der Text des Schiffsrechts gliedert sich in 28 Artikel. Es lassen sich vier Regelungskomplexe unterscheiden.34 1. Für die Niederlassungen und die Gilden der hamburgischen Schiffer und Fernhandelskaufleute in Utrecht in den Niederlanden und in Oostkerke bei Brügge in Flandern treffen die Artikel 1a bis 5 organisatorische und finanzielle Regelungen.35 2. Die Artikel 6a bis 12 und 17a bis 19 umfassen Normen seearbeitsrechtlicher Natur, die das Verhältnis zwischen Schiffer und Schiffsleuten bestimmen.36
Die ältesten Stadt-, Schiff- und Landrechte Hamburgs (wie Anm. 28) S. 75–86. – Bei Theodor Kiesselbach, Grundlage und Bestandteile des ältesten hamburgischen Schiffrechts. Ein Beitrag zur Geschichte des norddeutschen Seehandels und Seerechts. In: Hansische Geschichtsblätter 10 (1900) S. 47–93, hier S. 86–93. – Quellen zur Hansegeschichte, hrsg. von Rolf Sprandel (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 36 – Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe), Darmstadt 1982, B V 2, S. 397–403. – Vgl. mit moderner deutscher Übersetzung Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) S. 339–375. 33 Klaus Wolter, Die Schiffrechte der Hansestädte Lübeck und Hamburg und die Entwicklung des Hansischen Seerechts – unter besonderer Berücksichtigung der rechtlichen Bestimmungen über Reisenotlagen und Schiffskollisionen, Phil. Diss. Hamburg 1975, S. 20–32. – Jutta von der Decken, Das Seearbeitsrecht im Hamburger Stadtrecht von 1301 bis 1603 (Rechtshistorische Reihe 131), Frankfurt am Main u.a. 1995, S. 45–81. – Carolin O’Sullivan, Die Ahndung von Rechtsbrüchen der Seeleute im mittelalterlichen hamburgischen und hansischen Seerecht 1301–1482 (Rechtshistorische Reihe 305), Frankfurt am Main u.a. 2005, S. 57–174. 34 Frank Eichler. In: Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) S. 340. – Vgl. Ulrich Weidinger, Schiffs- und Seerecht im Bremer Stadtrecht. In: Konrad Elmshäuser – Adolf E. Hofmeister (Hrsg.), 700 Jahre Bremer Recht 1303–2003 (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen 66), Bremen 2003, S. 112–134, hier S. 129 f. – Vgl. auch Kiesselbach (wie Anm. 32) S. 49–86. 35 Hamburgisches Schiffsrecht 1301–1306, c. 1a–5. In: Quellen zur Hansegeschichte (wie Anm. 32) B V 2, S. 398 f. – Vgl. Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) N I–N V, S. 340–344. 36 Hamburgisches Schiffsrecht 1301–1306, c. 6a–12, 17a–19. In: Quellen zur Hansegeschichte (wie Anm. 32) B V 2, S. 398–400, 402. – Vgl. Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) N VI–N XII, S. 344–353. 32
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3. Außerdem werden in den Artikeln 13a bis 16c, 22a bis 25 und 28 die Rechtsverhältnisse – insbesondere die Risikoverteilung bei Schiffbruch37 und Seewurf38 – zwischen Verfrachter, Schiffer und Befrachter geregelt.39 4. Darüber hinaus enthält der Text allgemeine Vorschriften für die Seeschifffahrt.40 So verpflichtet Artikel 21 den Verursacher einer Schiffskollision zur Hälfte zum Ersatz des Schadens an dem anderen Schiff.41 Neben den Gilden der hamburgischen Schiffer und Fernhandelskaufleute in Flandern in Oostkerke am Zwin sowie in den Niederlanden in Utrecht an der Vecht, die eine Binnen- und Küstenschifffahrt von der Elbe42 über die Nordsee und die Zuiderzee sowie den Lek und die Rhein-Maas-ScheldeGewässer bis zum Zwin ermöglichte,43 berücksichtigt der Text den Seehandel mit Flandern, England und Irland sowie mit Norwegen, Schonen und Gotland. Außerdem belegt der Text den Handel mit Wein aus dem Poitou, der in La Rochelle in Aquitanien als Fracht an Bord genommen wurde.44 Hamburgisches Schiffsrecht 1301–1306, c. 14. In: Quellen zur Hansegeschichte (wie Anm. 32) B V 2, S. 400. – Vgl. Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) N XIV, S. 354. – Vgl. allgemein Frankot, Medieval Maritime Law and its Practice (wie Anm. 19) S. 28–31. 38 Hamburgisches Schiffsrecht 1301–1306, c. 22a–23b. In: Quellen zur Hansegeschichte (wie Anm. 32) B V 2, S. 403. – Vgl. Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) N XXII–N XXIII, S. 365–371. – Vgl. allgemein Frankot, Medieval Maritime Law and its Practice (wie Anm. 19) S. 31–46. 39 Hamburgisches Schiffsrecht 1301–1306, c. 13a–16, 22a–25, 28. In: Quellen zur Hansegeschichte (wie Anm. 32) B V 2, S. 400–403. – Vgl. Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) N XIII–N XVI, S. 353–359, N XXII–N XXV, S. 365–373, N XXVIII, S. 374 f. 40 Hamburgisches Schiffsrecht 1301–1306, c. 20, 21, 26a–27. In: Quellen zur Hansegeschichte (wie Anm. 32) B V 2, S. 402 f. – Vgl. Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) N XX, N XXI, S. 363–365, N XXVI, N XVII, S. 373 f. 41 Hamburgisches Schiffsrecht 1301–1306, c. 21. In: Quellen zur Hansegeschichte (wie Anm. 32) B V 2, S. 402. – Vgl. Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) N XXI, S. 364 f. – Vgl. allgemein Frankot, Medieval Maritime Law and its Practice (wie Anm. 19) S. 46–51. 42 Vgl. Hamburgisches Schiffsrecht 1301–1306, c. 19. In: Quellen zur Hansegeschichte (wie Anm. 32) B V 2, S. 402. – Vgl. auch Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) N XIX, S. 362. 43 J. Eduard Struick, Utrechts Beziehungen zum flachen Land im Mittelalter. In: Hansische Geschichtsblätter 99 (1981) S. 1–9. – Weidinger (wie Anm. 34) S. 121 f. 44 Hamburgisches Schiffsrecht 1301–1306, c. 9b, 16oo. In: Quellen zur Hansegeschichte (wie Anm. 32) B V 2, S. 399, 401. – Vgl. Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) N IX, S. 348 f., N XVI, S. 355–359. 37
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Der Text beginnt mit der folgenden „Promulgatio“: „De meine raet und dhe bŏrgheren van der stat van Hamborch hebbet dit schiprecht ghewilkoret unde utghegeven.“45 Sie lässt erkennen, dass es sich beim Schiffsrecht um eine von der Aufzeichnung des Revidierten Stadtrechts unabhängige Aufzeichnung innerhalb des Roten Stadtbuchs handelt.46 Dabei wird die von der „Promulgatio“ zum Ausdruck gebrachte Normgebung durch Rat und Gemeinde47 als Rechtsdarstellung im Sinne einer Aufzeichnung von Rechtsgewohnheiten und nicht als eine Rechtssetzung im Sinne einer Schaffung neuer Normen oder einer Änderung oder Bestätigung bereits gesetzter Normen zu verstehen sein.48 Vielmehr hat der Rat die im Schiffsrecht wiedergegebenen Seerechtsgewohnheiten in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts verschriftlichen lassen. Einzelne Artikel sind schon in den Jahren 1294 bis 129749 nach Riga50 und im Jahre 129951
Quellen zur Hansegeschichte (wie Anm. 32) B V 2, S. 397. Heinrich Reincke, Die ältesten Formen des hamburgischen Schiffrechts. In: Hansische Geschichtsblätter 63 (1938) S. 166–170, hier S. 166 f. – Frank Eichler. In: Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) S. 24. – Frankot, Medieval Maritime Law from Oléron to Wisby (wie Anm. 19) S. 154. – Dies., Medieval Maritime Law and its Practice (wie Anm. 19) S. 18 f. 47 Vgl. aber Kiesselbach (wie Anm. 32) S. 81, und Weidinger (wie Anm. 34) S. 120. 48 Vgl. zur Differenzierung zwischen Rechtsdarstellung und Rechtssetzung Reiner Schulze, Geschichte der neueren vorkonstitutionellen Gesetzgebung. Zu Forschungsstand und Methodenfragen eines rechtshistorischen Arbeitsgebietes. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 98 (1981) S. 157–235, hier S. 166 f., und Schäfer (wie Anm. 23) S. 13. 49 Heinrich Reincke, Die ältesten hamburgischen Stadtrechte und ihre Quellen. In: Zeitschrift des Vereins für hamburgische Geschichte 25 (1924) S. 1–40, hier S. 29 f. – Ders. (wie Anm. 46) S. 169. – Norbert Angermann, Das Hamburgische Recht in Nordosteuropa. In: Robert Schweitzer – Waltraud Bastmann-Bühner (Hrsg.), Die Stadt im europäischen Nordosten. Kulturbeziehungen von der Ausbreitung des Lübischen Rechts bis zur Aufklärung. Beiträge anläßlich des 2. Internationalen Symposiums zur deutschen Kultur im europäischen Nordosten der Stiftung zur Förderung deutscher Kultur (Aue-Stiftung) Helsinki vom 10. bis 13. September 1998 in Tallin, Estland (Aue-Säätiön julkaisuja 12), Helsinki-Lübeck 2001, S. 65–73. – Frankot, Medieval Maritime Law from Oléron to Wisby (wie Anm. 19) S. 154. – Dies., Medieval Maritime Law and its Practice (wie Anm. 19) S. 19 f. – Dies., Diversity and Unity (wie Anm. 19) S. 111. 50 Die Quellen des Rigischen Stadtrechts bis zum Jahre 1673, hrsg. von Jakob Gottlieb Leonhard Napiersky, Riga 1876, S. 123–127. 51 Reincke (wie Anm. 46) S. 169. – Jochen Goetze, Der Anteil Lübecks an der Entwicklung des Seerechts. I. Das Mittelalter bis 1530. In: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 63 (1983) S. 129–143, hier S. 130–132. – Frankot, Medieval Maritime Law from Oléron to Wisby (wie Anm. 19) S. 153. – Dies., Medieval 45 46
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nach Lübeck52 mitgeteilt worden.53 Außerdem nimmt bereits das Hamburgische Stadtrecht von 1270 auf See verursachte Schäden aus dem Geltungsbereich einer schadensersatzrechtlichen Norm aus, indem es auf ein Schiffsrecht verweist: „Men schiprecht heft ander recht van schaden.“54 Die Annahme liegt nahe, dass dieser Satz nicht auf mündlich überlieferte, sondern auf verschriftlichte Seerechtsgewohnheiten Bezug nimmt. Dann hätte dem Rat der Stadt Hamburg bereits vor oder zu dem Jahre 1270 eine Aufzeichnung seerechtlicher Normen vorgelegen.55 Im Jahre 1259 erteilte der Rat der Stadt Hamburg dem Vogt und dem Rat der Stadt Lübeck in einem in mittellateinischer Sprache verfassten Weistum56 Auskunft über vier Seerechtsgewohnheiten, die in seiner Rechtsprechung Anwendung fanden.57 Diese Rechtsgewohnheiten bezogen sich 1. auf den Interessenausgleich zwischen den Schiffsleuten und den Befrachtern, wenn die Ladung eines in Seenot geratenen Schiffes zu bergen war,58 2. auf den Interessenausgleich zwischen den Befrachtern und dem Schiffer bei Seewurf,59 Maritime Law and its Practice (wie Anm. 19) S. 126–134. – Dies., Diversity and Unity (wie Anm. 19) S. 111 f. 52 Lübeckisches Schiffsrecht zu 1299 März 8. In: Quellen zur Hansegeschichte (wie Anm. 32) B V 3, S. 404–410. 53 Frank Eichler. In: Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) S. 24. – O’Sullivan (wie Anm. 33) S. 44 f. 54 Hamburgisches Stadtrecht 1270 F XIII. In: Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) S. 185–187. 55 So Frank Eichler. In: Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) S. 25 f. – Vgl. aber Kiesselbach (wie Anm. 32) S. 81–86. 56 Vgl. zum Begriff des Weistums Dieter Werkmüller. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 5, Berlin 1998, sub voce Weistümer, Sp. 1239–1252. 57 Hansisches Urkundenbuch, Bd. 1, hrsg. von Konstantin Höhlbaum, Halle 1876, Nr. 538, S. 189 f. – Mit deutscher Übersetzung Quellen zur Hansegeschichte (wie Anm. 32) B V 1, S. 394–397. – Vgl. Weidinger (wie Anm. 32) S. 125; Ders., „… nur wenn es dem Schiffer gefällt“ – Die Behandlung des Interessenkonflikts zwischen Verfrachtern und Befrachtern in den ältesten Seerechten Nordwesteuropas. In: Tätigkeitsfelder und Erfahrungshorizonte des ländlichen Menschen in der frühmittelalterlichen Grundherrschaft bis ca. 1000. Festschrift für Dieter Hägermann zum 65. Geburtstag, hrsg. von Brigitte Kasten (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beiheft 184), Stuttgart 2006, S. 305–325; Frankot, Medieval Maritime Law and its Practice (wie Anm. 19) S. 126–128, und Cordes (wie Anm. 8) S. 77 f. 58 Vgl. Weidinger, Die Behandlung des Interessenkonflikts (wie Anm. 57) S. 309. 59 Vgl. Weidinger, Die Behandlung des Interessenkonflikts (wie Anm. 57) S. 310–312.
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3. auf den Schadensersatz bei einer Schiffskollision und 4. auf den Interessenausgleich zwischen den Befrachtern und dem Schiffer, wenn letzterer das Schiff in einen anderen als den als Ziel vereinbarten Hafen gesteuert hatte.60 Der Rat der Stadt Hamburg verfügte im Jahre 1259 noch nicht über eine Aufzeichnung seerechtlicher Normen, die er dem Vogt und dem Rat der Stadt Lübeck hätte übermitteln können. Eine solche Aufzeichnung könnte von dem vor 1274 verstorbenen gelehrten Ratsschreiber Jordan von Boizenburg61 erstellt worden sein, der das Hamburgische Stadtrecht von 1270 verfasst hat.62 Da der Artikel 2463 des Schiffsrechts zur Partenreederei64 in der Argumentation65 eine Parallele
Vgl. Weidinger, Die Behandlung des Interessenkonflikts (wie Anm. 57) S. 310. Erich von Lehe, Jordan von Boizenburg und Johann Schinkel, zwei hamburgische Ratsnotare des 13. Jahrhunderts. In: Festschrift zum 70. Geburtstag Professor Dr. Heinrich Reinckes am 21. April 1951 (= Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 41, 1951) S. 62–89. – Klaus Wriedt, Das gelehrte Personal in der Verwaltung und Diplomatie der Hansestädte. In: Hansische Geschichtsblätter 96 (1978) S. 15–37, hier S. 21. – Hans-Friedrich Rosenfeld, Jordan von Boizenburg. Ein bedeutender Vertreter der mittelniederdeutschen Rechtsprosa. In: Niederdeutsches Jahrbuch 105 (1982) S. 7–20. – Gerhard Theuerkauf. In: Hamburgische Biografie. Personenlexikon, Bd. 1, hrsg. von Franklin Kopitzsch und Dirk Brietzke, Hamburg 2001, sub voce Jordan von Boizenburg, S. 153 f. – Christa Bertelsmeier-Kirst. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 22012, sub voce Jordan von Boizenburg (um 1200–nach 1270), Sp. 1389–1391. – Tilman Repgen. In: Handbuch zur Geschichte des deutschen Notariats seit der Reichsnotariatsordnung von 1512, hrsg. von Mathias Schmoeckel und Werner Schubert (Rheinische Schriften zur Rechtsgeschichte 17), Baden-Baden 2012, S. 365–367. 62 Heinrich Reincke, Die Herkunft des hamburgischen Stadtrechts, zugleich ein Beitrag zur Geschichte des lübischen Rechts. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 29 (1928) S. 219–246. – Ders., Das hamburgische Ordeelbook von 1270 und sein Verfasser. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 72 (1955) S. 83–110. – Ders. In: Bilderhandschrift (wie Anm. 27) S. 137–139. 63 Hamburgisches Schiffsrecht 1301–1306, c. 24: „Sowor lude hebbet ein schip tosamene, ofte ein man den meren deil in dheme schepe, de minre scal dheme meren dele volghen, id ne si also, dat he mit den meren dele dat schip wolde licghen laten unde den anderen uthdroten; des ne mach nicht sin, wante men wiset ja dat schip to watere wart.“ [Quellen zur Hansegeschichte (wie Anm. 32) B V 2, S. 24]. – Vgl. Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) N XXIV, S. 371 f. 64 Vgl. zum Institut der Partenreederei Götz Landwehr. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, Stuttgart-Weimar 1999, sub voce Partenreederei, Sp. 1743, und Albrecht Cordes. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, 26. Lieferung, Berlin ²2017, sub voce Partenreederei, Sp. 405–408. 65 Vgl. Landwehr (wie Anm. 15) S. 106–108 und Cordes (wie Anm. 8) S. 82 f. 60 61
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zu der Stelle Dig. 7.1.12.166 aus den Digesten, dem zentralen Element der Kodifikation des oströmischen Kaisers Justinian, aufweist, gingen in den Prozess der Verschriftlichung auch Kenntnisse des römischen Rechts ein, über die in Hamburg in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts wohl nur Jordan von Boizenburg verfügte.67 Allerdings ist die Argumentation nicht aus der „Lex Rhodia de iactu“ entnommen worden,68 die bereits das römische Recht aus dem griechischen Recht rezipiert hatte69 und die im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit noch größeren Einfluss auf die Entwicklung des Seerechts ausüben sollte.70 Deren Regelungen sind in dem Titel Dig. 14.271 „De lege Rhodia de iactu“ überliefert worden. Die Artikel 1a bis 5 des Schiffsrechts belegen hamburgische Niederlassungen in Utrecht72 in den Niederlanden und in Oostkerke bei Brügge in Flandern. Da das Zwin mehr und mehr versandete, wurde die Niederlassung bei Brügge wohl bereits um 1300 von Oostkerke in Richtung des Meeres nach Hoeke verlegt. Spätestens seit dem 15. Jahrhundert befand Dig. 7.1.12.1: „Navis usu fructu legato navigandum mittendam puto, licet naufragii periculum immineat: navis etenim ad hoc paratur, ut naviget.“ [Corpus Iuris Civilis, Bd. 1, Institutiones, hrsg. von Paul Krüger. Digesta, hrsg. von Theodor Mommsen, Berlin 7 1895, ND New Jersey 2010, S. 97] – „Ist ein Nießbrauch an einem Schiff vermacht, so meine ich, daß es zur Schifffahrt verwendet werden darf, wenngleich dabei die Gefahr eines Schiffbruchs droht; denn ein Schiff wird für die Schifffahrt angeschafft.“ [Corpus Iuris Civilis. Text und Übersetzung, Bd. 2, Digesten 1–10, übersetzt und hrsg. von Okko Behrends u.a., Heidelberg 1995, S. 596]. 67 Reincke, Herkunft (wie Anm. 62) S. 222–229. – Ders. (wie Anm. 46) S. 167. – Ders., Ordeelbook (wie Anm. 62) S. 99 f., 106–110. 68 So aber Reincke (wie Anm. 46) S. 176, und Ders., Ordeelbook (wie Anm. 62) S. 99 f. 69 Emmanuelle Chevreau, La „Lex Rhodia de iactu“: Un Exemple de la Réception d’une Institution étrangère dans le Droit Romain. In: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 67 (2005) S. 67–80. – Max Kaser – Rolf Knütel – Sebastian Lohsse, Römisches Privatrecht, München 212017, § 42, Rdnr. 31, S. 278 f. 70 Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. 1, Älteres Gemeines Recht, 1500 bis 1800, München 1985, § 116, S. 554 f. – Frank Eichler. In: Die Langenbeck’sche Glosse zum Hamburger Stadtrecht von 1497. Die vollständige Glossenhandschrift von Bartholdus Eggheman von 1532 sowie Lappenbergs Auszüge aus späteren Handschriften, hrsg. und übersetzt von Dems., Hamburg 2008, S. 22. – Frankot, Medieval Maritime Law and its Practice (wie Anm. 19) S. 23. – Vgl. aber Cordes (wie Anm. 8) S. 67–69. 71 Corpus Iuris Civilis, Bd. 1 (wie Anm. 66) S. 187 f. – Corpus Iuris Civilis. Text �������������� und Übersetzung, Bd. 3, Digesten 11–29, übersetzt und hrsg. von Okko Behrends u.a., Heidelberg 1999, S. 206–213. 72 Vgl. auch Hamburgisches Schiffsrecht 1301–1306, c. 17a, 18, 19. In: Quellen zur Hansegeschichte (wie Anm. 32) B V 2, S. 402, und Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) N XVII–N XIX, S. 359–362. 66
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sich die Niederlassung in Sluis.73 Die Aufnahme organisatorischer und finanzieller Regelungen für die beiden Niederlassungen in den Niederlanden und in Flandern in die im Roten Stadtbuch überlieferte Aufzeichnung seerechtlicher Normen lässt sich in der Weise erklären, dass auch ein erheblicher Teil des 2. bis 4. Regelungskomplexes in Aushandlungsprozessen zwischen den Normadressaten im Rahmen der genossenschaftlichen Organisation der Niederlassungen in Utrecht und insbesondere in Oostkerke74 entstanden ist. Da Artikel 575 einen Rechtszug von den Niederlassungen nach Hamburg vorsieht, muss der Rat der Stadt Hamburg über ein oral tradiertes Wissen um die Ergebnisse der Aushandlungsprozesse in den Niederlassungen verfügt haben. Zwischen den am Seehandel nach Norwegen, Schonen und Gotland beteiligten Gruppen werden sich solche Aushandlungsprozesse nach der Reise in Hamburg selbst vollzogen haben. Als Seerechtsgewohnheiten legte der Rat die Normen, auf die sich die am Seehandel beteiligten Gruppen in den Niederlassungen oder in Hamburg geeinigt hatten, seiner Rechtsprechung in seerechtlichen Konflikten zu Grunde. Das in mittellateinischer Sprache verfasste Weistum aus dem Jahre 1259 ist Zeugnis dieser mündlichen Rechtskultur. Bereits in den Jahren 1252 und 1253 hatte der gelehrte Ratsschreiber Jordan von Boizenburg die Gelegenheit, die Verhältnisse in den Niederlassungen in Utrecht und Oostkerke vor Ort kennen zu lernen. Jeweils ein Vertreter der Städte Lübeck und Hamburg bemühte sich im Namen von Kaufleuten und Städten des Reiches um die Erteilung von Privilegien in der Grafschaft Flandern.76 Die Vertretung der Stadt Hamburg oblag Weidinger (wie Anm. 34) S. 116 f. Weidinger (wie Anm. 34) S. 119 f. – Ders., Die Behandlung des Interessenkonflikts (wie Anm. 57) S. 323. – Vgl. bereits Kiesselbach (wie Anm. 32) S. 81–86. 75 Hamburgisches Schiffsrecht 1301–1306, c. 5. In: Quellen zur Hansegeschichte (wie Anm. 32) B V 2, S. 398. – Vgl. Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) N V, S. 344. 76 Volker Henn, Über die Anfänge des Brügger Hansekontors. In: Hansische Geschichtsblätter 107 (1989) S. 43–66, hier S. 46–49. – Udo Schäfer, Die Politik der Stadt Soest auf regionaler, territorialer und hansischer Ebene. Studien zur Geschichte der Außenbeziehungen der Stadt Soest zwischen 1240 und 1440, dargestellt vorwiegend aufgrund der Bündnisse und Verträge der Stadt, Phil. Diss. Bochum 1993, Essen 1995, S. 25–29. – André Vandewalle, Les nations étrangèrs à Bruges. In: Ders. (Hrsg.), Les marchands de la Hanse et la banque des Médicis. Bruges, marché d’échanges culturels en Europe, Brügge 2002, S. 27–42, hier S. 27 f. – Regina Rössner. In: Seerecht im Hanseraum (wie Anm. 22) S. 145 f. – Weidinger (wie Anm. 34) S. 124 f. – Carsten Jahnke, „Homines imperii“ und „Osterlinge“. Selbst- und Fremdbezeichnungen hansischer Kaufleute im Ausland am Beispiel Englands, Flanderns und des Ostseeraumes im 12. und 13. Jahrhundert. In: 73 74
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Jordan von Boizenburg.77 Er wird die Reise von Hamburg nach Oostkerke und zurück über Utrecht zu Schiff unternommen haben. Während der Verhandlungen mit den Vertretern der Grafen von Flandern wird Jordan von Boizenburg nicht selten in der Niederlassung in Oostkerke an der in den Artikeln 3a, 4b und 578 des Schiffsrechts vorgesehenen „morghen sprake“ teilgenommen haben. Jedenfalls war er nach seiner Rückkehr nach Hamburg mit den genossenschaftlichen Strukturen der beiden Niederlassungen und insbesondere mit den sich in der Niederlassung in Oostkerke zur Lösung von Interessenkonflikten vollziehenden Aushandlungsprozessen zwischen den am Seehandel beteiligten Gruppen persönlich vertraut. Deshalb wird der Rat der Stadt Hamburg seinen gelehrten Ratsschreiber Jordan von Boizenburg nicht nur mit der Niederschrift des kommunalen Rechts, sondern auch mit der Aufzeichnung seerechtlicher Normen beauftragt haben. Die Aufzeichnung ist in den Jahren 1259 bis 1270 entstanden und in den Jahren 1301 bis 1306 als separates Element in das Rote Stadtbuch übernommen worden.79 Mit der Aufzeichnung durch Jordan von Boizenburg vollzog sich der Wechsel von der oralen zur literalen Tradition des seerechtlichen Wissens des Rates – verbunden mit dem „linguistic turn“ von der Mitteilung mündlich überlieferter Seerechtsgewohnheiten an Dritte in mittellateinischer Sprache zur Verschriftlichung seerechtlicher Normen in mittelniederdeutscher Sprache.
Hansische Geschichtsblätter 129 (2011) S. 1–57, hier S. 24–29. – James M. Murray, That Well-Grounded Error: Bruges as „Hansestadt“. In: Justyna Wubs-Mrozewicz – Stuart Jenks (Hrsg.), The Hanse in Medieval and Early Modern Europe (The Northern World 60), Leiden-Boston 2013, S. 181–190, hier S. 182 f. – Rolf Hammel-Kiesow. ���������� In: A Companion to the Hanseatic League, hrsg. von Donald J. Harreld (Brill’s Companions to European History 8), Leiden-Boston 2015, S. 54 f. 77 Heinrich Reincke, Die Deutschlandfahrt der Flandrer während der hansischen Frühzeit. In: Hansische Geschichtsblätter 67/68 (1942/43) S. 51–164, hier S. 59–63. 78 Hamburgisches Schiffsrecht 1301–1306, c. 3a, 4b, 5. In: Quellen zur Hansegeschichte (wie Anm. 32) B V 2, S. 398. – Vgl. Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) N III–N V, S. 343 f. 79 Vgl. aber die These einer sukzessiven Verschriftlichung von Seerechtsgewohnheiten in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts bei Reincke (wie Anm. 46) S. 166–170; Frankot, Medieval Maritime Law and its Practice (wie Anm. 19) S. 18 f., und Dies., Diversity and Unity (wie Anm. 19) S. 111. – Vgl. auch die sich widersprechenden Auffassungen von Weidinger (wie Anm. 34) S. 115, einerseits und S. 119 f., mit S. 119, Anm. 32 auf S. 132, andererseits.
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4 . D a s H a m b u r g e r Ro t e St a d t b u c h Das Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg verwahrt das Rote Stadtbuch in dem Bestand 111-1 „Senat“.80 Eine digitale Abbildung ist über die Handschriftendatenbank der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel abrufbar.81 Es handelt sich bei dem Roten Stadtbuch um einen Codex im Folio-Format, dessen Holzdeckel mit rotem Leder überzogen ist. An dem Deckel sind zwei Schließen angebracht, von denen die untere ein Schloss besitzt. Der Beschreibstoff ist Pergament. Die Blätter sind mit einer modernen mit Bleistift und in arabischen Ziffern vorgenommenen, aber nicht kongruenten Foliierung und Paginierung versehen worden. Die Foliierung ist erst von Seite 41 bzw. Blatt 21 r an klar lesbar. Das letzte Blatt trägt auf der Vorderseite die Ziffer 174 als letzte Blattangabe und auf der Rückseite die Ziffer 344 als letzte Seitenangabe. Das Revidierte Stadtrecht wird auf den Seiten 16 bis 254 wiedergegeben. Auf Seite 18 findet sich vor dem Register des Revidierten Stadtrechts ganzseitig die einzige Miniatur des Codex. Die Niederschrift des Schiffsrechts erfolgte in zwei Lagen auf den Seiten 259 bis 282 bzw. auf den Blättern 132 r bis 143 v. Die rubrizierte Überschrift lautet „van schiprechte“. Die Artikel beginnen jeweils mit einer Initiale in Rot oder Blau. Die Schrift ist die gotische Minuskel. In den äußeren Merkmalen unterscheiden sich die Niederschriften des Schiffsrechts und der einzelnen Titel des Revidierten Stadtrechts nicht voneinander. Auf den Seiten 299 bis 339 bzw. den Blättern 152 v bis 172 r bietet der Codex in gotischer Minuskel oder in Bastarda geschriebene Eintragungen, bei denen es sich um geschäftliche Aufzeichnungen handelt.82 5 . Di e Rô l e s d’ Ol é r o n Das Hamburgische Schiffsrecht belegt den Seehandel hamburgischer Fernhandelskaufleute mit Wein aus dem Poitou. Der Wein wurde in La Rochelle in Aquitanien als Fracht an Bord hamburgischer Schiffe genommen. La Rochelle liegt am Atlantik am Pertuis d’Antioche, der im Norden von der Île de Ré und im Süden von der Île d’Oléron eingefasst wird. Mit der Reise von Oostkerke nach La Rochelle begaben sich die hamburgi-
Staatsarchiv Hamburg, Bestand 111-1 Senat, Nr. 92692. PURL: http://diglib.hab.de/?db=mss&list=ms&id=ed000059 – Abruf: 11.11.2016. 82 Vgl. Reincke. In: Bilderhandschrift (wie Anm. 27) S. 146 f. 80 81
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schen Schiffer, Schiffsleute und Befrachter in eine Konfliktlandschaft,83 in der sich die am Seehandel beteiligten lokalen Gruppen auf Normen verständigt hatten, die ebenso wie die hamburgischen Seerechtsgewohnheiten in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts verschriftlicht worden sind. Mit der altfranzösischen Sprache ist die Aufzeichnung in der Sprache verfasst worden, in der die Normen zwischen den beteiligten Gruppen ausgehandelt worden waren. Die Aufzeichnung ist als Rôles d’Oléron84 bekannt. Auf die Entwicklung des Seerechts in Nordeuropa85 und in Südwesteuropa hat sie großen Einfluss ausgeübt.86 Der wirtschaftliche Hintergrund der in den Rôles d’Oléron aufgezeichneten seerechtlichen Normen ist der Export von Wein aus dem Poitou und der Gascogne in die Bretagne und die Normandie sowie nach Flandern, England und Schottland.87 Die Anordnung der Normen in dieser Aufzeichnung entsprach im Prinzip der Reihenfolge, in der die geregelten Lebenssachverhalte während der Reise vom Herkunfts- über den Verlade- bis zum Entladehafen auftraten oder auftreten
Vgl. zum Konzept der Konfliktlandschaft Philipp Höhn, Pluralismus und Homogenität. Hanse, Konflikträume und Rechtspluralismus im vormodernen Europa 1400–1600. In: Roland Deigendesch – Christian Jörg (Hrsg.), Städtebünde und städtische Außenpolitik. Träger, Instrumentarien und Konflikte während des hohen und späten Mittelalters. 55. Arbeitstagung in Reutlingen, 18.–20. November 2016 (Stadt in der Geschichte. Veröffentlichungen des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung 44), Ostfildern 2019, S. 261–290, und Ders., Kaufleute im Konflikt. Rechtspluralismus, Kredit und Gewalt im spätmittelalterlichen Lübeck (Schwächediskurse und Ressourcenregime 11), Frankfurt am Main-New York 2021, S. 103–114, 351–362. 84 Mit deutscher Übersetzung bei Karl-Friedrich Krieger, Ursprung und Wurzeln der Rôles d’Oléron (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte Neue Folge 15), KölnWien 1970, S. 122–145. 85 Weidinger, Die Behandlung des Interessenkonflikts (wie Anm. 57) S. 313 f. – Frankot, Medieval Maritime Law from Oléron to Wisby (wie Anm. 19) S. 152 f. – Dies., Medieval Maritime Law and its Practice (wie Anm. 19) S. 11–16. – Dies., Diversity and Unity (wie Anm. 19) S. 109–128. – Jahnke (wie Anm. 20) S. 41–67. 86 Michel Mollat. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, Stuttgart-Weimar 1999, sub voce Oléron, Rôles d‘, Sp. 1393 f. – Gisela Naegle. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, 25. Lieferung, Berlin ²2017, sub voce Oléron, Seerecht von, Sp. 144– 148. 87 Rôles d’Oléron, c. 4, 8, 10, 11, 13, 15, 18, 23, bei Krieger (wie Anm. 84) S. 125 f., 129–137, 139 f., 143 f. – Krieger (wie Anm. 84) S. 22–24, 59–67. – James W. Shephard, The „Rôles d’Oléron“: A „lex mercatoria“ of the Sea? In: Vito Piergiovanni (Hrsg.), From „lex mercatoria“ to commercial law (Comparative Studies in Continental and Anglo-American Legal History – Vergleichende Untersuchungen zur kontinentaleuropäischen und anglo-amerikanischen Rechtsgeschichte 24), Berlin 2005, S. 207–253, hier S. 221–234. 83
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konnten.88 Ausdrücklich als Verladehäfen werden lediglich Bordeaux89 und La Rochelle90 genannt.91 Verladen wurde in Bordeaux92 der Wein aus der Gascogne, in La Rochelle93 der Wein aus dem Poitou. Kollidierte ein hamburgisches Schiff auf dem Atlantik vor der Küste Aquitaniens auf der Reise zum oder vom Verladehafen La Rochelle mit einem aquitanischen Schiff, so wird der Fall vor einem örtlichen Schiedsgericht94 oder einem örtlichen Gericht zum Beispiel auf der Île de Ré oder in La Rochelle unter Anwendung aquitanischer Seerechtsgewohnheiten verhandelt worden sein. Die Rôles d’Oléron bestimmen in Artikel 1595 ebenso wie das Hamburgische Schiffsrecht in Artikel 21, dass der Schaden an dem Schiff, das die Kollision nicht verursacht habe, von beiden Parteien jeweils zur Hälfte zu tragen sei. Kam es zur Kollision, nachdem auf beiden Schiffen bereits die Fracht verladen worden war, und lief auf Grund der Kollision Wein aus den als Fracht geladenen Fässern aus, so sehen die Rôles d’Oléron die folgende Regelung vor: „Et les vins, qi sount dedeinz les .ij. nefs, deyvent estre partiz pur le damage entre les marchaunz.“ – „Und die Weine, die in beiden Schiffen sind, sollen für den Schaden (an der Ladung) zwischen den Kaufleuten geteilt werden.“96 Eine solche Regelung war dem Hamburgischen Schiffsrecht unbekannt. Trat ein Schaden zum Beispiel durch Schiffbruch oder Seewurf zwar innerhalb der durch die aquitanischen Seerechtsgewohnheiten geprägten Konfliktlandschaft ein, betraf er aber nur die Risikogemeinschaft aus Verfrachtern, Schiffer, Schiffsleuten und Befrachtern eines hamburgischen Schiffes, so wird der Interessenausgleich innerhalb der Risikogemeinschaft nach der Rückreise nach Oostkerke in der „morghensprake“ auf Grund der hamburgischen Seerechtsgewohnheiten
Shephard (wie Anm. 87) S. 217. Rôles d’Oléron, c. 1, 4, 8, 11, 13, 21, bei Krieger (wie Anm. 84) S. 123–126, 129 f., 132–135, 142. 90 Rôles d’Oléron, c. 1, 13, bei Krieger (wie Anm. 84) S. 123 f., 135. 91 Krieger (wie Anm. 84) S. 24–26, 28. – Shephard (wie Anm. 87) S. 221–223. 92 Charles Higounet. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2, Stuttgart-Weimar 1999, sub voce Bordeaux, III. Stadt, Sp. 449–451. 93 Michel Mollat. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, Stuttgart-Weimar 1999, sub voce La Rochelle, Sp. 1718 f. 94 Vgl. Cordes – Höhn (wie Anm. 1) S. 520 f. 95 Rôles d’Oléron, c. 15, bei Krieger (wie Anm. 84) S. 136 f. 96 Rôles d’Oléron, c. 15, Z. 12–17, bei Krieger (wie Anm. 84) S. 137. 88 89
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vorgenommen worden sein.97 Für Rechtsvielfalt und Pluralismus außergerichtlicher und gerichtlicher Konfliktbeilegung im Rahmen des „longdistance trade“ mittelalterlicher Kaufleute bietet der Seehandel hamburgischer Fernhandelskaufleute mit Wein aus dem Poitou ein frühes Beispiel. Die hamburgischen und die aquitanischen Seerechtsgewohnheiten sind zur gleichen Zeit verschriftlicht worden. Für die Entstehung des Hamburgischen Schiffsrechts konnte die Zeit zwischen 1259 und 1270 ermittelt werden. Für die Rôles d’Oléron ist der Historiker Karl-Friedrich Krieger98 zu dem Ergebnis gelangt, dass sie in der Zeit zwischen 1224 und 1286 entstanden seien. Wahrscheinlich seien die aquitanischen Seerechtsgewohnheiten sogar in zeitlicher Nähe zum Jahr 1286 oder in diesem Jahr aufgezeichnet worden. Die strukturellen und materiellen Voraussetzungen für die in die Rôles d’Oléron aufgenommenen seerechtlichen Normen hätten nicht vor dem Jahre 1224 bestanden. Die Rôles d’Oléron sind in Manuskripten des 14. und 15. Jahrhunderts überliefert.99 Mehrere Manuskripte geben einen Beglaubigungsvermerk wieder, nach dem eine Ausfertigung im Jahre 1286 auf der Île d’Oléron mit einem Siegel beglaubigt worden sei.100 Offenbar sei die Urschrift der Aufzeichnung auf der Île d’Oléron hinterlegt worden.101 Diese These von Karl-Friedrich Krieger fügt sich in die Erkenntnisse des Juristen James W. Shephard ein: „During the course of the thirteenth century, it is clear that there existed on the island of Oléron a tradition of making, compiling and recording laws destined to govern the relationships of both inhabitants and even passing foreigners. It is therefore entirely plausible that Oléron was the place of origin and that it is not by coincidence that all the early manuscripts refer to Oléron as the source of the text.“102 Allerdings hat James W. Shephard103 die Niederschrift der seerechtlichen Aufzeichnungen vor dem Hintergrund der
Vgl. Hamburgisches Schiffsrecht 1301–1306, c. 4a, 4b. In: Quellen zur Hansegeschichte (wie Anm. 32) B V 2, S. 398, und Das Hamburger Ordeelbook von 1270 (wie Anm. 29) N IV, S. 343 f. 98 Krieger (wie Anm. 84) S. 37–40, 48–71, 115–121. 99 Krieger (wie Anm. 84) S. 7–17. – Shephard (wie Anm. 87) S. 209–212. 100 Krieger (wie Anm. 84), S. 38–40, mit S. 39, Anm. 152, S. 14 f. (Tabelle), S. 119–121. – Shephard (wie Anm. 87) S. 238 f., mit S. 238, Anm. 243–245. 101 Krieger (wie Anm. 84) S. 119–121. 102 Shephard (wie Anm. 87) S. 243. 103 Shephard (wie Anm. 87) S. 238–240. 97
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militärischen Auseinandersetzungen104 zwischen den Plantagenêts und den Capétiens – zwischen der englischen und der französischen Krone – in die Zeit zwischen 1204 und 1224 eingeordnet. Im Jahre 1154 hatte Heinrich II. Plantagenêt die Herrschaft über die Grafschaften Anjou, Maine und Touraine, das Herzogtum Normandie und das Königreich England durch die Heirat mit Eleonore, der Tochter des 1137 verstorbenen Herzogs Wilhelm X. von Aquitanien, mit der Herrschaft über das Herzogtum Aquitanien, das insbesondere das Poitou und die Gascogne umfasste,105 in Personalunion vereinigt. Nach Ansicht von James W. Shephard seien Rouen an der Seine in der Normandie bis 1204, Bordeaux und La Rochelle am Atlantik in Aquitanien zwischen 1204 und 1224 und Bordeaux seit 1224 die bedeutendsten Verladehäfen für den Export von Wein nach England gewesen. Die Eckdaten ergeben sich aus dem Wechsel von Rouen im Jahre 1204 und von La Rochelle im Jahre 1224 unter die Herrschaft der französischen Krone. Da mehrere Manuskripte neben Bordeaux auch La Rochelle als Verladehafen nennen, müsse die Aufzeichnung der seerechtlichen Normen bis zum Jahre 1224 erfolgt sein. Ebenso wie die hamburgischen sind die aquitanischen Seerechtsgewohnheiten aber im Rahmen genossenschaftlicher Strukturen entstanden.106 Die Konfliktlandschaft, in der sich die seerechtlichen Normen entwickelten und in der sie niedergeschrieben wurden, war eher durch die am Seehandel beteiligten, über Netzwerke verbundenen Gruppen als durch die wechselnden Herrschaftsträger geprägt. Für die Fernhandelskaufleute der Stadt La Rochelle blieb auch der Seehandel mit Wein aus dem Poitou nach Flandern über den Wechsel des Herrschaftsträgers hinaus möglich. So vereinbarten im Jahre 1331 die Fernhandelskaufleute der Städte Bordeaux und La Rochelle sowie weiterer aquitanischer Städte, sich gemeinsam gegen die Einschränkungen des Handels mit Wein aus dem Poitou und der Gascogne in Flandern zu wenden.107 Der Wechsel der Stadt La Rochelle unter die Herrschaft der französischen Krone schließt also eine Niederschrift nach dem Jahre 1224
Joachim Ehlers, Die Kapetinger, Stuttgart 2000, S. 97–190. – Dieter Berg, Die Anjou-Plantagenets. Die englischen Könige im Europa des Mittelalters, Stuttgart 2003, S. 29–154. 105 Charles Higounet. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, Stuttgart-Weimar 1999, sub voce Aquitanien, Sp. 829–832. 106 Krieger (wie Anm. 84) S. 115–119. – Shephard (wie Anm. 87) S. 243–249. 107 Krieger (wie Anm. 84) S. 118, mit Anm. 566. 104
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nicht aus. Wahrscheinlich ist die Urschrift der Rôles d’Oléron in zeitlicher Nähe zum Jahr 1286 oder in diesem Jahr hergestellt worden.108 6 . Z u r w e i t e re n E n t w i c k l u n g d e s h a m b u r g i s c h e n Se e re c h t s Am Ende des 15. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde das hamburgische Recht in zwei Schritten erheblich reformiert.109 Für die Revision des Jahres 1497 war Hermann Langenbeck110 (1452–1517) verantwortlich.111 Er hatte in Perugia den Grad eines „Doctor iuris utriusque“ erworben. Seit dem Jahre 1479 gehörte er dem Rat an. Im Jahre 1482 wurde er zum Bürgermeister gewählt. Hermann Langenbeck hat das Schiffsrecht als 15. Titel112 an das Revidierte Stadtrecht von 1497 angefügt, von 28 auf 50 Artikel erweitert und den bisherigen Bestand an Regelungen grundlegend überarbeitet.113 Edda Frankot hat diese Leistung mit dem folgenden Satz gewürdigt: „As a result, Hamburg has the most systematic and modern sea law of the late Middle Ages.“114 Darüber hinaus haben Hermann Langenbeck selbst und weitere, unbekannte Glossatoren auch das Schiffsrecht durch Glossierung einer die Methoden der gelehrten Rechte anwendenden So auch Frankot, Medieval Maritime Law from Oléron to Wisby (wie Anm. 19) S. 152 f.; Dies., Medieval Maritime Law and its Practice (wie Anm. 19) S. 11 f., und Dies., Diversity and Unity (wie Anm. 19) S. 109 f. 109 Vgl. zur Geschichte des hamburgischen Rechts Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt. In: Hamburg Lexikon, hrsg. von Franklin Kopitzsch und Daniel Tilgner, Hamburg 32005, sub voce Stadtrecht, S. 459 f., und Tilman Repgen. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 22012, sub voce Hamburg, Sp. 683–690. 110 Reincke. In: Bilderhandschrift (wie Anm. 27) S. 141 f. – Wriedt (wie Anm. 61) S. 30, 36 f. – Gerhard Theuerkauf. In: Hamburgische Biografie. Personenlexikon, Bd. 1, hrsg. von Franklin Kopitzsch und Dirk Brietzke, Hamburg 2001, sub voce Langenbeck, Hermann, S. 176–178. 111 Reincke. In: Bilderhandschrift (wie Anm. 27) S. 143 f. – Peter Gabrielsson. In: Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner, Bd. 1, Von den Anfängen bis zur Reichsgründung, hrsg. von Hans-Dieter Loose, Hamburg 1982, S. 139 f. – Frank Eichler. In: Die Langenbeck’sche Glosse (wie Anm. 70) S. 7–11. – Wallmeier (wie Anm. 31) S. 139–141. 112 Revidiertes Hamburgisches Stadtrecht 1497 P. In: Reincke, Bilderhandschrift (wie Anm. 27) S. 130–134. 113 Vgl. Reincke. In: Bilderhandschrift (wie Anm. 27) S. 144, und Frank Eichler. In: Die Langenbeck’sche Glosse (wie Anm. 70) S. 11 f. 114 Frankot, Diversity and Unity (wie Anm. 19) S. 111. – Vgl. Dies., Medieval Maritime Law from Oléron to Wisby (wie Anm. 19) S. 115, und Dies., Medieval Maritime Law and its Practice (wie Anm. 19) S. 23. 108
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rechtswissenschaftlichen Bearbeitung unterzogen.115 Mit der Revision des Jahres 1605 ist der Wechsel von der niederdeutschen zur hochdeutschen Sprache verbunden.116 Das hamburgische Seerecht wird in dieser Redaktion innerhalb des 2. Buches „Von Contracten und allerley handtierungen“ in sieben Titeln geregelt.117 In der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts sind diese sieben Titel noch von Hermann Langenbeck III. 118 (1668–1729) wissenschaftlich erläutert worden.119 Er hatte das Studium der Rechtswissenschaft in Altdorf ebenfalls mit dem Erwerb des Grades eines „Doctor iuris utriusque“ abgeschlossen und war seit dem Jahre 1721 Senator. In der Einleitung zu seinen Erläuterungen hat er sogar den Text des Schiffsrechts aus den Jahren 1301 bis 1306 noch einmal wiedergegeben. 7 . D a s Se e re c h t i m h a n s i s c h e n R a u m u n d d a s S c h i f f s re c h t i m H a m b u r g e r Ro t e n St a d t b u c h Das Hamburgische Schiffsrecht, das in dem in den Jahren 1301 bis 1306 entstandenen Hamburger Roten Stadtbuch überliefert worden ist, gibt Seerechtsgewohnheiten wieder, die in den Jahren 1259 bis 1270 im Auftrag des Rates der Stadt Hamburg durch den gelehrten Ratsschreiber Jordan von Boizenburg niedergeschrieben worden sind. Die hamburgischen Seerechtsgewohnheiten sind zu der gleichen Zeit verschriftlicht worden, zu der die aquitanischen Seerechtsgewohnheiten in den bekannten und bedeutenden Rôles d’Oléron aufgezeichnet worden sind und die Urschrift der Aufzeichnung auf der Île d’Oléron hinterlegt worden ist. Mit Normen über die Risikoverteilung zwischen Verfrachtern, Schiffern, Schiffsleuten und Befrachtern bei Schiffbruch und Seewurf sowie über die Verpflichtung des Verursachers einer Schiffskollision zum Schadensersatz widmet sich das Hamburgische Schiffsrecht bereits wesentlichen RegelungsgegenDie Langenbeck’sche Glosse (wie Anm. 70) S. 413–448. – Vgl. Frank Eichler. In: Ebd. S. 13. 116 Wallmeier (wie Anm. 31) S. 141 f. 117 Revidiertes Hamburgisches Stadtrecht 1605 2.13–19. In: Hamburger Stadtrecht von 1605 bis 1900. Der Stadt Hamburg Gerichtsordnung und Statuta und ihre Geltungsgeschichte, hrsg. von Frank Eichler, Hamburg 2012, S. 177–203, und in: Der Stadt Hamburg Gerichts-Ordnung und Statuta, hrsg. auf Veranlassung des Vereins für Hamburgische Geschichte, Hamburg 1842, S. 362–407. 118 Lexikon der hamburgischen Schriftsteller bis zur Gegenwart, Bd. 4, Hamburg 1858, Nr. 2155 Langenbeck (Hermann III.), S. 327–329. 119 Herman Langenbeck, Anmerckungen über das Hamburgische Schiff- und See-Recht, Hamburg 1727. 115
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ständen des Seerechts. In Hamburg ist der im Roten Stadtbuch überlieferte Bestand an seerechtlichen Normen in das Revidierte Stadtrecht von 1497 übernommen und in diesem Stadtrecht sowie in dem Revidierten Stadtrecht von 1605 erheblich weiterentwickelt worden. Während das Hamburgische Schiffsrecht um 1335 nach Bremen und von Bremen nach Oldenburg mitgeteilt worden ist,120 wurden einzelne Normen schon in den Jahren 1294 bis 1297 nach Riga und im Jahre 1299 nach Lübeck übermittelt. In Lübeck, Bremen und Oldenburg vollzog sich auch eine Rezeption der übermittelten Normen. Die Entstehung bereits im 3. Viertel des 13. Jahrhunderts und die Rezeption an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert und in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts erlauben die Aussage, dass das Hamburgische Schiffsrecht die Entwicklung des mittelalterlichen Seerechts im hansischen Raum erheblich beeinflusst hat.
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Weidinger (wie Anm. 34) S. 112–134.
Archivbau in Bayern im Spannungsfeld von Nachhaltigkeit, begrenzten Ressourcen und technischen Notwendigkeiten Von Laura Scherr Grundsätzlich soll ein Archivgebäude das darin verwahrte Kulturgut gegen Einflüsse von außen schützen und gleichzeitig durch möglichst optimale innere Bedingungen materialimmanente Abbauprozesse verlangsamen oder zumindest nicht beschleunigen.1 Eine geeignete räumliche Umgebung und damit geeignete Lagerungsbedingungen sind die kostengünstigsten Maßnahmen der Bestandserhaltung, vor allem da im Sinne der Schadensprävention teure Folgeeingriffe vermieden werden.2 Nachhaltigkeit im archivischen Kontext beginnt und endet beim Archivbau. Wie die Ansprüche umzusetzen sind, hängt von den technischen und finanziellen Möglichkeiten und dem Zeitgeist ab. Zeitgeist meint in diesem Zusammenhang die Vorstellungen von einer optimalen Verwahrungsumgebung, die Bedeutung, die Archivgut als Kulturgut von Politik und Gesellschaft beigemessen wird sowie die Aufwände, die Kostenträger bereit sind, dafür zu übernehmen. Vgl. DIN 67700, Bau von Bibliotheken und Archiven – Anforderungen und Empfehlungen für die Planung. – DIN ISO 11799, Information und Dokumentation – Anforderungen an die Aufbewahrung von Archiv- und Bibliotheksgut. – Mario Glauert, Anforderungen an ein Archivmagazin. Eine Checkliste. In: Mario Glauert – Sabine Ruhnau (Hrsg.), Verwahren, Sichern, Erhalten. Handreichungen zur Bestandserhaltung in Archiven (Veröffentlichungen der brandenburgischen Landesfachstelle für Archive und öffentliche Bibliotheken 1), Potsdam 2005, S. 29–54. – Christian Kruse, Was ist bei der Planung, dem Bau und dem Betrieb von Archivmagazinen zu beachten? – Hinweise aus der Praxis. In: Christian Kruse – Peter Müller (Hrsg.), Das Archivmagazin – Anforderungen, Abläufe, Gefahren. Vorträge des 78. Südwestdeutschen Archivtags am 21. und 22. Juni 2018 in Augsburg (Sonderveröffentlichungen des Landesarchivs Baden-Württemberg), Stuttgart 2019, S. 21–25. – Thorsten Allscher – Anna Haberditzl, Bestandserhaltung in Archiven und Bibliotheken (Normen-Handbuch), 7. überarbeitete und erweiterte Auflage, Berlin-Wien-Zürich 2021. 2 Mario Glauert – Sabine Ruhnau, Bestandserhaltung beginnt im Kopf, nicht im Geldbeutel. Zur Einführung. In: Mario Glauert – Sabine Ruhnau, Verwahren, Sichern, Erhalten. Handreichungen zur Bestandserhaltung in Archiven (Veröffentlichungen der brandenburgischen Landesfachstelle für Archive und öffentliche Bibliotheken 1), Potsdam 2005, S. 1–12. 1
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Archivgebäude sind im Verhältnis von Fläche zu Energieverbrauch effiziente Gebäude. Das liegt nicht zuletzt an den großen Magazinflächen für analoges Archivgut mit geringem Fremdenergieeintrag. Darüber hinaus haben Archivgebäude eine sehr lange Nutzungsdauer, sind damit nachhaltig, was den Einsatz von „grauer Energie“ anlangt, gleichzeitig erfordert ihre lange Betriebszeit permanente Adaptionen. Trügerisch ist die weit verbreitete Annahme, dass ein einmal realisiertes Gebäude ohne weiteres Zutun und ohne größere Sanierungsmaßnahmen über Jahrzehnte zu betreiben sei. Gerade technische Einbauten der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart benötigen ein hohes Maß an Sachverstand seitens der Betreiber sowie reguläre wiederkehrende Wartungsaufwände, die sich in entsprechend angepassten Bauunterhaltsaufwendungen und der Personalbedarfsbemessung widerspiegeln müssen. Überalterte Leitungsnetze verkeimen und bedrohen die allgemeine Trinkwasserhygiene. Lüftungsoder Klimaanlagen, die viele Jahre lang ohne Wartung und zeitgemäße Ertüchtigung betrieben werden, verbreiten Keime und Sporen, anstatt sie abzutransportieren. Die Corona-Pandemie hat Lüftungsanlagen, Filtersysteme und deren Wartung daher zu Recht aus einem Schattendasein in den Fokus gerückt. Besonders was die Personalentwicklung anlangt, zeigt sich im archivischen Bereich seit Jahrzehnten eine im Verhältnis zu den steigenden Aufwänden eher gegenläufige Tendenz. Immer weniger Personal muss immer mehr Bestände und immer komplexere technische Anlagen betreuen.3 Setzt man hier auf Einsparungen statt auf konsequente Betreuung, Statistisches Bundesamt (Destatis) (Hrsg.), Bildung und Kultur. Spartenbericht Museen, Bibliotheken und Archive 2017, bearb. von Anja Liersch und Dominik Asef, Wiesbaden 2017, S. 71. – Der Bericht weist für Bayern im Jahr 2016 mit den meisten Standorten (9) anteilsmäßig die meisten Beschäftigten aus (14 %). Setzt man jedoch den Umfang der verwahrten Bestände in Relation zum Personalstand (Zahlen von 2016), so fällt auf, dass im Bundesschnitt 938 lfm Archivgut auf einen Mitarbeiter kommen, 2002 lag dieser Wert noch bei 580 lfm. In Bayern betreute 2016 ein Archivmitarbeiter bzw. eine Archivmitarbeiterin rechnerisch 1266 lfm Archivgut, während Baden-Württemberg (8 Standorte) mit 850 lfm pro Mitarbeitendem deutlich unter dem Bundesdurchschnitt lag. Diese Werte nähern sich mit großen Schritten der Prognose an, die Mario Glauert 2010 beim Deutschen Archivtag in Dresden abgab: „2040 werden es, halten diese Trends an, knapp 2100 lfm sein. Geht die Schere zwischen Beständen und Beschäftigten Jahr für Jahr weiter auseinander, werden Archive mehr und mehr zum Speicherbau statt zur Informationsarchitektur.“ Mario Glauert, Archiv 2040. Prognosen zum Archivbau in Deutschland. In: Heiner Schmitt (Redaktion), Archive unter Dach und Fach. Bau – Logistik – Wirtschaftlichkeit. 80. Deutscher Archivtag 2010 in Dresden (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag 15), Fulda 2011, S. 163–173, hier: S. 165. 3
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so droht mit dem Stillstand der Technik gleichzeitig erheblicher Schaden an unersetzlichem Kulturgut. Denn das für den Originalerhalt notwendige Magazinklima (16°–20°C, max. 55 % rF) muss in unterschiedlichem Ausmaß inzwischen auch in unseren Breiten durch technische Anlagen erzeugt werden. Diese Anforderung konkurriert mit dem Anspruch, so technikarm und primärenergiesparend wie möglich zu bauen. Ein vollständiger Verzicht auf eine Vorkonditionierung der in den Magazinbereich eingebrachten Luft ist allerdings – bedingt durch den fortschreitenden Klimawandel – nicht mehr möglich. Daher wird versucht, durch einen mehrschaligen Wandaufbau das Klima im Inneren der Magazine möglichst konstant zu halten und nur bei Bedarf technisch gegenzusteuern. Neu- und Erweiterungsbauten der Staatlichen Archive Bayerns folgen diesen Prinzipien und nähern sich soweit möglich Passivhausstandards an. Der Magazinbereich des projektierten Neubaus für das Staatsarchiv Würzburg in Kitzingen ist so ausgelegt, dass bei einem Ausfall der Klimaanlage das Innenklima mindestens 14 Tage konstant bleibt, immer vorausgesetzt natürlich, die Magazintüren bleiben geschlossen. Neben technischen Einbauten zur Erhaltung eines optimalen Raumklimas spielt gerade im Archivbau der Brandschutz eine ganz erhebliche Rolle. Die größten Verluste an Archivgut in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verursachten der Brand auf der Burg Trausnitz4 am 21. Oktober 1961 und der Einsturz des Kölner Stadtarchivs am 3. März 2009. Während auf der Burg Trausnitz Archivgutbergung und Brandbekämpfung erheblich durch die in einer Burganlage üblichen engen Zugänge und die mangelnde Löschwasserversorgung behindert wurden, sind die Gefahren in modernen Gebäuden an anderen Stellen zu suchen. Nicht korrekt gewartete und nicht zeitgerecht ertüchtigte Brandschutzeinrichtungen können im Schadensfall zur Falle für die in den Gebäuden arbeitenden Personen und das Archivgut werden. Brand- bzw. Rauchmeldeanlagen nützen wenig, wenn einzelne Melder wegen technischer Defekte oder fehlender Bauteile abgeschaltet werden müssen. Lücken in Die Burg brennt! Die Landshuter Katastrophe vom 21.10.1961. Eine Ausstellung des Staatsarchivs Landshut in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen sowie der Freiwilligen Feuerwehr Landshut, Landshut, 22.10.–23.12.2021. Bearbeitung: Johannes Stoiber und Monika Ruth Franz unter Mitarbeit von Martin Rüth und Irmgard Lackner (Staatsarchiv Landshut) sowie Brigitte Langer (Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen) und AnnKathrin Eisenbach (Bayerisches Hauptstaatsarchiv) (Staatliche Archive Bayerns – Kleine Ausstellungen 67), München 2021. 4
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der Brandschutzplanung – selbst in modernen Gebäuden – können dazu führen, dass die Feuerwehr beim Löschangriff zunächst Wände und Dämmung abtragen muss, um überhaupt an den Brandherd zu gelangen.5 Wa s g a l t i m A r c h i v b a u i n Ba y e r n a l s z e i t g e m ä ß ? Als besonders sicher und daher für die Verwahrung wertvollen Schriftgutes optimal galten über Jahrhunderte dicke Mauern und möglichst fensterlose Räumlichkeiten. Dem entsprach und entspricht die Unterbringung von Archiven in zweckfremden oder adaptierten Gebäuden, zurückgehend auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Verwahrstätten für „Urkundenarchive in Klöstern, Kirchen, Stadttürmen und Gewölben fürstlicher Schlösser und der Aktenarchive in Schlössern und Kanzleigebäuden“6. Diese Einstellung änderte sich im 19. Jahrhundert, als mehr und mehr Zweckbauten für Archive errichtet wurden. Dicke Mauern blieben, vor allem, da sie eine gewisse Klimakonstanz im Inneren sowie Einbruchschutz versprachen, eine lichtdurchflutete Umgebung schien jedoch nun besonders geeignet, zumal auf diese Weise eine künstliche Beleuchtung entbehrlich wurde, die zurecht als Brandrisiko eingestuft wurde. Ein weiterer zentraler Aspekt, der für diese Archivbauwelle vor dem Ersten Weltkrieg im Königreich Bayern kennzeichnend ist, ist die räumliche Trennung von Verwaltung und Magazin, ein Grundsatz der bis heute Gültigkeit hat. Dieser Vorgabe folgen in Bayern die staatlichen Archivzweckgebäude für die Kreisarchive in Nürnberg (Bezug 1879/ 18807), Bamberg (1902/05)8, Z.B. beim Brand des Stadtarchivs Krakau (Polen) im Februar 2021 https://www.eurocommpr.at/de/News-Room/City-News/Das-Krakauer-Stadtarchiv-wird-abgerissen (aufgerufen am 18.4.2022). 6 Wolfgang Leesch, Archivbau in Vergangenheit und Gegenwart. In: Archivalische Zeitschrift 62 (1966) S. 11–65, hier: S. 12. – Das Geheime Hausarchiv und das Geheime Staatsarchiv unterstanden dem Ministerium des kgl. Hauses und des Äußeren, Reichsarchiv und Kreisarchiv unterstanden dem Innenministerium, das Kriegsarchiv unterstand als eine dem Generalstab nachgeordnete Behörde dem Kriegsministerium. 7 Bis 1889 erfolgten „Nachbesserungen“, u.a. wurde der im Rohzustand belassene Boden aufgrund der Staubbelastung mit Brettern belegt, Fenstergitter für die Bergung von Archivgut angepasst sowie sichere Lagerorte für Archivgut im Brand- oder Angriffsfall eingebaut (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns 1942). 8 „… im Hofraume und den umgebenden Vorgärten sind 13 Strassenspritzhydranten angebracht; für Feuerlöschzwecke dienen vier Feuerlöschhydranten, die im Hofraum und den umgebenden Strassen vorgesehen sind. Im Verwaltungsgebäude befindet sich ein zur städtischen Feuerwache führender Feuermelder, ausserdem sind Handfeuerlöschapparate 5
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München (1892), Speyer (1902) und Amberg (1910). Pläne für einen Archivneubau für die später im Bayerischen Hauptstaatsarchiv zusammengeführten staatlichen Archive in München (Geheimes Staatsarchiv, Geheimes Hausarchiv, Reichsarchiv, Kriegsarchiv, Kreisarchiv München) scheiterten vor dem Ersten Weltkrieg und erneut in der Zwischenkriegszeit. Bernhard Zittel9, Generaldirektor der Staatlichen Archive von 1970 bis 1977 und geistiger Vater des ab 1967 sukzessive bezogenen Gebäudekomplexes des Bayerischen Hauptstaatsarchivs und des Staatsarchivs München an der Schönfeldstraße, fasst die Gründe sehr treffend zusammen: „..weil man zuviel auf einmal wollte: einen Neubau aus Stein, einen „Neubau“ der Archiv- und Beständestruktur, schließlich mit der Unterstellung aller Archive unter ein Ministerium statt bisher unter drei eine Änderung der Organisationsstruktur, weil die verschiedenen Wünsche und Vorstellungen aber nicht unter einen Hut zu bringen waren, hat man in den „goldenen Jahren“ vor 1914 die echte Chance für einen Archivbau verspielt.“10 Bu r g e n u n d Fe s t u n g e n i n a r c h i v i s c h e r Nu t z u n g Leerstehende Burgen und Festungen schienen und scheinen vor allem der nichtarchivischen Welt trotzdem weiterhin sinnvolle Aufbewahrungsorte für Archivgut. In unruhigen Krisenzeiten und für die kurzfristige Bergung im Rahmen eines Notfallplans mag diese Überlegung durchaus zutreffen, sobald allerdings der langfristige Erhalt der Archivalien im Mittelpunkt steht, verlieren feuchte Gemäuer an unzugänglicher Stelle schnell ihre Anziehungskraft. Archivdepots der Staatlichen Archive Bayerns in Burgen und auf Festungen gibt es noch heute, Hauptstandorte auf Bergen oder Anhöhen gehören inzwischen der Vergangenheit an.
nach dem System Minimax an geeigneter Stelle im Verwaltungsgebäude und Beständehaus verteilt“ (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Generaldirektion der Staatlichen Archive 1708a). 9 Bernhard Zittel leitete von 1968 bis 1970 das Staatsarchiv München und war von 1970 bis 1977 Generaldirektor der Staatlichen Archive. Der Neubau des Bayerischen Hauptstaatsarchivs beruht hauptsächlich auf seinen Konzepten, die Planungen weiterer Archivbauten trieb er maßgeblich voran. Vgl. Walter Jaroschka, Bernhard Zittel †. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 47 (1984) S. 911–912. – Archive. Geschichte, Bestände, Technik. Festgabe für Bernhard Zittel (Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern, Sonderheft 8), Kallmünz 1972. 10 Bernhard Zittel, Der Neubau des Bayerischen Hauptstaatsarchivs. In: Archivalische Zeitschrift 64 (1968) S. 148–172, hier: S. 149.
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D a s St a a t s a r c h i v L a n d s h u t u n d d i e Bu r g Tr a u s n i t z Bis zum Umzug in einen Neubau im Jahr 2016 logierte das Staatsarchiv Landshut auf der Burg Trausnitz über Landshut. Von klimatischen und statischen Problemen abgesehen, hat die auf Verteidigung und Abwehr angelegte Zugangssituation einer Burg im Notfall schwerwiegende Folgen, eindrucksvoll demonstriert durch die Brandkatastrophe auf der Trausnitz im Oktober 1961. 11 Landshuterinnen und Landshutern, die den Brand der Burg miterlebt haben, ist noch 60 Jahre danach ihre Erschütterung anzumerken. Für die Feuerwehr war es abgesehen von der schlechten Zugänglichkeit vor allem schwierig, die benötigten Löschwassermengen auf die Burg zu schaffen. Schließlich wurde eine kilometerlange Schlauchverbindung zur Isar gelegt, neben der Feuerwehr Landshut beteiligten sich die Feuerwehren aus Regensburg und München an den Löscharbeiten. Die durch den Brand verursachten baulichen Schäden waren enorm, hinzu kam der Schaden an unersetzlichem schriftlichem Kulturgut: etwa 10.000 Amtsbücher des Staatsarchivs Landshut verbrannten oder wurden schwer beschädigt. Die Planungen für den Neubau des Staatsarchivs in der Schlachthofstraße in Landshut basierten auf einem 1993 durchgeführten Architektenwettbewerb.12 Bereits damals war klar, dass der Standort Trausnitz zwar malerisch, aber nicht zeitgemäß und zukunftsfähig war. Aus Kostengründen wurden die Planungen allerdings zunächst wieder gestoppt. Als man die Planungen 2008 wieder aufgriff, wurden sie angepasst und überarbeitet, bei der Magazinklimatisierung blieb man jedoch bei einer Lüftungsanlage ohne maschinelle Kühlung, was eine spätere Nachbesserung zur Folge hatte. Die eigentlichen Bauarbeiten begannen 2012, im Jahr 2016 konnte der Neubau bezogen werden, der im Erdgeschoss den Öffentlichkeits- und Verwaltungsbereich sowie in den darüber liegenden Geschossen die MaBernhard Zittel, Der Großbrand auf der Burg Trausnitz in Landshut. In: Archivalische Zeitschrift 61 (1965) S. 142–192. – Sebastian Hiereth, Der Wiederaufbau des Staatsarchivs Landshut. In: Archivalische Zeitschrift 62 (1966) S. 177–182 und in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 92 (1966) S. 29–44. – Die Burg brennt! Die Landshuter Katastrophe vom 21.10.1961 (wie Anm. 4). 12 Günther Knesch, Der Architektenwettbewerb für den Neubau des Staatsarchivs in Landshut. In: bau intern. Zeitschrift der Bayerischen Staatsbauverwaltung für Hochbau, Städtebau, Wohnungsbau, Straßen- und Brückenbau, Heft 1/2, Jan./Feb. 1994, S. 21–24. – Realisierungswettbewerb Neubau Staatsarchiv in Landshut. In: Wettbewerbe Aktuell 9, 1993, S. 55–66. 11
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Staatsarchiv Landshut, Ansicht Schlachthofstraße (Foto: Peter Litvai, Atelier für Fotografie Landshut).
gazine, mit Platz für 40 laufende Kilometer Archivgut, beherbergt.13 Die Fassade ist mit Sichtziegeln gestaltet und nimmt so optisch Bezug auf zahlreiche weitere öffentliche Gebäude in Landshut. Durch Dämmung, Holzpellet-Heizung und Photovoltaikanlage kommt das Staatsarchiv Landshut auf einen CO2-Ausstoß von lediglich 12 Tonnen pro Jahr.14 Nach einem Jahr Betrieb zeigte es sich, dass das für den langfristigen Erhalt der Archivalien notwendige konstante Magazinklima am Standort Landshut bei insgesamt durch den Klimawandel bedingten steigenden Außentemperaturen nicht mit einer reinen Lüftungsanlage ohne Konditionierungsmöglichkeiten herzustellen war. Es musste eine Kühlmöglichkeit nachgerüstet werden. Die Nachrüstungen waren innerhalb des für das Gesamtprojekt genehmigten Budgetrahmens von 24 Millionen Euro möglich, inzwischen entsprechen die Klimawerte in den Magazinen den geltenden Standards15 (Temperatur: 16°–20°C, maximal 55 % relative Martin Rüth, Neubau des Staatsarchivs Landshut eröffnet. In: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 71 (2016) S. 3–6. 14 https://www.stmb.bayern.de/assets/stmi/projektdatenbank/iia1_staatlicherhochbau_bauprojekte_stbala_staatsarchiv_landshut.pdf (aufgerufen am 13.4.2022). 15 Bei gemischter Lagerung von Materialien aus Papier, Pergament und Leder streben die Staatlichen Archive Bayerns Temperaturen von 16°–20°C und eine relative Luftfeuchte von 40–55 % an. Eine relative Luftfeuchte von 55 % ist die absolute Obergrenze, da es bei höheren Feuchtewerten rasch zu Schimmelbildung kommt. Gleiches gilt für den Temperatur13
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Luftfeuchte). Eine weitere Vorbeugungsmaßnahme, die beim Staatsarchiv Landshut jedoch noch während der Rohbauphase nachgerüstet wurde, war ein erweiterter Hochwasserschutz. Für den Standort des Staatsarchivs Landshut prognostizierten die Hochwasserschätzungen vor Baubeginn einen maximalen Anstieg des Wassers bis zur Grundplatte. Geplant waren daher an den drei rückwärtigen Türen Hochwasserschotts mit einer Höhe von einem Meter. Das sogenannte Jahrhunderthochwasser von 2013 bewies, dass die Schätzungen falsch lagen. Durch Türen, Fenster und Lüftungsöffnungen füllte sich der Rohbau mit Grundwasser, das das Isarhochwasser nach oben gedrückt hatte. Aufgrund dieses Schadensereignisses sind nun für alle Öffnungen vollflächige Schotts vorbereitet, für die gesamte Nutzungsdauer des Gebäudes wurde ein jährlich zu aktualisierender Notfallplan „Hochwasserschutz“ etabliert, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden laufend entsprechend geschult. Ein Isarhochwasser erreicht Landshut in der Regel mit einem gewissen Vorlauf, was ein ausreichendes Zeitfenster eröffnet, um die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Letzteres war bereits mehrfach der Fall, zu einem Wassereintritt kam es seit der Rohbauphase bisher nicht mehr. Di e Wi l l i b a l d s b u r g ü b e r E i c h s t ä t t u n d d i e St a a t s a r c h i v e Nü r n b e r g u n d Mü n c h e n Während des Zweiten Weltkriegs lagerte das Staatsarchiv Nürnberg Unterlagen unter anderem auf die Willibaldsburg über Eichstätt aus.16 Dieser Auslagerungsstandort wurde 1961 zum Depot ausgebaut.17 Die Archivverwaltung stand einer archivischen Nutzung der Willibaldsburg zunächst ablehnend gegenüber, vorgebrachte Argumente waren die schlechte Zuwert von 20°C, auch hierbei handelt es sich um eine Obergrenze, ein Unterschreiten von 16°C ist für die Materialien unschädlich. Für fotografische Materialien gelten andere Werte, hier gilt es, ein zu feuchtes und zu warmes Magazinklima auf jeden Fall zu vermeiden. Die Staatlichen Archive Bayerns streben bei einer gemeinsamen Lagerung von Schwarzweiß-Fotografien (Film, Glasplatten, Papierabzüge) eine Temperatur von 12°–13°C und eine relative Feuchte von 30–35 % an. Für Farbfotografien ist das erforderliche Klima bautechnisch nur mit sehr hohem Aufwand erzeugbar. Hier wird daher eine Lagerung in Klimaschränken vorgezogen, gleiches gilt für Magnetbänder. 16 Herbert Schott, „Wir sind ein wissenschaftliches Institut und keine Altpapiersammlung“. Luftschutz und Archivalienverlagerung der Staatsarchive Nürnberg und Würzburg. In: Archivalische Zeitschrift 96 (2019) S. 447–470. 17 KME Nr. XII 3444 vom 25.1.1961 (Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, Registratur, Akt 441-4).
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gänglichkeit und die Feuchtigkeit. Allerdings erhoffte sich die Bauverwaltung, vertreten durch das zuständige Landbauamt, von der archivischen Nutzung des sogenannten Gemmingenbaus eine „wertvolle moralische Unterstützung“18 für den angestrebten weiteren Innenausbau der Willibaldsburg. Diese Meinung teilte die Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen als Eigentümerin des Gebäudes. Die Archivverwaltung gab schließlich nach, als Bedingung wurde ausdrücklich festgehalten, dass alle Auflagen, die die Archivverwaltung für nötig erachtet, erfüllt und der Ausbau der Räume „auf Kosten des Landbauamtes“19 vorgenommen würde. Auf der Willibaldsburg wurde unter anderem die zentrale Filmeinlagerungsstelle für Bayern untergebracht – bis man feststellte, dass die Filmdosen durch das feuchte Innenklima rosten. Aufgrund dieser Feststellung wurde die Filmlagerstelle nach München verlegt. Nach der Gebietsreform und dem Übergang Eichstätts von Mittelfranken an Oberbayern 1973 übergab das Staatsarchiv Nürnberg 1978/7920 sein Außendepot an das Staatsarchiv München, das dort das Schriftgut der Notariate des Oberlandesgerichtsbezirks München (Oberbayern, Niederbayern mit Ausnahme der Amtsgerichte Kelheim und Straubing, Schwaben) unterbrachte. Die Außenstelle des Staatsarchivs München auf der Willibaldsburg ist bis heute in Betrieb und kämpft an mehreren Stellen mit Entfeuchtern gegen die nach wie vor zu hohe relative Luftfeuchte. Transporte auf die Burg sind eine Herausforderung, größere Fahrzeuge müssen am Beginn der Auffahrt umgeladen werden, da die Burgtore maximal mit einem Kleintransporter passiert werden können. Seit 2015 befindet sich auf der Willibaldsburg zusätzlich ein Spezialmagazin für großformatige Architekturmodelle. Die Lagerung selbst ist unproblematisch, eine Ausleihe beispielsweise für Ausstellungen sollte allerdings gut geplant sein, denn die meisten Modelle können die Burg nur ohne ihre Umverpackung und gegebenenfalls in Einzelteilen verlassen.
Aktenvermerk vom 17.3.1960: Archivrat Dr. Zittel über eine Besprechung am 9.3.1960 (Ebd.). 19 Ebd. 20 Verwaltungsübereinkommen vom 6./10.6.1968 (Nachträge I und II vom 25.4./ 8.5.1969 und vom 22./23.12.1970) und von 1982 (Ebd.). 18
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Di e Fe s t u n g L i c h t e n a u u n d d a s St a a t s a r c h i v Nü r n b e r g Eine weitere Außenstelle mit Lesesaal und Benutzerbetrieb in einer Burg bzw. Festung betreibt das Staatsarchiv Nürnberg seit 1983 auf der Festung Lichtenau bei Ansbach. Im entkernten Kommandantenhaus wurden nach einer umfassenden Sanierung in den Jahren 1974 bis 1983 Büround Ordnungsräume, Magazinbereiche sowie ein Lesesaal eingerichtet.21 In den Obergeschossen der fünf Kavaliere und des inneren Rings sind ebenfalls Magazine untergebracht. Die Festung Lichtenau, zählt – im Unterschied zu den bereits genannten Burgen im Bestand der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen – tatsächlich zum eigenen Gebäudebestand der Staatlichen Archive Bayerns. Mit der Übernahme des Amtes der Generaldirektorin oder des Generaldirektors der Archive wächst der Stelleninhaberin beziehungsweise dem Stelleninhaber somit die Rolle der Burgherrin bzw. des Burgherrn zu. Auch diese Festung zeichnet sich durch feuchte Wände, lange Wege und enge Zufahrten aus. Der Burghof böte sich rein räumlich an für die Errichtung eines Magazinbaus zur Linderung der Raumnot des Staatsarchivs Nürnberg, die durch die Sanierung des Hauptsitzes in der Archivstraße in Nürnberg nicht behoben wird, allerdings stünde dieser Bau zumindest mit den Fundamenten im Grundwasser, an Tiefgeschosse wäre gar nicht zu denken. Wenn man weiß, dass die Lichtenau auf eine mittelalterliche Wasserburg zurückgeht, verwundert das nicht. Schwankungen des Außenklimas machen sich im Inneren der Burg kaum bemerkbar, ein großer Vorteil der dicken Wände, im Inneren bleibt es meist kühl und etwas feucht. Der Artenreichtum ist groß: in den im Zuge des Integrated Pest Management (IPM) ausgebrachten Insektenfallen findet sich alles vom Käfer bis zur Spinne, interessanterweise bisher keine Papierfischchen. Wie jede gute Burg ist die Festung Lichtenau sanierungsbedürftig. D a s St a a t s a r c h i v Wü r z b u r g , d i e Fe s t u n g Ma r i e n b e r g u n d d i e Wü r z b u r g e r Re s i d e n z Einen sehr traditionsreichen Archivstandort besitzt das Staatsarchiv Würzburg mit seinem Depot auf der Festung Marienberg über Würzburg. Wilhelm Volkert, Neue Außenstelle des Staatsarchivs Nürnberg in Lichtenau. In: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 16 (1978) S. 4–5. 21
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Bevor die Würzburger Fürstbischöfe ihr Archiv aus guten Gründen in die Stadt Würzburg verlegten, waren ihre wichtigsten Dokumente oben auf der Festung sicher vor Feind und Plünderung.22 Das Staatsarchiv Würzburg hat seinen Hauptsitz in der Residenz unter anderem in den Räumen des ehemals Fürstbischöflichen Archivs. In den Magazinen werden rund 15 laufende Kilometer Archivgut verwahrt. Auf der Festung betreibt das Staatsarchiv seit 1976 ein Außendepot (weitere 13 laufende Kilometer Archivgut). Die ursprünglichen Planungen zum Ausbau der Festung für Archivzwecke inklusive Einbau von Stahlunterzügen für den Einbau einer Rollregalanlage sahen eine echte Außenstelle für die Notariatsakten des Oberlandesgerichtsbezirks Bamberg mit Lesesaal und festem Personal vor. In Betrieb ging die Außenstelle jedoch nie, sie blieb ein reines Depot, das hauptsächlich die 5,7 Millionen (Stand 2020) Notariatsurkunden des Oberlandesgerichtsbezirks Bamberg (Regierungsbezirke Ober- und Unterfranken) verwahrt. Seit 2019 laufen die Planungen für einen Neubau für das Staatsarchiv Würzburg in Kitzingen.23 Damit endet die Tradition der Festung Marienberg als Archivstandort, zugleich verliert die Residenz Würzburg nach dem Fürstbischof, der schon 1806 abhanden kam, um das Jahr 2026 wohl auch ihr Archiv. E i n z i e h e n , a u s z i e h e n , s a n i e re n , z u r ü c k z i e h e n – d a s St a a t s a r c h i v Nü r n b e r g u n d d e r St a n d o r t A r c h i v s t r a ß e Wenn das Staatsarchiv Würzburg auszieht, steht das Staatsarchiv Nürnberg voraussichtlich unmittelbar vor der Rückkehr in seine angestammten Räumlichkeiten in der Archivstraße. Für den 1880 errichteten Gebäudekomplex endet damit – hoffentlich glücklich – die 2020 in Angriff genommene Generalsanierung. Ursächlich für die notwendige Sanierung waren vor allem erhebliche statische Probleme, die ein Gutachten 2013 bestätigt hatte. Im Zweiten Weltkrieg wurde der östliche Endflügelbau und Der Fürstbischof zieht in die Stadt. Die Anfänge der Würzburger Residenz vor 300 Jahren. Eine Ausstellung des Staatsarchivs Würzburg in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen. Bearbeitung: Ingrid Heeg-Engelhart, Hannah Hien, Jens Martin, Klaus Rupprecht, Mitarbeit: Werner Helmberger, Verena Ott. Mit einem einleitenden Aufsatz von Stefan Kummer (Staatliche Archive Bayerns - Kleine Ausstellungen 61), München-Würzburg 2020. 23 Im Zuge der Heimatstrategie beschloss die Bayerische Staatsregierung 2015 mehrere Behördenverlagerungen, darunter die Verlegung des Staatsarchivs Würzburg aus der Stadt Würzburg in die Stadt Kitzingen. 22
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Aufriss des Staatsarchivs Nürnberg (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, OBB Karten und Pläne 5380).
die nordwestliche Ecke des westlichen Endflügelbaus zerstört und später wiedererrichtet. Beim Wiederaufbau ersetzte man alle Holzbalkendecken durch Stahlbetondecken. Um Magazinflächen zu gewinnen, wurden 1986 und 1993 weitere Betondecken im östlichen Flügelbau eingezogen, wodurch Zwischengeschosse entstanden, die mit Rollregalen bestückt wurden. Das statische Gutachten stellte fest, dass die tatsächliche Traglast der Stahlbetondecken, v.a. aufgrund korrodierter Bewehrungsstähle erheblich unter den tatsächlich eingebrachten Lasten lag. Die sichtbare Schiefstellung der Außenwand des westlichen Flügelbaus gefährdete die Standsicherheit des gesamten Gebäudes. Beschäftigt man sich mit der Baugeschichte des Staatsarchivs Nürnberg, so ergeben sich interessante Parallelen zur Gegenwart, sogar, was die Phasen der Standortsuche betrifft. Das ehemalige Provinzialarchiv von Mittelfranken war vor dem Bezug des Archivzweckbaus an der Archivstraße in
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mehreren teils feuchten und engen, teils engen und zugigen, in jedem Fall baufälligen und ungeeigneten Gebäudeteilen des Nürnberger Rathauses untergebracht. Reichsarchivdirektor von Löher24 bemühte sich zunächst um eher kosmetische bauliche Verbesserungen, wie er selbst schildert, „… durch Abrücken der Gestelle und Schiebläden von feuchten Mauern, durch Vorkehrungen für den Fall einer Feuersgefahr, durch Herstellung von Lüftung und trocknen Fussböden, durch Zementierung übler Wandstellen. Allein all dergleichen konnte nur armseliges Flickwerk bleiben.“25 Seit 1826 gehörten das Allgemeine Reichsarchiv und die ihm unterstellten Kreisarchive in den heutigen Regierungsbezirken (den damaligen Kreisen) zum Ressort des Innenministeriums. Nachdem der bayerische Innenminister Sigmund Heinrich von Pfeufer26 das Kreisarchiv Nürnberg und seine heruntergekommene Unterbringung besichtigt hatte, wurde nach räumlichen Alternativen gesucht. Zunächst stand ein Umzug nach Eichstätt in das ehemalige Gebäude des Appellationsgerichts im Raum, dann versuchte man von der Stadt Nürnberg geeignete Räumlichkeiten zu erwerben. Auch dieser Ansatz brachte keinen Erfolg, allerdings erklärte sich die Stadt bereit, die bestehenden Archivräume zu kaufen, „wenn das Archiv in Nürnberg bleibe“27, der gebotene Geldbetrag war jedoch gering. Löher führt dazu aus: „Es giebt ja nur sehr wenige Magistrate in Deutschland, die geneigt wären, für ihr Archiv eine Geldsumme aufzuwenden, die seinem Werthe für die Stadt gleich käme. Für andere schmückende Neubauten giebt man heutigen Tags nicht ungerne Geld her, allein Stadträthe und Gemeindeverordnete haben gewöhnlich kaum eine dunkle VorstelDer Rechtshistoriker Franz von Löher (1818–1892) war von 1864 bis 1888 Direktor des Allgemeinen Reichsarchivs, einer Vorläuferinstitution des Bayerischen Hauptstaatsarchivs. Die Provinzialarchive bzw. Kreisarchive waren dem Reichsarchiv nachgeordnet, wodurch der Reichsarchivdirektor eine der heutigen Generaldirektorin der Archive vergleichbare Stellung hatte. Vgl. Margit Ksoll-Marcon, Reichsarchivdirektor Franz von Löher. In: Archivalische Zeitschrift 94 (2015) S. 11–28. 25 Franz von Löher, Das Kreisarchiv zu Nürnberg im neuen Gebäude. In: Archivalische Zeitschrift 7 (1882) S. 298–314, hier: S. 301. 26 Der Jurist Sigmund Heinrich Pfeufer (1824–1894), ab 1867 Ritter von Pfeufer, ab 1881 Freiherr von Pfeufer war von 1867 bis 1871 Regierungspräsident der Rheinpfalz, 1871 bis 1881 bayerischer Innenminister und 1881 bis 1894 Regierungspräsident von Oberbayern. Vgl. Pfeufer, Sigmund Freiherr von, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https:// www.deutsche-biographie.de/pnd117760501.html> (aufgerufen am 18.4.2022). – Eberhard J. Wormer, Pfeufer, Carl Sebastian von. In: Neue Deutsche Biographie, Band 20, Berlin 2001, S. 332–333. 27 Löher (wie Anm. 24) S. 301. 24
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lung davon, was ein wohlgefülltes und gutgeordnetes Archiv für Nutzen bringen kann …“28 Die Suche ging daher weiter. Von den angebotenen Bestandsgebäuden genügte aber „…nicht ein einziges … den Erfordernissen, die man stellen musste in Bezug auf Grösse, Festigkeit, Trockenheit, Lüftung, Nachbarschaft. Auch hätten die Kosten des Ankaufs und Umbaues eine Summe verschlungen, deren Höhe beinahe den Kostenbetrag eines Neubaues erreichte.“29 Eine Feststellung, die nach wie vor aktuell ist: die Ertüchtigung nicht für einen archivischen Zweck errichteter Gebäude kostet in der Regel mehr als ein Neubau. Dichtigkeit und Klimastabilität der Gebäudehülle sind das eine, die Traglast das andere. Um wertvollen Magazinplatz effizient nutzen zu können, sollte heute der Einbau einer Rollregalanlage möglich sein. Dies erfordert allerdings eine Flächentraglast von mindestens 12,5 kN/m2, ein in herkömmlichen Gebäuden nur selten gegebener Wert. Schließlich fiel die Wahl auf ein Grundstück an der Bucherstraße, damals Nürnberger Vorstadt, sicher „vor lästiger und feuergefährlicher Nachbarschaft“30, auf dem ein Neubau nach für die damalige Zeit vorbildlichen Standards möglich war. Der Umzug des Archivguts aus dem Nürnberger Rathaus in das neue Gebäude wurde gründlich vorbereitet31: „Die Archivalien sämmtlich wurden gelüftet, gereinigt, desinfiziert, – sodann in grosse Päcke eingeschnürt, – diese mit fortlaufenden Nummern versehen je nach der vorher sorgsam bestimmten Reihefolge, welche sie im neuen Gebäude einnehmen sollten. Alsdann versicherte man sich gedeckter Wagen, genügender und zuverlässiger Mannschaft, und guter Aufsicht bei dem Einladen, Hinüberfahren und Abladen.“32 Im Vorfeld des Auszuges 2020 wurde das Archivgut des Staatsarchivs Nürnberg zwar nicht „gelüftet“ und „desinfiziert“33 allerdings – wo notwendig – sachkundig gereinigt und verpackt. Statt der 1879/80 geschnürten „Päcke“ kamen Jurismappen und Archivkartons für Akten und Maßverpackungen für Ebd. S. 302. Ebd. 30 Ebd. S. 305. 31 Aufgrund eines Brandes im Nürnberger Rathaus am 24. Oktober 1879 wurden einige Räume des Kreisarchivs (Säle IX a und b) bereits vorab geräumt (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns 1942). 32 Löher (wie Anm. 24) S. 306. 33 Desinfektion wurde gegen Holzwürmer in Einbänden und Moder angewandt und auch noch nach dem Einzug fortgesetzt (Jahresbericht des Kreisarchivs Nürnberg u.a. über das Jahr 1882, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns 1942). 28 29
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Archivgut in Bandform zum Einsatz. Die Verpackungsprojekte begannen bereits Jahre vor dem eigentlichen Umzugstermin und beanspruchten einen großen Anteil der etatmäßigen Bestandserhaltungsmittel der Staatlichen Archive Bayerns. Verpackung ist die Basiskomponente archivischer Bestandserhaltung, unverpacktes Archivgut sollte nur in Ausnahmefällen den Weg in Magazinregale finden, im Falle eines Umzugs oder eines Schadensereignisses ist nicht ordnungsgemäß verpacktes Archivgut besonders gefährdet. An dieser Stelle kann die berechtigte Frage gestellt werden, wie es überhaupt zu Rückständen im Bereich Verpackung von Archivgut kommen kann. Ein ganz trivialer Grund ist die Menge. In den wenigsten Archiven wachsen Personalstand und Sachmittel mit dem Zuwachs an Archivgut und Aufgaben. Dies hat zur Folge, dass immer weniger Archivarinnen und Archivare einer immer größeren Menge an zu bearbeitendem Archivgut gegenüberstehen, Bearbeitungsrückstände sind die zwangsläufige Folge. Ein weiterer Grund sind technische Erkenntnisse und Möglichkeiten. Heute ist die Lagerung überformatiger Amtsbücher in maßgeschneiderten säurefreien Verpackungen34 Standard. Diese Bände standen früher in der Regel offen im Regal, da sie nicht in Standardkartons passten. Maschinelle Vermessung und Herstellung machen Maßverpackungen inzwischen zwar nicht billig, aber leistbar. Kein Vergleich zur früher notwendigen händischen Fertigung und Anpassung durch einen Restaurator oder eine Restauratorin. Diese restauratorische Handarbeit kommt heute nur mehr großformatigen Urkunden zugute. Ein weiterer Aspekt sind heute gültige Verpackungsnormen, die die Entfernung älterer Verpackungen aufgrund schädlicher Komponenten (z.B. Säure) notwendig machen. Die von Löher geschilderten geschnürten Papierbündel wären auf Basis heutiger Erkenntnisse nicht zu empfehlen, zumindest nicht für eine längerfristige Lagerung von Archivgut. Nach bzw. parallel zu den Verpackungsprojekten begannen 2018/2019 die logistischen Vorbereitungen des Umzuges: alle Archivkartons wurden nummeriert und Umzugsportionen gebildet. Darüber hinaus wurden auf Basis inhaltlicher und konservatorischer Erwägungen sowie der verfügbaren Magazinkapazitäten die unterschiedlichen Zielorte der Archivalien festgelegt: die älteste im Staatsarchiv verwahrte Überlieferung – Urkunden DIN ISO 16245:2012 Information und Dokumentation – Schachteln, Archivmappen und andere Umhüllungen aus zellulosehaltigem Material für die Lagerung von Schrift- und Druckgut aus Papier und Pergament. 34
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und wichtige ältere Amtsbücher – sollte Nürnberg nicht verlassen. Sie fand eine vorläufige neue Bleibe im Landeskirchlichen Archiv der EvangelischLutherischen Kirche in Bayern. Bauakten, Baupläne und Kataster wurden in die Außenstelle Lichtenau des Staatsarchivs Nürnberg verbracht. Weiteres Archivgut kam in die Staatsarchive Augsburg und Landshut, da an beiden Standorten 2016 Neu- bzw. Erweiterungsbauten35 eröffnet worden waren und diese Archive daher im Gegensatz zu den restlichen bayerischen Staatsarchiven noch über nennenswerte Platzreserven verfügten. Tatsächlich durchgeführt wurde der Umzug von einer Umzugsfirma. Von Februar bis Anfang April 2020 und somit fast genau 140 Jahre nach dem Erstbezug36, wurde das Gebäude an der Archivstraße vollständig von Archivgut geräumt, der Umzug der Verwaltung folgte im Juli 2020. Am 1. September 2020 nahm das Staatsarchiv Nürnberg den Benutzungsbetrieb an den Ausweichquartieren wieder auf. Obwohl der Archivgutumzug in die Zeit des ersten Teil-Lockdowns in Folge der Corona-Pandemie fiel37, konnte der Zeitplan gehalten werden. Aufgrund der Professionalität der Umzugsfirma, der akribischen Vorbereitung durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Staatsarchivs, aufbauend auf den Erfahrungen der Landshuter Kolleginnen und Kollegen, die bereits 2016 einen Umzug gemeistert hatten38, verlief alles im Großen und Ganzen reibungslos, vor allem kam es zu keiner Archivgut-Havarie Thomas Engelke – Kerstin Lengger – Werner Lengger – Erwin Naimer, Der neue Archivstandort Augsburg. In: Christian Kruse – Peter Müller (Hrsg.), Das Archivmagazin – Anforderungen, Abläufe, Gefahren. Vorträge des 78. Südwestdeutschen Archivtags am 21. und 22. Juni 2018 in Augsburg (Sonderveröffentlichungen des Landesarchivs Baden-Württemberg), Stuttgart 2019, S. 9–20. – Claudia Kalesse, Magazinanbau des Staatsarchivs Augsburg mit Einweihungsfeier und Ausstellungseröffnung seiner Bestimmung übergeben. In: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 71 (2016) S. 6–9. – Rüth (wie Anm. 13). – Projektdatenbank Hochbau zum Erweiterungsbau des Staatsarchivs Augsburg: https://www.stbaa.bayern.de/hochbau/projekte/B71H.E1540000.01. html (aufgerufen am 18.4.2022). 36 Das Kreisarchiv Nürnberg war vom 15. Mai bis zum 9. August 1880 für den Umzug geschlossen. 37 Vom 17. März bis 10. Mai 2020 und erneut vom 1. November 2020 bis 7. März 2021 waren das Bayerische Hauptstaatsarchiv und die Staatsarchive für persönliche Benutzungen geschlossen. Stets aufrecht erhalten wurde die Beantwortung schriftlicher Anfragen, die Beauskunftung aus Akten für die Klärung rechtlicher Sachverhalte sowie die Anfertigung von Reproduktionen. 38 Thomas Paringer, Archivmagazine in Bewegung – Die Verlagerung des Staatsarchivs Landshut im Jahr 2016. In: Christian Kruse – Peter Müller (Hrsg.), Das Archivmagazin – Anforderungen, Abläufe, Gefahren. Vorträge des 78. Südwestdeutschen Archivtags am 35
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oder Personenschäden. Löher zog für den Umzug 1880 ein Resümee, das somit für den Umzug 2020 übernommen werden kann: „Das ganze weitläufige und mühselige Geschäft ging … rasch und glücklich von Statten ohne den geringsten Unfall.“39 Bleibt zu hoffen, dass diese Prämisse sowohl für den Rückumzug des Staatsarchivs Nürnberg in die Archivstraße als auch für alle weiteren anstehenden Archivumzüge der Staatlichen Archive Bayerns ihre Gültigkeit behält. E r w e i t e r u n g s b a u t e n , Sa n i e r u n g e n u n d a n d e re K l e i n i g k e i t e n Aufbauend auf der Archivbauwelle vor dem Ersten Weltkrieg lässt sich seit 2008 eine weitere große Archivbauwelle für die Staatlichen Archive Bayerns konstatieren. Beginnend mit dem 2016 bezogenen Neubau für das Staatsarchiv Landshut entstanden Erweiterungsbauten für die Staatsarchive Augsburg (2016) und Bamberg (2018), die Sanierung des Staatsarchivs Nürnberg wurde 2020 in Angriff genommen, die Planungen für den Neubau für das Staatsarchiv Würzburg in Kitzingen (Nutzfläche 8000 m2) starteten mit der Auslobung des Architektenwettbewerbs im Mai 2019. Die Fassadensanierung der Bauteile A bis C des Bayerischen Hauptstaatsarchivs an der Ludwig- und der Schönfeldstraße wurde 2018 abgeschlossen, die Generalsanierung des größten Bauteils des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, des Bauteils D mit Magazinen, Büros und Benutzerbereich steht jedoch noch aus. Gleiches gilt für den von der Abteilung IV des Hauptstaatsarchivs an der Leonrodstraße genutzten Magazin- und Verwaltungsbau. Hinzu kamen die Planungen für einen Magazinneubau im Garten der Abteilung IV Kriegsarchiv des Bayerischen Hauptstaatsarchivs in der Leonrodstraße. Dieses Spezialmagazin soll 2025/26 bezogen werden und hauptsächlich die wertvolle Foto- und Filmüberlieferung des Bayerischen Hauptstaatsarchivs sowie des Staatsarchivs München aufnehmen und die Lagerungskonditionen für diese empfindlichen Materialen nachhaltig verbessern. Ein weiterer Spezialbereich des Gebäudes dient der Verwahrung von Verschlusssachen etwa des Landesamts für Verfassungsschutz, die besondere Schutzvorkehrungen erfordert. Wesentliche Linderung für die 21. und 22. Juni 2018 in Augsburg (Sonderveröffentlichungen des Landesarchivs BadenWürttemberg), Stuttgart 2019, S. 68–77. 39 Löher (wie Anm. 24) S. 306.
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Erweiterungsbau des Staatsarchivs Augsburg (Foto: Peter Litvai, Atelier für Fotografie Landshut).
Raumnot der beiden großen Münchner Archive mit jährlichen Zuwächsen von jeweils 700 bis 1000 laufenden Metern an analogem Archivgut wird dieses Magazingebäude allerdings nicht bringen, das brächte erst ein dringend benötigter weiterer Magazinneubau mit Kapazitäten für etwa 30 laufende Kilometer Archivgut. Ebenfalls dringend in Angriff genommen werden muss die Sanierung des Bestandsgebäudes des Staatsarchivs Bamberg und dessen in den 1960er Jahren errichteten „älteren“ Erweiterungsbaus. Auch das 1989 bezogene Hauptgebäude des Staatsarchivs Augsburg40 hätte eine Sanierung nötig. Der Komplex wurde nach dem Vorbild des „Kölner Modells“ errichtet Rudolf Frankenberger, Der Neubau des Staatsarchivs Augsburg. In: ABI-Technik 10 (1990) S. 283–288. – Reinhard H. Seitz, Der Neubau des Staatsarchivs Augsburg. In: Der Archivar 44 (1991) Sp. 247–262. 40
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Kreisarchivgebäude in Bamberg aus: Veröffentlichung Bayerischer Staatsbauten, Sonder-Abdruck aus der Süddeutschen Bauzeitung Nr. 44, 1911).
und entspricht nicht mehr heutigen Anforderungen an Magazinklima und Klimaneutralität. Nach Abschluss der Sanierung des denkmalgeschützten Gebäudes des Staatsarchivs Nürnberg an der Archivstraße muss auch in Nürnberg nach Möglichkeiten für eine Erweiterung gesucht werden, denn der sanierte Altbau wird trotz ergänztem unterirdischen Magazinneubau das ausgelagerte Schriftgut des Staatsarchivs nicht mehr komplett aufnehmen
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können. Das Staatsarchiv Coburg nutzt derzeit ein denkmalgeschütztes Gebäude der Schlösserverwaltung. Eine energetische Sanierung oder eine Aufgabe des Objekts zugunsten eines Neubaus wäre im Hinblick auf für den Originalerhalt notwendige Magazinkonditionen und Klimaneutralität angezeigt. Das in der ersten Archivbauwelle errichtete Staatsarchiv Amberg verfügt in seinem Außendepot in einem Gebäude der Polizei in SulzbachRosenberg zwar aktuell noch über sehr überschaubare Platzreserven. Die Sanierung des Stammhauses in Amberg sowie die Schaffung langfristiger Magazinperspektiven sollte jedoch auch an diesem Standort nicht aus den Augen verloren werden. Festzuhalten ist: unter Margit Ksoll-Marcon als Generaldirektorin der Staatlichen Archive wurde mehr gebaut denn je. Weitere dringende Bauprojekte wurden angestoßen und projektiert. Trotzdem bleibt noch einiges zu tun!
Erweiterungsbau des Staatsarchivs Bamberg (Foto: Peter Litvai, Atelier für Fotografie Landshut).
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Staatsarchiv Landshut, Ansicht Schlachthofstraße (Foto: Peter Litvai, Atelier für Fotografie Landshut).
Erweiterungsbau des Staatsarchivs Augsburg (Foto: Peter Litvai, Atelier für Fotografie Landshut).
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Erweiterungsbau des Staatsarchivs Bamberg (Foto: Peter Litvai, Atelier für Fotografie Landshut).
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Eine „archivarische Großtat“1: Die Übernahme der Akten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse durch Wolfgang A. Mommsen in das Staatsarchiv Nürnberg Von Herbert Schott Einleitung Der Bestand „KV“ steht im Staatsarchiv Nürnberg für „Kriegsverbrecherprozesse“. Gemeint sind damit Unterlagen, die im Zusammenhang mit dem Hauptkriegsverbrecherprozess gegen 24 hochrangige Vertreter des NS-Staates in Nürnberg 1945/46 stehen, sowie mit den 12 Nachfolgeprozessen, die allein die Amerikaner in Nürnberg durchführten. Archiviert sind in diesem Zusammenhang v.a. die Protokolle der Verhandlungen der zusammen 13 Prozesse (jeweils deutsch und englisch), zahlreiche Unterlagen der Anklage, z.B. sog. Anklagedokumentenbücher, und der Verteidigung, dazu die sog. Interrogations (Befragungen außerhalb der Prozesse) und Kopien oder Abschriften von Dokumenten aus deutschen Akten bzw. Aussagen, eidesstattliche Erklärungen etc. aus den ersten Nachkriegsjahren.2 Die KV-Akten gehören noch immer zu den häufig benutzten Beständen des Staatsarchivs Nürnberg. Dass diese Unterlagen im Staatsarchiv Nürnberg der Forschung zur Verfügung stehen, ist der Arbeit des damaligen Amtsleiters Fridolin Solleder und seines Mitarbeiters Wolfgang A. Mommsen, dem späteren Leiter des Bundesarchivs in Koblenz, zu verdanken.
Peter Köpf, Die Mommsens, Hamburg u.a. 2004, S. 14. Gunther Friedrich, Nichtstaatliches Archivgut zur Geschichte des Dritten Reiches im Staatsarchiv Nürnberg. In: Archive in Bayern 1 (2003) S. 55–84, zu den KV-Prozessen S. 55–72. Die Übersicht von Friedrich zeigt den derzeitigen Stand und gibt v.a. viele wichtige Hinweise zu den Akten der Anklage und Verteidigung. – Vgl. auch Wolfgang Mommsen, Die Akten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und die Möglichkeit ihrer Auswertung. In: Der Archivar 3 (1950) Sp. 14–25. – Die Literatur zu den Nürnberger Prozessen ist sehr umfangreich. Pars pro toto sei hingewiesen auf Kim C. Priemel – Alexa Stiller (Hrsg.), NMT. Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung, Hamburg 2013. 1 2
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1 . Z u r Bi o g r a p h i e Wo l f g a n g A . Mo m m s e n s Am 11. November 1907 wurde Wolfgang A. Mommsen3 in Berlin-Schöneberg geboren. Er heiratete am 1. Juli 1941 Ingeborg Mend, geb. 23. Juli 1921, das Paar bekam den Sohn Hans und die Tochter Ingeborg. Wolfgang Mommsen war der Enkel des berühmten Historikers und Literaturnobelpreisträgers Theodor Mommsen (1817–1903). Nach seiner Promotion 1933 über das Thema „Die letzte Phase des britischen Imperialismus auf den amerikanischen Kontinenten 1880–1896“ wurde er 1933/34 in Berlin archivwissenschaftlich ausgebildet, 1936 wurde er Archivassessor im Brandenburg-preußischen Hausarchiv. Nach seiner eigenen Darstellung nach dem Krieg wollte er eigentlich Universitätslehrer für neuere Geschichte werden, aber der Kampf des Nationalsozialismus gegen eine unparteiische Forschung habe dies verhindert. Im März 1933 trat er – wieder nach eigener Aussage – in die DNVP ein, da dies die einzige Partei gewesen sei, die vielleicht ein Gegengewicht gegen den Nationalsozialismus ermöglicht hätte.4 1937 trat er dann aber doch der NSDAP bei. Schon seit 1934 war er Mitglied der Reiter SA, außerdem gehörte er der NSV, dem Beamtenbund und vor der Machtergreifung der Deutschen Studentenschaft an. Trotzdem stufte er sich in seinem Meldebogen als „entlastet“ ein und gab als Begründung an: „da ich als höherer Staatsbeamter einem besonders starken Druck durch die Partei ausgesetzt war, ausserdem wegen meiner kirchlichen Haltung Schwierigkeiten hatte und vielleicht nur deswegen eingezogen wurde. Ich war nie Nationalsozialist“.5 Dies bestätigten ihm auch Adolf Brenneke (1875–1946), Direktor des Preußischen Geheimen Staatsarchivs in Berlin von 1930 bis 1943, und Staatsarchivrat Ludwig Dehio (1888–1963), seit 1946 Leiter des Staatsarchivs Marburg. Laut Brenneke hatte er „die feste Ueberzeugung von seiner innerlich fremden Vgl. v.a. Staatsarchiv Nürnberg (künftig: StAN), Registratur 2315 (Personalakte) und Spruchkammer Rothenburg o.d.T. M 107; Bayerisches Hauptstaatsarchiv (künftig: BayHStA), Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns (künftig: GDion) 3014 (Personalakte). Literatur: Hans Booms, Wolfgang Mommsen †. In: Der Archivar 41 (1988) Sp. 661–664. – Köpf (wie Anm. 1). – Stefan Rebenich, Die Mommsens. In: Volker Reinhardt unter Mitarbeit von Thomas Lau, Deutsche Familien. Historische Portraits von Bismarck bis Weizsäcker, München 2005, S. 147–179, zu Wolfgang Mommsen S. 172–175. 4 Politischer Werdegang, ca. 1946, in StAN, Spruchkammer Rothenburg o.d.T. M 107, fol. 26–27. 5 Meldebogen, 6.5.1946, in StAN, Spruchkammer Rothenburg o.d.T. M 107, fol. 1 (Zitat fol. 1‘). 3
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und gegensätzlichen Einstellung gegenüber der Partei gewonnen“, Dehio hatte „nie einen Zweifel an seiner liberalen, allem Zwange abholden Gesinnung, die einem Enkel Theodor Mommsens so wohl ansteht und ihm … gleichsam in die Wiege gelegt ist“.6 Sein klassischer Werdegang als Archivar wurde durch den Osteinsatz unterbrochen. Mommsen wurde 1940 ins Baltikum abgeordnet, um sich um das Archivgut der deutschen Bevölkerung zu kümmern, denn die baltischen Staaten sollten gemäß dem deutsch-sowjetischen Abkommen an die Sowjetunion fallen. Insbesondere in Riga entfaltete er eine rege Tätigkeit. Nach dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion kehrte er ins Baltikum zurück, um Archivalien und Unterlagen zu suchen, die dem Deutschen Reich hilfreich sein konnten. Gleichzeitig arbeitete er auch im Auftrag Alfred Rosenbergs und seines Einsatzstabs. Nach Rebenich steht Mommsens Tätigkeit „für die bereitwillige Kollaboration einer bürokratischen Exekutive, die nicht erst durch demonstrative Disziplinierungsmaßnahmen auf Kurs gebracht werden mußte“.7 Als seinen wichtigsten Erfolg sah er die Sicherstellung des Smolensker Archivs an, das später den Amerikanern in die Hände fiel. Köpf schreibt dazu: So konnte er „gar behaupten der Demokratie gedient zu haben, und sich einreihen in die demokratische Tradition der Mommsens.“8 Seit dem 28. April 1943 war Mommsen bei der Wehrmacht, der „Glaube an den Endsieg schwand, und die Distanz zum nationalsozialistischen System wuchs“, über den Holocaust schrieb er am 28. Oktober 1944 in sein Tagebuch: „Die Ermordung der Juden ist das schwerste Verbrechen, dessen sich unser Volk bisher schuldig gemacht hat“.9 Von Mai bis Juni 1945 war Mommsen im Lazarett in Dinkelsbühl, Regierungsbezirk Mittelfranken. Von dort aus bemühte er sich ab Sommer 1945 um eine Anstellung. Bereits am 1. August 1945 meldete er sich bei Erklärung Brennekes vom 27.12.1945, Abschrift, und eidesstattliche Versicherung von Dehio, 29.11.1945, in StAN, Spruchkammer Rothenburg o.d.T. M 107, fol. 2a bzw. 2b. Erstaunlich ist, dass Mommsen sich diese Bestätigungen lange vor dem Spruchkammerverfahren geben ließ. 7 Rebenich (wie Anm. 3) S. 174. Vgl. auch Köpf (wie Anm. 1) S. 213–235. In seiner Spruchkammerakte finden sich weitere Unterlagen zu seiner Tätigkeit im Osten. 8 Köpf (wie Anm. 1) S. 313. 9 Rebenich (wie Anm. 3) S. 174 (erstes Zitat von Rebenich). Der Autor bezieht sich in seiner Beurteilung auf die Tagebücher Mommsens. Zur Tätigkeit Mommsens im Baltikum vgl. v.a. Stefan Lehr, Wolfgang A. Mommsens Aufzeichnungen aus dem Baltikum, Polen und der Ukraine 1942–1944. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 57 (2008) S. 453–514. 6
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Fridolin Solleder (1886–1972), dem Leiter des Staatsarchivs Nürnberg von 1939 bis Ende 195210. Solleder berichtete seiner vorgesetzten Stelle, der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, dass Mommsen „kriegsbeschädigt und aus der Gefangenschaft noch nicht entlassen“ sei. Er trage Bedenken, sich wegen seiner Verwendung im Baltikum und in Smolensk zu melden, aber vielleicht seien „diese Befürchtungen völlig unbegründet“. Solleder schilderte Mommsen als „eine durchgeistigte Erscheinung, eine sympathische Gelehrtennatur“, er suche nach einer beruflichen Verwendung in Bayern.11 Ohne eine geordnete Entnazifizierung war eine Beschäftigung Mommsens im bayerischen Staatsdienst aber nicht denkbar. Mommsen war vom 15. September 1945 bis Ende August 1946 als Flüchtlingsvertreter im Landkreis Ansbach der Mittler zwischen Flüchtlingen und Bauern. Da er als NSDAP-Mitglied keine angemessene Arbeit erhielt, bewarb er sich lange erfolglos beim fränkischen Adel um Arbeit. Solleder, der weiter Kontakt mit ihm hielt, sandte dem Generaldirektor der Staatlichen Archive im Mai 1946 den Fragebogen und diverse Unterlagen und bat ganz offen, er solle dem zuständigen Ministerialrat persönlich und unverbindlich die Sache Mommsens vortragen, denn der Name „Theodor Mommsens, …, des in der ganzen Kulturwelt bekannten Forschers und Vorkämpfers geistiger Freiheit mag seinem Enkel goldene Brücken bauen“.12 Solleder berichtete später, er habe Mommsen seinerzeit „auf der Straße aufgelesen, als er im Landkreis Ansbach (…) unter unwürdigen Bedingungen Flüchtlingskommissar war. Er hat sich schwer durchgehungert“, weil er seinen Schwiegereltern, ehemals Kaufleute im Baltikum, zu Hilfe gekommen sei, während Frau und Tochter im Lungensanatorium Engelthal gewesen seien.13 Mommsen übernahm dann eine Beschäftigung beim Fürsten Hohenlohe in Schillingsfürst zur Erschließung von dessen Archiv, was die Anklage Vgl. Peter Fleischmann, Dr. Fridolin Solleder (1886–1972). Leiter des Staatsarchivs Nürnberg von 1940 bis 1952. In: Archivalische Zeitschrift 96 (2019) S. 187–218. – Solleder, der wie Hitler im Ersten Weltkrieg im Regiment List gedient hatte, war nie Parteimitglied und wurde bei der Entnazifizierung als nicht betroffen eingestuft. Solleder zeigt sich in den Akten als selbstbewusster, seine vorgesetzte Stelle oft düpierender, sehr selbständig handelnder Archivleiter. 11 Solleder an den Generaldirektor, 8.8.1945, in BayHStA, GDion 3014. Das Schreiben findet sich auch in StAN, Registratur 2315. 12 Solleder an den Generaldirektor, 20.5.1946, in BayHStA, GDion 3014. 13 Solleder an Generaldirektor Lieberich, 3.7.1967, in StAN, Registratur 2315. 10
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bei der jetzt für ihn zuständigen Spruchkammer Rothenburg o.d.T. für eine Scheinbeschäftigung hielt. Er bat die Spruchkammer im Herbst 1946 um eine schnelle Verhandlung, da „die Staatsarchive Münster, Hannover und Marburg mich als Staatsarchivrat anstellen wollen“, zumindest das Archiv in Hannover bestätigte der Spruchkammer das.14 Der öffentliche Kläger der Spruchkammer Rothenburg wollte ihn in Gruppe 3, Minderbelastete, einreihen, da er monatlich 10 RM freiwillig an die SA bezahlt und dadurch „wesentlich zur Stärkung und Erhaltung des Nationalsozialismus beigetragen“ habe und deshalb nicht nur nominell am Nationalsozialismus beteiligt gewesen sei. Mommsen wehrte sich dagegen, indem er angab, mehr oder weniger zur Mitgliedschaft in der Reiter SA gedrängt worden zu sein. Es habe einen großen Druck gegeben, beizutreten. „Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass ich, soweit mir das als Beamter möglich war, …, und entsprechend meiner auf das rein Geistige ausgerichteten Bildung gegen die NSDAP Widerstand geleistet habe“. Er habe seinen Sohn im Winter 1942/43 in Riga taufen lassen, was ihm dienstliche Schwierigkeiten eingebracht habe, er meinte gar, deswegen sei seine UK-Stellung 1943 nicht verlängert worden, deshalb habe er Nachteile erlitten und sollte als entlastet gelten. Sein Vermögen sei komplett verloren gegangen, er könne seine Familie wegen einer Verwundung der linken Hand, weshalb er zur Handarbeit nur bedingt fähig sei, nur schwer ernähren.15. Sein Eintritt in die SA war seiner Aussage nach zwangsweise geschehen mit der Übernahme des Stahlhelms durch die SA. Man habe „uns jungen, noch in der Ausbildung befindlichen Archivaren“ mitgeteilt, sie müssten in die SA und SS eintreten, „andernfalls wir nicht in den preussischen Archivdienst übernommen werden könnten“, weshalb er dies gegen seine Überzeugung getan habe, später in der Reiter SA, „einer Sonderformation, in der man sich den vielerlei Verpflichtungen durch höhere Beiträge leichter entziehen konnte“.16 Die Spruchkammer Rothenburg stufte ihn im November 1946 in die Gruppe 3, Minderbelastete, ein, er bekam zwei Jahre Bewährungsfrist und sollte 2300 RM Sonderbeitrag leisten – bei nach eigener Aussage 60 RM Mommsen an die Spruchkammer Rothenburg, 3.10.1946, und Staatsarchiv Hannover an die Spruchkammer, 5.10.1946, in StAN, Spruchkammer Rothenburg o.d.T. M 107. 15 Klageschrift des öffentlichen Klägers vom 18.10.1946 und Schreiben Mommsens an die Spruchkammer Rothenburg, 30.10.1946, in StAN, Spruchkammer Rothenburg o.d.T. M 107, fol. 8 bzw. 9–9a‘ (Zitate fol. 8, 9‘ und 9a‘). 16 Anlage I zum Fragebogen der Militärregierung für Mommsen, 12.5.1946, in StAN, Registratur 2315. 14
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Monatsgehalt beim Fürsten Hohenlohe. Die Spruchkammer schrieb, er hätte wegen seiner Mitgliedschaften in Gruppe 4, Mitläufer, eingereiht werden können, „jedoch ist er auf Antrag des Öffentlichen Klägers wegen seiner Tätigkeit beim Reichskommissar Ostland und seines hohen Beitrages für die SA. in Gruppe 3 eingestuft worden. … Die Tätigkeit als Staatsarchivrat im besetzten Gebiet wird ebenfalls von der Kammer als belastend angesehen“, auch wenn Mommsen sich „nicht als Anhänger der NS-Politik erwiesen hat, aber er hat dieses Amt ausgeübt“. Das Verhalten gegen die Kirche sei mildernd, aber nicht entlastend berücksichtigt worden.17 Mommsen legte Berufung gegen den Spruch ein, denn mit der Einstufung in Gruppe 3 hatte er keine Aussicht mehr auf die Übernahme in den Staatsdienst. Der öffentliche Kläger legte bei der Berufungskammer Ansbach eine Gegenberufung ein. Mommsen reichte weitere, ihn entlastende eidesstattliche Erklärungen ein. Der Nürnberger Archivleiter Soll eder wandte sich zu seinen Gunsten im Dezember 1946 an den Präsidenten des Oberlandesgerichts Nürnberg. Solleder lobte Mommsens Arbeit im Osten als „hohes Verdienst“, er habe „wertvolle Archive in Lettland, Estland, Nord- und Mittelrussland vor der Zerstörung durch den Krieg bewahrt – einmal sogar in der Feuerzone – und sich dadurch ausserordentliche Verdienste um die Wissenschaft des mächtigen Nachbarstaates wie um das Ansehen der deutschen Archivare erworben“. Außerdem verwies Solleder wieder auf den bedeutenden Namen und Mommsens Großvater und betonte, er habe dem bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus seine Übernahme in die bayerische Archivlaufbahn vorgeschlagen, auch das Staatsarchiv Marburg würde ihn übernehmen.18 Die Berufungskammer Ansbach hob am 11. April 1947 den Spruch der Rothenburger Kollegen auf und stufte Mommsen als Mitläufer ein, er musste eine einmalige Geldbuße von 1000 RM zahlen. Der Monatsbeitrag als Mitglied der Reiter SA und seine Arbeit als Archivar im Osten bedeuteten nach Meinung der Berufungskammer keine Förderung des Nationalsozialismus. Da das Finanzamt Rothenburg aber die Uneinbringlichkeit der
Spruch der Spruchkammer Rothenburg vom 11.11.1946 in StAN, Spruchkammer Rothenburg o.d.T. M 107, fol. 14–14‘, Zitate fol. 14‘. 18 Solleder an den Oberlandesgerichtspräsidenten Nürnberg, 18.12.1946, in StAN, Spruchkammer Rothenburg o.d.T. M 107, fol. 23. 17
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Sühnezahlung feststellte, genehmigte die Spruchkammer, dass Mommsen ersatzweise 20 Tage gewöhnliche Arbeit verrichten sollte.19 Intern stand Mommsen den Entnazifizierungsmaßnahmen sehr kritisch gegenüber. In einem Brief vom August 1947 schrieb er vom „Entnazifizierungsrummel“, im Jahr darauf, er sei dem automatischen Arrest entgangen, da er sich „ganz bewusst auf dem Dorfe verkrochen habe“.20 Mommsen wollte, wie er im Mai 1948 schrieb, „diese ganze Geschichte schnell“ hinter sich bringen, um in den Staatsdienst zu kommen; seine Angabe, deshalb auf die mündliche Verhandlung verzichtet zu haben, ist aber unglaubwürdig. Seine Aussage, er selbst „habe diese ganze Geschichte ja nie recht ernst genommen, da ich die rechtlichen Grundlagen der gesamten Spruchkammerjustiz nie und nimmer anerkennen kann“,21 verwundert im Nachhinein doch sehr und passt nicht so recht zu seinem Verhalten. Es war ihm natürlich bewusst, dass er ohne Entnazifizierung nicht in Amt und Würden kommen konnte. Er überstand die Entnazifizierung wie viele seiner Berufskollegen „ohne größere Probleme“.22 Solleder blieb während des Entnazifizierungsverfahrens in Kontakt mit Mommsen und er versuchte, ihm eine passende Stelle zu vermitteln, z.B. bei der Stadt Ansbach, allerdings erfolglos. Auch der Generaldirektor blieb in die Suche eingebunden, doch verfolgte man seine Einstellung nach Rücksprache mit dem Ministerialreferenten nicht weiter, da Mommsens Spruchkammerverfahren noch nicht abgeschlossen war. Aber da er wissenschaftlich als hoch qualifiziert eingestuft wurde, schlug der Generaldirektor dem Ministerium vor, ihn als wissenschaftlichen Angestellten einzustellen.23 Trotzdem schrieb Mommsen im Juli 1947 an Solleder, er habe Spruch der Berufungskammer Ansbach, 11.4.1947, und Spruchkammer/öffentlicher Kläger an das Arbeitsamt Rothenburg, 8.8.1947, in StAN, Spruchkammer Rothenburg o.d.T. M 107, fol. 75a bzw. 84. 20 Mommsen an Winter, 25.8.1947, bzw. an Rohr, 15.6.1948, zitiert nach Astrid M. Eckert, Kampf um die Akten. Die Westalliierten und die Rückgabe von deutschem Archivgut nach dem Zweiten Weltkrieg (Transatlantische Historische Studien 20), Stuttgart 2004, hier S. 125 f. bzw. 146 Anm. 116. Die Einschätzung Eckerts, Mommsen habe auf Schloss Schillingsfürst „komfortabel“ gelebt (S. 125), ist offensichtlich falsch. Dass er dem automatischen Arrest unterlegen wäre, war vermutlich eine Fehleinschätzung Mommsens. 21 Brief an Wilhelm Mommsen, 12. Mai 1948, zitiert nach Köpf (wie Anm. 1) S. 264. – Eine mündliche Verhandlung war sehr selten und nur bei wirklich wichtigen Fällen vorgesehen. 22 Rebenich (wie Anm. 3) S. 174 f. 23 Generaldirektor an das Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 7.7.1947, in BayHStA, GDion 3014. 19
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sich dafür entschieden, in Marburg am Institut für Archivwissenschaft ein Kolleg über Archivgeschichte und Archivtheorie zu halten. Mommsen war skeptisch, dass er in Bayern eine Stelle erhalten werde, was er vorrangig dem Kultusminister Hundhammer zu verdanken meinte, denn dieser werde „einen Preussen, der noch dazu Protestant ist, nicht nehmen, und da er vielleicht nicht nein sagen kann, wird er die Sache so lange hinauszögern, bis ich von selbst abschwimme“. Der auch von Mommsen erwartete Ministerwechsel werde nur alles verzögern. Aber Mommsen bat Solleder, seinen Antrag in München nicht zu stoppen, solange er noch keine Berufung nach Marburg habe. Allerdings zeigte sich, dass es auch im hessischen Kultusministerium Widerstände gegen Mommsens Ernennung in Marburg gab, er vermutete, dass „es dabei weniger um die Entnazifizierung als um die Tatsache geht, dass aus meinen Papieren eben ersichtlich ist, dass ich kein Sozialdemokrat sein kann“.24 Kultusminister Alois Hundhammer, katholisch und konservativ, blieb im Amt (21. Dezember 1946–18. Dezember 1950). Solleder bat daraufhin über den Generaldirektor den bayerischen Staatsminister für Unterricht und Kultus um Einstellung Mommsens. Er bescheinigte ihm dabei, er sei „von gewinnendem, süddeutsch anmutenden Wesen“, sehr aufgeschlossen, er verbreite „eine geistige Atmosphäre, wie wir sie gerade in München kennen und schätzen“. Mommsen entschied sich dann für Nürnberg, sein Scheitern in Hessen führte er vorrangig auf seinen Marburger Vetter und dessen „unglückliches Buch von 1934“ zurück.25 Mommsen wurde schließlich als wissenschaftlicher Angestellter im Staatsarchiv Nürnberg angestellt, er trat seinen Dienst am 14. Oktober 1947 an. Der Generaldirektor stellte Mommsen, den sein Amtsleiter Soll eder als einen „zielbewußte[n] Organisator von eminentem Fleiß, seltener Initiative und hervorragendem Organisationstalent“ charakterisierte, schon Ende Januar 1948 die Übernahme als Beamter ab Herbst 1948 in Aussicht. Allerdings zog sich die Zustimmung des Ministeriums noch hin, so dass er erst am 1. September 1949 die freie Planstelle erhielt. Der Generaldirektor Wilhelm Winkler hatte dem Kultusministerium gegenüber Mommsen als „gewandte[n] und wissenschaftlich gut durchgebildete[n] Mommsen an Solleder, 24.7.1947 und 25.8.1947 (Zitat), in StAN, Registratur 2315. Solleder über den Generaldirektor an den bayerischen Kultusminister, 25.6.1947, und Mommsen an Solleder, 4.10.1947, in StAN, Registratur 2315. – Mit seinem Vetter ist Wilhelm Mommsen (1892–1966) gemeint, der 1945 von der Militärregierung als Professor der Universität Marburg abgesetzt wurde. 24 25
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Archivar“ bezeichnet, der es verdiene, „nicht hinter seine aus der bayerischen Archivschule hervorgegangenen Kollegen zurückgesetzt zu werden“. Nachdem die meisten dienstenthobenen Archivare nun wieder im Beamtenverhältnis stehen würden, dürfte auch für Mommsen der Augenblick dafür gekommen sein, der Betriebsrat der Münchner Staatsarchive habe schon zugestimmt.26 Solleder hatte immer wieder die Befürchtung geäußert, man werde Mommsen abwerben. Seine ganze Inanspruchnahme durch die Erfassung und Verzeichnung der Kriegsverbrecherprozessakten verminderte nach Solleder 1949 die Gefahr, dass Mommsen sich an der Wirtschaftshochschule Nürnberg habilitiere. Gleichzeitig schlug Solleder Mommsen allerdings dem Büro des hessischen Ministerpräsidenten als Mitarbeiter für ein kommendes Bundesarchiv vor. Mommsen selbst bewarb sich ebenfalls in Wiesbaden für das „in Kürze“ zu errichtende Bundesarchiv, er bezeichnete sich selbst als „ausgesprochen neuere[n] Historiker und Kenner der Außenpolitik“.27 Mommsen empfand es geradezu als „Skandal“, dass Anfang 1952 noch kein Bundesarchiv bestand, „denn es sind wenig genug an Akten des Dritten Reiches erhalten, und da keine Stelle darüber wacht, ist auch dieses Material in Gefahr verloren zu gehen“, doch könne er sich nicht an die Presse wenden, da er ein persönliches Interesse habe.28 Mommsen wurde aber weiterhin die Übernahme auf Lebenszeit verwehrt. Solleders Rolle ist hier nicht eindeutig. Als Mommsen im Dezember 1951 eine kleinere und eigentlich harmlose Operation ankündigte und darauf hinwies, dass im Falle seines Todes seine Familie finanziell nicht abgesichert sei und dass es ihn den Interessen und der Neigung nach als neueren Historiker „auf das stärkste“ zum Bundesarchiv hinziehe, bat er um eine Anstellung auf Lebenszeit.29 Solleder meldete nach München, er habe einschlägigen wiederholten Gesuchen Mommsens bisher widerstanden „und erklärt, dass ich seine Ernennung zum Beamten auf Lebenszeit nicht befürworte, weil ich fürchtete, dass er in Bayern verbleibt und so einem Landeskind eine Stelle wegnimmt“, was umso schlimmer wäre, „weil unsere staatliche Archivverwaltung ohnehin mit Nichtbayern geraSolleder an den Generaldirektor, 13.12.1948, in StAN, Registratur 2315, bzw. Generaldirektor an das Kultusministerium, 20.6.1949, in BayHStA, GDion 3014. 27 Solleder an das Büro des Ministerpräsidenten in Wiesbaden, 16.8.1949, und das Schreiben Mommsens an die gleiche Adresse vom Vortag in StAN, Registratur 2315. 28 Zitat aus einem Schreiben an Wilhelm Mommsen, Januar 1952, zitiert bei Köpf (wie Anm. 1) S. 312. 29 Mommsen an Solleder, 10.12.1951, in StAN, Registratur 2315. 26
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dezu übersetzt ist, während umgekehrt Berufungen in andere Bundesstaaten fast nie erfolgen“, aber um ihm angesichts der Operation die nötige Sicherheit zu geben, befürwortete er „auf das Entschiedenste seine Ernennung zum Beamten auf Lebenszeit“.30 Inwieweit seine Betonung eines bayerischen Standpunktes nur vorgeschoben war, muss offen bleiben. Im Jahre 1967 schrieb Solleder, er hätte Mommsen schon bei der Anstellung verpflichtet, „in preußischen oder Bundesdienst zurückzukehren, sobald sich eine geeignete Stelle auftut.“ Dass er dann „die Erfahrungen des bayerischen Archivdienstes“ im Bundesarchiv einbringen konnte, hob er – sein altbayerisches Selbstbewusstsein herauskehrend – ausdrücklich hervor.31 Im April 1952 stand fest, dass Mommsen ans Bundesarchiv abgeordnet werden sollte, und zwar ab 1. Juni probeweise für einen Monat. Mitte August 1952 bereits erhielt er die Urkunde mit der Ernennung zum Archivrat am Bundesarchiv auf Lebenszeit. Am 25. September 1952 wurde er offiziell aus dem bayerischen Staatsdienst entlassen.32 Mommsen wurde schließlich von 1967 bis 1972 Leiter des Bundesarchivs, er machte sich nicht zuletzt mit dem Erwerb zahlreicher Nachlässe und der Erstellung eines Inventars dazu einen Namen. Obwohl er sich auch im Bundesarchiv große Verdienste um die Demokratie erwarb, fehlte es nach Ansicht von Rebenich bei ihm und seinem Vetter Ernst Wolf an der „selbstkritischen Auseinandersetzung“ mit der eigenen Vergangenheit.33 Mommsen starb am 26. Februar 1986 in Koblenz. 2 . D e r B e g i n n d e r Ü b e r n a h m e d e r K V- A k t e n Solleder erreichte nach eigener Aussage „bei General Telford Taylor und der amerikanischen Besatzungsmacht“ die Übernahme der Akten des Hauptkriegsverbrecherprozesses und der 12 Nachfolgeprozesse.34 Neben den Protokollen der Sitzungen handelte es sich v.a. um umfangreiches beschlagnahmtes Aktenmaterial. Diese Unterlagen waren von Spezialisten ermittelt worden, „die die Aufgabe hatten feindliche Dokumente, AufSolleder an den Generaldirektor, 12.12.1951, in StAN, Registratur 2315. Solleder an Generaldirektor Lieberich, 3.7.1967, in StAN, Registratur 2315. 32 StAN, Registratur 2315, und BayHStA, GDion 3014. – Zu den Anfängen des Bundesarchivs vgl. Eckert (wie Anm. 19) S. 148–160. 33 Rebenich (wie Anm. 3) S. 175. – Ernst Wolf Mommsen (1910–1979) war u.a. im Ministerium Albert Speers tätig, er wurde 1945/46 von den Alliierten inhaftiert. 34 „Erfahrungen und Bewertung der Archivpraxis“, undatierter fünfseitiger Text Solleders; StAN, Nachlass Solleder 158. 30 31
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zeichnungen und Archive zu erfassen und aufzubewahren“. Die Dokumente waren in Dokumentensammelstellen gesammelt, katalogisiert und nach ihrem Inhalt bestimmt worden. Man hatte Dokumente ausgesucht, die nach Nürnberg gebracht wurden, wo sie „in verschiedenen Serien mit Prozess-Identifikations-Nummern versehen“ wurden und Bezeichnungen wie „PS“ oder „L“ erhielten. Diese Dokumente wurden auch der Verteidigung zur Verfügung gestellt.35 Mit der „Bearbeitung, Klassifizierung, Uebersetzung und dem Fotokopieren dokumentarischen Beweismaterials fuer den Hauptanklagevertreter der Vereinigten Staaten“ war Fred Niebergall betraut, seit dem 2. Oktober 1946 „Chef der Dokumentenkontrollabteilung, Gruppe Beweismaterial, im Amt des Hauptanklaegers für Kriegsverbrechen (im Folgenden als OCC bezeichnet). Niebergall war fünf Jahre in der US-Armee und wurde am 29. Oktober 1946 als „Oberleutnant der Infanterie abgeruestet“, er behielt den Rang eines Reserveoffiziers. „Zwecks Vorbereitung der auf den IMT-Prozess folgenden Prozesse wurde in der deutschen Sprache gruendlich bewandertes Personal mit der Aufgabe betraut, nach erbeuteten Dokumenten zu suchen und solche auszuwaehlen, die zur Verfolgung der Kriegsverbrecher der Achse dienliche Aufschluesse enthalten“. Aktenstücke, die man für die Prozesse für brauchbar erachtete, wurden fotokopiert und die Originale den Dokumentensammelstellen zurückgegeben. Die Kopien waren beglaubigt worden. Niebergall gab in einer eidesstattlichen Erklärung vom 3. Dezember 1946 an, dass „sich das ganze dokumentarische Beweismaterial, auf das sich das OCC stuetzt, in dem gleichen Zustand befindet, wie zurzeit, als es von den Streitkraeften unter dem Befehl des Hoechstkommandierenden der alliierten Expeditionsstreitkraefte erbeutet wurde; dass die Dokumente von hierzu geeigneten qualifizierten Uebersetzern uebersetzt worden sind; dass alle Photokopien richtige und genaue Kopien der Originale sind und dass die Klassierung, Numerierung und Bearbeitung wie oben aufgefuehrt, ordnungsgemaess vorgenommen worden ist“.36 Solleder interessierte sich von Anfang an für den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess. Noch im August 1945 schrieb er an den bayerischen Kultusminister Otto Hipp, dass der bekannte Historiker Michael Angaben von Mr. L. Follette im Protokoll der Sitzung des 6.3.1947 des Falles 3 der Nürnberger Nachfolgeprozesse; StAN, KV Fall 3, A 1, S. 151 f. 36 Eidesstattliche Erklärung Fred Niebergall, 3.12.1946, verlesen in der Sitzung des 6.3.1947 des Falles 3 der Nürnberger Nachfolgeprozesse; StAN, KV Fall 3, A 1, S. 153– 156, Zitate S. 153, 155, 156. – Die Abkürzung OCC ist nicht ganz korrekt, richtig ist OCCWC (Office of the U.S. Chief of Counsel for War Crimes). 35
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Doeberl (1861–1928) ihm seinerzeit erzählt habe, dass er „hochpolitischen Prozessen im Auftrag der Staatsregierung als stiller Beobachter“ beigewohnt habe. Solleder fragte an, ob er solches beim Nürnberger Prozess machen solle, es ging ihm darum, „die für Deutschland und Bayern günstigen Momente aus den Verhandlungen objektiv herauszuschälen“. Auch wenn die angespannte Personallage „kaum noch eine weitere Belastung“ zulasse, glaubte er es „den bayerischen und gesamtdeutschen Interessen schuldig zu sein“, auf diese Möglichkeit hinzuweisen.37 Das bayerische Kultusministerium erklärte sich nach Rücksprache mit dem bayerischen Ministerpräsidenten damit einverstanden.38 Solleder bat Mitte Oktober 1945 die Militärregierung Bayerns um Zulassung, wurde aber mündlich abgewiesen. Im Dezember schrieb er darüber: „Vom Standpunkt des Amtes kein Unglück!“, denn die beiden akademischen Beamten und der Hilfswart, die er im August noch hatte, standen ihm nicht mehr zur Verfügung, dafür war die Rückführung der ausgelagerten Bestände in vollem Gange. Dies hinderte Solleder aber nicht, dem bayerischen Kultusminister seine Sicht des Prozesses darzulegen. Er beklagte die „Einseitigkeit in der Zusammensetzung“ des Gerichts, dabei würden die „gesamtdeutschen Interessen nicht gewahrt werden. Der Prozeß ist bedeutsam durch das, was er an geschichtlichen Tatsachen ans Licht bringt, aber nicht minder durch das, was er verschweigt oder übergeht“, die Deutschland „entlastenden Momente“ herauszuarbeiten, sei Sache des Historikers. Laut dem englischen Rundfunk würden die Verhandlungen in Kurzschrift und auf Schallplatten aufgenommen werden. Er schlug vor, der Freistaat Bayern solle sich darum bemühen, ein Exemplar der Anklageschrift und der Verhandlungsprotokolle zu erhalten, möglichst auch die fremdsprachlichen (v.a. die englischen, möglichst auch die französischen und russischen). Weiter führte Solleder aus: Der deutsche Volkskörper sei nach dem Ersten Weltkrieg verstümmelt worden, hohe Forderungen nach Wiedergutmachung ließen jahrzehntelange materielle Not befürchten. Außerdem übte er Kritik an der Appeasement-Politik der Alliierten. Der Prozess werde sich „ungünstig für Deutschland auswirken, er kann uns letzte Sympathien im Ausland kosten. Der Staat muß dem entgegenwirken und nachholen, was das streitbare 3. Reich versäumte: wissenschaftlich und objektiv, wahrheitsliebend und unanfechtbar in Wort und Schrift alles zusammentragen, was zu Gunsten Deutschlands spricht.“ Ein erster Schritt 37 38
Solleder an den bayerischen Kultusminister, 21.8.1945, in StAN, Registratur 1880. Dr. Meinzolt an Solleder, 1.10.1945, in StAN, Registratur 1880.
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dafür sei die Auswertung der Verhandlungsprotokolle, die er selbst dann „in den Abendstunden“ durcharbeiten wolle.39 Bei seinem Bemühen um die Protokolle und Akten der Nürnberger Prozesse hatte er Konkurrenz aus verschiedenen Teilen der Welt, Solleder führte v.a. die Universität in New York an, aber auch den Staat Belgien, der für eine Verwahrung in Brüssel plädierte, sowie Genf als Sitz des Völkerbundes und des Roten Kreuzes. Solleder schrieb später: „Ich aber pochte wie Shylock auf meinen Schein und bestand mit Erfolg die wiederholten mehrstündigen Verhöre“. Außerdem blieb die Frage, ob der Bund, später das Bundesarchiv, diese Akten bekommen sollte, lange auf der Tagesordnung. Solleder lehnte das leidenschaftlich ab. „Ich brauche nicht zu betonen, dass nach dieser undeutschen, zentralistischen Auffassung mit dem gleichen Recht die Goldenen Bullen deutscher Kaiser und Könige oder aber unsere gesamtdeutschen Reichstagsakten von Bonn abgefordert werden könnten“, schrieb er 1953.40 Solleder argumentierte auch damit, dass das Staatsarchiv Nürnberg die Akten der Gerichte in Mittelfranken verwahre, der Nürnberger Prozess dürfe in dieser Reihe nicht fehlen. „Nicht selten gewann man angesichts der Verhandlungen den Eindruck einer Tagung von Geschichtsforschern, welche Ursache und Anlaß des 2. Weltkrieges ergründen. Auskünfte werden fortan von dem staatlichen Archiv verlangt, das am Orte der Verhandlung zuständig ist, dem Staatsarchiv Nürnberg“, schrieb er schon im Oktober 1946.41 Immer wieder betonte er, dass der Historiker andere Fragen Solleder an den bayerischen Kultusminister, 10.12.1945, in StAN, Registratur 1880. – Die Amerikaner sahen das anders, sie befürchteten, wenn man den Deutschen die mögliche Veröffentlichung der Protokolle und Beweismaterialien überlasse, werde ein „sub stanzieller Teil der amerikanischen Politik, die Übel des Nazi-Regimes offenzulegen“, zum „Scheitern verurteilt“ sein, man müsse „den zunehmenden Verleumdungen einiger um die Geschichte des ‚Dritten Reiches‘ […] und der Prozesse besonders bemühter Deutscher entgegenwirken“. Brief von Drexel Sprecher, Mitarbeiter des Office of Chief of Counsel for War Crimes, an Taylor, 11.10.1948 (Übersetzung der Verfasser), in Kim C. Priemel – Alexa Stiller, Wo „Nürnberg“ liegt. Zur historischen Verortung der Nürnberger Militärtribunale. In: Priemel – Stiller (wie Anm. 2) S. 9–63, hier S.14. 40 Solleder, Direktor der staatlichen Archive i.R., über den Generaldirektor an das bayerische Kultusministerium, 5.3.1953, in StAN, Registratur 1881; die Zitate S. 1 und 8 des Schreibens. Mit Shylock spielt er auf Shakespeares Drama „The Merchant of Venice“ an und den an Shylock gegebenen Schuldschein, den dieser bis zuletzt einforderte. 41 Solleder an Prof. Dr. Herbert Kraus beim Interalliierten Gerichtshof in Nürnberg, 18.10.1946, in StAN, Registratur 1882. – Kraus (1884–1965) war seit 1945 Professor an der Universität Göttingen, 1945/46 auch Verteidiger von Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht im IMT. 39
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stelle, als der Jurist. Sollten die Akten verloren gehen, würde sich das deutsche Volk niemals volle Rechenschaft ablegen können, was geschah. Es sei „Aufgabe der staatlichen Archive“, „für die Geschichtsforschung zu retten, was noch zu retten ist“, dazu zählte er bewusst auch Unterlagen im Besitz der Verteidiger.42 Gegenüber dem stellvertretenden Chefankläger Robert Kempner (1899–1993) argumentierte er 1948, angesichts kritischer Stimmen gegen die Prozessführung läge es auch im Interesse Amerikas, dass auch in Deutschland „die Dokumente über die Schuld der Angeklagten, die Akten über die Beweiserhebung und die Beweisstücke der Verteidiger in einem staatlichen Archiv zur Verfügung stehen“, denn es handle sich um „die einzigartigen Geschichtsquellen, welche über die Kriegführung und mehr noch über die Vorgänge im 3. Reich Aufschluß geben“. Nur so könne „die Gefahr gebannt werden, daß eine nationalistische Opposition mit alten Schlagworten neuen Schaden“ stifte.43 Der Generaldirektor bedankte sich 1949 beim Militärgericht, dass über Mommsen die Akten übernommen werden konnten, denn die Akten seien dazu geeignet, „dem Einfluß verfälschender Legenden entgegen zu wirken und dem deutschen Volke die Sachlichkeit der Prozeßführung vor Augen zu stellen“.44 Die Beweggründe der bayerischen Archivverwaltung waren also durchaus ambivalent und noch sehr vom Zeitgeist geprägt. Das Staatsarchiv Nürnberg erhielt im Herbst 1946 „durch Vermittlung des Völkerrechtlers Prof. Dr. Herbert Kraus … einen Lastwagen Originalakten und hektographierte Verhandlungsakten“45. Dies war der Auftakt für großangelegte Versuche, weiteres Aktenmaterial zu bekommen. Spätere Lieferungen erfolgten durch das US-Militärgericht in Nürnberg und zahlreiche an den Prozessen beteiligte Verteidiger. Solleders hartnäckige Bemühungen führten schließlich dazu, dass First Lieutenant Fred Niebergall, der Leiter der Abteilung für Dokumentenkontrolle in Nürnberg, und sein Stellvertreter Gass, die 1948 über das Schicksal der Akten Solleder/Mommsen an die Rechtsanwälte Marx, Fröschmann und Seidl, alles Verteidiger bei den Prozessen, 14.1.1948, in StAN, Registratur 1882. Das Schreiben ist zwar von Solleder unterschrieben, aber als Sachbearbeiter wird zu Beginn Mommsen genannt, d.h. dieser verfasste das Schreiben. 43 Solleder an Prof. Kempner, 31.5.1948, in StAN, Registratur 1882. Solleder verband sein Schreiben mit der Bitte um Überlassung von Zweitschriften „sämtlicher Anklageschriften und Beweismittel der Anklage“. 44 Generaldirektor an das Militärgericht, 17.5.1949, in StAN, Registratur 1882. 45 Solleder (Sachbearbeiter Mommsen) an den Generaldirektor, 18.6.1948, in StAN, Registratur 1877. 42
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zu befinden hatten, sich zur Abgabe an das Staatsarchiv Nürnberg bereit erklärten. Puchner, der Mommsen später bei der Arbeit an den KV-Akten unterstützte und nach Mommsens Abgang dessen Arbeit übernahm, schrieb in einem Aktenvermerk: „Der Chef erklärte sich bereit, alles zu übernehmen“. Solleder führte Niebergall und Gass an einem Samstag mehrere Stunden durch das Archiv. Erst, als sich diese in den Beständen überzeugt hatten, dass „die ältesten Justiz- und Polizeiakten bis ins 13. Jhdt. zurückgehen, daß die Achtbücher der Reichsstadt Nürnberg und des Burggrafengerichts, daß Urteile des Kais. Landgerichts ebenso vorhanden sind wie zivile Prozeßakten“, waren die beiden Direktoren bereit gewesen, „gemäß dem Willen des Generals Taylor die Nürnberger Prozeßakten an das Staatsarchiv abzugeben.“46 Auf Antrag von Niebergall und Gass beschloss das Tribunal Ende 1948, dass „das Staatsarchiv Nürnberg als das für den Gerichtssitz zuständige öffentliche Archiv die vollständige Reihe der englischen Dokumente und je einer deutsche Übersetzung der Kriegsverbrecherprozesse Nr. 1 mit 12 samt den englischen Analysen des Inhalts, einer Übersicht der Betreffe und erwähnten Personen erhält“, auch Gerichtsprotokolle und Dokumente des Hauptkriegsverbrecherprozesses.47 Solleder begründete gegenüber der Generaldirektion auf deren skeptische Reaktion hin, dass die Wahl Nürnbergs als Gerichtsort kein Zufall gewesen sei, denn Nürnberg sei „mit den Verbrechen und deren Sühne [in] gleicher Weise aufs engste verknüpft“, außerdem sei es ein „in allen zivilisierten Staaten“ geltender Grundsatz, dass das „territorial und regional für die Aufbewahrung“ zuständige Staatsarchiv diese Akten verwahren müsse.48
Aktenvermerk Puchners für Mommsen; Niebergall und Gass waren am 25.8.1948 bei Solleder. StAN, Registratur 1882. – Otto Puchner (1913–1981) war seit 1947 im Staatsarchiv Nürnberg tätig, 1950 wurde er Staatsarchivrat. Er führte Mommsens Arbeit nach dessen Weggang weiter. 47 Aktenvermerk vom 29.12.1948 in StAN, Registratur 1882. – Die Public Library in New York sollte auch einen vollständigen Satz erhalten, außerdem je eine Universität im Westen, Osten und der Mitte der USA, eine deutsche Universitätsbibliothek in jeder Besatzungszone (Göttingen, Bonn, Heidelberg und Berlin) je einen verkürzten Satz. 48 Solleder an den Generaldirektor, 15.12.1949, in StAN, Registratur 1877; die Zitate „Verbrechen …“ und „territorial …“ sind im Original unterstrichen. 46
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3 . Mo m m s e n u n d d i e Ü b e r n a h m e d e r A k t e n d e r Nü r n b e r g e r K r i e g s v e r b re c h e r p r o z e s s e Im Sommer 1948 versuchte Mommsen, beim Internationalen Militärgericht seine Vorstellungen über die Übernahme der KV-Akten zu erläutern. Robert Kempner empfing ihn, verwies ihn aber an das Büro von General Taylor, Hauptankläger in den Nachfolgeprozessen, und dann Herrn Benjamin Ferencz (geb. 1920), letzterer empfing ihn nicht einmal. Mommsen befürchtete, dass „für uns nichts abfallen wird“, da viele Stellen, auch des Auslandes, Interesse an den Akten hätten. Seine Behandlung sei zwar äußerlich korrekt gewesen, in der Sache aber „unliebenswürdig“. Er erhielt eine Liste der Anwälte (Verteidiger) mit Adressen, mehr zuerst nicht. Mommsen regte an, dass der bayerische Kultusminister oder der Ministerpräsident sich an das Militärgericht wenden und dabei zum Ausdruck bringen sollte, dass „in erster Linie das deutsche Volk ein Recht darauf hätte vor allen anderen staatlichen und privaten Organisationen des Auslandes in Besitz eines vollständigen Exemplars aller Kriegsverbrecherprozesse zu kommen“.49 Kempner nennt Mommsen in seinen Memoiren einen „würdige[n] Herr[n]“. Er sah alles sehr locker, das weitere Schicksal der Akten nach den Prozessen interessierte ihn nicht besonders. Er schreibt, Mommsen meinte, dass vieles untergehen werde, wenn man es nicht sicherstellte. „‚Okay‘, sagten wir, ‚solange es keine Nazistelle ist.‘“ Über den Fortgang wusste er zu berichten: „Dieser Herr Mommsen kam wenige Tage später mit drei anderen Herren, die riesige Kästen auf dem Rücken trugen von der Art, mit denen man früher in Berlin die Briketts die Treppen raufgetragen hat. In diese Brikettkästen wurden Akten, Protokolle, Kopien von Anklageschriften und Verteidigungsschriftsätzen gepackt, die sonst dem Untergang geweiht gewesen wären.“50 Ende 1949 konstatierte Solleder, dass „bis zur Stunde immer wieder Kriegsverbrecherakten“ anrollten, so dass Mommsen „für die normale Archivarbeit“ völlig ausfalle, im Gegenteil, man bräuchte noch eine weitere Arbeitskraft für deren Bearbeitung.51 Die Generaldirektion wollte aber nicht akzeptieren, dass Mommsen nahezu ausschließlich für die NürnAktenvermerk Mommsens vom 20.7.1948 in StAN, Registratur 1882. Robert M. W. Kempner, Ankläger einer Epoche. Lebenserinnerungen, Frankfurt a.M. u.a. 1983, Zitat S. 406. Zum erschreckenden Umgang mit deutschen Akten ebd. S. 405. 51 Bericht des Staatsarchivs Nürnberg an den Generaldirektor, 8.12.1949, in StAN, Registratur 1877. 49 50
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berger Prozessakten tätig war. Generaldirektor Winkler verbot, dass neben Arbeiten, „die der Substanzerhaltung dienen“, an den Nürnberger Prozessakten gearbeitet werde, denn man wisse nicht, ob diese Akten dauerhaft beim bayerischen Staat verblieben.52 Solleder stufte Mommsen „trotz aller Loyalität gegenüber dem bayerischen Staat“ im Falle der Verwahrung der Nürnberger Prozessakten als „Verfechter zentralistischer Auffassungen“ ein, deshalb wollte er eine zweite Reihe der Akten später an den Bund abtreten. Mommsen hatte sich anfangs als „Nebenbeschäftigung“ um die KV-Akten gekümmert, seit Ende 1948 aber ausschließlich. Er arbeitete „die von ihren Beamten und Angestellten bis auf einige Mittelspersonen geräumten Räume und Registraturen des Militärgerichts“ durch, er sichtete die Akten und verpackte sie mit Hilfe eines Mitarbeiters des Staatsarchivs Nürnberg „in Kisten und Pakete“. Mommsen brachte Ordnung in ein archivisches Chaos, aber Ende 1949 war noch viel zu tun. Solleder schilderte auch die Bedeutung Mommsens für die Benutzung dieser schwierigen Bestände, die für Verwaltung, Rechtsprechung, Geschichtsforschung und Völkerrecht so bedeutsam seien, wobei insbesondere Anwälte diese Akten benutzten, die sich um die Wiederaufnahme von Verfahren bemühten oder ihre Mandanten vor Spruchkammern und ordentlichen Gerichten – hier bei vermögensrechtlichen und Strafverfahren – vertraten.53 Auch staatliche Behörden und Gerichte nutzten diese Akten. „Der Generalkläger beim Kassationshof im bayerischen Staatsministerium für Sonderaufgaben nimmt die Hilfe Dr. Mommsens laufend in Ausmaßen in Anspruch, wie die dienstlich gerade noch tragbar sind“, klagte Solleder. Schon Ende 1949 rühmte er Mommsens „unermüdliche Arbeitskraft“, dessen „Hingabe und Organisationstalent“. Der erwartete Abgang Mommsens an das Bundesarchiv bedeute „eine Verarmung an Qualität und Begabung“, aber der Freistaat Bayern biete diesem „hochbegabten Manne nicht die glänzenden Zukunftsaussichten“ wie der Bund.54 Ende 1949 wurden die restlichen amerikanischen Stellen, die mit den Nürnberger Prozessen zu tun hatten, aufgelöst, zuletzt die Special Projects Division. Seit November 1947 arbeitete die deutsche Überleitungsstelle, Generaldirektion an das Staatsarchiv Nürnberg, 12.12.1949, in StAN, Registratur 1877. Zu den Anwälten in den Nürnberger Prozessen siehe Hubert Seliger, Politische Anwälte? Die Verteidiger der Nürnberger Prozesse (Historische Grundlagen der Moderne. Historische Demokratieforschung 13), Baden-Baden 2016. 54 Solleder an den Generaldirektor, 15.12.1949, in StAN, Registratur 1877. 52 53
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die von Staatsanwalt Hans Sachs geleitet wurde, mit dieser zusammen. Unterstützt von einigen Mitarbeitern und Mommsen sortierte und sichtete Sachs die Unterlagen, die nach Meinung der Amerikaner noch für viele Prozesse verwendet werden könnten. In einem Artikel der Abendzeitung wurde beschrieben, wie „ausgeliehene“ Häftlinge die Aktenbündel, und zwar „viele Zentner“, verluden.55 Die Akten, die nicht für die Staatsanwaltschaften benötigt wurden, kamen ins Staatsarchiv Nürnberg. Die Nordbayerische Zeitung berichtete, dass Mommsen in „unermüdlicher Kleinarbeit … in den Amtsräumen der amerikanischen Richter, Ankläger und Verteidiger das historisch bedeutsame Quellenmaterial zusammengetragen, geordnet und gesichtet“ habe. Die Zeitung gab im September 1949 bereits einen Umfang von 1,4 laufenden Kilometern an.56 Ein Teil der Überlieferung wurde später kassiert, v.a. Mehrfachstücke, bzw. an andere Institutionen abgegeben, so dass heute nur noch ca. 394 laufende Meter Akten im Staatsarchiv Nürnberg vorhanden sind. Der Gesamtumfang der Akten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, kurz KV, im Staatsarchiv Nürnberg beträgt 1970 Stülpdeckelkartons. Die erste wichtige Gruppe sind die Unterlagen der einzelnen Prozesse im Umfang von 795 Kartons (d.h. 159 lfdm): der Hauptkriegsverbrecherprozess umfasst 101 Kartons, die 12 weiteren Nachkriegsprozesse 629 Kartons. Die einzelnen Prozesse sind unterschiedlich gut überliefert, am wenigsten Unterlagen liegen vor aus dem Fall 2 mit 12 Stülpdeckelkartons, die meisten von Fall 11 mit 185 Kartons. Weitere Bestandsgruppen sind die Anklagedokumente, von denen teils Fotokopien (312 Kartons), teils SEA („staff evidence analysis“, d.h. englischsprachige Zusammenfassungen; 69 Kartons), Umdrucke auf deutsch (167 Kartons) und englisch (177 Kartons) vorhanden sind. Die Anklagedokumente umfassen insgesamt 725 Kartons (145 lfdm). Wichtig sind außerdem die „Interrogations“, also Aussagen, Verhöre und eidesstattliche Erklärungen außerhalb der Prozesse (63 Kartons, dazu 21 Kartons Summaries, zusammen 16,8 lfdm), Aussagen der Verteidigung (95 Kartons, 19 lfdm) und Handakten verschiedener Verteidiger (113 Kartons, 22,6 lfdm). Die restlichen 151 Kartons (30,2 lfdm)
Artikel „Liquidation in Nürnberg“ der „Abendzeitung“ vom 12.12.1949 in StAN, Registratur 1877. 56 Artikel „In den Regalen des Nürnberg Staatsarchivs“ in der „Nordbayerischen Zeitung“, 16.9.19[49] (der Teil mit der vollständigen Datumsangabe ist abgerissen), in StAN, Registratur 1877. 55
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verteilen sich auf verschiedene Unterbestände, z.B. Generalia, Organisation oder Zeitungsausschnitte. Im Januar 1950 gab Solleder dem Generaldirektor einen Überblick über die Abgaben von Akten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, nachdem die letzten Akten Ende Dezember 1949 übernommen worden waren. Zu einem wesentlichen Teil handelte es sich dabei um hektographiertes Schriftgut in einer Auflage von jeweils 200 bis 300 Stück. Auf Vermittlung des Göttinger Völkerrechtlers Prof. Herbert Kraus hatten – wie erwähnt – aber auch originale eidesstattliche Erklärungen, die „ersten, herrenlos zurückgebliebenen Anwaltsakten, Verhandlungsprotokolle, Zeugenverhöre (…), Dokumenten-Abschriften (…)“, übernommen werden können. Sie waren im Auftrag Solleders von Dr. Walter Scherzer „vom Stampfgut“ gereinigt worden. Nachdem Mommsen im Herbst 1947 eingestellt worden war, wurde er mit der „systematischen Ordnung der Akten“ beauftragt. Es stellte sich zunehmend heraus, dass die Akten unvollständig waren und andererseits zahlreiche Dubletten enthielten. Da Solleder und Mommsen nach Vollständigkeit strebten, schrieben sie ihnen bekannte Nürnberger Rechtsanwälte an, doch nur Dr. Fröschmann, ein Hilfsverteidiger von Ribbentrops, gab Unterlagen ab.57 Die anderen Anwälte blockten teilweise ab, viele von ihnen „wollten den Zweck der von uns in Angriff genommenen Sammelarbeit nicht einsehen“, andere hatten aus Platzmangel ihre Akten bereits „zum Stampf gegeben“. Doch Mommsen blieb hartnäckig in Gesprächen und Besuchen, es gelang ihm, weitere Akten von den Anwälten zu übernehmen. Seit Sommer 1948 wurden alle Anwälte systematisch kontaktiert „und schließlich war Dr. Mommsen bei der Verteidigung so bekannt, daß die meisten Anwälte von sich aus im Staatsarchiv anriefen, wenn sie Akten abzugeben wünschten.“ Da kein Anwalt alle seine Akten zum jeweiligen Nachfolgeprozess hergeben wollte, bemühte man sich, für jeden Prozess mindestens zwei Verteidiger für die Abgabe zu gewinnen. „Die Sammelarbeit des Staatsarchivs hatte zur Folge, daß bei den Anwälten das Bewußtsein des Wertes der von ihnen verwahrten Akten wuchs. Sinnlose Aktenvernichtungen durch Anwälte sind seit Sommer 1948 kaum noch vorgekommen.“ Wenn in einigen Fällen die Anwälte daran Dr. Georg Fröschmann (1882–1959), NSDAP-Parteimitglied seit 1937, war seit 1906 Anwalt in Nürnberg, verteidigte zahlreiche in den Dachauer Prozessen verurteilte SS-Leute, war Initiator einer „Allgemeinen Aktion“ gegen die Dachauer- und Nürnberger Prozesse und Mitglied der „Stillen Hilfe“, außerdem Hilfsverteidiger von Ribbentrops im IMT, dann Verteidiger in den Fällen 1, 2, 8 und 11. Siehe Seliger (wie Anm. 53) S. 539 f. 57
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kein Interesse hatten, „so waren die Arbeiten Dr. Mommsens auf dem Militärgericht so bekannt, daß die Sekretärinnen ihn auf diesen Sachverhalt aufmerksam machten. Solche Akten konnten alsdann zu Eigentum übernommen werden.“58 Viele Anwälte waren allerdings nicht bereit, sich vollständig von ihren Akten zu trennen, sondern übergaben sie als Depot. Dabei kam Mommsen den Anwälten weiter entgegen, als es Solleder für richtig hielt. Immerhin konnte er erreichen, dass Dubletten der abgegebenen Akten in das Eigentum des Staatsarchivs übergingen. Wenn die Anwälte damit einverstanden waren, dass die Akten im Staatsarchiv der wissenschaftlichen Benutzung zugänglich gemacht werden, ging Mommsen auf die Wünsche der Verteidiger ein. Viele Anwälte hatten lange Bedenken, „ihren Handapparat abzugeben“, deshalb wurden die „Motions und anderen Schriftwechsel, soweit er nicht hektographiert worden ist“, nicht übernommen.59 Das Staatsarchiv erhielt Akten von 23 Anwälten, nur zwei kündigten ihr Depot später teilweise wieder auf. Der Großteil der Akten wurde durch einen Archivmitarbeiter60 „mittelst Handwagen“ vom Gericht ins Archiv verbracht. Ein großer Teil der Anklagedokumente kam mit Unterstützung der Herren Niebergall und Gass ins Staatsarchiv Nürnberg. Welche Einzelstücke fehlten, konnte man nicht sagen, denn es gab damals beim Militärgericht „noch keine Aktenverzeichnisse“. Da Mommsen erkannte, dass in den „immer noch überfüllten Vorratskammern der Document Division und anderer Dienststellen des Militärgerichts noch vollständige oder fast vollständige Sätze der Prozeßakten vorhanden sein mußten“, bemühte er sich um den Zutritt dazu. Im April/ Mai 1949 konnte er mit Hilfe eines Archivreferendars (gemeint ist Walter Scherzer), diese durchsehen. „Dabei fanden sich umfangreiche Bestände Ausführlicher Bericht Solleders (Sachbearbeiter Mommsen) an den Generaldirektor, 10.1.1950, in StAN, 1880. – Walter Scherzer arbeitete von August 1947 bis Oktober 1948 als Archivreferendar in Nürnberg. Später wurde er Amtsleiter der Staatsarchive Bamberg bzw. Würzburg. 59 Solleder (Sachbearbeiter Mommsen) an Prof. Rheindorf, 23.1.1950, in StAN, Registratur 1880. In StAN, Registratur 1882, finden sich zahlreiche Schreiben über Gespräche Mommsens mit Verteidigern 1948, v.a. über persönliche Vorsprachen, Telefonate und Schreiben. 60 Dabei handelte es sich um Ludwig Firmthaler, geb. 1892, der seit dem 2.5.1947 als Hilfsarbeiter im Staatsarchiv Nürnberg beschäftigt war. Solleder beschreibt ihn als wenig gebildet und wegen einer Kriegsbeschädigung nicht für körperliche Arbeit geeignet. Er wurde 1953 entlassen, da er die Arbeit körperlich nicht mehr erledigen konnte. StAN, Registratur 2316. 58
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an Schriftsätzen und Dokumentenbüchern der Verteidigung, die nach Major Niebergalls Angaben angeblich nicht vorhanden waren.“ Auf diese Weise kamen „recht vollständige Sätze der 12 „Fälle“ in deutscher und englischer Sprache ins Archiv“. In einer „entlegenen Kammer Niebergalls“ wurde z.B. auch ein Bestand „der originalen eidesstattlichen Erklärungen über den Charakter der „verbrecherischen“ Organisationen“ gefunden und dann gesichtet. Jetzt bekam man auch Hilfe durch die Amerikaner, die LKWs zur Verfügung stellten. Mommsen suchte Kontakt zu allen amerikanischen Stellen. „Alle diese Dienststellen verwahrten mehr oder minder systematisch gesammelte Akten von teilweise erheblichem Umfang: Verhandlungsakten der verschiedenen Fälle, Beweismaterialien und andere Akten der Anklage, vereinzelt auch deutsche Originalakten, die irgendwie liegen geblieben waren. All diesem Schriftgut wandte Mommsen sein Interesse zu und bemühte sich, jeden während der schrittweisen Auflösung des Militärgerichts freiwerdenden Raum auf zurückgebliebene Schriftgutbestände zu überprüfen.“ Mommsen wurde dort schnell bekannt, so bekam er Zutritt zu vielen Räumen. „Das gesamte, mehrere übervolle Räume füllende Schriftgut, das in einigen Fällen durch Lagerung auf dem Boden in großen Blöcken erheblich durcheinander geraten war, wurde gesichtet, vorgeordnet und summarisch verzeichnet, wobei wertlose Bestände ausgesondert wurden. Dr. Mommsen mußte daher den Sommer und Herbst hindurch periodenweise wochenlang im Gerichtsgebäude arbeiten.“ Zahlreiche Bestände wurden übernommen, auch „ein größerer Bestand von Reichs- und deutschen Industrieakten“. Insgesamt sprach Solleder von 1500 lfdm Militärgerichtsakten. Solleder bedauerte, dass die Amerikaner mit Sicherheit viele deutsche Originalakten vernichteten, „die laut Mitteilung des hiesigen Oberlandesgerichtspräsidenten vom 2.9.1949 Anfang Juli 1947 ja auch Akten dieser Behörde im sogenannten Fuchsloch in Nürnberg verbrannten.“ Mommsen versuchte, die im Gerichtsgebäude herumliegenden Originalakten systematisch zu erfassen. „Auch haben wir einen Antrag auf Abgabe solcher Akten an das Archiv gestellt. Geschehen ist daraufhin wenig oder nichts und die Akten, die das Staatsarchiv übernehmen konnte, sind nur der Tatsache zu verdanken, daß Mommsen, wenn er solche irgendwo feststellte, die amerikanischen Herren an Ort und Stelle führte und um Abgabe an das Staatsarchiv bat. Dieser Bitte wurde fast immer stattgegeben.“ Diese deutschen Original-Akten waren aber nicht geordnet, z.B. bei Akten des Reichsluftfahrtministeriums handelte es sich um in Unordnung
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geratene Fragmente, auch viele Unterlagen aus Industrieakten waren dabei. Solleder schätzte den Umfang der gesicherten deutschen Originalakten auf rund 50 lfdm. Die Akten wurden, um sie auch für die abgebenden Anwälte benutzbar zu machen, in Paketen, Kartons oder Kisten mit Abgabe- und laufender Nummer formiert, der Inhalt summarisch erfasst. Im Januar 1950 schätzte Solleder, dass Mommsen und möglichst zwei Hilfskräfte etwa noch zwei Jahre für die Ordnung der Nürnberger Kriegsverbrecherakten brauchen würden.61 In einem ähnlichen Schreiben einige Wochen zuvor hatte Solleder darüber berichtet, wie unvollständig die übernommenen Akten und Schriftstücke waren, da man abhängig davon war, was die amerikanische Seite abzugeben bereit war. Lücken waren deshalb unvermeidlich. Bezüglich der Anklagebehörde übernommen wurden „solche Materialien, die von den Amerikanern zur Makulatur bestimmt waren, von Dr. Mommsen, der nach Möglichkeit alle frei werdenden Räume der Anklage durchprüfte, jedoch des Aufhebens für wert befunden wurden“. Neben den Anklagedokumenten wurden auch die Interrogations übernommen, im Dezember 1949 schätzte Mommsen die Übernahmequote dafür von einer Hälfte bis zwei Drittel.62 Anklageschriftstücke und Protokolle der Verteidiger wurden den einzelnen Serien zugeordnet und diese damit vervollständigt. „Klassische“ Nachlässe von Verteidigern sind meist nur bruchstückhaft im Staatsarchiv Nürnberg vorhanden, vor allem von Fröschmann. Eine Zeitung schrieb Anfang 1952, das Material der Nürnberger Prozesse wiege 2.000 Zentner.63 In einem anderen Zeitungsartikel aus dem August 1949 heißt es, die Akten der Nürnberger Prozesse würden für den Versand nach Washington verpackt, sie hätten ein Gesamtgewicht von Bericht Solleders (Sachbearbeiter Mommsen) an den Generaldirektor, 10.1.1950, in StAN, 1880. Die Unterstreichung findet sich so im Original. – Staatsanwalt Sachs (1912– 1993, neben seiner Tätigkeit als Jurist bekannt als Mitglied des Rateteams in der Fernsehreihe „Was bin ich?“) sollte Material für die Aburteilung von Straftätern, die das Militärgericht nicht mehr vornehmen konnte, an deutsche Gerichte übergeben. Sachs gab dann an Mommsen auch deutsche Akten ab, z.B. Akten des Reichsfinanzministeriums oder der deutschen Waffenstillstandsdelegation für Wirtschaft in Paris; solche Akten wurden später an das Bundesarchiv weitergegeben. Vgl. Aktenvermerk Mommsens, undat. (Ende 1949), in StAN, Registratur 1882. Akten von Industriebetrieben wurden vom Staatsarchiv Nürnberg an diese weitergegeben. 62 Solleder (Sachbearbeiter Mommsen) an Prof. Dr. K. Rheindorf, Heddessen über Detmold, 14.12.1949, in StAN, Registratur 1880. 63 Zeitungsausschnitt „2000 Zentner Nürnberger Prozeß“, 1.2.1952; leider war die Zeitung nicht zu ermitteln. StAN, Registatur 1880. 61
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2700 Tonnen, man benötige einen eigenen Frachtdampfer.64 Das Staatsarchiv Nürnberg gab große Mengen an Vielfachstücken der hektographierten Dokumente an das Bundesarchiv und weitere Archive und Institutionen, teilweise wurden sie dorthin verkauft. Viele Mehrfachstücke wurden kassiert, so dass der Umfang der übernommenen Akten durch Kassationen und Abgaben erheblich sank. Heute besitzt das Staatsarchiv Nürnberg die umfangreichste Überlieferung an Akten zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen in Deutschland, das Institut für Zeitgeschichte in München verfügt v.a. über Mikrofilme. Das Bundesarchiv in Berlin entschied sich 2019 dafür, die beiden Bestände ALLPROZ 1 bzw. 2, d.h. Nürnberger Prozesse Anklageakten der Einzelprozesse und Verhandlungsakten der Einzelprozesse, zu kassieren, da es sich im Vergleich zur Überlieferung in Nürnberg nur um Teilüberlieferungen handelt und die sog. Originale in Den Haag bzw. Washington verwahrt werden. Die Akten der Nürnberger Prozesse wurden verzeichnet, so schnell dies bei der Masse und der Unordnung möglich war, da die Akten nicht zuletzt aus rechtlichen Gründen schnell gefragt waren. Ein Verzeichnis wissenschaftlicher Benutzungen der Akten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse bis zum 25. Januar 1950 führt 14 Forschungen, teils auch von ausländischen Benutzern, an.65 Die Vorlage der Akten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse wurde in den 1950er Jahren auf Anordnung des bayerischen Kultusministeriums deutlich eingeschränkt66, was Mommsen noch 1978 bedauerte. Aber auch Mommsen selbst legte die sog. Interrogations im Staatsarchiv nicht vor. Noch 1978 sah er „schwierige persönlichkeitsrechtliche Fragen“, die von Juristen entschieden werden müssten.67 Das Staatsarchiv Nürnberg legte damals die Interrogations zwar vor, doch ließ man besonders bei „politischen“ Benutzern noch „äußerste Vorsicht“ gelten.68 Inzwischen sind die Interrogations selbstverständlich für die Benutzung frei, wovon rege Gebrauch gemacht wird. Mommsen engagierte sich auch sehr für die Erschließung der Akten, die von seinen Nachfolgern weitergeführt wurde. Wichtig war auch die Artikel „Ein Frachtdampfer voll Nürnberger Militärgerichtsakten“, erschienen im „Neuen Kurier“, 6.8.1949; StAN, Registratur 1877. 65 Verzeichnis wissenschaftlicher Benutzungen bis 25.1.1950 in StAN, Registratur 1877. 66 Vgl. BayHStA, MK 66803 und 66804. 67 Mommsen an das Staatsarchiv Nürnberg, 8.8.1978, in StAN, Registratur 1880. 68 Dr. Schuhmann, Amtsvorstand des Staatsarchivs Nürnberg, an Mommsen, 18.8.1978, unter Bezugnahme auf die Sachbearbeiterin Bauerschäfer. StAN, Registratur 1880. 64
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Mithilfe des Instituts für Zeitgeschichte zur Erschließung der einzelnen Dokumentenreihen. Mommsens Leistung beim Erwerb und der Erschließung der Nürnberger Prozessakten ist nicht überzubewerten. Hans Booms schrieb in seinem Nachruf, Mommsen habe ein Jahrzehnt vor der Rückgabe der von den Alliierten beschlagnahmten deutschen Akten „eine erste Quellenbasis für die Erforschung der Geschichte der NS-Zeit“ gelegt.69 Der ansonsten der Familie Mommsen sehr kritisch gegenüberstehende Peter Köpf nennt es „eine archivarische Großtat“, dass Wolfgang A. Mommsen die Unterlagen der Nürnberger Prozesse für Deutschland rettete.70 Denn schon im Januar 1948 stellte die damalige „Chefarchivarin der amerikanischen Anklagebehörde“, Barbara Skinner-Mandellaub, fest, der Welt würde „etwas verlorengehen, wenn die Geschichte dieser Prozesse ungeschrieben“ bliebe oder – aus heutiger Sicht – ungeschrieben geblieben wäre.71 Im Endergebnis werden Unterlagen zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, bei denen es sich in der Regel um Kopien handelt, in verschiedenen Archiven und Universitäten verwahrt, z.B. im Institut für Völkerrecht und Europarecht der Universität Göttingen oder dem Institut für Zeitgeschichte in München. Die Unterlagen des Hauptkriegsverbrecherprozesses (IMT) findet man im Original beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Die Akten aller Prozesse, auch der Nachfolgeprozesse, werden in den National Archives in Washington verwahrt. Ob und inwieweit die Akten jeweils vollzählig sind, kann nicht gesagt werden. Im Staatsarchiv Nürnberg wird aber auf jeden Fall die umfangreichste Überlieferung dieser Akten in Europa verwahrt, was nicht zuletzt den Herren Solleder und Mommsen zu verdanken ist. Die Protokolle und ein Teil der Anklagedokumente wurden bereits zwischen 1947 und 1949 in deutscher Sprache veröffentlicht.72 Diese Edition kann man auch auf der Internet-Seite der Universität Marburg einsehen.73 Weitere Editionen gibt es in englischer, französischer und russischer Sprache. Unterlagen der 12 Nachfolgeprozesse sind dagegen nur vereinzelt verBooms (wie Anm. 3) Sp. 663. Köpf (wie Anm. 1) S. 14. 71 Skinner-Mandellaub an John E. Ray, 6.1.1948, Übersetzung der Verfasser, zitiert bei Priemel – Stiller (wie Anm. 39) S. 13. 72 Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg. 14. November 1945–1. Oktober 1946. 42 Bände. Nürnberg 1947–1949. 73 www.uni-marburg.de/de/icwc/dokumentation/dokumente/protokolle-nuernberg, zuletzt eingesehen am 10.3.2022. Die 42 Bände enthalten auch zahlreiche Anklagedokumente. 69 70
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öffentlicht worden. An erster Stelle ist der Ärzteprozess zu nennen, von dem es eine Ausgabe auf Mikrofiches gibt.74 Außerdem wurden noch zu DDR-Zeiten in Ost-Berlin Unterlagen einiger Nachfolgeprozesse veröffentlicht.75 In den USA werden derzeit Protokolle und Unterlagen, v.a. der Anklage, im Rahmen einer „open-access“ Initiative digitalisiert. Bislang konnte der Großteil der Unterlagen der Fälle 1, 2, 3, 4 und 7 im Internet veröffentlicht werden.76 Das Institut für Zeitgeschichte hat seinen Bestand „Zeugenschrifttum“ digitalisiert; die dort veröffentlichten Verhöre und eidesstattlichen Aussagen decken sich teilweise mit dem Bestand „Interrogations“ im Staatsarchiv Nürnberg.77 Initiativen zur Digitalisierung der Unterlagen der Nürnberger Prozesse im Staatsarchiv Nürnberg wurden seit Jahren angedacht. Der Strafrechtsprofessor Christoph Safferling, Marburg, verfolgt den Gedanken, mittels eines DFG-Projekts die kompletten Bestände zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen im Staatsarchiv Nürnberg digitalisieren lassen. Das Ergebnis ist noch offen.
74 Klaus Dörner – Angelika Ebbinghaus – Karsten Linne (Hrsg.), Der Nürnberger Ärzteprozess 1946/47. Wortprotokolle, Anklage- und Verteidigungsmaterial. Quellen zum Umfeld. Mikrofiche-Edition, München 1999. 75 Eine Liste der einschlägigen Veröffentlichungen aus der DDR finden sich bei Priemel – Stiller (wie Anm. 2) S. 851. 76 https://nuremberg.law.harvard.edu, zuletzt eingesehen am 10.3.2022. 77 www.archiv.ifz-muenchen.de/liste_start.FAU?sid=5FE32F9D1&dm=1&listex=Best%E4nd egliederung, zuletzt eingesehen am 10.3.2022.
Der Neubau des Landeskirchlichen Archivs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Eine Bilanz der ersten Jahre Von Andrea Schwarz Vo r g e s c h i c h t e Am 29. August 1930 beschloss die Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern rechts des Rheins die Errichtung eines Landeskirchlichen Archivs in Nürnberg1. Als Sitz wurde ein kircheneigenes Wohnhaus in der Tuchergartenstraße im Stadtteil Gärten hinter der Veste bestimmt und umgebaut. Am 1. Juni 1931 nahm das Archiv dort seine Arbeit auf2. 1953 wurde der Architekt und frühere Nürnberger Stadtbaurat Wilhelm Schlegtendal3 mit der Errichtung eines Archivneubaus auf dem Grundstück des Nürnberger Evangelisch-Lutherischen Predigerseminars in der Veilhofstraße im Stadtviertel Wöhrd beauftragt. 1955 konnte das neue ArLandeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (künftig: LAELKB), Landessynode 0.2.0007 – 1992, Verhandlungen der Landessynode der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern r.d.Rhs. Synodalperiode 1930–1936. Erste ordentliche Tagung in Ansbach. 14. August bis 2. September 1930, S. 790. – Vgl. auch Andrea Schwarz, Die Entstehung des Landeskirchlichen Archivs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und seine weitere Entwicklung. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 76 (2007) S. 22–36, hier S. 26. – Dies., 75 Jahre Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. In: Der Archivar. Mitteilungsblatt für deutsches Archivwesen 60 (2007), Heft 4, S. 339–341, hier S. 339 f. 2 Verhandlungen der Landessynode (wie Anm. 1): „Wenn das Archiv außerhalb Frankens geschaffen würde, so würden gewiß an den verschiedensten Stellen starke Widersprüche sich dagegen erheben. Das Haus in der Tuchergartenstraße sei wohl ursprünglich nur als Privathaus gebaut, aber es ließe sich doch ohne Schwierigkeit so umbauen, daß es für Archivzwecke hinsichtlich der Sicherheit der gesammelten Archivalien und deren Benützung wohl genügen könne“. – Schwarz, Entstehung (wie Anm. 1) S. 26. – Dies., 75 Jahre (wie Anm. 1) S. 340. 3 Vgl. Schlegtendal, Wilhelm. In: Manfred H. Grieb (Hrsg.), Nürnberger Künstlerlexikon. Bildende Künstler, Kunsthandwerker, Gelehrte, Sammler, Kulturschaffende und Mäzene vom 12. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, Band 3, München 2007, S. 1333 f. – Alexander Schmidt, Schlegtendal, Wilhelm, Dipl.Ing. In: Michael Diefenbacher – Rudolf Endres (Hrsg.), Stadtlexikon Nürnberg, Nürnberg 1999, S. 936. 1
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chivgebäude bezogen werden, dessen Magazine auf vier Stockwerken ein Fassungsvermögen von ca. 5 Regalkilometern hatten4. Allerdings wandte sich schon 15 Jahre später, im Jahr 1970, der damalige Archivleiter Dr. Karlheinrich Dumrath wegen einer gewünschten Erweiterungs-Baumaßnahme zur Behebung der mittlerweile bestehenden Raumnot an den Landeskirchenrat. Der Raummangel sollte sich in den folgenden Jahrzehnten noch verschärfen, ohne dass es zu einem Anbau oder Neubau kam. Man behalf sich stattdessen mit der Anmietung mehrerer Hallen in Nürnberg sowie der Auslagerung der knapp 8000 damals im Archiv befindlichen Kirchenbücher nach Regensburg ins Protestantische Alumneum – dort wurde als Außenstelle ein „Kirchenbucharchiv“ mit einem eigenen Lesesaal eingerichtet, das von einem Archivar des gehobenen Dienstes und einer Hilfskraft betreut wurde5. Vor der Realisierung des heute bestehenden Neubaus gab es drei Anläufe, um der Überfüllung in den Archivmagazinen abzuhelfen: 1977 wurde ein Ergänzungsneubau im Garten des Schlegtendal-Gebäudes geplant, 1989 sollte auf dem Gelände einer ehemaligen Brauerei in Fürth gebaut werden, 1999 wurde ein neues Archiv am heutigen Standort geplant, nur ca. 150 m vom damaligen Archiv entfernt. Alle diese Bemühungen verliefen jedoch aus unterschiedlichen Gründen im Sand.6 D e r Ne u b a u 7 Geschichte des Bauprojektes Im November 2006 reservierte die Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (künftig: ELKB) 19 Millionen Euro für einen Schwarz, Entstehung (wie Anm. 1) S. 31. Ebd. S. 35. – Dies., Freude aufs neue Haus. Die Planungen für den Neubau des Landeskirchlichen Archivs machen große Fortschritte. In: Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 3 (2011) S. 73 f., hier S. 73. – Das Regensburger Kirchenbucharchiv existierte von 1984 bis 2007. Vgl. Dies., Auflösung der Regensburger Außenstelle (Kirchenbucharchiv) und Einrichtung eines Kirchenbuchlesesaals in Nürnberg. In: Archive in Bayern 4 (2008) S. 457 f. 6 Dies., Entstehung (wie Anm. 1) S. 34 f. – Dies., Freude (wie Anm. 5) S. 73. 7 Vgl. Andrea Schwarz – Daniel Schönwald, Der Neubau des Landeskirchlichen Archivs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (LAELKB) (Faltblatt: LAELKB, 2014). – Andrea Schwarz, Mit Lesesaal und Kuschelbibliothek. Das Landeskirchliche Archiv in neuen Räumen. In: Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 10 (2013) S. 305–307, hier S. 305 f. 4 5
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Archivneubau. Der Freistaat Bayern förderte das Projekt mit 1,25 Millionen Euro aus Mitteln des Kulturfonds Bayern8. Ab Mai 2007 begleitete eine „Arbeitsgruppe Archivneubau“ das Projekt9. Als Standort für den Neubau bestimmte die ELKB nach mehrjährigen Überlegungen und einer professionellen Standort-Evaluierung im Sommer 2009 das kircheneigene Grundstück in der Veilhofstraße 8, in unmittelbarer Nähe des vorherigen Standorts im Nürnberger Stadtteil Wöhrd10. Im Dezember 2009 wurde ein begrenzt offener Realisierungswettbewerb ausgeschrieben. Gewinner war der Architekt Nikolaus Goetze, Partner im international tätigen Hamburger Büro Architekten von Gerkan, Marg und Partner (gmp)11. Die Projektsteuerung übernahm die Münchner Firma Drees & Sommer Projektmanagement und bautechnische Beratung. Baubeginn war im August 2011. Am 16. September legte der damalige Landesbischof Dr. Johannes Friedrich den Grundstein12. Nach elfmonatiger Bauzeit konnte am 12. Juli 2012 nach dem Abschluss der Rohbauarbeiten Richtfest gefeiert werden13. Nach der fast termingerechten Beendigung des Innenausbaus begann der Umzug vom bisherigen Standort in den Neubau am 19. August 2013. Am 23. Oktober waren die 13 laufenden km Archivalien und gut 4 km Bücher in ihrem neuen Lagerort
Andrea Schwarz, Grundsteinlegung zum Neubau des Landeskirchlichen Archivs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (LAELKB). In: Archive in Bayern 7 (2012) S. 451 f., hier S. 451. 9 Mitglieder dieser Arbeitsgruppe, die das anfangs häufig stockende Bauprojekt entscheidend mit vorantrieb, waren neben den Architekten Dirk Heller und Karen Schroeder (gmp) und den Projektsteuerern Holger Seidel und Frank Pickel (Drees & Sommer) Oberkirchenrätin Dr. Karla Sichelschmidt, Oberkirchenrat Dr. Claus Meier, der Nürnberger Regionalbischof Dr. Stefan Ark Nitsche, der Archivreferent der ELKB Dr. Walther Rießbeck, der Liegenschaftsreferent der ELKB Dr. Hermann Ruttmann, der Baureferent des Landeskirchenamtes Harald Hein, der Bauingenieur Bernd Schwappacher, der die Bauaufsicht für die ELKB innehatte, der Landessynodale Dr. Rainer Gemählich, Dr. Andrea Schwarz, Werner Jürgensen M.iur.utr. und Peter Halicska, alle drei vom LAELKB, Dr. Martin Geiger, Altlandessynodaler und Altbürgermeister von Wasserburg a.Inn, und ab Januar 2009 auch die Generaldirektorin der Staatlichen Archive Dr. Margit Ksoll-Marcon. 10 Schwarz, Freude (wie Anm. 5) S. 73. – Dies., Landessynode stellt Finanzmittel für Archivneubau bereit. In: Archive in Bayern 4 (2008) S. 457. – Dies. (wie Anm. 8) S. 451 f. 11 Dies., Freude (wie Anm. 5) S. 73. – Dies. (wie Anm. 8) S. 452. 12 Dies. (wie Anm. 8) S. 451. 13 Dies., Richtfest beim Neubau des Landeskirchlichen Archivs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (LAELKB). In: Archive in Bayern 8 (2014) S. 259. 8
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angekommen14. Zwischendrin, am 20. September 2013, wurde das neue Archiv in einem Festakt mit vorhergehendem Gottesdienst, gestaltet von Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm und der Nürnberger Regionalbischöfin Elisabeth Hann von Weyhern, festlich eingeweiht15. Gebäude und Bestände16 Das Archiv besteht aus zwei vier- bzw. zweigeschossigen, gegeneinander verschobenen, mit Kupfer verkleideten Kuben, die auf einem gläsernen Erdgeschoss und einem sandsteinverkleideten Sockel sowie einem Untergeschoss aufsitzen. Neben den Magazinen für die Archivalien und Bücher gibt es einen Öffentlichkeitsbereich im Erdgeschoss sowie Verwaltungsund Lagerräume. Die Arbeitsräume für die Archivangehörigen liegen im ersten und zweiten Obergeschoss L-förmig um die Magazine herum. Das Erdgeschoss umfasst die Räume, die für die öffentliche Nutzung bestimmt sind: vor allem den 208 qm großen Lesesaal mit 24 Arbeitsplätzen und Freihandbibliothek, drei Arbeitskabinen für Einzelpersonen und Gruppen, den Raum für Bibliothekskataloge, den Findmittelraum sowie den unterteilbaren Ausstellungs-, Vortrags- und Veranstaltungssaal mit 184 qm. Der Lesesaal öffnet sich im Süden auf eine geräumige Terrasse. Im Foyer können sich Gäste aufhalten. Die Magazine in den Unter- sowie den Obergeschossen bieten Platz für insgesamt etwa 34 laufende km Archivgut und Bücher und somit weit in die Zukunft hinein Raum17.
Dies., Umzug des Landeskirchlichen Archivs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (LAELKB) in seinen Neubau. In: Archive in Bayern 9 (2016) S. 274–277. 15 Dies., Einweihung des Archivneubaus. In: Ebd. S. 277 f. 16 Wichtige Daten: Gebäude: Bruttogeschossfläche: 8.813 qm; 7 Stockwerke (Untergeschoss, Sockelgeschoss, Erdgeschoss, 4 Obergeschosse); Magazintrakt: ca. 4.860 qm, verteilt über 6 Stockwerke (alle außer EG), Raum für ca. 34 laufende km Archiv- und Bibliotheksgut; Bürotrakt: ca. 650 qm (19 Büros im 1. und 2. OG, Sozialraum, Konferenzraum); Öffentlichkeitsbereich: ca. 700 qm im EG (Lesesaal mit 24 Arbeitsplätzen und Bibliothek, Arbeitskabinen, Katalogbereich, Findmittelraum, unterteilbarer Saal, Foyer). – Besonderheiten: weitgehend natürlich klimatisierte Magazine (Thermoskannenprinzip); große Terrasse (ca. 550 qm). – Kosten: knapp 19 Millionen Euro. – Architekturbüro: Architekten von Gerkan, Marg und Partner (gmp), Hamburg; Partner: Nikolaus Goetze, assoziierter Partner: Dirk Heller, Projektleiterin: Karen Schroeder. 17 2021 verwahrt das LAELKB ca. 16 laufende km Archivgut und ca. 4,8 laufende km Bücher (ca. 240.000 Titel in ca. 150.000 Bänden). 14
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Rückseite des Neubaus aus südwestlicher Richtung, 2013 (Foto: Marion Tonke, LAELKB).
Die geschlossenen Flächen der beiden Kuben verdecken die fensterlosen Magazinräume, in denen aufgrund eines komplexen Wand-, Boden- und Deckenaufbaus die idealen Lagerungsbedingungen (16–20°C, 45–55 % relative Luftfeuchte) im Normalfall ohne nennenswerte Energiezufuhr dauerhaft gewährleistet sind. Das Sockelgeschoss enthält neben der Hausmeisterwohnung eine Re staurierungswerkstatt, einen Raum zur Bearbeitung von AV-Medien und eine Reprografiestelle sowie verschiedene Materialräume und Magazine. Bi l a n z Öffentlichkeitsbereich Einer der großen Vorteile des ausgeführten Entwurfs von gmp ist, dass die Räumlichkeiten für die gesamte Öffentlichkeitsarbeit im Erdgeschoss konzentriert sind (vgl. das Funktionsschema Öffentlichkeit aus der Auslobung18). Auslobung vom 3. Dezember 2009, Teil III – Raum- und Funktionsprogramm, S. 29. – Die Bauakten befinden sich derzeit in der Registratur des LAELKB unter dem Aktenzei18
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Funktionsschema Öffentlichkeit, Auslobung Teil III, S. 29, 2009 (LAELKB, Registratur Aktenzeichen 83/84-10-1-AR; Vorgangsnummer 1000557).
Den Lesesaal erreicht man vom Haupteingang aus über ein geräumiges Foyer (Fläche: ca. 188 qm). Dieses vermittelt einen großzügigen ersten Eindruck, wirkt durch die „Kunst am Bau“ an den Wänden recht edel19 und ist sehr gut veranstaltungs-kompatibel. Man muss sich aber ziemlich weit in den Raum hineinwagen, bevor man den Schriftzug „Anmeldung Lesesaal“ an der Glastüre auf der linken Seite sieht, hinter der in einem Zwischenraum vor dem Lesesaal der Aufsichtsbereich mit einer breiten Theke untergebracht ist. An der Theke vorbei erreichen die Benutzerinnen und Benutzer dann durch eine weitere Glastüre den Lesesaal. Die Kontrolle des Eingangsbereichs erfolgt über eine Kamera, die zur Aufsicht geschaltet ist. Der Aufsichtsbereich stellt chen 83/84-10-1-AR (Vorgangsnummer 1000557). 19 2014 lobte die ELKB einen Kunstwettbewerb für den Archivneubau aus, den die Münchner Künstlerin Stefanie Unruh mit der permanenten künstlerischen Intervention „Bildersammlung“ gewann, zwei großformatigen Fotocollagen auf Glas, betitelt „Kirchenräume“ und „Archiv“. Vgl. dazu Bildersammlung. Stefanie Unruh, Das Landeskirchliche Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, München 2016. – Helmut Braun, Spatia Historiae – Räume der Geschichte. In: Kirche Kunst 93 (2016), Heft 2, S. 4–11. – Andrea Schwarz, Kunst am Bau. In: Archive in Bayern 11 (2020) S. 150 f.
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Foyer mit der permanenten künstlerischen Intervention „Bildersammlung“ von Stefanie Unruh, München, 2021 (Foto: Peter Halicska, LAELKB).
den einzigen größeren Schwachpunkt des Archivneubaus dar. Anders als vom Archivnutzer gewünscht, wurde kein schalldichtes Glasgehäuse für den Aufsichtsbereich konzipiert, sondern ein ziemlich dunkles fensterloses Büro, in das nur durch zwei Glastüren zum hellen Lesesaal hin natürliches Licht fällt. In dem Raum mit zwei Arbeitsplätzen und dem Thekenbereich an der nördlichen Schmalseite für den Empfang der Benutzerinnen und Benutzer wird ganztags künstliche Beleuchtung gebraucht. Obwohl in dem gar nicht so kleinen Zimmer (Fläche: ca. 24 qm) in der Regel durch die Lüftung und das Aufstellen einer Wasserwand eine normale relative Luftfeuchte (mindestens 40 % bei geschlossener Türe) bei leicht erhöhten Temperaturen hergestellt werden konnte, wird das Rauminnenklima von den dort Tätigen als grundsätzlich unangenehm empfunden. Sie lassen meist die Tür zum Gang offen und bringen dadurch relativ trockene Luft in das Büro. Die Situation wurde durch Aufteilung der Arbeitszeiten in dem Raum entspannt (niemand arbeitet dort länger als vier Stunden). Bei einer Öffnungszeit von acht Stunden montags bis donnerstags müssen sich täglich zwei Personen die Lesesaalaufsicht teilen, was gelegentlich (z.B. in Urlaubs- oder Krankheitszeiten) organisatorischen Aufwand erfordert. Die etwas erhöhte Temperatur im Aufsichtsraum sowie im danebengelegenen Bereitstellungsraum (Fläche: ca. 13 qm) steht im Zusammenhang mit der Fußbodenheizung. Das Erdgeschoss wird durch eine per Fernwärme gespeiste Fußbodenheizung erwärmt. Der riesige Lesesaal (Fläche:
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208 qm) und die unmittelbar danebengelegenen viel kleineren Räume (Aufsicht bzw. Bereitstellung) hängen ungünstigerweise an einem Heizkreislauf. Um den Lesesaal im Winter auf eine für sitzende Tätigkeiten geeignete Temperatur zu regulieren, ist ein Energieaufwand nötig, der die beiden kleineren Räume überversorgt. Der Lesesaal mit 24 Arbeitsplätzen und einer Präsenzbibliothek mit „Schmöker“-Nische (der „Kuschelbibliothek“) im Eingangsbereich öffnet sich mit einer Glasfront nach Osten zum baumbestandenen Garten des benachbarten Evangelisch-Lutherischen Predigerseminars. Er ist mit dem Ausblick ins Grüne, den Holztischen, der Nussbaumtäfelung, in die die Bücherregale integriert sind, und dem Parkett aus Räuchereiche neben dem Foyer das optische Glanzstück des Hauses und hat sich – nachdem Anfangsprobleme bei der Parkettreinigung behoben werden konnten – auch in der Benutzung sehr bewährt. 12 der Arbeitsplätze sind mit All-inone-PCs ausgerüstet, von denen aus man Zugriff auf die Digitalisate von ca. 10.000 Kirchenbüchern hat, die im LAELKB gelagert werden20. Die Kontrolle der Benutzerinnen und Benutzer erfolgt einerseits durch die Aufstellung der Tische – jeweils drei Tische nebeneinander stehen drei anderen gegenüber –, auf diese Weise ergeben sich vier Doppelreihen mit jeweils sechs Tischen. Außerdem sind der gesamte Lesesaalbereich, der Findmittelraum, aber auch der Katalograum, die Einzel- und Gruppenkabinen, die sich dem Lesesaal an der Südseite im rechten Winkel anlagern, durch Kameras geschützt, deren Bilder im Aufsichtsraum auf einen Monitor aufgespielt werden. Für die Mehrzahl der Forschenden ist dieses Maß an Aufsicht ausreichend. Zusätzlich geht das Personal gelegentlich durch den Saal, um zu kontrollieren, dass mit Bleistift geschrieben wird, die Archivalien nur mit den ausgeteilten Baumwollhandschuhen angefasst und nicht im Übermaß private Fotografien angefertigt werden21. Stand: Anfang 2021. Diese Zahl wird sich in nächster Zeit kräftig erhöhen, da im Zuge des derzeit laufenden Projektes „Kirchenbuchdigitalisierung“ bis 2030 auch alle forschungsrelevanten Kirchenbücher aus dem Bereich der ELKB erfasst und digitalisiert werden (Tauf-, Konfirmations-, Trauungs- und Bestattungsbücher), die noch in den Pfarr archiven in den Pfarrämtern vor Ort liegen (das sind insgesamt ca. 20.000). Alle 30.000 Stück werden Ende 2030 erfasst sein. Soweit der Persönlichkeitsschutz nicht entgegensteht, wird ein großer Teil dieser forschungsrelevanten Matrikeln im Lesesaal des LAELKB sowie im digitalen Kirchenbuchportal Archion benutzbar sein. Aufgrund von fließenden Schutzfristen wird die Zugänglichkeit der Einträge regelmäßig angepasst. 21 Das Anfertigen von privaten Fotografien ist in der Lesesaalordnung des LAELKB geregelt (vgl. www.archiv-elkb.de/rechtsgrundlagen/lesesaalordnung, Punkt II.8). 20
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Lesesaal mit Ausblick in den Garten des Evang.-Luth. Predigerseminars, 2021 (Foto: Peter Halicska, LAELKB).
Der Nachteil der fehlenden Einsicht vom Aufsichtsraum in die öffentlich zugänglichen Räume kann durch diese Maßnahmen unserer Erfahrung nach hinreichend wettgemacht werden. Der Veranstaltungssaal schließt sich westlich an die Längsseite des Foyers an. In der Ausstattung (Holztäfelung und Parkettboden sowie bodentiefe Fensterfronten nach Westen und Norden) gleicht er dem Lesesaal. Mit seiner Größe (ca. 184 qm) und der Möglichkeit, ihn durch Holzelemente mittig zu unterteilen, ist er für die verschiedensten Veranstaltungsformen geeignet. Mit Podium und Theaterbestuhlung fasst er bis zu 160 Plätze. Dort haben in den letzten Jahren Ausstellungseröffnungen, Musikveranstaltungen, Kabarett-, Theater- und Filmvorstellungen stattgefunden, aber auch Workshops und die Betreuung zahlreicher Besuchergruppen mit Bewirtung. Nicht bewährt hat sich im Saal die Installation eines in der Decke versenkbaren Beamers. Dieser verhakte sich immer wieder in der technischen Deckeninfrastruktur und musste dann durch Fachpersonal wieder herausgezogen werden. Mittlerweile ist er außen an der Decke fest an einem Ständer installiert und kann problemlos benutzt werden.
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Terrasse mit Blick auf die Archivrückseite aus südwestlicher Richtung, 2021 (Foto: Cornelia Mertian, LAELKB).
Insgesamt kann man festhalten, dass der Öffentlichkeitsbereich des Archivneubaus sehr intensiv genutzt wird – der Saal wird häufig vermietet, bei gemischten Veranstaltungen wie der Langen Luthernacht oder dem Begleitprogramm zur Ausstellung Schatzkiste 2020 werden alle Bereiche des Erdgeschosses geöffnet und bespielt. Eine besondere Rolle kommt hier in den Sommermonaten der geräumigen Terrasse zu (Fläche: ca. 550 qm), die von der Mitternachtsandacht bis zum geselligen Zusammensein mit Musik schon viel erlebt hat. Besonders freuen wir uns, dass wir mit unseren niederschwelligen Angeboten auch Menschen erreichen, die nicht zur typischen Archiv-Klientel zählen. Die innerkirchliche Öffentlichkeit (Dekane- und Dekaninnenkonferenzen, Pfarrkapitel, Kirchenvorstände, Gemeindekreise etc.) nützt „ihr“ neues Archiv, indem es sich bei Kaffee und Kuchen den Neubau erläutern und dann zeigen lässt und in den Magazinen einen Blick hinter die Kulissen und auf das Schriftgut der jeweils eigenen Institutionen werfen kann.
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Interner Bereich Die 19 Büroräume für das Archivteam sind L-förmig auf der Höhe des 1. und 2. Stocks außen um die Magazinblöcke herum von Nordosten bis Südwesten angebracht. Sie variieren in der Größe von ca. 50 qm (Archivleitung) bis ca. 16 qm (Bibliotheksbeschäftigte). Das Besondere an den Räumen sind die schmalen, bodentiefen Fenster, die immer mindestens eine gesamte Wandfläche ausmachen (in den großen Eckbüros bestehen zwei Wände vollständig aus Glasfronten). Die starke Verglasung macht die Räume hell und sonnig. Auf Wunsch des Nutzers wurde auf den Einbau von Klimaanlagen verzichtet. Stattdessen wurde ein massiver Sonnenschutz aus Edelstahl installiert, der abends automatisch heruntergefahren wird und so stabil ist, dass er auch vor Sturm und Starkregen schützt, so dass dahinter die Bürofenster über Nacht gekippt bleiben können. Die nötige Kühlung geschieht daher im Sommer durch die Nachtluft. Auf der Südseite wurden in die Decken zusätzlich kühlespeichernde Lehmkissen eingebaut. Diese natürliche Klimatisierung ist energiesparend und wird vom Team deutlich einer Klimaanlage vorgezogen, obwohl es natürlich bei großer Hitze in den Räumen wärmer ist, als wenn man sie künstlich klimatisieren würde. Bewährt haben sich auch die elektrisch höhenverstellbaren Schreibtische in jedem Büro, die in ihren unterschiedlichen Möglichkeiten intensiv genutzt werden und der Gesundheitsprophylaxe dienen. Jeder Raum enthält zusätzlich einen Ordnungstisch, einen Schrank mit Waschbecken und Regale für Archivgut, Ordnungsmaterial und Bücher. Als sehr wertvoll haben sich die zwei Ordnungsräume für Praktikanten und Praktikantinnen, Projektkräfte und Beschäftigte, die im Rahmen von Arbeitsgelegenheitsmaßnahmen tätig sind, herausgestellt, die je nach Bedarf unterschiedlich bespielt werden können. Der Konferenzraum an der Südwest-Ecke des zweiten Stocks bietet mit 44 qm Platz für eine große Tischfläche, ca. 20 Stühle und ein Sideboard sowie für Beamer und Smartboard. Er ist aufgrund seiner Größe und Ausstattung vielseitig verwendbar, von der Wochenbesprechung für die 20 Archivangehörigen bis zur Geburtstagsfeier, vom Lesekurs für alte Handschriften bis zur Vorstandssitzung des Vereins für bayerische Kirchengeschichte. Der ebenso große Sozialraum an der gegenüberliegenden Nordost-Ecke des zweiten Stocks bildet mit seiner Küchenzeile und den vielen bunten Holzstühlen das geschätzte privat-dienstliche Kommunikationszentrum des Archivteams zu den Pausen- und mittäglichen Essenszeiten.
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Als sehr praktisch erleben wir auch die Lagerräume in den verschiedenen Stockwerken. Der große Lagerraum im Erdgeschoss gegenüber dem Aufsichtsraum (Fläche: ca. 45 qm) ist dem Veranstaltungssaal zugeordnet. In ihm werden 180 stapelbare Stühle und 30 zusammenklappbare Semi nartische gelagert, außerdem die Elemente für ein 3 x 9 m großes Podest, Rednerpulte, Ausstellungswände, Plakataufsteller etc. Die vier Tisch- und vier Standvitrinen, die ursprünglich auch noch in diesem Raum deponiert werden sollten, haben stattdessen ihren dauerhaften Ort an den Wänden bzw. Fensterfronten des Saales gefunden, wo sie auch im leeren Zustand nicht stören, da man sie als in den Saal passend wahrnimmt. Im Sockelgeschoss bietet ein großes Materiallager (Fläche: ca. 70 qm) den nötigen Raum für die verschiedensten Dinge vom Desinfektionsmittel bis zu den Archivwannen und Stülpdeckelkartons, im Altpapierlager stehen neben der blauen Tonne auch zwei große Behälter für zu schredderndes Archivgut, in metallenen Regalen werden hier auch die Dinge untergebracht, die beim Wertstoffhof oder auf andere Weise speziell entsorgt werden müssen. Im Abstellraum für den Hausmeister finden vom Rasenmäher bis zu den Tischen und Stühlen für die Terrasse die notwendigen Utensilien ihren Platz. Obwohl also großzügig Raum für das Lagern der verschiedensten Materialien des laufenden Bedarfs eingeplant wurde, wurde doch leider ein „Parkplatz“ für die großen und kleinen Aktenwägen vergessen. Wir stellen die Wägen auf den Gangflächen im Sockelgeschoss an den Stellen ab, wo der Betrieb nicht zu sehr leidet, aber es ist eine Behelfslösung. Ein Zwischenlager sowie ein Reinigungsraum für frisch hereingeholte Unterlagen gegenüber bzw. neben der Anlieferung haben sich bewährt, auch die im Sockelgeschoss befindlichen Duschen werden von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nach anstrengenden Archivpflegefahrten und der Übernahme von manchmal verschmutztem Material gerne genutzt. Die Restaurierungswerkstatt im Sockelgeschoss (Fläche: ca. 85 qm) dient den Restaurierungsmaßnahmen, die wir von auswärtigen Fachleuten an unseren Archivalien oder Büchern durchführen lassen (das LAELKB hat seit 2010 keinen eigenen Restaurator mehr). Bei Gelegenheit vermieten wir die Werkstatt auch. Damit die dort arbeitenden Personen völlig unabhängig vom Archiv agieren können, ist die Werkstatt mit einer Toilette mit Waschbecken ausgestattet, das Gebäude wird durch den ungesicherten Hintereingang betreten, der auch zur Hausmeisterwohnung führt,
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auch der Werkstattzugang liegt außerhalb des alarmgesicherten Archivbereichs, ebenso wie ein Lagerraum für Materialien der Gäste. Schutz gegen Einbruch wird jedoch anderweitig gewährleistet. Magazine Die Magazine bilden den inneren Kern des Archivs. Sie liegen im Untergeschoss, Sockelgeschoss und in den vier Obergeschossen und sind durchgängig mit Rollregal-Fahranlagen ausgerüstet. In der Klimatisierung folgen sie dem Prinzip Thermoskanne22. Als Vorbilder dienten das Magazin des Landeskirchlichen Archivs Karlsruhe, das unterirdisch im Hof des Oberkirchenrats der Evangelischen Landeskirche in Baden errichtet wurde (2009), der Magazinbau des Landesarchivs Schleswig-Holstein in Schleswig (1991) und der Neubau des Staatsarchivs Hamburg (2000). Das wichtigste Bauelement unserer Magazine ist die gute Isolierung von Böden, Decken und Wänden durch einen mehrschichtigen Aufbau, wodurch der Eintrag von Wärme, Kälte und Feuchte begrenzt wird. Der ungewünschte Austausch von Magazinluft und Außenluft wird durch den Verzicht auf Fenster und die dichte Konstruktion verhindert. Zur Stabilisierung des Klimas wurde auf die Errichtung von permanenten Arbeitsplätzen im Magazin verzichtet. Die meisten Archivangehörigen haben keinen Zugang mehr zu den Magazinen. Sie müssen das benötigte Archivgut bestellen und bekommen es vom Ausheber gebracht. Ich will nicht verschweigen, dass dies zu Murren bei etlichen Kolleginnen und Kollegen geführt hat, die das Recherchieren im Magazin vom Altbau her gewohnt waren. Eine geringdimensionierte Lüftungsanlage (0,1- bis 0,5-facher Luftwechsel pro Stunde) bietet die Möglichkeit, im Bedarfsfall die relative Luftfeuchte in den Magazinräumen zu beeinflussen. Durch Messfühler werden die Werte in allen Magazinräumen gemessen, in der Steuerungsanlage aufgezeichnet und von einem Mitarbeiter regelmäßig ausgelesen. Ein sehr wichtiger Faktor bei unserem Magazintyp ist die schnellstmögliche Austrocknung der Baufeuchte. So wurden bereits während des Vgl. Christian Kruse, Was ist bei der Planung, dem Bau und dem Betrieb von Archivmagazinen zu beachten? – Hinweise aus der Praxis. In: Christian Kruse – Peter Müller (Hrsg.), Das Archivmagazin – Anforderungen, Abläufe, Gefahren. Vorträge des 78. Südwestdeutschen Archivtags am 21. und 22. Juni 2018 in Augsburg, Stuttgart 2019, S. 21–25, hier S. 23. 22
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Rohbaus alle Magazinräume unmittelbar nach Aufsetzen der jeweiligen Geschossdecke mit mobilen Entfeuchtungsgeräten bestückt, die während der ganzen Bauzeit permanent in Betrieb waren. Auch nach dem Bezug der Magazine musste die Lüftungsanlage noch längere Zeit dauerhaft in Betrieb bleiben, da die Baufeuchte zum Zeitpunkt des Einzugs noch nicht vollständig weggetrocknet war. Weitere wichtige Komponenten des Thermoskannenmodells sind Schleusen vor jedem Magazinzugang, um den Luftwechsel zu begrenzen, das sind in unserm Fall ca. 10 qm große Räume auf allen Stockwerken, in die jeweils der Aufzug mündet und von denen die Magazintüren, aber auch Türen ins Treppenhaus, in die Technikräume und in die Bürotrakte abgehen. Eine große Rolle spielt auch der Vorklimaraum (Fläche ca. 73 qm), in dem sämtliche Materialien aus dem Lesesaal, aus der Bearbeitung oder neu angelieferte Unterlagen ca. 2–3 Wochen zwischengelagert werden, bevor sie (wieder) in die Magazine gebracht werden. In den ersten Jahren hatten wir Probleme mit der Einhaltung der gewünschten Magazinklima-Werte (16–20°C und 40–55 % relative Luftfeuchte), da der beauftragte Lüftungstechnikbetrieb außerstande war, die Lüftungsanlage dauerhaft korrekt zu programmieren. Hier wurden wir ein Opfer der guten Baukonjunktur. Nach der Trennung von dieser Firma fanden wir glücklicherweise einen kompetenten Betrieb, der in relativ kurzer Zeit die Steuerungsanlage komplett neu aufbaute, diesmal zu unserer Zufriedenheit. Aufgrund dieser unglücklichen Umstände musste die aufwendige, aber essentielle Arbeit am „Herz des Archivs“, der Klimatisierung der Magazine, leider zweimal gemacht und bezahlt werden23. Schon gleich nach dem Einzug und dann während der Problemphase, zuletzt noch einmal eine gewisse Zeit lang nach der Umstellung der Programmierung haben wir das Magazinklima von der Firma, die unseren Neubau in bauphysikalischer Hinsicht betreut hat, bewerten lassen, um größere Verwerfungen ausschließen zu können. Dadurch hatten wir auch die Kontrolle über die Entwicklung der Werte während des sehr heißen Sommers 2020. Es hat sich herausgestellt, dass unsere Thermoskannen-Magazine die enorme Hitzeperiode weitgehend abfedern konnten. Erst nach etlichen Monaten permanent hoher Außentemperaturen wurde es auch in den Magazinen zu warm, was wir durch
23
Vgl. ebd. S. 24: Die Bauausführung.
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den stärkeren Einsatz unserer Lüftungsanlage, die Abweichungen selbständig reguliert, kompensieren konnten. So gehen wir davon aus, dass wir auch die kommenden, aufgrund der Klimaerwärmung leider zu erwartenden sehr heißen Sommer bewältigen können. Insgesamt ist festzuhalten, dass sich das Thermoskannen-Prinzip in unseren Neubau-Magazinen gut bewährt hat. Es bietet den großen Vorteil von geringen laufenden Unterhaltskosten nach erhöhten Investitionskosten beim Bau, ist also langfristig sehr rentabel, und entspricht mit seinem sparsamen Energieverbrauch einem Ziel der Evangelischen Kirche: „Schöpfung bewahren“. Die großzügige Dimensionierung der Magazine macht es uns möglich, ein gewisses Quantum an Regalflächen zu vermieten. Seit dem Frühjahr 2020 ist unser größter und wichtigster Mieter das Staatsarchiv Nürnberg, das für die Dauer der Sanierungsarbeiten an seinem Gebäude in der Archivstraße mit ca. 5 laufenden km Archivgut aus der Zeit vor 1806 bei uns untergekommen ist. Die wertvollen Archivalien werden in unserem Lesesaal benutzt, ein Angehöriger des Staatsarchivs erledigt in einem eigenen Büro Recherchen und arbeitet an den Beständen. Diese Kooperation spiegelt die stets ausgezeichneten Beziehungen zwischen den Staatlichen Archiven Bayerns und dem Landeskirchlichen Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.
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Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern: Rückseite des Neubaus aus südwestlicher Richtung, 2013 (Foto: Marion Tonke, LAELKB).
Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern: Foyer mit der permanenten künstlerischen Intervention „Bildersammlung“ von Stefanie Unruh, München, 2021 (Foto: Peter Halicska, LAELKB).
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Fortschreiten zum Bessern nach geprüften Erfahrungen. Die Regierung Montgelas und die Anfänge des Verfassungsstaats Bayern Von Reinhard Stauber Die Herbstmonate des Jahres 1814 markierten für Außen-, Innen- und Finanzminister Maximilian Graf von Montgelas und seine leitenden Mitarbeiter eine Schlüsselphase für die Klärung der politischen Zukunft des Königreichs Bayern. Auf einem großen, nach Wien einberufenen Kongress sollten nach der ersten Abdankung Napoleons die Regelungen für ein umfassendes europäisches Friedenssystem detailliert ausgearbeitet werden. Dazu gehörte u.a. die Ankündigung im Ersten Frieden von Paris, die deutschen Staaten durch ein „föderales Band“ („lien fédératif“) zu verbinden.1 Zur Ausgestaltung dieses Föderativsystems hatte es den Sommer 1814 über eingehende Absprachen zwischen Österreich und Preußen gegeben; die daraus resultierenden Entwürfe wären auf die Etablierung einer politisch-militärischen Doppel-Hegemonie der beiden deutschen Großmächte hinausgelaufen, getrennt entlang der Main-Linie. Darüber sollte gleich zu Beginn des Wiener Kongresses verhandelt und, aus der Perspektive der Akteure in Wien und Berlin, möglichst rasch entschieden werden. In München stieß dieses Vorhaben auf Widerstand. Im Vorjahr, im Oktober 1813, hatte Montgelas den politischen Seitenwechsel weg von Napoleon und hin zum Kaiserstaat Österreich nur mit viel Mühe und tätiger Unterstützung von Bayerns führendem Militär, Carl Philipp Graf Wrede, gegen die Bedenken König Max I. Joseph durchsetzen können. Der Vertrag von Ried mit Österreich (8. Oktober 1813) hatte als Belohnung dafür die Zusage völliger Souveränität und Unabhängigkeit Bayerns gebracht.2 Montgelas‘ politische Richtschnur war es, daran ohne alle Kompromisse festzuhalten, und schon Ende 1813 hatte er in diesem Kontext Abdruck des Pariser Friedens z.B. bei Eckhardt Treichel (Bearb.), Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes 1813–1830. Band (Bd.) 1/1: Die Entstehung des Deutschen Bundes 1813–1815, München 2000, Nr. 27, S. 153–168 (nach dem preußischen Exemplar): Art. 6 mit der Bestimmung „Les Etats de l‘Allemagne seront indépendans et unis par un lien fédératif“ hier S. 158. 2 Abdruck ebd., Nr. 7, S. 41–48. Art. 4 garantierte Bayern „la souveraineté pleine et entière“, der Geheimartikel 1 „l’indépendance entière et absolue“. 1
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eine Revision der seit 1808 geltenden Verfassung ins Auge gefasst. Als er sich entschieden hatte, nicht selbst am Kongress teilzunehmen, arbeitete er am 24. September 1814 jene Punkte aus, die Wrede als bayerischer Gesandter in Wien vertreten sollte. Das Festhalten an Eigenstaatlichkeit und Souveränität und die Ablehnung jeder übergeordneten politischen Instanz drückten sich vor allem in der bayerischen Forderung aus, weiterhin selbständig über Krieg und Frieden sowie den Abschluss von Bündnissen entscheiden zu können. Dies wäre mit jeder Art von kollektivem Sicherheitssystem im deutschen Raum unvereinbar gewesen, obwohl Österreichs leitender Minister Fürst Metternich die preußischen Projekte inzwischen zu einem summarischen Rahmenplan heruntergeregelt hatte. Als auf dem Wiener Kongress darüber in einem kleinen Komitee ab dem 14. Oktober 1814 beraten wurde, saß Bayern mit am Verhandlungstisch, und der recht undiplomatisch agierende Wrede wischte, unterstützt von seinen württembergischen Kollegen, alle Versuche vom Tisch, den nun diskutierten „Deutschen Bund“ mit festen Institutionen oder überstaatlichen Rechten auszustatten. So gerieten die Beratungen dieses Wiener Verfassungs-Komitees rasch in eine Sackgasse und wurden Mitte November unterbrochen.3 Dennoch richtete Montgelas zum Jahresende 1814 noch einen eigenen Ausschuss von drei leitenden Beamten seines Außenministeriums ein; sie sollten alle weiterhin aus Wien übermittelten Vorlagen auf ihre Vereinbarkeit mit Bayerns Ansprüchen prüfen. Dabei blieb der Geheime Referendär im Außenministerium Johann Adam von Aretin mit seiner Einschätzung, ein teilweiser Souveränitätsverzicht sei nötig, um in dem geplanten Föderativkörper Mitglied zu werden, alleine.4 Unter den von Montgelas in seiner Instruktion zum Wiener Kongress von September 1814 ausdrücklich genannten, dem souveränen Status entspringenden Rechten fand sich auch der ausdrückliche Anspruch, dem Königreich Bayern eine Verfassung zu geben. Dies dürfe keinem fremden Einfluss und keiner äußeren Überwachung unterliegen. In der Tat hatte Montgelas zehn Tage vor Abfassung der Kongressinstruktion, am Dazu Eberhard Weis, Montgelas. Bd. 2: Der Architekt des modernen bayerischen Staates 1799–1838, München 2005, S. 716–723. – Karl Otmar von Aretin, Bayerns Weg zum souveränen Staat. Landstände und konstitutionelle Monarchie 1714–1818, München 1976, S. 158–170. – Wolfgang Quint, Souveränitätsbegriff und Souveränitätspolitik in Bayern. Von der Mitte des 17. bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Schriften zur Verfassungsgeschichte 15), Berlin 1971, S. 280–309. – Reinhard Stauber, Der Wiener Kongress, Wien-Köln-Weimar 2014, S. 175–182. 4 Weis (wie Anm. 3) S. 732 f. – Quint (wie Anm. 3) S. 310–340, 392–400. 3
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14. September 1814, ein königliches Reskript aufgesetzt (das dann auf den 17. September datiert wurde), das eine Kommission von 14 Geheimen Räten und hohen Beamten unter Leitung des Justizministers, Heinrich Alois Graf Reigersberg, ins Leben rief und dieser den Auftrag erteilte, für Bayern eine neue Verfassung zu erarbeiten. Montgelas entwarf dabei auch einige Grundsätze für diese neue Verfassung, von denen nicht wenige vier Jahre später realisiert wurden.5 Die bayerische Verfassung des Jahres 1818 entstand also seit Herbst 1814 als demonstrativer Ausdruck des bayerischen Anspruchs auf Eigenstaatlichkeit und Souveränität. Technisch gesehen ging es dabei nicht um eine Neuschöpfung, sondern um eine Revision. Denn als einer der wenigen deutschen Staaten der Rheinbund-Zeit hatte Bayern damals schon eine Verfassung, die Konstitution vom 1. Mai 1808, die Montgelas selbst entworfen hatte, um die vielen unterschiedlichen Bestandteile des Königreichs in einen gleichförmigen Gesamtstaat umzuschmelzen. Ein einheitlicher Rechtsraum, die Aufhebung der überkommenen Privilegien von Adel und Klerus, das Ende der alten Landstände, eine bessere Kontrolle der Staatsfinanzen und auch hier bereits die Abwehr aller Interventionsversuche von außen waren die politischen Maximen, die in dieser Verfassung niedergelegt und in einer Reihe von ausführenden Gesetzen von Verfassungsrang, den „Organischen Edikten“, ergänzend geregelt wurden. Parlamentarische Versammlungen waren auf zwei Stufen vorgesehen, auf der Ebene der Kreise und, als „Nationalrepräsentation“, auf Ebene des Gesamtstaats. Nach einem im napoleonischen Europa verbreiteten Muster wären faktisch nur die reichsten Grundbesitzer in diese Versammlung berufbar gewesen, ausgewählt letztlich durch den König. Die Versammlung trat auf gesamtstaatlicher Ebene allerdings nie zusammen. Fortschrittlich war, dass die Konstitution „allen Staats-Bürgern“ gewisse Freiheitrechte „gewährt[e]“6: Gleichheit vor dem Gesetz und vor der Steuer, gleicher ZuVgl. dazu grundlegend: Eberhard Weis, Zur Entstehungsgeschichte der bayerischen Verfassung von 1818. Die Debatten in der Verfassungskommission von 1814/15. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 39 (1976) S. 413–444; hier und in Folge zitiert nach dem Wiederabdruck. In: Ders., Deutschland und Frankreich um 1800. Aufklärung – Revolution – Reform. Hrsg. von Walter Demel und Bernd Roeck, München 1990, S. 243–278, hier S. 246–251. 6 Tit. I § VII der Konstitution vom 1. Mai 1808, zitiert nach Maria Schimke (Bearb.), Regierungsakten des Kurfürstentums und Königreichs Bayern 1799–1815 (Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten 4), München 1996, Nr. 7, S. 75. – Zur Konstitution von 1808 vgl. v.a. die Beiträge in: Alois Schmid (Hrsg.), Die bayerische Konstitution von 5
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gang zu öffentlichen Ämtern, Sicherheit der Person und des Eigentums, Gewissensfreiheit, Pressefreiheit nach Lage der Gesetze, Unabsetzbarkeit der Richter und nicht zuletzt konfessionelle Parität. Auf diesem Fundament war in Bayern also schon mitten in der Ära Montgelas die Basis für einen modernen, einheitlichen Rechts- und Verwaltungsstaat gelegt worden, der die vielfältigen Staatsreformen der Zeit 1799 bis 1808 zusammenfasste und wesentliche bürgerliche Freiheiten garantierte. Eine Verfassung stellt eine entweder ausgehandelte oder einseitig erlassene, in der Regel schriftlich fixierte Rechtsnorm dar, die die Grundregeln und -bestandteile eines stabilen politischen Gemeinwesens definiert. Als mutmaßliche Garanten von Ordnung und Stabilität im Sinne eines verlässlichen Regelwerks waren Verfassungen auch auf dem Wiener Kongress ein wichtiges Thema. Der absolut regierende, aber liberalen Ideen aufgeschlossene Zar Alexander I. ließ für das Königreich Polen, das er in Personalunion beherrschte, eine eigene Verfassung ausarbeiten (27. November 1815), wie auch der preußische König Friedrich Wilhelm III. für das Fürstentum Neuchâtel (18. Juni 1814), das seit 1707 in Besitz der Hohenzollern, gleichzeitig aber Teil der Schweizer Eidgenossenschaft war. Das neue Königreich der Vereinigten Niederlande, das Königreich Norwegen, die Freie Stadt Krakau – sie alle erhielten oder gaben sich 1814/15 Verfassungen. In den deutschen Staaten begann die Reihe der Verfassungen im September 1814 mit Nassau, 1816 folgte u.a. Sachsen-Weimar. 1818 war die Reihe an den süddeutschen Staaten Bayern und Baden (ergänzend könnte man noch das Fürstentum Liechtenstein nennen, wo „verträgliche[r] Gemüthsart“ als Voraussetzung für die Wählbarkeit genannt wurde7), 1819 folgte Württemberg und 1820 Hessen-Darmstadt. Die deutschen Großmächte Preußen und Österreich blieben bis 1848 ohne Verfassung. Bei den Wiener Beratungen zum Deutschen Bund, wo die süddeutschen Staaten, wie erwähnt, von Anfang an energischen Widerstand gegen zentrale Vorgaben und Interventionsklauseln geleistet hatten, wurde zuletzt, im Juni 1815, als Artikel 13 der Deutschen Bundesakte eine sehr knappe Generalklausel verabschiedet: „In allen Bundesstaaten wird eine Landstän1808. Entstehung – Zielsetzung – Europäisches Umfeld (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 35), München 2008. – Bayerns Anfänge als Verfassungsstaat. Die Konstitution von 1808. Eine Ausstellung im Bayerischen Hauptstaatsarchiv [22. Februar bis 4. Mai 2008] (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 49), München 2008. 7 Herbert Wille, Liechtenstein. In: Werner Daum (Hrsg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bd. 2: 1815–1847, Bonn 2012, S. 1077–1112, hier S. 1084.
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dische Verfassung statt finden“8. Was damit genau gemeint war, blieb unklar, daher entbrannte um die Interpretation dieses Terminus ab 1819 ein heftiger politischer Deutungskampf. Das entscheidende Motiv dafür, dass in Süddeutschland die Weichen in diesen Jahren in Richtung Verfassungsstaat gestellt wurden, lag darin, Herr über die eigenen Entscheidungen zu bleiben und allen Vorgaben aus Wien, Berlin oder Frankfurt (wo seit November 1816 die Bundesversammlung des Deutschen Bundes tagte) zuvorzukommen. Das Prägemuster für die neue staatliche Ordnung wurde dagegen sehr wohl von außen übernommen, und zwar, nicht zum ersten Mal, aus Frankreich. Der im April 1814 aus dem englischen Exil zurückkehrende Graf von Provence, jüngerer Bruder des 1792 abgesetzten französischen Königs Ludwig XVI., hatte sich geweigert, eine vom Senat ausgearbeitete Verfassung, die ihn als „Louis-Stanislas-Xavier de France, frère du dernier Roi“ „au trône de France“ berief, anzuerkennen.9 In kurzen Beratungen setzte er die Ausarbeitung eines neuen Fundamentalgesetzes durch, der „Charte constitutionnelle“ vom 4. Juni 1814. Sie gab sich, wie schon an der Bezeichnung als „charte“ erkennbar, als eine Konzession des nunmehrigen Ludwig XVIII. („par la grâce de Dieu roi de France et de Navarre“) an seine Untertanen10, war aber immerhin mit einer legislativen Körperschaft beraten worden. Der Form nach war sie ein Erlass von oben, doch erkannte der Text die bestehende Rechts- und Sozialordnung in Frankreich an. Seitens des Königs war sie freiwillig, aber auch verbindlich. Sie stellte Kontinuität zum Ancien Régime her, aber in keiner Weise belebte sie den alten Absolutismus neu. Der neue König anerkannte die Existenz einer Volksvertretung, nicht aber die Tatsache, von dieser „aus freien Stücken“ („librement“, wie es im Senatsentwurf geheißen hatte11) auf den Thron Zitat Bundesakte, Art. 13 nach Treichel (wie Anm. 1) Nr. 250, S. 1503–1518, Art. 13 S. 1513. 9 Zitate aus dem Verfassungsentwurf des Senats vom 6. April 1814 nach Michael Erbe (Hrsg.), Vom Konsulat zum Empire libéral. Ausgewählte Texte zur französischen Verfassungsgeschichte 1799–1870 (Texte zur Forschung 50), Darmstadt 1985, S. 138. – Die beste Darstellung zur Entstehung der „Charte“ in deutscher Sprache ist Volker Sellin, Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa, Göttingen 2001. 10 Abdruck der „Charte constitutionelle“ vom 4. Juni 1814 (mit Übersetzung) bei Erbe (wie Anm. 9) S. 146–165, Zitat der Intitulatio hier S. 146. 11 Erbe (wie Anm. 9) S.138. – Zum französischen Modell der einseitig erlassenen Verfassung, die gleichwohl einen Kompromiss zwischen der vorrevolutionären Herrschaft der Bourbonen und den Ansprüchen der Revolution darstellte, und ihrer Vorbildwirkung in 8
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zurückberufen worden zu sein. Er wollte seine Herrschaft aus eigenem Recht antreten. Der wesentliche Unterschied zur ersten französischen Verfassung von 1791 lag im basalen Prinzip der Legitimation von Herrschaft. An die Stelle der Volkssouveränität traten die monarchische Souveränität und das Eigenrecht der Dynastie auf Herrschaft. „Legitimität“ wurde, von Talleyrand entwickelt, zu einem zentralen politischen Schlagwort für das Europa der Könige. Das später so genannte „monarchische Prinzip“ formulierte Jacques Beugnot in der in letzter Minute hinzugefügten Präambel der Charte unmissverständlich folgendermaßen: „Obwohl die gesamte Staatsgewalt in Frankreich in der Person des Königs versammelt bleibt, so haben wir doch in Betracht gezogen …, die Ausübung der Staatsgewalt zu modifizieren.“12 Nach der Französischen Revolution und nach der langen Kriegsepoche in Europa, in einer Phase der Suche nach Berechenbarkeit und Stabilität, wurde dieses Angebot der Charte, die starke Stellung eines monarchischen Souveräns mit der Anerkennung einer bürgerlichen Rechtsordnung und der Beteiligung einer Volksvertretung zu kombinieren, zu einem europaweit rezipierten Stabilisierungsmodell – auch für Bayern. Bei allem Festhalten an überkommenen Formen erwies die Monarchie sich als bereit und fähig zur Reform von oben. „… Eine Revolution im guten Sinn … durch Weisheit der Regierung und nicht durch gewaltsame Impulsion von innen oder außen“ hatte Karl August Freiherr von Hardenberg das in seiner berühmten Rigaer Denkschrift 1807 genannt13, und in der politischen Praxis agierte Montgelas nach demselben Muster. Wie öfter in der Ära Montgelas bestimmte also auch im September 1814 die Außenpolitik die Innenpolitik. Montgelas nannte den Ausschluss äußerer Einwirkungsmöglichkeiten auch als eines der Motive für seine Verfassungsinitiative, daneben die Souveränität und Kreditfähigkeit des Staats sowie die „Wünsche[n] der Zeit, der Gebildeten wie des Volkes“.14 Eigens Europa vgl. zusammenfassend Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 150), Göttingen 1999, S. 299–305. 12 Zitiert nach Sellin (wie Anm. 9) S. 272. 13 Hardenbergs „Über die Reorganisation des Preußischen Staats“ (Riga, 12. September 1807) hier zitiert nach Walter Demel – Uwe Puschner (Hrsg.), Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung. Bd. 6: Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongress 1789–1815, Stuttgart 1995, Nr. 14, S. 86–97, hier S. 88. 14 Weis (wie Anm. 3) S. 779.
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verwies er darauf, dass Kronprinz Ludwig sich eingehend mit Verfassungsfragen beschäftige. In engem Zusammenhang damit legte der Minister so Bayerns außenpolitische Positionierung fest und hob gleichzeitig die innenpolitische Konsolidierung auf eine neue Stufe, indem er eine Kommission zur Revision der Konstitution von 1808 einsetzte. Dabei hielt er seine eigene Person aus beiden Prozessen heraus und fuhr weder zum Wiener Kongress noch trat er selbst der Verfassungskommission bei. In seinen „Leitsätzen“ für die Kommissionsarbeit gab Montgelas mehrere Prinzipien vor, die schließlich 1818 realisiert wurden. Am wichtigsten war die Übernahme des französischen Modells der Aufteilung der parlamentarischen Versammlung in zwei Kammern. Dabei sollten in der Ersten Kammer hohe Würdenträger aus Staat und Kirche sowie exklusiv vom König ernannte Personen zu sitzen kommen. Absehbar waren damit Dominanz des Adels und eine enge Anbindung an den König. Die Abgeordneten der Zweiten Kammer sollten im gesamten Staatsgebiet gewählt werden, womit die Ausgestaltung des Wahlrechts zur zentralen Frage wurde. An ein allgemeines Männer-Wahlrecht dachte damals in Europa niemand. Nur ökonomische Selbständigkeit und ausreichender Besitz sollten für Wahl und Wählbarkeit qualifizieren. Der Minister machte noch Vorschläge für die Zusammensetzung der Ersten Kammer, zur Immunität der Abgeordneten der Zweiten Kammer und zur Bildung eines Petitionsausschusses. Fortschrittlich war seine Idee, den Landtag jedes Jahr einzuberufen, um das Staatsbudget zu beraten, eher restriktiv die Vorgaben, dieses Budgetrecht nur auf die direkten Steuern zu beziehen, die Gesetzesinitiative allein dem König vorzubehalten oder die Regierung jeder Verantwortlichkeit gegenüber dem Parlament zu entziehen.15 Über die Beratungen der bayerischen Verfassungskommission, die sich auf 22 Sitzungen zwischen Oktober 1814 und Januar 1815 eingehend mit diesen Vorgaben Montgelas‘ für eine Verfassung auseinandersetzte, sind wir gut informiert durch eine dichte Reihe von Protokollen, die im Bayerischen Hauptstaatsarchiv vollständig erhalten sind. Eberhard Weis hat sie 1976 in einer Vorstudie zu seiner magistralen Biographie des Staatsministers grundlegend ausgewertet und dargestellt.16 Ebd. S. 779 f. Ebd. S. 780–786, auf Basis von Weis, Entstehungsgeschichte (wie Anm. 5) und den archivalischen Materialien. In: Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Bestand Staatsrat Nr. 1642– 1654. – Wichtiges Material eines Schlüsselmitglieds der Kommission in Max von Lerchenfeld (Hrsg.), Aus den Papieren des k.b. Staatsministers Maximilian Freiherrn von Lerchenfeld, Nördlingen 1887. Vgl. auch Josef Leeb, Wahlrecht und Wahlen zur Zweiten 15 16
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Am heftigsten gerungen wurde in den sehr offen geführten Diskussionen der Kommission um Montgelas‘ Vorgabe, alle Grunduntertanen (das hieß faktisch die meisten Bauern und damit vier Fünftel der Bevölkerung Bayerns) vom passiven Wahlrecht, der Wählbarkeit in die Zweite Kammer auszuschließen. An die Spitze des Widerstands gegen den Minister in dieser wie in anderen Fragen stellte sich Maximilian Freiherr von Lerchenfeld, damals Hofkommissär für die Übernahme Würzburgs, der 1817 Montgelas‘ Nachfolger als Finanzminister werden sollte. Für ihn war es undenkbar, jene große Mehrheit der Bevölkerung, die die größte Last an Steuern und Abgaben trug und überdies die Wehrpflicht leisten sollte, von der Wählbarkeit auszuschließen. Bei einem Abgeordneten komme es auf „Kopf und Herz“, nicht auf den Stand an, argumentierte er.17 Unterstützung fand Lerchenfeld mit seinen liberalen Ansichten in der Kommission zumeist bei Carl Graf von Arco, dem Präsidenten des Oberappellationsgerichts, und Georg Friedrich von Zentner, Sektionsvorstand und faktisch Generaldirektor im Innenministerium, der nach Montgelas‘ Sturz, an dem er wesentlich beteiligt war, 1823 Justizminister wurde. Montgelas dagegen blieb, damals wie später, bei seiner Überzeugung, die Grunduntertanen würden durch ihren Grundherrn vertreten. Der Minister, der seit 1812 zunehmend konservativ-adelsfreundliche Ansichten vertrat, versuchte nun, die ihm unerwünschten Diskussionen in der Verfassungskommission zu stoppen. Auf seine Initiative hin richtete König Max I. Joseph im Dezember 1814 von Wien aus ein scharf tadelndes Schreiben an den Vorsitzenden, den Justizminister Heinrich Graf von Reigersberg: In der Kommission werde zu langsam gearbeitet, zu viel geredet, und sie überschreite die Grenzen des ihr erteilten Auftrags. Wer, so der König in den Worten Montgelas‘, aus „unrecht angewendetem Eifer“ das „Festhalten an individuellen Ansichten sich [weiterhin] erlaube[n]“, sei formal zur Ordnung zu rufen.18 Bemerkenswerterweise ließen sich die Ausschussmitglieder und vor allem der Vorsitzende Reigersberg, der mit Montgelas seit 1810 einige Konflikte über die Adelspolitik ausgefochten hatte, von diesem Rüffel wenig beeindrucken. Die finalen Abstimmungen Kammer der bayerischen Ständeversammlung im Vormärz (1818–1845) (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 55), 2 Bde., Göttingen 1996, hier: Bd. 1, S. 36–45; Markus J. Prutsch, Making Sense of Constitutional Monarchism in Post-Napoleonic France and Germany, Basingstoke 2013, S. 84–93. 17 Zitiert nach Weis (wie Anm. 5) S. 263. 18 Zitiert nach ebd. S. 269.
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gingen zwar im Sinn von Montgelas aus, doch die ablehnenden Mehrheiten fielen äußerst knapp aus: im Fall des Ausschlusses der Wählbarkeit von Grunduntertanen mit nur acht gegen sechs Stimmen. Ähnlich eng war es bei der Ablehnung einer allgemeinen Wehrpflicht. Gerade diese beiden Beschlüsse fanden dann übrigens nicht Eingang in die Verfassung von 1818. Das lag einerseits am Abschlussbericht Reigersbergs vom 14. Februar 1815, der dem König auch die abweichenden Voten der Minderheit samt Begründungen vorlegte und sich selbst deutlich in Richtung der liberaleren Ansichten positionierte. Unterstützung fand der Justizminister beim Kronprinzen, der sich in Wien mit diesem Bericht befasste und seinem Vater im März ausführliche Anmerkungen dazu übermittelte. „In wesentlichen, wenn auch nicht in allen Punkten stellte sich Ludwig … auf die Seite der Minderheit und Reigersbergs.“19 So unterstützte er Gesetzesinitiative, Petitionsrecht, volles Steuerbewilligungsrecht des Parlaments und in beschwörenden Worten das Verfassungsprinzip als solches. Der König erteilte Reigersberg und fünf Mitgliedern der Verfassungskommission dann den Auftrag, auf dieser Basis die Arbeiten fortzusetzen, doch dazu kam es nicht; das neue, kleinere Gremium tagte nur zweimal, im April 1815. Montgelas gab in der Rückschau eine Reihe von Gründen für die Unterbrechung der Beratungen an, die erst drei Jahre später, nach seiner Entlassung, wiederaufgenommen werden sollten: den letzten Feldzug gegen Napoleon, die Verhandlungen mit Österreich um Salzburg oder die Reisen des Königs. In Wirklichkeit stand der Minister einem repräsentativen Verfassungssystem mit starkem Parlament prinzipiell skeptisch gegenüber – eine Skepsis, die er mit führenden Politikern seiner Generation wie Metternich oder Hardenberg teilte. Geprägt von der Erfahrung der Französischen Revolution und zwanzig Jahren Krieg in Mitteleuropa war die Grundüberzeugung dieser politischen Generation auf die Sicherung von Stabilität, Ordnung und Kontrolle gerichtet – ein Modell, das in Bayern seit 1799 gut funktioniert hatte. Kurz vor seiner Entlassung 1817 äußerte Montgelas gegenüber dem französischen Gesandten de la Garde seine Skepsis, ob das Verfassungsmodell der Charte von 1814 auf Weis (wie Anm. 3) S. 783. – Zur Rolle Ludwigs vgl. Hans-Michael Körner, „Bemerkungen über den Entwurf der Verfassung für Baiern“. Das Verfassungsgutachten des Kronprinzen Ludwig von Bayern vom 9. März 1815. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 49 (1986) S. 421–448, die Edition der „Bemerkungen“ Ludwigs vom 9. März 1815 hier S. 429–448. 19
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die deutschen Einzelstaaten transferierbar sei: „Aber wie viele Menschen sind in der Lage, die politischen Freiheitsrechte zu genießen oder sie auch nur zu verstehen?“ Dem früheren Hofbibliothekar Johann Christoph von Aretin hatte er ein halbes Jahr vorher (September 1816) direkt gesagt: „Sie haben sicher recht, daß einmal die Ideen einer Repräsentativverfassung über die alten Stände siegen werden. Aber mir ist es für Bayern noch zu früh, um diese Ideen ohne Einschränkungen bei uns einzuführen“.20 Nach Karl Otmar von Aretins Urteil war Montgelas sicher „kein prinzipieller Verfassungsfeind“.21 Er konzipierte die Verfassung von 1808, stieß 1814 die Arbeit an der Verfassung von 1818 an und hatte sich schon vor 1799, als er noch für den Zweibrücker Hof arbeitete, von seinem Studium in Straßburg geprägt, zur Entfaltung bürgerlicher Freiheitsrechte und zur Gleichheit vor dem Gesetz bekannt. Zum nächsten Schritt, zur Implementierung politischer Rechte für ein breit gewähltes Parlament, konnte er sich in der unübersichtlichen Situation der Jahre 1814/15 nicht verstehen. Dies haben die meisten hochrangigen Verantwortungsträger seiner Generation so gesehen; die Konflikte um die Forderung und Durchsetzung politischer Freiheiten für immer breitere Schichten der Bevölkerung sollten dann das gesamte „lange“ 19. Jahrhundert durchziehen. Montgelas‘ Stellung als „Vice-Regent des Landes“, wie der preußische Gesandte Johann Emmanuel von Küster es ausdrückte, seine lange unangefochtene Autorität an der Staatsspitze, versinnbildlicht im dreifachen Ministeramt seit 1809, erlitt gerade in den Jahren 1814 bis 1816 eine Reihe herber Dämpfer, die auch erklären dürften, warum er beim Thema Verfassung nun abblockte.22 Mit Feldmarschall Wrede entspann sich ein ernster Konflikt über die Höhe der Ausgaben für die Armee, in dem der König nicht eindeutig Position bezog. Wrede wurde nun endgültig zu einem der führenden Widersacher des Ministers. Das Jahr 1816 sah München von einem enormen Finanzskandal erschüttert, als der Staat die hypothekarische Besicherung einer Reihe von Anleihen, die durch die Ausgabe von Lotterielosen finanziert worden waren, zurückzunehmen hatte. Mehrere führende Bankhäuser in München und Augsburg gingen in Konkurs und eine große Zahl privater Anleger verlor ihr Geld. Montgelas geriet dadurch in ein schiefes Licht, dass er den Hofbankier Aron Elias Seligmann von Eichthal aus der Krise heraushielt und trotz vieler Weis (wie Anm. 3) S. 785. – Aretin (wie Anm. 3) S. 209. Vgl. Aretin (wie Anm. 3) S. 202–213, Zitat hier S. 209. 22 Vgl. Weis (wie Anm. 3) S. 758–777, 790–796, Zitat S. 762. 20 21
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Proteste die Staatsgarantien für andere Banken nicht erneuerte. Seinem Ansehen schadete daneben seine Untätigkeit in der schweren Hungerkrise, die 1816 (dem „Jahr ohne Sommer“)23 im Gefolge eines Vulkanausbruchs in Indonesien über ganz Mitteleuropa hereinbrach. Trotz rapide steigender Getreidepreise konnte sich die Münchner Regierung lange weder zu Ankaufaktionen noch zu Exportverboten entschließen, um die dringend benötigten Lebensmittel im Land zu halten, und ging auch gegen das bis in Hofkreise reichende Spekulantentum nicht ausreichend vor. Schließlich liefen noch die in Rom geführten Verhandlungen mit der Kurie über ein neues Konkordat völlig aus dem Ruder. Dann erkrankte Montgelas um die Jahreswende 1816/17 für mehrere Wochen schwer, offensichtlich an Grippe oder Lungenentzündung. Der österreichische Geschäftsträger in München kolportierte eine angebliche Äußerung aus der höchsten Ebene der Ministerialbürokratie „über die nicht nur phisische, sondern moralische Lähmung“ des Ministers.24 Währenddessen weilte der König am Wiener Hof, um seine eben mit Kaiser Franz von Österreich verheiratete Tochter Karolina Augusta zu besuchen. Am 1. Februar 1817 kam Max I. Joseph nach München zurück. Am Morgen des nächsten Tages wurde Montgelas, nach einem genau geplanten und mit Kronprinz Ludwig abgestimmten Auftritt Wredes in Nymphenburg, entlassen. Der neue Innenminister Friedrich Graf von Thürheim unterließ es, eine rasche Kurskorrektur in der Verfassungsfrage einzuleiten, und das Jahr 1817 brachte keine Bewegung in den Stillstand, der seit Frühjahr 1815 herrschte. Zunächst einmal kam es, unter der Federführung Zentners, zum Versuch, die Stellung des Staatsrats zu stärken und ihn zu einer Art Beamtenparlament umzuwandeln, Berichtspflicht der Minister und Budgetrecht eingeschlossen. Die Schwächung der Position der Minister gegenüber dem Staatsrat und gegenüber den leitenden Beamten in ihren Ministerien, den Generaldirektoren, ist sicher als Reflex auf die langjährige Dominanz eines einzigen Mannes zu werten; Karl Otmar von Aretin spricht von einer kurzen Phase des „Beamtenabsolutismus“, Hartwig Brandt von einem „binnenbürokratische[n] Kleinparlament“.25 Einen Zum „Jahr ohne Sommer“ vgl. Wolfgang Behringer, Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte, München 2015. 24 Zitiert nach Weis (wie Anm. 3) S. 764. 25 Aretin (wie Anm. 3) S. 218–225, Zitat S. 225. – Hartwig Brandt, Die deutschen Staaten der ersten Konstitutionalisierungswelle. In: Werner Daum (Hrsg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bd. 2: 1815–1847, Bonn 2012, S. 823–877, hier S. 848. 23
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neuen „Ausschuß für die Vollendung der Arbeiten der künftigen Verfassung des Reiches“ ernannte der König nicht, vielmehr wurde auch diese Aufgabe im Mai 1817 dem Staatsrat übertragen – vorerst ohne konkrete Folgen.26 Es war also nicht so, dass erst die Abberufung von Montgelas den Weg zur Verfassung freigemacht hätte. Im Gegenteil: Als die geschilderten Krisenmomente überwunden waren, sich Bayerns Stellung im Deutschen Bund endgültig gefestigt hatte und König Max I. Joseph am 16. Februar 1818 die Anordnung zum Neubeginn der Beratungen erließ, tat er das ausdrücklich mit dem Hinweis, die Arbeiten auf der Basis von 1815 fortzusetzen. Dies bedeutete nicht zuletzt, dass die fortschrittlichen Gesichtspunkte, die Lerchenfeld, Reigersberg und Kronprinz Ludwig damals eingebracht hatten, eine Chance auf Verwirklichung behielten. Wie 1814 gab es 1818 eine Reihe von Gründen, die lange geplante Verfassung nun endgültig ins Werk zu setzen: die Glaubwürdigkeit des Staatskredits, die Korrektur des Konkordats oder den Konflikt mit Baden um die Zukunft der rechtsrheinischen Pfalz. Erneut waren es die äußeren Verhältnisse, die entscheidend auf die Innenpolitik einwirkten, wieder waren es Bedenken, unter dem Druck äußerer Vorgaben Freiheiten für die Ausgestaltung des eigenen Staatswesens zu verlieren. Und wieder ging es um die Befürchtung einer Intervention des Deutschen Bundes – dieses Mal konkret in Gestalt einer Reihe von Versuchen des österreichischen Staatskanzlers Metternich um die Jahreswende 1817/18, die politische Führung Bayerns auf die Beibehaltung des innenpolitischen Status quo zu verpflichten. Das hätte bedeutet, bei der Verfassung von 1808 und der verstärkten Stellung des Staatsrats von 1817 zu bleiben, parlamentarische Gremien nur auf Kreisebene einzuführen und auf dieser Basis die Erfüllung des Artikels 13 der Deutschen Bundesakte über die Einführung landständischer Verfassungen als schon vollzogen anzusehen. Ein zentraler, wenigstens in Teilen gewählter Landtag für das ganze Königreich wäre Die Verordnung „Die im Staats-Rathe zunächst zu bearbeitenden Gegenstände betreffend“ vom 6. Juni 1817 im Abdruck bei Michael Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht 1806–1918. Eine Dokumentensammlung nebst Einführungen. Bd. 2: Bayern, Berlin-Heidelberg-New York 2007, Nr. 371, S. 1370. – Vgl. Aretin (wie Anm. 3) S. 223 (Zitat) sowie, schon vom 3. Mai 1817, die neue Instruktion für den Staatsrat (Kotulla Nr. 370, S. 1362–1369, hier S. 1364). Unmittelbar nach dem Sturz Montgelas‘ hätte diese Kompetenz durchaus beim Ministerium ressortieren sollen (ebd. Nr. 365, S. 1307). Vgl. Karl Möckl, Der moderne bayerische Staat. Eine Verfassungsgeschichte vom Aufgeklärten Absolutismus bis zum Ende der Reformepoche (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern III,1), München 1979, S. 195–207. 26
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damit nicht zustande gekommen.27 Natürlich versuchte man in München nach wie vor, diese Art von politischer Außensteuerung zu verhindern, unter dem neuen Ministerium Rechberg nicht anders als unter Montgelas. So begannen Mitte März 1818, unter strenger Geheimhaltung, die Verfassungsberatungen einer Ministerialkonferenz an genau jenem Punkt, an dem sie im April 1815 unterbrochen worden waren. Dieses Mal wurde, vorbereitet und koordiniert von Zentner als Amtschef im Innenministerium, auf 36 Sitzungen innerhalb von nur zwei Monaten effektive und erfolgreiche Arbeit geleistet.28 Am 26. Mai 1818 wurde die Verfassungsurkunde als „Magna Charta Bavariae“, wie es auf der prunkvollen Lade heißt, in der sie aufbewahrt wurde, verkündet. Sie enthielt, so das Fazit von Eberhard Weis,29 einen großen Teil der liberalen Verbesserungen, die 1814/15 angeregt worden waren. Zu ihr gehörten, als beigeordnete Gesetze in Verfassungsrang, zehn Edikte. In einem Religionsedikt beispielsweise unterstrich der Staat die Weitergeltung seiner Toleranz- und Paritätsgesetzgebung, um den Vorrang der Verfassung gegenüber dem Konkordat zu signalisieren. Formal nachgeordnet, aber von zentraler Wichtigkeit und schon vor der Verfassung in Kraft gesetzt war das Gemeindeedikt (17. Mai 1818), das die kommunale Selbstverwaltung mit umfassendem eigenen Wirkungskreis und freier Wahl der Gemeindeorgane wiederherstellte, wozu etwa Erhebung und Verwendung von Umlagen, die Schulaufsicht und die Verwaltung von Stiftungsvermögen gehörten.30 Die Verfassung von 1818 erwies sich als langlebig und stabil; insofern steht sie tatsächlich am Anfang des Verfassungsstaats Bayern. Natürlich Hervorgehoben bei Aretin (wie Anm. 3) S. 248–251. – Vgl. Möckl (wie Anm. 26) S. 217–237. 28 Zur letzten Phase der Kommissionsarbeiten vgl. Weis (wie Anm. 5) S. 273 f.; Dirk Götschmann, Bayerischer Parlamentarismus im Vormärz. Die Ständeversammlung des Königreichs Bayern 1819–1848 (Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus 7), Düsseldorf 2002, S. 46–64; Franz Dobmann, Georg Friedrich Freiherr von Zentner als bayerischer Staatsmann in den Jahren 1799–1821 (Münchener historische Studien, Abteilung Bayerische Geschichte 6), Kallmünz 1962, S. 142–151. 29 Digitale Reproduktion der Lade unter https://www.bavarikon.de/object/bav:BSB-CMS0000000000003186?lang=de (aufgerufen 11.2.2021) als Teil der Virtuellen Ausstellung „Die Verfassung des Königreichs Bayern 1818–1918“. – Vgl. Weis (wie Anm. 3) S. 786. 30 Neueste Abdrucke der bayerischen Verfassungsdokumente von 1818 bei Kotulla (wie Anm. 26) – der Text der Verfassung selbst hier Nr. 376, S. 1387–1407, die zehn „Edikcte“ [noch Nr. 376] S. 1407–1530 (das „Edict … in Beziehung auf Religion und kirchliche Gesellschaften“ S. 1410–1423), das vorangehende Gemeindeedikt ebd. Nr. 311, S. 917–942. 27
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wurde sie mehrfach modifiziert, am stärksten 1848, als Initiativrecht und Ministerverantwortlichkeit etabliert und das Wahlrecht erweitert wurden, dann 1871, als zahlreiche Rechte an das neue Kaiserreich abgetreten werden mussten. Doch die Grundstruktur der Verfassung von 1818 überdauerte bis zum Ende der Monarchie – bis sich 1919 der „Freistaat Bayern“ mit der „Bamberger Verfassung“ auf einer völlig neuen Grundlage verfassungsrechtlich konstituierte, als Republik und auf Basis der Volkssouveränität. Die Grundstrukturen jener Verfassungen, die neben Bayern auch Baden (1818), Württemberg (1819) und Hessen-Darmstadt (1820) im Zuge einer „ersten Konstitutionalisierungswelle“ im Deutschen Bund einführten, waren einander sehr ähnlich; die Forschung spricht vom Typus des „monarchische[n] Konstitutionalismus“. Sie enthielten zukunftsweisende, unseren staatsbürgerlichen Gesellschaften bis heute zugrunde liegende Prinzipien ebenso wie zeitgebundene Bestimmungen und Einschränkungen, die heutigen demokratischen Grundsätzen widersprechen. Insofern beginnt mit den süddeutschen Konstitutionen von 1818 bis 1820 tatsächlich „die Epoche des modernen Verfassungsstaates in Deutschland“.31 Der zentrale, bis 1918 nie veränderte Grundzug dieses Verfassungstyps war der Dualismus zwischen Monarch und Parlament mit klarer monarchischer Prärogative. Hierin bildet sich der Spannungsbogen jener beiden politischen Fundamentalprinzipien des 19. Jahrhunderts ab, wie sie Leopold von Ranke dem bayerischen König Maximilian II. im Schlussgespräch zu seinen Vorträgen in Berchtesgaden 1854 beschrieben hatte, „Monarchie und Volkssouveränität“.32 Nach der Französischen Revolution und der Proklamation der Nation als Ursprung und Träger aller Souveränität konnte die Legitimität des Monarchen nicht mehr als gottgegeben hingenommen werden, vielmehr war sie stets neu herzustellen, abzusichern und an gesellschaftliche Veränderungen anzupassen, um Akzeptanz zu generieZitate bei Brandt (wie Anm. 25) S. 823. – „Monarchischer Konstitutionalismus“ etwa bei Volker Sellin, Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen, München 2011, S. 182, oder Kirsch (wie Anm. 11) S. 45–65 (die französische Variante hier S. 57 als „konstitutionelle Monarchie mit Vorrang des Königs“ beschrieben). „Konstitutionalismus“ ohne qualifizierende Beifügung z.B. bei Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776–1866. Vom Beginn des modernen Verfassungsstaats bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Frankfurt am Main 1988, S. 110. – Michael Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Alten Reich bis Weimar (1495–1934), Berlin 2008, S. 351. 32 Leopold von Ranke, Über die Epochen der Neueren Geschichte. Vorträge dem Könige Maximilian II. von Bayern gehalten, Darmstadt 1989, S. 164 („Schlussgespräch“ zum 19. Vortrag „Das Zeitalter der Revolution“). 31
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ren. „Selbstbehauptung durch Wandel“ sicherte im 19. Jahrhundert den Monarchien Europas ihren Fortbestand bis zur Katastrophe von 1917/18. Zu möglichen Schlüsselstrategien der Behauptung monarchischer Legitimität konnten der Einsatz für soziale Reformen oder ein Bündnis mit der nationalen Bewegung ebenso gehören wie eben die Konstitutionalisierung des Staates.33 Die Herrschaft des Monarchen galt dabei aber immer schon als vorausgesetzt, wurde also nicht, wie im modernen Verständnis, durch einen Verfassungsvertrag erst begründet. Die Verfassung wurde vom Monarchen vielmehr gewährt („oktroyiert“) – „gleichsam in einem freiwilligen Akt weiser monarchischer Selbstbeschränkung“34. Als Modell dafür stand die französische „Charte constitutionelle“ zur Verfügung, die Ludwig XVIII. als neuer König von Frankreich am 4. Juni 1814 erlassen hatte – „als moderne Repräsentativverfassung, welche die Rechte des Monarchen im nötigen Umfang sicherte und schon durch die Form der Inkraftsetzung die fürstliche Souveränität wahrte“. Der Monarch band sich selbst an die Verfassung, indem er einen Eid auf sie schwor (in Bayern taten dies auch alle Prinzen des königlichen Hauses; Tit. X, § 1–2).35 Das „monarchische Prinzip“, wie es 1820 als Grunderfordernis für jede Verfassung eines Mitgliedsstaats des Deutschen Bundes fixiert wurde, brachte die starke Stellung des Monarchen als Inhaber der gesamten Staatsgewalt zum Ausdruck.36 Auf dieser Grundlage band er sich in der Vgl. Sellin (wie Anm. 31) S. 5–10. – Volker Sellin, Das Jahrhundert der Restaurationen. 1814 bis 1906, München 2014, S. 7–14, 137–140. – Dieter Langewiesche, Die Monarchie im Jahrhundert Europas. Selbstbehauptung durch Wandel im 19. Jahrhundert (Schriften der Philosophisch-Historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 50), Heidelberg 2013. 34 Kirsch (wie Anm. 11) S. 303. 35 Zitat bei Sellin (wie Anm. 9) S. 302. – Vgl. zu den auch in Bayern realisierten Verfassungsprinzipien des französischen Modells von 1814 Kirsch (wie Anm. 11) S. 323–329 und den frühen systematischen Vergleich von Rudolf Oeschey, Die bayerische Verfassungsurkunde vom 26. Mai 1818 und die Charte Ludwigs XVIII vom 4. Juni 1814. Ein Beitrag zur Lehre vom monarchischen Prinzip. Unter Berücksichtigung der bayerischen Konstitution vom 1. Mai 1808 und deren Vorbildes, der westfälischen Verfassung vom 15. November 1807, München 1914. – Die folgenden Verweise und Zitate auf den bayerischen Verfassungstext nach dem Abdruck bei Kotulla (wie Anm. 26) Nr. 376, S. 1387–1407. Ein Digitalisat des Originals unter https://www.bavarikon.de/object/GDA-OBJ00000BAV80000807?lang=de (aufgerufen 19.3.2021). 36 Formuliert in Art. 57 der Wiener Schlussakte vom 15. Mai 1820 (Abdruck z.B. bei Karl Zeumer (Hrsg.), Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit. Teil 2: Von Maximilian I. bis 1806; Anhang (Quellensammlungen zum Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht 2), 2. Auflage, Tübingen 1913, ND 33
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Ausübung der dieser Gewalt innewohnenden Rechte freiwillig an eine Reihe von Bedingungen. In dieser Sicht ging die Herrschaft des Monarchen aus eigenem Recht also dem Zugeständnis einer Verfassung voraus. Die bayerische Verfassung formulierte diese „generalklauselartige[n] Ermächtigung“37 in Tit. II, § 1 paradigmatisch: „Der König ist das Oberhaupt des Staats, vereiniget in sich alle Rechte der Staatsgewalt, und übt sie unter den von Ihm gegebenen … Bestimmungen aus. Seine Person ist heilig und unverletzlich.“ Der Herrscher war demnach nicht nur alleiniger Inhaber der Staatsgewalt, sondern sein Amt und seine Person waren unantastbar, denn sie gingen auf Gott zurück („heilig“), nicht auf den Willen des Volkes. So waren im System des monarchischen Konstitutionalismus verfassunggebende Versammlungen wie in den USA 1787 oder in Frankreich 1789 nicht vorstellbar. Die Regel war vielmehr (mit dem bemerkenswerten Ausnahmefall Württemberg 1820) die einseitige Gewährung durch den Monarchen – der dabei natürlich von einer Gruppe von Politikern und hochrangigen Beamten inhaltlich beraten wurde, was, wie am bayerischen Beispiel gezeigt, durchaus zu kontroversen Meinungen führen konnte. Die gesamte Außenpolitik, der exekutive Apparat des Staates und die Armee blieben allein in der Hand des Königs und der von ihm ernannten Vertrauenspersonen. Auch die staatliche Verwaltung war Bereich der monarchischen Prärogative, mit der wichtigen Ausnahme der Justiz und der garantierten Unabhängigkeit der Richter. Formal ausgeschlossen allerdings war die einseitige Aufhebung oder Rücknahme einer einmal gewährten Konstitution. Gleichwohl waren die frühen Konstitutionen „doch vor allem Verbürgungen der Freiheit“, garantierten eine gemeinschaftliche Ausübung der Legislativgewalt durch König und Parlament sowie eine „irreversible[n] Selbstbindung der Staatsspitze“ in einem von der Person des Fürsten unabhängigen Regelsystem.38 Sie enthielten einen Katalog bürgerlicher Rechte für alle „Unterthanen“, „Einwohner“ und „Staatsbürger“ – im bayerischen Fall finden sich alle drei Begriffe nebeneinander gebraucht. Diese bürgerlichen Rechte sind weder von der Intention noch vom Umfang her vergleichbar mit den Erklärungen der „Menschenrechte“, wie sie in FrankAalen 1987, S. 270 f.). – Vgl. Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Teilung Deutschlands. Ein Studienbuch, 2. Auflage, München 1992, S. 217 f.; Kotulla (wie Anm. 31) S. 345–349. 37 Kirsch (wie Anm. 11) S. 326. 38 Zitate bei Brandt (wie Anm. 25) S. 827. – Vgl. Willoweit (wie Anm. 36) S. 219.
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reich und den USA 1789 verkündet wurden. Diese stellten, auf naturrechtlicher Basis, die Freiheit des Einzelnen in den Mittelpunkt und grenzten als Leitlinie jeder künftigen Gesetzgebung die Verfügungsmacht des Staates grundsätzlich ein. Im Modell von 1814 bis 1820 geht es dagegen um staatsbürgerliche Rechte – die französische Charte überschreibt ihren ersten Titel „Droit public des Français“.39 Diese sicherten die wesentlichen Errungenschaften der Neugestaltung von Staat und Gesellschaft der „Reformzeit“ ab – in Frankreich der Revolution und der Herrschaft Napoleons, in Bayern der Ära Montgelas. Unter den 1818 gegebenen Garantien (in der Präambel und in Tit. IV) fanden sich etwa die Aufhebung aller Formen persönlicher Unfreiheit, der Schutz vor willkürlicher Verhaftung und das Recht auf den gesetzlichen Richter, die Sicherung des persönlichen Eigentums gegen willkürlichen Zugriff oder die Gleichheit der Besteuerung, des Zugangs zu öffentlichen Ämtern und der Pflicht zum Militärdienst. Politisch relevant waren die in der Präambel als basale Prinzipien („Grundzüge“) angesprochenen Freiheiten „der Gewissen“ und „der Meinungen“, wobei letztere aufgrund Missbrauchsvorbehalt gesetzlich eingeschränkt werden konnte. Versammlungs- oder Vereinigungsfreiheit gehörten dagegen (noch) nicht zum Repertoire des hier behandelten Verfassungstypus. Dennoch sicherten diese Garantiekataloge die politische Teilhabe breiterer Bevölkerungsschichten und öffneten den Weg vom Untertanen zum Staatsbürger. Darin lag auch die Verheißung von mehr Partizipation und lohnendem Engagement. Genau das machte einen entscheidenden Teil jener integrativen Kraft aus, die ein völlig neu konfigurierter Staat wie das Königreich Bayern entwickeln konnte und die ihm langfristig Stabilität verlieh. Die zentrale, neuartige politische Institution von 1818 war das Parlament mit seinen beiden Kammern – die „Stände-Versammlung“, wie es in Bayern 1818 noch camouflierend hieß (Tit. I, § 2; Tit. VI–VII; Beilage 10) – die Bezeichnung „Landtag“ wurde erst 1848 offiziell. Die Kammern konnten nur dort tätig werden, wo die Verfassung es ausdrücklich erlaubte. Das reichte nicht für eigenständige politische Initiativen und sicherte dem König die „Zuständigkeitsvermutung“, garantierte aber eine korrigierende Funktion, ein „Vetopotential“ der parlamentarischen Vertretung.40 1818 kannte weder das Selbstversammlungsrecht der „Stände“ noch ihr Recht zur Gesetzesinitiative, das auch in Frankreich erst 1830 eingeführt wurde. Alle drei Jahre nur (Montgelas hatte an einen kürzeren Zeitraum 39 40
Erbe (wie Anm. 9) S. 150. Zitate bei Grimm (wie Anm. 31) S. 141, 139.
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gedacht) musste die Versammlung vom König für höchstens zwei Monate einberufen werden (Tit. VII, § 22). Notwendig war die Mitwirkung beider Kammern in allen Sachen, die „die Freyheit der Person oder das Eigenthum des Staats-Angehörigen“ betrafen, wie es die auch in Bayern verwendete politische Formel ausdrückte (Tit. VII, § 2). Das betraf vor allem die Erhebung von (direkten) Steuern. Damit einher ging die Offenlegung des Budgets (in Bayern zuerst gegenüber der zweiten, also der gewählten Kammer), die ihrerseits die Kreditwürdigkeit des Staates sicherte. Umstritten war allerdings, ob dies die parlamentarische Bewilligung des kompletten Budgets einschloss – Württemberg ging in dieser Hinsicht am weitesten, während es in Bayern de jure nur ein Prüfungs-, de facto aber ein implizites Bewilligungsrecht gab. Die Offenlegung des Budgets, die Garantie des Staatskredits und die Zustimmung zur Aufnahme neuer Schulden bildeten die schärfsten Waffen der Parlamente der Vormärzzeit.41 Außerdem existierte in beiden Kammern eine Art Petitionsausschuss, an den von jedem Bürger und jeder Gemeinde „Beschwerden über Verletzung der constitutionellen Rechte“ gerichtet werden konnten; unter bestimmten Voraussetzungen wurden diese an den König weitergeleitet (Tit. VII, § 21). Die freie Meinungsäußerung bei Reden in der Zweiten Kammer wurde geschützt, und die Debatten hatten durch Publikation der Protokolle eine gewisse Öffentlichkeit. Keine Einwirkungsmöglichkeiten hatten die konstitutionellen Parlamente auf die Exekutive. Die Regierung – das sollte sich im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Konfliktpunkt entwickeln – hing allein vom Vertrauen des Monarchen ab, nicht vom Vertrauen des Parlaments. Entsprechend existierte kein Misstrauensvotum, aber immerhin ein Ansatz zur Verantwortung der Minister, die die Verfügungen des Königs gegenzeichneten und sich im Fall einer „Verletzung der Verfassung“ vor König, Staatsrat oder Oberstem Gericht verantworten mussten, wenn beide Kammern das verlangten (Tit. X, § 5). Das Zwei-Kammer-System basierte seiner Grundstruktur nach darauf, dass privilegierte Personenkreise mit stärkerem Gewicht vertreten waren, was besonders für den Adel galt, der in Bayern bis 1848 seinen besonderen Gerichtsstand und fallweise auch die Gerichtsrechte auf seinen eigenen Gütern behielt. Das bedeutete aber keine Rückkehr zum geburtsständischen Prinzip der Frühen Neuzeit. Alle Abgeordneten waren nach ihrem Eid auf Brandt (wie Anm. 25) S. 870–873. – Bernhard Löffler, Die Ersten Kammern und der Adel in den deutschen konstitutionellen Monarchien. Aspekte eines verfassungs- und sozialgeschichtlichen Problems. In: Historische Zeitschrift 265 (1997) S. 29–76, hier S. 40 f. 41
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das „allgemeine[s] Wohl und Beste“ des gesamten Landes verpflichtet (Tit. VII, § 25), nicht auf die Interessen ihres Standes; sie stimmten nach persönlicher Überzeugung und nach Mehrheitsprinzip ab. Die Mitgliedschaft in der Ersten Kammer („Reichs-Räthe“) beruhte zum Teil auf Geburt, zum Teil auf Ernennung oder Bekleidung eines hohen Amts, wozu in Bayern etwa die beiden katholischen Erzbischöfe von München-Freising und Bamberg sowie der Präsident des protestantischen Generalkonsistoriums gehörten.42 Die Erste Kammer sicherte auch die privilegierten Mitwirkungsrechte der sog. Standesherren, der „Häupter[n] der ehemals Reichsständischen fürstlichen und gräflichen Familien“ (Tit.VI, § 2; Beilage 4), die zwischen 1803 und 1806 mediatisiert worden waren, also ihre reichsunmittelbare Herrschaft verloren hatten und einem benachbarten Großterritorium einverleibt worden waren. Mit dieser Gruppe war in den finalen Verhandlungen des Wiener Kongresses eine neue Adelsschicht geschaffen worden, „die zwar … ihrem subjektiven Empfinden nach deklassiert war …, aber immer noch eine hochprivilegierte Gruppe darstellte“.43 Die Zweite Kammer (die „Abgeordneten“) war in Bayern in fünf ungleich großen, ständisch abgeschichteten Kurien („Klassen“) organisiert (Tit. VI, § 7–9), deren Mandatszahl bezirksweise festgelegt war und die nach unterschiedlichen Wahlordnungen bestimmt wurden. Dieses Grundprinzip stand schon seit den ersten Beratungen 1814 fest. Es dominierten die Grundbesitzer, die mehr als die Hälfte der Abgeordneten stellten, ein Viertel kam aus den Städten und Märkten, den Rest teilten sich Geistlichkeit und Universitäten. Wie in jedem Kuriensystem wich die Zusammensetzung der Zweiten Kammer damit von vorneherein stark von der Bevölkerungsstruktur ab: Ein privilegierter Adliger vertrat 34 seiner Standesgenossen, ein Grundbesitzer vom Land dagegen ca. 54.000 Einwohner.44 Die strukturelle Ungleichheit setzte sich im Wahlrecht zur Zweiten Kammer fort, das im Regelfall alle sechs Jahre ausgeübt wurde. Das Wahlrecht war ungleich (es stand nur Männern über 25 zu), indirekt (in Zur Kammer der Reichsräte in der Verfassungsstruktur von 1818 siehe Bernhard Löffler, Die bayerische Kammer der Reichsräte 1848 bis 1918. Grundlagen, Zusammensetzung, Politik (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 108), München 1996, S. 4–14. – Vergleichend Löffler (wie Anm. 41). 43 Heinz Gollwitzer, Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten 1815–1918. Ein Beitrag zur deutschen Sozialgeschichte, 2. Auflage, Göttingen 1964, S. 32. – Für Bayern vgl. Löffler (wie Anm. 42) S. 40–51. 44 Vgl. Leeb (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 564–580, Zahlen S. 568. – Götschmann (wie Anm. 28) S. 92–145. 42
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Bayern wurde in der 5. Kurie auf drei Stufen, nämlich auf Gemeinde-, Bezirks- und Landesebene, gewählt) und gebunden an eine bestimmte, in Bayern vergleichsweise hohe Mindestleistung an direkten Steuern, den Zensus.45 Diese Bindung des Wahlrechts an Besitz, vorzugsweise Grundbesitz ist charakteristisch für die Verfassungen des 19. Jahrhunderts, auch solche von fortschrittlichem Zuschnitt. Die Liberalen wollten keinen Querschnitt der Gesamtbevölkerung vertreten sehen, sondern eine Auswahl, „selbstständige[r] Staatsbürger“ (Tit. VI, § 12), deren ökonomischer Erfolg als Gradmesser für Tüchtigkeit, Selbständigkeit und politische Berechenbarkeit interpretiert wurde. In den beiden größten Kurien waren in Bayern auf der untersten Stufe, anders als in Baden, überhaupt nur Mitglieder kommunaler Gremien wahlberechtigt. Umgelegt auf die damalige Bevölkerungszahl des Königreichs von etwa vier Millionen betrug die Quote der aktiv Wahlberechtigten damit gerade einmal 1,8 %, wobei die Städte noch einmal deutlich schlechter wegkamen. Noch stärker eingeschränkt hinsichtlich des erforderlichen Alters und der finanziellen Voraussetzungen war das passive Wahlrecht, also die Wählbarkeit als Wahlmann oder Abgeordneter (0,4 % Berechtigtenquote). Eine Liberalisierung erfolgte erst 1848 mit der Aufgabe der Klassenwahl und Erweiterungen beim Stimmrecht, wodurch eine Quote von 17 % an Wahlberechtigten erreicht wurde.46 Auch in der gewählten Kammer waren Adel und Geistlichkeit daher überproportional präsent; tendenziell waren städtische Milieus außerdem besser vertreten als ländliche.47 Bayerns erster „Landtag“ trat von Anfang Analyse bei Leeb (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 62–107. Ebd., Bd. 2, S. 566, 671. – Standardwerke zur Ausgestaltung des vormärzlichen Wahlrechts in weiteren süddeutschen Staaten: Manfred Hörner, Die Wahlen zur badischen zweiten Kammer im Vormärz (1819–1847) (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 29), Göttingen 1987. – Hartwig Brandt, Parlamentarismus in Württemberg 1819–1870. Anatomie eines deutschen Landtags (Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus 8), Düsseldorf 1987. – Manfred Bullik, Staat und Gesellschaft im hessischen Vormärz. Wahlrecht, Wahlen und öffentliche Meinung in Kurhessen 1830–1848, Köln-Wien 1972. – Vgl. auch Peter Michael Ehrle, Volksvertretung im Vormärz. Studien zur Zusammensetzung, Wahl und Funktion der deutschen Landtage im Spannungsfeld zwischen monarchischem Prinzip und ständischer Repräsentation (Europäische Hochschulschriften: Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 127), Frankfurt am Main u.a. 1979. 47 Zur sozialen Heterogenität der Zusammensetzung der Zweiten Kammer in Bayern, in der z.B. neben den ländlichen Honoratioren wie Brauern, Wirten und Posthaltern die Beamten eine vergleichsweise geringe Rolle spielten, vgl. Leeb (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 576–580. 45 46
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Februar bis Ende Juli 1819 zusammen und beriet ein halbes Jahr lang das erste Haushaltsgesetz (für die Budgetperiode 1819–1825), die Regelung der Gemeindeumlagen und eine Vielzahl weiterer Agenden. Gleichzeitig verteidigten Rechberg als Außenminister und Zentner als Generaldirektor im Innenministerium die Grundprinzipien der bayerischen Verfassung erfolgreich gegen Versuche Österreichs und Preußens, im Deutschen Bund eine konservative Trendwende herbeizuführen.48 Michael Doeberl, damals Ordinarius für Landesgeschichte an der Münchner Universität, schrieb zum hundertjährigen Jubiläum der Verfassung in schwierigen Zeiten 1918, dieses Grundgesetz habe nicht nur seinen Hauptzweck erfüllt, die staatliche Einheit des neuen Bayern zu begründen, sondern auch das in seiner Präambel gegebene Versprechen eingelöst: ein „Fortschreiten zum Bessern nach geprüften Erfahrungen“.49 Noch deutlich entfernt von demokratischer Gleichheit, wie sie 1919 grundgelegt wurde, brachte das Jahr 1818 doch einen entscheidenden Schritt: die Garantie der bürgerlichen Grundrechte, die unseren liberalen Rechtsstaat bis heute ausmachen. An diese wichtige Etappe der Entwicklung moderner Staatlichkeit in Bayern zu erinnern, sollte, nicht zuletzt im Ausbildungsprogramm für die bayerischen Archivarinnen und Archivare50, ein wichtiges Anliegen der Geschichtsforschung und -vermittlung im Freistaat bleiben.
Eberhard Weis, Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max I. (1799–1825). In: Max Spindler – Alois Schmid (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 4/1: Das neue Bayern. Von 1800 bis zur Gegenwart. Staat und Politik, 2. Auflage, München 2003, 3–126, hier S. 124–126. – Götschmann (wie Anm. 28) S. 337–398. 49 Michael Doeberl, Ein Jahrhundert bayerischen Verfassungslebens, München 1918, S. 164. 50 Vgl. Margit Ksoll-Marcon, Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte im Rahmen der bayerischen Archivarsausbildung. In: Michael Hochedlinger – Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung. Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 57), Wien-München 2010, S. 173–178, hier S. 175–178 (in Kombination mit Verwaltungs- und Behördengeschichte). 48
Der Münchner Stadtbaurat Arnold von Zenetti (1824–1891). Eine biographische Skizze1 Von Michael Stephan He r k u n f t d e r Fa m i l i e Z e n e t t i Der Ausgangspunkt der Familiengeschichte der Familie Zenetti liegt in Ravascletto (heute italienische Region Friaul-Julisch Venetien) in den karnischen Alpen.2 Die Geschichte der Familie lässt sich lückenlos bis 1625 zurückverfolgen. Antonio Zanetti (ursprüngliche Schreibweise des Namens, 1703–1773) kam mit Bruder und Sohn nach Schwaben und gründete 1739 in Wertingen eine Handelsgesellschaft. Sein Sohn Giovanni Battista (1737–1816) führte nach seiner Heirat 1764 mit der aus Sutrio stammenden Maria Maddalena Vazzanini (1744–1839) das Geschäft fort, das heute noch in Familienbesitz ist, und kam in Wertingen zur Würde eines Bürgermeisters. Dieser Familienzweig stellte im 19. Jahrhundert auch im benachbarten Lauingen mehrmals den Bürgermeister und ist bis heute dort in der Stadtmitte ansässig („Zenetti-Passage“). Der berühmteste Sohn von Giovanni Battista und seiner Frau wurde Johann Baptist von Zenetti, der am 3. August 1785 in Wertingen geboren wurde – als 14. Kind. Er brachte es in der dritten Generation einer Familie mit „Migrationshintergrund“ (wie man heute sagen würde) durch seine berufliche Karriere zu großem Ansehen. Als studierter Jurist begann er 1806 seine Verwaltungslaufbahn als hoher bayerischer Beamter zunächst als Praktikant am Landgericht Wertingen, war dann 1808 bzw. 1810 in Neu-Ulm bzw. Eichstätt tätig. 1816 wurde er als Regierungsrat bei der Regierung des Rheinkreises nach Speyer versetzt und blieb dort bis 1826 (dort wurde 1824 sein dritter Sohn Arnold geboren). Ab 1827 arbeitete Zenetti in München, zunächst bei der Regierung des Isarkreises, ab 1832 Überarbeiteter Vortrag, gehalten auf der Tagung „Öffentliches Bauen unter Ludwig II.“ beim Architekturmuseum der TU München am 16. November 2018 (im Begleitprogramm zur Ausstellung „Königsschlösser und Fabriken. Ludwig II. und die Architektur“). 2 Vgl. zum Folgenden: Ludwig Zenetti, Geschichte der Familie Zenetti, Lauingen 1954 (= Band 1). Band 2: Nachtrag, 1970; Band 3: Stammbaum, 1970 (Stadtarchiv München, Av. Bibl. 11227/1-3). 1
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als Ministerialrat im Staatsministerium des Innern. Bereits im Herbst 1832 ging er als Regierungsdirektor und stellvertretender Regierungspräsident nach Passau, zur Regierung des Unterdonaukreises; für seine eigenständige, hervorragende Arbeit dort erhielt er am 24. August 1837 das Ritterkreuz des Verdienstordens der Bayerischen Krone, mit dem der persönliche Adelstitel verbunden war. 1846 wurde er als Regierungspräsident von Niederbayern nach Landshut versetzt. Im März 1847 holte ihn König Ludwig I. als Staatsrat und Verweser des Innenministeriums wieder nach München, um ihn im November des gleichen Jahres wegen seiner Gegnerschaft zu Lola Montez (der Hauptstreitpunkt war die vom König gewünschte Standeserhebung seiner „spanischen Tänzerin“ und Geliebten zu einer Gräfin von Mansfeld) wieder auf seinen bisherigen Posten nach Landshut weg zu versetzen; dort wurde er 1848/49 als Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Seine Karriere beschloss er in den Jahren 1849/50 erneut in der Pfalz, nun als Regierungspräsident. Er starb am 5. Oktober 1856 in München. Johann Baptist von Zenetti kann als Musterbeispiel einer durch wirtschaftlichen Aufstieg gelungenen Integration einer nach Bayern eingewanderten Familie bezeichnet werden. Von ihm sind handschriftliche Lebenserinnerungen überliefert, in denen er in der Beschreibung seines Vaters (der noch als „Welscher in Wertingen“ bezeichnet wurde) gerade diesen integrierenden Effekt besonders betont: „Wiewohl er mit den Seinigen nur italienisch sprach, so konnte er doch so gut deutsch, dass man in ihm kaum den Italiener gewahr wurde, sprach er nur den schwäbischen Dialekt. (…) Und weil den gemeinen Leuten sein italienischer Name nicht einging, so hatte er denselben deutsch zu machen gesucht, indem er sich ‚Zenat’ nannte und schrieb (während sein Bruder und dessen Söhne den Namen ‚Zenetti’ beibehielten). So richtete er seinen Haushalt, seine Lebensweise, seine Gebräuche, Sprache und Benehmen ganz nach der Art eines gemeinen Bürgers ein, wie solches seinem gewerblichen Interesse am besten zusagte, daher er auch bei Bürger- und Bauersleuten vorzüglich beliebt war.“3 Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Familienarchiv Zenetti 1. – Die handschrift lichen, nur 15 Seiten umfassenden Lebenserinnerungen sind undatiert. Sie liegen lose im ersten Band der Zenetti’schen Haus- und Familienchronik, deren Einträge vom 26. April 1838 bis 9. Juni 1839 reichen. Im Familienarchiv sind weitere acht Bände überliefert, die bis zum Tod Zenettis im Jahr 1856 reichen. Ebenfalls im Familienarchiv sind drei um 1852 verfasste Bände überliefert, die eine Selbstbiografie und Chronik des Sohnes Julius von 3
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El t e r n u n d G e s c h w i s t e r Johann Baptist Zenetti lernte 1811 während einer seiner ersten beruflichen Verwaltungsstationen als Ratsakzessist beim Generalkreiskommissariat des Altmühlkreises in Eichstätt seine erste Frau Josephine von Mieg (1793–1828) aus Amorbach kennen, eine Schwester seines Freundes Arnold von Mieg (1778–1842), ebenfalls ein hoher bayerischer Beamter und späterer Finanzminister. Nachdem Zenetti 1816 nach Speyer versetzt worden war (näher zum Wohnort der Braut), heiratete das Paar am 26. Dezember 1816 in Amorbach und wurde in Speyer ansässig. Hier wurden fünf Kinder geboren, darunter die drei Brüder Wilhelm (1821–1904), Julius (1822–1905) und Arnold (1824–1891). Wilhelm wurde katholischer Priester und trat 1851 mit dem Ordensnamen „Benedikt“ in den Benediktinerorden ein; 1866 wurde er Prior des wiedergegründeten Klosters Schäftlarn; 1872 wurde er zum Abt des Münchner Klosters St. Bonifaz gewählt, zu dem auch das Kloster Andechs gehört. Julius schlug wie der Vater die Laufbahn eines Verwaltungsbeamten ein und brachte es bis zum Regierungspräsidenten von Mittelfranken in Ansbach (1890–1897); in der Zeit wurde auch er mit dem Ritterkreuz des Verdienstordens der bayerischen Krone ausgezeichnet, mit dem der persönliche Adelsstand verbunden war (1896 wurde er noch Komtur des Verdienstordens). Ein Jahr nach Arnolds Geburt kam die Schwester Caroline (1825–1896) in Speyer zur Welt, die 1857 den Rechtsgelehrten und Politiker Alois (ab 1872: von) Brinz (1820–1887) heiraten sollte.4
Zenetti (1822–1905), des älteren Bruders Arnolds, über die Jahre 1822 bis 1851 enthalten. – Das Familienarchiv konnte ich 1994 als Nachlassreferent in der Abt. V (Nachlässe und Sammlungen) des Bayerischen Hauptstaatsarchivs erwerben. Es ist bis heute nicht ausgewertet und enthält über die reine Familienchronik hinaus viele Einträge über Wetter und Seuchen (z.B. waren im Februar 1851 in München 20.000 Menschen an Grippe erkrankt; die Zenettis blieben verschont), aber auch über politische und gesellschaftliche Ereignisse; so heißt es z.B. am 3. Oktober 1850 zur Enthüllung der Bavaria an der Theresienwiese über den ehemaligen König Ludwig I.: „Der Absolutismus seiner Regierung samt dem Lolaregimente war vergessen, es herrschte nur das Dankgefühl für den schöpferischen Kunstsinn des Königs, der die Stadt München unter den Städten Deutschlands zu dem hohen Glanz erhoben hat“ (Familienarchiv Zenetti 7). 4 Aus dieser Zenetti-Brinz-Linie entstammen die Politiker-Brüder Bernhard Vogel (*1932) und Hans-Jochen Vogel (1926–2020).
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Die Mutter Josephine verstarb 1828 im Alter von nur 35 Jahren, kurz nachdem ihr Mann zum ersten Mal nach München versetzt worden war. Johann Baptist Zenetti heiratete 1831 zum zweiten Mal. Die Ehefrau Sophie Panzer (*1799) verstarb jedoch im Februar 1832 kurz nach der Geburt einer Tochter. Noch im gleichen Jahr heiratete Zenetti im Alter von 47 Jahren in Speyer ein drittes Mal – die Forstratstochter Barbara Wilhelmine („Babette“) Martin (1802–1870), mit der er drei weitere Kinder hatte, von denen aber nur die in Passau geborene Josephine (1836–1869) das Kindesalter überlebte.5 S c h u l e u n d St u d i u m Arnold Zenetti wurde am 18. Juni 1824 in Speyer geboren. Er besuchte nach der Versetzung des Vaters das Gymnasium in Passau, danach eine Kreislandwirtschaftsschule, eine Gewerbeschule sowie die Polytechnische Schule. Am 6. November 1843 begann Zenetti ein Studium der „Baukunst“ an der Akademie der bildenden Künste.6 Am 4. August 1844 erhielt er ein Interimszeugnis über die theoretische Prüfung im Straßen-, Brücken- und Wasserbau, das ihm die Genehmigung zu einem Praktikum ermöglichte. Am 20. November 1844 stellte er bei der Bauinspektion München II den Antrag auf Aufnahme zur Praxis verbunden mit der Bitte, weiter parallel an der Akademie das Fach „Zivilbau“ studieren zu dürfen.7 Am 26. November wurde der Antrag bewilligt, am 1. Dezember wurde Zenetti vereidigt. Während seines Praktikums arbeitete Zenetti an Planungen für verschiedene Staatsbauten mit, genannt werden in Zenettis Abschlusszeugnis vom 22. November 1845 das Oberappellationsgericht, die Generalverwaltung der Eisenbahn und die Akademie der bildenden Kunst (der repräsentative Neubau wurde aber erst 1874/75 von Gottfried von Neureuther errichtet). Im Zeugnis heißt es abschließend: „Es berechtigen die bisherigen Leistungen desselben zu den schönsten Hoffnungen auch für die Zukunft.“ Josephine heiratete 1854 den Arzt Joseph (ab 1872: von) Lindwurm (1824–1874); sie begründeten die bis heute bestehende Linie Zenetti-Lindwurm. 6 Vgl. Eintrag Nr. 191 im Matrikelbuch 2 (1841–1884): https://matrikel.adbk.de/matrikel/ mb_1841-1884/jahr_1843/matrikel-00191 (Zugriff vom 1.6.2021). – Arnold Zenetti, Architektonische Details. Nach Gattungen zusammengestellt und bearbeitet an der Bauschule der kgl. Akademie der bildenden Künste in München, München 1844. 7 Staatsarchiv München, AR 839/91: Personalakt der Bauinspektion München II für den Baupraktikanten Arnold Zenetti (1844–1845). 5
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Zenetti wurde danach an der Akademie Meisterschüler des Architekten August Voit (1801–1870), der 1840 den Lehrstuhl für Baukunst von Friedrich von Gärtner (1791–1847) übernommen hatte (bis 1847). In den politisch unruhigen Zeiten des Jahres 1848 beendete Zenetti sein Studium.8 E r s t e Ja h re b e i m Mü n c h n e r St a d t b a u a m t (1850–1867) Nach der Militärzeit bewarb sich der „Ingenieurlieutenant“ und Baupraktikant um die Stelle eines städtischen Bauingenieurs beim Bauamt der Stadt München.9 Die Stelle diente zur Unterstützung des Stadtbaurats Franz Karl Muffat (1797–1868).10 Der Stadtbaurat in München hatte durch das Gemeindeedikt von 1818 eine herausgehobene Stellung. Nach § 47 gehörte zum Magistrat (also der Verwaltungsbehörde) in den Städten erster Klasse („wo das Bauwesen von Bedeutung ist“) ein „technischer Bau-Rath“. Die Mitglieder des Magistrats wurden zwar vom Kollegium der Gemeindebevollmächtigten (also der Gemeindevertretung) gewählt, die Bestätigung der Wahl erfolgte aber durch das Innenministerium, wodurch ein gewisser staatlicher Einfluss auf die Personalpolitik der Kommunen gewährleistet war. Auch vor der Ernennung Zenettis war wie bei allen höheren städtischen Bediensteten nach § 58 des Gemeindeedikts die Zustimmung des Innenministeriums einzuholen, was in seinem Fall am 1. Mai 1850 erfolgte. Vor seinem Dienstantritt unternahm Zenetti mit einem staatlichen Stipendium eine längere Informationsreise durch deutsche Städte, aber auch nach Belgien, Frankreich, Italien und Österreich. Am 6. August 1850 legte er den Amtseid vor dem Ersten Bürgermeister Jakob Bauer (amtierte 1838 bis 1854) ab. Im „Verpflichtungs-Protocoll“ sind Zenettis zukünftige Aufgabenbereiche definiert: „Realitäten-Besitz der Gemeinde, Hochbauten, Brücken, Straßen, Wasserleitungen“. Er fungiert zudem als Stellvertreter In der Zenetti’schen Familienchronik (BayHStA, Familienarchiv Zenetti 6) heißt es zum 22. Februar 1848: „Arnolds Architekten-Konkurs, mehrere Monate während, hat begonnen.“ Am 21. März 1848: „König Ludwig hat die Krone zu Gunsten des Kronprinzen niedergelegt.“ 9 Vgl. zum Folgenden: Stadtarchiv München, PA 11460/1 (Personalakt Zenettis, 1850– 1891). 10 Er war der ältere Bruder von Karl August Muffat (1804–1878), des ersten hauptamtlichen Leiters des Stadtarchivs München (ab 1841). 8
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des Baurats in dessen Abwesenheit. Sogar einen Anti-Korruptions-Passus enthält das Protokoll. Zenettis Gehalt betrug 800 Gulden und wurde nach dem Ablauf eines dreijährigen Provisoriums auf 1000 Gulden erhöht. Am 14. März 1851 erhielt Zenetti das Heimatrecht in München, so dass er am 22. April 1851 Auguste Schmid (*17. Februar 1826 in Würzburg, † 26. November 1909 in München) heiraten konnte. Die Ehe sollte kinderlos bleiben.11 Das erste Jahr am Stadtbauamt München war zunächst geprägt von Zuarbeit für die von Stadtbaurat Muffat geplante Schrannenhalle, die in den Jahren 1851 bis 1853 gebaut wurde.12 Zenettis Name wurde der Öffentlichkeit durch seine Detailplanung und Leitung der Bauaufgaben bei der Anlegung der vom königlichen Architekten Friedrich Bürklein konzipierten Maximilianstraße und dem Bau der Maximiliansbrücke bekannt.13 Hier setzte König Maximilian II. – wie schon sein Vater – als feudaler Bauherr mit einer Prachtstraße in seiner Residenzstadt deutlich sichtbare städtebauliche Zeichen; die Stadt hatte die Grundstücke zu stellen und die Baukosten zu tragen. Erste Pläne Zenettis für die Maximiliansbrücke stammen bereits aus dem Jahr 1853. Doch erst nach der Eingemeindung von Haidhausen (zusammen mit Au und Giesing) im Jahr 1854 wurde das Bauvorhaben zum Anschluss des neuen Stadtviertels forciert. Die Grundsteinlegung erfolgte aber erst im Jahr 1858, bis zur Fertigstellung dauerte es nochmal fünf Jahre. 1863 erhielt Zenetti für seine Mitarbeit von der Stadt München den Titel Oberingenieur und eine Gratifikation von 1500 Gulden, ein Jahr später wurde sein Gehalt auf 1600 Gulden erhöht. Die Brücke war allerdings aus Kostengründen nur in halber Straßenbreite wie die Maximilianstraße ausgeführt worden, was die städtebauliche Wirkung der Gesamtanlage stark einschränkte. Dies wurde erst beim Neubau der Brücke 1901 bis 1905 durch Friedrich von Thiersch korrigiert. Vgl. den Familienbogen bzw. Polizeilichen Meldebogen: Stadtarchiv München, ZIM 184. 12 Die Entwürfe Zenettis zur Schrannenhalle stammen aus dem Jahr 1850/51 und liegen wie die meisten seiner architektonischen Pläne in seinem Nachlass im Münchner Stadtmuseum (Graphische Sammlung VIII/12/1b und VII/12/26c und d). – Winfried Nerdinger (Hrsg.), Zwischen Glaspalast und Maximilianeum. Architektur in Bayern zur Zeit Maximilians II. 1848–1864 (Ausstellungskataloge des Architekturmuseums der Technischen Universität München und des Münchner Stadtmuseums 10), München 1997, Kat. 12 (Schrannenhalle), S. 144–147. 13 Vgl. Nerdinger (wie Anm. 12), Kat. 22 (Brückenbauten), S. 170–172. – Arnold Zenetti, Die Maximiliansbrücke über die Isar in München. In: Allgemeine Bauzeitung 32 (1867) S. 10 f. und Tafeln 6 und 7. – Stadtarchiv München, PS-A-4, 5 und 6. 11
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Ansicht der festlich geschmückten Villa (erbaut 1853–1855 von Arnold Zenetti) des Kaufmanns Angelo Knorr in Niederpöcking, im Vordergrund große Gästegruppe der laut Beschriftung u.a. Paul Heyse, Karl Spitzweg, Franz Graf von Pocci, Moritz von Schwind, Cornelius und Luise von Kobell angehörten (Foto: Joseph Albert, Stadtarchiv München, Sammlung Weinberger, DE-1992-FS-NL-Wein-0418).
Neben seiner amtlichen Tätigkeit fand Zenetti immer wieder Zeit für private Bauaufträge. So plante und baute er in den Jahren 1853 bis 1858 eine ganze Villenkolonie in Niederpöcking am Starnberger See – im Maximilianstil. Das Casino auf der Roseninsel von Franz Jakob Kreuter (1851/52) „lieferte den Prototyp für den eleganten und malerischen Landhausbau am Starnberger See.“14 Auftraggeber der ersten Villa war Angelo Knorr (1820–1872), der vermögende Erbe des Münchner Handelshauses Sabbadini & Knorr. Erste Entwürfe Zenettis stammen schon aus dem Jahr 14 Christoph Hölz, Wohnhäuser und Villen. In: Nerdinger (wie Anm. 12) S. 309–324, hier S. 315.
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185315, fertiggestellt wurde der repräsentative Bau im Jahr 1855.16 Der Bauauftrag für Arnold Zenetti kam wahrscheinlich über seinen Onkel August Ferdinand Zenetti (1812–1878) zustande, der Geschäftspartner von Angelo Knorr bei Sabbadini & Knorr und zudem sein Schwager war.17 Auch er ließ sich 1855 von seinem Neffen in diesem weitläufigen Areal ein kleines Landhaus bauen. Es war allerdings im Gegensatz zur Villa Knorr ein einfacher Bau aus Holz wie auch die Villa (ebenfalls von 1855) für den Komponisten und späteren Hoftheaterintendanten Karl Freiherr von Perfall (1824–1907). Wiederum sehr repräsentativ fiel die Villa „Quellenheim“ aus, die Ferdinand von Miller, der Direktor der königlichen Erzgießerei, aus Anlass der Geburt seines Sohnes Oskar 1855 bei Zenetti in Auftrag gab.18 1856 und 1858 folgten die Villen für den Zahnarzt Wilhelm Amann19 und für den Kaufmann Karl Riederer. Riederer verkaufte das Anwesen bereits 1860 an den Historiker Karl-Heinz Mayer von Mayerfels, in dessen Park Zenetti 1861–63 eine neugotische Kapelle baute, die sich heute noch dort befindet. Bei drei weiteren Landhäusern ist die Urheberschaft Zenettis anzunehmen, aber nicht belegt: für den Maler Mo-
Münchner Stadtmuseum, Graphische Sammlung VIII/12/47a. Arnold Zenetti, Landhaus am Starnberger See. In: Zeitschrift für Bauwesen 5 (1855) Sp. 457 f. und Blatt 51. – Stadtarchiv München, FS-NL-WEIN-418 (Foto der Villa von Joseph Albert, 1862, mit Gruppenaufnahme von Gästen, darunter: Peter von Cornelius, Moritz von Schwind, Franz Graf von Pocci, Luise Kobell, Paul Heyse und Carl Spitzweg). – Nerdinger (wie Anm. 12), Kat. 71 (Villa Knorr), S. 336–338. – Martina Graefe – Andrea Noé-Roever, Die Villa Knorr am Starnberger See 1855–2005. 150 Jahre Geschichte zu Architektur und Nutzung, München 2005. Das Buch ist von der Michael-Roever-Stiftung herausgegeben, in deren Besitz die Villa seit 1989 ist. In der Villa ist heute das Tagungshotel „La Villa“ untergebracht. – Katja Sebald, Villa Knorr. In: Katja Sebald, Sehnsucht Starnberger See. Villen und ihre berühmten Bewohner im Porträt, München 2021, S. 37–41. 17 Angelo Knorr hatte sechs ältere Schwestern. Marianne (1812–1850) war seit 1834 mit Carl Zenetti, dem Bürgermeister von Lauingen verheiratet, Rosa (1818–1860) seit 1838 mit August Ferdinand Zenetti. 18 Münchner Stadtmuseum, Graphische Sammlung VIII/12/44a und 45b+c (Entwurfspläne) und VIII/1244b und 45a (Innengestaltung). – Nerdinger (wie Anm. 12), Kat. 72 (Villa von Miller), S 338–341. – Christoph Hölz– Klaus Kratsch, Die Villa „Quellenheim“ am Starnberger See. In: Christoph Hölz (Hrsg.), Erz-Zeit. Ferdinand von Miller – Zum 150. Geburtstag der Bavaria, München 1999, S. 66–83. – Katja Sebald, Villa Quellenheim. In: Sebald (wie Anm. 16) S. 43–46; die Villa ist als einzige heute noch in Familienbesitz. 19 Münchner Stadtmuseum, Graphische Sammlung VIII/12/35 (Eingabeplan vom 11. März 1855). 15 16
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ritz von Schwind (1856)20, der auch an der Ausmalung der Villen Knorr und Miller beteiligt war; für Joseph Anton Schwarzmann (1858) und den Rechtsanwalt und Hofrat Anton Simmerl (1858). Die malerische hölzerne Landhausarchitektur der meisten dieser Villen stieß bei den Zeitgenossen nicht nur auf Zustimmung: „Dieses Ufer sieht aus wie das Schaufenster eines Oberammergauer Holz-Spielwarenhändlers.“21 Ein weiterer privater Bauauftrag für Zenetti war der neugotische Umbau des alten Hofmarksschlosses von Igling westlich von Landsberg in den Jahren 1854/55.22 Da mit 25.000 Gulden nicht genügend Kapital bereit stand, musste Zenetti vor allem am Material sparen. Trotz der sparsamen Ausführung ruinierte sich der Bauherr Friedrich Graf von Spaur, in dessen Besitz sich das Schloss erst seit 1827 befand, so dass er dieses bereits 1866 an Leopold Graf von Maldeghem verkaufen musste (das Schloss ist heute noch in Familienbesitz). Parallel zu den privaten Aufträgen vernachlässigte Zenetti keineswegs seine amtlichen Arbeiten. Im Jahr 1854 war in München nach dem Ende der – wegen der Cholera wenig erfolgreichen – Industrie- und Gewerbeausstellung eine Diskussion um den eigentlich nur zu diesem Zweck errichteten Glaspalast im Alten Botanischen Garten entstanden. Die innovative und spektakuläre Glas-Eisen-Konstruktion (nach dem Vorbild des Londoner Chrystal Palace) war eine Schöpfung von Zenettis Lehrer August Voit, seit 1847 als Oberbaurat Leiter der Obersten Baubehörde in der Staatsverwaltung, dem in Anerkennung dieser Leistung der Zivilverdienstorden der bayerischen Krone verliehen wurde. Zenetti legte Anfang 1855 eine „Skizze zu einer Markthalle unter Verwendung eines Theils des Industrieausstellungs-Gebäudes“ vor.23 Im Oktober 1856 entschied sich König Maximilian II. jedoch endgültig für eine dauerhafte Nutzung des Gebäudes als Ausstellungs- und Versammlungshalle, die durch jährliche Kunstausstellungen besonders berühmt wurde. Am 6. Juni 1931 zerstörte ein Brand den Glaspalast vollständig.
Katja Sebald, Landhaus Thanneck. In: Sebald (wie Anm. 16) S. 47–49. – Das einfache Holzhaus wurde in den 1950er Jahren abgerissen. 21 Heinrich Noë, Bayerisches Seenbuch, München 1865, S. 472. 22 Münchner Stadtmuseum, Graphische Sammlung VIII/12/43a+b. – Arnold Zenetti, Restauration des Schlosses Igling bei Landsberg in Bayern. In: Zeitschrift für Bauwesen 6 (1856) Sp. 306 sowie Atlas zur Zeitschrift für Bauwesen 6, Blatt 35 und 36. – Nerdinger (wie Anm. 12), Kat. 42 (Schlossumbau), S. 221. 23 Münchner Stadtmuseum, Graphische Sammlung VIII/12/1a und b (Querschnitt). 20
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Für die geplante städtische Armenversorgungs- und Beschäftigungsanstalt am Gasteig legte Zenetti bereits 1854 einen ersten Plan vor.24 Der Neubau wurde aber erst ab 1861 nach einem weiteren Plan Zenettis ausgeführt. 1974 wurde das bis dahin als städtisches Altersheim genutzte Gebäude trotz Eintrag in die Denkmalliste für den Neubau des Kulturzentrums am Gasteig abgebrochen.25 Eine „Altlast“ für eine Modernisierung und Erweiterung der Stadt stellten die noch erhaltenen Tore, Türme und Mauern der mittelalterlichen Stadtbefestigung dar. Für einen nahe des Viktualienmarkts gelegenen Turm (wohl der 1891 niedergelegte Fischerturm) legte Zenetti 1855 einen Plan für den Einbau eines „Einstell-Lokals“ (also eines Markstandes) vor.26 Ohne konkreten Planungsauftrag erarbeitete Zenetti 1859 drei unterschiedliche Entwürfe für eine Neugestaltung des Karlstores.27 Realisiert wurde aus Kostengründen keiner der Entwürfe (auch von Georg Friedrich Ziebland gibt es zwei Entwürfe). Zenetti restaurierte das Tor 1862 ohne den mittleren Turm in einfachen neugotischen Formen, das mit einer erweiterten Durchfahrt und neuen Fußgängerpassagen dem vermehrten Verkehr angepasst war. Bereits 1860/61 ließ Zenetti beim Sendlinger Tor beiderseits der Hauptdurchfahrt je einen kleinen Torbogen in die Schildmauer brechen; außerdem gestaltete er die Innenfassaden sowie die Zwingerhofmauer im neogotischen Stil.28 Bei der späteren Diskussion im Magistrat um den Abbruch des Isartores im Jahr 1871 stellte sich Zenetti als Stadtbaurat auf die Seite der Gegner.29 Münchner Stadtmuseum, Graphische Sammlung VIII/12/94/1–9. Zu dem Bau ist weder Plan- noch Aktenmaterial aus der Entstehungszeit erhalten. Er ist nur in Fotos im Stadtarchiv München überliefert. Zum Umbau 1898: Stadtarchiv München, Hochbauamt 679; zum Abbruch: Stadtarchiv München, LBK 14045. – Nerdinger (wie Anm. 12), Kat. 28, S. 190. – Weitere frühe Pläne Zenettis zu Bauten im Sozial- und Gesundheitsbereich sind 1855 die Erweiterung des Kinder-, Findel- und Gebärhauses des Krankenhauses links der Isar (Stadtarchiv München, KRH-LI-955) oder der Plan von 1867 zur Adaption der Brudermühle zu einem Blatternhaus (Stadtarchiv München, PSBHS-019-01 bis 04). 26 Stadtarchiv München, PS-BHS-118-01 bis 02. – Ein weiterer Plan Zenettis für ein „Einstell-Lokal am Viktualienmarkt“ aus dem Jahr 1870: PS-BHS-110-01. 27 Münchner Stadtmuseum, Graphische Sammlung, VIII/12/5a/2 und 3 sowie 5b/2. – Nerdinger (wie Anm. 12), Kat. 47 (Projekte zum Neubau und Regotisierung des Karlstores), S. 230–233. 28 Vgl. Brigitte Huber, Mauern, Tore, Bastionen. München und seine Befestigungen, München 2015, S. 97 (Sendlinger Tor) und S. 104 (Karlstor). 29 Vgl. Eintrag in der Stadtchronik über die Magistratsdebatte am 24. Februar 1871. – Auf Initiative des Historischen Vereins von Oberbayern entschied sich König Ludwig II. für 24 25
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Das Stilmittel der Regotisierung verwendete Zenetti in den Jahren 1861 bis 1864 auch beim Umbau des Alten Rathauses (Turm und Tanzsaal) in München.30 Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs wurde der Saalbau 1952–1957 von Hans Döllgast vereinfacht wiederhergestellt; der völlig zerstörte Turm wurde erst 1971–1974 durch Erwin Schleich in einer freien Rekonstruktion des Zustandes von 1500, die nur noch wenig von Zenettis Umbau erahnen lässt, wiederaufgebaut. Ein weiteres großes privates und renommiertes Bauprojekt entstand nach Plänen Zenettis in den Jahren 1862 bis 1865 in Wien an der Ringstraße: das Palais im Stil der Neo-Renaissance für den Herzog Philipp von Württemberg (1838–1917), der mit Erzherzogin Marie Therese von Österreich verheiratet war. Das Paar bezog das Palais im Jahr 1866, der Herzog verkaufte es aber bereits fünf Jahre später. Seit 1873 beherbergt das Gebäude das Hotel Imperial. Unter König Maximilian II. entstanden erste Vorüberlegungen zum Neubau einer Technischen Hochschule in Bayern. Als die Städte Augsburg und Nürnberg ihr großes Interesse an einer solchen Einrichtung kund taten, setzte sich Zenetti 1862 in einer gedruckten Eingabe als Vorstand des „Vereins zur Ausbildung der Gewerbe in München“ für den Standort München ein: „Euer Majestät wolle allergnädigst geruhen, zu beschließen, dass die technische Hochschule Bayerns in München errichtet werde.“31 Diese „Neue Polytechnische Schule“ wurde dann auch in München an der Arcisstraße realisiert, aber erst unter König Ludwig II. durch den Architekten Gottfried von Neureuther in den Jahren 1864–1868.32 den Erhalt des Stadttores; vgl. Huber (wie Anm. 28) S. 70 f. 30 Arnold Zenetti, Restauration des Rathhauses in München. In: Allgemeine Bauzeitung 33/34 (1868/69) S. 12 f. – Die Aktenlage zu diesem Projekt ist unergiebig (vgl. Stadtarchiv München, BUR 478). Erhalten ist ein Blatt Zenettis zum Umbau einiger Details im Erdgeschoss aus dem Jahr 1864 (Stadtarchiv München, Hochbauamt 103). Ein Skizzenbuch Zenettis (Münchner Stadtmuseum, Graphische Sammlung, VI/100) enthält eine Bauaufnahme der unrestaurierten Fassade zum Tal. – Julius Fekete, Denkmalpflege und Neugotik im 19. Jahrhundert. Dargestellt am Beispiel des Alten Rathauses in München (Miscellanea Bavarica Monacensia 96), München 1981. – Nerdinger (wie Anm. 12), Kat. 46 (Regotisierung des Alten Rathauses), S. 228–229. 31 Eingabe des Vereins zur Ausbildung der Gewerbe in München an das kgl. Staatsministerium des Handels und der öffentlichen Arbeiten, die Wahl des Sitzes der neu zu errichtenden technischen Hochschule für Bayern betreffend, München 1862 32 Zum 150jährigen Jubiläum der Technischen Universität München wurde im Architekturmuseum in München die Ausstellung „Ludwig II. und die Architektur“ gezeigt (vgl. Anm. 1).
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Die Gestaltung des Gärtnerplatzviertels wurde in den Jahren 1861–1864 von Carl von Eichthal vollzogen, in dessen Privatbesitz sich das ganze Areal befand.33 Nachdem 1865 das ursprünglich nicht vorgesehene, aber dann durch eine Aktiengesellschaft finanzierte und von Michael Reiffen stuel erbaute Gärtnerplatztheater von König Ludwig II. eingeweiht worden war, entstand im Zusammenhang mit der Nobilitierung des Platzes Zenettis „Entwurf zu einem Brunnen am Gärtnerplatz“.34 Am 22. September 1864 konnte Zenetti dem Zweiten Bürgermeister Anton von Widder (amtierte 1854–1870) das erste von ihm gebaute Schulhaus übergeben: die Elementarschule der St.-Bonifazius-Pfarrei an der Luisenstraße 13.35 Seit 1866 entwarf Zenetti am Rande der Maxvorstadt den Alten Nördlichen Friedhof, der 1868 fertiggestellt wurde. Bereits für den Alten Südlichen Friedhof, die bisherige Hauptbegräbnisstätte der Münchner, stammen das Kruzifix auf dem Campo Santo sowie einige Grabmäler von ihm, bei denen Zenetti Elemente der Renaissance mit mittelalterlichen Stilen vermischte.36 Zu Zenettis Aufgaben im Stadtbauamt zählte der Brandschutz der Gebäude. Immer wieder begab er sich persönlich zu Unglücksstätten37 und Stadtarchiv München, LBK 24170. Münchner Stadtmuseum, Graphische Sammlung, VIII/12/10. – Nerdinger (wie Anm. 12) S. 306. 35 Zu diesem Bau gibt es keine Unterlagen, nur den entsprechenden Eintrag in der Stadtchronik. – Weitere Schulhausbauten Zenettis folgten 1867 an der Nymphenburgerstraße (Stadtarchiv München, PS-BHS-096-01 bis 05), 1869 im Rosental (Stadtarchiv München, Eintrag in der Stadtchronik zur Eröffnung am 2. Mai 1869 mit einem Stich und einem Riss des Schulhauses in der Beilage) sowie 1887 am Mariahilfplatz (Stadtarchiv München, PS-BHS-102-01 bis 16). 36 Entwurf Zenettis für das Kruzifix, 1850, ausgeführt von Johann von Halbig, Abb. 12 bei: Claudia Denk – John Ziesemer, Kunst und Memoria. Der Alte Südliche Friedhof in München. Ein Forschungsprojekt am Bayerischen Nationalmuseum in Verbindung mit dem Stadtarchiv München, Berlin-München 2014, S. 190. – Familiengrabstätte Carl Alois Schreyer, 1854: ebd., Kat. 105, S. 378–379. – Grabkapelle für die Freiherrn von Gasser, frühe 1860er Jahre: ebd., Abb. 27, S. 148. – (Nicht realisierter) Entwurf für das städtische Ehrengrabmal für den Stadtapotheker und Vorstand des Kollegiums der Gemeindebevollmächtigten Ignaz von Zaupser (1801–1866), 1867: ebd., Kat. 155, S. 453. 37 So erwähnt die Münchner Stadtchronik am 15. September 1853 seinen tatkräftigen Einsatz bei den Bergungs- und Aufräumungsarbeiten nach der Pulverexplosion am Karlstor, am 21. Februar 1862 seine Anwesenheit beim Brand des Pschorrbräus in der Bayerstraße. – Die im Stadtarchiv München liegenden Bände des „Jahrbuchs der Stadt München“ verzeichnen zu Zenetti allein für die Jahre 1857 bis 1875 57 Einträge. 33 34
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betrieb aktiv die Gründung einer Freiwilligen Feuerwehr in München, die offiziell am 10. September 1866 erfolgte. Zenetti übernahm das Amt des ersten Vorsitzenden, am 21. Januar 1870 wird er (mittlerweile schon Stadtbaurat) zum ersten Kommandanten gewählt.38 Das Amt übte er mit großem Engagement bis zu seinem Tod aus und erreichte in dieser Zeit die Errichtung einer „ständigen Feuerwache“ (am 1. Juli 1879), die organisatorisch dem Stadtbauamt angegliedert wurde (seit 1883 „Berufsfeuerwehr“) und am Heumarkt 13 (seit 1887 St.-Jakobs-Platz) untergebracht war. Über dem „Feuerhaus“ hatte Zenetti von 1860 bis 1891 seine Dienstwohnung, um bei Einsätzen sofort dabei sein zu können.39 Zu einer großen persönlichen Niederlage in dieser ersten Phase von Zenettis beruflichem Leben zählt seine vergebliche Beteiligung am Wettbewerb um den Bau eines Neuen Rathauses in München. Zenetti legte im September 1865 – sozusagen von Haus aus – einen ersten Entwurf im Stil der Neo-Renaissance vor, der vom Magistrat befürwortet wurde.40 Ausgerechnet in Ferdinand von Miller, dem Zenetti 1855 die Villa in Niederpöcking gebaut hatte und der ihn dafür eigentlich auch sehr schätzte, fand sich ein erbitterter Gegner seines Entwurfs. Miller plädierte als Mitglied des Kollegiums der Gemeindebevollmächtigten entschieden für eine neogotische Variante, die seiner romantisierenden Begeisterung für das Mittelalter entsprach41, und forderte einen Architektenwettbewerb, der am 7. November 1865 ausgeschrieben wurde.42 Der Wettbewerb mit 27 Teilnehmern (darunter Zenetti mit seinem ersten Entwurf ) verlief zuStadtarchiv München, C 1874008: Foto Zenettis in Feuerwehruniform, 1874. Heinrich Schläfer, Die Münchner Feuerwehr. Geschichte – Aufgabe – Leistung, München 1979, S. 35–49. 40 Münchner Stadtmuseum, Graphische Sammlung, VIII/2b/10. Abbildung bei: Brigitte Huber, Das Neue Rathaus in München. Georg von Hauberrisser (1841–1922) und sein Hauptwerk, herausgegeben vom Stadtarchiv München, München 2006, S. 29. – Vgl. zum Folgenden: Stadtarchiv München, Hochbau 397. 41 Ferdinand von Miller war unter dem Namen „Ferdinand von der Haide“ seit 1851 Mitglied des 1850 in München gegründeten Harbni-Ritterordens, einer privaten geselligen Vereinigung. Auch seine Niederpöckinger Nachbarn Angelo Knorr („Angelikus von Rothenbuch“) und Karl Freiherr von Perfall („Karl der Schnepfensteiner“) wurden 1856 Mitglieder und feierten am Starnberger See ihre Feste. Vgl. die Vereins-Unterlagen (Satzung, Lieder, Mitgliederlisten etc.) des Offiziers Achilles von Schiber („Gustav von Natternberg“): Staatsarchiv München, Familienarchiv von Schiber 117. 42 Zum Architektenwettbewerb vgl. Huber (wie Anm. 40) S. 30–41 und v.a.: Thomas Weidner, Städtische Vollmacht und ästhetische Würde. Der Wettbewerb zum Neuen Münchner Rathaus. In: Andres Lepik – Katrin Bäumler (Hrsg.), Königsschlösser und Fabriken. Ludwig II. und die Architektur, München 2018, S. 136–143. 38 39
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nächst ohne Ergebnis, er mündete aber in einen Konkurrenzkampf zwischen Zenetti und dem jungen Architekten Georg Hauberrisser, der von Miller unterstützt wurde. In den Sitzungen des Magistrats am 21. September 1866 und des Gemeindekollegiums am 9. Oktober 1866 erhielt Hauberrisser eine knappe Mehrheit für seinen Entwurf. Zenetti sollte aber – wohl als gewisse Rekompensation für seine Niederlage – in baulichen und finanziellen Fragen die oberste Leitung behalten. Das „Controlling“ führte Zenetti dann als Stadtbaurat energisch während des gesamten 1. Bauabschnittes (1867–1881) durch, bis zu seinem Tod 1891 auch während des 2. Bauabschnittes (1889–1892).43 A r n o l d Z e n e t t i a l s Mü n c h n e r St a d t b a u r a t (1867–1891) Stadtbaurat Franz Karl Muffat feierte am 16. Februar 1867 noch seinen 70. Geburtstag, am 10. Juli wurde er aufgrund seines Alters in den Ruhestand geschickt. Zenetti übernahm zunächst kommissarisch dieses Amt und wurde am 27. August von 45 Wählern des Kollegiums der Gemeindebevollmächtigten einstimmig zum städtischen Baurat gewählt.44 Doch erst nach der immer noch notwendigen „landesherrlichen Bestätigung Seiner Majestät des Königs“ (Schreiben des Innenministeriums vom 28. September 1867) konnte Zenetti am 25. Oktober vom Zweiten Bürgermeister Anton von Widder vereidigt werden.45 Die Anfangsbesoldung betrug 1800 Gulden. Sie wurde nach 15 Dienstjahren auf 2400 Gulden erhöht. Ein Jahr darauf übernahm Zenetti auch den Vorsitz beim Kunstgewerbeverein in München.46
Fertiggestellt wurde das Neue Rathaus erst nach dem 3. Bauabschnitt (1898–1905) nach 38jähriger Bauzeit! 44 Stadtarchiv München, BUR 218. – Die Rede des Ersten Bürgermeisters Kaspar von Steinsdorf und Zenettis Antwortrede bei der offiziellen Amtseinführung findet sich in der Stadtchronik zum 25. Oktober 1867 (S. 367 f.). 45 Verpflichtungsprotokoll vom 25. Oktober 1867 im Personalakt Zenettis: Stadtarchiv München, PA 11460/1. 46 Vgl. Stadtchronik zum 30. November 1868. – Zu den Wechselwirkungen zwischen Kunstgewerbe und Architektur in dieser Zeit: Andres Lepik – Katrin Bäumler, Nicht nur Königsschlösser. Zur Architektur im Königreich Bayern unter Ludwig II. In: Lepik – Bäumler (wie Anm. 42) S. 28–29. 43
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Stadtbaurat Arnold Zenetti (1824–1891), um 1875 (Foto: Josef Bescherer, München, Stadtarchiv München, C-1874177).
Trotz seiner herausgehobenen Position und seiner Stellung im Magistrat erhielt Zenetti erst am 12. Oktober 1869 das volle Bürgerrecht der Stadt München. Das Jahr 1869 bedeutete auch für die Münchner Stadtgeschichte eine wichtige Zäsur. Die schon seit 1850 immer wieder geforderte Reform des Gemeindeedikts von 1818 wurde mit der neuen Bayerischen Gemeindeordnung vom 29. April 1869 Wirklichkeit. Das wirtschaftlich und politisch aufstrebende Bürgertum hatte nun erreicht, dass die Kommunen die bisherige, oft lästige „staatliche Kuratel“ weiter zurückdrängen konnten und für die Gestaltung ihrer Infrastruktur mehr Kompetenzen und größere Eigenverantwortung erhielten. Und das galt in besonderem Maße für die Aufgabenbereiche, für die Zenetti als Stadtbaurat zuständig war: Stadtplanung, Verkehrsausbau, Gesundheitswesen und Sozialfürsorge.47 Vgl. hierzu: Elisabeth Angermair, München als süddeutsche Metropole. Die Organisation des Großstadtausbaus 1870 bis 1914. In: Richard Bauer (Hrsg.), Geschichte der Stadt 47
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Dieser erweiterte kommunale Gestaltungsrahmen spiegelt sich in den zahlreichen Baumaßnahmen in der Ägide Zenettis wider.48 In den Jahren ab 1868 (bis 1874) entstand das Garnisonslazarett in Neuhausen, das auf ausdrückliche Anordnung von König Ludwig II. zur Lärmschonung der Kranken und zur Ansteckungsverhütung weiter von der ebenfalls unter Zenetti ausgebauten Max-II-Kaserne abgerückt wurde.49 Von dem einst dreiteiligen Bau steht heute nur noch ein Flügelbau, Mittelteil und zweiter Flügelbau mussten 1971 dem Neubau des Deutschen Herzzentrums der TU München weichen. Parallel dazu entstanden Pavillonanbauten für das Krankenhaus rechts der Isar und das Allgemeine Krankenhaus, die zum einen hygienische Aspekte berücksichtigten, zum anderen der gerade aufgekommenen baulichen Differenzierung in Fachkliniken Rechnung trugen.50 Im Jahr 1869 erweiterte Zenetti das Waisenhaus vor dem Sendlinger Tor um ein Ökonomiegebäude und modernisierte es durch den Einbau von Belüftungsanlagen und sanitären Einrichtungen – auch um der hohen Sterblichkeit bei Waisen- und Findelkindern entgegenzuwirken.51 Ab 1870 begann die städtebauliche Entwicklung des Neubaugebiets beim Bahnhof Haidhausen (Ostbahnhof ). Zenettis Pläne sind typische Beispiele für den geometrischen Städtebau der Gründerzeit.52 Wegen der Straßenbenennung nach siegreichen Schlachten im deutsch-französischen München, München 1992, S. 307–335, hier v.a. S. 316 ff. („Aufbau der kommunalen Leistungsverwaltung“). – Zur städtebaulichen Entwicklung Münchens vgl. auch Michael Stephan, Einleitung. In: Elisabeth Angermair, München im 19. Jahrhundert. Frühe Photographien 1850–1914, München 2013, S. 7–12. 48 In welchem Gesamtumfang Zenetti selbst als Architekt bei den vielen Bauprojekten tätig war, müsste noch umfassend untersucht werden. Viele Pläne tragen den Stempel „Stadtbaurat“ und die Unterschrift Zenettis. 49 Vgl. BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, MKr 9029. – Christian Lankes, München als Garnison im 19. Jahrhundert. Die Haupt- und Residenzstadt als Standort der Bayerischen Armee von Kurfürst Max IV. Joseph bis zur Jahrhundertwende (Militärgeschichte und Wehrwissenschaft 2), Berlin 1993, S. 597–600. 50 Vgl. Hans Knauss, Zweckbau-Architektur zwischen Repräsentation und Nutzen. Konzeption und Ästhetik ausgewählter Zweckbauten in der Zeit von ca. 1850–1930 in Bayern (tuduv-Studien/Reihe Kunstgeschichte 5), München 1983, S. 123–128; 220–221. 51 Lothar Meilinger, Das Münchner Waisenhaus. Eine Studie, München 1906, S. 23 ff. – Günther Baumann, Das Münchner Waisenhaus. Chronik 1899–1999, hrsg. vom Sozialreferat der Landeshauptstadt München, München 1999, S. 18. 52 Stadtarchiv München, PS-C-2936. Abb. bei: Gerhard Hetzer u.a. (Bearb.), Städte im Aufbruch. München und Moskau 1812–1914. Ausstellung des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, des Stadtarchivs München und des Museums für die Geschichte der Stadt Moskau
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Krieg von 1870/71 wurde dieses neue Stadtquartier auch als „Franzosenviertel“ bezeichnet. Ein Wandel vom geometrischen zum malerischen Städtebau vollzog sich erst nach dem Tod Zenettis. In einem Plan für die 1890 nach München eingemeindete Stadt Schwabing aus dem Jahr 1891 sind noch die geplanten großzügigen und weitgehend geradlinigen Erschließungsstraßen eingezeichnet, wie sie von Zenetti in seinem Baulinienplan entworfen worden waren.53 Sie wurden aber in dieser Form nie realisiert, denn nach Zenettis Tod 1891 schuf sein Nachfolger Wilhelm Rettig innerhalb der kommunalen Bauverwaltung 1893 ein neues Stadterweiterungsbüro, mit dessen Leitung der Architekt Theodor Fischer betraut wurde. Fischer zeichnete in den nur acht Jahren, in denen er dieses Amt inne hatte, Hunderte von Baulinienplanungen, deren Kennzeichen leicht geschwungene Straßenzüge, schöne Plätze und eine klar gegliederte Bebauung waren. Er entwickelte die 1904 in Kraft getretene und bis 1979 rechtskräftige Staffelbauordnung, die eine individuelle, von der Innenstadt zur Peripherie gestaffelte Baudichte vorschrieb. Zukunftsweisender wurden andere Projekte Zenettis in München. Nach der dritten schweren Typhus- und Choleraepidemie der Jahre 1872 bis 1874 (nach 1836 und 1854) entwickelte Zenetti zusammen mit dem Ersten Bürgermeister Alois Ehrhardt (amtierte 1870–1887), der der liberalen Fortschrittspartei angehörte, und dem Hygieniker Max von Pettenkofer (1818–1901), der seit 1865 als Professor an der Universität München lehrte, ein Programm der hygienischen Stadterneuerung („Assanierung“).54 Das Programm sah den Bau einer Kanalisation (ab 1874) und die zentrale Versorgung Münchens mit Frischwasser aus dem Mangfalltal (ab 1883) vor. Für die Umsetzung dieses modernsten Systems in ganz Deutschland (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 52), München 2009, S. 59 und Kat. 29 (S. 60). 53 Stadtarchiv München, PS-C-0043. Abbildung bei: Michael Stephan – Willibald Karl, Schwabing, München 2015, Nachsatz; siehe auch S. 54. 54 Vgl. hierzu: Peter Münch, Stadthygiene im 19. und 20. Jahrhundert. Die Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallbeseitigung unter besonderer Berücksichtigung Münchens (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 49), Göttingen 1993, S. 122–141 („Stadt ohne Hygiene“); S. 142–159 („Stadthygiene als Organisationsaufgabe“), hier weiterführende behördengeschichtliche Angaben zum Stadtbauamt und zur Lokalbaukommission; S. 160–185 („Stadthygiene als Finanzierungsaufgabe“). – Johannes Bähr, Kommunalisierung im Übergang zur Moderne. In: Johannes Bähr – Paul Erker, NetzWerke. Die Geschichte der Stadtwerke München, München-Berlin-Zürich 2017, S. 40–106, hier S. 43 f.
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war innerhalb der Stadtverwaltung das von Zenetti geleitete Stadtbauamt zuständig. Dort wurde jeweils eine Unterabteilung für die Wasserversorgung und die Kanalisation gebildet. Der Magistrat bedankte sich im August 1889 mit einer offiziellen Dankadresse für die erfolgreich realisierte Wasserversorgung bei Zenetti, der daraufhin in einem Schreiben an den Magistrat seine Mitwirkung daran „zu den schönsten Aufgaben meines Lebens und Schaffens als Bediensteter der Stadt“ rechnete.55 Die Fertigstellung der Kanalisation erfolgte erst 1892, ein Jahr nach Zenettis Tod. München, vor dessen Besuch bislang in Reiseführern gewarnt worden war, galt nun als eine gesunde Stadt. Im November 1872 unternahm Stadtbaurat Zenetti eine Besichtigungsreise durch mehrere Städte und empfahl anschließend die Errichtung einer Pferdestraßenbahn, die um die Altstadt herumführte.56 Die Stadt wollte nach langen Überlegungen und Verhandlungen diese aus Kostengründen nicht in Eigenregie führen, sondern vergab die Konzession zunächst an einen privaten Unternehmer. Die feierliche Eröffnung der ersten Tramlinie (vom Promenadeplatz zur Haltestelle Burgfrieden, heute Maillingerstraße) erfolgte am 21. Oktober 1876.57 Im September 1873 besichtigte Zenetti während einer Reise nach Wien zur Weltausstellung eine historische Ausstellung zur Wiener Stadtgeschichte und regte daraufhin beim Magistrat am 30. September 1873 die Gründung eines Münchner Stadtmuseums an. Die beiden Gemeindekollegien fassten am 13. März 1874 einen entsprechenden Beschluss und beauftragten den Stadtchronisten und späteren Stadtarchivar Ernst von Destouches mit dieser Aufgabe.58 Die Eröffnung des „Historischen Museums der Stadt München“ im ehemaligen Zeughaus am St.-Jakobs-Platz fand erst am 29. Juli 1888 im Rahmen der Centenarfeier für König Ludwig I. statt – wegen Terminüberschneidungen mit anderen Festakten allerdings ohne Zenetti und auch keinem anderen offiziellen Vertreter der Stadt.59 Ein weiteres kommunales Bauvorhaben bleibt dagegen untrennbar mit dem Namen Zenettis verbunden. Zur Durchführung des gesetzlichen Schreiben vom 11. August 1889 im Personalakt: Stadtarchiv München, PA 11460/1. Seine kleine Denkschrift findet sich als Beilage zur Stadtchronik vom 25. Dezember 1872 (S. 1682). 57 Bähr (wie Anm. 54) S. 68. 58 Vgl. Brigitte Huber, Ernst von Destouches. In: Oberbayerisches Archiv 142 (2018) S. 53–87, hier S. 66–70. 59 Ernst von Destouches, Geschichte des Historischen Museums und der Maillinger Sammlung der Stadt München, München 1894, S. 72–80. 55 56
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Schlachtzwangs erbaute Zenetti 1875–1878 für 5 Millionen Mark auf 100.000 qm den vorbildlichen Münchner Schlacht- und Viehhof. 60 München hatte damals 215.000 Einwohner, doch auch nach über 100 Jahren, als München schon über eine Million Einwohner hatte, erfüllten die Hauptanlagen immer noch ihren Zweck. Auf einem Teil des nicht mehr genutzten Viehhofgeländes entsteht zum Jahr 2022 der Neubau des Volkstheaters, für die übrigen Flächen ist eine Mischung aus Gewerbe, Wohnen und Grünanlagen vorgesehen. Nach diesem Großprojekt entwarf Zenetti 1880 den Neubau des Hauner’schen Kinderspitals an der Lindwurmstraße, dessen Realisierung von König Ludwig II. durch eine Spende und eine Lotterie in Höhe von 300.000 Mark gefördert wurde. Der Magistrat übertrug Zenetti im gleichen Jahr die Leitung über den Bau, der 1882 fertig gestellt war. 61 Auch der Beginn der Kommunalisierung der Energieversorgung in München fällt in die Dienstzeit Zenettis.62 Am 17. Januar 1882 setzte der Magistrat eine Kommission für die Einführung elektrischer Beleuchtung ein, der neben den beiden Bürgermeistern Zenetti und als einer von drei Sachverständigen der junge Bauingenieur Oskar von Miller angehörten. Dieser brachte zudem von seinem Besuch der Ersten Internationalen Elektrizitätsausstellung, die im August 1881 in Paris stattfand, die Idee einer solchen Schau für München mit. Zur finanziellen Absicherung richtete Miller einen Garantiefonds ein, für den 144 Einzelpersonen und Firmen Summen zwischen 25 und 1500 Mark spendeten, darunter auch Zenetti.63 Am 16. September 1882 konnte die Internationale Elektrizitätsausstellung unter der Schirmherrschaft von König Ludwig II. im Glaspalast eröffnet werden. Die Einführung einer elektrischen Straßenbeleuchtung zog sich in München allerdings noch weit über den Tod Zenettis hinaus hin, weil die Stadt bereits 1848 mit einer Gasbeleuchtungsgesellschaft einen Monopolvertrag geschlossen hatte, der sie bis ins Jahr 1899 band. So kam es, dass die benachbarte Stadt Schwabing noch vor München im Jahr 1889 die
Arnold Zenetti, Der Vieh- und Schlacht-Hof in München: im Auftrage der Stadtgemeinde in den Jahren 1876 bis 1878 erbaut durch Arnold Zenetti, mit 16 Plänen, München 1880. 61 Wolfgang Locher, 150 Jahre Dr. von Hauner’sches Kinderspital 1846–1996. Von der Mietwohnung zur Universitätsklink, München 1996, S. 55–68. 62 Vgl. Bähr (wie Anm. 54) S. 51 f. 63 Wilhelm Füssl, Oskar von Miller 1855–1934. Eine Biographie, München 2005, S. 49. 60
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elektrische Straßenbeleuchtung mit der Firma Einstein einführen konnte.64 Zu den letzten kommunalen Bauten Zenettis gehört sein „Plan für Viktualien-Verkaufsstände an der Dachauer- und Augustenstraße“ aus dem Jahr 1886.65 Der seit 1879 bestehende Markt diente der Versorgung der westlichen Maxvorstadt. Diese sehr modernen Marktgebäude, die an die Wasserversorgung und die Kanalisation angeschlossen waren, blieben an diesem Standort nur bis zum Jahr 1898. Dann wurde der Markt auf den Maffeianger an der Marsstraße und 1903 endgültig auf den Elisabethplatz verlegt, wo er bis heute noch besteht. Der dreieckige Platz im Spitz von Dachauer- und Augustenstraße wurde danach für ein Umspannwerk genutzt, dann beherbergte es einen Fachbetrieb für Bodenbeläge (daher der volkstümliche Name „Norkauer Platz“), seit 2015 steht dort ein neues Gebäude „Karl 47“ mit einer auf die Platzspitze ausgerichteten Art von Schiffsbug. Insgesamt 41 Jahre diente Zenetti im Münchner Stadtbauamt, davon 24 Jahre in leitender Funktion als Stadtbaurat. In dieser Zeit prägte er das Stadtbild mit seinen verschiedenen Bauten und bestimmte die städtebauliche Entwicklung Münchens entscheidend mit. Eh r u n g e n Zenetti erhielt im Lauf seines dienstlichen Lebens mehrere Ehrungen. Zu seinem 25jährigen Dienstjubiläum im Jahr 1875 erhielt er das Ritterkreuz I. Klasse des Verdienstordens vom hl. Michael.66 Zu seinem 20jährigen Jubiläum als Stadtbaurat wurde Zenetti im Jahr 1887 der Titel „Oberbaurat“ verliehen.67 Die höchste Ehrung erhielt Zenetti aber erst ein Jahr vor seinem Tod im Jahr 1890. Der Magistrat zeichnete ihn zu seinem 40jährigen Dienstjubiläum mit der Goldenen Bürgermedaille aus und erhöhte sein Gehalt auf 1000 Mark monatlich.68 Zudem wurde ihm von Prinzregent Luitpold der Verdienstorden der bayerischen Krone verliehen, mit dem der persönliche Adel verbunden war. Vgl. Stephan – Karl (wie Anm. 53) S. 44–46. Stadtarchiv München, Großmarkthalle 61. – Abbildung bei Hetzer (wie Anm. 52) Kat. 158, S. 174. 66 Stadtarchiv München, BUR 640/1. 67 Stadtarchiv München, PA 11460/1. 68 Stadtarchiv München, BUR 613/1. 64 65
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To d u n d Na c h l e b e n Am 1. September 1891 starb Oberbaurat Arnold von Zenetti mit nur 67 Jahren in seiner Dienstwohnung.69 Die Beerdigung fand am 3. September 1891 auf dem Alten Südlichen Friedhof statt.70 In der Sitzung des Kollegiums der Gemeindebevollmächtigten würdigte der II. Vorstand Sedlmayr den Verstorbenen und nannte ihn „einen der größten Bürger des heutigen Münchens“.71
Vieh- und Schlachthof in München, erbaut von Arnold von Zenetti in den Jahren von 1876 bis 1878 (Stadtarchiv München, Av-Bibl-G-1001-b).
Bereits am Tag der Beerdigung beschloss der Magistrat weitere Ehrungen: eine Straßenbenennung (1894 erhielt die an Zenettis wichtigstem Bau, dem Vieh- und Schlachthof, vorbeiführende Straße seinen Namen); Vgl. die Würdigung in der Stadtchronik zum 1. September 1891. – Der Nachruf des Zweiten Bürgermeisters Wilhelm von Borscht in der Magistratssitzung am 3. September 1891: Münchener Gemeinde-Zeitung vom 5. September 1891. 70 Detaillierte Beschreibung der Trauerfeier in Stadtchronik zum 3. September 1891. 71 Allgemeine Zeitung vom 3. September 1891. 69
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eine Büste im Stadtbauamt sowie eine weitere Büste „in den Arkaden des südlichen Friedhofes (…) unter Münchens verdienstvollen Männern.“72 Die beiden letzten Vorschläge wurden bald ad acta gelegt und dafür ein städtisches Ehrengrab auf den Alten Südlichen Friedhof realisiert.73 Die aufwendig verzierte dreiteilige Grabmalarchitektur geht auf den städtischen Bauamtmann Karl Hocheder zurück. Auf einer Deckplatte steht die Bronzebüste Zenettis, die 1893 nach dem Modell des Münchner Bildhauers Ludwig Gamp in der königlichen Erzgießerei gegossen wurde. Die beiden seitlichen Mauerflügel sind mit Reliefdekor geziert: links mit einem Helm und rechts mit einem Zirkel, letzte Verweise auf Zenettis wichtigste Funktionen – als Feuerwehroberkommandant und als Stadtbaurat.
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Stadtarchiv München, PA 11460/1. Siehe dazu ausführlich: Denk – Ziesemer (wie Anm. 36), Kat. 71, S. 325–329.
Wirtschaftliche Handlungsspielräume von Frauen am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit – ein Fallbeispiel im grenzüberschreitenden Warenverkehr von Tirol nach Bayern Von Harald Toniatti und Christine Roilo „ Gre n z ü b e r s c h re i t e n d e B e s t ä n d e u n d A r c h i v a l i e n “ 1 „Im Jahr 1976 wurde im Rahmen der Kulturkommission der Arbeitsgemeinschaft Alpenländer (Arge Alp) eine Expertenkonferenz der Direktoren der Staats- und Landesarchive eingerichtet, mit dem Ziel, das gegenseitige Geschichtsverständnis in den Mitgliedsländern zu fördern: Die Archive als die Einrichtungen, welche die für die Geschichtsschreibung erforderlichen historischen Quellen verwahren, sollten hierzu vor allem beitragen, indem sie Mittel und Wege finden, ihre Quellen bei den benachbarten Archiven, anderen wissenschaftlichen Einrichtungen und bei den einzelnen Forschern des Alpenraumes selbst besser bekannt zu machen.“2 Ein wichtiges Ergebnis dieser Zusammenarbeit war der 1995 gleichsam als Präsent zur 20-Jahr-Feier der Konferenz gemeinsam herausgegebene Archivführer, aus dessen Vorwort die Eingangszeilen zu diesem Beitrag stammen. Eines der Ziele dieses Führers war es, in den einzelnen Archiven „grenzüberschreitende Bestände und Archivalien“3 auszumachen, Quellen somit, die auch für die anderen Archive von Interesse sind. Die Vernetzung der Archive durch die Vertretung ihrer Direktor*innen in der Expertenkonferenz sollte somit in der provenienzgegebenen Vernetzung der Quellen selbst ihr Spiegelbild finden. Kollegiale Bande zwischen den Archiven der länderumspannenden Großregion sollten so auch über die Bestände und Archivalien selbst geknüpft werden. Wir bedanken uns bei Gustav Pfeifer, Südtiroler Landesarchiv, für wertvolle Hinweise und die Durchsicht des Manuskripts. 2 Generaldirektion der staatlichen Archive Bayerns im Auftrag der Archivdirektorenkon ferenz der Arge Alp (Hrsg.), Die Staats- und Landesarchive in der Arbeitsgemeinschaft Alpenländer (Arge Alp). Archivführer und Inventar der grenzüberschreitenden Überlieferung, München 1995, S. VII. 3 Ebd. 1
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Der Südtirol und speziell dem Südtiroler Landesarchiv gewidmete Abschnitt4 wirft dabei u. a. das Payrsbergische Familienarchiv aus, mit zwei Einzelnennungen, die nach Altbayern bzw. Schwaben weisen, die „Verlassenschaftsakten des Veit von Niedertor, Domscholaster von Augsburg, 1529–1533“ und das „Wassergeld des Bistums Chiemsee, 1500“.5 Neugierig geworden nahmen wir Einblick in das Findbuch und konnten so noch weitere „bayernrelevante“ Stücke entdecken. D a s A r c h i v Pa y r s b e r g a m Sü d t i r o l e r L a n d e s a r c h i v Zunächst aber zum Bestand: Das Archiv Payrsberg (Oberpayrsberg) wurde dem Südtiroler Landesarchiv 1987 und 2009 in zwei Tranchen als Depositum übergeben. Der damalige Eigner, der Bozner Arzt Martin von Braitenberg (1935–2019), ist zugleich Besitzer des Ansitzes Oberpayrsberg im Viertel St. Oswald, eines auf einen Meierhof zurückgehenden Freihauses, das die Familie Braitenberg 1868 im Erbweg von den Martin von Greiffenburg (von Zieglauer) übernommen hatte. Diese Familie wiederum war 1758 durch Kauf in den Besitz des Ansitzes gekommen, wobei offensichtlich das reiche Archiv als Inventar miterworben worden war. Das Archiv wurde auch tranchenweise verzeichnet, so von Hannes Obermair 1990 der Urkundenbestand, von Heinz Noflatscher der Aktenbestand. Die Nachlieferung von 2009 verzeichnete Evi Pechlaner und führte alle drei Verzeichnisse in ein einziges Findbuch zusammen, das seit 2014 vorliegt.6 Zur Geschichte des Archivs schreibt Obermair in gebotener Kürze: „Das jetzige Archivkorpus (Urkunden und Aktenreihe) stellt einen sukzessive durch mehrere Erbfolgen erweiterten Bestand dar, dessen ältester Kern das Archiv der eppanischen Ministerialen von Boimont ist. Die Boimonter traten 1244 in die Rechtsnachfolge der Paier in Nals ein, gleichfalls aus der eppanischen Dienstmannschaft. Sie übernahmen mit der Paierschen Eigengründung Burg Payrsberg ober Nals auch die daran haftenden niedergerichtlichen Rechte und nicht zuletzt den Namen, den sie, als sie 1571 ihren Sitz auf den Niederthorischen Maierhof im Dorf Ebd. S. 146–155. Ebd. S. 149. 6 Hannes Obermair – Heinz Noflatscher – Evi Pechlaner (Bearb.), Archiv Payrsberg (Oberpayrsberg), Bozen 1990/2014. Online unter: http://www.provinz.bz.it/kunst-kultur/ landesarchiv/adels--familien--und-hausarchive.asp?news_action=4&news_article_id=524742 (abgerufen am 22.1.2021). 4 5
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bei Bozen transferierten, auf diesen übertrugen. Im Erbgang fiel ihnen das Archiv der Herren von Niedertor zu, sodann das Archiv der Gerstl von Gerstburg. Die Besitzabfolge seit dem späten 18. Jahrhundert liegt dann bei den Familien von Zieglauer, von Martin und schließlich von Braitenberg“.7 Si g m u n d G e r s t l Nun ist es besonders der Gerstl’sche Teilbestand, der hier von Interesse ist, und speziell die Unterlagen, die auf Sigmund Gerstl von Gers(t)burg als Bestandsbildner hinweisen.8 Sigmund († 1515), Sohn des 1450 erstmals als Bürger von Bozen erwähnten Hans Gerstl war 1471 Ratsherr, zwischen 1474 und 1487 mehrfach Bürgermeister seiner Heimatstadt und blieb auch in der Folge Amtsträger der Stadt und verschiedener stadtgesessener Adelsfamilien. Als Vertreter der Stadt konnte er sich auf dem Tiroler Landtag profilieren, ab 1490 agierte er als Steuereinnehmer des Landesfürsten. In Bozen erwarb er umfangreichen Liegenschaftenbesitz, darunter einen Weinhof im nördlichen Glacis der Stadt, den er als „Gers(t)burg“9 freien ließ, sowie die stadtnahe Burg Rafenstein, die er beide baulich adaptieren ließ. In erster Ehe war Gerstl mit der Klausner Bürgertochter Anna Marolt verheiratet († 1504), der Ehe entstammten die Tochter Martha und der Sohn Andreas. Die zweite Ehe schloss er mit Barbara, Tochter des Nonsberger Niederadligen Bartholomäus Conzin (de Concini) aus Tuenno. Dieser Ehe entsprang die Tochter Agnes. Mit dem Tod Andreas Gerstls 1544 starb die Familie im Mannesstamm aus.10 In seinem nur wenige Monate vor seinem Tod im November 1514 errichteten Testament11 regelte Gerstl nicht nur die Witwenversorgung für Ebd. S. VIII. Zur Familie der Gerstl und speziell zu Sigmund Gerstl vgl. jetzt Gustav Pfeifer, Amt, Ansitz, Burg. Momente sozialer Mobilität im ausgehenden Mittelalter am Beispiel der Gerstl von Gersburg. In: Ders. – Kurt Andermann (Hrsg.), Soziale Mobilität in der Vormoderne. Historische Perspektiven auf ein zeitloses Thema. Akten der internationalen Tagung Brixen, Bischöfliche Hofburg und Priesterseminar, 11. bis 14. September 2019 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 48), Innsbruck 2020, S. 65–92. 9 In den Quellen auch als Gersburg bezeichnet, heute Sitz der Sektion Bozen des Regionalen Verwaltungsgerichts. 10 Dazu ausführlich Pfeifer (wie Anm. 8). 11 Ebd. S. 88–92. 7 8
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Barbara Conzin, sondern verfügte auch, dass sie bis zu ihrer eventuellen Wiederverheiratung12 über das gesamte hinterlassene Vermögen Gewalt haben und verfügen solle: sy welle ansehen die kron des frumen wittibsstannd vnd bey meinem sun vnd tóchtern beleiben vnd gewaltige fraw vnd mueter sein, als das ich verlass, es sey parschafft, klainat, vrbar, aigen, zinns, zehennd, ligendts vnd varenndts, Raffenstain, Gerspurg, des hofs in Phatten vnnd aller vrbar zue vnd bey Bozen, nicht ausgenomen vnuerrait, des sol mein hausfraw ain wal haben.13 Es ist dies, obwohl Gerstl für die nachgelassenen Kinder seinen Vetter Benedikt Memminger aus Meran als Vormund bestimmt hatte, ein erheblicher Vertrauensbeweis seiner Frau gegenüber und wohl auch Ausdruck der Wertschätzung für ihr verwalterisches Geschick und ihre Geschäftstüchtigkeit. Gerstl dürfte sich bereits mehrere Jahre auf die Unterstützung Barbaras verlassen haben, findet sich seine Handschrift doch schon ab 1513 nicht mehr in den Urbaren. Und bereits unmittelbar nach dem Tod ihres Ehemanns trat Barbara beispielsweise im Gerstl’schen Gesamturbar von 151514 oder im Weinurbar aus demselben Jahr, auf das noch zurückzukommen sein wird15, immer wieder selbstbewusst in der ersten Person auf. D a s G e r s t l’s c h e We i n u r b a r u n d d i e Ab g a b e n a n d a s K l o s t e r Fr a u e n c h i e m s e e Das im Lauf seines Lebens von Sigmund Gerstl erworbene Urbar umfasste neben den üblichen Zins-, Pacht- und Gülteinnahmen an Geld und Naturalien auch Weingülten, Weinzehnten und Teilwein (halbe wein)16 in beträchtlichem Umfang, wie aus dem 1516 verfassten Verlassenschafts-
Barbara Conzin Gerstl verheiratete sich erneut am 3. Mai 1518 mit Martin von BoimontPayrsberg, verstarb aber bereits im Mai des Folgejahres. Pfeifer (wie Anm. 8) S. 83. 13 Ebd. S. 90. 14 Südtiroler Landesarchiv (SLA), Archiv Payrsberg 757 (Notta des vrbers innemen der nutzung zw sand Gallentag im Intal und zu sand Marttes tag an der Etsch, so ich Warbara, ein ferlassne wittib Sigmunden Gerstls, Adam von Weineg auch meines vattern ránt vnd zins inzenemen hab vnd wes yeder zins ist, des namen stet peӱ seinem zins oder post etc. des XV jars), passim. 15 SLA, Archiv Payrsberg 759 (Das ist das wimat register der ferlassen weingült, weinzins, zechet, halbe wein, weӱlanden des festen Sigmunden Gerstls selligen dem Gott genad amen des XV jars etc.). 16 Güter, aus denen nur die Hälfte des Ertrages bezogen wird. 12
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urbar17 hervorgeht. Das Urbar nennt Abgaben aus Gütern im weiteren Umland von Bozen, und zwar aus Neumarkt, Tramin, Pfatten, Kaltern, Eppan, Missian, Girlan und Schreckbichl, Andrian, Nals, Terlan, Gries, Bozen selbst und vom Ritten. In Summe waren es nach Gerstls Tod 1515 36 Fuder, 2 Yhren und 3 Pazeiden (rund 225 Hektoliter) an Wein und Most, davon fielen allerdings 18 Yhren auf Zinsabgaben. Dazu kam noch der Eigenbauwein aus den Gütern in Pfatten (südwestlich von Bozen), am Fagen (im heutigen Stadtteil Gries) und um seinen Sitz Gerstburg.18 Davon waren die Abgaben an verschiedene Grundherren abzuziehen, darunter an die Bozner Marienpfarrkirche, an die Pfarrkirche und den Propst zu Gries, an das Bozner Dominikanerkloster, an die Bischöfe von Trient und Augsburg, an die Klarissen in Brixen und an die Äbtissin von Chiemsee. Auf diese letztere Abgabe sei hier im Besonderen eingegangen. In den im Archiv Payrsberg erhaltenen Gerstl’schen Urbaren scheint die Abgabe an die Benediktinerinnen von Frauenchiemsee regelmäßig auf. Die Abtei bezog als Grundherrin über zwei Wiesen „auf der Ferar (Verrar)“ unter Moritzing (westlich von Bozen) 1 Pfund Veroneser Pfennige (Berner) und Wassergeld sowie an Weingülten 4 Yhren Wein aus dem Gut „Im Groller“ zu Gries und 1 Yhre aus dem Weingarten „Die Flaschen“, insgesamt also regelmäßig 5 Yhren und 1 Pfund Berner, das Wassergeld richtete sich nach dem jährlichen Bedarf. D e r We i n g ä r t e n b e s i t z b a y e r i s c h e r Pr ä l a t e n i n Sü d t i r o l u n d d e r We i n t r a n s p o r t ü b e r Ja u f e n u n d Bre n n e r Die ältesten Schriftquellen zur Geschichte des heutigen Südtirols und insbesondere der Gegend um Bozen hängen sehr eng mit der Geschichte Bayerns (und mit dem Anbau von Wein) zusammen.19 Die im ältesten Freisinger Traditionsbuch20 überlieferte Urkunde für Innichen durch Her-
SLA, Archiv Payrsberg 760 (Des urbars durch weӱlennd Sigmünden Gerstl zu Gerstpurg vnnd Rauenstain selign verlassen abschrifft laut spruchs hindter ain ersamen ratt erlegt etc.). 18 Pfeifer (wie Anm. 8) S. 82. 19 Josef Riedmann, Das Etschtal als Verbindungslinie zwischen Süd und Nord im hohen Mittelalter. In: Stadtgemeinde Bozen (Hrsg.), Bozen von den Anfängen bis zur Schleifung der Stadtmauern. Berichte der internationalen Studientagung, Bozen 1991, S. 149–157, hier besonders S. 150. 20 Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Hochstift Freising Archiv 1 (Altsignatur: BayHStA, HL Freising 3a). 17
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zog Tassilo III. von 769 wurde in Bozen ausgestellt.21 Die ebenfalls dort überlieferte Schenkung des breonischen Noritalers Quarti(nus) an das Pustertaler Kloster (827) umfasste unter anderem Weingüter (cum vineis) in Russan (abgekommenes Toponym für Moritzing bei Gries). Neben dem Hochstift Freising ist für zahlreiche oberbayerische Klostergründungen wie beispielsweise Schäftlarn, Biburg, Ebersberg, Tegernsee oder Wesso brunn seit dem Hochmittelalter Weinbaubesitz vor allem in der Gegend um Bozen nachweisbar, noch um 1800 waren 24 Südtiroler Weingüter im Besitz von insgesamt zehn bayerischen Prälatenklöstern und -stiften (Benediktbeuren, Beuerberg, Beyharting, Ettal, Polling, Rottenbuch, Schäftlarn, Steingaden, Tegernsee, Wessobrunn).22 Die Abtei Frauenchiemsee bezog ebenfalls Wein aus eigenem Besitz in Südtirol, wenn auch in bescheidenerem Ausmaß: Für die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts sind zwei Weinberge in Winkl (bei Gries) und Bozen überliefert23, die zusammen mit dem weiteren Besitz des Klosters im Bozner und Meraner Raum von einem eigenen Amt verwaltet wurden.24 Der Transport des Weines nach Norden – für den Tiroler Abschnitt der Transportroute besaß Frauenchiemsee, wie andere bayerische und schwäbische Prälaten, bereits seit dem 14. Jahrhundert eine Zollbefreiung25 – erfolgte auf Fuhrwerken bzw. Saumtieren bis Innsbruck zum Inn, wo die Fracht auf Flöße umgeladen wurde und auf dem Wasserweg schließlich bis Rosenheim gelangte.26 Für das Mittelalter hatte sich Frauenchiemsee für Martin Bitschnau – Hannes Obermair (Bearb.), Tiroler Urkundenbuch II. Die Urkunden zur Geschichte des Inn-, Eisack- und Pustertals 1: Bis zum Jahr 1140, Innsbruck 2009, Nr. 50 und 86. 22 Dietmar Stutzer, Weingüter bayerischer Prälatenklöster in Südtirol, Rosenheim 1980, S. 51. – Andreas Otto Weber, Studien zum Weinbau der altbayerischen Klöster im Mittelalter. Altbayern, österreichischer Donauraum, Südtirol (Vierteljahrschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 141), Stuttgart 1999, S. 173–179. 23 Dominik Dorfner, Kloster Frauenchiemsee im 14. und 15. Jahrhundert. In: Walter Brugger – Manfred Weitlauff (Hrsg.), Kloster Frauenchiemsee 782–2003. Geschichte, Kunst, Wirtschaft und Kultur einer altbayrischen Benediktinerinnenabtei, Weißenhorn 2003, S. 247–290, hier S. 253. – BayHStA, Kloster Frauenchiemsee Urkunden 194 (1384 November 11). 24 Jolanda Engelbrecht, Wirtschaftsgeschichte des Klosters Frauenchiemsee bis zur Säkularisation 1803. In: Brugger – Weitlauff (wie Anm. 23) S. 479–520, hier S. 503 f. 25 Otto Stolz, Geschichte des Zollwesens, Verkehrs und Handels in Tirol und Vorarlberg von den Anfängen bis ins XX. Jahrhundert (Schlern-Schriften 108), Innsbruck 1953, S. 101. – Engelbrecht (wie Anm. 24) S. 504. 26 Zum rechtlichen Status der Floßdienste im 15. Jahrhundert s. Dorfner (wie Anm. 23) S. 253. 21
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diese Zwecke der damals im Rahmen der Grundherrschaft wohl üblichen Praxis bedient, den Transport durch Eigen- und Lehenleute durchführen zu lassen.27 Das Tiroler Urbar von Frauenchiemsee aus dem 14. Jahrhundert vermerkt an mehreren Stellen für im heutigen Nordtirol gelegene Güter Weinfuhrdienste. Dies galt insbesondere für Klosterleute aus dem Ötztal28, weshalb anzunehmen ist, dass die Wegführung – zumindest im Mittelalter – von Meran durch Passeier über das Timmelsjoch erfolgte. In der Frühen Neuzeit waren diese Dienste in Geld abgelöst29, die Transporte nach Frauenchiemsee wurden nun wohl ausnahmslos von Fuhrleuten durchgeführt und gingen über den Jaufen nach Sterzing und in weiterer Folge über den Brenner. Ob dies auch für den aus der Bozner Gegend bezogenen Wein gilt, ist kaum zu beantworten. We i n z u k a u f a u s G e r s t l’s c h e r We i n e r n t e f ü r d a s K l o s t e r Fr a u e n c h i e m s e e Die Abtei kaufte über den genannten Gültenbezug aus Sigmund Gerstls Urbar und den ihr aus den bereits genannten eigenen Weingütern30 bei Leitach (östlich von Bozen), in Gries (zusammen jährlich 8 Yhren Wein) sowie in Obermais bei Meran (16 Yhren Most) bezogenen Wein noch weiteren dazu, um den Eigenbedarf zu decken.31 Auch dafür wandten sich die Benediktinerinnen an Gerstl und dass sich in diese Geschäftsbeziehungen über die ledigliche Auflistung der gewünschten bzw. in Rechnung zu stellenden Güter durchaus auch amikalere Töne mischen konnten, sei an folgendem Beispiel ersichtlich gemacht: Am 28. Oktober 1515 schrieb Hanns Wertinger, Richter zu Chiemsee,32 aus Innsbruck, wo er sich vermutlich aufhielt, um den von den Südtiroler Höfen und Gülten des Klosters Frauenchiemsee zu erwartenden und Anfang November noch vor dem
Herbert Klein, Die Weinsaumdienste in Nordtirol und Bayern. In: Tiroler Heimat 13/14 (1949/50) S. 65–90. 28 Engelbrecht (wie Anm. 24) S. 500 f. 29 Ebd. S. 501; s. auch Stolz (wie Anm. 25) S. 296. 30 Engelbrecht (wie Anm. 24) S. 503 f. 31 Engelbrecht nennt etwa den Osterwein aus Wasserburg oder Krems und Stein in der Wachau sowie den „Rhein- und Neggerwein“ aus München (ebd. S. 505). 32 Zu Hans Wertinger, Klosterrichter in Frauenchiemsee von 1498 bis 1527, s. Sigrid Düll, Grabmalplastik und Epigraphik im Kloster Frauenchiemsee. In: Brugger – Weitlauff (wie Anm. 23) S. 201–246, hier S. 236 f. und Abb. 124. 27
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Martinstag über den Brenner kommenden Weintransport zu beaufsichtigen, an Gerstls Witwe Barbara Conzin33: Edle gunstige liebe fraw. Von wegen meiner gnedigen frawen von Kyembsee34 schickh ich hiemit zu euch Micheln Gumppn von Stertzing mit zwayn wägen vmb die zway vas wein, auch vmb die zwen panntzn rosmarin wein, darzu vmb den pantzn gesoten weins, sodann bey euch bestellt ist; vnd was ir dann meiner gnedigen frawn schickhen wellet, es wern senif oder sallsen vässl, das SLA, Archiv Payrsberg 456. Bei der genannten gnedigen frawen von Kyembsee handelt es sich um die Äbtissin Ursula Pfäffinger von Salmannskirchen aus der Adelsfamilie der Pfäffinger von Salmannskirchen, Schwester des niederbayerischen Erbmarschalls Degenhart Pfäffinger. Sie wurde 1494 zur Äbtissin gewählt, resignierte vor 1529 und verstarb 1532. Vgl. dazu Wolfgang Lehner, Umbruch und Neuorientierung – Kloster Frauenchiemsee in der Reformationszeit. In: Brugger – Weitlauff (wie Anm. 23) S. 291–302, hier S. 292 f. 33 34
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näm ir gnad zu grossem danckh an, das wellet disen wagnern auflegen vnd bevelhen, so werden sy euch zwey läre ves an die stat legen. Auch sonders vleis bittende, ir wellet mein gnedige frawn mit guten weinen versehn auf erbre bezalung in maßen wie pey ewerm hausbirt seligen beschehn ist. Es haben auch mein gnedige fraw vnd ir convent ewern lieben hauswirt seligen, dem Got genedig sein welle, in irem gotshaus vnnd aus irer bruderschaft gar schon lassen besingen vnd wirdt sein in irer andacht vnd gepet gegn Got für vnd für nit vergessen vnd tragen seins abschaidens besonders getreus mitleids. Damit seyt Got bevolhn. Datum Insbrug am Montag nach Symonis et Jude anno etc. XV Hanns Wertinger richter zu Chiembsee35
Der edln tugenthafftn frawn Barbara Contzinin, weilend Sigmundn Gerstlns zu Gerstpurg selign gelassen bittib zuhannden Späterer Kanzleivermerk von Hand 19. Jahrhundert auf der Verso-Seite: 1515 Montag nach Symon und Juda/Symon und Juda 28/10, N. 27. 35
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… i n i re m g o t s h a u s v n n d a u s i re r b r u d e r s c h a f t gar schon lassen besingen … Aus Barbara Conzins erwähnter nahtloser Übernahme der Herrschaft über das Gerstl’sche Gesamturbar ist erklärbar, weshalb sich Wertinger in seinem Schreiben direkt an sie wandte und nicht an ihren Amtmann, zusammen mit der ebenso sanften wie nachdrücklichen Forderung, sie möge für den bestellten Wein weiterhin eine ebenso erbre bezalung in maßen wie pey ewerm hausbirt seligen verlangen. Die bisher gute Geschäftsbeziehung habe schließlich dazu geführt, dass die Äbtissin Ursula und ihr Konvent ihren verstorbenen Ehemann Sigmund in ihr Gebet aufgenommen haben und dass sie ihn bereits „in ihrem Gotteshaus und ihrer Bruderschaft“ besingen haben lassen. Bei der angesprochenen Bruderschaft handelt es sich augenscheinlich um die von Ursulas Vorgängerin Magdalena von Auer eingerichtete Armenseelenbruderschaft.36 1496 bestätigte Ursula Pfäffinger zusammen mit ihrem Konvent und weiteren genannten Personen die Errichtung einer Bruderschaft „Unserer Lieben Frau zum Trost der armen Seelen“ und bestimmte deren Pflichten und Verfassung.37 Das Motiv für diese Gründung war das Gedenken an die verstorbenen Mitglieder mit besonderem Augenmerk auf die armen gelaubigen selen zu mynderung irer peen, aber auch generell das Gebet zum Heil aller Brüder und Schwestern. Wenige Tage später, am 30. August, bestätigte der Salzburger Erzbischof die Einrichtung und verlieh den Teilnehmern an Bruderschaftsgottesdiensten einen Ablass von vierzig Tagen.38 Man darf davon ausgehen, dass auch Sigmund Gerstl dieser Bruderschaft angehörte; bereits 1498 war er zusammen mit seiner damaligen Frau Anna von den Rattenberger Augustinereremiten in deren Gebetsbruderschaft39 aufgenommen worden, sein Testament von 1514 belegt auch seine Mitgliedschaft (mitprueder) bei der Priesterbruderschaft an der Bozner Marienpfarrkirche, einer Vereinigung von Klerikern und Laien zur Pflege des Totengedächtnisses.40
Lehner (wie Anm. 34) S. 292. BayHStA, Kloster Frauenchiemsee Urkunden 850 (1496 August 24). 38 BayHStA, Kloster Frauenchiemsee Urkunden 851 (1496 August 30). 39 SLA, Archiv Payrsberg 383. 40 SLA, Archiv Payrsberg 451. 36 37
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Mi c h a e l Gu m p p, e i n t y p i s c h e r Ti r o l e r Fr ä c h t e r d e r Fr ü h n e u z e i t Der bestellte Wein wurde wenige Tage später am Allerseelentag (2. November) „aufgelegt“, also verladen und vom Fuhrmann abgeholt41, wurde somit noch gärend über den Brenner nach Axams, dem südwestlich von Innsbruck gelegenen Frauenchiemseer Verwaltungszentrum in Tirol gebracht.42 Bei dem im Schreiben des Chiemseer Richters genannten Frächter Michel Gumpp von Sterzing dürfte es sich um jenen Michael Gumpp handeln, der 1519 in Tschöfs (nordwestlich von Sterzing) den halben Mayrhof bewirtschaftete43, weitere Besitzungen lagen in Trens (südlich von Sterzing).44 Er besaß aber auch in Sterzing selbst – die Stadt war seit dem Mittelalter bedeutender Niederlagsplatz und Knotenpunkt der Brennerroute – eine Liegenschaft. Diese lag für ein Fuhrunternehmen strategisch günstig am nördlichen Abschnitt der Hauptstraße, der sogenannten Neustadt.45 Nach der Steuerbeschreibung von 1540, die Gumpp als Vorbesitzer nennt, umfasste die Hofstätte haus, stadl vnd stallung sambt ainem hennen gartl.46 Gumpp darf als typisches Beispiel für einen tirolischen Frächter angesprochen werden, wie Otto Stolz ihn beschreibt, also mit genauer Kenntnis der schwierigen Wegverhältnisse, dauerhaft an der Strecke wohnend, Grundbesitzer und damit wirtschaftlich stabil, Eigentümer von Zug- und Tragtieren, um den Warenverkehr zuverlässig abzuwickeln.47
SLA, Archiv Payrsberg 759, fol. 34r. Engelbrecht (wie Anm. 24) S. 499. 43 Engelbert Auckenthaler, Geschichte der Höfe und Familien von Ried-Tschöfs bei Sterzing (Oberes Eisacktal, Südtirol) mit besonderer Berücksichtigung des 16. Jahrhunderts (Schlern-Schriften 172), Innsbruck 1962, S. 97 f. 44 SLA, Verfachbuch Sterzing 1518, fol. 84r. 45 Conrad Fischnaler, Sterzing am Ausgang des Mittelalters. Mit einer Stadtplan-Skizze und mehreren Bildern. In: Raimund von Klebelsberg (Hrsg.), Festschrift zu Ehren Emil von Ottenthals (Schlern-Schriften 9), Innsbruck 1925, S. 104–143, hier S. 136. 46 SLA, Stadtarchiv Sterzing XXX/9 (Puech der stuckh vnd güeter, so mit gemainer stat Sterzing versteurt werden), fol. 101v–102r. 47 Otto Stolz, Zur Geschichte der Organisation des Transportwesens in Tirol im Mittelalter. In: Vierteljahrschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte 8 (1910) S. 196–267, hier S. 253. – Ders., Neue Beiträge zur Geschichte des Niederlagsrechtes und Rodfuhrwesens in Tirol. In: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 22 (1929) S. 144–173, hier S. 147 f. 41 42
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… hab ich ir geschenckht … Es ist nun dies einer von den seltenen Fällen, wo die Quellen verraten, wie die Angelegenheit ausging. Die „Bestellung“ Hans Wertingers umfasste zwei Fässer Wein, zwei Panzen Rosmarinwein und einen Panzen gekochten Wein; sollte Barbara Conzin darüber hinaus noch etwas mitschicken wollen, zum Beispiel ein Senf- oder ein Salsenfässchen, würde dies, so der Klosterrichter, die Äbtissin dankbar annehmen. Über Weinsorten oder etwa über Mengenangaben lässt uns das Schreiben weitgehend im Unklaren. Da wir aber in der glücklichen Lage sind, auch den Inhalt des Weinregisters der Barbara Conzin, das diesbezüglich weiter ins Detail geht, zu kennen, lassen sich damit auch die dort fehlenden Informationen auflösen. Das Gerstl’sche Weinregister des Jahres 151548 enthält nämlich folgenden Vermerk (Abb. Montage): So ich meiner genedigen frawen am Khüemsse gib des XV jar Item ich hab meiner genedigen frawen geben im wimat des XV jars zwaÿ vas: Item 1 vas ist pezaÿchent mit dem A49, ist Gerspurger, ha[l]t in XV vrn IIII paceiden. SLA, Archiv Payrsberg 759. Die Fassbezeichnungen A–Z werden zwei Seiten vorher aufgelöst: Die Fässer A und B enthalten Gerspurger Wein (aus den Weingärten um Gerstburg), die mit C, D und F bezeichneten Fässer Fagner Wein (aus dem Weingut am Fagen in Gries), Fass E enthält Terlaner Wein (aus Terlan, nordwestlich von Bozen), die Fässer G, H und I enthalten Grieser Wein, Fässer K, L und M enthalten Fernetscher Wein (Vernatsch, eine regionaltypische Weinsorte), Fass N Bozner Wein, Fass O Leitacher Wein (nach Leitach, einer Weinflur östlich von Bozen), Fass P Vernatsch aus Pfatten (südwestlich von Bozen), Fässer Q, R und S wiederum Vernatsch. Die übrigen Fässer enthalten sumerwein (Sommerwein) aus Eppan und Andrian. Zur Bezeichnung der Fässer wird auch die Destination angeführt: neben den zwei Fässern für Chiemsee ist der Rest der Lieferung für den langjährigen Handelspartner Hans Düring in Hall bestimmt, der dort 1495 als Sondersiechenpfleger, 1506 als Ratsherr, 1511–1514, 1516/17 als Rechnungsprüfer des Rats (raiter), 1515 und 1518–1520 schließlich als Bürgermeister belegt ist. Seit 1491 ist er im Weinhandel nachweisbar (in der dem Urbar anliegenden Geschäftskorrespondenz zeichnet er als Hanns During, ewr diener und gegenkauff). Vgl. Klaus Brandstätter, Ratsfamilien und Tagelöhner. Die Bewohner von Hall in Tirol im ausgehenden Mittelalter (Tiroler Wirtschaftsstudien 54), Innsbruck 2002, S. 230, 287, 290 und 295. Insgesamt sind rund 400 Bozner Yhren als zum Verkauf und Lieferung bestimmter Wein aufgelistet. Die Lieferung (Auflegung) erfolgte für die verschiedenen Fässer an unterschiedlichen Tagen. Die insgesamt 24 Fässer halten rund 57 zum Verkauf bestimmten Fuder – der Widerspruch zu der im Verlassenschaftsurbar des gleichen Jahres aufgezählten, um einiges geringeren Menge an Wein und Most bleibt vorerst ungeklärt. S. Pfeifer (wie Anm. 8) S. 82 f. 48 49
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Item 1 vas ist pezaÿchent mit dem Z, ist Eppaner sumerwein, halt in XVI vrn. Item habens auffgellegt am Allersellentag im XV jar. Item so hab ich meiner genedigen frawen geben zwen pantzen rosmarin wein, jettweder von I ½ vrn, facit 3 vrn. Item ain pontz gesotten wein halt 1 vrn etc. Seneff vnd saltzen hab ich ir geschenckht.50 Item ich Warbara Conzinin hab abgeraÿt mit meÿner gnedigen frawen am Khüemse, die II fas wein, so ir geben hab im XV jar vnd 1 von gesotten wein vnd III vrn Leÿttacher, facit als 53 gulden, der ich schon außgericht vnd pezalt pin.51 Bei den zwei mit den Buchstaben A und Z bezeichneten Fässern52 handelte es sich um ein Fass von 15 Yhren und 4 Pazeiden mit „Gerspurger“ Wein (Fass A) und ein Fass von 16 Yhren mit „Eppaner Sommerwein“ (Fass Z). Man wird dabei wohl annehmen müssen, dass nicht schon ausgebauter Wein transportiert wurde, sondern die Maische („Praschlet“). Die Pazeide Maische nach Bozner Maß entsprach 6,81 Liter53, 14 Pazeiden ergaben eine Yhre. Die Fässer enthielten also 214 bzw. 224 Pazeiden, was einer Gesamtmenge von 298,3 Hektolitern entspricht. Die Bezeichnung „Gerspurger“ bezieht sich auf die Bozner Herkunft des Weins aus Gütern um Gerstburg, dem Sitz Sigmund Gerstls und Barbaras, und dürfte wohl als Rotweinsorte anzusprechen sein, während der „Eppaner Sommerwein“ ein leichter Weißwein aus dem Überetsch gewesen sein wird. Zusätzlich – und nur im Weinregister nachweisbar – versandte Barbara Conzin noch 3 Yhren „Leitacher“, also Rotwein aus der östlich von Bozen am rechten Eisackufer liegenden Weinbaulage Leitach. Da es sich dieses Mal wohl um bereits ausgebauten Wein handelte, wird für die Umrechnung in Liter 77,81 pro Yhre54 zu berücksichtigen sein, die 3 Yhren Leitacher machten demnach gut 233 Liter aus. Daneben bestellte und erhielt die Äbtissin 2 Panzen Rosmarinwein von jeweils 2 Yhren und einen Panzen gesottenen (gekochten) Wein von einer Yhre. Mit „Panzen“ wird hier allgemein ein
SLA Archiv Payrsberg 759, fol. 34r. Ebd. fol. 34v. 52 S. oben Anm. 49. 53 Wilhelm Rottleuthner, Alte lokale und nichtmetrische Gewichte und Maße und ihre Größen nach metrischem System, Innsbruck 1985, S. 48. 54 Ebd. 50 51
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Fass als Behältnis bezeichnet,55 für die Bestimmung der Yhre gilt dasselbe wie beim Leitacher. Beide „Sorten“ (mit Rosmarin versetzter Weiß- bzw. eingekochter Rotwein) verweisen auf Varianten einer heute zumindest in Südtirol nicht mehr gängigen Praxis der Vinifizierung bzw. des Weinkonsums, könnten aber gleichermaßen auf die Verwendung in der Heilkunde deuten. Die Fässchen mit Senf und den „Saltzen“ (zu mhdt. salse)56, worunter man den zu einer Art Sirup eingekochten Saft von nicht näher beschriebenen Früchten zu verstehen hat57, ließ Barbara Conzin als Geschenk mitschicken. Die jahrhundertealten Beziehungen zwischen Bayern und Tirol, vor allem der seit dem früheren Mittelalter belegbare Grundbesitz von altbayerischen und schwäbischen Klöstern, Stiften und Hochstiften vornehmlich in der Gegend um Bozen haben die Entstehung und Erhaltung von schriftlichen Quellen in Archiven begünstigt. So können sich Historiker*innen heute zahlreicher Archivbestände bedienen, die länderübergreifendes Material enthalten. Die in diesem Beitrag vorgestellten Quellen aus einem Südtiroler Familienarchiv ermöglichen einen Einblick in die am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit üblichen Abläufe beim Ankauf und Transport von Wein. Durch die beiden in dieser Sache agierenden Protagonistinnen, die Frauenchiemseer Äbtissin Ursula Pfäffinger und die für ihren verstorbenen Ehemann Sigmund Gerstl handelnde Bozner Weinproduzentin Barbara Conzin, werden zudem die Möglichkeiten zu eigenständigem wirtschaftlichen Handeln von Frauen sichtbar.
Josef Schatz – Karl Finsterwalder, Wörterbuch der Tiroler Mundarten (SchlernSchriften 119/120), Innsbruck 1955, S. 46. 56 Ebd. S. 503. 57 Johann Andreas Schmeller, Bayerisches Wörterbuch 2, bearb. von Georg Karl Frommann, München 1872–1877, Sp. 274. 55
Vermessung der Archive. Archivstatistik bei den Staatlichen Archiven Bayerns von Franz von Löher bis Fritz Zimmermann Von Michael Unger In der archivischen Fachdiskussion haben Messverfahren und quantitative Methoden seit einigen Jahren Konjunktur. Befördert durch die Einführung betriebswirtschaftlicher Steuerungsinstrumente in den Verwaltungen von Bund, Ländern und Kommunen haben sich auch die öffentlichen Archivverwaltungen diesen neuen Methoden des Archivmanagements geöffnet. Der KLA-Ausschuss Betriebswirtschaftliche Steuerung hat 2017 einen Kennzahlenkatalog für Querschnitts- und Fachleistungen veröffentlicht,1 ein jüngst entwickeltes digitales Werkzeug für die Personalbedarfsbemessung setzt darauf auf. Seit 2017 nehmen die staatlichen Archive an der amtlichen Bundeskulturstatistik teil, wobei bisher nur wenige der erhobenen Zahlen in Form eines Spartenberichts veröffentlicht wurden – ein Kennzeichen dafür, dass die Messinstrumente noch weiter zu konsolidieren sind.2 Auf der Ebene der International Organization for Standardization (ISO) sind Bemühungen um eine internationale Archivstatistik weit fortgeschritten.3 Immer geht es dabei um Messinstrumente und die daraus gewonnenen Messdaten. Diese vermitteln Kenntnis von Ist-Zuständen und dienen als Grundlage für die Formulierung von Soll-Zuständen ebenso wie für die Erfolgskontrolle von Maßnahmen. Kurzum, sie sind zentral für die Steu-
KLA-Ausschuss Betriebswirtschaftliche Steuerung: Empfehlungen zur Systematisierung von Querschnitts- und Fachleistungen sowie relevanter Kennzahlen in Archiven, Marburg 2017. systematisierung-querschnitts-fachleistungen.pdf (bundesarchiv.de) (aufgerufen am 7.2.2021). 2 Statistisches Bundesamt (Destatis) (Hrsg.), Bildung und Kultur. Spartenbericht Museen, Bibliotheken und Archive 2017, bearb. von Anja Liersch und Dominik Asef, Wiesbaden 2017, S. 9. 3 ISO/FDIS 24083 Information and documentation – International archives statistics. ISO – ISO/FDIS 24083 – Information and documentation – International archives statistics (aufgerufen am 7.2.2021). 1
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erung von Organisationen.4 Für den Kulturbereich insgesamt hat Ulla Wimmer Messinstrumente als Gegenstand von politischen Beziehungen der Beteiligten und deren jeweiligen Erkenntnisinteressen untersucht. Zu diesen Beteiligten gehören neben den zu messenden Institutionen selbst weitere, meist hierarchisch übergeordnete Instanzen und eine breitere Öffentlichkeit.5 Relevant ist dabei nicht nur die Entwicklung des Mess instruments, sondern der gesamte Messvorgang, von der Datenerhebung über die Weiterverarbeitung der Daten, etwa durch Vergleichen, bis hin zur Interpretation und Bewertung. Denn numerische Werte stellen für sich genommen noch keine Aussagen dar. Um Bedeutung zu erlangen, müssen diese Werte entschlüsselt werden.6 Dazu ist es notwendig, sie (wieder) mit Informationen anzureichern und zu interpretieren. Daher waren Messinstrumente im Kulturbereich „immer Angelegenheiten von höchster Brisanz“.7 Im Archivwesen sind sie zudem kein Kind des „Neuen Steuerungsmodells“ der 1990er Jahre8, sondern in ihrer Grundform als „Archivstatistik“ deutlicher älter, nicht zuletzt bei den Staatlichen Archiven Bayerns. An die Entwicklung dieser Archivstatistik, von den Anfängen einer modernen amtlichen Statistik im 19. Jahrhundert bis hin zur Etablierung eines in seinen Grundzügen bis heute bestehenden Erhebungsschemas in den 1960er Jahren9, lassen sich einige Fragen stellen: Zu welchen Merkmalen wurden Ulla Wimmer, Kultur messen: Zählen, vergleichen und Bewerten im kulturellen Feld (Berliner Arbeiten zur Bibliothekswissenschaft 14), Berlin 2004, S. 57. 5 Ebd. S. 30. 6 Ebd. S. 50. In methodischer Hinsicht weiterführend Peter Kramper, The Battle of the Standards. Messen, Zählen und Wiegen in Westeuropa 1660–1914 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 82), Berlin 2019, S. 6–16. 7 Wimmer (wie Anm. 4) S. 1. Vgl. auch Simon Xalter, Der „Bibliotheksindex“ (BIX) für wissenschaftliche Bibliotheken – eine kritische Auseinandersetzung (Tobias-lib), Tübingen 2006, S. 18 https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/43853/ pdf/BIX_OPUS_Tue_Xalter.pdf?sequence=1&isAllowed=y (aufgerufen am 17.4.2021). 8 Für diese erneute Hinwendung zu statistischen Erhebungen in Archiven siehe u.a. Andreas Hedwig, Moderne Steuerungsinstrumente in den Archiven – Fluch oder Chance? Versuch einer Standortbestimmung. In: Irmgard Christa Becker – Dominik Haffer – Valeska Koal (Hrsg.), Ziele, Zahlen, Zeitersparnis. Wie viel Management brauchen Archive? (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 63), Marburg 2016, S. 13–58, hier S. 43–56. 9 Zur Geschichte der amtlichen Statistik in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert siehe u.a. Heinz Grohmann, Die Entwicklung der statistischen Datenproduktion und der amtlichen Statistik. In: Nils Diederich – Egon Hölder – Andreas Kunz u.a. (Hrsg.), Historische Statistik in der Bundesrepublik Deutschland (Schriftenreihe Forum der Bundessta4
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Kennzahlen erhoben, wie erhob und interpretierte man sie und für wen? Welche Motive waren handlungsleitend und welche Zwecke wurden damit verfolgt? Lassen sich Maßnahmen, Folgen oder Wirkungen mit den Messdaten und deren Auswertung in Verbindung bringen? A n f ä n g e s t a t i s t i s c h e r Ve r f a h re n i m 1 9 . Ja h r h u n d e r t Die ersten regelmäßigen Datenerhebungen beim Allgemeinen Reichsarchiv und den diesem nachgeordneten regionalen Archivbehörden (Archivkonservatorien, ab 1875 Kreisarchiven)10 sind eingebettet in das im 19. Jahrhundert etablierte Berichtswesen im Instanzenzug der Verwaltungshierarchie. Soweit noch nachweisbar, hatten die Archivkonservatorien dem Reichsarchiv vor 1865 Quartals- und Jahresberichte vorzulegen, seit diesem Jahr dann Halbjahresberichte, die darüber Auskunft geben sollten, „was im Konservatorium wirklich geschieht, wie es geschieht, oder was geschehen sollte“.11 Als Erhebungsgegenstände waren vorgesehen Archivbestände, laufender Dienstgang, innerer Dienstgang, Archivbenutzung (Anzahl benutzter Archivalien und Nutzungszwecke!), Personal und sonstige Bedürfnisse und Wünsche. An die Stelle dieser Berichtsform trat im Zuge der Umwandlung in Kreisarchive 1876 ein von diesen seitdem regelmäßig zu erstellender Jahresbericht, der zugleich Grundlage für den vom Reichsarchivdirektor dem vorgesetzten Ministerium zu erstattenden Jahresbericht darstellen sollte. Von dem ausführlichen Formular sollte die gesamte Geschäftstätigkeit erfasst werden und die jeweiligen Berichte sollten zugleich eine Art Chronik des jeweiligen Kreisarchivs ergeben. Sieben thematische Berichtsgegenstände untergliederten sich in bis zu zwei weitere Ebenen, wobei die jeweiligen Messverfahren teils genauer erläutert wurden. So sollte der Archivalienzuwachs differenziert nach Aussonderung tistik 15), Stuttgart 1990, S. 10–21, hier S. 16–19. – Egon Hölder – Manfred Ehling, Zur Entwicklung der amtlichen Statistik in Deutschland. In: Wolfram Fischer – Andreas Kunz (Hrsg.), Grundlagen der historischen Statistik von Deutschland. Quellen, Methoden, Forschungsziele (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin 65), Wiesbaden 1991, S. 15–31. 10 Siehe Rudolf Fitz, Die Organisation der staatlichen Archive Bayerns von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. In: Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern 12 (1966), Heft 1, S. 1–10, hier S. 4. 11 Allgemeines Reichsarchiv vom 9.12.1865, Bayerisches Hauptstaatsarchiv (künftig: BayHStA), Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns (künftig: GDion Archive) 1346. Siehe auch Franz von Löher, Das bayerische Archivwesen. In: Archivalische Zeitschrift 1 (1876) S. 75–173, hier S. 167 f.
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aus Amtsregistraturen, Erwerb durch Kauf, Tausch oder Schenkung sowie Abgabe durch nichtbayerische Archive erfasst werden. Gleichzeitig waren Makulierungen zu zählen und so der Umfang des Archivguts evident zu halten. Zentrale Kennzahl für den Geschäftsgang waren die Tagebuchnummern, die jeweils in Vergleich zu den Vorjahreszahlen zu setzen und nach zehn (!) Tätigkeitsbereichen zu differenzieren waren, u.a. amtliche und private Nutzungen, letztere wiederum unterteilt nach wissenschaftlichen, genealogischen und rechtlichen (dem Normalfall), sowie Rückforderungen entliehener Archivalien und Aussonderungen bei Behörden. Ähnlich feingranular sollten Erschließungsarbeiten gemeldet werden, wobei die Repertorisierung von Aktenbeständen, Amtsbüchern und Urkunden ebenso getrennt zu erfassen war wie die Adaptierung von Repertorien aus Abgabeverzeichnissen. Mit – nicht standardisierten – Aussagen zur Qualität der Findmittel und zum jeweils benötigten Zeitaufwand näherte sich diese Form der Erfassung ihrem Charakter nach schon heutigen Leistungskennzahlen. Mit der Meldung von im Berichtszeitraum fertiggestellten Findmitteln war ein zentraler Leistungsnachweis der Archivare verbunden. Dazu zählten auch die jeweiligen Veröffentlichungen und besonders wichtige oder schwierige Recherchen, sei es für amtliche oder private Zwecke. An beidem, wissenschaftlich literarischer Tätigkeit einerseits und der Kenntnis von Beständen, historischen sowie rechtlichen Zusammenhängen andererseits, lässt sich das fachliche Selbstverständnis der höheren Archivbeamten jener Zeit festmachen.12 Unter Reichsarchivdirektor Franz von Löher wurden aktuelle statistische Zahlen, in einem Fall sogar ein gesamter Jahresbericht des Reichsarchivdirektors nicht nur verwaltungsintern „nach oben“ kommuniziert, sondern in der „Archivalischen Zeitschrift“ mit umfänglichen Interpretationen des Zahlengerüsts der Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht.13 Diese bemerkenswerte Transparenz in Bezug auf das eigene Wirken entsprang zweifellos dem ausgeprägten Interesse Löhers am fachlichen Austausch und an der Entwicklung einer archivischen Fachlichkeit insgesamt. Dies sollte ein Einzelfall bleiben14. Allgemeines Reichsarchiv an sämtliche Kreisarchive betr. die Geschäftsberichte der Kgl. Kreisarchive vom 19.6.1876, BayHStA, GDion Archive 1346. 13 Aus den amtlichen Jahresberichten des k. bayerischen Reichsarchiv-Direktors für 1882 und 1883. In: Archivalische Zeitschrift 9 (1884) S. 244–304. Siehe auch Franz von Löher, Vom Beruf unserer Archive in der Gegenwart. In: Archivalische Zeitschrift 1 (1876) S. 4–74, hier S. 26–31. – Ders. (wie Anm. 11) S. 111 f., S. 164 f., S. 171. 14 Vgl. Margit Ksoll-Marcon, Reichsarchivdirektor Franz von Löher. In: Archivalische Zeitschrift 94 (2015) S. 11–28, hier S. 21 f. – Rudolf M. Kloos, Die Archivalische Zeit12
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„ Ve r b e s s e r t e “ Ja h re s s t a t i s t i k a b 1 9 0 9 Den Bedürfnissen des vorgesetzten Innenministeriums entsprachen die auf dieser Grundlage aggregierten Informationen im Jahr 1909 nicht mehr. Ein Zusammenhang mit den seit 1906 schwelenden Fragen um einen Neubau des Reichsarchivs und die kurz darauf einsetzenden, sich jahrelang hinziehenden Erörterungen einer gründlichen Reorganisation der bayerischen Archivverwaltung im Landtag dürften wahrscheinlich sein15. Die Folge war jedenfalls eine wenig diplomatisch verpackte Aufforderung an das Reichsarchiv, eine neue Berichtsform mit geänderter Datenbasis zu entwickeln. Kritisiert wurde im Einzelnen die inhaltliche Redundanz zu parallelen Berichtsformen im Bereich des Personals und des Bauwesens, ein überbordender Detailreichtum bei Gegenständen, die das Ministerium weniger interessierten, wie etwa beim laufenden Dienst, der Recherchetätigkeit, bei Erschließungsarbeiten, Gebühren und dem Kassenwesen sowie den Zuwächsen der Amtsbibliotheken und nicht zuletzt die insgesamt als „außerordentlich weitschweifig“16 empfundene Aufbereitung. Alle Berichtsgegenstände sollten aus Gründen der Geschäftsvereinfachung daher auf das für die Dienstaufsicht notwendige Maße beschränkt werden. Es überrascht nicht, dass auch aus dem Kreis der zu Messenden die Gelegenheit genutzt wurde, um die in Teilen „ungemein zeitraubende und unfruchtbare ‚Statistik‘ “17 zu hinterfragen, etwa hinsichtlich der zehn Kategorien für Tagebuchnummern. Wie aus dem folgenden Hin und Her zwischen Reichsarchiv und Ministerium zu ersehen ist, gingen die mit der Datenerfassung verbundenen Ziele zwischen beiden Institutionen auseinander. So fiel auch ein im November 1909 vom Reichsarchiv vorgelegter Entwurf eines neuen Berichts- und Kennzahlenkatalogs beim Innenministerium nicht nur als immer noch inhaltlich überfrachtet durch. Abgelehnt wurde schon die Zielsetzung des Reichsarchivs, die nach diesem Muster schrift und die deutschen Archivzeitschriften des 19. Jahrhunderts. In: Archivalische Zeitschrift 73 (1977) S. 159–171, hier S. 166–168. 15 Vgl. Bernhard Zittel, Der Neubau des Bayerischen Hauptstaatsarchivs München. In: Archivalische Zeitschrift 64 (1968) S. 148–172, hier S. 148–152. – Wilhelm Volkert, Zur Geschichte des Bayerischen Hauptstaatsarchivs 1843–1944. In: Archivalische Zeitschrift 73 (1977) S. 131–148, hier S. 141. 16 Staatsministerium des Innern (künftig: StMI) an Allgemeines Reichsarchiv betr. Jahresbericht für 1908 vom 11.5.1909, BayHStA, GDion Archive 1346. 17 Kreisarchiv Würzburg an Allgemeines Reichsarchiv betr. Jahresbericht vom 25.6.1909, BayHStA, GDion Archive 1346.
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erwarteten Jahresberichte der Kreisarchive zur Überwachung von deren Geschäftstätigkeit nutzen zu wollen. Dafür, so das Ministerium kühl, seien andere Methoden, insbesondere die Amtsvisitationen, gedacht, im Übrigen müsse von den Kreisarchiven wie auch von anderen Staatsbehörden erwartet werden, dass sie schlicht ihre Pflicht erfüllten. Vom ministeriellen Standpunkt aus wurden lediglich die folgenden Themen als berichtenswert erachtet: Archivbestände, Amtsbibliotheken, Archivbenutzung, Ordnungsarbeiten sowie Vorkommnisse und Angelegenheiten von besonderer Bedeutung.18 Nach entsprechender weiterer Entschlackung konnte im Dezember 1909 die „Neue Anleitung zur Abfassung der Jahresberichte bei den Landesarchiven“ in Kraft gesetzt werden. Das Merkmalsraster gliederte sich nun in die folgenden Gruppen, die weitgehend in der originalen Diktion wiedergegeben werden:19 I. Archivalienbestände 1. Zugänge 1) Erwerbungen: aus Amtsregistraturen, bedeutendere aus dem Reichsarchiv oder anderen Kreisarchiven; abgetretene Gemeindearchive; sonstige Schenkungen; Käufe; Eintausch aus nichtbayerischen Archiven (fremde Extraditionen) 2) Neue Depots 2. Abgaben: Extradition systemwidrig lagernder Stücke ans Reichsarchiv oder an andere Kreisarchive (nur bei größerem Umfang); Rückgabe an Amtsregistraturen; Abgabe an Gemeindearchive; Austausch an auswärtige Archive; Makulierung. 3. Neue Depots Anzugeben waren zu Ziff. 1 und 2 lediglich Zahlenangaben, bei Gemeinde- und nichtbayerischen Archiven auch deren Namen. Bei Zugängen war zu erfassen, ob bereits eine archivalische Behandlung und Verzeichnung begonnen worden war. II. Amtsbücherei Anzugeben war hier die Gesamtzahl der durch Kauf bzw. unentgeltlich erworbenen Publikationen.
StMI an Allgemeines Reichsarchiv betr. Jahresberichte vom 17.11.1909, BayHStA, GDion Archive 1346. 19 Neue Anleitung zur Abfassung der Jahresberichte bei den Landesarchiven, [1909], BayHStA, GDion Archive 1346. 18
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III. Laufender Dienst 1. Anzahl der Recherchen 1) für wissenschaftliche Forschung (einschließlich genealogischer), veranlasst a. durch staatliche oder kirchliche Stellen und Behörden b. durch Gemeinden und Private 2) zu rechtlichen Zwecken, veranlasst a. durch staatliche oder kirchliche Stellen und Behörden b. durch Gemeinden, Advokaten und Private 2. Veranlasste Mitrecherche beim Reichsarchiv oder Kreisarchiven: Anzahl. 3. Zahl der im Archiv persönlich arbeitenden Benützer, der Besuchstage und der (ausnahmsweisen) Repertoriumsvorlagen. Gesamtzahl der vorgelegten Archivalien 1) Aus eigenen Beständen, 2) Von auswärts geschickt. 4. Versendungen: Zahl der Einzelfälle und Gesamtziffer der betroffenen Archivalien. 1) Sendungen an bayerische staatliche und kirchliche Stellen und Behörden a. Für letztere selbst zu amtlichen Zwecken, b. Für private Benützer. 2) desgleichen an auswärtige Archive, Universitäten und sonstige öffentliche Anstalten. IV. Ordnungsarbeiten Repertorisierung und Regestierung der eigenen Bestände unter Angabe der darin betroffenen Gruppen und ihrer Stückzahl. Ordnungsarbeiten 1. für Gemeinden: 1) im Amt 2) in den Gemeindearchiven selbst durch entsendete Archivbeamte; Fortsetzung der Listen über die hinsichtlich der Gemeindearchive getroffenen Maßnahmen und insbesondere darüber, ob bezüglich des Vorhandenseins von Archivalien in den betr. Gemeinden Mitteilungen ergangen und Verzeichnisse in Abschrift oder wenigstens zur Einsichtnahme übermittelt worden sind gemäß Reichsarchivzirkular vom 6. April 1908. 2. für Private (Adelsarchive) V. Literarische Tätigkeit der Archivangehörigen VI. Vorkommnisse und Angelegenheiten von besonderer Wichtigkeit Anzugeben waren u.a. außergewöhnliche Besuche und die Teilnahme an die „Archivinteressen“ berührenden wissenschaftlichen Kongressen.
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Berichtstermine waren für die Kreisarchive gegenüber dem Reichsarchiv jeweils der 31. Januar, für das Reichsarchiv gegenüber dem Ministerium der 1. April eines jeden Jahres. Nach diesem Schema sollten sich die statistischen Erhebungen in den folgenden Jahrzehnten vollziehen. Zwar wurden schon bald und immer wieder Präzisierungen und Anpassungen notwendig.20 Diesen Bemühungen zum Trotz ist im Einzelfall die im Vergleich zu späteren Merkmalskatalogen noch geringe Regelungstiefe der Messverfahren zu berücksichtigen, so dass Unschärfen fast unvermeidlich waren. Dass solche bis heute im Archivwesen selbst bei etablierten Messgrößen bestehen, sollte dabei berücksichtigt werden21. Dessen ungeachtet liegt, soweit erhalten, ein weitgehend stabiles und bereits deutlich differenziertes Zahlenwerk für die Tätigkeit der Staatlichen Archive Bayerns seit dieser Zeit vor. Der Adressatenkreis blieb zunächst ganz auf die unmittelbare Verwaltungshierarchie und damit die staatliche Sphäre beschränkt. Wie gering oder sogar ungünstig die Wirkung wenig bekannter Messverfahren und auch zu wenig kontextualisierter Messdaten sein konnte, zeigen zwei Beispiele. Eines aus dem Jahr 1910, als ein Abgeordneter im Landtag die mit Regestierungsarbeiten belasteten Staatsarchive bemitleidete: „Ich kann mir aber denken, mit welchen Empfindungen sie erfüllt sind, wenn sie Tag für Tag zählen, wieviel sie fertig gebracht haben, oder wenn sie wie ich mir habe sagen lassen, mit dem Meterstabe abmessen, wie hoch die Blätterschicht geworden ist, die sie abliefern können. Das sind Dinge, die geradezu an das Komische grenzen.“22 Konkrete negative Auswirkungen auf den Personalkörper der Archiv drohte sodann 1924 die vorurteilsbehaftete Wahrnehmung des Archivdienstes im Zusammenhang mit Regierungsberatungen zum Stellenabbau in der Staatsverwaltung zu entfalten. Die höheren Archivbeamten sahen sich dem pauschalen Vorwurf ausgesetzt, lediglich für wissenschaftliche, rechtliche bzw. amtliche Forschungen Archivalien ausheben und vorlegen zu lassen. Erschließungsarbeiten waren, wie Generaldirektor Otto Riedner selbst zugeben musste, weitgehend zum Erste Änderungen wurden bereits im Folgejahr verfügt, siehe Allgemeines Reichsarchiv an sämtliche Kreisarchive betr. Jahresberichte vom 2.12.1910, BayHStA, GDion Archive 1346. 21 Beispielhaft Martin Luchterhandt, Der „laufende Meter“. Zum Wesen archivischer Mengenangaben. In: Archivalische Zeitschrift 92 (2011) S. 61–71. 22 Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtages, XXXV. Landtagsversammlung, II. Session im Jahre 1909/1910, Stenographische Berichte Nr. 282 bis 312, Bd. X, München o.J., S. 91. 20
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Erliegen gekommen. „Diese uralte Verwechslung eines Archivs mit einem besseren Kramerladen, in welchem gewisse Waren entweder nicht vorhanden oder in ganz bestimmten Schubladen untergebracht sind, wird niemanden wundern. Unter gewöhnlichen Umständen ist sie auch nicht gefährlich, zudem wurde sie gerade in vorliegendem Fall sofort ausreichend in ihrer Haltlosigkeit dargetan. Trotzdem wird man sie nicht allzu leicht nehmen [sic] dürfen […].“23 Und so ließ sich Riedner Benutzungsfälle berichten, die aufgrund ihrer Komplexität ausschließlich aufgrund der besonderen Kompetenz höherer Archivare erfolgreich durchgeführt worden waren. Die eingegangenen Berichte der Archive sind bemerkenswerte Zeugnisse des archivarischen Selbstverständnisses dieser Zeit und werfen ein farbiges Schlaglicht auf die damaligen Herausforderungen, auch im Bereich der Überlieferungsbildung.24 Im Fokus stand aber – weisungsgemäß – klar die Nutzung. Der Grund für diese Schwerpunktsetzung lag zweifellos darin begründet, dass hier der Wandel am stärksten empfunden wurde. Rechtliche Änderungen wie die Trennung von Staat und Kirche nach der Revolution 1918 wirkten sich dabei ebenso aus wie ein mentaler Wandel in Kreisen der Bevölkerung, die gegenüber dem Staat deutlich klagefreudiger auftraten und einen Anstieg rechtlicher Archivbenutzungen verursachten25. Dieser empirisch schwer zu belegende Faktor verstärkte, wenn überhaupt, nur einen insgesamt spürbaren Anstieg privater Nutzungen, seitdem diese 1899 deutlich erleichtert worden waren. Noch aus einem halben Jahrhundert Rückschau sollte diese Entwicklung als „lawinenartig“26 wahrgenommen werden. Welchen Wert Generaldirektor an Abteilungs- und Amtsvorstände des Hauptstaatsarchives und der Staatsarchive betr. Dienstgeschäfte der staatlichen Archive vom 13.2.1924, BayHStA, GDion Archive 1344. 24 Vgl. u.a. Staatsarchiv Speyer an Generaldirektor betr. Dienstgeschäfte der staatlichen Archive vom 27.2.1924; Staatsarchiv Amberg an Generaldirektor betr. Dienstgeschäfte der staatlichen Archive vom 25.2.1924; Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Abt. Kreisarchiv, an Generaldirektor betr. Dienstgeschäfte der staatlichen Archive vom 26.2.1924, BayHStA, GDion Archive 1344. 25 Besonders eindringlich Oberregierungsrat Bauer an Oberarchivrat Glück (Staatsarchiv Bamberg) vom 25.2.1924, BayHStA, GDion Archive 1344. 26 Heinz Lieberich, Bemerkungen zur Lage der Staatsarchive vom 1.6.1954, BayHStA, MK 66816. Vgl. Otto Riedner, Rundblick auf die bayerischen Archive. Ein Vortrag. Sonderdruck aus Blätter des Bayerischen Landesvereins für Familienkunde, 3. Jahrgang 1925, BayHStA, MF 71496; Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Abt. Geheimes Staatsarchiv, an Generaldirektor betr. Dienstgeschäfte der staatlichen Archive vom 28.2.1924, BayHStA, GDion Archive 1344. 23
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die 1924 durchgeführten Erhebungen in den Regierungsverhandlungen letztlich hatten, lässt sich kaum mehr ermitteln. Umso auffälliger ist jedoch ein grundlegender Wandel im Umgang mit den jährlichen Messdaten: Ab dem Erhebungsjahr 1925 fanden sie in einem begrenzten Umfang Eingang in das „Statistische Jahrbuch für den Freistaat Bayern“27. Dies und mehr noch der – trotz kriegsbedingter Unterbrechung – lange Verbleib entsprechender Kennzahlen in diesem Standardwerk der amtlichen Statistik Bayerns bis zum Jahr 1972 darf als ein Beleg für die Qualität der Archivstatistik gewertet werden28. Ganz unmittelbare Wirkung entfalteten die Ergebnisse der jährlichen Erhebungen bei der Arbeitsplanung, insbesondere hinsichtlich der latent hinter den Erwartungen zurückgebliebenen Erschließungsarbeiten. Zu diesem Zweck waren von den Mitarbeitern des Bayerischen Hauptstaatsarchivs – soweit nachweisbar erstmals – 1933 personalisierte Jahresberichte vorzulegen, in denen nicht nur Stückzahlen von Urkundenregesten und Findbucheinträgen zu sonstigen Archivalien nachzuweisen waren, sondern auch tatsächliche und geschätzte Zeitangaben zu Beginn und (voraussichtlicher) Dauer der einzelnen Erschließungsvorhaben.29 Ein positiver Effekt war dadurch nicht zu erzielen. Ernüchtert von den Ergebnissen der jährlichen Erhebungen ordnete der amtierende Generaldirektor Josef Franz Knöpfler mit Wirkung vom 1. Dezember 1938 an, dass jeder höhere Archivar des Bayerischen Hauptstaatsarchivs vom Abteilungsleiter bis zum Referendar ein an Stückzahl und laufenden Metern zu bemessendes Erschließungsvorhaben zu übernehmen und auch tatsächlich durchzuführen hatte. Offenbar frustriert von dem bisher Erreichten rechnete Knöpfler seinen Mitarbeitern vor: Aus der Jahresstatistik 1925 wurden Kennzahlen aus den folgenden Merkmalsgruppen abgedruckt: Umfang der Bestände, Zugänge an Archivalien, Anfall an Benützungsgesuchen, Persönliche Benützung in den staatlichen Archiven, Versendungen von Archivalien. Siehe Statistisches Jahrbuch für den Freistaat Bayern 1926, München 1926, S. 500–502. Der damalige Präsident des Statistischen Landesamts Friedrich Zahn wies im Vorwort ausdrücklich auf diese Erweiterung der „intellektuellen Statistik“ hin. 28 In den Statistischen Jahrbüchern nach 1938 und vor 1955 fehlen Angaben aus der Archivstatistik. Zuletzt abgedruckt wurden Angaben zu Beständeumfängen in lfm und Archivalieneinheiten, zu Benützungszwecken ausgehobene Archivalien insgesamt und darunter zu wissenschaftlichen Zwecken sowie Inanspruchnahmen insgesamt, durch Behörden und öffentlich-rechtliche Körperschaften, durch wissenschaftliche Institute und durch Private. Siehe Statistisches Jahrbuch für Bayern 1972, o.O.u.J., S. 82. 29 Umlaufschreiben des Generaldirektors im Haus und bei den Abteilungsleitern betr. Jahresbericht für 1932 vom 4.4.1933, BayHStA, GDion Archive 1349a. 27
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„Bei nur 1 Regest an 1 Tag ist von jedem Beamten – unter Berücksichtigung einer 4wöchigen Urlaubszeit – schon ein jährlicher Mindestertrag von 300 Regesten zu erreichen. Bei einem Stand von rund 20 akademischen Beamten bedeutet dies bereits einen Zuwachs von 6000 Regesten im Jahr. […] Der nicht weiter zu rechtfertigende Stillstand der Ordnungsarbeiten zwingt aber hier zu einem zielbewussten Arbeitsplan. Das Ansehen der bayerischen Archivverwaltung erfordert an diesem Punkte dringend eine größere Arbeitsleistung.“30 Als ein Bezugsrahmen wurde in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Öffentlichkeit genannt. Welche Bedeutung Messdaten intern inzwischen zugeschrieben wurde, zeigen auch weitere 1938 erlassenen Maßgaben: So sollte der Output bei der Erschließung wenig anspruchsvoller Aktenabgaben durch das Heranziehen von staatlich subventionierten Fürsorgearbeitern gesteigert werden. Ein weiteres Ziel war es, Pergamenturkunden, insbesondere solche mit abhängenden Siegeln, als Beilagen aus Akten zu entnehmen, unverzüglich zu regestieren und dem Urkundenbestand zuzuweisen. Dabei spielten nicht nur konservatorische Gesichtspunkte eine Rolle: „Je größer die Zahl der Originalurkunden, um so [sic] höher das Ansehen der bayer. Archive.“31 Di e „ m o d e r n e “ A r c h i v s t a t i s t i k n a c h Fr i t z Zi m m e r m a n n Die Kriegs- und Nachkriegsjahre stellten die Archivverwaltung zunächst vor ganz unmittelbare Herausforderungen, ohne dass längerfristige Entwicklungen dadurch ihre Relevanz verloren hätten. In einer Denkschrift über die Lage der Archive musste Heinz Lieberich (seit 1948 Leiter der Referate für die allgemeine Verwaltung und für Personal- und Ausbildungswesen, seit 1959 Generaldirektor der Staatlichen Archive) im Jahr 1954 vielmehr ein weiteres Öffnen der Schere zwischen den Ressourcen einerseits und dem Geschäftsaufkommen der Archive andererseits feststellen. Zwischen 1945 und 1953 hatten die staatlichen Archivbestände allein einen Zuwachs von 17.600 lfm erfahren, während der Personalstand gegenüber 1929 weitgehend identisch geblieben war. Ja mehr noch, durch Sperrvermerke waren 1953 aufs Jahr gerechnet 160 Personenmonate entErlass 2/38 vom 21.11.1938 betr. Ordnungsarbeiten im Hauptstaatsarchiv, BayHStA, GDion Archive 1349a. 31 Generaldirektor an sämtliche Abteilungen und Staatsarchive betr. Jahresbericht 1937 vom 13.10.1938, BayHStA, GDion Archive 1349. 30
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fallen, mit entsprechenden Folgen für die Aufgabenerledigung32. In dieser krisenhaften Gesamtsituation muss bei der Archivführung die Entscheidung gefallen sein, die überkommenen Messverfahren grundlegend zu reformieren, was bis Ende 1960 geschah. Getrieben war dieses ehrgeizige Vorhaben von dem Ziel, eine umfassendere und tiefgründigere Kenntnis von den Leistungen, Bedürfnissen und Erfordernissen der staatlichen Archive zu erhalten, um, wie Lieberich den Archiven erklärte, „durch solche konkrete Nachweisungen unterstützt, die etwa notwendigen Maßnahmen zur Behebung einzelner Notstände bei den Archiven und überhaupt zur Förderung ihrer Belange einleiten zu können.“33 Dazu sollte dem vorgesetzten Ministerium beginnend mit dem Erhebungsjahr 1961 ein mit genauen statistischen Zahlen belegter Jahresbericht vorgelegt werden, um beides, Leistungen und Erfolge, aber auch bestehende Herausforderungen, anschaulich zu belegen. Bewegten sich Zielsetzung und Kommunikationsszenario somit ganz im herkömmlichen Rahmen, hob sich das Messverfahren durch inhaltliche Breite, Normierung und Standardisierung deutlich vom Niveau der bisherigen Erhebungen ab. Erstmals fand dafür nun der Begriff „Archivstatistik“ Verwendung, den Fritz Zimmermann, in der Generaldirektion verantwortlich für das Projekt, in die Fachdiskussion einbrachte.34 Ziele und Methoden Die Initiative für das neue Erhebungsverfahren war nicht nur von archivischer Seite ausgegangen, sie zielte auch auf fachliche Bedürfnisse, die weit über den politischen Bezugsrahmen hinausreichten. So war es ein erklärtes Anliegen Zimmermanns, mehr als bisher statistische Erkenntnisse ebenso für die praktische Archivarbeit nutzbar zu machen wie für die Archivwissenschaft.35 Dazu sollten gezielt auf bestimmte fachliche Fragen hin bestimmte Zustände und Entwicklungen erfasst werden, von denen im Folgenden nur einige beispielhaft zu nennen sind. Höchste Priorität Heinz Lieberich, Bemerkungen zur Lage der Staatsarchive vom 1.6.1954, BayHStA, MK 66816. 33 Generaldirektor an alle Staatsarchive und Abteilungen betr. Durchführungsanordnung für den Jahresbericht und die statistischen Fragebogen vom 22.12.1960, BayHStA, GDion Archive, Abgabe 2009, vorläufige Nr. 185. 34 Fritz Zimmermann, Archivstatistik. In: Der Archivar 16 (1963) Sp. 162–177, hier Sp. 162. 35 Ebd. Sp. 162 f. 32
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wurde von Anfang an der Erarbeitung einer Beständestatistik eingeräumt. Im Sinne einer Grundstatistik sollte sie erstmals eine möglichst genaue Umfangsangabe der von jedem Archiv verwahrten Bestände und zwar sowohl in Stückzahlen (Archivalieneinheiten) als auch in laufenden Metern liefern. Beide Bezugsgrößen waren zunächst zu normieren, hinsichtlich der Einheiten etwa anhand von Fragen, wie mit Nebenakten, Betreffserien, faszikulierten Unterlagen ohne Aktenstruktur oder Beilagenbänden umgegangen werden sollte. Der Grundstatistik wurde eine Raumstatistik an die Seite gestellt, die unter Berücksichtigung der jährlichen Zu- und Abgänge ein effizientes Magazinmanagement erlauben sollte. Waren insbesondere bei den Stückzahlen Schätzungen und dadurch Unschärfen notgedrungen hinzunehmen, sollte der Erschließungszustand der Bestände mit größter Sorgfalt anhand von fünf, jeweils ausführlich definierten Kategorien ermittelt werden: von völlig ungeordneten und unbenutzbaren über behelfsmäßig verzeichnete Bestände bis hin zu neu repertorisierten, anhand reingeschriebener Findmittel bzw. Karteien erfassten und – in einer letzten Stufe – zusätzlich durch alphabetische Orts- und gegebenenfalls Sach- und Personenregister erschlossenen Beständen. Jeder Bestand war mit den entsprechenden Basisangaben in einer „statistischen Kartei“ nachzuweisen, die auf der obersten hierarchischen Ebene institutionenübergreifend einheitlich nach Archivalientypen gegliedert war. Zusammen mit den nach den gleichen Grundsätzen zu erfassenden jährlichen Zugängen und Abgängen sollte darauf eine mittelfristige Arbeitsplanung und Personalbedarfsbemessung begründet werden. Vorausgesetzt wurde dabei, dass Erschließungsarbeiten nur neben vordringlichen laufenden Dienstaufgaben zu erledigen waren, rechnerisch aber zumindest den Jahreszuwachs umfassen sollten, um zusätzliche Kapazitäten möglichst für die Bearbeitung von Rückständen bei Altbeständen nutzen zu können. Als zentraler Indikator für die gesellschaftliche Relevanz der Archive wurde die Benutzungsstatistik so umgestaltet, dass belastbare Zahlen nicht nur rein quantitative Aussagen, sondern auch materiell-qualitative erlauben sollten. An die Stelle von „schönen Worten“ 36, mit denen noch 1924 operiert worden war, sollte eine Datengrundlage treten. Jede Benutzung war dazu erstens nach dem Benutzungszweck, zweitens nach der Person des Benutzers und drittens nach der Zahl der ausgehobenen Archivalien zu erfassen. Benutzungszwecke wurden anhand von Kennbuchstaben nach den fünf, wiederum genau definierten Kategorien „wissenschaftlich“ 36
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(W), „rechtlich“ (R), „wirtschaftlich-technisch“ (WT), „heimat- und ortsgeschichtlich“ (H) und „familiengeschichtlich“ unterschieden. Der Kennzeichnung des Benutzers dienten die Kennziffern „1“ für staatliche bayerische Behörden, „2“ für sonstige weltliche Behörden in Bayern, „3“ für außerbayerische weltliche Behörden, „4“ für kirchliche Behörden, „5“ für wissenschaftliche Institute oder Körperschaften und „6“ für Privatpersonen. Die Kombinationen aus Kennbuchstabe und Kennziffer waren nach Maßgabe des Sachbearbeiters im Kanzleitagebuch beim jeweiligen Eintrag zum veranlassenden Schreiben zu vermerken, so dass im Journal laufend die standardisierte Datenbasis für den Jahresbericht anwuchs. Auf die Leistung der Archivare bei Beratung, Recherche, Ausheben und Reponieren des Archivguts zielte die Erfassung der benutzten Archivalien ebenfalls nach den fünf Kategorien der Benutzungszwecke, deren Kennbuchstaben zu diesem Zweck in das Formular des einheitlichen Archivalienbestellscheins integriert und beim Bestellvorgang zu markieren waren. Die Bestellscheine wurden dadurch noch in einer zweiten Hinsicht auswertbar, indem die Benutzungsfrequenz auf Bestandsebene bzw. für Bestandsgruppen anhand der im Jahresverlauf bestellten Archivalien errechnet werden konnte. Daran knüpfte sich ein Interesse, das bis heute in der Geschichte der Bewertungsdiskussion mit dem Namen Fritz Zimmermanns verbunden ist, nämlich das nach der Ermittlung des „Archivwerts“ insbesondere jüngerer Massenakten37. Im Kern sollte dabei die Benutzungsfrequenz als eine Richtschnur bei der Überlieferungsbildung dienen, wobei sich Zimmermann selbst über die eingeschränkte Aussagekraft aktueller Nutzungsschwerpunkte für die Zukunft im Klaren war. Auswertung und Interpretation Entsprechend diesem umgreifenden Programm erreichte die Auswertung und Kontextualisierung der erhobenen Zahlen ein bis dahin ungewohntes Niveau an Intensität und Ausführlichkeit. Trotz großer Bemühungen um methodische Sorgfalt begegnete die Umsetzung der Messverfahren anfänglich allerdings Schwierigkeiten. Dies betraf vor allem die BeständestatisSiehe Fritz Zimmermann, Wesen und Ermittlung des Archivwertes. Zur Theorie einer archivalischen Wertlehre. In: Archivalische Zeitschrift 54 (1958) S. 103–122. Zur jüngeren Rezeption Zimmermanns siehe u.a. Christian Keitel, Prozessgeborene Unterlagen. Anmerkungen zur Bildung, Wahrnehmung, Bewertung und Nutzung digitaler Überlieferung. In: Archivar 67 (2014) S. 278–285, hier S.281. 37
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tik hinsichtlich des Erschließungszustands, da die Archive zunächst die Leistungen der Erschließungsarbeiten nicht getrennt nach Neuzugängen und Altbeständen erfassten, so dass zwischenzeitliche Veränderungen am Ordnungszustand statistisch nicht nachvollzogen werden konnten. Um das zu ändern, wurde 1964 das Zählverfahren geändert und sogar eine vollständige Wiederholung der Gesamterfassung aller Bestände veranlasst. Entsprechend groß fielen die Schwankungen in den Angaben der ersten Jahresberichte aus, wobei sich infolge der Neuauszählungen die Angaben zu Beständeumfängen deutlich erhöhten und sich auch der Erschließungszustand letztlich besser darstellte als anfänglich vermutet. So konnte die Zahl der völlig unerschlossenen und damit unbenutzbaren Archivalien 1965 um rund 400.000 auf 844.000 herunterkorrigiert werden, während umgekehrt statt anfänglich ermittelter 3,3 Millionen Archivalien über 5 Millionen als in reingeschriebenen Repertorien verzeichnet galten. Mittels Register erschlossen und damit der höchsten Verzeichnungsstufe zugeordnet werden konnten 1965 3,4 und damit 1,6 Millionen Archivalien mehr als zuvor gemeldet waren. Spätere Prüfrunden sollten diese Zahlen weitgehend bestätigen38. In späteren Auswertungen sollten die zwischen 1961 und 1963 erhobenen Jahreswerte aufgrund ihres verzerrenden Charakters unberücksichtigt bleiben39. Unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich eingetretenen Veränderungen – das Staatsarchiv Speyer zählte nicht mehr zu den Staatlichen Archiven Bayerns, dafür das Bayerische Kriegsarchiv dazu – zeigten die Zahlen gegenüber 1925 eine Vervierfachung der Archivalieneinheiten von damals 3,3 Millionen auf nunmehr 12,9 Millionen bzw. eine Vermehrung der laufenden Meter um das 2,2fache von knapp 56.000 auf fast 123.000. Die durchschnittliche jährliche Zuwachsquote lag Anfang der 1960er Jahre für alle staatlichen Archive zusammen bei rund einem laufenden Kilometer, wobei die Hauptlast nicht auf das Bayerische Hauptstaatsarchiv entfiel, sondern auf die Staatsarchive als „moderne Aktenarchive“. Spitzenreiter waren mal das Staatsarchiv Würzburg (1963) mit 242 lfm bzw. 19.000 Archivalien, mal das Staatsarchiv München (1964) mit 325 lfm bzw. 103.000 Archivalien. Generaldirektor an Staatsministerium für Unterricht und Kultus (künftig: StMUK) betr. Jahresstatistik 1963 und 1964 der staatlichen Archive Bayerns vom 12.11.1965, BayHStA, GDion Archive, Abgabe 2009, vorläufige Nr. 185. 39 Generaldirektor an StMUK betr. Jahresstatistik 1967 der staatlichen Archive Bayerns vom 18.7.1968, BayHStA, MK 66775. 38
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In der Relation zu den jährlichen Erschließungsleistungen ließ sich daraus ein ernüchterndes Bild von der Benutzbarkeit der Bestände zeichnen. Während der ersten vier Jahre der neuen Archivstatistik gelang es niemals flächendeckend, auch nur die Neuzugänge fachgerecht zu bearbeiten. Als erstmals 1965 mit einer Erschließungsleistung von 150.000 Archivalien die Zahl der Neuzugänge überschritten wurde, änderte dies nichts an der dem Kultusministerium übermittelten Prognose, wonach sich ein Abbau der Rückstände mit den verfügbaren Ressourcen mindestens hundert Jahre hinziehen werde. Die neue Statistik ließ so nicht nur das altbekannte Spannungsverhältnis zwischen der jährlichen Erschließungsleistung einerseits und der, verglichen mit früheren Jahrzehnten, dynamischen Überlieferungsbildung prägnanter hervortreten. Sie vermittelte auch ein deutlich schärferes Bild von der Benutzung, die sich gemessen an der Zahl der Benutzungsfälle zwischen 1925 und 1965 mehr als verdreifacht hatte; bei den wissenschaftlichen Benutzungszwecken betrug die Zahl das 4,5fache, bei den rechtlichen Zwecken fast das Sechsfache. Jährlich unterlag die Zahl der Benutzungsfälle gewissen Schwankungen, während bei den benutzten Archivalien zwischen 1961 und 1964 ein kontinuierlicher und signifikanter Anstieg zu verzeichnen war von 114.565 auf 199.142, ehe 1965 ein Rückgang auf 148.254 erfolgte. Verantwortlich gemacht wurde dafür insbesondere die auffallend schwankende Benutzungsfrequenz der Unterlagen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse im Staatsarchiv Nürnberg, während unter dem Strich eine steigende Tendenz bei der Archivbenutzung festzustellen war. Das Verhältnis zwischen den Benutzungszwecken verhielt sich in den untersuchten Jahren 1961 bis 1965 weitgehend konstant und betrug bei den beiden wichtigsten, den rechtlichen und den wissenschaftlichen 8:3,5. Im Steigen begriffen waren die Zahlen der Archivalienversendungen, die Anfertigung von fotografischen Reproduktionen von Archivgut und, als ein Indikator für die Inanspruchnahme der Archive insgesamt, die Zahl der Tagebuchnummern.40 Bezogen auf Archivalientypen, Bestände und Bestandsgruppen eröffnete sich eine völlig neue Perspektive auf die Benutzung. Nicht gering fiel das Erstaunen darüber aus, dass Archivalien aus älteren Beständen aus der Zeit vor 1800 immer noch in einem gewissen Umfang für „praktische“, überwiegend rechtliche Zwecke benutzt wurden – mit welcher Relevanz Generaldirektor an StMUK betr. Jahresstatistik 1965 der staatlichen Archive Bayerns vom 28.3.1966, BayHStA, GDion Archive, Abgabe 2009, vorläufige Nr. 185. 40
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sei dabei kritisch infrage gestellt. Ansonsten zeigte sich rasch, dass die älteren Bestände, ebenso wie etwa Gesandtschaftsakten, Forstakten und Akten der Bezirksregierungen, gemeinsam zu einer Kategorie mit stagnierender oder bestenfalls schwankender Nutzungsfrequenz zählten. Davon hoben sich Bestände mit stetig steigender Nutzungsfrequenz ab, wobei die Gründe dafür vielfältig waren. Im Fall von Ministerialbeständen machte sich die beginnende Konjunktur der Zeitgeschichtsforschung bemerkbar. Die erst seit Kurzem in nennenswertem Umfang archivierten, teils massenhaft gleichförmigen Unterlagen der Gerichte und der Unterbehörden der Inneren sowie der Finanzverwaltung dienten dagegen vielfach praktischen, rechtlichen oder technischen Zwecken, schon sehr bald aber auch wissenschaftlichen, heimatkundlichen oder familiengeschichtlichen Zwecken. Dies betrifft die Baugenehmigungsakten der unteren Bauaufsichtsbehörden, die Nachlassakten und Hypothekenbücher der Amtsgerichte, die Kataster der Finanzämter und die Flurbereinigungsakten. Indem der interdisziplinäre Wert für Forschungen zum Siedlungswesen, zur Architekturgeschichte, zur Montangeschichte sowie zu agrar- und forstwissenschaftlichen Themen offensiv herausgestellt und durch die Nutzung der „Archivwert“ dieser Unterlagen empirisch nachgewiesen wurde, vergewisserte sich die Generaldirektion nicht nur ihrer Strategie bei der Überlieferungsbildung41. Nutzung in archivpolitischen Kontexten Die neue Archivstatistik verbesserte auch die Grundlage für das stets gleiche Ziel, die Außenwahrnehmung der staatlichen Archive zu fördern. Als ein Leitmotiv zieht sich durch die Interpretation der Zahlen das Bemühen, die Bedeutung der Archive für das „praktische Leben“ insbesondere des Staates und der Wissenschaft nachzuweisen. Die Archivbestände sollten keinesfalls als „toter Balast“42 [sic], als „tote und verstaubte Makulatur“ wahrgenommen werden und die Archive nicht als „Museen der Vergangenheit“, sondern als das „Gedächtnis des Staates“, das sich ausweislich Siehe Generaldirektor an StMUK betr. Jahresstatistik 1961 der staatl. Archive Bayerns vom 26.6.1962; Generaldirektor an StMUK betr. Jahresstatistik 1963 und 1964 der staatlichen Archive Bayerns vom 12.11.1965, BayHStA, GDion Archive, Abgabe 2009, vorläufige Nr. 185; Generaldirektor an StMUK betr. Jahresstatistik 1967 der staatlichen Archive Bayerns vom 18.7.1968, BayHStA, MK 66775. 42 Generaldirektor an alle Staatsarchive und Abteilungen des BayHStA betr. Jahresstatistik 1961 vom 19.7.1962, BayHStA, GDion Archive, Abgabe 2009, vorläufige Nr. 185. 41
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der Kennzahlen „in Tausenden von Fällen […] im Interesse von Volk und Staat, von Rechtspflege, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur“43 betätigte. Konkret dienten die Kennzahlen dazu, gegenüber dem Kultusministerium Ressourcenbedarfe zu formulieren und transparent zu begründen. Dies geschah anhand der inhaltlich gegenüber früher deutlich erweiterten Datengrundlage und der methodisch verbesserten Datenqualität spürbar selbstbewusster und spezifischer. Im Vergleich der Jahreswerte von 1925 und 1965 hatten die „Beständearbeiten“ (Maßnahmen der Erschließung) um 300% zugenommen, die Benutzungsfälle um 230%, das Personal im höheren Archivdienst dagegen nur um 8% und auch in den übrigen Besoldungs- und Entgeltgruppen nur in sehr geringem Umfang44. Aus der Kontextualisierung einzelner Kennzahlen zu standardisierten Variablen und den dahinterstehenden Arbeitsprozessen insbesondere bei der Erschließung, aber auch bei der Benutzung ließ sich eine verbesserte Personalbedarfsbemessung ableiten. Ein flächendeckender Personalaufwuchs im gehobenen Dienst für den Abbau von Erschließungsrückständen an modernem Schriftgut, aber auch punktuelle Bedarfe an Schreibkräften zum Reinschreiben von Repertorien wurden klar adressiert45. Auffälliger Weise spielten Aufwände für die Bewertung und Übernahme von Schriftgut in dieser Argumentation keine Rolle, obwohl Zimmermanns „Archivwertlehre“ unmittelbar mit der Archivstatistik zusammenhing und von zunehmenden Aktenaussonderungen inspiriert war. Auffallend sind jedoch die zeitlichen Bezüge der neuen Archivstatistik zu den Planungen für den Neubau des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, dessen zuerst fertiggestellter Trakt an der Ludwigstraße 14 bereits 1967 bezogen werden konnte46. Aus den Ausführungen des damaligen Generaldirektors Bernhard Zittel über „Planung im Archivbereich“ 1975 wird deutlich, welchen Modernisierungsschub im Archivmanagement die Archivstatistik grundgelegt hat. Dies betraf sowohl die damals hochaktuellen RaumplaGeneraldirektor an StMUK betr. Jahresstatistik 1961 der staatl. Archive Bayerns vom 26.6.1962, BayHStA, GDion Archive, Abgabe 2009, vorläufige Nr. 185. 44 Generaldirektor an StMUK betr. Jahresstatistik 1965 der staatlichen Archive Bayerns vom 28.3.1966, BayHStA, GDion Archive, Abgabe 2009, vorläufige Nr. 185. 45 Generaldirektor an StMUK betr. Jahresstatistik 1961 der staatl. Archive Bayerns vom 26.6.1962; Generaldirektor an StMUK betr. Jahresstatistik 1963 und 1964 der staatlichen Archive Bayerns vom 12.11.1965, BayHStA, GDion Archive, Abgabe 2009, vorläufige Nr. 185. 46 Generaldirektor an StMUK betr. Jahresstatistik 1967 der staatlichen Archive Bayerns vom 18.7.1968, BayHStA, MK 66775. 43
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nungen für Archivneubauten in München, Augsburg und Regensburg, als auch die Ressourcenplanung im Personalbereich. Durch Verknüpfung mit dem Personalschlüssel von einer Archivarsstelle je 500 lfm Archivgut bzw. von je einer Personalstelle des höheren, zwei des gehobenen und vier des mittleren Archivdienstes je 2500 lfm Archivgut wurden etwa die statistischen Werte operationalisiert47. Folge davon war ein spürbarer Personalaufwuchs in den 1970er Jahren48. Bereits die Einführung des mittleren Archivdiensts 1974 war erfolgreich mit statistischen Angaben begründet worden49. Es wird eingehenderen Untersuchungen zur jüngeren bayerischen Archivgeschichte vorbehalten bleiben müssen, den jeweiligen Einfluss statistischer Angaben auf Entscheidungen im Einzelfall zu gewichten. Jedenfalls etablierte sich die Archivstatistik rasch als ein unentbehrliches Instrument für alle Planungs- und Führungsaufgaben der Archivverwaltung. Als ein solches wurde sie 1981 erfolgreich verteidigt, als im Zuge einer Bereinigung der amtlichen Landesstatistik zwischenzeitlich unnötig gewordene Erhebungen abgeschafft werden sollten. Weitere Anpassungsbedarfe an gewandelte Bedürfnisse waren damals bereits erkannt und sollten in den kommenden Jahren umgesetzt werden50. Bis heute beruht die Jahresstatistik der Staatlichen Archive Bayerns, wenngleich vielfältig den Erfordernissen der Zeit angepasst, in ihren Grundzügen auf dem 1960 eingeführten Messverfahren. Rezeption in der Fachöffentlichkeit Die archivwissenschaftliche Seite der Archivstatistik weckte frühzeitig das Interesse der Fachwelt auch über Bayern hinaus. Kein Geringerer als Johannes Papritz rezipierte die bayerischen Vorschriften im Zusammenhang mit der Überarbeitung der Jahresberichte der hessischen Staatsarchive. Ziel war damals bereits eine länderübergreifende Vereinheitlichung statistischer Kennzahlen. Sein Urteil, wonach die bayerische Vorschrift Bernhard Zittel, Planung im Archivbereich. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 28 (1975) (Festschrift Walter Goldinger) S. 8–20, hier S. 14 f. 48 Hermann Rumschöttel, Die Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns. In: Archivalische Zeitschrift 80 (1997) (Festschrift Walter Jaroschka zum 65. Geburtstag) S. 1–36, hier S. 14 f. 49 Bernhard Zittel, Neue Wege der Archivarsausbildung in Bayern. In: Der Archivar 26 (1973) Sp. 191–198, hier Sp. 195. 50 Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns an StMUK betr. Durchforstung und Bereinigung von Statistiken vom 25.9.1981, GDion Archive, Registratur, Akt 015-0. 47
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„aufgrund sorgfältiger Überlegungen und reicher Erfahrung so ausgereift ist, dass von hier im begrenzten Rahmen nicht leicht etwas Gleichwertiges geschaffen werden könnte“,51 wurde von Zimmermann als Ritterschlag empfunden und gegenüber Kritikern aus den eigenen Reihen herausgestellt52. Auf Anregung von Generaldirektor Lieberich legte Zimmermann das Konzept und die Ergebnisse der ersten nach neuen Regeln erstellten Jahresstatistik aus dem Jahr 1963 in der Fachzeitschrift „Der Archivar“ dar. Zwei Jahre später folgte ein weiterer Beitrag in den „Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern“ mit dem Ziel, das Thema auch im kommunalen Archivwesen zu verankern53. Zimmermanns Beiträge waren damit ein gewichtiger Aufschlag zur Fachdiskussion in Deutschland, die allerdings noch einige Jahrzehnte auf sich warten lassen sollte. Erst auf dem Deutschen Archivtag 1979 erhielt das Thema durch den Beitrag von Eric Ketelaar erneut größere Aufmerksamkeit54. Welche überregionale Relevanz der bayerischen Archivstatistik schon vorher beigemessen wurde, zeigt die jährliche Veröffentlichung von Auszügen des Zahlenwerks einschließlich knapper Interpretationen im „Archivar“ zwischen 1968 und 197855.
Staatsarchiv Marburg an Generaldirektor betr. Jahresberichte der Staatsarchive vom 10.5.1962; vgl. Generaldirektor an Staatsarchivdirektor Dr. Papritz betr. Jahresberichte der Staatsarchive vom 27.7.1962, BayHStA, GDion Archive, Abgabe 2009, vorläufige Nr. 185. 52 Vgl. Generaldirektor (Sachbearbeiter: Zimmermann) an Staatsarchiv Würzburg betr. Jahresstatistik vom 11.11.1964, BayHStA, GDion Archive, Abgabe 2009, vorläufige Nr. 185. 53 Fritz Zimmermann, Warum Archivstatistik? In: Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern 11 (1965), Heft 2, S. 41–48. 54 Eric Ketelaar, Archivstatistik als Instrument archivischer Planung. Dargestellt insbesondere am Beispiel des niederländischen Archivwesens. In: Der Archivar 33 (1980) Sp. 39–48, zu Zimmermann v.a. Sp. 41, Sp. 44. Vgl. auch Thomas Kreutzer, Die Neuerschließung der Baurechtsakten im Stadtarchiv Stuttgart. Überlegungen zum Umgang mit Erschließungsrückständen, Transferarbeit an der Archivschule Marburg (37. Wissenschaftlicher Kurs), Marburg 2004, S. 5. https://www.landesarchiv-bw.de/media/full/47215 (aufgerufen am 17.4.2021). 55 Vgl. Auszug aus der Jahresstatistik der Staatlichen Archivverwaltung Bayerns für 1967. In: Der Archivar 21 (1968) Sp. 433–435; Auszug aus der Jahresstatistik der staatlichen Archive Bayerns für 1977. In: Der Archivar 31 (1978) S. 526. 51
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Fa z i t Von einem Hilfsmittel dienstlicher Observanz entwickelten sich quantitative Messverfahren in den Staatlichen Archiven Bayerns in einem Zeitraum von rund 50 Jahren zu einem Instrument fachlicher Selbstvergewisserung, Standortbestimmung und Bedarfsplanung. Phasen von dynamischen und teils disruptiven Veränderungen des Tätigkeitsfelds und der äußeren Rahmenbedingungen förderten eine schubweise Entwicklung, wobei sich die treibende Motivation von der politischen Ebene in die Archivleitung hinein verlagerte. Hier wird die emanzipatorische Wirkung der Archivstatistik spürbar, die Eric Ketelaar konstatierte56. Die archivfachliche Aneignung quantifizierender Methoden spiegelt sich dabei in der zunehmenden Ausdifferenzierung und Präzisierung eines statistischen Merkmalskatalogs, der weitgehend stabil relevante Eckdaten archivischer Leistungen abbildete. Für die Datenqualität spricht die langjährige Berücksichtigung einschlägiger Messzahlen in der veröffentlichten Landesstatistik, wobei die Praxis anderer Archivverwaltungen ebenso zu untersuchen wäre wie die Umstände, die in Bayern nach fünfzig Jahren zu einer Änderung dieser Praxis führten. Wie bei den Bibliotheken entwickelte sich die Archivstatistik parallel zur Professionalisierung des Berufsstandes57. Zum Ausdruck kommt dies insbesondere in der Weitung der mit quantitativen Methoden verbundenen Zielsetzungen in Verbindung mit einer zunehmend planenden Aufgabenerledigung und eines dezidiert archivwissenschaftlichen Erkenntnisinteresses. Die vertiefte Auseinandersetzung mit den messbaren Folgen der eigenen Wirksamkeit korrespondierte mit einer intensiveren Weiterverarbeitung und Interpretation der Messwerte und deren offensiveren Nutzung im Interesse der eigenen Verwaltung. Mit den Bibliotheken teilten sich die Archive dabei das stabile Bedürfnis, einem dauerhaften Imagedefizit begegnen zu wollen58. Eine deutliche Korrelation zwischen dem gezielten Ausbau der Archivstatistik in den 1960er Jahren und in der Folge wirksam gewordenen institutionellen, budgetären und fachlichen Entwicklungen lässt vermuten, dass die Staatlichen Archive Bayerns die gewonnen Messdaten erfolgreich zu nutzen verstanden. Die Ergebnisse dieser Aushandlungsprozesse sind zunächst einmal historischer Natur. Sie unterstreichen gleichwohl die Brisanz von Messvorgängen und quantitaKetelaar (wie Anm. 54) Sp. 48. Vgl. Wimmer (wie Anm. 4) S. 54. 58 Vgl. Ebd. S. 167. 56 57
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tiven Methoden auch im Archivwesen und deren Nutzwert für Archive. Eine konsequente (Weiter-)Entwicklung und Nutzung ist daher zunächst und vor allem im archivischen Interesse – sei es im eigenen institutionellen Rahmen59, auf nationaler oder auf internationaler Ebene.
Medium einer ausführlichen Kontextualisierung und breiteren Streuung der bayerischen Archivstatistik ist seit dem Berichtsjahr 2018 der gedruckte Jahresbericht der Staatlichen Archive Bayerns. Siehe Staatliche Archive Bayerns – Jahresbericht 2018, hrsg. von Margit Ksoll-Marcon, München 2019, S. 5. – Für die Jahre 2008 bis 2017 waren Jahresberichte als Einlegebögen den Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns beigegeben, wo auch früher schon unregelmäßig aus der „Archivstatistik“ berichtet worden war. 59
Das Archiv als Ort der Zeitgeschichte Von Andreas Wirsching I. Zu jedem Studium der neuesten Geschichte, und der Zeitgeschichte zumal, gehört der Besuch im Archiv. Wer ihn unternimmt, findet nicht nur neue Quellen und erschließt sich damit die Möglichkeit zur wissenschaftlichen Innovation. Der Gang ins Archiv eröffnet die große Chance, sich eine der wichtigsten Schlüsselqualifikationen der Historikerinnen und Historiker anzueignen: die Kompetenz nämlich, einerseits Komplexität zu erkunden und auch auszuhalten, sie andererseits aber so weit zu reduzieren, dass Geschichte verständlich geschrieben und „auf den Begriff“ gebracht wird. Um im Bilde zu sprechen: Sitzt eine Person im Flugzeug und blickt bei normaler Reisehöhe aus dem Fenster, dann ist die Landschaft übersichtlich. Zwar erkennt man keine Details, aber Berge und Flüsse, Felder und Wälder, Häuser und Straßen sind wohlgeordnet. Ein solcher Blick gleicht dem in die historische Überblicksdarstellung, in das Textbook der Geschichtswissenschaft. Springt die Person aber mit dem Fallschirm aus dem Flugzeug ab, dann landet sie irgendwo in der Landschaft, vielleicht sogar im Gestrüpp oder unwegsamen Gelände. Die Umgebung ist unübersichtlich. Zunächst erkennt die Person nichts von dem wieder, was sie aus dem Flugzeug gesehen hat. Sie ist desorientiert; sie weiß nicht, wo sie sich befindet, nimmt aber viele Einzelheiten wahr. Für sich genommen werden diese Details rasch sehr spannend, auch wenn die Person deren Zusammenhang zunächst nicht versteht. In jedem Fall erhält die abgesprungene Person sofort eine Ahnung davon, wie interessant, wichtig, ja notwendig es ist, die Umgebung sorgfältig zu erforschen. Und zugleich erfüllt sie die Gewissheit, dass sie oben, aus dem Flugzeug, von den Details und Gegebenheiten der Landschaft nichts erkannt hat. Das ist die Situation der Historikerinnen und Historiker, wenn sie erstmals im Archiv arbeiten. Bei ihrer Beschäftigung mit Geschichte sind sie von der Flughöhe des Textbooks auf dem Boden der im Archiv aufbewahrten Quellen gelandet.
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Tatsächlich kann es dann sein, dass die Nutzerinnen und Nutzer des Archivs zunächst einmal kaum etwas verstehen. Möglicherweise sind ihnen die Namen der in den Dokumenten auftauchenden Personen und die Funktionen der Geschäftsgänge fremd oder die Quellen, die sie finden, geben über etwas anderes Auskunft, als sie zu finden hofften. Briefschreiberinnen und -schreiber, Verfasserinnen und Verfasser von Akten teilen vielleicht ganz andere Dinge mit als die, die man selbst für wichtig hielt. Aber genau hier beweist sich die fachliche Professionalität. Historikerinnen und Historiker unterziehen sich der Mühe der Archivarbeit. Sie ordnen die Dinge neu, trennen Wesentliches von Unwesentlichem und „konstruieren“ am Ende aus den Quellen heraus eine neue historische Erkenntnis. Daraus ergibt sich die Freude an der Archivarbeit, die Freude etwas bislang Unbekanntes zu entdecken und mitzuteilen. Solche und ähnliche Erfahrungen macht jeder Historiker und jede Historikerin irgendwann einmal. Auch für Studierende sind sie wichtig, und die Recherche im Archiv sollte, wo immer möglich, exemplarisch in das Geschichtsstudium eingebaut sein. Denn wie es das Bild vom Flugzeug und dem Fallschirmsprung nahelegt, verdeutlicht der Besuch im Archiv, worin historische Erkenntnis liegt und welche Probleme sie mit sich bringt. Erst und letzten Endes nur im Archiv zeigen sich nämlich die Spannungen zwischen unseren Fragestellungen und Vorverständnissen einerseits und den Aussagen der Quellen andererseits. Die fruchtbare und erkenntnisfördernde Spannung zwischen dem, was Historikerinnen und Historiker suchen, und dem, was sie finden, baut sich erst im Archiv wirklich auf. Und nur die Archivarbeit fördert so manche Früchte des Zufalls zutage. Nur hier bietet sich die Chance, etwas wirklich Bedeutsames zu finden, das uns möglicherweise den Atem stocken lässt. Nur im Archiv wird die unendliche Vielfalt der historischen Variablen erkennbar. Die historische Landschaft, die wir im „Überblick“ zu erkennen glauben, lässt sich nicht einfach abbilden. Vielmehr lernen die Historikerinnen und Historiker spätestens im Archiv, dass Geschichtswissenschaft immer etwas mit kreativer Auswahl zu tun hat. Jedes Schreiben der Geschichte ist eine extreme, zugleich aber begriffene Reduktion der in den Quellen vorgefundenen historischen Komplexität und damit eine Kon struktion. Geschichte ist – das sehen wir im Archiv – kein „Lernfach“, wie es im bayerischen „Kultus-Slang“ heißt. Geschichte lässt sich nicht einfach „lernen“, sie beruht immer auf einem schöpferischen Akt. Dies alles zu betonen ist wichtig in einer Zeit, die nicht selten der Versuchung erliegt, neue Formen steriler Tatsachengläubigkeit hervorzubringen.
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Wenn das individuelle schöpferische Arbeiten durch die Illusion der Standardisierbarkeit ersetzt wird, ist Wachsamkeit geboten. In der Geschichtswissenschaft stehen Credit Points und Textbooks für diese Tendenz. Nicht Letztere, sondern das forschende Lernen, das am Ende auch ins Archiv führt, ist Ausdruck eines innovativen Geschichtsstudiums. Das Archiv ist der Ort, an dem Studierende wie Forschende die faktische Komplexität der Geschichte erfahren und an dem sie mit der wissenschaftlichen Notwendigkeit konfrontiert sind, diese Komplexität produktiv zu reduzieren. Indem das Archiv solcherart der primäre Ort der Geschichtswissenschaft ist, erfüllt es eine weitere wichtige Funktion: Es ist das Gedächtnis der Gesellschaft. Archiven kommt die besondere Verantwortung zu, historische Wahrheitsfindung zu ermöglichen. Das zu betonen ist in dem Maße immer wieder erforderlich, in dem in der Öffentlichkeit häufig Zeitzeuginnen und Zeitzeugen dominieren. Subjektive Erinnerung gilt dann meist als „authentischer“ und damit wahrhaftiger als das Ergebnis vermeintlich trockenen Aktenstudiums. Dabei muss man freilich nicht unbedingt einem absoluten „Quod non est in actis, non est in mundo“ das Wort reden; aber ohne Akten gibt es keine historische Wahrheit. Die Auseinandersetzungen um das Stasi-Archiv der früheren DDR und die entsprechenden Archive der anderen ehemals kommunistischen Staaten sprechen hierüber ebenso Bände wie die neueren Erkenntnisse der Behördenforschung, die einmal mehr die Narrative der biografisch Betroffenen großflächig dekonstruiert hat. Die Forschungen in diesem Bereich haben eindrucksvoll gezeigt, wie wichtig die gesetzeskonforme behördliche Abgabe des Verwaltungsschriftguts an die staatlichen und kommunalen Archive ist. In diesen besteht die erforderliche archivwissenschaftliche Expertise, um Akten zu erschließen und der Nachwelt zu überliefern, aber auch um redundante oder „nicht archivwürdige“ Unterlagen sachadäquat zu kassieren. Erst durch die archivalische Aufbereitung der Unterlagen werden die Grundlagen für innovative historische Forschung gelegt. Die Bedeutung des Archivs als Gedächtnis der Verwaltung und als Speicher kulturellen Wissens ist umso mehr hervorzuheben in einer Zeit, in der zwar sehr viel von historischer Erinnerung die Rede ist, zugleich aber häufig in Vergessenheit gerät, wo sich letztlich deren Grundlagen befinden. Aussagen wie „Das findet man doch alles im Internet“ stehen für diese Unkenntnis, wenngleich die Digitalisierung natürlich ein großes, wichtiges und zukunftsträchtiges Thema ist – sowohl für die Archive wie auch für die Geschichtswissenschaft. Digitale Dienstleistungen wie die Onlinestellung von Findmitteln erleichtern den Historikerinnen und
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Historikern ihre Arbeit und markieren darüber hinaus wichtige Modernisierungsschritte im Archivwesen. Auch die Digitalisierung großer Aktenbestände, wie sie etwa in den USA schon lange gang und gäbe ist und wie sie das Bundesarchiv gegenwärtig für die Zeit bis 1945 durchführt, ist eine eminent wichtige Daueraufgabe, deren Realisierung zur stärkeren öffentlichen Wahrnehmung der herausgehobenen kulturellen Bedeutung der Archive beizutragen vermag. Gleiches gilt für die didaktische und kuratorische Aufbereitung archivalischer Quellen für das Publikum im Netz, durch die neue Aufmerksamkeit und neues Interesse an der Geschichte erzeugt werden kann. Entsprechend professionell gestaltete Archivseiten sind angesichts der Fülle der im Netz angebotenen historischen Quellen und Informationen von zentraler Bedeutung. Allerdings gilt hier in Abwandlung eines Satzes von Max Horkheimer, dass, wer von Personalkosten nicht reden möchte, auch von der Digitalisierung schweigen sollte. Jeder, der sich ernsthaft mit der Materie beschäftigt hat, wird dies bestätigen. Der Kulturauftrag der Archive, den sie in Formen erbringen sollen, die einem Kulturstaat angemessen sind, ist ganz zweifellos ein Kostenfaktor – ein Kostenfaktor, dem letztlich nur durch ein adäquates Commitment der öffentlichen Hand auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene begegnet werden kann. II. Das Thema der adäquaten Ausstattung von Archiven ist auch deshalb so wichtig, weil ihre Innovationsfähigkeit bewahrt bleiben – oder wo nötig auch gefördert – werden muss. Archivarinnen und Archivare sollten nämlich für aktuelle politische, gesellschaftliche und kulturelle Tendenzen sensibel sein. Im besten Fall antizipieren sie damit künftige Trends und Gegenstände der Forschung. Moderne Archive reagieren wie Seismografen schon früh auf Veränderungen, deren volle Bedeutung erst später zutage tritt. Entsprechende Beobachtungen schlagen sich dann in einer behutsamen und regelmäßig neu reflektierten Kassationspraxis nieder oder in einer Schärfung beziehungsweise Veränderung von Sammlungsschwerpunkten. Letztere betreffen einen Tätigkeitsbereich von Archiven, der seit den 1970er- und 1980er-Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Beides – Veränderungen der Kassationspraxis und der Aufbau spezieller Sammlungen – steht in einem größeren politischen und gesellschaftlichen Kontext. Wie im Folgenden anhand einiger Überlegungen im Hinblick auf politische, gesellschaftliche und kulturelle Aspekte belegt werden soll,
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ist dies auch Ausdruck der aktuellen wissenschaftlichen und zugleich öffentlichkeitsrelevanten Bedeutung der Archive. Ein wichtiges politisches Feld, auf dem die flexible und selbstreflexive Kassations- und Sammlungstätigkeit der Archive so bedeutsam ist, ergibt sich aus dem Wandel von Staatlichkeit. Im Zeitalter des Telefons, der neuen Medien und der Digitalisierung verlieren Akten der öffentlichen Verwaltungen vielfach an Substanz. Die Veränderung der Kommunikation und der Siegeszug neuer, audiovisueller Medien machen neue systematische Sammlungsstrategien notwendig. Da die neuen Techniken häufig schnelllebig sind – man denke zum Beispiel nur an VHS-Kassetten – muss deren Sammlung Hand in Hand mit der Bestandssicherung gehen. Problematisch erscheint, dass viele Bestandsbildner – auch die staatlichen – sich der Bedeutung des eigenen Schriftgutes nicht (oder nicht mehr) bewusst sind. Zugleich wurden (und werden) immer mehr Entscheidungsprozesse aus der Politik und der staatlichen Verwaltung nach außen verlagert – auf nicht- oder parastaatliche Institutionen oder Gremien. Im Zuge von Entstaatlichung und Privatisierung werden öffentliche Aufgaben an Expertinnen und Experten sowie privatwirtschaftliche Akteure gegeben. Diese Großtendenz zur „Informalisierung“ der Politik verkompliziert die Bestandsbildung und macht das archivfachliche Hinsehen, Sammeln und Erschließen umso mehr notwendig. Parallel zur „Informalisierung“ der Politik wuchs ab den 1970er-Jahren das Bewusstsein dafür, dass sich die Politik der Gesellschaft zu öffnen habe, dass ein starker Staat auch eine starke Zivilgesellschaft brauche, die ihre Anliegen autonom verfolgen kann. Das Bild von Politik und Gesellschaft wurde vielschichtiger, mehrdimensionaler und demokratischer. Nicht zuletzt war dies die Hochzeit der Sozialen Bewegungen, die im Übrigen ja selbst das eine oder andere Archiv hervorgebracht haben. Auch wenn sich die gesellschaftliche Mobilisierung der 1970er- und 1980er-Jahre archivisch schon stark abgebildet hat, gibt es für Archivarinnen und Archivare doch nach wie vor das ein oder andere Feld zu erschließen, um so die volle Pluralität und die vielen Lebenswirklichkeiten der sich rasch verändernden Gesellschaft zu dokumentieren. Zugleich drang seit den 1970er-Jahren in den Geschichtswissenschaften der berühmte cultural turn vor. Kurz und knapp lässt sich dessen Wirkung als Hereinholen des Subjekts in Forschungsgegenstände und Fragestellungen bezeichnen. Die Akteure, die Menschen selbst, ihre Wahrnehmung und Deutung der Realität, ihre mentalen Dispositionen und konstruierten Vorstellungswelten wurden nunmehr ein essenzieller Gegenstand
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der Geschichtswissenschaft – einer Geschichtswissenschaft, die gerade in Deutschland zwischen einer älteren, staatsbezogenen Politikgeschichte und einer neueren strukturalistisch verfahrenden Sozialgeschichte zerrieben zu werden drohte. Beide Tendenzen – die Öffnung der Politik hin zur Gesellschaft und der cultural turn – hingen in der Tiefenstruktur miteinander zusammen. Sie spiegelten gleichsam denselben „Zeitgeist“ wider und hatten eines gemeinsam: die epistemologische Abkehr vom Staat und den großen, „objektiven“ Strukturen sowie die entschlossene Hinwendung zum Individuum, zu seinen Erfahrungen und Bedürfnissen. Für die Geschichtswissenschaft folgte daraus, dass die alleinige Aussagekraft staatlicher Quellen nachhaltig infrage gestellt wurde. Und dies ist auch der Kontext, in dem Archivarinnen und Archivare sich zunehmend dafür interessierten, welche Quellen auf welche Weise die historische Realität abbildeten und wie es möglich sein würde, das Geschehen in Geschichte und Gegenwart mehrdimensional, jenseits des Staates und der traditionellen Bestands- und Registraturbildner zu erfassen beziehungsweise zu dokumentieren. Idealerweise greifen die tradierten staatlichen und nichtstaatlichen Quellen ineinander. Eine solche Überlieferung vermag dann die sozio-kulturelle Individualisierung und die aktuellen Trends zur radikalen Subjektivität zu spiegeln und bildet damit die ganze Multiperspektivität einer pluralistischen Gesellschaft ab. Heute können Historikerinnen und Historiker sagen, dass sie von diesem Wandel in der archivfachlichen Wirklichkeitswahrnehmung profitieren. Unzählige historische Studien konnten inzwischen aufgrund der Existenz von bestimmten Sammlungen entstehen, die Einblicke in die Realität jenseits der klassischen staatlichen Akten erlauben. Zwar mag man über Möglichkeiten und Grenzen eines konstruktivistischen Ansatzes unterschiedlicher Meinung sein. Aber es gibt doch keinen Zweifel daran, dass die historische Forschung durch entsprechende kulturgeschichtliche Fragestellungen und Methoden enorm an Tiefenschärfe gewonnen hat. So wissen wir heute über Mentalitäten, langfristige Deutungsmuster, erfahrungsgeschichtlich gesättigte Orientierungen und intellektuelle Herausforderungen weitaus mehr als noch vor drei Jahrzehnten. Hierzu hat die vorausschauende Sammlungstätigkeit der Archive einen großen Teil beigetragen. So ergibt sich die Bedeutung des Archivs als Ort der Geschichtswissenschaft auch aus der immensen Geschwindigkeit, mit der unsere gesellschaftliche Wirklichkeit immer komplexer wird. Gesellschaftliche Pluralisierung und Individualisierung, die Entstehung von immer zahlreicheren
Das Archiv als Ort der Zeitgeschichte
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NGOs sowie die verstärkte Selbstorganisation gesellschaftlicher Gruppen und Interessen bringen eine Fülle an neuen bestandsbildenden Akteuren hervor. Die Quellenlage wird reicher und vielfältiger, zugleich aber auch unübersichtlicher. Tatsächlich wird es noch mühsamer als bisher, zwischen Ertragreichem und Fruchtlosem, zwischen Relevantem und Bedeutungslosem zu unterscheiden. Für die Forschenden, ihre Findigkeit und Kreativität, bedeutet das neue Chancen und Herausforderungen. Umso wichtiger ist es für sie, sich auf archivfachlich erschlossene Sammlungen stützen zu können. Untereinander vernetzte Archive können hierbei eine Art Lotsenfunktion übernehmen. Das Archiv begleitet somit die Historikerinnen und Historiker auf dem ihnen eigenen Weg, Komplexität zunächst empirisch zu erfassen, um sie sodann, durch das Schreiben ihrer Texte wieder zu reduzieren. Damit schließt sich der Kreis: Erst im Archiv lernt man wirklich, wie elementar Geschichtswissenschaft auf der kreativen Auswahl beruht, und dass das Schreiben der Geschichte stets eine gedankliche Konstruktion ist. Das Archiv ist mithin der Ort, an dem wir erfahren, dass Geschichte und Geschichtsschreibung einem schöpferischen Akt entspringen.
Über die Vielfalt des Coburger Archivwesens Von Alexander Wolz Einführung Im Jahr 1968 erschien im Jahrbuch der Coburger Landesstiftung ein Beitrag des jungen Archivars Klaus Freiherr von Andrian-Werburg unter dem Titel „Archive in Coburg“, der bis heute zu den grundlegenden Untersuchungen zur Coburger Archivgeschichte zählt.1 Andrian-Werburg, der kurz zuvor Amtsvorstand beim Staatsarchiv Coburg geworden war, untersuchte in seinem Aufsatz auf breiter Quellenbasis die Entwicklung des Coburger Archivwesens vom 13. bis ins 20. Jahrhundert. Die ersten Spuren einer archivähnlichen Einrichtung findet AndrianWerburg im Urkundengewölbe der Askanier und Henneberger auf der Veste Coburg. Das früheste überlieferte Inventar stammte hingegen erst aus der Zeit des 16. Jahrhunderts.2 Da Coburg während seiner Zugehörigkeit zum Kurfürstentum Sachsen nur die Rolle eines entlegenen Verwaltungssitzes spielte, konnte sich das Archiv in den folgenden Jahren nicht fortentwickeln. Erst unter Herzog Johann Casimir, der Coburg zu seiner Residenz machte, entstand aus der Vereinigung der Kammerkanzlei (die Geheime Kanzlei des Landesherrn) mit dem alten Festungsarchiv (das Urkundengewölbe) das Geheime Archiv (1593/96). Nun sind auch Archivare nachweisbar. Die bekannten Namen darunter sind Georg Paul Hönn, der die Bestände des Kanzleiarchivs in drei Bänden „Registranda“ verzeichnete; Anfang des 19. Jahrhunderts Johann Adolph von Schultes, der die praktisch bis heute gültige Einrichtung des Geheimen Archivs in sogenannte Lokate (Sachgruppen) einführte, und schließlich Archivrat Ludwig Hermann, der durch Aktenabgaben und Kassationen dem Archiv eine neue Gestalt gab und das von Schultes initiierte Ordnungsschema zu Ende führte. Während der Amtszeit Hermanns erhielt das Geheime Archiv die Bezeichnung „Haus- und Staatsarchiv zu Coburg“ (1852). Letzter Vorstand des Haus- und Staatsarchivs wurde Professor Thilo Krieg, desKlaus Frhr. v. Andrian-Werburg, Archive in Coburg. In: Jahrbuch der Coburger Landesstiftung 13 (1968) S. 79–126. 2 Staatsarchiv Coburg (künftig: StACo), LA F 7933. 1
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sen Aufgabe insbesondere darin bestand, die umfangreichen Nachlässe der Herzöge Ernst I. und Ernst II. in das Hausarchiv einzuarbeiten. Im Jahr 1918, mit dem Ende des Herzogtums Sachsen-Coburg und Gotha, endete die Geschichte des Haus- und Staatsarchivs. Unter der Bezeichnung „Coburger Landesarchiv“ wurde es Teil der im Jahr 1919 neu errichteten Coburger Landesstiftung. Doch es gab ein Problem: In den ehemaligen Behördenarchiven und den Registraturen der aufgelösten Behörden des Herzogtums und Freistaats Sachsen-Coburg lagerten unzählige archivreife Akten, für die kein geeignetes Archiv existierte. Der Freistaat Bayern, dem Coburg seit 1920 angehörte, schuf hierfür die sogenannte Bayerische Staatsarchivalienabteilung Coburg, deren Aufgabe es war, die verstreuten Akten in einem Archiv zusammenzuführen. Im Jahr 1933, nach dem Tod des letzten Landesarchivars Thilo Krieg, lag es nahe, die beiden Coburger Archive, also das Landesarchiv und die Staatsarchivalienabteilung, unter einem Dach zusammenzuführen. Auf diese Weise entstand im Oktober 1939 das Staatsarchiv Coburg als eigenständige Dienststelle, deren Dasein, wie Andrian-Werburg abschließend resümiert, durch die geschichtliche und rechtliche Sonderentwicklung Coburgs im Freistaat Bayern gerechtfertigt wird3. Andrian-Werburgs Forschungen spiegeln, in der Art ihrer Betrachtung und der Wahl ihres Gegenstands, eine traditionelle Sichtweise auf die Einrichtung der Coburger Archive wider, die sich in der Fokussierung auf das Hauptarchiv der Coburger Herzöge und der Geringschätzung der Coburger Behördenarchive als „reponierte Registraturen“ ausdrückt. Das Coburger Archivwesen, so lautet denn auch das Fazit seiner Betrachtungen, „hat von Anfang an unter einem Mangel an Kontinuität gelitten.“4 Alle Entwicklungen im Coburger Archivwesen, die nicht dazu angetan waren, der Bildung eines Coburger Zentral- oder Hauptarchivs Vorschub zu leisten, sind in den Augen Andrian-Werburgs als Fehlentwicklungen zu interpretieren. Dieser eingeschränkte Blick der bisherigen Darstellungen soll in den folgenden Ausführungen aufgegeben werden zu Gunsten einer Würdigung der Vielfalt des Coburger Archivwesens, die sich insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert entwickelt hat. Mit Hilfe einer neuen Perspektive und auf
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Andrian-Werburg (wie Anm. 1) S. 106. Andrian-Werburg (wie Anm. 1) S. 104.
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der Grundlage neu erschlossener Quellenbestände5 sollen einige Archive und archivähnliche Einrichtungen, die in Coburg im 19. und 20. Jahr hundert außerhalb der staatlichen Archivverwaltung existiert haben, betrachtet werden. Zu diesem Zweck sollen für das 19. Jahrhundert das Kammerarchiv (1822–1852) und das Landtagsarchiv (1853–1918) in den Blick genommen werden, für das 20. Jahrhundert das Kreisarchiv der NSDAP (1938–1945), die Publikationsstelle Berlin-Dahlem (1945–1947) sowie das Marinearchiv der Kriegsmarine (1943–1945). Das Kammerarchiv Bei dem ersten zu behandelnden Archiv handelt es sich prima vista um ein klassisches Behördenarchiv aus dem 19. Jahrhundert, welches dann auch unter Verweis auf die dort herrschende Unordnung bei AndrianWerburg kurze Erwähnung findet, dessen Geschichte aber nicht näher ausgeführt wird. Die Tatsache, dass sich die Bezeichnung „Kammerarchiv“ bis heute als Bestandsname im Staatsarchiv Coburg erhalten hat, lässt jedoch aufhorchen. Ein genauerer Blick ist angebracht. Die Kammer als Behörde wurde im Herzogtum Sachsen-Coburg-Saalfeld im Jahr 1822 errichtet.6 Gemäß einem Antrag des Landtags vom 31. Januar 1822 sollte der gesamte Bereich der Domänenverwaltung von der Landesregierung abgetrennt und einer eigenen Behörde, der Kammer, übertragen werden. Fortan war die Finanzverwaltung im Herzogtum zweigeteilt: Für die Verwaltung der Regalien und der Kammergüter war die Kammer zuständig, während die Verwaltung der staatlichen Einkünfte bei der Landesregierung verblieb. In den ersten Organisationsplänen der Kammer war lediglich die Kammerregistratur erwähnt, ein Archiv war zunächst nicht vorgesehen. Bei einer neu geschaffenen Behörde war dies wohl zunächst auch nicht überraschend. Die Kammer erhielt noch im Jahr 1822 die laufenden Akten aus den Reposituren der Landesregierung übergeben, die allesamt in die Kammerregistratur eingereiht wurden. Die Die grundlegenden Quellen zu den folgenden Ausführungen befinden sich im Staatsarchiv Coburg (StACo), die mit Hilfe von weiteren Akten aus dem Stadtarchiv Coburg (StadtA Co), dem Bundesarchiv (BA-MA) sowie den National Archives in Washington ergänzt wurden. 6 StACo, MIN F 259 und 260. Vgl. ausführlich Otto Mutzbauer, Die Behördenorganisation des Herzogtums Coburg im 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Coburger Landesstiftung 3 (1958) S. 13–58. – Nach der Bildung des Herzogtums Sachsen-Coburg und Gotha im Jahr 1826 wurde auch eine Kammer für das Herzogtum Gotha gebildet. 5
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Rechnungen des sogenannten Rechnungsarchivs sowie die handgezeichneten Pläne der sogenannten Kartenkammer standen auch unter der Obhut der Kammer separat.7 Erst in den folgenden Jahren, und nur sehr langsam, bildete sich der Gedanke heraus, dass es notwendig werden könnte, für die Verwaltung der Kammerakten neben der Registratur auch ein Archiv zur Aufbewahrung der nicht mehr laufend benötigten Akten einzurichten. Die Faktoren, die diese Entwicklung auf den Weg brachten, waren die räumliche Unterbringung der Kammerakten sowie die Person des „Kammerarchivars“ Ludwig Hermann. Die Kammerakten waren lange Zeit in einem Raum im zweiten Obergeschoss des Regierungsgebäudes am Coburger Marktplatz untergebracht. Mit der Zeit wurde hier der Platz knapp. Im Jahr 1851 wurde daher verfügt, alle 20 Jahre die laufenden Akten durchzusehen und alle Akten, die nicht für die aktuelle Geschäftserledigung gebraucht würden, dem Archiv zu übergeben.8 Der räumlichen Separierung der Kammerakten im Archiv entsprach die zunehmend an archivfachlichen Gesichtspunkten ausgerichtete Betreuung dieser Akten durch Ludwig Hermann. Hermann war bereits im Jahr 1822, bei Einrichtung der Kammer, als Sekretär bei der Kammerregistratur angestellt worden. Er blieb für zehn Jahre Kammerregistrator, bis er im Jahr 1832, mit der Anstellung eines neuen Registrators, für die Betreuung des Kammerarchivs zuständig wurde. Mochte sich diese Aufgabe zunächst kaum von den Registratorgeschäften unterscheiden, so änderte sich die Arbeitsauffassung Hermanns im Laufe der Jahre. Im Jahr 1846 bekam Hermann das Prädikat „Archivrat“ verliehen. Per Reskript des Herzogs vom 26. Februar 1846 wurde Hermann damit von allen Sekretärsaufgaben entbunden; dafür hatte er fortan Rechtsgutachten aus den Akten sowie schriftliche und mündliche Berichte zu erteilen.9 Dadurch änderte sich auch zwingend der Blick auf die Unterlagen. Im Sommer 1852, als Umbaumaßnahmen im Regierungsgebäude anstanden, forderte die Amtsführung der Kammer Kassationen bei den Unterlagen des Kammerarchivs. Dem stellte sich Hermann entgegen. Die Akten und Rechnungen der Kammer, so argumentierte er, sollten „der Zukunft wegen“ aufbewahrt werden; ihr Inhalt könnte für die nachfolgenden Generationen noch von Memmert an die Landesregierung, 16.5.1822, StACo, KArchiv 3809. Nicht-unterzeichnete Verfügung vom 30.5.1851, StACo, KArchiv 3815. 9 Reskript Ernst II. vom 26.2.1846, StACo, KArchiv 4120. 7 8
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Interesse sein. Um eine Vernichtung der Akten zu verhindern, bemühte er sich, ein Ersatzdepot auf der Veste zu bekommen.10 Letztlich verhinderte aber die Auflösung der Kammer eine Umsetzung dieser Planungen; die Akten wurden in das Zeughaus verbracht. Ganz umsonst waren die vielfältigen Bemühungen Ludwig Hermanns jedoch nicht: im Jahr 1853 wurde er Vorstand des neu geschaffenen Hausund Staatsarchivs. Hier konnte er die Erfahrungen, die er bei der Betreuung des Kammerarchivs erworben hatte, nutzbringend einsetzen. Hier wie dort ordnete er das Aktenmaterial nach Sachgruppen (sogenannte Lokate): Die Einteilung Hermanns bildet bis heute das grundlegende Strukturelement im Bestand „Landesarchiv“11. Anfang der 1850er Jahre wurde jedoch, wie erwähnt, die Entwicklung des Kammerarchivs hin zu einem echten Archiv nach modernem Verständnis – Absonderung der Akten von der laufenden Registratur, Ausrichtung auf eine historische Zielsetzung, Betreuung durch eigenes Archivpersonal – jäh unterbrochen. Die Kammer wurde als eigenständige Behörde aufgelöst und die Amtsgeschäfte wieder der Landesregierung einverleibt. Nachdem diese Stelle wenige Jahre später ebenfalls aufgelöst wurde, ging der gesamte Bereich der Kammerverwaltung auf das neu errichtete Domänenamt über. Anders als zum Zeitpunkt der Einrichtung der Kammer gingen die Akten diesmal aber nicht auf die neuen Dienststellen über. Die Akten des Kammerarchivs wurden vielmehr in die Räume des Coburger Zeughauses gebracht. Dort verblieben sie ohne Betreuung und ohne von einer Dienststelle verwahrt oder benutzt zu werden, bis zum Ende der Monarchie in Coburg im Jahr 1918. Mit der Errichtung der Staatsarchivalienabteilung im Jahre 1924 wurden die Kammerakten als geschlossener Bestand an die staatliche Archiveinrichtung übergeben und dort fortan unter der Bezeichnung „Kammerarchiv“ als eigener Bestand aufbewahrt. Die Formierung orientierte sich dabei weitgehend an der Aufstellung im
Bericht an die herzogliche Kammer, 7.6.1852, StACo, MIN F 261. Lokat A: Persönliche Verhältnisse des herzoglichen Hauses; Lokat B: Verhältnisse zu Kaiser und Reich; Lokat C: Angelegenheiten der fürstlich sächsischen Länder; Lokat D: Auswärtige Angelegenheiten; Lokat E: Innere Angelegenheiten in kirchlichen Sachen; Lokat F: Innere Verfassung in weltlichen Sachen; Lokat G: Sachen des Adels; Lokat J: Fürstentum Saalfeld; Lokat K: Staatsbank Coburg; Lokat L: Druckschriftensammlung; Lokat M: ehemaliges Grundbucharchiv; Lokat S: Sammlungen und Zimelien. 10 11
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Kammerarchiv,12 lediglich die Einteilung in Lokate wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zugunsten einer nummerischen Aufstellung aufgegeben. Das Landtagsarchiv Im Gegensatz zum Kammerarchiv handelt es sich bei dem zweiten zu behandelnden Archiv um ein Archiv der Legislative: das Landtagsarchiv. Das Archiv des Landtags entstand im Jahr 1852. Dieser Vorgang stand im engsten Zusammenhang mit der Verkündung des Staatsgrundgesetzes für das Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha im selben Jahr. Diese von Herzog Ernst II. erlassene Verfassung hatte das Ziel, die beiden Herzogtümer Sachsen-Coburg und Sachsen-Gotha näher zusammenzuführen. So verwundert es nicht, dass neben der Gewährung persönlicher Grundfreiheiten für die Untertanen, die diese Verfassung zu einer der liberalsten des gesamten Deutschen Bundes machte, insbesondere die Arbeit und die Organisation der verfassungsmäßigen Organe Ministerium und Landtag in diesem Staatsgrundgesetz geregelt wurden. Beide Einrichtungen sollten für Coburg und Gotha gemeinsam arbeiten und somit die Grundlage einer echten Staatenunion bilden. So gab es für das Herzogtum SachsenCoburg und Gotha einen gemeinsamen Landtag, der abwechselnd in den Residenzen Coburg und Gotha tagen sollte. Beide Teilherzogtümer behielten indes ihre Speziallandtage, denen zugestanden wurde, über die Angelegenheiten in jeweils ihrem Herzogtum zu befinden. Es ist leicht zu ersehen, dass bei so einem vielfältigen System die Verwaltung und Betreuung der Akten eine zentrale Rolle spielten musste. Hierfür war die Schaffung eines Landtagsarchivs vorgesehen, dessen Einrichtung in § 28 der Beilage II zum Staatsgrundgesetz vom 3. Mai 1852 dekretiert wurde. Im Abschnitt „Landtag“ heißt es dort: „Durch die Staatsregierung ist ein Archivar für Coburg und einer für Gotha anzustellen.“ Ihm solle die Protokollführung und das Führen der Bücherverzeichnisse obliegen. Hierfür könne ihm weiteres Personal zur Verfügung gestellt werden.13 Dass die Bemühungen um eine geregelte und zentralisierte Aktenführung just zu dieser Zeit erfolgten, war gewiss kein Zufall. Die Planer in Lokat A: Finanzen; Lokat D: Ämter-, Dienst- und Dienersachen; Lokat E: Rechnungswesen; Lokat F: Staats- und Familienverfassung und auswärtige Verhältnisse; Lokat H: Kleinere Bestände, Forstamt Coburg, Obersteuerkommission. 13 Gesetzsammlung für das Herzogtum Sachsen-Coburg, Nr. 150: Staatsgrundgesetz für die Herzogtümer Coburg und Gotha, 3.5.1852. 12
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der herzoglichen Verwaltung, deren Aufgabe es war, aus zwei Teilherzogtümern ein einziges Herzogtum zu formen, legten von Beginn an ihr Augenmerk auch auf die staatliche Aktenüberlieferung. So war die Einrichtung des Haus- und Staatsarchivs ein wichtiger Baustein im neuen Staatsaufbau. Neben Staatsministerium und Landtag diente es als dritte, für beide Herzogtümer gemeinsame Stelle. Hinzu kamen die schlechten Erfahrungen, die man beim Landtag mit einer fehlenden Aktenverwahrstelle gemacht hatte. Im Jahr 1821, bei der Schaffung des ersten Coburger Landtags, war an ein Archiv nicht gedacht worden. Herzog Ernst I. befahl zwar, die Akten der älteren Landstände dem Landtag zu übergeben,14 aber dort kümmerte sich niemand um diese Überlieferung; heute gelten diese Akten als verschollen. Im November 1853 verabschiedete der Landtag eine umfassende In struktion für die beiden landschaftlichen Archivare mit einigen besonderen Bestimmungen.15 §§ 1 und 2 bestimmten, dass der Archivar als Beamter im Zivilstaatsdienst angestellt sein musste und unter der Dienstaufsicht des Staatsministeriums zu stehen hatte; nach § 3 sollte es einen Archivar für Coburg sowie einen für Gotha geben; das Archiv des gemeinschaftlichen Landtags sollte von beiden zusammen betreut werden. § 4 umschrieb die Aufgaben des Archivars: er hatte die Protokolle des Landtags zu führen, die Akten des Landtags zu betreuen sowie die Bibliothek des Landtags zu beaufsichtigen. §§ 11 und 12 ermahnten den Archivar zur ordnungsgemäßen Führung der Akten sowie zu deren sorgfältiger Aufbewahrung. Schließlich oblag dem Archivar nicht nur die Aufsicht über die Landtagsbibliothek (§ 23), sondern auch über das gesamte landschaftliche Mobiliar (§ 22). Trotz dieser detaillierten, an frühneuzeitliche Instruktionen erinnernden Regelungen gelang es in den folgenden Jahren nicht, ein geordnetes und vollständiges Landtagsarchiv aufzubauen. Dies hatte gleich mehrere Gründe: Ein Grund war das Personal. Der Landtagsarchivar wurde vom Staatsministerium abgestellt. Er versah seine Aufgabe somit nicht hauptamtlich, sondern gewissermaßen im Nebenamt. Dies hatte zur Folge, dass die Archivare nicht mit vollem Tatendrang bei der Arbeit waren und oftmals nach nur kurzer Dienstzeit wieder wechselten.16 Dazu kam, dass die ArReskript von Herzog Ernst I. vom 7.11.1821, StACo, KArchiv 412. StACo, Landtag 222. 16 StACo, Landtag 219. Als Landtagsarchivar fungierten nacheinander: Emil Dreysing, Julius Brückner, Alexander Fleischmann, Alexander Fahlnberg, Albert Braun, Bahmann, 14 15
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chivare vollauf mit der Erstellung und Versendung der Landtagsprotokolle beschäftigt waren. Die Betreuung der Akten wurde als lästige Aufgabe gesehen, für die im Alltag keine Zeit mehr blieb.17 Und schließlich zeigte sich gerade bei den schriftlichen Unterlagen der Unterschied zwischen einer kontinuierlich arbeitenden Verwaltungsbehörde und einem nur von Zeit zu Zeit tagenden Parlament: der stete Zustrom an Akten fehlte. Geregelte Aktenabgaben ans Archiv gab es praktisch nicht, die Landtagsarchivare mussten ihre Unterlagen vielmehr zusammenstellen, indem sie die Registratur des Staatsministeriums um die Abgabe der gewünschten Schriftstücke baten.18 Trotzdem gelang es den Landtagsarchivaren in den wenigen Jahrzehnten bis zur Auflösung der Monarchie einen ansehnlichen Bestand an Akten aufzubauen. Wie auch das Kammerarchiv ging das Landtagsarchiv nach dem Übergang an Bayern zunächst an die Staatsarchivalienabteilung und später an das Staatsarchiv Coburg.19 D a s N S - K re i s a r c h i v Im 20. Jahrhundert stürzte Coburg in eine turbulente Entwicklung. Die politischen Verwerfungen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatten sowohl das Ende des Coburger Herzogshauses als regierende Dynastie als auch die Trennung Coburgs vom Landesteil Gotha zur Folge. Der kleine Staat Sachsen-Coburg war alleine nicht überlebensfähig und entschied sich nach einer allgemeinen Volksabstimmung dafür, sich an den südlichen Nachbarn, den Freistaat Bayern, anzuschließen. Coburg war fortan keine Residenzstadt mehr. Dies tat der archivischen Vielfalt jedoch keinen Abbruch, im Gegenteil: von der Entwicklung im staatlichen Archivwesen wurde ja bereits eingangs berichtet. Parallel dazu entstand in den 1930er Jahren in Teilen der NSDAP-Führung der Gedanke, in Coburg noch ein eigenes Parteiarchiv der NSDAP aufzubauen. Den Anstoß zu dieser Idee gab die Parteiführung selbst. Schon Anfang 1934 entstand bei der Reichsführung der NSDAP ein eigenes Parteiarchiv, welches nach seiner Umsiedlung nach München (Ende 1934/Anfang 1935) als „Hauptarchiv Eduard Schneider, Schiegnitz, Robert Müller, Karl Hock, Karl Frenzel, Max Groß und Max Kestel. 17 Hierzu einige Schreiben in: StACo, Landtag 219. 18 Vgl. die diversen Schreiben des Landtagsarchivars an das Staatsministerium. In: StACo, Landtag 124. 19 Heute umfasst der Bestand „Landtag“ insgesamt 1559 Archivalieneinheiten.
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der NSDAP“ bezeichnet wurde.20 Nukleus des Hauptarchivs bildeten zunächst eine Bibliothek und ein umfangreiches Zeitungsarchiv. Später war die Erforschung der Frühzeit der NSDAP eine Kernaufgabe des Archivs. Hierfür wurden alle Ortsgruppen der NSDAP im gesamten Reich angeschrieben und um Übersendung von Unterlagen aus der „Kampfzeit“ gebeten. Im Januar 1938 schrieb das Hauptarchiv an den Oberbürgermeister der Stadt Coburg und bat um Zusendung von Materialien aus der Kampfzeit der nationalsozialistischen Bewegung. Dieses Ansinnen traf bei der Stadtführung auf ein geteiltes Echo. Zwar wollte man sich den Wünschen aus München nicht verweigern, aber auch ungern die wertvollen Unterlagen aus der Frühzeit der Coburger Bewegung aus der Hand geben. Dass diesen Unterlagen aus der Sicht der Nationalsozialisten ein besonderer Wert zukam, war angesichts der Rolle, die Coburg seit den frühen zwanziger Jahren für die Entwicklung des Nationalsozialismus in Bayern und im Deutschen Reich gespielt hatte, kaum zu übersehen. Um diese Unterlagen vor einer Abwanderung nach München zu schützen (die Analogie zum Umgang mit den staatlichen Unterlagen in den Jahren 1919/20 ist augenfällig), entschied die Coburger NSDAP, ein eigenes Archiv bei der Kreisleitung der NSDAP einzurichten. Zur Betreuung der Unterlagen sollte ein „Kreisbeauftragter für die Sammlung des Geschichtsmaterials“ ernannt werden. Der vollmundigen Ankündigung folgten aber kaum Taten. Vorerst wurden nur drei „Parteigenossen“ dazu ausersehen, Abschriften aus den Stadtratsprotokollen und den städtischen Akten zu fertigen, die die Geschichte der NSDAP in Coburg dokumentierten. Eher zufällig war es Herbert Riehmann, der zum Kreisarchivar der NSDAP avancierte:21 Er hatte sich eine private Sammlung an zeitgenössischen Unterlagen angelegt, die er nun zum Kern des NS-Kreisarchivs machte. Riehmann wurde vom Oberbürgermeister Coburgs ein Ausweis als Archivar ausgestellt. Außerdem erhielt er den Auftrag, eine Geschichte des NSDAP-Kreises Coburg zu schreiben.22 Wirklich vorangekommen ist er damit aber nicht, wie die wiederholten Nachfragen aus der Stadtverwaltung belegen. Im Jahr 1942 Vgl. Franz J. Gangelmayer, Hauptarchiv der NSDAP, publiziert am 18.12.2019. In: Historisches Lexikon Bayerns, http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Hauptarchiv_der_NSDAP (zuletzt aufgerufen am 28.12.2020) sowie die Erläuterungen zum Bestand „NS 26: Hauptarchiv der NSDAP“ auf der Homepage des Bundesarchivs. 21 Berichte zur Arbeit Riehmanns als Kreisarchivar insbesondere in: StACo, SpK CO-Stadt R 65 sowie StACo, StACo 827 (Personalakte Riehmann). 22 Beschluss des Coburger Stadtrats, 10.7.1939, StadtA Co, A 6270. 20
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überwarf sich Riehmann endgültig mit der NSDAP; er musste seinen Posten als Parteiarchivar räumen und kam für kurze Zeit ins Gefängnis.23 Das war im Grunde der Zustand bis zum Kriegsende, und somit könnte man das NS-Kreisarchiv als unvollendetes Archiv bezeichnen, welches niemals mit eigenen Beständen an die Öffentlichkeit getreten ist. Leider spielte das NS-Kreisarchiv jedoch um die Jahreswende 1938/39 eine unheilvolle Rolle, die dafür sorgte, dass heute wertvolle Akten als verschollen gelten müssen. Im Zuge der sogenannten Reichskristallnacht vom 9./10. November 1938 wurden vom Sicherheitsdienst der SS (SD) zahlreiche Unterlagen der Israelitischen Kultusgemeinde in Coburg beschlagnahmt und zunächst in der SD-Außenstelle am Markt 5 verwahrt. Sofort verhandelte die Staatsarchivalienabteilung Coburg über eine Übergabe dieser sogenannten Judenakten im Umfang von „einem schweren Schrank voller Schriften“. Da schaltete sich die NSDAP-Kreisleitung im Februar 1939 in die Angelegenheit ein. Es sei der Befehl zur Bildung eines NS-Kreisarchivs ergangen, so hieß es in einem Schreiben an das Staatsarchiv, welches als Dokumentationsstelle für die Kampfzeit der Bewegung dienen sollte. Die vom SD beschlagnahmten „Judenakten“ seien eine wichtige Quelle hierfür und gehörten daher dem Kreisarchiv übergeben.24 So geschah es. Das Staatsarchiv Coburg hatte das Nachsehen. Auch ein Protest des Generaldirektors der Staatlichen Archive erbrachte keinen Erfolg.25 Die Spur der „Judenakten“ verliert sich an dieser Stelle. Wie beschrieben stand das Kreisarchiv zu keinem Zeitpunkt unter professioneller Betreuung, was eine geordnete Überlieferungsbildung erschwerte. Spätestens aber in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs müssen die Unterlagen des NS-Kreisarchivs vernichtet worden sein: sei es durch die Zerstörung des sogenannten Braunen Hauses, in welchem das Kreisarchiv untergebracht war, sei es, wie einige Zeitzeugen berichten, durch Verbrennen der Unterlagen in den Öfen der Coburger Stadtwerke.26
Herbert Riehmann war nach dem Zweiten Weltkrieg als Magaziner im Staatsarchiv Coburg sowie als Kirchenarchivpfleger tätig. 24 Kreisleitung der NSDAP Coburg an das Staatsarchiv Coburg, 2.2.1939, StACo, StACo 868. Vgl. auch Hubert Fromm, Die Coburger Juden. Geschichte und Schicksal, Coburg 2001, S. 91 ff. 25 Hösl an Heins, 22.2.1939, ebd. 26 Freundliche Hinweise von Jürgen Erdmann und Christian Boseckert, Coburg. 23
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D a s Ma r i n e - A r c h i v i n Ta m b a c h Gegen Ende des „Dritten Reiches“ und in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs waren es gleich zwei archivische Einrichtungen, die ihren Sitz in Coburg nahmen. Es war durchaus nicht ungewöhnlich, dass in den letzten Kriegsjahren Dienststellen aus der Reichshauptstadt Berlin, die zunehmend das Ziel alliierter Luftangriffe wurde, oder aber von den westlichen und östlichen Kriegsschauplätzen, wo die Front immer näher an die Reichsgrenzen heranrückte, in das Innere des Deutschen Reiches flüchteten. Dass es sich im Falle Coburgs aber um zwei Archivdienststellen handelte, ist nichts weiter als Zufall. Bei der ersten Einrichtung handelt es sich um das Archiv der deutschen Kriegsmarine. Dieses war am 15. Februar 1916 geschaffen worden. Der offizielle Name der meist schlicht als „Marine-Archiv“ bezeichneten Dienststelle lautete seit 1936: „Kriegswissenschaftliche Abteilung der Marine bzw. im Oberkommando der Marine (OKM)“. Die wichtigsten Aufgaben des Marinearchivs waren die Sammlung und Verwahrung der beim Oberkommando der Marine entstandenen Akten sowie die Erarbeitung von marinegeschichtlichen Arbeiten, insbesondere über die Zeit des Ersten Weltkriegs. Im Spätjahr 1943 wurde das Archiv wegen der häufigen Fliegerangriffe auf Berlin ausgelagert und in die Ausweichstelle in Schloss Tambach bei Coburg verlagert (sogenannte Aktion Ungewitter).27 Vom 22. November 1943 bis zum Kriegsende war das Marine-Archiv damit im Coburger Land beheimatet.28 Zunächst konnte man hier in der „Ausweiche Tambach“ die historische und archivische Arbeit ungestört fortsetzen. Mit dem militärischen Niedergang und der herannahenden Front im Frühjahr 1945 wurde aber in Coburg die Lage zunehmend unsicher. Das Marine-Archiv enthielt unzählige Dokumente über die geheimen Details der deutschen Seerüstung in den 1920er und 1930er Jahren sowie brisantes Aktenmaterial aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, welches unter keinen Umständen den Alliierten in die Hände fallen sollte. Für die Archive und Aktensammelstellen der beiden anderen Waffengattungen, Heer und Luftwaffe, lagen bereits Bundesarchiv-Militärarchiv (künftig: BA-MA), RM 8/1284 und RM 8/1696. Zunächst war geplant, das Marine-Archiv nach Schloss Ortenburg in Niederbayern auszulagern; doch dort war kein Platz mehr, vgl. die Korrespondenz in StACo, OrtenburgArchiv 2456. Für die Zurverfügungstellung der Schlossräume erhielt die Gräfin von Ortenburg angeblich eine Miete von 70.000 RM, vgl. StACo, SpK CO-Land O 13. 27 28
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entsprechende Vernichtungsbefehle vor, um eine feindliche Beschlagnahme der Akten zu verhindern. Die Zerstörung der Akteninventare und Geheimakten hatte bereits begonnen. Auch für das Marine-Archiv gab es entsprechende Überlegungen.29 Die Beschäftigten im Marine-Archiv verhielten sich allerdings zögerlich. Auch sie wollten nicht, dass die deutschen Akten in die Hände der Alliierten fielen, schreckten aber vor einer unwiderruflichen Vernichtung der Akten zurück. Admiral Wilhelm Widenmann hatte eine andere Idee. Widenmann war vor dem Ersten Weltkrieg der kaiserliche Marineattaché in London gewesen und befand sich nun beim Marine-Archiv, um eine Geschichte der deutschen Reichsmarine zu schreiben. Er wollte die wertvollen Archivalien auf jeden Fall vor dem Zugriff der Alliierten retten. Nach Rücksprache mit dem Leiter des Staatsarchivs Coburg, Walter Heins, entnahm Widenmann dem Marine-Archiv einige von ihm als besonders wertvoll erachtete Archivalien und übergab sie dem Coburger Staatsarchiv. Hier wurden sie als „Depot Widenmann“ gewissermaßen wie Nachlassakten behandelt und als eigener Bestand im Staatsarchiv aufgestellt.30 Eine Bearbeitung durch das Archivpersonal oder eine Benützung durch Forscher waren jedoch tabu. Admiral Widenmann kam nach Kriegsende selbst von Zeit zu Zeit ins Staatsarchiv, um mit den Unterlagen zu arbeiten.31 Durch die Deponierung der Unterlagen im Staatsarchiv, so Widenmanns Plan, sollte eine Beschlagnahme der Unterlagen durch die Alliierten verhindert werden. Der Coup gelang. Als die Alliierten auf Coburg vorrückten, besuchten Spezialeinheiten der amerikanischen „History Division“ gemeinsam mit Mitarbeitern des britischen Geheimdienstes auch das Schloss in Tambach.32 Dabei stellten sie fest, dass sich außer den Unterlagen des Marine-Archivs auch zahlreiche Gemälde aus Polen, die wohl der Sammlung des Generalgouverneurs Hans Frank entstammten, in Tambach befanden. Vgl. BA-MA, RM 7/102: die entsprechenden Abschnitte aus dem Kriegstagebuch: „Archiv in Tambach gefährdet. Wichtige Unterlagen in Sicherheit bringen. Wertvolles Material rechtzeitig vernichten.“ 30 Eine Aktenübersicht findet sich in: StACo, StACo 977. 31 Laut Benutzerbuch des Staatsarchivs besuchte Widenmann das Staatsarchiv regelmäßig zwischen Juli 1945 und August 1946, StACo, StACo 194. 32 Zur Situation, in welcher die Alliierten das Marine-Archiv vorfanden, vgl. Ernest M. Eller, United States Navy Microfilm of the German Naval Archives. In: Robert Wolfe (Hrsg.), Captured German and Related Records. A National Archives Conference, Athens/ Ohio 1974, S. 163–172, hier S. 165–167. 29
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Alle Unterlagen wurden sofort beschlagnahmt, der Leiter des MarineArchivs kam in Kriegsgefangenschaft. Die Alliierten unter der Leitung von Lieutenant Pelz erstellten notdürftige Inventare der Unterlagen. Schließlich wurden die Unterlagen verpackt und nach London verbracht (offenkundig hatten die Engländer ein größeres Interesse an den deutschen Marineunterlagen als die Amerikaner). Dort wurden die Unterlagen inventarisiert und auf Mikrofilm aufgenommen.33 Nach der Beschlagnahme der Akten durch die Alliierten und der damit einhergehenden Auflösung der Dienststelle scheint das Personal dem Coburger Land so schnell wie möglich den Rücken gekehrt zu haben. Der Leiter der Kriegswissenschaftlichen Abteilung, Karlgeorg Schuster, kam sogleich in Kriegsgefangenschaft und wurde erst 1947 entlassen. Ein anderer Mitarbeiter, der Gruppenleiter im Marine-Archiv, Walther Faber, hat sich bei Kriegsende auf Schloss Eichhof bei Coburg selbst getötet. Die meisten anderen kehrten in ihre Heimatstädte zurück. Bemerkenswert ist das Schicksal des Amtsrats und Archivars Walter Pfeiffer, der gemeinsam mit den Marineakten nach London ging, um dort im Auftrag der britischen Admiralität Inventare zur Marineüberlieferung anzufertigen. Bevor er diese Stelle antreten konnte, musste er jedoch noch von den deutschen Spruchkammern entnazifiziert werden. Den knappen Einlassungen Pfeiffers und einigen Aussagen von Entlastungszeugen folgte ein Schreiben des US-amerikanischen Marineattachés in London, Sanders, mit der Bitte, Pfeiffers Entnazifizierung in beschleunigter Weise durchzuführen.34 Die Sache gelang. Pfeiffer betreute bis zu seinem Tod im Sommer 1964 im Auftrag der britischen Admiralität die erbeuteten deutschen Akten. Zwei Jahre nach Kriegsende lebten nur noch wenige Mitarbeiter des ehemaligen Marine-Archivs im Coburger Land, so etwa die Buchhalterin Eva Langer in Altenhof, Admiral Wilhelm Widenmann, der Justizbeamte Carl Engelien in Weitramsdorf und der Admiral Ludwig Dithmar mit seiner Familie auf der Veste Coburg. Für die beiden letzteren haben sich die Meldebögen der Coburger Spruchkammern erhalten; ein Verfahren ist gegen die beiden nicht eröffnet worden. Engelien, 1884 geboren, war als Justizbeamter an verschiedenen Amtsgerichten tätig, bevor ihn offenbar sein Hobby, die Marinemalerei, an das Die Unterlagen erhielten eine alphanumerische Signatur: „PG + lfd. Nr.“. Die Legende will, dass „PG“ für „pinched from the Germans“ (deutscht: „den Deutschen weggeschnappt“) steht. 34 StACo, SpK CO-Land P 18. 33
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Marine-Archiv führte. So hatte er bereits im Jahr 1927 Zeichnungen zu dem Prachtband „Die Marine im Weltkrieg“ beigesteuert, war aber erst seit 1938 an der Kriegswissenschaftlichen Abteilung im OKM angestellt. Bis zum Sommer 1946 wohnte er mit seiner Familie in Weitramsdorf.35 Das Leben Dithmars, der im Spruchkammerverfahren gegen Pfeiffer als Leumundszeuge auftrat, war noch eine Spur bewegter. Dithmar nahm als Seeoffizier am Ersten Weltkrieg teil; als Mitglied der Crew des deutschen U-Boots U 86 war er an einem der schwersten Kriegsverbrechen des Ersten Weltkriegs beteiligt. Am 27. Juni 1918 torpedierte U 86 das britische Passagierschiff „Llandovery Castle“, welches innerhalb weniger Minuten sank. Daraufhin beschossen die Deutschen die Rettungsboote und töteten so fast alle Passagiere. Auf Druck der Alliierten wurden Dithmar und mehrere Kameraden in den „Leipziger Prozessen“ zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Dithmar wurde jedoch kurz darauf von Angehörigen der rechtsradikalen Organisation Consul aus der Haftanstalt in Naumburg befreit und konnte ins Ausland flüchten. In einem erneuten Verfahren vor dem Reichsgericht im Jahr 1930 wurde Ludwig Dithmar freigesprochen.36 In seinem Meldebogen gab er an, er habe seit 1941 beim Marine-Archiv als kaufmännischer Angestellter gearbeitet;37 ein Verfahren gegen ihn wurde nicht eröffnet. Blieb noch Widenmann selbst, die „Graue Eminenz“ der Kriegswissenschaftlichen Abteilung und treibende Kraft hinter den heimlichen Aktenauslagerungen. Auch seinen Meldebogen verwahrt das Staatsarchiv Coburg. Widenmann gab sich dort als Pensionär aus; seine Kontakte zum Marine-Archiv verschwieg er. Dagegen gab er an, 1933 seine Stellung als Direktor des „Deutschen Überseedienstes“ wegen der Machtergreifung der Nationalsozialisten verloren zu haben.38 Die Spruchkammer glaubte ihm: ein Verfahren wurde nicht eröffnet. Die Unterlagen, die im Staatsarchiv Coburg untergebracht worden waren, entgingen letztlich der Beschlagnahmung. Einige Jahre nach dem Krieg, als sich die Wogen etwas geglättet hatten, erkundigte sich Widenmann, der inzwischen an seinen Memoiren arbeitete39, nach deren VerStACo, SpK CO-Land, Meldebogen Engelien, 28. 11. 1946. Vgl. Gerd Hankel, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003. 37 StACo, SpK CO-Stadt, Meldebogen Dithmar, 29. 4. 1946. 38 StACo, SpK CO-Stadt, Meldebogen Widenmann, 7. 5. 1946. 39 Wilhelm Widenmann, Marineattaché an der kaiserlich-deutschen Botschaft in London 1907–1912, Göttingen 1952. 35 36
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bleib. Mehr geschah zunächst nicht. Dies sollte sich erst in den 1960er Jahren ändern. Den Auftakt hierzu bildete die Entscheidung der Alliierten, den Deutschen die beschlagnahmten Archivunterlagen wieder zurückzugeben.40 Demzufolge wurden die Unterlagen der Kriegsmarine an das Bundesarchiv abgegeben. Dabei muss den deutschen Archivaren aufgefallen sein, was den britischen Kollegen entgangen war: dass einige wertvolle Akten aus dem Marine-Archiv fehlten. Eher aus Mangel an anderen Ideen als aus echtem Glauben heraus schrieb der Referent des Bundesarchivs an das Staatsarchiv Coburg, um nach dem Verbleib der Unterlagen zu fragen.41 Die Antwort des Coburger Amtsvorstands muss im Bundesarchiv eingeschlagen sein, wie eine Bombe: Heyl bestätigte, dass die Unterlagen, die Admiral Widenmann einst abgegeben hatte, unverändert vorhanden waren. Die Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns sprach sich dafür aus, die Unterlagen aus dem Marine-Archiv, die keinerlei Bezug zu den sonstigen Coburger Beständen aufwiesen,42 an das Bundesarchiv abzugeben. So geschah es dann auch. Damit kann man als Fazit festhalten: im Gegensatz zu den Überlieferungen von Heer und Luftwaffe, die im Krieg schwerste Zerstörungen erleiden mussten, blieb die Überlieferung der Kriegsmarine nahezu intakt und bildet heute ein umfassendes Aktenkorpus im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg. Dazu kommt, dass die Einrichtung des Marine-Archivs und die von ihm herausgegebenen Arbeiten jahrzehntelang die historische Deutung der Seekriegsgeschichte in Deutschland prägten. Die Arbeiten heutiger Marinehistoriker haben es sich zur Aufgabe gesetzt, die apologetisch gefärbten Arbeiten der Kriegswissenschaftlichen Abteilung anhand der noch vorhandenen Überlieferung kritisch zu überprüfen.43 Diese Rolle verdanken das Marine-Archiv und seine Akten insbesondere auch ihrer Zeit in Coburg.44 Vgl. Astrid M. Eckert, Kampf um die Akten. Die Westalliierten und die Rückgabe von deutschem Archivgut nach dem Zweiten Weltkrieg (Transatlantische historische Studien 20), Stuttgart 2004, insbesondere S. 117. 41 Mommsen an das Staatsarchiv Coburg, 3. 10. 1959, StACo, StACo 977. 42 Die Akten der Kriegsmarine, so hieß es in der Stellungnahme der Generaldirektion für das Kultusministerium, seien ein „Fremdkörper“ im Staatsarchiv Coburg. 43 Vgl. zuletzt Christian Lübcke, Der Kieler Matrosenaufstand von 1918 und die deutsche Militärgeschichtsschreibung. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 68 (2020) S. 505–533. 44 Die Öffentlichkeit erfuhr übrigens erst im Mai 1947 von den Einquartierungen in Tambach. Unter dem Titel „Der Seekrieg von Schloss Tambach“ berichtete die „Neue Presse“ in der Ausgabe vom 21. Mai 1947 davon, behauptete aber fälschlicherweise, das Oberkom40
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Di e Pu b l i k a t i o n s s t e l l e B e r l i n - D a h l e m Bei der letzten zu betrachtenden Einrichtung handelt es sich um die sogenannte Publikationsstelle Berlin-Dahlem (PuSte), formell eine Abteilung des preußischen Geheimen Staatsarchivs. Damit war die PuSte eine archivische Einrichtung und beschäftigte hauptsächlich Archivarinnen und Archivare, aber ihre Entstehung und Zielsetzung sind nur zu verstehen, wenn man sich die Genese einer für die Zwischenkriegszeit in Deutschland spezifischen Wissenschaftsdisziplin, der sogenannte Ostforschung, in Erinnerung ruft. Diese Ostforschung begann sich nach dem Ersten Weltkrieg zu entwickeln. Ihr Ziel war es, auf wissenschaftlicher Basis die politischen Ansprüche auf die durch den Versailler Vertrag verlorenen Ostgebiete wachzuhalten und politische Maßnahmen, die auf eine Stärkung des Deutschtums im Osten Europas hinausliefen, wissenschaftlich zu legitimieren. Großzügig finanziert durch das Deutsche Reich, entstanden im Laufe der 1920er und 1930er Jahre zahlreiche Einrichtungen, die sich der Ostforschung verschrieben. Vielen jungen Historikern und Geografen boten sich in der Ostforschung glänzende Karrierechancen. Albert Brackmann, Leiter des Geheimen Staatsarchivs in Berlin, hatte den Anspruch, sein Haus zu einem Zentrum der Ostforschung aufzubauen. Hierfür gründete er im Jahr 1933 die Nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft. Gewissermaßen als Geschäftsstelle wurde die PuSte aus der Taufe gehoben, deren Leitung Brackmann dem jungen Archivar Johannes Papritz anvertraute. Papritz hatte die Ausbildung zum Archivar 1926 abgeschlossen, und durch seine Tätigkeit im „Grenzmarkenarchiv“ in Posen erste Kontakte zur Ostforschung entwickeln können. Mit Papritz an der Spitze rückte die PuSte fortan sichtbar ins Zentrum der deutschen Ostforschung. Ihre Aufgaben waren die Erforschung Osteuropas und der dort lebenden deutschen Minderheiten. Hierfür stellte die PuSte Kartenmaterial und eine große Bibliothek zusammen, erstellte Karteien und verfasste Bücher.45 Von einer kleinen Dienststelle entwickelte mando der Marine selbst wäre in Tambach stationiert gewesen. Freundlicher Hinweis von Rainer Grimm, Coburg. 45 Die Geschichte der PuSte kann generell als sehr gut erforscht gelten. Für alle, nicht direkt die Coburger Zeit betreffenden Aspekte sei auf diese allgemeine Literatur verwiesen: Helmut Schaller, Die ‚Publikationsstelle Berlin-Dahlem‘ und die deutsche Osteuropaforschung in der Zeit von 1933 bis 1945. In: Historische Mitteilungen 20 (2008) S. 193–216. – Martin Munke, „… die Interessen des deutschen Volkstums zu stützen und
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sich die PuSte zu einer mittleren Behörde mit bis zu 50 bis 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Mit Kriegsbeginn wurde die PuSte aus dem Verband der preußischen Staatsarchive herausgelöst und im Jahr 1943 dem Reichssicherheitshauptamt unterstellt. Dieser Schritt unterstrich nochmals die politische Komponente der PuSte, im Gegensatz zu der rein wissenschaftlichen Funktion, die Papritz und seine Mitarbeiter nach 1945 für sich reklamierten. Als die Gebäude der PuSte im Herbst 1943 durch Bombentreffer beschädigt und unbenutzbar geworden waren, zog die Dienststelle Anfang 1944 nach Bautzen um. Auf Grund der heranrückenden Front wurde es indes Papritz und seinen Kolleginnen und Kollegen auch hier zu gefährlich, so dass man sich um die Jahreswende 1944/45 wiederum nach Ersatz umschauen musste. Die Wahl fiel auf die Stadt an der Itz. Kossmann schildert in seinen Erinnerungen „Es begann in Polen“ in anschaulicher Weise, wie das Material der PuSte auf drei Eisenbahnwaggons aufgeladen wurde und es daraufhin zu dem Umzug nach Coburg kam: „Es war mein Ziel, die drei Güterwagen mindestens bis nach Bayern zu schaffen. Auf dem Bahnhof wurde mir indes entgegengehalten, nur noch die Eisenbahndirektionen Sachsen und Thüringen kämen in Frage. Fast jeder Zug werde aus der Luft beschossen, so dass die Fahrgäste, wenn der Zug rechtzeitig hält, in nahe Wälder oder anderes Versteck flüchten müssten. Ich habe einen solchen Angriff erlebt. Da kam mir zu Ohren, dass Teile Nordbayerns seit dem ersten Weltkrieg nur politisch an Bayern angegliedert waren, weil die dortige Bevölkerung es damals mehrheitlich so beschlossen habe. Sie gehörten aber weiterhin zur Eisenbahndirektion Thüringen! Diese einmalige Konstellation öffnete uns ein Schlupfloch. Ich wählte Coburg, das nach den Verkehrsbestimmungen noch zu erreichen war und doch bereits jenseits des Thüringer Waldes in der künftigen amerikanischen Besatzungszone, in Bayern, lag. (…) An einem grauen frühen Morgen, Ende Februar, trafen wir auf dem schlösschenartigen Coburger Bahnhof ein. Coburg selbst schien ganz unversehrt. Unsere Bücherschätze waren gerettet.“46 zu fördern“. Die Publikationsstelle Berlin-Dahlem 1931/33 bis 1943/44. In: Sven Kriese (Hrsg.), Archivarbeit im und für den Nationalsozialismus. Die preußischen Staatsarchive vor und nach dem Machtwechsel von 1933 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Forschungen 12), Berlin 2015, S. 259–293. 46 Oskar Kossmann, Es begann in Polen. Erinnerungen eines Diplomaten und Ostforschers, Lüneburg 1989, S. 204 f.
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Die PuSte bezog zunächst Räumlichkeiten bei der Fa. Koehn in der Lossaustraße 6 b; später erfolgte der Umzug in die Badergasse 7 in die Gastwirtschaft Zentralhalle. In der Literatur ist zu lesen, außer Papritz, Kossmann, Cosack und zwei Sekretärinnen seien keine Mitarbeiter der PuSte nach Coburg verlegt worden.47 Mit Hilfe der im Staatsarchiv Coburg verwahrten Unterlagen kann jedoch gezeigt werden, dass die PuSte mit einem weitaus größeren Mitarbeiterstab nach Coburg wechselte. Neben dem Leiter der Dienststelle, Johannes Papritz,48 war auch der stellvertretende Leiter, Wolfgang Kohte nach Bayern mitgekommen. Er bezog seinen Wohnsitz jedoch nicht in Coburg, sondern in Mitwitz. Über die Distanz scheint der Kontakt zur PuSte aber abgerissen zu sein, nur so ist es zu erklären, dass Kohte im März 1948 bei den Amerikanern nachfragen musste, wo denn die Bücher der PuSte verblieben seien.49 Ebenfalls in Coburg hielten sich auf der wissenschaftliche Mitarbeiter Oskar Kossmann und seine spätere Ehefrau Wally Gertraud, geb. Kohzer, die als Bibliothekarin bei der PuSte arbeitete, außerdem Harald Cosack, der seit 1943 als Leiter der Bibliothek tätig war. Als Verwaltungspersonal waren nach Coburg gekommen: die Buchhalterin Ursula Klicks, der Kassierer Rudolf Bahner (wohnte in Großgarnstadt), Hellmut Engel und Ilse Schröter, Sekretärin von Papritz. Schließlich befand sich in Coburg auch der Hausreferent der Dienststelle, Archivrat Herbert Ulbricht.50 Dies war der Zustand der Dienststelle auch noch im April 1945, als die Amerikaner Coburg besetzten.51 Am 9. Mai 1945 stellte sich Johannes Papritz den Amerikanern. Die Amerikaner merkten schnell, welchen besonderen Fang sie da in der Vestestadt gemacht hatten. Die PuSte verfügte über mannigfaltige Materialien und umfangreiche Informationen über die Lage in Osteuropa und die Situation in den Staaten bis hin zur SowjetSo Martin Munke, Vom Kriegseinsatz zur Friedensforschung? Johannes Papritz und die Restaurationsbemühungen um die Publikationsstelle Berlin-Dahlem in Coburg (1945 bis 1947). In: Hans-Christof Kraus – Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Historiker und Archivar im Dienste Preußens. Festschrift für Jürgen Kloosterhuis, Berlin 2015, S. 555–576. 48 StACo, SpK CO-Stadt P 13 (Johannes Papritz). 49 National Archives Washington, Records Group 260, Nr. 1948 (Correspondence OAD), Mitteilung an Kohte, 12.3.1948. Vgl. auch StABa, SpK Kronach K 366 (Wolfgang Kohte). 50 Auch der bekannte Autor und Ostforscher Dr. Hans von Rimscha hielt sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Coburg auf, obwohl er gar nicht bei der PuSte angestellt war, vgl. StACo, SpK CO-Stadt R 159. 51 Zum Folgenden vgl. insbesondere Helmut Schaller, Eine Osteuropabibliothek in Oberfranken. Die letzte Station der „Publikationsstelle Berlin-Dahlem“ in Coburg 1945 bis 1947. In: Archiv für Geschichte von Oberfranken 91 (2011) S. 277–286. 47
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union. Den Amerikanern war sogleich klar, dass diese Informationen im aufsteigenden Kalten Krieg mit der UdSSR von hohem Wert sein würden. Deshalb bemühten sie sich umgehend, die Bibliothek der PuSte für ihre Ziele zu nutzen. Nach einer Konferenz von Archivaren in Bamberg machte Lester K. Born, der zuständige Mitarbeiter der Archives Section bei der amerikanischen Militärregierung, einen Abstecher nach Coburg. Er besichtigte die Räumlichkeiten, in welchen die PuSte untergebracht war, und stellte zufrieden fest, dass die Unterlagen von der Polizei geschützt und gut eingerichtet seien; einzig zum Schutz gegen Regen sollte etwas unternommen werden.52 Von einer Konfiszierung wollte man vorerst absehen. Aber hinter den Kulissen liefen die Planungen weiter. Ende April 1947 schrieb Born an die Library of Congress und fragte an, ob dort Interesse an der Übernahme der PuSte, „a bureau which dealt exclusively with GermanSlavic questions“, bestünde.53 Die Coburger Stadtführung wollte eine Abwanderung der wertvollen Bücherbestände dagegen verhindern. Hier hatte sich unmittelbar nach dem Krieg ein „Institut für Völkerverständigung“ gegründet, welches zum Ziel hatte, den Friedenswillen in praktischer Weise zum Ausdruck zu bringen. Die Bibliothek der PuSte, so dachten sich die Initiatoren, könne als Grundstock für eine Forschungsstelle bei diesem Institut dienen.54 Diese Konzepte setzten Johannes Papritz, den Leiter der PuSte, unter großen Zeitdruck. Selbstverständlich wollte auch er verhindern, dass die Amerikaner die PuSte auflösten und ihre Bestände beschlagnahmten, aber Coburg schien ihm als künftige Wirkungsstätte zu unbedeutend zu sein. Er wollte sein Institut an eine etablierte Universität anschließen. Papritz und seine Mitarbeiter schwärmten aus und sondierten in Göttingen, Stuttgart, München, Marburg und Lüneburg, ob dort Interesse an einer Übernahme der PuSte-Bibliothek bestünde. Doch vorerst ohne Erfolg. Nach längerem Zögern beschlagnahmten die Amerikaner die PuSte und überführten ihre Bestände in ein Archivdepot in Hessen. Der Aufenthalt dieser Dienststelle in Coburg endete damit. Immerhin erreichten Papritz Aufzeichnung Born, 16.4.1947, National Archives Washington, Records Group 260, Nr. 31 (Archival Meetings). Born fiel insbesondere auf, dass die Bücherregale der PuSte mit allerlei Sinnsprüchen bekritzelt waren, wie zum Beispiel: „Das Leben ist wie Sauerkraut, wohl dem, der es gut verdaut.“ 53 Born an Evans, 23.4.1947, National Archives Washington Records Group 260, Nr. 72 (Libraries, Archives). 54 Vgl. Munke (wie Anm. 47). – Das Staatsarchiv Coburg verwahrt einen kleinen Bestand des Instituts. 52
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und Kossmann, dass sie nach der Umsiedlung der Buchbestände weiterhin als Betreuer der Unterlagen eingesetzt wurden. Schließlich konnten sie jedoch das Unvermeidliche nicht verhindern: im November 1947 wurde die Bibliothek nach Amerika in die Kongressbibliothek verbracht. Papritz, der gezwungen war, sich ein neues Tätigkeitsfeld zu suchen, ging nach Marburg und wurde dort Direktor der Archivschule. Erst viele Jahre später kam es zu einem für die PuSte zu einem – aus der Sicht Papritz‘ – versöhnlichen Ende: in den 1950er Jahren wurde die Bibliothek der PuSte wieder an die Bundesrepublik zurückgegeben. Die Buchbestände gelangten ebenfalls nach Marburg und bildeten hier den Grundstock für den neu gegründeten Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat (heute: HerderInstitut für historische Ostmitteleuropaforschung).55 Fa z i t Frau Margit Ksoll-Marcon hat sich in ihrer Amtszeit als Generaldirektorin der Staatlichen Archive immer auch mit viel Engagement für die Belange des Staatsarchivs Coburg eingesetzt. Für diesen unermüdlichen Einsatz sei ihr an dieser Stelle ausdrücklich gedankt. Damit ist es nicht nur gelungen, Coburg als traditionellen Archivstandort zu erhalten, sondern gleichzeitig, und das sollten die vorangegangenen Aufzeichnungen zeigen, als Hüter eines reichhaltigen Archiverbes zu wirken, welches ohne das Staatsarchiv Coburg möglicherweise verloren gegangen wäre. Denn eines ist sicher: als Coburg zu Bayern kam, übernahm der Freistaat auch ein reiches Archiverbe, welches als einzigartig zu gelten hat.
Vgl. die Bestandshinweise auf der Homepage des Herder-Instituts: https://www.herderinstitut.de/holdings/ (zuletzt abgerufen am 12.4.2022). 55