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German Pages [609] Year 2023
ARCHIVALISCHE ZEITSCHRIFT ARCHIVALISCHE ZEITSCHRIFT BAND 98
In diesem Band der Archivalischen Zeitschrift sind alle Vorträge des 2. Archivwissenschaftlichen Fachgesprächs „Archive im Alten Reich als Herrschaftsinstrumente“ vom Herbst 2019 veröffentlicht. Dazu kommen weitere archivgeschichtliche und archivwissenschaftliche Arbeiten.
98. Band
Herausgegeben von der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns
2022 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN
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ARCHIVALISCHE ZEITSCHRIFT 98. Band
Herausgegeben von der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns
2022 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN
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Archivalische Zeitschrift
1876 begründet und herausgegeben vom Königlich Bayerischen Allgemeinen Reichsarchiv, seit 1921 Bayerisches Hauptstaatsarchiv; ab 1972 herausgegeben von der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns. Schriftleitung: Margit Ksoll-Marcon Die Archivalische Zeitschrift pflegt das deutsche und internationale Archivwesen in allen seinen Zweigen einschließlich der Quellenkunde und der Historischen Hilfswissenschaften, soweit sich diese auf Archivalien beziehen. Die Zeitschrift erscheint in Jahresbänden. Manuskripte sind möglichst nur nach vorheriger Anfrage an die Schriftleitung einzusenden. Für den Inhalt der Beiträge einschließlich der Bildrechte für die Abbildungen zeichnen die Verfasserinnen und Verfasser verantwortlich. Werbeanzeigen und Beilagen besorgt der Verlag (Brill Deutschland GmbH | Böhlau Verlag, Lindenstraße 14, D-50674 Köln). Schriftleitung und Redaktion der Archivalischen Zeitschrift: Margit Ksoll-Marcon. Mitarbeit: Claudia Pollach und Karin Hagendorn. Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, Schönfeldstraße 5, 80539 München Postanschrift: Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, Postfach 22 11 52, 80501 München, E-Post: [email protected]
© by Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns Satz und Gestaltung: Karin Hagendorn Druck: Grafik + Druck digital K.P. GmbH, Landsberger Straße 318a, 80687 München ISSN 0003-9497 ISBN 978-3-412-52645-0
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Inhalt Autorinnen und Autoren der Beiträge.....................................................7 Margit Ksoll-Marcon, Einführung.....................................................9 Anett Lütteken, „Geheimniss mit schwerem Schloss und Riegel“? Skizzen zu einer Kulturgeschichte der Archive im Alten Reich......11 Elisabeth Weinberger, In die Registratur oder ins Archiv? Zur Zusammenarbeit von altbayerischen Archiven und Registraturen zwischen 1500 und 1800.......................................................................37 Gerhard Immler, Getrennt und doch ganz nah. Archiv und Registratur im Fürststift Kempten im 17. und 18. Jahrhundert.....................59 Klaus Rupprecht, Das Archiv des Hochstifts Bamberg. Bestände, Aufgaben und Verhältnis zu den Behördenregistraturen........................73 Joseph S. Freedman, Central European Publications on the Subject-Matter of Archives (1664–1804) in the Context of Ius Archivi.....101 Udo Schäfer, Hatten die Hansestädte im 16. und 17. Jahrhundert individuell das Ius Archivi inne? Zur Edition von Urkunden in einem Prozess zwischen dem Grafen zu Holstein-Pinneberg und der Hansestadt Hamburg vor dem Reichskammergericht..........................141 Joachim Wild, Das ius archivi – Wunschtraum und Wirklichkeit im Leben eines Registrators/Archivars in der Zeit um 1800.................205 Paul Warmbrunn, Geschichtsschreibung, Staatsrecht und Archivtheorie in den Territorien der pfälzischen Wittelsbacher (mit besonderer Berücksichtigung der pfalz-zweibrückischen Archivare Johann Heinrich und Georg August Bachmann).................................217 Daniel Burger, Das Geheime Archiv des Fürstentums Brandenburg-Ansbach und seine Blüte im 18. Jahrhundert..............................237 Denny Becker, Die Erfindung der Akte in der ostpreußischen Landesverwaltung................................................................................289 Holger Berwinkel, Max Lehmann und das Archiv der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen.......................................317
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Ludwig Biewer, Pergamenturkunden des Stadtarchivs von Reval/ Tallinn. Erinnerungen an eine unvollendete archivarische Arbeit und einige biographische Bemerkungen..............................................331 Philip Haas, „Organisches Wachstum“ und Provenienzprinzip. Grundlage oder Altlast der Archivwissenschaft?...................................353 Adelheid Krah, An der Schwelle zur Institutionenbildung. Ein mittelalterlicher Archivbehelf im bischöflichen Archiv zu Freising.......399 Clemens Regenbogen, Die Geschichte der archivarischen Ausbildung in Deutschland bis 1949/50. Ein Überblick aus Anlass des 200-jährigen Bestehens archivischer Schulen in Europa.......................461 Tom Tölle, Adelige Archivpraxis in der Weimarer Republik im Spannungsfeld von staatlicher Zentralisierung und regionaler Innovation. Das Beispiel der „Vereinigten Westfälischen Adelsarchive“.......489 Carolin Weichselgartner, Das Archiv der Deutschen Kapuzinerprovinz...........................................................................................521 Zusammenfassungen...........................................................................551 Summaries..........................................................................................566 Résumés..............................................................................................581 České resumé......................................................................................596
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Autorinnen und Autoren der Beiträge Becker, Denny, Dr., Archivleiter, Stadtarchiv Frankfurt (Oder), Rosa-Luxemburg-Straße 43, 15230 Frankfurt (Oder) Berwinkel, Holger, Dr., Archivoberrat, Universitätsarchiv Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Papendiek 14, 37073 Göttingen Biewer, Ludwig, Dr., Vortragender Legationsrat I. Klasse a. D., Leiter des Politischen Archivs und Historischen Dienstes des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Deutschland a.D., Schottmüllerstraße 128, 14167 Berlin Burger, Daniel, Dr., M.A., Archivoberrat, Staatsarchiv Nürnberg, Archivstraße 17 (bis voraussichtlich 2026 vorübergehendes Ausweichquartier: Rollnerstr. 14/4), 90408 Nürnberg Freedman, Joseph S., Dr., Prof., Department of History and Political Science, Alabama State University, Montgomery/Alabama, USA (Kontakt über die Schriftleitung) Haas, Philip, Dr., Archivrat, Niedersächsisches Landesarchiv, Abteilung Wolfenbüttel, Forstweg 2, 38302 Wolfenbüttel Immler, Gerhard, Dr., Ltd. Archivdirektor, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Schönfeldstraße 5, 80539 München Krah, Adelheid, Dr., Univ.-Doz./PD, Institut für österreichische Geschichtsforschung, Universitätsring 1, 1010 Wien, Österreich Ksoll-Marcon, Margit, Dr., M.A., Generaldirektorin der Staatlichen Archive, Schönfeldstraße 5, 80539 München Lütteken, Anett, Dr., PD, Zentralbibliothek Zürich, Leiterin der Handschriftenabteilung, Zähringerplatz 6, 8001 Zürich, Schweiz Regenbogen, Clemens, Dr., M.A., Assessor des Archivdienstes, Landesarchiv Baden-Württemberg, Abteilung Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Konrad-Adenauer-Straße 4, 70173 Stuttgart Rupprecht, Klaus, Dr., Archivdirektor, Staatsarchiv Bamberg, Hainstraße 39, 96047 Bamberg
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Schäfer, Udo, Dr., Direktor des Staatsarchivs der Freien und Hansestadt Hamburg, Kattunbleiche 19, 22041 Hamburg Tölle, Tom, PhD, MPhil. (Cantab.) MA., Weimar (Kontakt über die Schriftleitung) Warmbrunn, Paul, Dr., Oberarchivrat a.D. (Landesarchiv Speyer), Kirchenstraße 6, 67166 Otterstadt Weichselgartner, Carolin, Dr., Gemeindearchiv Neufahrn bei Freising (bis September 2022: Archiv der Deutschen Kapuzinerprovinz) (Kontakt über die Schriftleitung) Weinberger, Elisabeth, Dr., M.A., Archivoberrätin, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Schönfeldstraße 5, 80539 München Wild, Joachim, Dr., Prof., Direktor des Hauptstaatsarchivs a.D., Frauen ornau 6, 84419 Obertaufkirchen
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Einführung Von Margit Ksoll-Marcon Das 2. Archivwissenschaftliche Fachgespräch der Bayerischen Archivschule „Archive im Alten Reich als Herrschaftsinstrumente“1 fand im Herbst 2019 in der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns statt. Wolfgang Leesch untergliederte 1956 in seinem Aufsatz „Methodik, Gliederung und Bedeutung der Archivwissenschaft“ die Archivwissenschaft in vier Teildisziplinen: die Archivtheorie, die Archivgeschichte, das Archivrecht und die Archivtechnik.2 So stand bei diesem Fachgespräch die Archivgeschichte vor 1800 im Fokus. Konstatierte Reichsarchivar Franz von Löher 1876, dass die Archive des Alten Reichs nur schwer auf einen Nenner zu bringen seien: „Das alte deutsche Reich war ein echter Wucherboden für Archive“3, so forderte Wilfried Reininghaus 2008, dass eine Archivgeschichte, die ihren Namen verdient, hinter die „Kulissen schauen“ müsse. Sie ist, so schreibt er unter Berufung auf Norbert Reimann, vor allem aufgerufen, die „direkten Wechselbeziehungen zwischen politischer Herrschaftsausübung bzw. politischem System und archivischer Arbeit“ zu behandeln.4 Dem sollte im Fachgespräch in Teilbereichen nachgegangen werden. Gerade an der Bayerischen Archivschule spielt die Archivgeschichte im Unterricht eine
S. dazu: Andreas Schmidt, Fachgespräch „Archive im Alten Reich als Herrschaftsin strumente“. In: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns Nr. 78/2020, S. 13–15. 2 Wolfgang Leesch, Methodik, Gliederung und Bedeutung der Archivwissenschaft. In: Archivar und Historiker. Studien zur Archiv- und Geschichtswissenschaft. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Otto Meisner. Hrsg. von der staatlichen Archivverwaltung im Staatssekretariat für Innere Angelegenheiten. Wissenschaftliche Redaktion: Helmut Lötzke und Hans-Stephan Brather (Schriftenreihe der staatlichen Archivverwaltung 7), Berlin 1956, S. 13–26. 3 Franz von Löher, Vom Beruf unserer Archive in der Gegenwart. In: Archivalische Zeitschrift 1 (1876) S. 4–74, hier S. 23. 4 Wilfried Reininghaus, Archivgeschichte. Umrisse einer untergründigen Subdisziplin. In: Archivar 61 (2008) S. 352–360, hier S. 353. Das Zitat ist übernommen aus Norbert Reimann, Archive und Herrschaft. In: Jens Murken (Redaktion), Archive und Herrschaft. Referate des 72. Deutschen Archivtags 2001 in Cottbus (Der Archivar. Beibände 7), Siegburg 2002, S. 3–8, hier S. 4. 1
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Margit Ksoll-Marcon
wichtige Rolle, erlebten verschiedene Bestände der staatlichen Archive im Laufe der Jahrhunderte doch eine wechselvolle Geschichte. In die Thematik des Fachgesprächs führte PD Dr. Anett Lütteken mit einem Vortrag zu „Geheimniss mit schwerem Schloss und Riegel“? Skizzen zu einer Kulturgeschichte der Archive im Alten Reich ein. Das Kolloquium bestand aus drei Sektionen: Sektion I: Das Verhältnis von Archiven und Registraturen in den Territorien des Alten Reichs mit je einem Beispiel aus Altbayern, Schwaben und Franken. Sektion II: Das ius archivi – Zur Rechtsstellung von Archiven und Archivalien und deren Rechtskraft. Sektion III: Archivarische Tätigkeitsfelder – Historiographie zur Herrschaftslegitimation. In der vorliegenden Archivalischen Zeitschrift sind alle Vorträge des 2. Archivwissenschaftlichen Fachgesprächs veröffentlicht (S. 11–288). Dazu kommen im zweiten Teil (S. 289–550) weitere archivgeschichtliche und archivwissenschaftliche Arbeiten mit einem breiten Themenspektrum vom Mittelalter bis in die Gegenwart.
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„Geheimniss mit schwerem Schloss und Riegel“? Skizzen zu einer Kulturgeschichte der Archive im Alten Reich Von Anett Lütteken Di e E i g e n s c h a f t e n e i n e s g u t e n A r c h i v a r s Im Jahr 1786 veröffentlichte der Geheime Archivar Karl von Eckartshausen (1752–1803) unter dem Titel „Ueber praktisch-systematische Einrichtung fürstlicher Archiven überhaupt“ einige grundsätzliche Überlegungen zur Archivtheorie und -praxis.1 Das vom kurfürstlichen Hof-Kupferstecher Georg Michael Weissenhahn (1741–1795)2 hierfür gestaltete Titelblatt des Bändchens zeigt die emblematische Darstellung eines mittelgro-
Karl von Eckartshausen, Ueber praktisch-systematische Einrichtung fürstlicher Archive überhaupt (wie Anm. 1) – Titelbild von Georg Michael Weissenhahn. 1 Karl von Eckartshausen, Ueber praktisch-systematische Einrichtung fürstlicher Archiven überhaupt, München 1786. – Zu dessen Werdegang vgl. Hans Grassl – Friedrich Merzbacher, „Eckartshausen, Karl von“. In: Neue Deutsche Biographie, Band 4, Berlin 1959, S. 284–285 [Online-Version]: https://www.deutsche-biographie.de/pnd119552590. html#ndbcontent (aufgerufen 21.5.2021). 2 Als Geburtsjahr wird auch 1744 angegeben [Indexeintrag]: https://personenlexika.digitalesammlungen.de – Georg Michael Weissenhahn (GND 128655712) (aufgerufen 21.5.2021).
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Anett Lütteken
ßen Hundes, der, gemäß der beigegebenen Devise, „treu und wachsam“ (wenn auch etwas instabil) auf einigen Archivalien steht. Die seit Plinius sprichwörtliche Treue des Hundes wie seine unverbrüchliche Ergebenheit gegenüber seinem Herrn wird damit sinnbildlich wie buchstäblich auf die Arbeit eines in fürstlichem Auftrag tätigen Archivars übertragen.3 Obwohl das Tier ostentativ zurück und wohl in eine ferne Historie blickt, so ist es doch bemerkenswert, dass es zugleich imstande ist, eine ganz offenkundig eminent wichtige Arbeit zu versehen. Und auch wenn man in die Illustration womöglich zu viel hineinlesen würde, wollte man hier die erste Sichtung von archivischen Neuzugängen, die konservatorische Prüfung sowie die standardisierte Erschließung von Einzelstücken abgebildet sehen, so ist doch kaum zu übersehen, dass linker Hand, auf der obersten Stufe nämlich, bereits eine durchaus akzeptable Ordnung erreicht worden ist, von der verschnürte und sauber gestapelte Urkunden zeugen. Was von Eckartshausen in diesem Band mitteilte, war zweifelsohne empiriegesättigt und hochgradig sachkundig, auch wenn er selbst recht eigentlich als ein Autodidakt in diesem Metier gelten mußte: Der gelernte Jurist und spätere Hofrat und Geheime Archivar interessierte sich für in stitutionelle Fragestellungen aller Art, für das Archivbauwesen ebenso wie für die innere Ordnung von Archiven oder die juristische Relevanz von Archivalien. Fraglos spielte er zudem in der bayerischen Archivgeschichte eine immer wieder auch politisch bedeutsame Rolle:4 So verteidigte er z.B. im Jahr 1789 auf der Basis von „Urkunden, und authentischen Papieren“ die „Vorzugs-Rechte der Churfürsten und Herzoge in Baiern gegen die Anmaßungen der Erzbischöfe von Salzburg“.5 Unabhängig hiervon ging Vgl. C. Plinii Naturalis historiae. Libri XXXVII, Liber VIII / C. Plinius Secundus d.Ä., Naturkunde. Lateinisch–deutsch, Buch VIII. Zoologie: Landtiere. Roderich König – Gerhard Winkler (Hrsg./Übers.), 2. Auflage, München 2007, LXI, 142–LXIII, 153, passim, beginnend mit „fidelissimumque ante omnia homini canis atque equus.“ 4 Vgl. die ausführliche Würdigung der Verdienste Eckartshausens bei Max Josef Neu degger, Geschichte der Bayerischen Archive neuerer Zeit bis zur Hauptorganisation vom Jahre 1799, München 1881, S. 87–107, hier S. 87–99; zur (aus 36 Paragraphen) bestehenden „Hausinstruktion“ vgl. S. 89, zur „Systematisirung der Urkunden“ S. 91–94, zur „Erhaltung der historischen Denkmäler des Landes“ S. 97 (vgl. auch die Fassung in: Archivalische Zeitschrift 7 [1882] S. 89 –101). 5 Vgl. hierzu: [Karl von Eckartshausen], Vertheidigte hohe Vorzugs-Rechte der Churfürsten und Herzöge in Baiern gegen die Anmaßungen der Erzbischöfe von Salzburg. Als einer Gegenschrift der beurkundeten Beiträge zur Geschichte, und Prüfung des Vorzugs der Erzbischöfe zu Salzburg vor den Churfürsten zu Pfalz, als Herzogen zu Baiern. Mit Urkunden, und authentischen Papieren belegt. [„Gedruckt im h.r. Reiche 1789“]. – Vgl. Max 3
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es ihm aber offenbar in hohem Maße um eine weltanschaulich bzw. philosophisch grundierte Definition von Sinn und Zweck der Archivarbeit. Dementsprechend finden sich im erwähnten Kompendium in Form eines knappen Katalogs neben Gedanken zur Berufsethik solche zur Mentalität, die zur Ausübung dieses Berufs aus Sicht Eckartshausens zwingend vorauszusetzen waren. Dass etwa ein enger Zusammenhang zwischen staatlicher Stabilität und archivarischer Ordnungsliebe („Ordnung ist die Seele aller Sachen“) besteht, mag als Erkenntnis trivial erscheinen und hatte als Ermahnung für alle an den Arbeitsabläufen Beteiligten zugleich doch substantielle Bedeutung.6 Die Anlage des Werks belegt die Ernsthaftigkeit seines Anliegens sinnfällig, indem die Grundfragen archivarischer Arbeit abschnittweise in Form von Fragen abgehandelt wurden, wie sie eigentlich bei katechetischen Unterweisungen üblich waren. Nüchterne Sachlichkeit als Quintessenz aufklärerischer Denkart trat dabei an die Stelle der sonst auf diese Weise zusammengefassten christlichen Heilslehren. Neben den aus naheliegenden Gründen sehr ausführlich behandelten materialen Aspekten7 ging es dabei aus verschiedenen Blickrichtungen um die Einstellung des Archivars zu seiner Tätigkeit als Bedingung für den Erfolg der Institution selbst:8 Die „Liebe zur Geschichte und Diplomatik“ etwa dürfe nicht zur „Leidenschaft“ werden.9 Die damit postulierte relative Kühle und Leidenschaftslosigkeit, die Gabe mithin, sine ira et studio mit den anvertrauten historischen Dokumenten umzugehen, galt Eckartshausen neben einem ausgeprägten kritischen Urteilsvermögen, einer bezähmten Neigung zum Positivismus, handwerklichem und hilfswissenschaftlichem Knowhow, guter Menschenkenntnis und einer uneingeschränkten Loyalität gegenüber dem
Josef Neudegger, Geschichte der pfalz-bayerischen Archive der Wittelsbacher, Teil IV: Das Kur-Archiv der Pfalz zu Heidelberg und zu Mannheim. In: Archivalische Zeitschrift 14 [N.F. 1] (1890) S. 203–240. 6 Eckartshausen (wie Anm. 1) S. 3 f., Zitat: S. 5; vgl. S. 51 f. (zum „Vorurtheil, daß man Archiven nie in Ordnung bringen müsse, damit in Kriegszeiten der Feind nichts finden kann.“). 7 Vgl. z.B. ebd. S. 17–19 (Feuer), S. 36 f. (Verpackung), S. 53–58 (Papier), S. 61–63 (Pergamenturkunden) usw. 8 Vgl. (ebd. S. 28) die Gedanken zur „Männlichkeit“, die erforderlich ist, um bei der temporären Ausleihe von Dokumenten intendierte informelle durch verbindliche schriftliche Vereinbarungen zu ersetzen, um so fürstlichen Interessenlagen langfristig Genüge zu tun und Dokumentenschwund vorzubeugen. 9 Ebd. S. 116.
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jeweiligen Herrscher als zwingende Voraussetzung, um ein ‚guter‘ Archivar zu sein oder es werden zu können.10 Anteilig sollte dieser im Idealfall zudem ein philosophisch denkender, politisch versierter sowie ein durch und durch verantwortungsbewußter Beamter sein, mit einem aus dem hohen Grad seiner Bildung resultierenden umfassenden Pflichtenheft und -bewusstsein. Eine Stütze des Staates also, die sich, wie Eckartshausen notierte, „von dem Gesumse der Dumköpfe und Schuften nicht irre machen“ lässt,11 sondern kompromißlos seine Arbeit erledigte. Letzteres „mit Würde“ gegenüber dem Herrscher ebenso wie gegenüber seinen „Mitbürger[n].“12 Dem derart postulierten, ausgesprochen positiven, die Rolle des Individuums im institutionellen Gefüge stark betonenden Menschenbild entsprach es, dass er Archivaren im erwähnten ‚Katechismus‘ riet, ihr Metier jenseits der herausfordernden Alltagsgeschäfte stets zugleich mit professioneller Distanz zu betrachten und sich dabei einige sehr grundsätzliche Fragen zu stellen bzw. diese nicht zu vergessen: „Was ist ein Archiv“, „Was ist der Gegenstand – Endzweck“, „Was die Mittel diesen Endzweck zu erreichen“, „Wie kann ich diese Mittel am schicklichsten anwenden.“13 Alles in allem ging es Eckartshausen somit wohl nicht zuletzt um die Ausbildung von im besten Sinne ‚aufgeklärten‘ Archivaren, was seine im späten Ancien Régime erschienene Publikation zu einer Art Fazit der zahlreichen im 18. Jahrhundert unternommenen Anstrengungen zur Optimierung der Beschaffenheit und Funktionalität von Archiven machte. Und doch ist dies nur eine Stimme im bemerkenswert vielstimmigen Chor diesbezüglicher zeitgenössischer Verlautbarungen, die eine wachsende Sensibilität für die Relevanz archivarischer Arbeit im gesamtgesellschaftlichen Kontext bezeugen. Di e A r c h i v g e s c h i c h t e d e s A l t e n Re i c h s : D e s i d e r a t e Dass Kleinteiligkeit und Heterogenität der Territorien die Erforschung der Institutionalisierung des Archivwesens im Alten Reich zu einem komplexen Unterfangen machen, versteht sich. Lange bekannt sind darüber hinaus die gerade in diesem Bereich vorhandenen Desiderate. Wilfried Ebd. S. 116–118. Ebd. S. 117. 12 Ebd. S. 9. 13 Ebd. S. 10. 10 11
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Reininghaus hat bereits 2008 in seinem grundlegenden Beitrag „Archivgeschichte. Umrisse einer untergründigen Subdisziplin“ präzisiert, was zu tun wäre, wollte man staatliches bzw. nationales Werden aus archivgeschichtlicher Perspektive angemessen betrachten.14 Zudem ist es bedauerlich, dass, trotz ‚material turn‘ und modischer Begriffsspielereien einiger Kulturwissenschaftler,15 die unter ‚Archiv‘ Manches verstanden wissen wollen, kaum je aber das Archivwesen neuzeitlicher Prägung als zivilisatorische Errungenschaft im engeren Sinne,16 von dieser Seite kaum substantieller Erkenntniszugewinn zu erwarten ist.17 Jenseits solcher nur bedingt kompatiblen Forschungsaktivitäten also bleibt auf absehbare Zeit das respektgebietend umfangreiche und im Detail noch stärker zu systematisierende Gebiet der institutionellen Archiv-Historiographie ein lohnendes Arbeitsgebiet. 14 Wilfried Reininghaus, Archivgeschichte. Umrisse einer untergründigen Subdisziplin. In: Archivar 61 (2008), Heft 4, S. 352–360 (https://www.archive.nrw.de/sites/default/ files/media/files/ARCHIVAR-04-2008_Internet.pdf ) (aufgerufen 21.5.2021). – Vgl. Markus Friedrich, Introduction: New perspectives for the history of archives [zu 9. Archival Practices. Producing Knowledge in early modern repositories of writing]. In: Arndt Brendecke (Hrsg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte (Frühneuzeit-Impulse 3), Köln u.a. 2015, S. 468–472. 15 Vgl. z.B. die für den kulturwissenschaftlichen Ansatz repräsentativen Ausführungen zum „stereotype[n] Bild des Archivraums als arcana imperii“ [Hervorhebung in der Vorlage] in Kombination mit der an Michel Foucault angelehnten Begriffsdefinition, was ein Archiv sei, in: Anja Horstmann – Vanina Kopp, Archiv – Macht – Wissen. Organisation und Konstruktion von Wissen und Wirklichkeiten in Archiven. In: Anja Horstmann (Hrsg.), Archiv – Macht – Wissen. Organisation und Konstruktion von Wissen und Wirklichkeiten in Archiven, Frankfurt-New York 2010, S. 9–22, hier S. 9 und 18. 16 Hierzu: Christian Keitel, Zwölf Wege ins Archiv. Umrisse einer offenen und praktischen Archivwissenschaft, Stuttgart 2018, S. 62: „Die seit Derrida zunehmend unreflektierte Verwendung des Archivbegriffs in Kontexten aller Art macht deutlich, wie dringend die Archivwissenschaft einen Archivbegriff benötigt, der einerseits intern konsensfähig und in den Archiven produktiv einsetzbar ist, zugleich aber auch nach außen wohl definierte Schnittstellen schafft, in denen sich Kooperation mit anderen Wissenschaften ereignen könnte.“ 17 Vgl. Dietmar Schenk, Getrennte Welten. Über Literaturarchive und Archivwissenschaft. In: Petra-Maria Dallinger – Georg Hofer – Bernhard Judex (Hrsg.), Archive für Literatur. Der Nachlass und seine Ordnungen (Literatur und Archiv 2), Berlin-Boston 2018, S. 25–62, hier S. 56: „Das Thema „Archiv“ wird in den Kulturwissenschaften seit ungefähr zwei Jahrzehnten in einem Diskurs aufgegriffen, der mit der „klassischen“ Archivwissenschaft nichts zu tun hat, in den bibliothekarisch geprägten Literaturarchiven aber auf Resonanz stößt. Zumindest in Deutschland herrscht zwischen beiden Seiten eine erstaunliche Sprachlosigkeit […].“ (https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110594188002/html) (aufgerufen 21.5.2021).
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Anett Lütteken
Nicht von ungefähr hatte bereits Franz von Löher (1818–1892) im ersten Jahrgang der „Archivalischen Zeitschrift“ 1876 in programmatischer Absicht die komplexen Funktionen von Archiven in ihren jeweiligen Kontexten als Phänomen mit zahlreichen, weit darüber hinaus weisenden historiographischen ‚Leerstellen’ beschrieben: Die durch territoriale Zersplitterung und dem damit verknüpften herrschaftlichen Legitimationsdruck entstandenen „Archivgewölbe“ eines Fürsten des späten Mittelalters oder der Frühen Neuzeit seien sukzessive zu „Rüstkammern für Waffen des Angriffs und der Vertheidigung“ geworden und mit „schriftlichen Beweisen ohne Ende“ befüllt gewesen.18 Das habe, so Löher, dazu geführt, dass sich „das Geheimniss mit schwerem Schloss und Riegel vor die Archive“ legte – seither seien diese undenkbar ohne „Heimlichkeit und siebenfache Schlösser“.19 Geblieben ist darüber hinaus dieses, hier noch dazu von einem Archivar bediente,20 aber auch sonst verbreitete klischeelastige Gepräge der Archivwelt(en) bis heute. Da die romantische Vorstellung von einer geheimnisvollen, für die meisten Menschen stets unzugänglich bleibenden Welt hinter den „Schlösser[n]“ so ungemein reizvoll scheint, verwundert es kaum, dass sie Anlass zu Spekulationen und Projektionen bot und bietet: Wer würde nicht (noch immer) von unverhofften Entdeckungen in solchen Räumen träumen? Auch ist die institutionelle Geschichtsschreibung dort, wo sie von Einzelfällen und regionalen Besonderheiten zu abstrahieren sucht und auf langfristige Prozesse oder den Nachweis von Strukturwandel abzielt, in mancherlei Hinsicht herausfordernd. So ist das punktuell eher vage Wissen um die Verhältnisse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation 18 Franz von Löher, Vom Beruf unserer Archive in der Gegenwart. In: Archivalische Zeitschrift 1 (1876) S. 4–74, hier S. 5 und 6. – Vgl. Margit Ksoll-Marcon, Reichsarchivdirektor Franz von Löher. In: Archivalische Zeitschrift 94 (2015) S. 11–28. 19 Zitate: Löher (wie Anm. 18) S. 5 und 6. – Vgl. in Karl Friedrich Bernhard Zinkernagel, Handbuch für angehende Archivare und Registratoren, Nördlingen 1800, S. VIII f., verwandte Formeln wie „die unterirdischen Gewölbe des grauen Alterthums“ oder „das ängstliche Geheimniß […] warf endlich den düstern Schleyer ab […].“ 20 Andere Fachleute sprachen mit Blick auf Archive vom „Heiligthume“ (Friedrich Franz Schal, Zuverläßige Nachrichten von dem zu Mainz aufbewahrten Reichs-Archiv […], Mainz 1784 („Vorbericht“ [o.S.])), während Franz Xaver Bronner nüchtern betonte, gerade „nicht zu den schlauen Mensche[n] [zu] gehöre[n], welche die Registraturwissenschaft als ein Geheimniß behandelt wissen wollen.“ (Franz Xaver Bronner, Anleitung, Archive und Registraturen nach leichtfaßlichen Grundsätzen einzurichten und zu besorgen, Aarau 1832, S. 4).
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Kulturgeschichte der Archive im Alten Reich
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im Allgemeinen wie in den Archiven des Alten Reichs im Besonderen geradezu exemplarisch für die offenkundig kaum überwindbare Hürde, verwaltungs- und rechtsgeschichtliche Fragestellungen mit institutions- und allgemeineren sozial- und kulturgeschichtlichen zu verknüpfen. Das ahnte wohl schon der junge Johann Gottfried Herder (1744–1803), als er in seinem polemisch gehaltenen „Gutachten“ über die „Reichsgeschichte“ 1769 festhielt, dass der „Historiograph“ in jedem Fall auch „Schild- und Wappenträger des Heil. Römischen Reichs“ werden müsse, ob „er wolle, oder nicht“.21 Seine Aversion gegen „reichsurkundliche Trockenheit“ verhehlte Herder dabei ebenso wenig wie sein Unverständnis gegenüber dem von manchen Historikern seiner Zeit praktizierten Ansatz, „Reichsgeschichte und Geschichte Deutschlands“ losgelöst voneinander betrachten zu wollen.22 Zu den Errungenschaften der heutigen Zeit zählt im Gegensatz dazu, dass einschlägige Forschungen wie die von Barbara Stollberg-Rilinger oder Markus Friedrich, die beide den engen Konnex von Gelehrten- und Archivkultur im Kontext der Reichsgeschichte betonen, in eine neue Erkenntnisse erst ermöglichende Richtung weisen.23 Di e Su c h e n a c h d e r E i n h e i t i n d e r Ma n n i g f a l t i g k e i t d e s A l t e n Re i c h s u n d s e i n e r In s t i t u t i o n e n Um die erwähnten traditionellen historiographischen Arbeitsfelder inbesondere um eine kulturgeschichtliche Dimension im emphatischen Sinne erweitern und sie damit nicht zuletzt auch stärker in die Dixhuitiè
Johann Gottfried Herder, Kritische Wälder oder Einige Betrachtungen die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maasgabe neuerer Schriften. Drittes Wäldchen noch über einige Klotzische Schriften, Riga 1769, S. 156–171 (Zitat S. 169). 22 Ebd. S. 169 und S. 170 f.; Herder warf Christian Adolf Klotz (1738–1771) vor, in seinem „Beytrag zur Geschichte des Geschmacks und der Kunst aus Münzen“ (Altenburg 1767) mangels eigener Sachkenntnisse die Arbeiten der Historiker Bünau, Mascov und Pütter nicht angemessen beurteilt zu haben und die universalhistorischen Arbeiten von Carl Renatus Hausen (1740–1805) ungerechtfertigt zu loben. 23 Vgl. Markus Friedrich, Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013, S. 94; Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, 2. Auflage, München 2013, S. 305–307, u.a. zur Interpretation des Titelkupfers (das Reich verstanden als „Palast der Bücher und Akten“, S. 307) aus: Johann Carl König, Gründliche Abhandlung von denen Teutschen ReichsTagen überhaupt und dem noch fürwährenden zu Regensburg insbesondere […], Nürnberg 1738. 21
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mistik einbinden zu können, bleibt also Einiges zu bedenken:24 Langfristiger institutioneller Wandel, wo er sich systematisch dokumentieren lässt, namentlich aber auch die Initiative und das Engagement einzelner Persönlichkeiten im wechselseitigen Austausch und gespiegelt in einschlägigen Korrespondenzen wären hierbei deutlich stärker noch zu berücksichtigen, dazu das vorhandene Wissen über die heterogenen rechtlichen Voraussetzungen und organisatorischen Verhältnisse in den einzelnen Territorien und den Status quo verschiedener Reichsinstitutionen.25 Um die aus dieser spezifischen Perspektive zusammenzuführenden Arbeitsfelder hier wenigstens rudimentär skizzieren zu können, sollen in einem ersten Schritt Anliegen und Arbeiten einiger Historiographen der Reichsgeschichte vorgestellt werden. Danach werden die Konzepte einiger institutioneller Vordenker zu berücksichtigen sein, die, flankiert von Archivpraktikern, zur ebenfalls gedanklich einzubeziehenden Verwissenschaftlichung, Theoriebildung und Didaktik des Archivwesens beigetragen haben.26 Schließlich soll die Reorganisation des Archivwesens in BadenDurlach durch Carl Friedrich Drollinger (1688–1742) als Beispiel für den erkenntnisstiftenden Nutzen der hier vorgeschlagenen perspektivischen Weitung herangezogen werden. Darüber hinaus bleibt auf einer übergeordneten Ebene die Frage bzw. die Berechtigung der Annahme zu diskutieren, ob bzw. dass der institutionellen Entwicklung der Archive im 17. und 18. Jahrhundert eine spezifische, von sonstigen Diskursen nur bedingt oder allenfalls zeitlich versetzt berührte Dynamik eignete, die nicht unbedingt deckungsgleich war mit der Verbreitung des Gedankenguts der Aufklärung. Zu fragen ist also konkret, woran aufgeklärtes Denken im Archivwesen des Reiches gegebenenVgl. Friedrich (wie Anm. 23) den Abschnitt „Projektionen. Archive im Denken der Frühen Neuzeit“, S. 89–119. – Zum schwierigen Verhältnis der Aufklärer zum Reich wie zu dessen „strukturelle[r] Reformunfähigkeit“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Barbara Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806, 6., aktualisierte Auflage, München 2018, S. 99–109 (Zitat S. 108). 25 Zur Arbeitsteilung von „Reichshofkanzlei“, „Reichserzkanzlerarchiv“, „Reichserbmar schallsarchiv“ und „Reichskammergerichtsarchiv“ schon: Adolf Brenneke, Archivkunde. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte des europäischen Archivwesens, bearb. nach Vorlesungsnachschriften und Nachlaßpapieren und ergänzt von Wolfgang Leesch, Leipzig 1953, S. 121–124. 26 Allgemein hierzu: Adolf Brenneke, Archivtheorien. In: Dietmar Schenk (Hrsg.), Adolf Brenneke, Gestalten des Archivs. Nachgelassene Schriften zur Archivwissenschaft (Veröffentlichungen des Landesarchivs Schleswig-Holstein 113), Hamburg 2018, S. 73–89. 24
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falls erkennbar wäre, und ob dieses Denken sich tatsächlich in Form von institutioneller Weiterentwicklung manifestiert hat. Unabhängig von den gewaltigen zerstörerischen Potentialen der Französischen Revolution wäre diese Art von Fortschritt beispielsweise hinsichtlich der administrativen und organisatorischen Errungenschaften in ihrem Gefolge aus naheliegenden Gründen anzunehmen.27 Welche Einflußmöglichkeiten Einzelne hierbei hatten und/oder überhaupt haben konnten, wäre ebenfalls von übergeordneter Warte her zu betrachten. Es sind dies also sehr viele lose Fäden, die man einstweilen auch nur lose verknüpfen kann. Nicht abschreckend, sondern eher ermutigend mag daher die von Stollberg-Rilinger wahrgenommene und der Tendenz nach positiv konnotierte „grundsätzliche Mehrdeutigkeit“ des Alten Reiches sein, die zwar ungleichzeitigen Tendenzen Raum bot, zugleich aber eben auch Reformansätzen und Innovationen.28 Di e ( u n b e k a n n t e ) Re i c h s g e s c h i c h t e u n d i h re Hi s t o r i o g r a p h e n : Pe r s ö n l i c h k e i t e n , D a r b i e t u n g s f o r m e n u n d Fu n k t i o n e n Ein Ehrenplatz in einer Kulturgeschichte der Archive des Alten Reiches würde auf jeden Fall der tendenziell etwas zu wenig beachteten Gruppe von Juristen und Beamten gebühren, die sich im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert darum bemüht hatte, die Geschichte des Reichs aus ihrer jeweiligen Perspektive und auf Basis umfassender Quellenkenntnisse aufzuarbeiten. Herders oben erwähnte, wenig freundliche Formel von der „reichsurkundliche[n] Trockenheit“ hatte bei diesem ausgesprochen sachkundigen Personenkreis gewissermaßen ihren Ursprung. Was Herder als öde, weil strikt urkundenbasierte Historiker-Rhetorik abtat, ist gleichwohl ungemein respektgebietend. Allein schon deshalb, weil die Früchte der Vgl. Wolfgang Hans Stein, Une archivistique alternative? Le traitement des archives des départements français d’Allemagne de l’époque révolutionnaire et impériale. In: La Gazette des archives, N° 162 (1993) S. 189–203. – L’administration de la France sous la Révolution (Ecole pratique des Hautes Etudes, IVe Section, Sciences historiques et philologiques, V, Hautes Etudes médievales et modernes 69), Genève 1992. – Léon de Laborde, Les Archives de la France, leurs vicissitudes pendant la Révolution, leur régénération sous l’Empire, Paris 1867. 28 Stollberg-Rilinger (wie Anm. 23) S. 249. – Vgl. zur traditionellen Betonung der defizitären Organisationsstrukturen des Reichs: Steffen Martus, Aufklärung – ein Epochenbild. Das deutsche 18. Jahrhundert, Berlin 2015, S. 197 f. 27
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Hiob Ludolf, Allgemeine Schau-Bühne der Welt (wie Anm. 29) – Titelbild von Romeyn de Hooghe.
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entsagungsvollen Arbeit zumeist als Drucke von deutlich über 500 bzw. nicht selten auch über 1000 Seiten und in mehreren Bänden publiziert und zu ihrer Zeit durchaus intensiv rezipiert worden sind. Zu nennen wäre hier neben anderen die annalistisch geordnete „Allgemeine Schau-Bühne der Welt“ des 17. Jahrhunderts, die Hiob Ludolf (1624–1704) 1699 publizierte.29 Nicht übersehen werden sollte bei dieser ereignisgeschichtlich und regionsspezifisch orientierten – und in der Tat: trockenen – Darstellungsform, dass Ludolf bereits im Titel seines Werkes die Relevanz der Arbeiten von „beglaubten Geschicht-Schreibern“ wie auch von „bewährten Uhrkunden“ als eine ‚zweigleisige‘ und daher als ebenso transparente wie nachvollziehbare Methode der Geschichtsschreibung hervorhob. Sichtbar wurde diese Wertschätzung der abgesicherten materialen Basis darüber hinaus auch im unteren Drittel des Titelkupfers des Bandes, wo sich die abzuwägenden Informationen wiederum in Form von einschlägigen Drucken und Urkunden repräsentiert finden. Der „Inhalt des Kupffer-Tituls“ wird dementsprechend wie folgt beschrieben: […] Unden wird die Wahrheit deß Historien-Schreibers vorgestellet / die sitzet oben nackend / mit der Sonn auf ihrer Brust; Sie hat Flügel vom Verstand auf ihrem Haupt / und ist unden bedeckt mit einem Stern-Kleid. Sie schreibt Historien von der Zeit / wägende mit einem alten Wagbälcklein die particularitäten der Historien / so wol gedruckte / als in den Archiven geschriebene und versiegelte Wahrheiten. […]. Ludolf war als Mitglied des „Collegium Imperiale Historicum“ wie als Bevollmächtigter der deutschen Fürsten diplomatisch versiert und für den Kurfürsten von der Pfalz ebenso wie für die sächsischen Herzöge und den Kurfürsten von Sachsen tätig gewesen. Seine besondere Nähe zu diesen [Hiob Ludolf ], Allgemeine Schau-Bühne der Welt / Oder: Beschreibung der vornehm sten Welt-Geschichte, So sich vom Anfang dieses Siebenzehenden Jahr-Hunderts Biß zum Ende desselben / In allen Theilen des Erd-Kreisses / zumahlen in der Christenheit / Sonderlich in unserm Vatterland Dem Römischen Reiche / Nach und nach begeben; Aus beglaubten Geschicht-Schreibern und bewährten Uhrkunden treulich zusammen getragen […], Frankfurt 1699. (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: Ge 2° 4:1); das Titelbild wurde von Romeyn de Hooghe (1645–1708) angefertigt; ähnlich ostentativ aufklärerisch wurde auch das Titelbild zu: Ludovico Muratori, Antiquitates Italicae […], Mailand 1738, gestaltet: Das Dunkel der Geschichte (gezeigt in Form von steinernen Inschriften und Urkunden) wird hier durch Einsatz von Lichtquellen beseitigt. 29
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„[h]ohe[n] Häupter[n]“30 zeigte sich nicht zuletzt in den prominent zu Beginn des Bandes gezeigten Porträts. Anzunehmen ist zudem, dass er selbst, als kaiserlicher Rat, hinsichtlich des Zugangs zu Archivalien in ganz besonderer Weise privilegiert war. In der „Vorrede. An den Günstigen Leser“ beschrieb er sein auch konzeptionell ambitioniertes Anliegen und das anderer historisch Interessierter näher: Es sei das Ziel, dass etliche patriotische gelehrte Leute / aus sonderbahrer Liebe zu unserm Vaterland und zu Ehren der alten weitberühmten Teutschen Nation sich miteinander verglichen / die Teutschen Geschichte […] von den uhrältisten Zeiten an zu beschreiben. Zu dem Ende sie ein Collegium Imperiale Historicum untereinander angestellet / mit der Abrede: daß ein jeder / ein gewiß Jahrhundert […] oder ein Stück desselben ausarbeiten solte.31 Im losen, dennoch aber institutionalisierten Historikerverbund also sollte kollektiv das erforscht werden, was einen Einzelnen zwingend überfordert hätte. Hinweise auf die derart angestrebten Arbeitsformen und Synergieeffekte, die ohne vollumfängliche fürstliche Akzeptanz keinesfalls zu verwirklichen gewesen wären, sie freilich aber zu keinem Zeitpunkt erlangten, finden sich u.a. in Briefen, die Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und Ludolf wechselten. Im Dezember 1687 notierte Leibniz beispielsweise: So mancher wird ja über Urkunden, Chroniken und Fragmente verfügen, die den übrigen Kollegen ein Licht aufstecken könnten, ohne daß er selbst immer wüßte, was er da hat, oder sich über die Folgerungen klar würde, die ein anderer, mit dem jeweiligen Gegenstand besser vertrauter Historiker daraus zu ziehen vermag. Solche Materialien können unter allen Kollegen nur mit Hilfe des Drucks verbreitet werden. Mir für meinen Teil ist es nicht selten begegnet, daß ich in Urkunden Dinge erkannt habe, die andere dort nicht gesehen hatten, die doch scharfsichtiger waren als ich. […].32 Allgemeine Schau-Bühne (wie Anm. 29) [o. S.] [= „Summarische Vorstellung“ S. 1]. Ebd. [o. S.] [= „Vorrede“ S. 1]. 32 Vgl. Malte-Ludolf Babin – Gerd van den Heuvel (Bearb./Hrsg.), Gottfried Wilhelm Leibniz, Schriften und Briefe zur Geschichte (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 218), Hannover 2004, S. 393–396 (Zitat S. 395). 30 31
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Zu besagtem „Collegium“ gehörte beispielsweise auch der schlesische Theologe und Chronist Friedrich Lucae (1644–1708), der „Des Heil. Römischen Reichs Uhr-alte[n] Graffen-Saal“, die Schicksale von Grafengeschlechtern über die Jahrhunderte mithin, aus genealogischer Perspektive zu dokumentieren suchte und hierfür als typischer Vertreter antiquarianischer Forschungspraktiken ebenfalls von umfassenden Archivstudien abhängig gewesen war.33 Sein Briefwechsel mit Leibniz lässt, ebenso wie seine Arbeit im Umfeld des „Collegiums“, auf den durchaus innovativen Ansatz schliessen, Archive im Verbund Gleichgesinnter zu wirkungsvolle(re)n Werkzeugen der Geschichtsschreibung behutsam umzugestalten.34 Deutlich bekannter noch als Lucae dürfte, wenigstens zu seiner Zeit, der weitgereiste Rechtshistoriker und Reichspublizist Johann Christian Lünig (1662–1740) gewesen sein, der besonders als Kompilator von Rechtsquellen und damit seinerseits als versierter Kenner von Archiven und Archivalien hervortrat.35 Der Sachverhalt, dass Lünig zu einem sehr frühen Zeitpunkt seinen Quellenfundus auch zum Titel des von ihm verantworteten Kompendiums erhob, zeugt nicht zuletzt von der Überzeugung der Wichtigkeit archivgebundener Studien: Das aus 24 Bänden bestehende „Teutsche Reichs-Archiv“ beanspruchte Verbindlichkeit und (wohl wider besseres Wissen) auch Vollständigkeit. Nicht von ungefähr stellte Bernd Roeck in diesem Zusammenhang fest: „Er [Lünig; die Verfasserin] hat eine außergewöhnlich umfangreiche Sammlung von Gesetzen, Die Übersetzung des im Original in lateinischer Sprache verfassten Briefes besorgte MalteLudolf Babin. 33 Des Heil. Römischen Reichs Uhr-alter Graffen-Saal / Auf welchem die vortrefflichsten Von Kaysers Caroli Magni Zeiten an / auch theils schon vorher in Ober- und NiederTeutschland florirte / aber in denen jüngst-verflossenen Seculis abgestorbene Graffliche Geschlechter […] Dem hohen Graffen-Stand im Heil. Röm. Reich / zu geziemenden Ehren / und allen Liebhabern Teutscher Antiquen, insonderheit der zu Historischen und Politischen Wissenschafften Lehr-begierigen Jugend zum erbaulichen Nutzen / Historisch und Politisch gezeiget / und in zweyen Theilen abgehandelt werden […], Frankfurt 1702. 34 Friedrich Lucä, Der Chronist Friedrich Lucä. Ein Zeit- und Sittenbild aus der zweiten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts. Nach einer von ihm selbst hinterlassenen Handschrift bearbeitet und mit Anmerkungen nebst einem Anhang versehen, Frankfurt 1854, S. 292–323 („Briefwechsel mit Leibniz“) und S. 330–335 („[…] Mittheilungen über das Historische Reichscolleg“); vgl. auch die an Lucae gerichteten Briefe von Franz Christian Paullini im Bestand Universitätsbibliothek Kassel (4° Ms. hist. litt. 4 [Paullini:44]). 35 Vgl. Das Teutsche Reichs-Archiv, in welchem zu finden / I. Desselben Grund-Gesetze und Ordnungen / […] II. Die merckwürdigsten Recesse, Concordata, […] III. Jetzt höchst hoch- und wohlermeldter Chur-Fürsten/ Fürsten und Stände des Heil. Römischen Reichs sonderbahre Privilegia und Freyheiten […], Leipzig 1710.
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Urkunden, Rechtsdeduktionen, Stil- und Zeremonialanweisungen gesammelt und veröffentlicht. Der Zugang zu diesen Dokumenten erforderte oft beträchtliches diplomatisches Geschick, Bestechung und organisatorisches Talent.“36 Vergleichbare (und von institutionsgeschichtlicher Warte ebenfalls wohl zu wenig wahrgenommene) Kompendien stellten z.B. auch Adam Cortrejus (1637–1706)37 und Johann Joseph Pachner von Eggens torff (1706–1781)38 zusammen. Letzterer hatte in seinem „Vorbericht“ überdies ausführlich über die Schwierigkeiten geklagt, den Zugang zu Dokumenten von zentraler Bedeutung zu erhalten und damit offenkundig vorhandene administrative und arbeitsorganisatorische Defizite und Mißstände beschrieben: zudeme auch / in denen vornehmeren Archiven von Teutschland selbsten / man bey deren Durchgehung wohl fast unüberwindliche Mühe und Difficultät finden dürffte / all- und jede bey diesem so langwürigen Reichs-Tag errichtete Reichs-Schlüsse in gehöriger Vollständig- und Richtigkeit anzutreffen / und zusammen zu bringen / in Betracht / daß bald durch dieser / oder jener Comitial-Gesandtschafft Erledigung / oder jeweilige Abwesenheit / die immittelst vorgefallene Comitialia nach Erfordernüß nicht besorget / bald durch Transportirung der Archiven einige Unordnungen verursachet / bald ein- oder anderes Stück nicht zur ordentlichen Registratur gebracht / oder allenfalls zu ein- und anderm Gebrauch wieder herausgezogen / verlegt / und an seine Behörde nicht mehr reponirt worden / mithin auf diese / oder andere Weise / per hominum incuriam, aut temporum injuriam, durch Feuer / Kriegs-Ungemach / und sonsten beschädiget / verlohren / und zu Grund gegangen […] mithin die Beförderung Hoher Herren Dienste selbsten dardurch in verschiedene Wege mercklich gehindert / und zurück gestellet wird […].39 Bernd Roeck, „Lünig, Johann Christian“. In: Neue Deutsche Biographie, Band 15, Berlin 1987, S. 468 f. [Onlinefassung] https://www.deutsche-biographie.de/pnd104268336. html# ndbcontent (aufgerufen 21.5.2021). 37 Vgl. z.B. Adami Cortreji Corporis Juris Publici Sacri Romani Imperii Germanici Tomi Primi pars prima, repræsentans Pacificationem Novio magensem Cæsareo-Gallicam Ante hac à nemine illustratam, cum observatis historico-politico-juridicis, ex Actis publicis, et diversorum statuum archivis adornatam […], Frankfurt 1707. 38 Johann Joseph Pachner von Eggenstorff, Vollständige Sammlung Aller […] ReichsSchlüsse […], Regensburg 1740–1777, 5 Bände. 39 Pachner (wie Anm. 38) „Vorbericht“, 1. Teil [o. S.= S. 2 f.]. 36
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Über vergleichbar unerfreuliche Erfahrungswerte dürften wohl alle mit der Reichshistorie befassten Autoren dieser Zeit verfügt haben. So hatte schon der bereits erwähnte Lünig in der Vorrede zum 1719 erschienenen „Spicilegium Seculare des Teutschen Reichs-Archivs“ durchaus diplomatisch festgestellt, es sei ein grosser Unterscheid […], Acta Publica, welche auf Reichsund Creyß-Tägen / auch bey denen hohen Reichs-Gerichten und sonsten vorgegangen, zu colligiren / als aus grosser Herren und Reichs-Ständen sonderbaren Archiven sich zu erholen / und / was man aus grosser Gnade und hoher Gütigkeit erhält / zu des Publici Besten ans Licht zu geben.40 Pachner von Eggenstorff wie Lünig wiesen mit solchen Bemerkungen nicht zuletzt auf die ganz besondere Problematik hin, Zugang zu den Dokumenten des dezentral verwalteten Reichsarchivs zu erlangen. Friedrich Franz Schal konnte demzufolge noch im Jahr 1784 in seinen „Zuverlässigen Nachrichten von dem zu Mainz aufbewahrten Reichs-Archiv […]“ von diesem selten betretenen „Heiligthume“ sprechen, das kaum jemand in seiner Ganzheit zu erfassen im Stande sei.41 Allein schon aus logistischer Sicht ist es ja heute kaum mehr vorstellbar, wie das auf vier Orte verteilte Reichsarchiv (Wien, Mainz,42 Wetzlar und Regensburg) überhaupt je hatte funktionsfähig sein können. Der Umgang mit Dokumenten aus dem von Mainz aus verwalteten, physisch aber in Wien befindlichen Reichserzkanzlerarchiv43 war noch Johann Christian Lünig, Spicilegium seculare des Teutschen Reichs-Archivs […], Leipzig 1719, [o.S.] [= „An den Leser“, S. 1 f.] 41 Schal (wie Anm. 20) [„Vorbericht“]. 42 Vgl. Inventar des Mainzer Reichserzkanzler-Archivs im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien. Aufgrund des Verzeichnisses von Wilhelm Klemm, hrsg. von Editha Bucher (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz 54; zugleich: Inventar des Aktenarchivs der Erzbischöfe und Kurfürsten von Mainz 1), Koblenz 1990. – Die weiteren Bände wurden bearbeitet und herausgegeben von Rudolf Schatz – Aloys Schwersmann – Hans-Bernd Spies aufgrund der Verzeichnisse in den heutigen Eigentümer-Archiven (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz 55, 56, 59, 60; zugleich: Inventar des Aktenarchivs der Erzbischöfe und Kurfürsten von Mainz 2–5), Koblenz 1990–1993. – Vgl. Schal (wie Anm. 20) S. 5 f. 43 Vgl. Franz-Josef Heyen, Vorwort zum Gesamtinventar. In: Klemm – Bucher (wie Anm. 42) S. VII: „Das Geschick des Archivs des Reichserzkanzlers, Erzbischofs und Kurfürsten von Mainz entspricht der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation: es gibt viele Erben mit unterschiedlichen Anteilen, Verdichtungen und Zersplitterungen. 40
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darüber hinaus eine aufwendige Angelegenheit, die u.a. aus den besonderen Kompetenzen der Erzbischöfe von Mainz resultierte.44 Diese waren für die Archivierung der Akten von Wahl-, Reichs- und Kreistagen zuständig, und dazu für die Sicherung des „Schriftverkehrs“, der sich bezüglich „der Reichsgesetze und der zwischen Reichsständen geschlossenen Verträge, der Wahl- und Krönungsakten der Könige, der Akten der Reichs-, Kreis- und Deputationstage, der Religionsbeschwerden“ ergab.45 Aus solcher Aufgabenvielfalt und unter dem Druck der Zeitläufte resultierten organisatorische Turbulenzen aller Art: So wurde 1740 die Registratur der Kanzlei vom eigentlichen Archiv getrennt, 1782 entschied man sich, das Reichsarchiv vom Regierungsarchiv abzusondern und im Oktober 1792 wurde der gesamte Bestand über Bonn in den ‚sicheren Hafen‘ Amsterdam gebracht. Solche institutionelle Unrast lässt sich durchaus als (im Detail noch zu erforschendes) Indiz für die bei den Verantwortlichen vorhandene Erkenntnis, das, ganz ohne kriegerische oder revolutionäre Ereignisse, ein erheblicher Reformbedarf bezüglich der Archivorganisation auf höchster Ebene des Reiches vorhanden war, ausmachen. Dass ‚Wien‘ in diesem Zusammenhang eine schwer durchschaubare Rolle spielte, versteht sich ohnedies: Die „gewollte Unschärfe“, dass der Hof „das Zentrum des Erzherzogtums Österreich[s], der Habsburgischen Lande und – mit Reichshofrat und Reichshofkanzlei – ein Zentrum des Reichs war“,46 wäre hier dementsprechend ebenso zu bedenken wie bei der Erforschung der Relikte des Archivs des „ehemaligen Reichskammergerichts in Wetzlar“, das Wigand 1854 bereits als „Denkmal einer untergegangenen Reichs- und Rechtsverfassung“ galt.47 Zurück aber noch ein letztes Mal zu Lünig. Ihm war es sichtlich sehr darum zu tun gewesen, im „Teutschen Reichsarchiv“ reichsgeschichtlich relevante Quellen in definitiver Form zu publizieren, als Beleg für die besondere Leistungsfähigkeit der zeitgenössischen Geschichtsschreibung, wenn Schon bald zeigte sich, daß es keinen Traditionsträger gab und gibt, der die Teile wenigstens ideell noch verbinden könnte […]“. 44 Vgl. Leopold Auer, Das Mainzer Erzkanzlerarchiv. Zur Geschichte der Bestände und ihrer Erschließung. In: Klemm – Bucher (wie Anm. 42) S. XVII–XXIX, hier S. XVII. 45 Ebd. S. VII. 46 Vgl. Martus (wie Anm. 28) S. 199. 47 Paul Wigand, Denkwürdigkeiten für deutsche Staats- und Rechtswissenschaft, für Rechtsalterthümer, Sitten und Gewohnheiten des Mittelalters, gesammelt aus dem Archiv des Reichskammergerichts zu Wetzlar nebst einer Denkschrift über Geschichte, Schicksale, Inhalt und Bedeutung jenes Archivs, Leipzig 1854, S. III.
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man so will. Repräsentativ für seine Arbeitsweise ist so z.B. der dort veröffentlichte Text der „Goldenen Bulle“. Sie ließ er in der Originalsprache Latein, in „alt-teutscher“ und „Hochteutscher Übersetzung“ abdrucken, womit sie faktisch (und womöglich auch programmatisch) aus den schwer durchdringlichen archivischen Strukturen herausgelöst wurde.48 Verwandte Interessenlagen verfolgte Christoph Bilderbeck (1682–1740) in seiner „Beschreibung des Heiligen Römischen Reichs teutscher Nation“ aus dem Jahr 170949 ebenso wie der berühmtere Heinrich von Bünau (1697–1762), als er 1728 seine „Teutsche Kayser- und Reichs-Historie“ veröffentlichte,50 oder Johann Jacob Mascov (1689–1761) in seiner „Kayser und Reichs-Historie“51 von 1747. Schließlich ist davon auszugehen, dass von den einschlägig interessierten Gelehrten im Rahmen des allgemeinen Kulturtransfers und über die Grenzen des Reichs hinaus namentlich auch die englischen Ansätze zu einem professionalisierten Umgang mit Archivalien als nachahmenswertes ‚Muster’ zur Kenntnis genommen worden sind. Die zwischen 1704 und 1735 zusammengetragene 20-bändige „Fœdera“-Sammlung52 des „Historiographer Royal“ Thomas Rymer (1643–1713) (bzw. seines Nachfolgers Robert Sanderson (1660–1741)) wäre hierbei ebenso hinsichtlich ihres Resonanzraumes einzubeziehen wie die Jahrzehnte später erst einsetzenden, auf Sicherung und Zentralisierung der Bestände abzielenden Aktivi-
Vgl. Lünig (wie Anm. 35) S. 1–17, 18–33, 34–53. Christoph Bilderbeck, Teutscher Reichs-Staat oder Ausführliche und umständliche Beschreibung des Heiligen Römischen Reichs Teutscher Nation […], Leipzig-Frankfurt 1709, S. 2–3. 50 Herrn Heinrichs von Bünau Genaue und umständliche Teutsche Kayser- und ReichsHistorie. Aus den bewehrtesten Geschicht-Schreibern und Uhrkunden zusammen getragen, Leipzig 1728. – Bünau beschrieb in seiner nicht betitelten Vorrede (Bogen A2–C3v) ausführlich die Schwierigkeit, historische Wahrheit und Richtigkeit aus der Überlieferung abzuleiten und die Informationen so auszutarieren, dass die „Historie“ nicht „zu einem fabelhafften Roman“ gerät (A3v). In einer präzise angelegten Dokumentation der Reichsgeschichte sah er die Basis für das friktionslose Funktionieren der zugehörigen staatlichen Gebilde (B3r/v). 51 Johann Jacob Mascov, Einleitung zu den Geschichten des Römisch-Teutschen Reichs bis zum Absterben Kaiser Carl des Sechsten in zehn Büchern verfasset, Leipzig 1747, „Vorrede“ [o.S. = S. 2v]: „Wer […] nicht über die rechten Quellen kommt, verfehlet auch des Nutzens, den er zu erlangen gewünschet hätte.“ 52 Thomas Rymer, Fœdera, conventiones, literæ, et Cujuscunque Generis Acta Publica, inter Reges Angliæ […], London 1704–1735. 48 49
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täten der britischen „Record Commission“, die im Zeitraum von 1800 bis 1837 die Modalitäten der Nutzung öffentlicher Archive festlegte.53 In s t i t u t i o n e l l e Vo rd e n k e r : We n c k e r, L e i b n i z , Mu r a t o r i Die bisher erwähnten Historiker waren, wie beschrieben, darauf bedacht, durch die gezielte Auswertung von Archivalien konsolidierte Geschichtsschreibung in verbindlicher Form als Beitrag zur Selbstvergewisserung der Gesellschaft zu ermöglichen. Parallel hierzu gingen verschiedene Gelehrte seit Ende des 17. Jahrhunderts konzeptionell noch deutlich darüber hinaus, indem sie sich systematisierende Gedanken darüber machten, was ein Archiv leisten können und wer hierfür maßgeblich sein und verantwortlich zeichnen sollte. Innerhalb dieses Personenkreises zählte der 1668 geborene Straßburger „director archivi“ Jakob Wencker (gestorben 1743) einerseits noch zur Gruppe der sammelnden und kompilierenden Antiquarianer. Zugleich war es ihm aber auch schon um die Systematik der Archiv- und Regi stratur-Kunde im engeren Sinne zu tun.54 Seine Text-Sammlung von 1713 dokumentierte so nicht zuletzt die Einsicht Wenckers, dass ein effizientes Archivwesen gewisse institutionelle (und das bedeutete konkret: von der Zustimmung der Herrschenden abhängige) Rahmenbedingungen zur Voraussetzung hatte. Diese Einsicht teilte ganz offenkundig auch Gottfried Wilhelm Leibniz55. Wie Wencker war er ungemein materialfokussiert und dies namentlich im Hinblick auf die dann – selbstredend – Fragment gebliebenen und im weiten Raum „zwischen Reichsgeschichte und fürstlicher Hausgeschichte“, zwischen „Territorial- und Dynastengeschichte“ der Welfen anzusiedelnden „Annales Imperii“.56 In diesem Zusammenhang ist denn Vgl. Record Commission (Hrsg.), Papers relative to the Project of Building a General Record Office, London 1835. 54 Jacob Wencker, Apparatus & Instructus Archivorum ex usu nostri Temporis, vulgo Von Registratur und Renovatur: Novis Observationibus nec non Rerum Germanicarum Præsidiis adornatus, auctus & illustratus ex Archivis & Bibliothecis […], Straßburg 1713. 55 Vgl. zum Archivars- und Historiker-Kontaktnetz von Leibniz die Einleitung. In: Babin – van den Heuvel (wie Anm. 32) S. 46. – Gottfried Wilhelm Leibniz, Über Archivwesen. In: Archivalische Zeitschrift 2 (1877) S. 21–25. 56 Nora Gädeke, Hausgeschichte – Reichsgeschichte – Landesgeschichte in den Annales Imperii: die Behandlung des „Sachsenherzogs“ Widukind. In: Herbert Breger – Friedrich 53
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auch der bereits im Jahr 1688 diplomatisch geschickt eingefädelte und durchaus vorausschauende, in der konkreten Situation gleichwohl aber gescheiterte Ansatz einer auf höchster politischer Ebene des Reichs zu situierenden Verbesserung der Zugänglichkeit von Archiven zu sehen. Gemeinsam mit dem schon erwähnten Hiob Ludolf und dem aus dem niedersächsischen Uelzen stammenden, vom „Secretarius“ bei kaiserlichen Gesandtschaften zum Wiener Hofbibliothekar aufgestiegenen Daniel von Nessel (1644–1700)57 forcierte man dementsprechend den ursprünglich von Franz Christian Paullini (1643–1712) initiierten Gedanken, ein „Historisches Reichskolleg“ („Collegium historicum imperiale“) zu gründen,58 das man sich als eine Art fachspezifisch orientierte Fortführung des Akademie-Gedankens vorstellen kann.59 Um die Geschichtsforschung auf höchster staatlicher Ebene in unterschiedlichen Funktionen und Kontexten zu etablieren, sollten die Annalen des Reichs durch die im „Historischen Reichskolleg“ zu versammelnden besten und kompetentesten Historiker durch ein gemeinsames Langfristvorhaben ins Werk gesetzt werden. Dass das Erstellen eines solchen Kompendiums mitsamt den hohen Ansprüchen an seine Verlässlichkeit nur durch die konsequente Freigabe von Archivbeständen durch die jeweiligen Territorialherrscher ermöglicht werden könnte, sagten die Beteiligten nicht allzu laut, auch wenn sie es erhofften.60 Im Hintergrund tauschten sich Leibniz und Ludolf zudem über den geeigneten Stil und die mit diesem zu verknüpfenden Funktionen des Geschichtswerks aus: Unterhaltsame „Lektüre zum Zeitvertreib“ für Zeitgenossen stand hierbei u.a. gegen „Vermächtnis […] für die Nachwelt“, aber Niewöhner (Hrsg.), Leibniz und Niedersachsen. Tagung anlässlich des 350. Geburtstages von G. W. Leibniz Wolfenbüttel 1996 (Studia Leibnitiana; Sonderheft 28), Stuttgart 1999, S. 106–125, hier S. 107. 57 Christian Gastgeber, Neuordnung(en) der Handschriften der Wiener Hofbibliothek im Barockzeitalter. In: Biblos 60.1 (2011) S. 19–28. – Vgl. auch den Artikel zu: „Nessel (Daniel von)“ in Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon, LeipzigHalle 1740, Bd. 23, Sp. 1940–1941. 58 Franz Xaver von Wegele, Das historische Reichskolleg. In: Im neuen Reich. Wochenschrift für das Leben des deutschen Volkes in Staat, Wissenschaft und Kunst, 11, 2 (1881) S. 940–960. 59 Vgl. Rudolf Vierhaus, Leibniz‘ Akademiepläne und die Gründung der Göttinger Akademie. In: Breger – Niewöhner (wie Anm. 56) S. 227–238, hier S. 231 f. 60 Vgl. Markus Völkel, The ‚Historical Consciousness’ of the Holy Roman Empire of the German Nation (Sixteenth to Eighteenth Century). In: Robert John Weston Evans – Michael Schaich – Peter H. Wilson (Hrsg.), The Holy Roman Empire. 1495–1806, Oxford 2011, S. 323–345, hier S. 335–337.
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auch die Befürchtung, es könne mangels koordinierender Einflußnahme ein „Flickenteppich […] statt eines Geschichtswerks“ entstehen, weil „manche Autoren ihren Gegenstand in weniger würdiger und angemessener Form behandeln als andere“, wurde reflektiert.61 Parallel dazu versuchte Leibniz, seinen Einfluß an den tatsächlich entscheidenden Stellen des Reiches geltend zu machen, indem er 1688 den Vorschlag zur Einrichtung des Gremiums vorlegte.62 Im Hintergrund argumentierte er darüber hinaus in elaborierter Form, welchen „verborgenen Nutzen“ eine solche Instanz haben könnte. In der zugehörigen „Denkschrift“ notierte er u.a.: Wir dürfen uns ja nicht mit dem bloßen Gedächtnis an Vergangenes begnügen, wir müssen auch auf Gegenwart und Zukunft bedacht sein. Wie ich nämlich alles im Rahmen des Möglichen irgendwie nutzbar zu machen suche, habe ich selbst öfter beobachtet und darüber nachgedacht, daß die mangelnde Kenntnis der vaterländischen Geschichte auf die Angelegenheiten des Reiches zurückschlägt und daher künftig die Geschichtsschreibung auch darauf bedacht sein müßte, Licht in die kaiserlichen Rechte zu bringen, die bekanntlich weitgehend im dunkeln liegen und bisher weder mit der gehörigen Sorgfalt noch unter Heranziehung der zu berücksichtigenden Quellen bearbeitet worden sind. Das erklärt sich daraus, daß die Gelehrten nur selten Gelegenheit haben, Archive zu nutzen und [neue] Quellen zu erschließen, ja überhaupt noch niemand auf Befehl des Kaisers selbst und mit seiner Vollmacht sich einem solchen Vorhaben gewidmet hat.63
Vgl. Ludolf an Leibniz (11./21. Dezember). In: Babin – van den Heuvel (wie Anm. 32) S. 403–405 (Zitat S. 404), wobei Ludolf, Leibniz darin nachfolgend, u.a. für die Orientierung an Cesare Baronios (1538–1607) „Annales ecclesiastici“ (Köln 1601 ff.) plädierte, während Leibniz von einer allzu kritischen Darstellungsweise (wie Louis Maimbourg (1626–1681) sie nahegelegt hatte) abriet, weil diese dazu verleite, „zu Erfindungen seine Zuflucht zu nehmen.“ (Zitat S. 405) (Übersetzung von Babin). 62 De Usu Collegii Imperialis Historici arcaniore; cogitatio Ad Illustrissimum atque Excellmum Dn. Comitem à Konigseck Sacrae Caesareae Majestatis Ministrum Status, et Imperii ProCancellarium. (1688) [Denkschrift über den verborgenen Nutzen eines kaiserlichen historischen Kollegs […]]. In: Babin – van den Heuvel (wie Anm. 32) S. 408–417. 63 Ebd. S. 411 (Übersetzung von Babin). 61
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Es sei, so Leibniz, sattsam bekannt, „daß sowohl Machtansprüche und Rechte des Reiches insgesamt als auch Lage und Grenzen der kaiserlichen Lehen nur zu oft in tiefste Dunkelheit gehüllt sind.“64 Hier Abhilfe zu schaffen, bot Leibniz an, systematisch verwertbares Geschichtswissen auf Basis von akribischen Archivstudien bereitzustellen. Das war zweifelsohne gut gedacht, aber eben doch nicht allzu leicht zu verwirklichen: Den Interessen der zu beteiligenden Historiker an den Beständen fürstlicher Archive wäre hier zwar ebenso Genüge getan gewesen wie denjenigen der Herrschenden an der verbesserten Nachweisbarkeit ihrer Machtansprüche. Dass am Ende aber doch die Vorbehalte gegenüber dem Vorhaben überwogen und es nicht gefördert, sondern schnöde zu den Akten gelegt wurde, sollte gleichwohl nicht übersehen lassen, wie fortschrittlich es im Kern gewesen war.65 Vom ausgeprägten Sinn für institutionellen und konzeptionellen Fortschritt des Archivwesens zeugt darüber hinaus auch der Kontakt zwischen Leibniz und Ludovico Muratori (1672–1750), der u.a. als Historiker und Archivar in Modena wirkte.66 Auch wenn es an dieser Stelle aus Platzgründen nur angedeutet werden kann, so sei doch wenigstens festgehalten, dass Muratori zu den aus archivgeschichtlicher Perspektive bisher viel zu wenig berücksichtigten Gelehrten gehört: Ihm gelang, wovon Leibniz im welfischen Einzugsbereich nur träumen konnte, nämlich die Fertigstellung seiner „Annali d’Italia“.67 Seine Projekte wie auch der seit 1708 intensivierte Austausch beider verweisen zugleich auf weitere Forschungsdesiderate: Denn die Gelehrten verwirklichten über Länder- und Sprachgrenzen hinweg ihre Vorstellungen von verbesserter und signifikant ausgeweiteter Kommunikation über historische Quellen und die Methoden einer aus ihrer Sicht zeitgemäßen Geschichtsschreibung. Dass Leibniz wie Muratori in bedachtsamer Kooperation weit mehr als nur eine dem Zufall des Kontakts geschuldete Gelegenheit für historiographischen Erkenntniszugewinn erkannten, ist Ebd. S. 413. Vgl. zum Mißerfolg auch: Ludolf an Leibniz (18. Mai 1697), „Collegium nostrum Historicum nunc plane quiescit.“ (zitiert nach: Babin – van den Heuvel (wie Anm. 32) S. 393). 66 Fabio Marri – Maria Lieber (Hrsg.), La corrispondenza di Lodovico Muratori col mondo germanofono. Carteggi inediti (Italien in Geschichte und Gegenwart 31), Frankfurt 2010. 67 Vgl. Ludovico Muratori, Annali d’Italia dal Principio dell’ Era Volgare sino all’anno 1749 […], Neapel 1751–1754. – Ludwig Anton Muratori, Geschichte von Italien. […] Nebst einer Vorrede Herrn Christian Gottlieb Jöchers, Leipzig 1745. 64 65
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dabei offenkundig. Was die Gedächtnisinstitutionen heute also unter gewaltigem technischem Aufwand virtuell anstreben, praktizierten beide bereits in der Zeit um 1700, als sie sich u.a. über die „genealogische[] Verbindung der Häuser Este und Braunschweig-Lüneburg“, den Konflikt um Comacchio, aber auch das italienische Archivwesen austauschten.68 Und auch wenn man am Ende im Unfrieden auseinander ging, weil sich Leibniz in Muratoris „Geschichte des Hauses Este“ nicht hinreichend gewürdigt fühlte, und Muratori seinerseits offenbar meinte, Leibniz wolle seine, Muratoris, Forschungen vor ihm publik machen,69 so handelte es sich hierbei doch um eine, archivgeschichtlich betrachtet, zukunftsträchtige Form der Zusammenarbeit. Di e Pr o f e s s i o n a l i s i e r u n g d e s A r c h i v w e s e n s Der kurpfälzische Kirchen- und Oberappellationsrat Philipp Wilhelm Ludwig Fladt (1712–1786) stellte in seiner „Anleitung zur RegistraturWissenschaft“ aus dem Jahr 1765 fest: Es ist heut zu Tag fast keine Wissenschaft, wovon man nicht zehen, zwanzig, ja, mehrere Ein- und Anleitungen aufweisen kan. Nur die Registratur-Wissenschaft, die doch wohl eine der wichtigs- und nöthigsten unter allen ist, soll die Stieftochter seyn, und ohne Kleidung gehen.70 Vgl. Gesine Göschel, Das „Bellum diplomaticum“ um Comacchio zu Beginn des 18. Jahrhunderts, jur. Diss. Frankfurt 1974, S. 38–41. – Alfred von Reumont, Magliabechi, Muratori und Leibniz. In: Allgemeine Monatsschrift für Wissenschaft und Literatur 1854, S. 202–221. – Stefan Benz, Historiker um Gottfried Wilhelm Leibniz. In: Breger – Niewöhner (wie Anm. 56) S. 148–172, hier S. 154 f. 69 Vgl. hierzu: Matteo Campori (Hrsg.), Corrispondenza tra L. A. Muratori e G. G. Leibniz, conservata Nella R. Biblioteca di Hannover ed in Altri Istituti, Modena 1892; s. auch: (S. 246 (Nr. LXXI)) die Vorwürfe, dass Leibniz „verschiedener geschehener Erinnerungen ungeachtet“ „documenta“, die Muratori ihm aus „Venetianischen Archivis“ übermittelt hatte, „nicht wieder zuruckschickete.“; vgl. ebd. (S. 247, Nr. LXXXII) Leibniz’ Reaktion und Rechtfertigung, die einsetzt: „Man kan nicht umbhin, sich über die Klage des Modenesischen Historiographi Hr. Muratori zu verwundern. […].“ und (S. 251–252, Nr. LXXXIII) das Schreiben von Leibniz an den „Duca di Modena“, Rinaldo d’Este, in dem er sich u.a. über die „faux bruits“ beklagt, die Muratori verbreite. 70 Philipp Wilhelm Ludwig Fladt, Anleitung zur Registratur-Wissenschaft und von den Registratoribus deren Amt und Pflichten wobey zugleich die dahin gehörige Nachricht von Canzley-Wesen und sonstigen nöthigen Erfordernüß ertheilt wird nebst einer Erläuterung einiger hierin befindlicher Stellen, Frankfurt, Leipzig 1765 [o.S. („Vorbericht“)]; vgl. ebd. das vorangestellte, auf Wencker wie auf Jacob von Rammingens bekannte Abhandlung 68
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Auch wenn man die Aussage sicherlich etwas relativieren kann, weil Fladt hier in eigener Sache auftrat, so war sein Eindruck dennoch richtig, dass die Vielzahl der in der zweiten Jahrhunderthälfte publizierten Ratgeber für alle nur denkbaren Wissensgebiete den aufklärungsbeflügelten Fortschritt dokumentierten.71 Parallel dazu nahm natürlich auch die Verwissenschaftlichung und damit die Professionalisierung der Archivarbeit wie auch der Historiographie als „präzisierte Wissenschaft“ ihrerseits mächtig an Fahrt auf.72 Gespiegelt findet sich dies in den zahlreichen archivspezifischen Publikationen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und, unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse, die die Gefährdungen von Archiven plastisch demonstriert hatten, um und nach 1800. Eine wichtige Voraussetzung für solche, häufig an der Berufspraxis orientierte Nachschlagewerke bildeten u.a. die Arbeiten Johann Christoph Gatterers (1727–1799), der schon auf dem Titelbild seines Genealogieund Heraldik-Handbuchs verdeutlicht hatte, dass ihm „Historia. Genealogie. Heraldica“ nicht einzeln, sondern nur im Verbund als „Testes Temporum et veritatis“ galten.73 Gatterers legendäre didaktische Sammlung – der heute in Speyer befindliche sog. Gatterer-Apparat mit seinen fast 4.500 Urkunden – belegt zudem buchstäblich und exemplarisch, wie die Historiker des 18. Jahrhunderts Theorie und Praxis ihrer Arbeit als Einheit verstanden und veranschaulicht wissen wollten.74 Gatterers Schüler und Nachfolger differenzierten die derart abgesteckten Arbeitsgebiete kleinteilig weiter: Friedrich Mereau (1765–1825)75 und (Summarischer Bericht / Wie es mit einer künstlichen und volkomnen Registratur Ein gestalt. […], Heidelberg 1571) rekurrierende Motto, wodurch zugleich die als verbindlich erachtete neuzeitliche Traditionslinie abgebildet wird. 71 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band 1: 1600– 1800. Reichspublizistik und Policeywissenschaft, München 2012, S. 356. 72 Martin Gierl, Geschichte als präzisierte Wissenschaft. Johann Christoph Gatterer und die Historiographie des 18. Jahrhunderts (Fundamenta historica 4), Stuttgart-Bad Cannstatt 2012, S. 5–44. 73 Vgl. z.B. Johann Christoph Gatterer, Handbuch der neuesten Genealogie und Heraldik worinnen aller jezigen Europäischen Potentaten Stammtafeln u. Wappen enthalten sind. […], Nürnberg 1763, sowie den didaktisch komprimierten Auszug: Ders., Abriß der Heraldik oder Wappenkunde zum Nutzen der studirenden Jugend entworfen und mit acht Kupfertafeln erläutert, Nürnberg 1766. 74 Karl Heinz Debus, Der Gatterer-Apparat (Patrimonia 119), Berlin 1998. 75 Friedrich Mereau, Diplomatisches Lesebuch zur Beförderung der demonstrativen Lehrmethode gesammlet aus dem neuen Lehrgebäude der Diplomatik der Benedictiner und andern diplomatischen Werken, mit practischen und historischen Anmerkungen, 2 Teile, Jena 1791.
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Gregor Gruber (1739–1799)76 auf dem Gebiet der Diplomatik, Martin Schwartner (1759–1823)77 u.a. als Statistiker. Sie trugen ihrerseits zur Konsolidierung des für historische Studien unverzichtbaren Handwerkszeugs bei, indem sie die sog. Hilfswissenschaften (Chronologie, Diplomatik, Genealogie, Geographie, Heraldik und Numismatik) systematisch aufbereiteten. Und auch die Studien des legendären Staatsrechtslehrers Johann Stephan Pütter (1725–1807), der mit den Reichsinstitutionen von der Archivperspektive her bestens vertraut war, wirkten auf die zur Bewußtseinsbildung bezüglich geeigneter Zielsetzungen, Organisationsformen und Arbeitsabläufe fort.78 Alle diese seit der Mitte des 18. Jahrhunderts evidenten Tendenzen zur Professionalisierung der Archivarbeit sind anhand der einschlägigen Einführungen von Johann Georg Schelhorn (1733–1802),79 Carl Traugott Gottlob Schönemann (1765–1802),80 Josef Anton Oegg (1762–1817)81 und Karl Friedrich Bernhard Zinkernagel (1758–1813)82 nicht nur beleg-, sondern als ambitioniert verfolgtes gemeinsames Projekt der AufklärerGeneration greifbar. Dass deren Neigung zum Archivwesen einer etwas speziellen Liebe zu einem „spröde[n] Mädchen“ gleichen konnte, „das den Liebhaber einige Jahre schmachten lässt, eh’ es sich ihm in allen seinen Reizen entschleyert“, erkannte dabei zumindest der zuletzt genannte Zinkernagel mit einem Hauch von Selbstironie.83 Er war es im übrigen auch, der seinen Zeitgenossen mit klaren Worten eine weitreichende Ignoranz bezüglich der Arbeitsweisen von Archiven attestierte. Es herrsche Gregor Gruber, Lehrsystem einer allgemeinen Diplomatik vorzüglich für Oesterreich und Deutschland in zween Theile, einen theoretischen und einen praktischen, zusammgefaßt, und mit nöthigen Kupfern versehen, Wien 1783, S. 9–31 („Vom Archive überhaupt und dessen Einrichtung“), S. 31–56 („Von den noch übrigen Arbeiten eines rechtschaffnen Archivars zur vollständigen Einrichtung des ihm anvertrauten Archives.“). 77 Martin von Schwartner, Statistik des Königreichs Ungern. Ein Versuch, Ofen 1809. 78 Vgl. z.B. Johann Stephan Pütter, Historisch-politisches Handbuch von den besonderen Teutschen Staaten, Göttingen 1758. – Vgl. Johann Stephan Pütter, Selbstbiographie. […], Göttingen 1798, S. 127, 134, 145, 155 f., 167 und passim. 79 Johann Georg Schelhorn, Anleitung für Bibliothekare und Archivare, Ulm 1788. 80 Carl Traugott Gottlob Schönemann, Versuch eines vollständigen Systems der allgemeinen besonders älteren Diplomatik als Handbuch für Archivare und den Geschäftsgebrauch, Hamburg 1801. 81 Josef Anton Oegg, Ideen einer Theorie der Archivwissenschaft. Zur Leitung der Praxis bey der Einrichtung und Bearbeitung der Archive und Registraturen, Gotha 1804. 82 Zinkernagel (wie Anm. 19). 83 Ebd. („Vorbericht“) S. X. 76
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auserhalb des diplomatischen Zirkels noch tiefe Unwissenheit über Archive. Manche können gar nicht begreifen, was man wohl im Archiv arbeite, da ihnen so selten ein Archivsresultat zu Gesicht kommt.84 D e r K a m p f g e g e n „ Mo d e r, Na c h t u n d Wü r m e r “ o d e r : Ba s a l e A r c h i v a r b e i t Auf diese etwas ungemütliche Formel brachte der Basler Theologe Johann Jakob Spreng (1699–1768) in seinem Nachruf auf den Archivar Karl Friedrich Drollinger (1688–1742) dessen aus Notlagen aller Art resultierendes Kerngeschäft, ohne dabei freilich seine anders gelagerten eindrücklichen Meriten zu verkennen. Drollinger war seit 1726 als „geheimer Archivhalter“ im Dienst des von 1535–1771 bestehenden badisch-durlachischen Fürstenhauses gewesen.85 Und Drollinger hatte den „Kampf“ bestanden, auch wenn es lange Zeit eher danach ausgesehen hatte, als sei dies gänzlich unmöglich, weil Schädlinge, bauliche Mängel und eine desolate Archivordnung seine eigentliche Arbeit gänzlich verunmöglicht hatten.86 Das war sozusagen der Regelfall in vielen Archiven des 18. Jahrhunderts. Kein Wunder also, dass der auch als Schriftsteller tätige Drollinger anlässlich der Fertigstellung des zwischen 1736 und 1739 entstandenen Archivneubaus in Basel einen ebenso erleichterten wie feierlich-panegyrischen Vierzeiler verfasste:87 Uber das neue, Hochfürstl. Baden-Durlachische geheime Archiv zu Basel. Was Krieg und Brand verschohnt, hat Carl auf diesem Platz Von fernerer Gefahr beschirmt durch feste Mauern. O möchte dies Gewölb mit dem verwahrten Schatz So lang, als Carols Ruhm, auch unverletzlich dauern! Ebd. S. IX f. Vgl. Herrn Carl Friedrich Drollingers […] Gedichte, samt andern dazu gehörigen Stücken / wie auch einer Gedächtnißrede auf Denselben / ausgefertiget von J. J. Sprengen […], Frankfurt 1745. Darin: „Gedächtniß-Rede und Ode auf den sel. Herrn Drollinger / in hohansehnlicher Versammlung, den 4. Brachmonats 1743. zu Basel gehalten von J. J. Sprengen“, S. VII–XL (Zitat S. XIX). 86 Ebd. S. XVIII: „Er fand das Fürstliche Archiv in einer so gräulichen Zerrüttung, daß es nicht einmal zu erkennen, geschweige zu gebrauchen war. Die wichtigsten Urkunden waren ein Raub der Motten, und so unleserlich worden, daß sich Niemand mehr selbige zu entzifern getraute. Verschiedene davon schätzte man vollends für verloren, und mit solchen auch die herrlichsten Rechte und Ansprüche des Badischen und Hachbergischen Hauses.“ 87 Ebd. S. 301. 84 85
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Die Akribie, mit der der Dichter-Archivar Drollinger aufgeräumt hatte, entstammte freilich nicht nur seinen persönlichen Interessenlagen als Historiker – Drollinger arbeitete an einer „Geschichte des Hauses Baden“, wie man den Akten des Generallandesarchivs Karlsruhe entnehmen kann.88 Selbstredend fühlte er sich auch zur bedingungslosen Loyalität gegenüber seinem Fürsten verpflichtet. Und doch resultierte seine spezifische Arbeitsweise zugleich aus einem durch aufgeklärtes Gedankengut signifikant veränderten Bewusstsein für die Funktion von Archiven, die Relevanz quellenkritischer Forschungen und die Rolle des Archivars als Türhüter und Geheimnisbewahrer. So betrachtet, waren seriöse Quellenstudien allein in einem systematisch geordneten Archiv möglich, eben, weil das zeitgenössische „Publicum“ historiographischer Schriften im Gegensatz zu früheren Epochen, wie Drollinger notierte, „so unglaubig“ sei, dass es „von allem einen richtigen Beweißthum“ fordere.89 Dem Archivar kam demnach eine zwar privilegierte, aber eben auch ambivalente Rolle zu, musste er doch den „Schatz“ einerseits unter Verschluss halten, selbst wenn er andererseits mit Verve ‚Licht‘ in das Dunkel der Geschichte bringen wollte. Bleibt am Ende dieser sehr vorläufigen Skizzen nur zu wiederholen, was der bereits zitierte Franz von Löher über die Aufgaben der historischen Forschung geschrieben hatte: „Die Spezialforschung gliedert sich immer feiner und schärfer. Der allgemeine Geschmack an den Archiven aber hat so zu sagen erst begonnen.“90 Hoffen wir also, dass alsbald die letzten, die Archive umwehenden Geheimnisse gelüftet sowie „Schloss und Riegel“ geöffnet werden: Eine Kulturgeschichte der Archive der Neuzeit, in der jenseits einer reinen Institutionsgeschichte zusammengeführt werden müsste, was darüber hinaus mehr oder weniger offenkundig sonst noch zugehörig ist, wäre auf jeden Fall ein erstrebenswerter Beitrag hierzu.91
Landesarchiv Baden-Württemberg, Abteilung Generallandesarchiv Karlsruhe 65/12. Ebd. 65/12, Bl. 2. 90 Löher (wie Anm. 18) S. 17. 91 Der Aufsatz basiert auf dem Vortrag der Verfasserin beim Archivwissenschaftlichen Fachgespräch „Archive im Alten Reich als Herrschaftsinstrumente“ am 28. November 2019 in der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns. 88 89
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In die Registratur oder ins Archiv? Zur Zusammenarbeit von altbayerischen Archiven und Registraturen zwischen 1500 und 1800 Von Elisabeth Weinberger K a n z l e i re g i s t r a t u r u n d A n f ä n g e d e s A r c h i v s i m Sp ä t m i t t e l a l t e r Die Frage „In die Registratur oder ins Archiv?“ stellte sich im Herzogtum Bayern erst seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts. 1506 bestellte der bayerische Herzog Albrecht IV. den Hofrat und Sekretär Augustin Kölner zum Archivar1 und verfügte somit über ein vollgültiges Archiv, das die folgenden Kriterien erfüllte: Räumliche Trennung zwischen Archivalien im Gewölbe und Registraturgut in der Kanzlei, Erfassung der einzelnen Stücke in Inventaren und Betreuung durch einen Archivar.2 Ab diesem Zeitpunkt standen das herzogliche Archiv, in den Quellen meist „Briefgewölb“ oder „Gewelb“3 genannt, und die Registratur der Kanzlei des herzoglichen Rates gleichberechtigt nebeneinander. Das Archiv, das Kölner vorfand, hatte die klassische Entwicklung aus dem mittelalterlichen Schatz- und Kanzleiarchiv durchlaufen. Unter ihm wurde es in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine feste Institution. Archive, die auf das Mittelalter zurückgehen, haben für gewöhnlich zwei Wurzeln: Das Schatz- und das Kanzleiarchiv. Das Schatzarchiv enthielt die Empfängerurkunden; man kann es sich tatsächlich als Bestandteil des landesherrlichen Schatzes, des „armarium“, vorstellen. Die Stücke, die dem Fürsten als Nachweis seiner Privilegien dienten, wurden in der Regel 1 Zur Biographie Augustin Kölners (um 1470–1548) vgl. Klaus Kopfmann, Augustin Kölner, Sekretär und Archivar am Hof der Münchner Herzöge an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 69 (2006) S. 467–506, hier S. 468–484. 2 Vgl hierzu: Joachim Wild, Archivwesen (Spätmittelalter). In: Historisches Lexikon Bayern online https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Archivwesen_(Spätmittelalter) (zuletzt aufgerufen am 18.4.2020). 3 Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Kurbayern Äußeres Archiv (KÄA) 1943, fol. 131 oder KÄA 1944, fol. 417.
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zusammen mit Gold, Schmuck, wertvollen Gewändern und Handschriften in einem gesicherten Raum verwahrt. Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts lösten sich die Schatzarchive aus diesem Zusammenhang und erlangten als Briefgewölbe eine größere Unabhängigkeit.4 Die Anfänge des Kanzleiarchivs, das Abschriften der dort ausgefertigten Urkunden verwahrte, gehen in Altbayern auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts zurück.5 Anfänglich war eine Trennung zwischen Kanzlei und Briefgewölbe nicht üblich; erst die beständige Zunahme an Schriftgut brachte eine räumliche Separierung der Schriftstücke, die für den laufenden Geschäftsgang nicht benötigt wurden, mit sich und begünstigte die Abspaltung einer Institution, die als Vorstufe des Archivs gelten kann.6 In dieser Phase erfolgte auch das Zusammenwachsen von Schatz- und Kanzleiarchiv. Befördert wurde diese Entwicklung durch die Herausbildung von festen Residenzen im Spätmittelalter, die eine sichere Aufbewahrung garantierten. Im Herzogtum Bayern erschwerten wiederholte Landesteilungen (1255, 1349, 1353 und 1392) diese Entwicklung jedoch erheblich, da Teilungen oder Wiedervereinigungen von Staaten eine Ausfolgung oder Zusammenführung von Archivgut nach sich zogen.7 Infolgedessen entwickelten sich in den Teilherzogtümern eigenständige archivähnliche Einrichtungen, deren Bestände regelmäßig geteilt und mit verändertem Zuschnitt wieder zusammengeführt wurden. Diese Praxis endete in Bayern erst 1506 mit der Primogeniturordnung Herzog Albrechts IV.8, wonach immer nur der älteste Sohn weltlichen Standes in der Regierung des Herzogtums Bayern ungeteilt nachfolgen und dieses vom Kaiser zu Lehen empfangen sollte. 4 Walter Goldinger, Geschichte des österreichischen Archivwesens (Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Ergänzungsband 5), Wien 1957, S. 5–25, hier S. 11–13. 5 Vgl. hierzu: Joachim Wild u.a. (Bearb.), Die Fürstenkanzlei des Mittelalters. Anfänge weltlicher und geistlicher Zentralverwaltung in Bayern (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 16), München 1983, S. 29 f.: Die Tatsache der späten Einführung einer herzoglichen Kanzlei lässt sich auch darauf zurückführen, dass Heinrich der Löwe seine Kanzlei eigentlich in Braunschweig hatte; daher konnte der nachfolgende Herzog Otto von Wittelsbach nicht an eine bereits vorhandene Tradition anknüpfen. 6 Gerda Maria Lucha, Kanzleischriftgut, Kanzlei, Rat und Regierungssystem unter Herzog Albrecht III. von Bayern-München 1438–1460 (Europäische Hochschulschriften 545), Frankfurt am Main 1993, S. 202. 7 Thomas Fitschen, Das rechtliche Schicksal von staatlichen Akten und Archiven bei einem Wechsel der Herrschaft über Staatsgebiet (Saarbrücker Studien zum Internationalen Recht 25), Baden-Baden 2004, S. 47–50. – Joachim Meyer-Landrut, Die Behandlung von staatlichen Archiven und Registraturen nach Völkerrecht. In: Archivalische Zeitschrift 48 (1953) S. 45–120, hier S. 81 bis 85 sowie S. 90. 8 BayHStA, Bayerische Landschaft Urk. 1506 VII 8.
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D a s h e r z o g l i c h e A r c h i v i m 1 6 . Ja h r h u n d e r t Eine der ersten Aufgaben Augustin Kölners war die Zusammenführung der Archive der bisherigen bayerischen Teilherzogtümer zu einem Gesamtarchiv. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts beinhaltete das in München erwachsene landesherrliche Archiv im Wesentlichen Urkunden und Amtsbücher, die entweder in der Kanzlei des herzoglichen Rats entstanden oder dort eingegangen waren; der Zuwachs des Archivs erfolgte aus der reponierten Registratur des Rates. Die Abgabe von Unterlagen, die im täglichen Kanzleibetrieb entbehrlich waren, geschah nach dem Ausleseprinzip: Stücke, vor allem Urkunden, die rechtlich oder politisch relevant waren, wurden im Archiv aufbewahrt.9 Vor allem musste sich Kölner mit dem neugeschaffenen Archiv des Fürstentums der Jungen Pfalz in Neuburg an der Donau auseinandersetzen.10 Dieses hatte in großem Umfang Archivgut aus dem Herzogtum Bayern-Landshut an sich gezogen, das gemäß den Grundsätzen der Archivfolge nach Völkerrecht Bestandteil des herzoglichen Archivs in München gewesen wäre, da es Besitzungen und nutzbare Rechte des Herzogs betraf.11 Kölners Interesse galt zu diesem Zeitpunkt nicht primär dem Zuwachs des herzoglichen Archivs aus der Ratskanzlei, sondern der Integration des in Landshut zusammengeflossenen Archivgutes aus Landshut, Ingolstadt und Burghausen in das Münchner Archiv. Kölner ließ für die Urkunden des Archivs im Alten Hof einen großen Kasten mit 160 Laden anschaffen, strukturierte den Bestand neu und verfasste eine Reihe von Repertorien, die die Nutzung des Archivs für Zwecke des Landesherrn erleichtern sollten.12 Seiner Tätigkeit legte er das Inventar der reponierten Registratur der Kanzlei Herzog Albrechts III. von 1438, das er revidierte und mit zahlreichen Randglossen versah, zugrunde.13 Das 9 Fritz Zimmermann, Die strukturellen Grundlagen der bayerischen Zentralarchive bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. In: Archivalische Zeitschrift 58 (1962) S. 44–94, hier S. 48. 10 Zu Kölners Tätigkeit im Rahmen der Kommission zur Trennung des Archivgutes zwischen dem Herzogtum Bayern und dem Fürstentum Pfalz-Neuburg vgl. Andreas Felix von Oefele, Rerum Boicarum Scriptores, Bd. II, Augsburg 1763, S. 100–102. 11 Walter Jaroschka, Die Archive der Fürstentümer Pfalz-Neuburg und Pfalz-Sulzbach. In: Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern 21 (1975) S. 8–31, hier S. 9–13. 12 Neben einer zweibändigen Chronik zur bayerischen Geschichte und einer Abhandlung über die Stamm- und Erbfolge des Durchlauchtigsten Hauses Pfalz verfasste Kölner ein dreibändiges Werk über den bayerisch-pfälzischen Erbfolgekrieg; vgl. dazu Kopfmann (wie Anm. 1) S. 494 f. sowie S. 498. 13 BayHStA, KÄA 4780, vgl. dazu auch Lucha (wie Anm. 6) S. 78–85.
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von ihm neu geschaffene zweigliedrige System – einen Teil ordnete er sachsystematisch, den anderen geographisch nach Landgerichten und Rentämtern – hielt er in einem zweibändigen Verzeichnis fest und verfasste zusätzlich eine Reihe von Spezialrepertorien, die einen gezielten Zugriff auf ausgewählte Gruppen ermöglichte, die „nach dem Prinzip der fortdauernden Beweiskraft“ als Beweissicherungsmittel dienten.14 Unter Kölners Führung erreichte das Archiv als Verwaltungseinheit eine größere Selbständigkeit, zudem drückte er ihm in den vierzig Jahren seines Wirkens einen bleibenden Stempel auf. Die von ihm geschaffene Systematik des Urkundenbestandes hatte mit geringfügigen Änderungen Bestand bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.15 Nach der Wiedervereinigung von Ober- und Niederbayern fiel dem Münchner Hofrat die Aufgabe zu, die bislang getrennt verwalteten Gebiete organisatorisch zusammenzufassen. Unter Beibehaltung der vorhandenen lokalen Strukturen und der Regionalverwaltungen stieg er zur obersten Zentralbehörde auf und behielt diese Stellung bis zur Herausbildung von weiteren Behörden bei. Der herzogliche Rat wurde also nicht aufgelöst, sondern arbeitete als Hofrat weiter.16 Auch war das herzogliche Archiv, in den Quellen nach wie vor Briefgewölbe genannt, räumlich und organisatorisch der Hofratskanzlei angegliedert und wurde somit als Annex der Hofratskanzlei verstanden. BayHStA, KÄA 4781 (Index über den alten kleinen Kasten, Liber primus antiquitatum) sowie KÄA 4782 (Liber [secundus] antiquitatum der Fürsten von Bayern) sowie u.a. KÄA 1168 (Besitz Kaiser Ludwigs des Bayern) oder 1173 (kaiserliche Lehen- und Bestätigungsbriefe); vgl. dazu auch Kopfmann (wie Anm. 1) S. 485 f. 15 Vgl. hierzu BayHStA – Abt. III Geheimes Hausarchiv, Hofhaushaltsakten 66, fol. 241‘ über das unter Erasmus Fendt weitergeführte System: „dann das daselbs ein neue Registratur gemacht werden solt, … würdet von unnetten geachtet, dieweil die alte [i.e. Kölners Schema] also beschaffen, das die nit wol zuverbessern, und were genueg da allein dieselbe mit den Jenig Urkhunden, so von ettlich Jaren her aufgericht, compliert und continuirt wurde,“ sowie die unter BayHStA KÄA 4790–4801 verwahrten Inventare seines Nachfolgers Michael Arrodenius, der im wesentlichen Regesten der von Kölner geordneten Urkunden anfertigte, sowie die Repertorien des Inneren Archivs von Johann Wämpl (BayHStA, Staatsverwaltung 3393), von Johann Albrecht und Johann Nepomuk Felix Zech, die in Abschrift als Repertorien des Bestandes Kurbayern Urkunden im Bayerischen Hauptstaatsarchiv verwendet werden, sowie die Neuverzeichnung von Karl von Eckartshausen (Staatsverwaltung 3414), die alle die von Kölner entwickelte zweiteilige Gliederung des Bestandes in einen systematischen und einen geographischen Teil beibehalten. 16 Vgl. dazu Reinhard Heydenreuter, Der landesherrliche Hofrat unter Herzog und Kurfürst Maximilian I. von Bayern (1598–1651) (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 72), München 1981, S. 15–19 sowie Anm. 57. 14
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Eine grundlegende Änderung im Verhältnis von Archiv und Kanzleiregistratur trat erst mit der Reform der herzoglichen Verwaltung in der Mitte des 16. Jahrhunderts ein. Die Neuschaffung von Behörden mit unterschiedlichen Zuständigkeiten und klar definierten Aufgaben war das Ergebnis einer Entwicklung, die Ende des 15. Jahrhunderts in fast allen Staaten Europas eingesetzt hatte und auf die Rationalisierung von Verwaltung und politischem Handeln abzielte.17 Kennzeichnend dafür waren „Schriftlichkeit, Berechenbarkeit und Sachorientierung der Entscheidungen, Kompetenztrennung und -fixierung der Ämter und Behörden, Professionalisierung der Amtsträger.“18 Mit der Gründung der Hofkammer 1550, unmittelbar nach dem Regierungsantritt Herzog Albrechts V., entstand in Bayern eine oberste Finanzbehörde. 1570 kam der Geistliche Rat hinzu, 1585 der Geheime Rat; der Hofkriegsrat wurde erst 1620 gegründet. Diese neu geschaffenen Behörden erledigten ihren Schriftverkehr selbständig und bildeten eigene Kanzleien und Registraturen aus. Greifbar wird dieser Bürokratisierungsschub in einer Fülle von Amtsordnungen und Instruktionen, von denen einige explizit dem Kanzleiwesen galten und auch auf das Archiv Bezug nahmen.19 Die Arbeitsabläufe und die Organisation der Hofratskanzlei waren geregelt in den Kanzleiordnungen von 1553, 1566, 1569 und 160020. Die Kanzlei beschäftigte fünf Schreiber, von denen einer auch als Registrator tätig war. In der Fassung von 1553 wird das Briefgewölbe ausdrücklich erwähnt. Es heißt hier: „Dieweil unns auch an unserm Brieff gewelb in der Canzlei treflich vil gelegen und groß von nöten ist, das die brieflichen Urkhunden auch schriftlichen handlungen und registraturn, die darinn sind, in gueter richtiger ordnung gehalten werden, damit man die yeder zeit, wann es die notturft ervordert, bald zu finden wisse.“21 Die Hofratskanzleiordnung von 1566 lässt deutlich erkennen, dass die ZusammenarMaximilian Lanzinner, Herrschaftsausübung im frühmodernen Staat. Zur Regierungsweise Herzog Wilhelms V. von Bayern. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 51 (1988) S. 77–99, hier S. 77. 18 Ebd. 19 Vgl. hierzu Manfred Mayer, Quellen zur Behördengeschichte Bayerns. Die Neuorganisationen Herzog Albrechts V., Bamberg 1890. Hier sind die einschlägigen Kanzleiordnungen bis 1677 ediert. 20 Die Kanzleiordnung von 1600 wird bei Mayer (wie Anm. 19) S. 181 ff. fälschlich auf das Jahr 1613 datiert, stammt aber tatsächlich aus dem Jahr 1600; vgl. dazu BayHStA – Abt. III Geheimes Hausarchiv, Hofhaushaltsakten 285. 21 BayHStA – Abt. III Geheimes Hausarchiv, Hofhaushaltsakten 23, fol. 27‘. Diese Kanzleiordnung wurde 1569 mit geringfügig abweichenden Formulierungen erneut veröffent17
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beit zwischen der Kanzlei und dem Archiv eng war: Die für die Kanzlei angeordneten Methoden der Regestierung und der Aufbewahrung des Schriftgutes waren identisch mit denen des Archivs.22 Bemerkenswert ist die Anweisung, nach Rücksprache mit dem Archivar zu entscheiden, welche Dokumente in der Kanzlei verbleiben und was in das Briefgewölbe abzugeben ist: „Das alles soll er unnser Rath und Secretari den Fennden sehen lassen, ob es wider zu den anndern sachen In die Stateln zelegen oder aber in unnserm brief gewelbe aufzehebn und zubehalten sein werde.“23 Betreut wurde das Archiv in Nachfolge von Augustin Kölner von dem Hofratssekretär Hans Schwarz und dem Hofkammerrat und Juristen Erasmus Fendt.24 Fendt veranlasste auch 1555 eine Aussonderung von „Büchern“ und Urkunden aus der Hofkammer an das Archiv. Es handelte sich dabei um zeitgenössische Dokumente, die offensichtlich wegen ihrer Relevanz in das Archiv verbracht wurden und nicht um Unterlagen, die für den laufenden Geschäftsbetrieb bereits entbehrlich waren.25 Fendts Nachfolger Johann Gailing war mit Unterbrechungen von 1567 bis 1587 als Hofrat und 1584 als Geistlicher Rat tätig und setzte in den Jahren 1586 und 1587 als Vorstand des herzoglichen Archivs die Kooperation zwischen Archiv und Registraturen fort.26 Mitte März 1586, nachdem Gailing die Leitung des Archivs übernommen hatte, trat eine Instrukti-
licht; vgl. hierzu Mayer (wie Anm. 19) S. 145–151. In beiden Fassungen wird der Hofratssekretär Hans Schwarz namentlich als Vorstand des Briefgewölbes genannt. 22 Vgl. ebd. S. 139–143, v.a. S. 143: „... soll der Registrator die erledigtn vnnd eröffnetn Hofgerichts vnnd Sumarische Process so Inn vund Ausserhalb der Alltten Cannzley-Stuben In truhen vnnd stateln, durcheinannder vermischt ligen dem ellter nach in den grossen Newen Casten ordenlich einrichtn...“. Originalinstruktion BayHStA, HR I Fasz. 400, Nr. 30/1 (Hervorhebung durch die Verfasserin). 23 Mayer (wie Anm. 19) S. 143. 24 BayHStA, Staatsverwaltung 3312: Ernennung des Hofkastners und Hofkammerrats Fendt zum Archivar zum 1. Januar 1575. 25 BayHStA, KÄA 4788 Inventarii der puechen und brieflichen urkhunden, so mir E. Fenndten den 13. febr. anno 1555 aus der Rentstuben ins Gewelb sind geantwurt worden. – Mit wenigen Ausnahmen stammten die Stücke aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 26 Zu Johann Gailing vgl. v.a. Maximilian Lanzinner, Fürst, Räte und Landstände. Die Entstehung der Zentralbehörden in Bayern 1511–1598 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 61), Göttingen 1980, S. 345 f. – Gailing starb 1587; nachdem er 1554 an der Universität Ingolstadt immatrikuliert und 1566 in Pisa promoviert worden war, dürfte er bei seinem Tod nicht älter als 55 Jahre und folglich noch im aktiven Dienst gewesen sein.
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on für das herzogliche Briefgewölbe in Kraft.27 Diese Instruktion fasste in elf Artikeln die wichtigsten Aufgaben des Archivs zusammen und deutete bereits die Verlagerung des Briefgewölbes in die Zuständigkeit des Geheimen Rates an. Die Oberaufsicht über das Archiv – „primam inspectionem archivi“ – wurde ausdrücklich dem Geheimen Rat und Obersten Kanzler übertragen.28 Zudem wurden dem Archivar im Bedarfsfalle dem Geheimen Rat zur Verfügung stehende Schreiber aus der Hofratskanzlei zugewiesen.29 Die sichere Verwahrung von rechtlich relevanten Unterlagen, der kontrollierte Zugang zum Archiv und die Herstellung eines übersichtlichen Ordnungszustands des Archivgutes sind die wesentlichen Punkte der Instruktion.30 Abschnitt fünf der Instruktion umfasste die Erfassung von Neuzugängen und die Rückforderung von entliehenen Stücken. Der Zutritt zum Archiv war zwar nur dem Archivar und dem Geheimen Kanzler möglich, da diese die Schlüssel verwahrten.31 Die Ausleihe von Archivalien an die Räte der Zentralbehörden oder sogar an Privatpersonen war aber offensichtlich normal und wurde auch nicht in Frage gestellt. Darum war nun ein Ausleihbuch zu führen, in das man entnommene Stücke eintrug und das man als Nachweis für Rückforderungen nutzte.32 Dieser Widerspruch zwischen strikter Zugangsbeschränkung und unumgänglicher Ausleihe von Archivgut zur Erledigung täglicher Aufgaben in der herzoglichen Verwaltung ließ sich offenbar nicht lösen. Dem Archivar wurde vielmehr aufgetragen, aktiv zu beobachten, ob sein Landesherr in strittigen Fragen oder Prozessen die Unterstützung des Archivs benötigte und diese mit „brieflichen urkunden und documenta“ zu leisten.33 BayHStA, Kurbayern Geheimes Landesarchiv 1566, fol. 32ff; abgedruckt in: Archivalische Zeitschrift 9 (1884) S. 90–94. 28 Ebd.: „… doch dergestalt, das unser geheimer rath und cantzler yeder zeit primam in spectionem archivi wie bisanhero haben soll.“ 29 Ebd.: „…also zwen taugliche gehaime schreiber … zugeordnet werden, welche in dem aussern gewelb vor dem archivo iren aignen platz haben.“ 30 Relevant hier vor allem die Punkte eins, drei und fünf der Instruktion. 31 Ebd.: „…und ime durch denselben [i.e. Obersthofmeister] grosz und kleine schlissl, so wol als sy unser oberster cantzler hat, zu oftberürtem archivo überantwort … werden.“ 32 Ebd.: Punkt sieben „soll er alles das, was er aus dem archivo …herfürsuecht und etwa uns und unsern geheimen räthen in die neufest, etwa ... unsern geistlichen hof und cammerrath, oder aber andern privatpersonen in ir behausung schicken wirdet, … sonder register darüber halten, …damit solches in das bemelte register zur anmahnung gleichfalls verzaichnet … und widerumb eingefordert … werde.“ 33 Ebd.: Punkt elf „… soll er unser praefectus im raht und anderen ortn vleissig aufmerken haben, was wir für rechtliche process und sachen … haben, … vleissig nachsuechen, ob 27
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Die Zusammenarbeit mit den landesherrlichen Behörden wurde in der Archivinstruktion von 1586 – abgesehen vom Geheimen Rat – nicht erwähnt. 1586 war die Differenzierung der Zentralverwaltung in die Kollegialbehörden Hofrat, Hofkammer, Geistlicher Rat sowie Geheimer Rat in Bayern weitgehend abgeschlossen.34 Ebenso funktionierte die dreistufige Verwaltung mit Unter-, Mittel- und Oberbehörden im erforderlichen Maß. Diese Behörden arbeiteten auf der Basis herzoglicher Instruktionen, die ihre Zuständigkeiten, Aufgaben und Arbeitsweise festlegten.35 In diesem Zusammenhang wurde auch regelmäßig die Schriftgutverwaltung innerhalb der Behörde geregelt. Die bayerischen Herzöge, allen voran Herzog Maximilian I., hatten demzufolge nicht nur ihr Archiv, sondern auch die Registraturen der Kollegialbehörden im Blick. Der Geistliche Rat sollte gemäß einer Instruktion vom Dezember 1608 das in der Kanzlei anfallende Schriftgut nach vier Sparten getrennt in Register eintragen, und so evident und nutzbar halten.36 Eine Anweisung zur Aussonderung von Schriftgut, das für den täglichen Dienstbetrieb entbehrlich war, an das Archiv gab es nicht. Die Arbeitsweise der Hofkammerkanzlei war ebenfalls 1608 in einer separaten Kanzleiordnung geregelt, die 1636 fast unverändert erneuert wurde.37 Die Vorschriften für die Registratoren waren detailliert und zielten auf einen optimalen Nutzen im laufenden Geschäftsgang. Zusätzlich wurde der Zugang zur Registratur stark eingeschränkt.38 Die nit villeicht in unserem archivo allerley taugliche schriften, briefliche urkunden und documente verhanden weren …“. 34 Es fehlt hier noch der bayerische Hofkriegsrat, der erst 1620 begründet wurde. 35 Eine Reihe von Hofordnungen und Instruktionen, die über die Hofämter hinaus auch die herzoglichen Zentralbehörden betreffen, befinden sich im Bestand Hofhaushaltsakten der Abt. III – Geheimes Hausararchiv des BayHStA. 36 Mayer (wie Anm. 19) S. 129–130, Artikel 18 der Instruktion fordert die Instandsetzung und -haltung der Registratur und die getrennte Erfassung der Akten in „unnterschidliche Büecher“: 1. Instruktionen, Dekrete, landesherrliche Anweisungen und Verordnungen; 2. Päpstliche Concessionen und Indulte, Konkordate, Verträge mit den Ordinarien; Privilegien etc. Geistliche betreffend; 3. Matrikeln aller Beneficien; 4. Streitigkeiten mit den Ordinarien.“ 37 Ebd. S. S. 372–386 sowie S. 419 f. 38 Ebd., zur Registratur S. 374–378: „nachdem fürkhombt, wie die Registratur bissheero so offen und gemain gehalten worden, dass vasst Yedermann seines gefallens darein ganngen unnd villeicht gelesen, was Er gewelt, also soll Registrator hinfüro die registratur mit mererm Vleiss gannz und gar verspört halten (...) So soll Registrator … die acta in gueter ordnung und disposition hallten unnd, wann bey ainem oder annderm act wenig oder vill mannglen oder abgehnn wurde, sich solcher defect halber … erkundigen, Damit er allso die acta, welche vleissig uffeinannder sollen zifferirt werden, gannz unnd volkhumenlich
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Zusammenarbeit mit dem Archiv war in der Instruktion kein Thema, war aber de facto durch die beiden Archivare Fendt und Gailing praktiziert worden. Di e E r r i c h t u n g d e s G e h e i m e n R a t e s u n d d i e Te i l u n g d e s h e r z o g l i c h e n A r c h i v s Die Instruktion für das herzogliche Archiv 1586 sollte in Zusammenhang mit der Entstehung und Institutionalisierung des Geheimen Rates betrachtet werden, auch wenn das Archiv, das in der Instruktion von 1586 als „furnembster schatz dieses lands“ bezeichnet wurde, bis zur Regierungsübernahme Herzog Maximilians räumlich und personell eng mit der Hofratskanzlei und deren Registratur verbunden blieb, da die beiden Archivare Johann Gailing und Michael Arrodenius die Verwahrung von Akten und Kopiaren im inneren Gewölbe nicht duldeten. Daher sammelten sich diese im äußeren Gewölbe vor dem Archiv an und das Problem, wie diese Unterlagen zu werten seien und welche Qualität dieser Ansammlung zukam – Registratur oder Archiv – , wurde drängender. Die Frage, wann und warum der Geheime Rat berufen wurde, war lange Zeit ungeklärt.39 Die ersten Hinweise auf Geheime Räte finden sich in den Hofordnungen Herzog Albrechts V.40 Allerdings gibt es darin keine Anhaltspunkte für ein Gremium, das regelmäßig tagte und eine definierte Zuständigkeit gehabt hätte. Ein förmlicher Gründungsakt und eine Ordnung für den Geheimen Rat sind aus der Zeit Herzog Albrechts nicht überliefert: „ein so weitgehend vom Herzog abhängiges und mit den anderen Zentralbehörden verbundenes, auch zahlenmäßig unbedeutendes Beratergremium (benötigte) keine eigene Ordnung.“41 Unter Herzog Wilhelm V. institutionalisierte sich der Geheime Rat und ist 1581, spätestens 1582, als regelmäßig zusammentretendes Kollegium fassbar. Treibende Kraft bei der Einrichtung des Geheimen Rates war Ottheinrich von Schwarzenberg, der zusamen bringen hkünde (…) So ist offtermaln obseruiert worden, das vil Acta zusammen gebunden, welche nit zusamen gehörn, daraus abzenemmen, Das registrator allein auf die Nämen unnd nit die vnnerschidt der hanndlungen achtung gehe. Derowegen soll Er die Acta besser ... unnderschaiden (…)“ 39 Vgl. dazu Heydenreuter (wie Anm. 16) S. 23–34 – hier auch zu den folgenden Ausführungen – sowie Lanzinner (wie Anm. 26) S. 86–93. 40 BayHStA, Abt. III – Geheimes Hausarchiv, Hofhaushaltsakten 312, S. 25; Hofhaushaltsakten 19 sowie Hofhaushaltsakten 227. 41 Heydenreuter (wie Anm. 16) S. 27.
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ihm als Obersthofmeister vorstand und zahlreiche Kompetenzen in seiner Hand bündelte.42 Eine separat besetzte Kanzlei des Geheimen Rates mit Postein- und -auslauf und einer eigenen Registratur wurde jedoch nicht eingerichtet; für den Geheimen Rat schuf man zusätzliche Stellen in der Hof- oder Hofratskanzlei.43 Erst nach dem Tod des Obersthofmeisters von Schwarzenberg 1590 nahm die „Antecamera“ oder Geheime Kanzlei, die dem Herzog direkt zugeordnet war, nach und nach auch die Funktion der Kanzlei des Geheimen Rates ein.44 Nachweisbar ist diese Neuerung erstmalig 1591 mit der Berufung des Juristen und bisherigen Hofratssekretärs Christoph Gewold zum Geheimen Ratssekretär. 1595 übernahm er die Leitung des Archivs sowie der Geheimen Kanzlei45 und baute dort eine separate Registratur auf; die beim Geheimen Rat anfallenden Akten verblieben dort und wurden nicht mehr abgegeben. Nach 1595 änderte sich der Charakter des Archivs. Christoph Gewold verfasste einen ersten Entwurf zu einer Archivinstruktion, worin er die Teilung des Archivs in ein Aktenund ein Urkundenarchiv vorschlug: „Zwei gewelb also unterschiedlich halten, dass in dem jnnern alzeit ainig und allein die Originalien und gefertigte Urkhunden zu verwahren sein“.46 In einem zweiten Konzept, diesmal im Namen Herzog Maximilians I., wurde dann die Teilung offiziell vollzogen: „Was wür von Gottes genaden Maximilian (…) inskünfftig für ein ordnung bei unserm Archivo sowohl dem jnnern geheimen als eussern Briefgewelb angestellt (…) haben“.47 Das Urkundenarchiv unterstand dem Geheimen Rat und wurde zeitweise von hochrangigen Mitgliedern dieses Kollegiums betreut.48 Die Anordnung, das Innere Archiv an den Sitz des Geheimen Rats in die Residenz zu verlegen, wurde nicht umgesetzt. Inneres und Äußeres Archiv blieben in unmittelbarer Nachbarschaft bis 1756 Ebd. S. 30. Ebd. S. 39. 44 Vgl. dazu Lanzinner (wie Anm. 26) S. 89: „Die Institution der Geheimen Ratskanzlei lief bis 1596 parallel zur fürstlichen Kammerkanzlei, ohne daß man begriffliche Unterscheidungen vornahm.“ 45 Ebd. S. 348. – BayHStA, HR I, Fasz. 260/629, Memoriale vom 8. Februar 1596. 46 BayHStA, Kurbayern Geheimes Landesarchiv 1566, fol. 176. 47 Ebd. fol. 178. – Diese Instruktion ist nur als Konzept überliefert und wurde nicht offiziell in Kraft gesetzt. 48 Von 1687 bis 1702 leitete der Präsident des Geheimen Rats, Korbinian Freiherr von Prielmayer, das Innere Archiv, von 1702 bis 1746 der Geheime Ratskanzler Franz Josef Freiherr von Unertl, vgl. dazu Stefan Fischer, Der Geheime Rat und die Geheime Konferenz unter Kurfürst Karl Albrecht von Bayern 1726–1745 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 86), München 1987, S. 210 f. 42 43
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im Alten Hof, erst dann zog das Urkundenarchiv in die Residenz um. Da der Hofrat für seine umfängliche gutachterliche Tätigkeit auf einen unmittelbaren Zugriff auf die Bestände des Inneren Archivs angewiesen war, wäre dessen Verlegung nicht sachdienlich gewesen und unterblieb aus diesem Grunde.49 Keines der beiden Konzepte der Archivinstruktion von 1595 forderte die Betreuung der beiden Archive durch getrenntes Personal oder die Anbindung an verschiedene Behörden. Verlangt wurde lediglich die Bereinigung des Urkundenarchivs von unnötigem Aktenmaterial. Das Aktenarchiv, das sich in dem Gewölbe vor dem Archiv aus den dort gelagerten Akten entwickelte, wurde bis 1650 von Johann Jakob Lieb betreut. Dieser war bereits 1589, vor der Trennung des Archivs, im Range eines Hofratsregistrators dem Archiv zugewiesen worden und erhielt nach Gewolds Ausscheiden aus dem herzoglichen Dienst 1617 den Titel eines Archivars. Bis zu diesem Zeitpunkt scheint sich Gewold als Leiter der beiden Archive verstanden zu haben, wobei die Betreuung des Aktenarchivs de facto bei Johann Lieb lag. Gewold, der im Wesentlichen als Sekretär des Geheimen Rates und als Leiter der dortigen Kanzlei tätig war, konnte sich nicht persönlich mit dem Aufbau und der Struktur des Aktenarchivs befassen und delegierte diese Aufgabe. Die kontinuierliche räumliche Nähe des Aktenarchivs zur Hofratskanzlei und die Tatsache, dass Lieb dem Hofrat unterstand, dürfte die Trennung der beiden Archive gefördert haben. Es ist anzunehmen, dass Gewold das innere Briefgewölbe als das eigentliche, auf das mittelalterliche Schatzarchiv zurückgehende Archiv betrachtete und dem äußeren Aktenarchiv, dessen Entwicklung aus der reponierten Hofratskanzlei er persönlich miterlebte, keinen höheren Stellenwert als der Geheimen Kanzleiregistratur einräumte. Der Vorteil von Aktenabgaben aus der Geheimen Kanzlei an das Aktenarchiv war nicht erkennbar und daher unterblieben sie auch. Di e G e h e i m e R a t s re g i s t r a t u r a l s „ B e h ö rd e n a r c h i v “ u n d d a s Äu ß e re A r c h i v a l s Au s l e s e a r c h i v Zur Entstehung einer Registratur mit archivähnlichem Charakter beim Geheimen Rat trugen mehrere Faktoren bei. Die räumliche Trennung zwischen dem Äußeren Archiv im Alten Hof und der Geheimen Ratskanzlei in der Residenz, die einen raschen und reibungslosen Zugriff auf die Unterlagen behinderte, spielte sicher eine Rolle, dürfte aber nicht das 49
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ausschlaggebende Motiv gewesen sein. Bedeutsamer war mit Sicherheit die nicht eindeutig umrissene Zuständigkeit des Aktenarchivs, die erst 1640 in einer Instruktion beschrieben wurde. Bis dahin definierte es sich aus der Nichtzuständigkeit des Innern oder Urkundenarchivs für die reponierte Aktenregistratur des Hofrates. Die Amtsauffassung, mit der Gewold das Innere Archiv und die Geheime Kanzlei in Personalunion leitete, spielte dabei ebenfalls eine wichtige Rolle. 1595 hatte er in einem vierseitigen „Verzaichnus etlicher Puncten zur Registratur gehörig“50 zusammengefasst, wie die Kooperation zwischen Registratur und Archiv aussehen sollte und deren Zweck beschrieben: Beide Einrichtungen werden vom Archivar geleitet, arbeiten eng zusammen und unterstützen den Landesfürsten und seine Zentralbehörden bei der Wahrung seiner Rechte und der Erledigung ihrer Aufgaben.51 Vermutlich hatte Gewold bei der Formulierung dieser Punkte die Registratur des Geheimen Rates im Auge, auch wenn er sie nicht explizit nannte. Zwei Kanzleiordnungen für die Geheime Kanzlei aus den Jahren 1619 und 1623 unterstützen diese Annahme. Der Zutritt zur Kanzlei wird streng reglementiert, die dort Beschäftigten werden zu äußerster Verschwiegenheit verpflichtet; die Vorschriften für den Registrator sind detailliert.52 Die Übereinstimmung mit den Archivinstruktionen Heydenreuter (wie Anm. 16) S. 41 f. – BayHStA, Kurbayern Geheimes Landesarchiv 1566, fol. 174–175‘. 51 Ebd., vor allem Punkte 1, 5, 6 und 9. Das Ein- und Auslaufregister der Geheimen Kanzlei, das diese bereits 1590 führte, wird unter der Signatur BayHStA, KÄA 4826 verwahrt. 52 BayHStA, MF 11109, Gehaime Canzley Ordnung von 1619 sowie Churfürstliche Gehaime Canzley Ordnung von 1623, S. 8 f.: „Der Registrator solle die Registratur auf anweisung des Inspectoris in ein richtige Ordnung secundum classes, personas, loca & materia bringen; was fieglich sein khan, ordenlich einbinden lassen, clar verstendige Indices machen; so bald was zur Registratur khombt, breviter extrahiern und auf das Frontispicium verzeichnen und gleich in sein ordnung orth und Indicem dirrigirn, wan in einem Act schreiben oder beilagen villerleyer materien einkhommen, alsdann eintweders Copeyen für die andern mit einem (Nota), wo das Original ligt machen lassen, oder nur zu den Original weisen, damit wan man etwas abfordert, er es in continenti übergeben könne, und nit wie bishero die sachen verlegt, verlohrn oder die ganze registratur mit verliehrung der Zeit, auch verabsaummung der expedicion durchsuecht und umbkhert mues werden. Nit weniger soll er iederzeit, wann er was aus der Gehaimben Cannzley den Gehaimben Rhäten zugestelt, oder aus bevelch (da es sonst gennzlich verbotten) in die andern Cannzleyen oder anderwerts communiciert würdt, dasselb sambt dem Tag fleißig aufzaichnen, und von dem der es abholt underschrieben lassen, damit es zu rechter Zeit wider restituiert oder abgefordert werde. Zu diser Registratur ist ein absonnderlich verschlossen orth mit notwendigen Casten, Schubladen und Tischen verwendet, mit diesem ebenmessigem austruckhlichem bevelch, das kheiner als er und der Inspector einen schlissl habe, auch durchaus niemandt 50
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ist in diesen Punkten augenfällig. Sie zeigt, dass die Geheime Ratsregistratur als eine dem Archiv vergleichbare Einrichtung verstanden wurde. Das Äußere Archiv, das auf den ungeordneten Unterlagen der Hofratsregistratur aufbaute, und dessen Räumlichkeiten nicht die Geheimhaltung garantierten, die für das Schriftgut der Geheimen Kanzlei erforderlich war, schien für die dauerhafte Aufbewahrung staatsrechtlich relevanter Unterlagen ungeeignet zu sein. Überraschend ist allerdings die Tatsache, dass der vor allem mit auswärtigen Beziehungen und Außenpolitik sowie dynastischen Angelegenheiten befasste Geheime Rat zu dem Zeitpunkt eine eigene Registratur aufbaute, deren Schriftgut nicht das Ius Archivi beanspruchen konnte, als dieser Bereich des öffentlichen Rechts vor allem in der Rechtsprechung an Bedeutung gewann, wie folgendes Beispiel zeigt: Bei einem ab 1556 am Reichskammergericht anhängigen Rechtsstreit zwischen der Stadt Hamburg und den Herzögen von Braunschweig protestieren die Hamburger Anwälte 1568 gegen die Glaubwürdigkeit der bis in das 15. Jahrhundert zurückreichenden Braunschweiger Beweismittel mit dem Argument, dass das Ius Archivi für die Dokumente nicht nachgewiesen sei. Das Ius Archivi des Registraturverbandes, dem die Stücke entstammen, erschien als Voraussetzung für die Zulassung der Stücke als Beweismittel.53 Mit Ius Archivi war somit einerseits das Recht gemeint, ein Archiv zu unterhalten (aktives Ius Archivi) sowie andererseits die dadurch gewährleistete höhere Glaubwürdigkeit der dort verwahrten Unterlagen (passives Ius Archivi). Dass das Ius Archivi eine verbreitete und auch in Bayern bekannte Erscheinung des Rechts war, zeigt die gelehrte wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen Ius Archivi, die 1664 mit der Veröffentlichung des Tractatus de jure archivi et cancellariae des SchwarzburgRudolstädter Hofrates und Juristen Dr. Ahasver Fritsch auch die qualitativen Unterschiede zwischen Archiv und Registratur zum Thema hatte.54
anderer hinein gehe, vilweniger etwas sueche, lese, zu sich nemme, oder sich des geringsten anmasse.“ 53 Ernst Pitz, Beiträge zur Geschichte des Ius Archivi. In: Der Archivar 16 (1963) Sp. 279–286, hier Sp. 280 sowie Friedrich Merzbacher, Ius Archivi. Zum geschichtlichen Archivrecht. In: Archivalische Zeitschrift 75 (1979) S. 135–147. 54 Ahasveri Fritschi, Cancellarij Schwartzburgici, Tractatus de Jure Archivi & Cancellariae, nunc recensitus & auctus. In: Collecta Archivi et Cancellariae Jura, quibus accedunt de Archicancellariis, Vicecancellariis, Cancellariis ac Secretariis virorum clarissimorum commentationes, accurante Jacobo Wenckero, Argentorati [Straßburg] 1715, S. 12–49.
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Die Trennung des herzoglichen Archivs in zwei separierte Archive, von denen das Innere Urkunden und das Äußere Aktenmaterial verwahrte, bot sich durch die beiden Gewölbe des Archivs im Alten Hof an. In dem äußeren Gewölbe, in dem auch die Schreiber saßen, lagerten bereits die laufenden und reponierten Hofratsakten, die dem Archiv gemäß der Instruktion von 1586 fernzuhalten waren. Es lag nahe, die Akten, die für den laufenden Geschäftsgang nicht benötigt wurden, zu einer reponierten Registratur zusammenzufassen und diese zum Grundstock eines Aktenarchivs zu deklarieren.55 Das Äußere Archiv unterstand bis Ende des 18. Jahrhunderts organisatorisch dem Hofrat, der weiterhin seine Akten dorthin abgab. Spätestens seit dem Ende des 16. Jahrhunderts existierten in München zwei Archive und mehrere Registraturen parallel und die Frage, wohin mit den Akten, „Ins Archiv oder in die Registratur?“, wurde akut. Die Kooperation vor allem zwischen dem Aktenarchiv und den Behördenregistraturen war mangelhaft. Die Kollegien verfügten selbst über funktionierende Registraturen und begründeten ihre Zurückhaltung gegenüber dem Archiv vornehmlich mit dessen schwerfälliger Arbeitsweise. Da sich dieser Zustand nicht besserte, erließ Kurfürst Maximilian I. 1640 eine erneuerte Instruktion, die für das Äußere Archiv und die Behördenregistraturen gleichermaßen galt.56 Sie definierte die Zuständigkeiten des Archivs und regelte dessen Zusammenarbeit mit den Registraturen. Grundsätzlich fußte sie auf der Instruktion von 1586, ging aber in einigen Bereichen weiter in die Tiefe. Sie erläuterte explizit, dass Akten der Reichskreisdeputationen und der Münztage sowie Verträge mit auswärtigen Fürsten und Grenzstreitigkeiten von Anfang an im Archiv aufzubewahren seien und nicht in den Registraturen.57 55 Vgl. hierzu Max Josef Neudegger, Zur Geschichte der bayerischen Archive. In: Archivalische Zeitschrift 6 (1881) S. 115–158, hier S. 120. 56 Abgedruckt in: Archivalische Zeitschrift 9 (1884) S. 94–98, hier S. 94: „Demnach die churfürstl. Durchlaucht, unser gnedigister Herr, ein zeithero verspürt, dass bei dero allhiesigen registraturn und sonderlich bei dem eussern archiv oftermaln acta und schrüften, ja wol ganz tomi, daran sr. Churf. Durchl. nit wenig gelegen, hin und wider verlegt, vertragen oder wol gar verloren worden, (…) sollen die registratores insgemain (…) wol erinnert, denselben auch ernstlich aufgetragen und eingebunden werden, dass sy bei iren anvertrauten registraturn der inen vorgeschribnen ordnung mit schuldigem vleiss nachgehn, (…).“ 57 Ebd. S. 95: „Was in reichs-deputations-krays und münztags-, item landschafts- grenizund dergleichen mit den benachbarten fürsten und stenden sich erhaltenten sachen fürohin an berichten, schrüften und acten bei ainem oder andern collegio einkomen würd, das sol von den registrator jedes orts nit allein in ire register mit vleiss verzaichnet, sonder was in das eusser archiv gehört, gleich alsbald dahin geben (…) werden.“ Vgl. dazu auch
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Darüber hinaus wurden die Kollegien in München sowie die Rentmeisterämter und Regierungen aufgefordert, dem Äußeren Archiv vierteljährlich Verzeichnisse der neu entstandenen Akten aus diesen Sachgebieten zu übersenden.58 In der Verordnung wurden dabei erstmals auch die Registraturen der Mittelbehörden in Zusammenhang mit dem Archiv genannt. Bisher hatten sich die Archive auf die Zentralbehörden in München konzentriert. Die Unterbehörden mit ihrem Schriftgut fanden im Übrigen keine Erwähnung und spielten für die Archive auch keine Rolle. Das Archiv sollte damit zusätzlich die Funktion einer zentralen Nachweisstelle über Aktenmaterial aus den eben genannten Bereichen übernehmen.59 Im Wesentlichen handelte es sich dabei um Aktenmaterial, das dazu diente, Ansprüche des Kurfürsten zu untermauern und seine Rechte zu wahren. Hier wird der Unterschied in der Qualität von Archiv- und Registraturgut deutlich. Akten von rechtlicher Relevanz waren von Anfang an zur Aufbewahrung im Archiv vorgesehen. In der Praxis funktionierte die Einsendung der vierteljährlichen Verzeichnisse allerdings ebenso wenig wie eine regelrechte Aussonderung aus den Behördenregistraturen an das Archiv. Ob die vorgeschriebenen jährlichen Visitationen durch die Abgabebehörden stattgefunden hatten, ist nicht überliefert, fraglich ist zudem, ob sie etwas geändert hätten.60 Die Gliederung und Erfassung der Archivalien im Äußeren Archiv erfolgte nach der Methode, die im herzoglichen Archiv bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts entwickelt worden war61 und auch im Aktenarchiv zweckmäßig erschien. Die Akten wurden sach thematisch nach Klassen geordnet und verzeichnet. Einzelne Abschnitte Heydenreuter (wie Anm. 16) S. 295, Anm. 4: „Die Zuständigkeit des Hofrats deckt sich in etwa mit den Sachgebieten, die in der Archivinstruktion vom 14. August 1640 dem äußeren Archiv zugewiesen wurden.“ 58 Archivalische Zeitschrift 9 (1884) S. 96: „Nachdem auch den regierungen und rent maistern im land bevolchen worden, dass sy von iren registratorn dergleichen quatemberliche verzaichnusen über die neu einkomente grenizsachen begern und hernach hieher überschicken sollen …“ 59 Ebd. S. 95 „was man aber in greniz- und dergleichen sachen nit gleich entrathen kann, wenigist dem eussen archivario engezaigt und quatemberlich ein specification über dergleichen neu einkomende sachen zuegstelt werden.“ 60 Ebd. S. 97: „… damit auch diese neue puncten der gebür und schuldigkeit nach gehalten und weitere unordnung verhiet und fürkomen werde, derowegen sollen jerlich … von einem jeden collegio ein rat verordnet werden, welche mit und neben einander bei dem eussern archiv visitirn …“ 61 Von Augustin Kölner sind neben den Überblicksrepertorien unter BayHStA, KÄA 4784 und 4785 noch zwei Spezialregister im Bayerischen Hauptstaatsarchiv überliefert.
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wurden in alphabetischen Indices beschrieben und ausgewählte Themen in Spezialrepertorien, die einen raschen Zugang zu häufig gefragten Unterlagen ermöglichten, erfasst. Johann Lieb ordnete ungebundene Akten und ließ diese in Tomi binden; sein Nachfolger Johann Rohrmiller fertigte eine erste Übersicht des Gesamtbestandes an.62 Ende des 17. Jahrhunderts entstanden weitere derartige Repertorien.63 Joseph Anton Attenkofer, der das Äußere Archiv von 1742 bis 1776 betreute, veranlasste eine einheitliche Bindung des Äußeren Archivs, das bis Mitte des 18. Jahrhunderts auf fast 5000 Bände angewachsen war. Diese Bände teilte er in vierzig Klassen ein, die er in Ausschnitten in Designationen und Konskriptionen verzeichnete. Designationen beschrieben zusammengehörende Gruppen; Klassifikationen erschlossen den gesamten Aktenbestand nach häufig nachgefragten Themen wie Grenzstreitigkeiten, Haus-, Staats- und auswärtige Angelegenheiten oder beim Reichskammergericht anhängigen Streitigkeiten.64 D a s Ve r h ä l t n i s v o n A r c h i v u n d Re g i s t r a t u re n i m 1 8 . Ja h r h u n d e r t Auffallend ist der Unterschied in der Akzeptanz der beiden Archive im 17. und 18. Jahrhundert. Das Urkundenarchiv wurde in Folge der Regierungsübernahme durch Kurfürst Karl Theodor 1777 und der darauf folgenden Verlegung seiner Residenz von Mannheim nach München zum pfalz-bayerischen Hauptarchiv erklärt, das auch Bestände aus Mannheim aufnehmen sollte. Es verzeichnete bis Ende des 18. Jahrhunderts stetig Zuwachs, während das Aktenarchiv um Abgaben aus den Behörden kämpfen musste und besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehrfach von Auflösung bedroht war. Vor allen Dingen Joseph Anton Attenkofer bemühte sich darum, die Akten, die gemäß der Instruktion von 1640 dem Archiv zustanden, aus den Behördenregistraturen zu übernehmen und erwirkte zu diesem Zweck 1756 zwei kurfürstliche Signaturen, in denen der Geistliche Rat, die Hofkammer und sogar seine vorgesetzte Behörde, der Hofrat, aufgefordert wurden, die dem Archiv zustehenden Akten BayHStA, KÄA 4802: Summarischer Inhalt aller deren in dem äusseren Archiv begriffenen und nunmehr in eine Ordnung gebrachten Schriften und Handlungen. 63 Index Privilegiorum sowie Compendium über die Tomi Privilegiorum, verfasst von Balthasar Pottner; diese Bände werden im Repertorienzimmer des Bayerischen Hauptstaatsarchivs als Findmittel genutzt. 64 BayHStA, KÄA 4809 bis 4824. 62
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auszusondern und zu übergeben.65 Attenkofer versuchte so, die Bildung eigenständiger Altregistraturen bei diesen Kollegien zu unterbinden. Die Behörden, einschließlich des Hofrates, waren wiederum bestrebt, die Vorstöße Attenkofers abzuwehren. Die Zusammenarbeit zwischen dem Archivar und den Registratoren war schwierig. Verantwortlich dafür dürfte auch der Umgang des Archivs mit den Akten gewesen sein. Im Äußeren Archiv wurden die eingehenden Akten ohne Beachtung ihrer Herkunft aus verschiedenen Registraturen thematisch geordnet zu Bänden zusammengefügt und konnten daher nicht mehr zur Einsichtnahme an die abgebenden Stellen verliehen werden, auch wenn diese Praxis immer noch üblich war und die Instruktion für diese Fälle Ausleihscheine vorsah.66 Die Schreiber des Archivs fertigten im Bedarfsfall Abschriften der benötigten Stücke an und hielten die Originale zurück.67 Dieses Vorgehen war gewollt, denn Attenkofer hatte seine ersten Dienstjahre mit der Rückforderung ausgeliehener Akten verbracht, die von den kurfürstlichen Räten nur schleppend oder überhaupt nicht zurückgebracht wurden, da sie verloren gegangen waren.68 Da das Heraussuchen der einschlägigen Aktenstücke in den Archivbänden und das Anfertigten von Abschriften zeitaufwendig war,69 konnte das Archivpersonal die Termine der Behörden nicht immer einhalten und die Arbeit der Räte in den Kollegien stockte wegen fehlender Informationen. Das Vorgehen des Äußeren Archivs war problematisch, weil neben der sicheren Verwahrung von Rechtstiteln die Unterstützung der landesherrlichen Behörden eine der Hauptaufgaben des Archivs war. Gelang die Kooperation zwischen Archiv und Behörden nicht, neigten diese BayHStA, Kasten schwarz 4079, Signaturen vom 30. Juni und 5. Juli 1756. Archivalische Zeitschrift 9 (1884) S. 94–98, hier S. 96: Punkt 6 der Instruktion. 67 Auch im Inneren Archiv war dieses Verfahren geläufig. Vgl dazu BayHStA, Abt. III – Geheimes Hausarchiv, Inneres Archiv Bd. VII, 2. Teil, Nr. 2: Mit einem Schreiben vom 22.11.1785 bittet die Obere Landesregierung um Übersendung einer Abschrift eines Lehenbriefs des Klosters Niedermünster. Die Bitte wurde an die Geheime Konferenz weitergeleitet, da der fragliche Brief im Inneren Archiv nicht vorhanden, sondern nach Auskunft der Geheimen Ratsregistratur in den Handakten des Konferenzministers Kreittmayr zu finden sei. 68 Vgl. hierzu die entsprechenden Passagen in der Instruktion von 1640, die bereits die Ausleihe von Akten stark einzuschränken versucht, sowie Max Josef Neudegger (wie Anm. 55) S. 148–152. 69 Vgl. hierzu BayHStA, Kurbayern Geheimes Landesarchiv 1567, fol 151f; Attenkofers Nachfolger Sedlmayer weist das Gesuch des Pflegers von Wolfratshausen, zur Akteneinsichtnahme einen Schreiber für die erforderlichen Abschriften mitzubringen, mit dem Hinweis zurück, dass die Abschriften bisher stets von einem „in Pflichten stehenden Hofrathskanzley Verwandten“ angefertigt worden seien. 65 66
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dazu, reponierte Registraturen aufzubauen, die sie in der täglichen Arbeit vom Archiv unabhängig machten. Dass diese Praxis funktionierte und keine Konsequenzen hinsichtlich der rechtlichen Relevanz der verwahrten Dokumente zu befürchten waren, zeigte das Bespiel des Geheimen Rats, der seit Ende des 16. Jahrhunderts eine Art Behördenarchiv unterhielt. Der Archivar des Äußeren Archivs Attenkofer bekam auch vom Hofrat als vorgesetzter Behörde keine Unterstützung bei seinen Bemühungen, die Abgaben aus den Kollegialbehörden wieder in Gang zu bringen.70 Er und sein Nachfolger Philipp Jakob Sedlmayer mussten vielmehr verschiedene Vorstöße, das Aktenarchiv aufzulösen und die Akten zu verteilen, abwenden. 1773 unternahm die Geheime Staatsregistratur einen Versuch, die älteren Akten, die „mehr das publicum externum als internum“ betrafen, an sich zu ziehen und lediglich der Widerstand des Hofrats gegen diese Übergriffe verhinderte die Maßnahme.71 Die spätestens 1766 eingerichtete Geheime Staatsregistratur hatte sich als Spezialregistratur für auswärtige Angelegenheiten von der Geheimen Ratsregistratur abgespalten und verwahrte Akten des auswärtigen Ressorts der Geheimen Konferenz.72 Zur Erledigung ihrer laufenden Dienstgeschäfte übernahm sie aus der Registratur des Geheimen Rats Akten, die weit in das 17. Jahrhundert zurückreichten und erwarb einen archivähnlichen Charakter, so dass sich die Frage, „Ins Archiv oder in die Registratur?“, hier nicht mehr stellte. Auch wenn die Geheime Staatsregistratur kein Ius Archivi besaß, wurde sie doch als Archiv betrachtet und handelte auch entsprechend. Vergleichbares galt für die Hofkammer. Deren Registratur war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zu einer umfangreichen Hauptregistratur mit elf Nebenregistraturen angewachsen und strebte selbst den Status eines
BayHStA, Kasten schwarz 4079, Bericht des Hofrats vom 13. Oktober 1756. BayHStA, Kurbayern Geheimes Landesarchiv 1567, fol. 122 sowie Kasten schwarz 4079, Bericht vom 16. April 1773 sowie Kasten schwarz 4079, Bericht an den Geheimen Rat vom 16. April 1773. 72 Vgl. hierzu Caroline Gigl, Die Zentralbehörden Kurfürst Karl Theodors in München 1778–1799 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 121), München 1999, S. 244–248. – Nach wie vor auch noch einschlägig Richard Bauer, Die kurfürstliche Geheime Staatsregistratur zu München. In: Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern 22 (1976) S. 14–20. – Laufende Ordnungsarbeiten im Bayerischen Hauptstaatsarchiv zur Herauslösung der Geheimen Staatsregistratur aus dem Bestand Kasten schwarz lassen neue Erkenntnisse zur Organisation und Arbeitsweise dieser Sonderregistratur erwarten. 70 71
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vollgültigen Archivs mit Ius Archivi an, konnte diese Stellung aber nicht erreichen.73 Die 1779 von Karl Theodor als Oberste Zentralbehörde der inneren Verwaltung gegründete Obere Landesregierung regte 1793 erneut die Auflösung des Äußeren Archivs und eine Verteilung der Akten an. Die Obere Landesregierung hatte die gesamte Zuständigkeit des Hofrates für die Innere Verwaltung sowie eine Reihe von Aufgaben der Hofkammer übernommen. Als ab 1792 mit dem Tod des Äußeren Archivars Philipp Jakob Sedlmayer die Leitung des Archivs vakant war, da Karl Georg Mayr lediglich als Verweser ohne Dienstbezüge handelte, forderte die Obere Landesregierung zur Erledigung ihrer Aufgaben und zur Ergänzung ihrer Registratur, die sich aus den Vorakten von Hofrat und Hofkammer entwickelt hatte, die Überlassung von Akten aus dem Äußeren Archiv in einem Umfang, die dessen Auflösung bedeutet hätte.74 Der Kurfürst gab dieser Forderung nach und ordnete mit einem Dekret vom 30. Juni 1793 die Auflösung des Äußeren Archivs an. Begründet wurde diese Maßnahme mit der „Unordnung“, die aus der Verteilung der Urkunden und Akten auf verschiedene Archive herrührte, mit der „Beschwerlichkeit“ der Suche in unterschiedlichen Archiven und mit der „Verlustsgefahr“, die aus dieser Verteilung folgte.75 Der Hofratskanzler hatte bereits im Vorfeld des Dekrets in einer Stellungnahme vor der „Dismembration“ des Archivs gewarnt. Er argumentierte zum einen mit der Bedeutung des Archivs als Einrichtung, die Urkunden und Akten „pro defensione jurium domus aut patriae nach der sphere der einschlägigen Gegenstände…“76 verwahre, die von allen Kollegialbehörden, nicht nur vom Hofrat, eingesehen werden könnten, und zum anderen mit der Unterstützung, die das Archiv „Männern, denen es Beruf und Amtspflicht oder besonderer Privateifer und Vatterlandsliebe auflegte, ihre Dienste und besondere Bemühungen dem Vatterlande und ihrem Fürsten in diesem Fach der Geschäfte zu widmen“ gewährte und die Vgl. hierzu den ausführlichen Beitrag von Joachim Wild in diesem Band, S. 205–216. BayHStA, Kasten schwarz 4079, Schreiben der Oberen Landesregierung an den Geheimen Rat vom 28. Dezember 1793 mit der Bitte, die Aufsicht über das Äußere Archiv übernehmen zu dürfen, da auch in Mannheim die Regierung die Aufsicht über das Archiv führe: „Wir hingegen sind genöthiget bey den täglich vorfallenden öffentlichen Geschäften weitläufige Befehle, und Requisitionen um die einschlägige Acta ergehen zu lassen, und müßen uns befriedigen, wenn wir solche entweder sehr spät oder nur zum Theil erhalten, wie es uns insbesondern bey dem Äußern Archive immerdar geschehen.“ 75 Ebd. Hofratsbericht vom 6. Juli 1793, fol. 90‘. 76 Ebd. Gutachten des Hofratskanzlers Vacchieri vom 18. April 1793, fol. 65‘. 73 74
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durch die Auflösung des Archivs „ganz außer Stande gesezt seyn möchten, die Jura Patriae aut Domus rechts erforderlich vertheitigen zu können“77. In der offiziellen Erwiderung des Hofrates als vorgesetzter Dienststelle vom 6. Juli 1793 wurden verschiedene Maßnahmen zur Behebung der Missstände vorgeschlagen und vor den negativen Folgen der Dismembration des Archivs gewarnt. 78 Entschieden verwies der Bericht dabei eingangs auf den Verlust der „Qualitas archivalis, und sich notorie davon hernemliche(n) Urkunden Beweis, und bessere(n) Probations Effect (...): Registraturen, die fast jedem Officianten, Boten und nachtragenden Parteyen offen stehen, haben nach notorischen Principien des allgemeinen Staats Rechtes diejenige Kraft niemal, welche die mittels der Landesoberherrlichkeit errichtete Archive haben, und können also auch unmöglich die Geheimheit der Aufbewahrung in jenem gerade über derlei Documente und Acten-Tome fortsetzen, in der sie im Äußeren Archiv beobachtet wird.“79 Der Hofrat führte seine Argumente gegen die Aufhebung des Archivs mit dem Ius archivi als gewichtigem Grund für die Beibehaltung des Archivs an prominenter Stelle an und schloss die praktischen Überlegungen, die gegen die Verteilung der Akten und Bände sprachen, an. Unter Berücksichtigung der erst wenige Jahre zuvor mit einem landesherrlichen Dekret vollzogenen Erhebung der Registratur des Obersten Lehenhofs zum vollgültigen Archiv80 ist dieses Vorgehen aus Sicht des Äußeren Archivs, das sich nach wie vor als Armarium des Landesherrn verstand, nachvollziehbar. Die Registratur des Obersten Lehenhofs hatte sich durch die Jahrhunderte der Rivalität zwischen Archiv und Registraturen entzogen; keine der beiden Archivordnungen betraf das Verhältnis zur Lehenregistratur. Die Urkunden, Akten und Bände dieser Verwaltung spielten für die landesherrlichen Archive offenbar nie eine nennenswerte Rolle. Nun
Ebd. Wie Anm. 75, fol. 94’ bis fol. 101. 79 Ebd. fol. 97‘. 80 Vgl. hierzu BayHStA, Staatsverwaltung 3360, fol. 151: „Nachdem auf wiederhollt unterthänigst berichtliche Vorstellung des churfürstlichen Oberstlehenhofs allhier unterm 5. cur. specialiter gnädigst resolvirt, daß die dasige Registratur in ein förmliches Archiv erhoben, sohin derselben die gebührende Archivs-Praerogation eingeräumet, und zugetheilt worden, sofort die dortige Documenten die Jura Archiva zu gaudiren haben sollen; als wird solches hiemit Jedermäniglich zur Nachricht und Nachachtung kund gemacht. München, den 2. März 1791.“ 77 78
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war zu befürchten, dass die Obere Landesregierung mit der Auflösung des Äußeren Archivs ebenfalls die Aufwertung ihrer Registratur bezweckte. Die Argumente der Oberen Landesregierung zielten jedoch vordergründig nicht auf eine Aufwertung ihrer Registratur mit Archivgut, sondern auf die Erleichterung der täglichen Arbeit, unabhängig von der Qualität des benötigten Schriftgutes. Welche der zahlreichen Gründe, die gegen die Auflösung des Archivs sprachen, ausschlaggebend waren, ist daher nicht zu klären. Das Äußere Archiv blieb gleichwohl bestehen und wurde erst 1799 im Zuge der innenpolitischen Reformen Montgelas‘ aufgelöst. Das Archivstatut vom Juni 1799 ordnete die Auflösung der bestehenden Archive und Neugründung des Haus-, Staats- und Landesarchivs an. Deren Bestände speisten sich aus dem Äußeren und Inneren Archiv sowie aus der Geheimen Staats- und Geheimen Ratsregistratur und zwar ohne einen Unterschied zwischen Archiv- und Registraturgut zu machen. Abschließend kann man festhalten, dass die Trennung des herzoglichen Archivs 1595 in zwei separate Archive mit gesonderter Leitung, die zudem unterschiedlichen Behörden unterstanden, keine glückliche Entscheidung gewesen war. Sie schwächte vor allem die Position des Äußeren Archivs von Anfang an. Die Registraturen der Kollegialbehörden entwickelten während des 17. und 18. Jahrhunderts eine relativ große Eigenständigkeit, konkurrierten durchgängig mit den Archiven und strebten ihrerseits nach einer Gleichstellung mit diesen.81
Der Aufsatz basiert auf dem Vortrag der Verfasserin beim Archivwissenschaftlichen Fachgespräch „Archive im Alten Reich als Herrschaftsinstrumente“ am 28. November 2019 in der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns. 81
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Getrennt und doch ganz nah. Archiv und Registratur im Fürststift Kempten im 17. und 18. Jahrhundert Von Gerhard Immler Der erste Nachweis über die Existenz eines geordneten Archivs in der fürstlichen Benediktinerabtei Kempten, die auf ein um 744/752 gegründetes karolingisches Königskloster zurückgeht, liegt in Form eines Repertoriums aus dem Jahr 1468 vor. Es gibt eine Ordnung wieder, die auf einer Einteilung in Laden beruhte, deren Inhalt durch eine vierfache Litterierung erschlossen war. Wie für die Zeit üblich, enthielt das Archiv damals nur Urkunden1. Eine Fortentwicklung über das Stadium eines reinen Urkundenarchivs hinaus beweist ein summarisches Findbuch aus dem Jahr 1577, in dem der Inhalt verschiedener Behältnisse angegeben ist, die im „gewelb“ sowie in der Großen und der Kleinen Kanzlei standen. Als das Schriftgut, das dort aufbewahrt wurde, sind sowohl Urkunden als auch „rechtshandlungen und -sachen“ und die Lehenbücher namhaft gemacht2. Offenbar waren Archiv und Registratur nicht geschieden, sondern alle Unterlagen, die unter der Verfügungsgewalt des Kanzlers standen, der neben dem adeligen Landvogt einer der beiden Spitzenbeamten der fürstäbtlichen Verwaltung war, waren hier vereinigt3. Während des Dreißigjährigen Krieges kam es zu Flüchtungen von Archiv- und Registraturgut, bei denen ein Teil der Lehenbücher der unmittelbar vorangegangenen Jahrzehnte zu Schaden kam, als das Schiff, das sie über den Bodensee nach Rorschach in der Schweiz bringen sollte, sank4. Die bei Beschreibung dieser Schadensfälle zutage tretende Unschärfe zwischen Archivgut und Registraturgut der zentralen Verwaltung blieb auch in der Folgezeit erhalten. Die Vermischung der Begrifflichkeiten spiegelt sich wider in den Streitigkeiten zwischen Fürstabt Roman und dem KapiStaatsarchiv Augsburg (StAA), Fürststift Kempten Archiv B 485. StAA, Fürststift Kempten Archiv B 15. 3 Staatsarchiv Augsburg. Fürststift Kempten Archiv, bearbeitet von Gerhard Immler, 2 Bde. (Bayerische Archivinventare 51), München 2002, hier: Band 1, S. XVII. 4 Ebd. S. XVIII Anm. 15. 1 2
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tel in den 1660er Jahren, bei denen es unter anderem um die Verfügungsgewalt über die „documenta“ ging. Dabei fällt zwar der Begriff „Archiv“, für dessen Ordnung ein Entwurf „Digestio archivi ducalis monasterii Campidonensis“5 vom 19. September 1666 vorliegt, doch suchten in der Folgezeit offenbar sowohl der Fürstabt wie einzelne Kapitulare möglichst vieler Dokumente habhaft zu werden. Erst ein unter Androhung schwerer Kirchenstrafen erlassenes Mandat des päpstlichen Nuntius in Luzern vom 6. Juli 1669 sorgte wenigstens dafür, dass das zerstreute Schriftgut in den zu seiner Aufbewahrung vorgesehenen Räumlichkeiten des neuen Stiftsgebäudes wieder zusammenkam6. Eine Grundsatzentscheidung war schon in den Stiftsstatuten von 1666 getroffen worden: Zum Stiftsarchivar müsse vom Fürstabt stets ein Angehöriger des Kapitels ernannt werden; keinesfalls dürfe dieses Amt mit dem des Kanzlers – wie dies offenbar Fürstabt Roman gewollt hatte – in einer Hand vereinigt werden, ja weltlichen Beamten sollte es nicht einmal erlaubt sein, ohne gleichzeitige Anwesenheit eines Kapitulars das Archiv zu betreten7. Die erwähnte „Digestio“ zeigt, dass damals unter dem Archiv im Kern noch immer das Urkundenarchiv verstanden wurde, wobei die „classes“ 2 (Gründung, Dotation, Exemtion und Privilegien) und 3 (Regalien) wohl ausschließlich Urkunden aufgenommen hätten, während bei der „classis“ 1 (Wahl, Bestätigung und Konfirmation der Äbte) und den Klassen 4 (Kaiserliche Mandate, Reichssteuern und Lehensachen), 5 (Landesdefension), 6 (Bündnisse) und 7 („pa trimonialia“) wohl auch an Amtsbücher und Aktenstücke zu denken ist. Zu einer tatsächlichen Durchführung des 1666 aufgestellten Ordnungsplanes kam es aber offenbar in der Folgezeit nur in Ansätzen8, die außerdem beim Franzoseneinfall von 1703 zumindest teilweise wieder zunichte gemacht wurden, als die Soldaten verschiedene Kästen aufbrachen. Dass sechzehn Jahre später die Auffassungen über das Ausmaß der Kriegsschäden weit auseinandergingen, spricht für einen insgesamt schlechten Zustand des Archivs. Eine in den 1680er Jahren durchgeführte Ordnung der „Stadt Kemptischen Akten“, d.h. der Unterlagen über die Differenzen des Stifts mit der Reichsstadt Kempten, spricht gegen eine Sonderung von StAA, Fürststift Kempten Archiv A 701. Staatsarchiv Augsburg. Fürststift Kempten Archiv (wie Anm. 3) S. XX. 7 StAA, Fürststift Kempten Archiv B 30. 8 Über einen freilich unzureichenden Versuch, wenigstens die personellen und organisatorischen Grundlagen zu schaffen vgl. Klaus Freiherr von Andrian-Werburg, Eine Archivdisposition des Kempter Fürstabts Rupert von Bodman. In: Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern 5 (1959) S. 38-39. 5 6
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Archiv- und Registraturgut, denn das Findbuch dieses Schriftgutkomplexes verzeichnet sowohl bis ins Mittelalter zurückreichende Urkunden wie Hofratsakten aus jüngster Zeit9. Von analoger Machart sind zu etwa derselben Zeit entstandene Verzeichnisse der Unterlagen über die Beziehungen zu den Bistümern Augsburg und Konstanz in Bezug auf kirchliche Verhältnisse sowie über die territorialen und grenznachbarlichen Beziehungen zum Hochstift Augsburg10. Ebenfalls im frühen 18. Jahrhundert muss es, wie erhaltene Aktenrenner zeigen11, zu einer Ordnung der Lehenakten gekommen sein, möglicherweise in Zusammenhang mit der Ausgestaltung des Lehenhofs zu einer selbständigen Zentralbehörde – eine Entwicklung, die weitreichende Folgen für die Schriftgutverwaltung haben sollte. Offensichtlich lag in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf diesem Gebiet im Fürststift Kempten einiges im Argen. Ein Kanzleidekret vom 5. Dezember 1727 beklagt, dass bei den Ämtern wenig Wert auf eine „ordentliche Registratur“ gelegt werde. Künftig sei darauf zu achten, die Akten beisammen zu halten und ihnen keine „Originalien“, d.h. Urkunden, mehr zu entnehmen, sondern im Bedarfsfalle Abschriften anzufertigen12. Viel scheint dies zumindest bei den kleinen Unterbehörden im Land nicht gefruchtet zu haben, denn dreißig Jahre später entschloss man sich nach dem Kauf der Herrschaft Apfeltrang zu einem anderen Weg: Am 5. September 1757 wies die Hofkammer den Verwalter der Herrschaft an, die dort von den Freiherren von Remchingen hinterlassenen Amtsakten nach Kempten einzusenden, um sie dort in das Archiv einzugliedern; was für die Fortführung der Verwaltung vor Ort benötigt werde, werde die Amtsverwaltung als Kopie zurückerhalten13. Diese konsequente Zentralisierung des vom Besitzvorgänger übernommenen Schriftguts dürfte schon mit einer personalpolitischen Maßnahme zusammenhängen, die das Archiv- und Registraturwesen des Fürststifts Kempten bis zu dessen Ende 1803 entscheidend prägen sollte: Am 7. April 1755 war durch Hofratsbeschluss der Pflegsverwalter von Unterthingau, Joseph Feigele, zum „Archiv-Registrator“ ernannt worden. Zunächst sollte dies offenbar nur ein vorübergehender Sonderauftrag sein, denn Feigele war ausdrücklich dem Kapitular Adelricus Freiherr von Welden OSB in Staatsarchiv Augsburg. Fürststift Kempten Archiv (wie Anm. 3) S. XX f. StAA, Fürststift Kempten Archiv B 486 und 488. 11 StAA, Fürststift Kempten Lehenhof A 98. 12 StAA, Fürststift Kempten Lehenhof A 15. 13 StAA, Fürststift Kempten Archiv B 327. 9
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dessen Funktion als Lehenpropst und Stiftsarchivar und dem seit 1737 als „Unterarchivarius“ nachweisbaren Weltpriester Joseph Franz Sales Bullinger14 unterstellt und er sollte seinem Auftrag, „acten, scripturen und documenten“ zu verzeichnen, an seinem Dienstsitz Unterthingau nachgehen; sie wurden dazu eigens hin- und hertransportiert. Davon kam man aber alsbald ab: Im Februar 1757 wurde Feigele von seinem Amt als Pflegsverwalter entbunden, dafür – wohl zwecks Aufbesserung seines Gehalts – im folgenden Jahr auch Hofkammersekretär. Der Tod Bullingers im Jahr 1760 wurde zum Anlass, die offenbar sehr tüchtige Hilfskraft 1760 zum „Archivarius“ und zugleich zum Hofkammerrat zu befördern15, auch wenn er formell nach wie vor einem Stiftsarchivar aus dem Kapitel unterstellt blieb16. Für Feigele, der 1738 seine Laufbahn als Amtsschreiber in Unterthingau begonnen hatte17, war das Archiv der Weg zu einem Aufstieg, der bis zur höchsten Auszeichnung für einen Beamten des Fürststifts Kempten, der Ernennung zum fürstäbtlichen Geheimen Rat, im Jahr 1789 führen sollte18. Nur unterstützt von zwei Schreibern19 ordnete Feigele von 1756 bis gegen Ende der 1770er Jahre das von ihm nach eigener Einschätzung vorgefundene „Chaos“ des Stiftsarchivs, tektierte sämtliche Urkundentaschen, Amtsbücher und Akten mit teils ausführlichen Inhaltsangaben, legte 1767 ein Generalinventar der Sachgruppen20 und in den folgenden Jahren ein vierzehnbändiges Repertorienwerk21 an. Danach widmete er sich der Ordnung der Registratur des Lehenhofs, die von ihm – für die Verwaltung In diesem Jahre verfasste Bullinger zwei Sammlungen von Urkundenabschriften und Chronikauszügen (jetzt: StAA, Fürststift Kempten Archiv B 57 und 58), wohl zu histo riographischen Zwecken. 15 Zur Karriere Feigeles bis 1760 s. Staatsarchiv Augsburg. Fürststift Kempten Archiv (wie Anm. 3) S. XXI. 16 Im Jahr 1767 ist Nonnosus Freiherr von Fraunhofen OSB als „capitularis et archivarius“ erwähnt (StAA, Fürststift Kempten Archiv B 187); seine praktische Bedeutung für das Archiv scheint marginal gewesen zu sein, doch wurde damit die Bestimmung des Stiftsstatuts von 1666 formell erfüllt. 17 StAA, Fürststift Kempten Regierung B 127, fol. 479‘. 18 StAA, Fürststift Kempten Archiv B 1416, S. 126. – Feigele starb nach 55jähriger Tätigkeit im fürstäbtlichen Dienst am 11. Juni 1793 (Archiv des Bistums Augsburg, Sterbematrikeln Kempten-St. Lorenz). 19 Staatsarchiv Augsburg. Fürststift Kempten Archiv (wie Anm. 3) S. XXIV Anm. 46. 20 Prospectus exterior seu frontispicium et repertorium generale omnium materiarum et rubricarum (StAA, Fürststift Kempten Archiv B 1399). 21 StAA, Fürststift Kempten Archiv B 1400–1413. – Auf diesem Repertorium beruht die moderne Verzeichnung. 14
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Nur wenige der vom fürstäbtlichen Archivar Joseph Feigele angefertigten Urkundenumschläge sind original erhalten. Der für die Urkunde mit der jetzigen Signatur Fürststift Kempten Archiv Urk. 4814 zeigt klar die standardmäßige Einteilung der Beschriftung in die dreiteilige Signatur aus römischer Zahl, Buchstabe und arabischer Zahl, wobei deren erste beide Bestandteile den Schubladen des Stiftsarchivs entsprachen, Betreff und Sachgruppe, zu dem das Archivale gehört.
frühneuzeitlicher Territorien nicht untypisch – quasi als gesondertes Behördenarchiv behandelt wurde, was so weit ging, dass er nachträglich ältere Hofratsakten über das Lehenswesen dem von ihm geordneten Archiv wieder entnahm und den Serien der von ihm erschlossenen Akten des Lehenhofs voranstellte22. Die Leistung Feigeles geht aber über das Ordnen einer vorgefundenen, mehr oder weniger chaotischen Ansammlung an Schriftgut weit hinaus. Selbst aus der Verwaltung einer Unterbehörde kommend, hat er sich über die Verzahnung von Archiv und Verwaltung Gedanken gemacht und nicht ohne Erfolg versucht, diese systematischen Regeln zu unterwerfen: Wenn die oben erwähnte Weisung der Hofkammer vom 5. September 1757 vielleicht noch vorwiegend mit dem unmittelbar vorangegangenen Erwerb der betreffenden Herrschaft zusammenhängen mag, so gilt dies nicht für ein 22
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Staatsarchiv Augsburg. Fürststift Kempten Archiv (wie Anm. 3) S. XXVI.
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von Feigele konzipiertes Kammerdekret vom 17. Juni 1761 an den Pflegsverwalter zu Grönenbach, in dem diesem die Einsendung einer Urkunde („Originalinstrumentum“) von 1657 mit der Begründung befohlen wird, dass „alle originalien zu dem archiv gehörig“ seien. Tatsächlich wurden in den folgenden Jahren aus den Registraturen der Pflegämter insbesondere Urkunden adeliger Herrschaften, die dem Stift als erledigte Lehen heimgefallen oder durch Kauf zugekommen waren, aber auch ältere Amtsbücher in die Ordnung des Archivs einbezogen. Systematisch angeordnet wurde dies durch das gedruckte Archivmandat des Fürstabts Honorius vom 30. September 176923. Dieses regelte in umfassender und erstaunlich moderner Weise in zehn Artikeln die gesamte Schriftgutverwaltung: Laut Artikel 1 bis 4 sollten Regierungskanzlei und Hofkammer künftig nur noch Akten, die jünger als zehn Jahre waren, in ihren Registraturen behalten, alle älteren dagegen an das Archiv aussondern. Dementsprechend dürften keine bis 1759 abgeschlossenen Akten mehr in den zentralbehördlichen Registraturen verbleiben. In Zukunft war am Ende eines jeden Jahres ein Jahrgang abzugeben. Damit war ein auf kurzen Aussonderungsfristen beruhendes und regelmäßiges Aussonderungswesen angeordnet, das in dieser Stringenz bis heute seinesgleichen sucht. Ferner sollten laut Artikel 5 bestimmte Unterlagen jeweils am Jahresende sogleich dem Archiv übergeben werden, nämlich alles, was „Ecclesiastica vel quasi, Regalien, Jurisdictionalien mit frembd- und angränzenden Herrschaften, Comitialia, Circularia, Criminalia, Originalia quaecumque“ seien. Als quasi sofort an das Archiv einzuliefernde Dokumente erscheinen also alle Urkunden sowie jene Unterlagen, die für die kirchen- und reichsrechtliche Stellung des Fürststifts von besonderem Beweiswert waren. Noch heute nur träumen können Archivare von der in Artikel 6 vorgeschriebenen Maßregel: Über alle in den Registraturen verbleibenden Akten sollte nämlich ein alphabetisches Verzeichnis geführt und dem Archiv eine Abschrift davon übergeben werden, damit dieses den in Zukunft erforderlichen Magazinbedarf abschätzen könne. Laut Artikel 7 sollten auch alle Beamten der Zentralbehörden und die Richter des Landrichteramts, die Akten persönlich in Händen hätten, also modern gesprochen eine Sachbearbeiterregistratur führten, darüber ein Verzeichnis anlegen. Laut Artikel 8 waren Akten aus Archiv und Registraturen künftig nur mehr gegen Legschein auszufolgen. Eine Sonderbestimmung trifft Artikel 9 insofern, als die Feldmessereiakten bei der Hofkammer verbleiben, dort aber besser geordnet werden sollten. 23
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Offenbar wollte Feigele diese Akten, die wegen der in diesen Jahren sehr zahlreichen Verfahren zur Vereinödung von Dörfern, d.h. zur Aufteilung der Allmende und Flurbereinigung des Grundbesitzes24, wohl häufig gebraucht wurden, nicht im Archiv haben. Den Pflegämtern wurde in Artikel 10 zwar eine eigene Registratur zugestanden, doch sollten sie nicht nur alle „Acta Originalia“, d.h. Urkunden und urkundennahes Schriftgut mit Rechtskraft, sondern auch „andere Notabilia et Considerabiliora“ nach Abschriftnahme zum Archiv einsenden. Dies wurde auch vollzogen: Mehrere entsprechende Einsendungsverzeichnisse von Pflegämtern sind überliefert, z.B. das des Pflegamts Liebenthann in Obergünzburg vom 11. Juni 1770, in dem Akten über vor dem Pflegamt verhandelte Rechtsfälle aufgeführt sind, die dem Pflegsverwalter offenbar als von größerer Bedeutung erschienen. Das fürstäbtliche Archiv war damit klar als Zentralarchiv für das ganze Ländchen von ca. 1000 Quadratkilometern und ohne Einschränkung auf gewisse Schriftguttypen konzipiert; insbesondere die breite Einbeziehung von Akten erstaunt vor dem Hintergrund des zu dieser Zeit Üblichen. Jede gesetzgeberische Maßnahme ist gerade in der Frühen Neuzeit nur so viel wert wie ihre Umsetzung. Zumindest bis 1793, als dem Jahr des Beginns des Reichskriegs gegen Frankreich und zugleich dem Todesjahr Feigeles, wurde das Archivmandat jedoch ziemlich konsequent gehandhabt: Es sind kaum zentralbehördliche Akten aus der Zeit vor 1770 überliefert, die nicht als Teil des Archivs nachweisbar sind. Zumindest in der Hofkammer, der er seit 1761 angehörte und in der er 1781 als Direktor zum Stellvertreter des Präsidenten aufstieg25, hat Feigele auch, teils eigenhändig, dafür gesorgt, dass die Akten gleich mit Aktenumschlägen versehen wurden, die seinem Muster der archivischen Aktenverzeichnung entsprachen; es musste nur noch am Kopf die Archivsignatur eingetragen werden. Bis etwa 1780 dürfte also die Aussonderung von Akten direkt ins Zur Vereinödung s. Gerhard Immler, Die Vereinödung im Fürststift Kempten als Ergebnis des Zusammenwirkens von Obrigkeit und Untertanen. In: Birgit Kata – Volker Laube – Markus Naumann – Wolfgang Petz (Hrsg.), „Mehr als 1000 Jahre ...“ – Das Stift Kempten zwischen Gründung und Auflassung 752 bis 1802 (Allgäuer Forschungen zur Archäologie und Geschichte 1), Friedberg 2006, S. 219–235. Diese für das Territorium des Fürststifts Kempten und die angrenzenden Gebiete typische frühe Form der Flurbereinigung erreichte ab ca. 1770 ihren Höhepunkt, wobei das offenbare Multitalent Feigele als Hofrat an der Beschlussfassung über Vereinödungsverfahren selbst als Referent beteiligt war (s. ebd. S. 223 f. und S. 233). 25 StAA, Fürststift Kempten Archiv B 1416, S. 135. 24
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Der von Joseph Feigele eigenhändig beschriftete Umschlag für einen Hofkammerakt (Fürststift Kempten Hofkammer Akten 66) entspricht von seiner Einteilung her dem Muster der Archivalienumschläge. Für die Archivsignatur ist oben Platz gelassen. Die jetzt dort angebrachten Nummerierungen stammen von bayerischen Behörden und Archiven der Zeit nach 1802. Weshalb der 1769 abgeschlossene Akt ausnahmsweise nicht nach zehn Jahren ausgesondert wurde, ist nicht ersichtlich.
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Archiv konsequent durchgeführt worden sein. Danach kam es zu einer neuen Entwicklung: Es entstand eine Art Zwischenarchiv. Aus Aktenabgaben der Regierung und der Hofkammer erwuchs die sogenannte „Judizialregistratur“, die am Eingang zum Archiv in 36 Kisten untergebracht war. Ein darüber geführtes alphabetisches Stichwortverzeichnis führt Akten bis etwa zum Jahr 1785 auf, was dafür spricht, dass der jährliche Turnus der Aussonderung der über zehn Jahre alten Akten erst zum Erliegen kam, als der Erste Koalitionskrieg ab 1796 auf Süddeutschland übergriff 26. Was der Grund war, schon ungefähr 15 Jahre vorher keine weiteren Aktenabgaben mehr dem Archiv einzuverleiben, wird nicht ersichtlich. Es könnte die Befassung Feigeles als des spiritus rector der ganzen Schriftgutverwaltung mit der Ordnung der Lehenregistratur gewesen sein, es könnte schlicht Platzmangel gewesen sein. Nicht ganz auszuschließen ist auch, dass neue Überlegungen hinsichtlich des Aussonderungswesens dahinter standen, die im Archivmandat von 1769 noch keine Rolle gespielt hatten, nämlich die Frage der Archivwürdigkeit. Dass derartige Überlegungen Feigele nicht ganz fremd waren, zeigt sein Repertorieneintrag zu einem Lehenbrief, den er – er wurde 1336 ausgestellt – „wegen seines altherthums“ in der für die Chroniken vorgesehenen Klassifikationsgruppe des Archivs einreihte. Der Lehenbrief betraf leibeigene Untertanen27 und war somit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts rechtlich nicht mehr relevant, nachdem die Leibeigenschaft im Stift Kempten durch den Landesrezess von 1732 abgeschafft worden war28. Ohne sich bereits explizit von der Vorstellung vom Archiv als der Schatzkammer der landesherrlichen Rechtstitel zu lösen, hat sich Feigele also mit den Motiven der Archivierung befasst. Daher erscheint es durchaus möglich, dass die Etablierung der Judizialregistratur eine Reaktion auf sich einstellende Zweifel bezüglich der durchgehenden Archivwürdigkeit der zentralbehördlichen Akten war. Leider hat Joseph Feigele nur deskriptive Aufzeichnungen über seine Tätigkeit angefertigt; vom konkreten Handeln im Einzelfall abstrahierende theoretische Darlegungen zur Schriftgutverwaltung hat er nicht hinterZur Judizialregistratur s. Staatsarchiv Augsburg. Fürststift Kempten Archiv (wie Anm. 3) S. XXV. 27 Ebd. S. 21, Eintrag Nr. 112. 28 Peter Blickle, Die Landstandschaft der Kemptener Bauern. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 30 (1967) S. 201–241, hier S. 227. – Die Abschaffung betraf das Rechtsinstitut als solches, nicht die längst in teils grund-, teils landesherrliche Gefälle überführten Abgaben der Bauern auf ursprünglich leibherrlicher Grundlage, d.h. vor allem die im Erbfall sowie von Personen, die aus dem Stiftsland fortzogen, zu bezahlende Nachsteuer. 26
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lassen. Er hat aber in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine enorm moderne Lösung aus einem Guss dafür gefunden. Dass die Rädchen so sinnreich ineinandergriffen, hat natürlich damit zu tun, dass alles das Werk eines Archivars war, der zugleich in führender Position Verwaltungsabläufe mitgestalten konnte, und außerdem damit, dass er in einem Land tätig war, das gerade groß genug war, eine differenzierte staatliche Verwaltungsstruktur auszubilden, und klein genug, um eine Person in die Lage zu versetzen, alle Registraturen im Blick zu behalten. Immerhin stellt sein Werk eine bedeutende Leistung der am Ende des 18. Jahrhunderts so oft als hoffnungslos altmodisch dargestellten Germania Sacra dar29.
Zur diesbezüglichen Beurteilung des Entwicklungsstands des Fürststifts Kempten vgl. Gerhard Immler, Die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Fürstabtei Kempten im 18. Jahrhundert. In: Dietmar Schiersner – Hedwig Röckelein (Hrsg.), Weltliche Herrschaft in geistlicher Hand. Die Germania Sacra im 17. und 18. Jahrhundert (Studien zur Germania Sacra NF 6), Berlin-Boston 2018, S. 329–363. 29
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Edition Druck. Das stift-kemptische Archivmandat vom 30. September 1769 (Staatsarchiv Augsburg, Fürststift Kempten Lehenhof A 15) Vorbemerkung: Die Transkription erfolgt unter Beibehaltung der Orthographie einschließlich der Groß- und Kleinschreibung des gedruckten Originals. Abkürzungen werden in eckigen Klammern aufgelöst. Die Interpunktion wird zur Erleichterung der Lektüre dem modernen Sprachgebrauch angepasst. Wir HONORIUS von Gottes Gnaden des Heil[igen] Röm[ischen] Reichs Fürst und Abbt zu Kempten, Ihro Majestät der Röm[ischen] Kaiserin ErzMarschall etc. etc. Geben anmit zu vernehmen: Demnach Unser und dieses Fürstl[ichen] Hochstifts Kempten beträchtlich und weitschichtes Archivum nach einer mehrjährig vorgenommenen Reformation unter Göttlichem Beystand von Anbeginn der Stifftung bis auf diese Zeit in eine neue förmliche Registratur und endliche vollkommene Verfassung gebracht, auch hierüber bereits ein Catastrum Generale30 mit Einverleibung aller darinn vorgekommenen Rubriquen und Materien unacum Indice Conformi hergestellt worden, es nunmehro aber an deme ist, daß auch der Index alphabeticus specialissimus31 hierüber vest gestellt und jeder besondere Fasciculus und Enthalt mit denen gewöhnlichen archivischen Clavibus, Litteris & Numeris ad perpetuum & infallibilem ac facilem quotidianum usum marquirt und verzeichnet werden muß (welchen Wir sogleich nach dessen Endschaft, jedoch allein vor Uns und Unser Hochstift, weilen derselbe in schriftlicher Ausführung allzu Voluminos, zum besonderen Druck befördern lassen werden32) und dieses letzte GeGemeint ist hier offenkundig der „Prospectus exterior seu frontispicium et repertorium generale ...“ von 1767 (wie Anm. 20). 31 Dieser Passus bezieht sich auf das vierzehnbändige Repertorienwerk, das der Stiftsarchivar Joseph Feigele nach dem Alphabet der Sachgruppen von den späten 1760er bis Ende der 1770er Jahre anlegte (StAA, Fürststift Kempten Archiv B 1400-1413) und in dem die Archivalien mit Claves (römische Zahlen), Litterae (Buchstaben) und Numeri (arabische Zahlen) bezeichnet sind, die zugleich den Lagerort in den mit Schubladen ausgestatteten Archivschränken angeben. Vgl. Staatsarchiv Augsburg. Fürststift Kempten Archiv (wie Anm. 3) S. XXV f. 32 Diese Absicht kam bis zur Säkularisation des Fürststifts 1802/03 nicht zur Ausführung, sondern, soweit der Inhalt des Archivs erhalten ist, erst genau 200 Jahre danach mit 30
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mächt ein Werk ist, welches nicht alle Tag und Stund sich abändern lasset, sondern dermahlen in seine Regulmäßige Form und Ordnung zu setzen und des praeteritis einzuschränken stehet, dagegen von selbsten leicht zuerachten, daß hin und wieder noch manigfältige Acta ausligen werden, die zu mehr gedacht Unserem Archiv zu reponieren und in gleiche Rangierung zu bringen seynd, Als gesinnen und befehlen Wir hiemit Gnädigist, daß solche Puncten vor jetzt und in Zukunft auf das genauiste beobachtet und in ohnnachläßliche Vollstreckung gebracht werden. 1. Sollen bey unserer Regierungs-Canzley und Registratur mehr nicht dann 10 Jahrgäng an verhandleten Processen, Acten, Producten und all anderen Vorkommnussen, wie die Namen haben mögen, ligen bleiben und in eine diesem ersten Dicasterio anständig- und beliebige Registratur gebracht und so auch pro futuro erhalten werden, welches dann der Zeit von dem Jahrgang 1760 bis in 1770 und so in weiterer Conformitaet zu verstehen ist. Ein gleiches 2. Wollen Wir auch auf Unsere Fürstliche Hof-Camer extendirt und quo ad hunc passum verstanden und vorgeschrieben haben, solchemnach 3. Seynd alle bis ad annum 1759 inclusive bey den Dicasteriis vorfindliche Acta & Actitata ohne Ausnahm Unserem Archiv zu übergeben, auch so fort 4. Sollte von Jahr zu Jahr allemahlen mit dem ältisten Jahrgang e[xempli] g[ratia] ad finem anni 1770 mit denen Actis de anno 1760, Anno 1771 mit 1761 etc. und so Continuando verfahren werden, welche Verordnung dermahlen bis 1759 inclusive generaliter und insgemein zu verstehen, worunter auch von anno 1760 bis daher nachstehende eingeschlossen und mitbegriffen seyn sollen. Degegen sollen 5. In Zukunft alle Ecclesiastica vel quasi, Regalien, Jurisdictionalien mit frembd- und angränzenden oder anderen Herrschaften, Comitialia, Circularia, Criminalia, Originalia quaecunque und in Summa alle jene Acta, welche von einer besonderen Beschaffenheit und Betrachtung seynd und bey diesen Unseren Dicasteriis vor- und einkommen (welches auch nach obiger Weisung auf die ligen bleibend jetztmahlige 10 Jahrgäng verordnet dem gedruckten Archivinventar „Staatsarchiv Augsburg. Fürststift Kempten Archiv“ (wie Anm. 3).
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ist) pro futuro & re nata, wo nicht gleich, wenigist all Jährlich mehr besagt Unserem Archiv extradirt werden. Uber die alsdann 6. Zuruckbleibende Acta ist bey beeden Dicasteriis eine ordentliche Registratur und Alphabetische Verzeichnuß zu verfassen, zu Continuiren und eine gleichförmige Abschrift ad Archivum abzugeben, um sich auch de futuro des Raums und Platzes halber daselbsten eventualiter ersehen und prospicieren zu können. Damit nun 7. Diese Unsere Verordnung demenächstens zu ihrer Würklichkeit gelangen könne, so befehlen Wir Unseren Hof-, Regierungs- und CamerRäthen, Secretarien, Cancellisten und Officianten, die mit dererley zu thun oder unter Handen haben, daß die und dieselbe alle Acta, wie die immer Namen haben mögen, in Termino inferius praefigendo Unseren HauptDicasteriis Pflichtmäßig aushändigen und vorlegen, von jenen aber, so noch in motu und zu weiterem Gebrauch nöthig seynd, eine schriftliche und deutliche Verfassung einreichen sollen, welch letzteres Wir auch von dem Cancellariat und Landrichter-Amt quo ad Criminalia und in diese special Chargen gehörigen Actis statuirt haben wollen. Wurden 8. Aus Unserm Archiv oder denen beeden mehr erwehnten Dicasteriis einige Acta nach Umständ der Läuff und Zeiten zu ein- oder dem anderen Geschäft zu erheben seyn, sollen dieselbe gegen gebührenden Legschein allemahlen verabfolgt, nach gemachtem Gebrauch aber ad locum unde ex integro wieder restituiert werden. Betreffend 9. Die Feldmesserey und dahin einschlagende Acta hat Unsere nachgesetzte Hof-Camer den möglichen Bedacht zu nehmen, daß auch diese merkliche Materien in eine gute Verfassung gebracht werden. Da Wir auch endlichen 10. Von Unseren Land- und Pfleeg-Aemtern der zuversichtlichen Gesinnung seyn, daß diese auf eine dem Amt und dessen Beschaffenheit angemessene Registratur von selbsten beflissen seyn werden, mit dem alleinigen Zusatz, daß, wann einige Acta Originalia oder andere Notabilia & Considerabiliora bey ein- oder anderen repositur vorfindlich seyn wurden, diese desumptis Copiis anhero wohlverwahrter eingeschickt werden sollen. Und nachdeme 11. Durantibus feriis autumnalibus und so weiter dermahlen die gelegniste Zeit vorhanden, wo all diesen Puncten Folg und Ordnung gegeben werden kan, so solle gegenwärtig Unser Speciales Mandatum a die recepti seinen Anfang nehmen, in beeden Dicasteriis und allen Canzleyen affigirt
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und de praeterito bis neu Jahr 1770 befolgt, pro futuro aber hierauf stracklich und vest gehalten werden. An deme allem dann beschiehet Unser ernstlicher Will und Meinung. Zu dessen haben wir diese Unsere Verordnung mit Unserem grösseren Fürstl[ichen] Insiegel corroborieren lassen, so geben in Unserer Residenz und Stift Kempten den 30. Septembris 1769.33
Der Aufsatz basiert auf dem Vortrag des Verfassers beim Archivwissenschaftlichen Fachgespräch „Archive im Alten Reich als Herrschaftsinstrumente“ am 28. November 2019 in der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns. 33
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Das Archiv des Hochstifts Bamberg. Bestände, Aufgaben und Verhältnis zu den Behördenregistraturen Von Klaus Rupprecht Das Archiv als „confusum chaos“ ( Jo s e p h A l b e r t K l u g e r ) Als Paul Oesterreicher 1803 nach dem Tod des Archivars Joseph Albert Kluger die Stelle des ersten Archivars des kurz vor der Auflösung stehenden Hochstifts Bamberg antrat, klagte er1: „Die Einrichtung des Archivs bedarf noch viel Zeit und große Anstrengung. Dem Einfluße der Witterung, dem Staub und den Motten preisgegeben, in offenen Fächern, auf Tischen, auf dem Fußboden, nach alter Weise gebrochen und nicht ausgefalten, schadhaft, auch in einem unterirdischen Gewölbe vergraben, also ganz dem Verderben ausgesetzt, zum Theil nicht einmal verzeichnet, liegen Akten und Urkunden da; man kann in der That sagen, daß der Stall des Augias zu reinigen ist.“ Paul Oesterreicher2, der die Geschicke des Bamberger Archivs bis 1839 erfolgreich gestalten sollte, setzte hohe Maßstäbe an das eigene Wirken und beäugte die Tätigkeit anderer Archivare, Bibliothekare oder Wissenschaftler stets äußerst kritisch. Er befand die äußere und die innere Einrichtung des hochstiftischen Archivs stark verbesserungswürdig und er hatte damit in Teilen wohl auch nicht unrecht. Dennoch folgen seine Aussagen, blickt man jedenfalls auf die Bemühungen der bambergischen Archivare der letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts, die hier im Mittelpunkt stehen sollen, eher einem Topos als der Realität.3 Bayerisches Hauptstaatsarchiv, MInn 41143 (Schreiben vom 19.2.1803). Klaus Rupprecht, Paul Oesterreicher (1767–1839) – Archivar und fränkischer Landeshistoriker. In: Archivalische Zeitschrift 89 (2007) S. 9–43. 3 Siehe dazu Markus Friedrich, Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013, S. 138 f.: „Derartige alarmierende Passagen kennzeichneten sie gegenüber ihren Auftraggebern als selbstlose, unermüdliche und treue Diener, die sogar ihre eigene Gesundheit im Dienste der Ordnung hintan stellten. […] Archivare mussten leidensfähig und selbstlos sein, das war praktisch unvermeidlich, aber die Archive und Urkunden waren den Einsatz eben auch wert – und die Fürsten sollten dieses heroische Engagement entsprechend belohnen …“ 1 2
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Dies belegt u.a. das sog. Pro Memoria des Joseph Albert Kluger von 1769, in welchem er den Stand des Archivs schilderte und sich für das Amt des kurz zuvor verstorbenen Archivars Johann Albert Ignaz Böttinger bewarb.4 Er blickte darin auf seine bisherige Zeit als Mitarbeiter im Archiv zurück und berichtete, dass durch sein Wirken die bis dahin sich in „gräulichem“ Zustand befindenden sieben Archivgewölbe erst wieder zur ordentlichen Verwahrung von Akten und Urkunden hergerichtet und benützbar gemacht wurden; zudem das ganze Archiv auf elf Gewölbe ausgedehnt wurde. Jedes dieser sieben Gewölbe, so schreibt er – dabei das zeittypische Lamento über die schwierigen äußeren Bedingungen der Archivarbeit nutzend –, sei „bey Antritt seines Diensts mit Acten und Schrifften von allerhand Sorten und Materien häufig angefüllet und mit lauter alten wurmstichigen Behältern, Kästen, Verschlägen und Fässern, welche vermutlich von denen schwedischen Kriegszeiten noch hergestammet seyn, bestellet [gewesen]“. „Ich sahe dieses confusum chaos mit Erstaunen an und verwunderte mich sehr, das man seit deme, da diese Acten und Schrifften nach verrauschten schwedischen Kriege aus den Vestungen Cronach und Vorchheim wieder redimiert worden sind, so wenig eine vollkommene Einrichtung dieses so herrlichen Archivs eine ernstliche Hand angelegt und diesen dem Hochstift höchst schädlichen Fehler nicht besser gesteuert habe.“5 „Da aus einer so verwirrten Beschaffenheit dieses ansehnlichen fürstlichen Archivs der erwünschte Nutzen nicht geschöpfet werden könnte“6, so Kluger weiter, habe er sich für das Archiv, die einzelnen Gewölbe, ein System der inneren Einrichtung überlegt, welches er mit Zustimmung der Archivare Christoph Faber und Johann Albert Ignaz Böttinger im letzten Jahrzehnt auch umsetzen konnte und nun der weltlichen Regierung erneut vorstellte. Sein ausführliches Gutachten und seine konstruktiven Vorschläge brachten ihm letztlich die Stelle des Archivars ein. Bevor auf dieses System der inneren Einrichtung zurückzukommen ist, soll zunächst ein kurzer Blick auf die Geschichte des Archivs erfolgen.
Staatsarchiv Bamberg (StABa), B 69 Nr. 8 a (Pro Memoria vom 2.4.1769). – Vgl. auch Christian Haeutle, Das ehemals fürstbischöflich Bambergische Archiv. In: Archivalische Zeitschrift 14 [N.F. 1] (1890) S. 106–146, hier S. 137–142. 5 StABa, B 69 Nr. 8 a (Pro Memoria vom 2.4.1769). 6 Ebd. 4
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Das Archiv des Hochstifts Bamberg
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Geschichte des hochstiftischen Archivs Das Archiv des Hochstifts Bamberg ging in seinem Kern auf die Abspaltung vom wesentlich älteren domkapitelschen Archiv im Segerer (Sakristei) des Bamberger Doms zurück.7 Im Spätmittelalter wurden zunehmend Urkunden aus dem domkapitelschen Archiv in das, wie man es damals nannte, bischöfliche Archiv, das sich in unmittelbarer Nähe zur Kanzlei in der Alten Hofhaltung befand, gezogen. Zudem wurden den Bischöfen bzw. dem Hochstift neu gewährte kaiserliche Privilegien und päpstliche Diplome, ausgehandelte Verträge mit Nachbarterritorien oder Urkunden über Kaufgeschäfte nur mehr dort archiviert. Darüber hinaus schuf man beginnend im späten 14. Jahrhundert eine sog. pergamentene Registratur, in welcher sich Kopialbücher mit den Abschriften aller älteren Urkunden (ab der Bistumsgründung 1007) ebenso befanden wie die jeweils für die Regierungszeit eines Bischofs angelegten sog. Privilegienbücher.8 Beide Archive existierten bis zum Ende des Alten Reichs nebeneinander, wobei das bischöfliche/hochstiftische (nur davon soll hier im Folgenden die Rede sein) dem domkapitelschen Archiv naturgemäß – es bezog sich ja immerhin auf ein ganzes Territorium – an Größe und Bedeutung langsam den Rang ablief, auch wenn die auf die Gründung und Dotation des Bistums und Hochstifts bezogenen Kaiser- und Papsturkunden stets im Original im domkapitelschen Archiv blieben.9 Am Ende des 16. Jahrhunderts füllte das bischöfliche Archiv neben den Kanzleiräumen in der Hofhaltung bereits mindestens drei Gewölbe mit Urkunden, Hofratsprotokollen, frühen Verwaltungs- und Gerichtsprotokollen, Rechnungen, Ämterbestallungen etc. Zudem hatte die bischöfliche Verwaltung, nachdem beide Archive nach fast 50 Jahren kriegsbedingter Flüchtungen im Jahre 1570 nach Bamberg zurückkehrten, die Situation genutzt, um neben allen direkt die Bischöfe betreffenden Schriftstücken auch die älteren Lehenssachen, die
Das Folgende v.a. nach Haeutle (wie Anm. 4). – Joseph Sebert, Das königlich bayerische Kreisarchiv Bamberg und sein Neubau. In: Archivalische Zeitschrift 28 [N.F. 15] (1908) S. 161–234. 8 Die meisten der ehedem zur pergamentenen Registratur gehörenden Bände finden sich aktuell im Bestand B 21 (Kanzleibücher) im Staatsarchiv Bamberg; vgl. Die Fürstenkanzlei des Mittelalters. Anfänge weltlicher und geistlicher Zentralverwaltung in Bayern (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 16), München 1983, S. 96–101 (Klaus Frhr. von Andrian-Werburg). 9 Haeutle (wie Anm. 4) S. 120 f. 7
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Kreis- und Reichstagsangelegenheiten u.a. endgültig dem bischöflichen/ hochstiftischen Archiv zuzuordnen.10 Die erste umfassende Beschreibung des Inhalts des bischöflichen oder auch Kanzlei-Archivs stammt aus den 1660er Jahren von dem Kanzleiregistrator – so die Bezeichnung für den Archivar damals – Johann Jakob Gagel. In dem sog. unteren Gewölbe fanden sich in Laden sachbezogene Aktensammlungen (z.B. Klosterakten, Fraischakten, Jagdakten, Geleitsakten, Musterungs- und Erbhuldigungssachen, Akten in Bezug auf die Herrschaftsausübung in Kärnten etc.). Dazu gab es aber Laden, die offenbar vornehmlich Urkunden enthielten, wie etwa die sog. schwarze Truhe, die „Alle Verträge des Stifts im Original, wie sie in der Pergament-Registratur sich abkopirt finden“11 enthielt. In der ebenfalls zum Archiv gezählten oberen Registratur lagen in Schubladen und Truhen Akten über die hochstiftischen Außen-Ämter in genere und in specie (nach dem Alphabet), dann die sog. adelige Registratur (ebenfalls nach dem Alphabet der Familien), weiter Bauernkriegs- und jüngere Kriegsakten, Hofgerichtsprotokolle, Malefizakten, Reichs- und Münzsachen etc. In n e re E i n r i c h t u n g , B e s t a n d s a u f b a u d e s A r c h i v s i m a u s g e h e n d e n 1 8 . Ja h r h u n d e r t Die genaueste, zugleich auch die letzte Gesamtübersicht über das hochstiftisch-bambergische Archiv gewährt uns der vom zweiten Archivar Wilhelm Johann Heyberger (1720–1781)12 im Jahre 1775 unter dem Titel „Systema Archivi Secretioris Principatus Bambergensis“ als Manuskript erarbeitete Generalkonspekt des in der Neuen Residenz zu Bamberg als neuem Verwaltungszentrum untergebrachten hochstiftischen Archivs.13 Dabei bezieht er sich deutlich auf die von seinem vorgesetzten Archivar Joseph Albert Kluger in dessen Pro Memoria von 1769 geschilderte innere
Ebd. S. 109 f. und 118 ff. Ebd. S. 129–130. 12 Wolfgang Leesch, Die deutschen Archivare 1500–1945, Bd. 2: Biographisches Lexikon, München u.a. 1992, S. 253. – Joachim Heinrich Jaeck, Pantheon der Literaten und Künstler Bambergs, Heft Nr. 57 und 58, Erlangen 14. und 21.2.1813, S. 463. 13 StABa, B 69 Nr. 11; eine allein auf die innere Einrichtung der Gewölbe bezogene Abschrift vgl. StABa, B 69 Nr. 12. – Vgl. auch Haeutle (wie Anm. 4) S. 138 f. und 143 f. 10 11
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Systema Archivi Secretioris Principatus Bambergensis (Titelblatt) (Staatsarchiv Bamberg, B 69 Nr. 11).
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Einrichtung des Archivs, ohne diesen jedoch namentlich zu erwähnen.14 Beide verband eine sehr innige Abneigung.15 Gewölbe für Gewölbe, Raum für Raum, listet Heyberger nicht nur die einzelnen Wandgestelle (Repositurae) mit ihren Obertiteln auf, sondern nennt auch alle Kästen (Scrinia) mit ihren Inhalten an Urkunden, Bänden, Akten und Rechnungen. Auffällig ist dabei, dass mit dem Fortschreiten der Räume die Genauigkeit der Auflistung und damit auch die offensichtlichen Ordnungs- und Lagerungsverhältnisse rapide abnehmen. Während die Gewölbe A und B jeweils einen Umfang von sieben Seiten haben, beginnt die nur mehr eine Seite umfassende Beschreibung des Gewölbes C folgendermaßen: „Archivgewölbe C, worinnen summarisch und promiscue, dann ohne behörige Ordnung sich befinden …“.16 Zum Gewölbe E heißt es dann lediglich noch in einem Absatz: „In diesem Gewölbe und in denen mit Gittern verwahrten und vervielfachten Repositoriis werden deren gesamte Hochstifts Ämter bey der dahiesigen hochfürstlichen Regierung in dem XVII. und dem gegenwärtig vürlauffenden XVIII. Saeculis verhandlete Jurisdiktions- und Civilprozess Acta aufbewahrt.“ Darüber hinaus lässt Heyberger die bei Kluger in seinem Pro Memoria von 1769 genannten weiteren vier Archivgewölbe im Souterrain ganz weg. In dem archivtheoretischen Teil seiner Überlegungen, seines Systemas, teilt er das Archiv in das geheime (diplomatische) Archiv (Gewölbe A – C) und das gemeine Archiv ab dem Gewölbe D, in welchen insbesondere die Akten und Urkunden in Bezug auf die Innenpolitik im Hochstift Bamberg lagerten. In einem ersten als „Laboratorium“ bezeichneten Raum, in welchem auch die Archivare, Ingrossisten und Registranten arbeiteten, lagerten in den Wandgestellen sowohl „ältere“ Rezess- und Fraischbücher und Urteilsbücher des Hofrats, Konzessions- und andere „archivalische Bücher“, dann Korrespondenzen mit dem Reichshofrats- und Reichskammergerichtsagenten, ältere Archiv-Repertorien, Huldigungsrollen und -akten, Kanzlei- und Regierungsprotokolle vom 15. Jahrhundert an, Jurisdiktions- und Syndikatsprotokolle der weltlichen Regierung sowie eine ältere Serie der sog. Libri Miscellanea. Des Weiteren standen dort – wohl auch StABa, B 69 Nr. 8 a (Pro Memoria vom 2.4.1769). Vgl. zum Beispiel die Vorwürfe Heybergers von 1772 und die umfassende Rechtfertigung Klugers dazu in StABa, B 69 Nr. 10; zum Verhältnis von Heyberger und Kluger vgl. den letzten Abschnitt dieses Beitrags. 16 StABa, B 69 Nr. 12 (unfol.); auch für das folgende Zitat. 14 15
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aus Gründen der Nachschlagefunktion für die Archivare – Druckwerke wie etwa das neue Bamberger („Adam Fridericianische“) Landrecht, ältere und neuere Bamberger Stadt- und Landkalender, sämtliche Bamberger Wochenblätter sowie eine Serie der Stadt- und Landesverordnungen und -mandate. Im Gewölbe A fanden sich die Kopialbuch- und Registerüberlieferung (pergamentene Registratur), dann die Kaiser- und Königsurkunden als auch die Papsturkunden. Hier lagerten außerdem die Urkunden und Akten zu den Wahlen der Bischöfe samt deren Wahlkapitulationen, aber auch die Prozessakten verschiedener Bischöfe an der päpstlichen Kurie sowie die anlässlich der Begräbnisse der Bischöfe angefallenen Unterlagen. Viele weitere Wandschränke und Kästen waren v.a. mit den Differenzund Konferenzakten mit den benachbarten Territorien gefüllt, v.a. dem Markgraftum Brandenburg-Bayreuth und Brandenburg-Ansbach, der Reichsstadt Nürnberg, dem Herzogtum Sachsen, dem Herzogtum Oberpfalz und dem Hochstift Würzburg (jeweils geordnet nach den betroffenen bambergischen Ämtern bzw. mediaten Klöstern und Stiften). Dazu gehörten auch die jeweils mit diesen Territorien geschlossenen Verträge und Abschiede, bzw. übergreifende Einungs- und Bündnisverträge. In den sog. langen Schubladen wurden die „Mappa Geographica“ aufbewahrt, also die Serie der Bamberger Risse und Karten bzw. Augenscheine. In den Truhen in den beiden letzten mit P und Q benannten Wandgestellen waren schließlich noch die Reverse und Belehnungsakten der vier Hofoberämter abgelegt, dann Hofratsordnungen, Kauf-, Tausch- und Vererbungsbriefe, Urteilsbriefe, Testamente, Obligationes, Quittungen, kaiserliche Protektionen, Wappenbriefe, Ehepacta, Deposita etc. sowie schließlich Streitsachen (samt zugehöriger Rezesse) zwischen hochstiftischen Behörden, v.a. zwischen Obermarschallamt, Landgericht, Vizedom amt und der Stadt Bamberg. Im ersten Wandgestell des Gewölbes B wurden Dokumente und Akten zu den drei großen Spitälern in der Residenzstadt Bamberg sowie zu dortigen Stiftungen, den beiden großen Pfarreien sowie weiteren Pfründen und Benefizien aufbewahrt. Der Großteil der Wandschränke und Truhen war jedoch gefüllt mit den Verhandlungsprotokollen und Jurisdiktionsstreitsachen mit den mediaten Klöstern (u.a. Michelsberg, Langheim, Banz), Stiften (St. Stephan, St. Jakob, St. Getreu) im Hochstift sowie der Universität samt den daraus resultierenden Verträgen und Urkunden. Eine wichtige Gruppe stellten jene Schriftstücke dar, die in der Beziehung zum Mitregenten im Hochstift, dem Domkapitel Bamberg (mit Dompropstei)
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entstanden waren, u.a. die von dem Domkapitel auf dem Appellationsweg an das Hofgericht gekommenen Prozessakten, die Rezesse und übrigen Urkunden mit dem Domkapitel, verschiedene domkapitelsche Konferenzund Jurisdiktionsakten und ebensolche mit der Domdechantei und dem Konsistorialgericht. Schließlich lagerten in diesem Gewölbe noch die Akten, Verträge und Prozesse in Beziehung zu den vielen Klöstern und Stiften außerhalb des Hochstifts, u.a. mit der Alten Kapelle in Regensburg, dem Kloster Ebrach, der Propstei Neunkirchen am Brand, den Klöstern Michelfeld, Speinshart, Weißenohe, Schlierbach, Theres, Gengenbach, Stein am Rhein, Veßra, Kitzingen, Niederaltaich, dem Aegidienstift zu Nürnberg, den von Bischof Otto gestifteten Klöstern Aldersbach, Arnoldstein, Asbach, Biburg und vielen mehr. Das Gewölbe C war zum einen den Lehenssachen gewidmet und zum anderen den Beziehungen zu den reichsritterschaftlichen Kantonen bzw. den zahlreichen reichsritterschaftlichen Familien der Umgebung. Es wurde deshalb auch als „adeliges Zimmer“ bezeichnet. Folgende Rubriken werden genannt: ältere und neuere Lehenbriefe und Reverse der adeligen Vasallen, die bei der Regierung und beim Lehenhof, dann den höchsten Reichsgerichten mit den reichsritterschaftlichen Kantonen und deren Mitgliedern sowie Hochstiftsvasallen zu unterschiedlichsten Angelegenheiten angefallenen Akten, die mit reichsritterschaftlichen Kantonen ausgehandelten Verträge, die mit den adeligen Vasallen ausgehandelten Verträge und Einungen sowie Austauschrezesse, die mit den Kantonen und den Vasallen gepflogenen Konferenzakten. In den Gewölben D und E, dem sog. gemeinen Archiv, wurden die wichtigen Unterlagen zu den Amtsstädten und -märkten sowie den hochstiftischen Ämtern aufbewahrt. Dazu gehörten in Gewölbe D die den Städten, Märkten und Dörfern verliehenen Privilegien, Immunitätswappen und Siegel, besondere Freiheits- und Konzessionsbriefe, ältere und neuere Handwerksordnungen, Verträge der Städte und Märkte unter sich, Verträge der Städte, Märkte und Gemeinden mit Benachbarten sowie die dem zugrundeliegenden Zivil-, Kommissions- und Konferenzakten. Dagegen verwahrte man in Gewölbe E die von den Hochstiftsämtern bei der Regierung im 17. und 18. Jahrhundert verhandelten Jurisdiktions- und Zivilprozessakten. In seinem Generalkonspekt beschränkte sich Heyberger auf die Auflistung des im Erdgeschoss der Neuen Residenz vom Hochstiftsarchiv genutzten „Laboratoriums“ und der fünf Gewölbe. Aus der Zusammenstellung von Joseph Albert Kluger sowie aus Berichten der Säkularisationszeit
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ist aber darüber hinaus bekannt, dass unter diesen Gewölben weitere Räume im Keller der Neuen Residenz für das Archiv genutzt wurden. Neben weiteren Zivilprozessakten in Bezug auf die Ämter des Hochstifts waren hier offenbar die auf die Herrschaft in Kärnten bezüglichen Akten und Bände untergebracht, außerdem die Malefizakten, weitere Handwerkssachen, Jagd-, Geleits-, Ungelds-, Kriegs-, Reformations- und Judenakten sowie Bestallungsangelegenheiten,17 um nur die wichtigsten Gruppen herauszugreifen. Fasst man die Zusammenstellung Heybergers zusammen, so lassen sich folgende Schlüsse ziehen: 1. Es handelte sich um das die staatsrechtlichen Verhältnisse des Hochstifts Bamberg dokumentierende Urkundenarchiv des Hochstifts. Allerdings waren nur einige wenige Scriniae (Läden, Kästen) reine Urkundenbehältnisse. Dabei handelte es sich vornehmlich um alle im Gewölbe A liegenden Serien der Kaiser- und Königsurkunden, der Papsturkunden, der Bündnis- und Einungsverträge mit Territorien oder Territorienbündnissen (Schwäbischer Bund, …), Serien von Kauf-, Tausch- und Vererbungsbriefen sowie von Urteilsbriefen. Als eigene Einheiten waren auch Urkunden privatrechtlichen Ursprungs abgelegt, deren Beweiskraft durch die Lagerung im Archiv gesichert wurde, z.B. Testamente, Kaufbriefe, Obligationes, Quittungen, Ehepacta und Deposita. Ansonsten war die themengebundene Lagerung von Urkundenserien im Verbund mit den diesen zugeordneten Aktenserien die Regel. So folgten in den Gewölben A und B jeweils im Anschluss an die großen Serien der Konferenz- und Differenzakten mit den benachbarten Territorien die sich darauf beziehenden Verträge und Abschiede. Gleiches gilt für die Serien der Konferenz- und Differenzakten mit dem Domkapitel und der Dompropstei Bamberg sowie den Klöstern, Stiften, Spitälern und Stiftungen innerhalb und außerhalb des Hochstifts. Die Reverse über die Belehnungen mit den vier Hofoberämtern fanden sich in der Lade mit den entsprechenden Belehnungsakten; die Wahlkapitulationen der Bischöfe und die im Zuge deren Wahlen und Bestätigungen nötigen Urkunden lagerten in der Lade zu den Bischofswahlen. Im Gewölbe C, dem sog. adeligen Gewölbe, waren die älteren und neueren Lehenreverse der adeligen Vasallen, 17
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StABa, B 69 Nr. 8 a, vgl. dazu auch Haeutle (wie Anm. 4) S. 138 f.
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die mit reichsritterschaftlichen Kantonen und mit den adeligen Vasallen ausgehandelten Verträge und Einungen ergänzend zu den nach dem Alphabet der Familien liegenden Differenzakten abgelegt. Das Gewölbe D beherbergte schließlich die auf die Privilegienpolitik gegenüber den eigenen Städten und Märkten im Hochstift bezogenen Urkunden und Akten: den Städten, Märkten und Gemeinden verliehene Rechte, Immunitätswappen und Siegel, besondere Freiheitsund Konzessionsbriefe, ältere und neuere Handwerksordnungen, Verträge der Städte und Märkte unter sich sowie Verträge der Städte, Märkte und Gemeinden mit Benachbarten. 2. Zum Wesenskern des Archivs gehörte ferner die bereits mit ihren Inhalten erwähnte sog. pergamentene Registratur, die sowohl die ältesten Kopial- und Privilegienbücher des Hochstifts umfasste – mit den Abschriften der im Original im domkapitelschen Archiv liegenden auf die Gründung und Dotation des Hochstifts bezogenen Kaiserund Königsurkunden – sowie die auf die jeweilige Herrschaftszeit eines Bischofs bezogenen, seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts angelegten Privilegienbücher. Die dazu gehörenden Bände lagerten nicht umsonst im sog. Laboratorium, dem gemeinsamen, dem Gewölbe A vorgelagerten Arbeitszimmer von Archivar und Ingrossist bzw. zweitem Archivar. Denn die Anfertigung dieser Privilegienbücher gehörte zu den laufenden Geschäften der Archivare bzw. Ingrossisten im Archiv genauso wie die Anfertigung von Abschriften von diesen und Registern zu diesen18. In diesem Zusammenhang stehen auch die gleich in der ersten Truhe nahe den Kaiser- sowie Papsturkunden aufgestellten und im Verbund mit der pergamentenen Registratur zu sehenden Urkundenabschriftenbände (Codices Chartacei, Chartaria). Hier spiegelt sich insbesondere die Tätigkeit der bambergischen Archivare der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die – im Sinne einer frühen historisch-diplomatischen Forschung, aber auch im Sinne eines Festhaltens der Rechtsgrundlagen des Hochstifts – Urkundenabschriftenwerke erarbeiteten19 wie zugleich UrkundenabVgl. als Beispiel die von W.J. Heyberger geschaffenen Bände von Bischof Franz Conrad von Stadion (StABa, B 21 Nr. 33) und Band I zu Bischof Adam Friedrich von Seinsheim (StABa, B 21 Nr. 34/I) bzw. die von Adam Anton Heyberger geschaffenen Bände II und III der Regierungszeit des Bischofs Adam Friedrich (StABa, B 21 Nr. 34/II+III), dazu Haeutle (wie Anm. 4) S. 142. 19 Zunächst das heute verlorene Tomus I Diplomatum von W.J. Heyberger (1764 dem Fürstbischof überreicht), dann der „Corpus recessum et ordinationum“ (Zusammentrag 18
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Privilegienbuch aus der Regierungszeit des Bischofs Adam Friedrich von Seinsheim, zusammengestellt von Adam Anton Heyberger (Titelblatt) (Staatsarchiv Bamberg, B 21 Nr. 34/II).
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schriften als Urkundenabbildungen „zeichneten“20. Darauf wird aber am Schluss dieses Beitrags noch einmal zu kommen sein. 3. Das Archiv des Hochstifts war in keinem Fall ein reines Urkundenarchiv. Darin waren ganz bewusst alle zeittypischen Schriftgutgruppen repräsentiert: Urkunden, Amts- und Kanzleibücher (wie etwa die genannten Kopialbücher, dann Fraischbücher, Urteilsbücher des Hofrats, Libri Miscellanea, …), ältere und laufende Protokollserien der weltlichen Regierung (Kanzlei- und Regierungsprotokolle vom 15. Jahrhundert an, Jurisdiktionsprotokolle, Syndikatsprotokolle, …), große Serien an Akten in gebundener und loser Form sowie als lagerungstechnischer Selekt in den langen Schubladen die „Mappa Geographica“. Es ging also im Archiv nicht um einen bestimmen Archivalientyp, sondern um die Aufbewahrung der als rechtlich relevant angesehenen Sachverhalte in ihrer gesamten Überlieferungsbreite. 4. Schaut man auf die Inhalte und die Herkunft der Unterlagen und sieht von den älteren mittelalterlichen Dokumenten ab, blickt also v.a. auf jene ab der Mitte bzw. dem Ende des 16. Jahrhunderts, so sehen wir, dass sich im Archiv insbesondere die Aufgaben der weltlichen Regierung und damit deren schriftliche Umsetzung spiegeln. Dabei handelte es sich insbesondere um die Pflege der Außenbeziehungen zu den umliegenden Territorien (Differenzen, Gebrechen, Konferenzen, …), zu der reichsritterschaftlichen Korporation wie zu den reichsritterschaftlichen Familien, zu den Klöstern, Stiften und weiteren geistlichen Instituten innerhalb und außerhalb des Hochstifts. Mit Blick auf die mediaten Institutionen wie Domkapitel, Klöster und Stifte wird unterschieden in Jurisdiktionsakten (Differenzen) und Zivilakten (Regierung als Appellations-/ Gerichtsinstanz). Zen trale Aufgabe darüber hinaus war das Regieren über Land und Leute, sämtlicher hochstiftischer Verträge, durch Archivar Böttinger, ebenfalls verloren), dann v.a. Klugers Sammlung der Verordnungen des Hochstifts Bamberg (Elenchus Codicum Constitutionum Bambergensis [1775 dem Bischof überreicht], heute nur noch in Bänden erhalten B 26 c, 1/I–1/VI, der Rest leider wohl im 19. Jahrhundert auseinandergenommen und nach Sachthemen geordnet, vgl. B 26 c Nrn. 2–181) sowie dessen neunbändige Geschichte des Fürstbistums Bamberg (eher ein Panegyrikus der Fürstbischöfe), vgl. Haeutle (wie Anm. 4) S. 134 f. und 141 f. 20 StABa, B 21 Nr. 3 W.J. Heyberger, „Chartarium Archivi Secretioris Bambergensis“ mit diplomatisch genauen Abschriften von Kaiserurkunden bis 1023; zu erwähnen ist hier auch das eher als Regestenwerk angelegte, Urkunden von 815 bis 1378 umfassende „Partem primam Archivi principatus Bambergensis sive Directorium cum regestis imperialia continentem“ (StABa, B 69 Nr. 24).
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also über die Städte, Märkte und Ämter des Hochstifts, sowohl in Bezug auf die innere Ordnung und die „Policey“ wie auch als höhere Gerichtsinstanz. In keinem Fall dürfen in dieser Aufzählung die sich im Archiv spiegelnden Aufgaben der weltlichen Regierung bei Landeshuldigungen, Bischofswahlen und Bischofsbegräbnissen vergessen werden. Auch wenn weder Kluger noch Heyberger in ihren Übersichten zu den Archivbeständen Angaben zum Alter der bei ihnen summarisch aufgelisteten Urkunden und Akten machen, so wird aus der Ablage und weiteren Indizien deutlich, dass das Archiv auch unmittelbare Registraturfunktion für die weltliche Regierung übernahm. Abgeschlossene Akten aus den genannten Bereichen wanderten sogleich in das Archiv und machten damit eine – wie auch immer geartete – reponierte Regierungsregistratur überflüssig bzw. ersetzten diese. Solche Indizien sind z.B. ein zufällig in einer Regierungsakte entdeckter Leihzettel, der Bezug auf eine aus dem Archiv entliehene Akte nimmt, die selbst aber nur wenige Jahre zuvor geschlossen worden war.21 Ein weiterer Beweis für die These ist sicherlich folgender Rückvermerk
Leihzettel des hochstiftisch-bambergischen Archivs, 1771 (Staatsarchiv Bamberg, B 67/XVII Nr. 6476). 21
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StABa, B 67/XVII Nr. 6476 (unfoliiert, der Leihzettel vorne in der Akte eingelegt).
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auf einer 1790 geschlossenen Akte: „ist ins Archiv zu schicken und ad Acta zu legen, dabey aber Abschrift des reichshofräthlichen Conclusi vom 30. Junius 1781 von da abzuverlangen“22. Des weiteren beklagten die Archivare deutlich die mangelnde Bereitschaft der Hofräte zur Rückgabe der ihnen für ihre täglichen Geschäfte entliehenen Akten. Nicht selten, so Kluger in seinem Pro Memoria von 1769, komme es vor, dass, wenn einmal ein Hofrat stürbe, sich wagenweise Akten finden würden, die wieder in das Archiv zurücktransportiert werden müssten.23 5. Aus allen diesen Beobachtungen ergibt sich auch die ebenfalls wichtige Frage, was wir nicht in dem Archiv des Hochstifts Bamberg finden? Hier wären als erstes die großen Korrespondenzserien in Bezug auf die Teilhabe des Hochstifts Bamberg am Reichstag und am Kreistag zu nennen. Seit der Institutionalisierung der Geheimen Sphäre um den Fürstbischof im ausgehenden 17. Jahrhundert waren diesbezügliche Aufgaben im unmittelbaren Umfeld des Fürstbischofs angesiedelt und nicht mehr Arbeit der weltlichen Regierung. Es ist sogar klar ersichtlich, dass die ursprünglich als Bestandteil des Archivs vorhandenen, 1500 bzw. 1521 beginnenden Korrespondenzserien mit der Gründung der Geheimen Kanzlei als Registratur des Geheimen Kabinetts24 aus dem Archiv entnommen und der Geheimen Kanzlei zugeführt wurden. Ferner enthielt das fürstbischöfliche Archiv keine Altakten der weiteren Zentralbehörden des Hochstifts. Möglicherweise einmal dort vorhandene hatte der Kanzleiregistrator Gagel schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wieder zurückgegeben.25 Wie in naheStABa, Hochstift Bamberg, neuverz. Akten 638. StABa, B 69 Nr. 8 a (Pro Memoria vom 2.4.1769). – Haeutle (wie Anm. 4) S. 139. 24 Vgl. das Repertorium der Geheimen Kanzlei aus dem Jahr 1791 in StABa, B 69 Nr. 30. – Klaus Rupprecht, Die Geheime Kanzlei des Hochstifts Bamberg zur Zeit des Fürstbischofs Lothar Franz von Schönborn. In: Bericht des Historischen Vereins Bamberg 143 (2007) S. 439–455. – W.J. Heyberger kritisierte stark, dass die Serien der Reichstags- und Kreistagsunterlagen in der Geheimen Kanzlei und nicht im Archiv seien (StABa, B 69 Nr. 11, Systema … II. Abschnitt § 2). Gegen Ende des 18. Jahrhunderts erfolgten zwar zwei kleinere Abgaben aus der Geheimen Kanzlei in das Archiv (Ältere Kärntner Sachen, ältere Reichstags-Sachen, vgl. die entsprechenden Einträge in dem Findbuch der Geheimen Kanzlei, StABa B 69 Nr. 30), doch scheinen diese Übergaben eher der Platznot in der Geheimen Kanzlei geschuldet als einem Zuständigkeitswechsel. 25 Offenbar hatte man schon vor den Aktenflüchtungen – möglicherweise auch wegen dieser Flüchtungen – zu Beginn der 1630er Jahre Altakten von Zentralbehörden in das Archiv 22 23
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zu allen Territorien des Alten Reichs hatten sich im Hochstift Bamberg im Verlauf des 16. Jahrhunderts im Zuge der Spezialisierung der Verwaltungsbereiche neben Hofrat, Hofgericht und kaiserlichem Landgericht weitere Kollegialorgane entwickelt.26 Dabei handelte es sich zunächst um den Lehenhof (mit dem Edellehen- und Bürgerlehengericht) und die Hofkammer. In den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts gründete man die Obereinnahme, den Hofkriegsrat, das Malefizamt und den Geistlichen Rat; knapp ein Jahrhundert später etablierte sich darüber hinaus aus der Geheimen Sphäre um den Fürstbischof herauswachsend eine Geheime Kanzlei mit einem Geheimen Referendär an der Spitze. Im Behördenaufbau des Hochstifts Bamberg war diese Geheime Kanzlei, dies belegt der nahezu vollständig erhaltene Schriftverkehr vollkommen, den Zentralbehörden (Dikasterien) übergeordnet und unterstand dem Fürstbischof unmittelbar. Im 18. Jahrhundert, insbesondere in dessen zweiter Hälfte, wurde der dargelegte Behördenstand ergänzt zunächst durch das Oberbergwerkskollegium und dann durch sog. Kommissionen, die in aller Regel als besondere Abteilungen der weltlichen Regierung Sonderaufgaben übernahmen (Policeykommission, Armen- und Arbeitshauskommission, Jagdkommission, Schulenkommission, Kulturkommission, Universitätshauskommission, Kommerzienkommission, …). Alle diese Behörden unterhielten eigenständige Registraturen und waren z.T. auch in anderen Lokalitäten als der zu Beginn des
übernommen. Als die Archivunterlagen aber dann nach dem Dreißigjährigen Krieg nach Bamberg zurückkehrten, legte der Kanzleiregistrator Johann Jakob Gagel Wert darauf, dass diese an die Dikasterien übergeben werden sollten. Vgl. Haeutle (wie Anm. 4) S. 130. 26 Als wichtigste Werke sind zu nennen die Überblicksdarstellung von Dieter J. Weiss, Reform und Modernisierung. Die Verwaltung des Bistums Bamberg in der frühen Neuzeit. In: Bericht des Historischen Vereins Bamberg 134 (1998) S. 165–187. – Für das 16. Jahrhundert v.a. Hans Jürgen Schmitt, Die geistliche und weltliche Verwaltung der Diözese und des Hochstifts Bamberg zur Zeit des Bischofs Weigand von Redwitz (1522–1556). In: Bericht des Historischen Vereins Bamberg 106 (1970) S. 33–184, sowie für das 17. Jahrhundert allerdings mit Schwerpunkt auf der Finanz- und Wirtschaftsgeschichte Hermann Caspary, Staat, Finanzen, Wirtschaft und Heerwesen im Hochstift Bamberg (1672–1693) (Bericht des Historischen Vereins Bamberg, Beiheft 7), Bamberg 1976. Als zeitgenössische Werke zur Verwaltungsgeschichte vgl. F.A. Schneidawind, Versuch einer statistischen Beschreibung des kaiserlichen Hochstifts Bamberg, Bamberg 1797, S. 280 ff. und Benignus Pfeuffer, Beyträge zu Bambergs topographischen und statistischen so wohl älteren als neueren Geschichte, Bamberg 1791.
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18. Jahrhunderts errichteten Neuen Residenz untergebracht. Nach der Fertigstellung der Neuen Residenz in Bamberg als neuem fürstbischöflichen Repräsentationsbau und Verwaltungszentrum waren dort im Wesentlichen die Geheime Kanzlei und die Weltliche Regierung samt deren Kanzlei sowie das hochstiftische Archiv mit eingezogen. Die meisten anderen Behörden(registraturen) verblieben in der Alten Hofhaltung am Domplatz oder sie waren in anderen Repräsentativgebäuden in der Stadt untergebracht, wie etwa die Hofkammer in Schloss Geyerswörth. Diese Situation war dazu angetan, die Eigenständigkeit und das Eigenleben der Dikasterien samt deren Registraturen zu fördern und den vorgestellten Befund zu erklären. Im Übrigen zeigen auch die im Staatsarchiv Bamberg nach jahrelangen Analysen wieder aufgebauten provenienzreinen Fonds dieser Behörden samt den darin enthaltenen Altrepertorien des 18. Jahrhunderts, dass Unterlagen von der Gründung der Behörden an in diesen Registraturen lagen.27 Gleiches gilt übrigens für die Unterlagen in den Registraturen der hochstiftischen Ämter. Eine kleine Ausnahme mag der Lehenhof sein. Hier wurden im Zuge einer Neurepertorisierung der Registratur im ausgehenden 17. Jahrhundert alle Lehenakten vor ca. 1600 an das Archiv abgegeben (Repertorium von 1693)28. Die Akten ab ca. 1600 blieben jedoch Bestandteil der Registratur bis zur Auflösung des Hochstifts 1803. Das Archiv des Hochstifts Bamberg scheint also, so ist zumindest der Beständebefund, ohne Zuständigkeit für die anderen Dikasterien gewesen zu sein. Ein Grund mag gewesen sein, dass es dem Kanzler und damit der weltlichen Regierung unterstand – und sich die übrigen gleichrangigen Zentralbehörden von dieser nichts dekretieren lassen wollten. Betont werden muss aber, dass der Anspruch des Archivs – zumindest in Bezug auf die staatsrechtlich relevanten Urkunden aber auch etwa die bei der Hofkammer lagernden Erwerbsurkunden – ein deutlich anderer war. Bereits in seinem Gutachten vom 2. April 1769 betonte der Archivar Kluger als Als Beispiel vgl. das Altrepertorium der Hofkammer von 1770 in zwei Bänden, StABa, Hochstift Bamberg, Hofkammer Akten und Bände Nrn. 2712 und 2713. Allgemein siehe die Online-Findmittel zu den Behördenbeständen des Hochstifts Bamberg auf https://www. gda.bayern.de/findmitteldb/Archiv/4/ (zuletzt aufgerufen am 6.12.2019). 28 Vgl. Klaus Rupprecht, Vorwort zum Bestand Hochstift Bamberg, Lehenhof Akten und Bände, https://www.gda.bayern.de/findmitteldb/Findbuch/5601/ (zuletzt aufgerufen am 3.11.2019). 27
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Repertorium über die Akten der Hofkammer des Hochstifts Bamberg, 1770 (Staatsarchiv Bamberg, Hochstift Bamberg, Hofkammer Akten und Bände Nr. 2712).
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einen der Hauptmängel des Archivs, dass von den Regierungsdikasterien nicht alle und von übrigen Zentralbehörden gar keine Originaldokumente (= staatsrechtlich relevante Urkunden) an das hochfürstliche Archiv kämen, weder um diese zu ingrossieren noch um diese im Original im Archiv zu reponieren, „… sondern es will ein jedes Dicasterium für sich selbsten ein Archiv besitzen und die seinige Originalien darin verwahren.“29 Er führt weiter aus, das Hochstift Bamberg sei nur ein Wesen und könne damit nur ein Archiv haben. Ferner bezieht er sich auf eine bischöfliche Weisung von 1747, nach welcher alle Originaldokumente aus den Zentralbehörden im Original im Archiv reponiert werden sollten, „damit der späten Nachkommenschaft eine zu Vertheitigung der irgendwo angefochtenen landesherrlichen Befugnissen erkleckliche und zureichliche Schrifftensammlung zubereitet und hinterlassen werden möchte“.30 Daraufhin erging auch am 29. Juni 1769 eine entsprechende fürstbischöfliche Weisung an alle Dikasterien.31 Ein Erfolg war dieser, wie allen früheren und späteren Weisungen32, kaum oder gar nicht beschieden. Au f g a b e n v i e l f a l t u n d Au f g a b e n w a n d e l i m A r c h i v Dies mag, trotz der bischöflichen Weisungsschreiben, an der fehlenden Durchsetzungsfähigkeit der weltlichen Regierung, der Starrhalsigkeit der anderen Zentralbehörden und der mangelnden Beharrlichkeit der Archivare bzw. deren vorgesetzter Stellen gelegen haben. In Betracht muss man aber v.a. ziehen, dass das hochstiftische Archiv in seiner Aufgabenstellung umfassend in die Tagespolitik, in das tägliche Regieren, einbezogen war und deshalb ganz andere Aufgabenschwerpunkte setzen musste. Schon die Dienstinstruktion für den dem Archiv vorgesetzten Kanzler des Hochstifts Johann Gottfried Hepp von 1779 macht deutlich, worin man den eigentlichen Zweck des Archivs sah: „wie dann derselbe sonderheitlich auf unser fürstl. bamberg. Archiv die sorgsame Aufsicht und Obsorge zu tragen hat, dass solches jederzeit in guter Ordnung gehalten, alles genau und fleißig registriret, die Urkunden wohl verwahret, mithin in solchen Stand erhalten werde, damit jenes, was zu Behauptung unserer Hochstiffts Gerechtsa-
StABa, B 69 Nr. 8 a (Pro Memoria vom 2.4.1769, unfoliiert). Ebd. 31 Haeutle (wie Anm. 4) S. 139. 32 Ebd. S. 135. 29 30
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men dienlich und erforderlich ist, aus denen wohl zu verwahrenden Acten jedesmahl an Handen gegeben werden könne.“33 Angesprochen werden die gute Ordnung, das fleißige Erschließen, die konservatorisch sichere Aufbewahrung, damit zu gegebener Zeit den handelnden Hofräten zur Verteidigung der Rechte des Hochstifts die wichtigen Informationen übermittelt werden können. Die archivarischen Kernaufgaben waren also ganz klar eingebunden in eine dem Territorium für die aktuelle Politik, für aktuelle Streitsachen dienende Funktion.34 Dies konnte auf unterschiedlichsten Wegen geschehen. Einmal ganz direkt durch das Heraussuchen und die Ausleihe entsprechend einschlägiger Akten für die Hofräte zur Erarbeitung von deren Berichten und Gutachten. Aus einem ab den 1760er Jahren überlieferten Protokoll des hochstiftischen Archivs35, in welchem die wesentlichen Anfragen festgehalten wurden, kann man ersehen, dass dies die mit Abstand häufigsten Anfragen waren. Weiter konnte die Informationsweitergabe durch die Erstellung eigener urkunden- oder aktenbasierter Gutachten, gegebenenfalls sogar durch eigene Stellungnahmen im Rahmen der Hofratssitzungen erfolgen. Unter diesem Aspekt ist auch das Bemühen der Archivare zu sehen, in den Rang eines Hofrats aufgenommen zu werden36 oder zumindest ständig bei den Sitzungen anwesend zu sein. Das aber gerade lehnte der sonst dem Archiv gegenüber sehr aufgeschlossene Fürstbischof Adam Friedrich von Seinsheim ab und betonte, der Archivar hätte die vornehmliche Aufgabe das Archiv zu verwalten, sich also um dieses zu kümmern, und solle daher v.a. schriftlich reagieren bzw. nur in Ausnahmen selbst erscheinen müssen.37
StABa, Hochstift Bamberg, neuverz. Akten 4277. Vgl. Hermann Rumschöttel, Die Entwicklung der Archivwissenschaft als wissenschaftliche Disziplin. In: Archivalische Zeitschrift 83 (2001) S. 7–21, hier S. 11. – Michael Hochedlinger, „Geistige Schatzkammer Österreichs“. Zur Geschichte des Haus-, Hof- und Staatsarchivs 1749–2003. In: Leopold Auer – Manfred Wehdorn (Hrsg.), Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Geschichte – Gebäude – Bestände, Innsbruck 2003, S. 16–40. 35 StABa, B 69 Nr. 4; eine Sammlung einzelner Weisungen der Regierung an das Archiv, vgl. StABa, B 69 Nr. 1/I+II. 36 Vgl. in StABa, B 69 Nr. 7, das entsprechende Gesuch des Archivars Christoph Balthasar Faber. Er argumentierte, dass er für die Druckschrift der weltlichen Regierung gegen das Haus Brandenburg die Quellen geliefert habe und ansonsten in keinem anderen Territorium der Archivar nicht von Hofratsrang sei (13.8.1749). 37 StABa, B 69 Nr. 8a (Antworten von Bischof Adam Friedrich von Seinsheim auf die Vorschläge Klugers in dessen Pro Memoria vom 2.4.1769). 33 34
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Das Archiv als Informationsbeschaffer von Rechtsgrundlagen für die Verwaltung, sei es in Streitsachen mit benachbarten Territorien und mit geistlichen mediaten Institutionen oder als Vorlagengeber für eigene Rechtssetzungen im Hochstift selbst, das gehörte also zu den zentralen den Archivalltag bestimmenden Aufgaben. Das setzte natürlich einen gründlichen Ordnungs- und Erschließungszustand wie auch Verwahrungszustand des Archivs voraus. Gerade diese Verhältnisse wurden aber insbesondere von den Archivaren selbst häufig kritisiert, zumeist zu Beginn ihrer jeweiligen Amtszeiten.38 Bischof Adam Friedrich von Seinsheim hatte das Archiv im November 1763 selbst visitiert und erkannt, dass es insbesondere eine Personalmehrung benötige, um der Situation Herr zu werden.39 Überhaupt sehen wir jetzt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Institutionalisierung des Archivs als Behörde mit deutlich vergrößertem Personalstand samt Ansätzen einer Hierarchisierung, der Verabschiedung einer Archivordnung, die u.a. die Dienstzeiten des Archivs regulierte und zugleich deutlich erweiterte, der Anlage von Verwaltungshilfsmitteln wie Journal und Ausleihtagebuch, einer neuen Gebühren- / Taxordnung sowie der Formulierung der Dienstpflichten für die verschiedenen im Archiv tätigen Gruppen (Archivar, 2. Archivar, Ingrossist, Registrator, Registrant, Buchbinder, Archivbote).40 Neben dieser Institutionalisierung stellen wir aber genauso eine Professionalisierung41 und teilweise Neuausrichtung archivarischer Tätigkeit fest. Der Archivar Kluger machte genaueste Vorgaben, wie die Gesamtordnung im Archiv hergestellt, sachlich zusammenhängende Aktengruppen unter einem Generaltitel in Spezialdirektorien erfasst werden sollten und – offenVgl. etwa die Analysen Fabers von 1755 (StABa, B 69 Nr. 8 a); Friedrich (wie Anm. 3) S. 137, stellt mit Bezug zu den häufigen Klagen über den Ordnungszustand der Archive fest, dass für die Archivare in den Territorien das funktionierende Archiv kein Zustand, sondern ein dauerhaftes Projekt war. 39 Haeutle (wie Anm. 4) S. 134 f. 40 StABa, B 69 Nr. 7 (Personalsachen); StABa, B 69 Nr. 8 a (Entwürfe für die Dienstin struktionen und die Taxordnung), StABa, B 69 Nr. 1 und 4 (Journal und Protokoll) sowie B 26 c Nr. 170 (Archivordnung). 41 Frank M. Bischoff, Professionalisierung des Archivars – Anforderungen und Bildungswege vom Ancien Régime bis zur Gegenwart. In: Peter Wiegand (Hrsg.), Festakt des Sächsischen Staatsarchivs aus Anlass des 175-jährigen Bestehens des Hauptstaatsarchivs Dresden und Fachtagung „Archivische Facharbeit in historischer Perspektive“, veranstaltet vom Sächsischen Staatsarchiv in Gemeinschaft mit der Fachgruppe 1 des VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e. V., Dresden, 22.–24. April 2009, Dresden 2010, S. 47–54. 38
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bar in der Art von Verzeichnungsrichtlinien – wie die einzelnen Aktentitel registriert und mit einem Buchstaben-/Nummern-System versehen werden sollten.42 Die sonst täglich laufenden Dienstgeschäfte kann man u.a. der Taxordnung entnehmen. Als wichtige Stichwörter erscheinen hier das Inrotulieren43 der Akten in Verbindung mit deren näherer Beschreibung (Designation), das Verwahren und die Wiederherausgabe von Testamenten, überhaupt das Deponieren unterschiedlichster als privat angesehener Unterlagen (Konzessionen, Schankrechte, Kaufgeschäfte, …) sowie die Auskunft darüber und deren Herausgabe im Original sowie schließlich das Vidimieren von Originalen in Parteisachen. Was sich in der Taxordnung natürlich nicht niederschlug, weil es verwaltungsinterne Dienstleistungen waren, war die schon beschriebene Funktion als Informationsvermittler von Herrschaftswissen für die weltliche Regierung in Auseinandersetzungen mit anderen Territorien oder in der Vorbereitung neuer Gesetze und Mandate bzw. in der Argumentation gegenüber den eigenen Untertanen in Prozessen. Zudem sind auch wenige Fälle von (halb)-öffentlicher Nutzung des Archivguts dokumentiert. Dazu zählen etwa Auskünfte für andere Territorien oder andere Archivare wie den brandenburg-bayreuthischen Archivar Philipp Ernst Spieß über Urkundenmaterial44 oder etwa die Anfrage des Bamberger Chorrektors Schramm, der ein Werk über Bamberger Münzen und Siegel schreiben wollte und deshalb beim Kanzler um Unterstützung nachsuchte. Das hochstiftische Archiv bekam die Weisung, man solle ihm mit Akten helfen, sein Werk danach aber zensieren.45 Die Funktion des Archivs als Hüter und Wahrer der Rechte des Hochstifts wurde zusätzlich unterstützt durch die Aufgabe, die sog. pergamentene Registratur zu führen. Es war Aufgabe des Ingrossisten, zum einen die laufend und aktuell eintreffenden von einem Bischof gewährten Rechte, abgeschlossenen Verträge, Kaufgeschäfte etc. in ein Privilegien- oder Kopialbuch einzutragen; je nach Regierungszeit der Bischöfe ergab dies einen Vgl. dessen Beschreibung der Ordnungsmaßnahmen seit ca. 1760 in StABa, B 69 Nr. 8a (Pro Memoria vom 2.4.1769). 43 Unter Inrotulieren verstand man das Fertigmachen von Akten zur Versendung an eine nächsthöhere Gerichtsinstanz oder eine juristische Fakultät. 44 Otto-Karl Tröger, Die Archive in Brandenburg-Ansbach-Bayreuth. Ihr organisatorischer Aufbau und ihre Einbindung in Verwaltung und Forschung, Selb-Oberweißenbach 1988, S. 369 f. 45 StABa, B 69 Nr. 2 und 10 (1776/77). Ein weiteres Beispiel wären etwa die Recherchen und Urkundenabschriften, die der Archivar Faber im Auftrag des Fürstbischofs 1743 für das Chronicon Gottwicense liefern sollte, vgl. Haeutle (wie Anm. 4) S. 133. 42
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Entwurf der Inneneinrichtung des Archivs, Zeichnung des bambergischen Hofschreiners Johannes Bauer (Staatsarchiv Bamberg, B 69 Nr. 110).
oder mehrere Bände. Zugleich arbeiteten die Ingrossisten aber auch daran, Indizes zu den älteren Privilegienbüchern zu erstellen.46 Insgesamt machte man sich auch zunehmend Gedanken um den Gesamtaufbau des Archivs. Die von den Archivaren bei der Neubestallung zu schwörende Dienstpflicht sah vor, dass die Ordnung der Akten (sowohl die alten wie die neuen und laufenden) dergestalt einzurichten sei, „dass die Causae voneinander separiert, was in diesen erhalten restauriert und als solches dann continuiert werden sollte.“47 Über jeden dieser Generaltitel sollte dann ein Spezialdirektorium erstellt werden und die Akten darin mit Nummer und Alphabet versehen werden (z.B. Gebrechen mit Territorium x, sortiert nach Ämtern und darin dann nach Alphabet der Orte). Etliche solcher Spezialdirektorien aus den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhun-
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Die Serie der Privilegienbücher heute in StABa, B 21, vgl. auch Anm. 18. StABa, B 69 Nr. 8 a.
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derts haben sich erhalten.48 Wie die bereits geschilderten Bemühungen von Kluger und dessen Vorgänger Faber, aber natürlich auch von Wilhelm Johann Heyberger, zeigen, machten sich die Archivare Gedanken über das Große und Ganze, die Gliederung und Abfolge der Bestände und in diesem Zusammenhang auch über die konservatorische Lagerung der Unterlagen. So erging mehrfach die Aufforderung an die Hofkammer, für neue Wandgestelle und Schubläden zu sorgen. Letztlich konnten auch für Teilbereiche des Archivs neue Wandgestelle und Läden angeschafft werden, wofür der Hofschreiner Johannes Bauer 1777 Entwürfe erstellt hatte.49 Über das Ordnen und Erschließen hinaus arbeiteten – soweit zumindest bekannt geworden – die Archivare Böttinger, Kluger und Heyberger auch an anderen Formen der Aufbereitung von Archivalien für den Nutzen des Hochstifts, z.T. als Auftragswerk der Regierung, z.T. aus eigenem Antrieb. So wünschte sich die Regierung z.B. 1767 für die tägliche Arbeit eine Sammlung aller Verträge. Diese Rezess-Sammlung wurde offenbar von Böttinger auch erstellt (oder angefangen), ist aber heute leider nicht mehr erhalten.50 Der Archivar Kluger erarbeitete schließlich eine 14 Bände umfassende gebundene chronologische Sammlung aller Verordnungen und Mandate des Hochstifts samt einem Inhaltsverzeichnis.51 Davon berichtet Kluger auch in seinem Pro Memoria zum Stand des Archivs vom 4. März 1775, wenn er sich beschwert, dass er aktuell von sechs nötigen Registranten nur zwei habe, er sich um Registrierarbeiten in Bezug auf Aktenzugänge oder ältere Hofratsprotokolle sowie um die täglichen Vorkommnisse kümmern müsse und dadurch an der Erledigung der derzeit eigentlich für ihn zentralen Arbeiten gestört sei. Das waren der Elenchus über die nun fertigen Codices Constitutionum, die bereits angefangene Beschreibung des gesamten Jurisdiktionsstands des Hochstifts Bamberg und das Ein bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erarbeitetes Beispiel wäre das Verzeichnis der Kaufbriefe in chronologischer Folge (StaBA, B 69 Nr. 21), weitere aus dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zum Beispiel der „alphabetische Elenchus über die mit den Ritterorten Baunach, Gebürg und Steigerwald errichteten Verträge (StABa, B 69 Nr. 63). 49 StABa, B 69 Nr. 110, vgl. die Exponatbeschreibungen 120 und 121 in Renate Baumgärtel-Fleischmann (Hrsg.), Bamberg wird bayerisch. Die Säkularisation des Hochstifts Bamberg 1802/03, Bamberg 2003, S. 232–237 sowie den kleinen Ausstellungskatalog 100 Jahre Staatsarchiv Bamberg im Hain (Staatliche Archive Bayerns – Kleine Ausstellungen 26), Bamberg 2005, S. 18–20. 50 Haeutle (wie Anm. 4) S. 135. 51 StABa, B 69 Nr. 10 (Pro Memoria von Archivar Kluger vom 4.3.1775). – Haeutle (wie Anm. 4) S. 141. 48
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Zeichnerische Darstellung des Schlusses einer Urkunde König Heinrichs II. von 1002, „Chartarium Archivi Secretioris Bambergensis“ (Staatsarchiv Bamberg, B 21 Nr. 3, fol. 17).
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Extrahieren des Inhalts von ca. 1000 Rezessen, die in ein Kompendium gebracht werden sollten. Darüber hinaus waren beide Archivare Kluger und Heyberger mit historisch-diplomatischen Werken zum Hochstift Bamberg beschäftigt. Wilhelm Johann Heyberger hatte bereits 1764 noch als Ingrossist dem Bischof Seinsheim seinen „Tomus I Diplomatum“ überreicht. Danach arbeitete er jahrelang an einer auf Urkunden- und Aktenbasis erstellten, 1774 endlich im Druck erschienenen Rechtfertigungsschrift des Hochstifts Bamberg gegen das Markgraftum Brandenburg-Ansbach um die landesherrlichen Hoheitsrechte in Fürth.52 1775 vollendete er sein „Chartarium Archivi Secretioris Bambergensis“ mit diplomatisch genauen Abschriften der Kaiserurkunden von 815 bis 1023 für Bamberg53; im darauf folgenden Jahr erschien von ihm ein Werk mit ausführlichen Urkundenregesten zu den Kaiserurkunden für Bamberg von 815 bis 1378.54 Der Archivar Kluger dagegen arbeitete an einer Geschichte des Fürstbistums Bamberg, orientiert an den jeweiligen Regierungsjahren der Bischöfe. Diese ist als neunbändiges Manuskript erhalten.55 A r c h i v h i s t o r i k e r i n Ko n k u r re n z : Jo s e p h A l b e r t K l u g e r g e g e n Wi l h e l m Jo h a n n He y b e r g e r Gerade was das Arbeiten an und mit den Urkunden des Hochstifts betraf, gab es eine deutliche Konkurrenz zwischen dem ersten Archivar Joseph Albert Kluger und dem seit 1772 zum zweiten Archivar aufgestiegenen Wilhelm Johann Heyberger. Kluger beharrte darauf, der ihm untergeordnete Heyberger solle sich doch seinen eigentlichen Aufträgen widmen, 52 Ignaz Christoph Lorber von Störchen – Wilhelm Johannes Heyberger, Die durch die allgemeine Teütsche, und besonders Babenbergische Geschichte aufgeklärte, Dann Durch jene, von denen Römisch-Teutschen Königen und Kayseren verliehene Gnaden Urkunden bestättigte, nicht minder Durch die ohnverwerflichste Reichs, Grund, und andere so wohl ohnmittelbar, als mittelbar ausgetragene Gesätze unterstützte, und gegen die, im Jahr 1771. neuerlich hervorgetrettene Hochfürstlich-Brandenburgische vermeintliche Deduction, standhaftest verthätigte Landes-Hoheit Des Kayserlichen Bist- und Fürstenthums Bamberg über den Mark-Flecken, und das gesammte Amt Fürth: mit Beylagen à Num. I. usque ad Num. 172. inclusive, Bamberg 1774. – Im selben Jahr erschien auch das dem Bischof Adam Friedrich von Seinsheim gewidmete Werk: Ichnographia chronici Babenbergensis diplomatica siue epitome diplomatico-historica (in 3 Teilen). 53 StABa, B 21 Nr. 3. 54 StABa, B 69 Nr. 24 (Manuskript). 55 StABa, A 245 Nr. 7 / I–IX.
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eine vollständige chronologische Reihung der bambergischen Urkunden vorzunehmen, die pergamentene Registratur zu führen sowie die in diesem Zusammenhang neu eintreffenden Urkunden zu ingrossieren. Stattdessen möchte dieser über die Gewölbe A – C herrschen („geheimes Archiv“) und die Schlüsselgewalt wie das alleinige Sagen haben, so dass für ihn als Archivar nur das Registrieren bliebe. Kluger beklagte Heybergers „hochmüthige Subordinations-Renitenz“56 und bezeichnete ihn darüber hinaus als Denunzianten, da er bei höherer Stelle immer wieder auf fehlende Urkunden und Akten im Archiv verwies. Heyberger hatte bereits 1764 bei der Widmung seines ersten Diplomata-Bandes an den Fürstbischof geschrieben, dass einem Lande viele Vorteile zufließen würden, wenn schriftliche Altertümer – die sonst kaum einer lesen könne – als Abschriften zum Gebrauche vorliegen. Seine Vorgänger hätten sich wohl eher als Registratoren verstanden, er aber habe nun ein Werk angefangen, „an welchem sich bis hieher sowohl wegen der fast unübersteiglichen Mühe als auch wegen der hierzu unumgänglich erforderlichen historisch-geographischen und diplomatischen Wissenschaften und Lesung deren antiquen Schriften, kein Archivarius wirklich Hand anzulegen noch weniger zu bewirken sich gewaget hat“.57 Noch deutlicher führte Heyberger 1772 den Nutzen und die Notwendigkeit der Aufarbeitung der historischen Quellen vor Augen, indem er argumentierte, dass markgräflich brandenburgisch-ansbachische und -bayreuthische Geschichtsschreiber wie Oetter oder Spieß zugunsten ihrer Herrschaft aus bambergischen Quellen (in ihren Archiven) zitieren würden. Vergleiche man diese Aussagen aber mit den im bambergischen Archiv liegenden Quellen, würde sich ein ganz anderer Kenntnisstand ergeben, weshalb diese in eine gute Ordnung zu bringen und diplomatisch genaue Abschriften zu fertigen seien, so dass in der territorialen Auseinandersetzung – und die gab es reichlich – zur Verteidigung der bambergischen landesherrlichen Rechte klug und richtig argumentiert werden könne.58 Ganz deutlich wird damit, dass zum Archivar als Hüter der materiellen Ordentlichkeit, zum Archivar als Garant der inhaltlichen Benützbarkeit und zum Archivar als kundigem Informationsbeschaffer der Obrigkeit nun ein neues Leitbild hinzutrat: der Archivargelehrte, der diplomatisch wie historisch geschulte Archivar, der „echte“ Archivar (nach Philipp Ernst StABa, B 69 Nr. 10 (Pro Memoria vom 4.3.1775). StABa, B 69 Nr. 10 (Schreiben vom 17.5.1764). 58 Ebd. (1772). 56 57
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Spieß).59 Dabei war aber stets klar, dass die nun neu interpretierte archivarische Tätigkeit stets den allgemeinen und speziellen Nutzen der Obrigkeit, des eigenen Territoriums, im Sinne hatte, v.a. im Streit mit den anderen Territorien um die Ausübung von Gerechtsamen, aber auch im Sinne des Machterhalts gegenüber den eigenen Untertanen. Im Übrigen eiferte Wilhelm Johann Heyberger auch archivtheoretisch Philipp Ernst Spieß nach, den er bei mehreren Gelegenheiten getroffen hatte und der wohl großen Eindruck hinterlassen hatte. Nutzte er 1775 bei der Verfertigung seines „Systema Archivi Secretioris Principatus Bambergensis“60, die leider nie über die Gliederung der Gedanken und des Stoffes sowie die Zuordnung der vorhandenen archivtheoretischen Literatur zu den einschlägigen Kapiteln hinaus gelangte, noch v.a. ältere archivtheoretische Literatur des 17. Jahrhunderts, so stehen dessen spätere Ausfertigungen – und noch mehr jene seines Sohnes Adam Anton – deutlich unter dem Einfluss von Spieß´ Werk „Von Archiven“. Der äußerst ambitionierte Archivar Wilhelm Johann Heyberger verstarb bereits 1781, sein ebenfalls im Archiv tätiger Sohn Adam Anton wohl 1794, während der erste Archivar Joseph Albert Kluger seinen Dienst bis zum seinem Tod Anfang 1803 versah, als das Hochstift Bamberg selbst schon fast Geschichte war.61
Tröger (wie Anm. 44) S. 370 f. und Friedrich (wie Anm. 3) S. 132–135. Enthalten in StABa, B 69 Nr. 11. 61 Der Aufsatz basiert auf dem Vortrag des Verfassers beim Archivwissenschaftlichen Fachgespräch „Archive im Alten Reich als Herrschaftsinstrumente“ am 28. November 2019 in der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns. 59 60
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Central European Publications on the Subject-Matter of Archives (1664–1804) in the Context of Ius Archivi By Joseph S. Freedman This article1 has two primary foci: 1. Writings on archives published in Central Europe beginning in the year 1664 up to the dissolution of the Holy Roman Empire in 1806 (including two treatises on registries that discuss archives, one of which also discusses ius archivi), and 2. The evolving role of the concept of ius archivi (the legal right to establish and maintain an archive) within and in respect to those same writings. Initially, attention will be accorded here to the second of these two foci. I. What apparently was the first post-medieval2 mention and discussion of ius archivi is found within a treatise – On Legal Consultants and Judicial Commissions at the (Holy Roman) Imperial Chamber Court / De Commissariis et commissionibus camerae imperialis – first published in 1597 by the German jurist Rutger Ruland.3 His treatise is divided into two parts. Chapter 5 of Part 2 in this treatise is devoted to written (legal) documents (literaria documenta), which includes attention given to archives and ius archivi. Ruland’s discussion thereof is briefly summarized here in the context of the following six points.4
This article is the sequel to Joseph S. Freedman, The Origin and Evolution of the ius archivi concept in Early Modern Central Europa. In: Archivalische Zeitschrift (AZ) 97 (2021) pp. 15–52. – In this article, all writings published prior to the year 1810 are cited within the footnotes in abbreviated form but are cited in full within the Bibliography, pp. 134–139. 2 No attempt has been made here to trace any use of the ius archivi concept prior to the 16th century. Mentions of archives within medieval treatises are cited in some 16th- and 17th-century legal publications. Refer to Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), p. 15, footnotes 2 and 3. 3 [Ruland] Rutgerus Rulant, De commissariis et commissionibus camerae imperialis, probationis receptionem concernentibus, Francofurti 1597. This treatise was republished (in two volumes) in 1604, 1617, 1664, and 1724. 4 What follows here is a brief summary of the discussion of Ruland‘s treatise found in Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), pp. 18–23 and footnotes 20 through 49. 1
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First, he regards an archive (archivum) as a public repository that (allowing for some exceptions) belongs to a political entity that has a sufficiently high status within the political and administrative framework of the Holy Roman Empire in order to be accorded ius archivi.5 Second, Ruland discusses which political entities, in hierarchical order beginning from the highest (the seven Electors) on down, within the Holy Roman Empire have ius archivi.6 Third, Ruland makes distinctions between various kinds of written documents (private and public). He notes that those documents which have antiquity as well as those documents which are in accordance with custom (consuetudo)7 can have legal validity.8 Fourth, it would appear that most, almost all, or all of the documents in an archive having ius archivi potentially can be used as legally valid instruments; the actual content of those documents is generally regarded as secondary.9 Fifth, Ruland provides some discussion of notaries and their requisite qualities.10 While it can be surmised that notaries were deemed by him to be responsible (at least in part) for the management of archives, he nowhere specifically states this.11 And sixth, public law (ius publicum / Öffentliches Recht) emerged as an academic subject matter (in jurisprudence faculties) within the Holy Roman Empire in about 1600.12 This was roughly at the same time as the initial publication of Ruland’s treatise in the year 1597. A direct connection between the two might not be verifiable, but Ruland’s concept of ius Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), p. 20 and footnote 31. Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), p. 20 and footnote 32. 7 An important authority for Ruland was Charles Du Moulin, Consuetudines Parisienses (1539 and 1575). – Concerning Du Moulin refer to Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), p. 20 and footnote 30. 8 Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), p. 22 and footnotes 45, 48. 9 Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), pp. 22–23 and footnotes 40 through 48. 10 Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), p. 21, footnote 38. 11 One indication that Ruland did accord (or would have accorded) notaries with at least partial responsibility for the management of archives is found within a Chapter (XVI) titled “De archivi ordinatione documentorum adservatione, dispositione, de personis Cancellariae, earumq; officijs” (pp. 454–464) within a legal treatise published by Adam Keller (1607). On p. 455 (line 11) therein Keller mentions Protonotarii and Notarii in connection with the management of the archive. There Keller also (pp. 455–457) [i.] cites Ruland’s treatise, [ii.] very briefly discusses ius archivi, [iii.] cites both of Jacob von Rammingen’s treatises on registries that were published in 1571, and [iv.] includes a passage (partially abridged) from Rammingen, Summarischer Bericht (1571), fol. A1v. 12 Concerning this emergence of public law as an academic subject-matter refer to Michael Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Volume 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800, 2nd Edition, München 2012, pp. 141–146. 5 6
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archivi appears to have fit well within the parameters of public law in the Holy Roman Empire. II. It was apparently not until the second half of the 17th century that Central European writings devoted to general discussion of archives began to be published; five such publications are known to date. The first was a treatise by Ahasver Fritsch (1664), followed by disputations (which then were sometimes also referred to as dissertations) published by Franciscus Michael Neveu de Windtschleé (1668), Fridericus Rudloff (1676, republished in 1747), Georgius Radovius – Michael Mutterer (1681) and Georgius Engelbrecht – Friderich Ernst Rinckhamer (1688).13 All five of these publications made substantial use of Rutger Ruland’s treatise and adopted his ius archivi concept; however, they departed from Ruland in four important ways. First, they all mention a number of terms used to refer to archives and they all – except for Neveu (1668) – discuss various types of archives.14 Second, they all discussed the caretaker thereof.15 Third, each of them either mentions or discusses how the archive should be ordered; in that connection all of them refer to registries and/or to one of Jacob von Rammingen’s two treatises thereupon.16 And fourth, they all accorded ius archivi to a broader group of political entities than Ruland did; this included the individual free imperial cities and a wider group of nobles.17 In some publications (beginning by the 1670s) the Archbishop of Mainz, having additional responsibilities as Archchancellor of the Holy
13 Concerning topics discussed within these five publications refer to Freedman, AZ 97/2021 ( footnote 1), pp. 24–27 and footnotes 58 through 74. – Concerning the distinction between disputations and dissertations refer the brief discussion in Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), pp. 24–25 and footnote 59. 14 Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), pp. 25 (footnote 60) and 26 (footnote 61). 15 Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), p. 26 and footnote 68. 16 Fritsch (1664), pp. 18, 49 (11); Neveu (1668), pp. 11–12 (XVI), 25 (XXXVIII); Rudloff (1676), fol. C2v (XXXI). – Neveu (1668), pp. 11–12 (XVI) quotes a passage from Rammingen, Summarischer Bericht (1571) that appears in Wehner (1624), p. 561. Radovius – Mutterer (1681), fol. B3r (XXI) mention the usefulness of Rammingen’s treatise(s) at the outset of their discussion of how the archive should be ordered. Engelbrecht – Rinckhamer (1688), fol. D4r (lines 9–14) mention Rammingen in connection with the dangers to rulers if registries are defective. 17 Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), pp. 26–27 and footnotes 71 through 73.
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Roman Empire, is also referred to as an archivist.18 Correspondingly, ius archivi – and archives as a whole – apparently became more closely linked with the political and administrative structure of the Holy Roman Empire during the reign of Emperor Leopold I (1658–1705).19 This connection appears not to have been completely severed until the end of the Empire in the year 1806.20 But following these above mentioned archival publications (1664, 1668, 1676, 1681, and 1688) there apparently were no further significant chan ges to the ius archivi concept in subsequent Central European archival publications. During the first half of the 18th century, such publications appear to have been almost fully limited to the republication of earlier writings. These included a collection of writings on archives published by Jacob Wencker in the year 1715.21 Rutger Ruland’s treatise on On Legal Consultants and Judicial Commissions at the Imperial Chamber Court (1597) was published for the final time in 1724.22 And Friedrich Rudloff’s treatise On the Origin of Public Archives / De archivorum publicorum origine (1676) was published for the second and final time in the year 1747.23 III. Not without consequences for the post-medieval concept of ius archivi was the gradually increasing depth and volume – beginning in the 1690s and continuing well into the 18th century – of Central European publications on the subject-matter of diplomatics.24 Writings on diplomatics generally focused on individual historical documents and on the authenticity of those individual documents. Of central importance for ius archivi was Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), p. 27 and footnote 74. Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), pp. 27–28 and footnotes 75 through 79. 20 Refer to footnotes 28 through 30 and to the corresponding text as well as to Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), pp. 34–35 and footnotes 117 through 119. 21 Wencker (1715). A collection of treatises on registries was published by him two years prior thereto: Wencker (1713). – With regard to these two publications by Wencker it might be advisable to cross-check his texts ascribed to individual authors with the actual texts published by those same individual authors. One example of disparities between the text of a publication – Aebbtlin (1669) – and the publication of that text in Wencker (1713) is documented in footnotes 35 through 37 (together with the corresponding passages of the text). 22 Ruland (1724). 23 Rudloff (1676 and 1747). 24 Refer to the brief discussion thereof in Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), pp. 29–30, 31, 33 and footnotes 85 through 88, 97, and 108. 18 19
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not the status of individual documents, but rather the legal and administrative status (within the Holy Roman Empire) of the repositories where such individual documents are kept. During the first six decades of the 18th century, archives were mentioned in some publications that focused (in whole or in part) on diplomatics.25 But conflict between ius archivi and diplomatics came to a head (no later than) in 1767 within a short, anonymously published treatise on Thoughts Concerning the Establishment of Archives and Registries / Bedencken von Einrichtung der Archiven und Registraturen. Therein the ius archivi concept discussed by Ahasver Fritsch (1664) is rejected: noted there is unlike today, ius archivi then was accepted in Germany because the academic discipline of diplomatics then was not yet known there.26 But apparently it is not until the year 1796 that a lengthy refutation of ius archivi – from the vantage point of diplomatics – was published.27 Yet while these criticisms of ius archivi (from the vantage point of diplomatics) apparently did serve as an indication of its declining importance, they did not result in its complete disappearance within those Central European treatises on archives that began to be published (no later than) in the late 1770s.28 In a treatise on archives published in 1783 by Karl Gottlob Günther it is stated that [i.] while all public repositories have the right to keep documents that might be used for legal purposes, [ii.] it is not contested by anyone that certain political entities within the Holy Roman Empire (Reichstände) have Recht der Archive (ius archivi is also Refer to the examples given in Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), p. 30 and footnotes 87–88. 26 “Im VII. Cap. scheinet er wohl den fidem probationis Archivalis [Chapter 7 in Fritsch’s treatise], wie andere seiner Zeit zu hoch getrieben zu haben. Die Ursache ist leicht zu finden. Man hatte aus denen Pandecten: als dem damahligen Magazin aller Weißheit und Wissenschaften den Titulum de fide instrumentorum allein zum Augenmerck, und die Diplomatic war damahlen in Teutschland noch eine unbekannte Wissenschafft.” Bedencken (1767), p. 24. – Concerning this treatise refer to the discussion in Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), p. 32–33 and footnotes 102 through 105. 27 This publication by Layriz is discussed in Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), pp. 35–36 and footnotes 120 through 130. One reason why such a refutation was not published prior to the year 1796 likely was the following: ius archivi apparently was so closely linked to the Holy Roman Empire that a refutation of the former would by default include (at least a partial) refutation of the latter. – Refer to Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), pp. 34–35 and footnote 119. 28 One indication of this survival (albeit diminished) of the ius archivi is an article on ius archivi in Deutsche Encyclopädie (1778), p. 730, co1. 1; refer to the discussion thereof in Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), p. 34 and footnotes 111 through 114. 25
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mentioned).29 And in a treatise on archives published in 1800 by Karl Friedrich Bernhard Zinkernagel it is noted that Archivrecht (the Latin ius archivi is not mentioned) means that all documents contained in an archive have legal validity; therein an archive is distinguished from a registry but apparently is not totally separated therefrom.30 Already noted is that the general publications of archives by Fritsch (1664), Neveu (1668), Rudloff (1676), Radovius – Mutterer (1681) and Engelbrecht – Rinckhamer (1688) all refer to registries and/or to one of
“*Gemeiniglich wird ein Unterschied zwischen Archiven und Registraturen gemacht, und nur den öffentlichen Sammlungen der Staaten und andrer Corporum, welche ein besondres Recht dazu haben, der Name eines Archivs beilegt, den geringern aber nur die Benennung einer Registratur zugestanden. (Ah. Fritsch de iure Archivi [...] ) ... Auf den Namen kommt es eben nicht an, denn iedes öffentliche Collegium, vor welchem Verhandlungen geschehen, hat wohl das Recht, die Nachrichten davon aufzubewahren, und zum Beweise für die künftigen Zeiten zu nutzen. Den deutschen Reichständen wird übrigens das, vermöge der Landeshoheit, ihnen zustehende Recht der Archive nicht bestritten.” Günther (1783), p. 6 (*, lines 1–24). – Günther refers there to Fritsch (1664) as well as to volume 1 of Toustain (1750), a six-volume French treatise on diplomatics that contains a Chapter (pp. 64–86) focusing on ius archivi (Droit d’archive). Cited in that Chapter by Toustain – in addition to the Consuetudines Parisienses as republished in Du Moulin (1612) – are a number of Central European authors, including Ruland (1597), Fritsch (1664), Neveu (1668), and Wencker (1715). A German translation of and commentary on Toustain, Volume 1 was published in 1759. 30 Here the relevant text passages are quoted: “§ 1. Eine unter obrigkeitlicher Aufsicht angeordnete Sammlung schriftlicher Aufsätze über Gerechtsame und Verfassung eines Staats, nennt man Archiv ... dann den sichern Aufbewahrungsort einer solchen Sammlung selbst. § 2. Eine Sammlung von solchen Schriften hingegen, die bey einem einzelnen Kollegium oder einer Körperschaft verhandelt werden, heißt Registratur, *) so wie das Gebäude, worinnen man diese Schriften aufbehält. § 3. Schriftliche Aufsätze, die ... in einer gewissen Form ... abgefaßt sind, heißen Urkunden; Schriften hingegen, ..., Akten. § 4. Urkunden und Akten sind ... öffentliche Zeugnisse über die heiligsten Rechte und Verbindlichkeiten eines Staats, folglich ihre Aufbewahrung die erste Pflicht des Staats. § 5. Diejenigen Personen, welchen die Anordnung und Aufbewahrung dieser Schriften nach aufgeschworner Treue und Verschwiegenheit anvertrauet wird, nennt man Archivare, Registratoren. § 6. In der Eigenschaft dieser Personen liegt das Archivrecht, welches darinnen besteht, daß die in dem Archive befindlichen Urkunden und Akten vollkommnen und öffentlichen Glauben haben ... – *Zuweilen werden auch die ältern Kriegs-, Lehen-, Konsistorial-, Kammerregi straturen u. dgl. Archive genannt, allein nicht sehr schicklich, indem in den Archiven die ältesten und neuesten, den ganzen Staat, mithin auch die darinnen befindlichen Kollegien betreffenden Schriften aufbewahrt werde, in diesen aber nicht. Es wäre dann, daß man die Archive wieder in Original- und Akten- oder Haupt- und Nebenarchive abtheilen wollte.” Zinkernagel (1800), pp. 1–2. 29
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Jacob von Rammingen’s two treatises thereupon.31 In this connection, Central European (German language) publications on registries by two authors merit attention here. IV. The first is a short treatise on registries (Registratur-Kunst) by Georg Aebbtlin published in 1669, which was republished in 1726. In his treatise Aebbtlin divides the registry into three component parts, which he refers to as Corpus 1, Corpus 2, and Corpus 3.32 Corpus 1 is the Archive (Archivum), which is where original or authentic writings (Original- oder Authenischen Schriften) are located. Corpus 2 is the Chartophylacium, which houses “public acts” (Acta Publica). Corpus 3 is the Tabularium, which contains writings that organize and/ or comment upon the contents of Corpus 1 and Corpus 2. Aebbtlin also discusses required qualifications for the records manager (Registrator) as well as why a (well managed) registry is both advantageous and useful for those political authorities to whom the Registrator reports.33 Ius archivi and diplomatics are not mentioned within his treatise. V. The second is a much lengthier treatise on registries – that also discusses archives – that was published by Philipp Wilhelm Ludwig Fladt in 1764 and again in 1765.34 Fladt makes substantial use of Georg Aebbtlin’s treatise on registries; however, he apparently only does so via a publication by Johann Jacob Wencker (1713) in which most but not all of the content
Refer to the citations in footnote 16. A segment from one of Rammingen’s treatises is included as an Appendix (pp. 65–72) in Fritsch (1664). On page 65 Fritsch indicates that it is (from) Rammingen’s Summarischer Bericht (1571). However, he has actually republished a section (fol. C1r–D1v) in Rammingen: Von der Registratur (1571) consisting of 18 sub-sections. They are listed as numbers 1 through 19 by Rammingen because the number 9 was omitted; Fritsch has corrected Rammingen’s mistake and has listed them (correctly) as numbers 1 through 18. 32 Aebbtlin (1669), pp. 14–29; Aebbtlin (1726), pp. 15–32. 33 Aebbtlin (1669), pp. 29–41; Aebbtlin (1726), pp. 32–48. 34 Fladt also authored a short treatise – Fladt, Erläuterung (1765) – which was published in response to a review of the initial publication of his treatise on registries: Fladt (1764). His treatise on registries was republished in full the following year – Fladt (1765) – together with the complete text of the Erläuterung (on pages 203–254 therein). 31
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of Aebbtlin’s treatise was republished.35 In addition, not all of the passages that Fladt cites as found within Aebbtlin’s treatise are actually to be found there.36 Unlike Aebbtlin, Fladt provides some discussion of ius archivi (Recht der Archiven) and of diplomatics.37 Fladt’s treatise is divided into two general parts. Part 1 discusses the registry (Registratur) and consists of 7 Chapters, which focus on the registry as distinguished from the archive (Chapters 1 and 2), on which collections have or do not have ius archivi (3), on the purpose and necessity of the registry (4), on the location(s) thereof and the ordering of its contents (5), on the preservation of its contents (6), and on the Finding Aids (Repertoria) needed to access its contents (7).38 Part 2 (which consists of 4 Chapters) discusses the person – the records manager (Registrator) – who is directly responsible for managing the registry; these Chapters focus on the records manager as distinguished from the archivist (1 and 3), on the required duties, prerequisites, and qualities of the records manager (2 and 3), and on the possible contents of an examination that a (prospective) records manager might need to take (3 and 4).39 Pages 1 through 33 (line 7) within Aebbtlin (1669) are found within Wencker (1713) while the final portion thereof – pages 33 (line 8) through 43 – is not. In this discussion of Fladt’s treatise on registries only the 1765 edition will be cited. 36 Aebbtlin (1669), pp. 1–14 (line 9) is found in Wencker (1713), pp. 7–14 within Chapter 1 (Das 1. Kapitel). Chapter 1 is followed by Chapters 2 through 13 in Wencker (1713), pp. 90–132. The text in Aebbtlin (1669) is not divided into Chapters. Texts in Aebbtlin (1669), pp. 14 (line 11)–17 (line 2), 17 (line 4)–20, and 21–25 (line 9) are found within Wencker (1713), pp. 90–91 (Chapter 2), 93–95 (Chapter 3), and 98–100 (Chapter 4), respectively. Aebbtlin (1669), pp. 25 (line 10)–29 (line 14), 29 (line 15)–31 (line 14), and 31 (line 15)–33 (line 7) are found – intermixed with some (sometimes lengthy) text which is not to be found in Aebbtlin (1669) – in Wencker (1713), pp. 105–112 (Chapter 5), 112–117 (Chapter 6), and 121–122 (Chapter 8), respectively. 37 In his treatise on registries Fladt notes that an archivist must be proficient with regard to diplomatics; in this connection Fladt cites a passage – found in Wencker (1713), p. 116 – which he attributes to Aebbtlin; see Fladt (1765), p. 179. However, that specific passage in Wencker (1713), p. 116 is not to be found in Aebbtlin (1669). – The phrases Recht der Archiven and iura archivi are used in Fladt (1765), pp. 45 (§ 2), 49 (§ 4). 38 Fladt (1765), pp. 13–21 (Chapter 1), 22–44 (Chapter 2), 45–54 (Chapter 3), 55–61 (Chapter 4), 62–114 (Chapter 5), 115–126 (Chapter 6), 127–140 (Chapter 7). In Chapters 5, 6, and 7 Fladt makes substantial use (pp. 67, 98, 119–122, 124, 127, 129, 135, 137) of the discussion of documents (Urkunden and Akten) presented in Pütter (1753); concerning the latter refer to footnotes 66 through 75 and to the corresponding passages of the text. 39 Fladt (1765), pp. 143–151 (Chapter 1), 152–176 (Chapter 2), 177–195 (Chapter 3), 196–202 (Chapter 4). Fladt also briefly comments on “recommendation letters” 35
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While Fladt follows Aebbtlin by considering the archive as a sub-category of registry he also departs from Aebbtlin by using the term Registratur in two distinctly different ways: [1] very broadly or [2] much less so.40 Considered very broadly, Registratur includes the archive.41 When considered much less broadly, it is clearly distinguished from the archive.42 Fladt states that only large political entities (Landesregierungen) ruled by a king or prince are entitled to have archives, and accordingly to receive ius archivi.43 Each archive serves as a depository for those writings which support the legal rights and authority of its respective political entity.44 As (Zeugnisse) and on the disposition of examiners in the final two segments (pp. 174–175: § 10–§ 11) of Chapter 3. Without specifically stating so, these examinations are apparently for new Registrator candidates and/or for experienced records managers who are presumably seeking employment elsewhere. Examinations for the Registrator are also discussed in Rammingen, Registratur (1571), fol. E2r–E4r: De Examinatione Registratoris. It is noted in Zinkernagel (1800), p. 107 (lines 15–17) that “... es gibet gewiß nur wenig Höfe mehr, wo man bey Besetzung des Archivdienstes ohne Wahl und Prüfung zu Werke geht.” However, such an examination for archivists is not mentioned or discussed within any of the archival treatises that are presented here. 40 In this connection Fladt notes (p. 46) that “Doch da in dem Wort Registratur öfters ein Wort-Spiel ...” 41 Fladt (1765) uses the words “Es hat dieses Wort auch einen gar weiten Sinn ...” (p. 4), “Nach dieser gemeldten allgemeinen Bedeutung ... proprie & in specie sic dictam” (pp. 19–20), “allgemeine Registratur” (p. 22), and “... einen gar weiten Umfang ...” (p. 28) all to refer to registries considered very broadly. 42 Fladt (1765) refers “in engerem Sinn” (p. 17), “Registratur in specie” ... “in dem gemeinen Sinn ...” (p. 22), “ad Registraturam in specie ita dictam” (p. 33), “in besonderem Verstand” ... “eine eigentliche Registratur” (p. 46), und “proprie eine Registratur” (p. 47) when denoting registries considered much less broadly. As evident in this and the previous footnote, he does not use the terms “proprie” and “in specie” consistently. Fladt (pp. 22, 27, 41(a) ) also directly juxtaposes the latter with archives. It is also noted – p. 41(a) – that the archive and the registry each has its own “manager” (Vorgesetzte) without any mention of the titles given to those managers. 43 Fladt (1765), pp. 25, 45. However, Fladt also states (p. 49) that political entities ruled by counts can also have ius archivi. In addition he provides – pp. 38–39(k), 51(a), 53, 150, 194(c) – some examples of older writings (diploma, diplomataria, vulgo: Copial-Bücher, documenta, Original-Urkunden) which have (or can have) legal validity (fides) and which are (or: can be) found in repositories that may not have ius archivi. In this connection Fladt cites – p. 38(k) – the following publication: Jo. Wilhelm Waldschmidt – Christianus Theodorus Lippe, Dissertatio juris publici de probatione per diplomataria, Vom Beweiß durch Copial-Bücher (1736), which was republished in 1753. Also refer to the brief discussion of Copial-Bücher in footnote 63. 44 Fladt (1765) refers to these writings as “... vornehmsten Schriften und wichtigsten Akten (p. 23), Acta publica & Documenta (p. 24), solche Urkunden ... die zur Aufrechthaltung eines Staats ...” (p. 25), “Haupt-, Reichs- und Landes-Documenta” (p. 26), “die
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indicated by some of the terms (Fundations-Brief, Actis primariis, bullas, diplomata)45 used by Fladt to denote archival writings, many or most of those writings were created at a somewhat earlier or much earlier time. A registry considered much less broadly, on the other hand, is where current writings are deposited and collected for use on a (possible or actual) daily basis for legal and/or administrative purposes.46 Fladt also notes, however, that some registries also have older documents.47 While registries do not have ius archivi, writings that are found in the registry can or do have legal validity in the context of lower level courts.48 Fladt states that archivists must be proficient in a range of ancient and modern languages as well as in the subject-matters of history, jurisprudence, and diplomatics.49 The records manager does not need to have the extensive language and subject matter proficiency that an archivist does.50 But Fladt also notes that the records manager needs to have sufficient knowledge of the contents of his registry; in some registries, therefore, this may require him to have some greater or lesser amount of proficiency in jurisprudence and/or diplomatics51 And a records manager in Saxony or Silesia needs to know the Czech, Hungarian, and Polish languages to the extent that such is warranted by the contents of his own Registratur.52 Fladt notes the “most pre-eminent honor” (vorzüglichste Ehre) that is to be accorded to archivists; they are clearly distinguished (weitunterschieden) from records managers (Registratores).53 However, records managers wichtigste Documenta und Acta publica über des Landes und Fürsten Gerechsame” (p. 27), and “vornehmste und wichtigste Theil der Schriften ... worunter Urkunde und Documenta begriffen ...” (p. 147). 45 Fladt (1765), pp. 23–24. 46 Fladt (1765), p. 26. Fladt also notes (p. 47) that large political entities (Landesregierungen) ruled by princes can have a registry in addition to an archive; in that case the chancellery of a prince also has the legal right to create and maintain a registry (ius registraturae). While ius registraturae is also mentioned elsewhere by Fladt – fol. )(6v (II. Cap. § 5), pp, 53, 151 – he does not discuss it in the context of those registries that are not linked to a large political entity which also has an archive. 47 Fladt (1765), pp. 180, 182–183, 194 (c). 48 Fladt (1765), p. 28 (as quoted in footnote 57). 49 Fladt (1765), pp. 177, 178–179. 50 Fladt (1765), pp. 177, 178–179. Fladt does state (p. 178) that the records manager should know French, some Latin, and have an especially good command of German. 51 Fladt (1765), pp. 179, 193. He also – pp. 182(c), 194 (c) – provides two detailed examples of where proficiency in diplomatics by the records manager is needed. 52 Fladt (1765), p. 178. 53 Fladt (1765), p. 147.
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themselves are worthy of “pre-eminent regard” (vorzügliches Ansehen), because they are entrusted with important writings contained within a chancellery (Canzley-Acten); they are also responsible for guarding the secrets (Geheimnüß) of a chancellery as a whole.54 Due to the oath that they are required to take as records managers, the writings (Acten und Schriften) entrusted to them are considered to have legal validity (Glauben) unless the contrary is shown to be true.55 Fladt lists the three components of the registry (Registratur) presented by Georg Aebbtlin: Corpus 1: Archivum, Corpus 2: Chartophylacium, Corpus 3: Tabularium.56 Both Fladt and Aebbtlin use the term Registratur as understood very broadly. In Fladt’s treatise, however, the term Chartophylacium is replaced by – and has roughly the same meaning as – the term Registratur (when the latter is understood much less broadly). Fladt also lists and discusses various kinds of writings that fall within the parameters of the Tabularium.57 However, he does not integrate Tabularium within the parameters of his own concept of the registry (considered very broadly). Within the framework thereof the archive has the highest legal status, followed by the registry (considered much less broadly) and
“Die Registratores ... indeme ihnen auch unter denen Canzley-Acten wichtige Schriften anvertrauet werden, so daß ihnen das Geheimnüß der ganzen Canzley übergeben ist: so verdienen sie vorzügliches Ansehen.” Fladt (1765), pp. 148–149. Fladt also refers (pp. 24–25) to the sacred status of archives arising from the “imperial secrets” of the documents it contains: “Und von daher, daß sie des Reichs Geheimnüß enthalten, entsteht eigentlich die Heiligkeit der Archiven, die Documenten mögen demnach verwahret liegen, wo sie wollen, in Kirchen, Capellen oder sonstigen Orten: so ist der Ort allemahl heilig.” Fladt refers (pp. 116–117) to “eine doppelte Heiligkeit der Archiven.” Archives are considered to be sacred in Rudloff (1676), fol. C1r (§ XXVI), Rudloff (1747), pp. 21–22: “Archiva enim sancta nominare licet, cum praesertim eis accesserit publica autoritas ac tutela Principis, cujus in patrocinio loca publica sunt.” In addition, see Zwey Schreiben ... Von der Heiligkeit der Archive (1756) as well as the following: “Es ist unläugbar, daß die ältesten Völker ... Sammlungen von Denkmälern veranstaltet, in großen Ansehn gehalten, und mehrerer Sicherheit und Heiligkeit wegen oft sogar in Templen aufbewahrt haben.” Günther (1783), p. 7. “Ordnung ist die erste Stütze der Heiligkeit der Archiven ... allein bey der Unordnung sinken die Altäre, die dem Schutzgotte des Vaterlandes gebauet sind.” Eckhartshausen (1786), p. 48. “Das Hauptrequisitum eines solchen Custodis scriniorum sacrorum (by the Archivarius) ist wohl der Treue.” Bachmann (1800), p. 12 (§ 12, 2, a, lines 1–2). Also see Zinkernagel (1800), p. 2 (§ 4) as quoted in footnote 30. 55 Fladt (1765), p. 149. 56 Fladt (1765), pp. 19–20. 57 Fladt (1765), pp. 32–40. 54
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thereafter by what he refers to as repositories (Repositoria).58 But at an even lower level than the repositories are those writings kept in villages.59 And finally, not only every household head, but every human being who loves order and keeps his (or her) writings in order has (in the broadest possible way) thereby created a registry.60 With regard to Fladt’s treatise on registries the following two comments can be ventured here. First, Fladt’s view that all collections of writings can be deemed as registries (understood very broadly) has a correlate in the fact that – in our time – the term “archive” can be used to refer to such collections ranging from those kept at the largest archives down to those collections maintained by individuals. And second, much of the content of Fladt’s treatise is similar to the content found within extant, Germanlanguage treatises on archives that began to be published no later than by the late 1770s.61 This includes Fladt’s discussion of [i.] the location(s) of registries, [ii.] the preservation and ordering of their contents, and [iii.] the Finding Aids needed in order to effectively access those contents. And his presentation of the required duties, prerequisites, and qualities of the records manager are similar to those required of an archivist whose collections consist mostly of current and relatively recent writings. “Doch da das Wort Registratur einen gar weiten Umfang hat, und in seiner weitläufigsten Bedeutung selbst das Archiv in sich begreift ... so pfleget man solche Registraturen der niederen Gerichter, und deren die kleine jura Cancellariae haben, noch zu der Vorzüge einer Canzley erfreuen ... weniger in einer solchen Verfassung stehen; nur Repositoria zu nennen”; Fladt (1765), p. 28. – “Dahingegen nach einem richtigen Canzley-Stylo, worinnen ... werden die Archiven, Registraturen und Repositoria genau unterschieden, und mit ihrem eigenen Nahmen benennt”; Fladt (1765), p. 43. – Fladt briefly discusses ius cancellariae (pp. 30–31) and links it (pp. 53, 151) to ius registraturae. 59 “Wie nun aber auch hiebey fast jegliches Dorf dergleichen eigene Steuer-Bücher ... und Weissthümer hat ... Allein da dergleichen Dorfschaften nicht einmahl eine Species Registraturae zukommt ... so werden ihre Brief-Behälter nicht einmahl Repositoria genannt, sondern es heisset, daß solche ihre Schriften in der Gerichts- und gemeinen Druhe oder Kiste verwahret seyen.” Fladt (1765), p. 40 (§ 8). 60 “Und dem wörtlichen Sinn nach, wo alles das eine Registratur heisset, wo die Papiere und Acten nach gewissen Registern oder Verzeichnüssen in Ordnung gelegt und verwahret werden ... hat nicht nur ein jeder ordentlicher Hausvatter, sondern ein jeder Mensch, der die Ordnung liebt, und seine Papiere nicht allenthalben zerstreut liegen hat, und erst alsdann, wann er sie braucht, in allen Wincklen aufsuchen muß, eine Registratur ...” Fladt (1765), pp. 53–54. 61 There is an oblique citation of Fladt‘s treatise on registries in Spiess (1777), p. 45. It is mentioned in Zinkernagel (1800), p. XIV that Fladt’s treatise on registries is one of the books used by him in order to complete his own treatise. 58
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VI. Here it has already been noted that ius archivi was openly criticized from the vantage point of diplomatics beginning no later than the year 1767 and apparently was not refuted at length within a publication until the year 1796.62 However, ius archivi is not criticized within the seven German language treatises on archives discussed here that were published through the year 1804. Instead, it began to be circumvented via a primary emphasis therein on the contents of those materials – as well as on the different categories of those materials and how they were to be organized – kept in archives.63 Such is also the case in the detailed discussion of archives found within the treatise titled Introduction to the Practice of Law / Anleitung zur Juristischen Praxi (1753, republished at least 5 times through the year 1802) by Johann Stephan Pütter.64 Pütter divides his treatise into an introductory segment and three Parts. Part 1 (1. Theil) focuses on legal matters in written form while Part 2 is devoted to legal materials in oral form. Part 3 is devoted to archives. AlRefer to footnotes 26 und 27 as well as to the corresponding text. One additional factor pertaining to the circumvention of ius archivi deserves mention here: the use of Copial-Bücher, that is, copies of (or: published collections of ) Urkunden that could potentially be used in legal cases. As already discussed (footnote 41), Fladt (1765) notes that such Copial-Bücher can have legal validity in repositories that do not have ius archivi. Copial-Bücher are mentioned and briefly discussed in Pütter (1753), p. 375 (§ 463), Spiess (1777), pp. 35–37, Bachmann (1800), p. 14, 51, 62, 77, Zinkernagel (1800), p. 46–47 (§ 149–§ 150), and Oegg (1804), p. 129. – “Die verhandenen alten Copialbücher, libri privilegiorum, impignorationum und andere ähnliche Urkundensammlugen beweisen schon die Einsicht unserer Vorfahren von dem Nutzen und der Notwendigkeit solcher Abschriften und geben uns ein nachahmenswürdiges Beispiel.” Günther (1783), p. 126 (§ 2, lines 11–12), p. 127 (lines 1–6). – “... glaube ich doch noch hier der Copialbücher, da solche zu Beförderung des Geschäftsganges und zur Erleichterung der Archivariatsverrichtungen so ungemein viel beytragen, erwähnen zu können. Unter den Copialbüchern verstehet man die Sammlung der Abschriften von allen denjenigen Verträgen, Verabredungen, Befehlen und getroffenen Einrichtungen, welche als allgemeine Normen angesehen werden können.” Stuss (1799), p. 14 (lines 1–9). One published collection pertaining thereto – Waldschmidt (1736 and 1753) – is cited in the Bibliography. 64 Johann Stephan Pütter, Anleitung zur Juristischen Praxi, Göttingen 1753. It was republished in 1758, 1765, 1780, 1789, and 1802. – Concerning Johann Stephan Pütter (1725– 1807) refer to Michael Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Volume 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914, München 1992, p. 472, Wilhelm Ebel, Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien 95), Göttingen 1975, and Martin Otto, Johann Stephan Pütter. In: Neue Deutsche Biographie Band 21, Berlin 2003, p. 1–2; https://www. deutsche-biographie.de/gnd118742906.html#ndbcontent (last accessed on 10 June 2020). 62 63
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though this treatise is not specifically on the subject-matter of archives, Pütter makes it clear in this treatise that he places substantial importance on the latter.65 The content of archives consists of “original documents” (Urkunden) and “other writings” (andern Schriften); collections of the latter on a specific subject-matter are referred to as “Acts” (Acten).66 Pütter provides examples of the kinds of writings that fall within the parameters of Urkunden vis-à-vis Acten.67 Extensive discussion is given to how Urkunden und Acten are to be cared for.68 While “other writings” in the archive can be collected within Acten, it is noted that individual Urkunden should not be grouped together.69 Pütter devotes substantial attention to how these archival materials – Urkunden as well as other writings / Acten – should be organized.70 The entire content of the archive should be made accessible within the context of general sections. Each of these general sections should be continually divided into sub-sections until it reaches the level of individual archival materials.71 To this end, Pütter states that what he refers to as “a natural Concerning the importance that Pütter accords to archives refer to Pütter (1753), pp. 9–10 (§ 13), 369 (§ 447–§ 448) as quoted in Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), pp. 30–31 and footnote 93. 66 Pütter (1753), p. 369 (§ 447–§ 448) as quoted in Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), footnote 93. – Concerning the use of Pütter’s discussion of Urkunden and Akten by Fladt (1765) refer to footnote 38. 67 “Zu solchen Acten gehören also 1) alle schriftlich verzeichnete Nachrichten von dem, was an dem Orte, wo das Archiv entstanden, verhandelt worden, als insonderheit die Protocolle, Registraturen, Tagebücher (diaria) etc.; 2) alle Concepte von dem, was an andere ausgefertigt worden; 3) alle Schriften, so von anderen dorthin gelanget, als Schreiben, Be richte, Suppliken, Befehle, u.d.g.” Pütter (1753), p. 370 (§ 450). 68 Urkunden and Acten are discussed in Pütter (1753), pp. 372–375 (§ 455–§ 463) and 375–379 (§ 464–§ 471), respectively. It is also stated (p. 371, § 454) that Urkunden need to be handled with more caution and care than Acten. 69 Pütter (1753), pp. 373–374 (§ 360). It is also noted (p. 375, § 463) that it is useful (1) to make copies thereof and to (2) collect such copies of Urkunden on a specific subject matter within collections thereof (Copial-Bücher) which “... besonders von den alten so genannten diplomatibus üblich und nützlich ist.” 70 Not summarized here is the discussion presented in Pütter (1753), pp. 383–387 (§ 478–§ 486) concerning what he refers to as Reichsständische Archive. 71 “Ich irre vielleicht nicht, wenn ich dasjenige Archiv in seiner Einrichtung für das vollkommenste halte, das auf solche Art die bequemste und vollständigste Abtheilungen enthält, so daß das ganze Archiv sich in gewisse vollständige Haupttheile, und immer so weiter herunter bis auf die mindeste Gattungen und einzelne Stücke zerlegen läßt, mithin jedes Stück bey seines gleichen, jede Gattung bey ihres gleichen gelegt, gesucht, und gefun65
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classification” (eine natürliche Zergliederung) of archival materials should be used when and where possible.72 But he then notes that some individual archival materials will not fit within any single sub-category.73 In such cases the use of alphabetical order is warranted, and beyond that (if needed) the chronological order as well.74 Pütter also adds that – in these case of those archives that have a multitude of diverse materials – Finding Aids (general and/or specialized) need to be created.75 In this connection Pütter also raises the issue of how newer materials should be added to older materials within an archive.76 He cautions against using any already existing Finding Aids (for the older materials) for the purpose of organizing the newer ones. Instead he recommends that the older and newer materials should be separated from one another and that new Finding Aids should be created for the newer materials – including for those materials that will be added in the future (fürs künftige). Pütter states that the purpose of the archive is that its materials are to be used.77 Therefore, all materials, including those which are currently needed as well as those which may or may not be needed at some point in the future, must be kept in the archive.78 And accordingly, once specific writden werden kann.” Pütter (1753), p. 383 (§ 477). – He also makes this same point (pp. 381–382, § 476), though there he begins with the individual archival item (individuum) and ends with the broadest category (genus generalissimum). 72 Pütter (1753), pp. 387–388 (§ 488). 73 Pütter (1753), p. 388 (§ 489). 74 Pütter (1753), pp. 389–393 (§ 491–§ 494, § 497). 75 Pütter (1753), pp. 395–401 (§ 507–§ 515). Here Pütter uses the terms Register and Repertorium (without clearly distinguishing between the two) when referring to these general and specialized Finding Aids. He notes – pp. 394–395 (§ 506) – that some more specialized archives are not in need of such Finding Aids. He also notes – pp. 391–392 (§ 495–§ 497) – that an archive containing a specific type of material may not need to have more than an alphabetical or chronological arrangement. 76 Pütter (1753), pp. 401–402 (§ 516). 77 “Die Absicht aller Archive gehet auf künftigen Gebrauch, der in so weit unbestimmt und unumschränkt ist, als man zum voraus nicht wissen, kann, ob und was noch künftig zu gebrauchen seyn, und in wie kurzer oder langer Zeit dasselbe geschehen möge.” Pütter (1753), p. 370 (§ 451). 78 “Alle Archive müssen daher nach diesem Zwecke billig eingerichtet werden, so daß 1) nichts zurückbleibe, was unmittelbar oder auf eine entfernte Art noch künftig dienlich seyn und werden kann ...” Pütter (1753), p. 370 (§ 452). – “Von allen Geschäften, die auf Rechte und Verbindlichkeiten einige Absicht haben; ist rathsam, alle Urkunden und Schriften zum Gebrauch künftiger Zeiten aufzuheben, um auf jeden benöthigten Fall sich deren so wohl zu Beweisen, als zur Nachricht bedienen zu können.” Pütter (1753), p. 369 (§ 447).
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ings kept in chancellaries are no longer needed there for the sake of (then-) current legal matters (Current-Sachen), then those same writings [i.] need to be prepared for later delivery to the archive, and then [ii.] need to be sent there at the appropriate time.79 Thereafter it is the responsibility of the archive to accession those writings properly.80 Pütter also discusses the personnel needed in order to manage an archive. This can include archivists and/or records managers and/or other officials.81 He then lists the principal duties of the archivist (Die Pflicht eines Archivarien)82 followed by the desired qualifications for archival personnel.83 Pütter concludes his treatise (and his discussion of archives) by noting that it would be of benefit to private persons to learn and use archi-
“Die erste Regel ist deswegen bey allen Archiven, daß man von allen Sachen, die nur vorkommen, alle Schriften ohne Ausnahme beylege, man mag nun deren künftigen Nutzen voraussehen, oder nicht. Zu welchem Ende alle diejenigen, durch deren Hände Schriften gehen, als besonders die Secretarien, Registratoren, Cancellisten, oder andere zur Ausfertigung und Führung der Acten bestellte Personen anzuweisen sind, alles zu seiner Zeit gehörig beyzulegen, oder denen, die besonders dazu geordnet sind, herauszugeben.” Pütter (1753), p. 371 (§ 453). – In addition, refer to the relevant discussion of these officials mentioned here in Pütter (1753), p. 293 (§ 306), p. 347 (§ 397). Also refer to the first of the two sentences quoted with the following footnote. 80 Refer here specifically to the second of the following two sentences: “Bis hieher geht nicht bloß die Beschäfftigung im Archive, sondern zum Theil auch in den Canzleyen, so fern dort alle Current-Sachen, d.i. Sachen, die noch im Gange sind, gleich von Anfang an so gehalten, und auf solche Art zum Archive vorbereitet, und zu seiner Zeit hingeliefert werden müssen (§ 453). Nun kömmt es aber ferner auf die eigentliche Einrichtung des Archivs, und auf dessen ganze Abtheilung an.” Pütter (1753), pp. 379–380 (§ 472). 81 “... Zu solchem Ende sind entweder andere Bediente mit dazu angewiesen, ein Archiv in Ordnung zu erhalten, oder wenigstens mit dabey zu arbeiten. (§ 453.472.); oder es werden besondere Bediente, unter dem Namen von Archiv-Räthen, Archivarien, Registratores u.d.g. dazu bestellt, die nichts hauptsächliches zu thun haben, als die ihnen aufgetragene Arbeit im Archive zu besorgen.” Pütter (1753), pp. 402 (§ 517, lines 5–13). – However, in the paragraph following immediately thereafter (§ 518) he lists the duties of the archivist (Archivarius), not the duties of archival personnel. 82 Pütter (1753), pp. 403–404 (§ 518), where these duties are listed in nine numbered segments (segment 9 is quoted in footnote 121). 83 “Alle diese Stücke können einem oder mehreren zum Archive gewidmeten Bedienten aufgetragen werden. Je grösser deren Geschicklichkeit und Wissenschaft ist, besonders in Historie, Diplomatik und in allem, was in die Staatsverfassung einschlägt; je grösser ihre Gaben am Verstand und Gedächtniß; je mehr Arbeitsamkeit, Gedult, Liebe zur Einsamkeit, Verschwiegenheit und Treue sie besitzen; je besser ist das Archiv verwahret.” Pütter (1753), p. 404 (§ 519). 79
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val rules in order to order the large amount of written materials that they accumulate.84 The following two general comments can be ventured here. First, ius archivi is not mentioned within the text of Part 3 of Pütter’s treatise.85 He refers there to a broad range of repositories as archives.86 But there he also provides some detailed discussion to what he refers to as Reichsständische Archive, which appear to roughly correspond to those archives to which ius archivi has been accorded.87 It can be surmised here that Pütter possibly either did not deem ius archivi to be worthy of discussion or that he preferred not to discuss it in this context. And second, it appears (on the basis of extant information) that Pütter himself did not work, at least to any significant extent, in an archive. But the content of Pütter’s discussion thereof is prescient for much of the subject-matter discussed in treatises on archives published in Central Europe, that is, within German-language archival treatises which began to be published by archivists (in lieu of by jurists) no later than by the late 1770s.88 This includes [i.] Pütter’s distinction between (and detailed discussion of ) Urkunden and Acten89, [ii.] his discussion of the care that needs to be Pütter (1753), pp. 404–405 (§ 520). – If this can be understood to mean that private persons can create their own personal archives, then this is analogous to the view of Fladt that individuals can create their own registries; refer to Fladt (1765), pp. 53–54 as quoted in footnote 60. 85 The only (albeit indirect) reference to ius archivi in Pütter‘s treatise is his mention – in a single-page bibliography placed immediately prior to the text of Part 3 – of the treatise on archives (and ius archivi) by Friedrich Rudloff, which (as stated there) was published in 1676 and republished in 1747; Pütter (1753), p. 368. Concerning that single-page bibliography refer to the brief discussion in Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), p. 31 and footnote 94. 86 The archives ranging from those of the Holy Roman Empire to those of courts, cities, and even smaller political entities (Gemeinde) are mentioned in Pütter (1753), pp. 380–381 (§ 474–§ 475), 387 (§ 487), 391–392 (§ 495–§ 496). 87 Pütter (1753), pp. 383–387 (§ 478–§ 486). – As quoted in footnote 29, the Reichsstände in the Holy Roman Empire are said to have Recht der Archive by Günther (1783) p. 6 (*, lines 18–21). 88 Portions of Pütter‘s presentation of archives are discussed in Spiess (1777), pp. 73–76, Günther (1783), p. 22, and Stuss (1799), pp. 2, 5, 8–10, 18–22. 89 Jacob von Rammingen uses diverse terminology to roughly distinguish between what Pütter refers to as Urkunden and Acten. In Rammingen, Registratur (1571) the distinction is made between [i.] Brieff and Schriften (fol. A4r, line 5), [ii.] verbrieffe und schriftliche Handlungen (fol. A4r, lines 6–7), [iii.] einer jeden Brieff and einer jeden Schrift (fol. A4r, lines 16–17), [iv.] Instrumenta publica and aliarum scripturarum Monumenta (fol. A4v, lines 15–16), [vi.] Instrumenta and Monumenta (fol. A4v, lines 18–19), and [vi.] brieff 84
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given to both, [iii.] his distinction between the older and newer contents of an archive, and [iv.] his brief discussion of the process by means of which writings that are no longer current are to be sent to and received by an archive.90 VII. Pütter’s focus on on the contents of archival materials – as well as on the different categories thereof and how they were to be organized – is in evidence within seven extant treatises published in Central Europe in German (no longer in Latin) by archivists (no longer by jurists). The first of these treatises was by Philipp Ernst Spiess (1777).91 Thereafter the treatises by Karl Gottlob Günther (1783), Karl von Eckhartshausen (1796), Just Christian Friedrich Stuss (1799), Georg August Bachmann (1800), Karl Friedrich Bernhard Zinkernagel (1800), and Joseph Anton Oegg (1804) were published.92 The primary focus in six of of these seven publications is the overall management of the archive, which consists of [i.] the maintenance of the collection (the “outer” component) and [ii.] the content of the collection
und brieffliche Urkund and andere Schriften (fol. A4v, lines 22, 24–250. In Rammingen, Summarischer Bericht (1571) the distinction is made between [i.] Instrumenta and aliae scripturae (fol. A1v, lines 2–3, 19), [ii.] Brieff and Schriften (fol. B1r, lines 14, 21, C1r, lines 19–20) and [iii.] schriftliche Urkund and schriftliche monumenta (fol. B2v, lines 2–3). – Analogously, Aebbtlin (1669) distinguishes between Original: oder Authenischen Schriften and Acta Publica (pp. 15, lines 4–5, 17, De Chartophylacio, line 3). 90 Missing from Pütter‘s treatise is any discussion of one issue that begins to be discussed in archival treatises by no later than during the final quarter of the 18th century: the removal of materials from the archive that are deemed to be no longer of use. 91 Spiess‘s treatise is cited and quoted from in Günther (1783), fol. )(2v–)(3v, )(4r and Eckhartshausen (1786), pp. 44–45 as well as cited by Stuss (1799), pp. 2, 5, 19–22 and Zinkernagel (1800), p. 85 (§ 268). Bachmann (1800), p. XV states that he has not and will not read it: “Herr Regierungsrath und Archivarius Spies sel. hat zwar auch über diesen Gegenstand geschrieben: ich kann aber auf meine Ehre versichern, daß ich seine Schrift nie zu Gesichte bekommen, ja mit Fleiß alle Gelegenheit vermeiden habe, solche zu lesen.” – Pütter (1753: 1780 edition), Spiess (1777, 1783, 1785) as well as Günther (1783) and Eckhartshausen (1786) are included within the list of writings used (Verzeichnis der bey diesem Handbuche gebrauchten Werke) in Zinkernagel (1800), pp. XIII–XIV (XIV). 92 The treatise by Bachmann was republished in the year 1801; Zinkernagel‘s treatise on archives was republished in the year 1809. Although Archivare and Registratoren are mentioned on the title page of Zinkernagel (1800), Registratoren (insofar as they are external to the archive) are only discussed on pages 100 through 113 thereof.
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itself (the “inner” component).93 All seven of these publications discuss or present a systematic overview (Archivplan) of an archival collection.94 They all also discuss terminology to be used for the purpose of organizing (and describing) an archival collection.95 All seven authors distinguish between those contents of their archival collections that are more essential (mainly for legal purposes) than others. Bachmann (1800) and Zinkernagel (1800) distinguish between Urkunden and Acten.96 Günther (1783) mentions Acten and Urkunden (referring to the latter sometimes as Documente, apparently also as Denkmale).97 Spiess (1777) discusses both Urkunden and Acten without specifically distinguishing between the two.98 Eckhartshausen (1786) appears to do roughly the same, using the terms [i.] Urschriften and Documente along with Urkunden as opposed to [ii.] Papiere as well as Data and Acta Publica.99 Stuss (1799) refers to Documente (which he also refers to as Urkunden) and Acten.100 Oegg (1804) refers only to Urkunden (which, however, he divides roughly into those Urkunden having essential, less essential, and non-essential content).101 Both components are mentioned and examined by Spiess (1777), pp. 18–76, Eckharts hausen (1786), pp. 17, 18, 24, 25–115, Stuss (1799), pp. 19–42, Bachmann (1800), pp. 58–92, and Zinkernagel (1800). pp. 78–109. For Oegg (1804), archival management has three main subject-matters, labeled Hauptgegenstand 1 (pp. 29–43), 2 (pp. 43–72), and 3 (pp. 73–134); his No. 1 corresponds to the “outer” component while his Nos. 2 and 3 correspond to the “inner” component; No. 2 and No. 3 correspond roughly to the arrangement and the description of archival materials, respectively. Günther (1783), fol. )(4r, pp. 164–195 examines the inner component only. 94 Such systematic overviews [i.] are discussed in Spiess (1777), pp. 57–65 and Bachmann (1800), pp. 68–92 but [ii.] are actually presented in Günther (1783), fol. )(4r, pp. 164–195, Eckhartshausen (1786), pp. 77–115, Stuss (1799), pp. 38–42, Zinkernagel (1800), pp. 90 (§ 271), 91–104 and Oegg (1804), pp. 112–132. 95 Spiess (1777), pp. 38–44, 49–51, 57–68; Günther (1783), pp. 16–162; Eckharts hausen (1786), pp. 74–115; Stuss (1799), pp. 29–106; Bachmann (1800) pp. 67–84; Zinkernagel (1800), pp. 85–106; Oegg (1804), pp. 43–134. 96 Bachmann (1800), pp. 84–91; Zinkernagel (1800) p. 2 (§ 3) as quoted in footnote 30. Urkunden are also referred to as Originalien, Documente, Diplome (and apparently also as Original Documenta) in Bachmann (1800) pp. 2 (§ 2), 86. 97 Günther (1783), pp. 4–5, 7. 98 Spiess (1777), pp. 2–22, 34, 35–37, 46–48, 51, 56, 57–73. Spiess also (51–55) discusses many genres of three dimensional objects, which he refers to there as Denkmale. 99 Eckhartshausen (1786), pp. 11, 12–17, 78. 100 Stuss (1799), pp. 5, 6. 101 Oegg (1804), pp. 8–12. The distinction between “essential” and “less essential” Urkunden is presented on pages 9 and 10, while the distinction betwen “less essential” and “non 93
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All seven authors address issues pertaining to archival collection management. Spiess (1777), Stuss (1799), and Zinkernagel (1800) discuss the removal of materials from the archive that are not (or: that no longer are) of any use.102 Spiess, Stuss, Bachmann (1800), and Zinkernagel all discuss external registries from which archives receive (or: are supposed to receive) recent materials.103 Spiess and Oegg (1804) discuss the accessioning of new materials into the archive while Bachmann (1800) briefly mentions the same.104 Spiess (1777) and Günther (1783) emphasize the importance of collecting historical materials from the archive in order to supplement (and/or to interpret) their own holdings.105 Spiess is also very pro-active with respect to the acquisition of historical and recent materials; Eckhartshausen (1786) quotes and praises Spiess in this regard.106 Spiess and Bachmann essential” Urkunden is presented on pages 10 and 11. Accordingly it is noted on pages 11 and 12 that Urkunden which are [i.] essential, [ii.] less essential, and [iii.] non-essential belong in [i.] the Archiv im strengen Sinne, [ii.] the Archivalregistratur, and [iii.] the Gemeine Registratur, respectively. 102 Spiess (1777), pp. 69–73; Stuss (1799), pp. 23–28; Zinkernagel (1800), p. 3*. 103 Spiess (1777), pp. 49–51; Stuss (1799), pp. 15–18; Bachmann (1800), pp. 93–104; Zinkernagel (1800), pp. 83 (§ 260), 110–114. – In this connection, Stuss suggests the following schedule (p. 16, lines 1–8): “Die Zeit nun, wie lange eine neues Actenstück in der Currentrepositur beyzubehalten sey, möchte etwa überhaupt auf 10 Jahre, bey Vormundschaftsacten aber, nehmlich bey solchen, welche die Administration des Vermögens eines Unmündigen betreffen, auf 21 oder 24 Jahre, je nachdem, den verhandenen Landesgesetzen zu folge, die Volljährigkeit früher oder später erlangt, wird, festzusetzen seyn.” 104 Spiess (1777), pp. 18–22, 66–67; Bachmann (1800), p. 92, line 4; Oegg (1804), pp. 130–134. 105 Spiess (1777), pp. 18–22, 30–31, 34; Günther (1783), pp. 7–8. 106 Spiess (1777), pp. 18–22, 26–31, 49–51. “Herr Philipp Ernst von Spieß hochfürstbrandenburgischer wirklicher Regierungsrath und erster geheimer Archivar zu Plassenburg hat in seinem Werkchen von Archiven alles dasjenige genau bemerkt, was zu einem fürstlichen Archiv nothwendig gehörig ist, wenn selbes brauchbar gemacht werden soll. Er setzt 1. Die Einlieferung aller Originalurkunden zum Archiv. 2. Die Land-, Saal- und Urbarbücher. 3. Die Sammlungen der Privatpersonen. 4. Die Untersuchung der Makulatur in Kramläden. 5. Die Nachsuchung in Rechnungsbelegen. 6. Nachsuchung in Kanzley und Registraturen. 7. Die Einlieferung allgemeiner Landesordnungen, Ausschreiben und Deduktionen. 8. Einliferung gedruckter vaterländischer Schriften unter die ersten, nöthigsten, und nützlichsten Anstalten zur Einrichtung eines Archivs. Wie sehr die wohlwollenden Entwürfe dieses edlen Mannes unterstützet worden sind, sind die auf seinem Vorschlage im Archivwesen ergangene hochfürstlich-brandenburgische Verordnungen zum Beweise.” Eckhartshausen (1786), pp. 44–45. – The Verordnungen (in whole or in part) which Eckhartshausen is referring to here apparently are those which are published in Spiess (1777), pp. 77–92.
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(1800) both discuss the library (including writings that should be included therein) that should be maintained within the archive.107 On the basis of the discussion of these seven archival treatises given above, the following two points can be made. First, to a far greater extent than is the case within the five late 17th-century publications on archives that have been discussed here, all seven of these treatises published by Central European archivists between 1777 and 1804 discuss issues that are relevant to archival theory and practice up to our time. And second, the following conclusion can be ventured here: these treatises appear to denote the beginning of the archival profession within the Holy Roman Empire.108 VIII. Following from this second (and ventured) conclusion, the following two questions can be posed. First, what is (are) the proper sphere(s) of activity for the archivist? And second, how are archivists regarded? Discussions thereof within these seven treatises on archives indicate the presence of substantially different viewpoints.109 Spiess (1777), pp. 31–33; Bachmann (1800), pp. 21–29. In this connection, Spiess (1777), p. 48* argues that notaries lack knowledge of diplomatics and therefore should not be archivists. In this context one could also pose the question (for which an answer will not be attempted here) as to when the archival profession began elsewhere. The earliest published French-language treatise on archives (which focuses largely on diplomatics) that can be mentioned here is LeMoine (1765); on its title page is a short quotation (In antiquis enunciativa verba probat) from the Consuetudines Parisienses (1539 and 1575) by Charles Du Moulin. The latter was utilized by Rutger Ruland (1597) in his discussion of ius archivi. Concerning Charles Du Moulin (1500–1566) and Rutger Ruland’s reliance on him as a legal authority refer to Freedman, AZ 97/2021 (footnote 1), p. 20 and footnote 30. LeMoine’s treatise was accorded a lengthy German-language review in Gatterer (1768), pp. 82–129 and was also republished – LeMoine (1776) – in German translation. Two additional French-language archival treatises – Chevrières (1775) and Mariée (1779) – are cited in the Bibliography. – Concerning the discussion of ius archivi in a French-language treatise on diplomatics – Toustain (1750) – refer to footnote 29. 109 These different viewpoints are evident in the following: “Gleichwie das Wort Archiv vielfältig in allzuweitläufigem Verstande genommen wird ... so gehet es auch mit dem Archivar selbst. Man macht ihn zum Regierungs-, Justiz-, Lehen-, Consistorial u. a. Registratoren, ja vielfältig zum Canzlisten und Copisten. Wiederum auf der andern Seite fordert man meistens von ihm, was allein in das Amt der Räthe einschlägt. Letzteres ist zwar der Natur der Sachen ganz angemessen, indem der Archivar eben so gut Doctor juris als facti ist, oder, daß ich mich deutlicher ausdrücke, indem er in seiner eigentlichen Amtssphäre wirkliche Rathsarbeiten verrichten muß ...” Bachmann (1800), p. 9 (§ 10). – Analogously, Bachmann also contrasts the view that the Archive consists (only) of Akten (p. 1, § 1) 107 108
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Spiess (1777), Bachmann (1800), and Zinkernagel (1800) all accord a high status to the archivist. All three authors state that the archivist should be a contributing member of supervisory councils.110 Among the required qualifications for archivists listed by all three authors are knowledge of diplomatics, history, and jurisprudence.111 Spiess also advocates that the archivist should utilize these qualifications by working with the contents of his archival collection in order to make new discoveries – and to communicate those discoveries to the fatherland (das Vaterland) and to the entire learned world (die ganze gelehrte Welt).112 Bachmann states that the archivist – provided that he is not overloaded with regular archival duties –
with his own view that the Archive should consist of “die allerwichtigsten und kostbaren Urkunden ... und Akten” (p. 2, § 2). 110 Spiess (1777), pp. 10, 11; Bachmann (1800), p. 11; Zinkernagel (1800), p. 108 (§ 279). – Spiess also recommends (p. 10, lines 5–20) that the archive should have three archivists. His references to “Der erst sollte billig Siz und Stimme in dem Regierungs-Collegium haben” (p. 10, lines 29–30) and “Ferner muß dieser Primarius, so ferne kein besonderer Director beym Archiv angestellt wäre, die Direction über die Haupt-Einrichtung des Archivs haben ...” (p. 11, lines 16–20) together appear to indicate that (for Spiess) only one archivist (or: archives supervisor) should be a contributing member of such a supervisory council. In this connection, Zinkernagel argues that the archivist must be impartial when creating evaluations: “Da nun die wichtigsten Geschäfte beynah bey allen Landeskollegien sich auf die Berichte des Archivars gründen, so muß derselbe nie den Advokaten im Archiv machen, das heißt, er muß unpartheyisch alle Urkunden und Akten prüfen und darnach sein Gutachten einrichten ...” Zinkernagel (1800), p. 107 (§ 277, lines 1–4). 111 Spiess (1777), pp. 8–9, 37 (§ 12, lines 5–11); Bachmann (1800), pp. 15–21; Zinkernagel (1800), pp. 106 (§ 274), 107, lines 17–29. – In addition, the importance of the qualities of loyality (fidelis / fides, Treue) and taciturnity (taciturnitas, Verschwiegenkeit) for archivists is noted in Fritsch (1664), p. 41 (13), Radovius – Mutterer (1681), fol. B2v (XVII), Engelbrecht – Rinckhamer (1688), fol. D3v, Spiess (1777), p. 9, Bachmann (1800), pp. 12–14, and Zinkernagel (1800), pp. 1 (§ 5 as quoted in footnote 30), 106 (§ 276, line 7), 107 (lines 29–32). These two qualities are required for Sub-Archivists in Rudloff (1676), fol. C2v (XXXI), line 8; the importance thereof for (all) archival personnel is mentioned in Pütter (1753), p. 404 (§ 519) as quoted in footnote 83. 112 Spiess (1777), p. 31 (§ 9, and line 9 therein), pp. 37–38 (§ 12, and therein the final line of p. 37 and the first line of p. 38). Spiess published two volumes – Spiess (1783 and 1785) – which include his own essays on diverse historical topics (along with documentation, including transcriptions and/or summaries of Urkunden as well as the use of recent publications pertaining to those same historical topics). Spiess argues (p. 31, lines 17–25) that the archive needs to have a library containing such recent publications as well as re levant reference works. Spiess mentions an additional reason for the pursuit of such new discoveries: this will enable an archivist to clearly distinguish himself from what he refers to – p. 37 (§ 12, lines 1–2) – as “the archival rabble” (vom archivischen Pöbel).
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can undertake additional useful tasks (Nebenarbeiten), which include the preparation of writings on history and diplomatics.113 Spiess (1777), Günther (1783), Bachmann (1800), and Zinkernagel (1800) all state that the archivist should be well paid.114 Due to the low pay that archivists receive, Spiess and Zinkernagel warn that such archivists might become disloyal and seek employment elsewere.115 Günther indicates that this low pay requires archival employees to find additional sources of income.116 Spiess (1777) and Zinkernagel (1800) also refer to the difficult working conditions in archives.117 Bachmann mentions that if the archivist does 113 The topics for these individual Nebenarbeiten are listed and briefly discussed in Bachmann (1800), pp. 50–54. – Bachmann divides his treatise on archives into two parts, the first of which (pp. 1–104) is devoted to direct discussion of the archive itself while the second part (pp. 105–410) consists of seven specific examples of these additional useful tasks (Proben, auf welche Weise sich ein Archivarius in seinen Nebenstunden nützlich beschäftigen könne.) – The archival treatise by Zinkernagel (1800) contains two Books and ten Appendices. Book 1 (pp. 4–77) focuses on diplomatics while Book 2 (pp. 78–109, 113–114) is devoted to archives, and (110–114) to external registries. Thereafter follow 10 Appendices (pp. 115–561, plus 20 additional pages) which roughly fall within the scope of Bachmann’s Nebenarbeiten. – The archival treatise by Günther (1783) focuses almost entirely on Acten (not: Urkunden) and does not include any Nebenarbeiten in his treatise. His other publications were in the domain of jurisprudence; two of them that were published while he was professionally connected with the Electoral Saxon Archive – Günther (1787 and 1792) – are cited in the Bibliography. 114 “Ueberhaupt aber merke ich noch an, daß alle zur Einrichtung eines Archivs bestellte Personen gut belohnt werden müssen ...” Spiess (1777), p. 15. In Bachmann (1800), p. 11 (lines 9–13) it is noted that both the Archivarius and the Registrator (in the archive) should be well paid. That the archivist should be paid well is also noted in Günther (1783), fol. )(2v (within a quotation from Spiess), )(3r. The importance of paying the archivist (and his most important subordinates) well is emphasized in Zinkernagel (1800), pp. 106–107 (§ 276). The importance of paying the Registrator well (and providing additional benefits beyond that) is stressed by Stuss (1799), p. 18, lines 13–17. 115 Spiess (1777), pp. 15–16; Zinkernagel (1800), pp. 108 (§ 279, lines 4–11). 116 “... geht man aber auf den Grund von dieser zurück, so dürften die Klagen eines Moser, Spieß und andrer, über die zuweilen geringe Achtung und Belohnung der Archivspersonen gewis auch einige Aufmerksamkeit verdienen. Viele werden dadurch genötigt, diejenige Zeit, welche sie auf die Vervolkommung der Berufsgeschäfte verwenden würden, solchen Nebenstudien und Arbeiten zu widmen, die sie einigermaassen schadlos zu halten vermögn.” Günther (1783), fol. )(2v (lines 5–7), )(3r (lines 1–9) 117 Spiess (1777), pp. 15–16; Zinkernagel (1800), p. 108 (§ 279, lines 4–11). In Stuss (1799), p. 21* the importance of providing archive employees (Archivpersonen) with a healthy and agreeable workplace is mentioned. He also mentions – p. 18 (lines 11–13) – the difficulty of the work that the Registrator must perform.
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not have the assistance of additional personnnel then it is not possible to properly manage the archive.118 Spiess and Günther (1783) criticize the lack of respect that (many) archivists receive.119 Zinkernagel notes that archivists should disregard the fact that they are not respected by many people, since such people do not have any knowledge concerning what archival work entails.120 In contrast to Spiess (1777), Günther (1783), Bachmann (1800), and Zinkernagel (1800), Eckhartshausen (1786) and Oegg (1804) accord the archivist a significantly lower status.121 The qualifications that Eckhartshausen mandates for the archivist are substantial. When performing his tasks the archivist should not depend on book knowledge alone: more importantly, he should proceed using his ability to ascertain the “nature and essence” of that which needs to be done.122 Eckhartshausen (1786) regards 118 “... am allerwenigsten ist es verträglich, wenn man das Archiv mit laufenden Registraturen verbindet, und dem Archivarius keine Hülfe giebt, so daß er den Gehülfen und Copisten selbst machen muß. Es ist platterdings widersprechend, einen solchen archivarium quodlibeticum haben – und dennoch das Archiv recht gebrauchen wollen.” Bachmann (1800), p. 10 (lines 21–27). – Spiess, Bachmann, and Zinkernagel all discuss archival personnel. For Spiess (1777), pp. 11–15 there should be three archivists, one Secretär, one Registrator (= Archiv-Registrator), one Canzlist, and one Copist as well as two, three, or more volunteers (Freiwillige). Bachmann (1800), pp. 41–42 mentions and discusses two Gehülfen: [i.] the Sekretär, zugleich als Archivsregistrator and [ii.] the Canzlisten. Also refer to Bachmann’s mention of Canzlisten und Copisten as quoted in footnote 108. Zinkernagel (1800), p. 106 (§ 275) lists four requisite archival personnel: Archivar, Archivsregistrator, Archivskanzlist, and Archivsdiener; he discusses – p. 109 (§ 281–§ 283) – the required qualifications and duties of the latter three. 119 Spiess (1777), p. 16, lines 15–21 as quoted in Günther (1783): fol. )(3r, lines 27–33. Also refer to comments by Günther (1783) and Bachmann (1800) as quoted in footnotes 116 and 109, respectively. 120 “Ein Archivar kehre sich auch nicht an das schiefe Urtheil des unaufgeklärten Theils seines Publikums, das often von Archivalarbeiten so viel versteht also ein Nachtwächter von Newtons Theorie des Lichts. Beyden ist daher zu verzeihen, wenn sie über Dinge redoti rern, die sie nicht verstehen.” Zinkernagel (1800), p. 108 (§ 281). 121 In the final page of Part 3 (On Archives) of his Anleitung zur Juristischen Praxi (1753) Pütter also appears to accord the archivist (Archivarius) somewhat less than a high status: “9. daß er für sich nichts zum privat-Gebrauche anwende; keine Arbeit, die im Archive geschehen kann, ausser selbigem thue; nichts von dem, war er aus dem Archive schreibt, ausser dem Archive, oder ausser dem Dienste seines Herren ohne dessen Vorwissen und Erlaubniß brauche u.s.w.” Pütter (1753), p. 404 (lines 4–9). But Pütter also lists considerable required qualifications for archival personnel: see Pütter (1753), p. 404 (§ 519) as quoted in footnote 83. 122 “Wenn man sich einem Geschäfte unterzieht, so muß man den Gegenstand des Geschäftes kennen, nicht aus Büchern allein kennen ... sondern aus der Natur, aus der We-
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philosophy as an essential component of the archivist’s work.123 It must be used in order to create the “philosophical plan” for the archive, which involves organizing it systematically and thereby linking all of its smallest parts within and with the whole.124 While the archivist must study history, that study must be linked to philosophy – in order that history is not only theoretical, but also is utilized in practice.125 In addition, the archivist must also be knowledgeable concerning politics and diplomatics; he also should be a good judge of character.126 Using a systematic (philosophical) approach the archivist has an excellent opportunity to utilize his knowledge of the past for useful purposes; the archivist should do so on a regular
senheit der Sache.” Eckhartshausen (1786), p. 11, lines 1–6. Concerning Eckhartshausen – and his numerous publications – refer to Hans Grassl – Friedrich Merzbacher, Eckartshausen, Karl von. In: Neue Deutsche Biographie Band 4, Berlin 1959, S. 284 f.; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd119552590.html#ndbcontent (last accessed on 10 June 2020). 123 Although Eckhartshausen does not directly state what he means by philosophy, from the context of his comments thereupon it can be roughly equated with (what is known in English as) a conceptual framework, which forms the parameters of one or more systems that are placed within the context thereof; on the basis of Eckhartshausen‘s comments, it appears that he regards philosophy as practical, not as theoretical. Informative concerning conceptual frameworks are the 13 key points presented in Georges Bordage, Conceptual Frameworks to illuminate and magnify. In: Medical Education 43, 4 (April 2014) 312–319. 124 Eckhartshausen (1786), p. 6 (8. Nothwendigkeit der Philosophie bey Einrichtung der Archiven.). – “12. Von der Nothwendigkeit eines philosophischen Planes bey Bearbeitung der Archiven: Mein Gegenstand, den ich in diesen Blättern bearbeite, ist nur der, zu beweisen, daß gute Plane systematisch eingerichteter Archiven nicht anderst als philosophisch entworfen werden müssen, weil der beste Plan derjenige ist, der mit den Verhältnissen der Sache vollkommen übereinskömmt, und weil es außer dem philosophischen keinen andern giebt. Ich ordne die Sache in Grundsätze, und ziehe Folgerungen heraus.” Eckhartshausen (1786), pp. 8–9. 125 “III Er soll Philosophie mit der Geschichte verbinden, und nicht bloße Theorie der Data sich sammeln, sondern die Geschichte durch praktische Ausübung nutzbar machen.” Eckhartshausen (1786), pp. 116–117. – “Die Geschichte ohne Philosophie ist einer schönen Statue gleich; man sieht die Zierde, staunt sie an, bewundert sie, aber sie nützt nicht. Die Data verflossener Jahrhunderte zu erzählen wissen, ist Theorie: sie auf gegenwärtige Zeiten anzuwenden zu wissen, ist Praktik der Geschichte, und diese ist der hauptsächliche Gegenstand eines Archivars.” Eckhartshausen (1786), pp. 121 (lines 21–27), 122 (lines 1–3). 126 Eckhartshausen (1786), pp. 117, IV (lines 3–5), 119 (lines 25–27), 120 (lines 1–9). “II Er [der Archivar] soll den wahren Historiker und Diplomatiker von dem historischen und diplomatischen Scharletan unterscheiden.” Eckhartshausen (1786), pp. 116, II.
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basis.127 But he should not publicize what he has learned.128 Permission from his prince is required in order for him to [i.] carry on correspondence (even on learned topics), [ii.] receive any external honors, or [iii.] accept any external (part-time) employment.129 The archivist is subject to much criticism, but at the same time his duty is to bear that criticism as well as possible and to avoid extensive contact with others.130 Eckhartshausen notes that the task of managing an archive is a difficult one.131 But an archivist should work without reward: working to support the (legal) rights of his prince and of his fellow citizens is in itself the greatest possible reward.132 Oegg (1804) only briefly discusses the proper role of the archivist.133 Although the archivist must have comprehensive knowledge of jurisprudence, he is not to be regarded as a learned jurist.134 And while the archivist must have a broad and comprehensive knowledge of diplomatics (Urkundenwissenschaft), he should not spend too much time intensively working with Urkunden.135 Neither Eckhartshausen (1786) nor Oegg discuss Eckhartshausen (1786), pp. 124 (lines 22–27)–126 (lines 1–12). Eckhartshausen (1786), p. 128 (lines 10–14). 129 Eckhartshausen (1786), p. 50 (lines 6–11) as quoted in the following footnote. 130 “5. Behutsames Betragen eines Archivars: Ein Archivar ist vieler Kritik ausgesetzt; Unverstand, Scheelsucht, Dummheit sind die Feinde der Edlen: es ist daher seine Pflicht, sich so gut als möglich zu betragen, daß er sich der Kritik der Bösen entzieht. Er soll sich daher vor vielen Umgang der Menschen hüten; noch mehr vor offentlichen Häusern und Gesprächen von Staatssachen; er soll mit keinem Auswärtigen, wenn es auch nur gelehrte Sachen betrifft, eine ordentliche Korrespondenz ohne Vorwissen seines Fürstens unterhalten, noch weniger auswä[r]tige Ehrentitel, Rang, oder Nebendienste annehmen.” Eckhartshausen (1786), pp. 49–50. 131 Eckhartshausen (1786), p. 49 (4, lines 1–6). 132 Eckhartshausen (1786), p. 49 (4, lines 8–13, 17–19). Presumably the reward (Lohn) mentioned here refers – at least in part – to a relatively low salary accorded to archivists. 133 Oegg (1804) pp. 17–18 (§ 11. Geschäftssphäre des Archivars). 134 Oegg (1804) p. 17 (§ 11, lines 1–17). 135 “Floskeln aus Urkunden sammeln, ist also wohl nur eine Nebensache, welche der Hauptbestimmung eines Archivar, auf Kosten der möglich besten Verwendung seiner Zeit durch ein allzueifriges Haschen nicht im Wege stehen darf.” ... “Zu den literarischen Kenntnissen ist der ganze Umfang der diplomatischen Haupt- und Hilfswissenschaften zu rechnen ... Der diesfalsige Unterricht ist der Gegenstand der Urkundenwissenschaft ...” Oegg (1804), pp. 18 (lines 1–15), 19 (§ 13. 1) Literarische Kenntnisse (lines 1–3, 8–9). – Oegg himself published widely on topics pertaining to history (broadly understood) and diplomatics; refer to August Schäffler, Joseph Anton Oegg. In: Allgemeine Deutsche Biographie Band 24, 1887, pp. 176–177; https://www.deutsche-biographie.de/pnd100841708. html#adbcontent (last accessed 10 June 2020). 127 128
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[i.] additional archival personnel beyond the archivist or [ii.] any specifics pertaining to the working conditions of the archivist. IX. The seven archival treatises (published between 1777 and 1804) discussed here also present differing viewpoints with regard to the collection foci of archives. Spieß (1777), Eckhartshausen (1786), Bachmann (1800), Zinkernagel (1800), and Oegg (1804) discuss Acten but also focus (to some greater or lesser extent) on older writings (Urkunden) and the knowledge of diplomatics needed to use them.136 On the other hand, diplomatics is not discussed in the archival treatises by Günther (1783) and Stuss (1799). While Günther stresses the importance of Urkunden137, by far the largest portion of his archival treatise focuses on Acten.138 Stuss states that his archival treatise focuses on Acten because the collections of the archives that his treatise discusses – Regierungs-Archive – consist primarily of Acten.139 For that reason, in his archival treatise the attention given to Documente (his term used in lieu of Urkunden) is very brief and diplomatics is not discussed.140 136 For Oegg (1804) this apparently applies primarily to “essential” Urkunden; refer to footnote 100 and to the corresponding passage in the text. 137 “Da die Hauptabsicht der Archive in dem Gebrauche der darinn aufbewahrten Schriften zum Beweis ehemaliger Begebenheiten oder aufgerichteter Verbindlichkeiten für die Zukunft besteht; so kann man den sogenanten Acten diesen Nutzen zwar nicht absprechen, doch wird iedermann denen mit allen Feierlichkeiten volzogenen und mit den nöthigen Erfordernissen versehenen Aufsätzen, welche den Namen der Urkunden führen, den Vorzug eingestehn.” Günther (1783), p. 125 (§ 1). 138 Günther (1783), pp. 17–124, 135–148 is devoted to Acten while pp. 125–134 focuses on Urkunden. 139 “... was die innere Einrichtung der Documente betrift, die Lehre hiervon nicht sowohl hierher, sondern in die Diplomatik gehöret, und anderntheils auch von deren Aufbewahrung und den dabey zu beobachtenden Vorsichtsregeln schon Pütter und Spies das Nothwendigste vorgetragen haben. Endlich aber auch, wie schon gesagt, ich mich in diesem Werkchen nur auf Regierungs-Archive einschränken will, und in denselben nicht sowohl Documente, wenigstens nicht so viele, als in einem Geh. Canzleyarchive, sondern größtentheils nur Acten aufbewahret werden.” Stuss (1799), pp. 5 (final 7 lines), 6 (lines 1–5). 140 Refer to the passage quoted in the previous paragraph as well as the following: “Folgende Bemerkungen in Ansehung der Documente indessen durften doch wohl hier nicht übergangen werden. ... Dieses wäre alles, was ich von der Aufbewahrung der Documente hier etwa zu sagen hätte. Uebrigens wird jeder Archivarius oder Registrator sehr wohl thun, wenn er sich angelegen seyn lässet, daß alle die bey einem Proceß oder sonst überreichte Originaldocumente, woferne sie nicht nothwendig bey den Acten bleiben müssen, nach davon gemachtem Gebrauch, und wenn zuvor beglaubte Abschriften zu den Acten genom-
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One common thread links [i.] all of the archival treatises – except Eckhartshausen (1786) – discussed here, and [ii.] the two treatises on registries – Aebbtlin (1669) and Fladt (1765) – included here, as well as [iii.] Pütter’s discussion of archives: they all mention and/or discuss the terms Registratur / Registratura (registry) and/or Registratores (records managers). But this was done by individual authors in diverse ways. The discussion by Jacob von Rammingen (1571) on the usefulness of Registraturen141 is reprinted (in support for the usefulness of archives) in full by Fritsch (1664)142 and is quoted in part by Neveu (1668) and by Rudloff (1676).143 The summary by Rammingen (1571) on the proper management of Registraturen144 is quoted (in support for the proper management of archives) by Fritsch (1664), Radovius – Mutterer (1681), and Engelbrecht – Rinckhamer (1688).145 The term Registratur is used to refer to the proper management of the archival collection(s) by Fritsch (1664), Neveu (1668), and Radovius – Mutterer (1681).146 It is also used to refer to the dangers of not properly managing an archival collection by Engelbrecht – Rinckhamer (1688).147 Neveu indicates that the Registratur is to be managed by the Archivarius.148 The term Registratur can also be used to denote a repository to which men worden, den Partheyen und Besitzern derselben, gegen ein Bekenntiß, wieder zurück gegeben werden. Nunmehr wäre also noch von den Acten selbst, deren Führung und Einrichtung zu reden.” Stuss (1799), pp. 6 (lines 6–8), 8 (lines 9–21). 141 Rammingen, Registratur (1571), fol. B4v–D1r (1–8, 10–19). – This treatise by Rammingen is cited within Thea Miller, The German Registry. The Evolution of a Recordkeeping Model. In: Archival Science 3 (2003) pp. 43–63 (p. 47, footnote 15); Rammingen’s treatise is mentioned there in connection with the way(s) in which the term Registratur was understood by the middle of the 16th century. 142 Fritsch (1664), pp. 65–72. With regard to this quotation of Rammingen’s text by Fritsch refer to footnote 31. 143 Neveu (1668), p. 25 (XXXVIII); Rudloff (1676), fol. A2r (lines 13–18). 144 Rammingen, Summarischer Bericht (1571), A1v. 145 Fritsch (1664), pp. 40-41 (11–12); Radovius – Mutterer (1681), fol. B2r (XXI); Engelhardt – Rinckhamer (1688), fol. D4r (lines 9–14). The same passage by Rammingen – as quoted by Wehner (1624), p. 161 – is also quoted in Neveu (1668), pp. 11–12 (XVI). That this same passage by Rammingen is found in Besold (1629), p. 646 as well as in Wehner (1624), p. 161 is noted in Fritsch (1664), p. 40 (11). 146 Refer to the passage by Rammingen cited in the previous two footnotes. 147 Engelbrecht – Rinckhamer (1688), fol. D4r (lines 9–14). 148 Neveu (1668), fol. 11 (XV), which contains a quotation from Seckendorff, Teutscher Fürstenstaat (1656). p. 44 (15. Vom Amt des Archivarii). – Rudloff (1676), fol. C2v (XXXI) states that personnel subordinate to the Archivist (quasi Sub-Archivists) should perform duties pertaining to the Registratur; he also quotes – here from the same passage
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ius archivi is not accorded.149 Fritsch (1664) and Rudloff (1676) each note that the term Registrator has also been understood to refer to the manager of an archive.150 Neveu (1668) states that within the Chancellery of the Elector Prince of Mainz (and Archchancellor of the Holy Roman Empire) the Registrator is the most senior of the five notaries who are employed there.151 It has been noted that in the treatise on registries by Aebbtlin (1669) the term Registratur is used broadly: it includes the Archivum, the Chartophylacium, and Tabularium.152 It appears that his broad understanding of the Registratur – of which the Archivum is a component part – is based (probably at least in large part) on similar but more fragmentary comments by Rammingen in both of his two writings on registries published in 1571.153 In the treatise on registries by Fladt (1765) the term Registratur is understood very broadly (with the archive considered as part thereof ), in Seckendorff as does Neveu – that “Nebenst dem Registratore bestellt man auch einen Archivarium oder Vorsteher des Brieffgewölbes ...” 149 Engelbrecht – Rinckhamer (1688), fol. A4r, C3v, C4r. 150 Fritsch (1664) p. 39 (5); Rudloff (1676), fol. C1v (XXIIX, lines 1–3). Pütter (1753) also does the same (as quoted in footnote 80). 151 “Ipsam vero Cancellariam late dictam Elector Moguntinus, tq. Archi-Cancellarius, idoneis personis instruere tenetur; quae sunt Praefectus Cancellariae Protonotarii, Notarii, Lectores, Ingrossistae, Copistae, Famulus Cancellariae, Receptor, Magister Nuntiorum & Nuntii. Et ipse quidem creat Praefectum Cancellaria, tres Protonotarios, quinque Notarios, & quatuor Lectores. ... Notariorum quinque sunt; quorum unus causas fiscales, reliquis privatas tractant. Senior illorum vulgo solet vocari Registrator quod circa Registraturam Protocolli judicialis versetur ...” Neveu (1668), pp. 18 (XXVIII, lines l–7), 22 (XXXII, lines 1–4). 152 Refer to footnote 32 as well as to the two corresponding paragraphs in the text. 153 Aebbtlin (1669) begins with an introductory segment (pp. 1–14) within which (pp. 2–5) he bestows high praise on Rammingen and on his treatise Von der Registratur (1571). The relevant segments from Rammingen’s two treatises follow here: “Denique Registraturam nostram vocamus, non solum ipsum Regimen ipsamque fabricam, Verum & omnium Iurium alicuius Domini sive Magistratus, Instrumentorum, scripturarumque Scrinia atque Cellas. Quod a nobis alios (quamvis aliqualiter Improprie) quo ad totam Operis atque structurae fabriam Archiuum, alioquin unum corpus Registraturae, Charthophilatium a, alterum vero Tabularium nuncupamus. ...” Rammingen, Registratur (1571), fol. B1r (lines 14–20). – “Nun das ist dann Pars prima nostrae Registraturae ... Volgen nun secunda atque tertia pars ... Ein anders Opificum aber / die Archiva, Cartophilatia Cellae atque foruli eorumque in quib. monumenta instrumentorum aliarumque scripturarum seriatim reponuntur & conservantur. ... Nun kommen wir auff den dritten theil unserer Registratur / und derselben Fabric / Wie nun dieselbig Fabric soll fürgenommen und mit etlichen Archivis Cartophilacijs, Cellis & forulis, construiert werden ...” Rammingen, Summarischer Bericht (1571), fol. B3v (lines 21, 23), B4r (lines 1–3). B4v (lines 8–11).
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but also much less broadly, roughly corresponding to Aebbtlin’s Chartophylacium; an archive has ius archivi while a Registratur (understood much less broadly) normally does not.154 Aebbtlin discusses the required qualities of the Registrator; Fladt also discusses the required duties, prerequisites, and qualities of (and the respect that should be given to) the Registrator vis-à-vis the archivist. According to Spiess (1777) the Registrator (whom he also refers to as the Archiv-Registrator) is one of the subordinates (Subalterns / Subalternen) of the (ideally: three) Archivists.155 He refers to the registry tasks / Registratur-Arbeit (of the Archiv-Registrator) without using the term Registratur in this context.156 Spiess distinguishes the Archiv-Registrator from Canzley-Registratoren, who focus on their own Registraturen and on the current materials contained therein.157 Günther (1783) distinguishes between archives and registries. While he downplays the differences between the two, he also notes the following: it is not contested that those political entities belonging to the political and administrative framework of the Holy Roman Empire (Reichsstände) have the right to create and maintain an archive (Recht der Archive).158 Stuss (1799) distinguishes between the Archiv and what he refers to as the Current- oder Manualrepositur.159 The manager of the former is the archivist (Archivar, Archivarius), the manager of the latter is the Registrator.160 The Registrator is also referred to by Stuss as the Actuarius.161 Bachmann (1800) distinguishes an archive from the registry of a government (Regierungsregistratur).162 Accordingly, he also mentions and discusses the Archivar as well as the Regierungsregistrator.163 The staff (Gehülfe) of the archivist should include an Archivsregistrator who also serves
154 Concerning Fladt (1765) refer to footnotes 40 through 48 as well as to the corresponding two paragraphs of the text. Both of Rammingen‘s treatises on registries are mentioned in Fladt (1765), fol. )(2v–)(3r. 155 Spiess (1777), pp. 10, 11, 13. 156 Spiess (1777), p. 13, Canzlist, lines 1–2. 157 Spiess (1777), p. 49, lines 5–14. 158 Günther (1783), p. 6 (*, lines 1–24) as quoted in footnote 29. 159 Stuss (1799), p. 2 (line 22), 5–6, 15–18. 160 Stuss (1799), p. 2, lines 6, 18–19. 161 Stuss (1799), p. 17, line 19. 162 Bachmann (1800), p. 3. 163 Bachmann (1800), pp. 9–39, 93–94. He also (p. 94) appears to use the term Registrator to refer to a subordinate of the Regierungsregistrator.
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as Secretär.164 Zinkernagel (1800) distinguishes between an Archiv and a ��� Registratur as well as between archivists (Archivare) and Registratoren. 165 166 An Archivsregistrator works within the Archive. Registratoren work in the Registratur, which is not within the Archive.167 Ogg (1804) states that the Archive (when considered broadly) is divided into three parts: (1) the Archive considered more strictly (Archiv im strengen Sinne), (2) The Archivregistratur, and (3) the “General” (Gemeine) Registratur.168 Accordingly these three parts are managed by (1) the Archivist (Archivar), (2) the Archivalregistrator, and (3) the Registrator, respectively.169 Oegg emphasizes that these three parts of the Archive (considered broadly) together constitute a whole.170 With regard to the above discussion of registries (and records managers) one general comment can be made. For Fritsch (1664), Neveu (1668), Rudloff (1676), Radovius – Mutterer (1681), and Engelbrecht – Rinckhamer (1688), the registry and/or the records manager appear to have pertained only to the archive. But for Spiess (1777), Stuss (1799), Bachmann (1800), and Zinkernagel (1800) registry and records manager both appear to have fallen within the realm [i.] of the archive as well as [ii.] of a (or: of at least one) repository outside of the archive.171 X. Here the following two concluding comments can be ventured. First, as has been alluded to here, during the latter part of the 18th century ius archivi was criticized in some Central European (mostly legal) publications Bachmann (1800), p. 11 (line 23), 41. Zinkernagel (1800), pp. 1 (§ 1), 2 (§ 2, § 5) as quoted in footnote 30. 166 Zinkernagel (1800), pp. 106 (§ 275), 109 (§ 281). 167 Zinkernagel (1800), pp. 110 (§ 284), 112–113 (§ 293–§ 297). In the case of a midsize Registratur, Zinkernagel recommends that two Registratoren are needed there. 168 These three parts of the Archive (when considered broadly) follow from the distinction made by Oegg between Urkunden that are essential, less essential, and non-essential. Refer to footnote 101 and the corresponding passage in the text. 169 Oegg (1804), p. 12 (lines 8–12). 170 “Bey der wirklichen Anwendung dieser Grundabtheilung darf der Geschäftsmann nie vergessen, dass sämmtliche vorbemerkte drey Branchen nur einen gemeinsame Endzweck haben – daher auch dieselben, der örtlichen Trennung ungeachtet, immer als Theile eines und desselben Ganzen betrachtet werden, – die Resultate der vollendeten Einrichtung einer jeden dieser Nebenbranchen in dem Hauptarchive zusammen fliessen, – und mit den Producten der Archiveinrichtung ein Ganzes ausmachen müssen.” Oegg (1804), pp. 12–13. 171 It is not clear the extent this was (or: was not) also the case for Oegg (1804); refer to the passage quoted in the previous footnote. 164 165
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from the vantage point of diplomatics. But in archival publications ius archivi was not criticized, but instead was sidestepped and marginalized by the increasing focus therein on the (often highly diverse) contents of repository collections. The contents of these repositories (including older materials the use of which required knowledge of history and diplomatics) were deemed increasingly useful to jurists, often regardless of whether or not those respositories had ius archivi.172 However, many of those older materials were kept in Central European repositories that belonged to an ecclesiastical state, a monastery, or a university – many of which ceased to exist independently during the final years of the 18th or the early years of the 19th century; as a consequence, the contents (if they survived) belonging to many of those repositories were moved to state archives.173 Generally speaking, the bulk of the materials that were being (more or less) continually added to these state archives were newer materials.174 As a result, it appears that by the end of the Holy Roman Empire the relevance and use of older materials (for which know ledge of diplomatics was needed) for legal purposes generally may have been at the beginning of a gradual decline.175 And second, the principal focus on ius archivi (as expanded beyond the limits proposed in 1597 by Rutger Ruland) served as a unifying component within the five Latin-language writings (published between 1664 and 1688) on archives that have been discussed here. Without completely vanishing during the final decades of the Holy Roman Empire, ius arWaldschmidt (1736 and 1753). To mention just one example: “§ 1. IURISPRUDENTIA EST SCIENTIA HISTORICA.” Siebenkees (1777), pp. III–IV. 173 Refer to the following comments pertaining to this same development: “Bedeutende geistliche Staaten, welche ehedem verfassungsmässig in eine Menge kleinerer Korporationen getheilt waren, fielen nun auf einmal in die Einheit eines weltlichen Erbstaates zusammen, und Hunderte der vorherigen staatstrechtlichen Verhältnisse hörten in dem Momente auf, da aus den Trümmern derselben eben so viele neue zu sprossen anfiengen. ... Eine Menge abgesönderter Archive der inbegriffenen durch die Säkularisation aufgelöster Korporationen – welche seit tausend Jahren des besonderen Interesse wegen dem wiss begierigen Diplomatiker verschlossen waren, sind nun geöffnet – und was noch mehr ist – mit dem Hauptarchiven des Staates vereinigt – und hiedurch zu einem Ganzen umgeschaften worden.” Oegg (1804), pp. III (lines 9–17, 25–26), IV (lines 1–7). 174 Refer to the comments relevant thereto by Spiess (1777), Günther (1783), Stuss (1799), Bachmann (1800), and Zinkernagel (1800) that are cited in footnotes 102 through 104. 175 At the same time, these developments might have had a generally favorable impact on conditions for historical research in Central Europe – as obliquely indicated by Oegg (1804) via the words “wissbegierigen Diplomatiker” as quoted in footnote 173. 172
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chivi – within the seven German language treatises on archives (published between 1777 and 1804) also discussed here – gave ground to foci [i.] on the contents of diverse archival collections and [ii.] on archivists as part of an emerging profession. Within these seven publications there appears to have been a lack of unity concerning both of these two newer foci. But the question of whether or not (and the extent to which) these two ventured conclusions pertain to the contents of Central European archival treatises published beyond the year 1804 cannot be addressed here.176
176 This article is a revised and slightly expanded version of a paper read in Munich on November 28, 2019 at the conference “Archive im Alten Reich als Herrschaftsinstrumente” organized by the Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns.
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BIBLIOGRAPHY OF PRIMARY SOURCES (PUBLISHED PRIOR TO THE YEAR 1810)177 Aebbtlin, Georg: Anführung zu der Registratur-Kunst, Ulm: Gedruckt und verlegt durch Christian Balthsar Kühnen bestellten Buchtrucken, 1669. [Regensburg SB: 999/A.Diss.27a] Aebbtlin, Georg: Anführung zu der Registratur-Kunst, Franckfurth und Leipzig: Verlegts Johann Conrad Wohler Buchhändler in Ulm, 1726. [Göttingen SUB: DD 2000 A 112] Bachmann, Georg August: Ueber Archive, deren Natur und Eigenschaften, Einrichtung und Benutzung nebst praktischer Anleitung für angehende Archivsbeamte in archivalischen Beschäftigungen, Amberg und Sulzbach: Im Verlage der privilegierten Commerzienrath Seidelischen Kunst- und Buchhandlung, 1800. [München BSB: Bibl. Mont. 4883] Bachmann, Georg August: Ueber Archive, deren Natur und Eigenschaften, Einrichtung und Benutzung nebst praktischer Anleitung für angehende Archivsbeamte in archivalischen Beschäftigungen, Amberg und Sulzbach: Im Verlage der privilegierten Commerzienrath Seidelischen Kunst- und Buchhandlung, 1801. [Augsburg SStB: S 81] Bedencken von Einrichtung der Archiven und Registraturen, Frankfurth und Leipzig 1767. [München BSB: 4 J. pract. 230,4] [Besold] Besoldus, Christophorus: Thesaurus practicus ... collectore Johanne Jacobo Speidelio, Tubingae [Tübingen]: Apud Philibertum Brunnium, 1629. [München BSB: 4 Jur.is. 7] Chevrières, Jean-Guillaume de: Le nouvel Archiviste, A Paris: Chez L’Auteur, Cailleau, Lacombe, Veuve Duchesne, 1775. [München BSB: J. Pract. 36] Deutsche Encyclopädie oder allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften von einer Gesellschaft Gelehrten, Erster Band. A–Ar, 177 Library locations and call numbers / shelf marks are provided for those copies of the primary sources used and cited within inidividual footnotes. The following abbreviations are used for this purpose: BSB: Bayerische Staatsbibliothek (München), SB: Staatliche Bibliothek (Regensburg), SLUB: Staats-, Landes- und Universitätsbibliothek (Dresden), SStB: Staats- und Stadtbibliothek (Augsburg), SUB: Staats- und Universitätsbibliothek (Göttingen), ULB: Universitäts- und Landesbibliothek (Halle).
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Frankfurt am Mayn: bey Varrentrapp Sohn und Wenner, 1778. [München BSB: 2° Enc. 13-1] [Du Moulin, Charles] Molendineus, Carolus: Prima pars commentariorum in Consuetudines Parisienses. Parisiis [Paris]: Apud Poncetum le Preux, 1539. [München BSB: 2 J.gall. 31] [Du Moulin, Charles] Molinaeus, Carolus: Consuetudines sive constitutiones almae Parisiorum urbis, atque adeo totius regni Franciae principales. Francofurti [Frankfurt am Main]: Ex officina Nicolai Bassaei impensis Sigismundi Feyrabend, 1575. [München BSB: 2 J.gall. 34-1/2] [Du Moulin, Charles] Molinaeus, Carolus: Opera quae extant omnia. Tomus primus. Lutetiae Parisiorum: Ex officina Nivelliana sumptibus Sebastiani Cramoisy, 1612. [München BSB: 2 Jur. opp. 56-1] Eckhartshausen, Karl von: Ueber praktisch-systematische Einrichtung fürstlicher Archiven überhaupt, München: Gedruckt bey Anton Franz, 1786. [München BSB: Graph. 18] Engelbrecht, Georgius – Rinckhamer, Friderich Ernst: Dissertatio de jure archivorum, submittet ... die 16. Junii 1688 ..., Helmstadii [Helmstedt]: Typis Georg-Wolfgangi Hammii Acad. Typogr. [München BSB: 4 Diss. 3481.1] Fladt, Philipp Wilhelm Ludwig: Anleitung zur Registratur-Wissenschaft und von Registratoribus deren Amt und Pflichten, Franckfurt und Leipzig: in der Knoch- und Eßlingerischen Buchhandlung, 1764. [Dresden SLUB: Process. 223,6] F[ladt], P(hilip], W[ilhelm] L[udwig]: Erläuterung einiger in der Anleitung zur Registratur-Wissenschaft befindlicher Stellen von P. W. L. F., Franckfurt und Leipzig: in der Eßlingerischen Buchhandlung, 1765. [München BSB: 4 J. pract. 45m] Fladt, Philipp Wilhelm Ludwig: Anleitung zur Registratur-Wissenschaft und von Registratoribus deren Amt und Pflichten ... nebst einer Erläuterung einiger hierin befindlicher Stellen, Franckfurt und Leipzig: in der Eßlingerischen Buchhandlung, 1765. [München BSB: J. pract. 72] [Fritsch] Fritschus, Ahasverus: Tractatus de jure archivi et cancellariae, Jenae [Jena]: Typis ac sumptibus Georgii Sengenwaldi, 1664. [München BSB: 4 Diss. 1096#Beiband 15]
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Gatterer, Johann Christoph (ed.): Allgemeine historische Bibliothek von Mitgliedern des königlichen Instituts der historischen Wissenschaften zu Göttingen ..., Achter Band, Halle: bey Johann Justinus Gebauer, 1768. [München BSB: H.misc. 115-8] Günther, Karl Gottlob: Ueber die Einrichtung der Hauptarchive, besonders in teutschen Reichslanden, Altenburg: in der Richterischen Buchhandlung, 1783. [München BSB: J. pract. 98 t] Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten ... Karl Gottlob Günther, Kursächsischem Geheimen-Sekretär und Geheimen-Archivsregistrator. Erster Theil, Altenburg: in der Richterschen Buchhandlung, 1787. [München BSB: J. publ.e.164 s-1] Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten ... Karl Gottlob Günther, Kursächsischem Hofrath und Geheimen-ArchivSekretär. Zweiter Theil, Altenburg: in der Richterschen Buchhandlung, 1792. [München BSB: J. publ.e.164 s-2] [Keller, Adam] Kellerus, Adamus: De officiis juridico-politicis chiragogici libri tres, Constantiae: Ex officina typographica viduae Leonhardi Straub sumptibus auctoris, 1607. [Wien, Nationalbibliothek: 28.O.15] Layriz, Fridericus Wilhelmus Antonius: Observationes de auctoritate diplomatum ex archivo depromtorum eorumque in juris scientia usu, quam in consensu ... jure consultorum ordinis in Academia Altorfina pro summis in jure honoribus ac privilegiis doctoris rite ... die 4. Aprilis 1796 publice defendet ... Layriz Barutho-Francus ... Altorfii [Altdorf ]: Typis Hesselianis. [Halle ULB: Altdorf, Diss., 1778–1800 (29)] LeMoine, [Pierre C.]: Diplomatique-Practique ou Traité de l’arrangement des archives et trésors des chartes, A Metz, Chez Joseph Antoine, 1765. [München BSB: 4 Graph. 42-1] LeMoine, [Pierre C.]: Practische Anweisung zur Diplomatik und zu ei ner guten Einrichtung der Archive. Aus dem Französichsen der Herren le Moine und Batteney, Nürnberg: bey Gabriel Nicolaus Raspe, 1776. [Regensburg SB: 999/4 Hist.pol. 198] Mariée, M.: Traité des Archives, Paris: Chez L’auteur – Cailleau, Imprimeur-Libraire, 1779. [Lausanne, Bibliothèque Cantonale et Universitaire: don-bcu 51499]
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Neveu de Windtschleé, Franciscus Michael: Disputatio solemnis juridica de archivis ... in Argentinensis Universitate ... ad diem 9./19. Nov. 1668. Argentorati [Straßburg]: Literis Johannis Wilhelmi Tidemann, 1668. [München BSB: 4 Diss. 731#Beiband 29] Oegg, Jos[eph] Ant[on]: Ideen einer Theorie der Archivwissenschaft. Zur Leitung der Praxis bey der Einrichtung und Bearbeitung der Archive und Registraturen, Gotha: bey Carl Wilhelm Ettinger, 1804. [München BSB: J. pract. 192] Pütter, Johann Stephan: Anleitung zur Juristischen Praxi, Göttingen: Im Verlag der Wittwe Vandenhoeck, 1753. [Dresden SLUB: PW 7500 P977] Radovius, Georgius – Mutterer, Michael: Disputatio inauguralis juridica, de archivis ... Pro summis in utroque jure honoribus ... submittit Michael Mutterer ... Duc: Mecklenburg: Secretarius & Archiota ... ad diem 20. Januarii horis ante & pomerdianis, Rostochii [Rostock]: Typis viduae B. Keilenbergii, Universit. Typogr., 1688. [Göttingen SUB: COLL DISS CELL 102 (34)] Rammingen, Jacob von: Von der Registratur ..., Getruckt zu Heidelberg durch Johannem Maior, 1571. [München BSB: 4 J. pract 170#Beiband 1] Rammingen, Jacob von: Summarischer Bericht, Wie es mit einer künstlichen und volkomnen Registratur Ein gestalt. Was auch für underschiedlicher Außtheilung und Classes, und sonst für Partitiones und Separationes derselben Gebäw erfordern und brauchen sey, Getruckt in der Churfürstlichen Statt Heidelberg durch Johannem Mayer, 1571. [München BSB: 4 J. pract 170#Beiband 2] Rudolff, Fridericus: Disputatio inauguralis de archivorum publicorum, origine, usu atque autoritate ... in ... Academia ad Hieram [Erfurt] ... pro summis in utroque jure honoribus ... doctoralibus ... Ad diem 19. (29.) August 1676, Erphordiae [Erfurt]: Typis Kirschianis. [München BSB: 4 Diss. 173#Beiband 35] Rudolff, Fridericus: Dissertatio inauguralis de Archivorum publicorum origine, usu, atque auctoritate in Academia Hierana [Erfurt] d. 29. Aug. 1676 ... exposita. Editio nova, Lipsiae [Leipzig]: Apud John Christ. Langenhemium, 1747. [München BSB: 4 Diss. 2356#/Beiband 3] [Ruland] Rulant, Rutgerus: De commissariis et commissionibus camerae imperialis, probationis receptionem concernentibus, libri quatuordecim
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duabus partibus comprehensi, Francofurti [Frankfurt am Main], In officina Joan. Gymnici Iunioris, 1597. [München BSB: Cam. 608z] [Ruland] Rulant, Rutgerus: De commissariis et commissionibus camerae imperialis ... Pars II, Francofurti ad Moenum [Frankfurt am Main]: Apud Johann. Philipp. Andreae, 1724. [München BSB: 2 J. publ. g. 363-1/4] Seckendorff, Veit Ludwig von: Teutscher Fürsten Stat ..., Gedruckt zu Hanaw / bey Johann Aubry / In Verlegung Thomae Matthiae Götzens /zu Franckfurth am Mäyn, 1656. [Augsburg SStB: 4 Stw 1403] Siebenkees, Johannes Christianus: De Studio chronologico juris praesertim Germanici disquisitio ... Siebenkees Prof. Jur. ... et Instituti historici quod Gottingae floret sodalis, Altorfii [Altdorf ]: Litteris Meyeriani, (9. Novembris 1777). [Halle ULB: Altdorf, Diss., 1778–1800 (2)] [Spiess] Spieß, Philipp Ernst: Von Archiven, Halle: bey Johann Jacob Gebauer, 1777. [München BSB: J. pract. 280] [Spiess] Spieß, Philipp Ernst: Archivische Nebenarbeiten und Nachrichten vermischten Inhalts mit Urkunden ..., Erster Theil, Halle: Bey Johann Jacob Gebauer, 1783. [München BSB: Germ. g 647 v-1/2] [Spiess] Spieß, Philipp Ernst: Archivische Nebenarbeiten und Nachrichten vermischten Inhalts mit Urkunden ..., Zweiter Theil, Halle: Bey Johann Jacob Gebauer, 1785. [München BSB: 4 H. misc. 135 e-2] Stuss, Just Christian Friedrich: Von Archiven und besonders von der Einrichtung eines deutschen-reichsständischen Regierungsarchives, Leipzig: Bey Johann Benjamin Georg Fleischer, 1799. [München BSB: J. pract. 284] [Toustain, Charles François], Nouveau Traité de diplomatique ..., tome premier, Paris: Chez Guillaume Desprez ... Pierre-Guillaume Cavelier, 1750. [München BSB: 4 Graph 81-1] [Toustain, Charles François and Tassin René Prosper], Neues Lehrgebäude der Diplomatk ..., Erster Theil, aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Johann Christoph Adelung, Erfurt: In Verlag Johann Friedrich Webers, 1759. [Regensburg SB: 999/4Hist.pol 200(1] Waldschmidt, Jo[hannes] Wilhelmus – Lippe, Christianus Theodorus: Dissertatio juris publici de probatione per diplomataria, Vom Beweiß durch Copial-Bücher ... d. 18. Decembr. 1736 ... publice ventilandam
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sistet ..., Marburgi-Cattorum [Marburg a.d. Lahn]: Typis Phil. Casimiri Mülleri, Acad. Typogr. [München BSB: 4 Diss. 3370,37] Waldschmidt, Jo[hannes] Wilhelmus: De probatione per diplomataria, Vom Beweiß durch Copial-Bücher, commentatio iuris publici, Lipsiae [Leipzig]: Apud Io. Christ. Langehemium, 1753. [München BSB: 4 Diss.5289f#Beiband 12] Wehnerus, Paulus Matthias: Practicarum juris observationum selectarum liber singularis, Francofurti ad Moenum [Frankfurt am Main]: Typis Johannis Friderici Weissij impensis Joh. Revalij, 1624. [Regensburg SB: 999/4 Jur. 480] Wehnerus, Paulus Matthias: Practicarum juris observationum selectarum liber singularis, Francofurti ad Moenum [Frankfurt am Main]: Cura & impensis Rulandiorum typis Hummianis, 1661. [Regensburg SB: 999/4 Jur. 13] Wenckerus, Jacobus: Apparatus & instructus archivorum ex usu nostri temporis, vulgo von registratur und renovatur, Argentorati [Straßburg]: Sumptibus Jo. Reinholdi Dulsseckeri, 1713. [München BSB: 4 J. pract. 217] Wenckerus, Jacobus: Collecta archivi et cancellaria jura, Argentorati [Straßburg]: Sumptibus Jo. Reinholdi Dulsseckeri, 1715. [Regensburg SB: 999/4 Jur. 749] Zinkernagel, Karl Friedrich Bernhard: Handbuch für angehende Archivare und Registratoren, Nördlingen: bey Karl Gottlob Beck, 1800. [München BSB: 4 J. pract. 226a] Zinkernagel, Karl Friedrich Bernhard: Handbuch für angehende Archivare und Registratoren, Nördlingen: bey Karl Gottlob Beck, 1809. [Bibliothek der Abtei Metten: Mans 555] Zwey Schreiben eines Vaters an seinen Sohn d. d. 13 Novembr. Von der Heiligkeit der Archive. Welchen beygefüget eine umständliche und gegründete Nachricht von dem Auszuge der Königl. Pohln und ChurFürstl. Sächsischen Armee aus ihrem Lager bey Pirna und der hierauf erfolgten Capitulation. Dresden 1756. [München BSB: 2 J. publ. g. 338#Beiband 11]
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Hatten die Hansestädte im 16. und 17. Jahrhundert individuell das Ius Archivi inne? Zur Edition von Urkunden in einem Prozess zwischen dem Grafen zu Holstein-Pinneberg und der Hansestadt Hamburg vor dem Reichskammergericht Von Udo Schäfer 1 . Di e E d i t i o n v o n Ur k u n d e n v o r G e r i c h t „Der Beweis wird durch die Vorlegung der Urkunde angetreten“.1 Der in dem soeben wörtlich wiedergegebenen § 420 ZPO als Vorlegung bezeichnete Vorgang wird auch in der modernen Rechtswissenschaft noch unter dem Begriff der Edition geführt.2 Ist die Urkunde im Besitz des Prozessgegners, so hat der Beweisführer nicht nur materiell-rechtlich3, sondern auch prozessrechtlich4 die Möglichkeit, den Prozessgegner zur Edition der Urkunde zu verpflichten.5 Im modernen Zivilprozessrecht wird zwischen der öffentlichen6 und der privaten7 Urkunde differenziert. Während die öffentliche Urkunde den vollen Beweis des beurkundeten Vorgangs erbringt, bietet die private Urkunde lediglich den vollen Beweis dafür, dass die beurkundete Erklärung von den Ausstellern abgegeben worden ist. Das klassische römische Zivilprozessrecht verpflichtete den Kläger, dem Beklagten vor der Ladung vor Gericht die Klage bekannt zu geben – „edere actionem“. Dabei hatte er auch die Beweismittel zu benennen.8 Das sich seit dem hohen Mittelalter entwickelnde gelehrte Prozessrecht verwende§ 420 Zivilprozessordnung (ZPO). Gerhard Wagner, Urkundenedition durch Prozeßparteien – Auskunftspflicht und Weigerungsrechte. In: Juristenzeitung 62 (2007) S. 706–719. 3 §§ 421, 422 ZPO und § 810 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). 4 § 142 Absatz 1 ZPO. 5 Wagner (wie Anm. 2). – Martin Schwab, Zivilprozessrecht, Heidelberg u.a. 42012, Rdnr. 484 a, S. 242. – Joachim Zekoll – Georg Alexander Haas, Ausweitung ohne Ausforschung – zur Urkundenvorlagepflicht nach § 142 ZPO. In: Juristenzeitung 72 (2017) S. 1140–1146. 6 § 415 Absatz 1 ZPO. 7 § 416 ZPO. 8 Alfons Bürge, Römisches Privatrecht. Rechtsdenken und gesellschaftliche Verankerung. Eine Einführung (Die Altertumswissenschaft), Darmstadt 1999, S. 5 f., 9 f., 40, 75. – Max 1 2
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te schließlich den Begriff „editio instrumentorum“, um die Vorlage von Urkunden im Rahmen des Beweisverfahrens zu bezeichnen.9 Indem die mittelalterliche Rechtswissenschaft auch die Edition von Urkunden aus öffentlichen Archiven vor Gericht erörterte, widmete sie sich in der Sache bereits der Rechtsfigur des Ius Archivi. 2 . D a s Iu s A r c h i v i Die historische Rechtsfigur des Ius Archivi ist aber nicht nur ein Institut des historischen Prozessrechts, sondern auch des historischen öffentlichen Rechts. So hat der Rechtshistoriker und Historiker Friedrich Merzbacher in einem Aufsatz10 zur Geschichte dieses Instituts aus dem Jahre 1979 zwischen dem Ius Archivi im aktiven Sinne – der Kompetenz, ein öffentliches Archiv einzurichten und zu unterhalten – und dem Ius Archivi im passiven Sinne – der Befugnis, schriftlichen Aufzeichnungen durch die Verwahrung in einem öffentlichen Archiv Authentizität zu vermitteln – differenziert.11 Dabei ist das Ius Archivi im aktiven Sinne dem öffentlichen Recht, das Ius Archivi im passiven Sinne dem Prozessrecht zuzuordnen. In den gelehrten Rechten wird der Begriff des Ius Archivi seit dem 16. Jahrhundert verwendet. Die Idee, dass die Verwahrung in einem öffentlichen Archiv schriftlichen Aufzeichnungen Authentizität vermittle, war jedoch bereits in der Spätantike sowie im hohen und späten Mittelalter bekannt. 2.1 Guilelmus Durantis Für das hohe und späte Mittelalter hat der Rechtshistoriker Mathias Schmoeckel die These vertreten, kommunale und notarielle Archive Kaser – Rolf Knütel – Sebastian Lohsse, Römisches Privatrecht, München 212017, § 82, Rdnr. 2, S. 452. 9 Knut Wolfgang Nörr, Der Urkundenbeweis im romanisch-kanonischen Prozessrecht des Mittelalters. In: Thomas Lobinger – Reinhard Richardi – Jan Wilhelm (Hrsg.), Festschrift für Eduard Picker zum 70. Geburtstag, Tübingen 2010, S. 1303–1312, hier S. 1310 f. – Knut Wolfgang Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht. Erkenntnisverfahren erster Instanz „in civilibus“ (Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft. Abteilung Rechtswissenschaft), Heidelberg u.a. 2012, S. 160–162. 10 Friedrich Merzbacher, Ius Archivi. Zum geschichtlichen Archivrecht. In: Archivalische Zeitschrift 75 (1979) S. 135–147, hier S. 137. 11 Udo Schäfer, Authentizität. Vom Siegel zur digitalen Signatur. In: Ders. – Nicole Bickhoff (Hrsg.), Archivierung elektronischer Unterlagen (Werkhefte der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg A 13), Stuttgart 1999, S. 165–182, hier S. 169.
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hätten in den Städten die Funktion des kollektiven Gedächtnisses übernommen, indem sie der kommunalen Öffentlichkeit den Nachweis der Authentizität von Urkunden ermöglicht hätten.12 Dabei berief er sich auf die Forschungen13 zur Entwicklung der administrativen und judikativen Schriftlichkeit insbesondere in oberitalienischen Kommunen vom 11. bis zum 13. Jahrhundert. Parallel zu dem innovativen Wandel in der Schriftkultur bildete sich in Oberitalien und später in Südfrankreich die mittelalterliche Rechtswissenschaft mit den beiden Zweigen der Legistik14 und der Kanonistik15 aus.16 Der Ausbildung der mittelalterlichen Rechtswissenschaft lag die wissenschaftliche Wiederentdeckung17 der Digesten in Mathias Schmoeckel, Dokumentalität. Der Urkundsbeweis als heimliche „regina probationum“ im Gemeinen Recht. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 96 (2010) S. 189–209, hier S. 203–209, bes. S. 205. 13 Petra Koch, Die Archivierung kommunaler Bücher in den ober- und mittelitalienischen Städten im 13. und frühen 14. Jahrhundert. In: Hagen Keller – Thomas Behrmann (Hrsg.), Kommunales Schriftgut in Oberitalien. Formen, Funktionen, Überlieferung (Münstersche Mittelalter-Schriften 68), München 1995, S. 19–69. – Vgl. auch Hagen Keller, Die italienische Kommune als Laboratorium administrativen Schriftgebrauchs. In: Susanne Lepsius – Reiner Schulze – Bernd Kannowski (Hrsg.), Recht – Geschichte – Geschichtsschreibung. Rechts- und Verfassungsgeschichte im deutsch-italienischen Diskurs (Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 95), Berlin 2014, S. 67–82, und Hagen Keller, Zur Einführung: Neue Formen des Dokumentationsverhaltens in der Gesellschaft Oberitaliens, 12./13. Jahrhundert. In: Ders. – Marita Blattmann (Hrsg.), Träger der Verschriftlichung und Strukturen der Überlieferung in oberitalienischen Kommunen des 12. und 13. Jahrhunderts (Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster X 25), Münster 2016, S. 1–16. 14 Hermann Lange, Römisches Recht im Mittelalter, Bd. 1, Die Glossatoren, München 1997, S. 28–34. – Vgl. auch Thorsten Behle, Der Magister Walfred von Bologna. Ein Beitrag zu den Anfängen der Bologneser Rechtsschule (IUS VIVENS B. Rechtsgeschichtliche Abhandlungen 21), Münster 2008, S. 9–51. 15 Michael H. Hoeflich – Jasonne M. Grabher. In: The History of Medieval Canon Law in the Classical Period, 1140–1234. From Gratian to the Decretals of Pope Gregory IX, hrsg. von Wilfried Hartmann und Kenneth Pennington (History of Medieval Canon Law), Washington D.C. 2008, S. 1–21. – Christoph H. F. Meyer. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 22012, sub voce Kanonistik, Sp. 1577 f. 16 Manlio Bellomo, Europäische Rechtseinheit. Grundlagen und System des Ius Commune, München 2005, S. 57–79. – Mathias Schmoeckel, Auf der Suche nach der verlorenen Ordnung. 2000 Jahre Recht in Europa. Ein Überblick, Köln-Weimar-Wien 2005, S. 138–142, 145–150. – James A. Brundage, The Medieval Origins of the Legal Profession. Canonists, Civilians, and Courts, Chicago-London 2008, S. 75–125. – Mario Ascheri, The Laws of Late Medieval Italy, 1000–1500. Foundation for a European Legal System, Leiden-Boston 2013, S. 9–28, 107–134. 17 Wolfgang P. Müller, The recovery of Justinian’s Digest in the Middle Ages. In: Bulletin of Medieval Canon Law N.S. 20 (1990) S. 1–29. 12
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der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts zu Grunde. Die Digesten sind das zentrale Element der in den Jahren 528 bis 534 entstandenen Kodifikation des oströmischen Kaisers Justinian. Sie stellen eine systematische Kompilation von Exzerpten aus den Werken der klassischen römischen Jurisprudenz dar.18 Vom Jahre 535 an umfasste die von 527 bis 565 dauernde Herrschaft des Kaisers Justinian auch Italien.19 Im Jahre 554 wurde Italien durch eine „pragmatica sanctio“ in den Geltungsbereich der Kodifikation einbezogen,20 bevor die kaiserliche byzantinische Herrschaft seit 568 durch die Langobarden auf Ravenna, Süditalien und Sizilien reduziert wurde.21 Aspekte der sich in den oberitalienischen Kommunen entwickelnden judikativen Schriftlichkeit fanden Eingang in das von den Prozessualisten seit dem 12. Jahrhundert geschaffene22 gelehrte, romanisch-kanonische Prozessrecht. Die Prozessualisten bewegten sich zwischen Legistik und Kanonistik, brachten aber auch den „usus fori“ Respekt entgegen.23 Seit dem 13. Jahrhundert wurde das gelehrte Prozessrecht in Deutschland rezipiert.24 Die im Rahmen des gelehrten Prozessrechts entwickelten Prozessmaximen bestimmten auch die seit 1495 vor dem Reichskammergericht geführten Prozesse.25 Mario Bretone, Geschichte des römischen Rechts. Von den Anfängen bis zu Justinian, München 1992, S. 251–256. – Bellomo (wie Anm. 16) S. 37–39. – Ulrich Manthe. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Berlin 22008, sub voce Corpus Iuris Civilis, Sp. 901–907. 19 Peter Heather, Die letzte Blüte Roms. Das Zeitalter Justinians, Darmstadt 2018, S. 180–196, 273–295, 315–327. 20 Giulio Vismara. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, Stuttgart-Weimar 1999, sub voce Pragmatica sanctio, Sp. 166. – Bellomo (wie Anm. 16) S. 40 f. 21 Elke Goez, Geschichte Italiens im Mittelalter, Darmstadt 2010, S. 36–49. 22 Brundage (wie Anm. 16) S. 151–163. – Peter Landau, Die Anfänge der Prozessrechtswissenschaft in der Kanonistik des 12. Jahrhunderts. In: Der Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur, Bd. 1, Zivil- und Zivilprozessrecht, hrsg. von Orazio Condorelli, Franck Roumy und Mathias Schmoeckel (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 37, 1), Köln-Weimar-Wien 2009, S. 7–23. – Kenneth Pennington. In: The History of Courts and Procedure in Medieval Canon Law, hrsg. von Wilfried Hartmann und Kenneth Pennington (History of Medieval Canon Law), Washington D.C. 2016, S. 125–159. 23 Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht (wie Anm. 9) S. 1–4. 24 Karin Nehlsen-von Stryk, Der römisch-kanonische Zivilprozeß in der gesellschaftlichen Realität des 13. Jahrhunderts, 1991. In: Dies., Rechtsnorm und Rechtspraxis in Mittelalter und früher Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von Albrecht Cordes und Bernd Kannowski (Schriften zur Rechtsgeschichte 158), Berlin 2012, S. 89–100. 25 Filippo Ranieri, Rezeption und Prozeßrecht am Reichskammergericht. In: Ingrid Scheuermann (Hrsg.), Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 18
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Im späten 13. Jahrhundert setzte sich der Kanonist und Prozessualist Guilelmus Durantis26 in dem Titel „De instrumentorum editione“ seines „speculum iudiciale“ mit dem Ius Archivi im passiven Sinne auseinander. Das „speculum iudiciale“ blieb bis zum Ende des 17. Jahrhunderts die maßgebliche Darstellung des gelehrten Prozessrechts.27 Guilelmus Durantis unterschied zwischen einer öffentlichen Urkunde („instrumentum publicum sive authenticum“) und einer privaten Urkunde („instrumentum privatum“). Nunc dicendum restat, quot sunt species instrumentorum. Et quidem duae, nam aliud est publicum seu authenticum, aliud privatum. Publicum seu authenticum est, quod publicam habet auctoritatem: cuius species sunt plures. [1] … [2] … Sexto dicitur publicum, quod de archivo publico producitur, liber scilicet rationum vel alterius rei: et ei creditur, si habet publicum testimonium, scilicet si iudex confiteatur illum fore de archivo seu armario publico productum, extra de praescr[iptionibus] Ad audientiam, 30 q[uestione] 1 Pervenit, in Auth[enticis] de his qui ingre[diuntur] ad appel[lationem, et quando per scripturam manus propriae fiat collatio litterarum, et de iureiurando dilationis ut coniungatur iureiurando calumniae] § Si vero, [Digestis] de prob[ationibus et praesumptionibus] Census.28 Nun bleibt zu sagen, wie viele Gattungen der Urkunden es gibt. Es gibt gerade zwei: die eine ist nämlich öffentlich oder authentisch, die andere ist privat. Öffentlich oder authentisch ist das, was 1806, Mainz 1994, S. 170–173. – Wolfgang Sellert. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl., Bd. 4, 28. Lfg., Berlin 2020, sub voce Prozess des Reichskammergerichts, Sp. 891–897. 26 Vgl. zu Guilelmus Durantis und seinem wissenschaftlichen Werk Hermann Lange – Maximiliane Kriechbaum, Römisches Recht im Mittelalter, Bd. 2, Die Kommentatoren, München 2007, S. 477–487, und Susanne Lepsius. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Berlin 22008, sub voce Durantis, Guilelmus (um 1230–1296), Sp. 1168–1170. 27 Lange – Kriechbaum (wie Anm. 26) S. 481 f., 486. – Udo Schäfer, Acta Processualia in der Strukturform des Amtsbuchs. Die Acta Avinionensia des Staatsarchivs Hamburg. In: Gerald Maier – Clemens Rehm (Hrsg.), Archive heute – Vergangenheit für die Zukunft. Archivgut – Kulturerbe – Wissenschaft. Zum 65. Geburtstag von Robert Kretzschmar (Werkhefte der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg A 26), Stuttgart 2018, S. 411–439, hier S. 417. 28 Guilelmus Durantis, Speculum iuris, Druck: Frankfurt am Main 1592 (Bayerische Staatsbibliothek – URN: urn:nbn:de:bvb:12-bsb00087947-1 – Abruf: 14.7.2016), 2.2 de instrumentorum editione 7 § Nunc, S. 298 a–298 b.
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öffentliche Autorität besitzt. Deren Untergattungen gibt es viele. [1] … [2] … Sechstens wird das als öffentlich bezeichnet, was aus einem öffentlichen Archiv vorgelegt wird – nämlich ein Buch über Geschäfte oder über eine andere Angelegenheit. Und diesem wird geglaubt, wenn es mit einem öffentlichen Zeugnis versehen ist, das heißt, wenn ein Richter anerkennt, dass es aus einem öffentlichen Archiv vorgelegt werden wird, X 2.26.13, C. 30 q. 1 c. 1, Nov. 49.2.2, Dig. 22.3.10. Die Vorlegung aus einem öffentlichen Archiv bot eine von sechs Möglichkeiten, einer schriftlichen Aufzeichnung den Status einer öffentlichen Urkunde zu vermitteln.29 Dieser Status verlieh der schriftlichen Aufzeichnung Glaubwürdigkeit. Neben jeweils einer Stelle aus den Digesten, dem Decretum Gratiani und dem Liber Extra zog Guilelmus Durantis auch die Stelle Nov. 49.2.230 heran. Bei der Stelle Dig. 22.3.1031 handelt es sich um ein Fragment aus dem Werk des Juristen Ulpius Marcellus32 aus dem 2. Jahrhundert. Er erkannte den öffentlichen Urkunden einen höheren Beweiswert als den Zeugen zu. Dabei ging er aber nicht auf die Vorlage aus öffentlichen Archiven ein. Die Stelle Nov. 49.2.2 aus einer Novelle des Kaisers Justinian vom 21. August 537 bietet deshalb den frühesten Beleg für eine besondere Regelung des Beweiswerts aus öffentlichen ArSchäfer (wie Anm. 11) S. 167. – Andreas Nestl, Die Kraft des Rechts – von gezogenen Ohren bis zur elektronischen Signatur. In: Brief und Siegel. Glaubwürdigkeit und Rechtskraft, gestern und heute. Eine Ausstellung der Staatlichen Archive Bayerns im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Redaktion: Laura Scherr (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 61), München 2020, S. 9–19, hier S. 11–13. 30 Nov. 49.2.2: „Si vero etiam ex publicis archivis proferatur charta … et quod ex publicis profertur et publicum habet testimonium etiam hoc susceptibile esse ad collationes manuum ponimus …“ [Corpus Iuris Civilis, Bd. 3, Novellae, hrsg. von Rudolf Schoell und Wilhelm Kroll, Berlin 1895, ND New Jersey 2010, S. 291 f.] – „Wenn aber auch aus öffentlichen Archiven eine Urkunde vorgezeigt wird … und weil sie aus öffentlichen Archiven vorgezeigt wird und mit einem öffentlichen Zeugnis versehen ist, bestimmen wir, dass auch dieses Zeugnis zu den Vergleichen der Hände geeignet sei …“ 31 Dig. 22.3.10: „Census et monumenta publica potiora testibus esse senatus censuit.“ [Corpus Iuris Civilis, Bd. 1, Institutiones, hrsg. von Paul Krüger. Digesta, hrsg. von Theodor Mommsen, Berlin 71895, ND New Jersey 2010, Digesta, S. 290] – „Die Bürger- und Steuerliste und öffentliche Urkunden sind, wie der Senat entschieden hat, von größerem Gewicht als Zeugen.“ [Corpus Iuris Civilis. Text und Übersetzung, Bd. 4, Digesten 21–27, übersetzt und hrsg. von Rolf Knütel u.a., Heidelberg 2005, S. 112]. 32 Vgl. zu Ulpius Marcellus Wolfgang Kunkel, Die Römischen Juristen. Herkunft und soziale Stellung, 21967, ND Köln u.a. 2001, S. 213 f. 29
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chiven vorgelegter Urkunden.33 Die Herrschaft des Kaisers Justinian darf noch der Spätantike zugerechnet werden.34 Dem hohen Mittelalter wurde die Kenntnis einzelner Novellen über eine als „authenticum“ bezeichnete Sammlung vermittelt.35 Guilelmus Durantis übernahm aus der Novelle des Kaisers Justinian den Gedanken, dass eine aus einem öffentlichen Archiv vorgelegte schriftliche Aufzeichnung mit einem öffentlichen Zeugnis („publicum testimonium“) versehen sei. Die beiden von Guilelmus Durantis allegierten Quellen des kanonischen Rechts – C. 30 q. 1 c. 136 aus dem Decretum Gratiani, einer um 1145 vollendeten privaten Kompilation,37 und X 2.26.1338 aus dem im Jahre 1234 von Papst Gregor IX. promulgierten Liber Extra39 – bieten hingegen keine Angaben zur Edition von Urkunden aus öffentlichen Archiven. Während des 12. und des 13. Jahrhunderts entwickelte die mittelalterliche Rechtswissenschaft die Theorie, dass einem „instrumentum publicum“ vor Gericht als „instrumentum authenticum“
Ernst Pitz, Beiträge zur Geschichte des Ius Archivi. In: Der Archivar 16 (1963) Sp. 279–286, hier Sp. 280–282. – Merzbacher (wie Anm. 10) S. 145. – Schäfer (wie Anm. 11) S. 168. 34 Alexander Demandt, Geschichte der Spätantike. Das Römische Reich von Diocletian bis Justinian (Becks Historische Bibliothek), München 1998, S. 163–177. 35 Detlef Liebs, Die Jurisprudenz im spätantiken Italien 260–640 n. Chr. (Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen NF 8), Berlin 1987, S. 266–269. – Lange (wie Anm. 14) S. 74–76, 82–85, 347 f. – Susanne Lepsius. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 22008, sub voce Authenticae, Sp. 394 f. 36 C. 30 q. 1 c. 1. In: Corpus Iuris Canonici, hrsg. von Emil Friedberg, Bd. 1, Decretum Magistri Gratiani, Leipzig 21879, ND New Jersey 2000, Sp. 1096. 37 Schmoeckel (wie Anm. 16) S. 142–145. – Peter Landau. In: The History of Medieval Canon Law in the Classical Period (wie Anm. 15) S. 22–54. – Ders. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 22012, sub voce Gratian (Ende 11. Jh. – um 1145), Sp. 530–533. – Andreas Thier. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Berlin 22008, sub voce Corpus Iuris Canonici, Sp. 895–898, hier Sp. 895 f. – Christoph Link, Kirchliche Rechtsgeschichte. Kirche, Staat und Recht in der europäischen Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert, München 2009, § 6, Rdnrn. 3 f., S. 36 f. – Stephan Dusil, Wissensordnungen des Rechts im Wandel. Päpstlicher Jurisdiktionsprimat und Zölibat zwischen 1000 und 1215 (Medievalia Lovaniensia I 47), Löwen 2018, S. 329–339. – Ders., The Decretum of Gratian: A Janus-Faced Collection. In: Christof Rolker (Hrsg.), New Discourses in Medieval Canon Law Research. Challenging the Master Narrative (Medieval Law and Its Practice 28), Leiden-Boston 2019, S. 127–144. 38 X 2.26.13. In: Corpus Iuris Canonici, hrsg. von Emil Friedberg, Bd. 2, Decretalium Collectiones, Leipzig 21881, ND New Jersey 2000, Sp. 386 f. 39 Schmoeckel (wie Anm. 16) S. 162. – Thier (wie Anm. 37) Sp. 896–898. – Link (wie Anm. 37) § 6, Rdnrn. 5 f., S. 37–39. 33
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eine höhere Glaubwürdigkeit als anderen Beweismitteln zukomme.40 Auch Guilelmus Durantis betrachtete im späten 13. Jahrhundert die Begriffe „instrumentum publicum“ und „instrumentum authenticum“ als Synoyme.41 Darüber hinaus erweisen sich seine Ausführungen jedoch als Übernahme einer Stelle42 aus dem „ordo iudiciarius“ des Tancredus. Der Kanonist und Prozessualist Tancredus43 hat seine Darstellung des gelehrten Prozessrechts wohl zwischen 1214 und 1216 verfasst. Bis in das 16. Jahrhundert hinein hatte auch diese einen großen Einfluss auf die Praxis und die Theorie des Prozessrechts.44 Tancredus und Guilelmus Durantis sahen eine aus einem öffentlichen Archiv vorgelegte Urkunde unabhängig von deren Aussteller, unabhängig von den verwendeten Beglaubigungsmitteln und unabhängig von den bei der Ausfertigung anwesenden Zeugen als glaubwürdig an. Ob der vom Beweisführer behauptete Tatbestand der Edition aus einem öffentlichen Archiv erfüllt war, oblag der Prüfung durch den Richter. War der Tatbestand erfüllt, so handelte es sich nach der Auffassung des Guilelmus Durantis um ein „instrumentum authenticum“. 2.2 Ahasver Fritsch Im Jahre 1664 veröffentlichte Ahasver Fritsch seinen „Tractatus de iure archivi et cancellariae“, der zum ersten Mal in der deutschen Rechtswissenschaft eine Synthese der juristischen Diskurse über das Archivwesen bot.45 Ahasver Fritsch stand seit 1661 als Jurist in verschiedenen Funktionen, seit 1681 als Kanzler im Dienst des thüringischen Fürstentums Schwarzburg40 Schmoeckel (wie Anm. 12) S. 189–209. – Franck Roumy, Les origines canoniques de la notion moderne d’acte authentique ou public. In: Der Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur, Bd. 2, Öffentliches Recht, hrsg, von dems., Mathias Schmoeckel und Orazio Condorelli (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 37, 2), Köln-Weimar-Wien 2011, S. 333–360. 41 Roumy (wie Anm. 40) S. 359, mit Anm. 86. 42 Tancredi Bononiensis ordo iudiciarius 3.13.2. In: Friedrich Bergmann (Hrsg.), Pilii, Tancredi, Gratiae libri de iudiciorum ordine, Göttingen 1842 (Bayerische Staatsbibliothek – URN: urn:nbn:de:bvb:12-bsb10510995-1 – Abruf: 14.3.2020), S. 248, Z. 16–S. 249, Z. 16. – Vgl. Roumy (wie Anm. 40) S. 354 f., mit S. 355, Anm. 72. 43 Vgl. zu Tancredus und seinem wissenschaftlichen Werk Karl Borchardt. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, Stuttgart-Weimar 1999, sub voce Tankred, 3. T. (Tancredus) v. Bologna, Sp. 458; Lange (wie Anm. 14) S. 293–297, und Pennington. In: The History of Courts and Procedure (wie Anm. 22) S. 144–148. 44 Lange (wie Anm. 14) S. 296. 45 Markus Friedrich, Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013, S. 91. – Vgl. bereits Merzbacher (wie Anm. 10) S. 135.
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Rudolstadt.46 In dem Kapitel „De archivali probationis fide“47 stellte er drei „conclusiones“ zum Beweiswert aus öffentlichen Archiven vorgelegter schriftlicher Aufzeichnungen vor. 2.2.1 „conclusio prima“ Scripturae ex archivio publico prolatae, etiamsi non sint publicae, regulariter integram fidem faciunt …48 Die Schriftstücke, die aus einem öffentlichen Archiv vorgelegt worden sind, verdienen auch dann, wenn sie nicht öffentlich sind, regelmäßig volles Vertrauen …49 Der Glaubwürdigkeit bei Tancredus und Guilelmus Durantis entspricht das volle Vertrauen („fides integra“) bei Ahasver Fritsch. Neben dem Begriff „fides integra“ verwendete Ahasver Fritsch auch die Begriffe „fides plena“ und „fides publica“, um den Beweiswert der aus einem öffentlichen Archiv vorgelegten Schriftstücke („scripturae“) zu bezeichnen. Er hob hervor, dass dieser Beweiswert auf der „auctoritas archivi“ beruhe.50 Allerdings könne die durch die Verwahrung in einem öffentlichen Archiv vermittelte Authentizität durch einen Gegenbeweis erschüttert werden.51 Soweit von Vgl. zu Ahasver Fritsch und seinem wissenschaftlichen Werk Bernhard Anemüller. In: Allgemeine Deutsche Biographie, 1878 (http://www.deutsche-biographie.de – Abruf: 11.11.2019), sub voce Fritsch, Ahasver; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800, München 1988, S. 255 f., und Thomas Vogtherr, Archivtheorie und Archivpraxis im ausgehenden 17. Jahrhundert: Ahasver Fritsch, Jacob Bernhard Multz von Oberschönfeld und Georg Aebttlin. In: Reiner Cunz – Rainer Polley – Andreas Röpcke (Hrsg.), Fundamenta Historiae – Geschichte im Spiegel der Numismatik und ihrer Nachbarwissenschaften. Festschrift für Niklot Klüßendorf zum 60. Geburtstag am 10. Februar 2004 (Veröffentlichungen der Urgeschichtlichen Sammlungen des Landesmuseums zu Hannover 51), Hannover 2004, S. 403–409. 47 Ahasver Fritsch, Tractatus de iure archivi et cancellariae, Jena 1664 (Bayerische Staatsbibliothek – URN: urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10650709-1 – Abruf: 1.5.2019), 7, S. 44–64. 48 Fritsch (wie Anm. 47) 7.7, S. 47. 49 Vgl. bei Udo Schäfer, Authentizität. Elektronische Signaturen oder Ius Archivi? In: Rainer Hering – Udo Schäfer (Hrsg.), Digitales Verwalten – Digitales Archivieren. 8. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ am 27. und 28. April 2004 im Staatsarchiv Hamburg (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg 19), Hamburg 2004, S. 13–31, hier S. 28. 50 Fritsch (wie Anm. 47) 7.37, S. 56. 51 Fritsch (wie Anm. 47) 7.51, S. 60. 46
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privater Seite hergestellte Schriftstücke („scripturae privatae“) in ein öffentliches Archiv aufgenommen worden seien, dürfe der Beweisführer in der Regel auch für diese Aufzeichnungen volles Vertrauen in Anspruch nehmen.52 2.2.2 „conclusio secunda“ Vis archivi etiam extra territorium se extendit; seu, scriptura ex archivo producta pro producente non solum contra subditos, sed etiam contra tertios probat …53 Die Wirkung des Archivs erstreckt sich auch auf Gebiete außerhalb des Territoriums; ein Schriftstück, das aus einem Archiv vorgelegt worden ist, entfaltet seine beweisrechtliche Wirkung zugunsten des Vorlegenden nicht nur gegen Untertanen, sondern auch gegen Dritte …54 Auch in den Fällen, in denen das Archiv und das Gericht nicht Institutionen desselben Herrschaftsträgers seien oder in denen eine der Prozessparteien nicht der Herrschaft angehöre, deren Träger auch Träger des Archivs sei, könne sich der Beweisführer auf die „fides integra“ der aus dem Archiv vorgelegten Schriftstücke berufen. Ahasver Fritsch begründete diese Territorien und Ebenen überschreitende Geltung der „auctoritas archivi“ mit dem Hinweis, dass es sich um eine Regel des „ius commune“ handle.55 Nach dieser These von Ahasver Fritsch konnten deshalb auch Herrschaftsträger, die vor dem Reichskammergericht oder dem Reichshofrat einen Prozess gegeneinander führten, der Führung eines Urkundenbeweises das Ius Archivi im passiven Sinne zu Grunde legen.56 2.2.3 „conclusio tertia“ Scripturae ex archivo prolatae nullam aliam extrinsecum probationem vel sigilli recognitionem requirunt …57 Vgl. insgesamt Fritsch (wie Anm. 47) 7.7–52, S. 47–61. Fritsch (wie Anm. 47) 7.53, S. 61. 54 Bei Schäfer (wie Anm. 49) S. 28. 55 Fritsch (wie Anm. 47) 7.55, S. 61. 56 Vgl. insgesamt Fritsch (wie Anm. 47) 7.53–57, S. 61 f. 57 Fritsch (wie Anm. 47) 7.58, S. 62. 52 53
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Die Schriftstücke, die aus einem Archiv vorgelegt worden sind, bedürfen keines anderen extrinsischen Beweises oder einer Anerkennung des Siegels …58 Bereits im 13. Jahrhundert betrachteten die Kanonisten und Prozessualisten Tancredus und Guilelmus Durantis aus öffentlichen Archiven vorgelegte schriftliche Aufzeichnungen als glaubwürdig, ohne dass es einer Prüfung der verwendeten Beglaubigungsmittel oder einer Bestätigung durch die bei der Erstellung anwesenden Zeugen bedurft hätte. Ebenso betonte Ahasver Fritsch die Unabhängigkeit des Beweiswerts solcher Aufzeichnungen von einer Prüfung ihrer inneren und äußeren Merkmale. 2.3 Ergebnis Auf der Grundlage einer Novelle des Kaisers Justinian aus dem Jahre 537 schufen die mittelalterlichen Prozessualisten das Ius Archivi im passiven Sinne als Institut des Beweisrechts. Der prozessualen Praxis und Theorie des 16. und 17. Jahrhunderts wurde die Kenntnis dieses Instituts über den „ordo iudiciarius“ des Tancredus und insbesondere über das „speculum iudiciale“ des Guilelmus Durantis vermittelt. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts legte Ahasver Fritsch in seiner Synthese der bisherigen juristischen Diskurse über das Archivwesen eine differenzierte Darstellung der beweisrechtlichen Wirkungen des Instituts vor. Darüber hinaus setzte er sich mit der Frage auseinander, welche Herrschaftsträger Inhaber des Ius Archivi im aktiven Sinne seien. Mit dem Blick auf die Hansestädte wird sich der vorliegende Beitrag diesen Erwägungen des Ahasver Fritsch in Abschnitt 4 widmen. Die Prozessualisten hatten die Entscheidung, ob der Tatbestand der Edition aus einem öffentlichen Archiv erfüllt sei, dem Richter überlassen. 3 . Di e H a n s e s t ä d t e i m 1 6 . u n d 1 7 . Ja h r h u n d e r t „Archive waren Wissensorte der Macht“.59 Diese Aussage des Historikers Markus Friedrich darf nicht nur für die Archive adliger Herrschaftsträger, sondern auch für die Archive kommunaler Gemeinwesen Geltung beanspruchen. Wissen als Ressource bildete die Grundlage für eine systemati58 59
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Bei Schäfer (wie Anm. 49) S. 28. Friedrich (wie Anm. 45) S. 203.
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sche und rationale Verwaltung. Für die Legitimation und die Verdichtung von Herrschaft war Wissen unverzichtbar.60 In Deutschland führte die sich entwickelnde kommunale Schriftlichkeit seit dem 14. Jahrhundert zur Einrichtung kommunaler Archive.61 Auch die in der Hanse verbundenen Städte verfügten über Archive als Wissensorte. So ist in den Hansestädten Lübeck,62 Hamburg63 und Bremen64 bereits seit dem 13. Jahrhundert ein als „trese“ bezeichnetes Urkundendepot belegt. Das semantische Spektrum des mittelniederdeutschen Wortes „trese“ reicht vom Begriff „Schatz“ bis zum Begriff „Archiv“.65 Für das späte Mittelalter und die Frühe Neuzeit ist jedoch zu berücksichtigen, dass in Praxis und Theorie der Verwahrung schriftlicher Aufzeichnungen noch nicht deutlich zwischen Registratur und Archiv unterschieden wurde.66 So im Hinblick auf die Landesherrschaft Joachim Bahlcke, Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte 91), München 2012, S. 25 f. 61 Georg Droege. In: Deutsche Verwaltungsgeschichte, hrsg. von Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl und Georg-Christoph von Unruh, Bd. 1, Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, S. 184. – Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Wien-Köln-Weimar 2012, S. 434–441. 62 Antjekathrin Grassmann, Von der Trese, der Schatzkammer des lübeckischen Rats. In: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 54 (1974) S. 87–93. – Iwan A. Iwanov, Die Hanse im Zeichen der Krise. Handlungsspielräume der politischen Kommunikation im Wandel 1550–1620 (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte NF 61), Köln-Weimar-Wien 2016, S. 260 f. – Cornelia Neustadt, Kommunikation im Konflikt. König Erik VII. von Dänemark und die Städte im südlichen Ostseeraum 1423–1435 (Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik 32), Berlin-Boston 2019, S. 61 f. 63 Jürgen Reetz, Ordnung und Unordnung in Hamburgs Threse. In: Beiträge zur Geschichte des Staatsarchivs der Freien und Hansestadt Hamburg (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg 5), Hamburg 1960, S. 79–100. – Rainer Postel, Das Gedächtnis der Stadt als Behörde. In: Joachim W. Frank – Thomas Brakmann (Hrsg.), Aus erster Quelle. Beiträge zum 300-jährigen Jubiläum des Staatsarchivs der Freien und Hansestadt Hamburg (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg 22), Hamburg 2013, S. 31–48, hier S. 31 f. 64 Karl H. Schwebel. In: Das Staatsarchiv Bremen 1968. Behörde – Dokument – Geschichte (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen 36), Bremen 1968, S. 13 f. 65 Mittelniederdeutsches Handwörterbuch, bearb. von August Lübben und Christoph Walther, Norden-Leipzig 1888, ND Darmstadt 1980, sub voce trese, S. 416. 66 J. Friedrich Battenberg, Der Funktionswandel der Archive vom 18. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: 50 Jahre Verein deutscher Archivare. Bilanz und Perspektiven des Archivwesens in Deutschland. Referate des 67. Deutschen Archivtags und 60
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3.1 Die politische Situation der Hanse Als Ahasver Fritsch im Jahre 1664 seine juristische Abhandlung über das Archivwesen vorlegte, befand sich der hansische Verband aber schon in einem Prozess der Auflösung. Im Jahre 1669 versammelten sich zum letzten Mal Ratssendeboten der Hansestädte Lübeck, Hamburg, Bremen, Braunschweig, Danzig und Köln in Lübeck, ohne dass es den Teilnehmenden bewusst war, dass es der letzte Hansetag sein würde. Die Hansestädte Rostock, Hildesheim und Osnabrück hatten jeweils eine der teilnehmenden Städte bevollmächtigt, sie zu vertreten.67 Neben der Zukunft der hansischen Niederlassung in London standen insbesondere Charakter und Struktur des hansischen Verbandes auf der Tagesordnung. Hamburg, Bremen und Braunschweig beabsichtigten, die Entwicklung der Hanse zu einem Bündnis wieder aufzunehmen. In ein solches Bündnis sollten auch oberdeutsche Reichsstädte einbezogen werden. Lübeck hingegen blieb bei dem traditionellen Konzept einer Interessengemeinschaft68 oder Interessenvertretung69, das auf den Schutz von Privilegien und Präferenzen, von Kartellen und Monopolen ausgerichtet war.70 Während des Dreißigjährides Internationalen Kolloquiums zum Thema: Die Rolle der archivarischen Fachverbände in der Entwicklung des Berufstandes, 17.–20. September 1996 in Darmstadt. Redaktion: Diether Degreif (Der Archivar. Beiband 2), Siegburg 1997, S. 101–114, hier S. 109. – Schäfer (wie Anm. 11) S. 170 f. – Ders., „Quod non est in actis, non est in mundo“. Zur Funktion öffentlicher Archive im demokratischen Rechtsstaat. In: Alles was Recht ist. Archivische Fragen – juristische Antworten. 81. Deutscher Archivtag 2011 in Bremen. Redaktion: Heiner Schmitt (Tagungsdokumentation zum Deutschen Archivtag 16), Fulda 2012, S. 57–78, hier S. 74 f. 67 Heinz Stoob, Die Hanse, Wien 1995, S. 368. – Stephan Selzer, Die mittelalterliche Hanse (Geschichte kompakt), Darmstadt 2010, S. 125. – Philippe Dollinger, Die Hanse, neu bearb. von Volker Henn und Nils Jörn, Stuttgart 62012, S. 485 f. – Michael North. In: A Companion to the Hanseatic League, hrsg. von Donald J. Harreld (Brill’s Companions to European History 8), Leiden-Boston 2015, S. 117. 68 Eva-Marie Distler, Städtebünde im deutschen Spätmittelalter. Eine rechtshistorische Untersuchung zu Begriff, Verfassung und Funktion (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 207), Frankfurt am Main 2006, S. 53–68. 69 Rolf Hammel-Kiesow. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 22012, sub voce Hanse, Sp. 764, 770 f. – Ders., Die Hanse als kaufmännisch-städtische Interessenvertretung auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet. In: Ferdinand Opll – Andreas Weigl (Hrsg.), Zum Phänomen interstädtischer Vergemeinschaftung von Antike bis Gegenwart (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 27), Innsbruck 2017, S. 187–204. 70 Angela Huang – Henning Steinführer, Der Hansetag von 1669 und das „Ende der Hanse“. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 92 (2020) S. 9–45. – Für die
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gen Krieges hatten die auf dem Hansetag des Jahres 1629 versammelten hansischen Ratssendeboten schon die Wahrnehmung der Interessen der Hanse auf die Räte der Städte Lübeck, Hamburg und Bremen übertragen.71 In Reaktion auf die Verdichtung der Landesherrschaften72 und die sich dynamisch verändernden politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen des hansischen Handels73 gab es bereits zwischen 1494 und 1616 Versuche führender Hansestädte, den hansischen Verband zu einem Bündnis auszubauen.74 Von den Hansestädten waren lediglich Lübeck, Goslar
Erlaubnis, bereits das Manuskript verwenden zu dürfen, ist der Verfasser Frau Dr. Angela Huang, Lübeck, und Herrn Dr. Henning Steinführer, Braunschweig, sehr zu Dank verpflichtet. 71 Rainer Postel, Hamburgs Rolle in der Hanse im 16. und 17. Jahrhundert. In: Fernhandel und Stadtentwicklung im Nord- und Ostseeraum in der hansischen Spätzeit 1550–1630. Symposion zum 14. Hansetag der Neuzeit in Stade am 8. und 9. April 1994. Redaktion: Jürgen Bohmbach (Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv Stade 18), Stade 1995, S. 67–85, hier S. 76. – Ders., Zur „erhaltung dern commercien und darüber habende privilegia“. Hansische Politik auf dem Westfälischen Friedenskongreß. In: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte (Historische Zeitschrift. Beihefte NF 26), München 1998, S. 523–540, hier S. 525 f. – Stoob (wie Anm. 67) S. 367. – Selzer (wie Anm. 67) S. 125. – Dollinger (wie Anm. 67) S. 481 f. 72 Bahlcke (wie Anm. 60) S. 7–12. 73 Selzer (wie Anm. 67) S. 107–117, 122–124. 74 Horst Wernicke, Herausforderung und Antwort. Hansische Konföderation in der Spätzeit. In: Fernhandel und Stadtentwicklung im Nord- und Ostseeraum in der hansischen Spätzeit 1550–1630. Symposion zum 14. Hansetag der Neuzeit in Stade am 8. und 9. April 1994. Redaktion: Jürgen Bohmbach (Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv Stade 18), Stade 1995, S. 7–18. – Maria Seier, Die Hanse auf dem Weg zum Städtebund. Hansische Reorganisationsbemühungen an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. In: Hansische Geschichtsblätter 130 (2012) S. 93–125. – Selzer (wie Anm. 67) S. 117–121. – Iwanov (wie Anm. 62) S. 78–101, 321–325. – Jochen Rath, Pakte und Pamphlete. Die Hansestädte und der Konflikt Braunschweigs mit den Welfen 1600–1620/71. In: Rudolf Holbach – Henning Steinführer (Hrsg.), Hansestädte und Landesherrschaft (Hansische Studien 28), Wismar 2020, S. 115–154, hier S. 117–124, 143–148, 152.
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und Dortmund als Reichsstädte75 sowie Köln als Freie Stadt76 seit 1471 Mitglieder des Städtetages.77 In der Interpretation des Historikers Georg Schmidt sind die Versuche, die Hanse zu einem Bündnis zu verdichten, in der Absicht unternommen worden, den hansischen Verband als Korporation in das komplementäre Mehrebenensystem78 des Alten Reiches Vgl. zum Begriff der Reichsstadt für das späte Mittelalter Peter Moraw, Reichsstadt, Reich und Königtum im späten Mittelalter. In: Zeitschrift für Historische Forschung 6 (1979) S. 385–424; Paul-Joachim Heinig, Reichsstädte, Freie Städte und Königtum 1389–1450. Ein Beitrag zur deutschen Verfassungsgeschichte (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz. Abteilung Universalgeschichte 108. Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 3), Wiesbaden 1983, S. 48–54; Peter Eitel. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, Berlin 1990, sub voce Reichsstädte, Sp. 754–759; Isenmann (wie Anm. 61) S. 295–311, und Helmut G. Walther, „Unser und des Reichs Städte“ – Zum Wandel der Vorstellungen von kollektiven Freiheitsrechten im Reich des Spätmittelalters. In: Mathias Kälble – Helge Wittmann (Hrsg.), Reichsstadt als Argument. 6. Tagung des Mühlhäuser Arbeitskreises für Reichsstadtgeschichte, Mühlhausen 12. bis 16. Februar 2018 (Studien zur Reichsstadtgeschichte 6), Petersberg 2019, S. 15–34. 76 Vgl. zum Begriff der Freien Stadt für das späte Mittelalter Heinig (wie Anm. 75) S. 48– 54; Peter Moraw, Zur Verfassungsposition der Freien Städte zwischen König und Reich besonders im 15. Jahrhundert. In: Res publica. Bürgerschaft zwischen Stadt und Staat. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30. und 31. März 1987. Redaktion: Gerhard Dilcher (Beihefte zu „Der Staat“ 8), Berlin 1988, S. 11–39; Götz Landwehr – Sonja Schneider. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Berlin 22008, sub voce Freie Stadt, Sp. 1733 f., und Isenmann (wie Anm. 61) S. 289–293, 295–311. 77 Georg Schmidt, Der Städtetag in der Reichsverfassung. Eine Untersuchung zur korporativen Politik der Freien und Reichsstädte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz. Abteilung Universalgeschichte 113. Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 5), Stuttgart 1984, S. 36–75, 80–86. 78 Vgl. zur Charakterisierung des Alten Reiches als komplementäres Mehrebenensystem Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999, S. 40–44. – Ders., Das frühneuzeitliche Reich – komplementärer Staat und föderative Nation. In: Historische Zeitschrift 273, 1 (Oktober 2001) S. 371–399. – Ders., Das frühneuzeitliche Reich – Sonderweg und Modell für Europa oder Staat der deutschen Nation? In: Matthias Schnettger (Hrsg.), Imperium Romanum – Irregulare Corpus – Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Universalgeschichte. Beiheft 57), Mainz 2002, S. 247–277. – Ders., Wandel durch Vernunft. Deutschland 1715–1806 (Neue Deutsche Geschichte 6), München 2009, S. 55–61, und Johannes Burkhardt, Europäischer Nachzügler oder institutioneller Vorreiter? Plädoyer für einen neuen Entwicklungsdiskurs zur konstruktiven Doppelstaatlichkeit des frühmodernen Reiches. In: Matthias Schnettger (Hrsg.), Imperium Romanum – Irregulare Corpus – Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis 75
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zu integrieren.79 In den Frieden von Osnabrück vom 14. Oktober 1648 wurde die Hanse sogar ausdrücklich aufgenommen.80 Indem dieser als
der Zeitgenossen und der Historiographie (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Universalgeschichte. Beiheft 57), Mainz 2002, S. 297–316, einerseits sowie Heinz Schilling, Reichs-Staat und frühneuzeitliche Nation der Deutschen oder teilmodernisiertes Reichssystem. Überlegungen zu Charakter und Aktualität des Alten Reiches. In: Historische Zeitschrift 272, 2 (April 2001) S. 377–395; Ders., Das Alte Reich – Ein teilmodernisiertes System als Ergebnis der partiellen Anpassung an die frühmoderne Staatsbildung in den Territorien und den europäischen Nachbarländern. In: Matthias Schnettger (Hrsg.), Imperium Romanum – Irregulare Corpus – Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Universalgeschichte. Beiheft 57), Mainz 2002, S. 279–291, und Wolfgang Reinhard, Frühmoderner Staat und deutsches Monstrum. Die Entstehung des modernen Staates und das Alte Reich. In: Zeitschrift für Historische Forschung 29 (2002) S. 339–357, andererseits. – Vgl. auch Udo Schäfer, Rechtsvielfalt und Rechtseinheit in Europa. Zum Einfluss des europäischen Rechts auf das nationale Archivwesen. In: Gerhard Hetzer – Bodo Uhl (Hrsg.), Festschrift Hermann Rumschöttel zum 65. Geburtstag (= Archivalische Zeitschrift 88), Köln u.a. 2006, Teilband 2, S. 819–846, hier S. 820–822. 79 Georg Schmidt, Städtehanse und Reich im 16. und 17. Jahrhundert. In: Antjekathrin Grassmann (Hrsg.), Niedergang oder Übergang? Zur Spätzeit der Hanse im 16. und 17. Jahrhundert (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte NF 44), Köln-Weimar-Wien 1998, S. 25–46. – Ders., Hanse, Hanseaten und Reich in der frühen Neuzeit. In: Isabelle Richefort – Burghart Schmidt (Hrsg.), Les relations entre la France et les villes hanséatiques de Hambourg, Brême et Lübeck. Moyen Âge – XIXe siècle – Die Beziehungen zwischen Frankreich und den Hansestädten Hamburg, Bremen und Lübeck. Mittelalter – 19. Jahrhundert (Collection „Diplomatie et Histoire“), Brüssel u.a. 2006, S. 229–259. – Vgl. bereits ders., Städtetag, Städtehanse und frühneuzeitliche Reichsverfassung. In: Michael Stolleis (Hrsg.), Recht, Verfassung und Verwaltung in der frühneuzeitlichen Stadt (Städteforschung A 31). Köln-Wien 1991, S. 41–61. – Vgl. aber Rainer Postel, Späte Hanse und Altes Reich. In: Hansische Geschichtsblätter 129 (2011) S. 153– 169. – Vgl. auch Heinz Schilling, Stadt und frühmoderner Territorialstaat: Stadtrepublik versus Fürstensouveränität. Die politische Kultur des deutschen Stadtbürgertums in der Konfrontation mit dem frühmodernen Staatsprinzip. In: Michael Stolleis (Hrsg.), Recht, Verfassung und Verwaltung in der frühneuzeitlichen Stadt (Städteforschung A 31), KölnWien 1991, S. 19–39, hier S. 28 f., und Nils Jörn, Die Versuche von Kaiser und Reich zur Einbeziehung der Hanse in die Anstrengungen zur Abwehr der Türken im 16. und 17. Jh. In: Ders. – Michael North (Hrsg.), Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 35), Köln-Weimar-Wien 2000, S. 393–423. 80 Instrumentum Pacis Osnabrugensis (IPO) 17.10 und 11. In: Anhang: Auszüge aus den Friedensverträgen. In: Meinhard Schröder (Hrsg.), 350 Jahre Westfälischer Friede. Verfassungsgeschichte, Staatskirchenrecht, Völkerrechtsgeschichte (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 30), Berlin 1999, S. 191.
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völkerrechtlicher Vertrag81 den hansischen Verband als Völkerrechtssubjekt anerkannte,82 bot er dem juristischen Diskurs über die Rechtsnatur der Hanse83 eine normative Grundlage. Für eine politische und rechtliche Integration des hansischen Verbandes als eine den Vereinigungen84 der Reichsritter,85 der Reichsstädte86 oder der Reichsgrafen87 vergleichbare Korporation in das komplementäre Mehrebenensystem ließ die Verdichtung des Reiches in der Mitte des 17. Jahrhunderts jedoch keinen Raum mehr.88 Von den Hansestädten, die nicht den seit Beginn des 16. Jahrhunderts auch die Freien Städte umfassenden verfassungsrechtlichen Status einer
Heinhard Steiger, Der Westfälische Frieden – Grundgesetz für Europa? In: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte (Historische Zeitschrift. Beihefte NF 26), München 1998, S. 33–80. – Karl-Heinz Ziegler, Der Westfälische Frieden von 1648 in der Geschichte des Völkerrechts. In: Meinhard Schröder (Hrsg.), 350 Jahre Westfälischer Friede. Verfassungsgeschichte, Staatskirchenrecht, Völkerrechtsgeschichte (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 30), Berlin 1999, S. 99–117. – Meinhard Schröder, Der Westfälische Friede – eine Epochengrenze in der Völkerrechtsentwicklung. In: Ebd. S. 119–137. – Heinz Duchhardt. In: The Oxford Handbook of the History of International Law, hrsg. von Bardo Fassbender und Anne Peters, Oxford 2012, S. 639–641. 82 Hans-Bernd Spies, Lübeck, die Hanse und der Westfälische Frieden. In: Hansische Geschichtsblätter 100 (1982) S. 110–124. – Postel (wie Anm. 71) S. 523–540. – Albrecht Cordes, Die Rechtsnatur der Hanse. Politische, juristische und historische Diskurse. In: Hansische Geschichtsblätter 119 (2001) S. 49–62, hier S. 51 f., 55 f., 62. 83 Vgl. zu diesem Wilhelm Ebel, Die Hanse in der deutschen Staatsrechtsliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Hansische Geschichtsblätter 65/66 (1940/1941) S. 145–169; Cordes (wie Anm. 82) S. 56–60, und Rath (wie Anm. 74) S. 142 f. 84 Vgl. zu diesen Volker Press, Kriege und Krisen. Deutschland 1600–1715 (Neue deutsche Geschichte 5), München 1991, S. 124–130, und Helmut Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte 42), München 1997, S. 32–37. 85 Vgl. zum Beispiel Cord Ulrichs, Die Entstehung der fränkischen Reichsritterschaft. Entwicklungslinien von 1370 bis 1590 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 31), Köln-Weimar-Wien 2016, bes. S. 576–580. 86 Schmidt, Der Städtetag in der Reichsverfassung (wie Anm. 77), bes. S. 526–535. – Vgl. auch Horst Carl, Der Schwäbische Bund 1488–1534. Landfrieden und Genossenschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 24), Leinfelden-Echterdingen 2000, S. 149–179. 87 Vgl. zum Beispiel Georg Schmidt, Der Wetterauer Grafenverein. Organisation und Politik einer Reichskorporation zwischen Reformation und Westfälischem Frieden (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 52), Marburg 1989, bes. S. 466–475. 88 Vgl. Selzer (wie Anm. 67) S. 125. 81
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Reichsstadt89 innehatten, konnten – anachronistische Ausnahmen90 nicht berücksichtigend – nur Hamburg und Bremen die kommunale Autokephalie und Autonomie91 wahren. 3.2 Der verfassungsrechtliche Status der Hansestädte Lübeck, Hamburg und Bremen 3.2.1 Lübeck Lübeck hatte bereits in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts den verfassungsrechtlichen Status einer Reichsstadt erworben. Nach der Niederlage des Grafen Albrecht II. von Orlamünde, der im Namen König Waldemars II. von Dänemark in Holstein herrschte, gegen eine Koalition norddeutscher Fürsten bei Mölln im Jahre 1225 vertrieben die Lübecker dessen Besatzung aus der Stadt und befreiten sich von der seit 1201 bestehenden Stadtherrschaft des dänischen Königs. Lübeck schloss sich der Koalition norddeutscher Fürsten an, die im Jahre 1227 bei Bornhöved auch König Waldemar II. von Dänemark besiegte. Zwischen den militärischen Auseinandersetzungen hatte Lübeck Gesandte zu Kaiser Friedrich II. nach Oberitalien geschickt, um die unter Kaiser Friedrich I. Barbarossa bestehende Nähe zu Kaiser und Reich wiederherzustellen. Im Juni 1226 verlieh Kaiser Friedrich II. der Stadt Lübeck in einem Privileg die Reichsunmittelbarkeit. Es sollte die kommunale Autokephalie und Autonomie gegenüber dem Anspruch des Grafen Adolf IV. von Schauenburg auf die Stadtherrschaft rechtlich absichern. Nach der dänischen Niederlage bei Vgl. zum Begriff der Reichsstadt für die Frühe Neuzeit Klaus Gerteis, Die deutschen Städte in der Frühen Neuzeit. Zur Vorgeschichte der „bürgerlichen Welt“, Darmstadt 1986, S. 65–71. – Press (wie Anm. 84) S. 124–127. – Neuhaus (wie Anm. 84) S. 34–36. – Gerhard Dilcher. In: Karl Siegfried Bader – Gerhard Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte. Land und Stadt – Bürger und Bauer im Alten Europa (Enzyklopädie der Rechtsund Staatswissenschaft. Abteilung Rechtswissenschaft), Berlin u.a. 1999, S. 712–718. – Ulrich Rosseaux, Städte in der Frühen Neuzeit (Geschichte kompakt), Darmstadt 2006, S. 26–30, und Joachim Whaley, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und seine Territorien, Bd. 1, Von Maximilian I. bis zum Westfälischen Frieden 1493–1648, Darmstadt 2014, S. 648–659. 90 Vgl. zu diesen Schmidt, Der Städtetag in der Reichsverfassung (wie Anm. 77) S. 36–75; Schilling (wie Anm. 79) S. 31 f.; Ders., Die Stadt in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 24), München 22004, S. 45 f., und Rath (wie Anm. 74) S. 148 f. 91 Vgl. zu den Begriffen der kommunalen Autokephalie und Autonomie Isenmann (wie Anm. 61) S. 285–287. 89
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Bornhöved stellte Graf Adolf IV. die schauenburgische Herrschaft über die Grafschaft Holstein wieder her. Mit Ausnahme der Jahre 1307 bis 1319, in denen der dänische König Erich Menved eine Schutzherrschaft über die Stadt Lübeck ausübte, blieb die Reichsunmittelbarkeit aber bis zum Ende des Alten Reiches unbeeinträchtigt.92 3.2.2 Hamburg Erst 120 Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges erkannten König Christian VII. von Dänemark als Herzog von Holstein und Zarin Katharina II. von Russland als Vormund des Herzogs Paul von HolsteinGottorf im Gottorper Vergleich vom 27. Mai 176893 die Reichsunmittelbarkeit und die Reichsstandschaft der Stadt Hamburg an. Als die „Rendsburger“ Linie des Hauses Schauenburg mit dem Tod von Adolf VIII., Herzog von Schleswig und Graf von Holstein, im Jahre 1459 erlosch, wählten die Räte des Herzogtums Schleswig König Christian I. von Dänemark am 2. März 1460 in Ripen zum neuen Landesherrn. Vor der Huldigung durch die Ritterschaft beider Territorien am 4. April 1460 in Kiel schlossen sich die Räte der Grafschaft Holstein der Wahl an.94 Am 15. Januar 92 Erich Hoffmann. In: Lübeckische Geschichte, hrsg. von Antjekathrin Grassmann, Lübeck 42008, S. 111–132. – Rolf Hammel-Kiesow, Vergangene Größe? Die Bedeutung der Reichsfreiheit in der Geschichte Lübecks. In: Jan Lokers – Michael Hundt (Hrsg.), Das Ende des eigenständigen Lübecker Staates im Jahre 1937. Vorgeschichte, Ablauf und Folgen einer stadtgeschichtlichen Zäsur (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck B 52), Lübeck 2014, S. 13–24. – Ders. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, Berlin 22016, sub voce Lübeck, Sp. 1070–1072. – Oliver Auge, Das Reichsfreiheitsprivileg von 1126: Meilenstein aus Pergament in Lübecks Geschichte. In: Zeitschrift für Lübeckische Geschichte 99 (2019) S. 35–63. 93 Hamburgs Weg zum Reich und in die Welt. Urkunden zur 750-Jahr-Feier des Hamburger Hafens, bearb. von Heinrich Reincke, Hamburg 1939, Nr. 68, S. 235–250. – Vgl. Franklin Kopitzsch. In: Hamburg Lexikon, hrsg. von dems. und Daniel Tilgner, Hamburg 32005, sub voce Gottorper Vergleich, S. 183. 94 Erich Hoffmann, Spätmittelalter und Reformationszeit (Geschichte Schleswig-Holsteins 4, 2), Neumünster 1990, S. 275–289. – Carsten Jahnke, „dat se bliven ewich tosamende ungedelt“. Neue Überlegungen zu einem alten Schlagwort. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 128 (2003) S. 45–59. – Ders., Die Anomalie des Normalen. Das „dat se bliuen ewich tosamende vngedelt“ und die Ripener Wahlhandfeste von 1460. In: Oliver Auge – Burkhard Büsing (Hrsg.), Der Vertrag von Ripen 1460 und die Anfänge der politischen Partizipation in Schleswig-Holstein, im Reich und in Nordeuropa. Ergebnisse einer internationalen Tagung der Abteilung für Regionalgeschichte der CAU zu Kiel vom 5. bis 7. März 2010 (Kieler Historische Studien 43), Ostfildern 2012, S. 39–72. – Ulrich Lange. In: Geschichte Schleswig-Holsteins. Von den
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1461 „nahmen“ Rat und Gemeinde der Stadt Hamburg den in der Stadt persönlich anwesenden König als Landesherrn „an“ – ohne eine eindeutige Huldigung unter Leistung eines Eides zu vollziehen.95 Als die Hamburger am 30. Oktober 1603 König Christian IV. von Dänemark und Herzog Johann Adolf von Holstein-Gottorf als Landesherren annahmen, erfolgte dieser Akt eindeutiger als 1461 in der Form einer Huldigung.96 König Christian I. von Dänemark hatte 1474 bei Kaiser Friedrich III. die Erhebung der Grafschaft Holstein zum Herzogtum erreicht.97 Im Rahmen der Landesteilungen von 1490 und 1544 entstand der Gottorfer Anteil an den Herzogtümern Schleswig und Holstein.98 Die landesherrlichen Rechte an der Stadt Hamburg nahmen nun zwei Herzöge von Holstein gemeinsam in Anspruch. Allerdings vermochte Hamburg seine gegenüber den Grafen von Schauenburg erreichte99 kommunale Autokephalie und Autonomie zu wahren – ohne zugleich die Reichsunmittelbarkeit anzustreben. Am 8. März 1422 hatte der römische König Sigismund die Stadt Hamburg
Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. von dems., Neumünster 22003, S. 153–157. – Carsten Porskrog Rasmussen. In: Die Fürsten des Landes. Herzöge und Grafen von Schleswig, Holstein und Lauenburg, hrsg. von dems. u.a., Neumünster 2008, S. 73–77. 95 Dokumente zur Geschichte der hamburgischen Reichsfreiheit, Teil 1, Berichte und Urkunden über die Annehmung der Landesherren, bearb. von Heinrich Reincke (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg 7, 1), Hamburg 1961, Nr. 1, S. 4–15. 96 Dokumente (wie Anm. 95) Nr. 41, S. 146–156. – Vgl. Hans-Dieter Loose, Hamburg und Christian IV. von Dänemark während des Dreißigjährigen Krieges. Ein Beitrag zur Geschichte der hamburgischen Reichsunmittelbarkeit (Veröffentlichungen des Vereins für Hamburgische Geschichte 18), Hamburg 1963, S. 2 f. 97 Lange. In: Geschichte Schleswig-Holsteins (wie Anm. 94) S. 163. – Rasmussen. In: Die Fürsten des Landes (wie Anm. 94) S. 79 f. 98 Lange. In: Geschichte Schleswig-Holsteins (wie Anm. 94) S. 163 f., 173–177. – Rasmussen. In: Die Fürsten des Landes (wie Anm. 94) S. 80–82, 87 f. – Lars N. Henningsen. In: Ebd. S. 143–145. 99 Maike Hanf, Hamburgs Weg in die praktische Unabhängigkeit vom schauenburgischen Landesherrn (Beiträge zur Geschichte Hamburgs 31), Hamburg 1986, bes. S. 237–239.
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zum ersten Mal zu einem Hoftag100 geladen.101 Er war am 28. Juli 1420 auf dem Hradschin zum König von Böhmen gekrönt worden, vermochte sich aber militärisch nicht gegen die hussitische Bewegung durchzusetzen. Auf Grund seines als unzureichend betrachteten militärischen Engagements gegen die Hussiten war er bei den Kurfürsten in die Kritik geraten. Sigismund versuchte deshalb seine Herrschaft als römischer König in besonderem Maße auf die reichsunmittelbaren Städte und Ritter zu stützen.102 Dabei zog er die Grenzen der Reichsunmittelbarkeit bei der Ladung von Städten zu Hoftagen sehr weit.103 Schließlich forderten die Kaiser Maximilian I. und Karl V. die Stadt Hamburg auf, Reichssteuern zu entrichten. Da Hamburg sich weigerte, eine entsprechende Verpflichtung gegenüber dem Reich anzuerkennen, erhob der Fiskal104 in den Jahren 1508105 und 1548106 vor dem Reichskammergericht Klage gegen die Stadt. Während in dem ersten Verfahren keine Entscheidung erging, stellte das Reichskammergericht in dem zweiten Verfahren mit Endurteil vom 6. Juli 1618107 fest, dass die Stadt Hamburg den verfassungsrechtlichen Status einer Reichsstadt 100 Vgl. zur diachronen Differenzierung zwischen Hof- und Reichstag Peter Moraw, Versuch über die Entstehung des Reichstags, 1980. In: Ders., Über König und Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, hrsg. von Rainer Christoph Schwinges, Sigmaringen 1995, S. 207–242. – Ders. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, Stuttgart-Weimar 1995, sub voce Reichstag, Sp. 640–642, und Eberhard Isenmann, Die Städte auf den Reichstagen im ausgehenden Mittelalter. In: Peter Moraw (Hrsg.), Deutscher Königshof, Hoftag und Reichstag im späteren Mittelalter (Vorträge und Forschungen 48), Stuttgart 2002, S. 547–577. 101 Regesta Imperii 11, 1, Nr. 4817. In: Regesta Imperii Online (http://www.regesta-imperii. de – Abruf: 27.3.2020). 102 Jörg K. Hoensch, Kaiser Sigismund. Herrscher an der Schwelle zur Neuzeit 1368– 1437, Darmstadt 1997, S. 279–310. – Ders., Die Luxemburger. Eine spätmittelalterliche Dynastie gesamteuropäischer Bedeutung 1308–1437, Stuttgart 2000, S. 264–273. 103 Friedrich Bernward Fahlbusch, Königtum und Städte in Niederdeutschland im frühen 15. Jahrhundert. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 119 (1983) S. 93–112, hier S. 103–105. – Ders., Städte und Königtum im frühen 15. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte Sigmunds von Luxemburg (Städteforschung A 17), Köln-Wien 1983, S. 205 f. – Stephan Selzer, Die Hanse in den Hussitenkriegen. In: Ortwin Pelc (Hrsg.), Hansestädte im Konflikt. Krisenmanagement und bewaffnete Auseinandersetzung vom 13. bis zum 17. Jahrhundert (Hansische Studien 23), Wismar 2019, S. 103–128, hier S. 111, 112 (Tabelle 1). 104 Vgl. zu diesem Albrecht Cordes. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Berlin 22008, sub voce Fiskal, Sp. 1584 f. 105 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, F 31. 106 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, F 32, Teile 1–9. 107 Hamburgs Weg zum Reich (wie Anm. 93) Nr. 64, S. 213 f.
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innehabe. Allerdings legten König Christian IV. von Dänemark und Herzog Friedrich III. von Holstein-Gottorf gegen das Urteil Revision ein. Eine Entscheidung über die Revision durch eine Visitationskommission blieb aus. Trotzdem wurde der Status einer Reichsstadt in den 150 Jahren zwischen 1618 und 1768 mehrere Male durch den Reichshofrat in rechtlicher Hinsicht bestätigt. In politischer Hinsicht jedoch bestand der Anspruch des Königs von Dänemark und des Herzogs von Holstein-Gottorf auf die Landesherrschaft über die Stadt Hamburg fort. Im Steinburger Vertrag vom 8. Juli 1621108 ging die Stadt unter militärischem Druck sogar die Verpflichtung ein, sich bis zur Entscheidung über die Revision nicht auf den Status einer Reichsstadt zu berufen – obwohl sie einen Sinneswandel vollzogen hatte und die vom Reichskammergericht festgestellte Reichsunmittelbarkeit als politischen Vorteil wertete.109 Die Revision nahmen der König von Dänemark und der Herzog von Holstein-Gottorf erst mit dem Gottorper Vergleich110 zurück.111 Danmark-Norges Traktater 1523–1750 med dertil hørende Aktstykker, hrsg. von L. Laursen, Bd. 3, 1589–1625, Kopenhagen 1916, Nr. 26, S. 416–429. 109 Loose (wie Anm. 96) S. 7–21. 110 Hamburgs Weg zum Reich (wie Anm. 93) Nr. 68, Art. 1, S. 236. 111 Martin Krieger, Hamburg und Ripen. In: Oliver Auge – Burkhard Büsing (Hrsg.), Der Vertrag von Ripen 1460 und die Anfänge der politischen Partizipation in SchleswigHolstein, im Reich und in Nordeuropa. Ergebnisse einer internationalen Tagung der Abteilung für Regionalgeschichte der CAU zu Kiel vom 5. bis 7. März 2010 (Kieler Historische Studien 43), Ostfildern 2012, S. 179–200. – Ders., Der Gottorper Vertrag vom 27. Mai 1768. Dänemark, Holstein und die Reichsunmittelbarkeit Hamburgs. In: Julia Ellermann – Dennis Hormuth – Volker Seresse (Hrsg.), Politische Kultur im frühneuzeitlichen Europa. Festschrift für Olaf Mörke zum 65. Geburtstag, Kiel 2017, S. 403–421. – Tilman Repgen. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 2 2012, sub voce Hamburg, Sp. 684–690. – Harm von Seggern. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 22012, sub voce Holstein, Sp. 1108–1113. – Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt, Die holsteinische Landesstadt Hamburg auf dem Weg in die Reichsunmittelbarkeit und zur freien Stadt. In: Steen Bo Frandsen – Martin Krieger – Frank Lubowitz (Hrsg.), 1200 Jahre Deutsch Dänische Grenze (zeit + geschichte 28), Neumünster 2013, S. 163–179. – Ders., Hamburg als späte Reichsstadt mit prekärem politischen Status und sein Verhältnis zum Alten Reich. In: Helge Wittmann (Hrsg.), Tempi passati. Die Reichsstadt in der Erinnerung. 1. Tagung des Arbeitskreises „Reichsstadtgeschichtsforschung“, Mühlhausen, 11. bis 13. Februar 2013 (Studien zur Reichsstadtgeschichte 1), Petersberg 2014, S. 57–74. – Wolfgang Sellert, Die Rechtsprechung des Kaiserlichen Reichshofrats im Streit um die Reichsunmittelbarkeit der Stadt Hamburg. In: Volker Friedrich Drecktrah – Dietmar Willoweit (Hrsg.), Rechtsprechung und Justizhoheit. Festschrift für Götz Landwehr zum 80. Geburtstag, Köln-WeimarWien 2016, S. 105–126. – Oliver Auge, Zwischen Kaiser und König – Hamburg auf dem Weg zur Reichsstadt. In: Mathias Kälble – Helge Wittmann (Hrsg.), Reichsstadt als 108
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3.2.3 Bremen Am 1. Juni 1646 verlieh Kaiser Ferdinand III. der Stadt Bremen in einem Privileg – dem Linzer Diplom – die Reichsunmittelbarkeit. Bremen hatte sich in einem über Jahrhunderte erstreckenden Prozess von der Stadtherrschaft des Erzbischofs von Bremen emanzipiert. Allerdings beruhten alle Privilegien der Stadt auf erzbischöflichen Verleihungen. Es wurde deshalb auf Seiten des Rates die Theorie entwickelt, dass die Stadt seit der Zeit des Kaisers Karl des Großen und des Missionars und ersten Bischofs von Bremen Willehad – vermittelt über den Bischof und später über den Erzbischof – eine besondere kaiserliche Freiheit innehabe, ohne Leistungen gegenüber dem Reich erbringen zu müssen. Mit der Reformation wurde dieser Theorie die Grundlage entzogen. In den Jahren 1522 bis 1534 entwickelte sich Bremen zu einer evangelisch-lutherischen Stadt. Der Rat versuchte deshalb, die Stadt auch rechtlich aus der Landesherrschaft des katholischen Erzbischofs von Bremen zu lösen und unmittelbar dem Reich zu unterstellen. Allerdings beteiligte sich Bremen als Gründungsmitglied des Schmalkaldischen Bundes112 an dem militärischen Widerstand, den das protestantische Bündnis dem katholischen Kaiser Karl V. entgegensetzte. Die Niederlage und die Auflösung des Schmalkaldischen Bundes im Jahre 1547113 vermochten jedoch nicht zu verhindern, dass das Erzstift Bremen seit dem Jahre 1567 von evangelischen Administratoren regiert wurde. Das Erzstift Bremen und das benachbarte Hochstift Verden wurden durch den Frieden von Osnabrück säkularisiert und als weltliche Herzogtümer Argument. 6. Tagung des Mühlhäuser Arbeitskreises für Reichsstadtgeschichte, Mühlhausen, 12. bis 16. Februar 2018 (Studien zur Reichsstadtgeschichte 6), Petersberg 2019, S. 177–194. – Vgl. bereits Hans-Dieter Loose. In: Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner, Bd. 1, Von den Anfängen bis zur Reichsgründung, hrsg. von dems., Hamburg 1982, S. 141–146, 289–303; Franklin Kopitzsch. In: Ebd. S. 354 f., und Sybille Weber, Die Stellung Hamburgs in der Verfassung des Alten Deutschen Reiches, Jur. Diss. Bonn 2005, München 2005, S. 56 f., 91–101, 186–188. 112 Gabriele Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund 1530–1541/42. Eine Studie zu den genossenschaftlichen Strukturelementen der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 44), Leinfelden-Echterdingen 2002, S. 123. 113 Horst Rabe, Reich und Glaubensspaltung. Deutschland 1500–1600 (Neue Deutsche Geschichte 4), München 1989, S. 258–265. – Heinz Schilling, Aufbruch und Krise. Deutschland 1517–1648 (Siedler. Deutsche Geschichte), Berlin 1998, S. 229 f. – Michael Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Alten Reich bis Weimar, 1495–1934, Berlin-Heidelberg 2008, Rdnrn. 126–128, S. 41. – Whaley (wie Anm. 89) S. 397–401.
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Bremen und Verden der schwedischen Krone übertragen. Schließlich gelangten die beiden Herzogtümer mit dem Frieden von Stockholm vom 20. November 1719 unter die Herrschaft des welfischen Kurfürsten von Hannover.114 Seit dem Jahre 1568 hatte sich Bremen unter den Hansestädten auf einen konfessionellen Sonderweg begeben und sich in eine evangelisch-reformierte Stadt verwandelt. Mit fortifikatorischen und militärischen Mitteln musste Bremen die der Stadt im Jahre 1646 verliehene Reichsunmittelbarkeit gegen die evangelisch-lutherischen Landesherren der Herzogtümer Bremen und Verden verteidigen. Nach dem Ersten Stader Vergleich von 1654 und dem Habenhauser Frieden von 1666 mit Schweden wurden die Reichsunmittelbarkeit und die Reichsstandschaft der Stadt Bremen erst durch den Zweiten Stader Vergleich von 1741 mit Hannover durch die benachbarte Landesherrschaft politisch anerkannt.115 3.3 Ergebnis Im Jahre 1629 übertrugen die auf dem Hansetag versammelten hansischen Ratssendeboten die Wahrnehmung der Interessen der Hanse auf die Räte der Städte Lübeck, Hamburg und Bremen. Die Reichsstadt Lübeck sowie die autokephalen und autonomen, in rechtlicher Hinsicht in den Jahren 1618 und 1646 als Reichsstädte anerkannten Städte Hamburg und Bremen bildeten innerhalb des hansischen Verbandes nach dem von dem Archivar und Historiker Jochen Rath vorgelegten Modell formeller und informeller hansischer Teilgruppen den „core of three“.116 Auf Grund Schäfer (wie Anm. 27) S. 420. Hartmut Müller, Das Linzer Diplom. In: Bremisches Jahrbuch 74/75 (1995/1996) S. 15–28. – Dieter Hägermann, Bremens Weg zur Freien Reichsstadt. In: Bremisches Jahrbuch 76 (1997) S. 17–35. – Konrad Elmshäuser, Geistliche Stadtherrschaft und autonome Kommune – Der lange Weg zur Bremer Freiheit. In: Ders. – Hans Kloft (Hrsg.), Der Stadtstaat – Bremen als Paradigma. Geschichte – Gegenwart – Perspektiven, Jahrbuch der Wittheit zu Bremen 2005, S. 41–70. – Ders., Reichsstädtische Identität und konfessionelle Konkurrenz. Reformierte und Lutheraner im 17. Jahrhundert in Bremen. In: Beate-Christine Fiedler – Christine van den Heuvel (Hrsg.), Friedensordnung und machtpolitische Rivalitäten. Die schwedischen Besitzungen in Niedersachsen im europäischen Kontext zwischen 1648 und 1721 (Veröffentlichungen des Niedersächsischen Landesarchivs 3), Göttingen 2019, S. 87–106. – Vgl. auch Gerhard Dilcher, Zum historischen Hintergrund der Freien Hansestadt Bremen als Stadt, Kommune und res publica. In: Konrad Elmshäuser – Hans Kloft (Hrsg.), Der Stadtstaat – Bremen als Paradigma. Geschichte – Gegenwart – Perspektiven, Jahrbuch der Wittheit zu Bremen 2005, S. 21–40. 116 Rath (wie Anm. 74) S. 149–154, 153 (Abbildung 3). 114 115
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der Verdichtung des Reiches und der Ausbildung der Territorialstaaten bedurfte selbst der „core of three“ seiner Wissensorte, um sich publizistisch und juristisch gegen politische und rechtliche Ansprüche benachbarter Landesherrschaften zu verteidigen. Individuell das Ius Archivi im aktiven Sinne innezuhaben, könnte sich deshalb in solchen Konflikten als Vorteil erwiesen haben. 4. Hatten die Hansestädte im 16. und 1 7 . Ja h r h u n d e r t i n d i v i d u e l l d a s Iu s A r c h i v i i n n e ? In der in Deutschland seit der Zeit um 1600 entstandenen117 juristischen Disziplin des öffentlichen Rechts, des „ius publicum“, wurde das Ius Archivi im aktiven Sinne seit dem 18. Jahrhundert aus der Landeshoheit118 abgeleitet.119 „Erst im 18. Jahrhundert entwickelte sich die Landeshoheit zu einem Institut des ‚ius publicum‘, das sich nicht aus einzelnen Rechten zusammensetzte, sondern aus dem sich einzelne Rechte ableiten 117 Michael Stolleis, Reformation und öffentliches Recht in Deutschland, 1985. In: Ders., Ausgewählte Aufsätze und Beiträge, hrsg. von Stefan Ruppert und Miloš Vec, Bd. 1 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 265, 1), Frankfurt am Main 2011, S. 135– 160. – Ders. (wie Anm. 46) S. 141–146. – Ders., Öffentliches Recht in Deutschland. Eine Einführung in seine Geschichte, 16.–21. Jahrhundert, München 2014, S. 35–39. – Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft (Schriften zur Verfassungsgeschichte 50), Berlin 1997, S. 36–46. – Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, München 7 2013, § 22, Rdnrn. 6 f., S. 170 f. – Vgl. aber Gerhard Dilcher, Zur Entstehung des öffentlichen Rechts in mediävistischer Sicht. In: Rechtsgeschichte 19 (2011) S. 58–71, und Susanne Lepsius, Ius commune in der Reichspublizistik der frühen Neuzeit. In: Gli inizi del diritto pubblico, Vol. 3, Verso la costruzione del diritto pubblico tra medioevo e modernità – Die Anfänge des öffentlichen Rechts, Bd. 3, Auf dem Wege zur Etablierung des öffentlichen Rechts zwischen Mittelalter und Moderne, hrsg. von Gerhard Dilcher und Diego Quaglioni (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Contributi 25 – Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient. Beiträge 25), Bologna-Berlin 2011, S. 533–564. 118 Vgl. zum Begriff der Landeshoheit Dietmar Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 11), Köln-Wien 1975, S. 170–172. – Ders., Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 117), § 22, Rdnr. 9, S. 172, und Steffen Schlinker. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, Berlin 22016, sub voce Landeshoheit, Sp. 438–445. 119 Merzbacher (wie Anm. 10) S. 135–138. – Battenberg (wie Anm. 66) S. 108 f. – Schäfer (wie Anm. 11) S. 170 f. – Bahlcke (wie Anm. 60) S. 26. – Friedrich (wie Anm. 45) S. 93 f.
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ließen.“120 In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts betrachtete Ahasver Fritsch in seiner juristischen Abhandlung über das Archivwesen die Reichsstandschaft oder die bloße Reichsunmittelbarkeit als Rechtsgrundlage, um ein öffentliches Archiv einzurichten und zu unterhalten. So erkannte er in dem Kapitel „Quibus jus archivale competat“121 dem Kaiser,122 den Kurfürsten,123 den Fürsten,124 den Reichsgrafen,125 den Reichsstädten126 und sogar den Reichsritterschaften127 das Ius Archivi im aktiven Sinne zu. Landsässige Grafen128 und landsässige Städte129 aber hätten ein solches Recht nicht inne. Die Frage, ob die Wissensorte der Hansestädte innerhalb des komplementären Mehrebenensystems des Alten Reiches öffentliche Archive im Sinne des „ius publicum“ waren, war hingegen deutlich schwieriger zu beantworten. 4.1 „Civitates Hanseaticae habent jus archivi“130 „Die Hansestädte haben das Ius Archivi inne.“ Auf den ersten Blick scheint dieses, von Ahasver Fritsch seinen Erwägungen vorangestellte Rubrum die Frage, ob die Hansestädte im 16. und 17. Jahrhundert individuell das Ius Archivi im aktiven Sinne innehatten, eindeutig zu beantworten. Auf den zweiten Blick aber ist zu berücksichtigen, dass zum Beispiel der Frieden von Osnabrück den Begriff „civitates Anseaticae“ nicht in einem individuellen, sondern in einem kollektiven Sinne verwendete.131 Er bezeichnete mit diesem Begriff den hansischen Verband. Die Erwägungen des Ahasver Fritsch bedürfen deshalb der exegetischen Analyse.
Schäfer (wie Anm. 11) S. 170. Fritsch (wie Anm. 47) 3, S. 18–27. 122 Fritsch (wie Anm. 47) 3.8, S. 21. 123 Fritsch (wie Anm. 47) 3.11, S. 21. 124 Fritsch (wie Anm. 47) 3.11, S. 21. 125 Fritsch (wie Anm. 47) 3.13, S. 21 f. 126 Fritsch (wie Anm. 47) 3.18–20, S. 23 f. 127 Fritsch (wie Anm. 47) 3.28–29, S. 26 f. – Vgl. Merzbacher (wie Anm. 10) S. 142. 128 Fritsch (wie Anm. 47) 3.14, S. 22. 129 Fritsch (wie Anm. 47) 3.21–24, S. 24 f. 130 Fritsch (wie Anm. 47) 3, Summaria, Rubrum 12, S. 19. 131 Instrumentum Pacis Osnabrugensis (IPO) 17.10 und 11 (wie Anm. 80) S. 191. 120 121
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Praetera de civitatibus Hanseaticis dubitatur, an eis jus archivi competat? … quod vero quaestionem ipsam attinet, non dubitamus eam adfirmare cum [Rutgero] Rulando d[icto] c[apitulo] 4 n[umero] 58 et [sequentes], quem sequuntur Matth[ias] Stephani, [Tractatus] de iurisdict[ione] lib[ro] 2 part[e] 2 cap[itulo] 3 n[umero] 21 et [Johannes] Limnaeus d[icto] l[oco] n[umero] 77. Archivum est et dicitur tum propter praeeminentiam, quam collegium illud civitatum ex eo adsequitur, quod civitates imperiales iis sunt conjunctae, quo singulae per se jura archivorum habent. Cum ergo dignior qualitas semper consideretur, ex conjunctione civitatum imperialium hoc jus habere censentur. Tum, quod hoc archivum a duabus imperii civitatibus, Colonia scilicet et Lubeca, dependeat, quae huic sunt praefectae, et ideo ex earum dignitate merito omnium caeterarum civitatum Hanseaticarum jura regulari debent, [Rutger] Rul[and] d[icto] l[oco].132 Außerdem wird im Hinblick auf die Hansestädte bezweifelt, ob diesen das ‚jus archivi‘ zustehe … was aber die Frage selbst betrifft, haben wir keinen Zweifel, dieses Recht mit Rutger Rulant, De commissariis et commissionibus camerae imperialis, Pars secunda, 2.5.4.58 und 59, zu bestätigen, dem Matthias Stephani, Tractatus de iurisdictione, Liber secundus, 2.2.3.21, und Johannes Limnaeus, Ius publicum imperii Romano-Germanici, Tomus tertius, 7.1.77, folgen. Es ist ein Archiv und wird so genannt; sowohl wegen des Vorzuges, den jenes Kollegium der Städte aus dem Umstand erfährt, dass sich ihnen Reichsstädte angeschlossen haben, wodurch die einzelnen für sich die ‚jura archivorum‘ haben. Wenn also immer eine würdigere Eigenschaft angenommen wird, werden die Städte so eingeschätzt, dass sie dieses Recht aus dem Anschluss der Reichsstädte heraus haben; als auch, dass dieses Archiv von zwei Reichsstädten abhängig ist, Köln nämlich und Lübeck, die dessen Vorsteher sind, und deshalb dürfen aus deren Würde heraus verdientermaßen die Rechte aller übrigen Hansestädte gesetzt werden, Rutger Rulant, De commissariis et commissionibus camerae imperialis, Pars secunda, 2.5.4.58 und 59.
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Fritsch (wie Anm. 47) 3.26–27, S. 25 f.
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Die Überlegungen des Ahasver Fritsch beruhten auf einer Stelle133 aus einem Werk der kammergerichtlichen Literatur134 – dem im Jahre 1597 erschienenen Werk „De commissariis et commissionibus camerae imperialis“ des Rutger Rulant. Dieser war als Prokurator oder Advokat am Reichskammergericht135 in Speyer tätig, bevor er sich um 1599 als Advokat in Hamburg niederließ.136 In seinem Werk widmete er sich in dem Kapitel „Quinam ius archivi habeant.“137 dem Ius Archivi im aktiven Sinne und in dem Kapitel „An vis archivi extra territorium sese extendat.“138 dem Ius Archivi im passiven Sinne. Die Stelle, auf die sich Ahasver Fritsch bezog, ist in dem ersten der beiden Kapitel enthalten und im Stil einer scholastischen „quaestio“139 verfasst. Auf die Argumente, die gegen ein Ius Archivi der Hansestädte sprachen, folgen dialektisch die Argumente, die es erlaubten, ein solches zu begründen. Eine „solutio“, mit der sich Rutger Rulant für die These oder die Antithese entschied, bietet die Stelle nicht.140 Aus dem Schlusssatz „Et haec de personis archivum habentibus dixisse sufficiat.“ – „Und es möge genügen, dass dieses über Personen, die ein Archiv innehaben, gesagt worden ist.“ lässt sich eine Entscheidung zwischen These und Antithese nicht herleiten. Einerseits hob Rutger Rulant hervor, dass die Hansestädte als solche weder über „iura imperii“ noch über „regalia“ verfügen würden. Auch hätten sie letztlich nicht die Kompetenz, Recht zu setzen – „leges condere“. 133 Rutger Rulant, De commissariis et commissionibus camerae imperialis, Pars secunda, Frankfurt am Main 1597 (Bayerische Staatsbibliothek – URN: urn:nbn:de:bvb:12-bsb000 39354-5 – Abruf 30.10.2019), 2.5.4.56–59, Sp. 255 f. 134 Vgl. zu dieser Stolleis (wie Anm. 46) S. 134–138. 135 Vgl. zu diesen Jürgen Weitzel, Anwälte am Reichskammergericht. In: Friedrich Battenberg – Filippo Ranieri (Hrsg.), Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag, Weimar-Köln-Wien 1994, S. 253–269. 136 Lexikon der hamburgischen Schriftsteller bis zur Gegenwart, Bd. 6, Hamburg 1873, Nr. 3316 Rulant (Rütger I.), S. 403–405. 137 Rulant (wie Anm. 133) 2.5.4, Sp. 240–256. 138 Rulant (wie Anm. 133) 2.5.5, Sp. 256–263. 139 Vgl. zur „quaestio“ als Figur der scholastischen Methodenlehre Gerhard Otte, Dialektik und Jurisprudenz. Untersuchungen zur Methode der Glossatoren (Ius Commune. Sonderhefte. Texte und Monographien 1), Frankfurt am Main 1971, S. 156–165, 180–185, und Maike Huneke, Iurisprudentia romano-saxonica. Die Glosse zum SachsenspiegelLehnrecht und die Anfänge deutscher Rechtswissenschaft (Monumenta Germaniae Historica. Schriften 68), Wiesbaden 2014, S. 413–437. 140 Vgl. Iwanov (wie Anm. 62) S. 281, mit Anm. 1057. – Vgl. aber Ebel (wie Anm. 83) S. 160–162.
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Darüber hinaus betonte er, dass die Hansestädte keine vom Reich oder vom Kaiser eingesetzte Obrigkeit seien. Es scheine deshalb die Grundlage zu fehlen, um den Hansestädten das Ius Archivi zuzuerkennen. Andererseits entwickelte Rutger Rulant den Gedanken, dass sich die höhere Würde („dignior qualitas“) der Hansestädte, die über die Reichsunmittelbarkeit verfügen würden, auf die übrigen Hansestädte übertrage. Als weiteres Argument führte er an, dass das zentrale Archiv der Hanse in Lübeck unter der Aufsicht der Reichsstädte Lübeck und Köln stehe. Diese Argumentation spreche für ein Ius Archivi der Hansestädte. In seiner im Jahre 1597 veröffentlichten „quaestio“ ging Rutger Rulant von der Frage aus, ob ein zentrales Schriftgutdepot der Hanse in Lübeck ein öffentliches Archiv sei. Nach den Erkenntnissen des Historikers Iwan A. Iwanov richtete der hansische Verband erst in den Jahren 1609 und 1610 eine Registratur in Lübeck ein. Dabei habe er bewusst vermieden, diese als Archiv zu bezeichnen. Dem hansischen Verband zuzuordnendes Registraturgut wurde darüber hinaus in Köln verwahrt. Auf Grund der sich in England, aber auch in Flandern verändernden politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen des hansischen Handels befasste sich die Hanse seit dem Jahre 1578 mit der Verlagerung des Registraturguts der Kontore nach Köln und Lübeck. Nachdem im Jahre 1593 Aufzeichnungen der Kontore in Brügge und Antwerpen aus Flandern nach Köln verbracht worden waren, übergab der Kölner dem Lübecker Rat im Jahre 1603 Urkunden der Niederlassung in London, die über Antwerpen nach Köln gelangt waren. Während die Brügger und Antwerpener Aufzeichnungen in Köln verblieben, sollte die in den Jahren 1609 und 1610 in Lübeck eingerichtete Registratur in erster Linie der Verwahrung der Londoner Aufzeichnungen dienen. An eine zentrale Registratur als Assistenz des hansischen Syndikus dachten die hansischen Ratssendeboten bei der Einrichtung nicht.141 Außerhalb des hansischen Raumes in Speyer schuf Rutger Rulant in seiner „quaestio“ mit dem in Lübeck belegenen zentralen Schriftgutdepot des hansischen Verbandes unter der Aufsicht der Reichsstädte Lübeck und Köln eine gelehrte Konstruktion, die nicht nur die Rolle der Stadt Lübeck als „caput et principium omnium nostrorum“142 berücksichtigte, sondern
Iwanov (wie Anm. 62) S. 277–290. Vgl. zu dieser Stuart Jenks, A Capital without a State: Lübeck „caput tocius hanze“ to 1474. In: Historical Research 65 (1992) S. 134–149. 141 142
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sogar das in der modernen historischen Forschung143 vertretene Modell der Hanse als einer Ellipse mit den beiden Brennpunkten Lübeck und Köln vorwegnahm. Erst zwölf Jahre nach der Veröffentlichung fand die gelehrte Konstruktion mit der Einrichtung der hansischen Registratur in Lübeck eine rudimentäre Entsprechung in der Wirklichkeit. Das Vorbild der Reichsstädte144 und Informationen über die Verlagerung von Registraturgut der Kontore in London, Brügge und Antwerpen mögen Rutger Rulant zu der Konstruktion inspiriert haben. Jedenfalls widmeten sich seine dialektischen Erwägungen der Frage, ob der hansische Verband das Ius Archivi im aktiven Sinne innehabe. Mit der Frage, ob die Wissensorte der einzelnen Hansestädte öffentliche Archive im Sinne des „ius publicum“ seien, setzte er sich nicht auseinander.145 Neben dem Werk des Rutger Rulant zog Ahasver Fritsch auch den „Tractatus de iurisdictione“ des evangelischen Juristen Matthias Stephani146 heran. Matthias Stephani lehrte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Professor der Rechte an der Universität Greifswald. Er übte gemeinsam mit seinem Bruder Joachim Stephani einen beachtlichen Einfluss auf die Entwicklung des Staatskirchenrechts147 aus. Der „Tractatus de iurisdictione“ bot eine systematische Darstellung des „ius publicum“ des Reiches und der Territorien. Trotz des Titels unterschied Matthias Stephani zwischen den Begriffen „imperium“ und „iurisdictio“ und verwendete den letzteren im Sinne von „Rechtsprechung“. In dem im Jahre 1610 erschienenen zweiten Band befasste er sich in dem Kapitel „De societate
Heinz Stoob, Lübeck als „Caput Omnium“ in der Hanse. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 121 (1985) S. 157–168. 144 Vgl. zu diesem Iwanov (wie Anm. 62) S. 282–284. 145 So auch Ebel (wie Anm. 83) S. 160–162, und Iwanov (wie Anm. 62) S. 281. 146 Vgl. zu Matthias Stephani und seinem wissenschaftlichen Werk August von Eisenhart. In: Allgemeine Deutsche Biographie, 1893 (URL: http://www.deutsche-biographie.de – Abruf: 22.5.2020), sub voce Stephani, Mathias; Stolleis (wie Anm. 46) S. 161 f., 216, 245. – Friedrich (wie Anm. 117) S. 36 f., und Bernd Christian Schneider, Ius Reformandi. Die Entwicklung eines Staatskirchenrechts von seinen Anfängen bis zum Ende des Alten Reiches (Jus Ecclesiasticum. Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht und zum Staatskirchenrecht 68), Tübingen 2001, S. 272 f., 308–312, 316–320. 147 Vgl. zu dieser Martin Heckel, Vom alten Reich zum neuen Staat. Entwicklungslinien des deutschen Staatskirchenrechts in der Neuzeit, 2006. In: Ders., Gesammelte Schriften. Staat, Kirche, Recht, Geschichte, Bd. 6 (Jus Ecclesiasticum. Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht und zum Staatskirchenrecht 100), Tübingen 2013, S. 300–354. 143
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Anseatica sive civitatibus Anseaticis earumque quatuor emporiis“148 mit dem hansischen Verband. Dabei bekannte er sich zu der von Rutger Rulant in seiner „quaestio“ als Antithese vorgetragenen Auffassung, dass die Hansestädte kollektiv das Ius Archivi im aktiven Sinne innehätten. Die Argumente, die Rutger Rulant zu Gunsten der These angeführt hatte, wurden gleichwohl wiedergegeben. Mit dem Argument, es handele sich eher um Verträge und Abreden („pacta et conventiones“) als um Gesetze und Satzungen („leges et statuta“), wenn die Hansestädte versuchen würden, Recht zu setzen – „leges condere“, setzte sich Matthias Stephani kritisch auseinander.149 Der wissenschaftliche Hintergrund dieses Diskurses ergab sich aus einer Antinomie des klassischen römischen Rechts. Mit der in der Kodifikation des Kaisers Justinian überlieferten „lex regia“150 habe das Volk („populus“) dem Kaiser („princeps“) das „imperium“ übertragen, das auch die Befugnis umfasse, Recht zu setzen. Seit dem 16. Jahrhundert beriefen sich die Landesherren auf diese Denkfigur der gelehrten Rechte, um die Rechtsetzung in den sich ausbildenden Territorialstaaten zu monopolisieren.151 Nach einem aus den Institutionen152 des Juristen Gaius153 aus dem 2. Jahrhundert in die Digesten154 übernommenen Fragment hingegen würden alle Völker („omnes populi“) zum Teil nach dem Recht, das sie sich jeweils selbst gesetzt hätten („ius civile“), und zum Teil nach dem Recht, das allen Völkern gemeinsam sei („ius gentium“), leben. In der ersten Hälfte des 148 Matthias Stephani, Tractatus de iurisdictione, Liber secundus, Frankfurt am Main 1610 (Bayerische Staatsbibliothek – URN: urn:nbn:de:bvb:12-bsb10810937-9 – Abruf: 7.2.2020), 2.2.3, S. 359–363. 149 Stephani (wie Anm. 148) 2.2.3.21–25, S. 362 f. 150 Dig. 1.4.1. In: Corpus Iuris Civilis, Bd. 1 (wie Anm. 31), Digesta, S. 7, und in: Corpus Iuris Civilis. Text und Übersetzung, Bd. 2, Digesten 1–10, übersetzt und hrsg. von Okko Behrends u.a., Heidelberg 1995, S. 117. – Inst. 1.2.6. In: Corpus Iuris Civilis, Bd. 1 (wie Anm. 31), Institutiones, S. 1 f., und in: Corpus Iuris Civilis. Text und Übersetzung, Bd. 1, Institutionen, übersetzt von Okko Behrends u.a., Heidelberg 21997, S. 4. 151 Michael Stolleis, Condere leges et interpretari. Gesetzgebungsmacht und Staatsbildung im 17. Jahrhundert, 1984. In: Ders., Ausgewählte Aufsätze und Beiträge, hrsg. von Stefan Ruppert und Miloš Vec, Bd. 1 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 265, 1), Frankfurt am Main 2011, S. 109–134. – Vgl. auch Bahlcke (wie Anm. 60) S. 26–28. 152 Gai Inst. 1.1. In: Gaius Institutiones – Die Institutionen des Gaius, hrsg., übersetzt und kommentiert von Ulrich Manthe (Texte zur Forschung 81), Darmstadt 2004, S. 36 f. 153 Vgl. zu Gaius Kunkel (wie Anm. 32) S. 186–213, und Manthe (wie Anm. 152) S. 11–15. 154 Dig. 1.1.9. In: Corpus Iuris Civilis, Bd. 1 (wie Anm. 31), Digesta, S. 1, und in: Corpus Iuris Civilis. Text und Übersetzung, Bd. 2 (wie Anm. 150), S. 94.
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14. Jahrhunderts löste der berühmte Legist Bartolus de Saxoferrato155 in seiner Kommentierung156 zu diesem Fragment die Antinomie in der Weise auf, dass es jedem „populus“, der die „iurisdictio“ innehabe, erlaubt sei, das „ius civile proprium“ zu setzen, während der „princeps“ das „ius civile commune“ setze. Dabei differenzierte er zwischen den „populi“, die über eine „omnis iurisdictio“ verfügen würden, und denen, die eine „iurisdictio limitata“ innehätten.157 Bereits die Legistik des 13. Jahrhunderts sah in der „iurisdictio“ den Inbegriff öffentlicher Gewalt.158 Ebenso ging Bartolus de Saxoferrato von einem weiten Verständnis der „iurisdictio“ aus. Er leitete aus dieser ein begriffliches System ab, in das er auch das „imperium“ einfügte.159 Träger kommunaler Gemeinwesen wurden von den in oberitalienischen Stadtrepubliken wirkenden Legisten als „populi“ betrachtet. Sie erkannten deshalb die Befugnis, Recht zu setzen, auch solchen Gemeinwesen zu.160 Die juristische Disziplin des öffentlichen Rechts, die sich in 155 Vgl. zu Bartolus de Saxoferrato und seinem wissenschaftlichen Werk Lange – Kriechbaum (wie Anm. 26) S. 682–733, und Susanne Lepsius. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Berlin 22008, sub voce Bartolus de Saxoferrato (1313/14– 1357), Sp. 450–453. 156 Bartoli à Saxoferrato in primam digesti veteris partem commentaria cum additionibus, Druck: Basel 1589 (Bayerische Staatsbibliothek – URN: urn:nbn:de:bvb:12-bsb00090362-5 – Abruf: 28.5.2020), ad Dig. 1.1.9, S. 25 a–47 b. 157 Bartoli à Saxoferrato in primam digesti veteris partem commentaria (wie Anm. 156), ad Dig. 1.1.9, vor Nr. 1, Nrn. 1–5, S. 26 a–27 b. 158 Susanne Lepsius, „Iurisdictio“ und „districtus“ bei Jacques de Révigny. Die Auseinandersetzung der französischen Legistik des 13. Jahrhunderts mit einem staufischen Herrschaftskonzept. In: Gli inizi del diritto pubblico, Vol. 2, Da Federico I a Federico II – Die Anfänge des öffentlichen Rechts, Bd. 2, Von Friedrich Barbarossa zu Friedrich II., hrsg. von Gerhard Dilcher und Diego Quaglioni (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Contributi 21 – Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient. Beiträge 21), Bologna-Berlin 2008, S. 247–276. 159 Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt (wie Anm. 118) S. 18–24. – Dieter Wyduckel, „Jura regalia“ und „Jus majestatis“ im Alten Reich. Ein Beitrag zu den Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen des Öffentlichen Rechts. In: Gli inizi del diritto pubblico, Vol. 2, Da Federico I a Federico II – Die Anfänge des öffentlichen Rechts, Bd. 2, Von Friedrich Barbarossa zu Friedrich II., hrsg. von Gerhard Dilcher und Diego Quaglioni (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Contributi 21 – Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient. Beiträge 21), Bologna-Berlin 2008, S. 363–386, hier S. 366 f. 160 Claudia Storti Storchi, Betrachtungen zum Thema „potestas condendi statuta“. In: Giorgio Chittolini – Dietmar Willoweit (Hrsg.), Statuten, Städte und Territorien zwischen Mittelalter und Neuzeit in Italien und Deutschland (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 3), Berlin 1992, S. 251–270. – Eberhard Isenmann, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrechte spätmittelalterlicher deutscher Städte. In: Zeit-
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Deutschland an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert entwickelte, legte den Reflexionen über das Verfassungsrecht des Reiches zu Beginn die Begriffs- und Systembildungen der mittelalterlichen Rechtswissenschaft zu Grunde.161 Der Verfassungswirklichkeit des Reiches entsprach die Rechtsvielfalt vor Gericht.162 So verwies Matthias Stephani darauf, dass das Recht der Hansestädte immer vor dem Reichskammergericht allegiert163 werde. Ob eine von einer Partei allegierte Quelle des Partikularrechts der Entscheidung zu Grunde zu legen war, entschied das Gericht auf der Grundlage der Rechtsquellenlehre.164 Allerdings werden sich die Allegationen vor dem Reichskammergericht nicht auf das im Rahmen der Rezessschriftlichkeit des hansischen Verbandes aufgezeichnete165 hansische Recht,166 sondern auf einzelne partikulare Rechte der Städte und der Stadtrechtsfamilien Niederdeutschlands167 bezogen haben.168 Mit der Kritik des Matthias Stephani an dem Argument des Rutger Ruland, die Hansestädte würden nicht über die Kompetenz zur Rechtsetzung verfügen, verliert das bisher gewonnene Bild, der gelehrte Diskurs beziehe sich lediglich auf die kollektive Befugnis der Hansestädte, ein öffentliches Archiv einzurichten und zu unterhalten, an Trennschärfe. schrift für Historische Forschung 28 (2001) S. 1–94, 161–261, hier S. 162–178. – Vgl. auch Victor Crescenzi, Il problema del potere pubblico e dei suoi limiti nell’insegnamento dei Commentatori. In: Jacques Krynen – Michael Stolleis (Hrsg.), Science politique et droit public dans les facultés de droit européennes, XIIIe–XVIIIe siècle (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 229), Frankfurt am Main 2008, S. 57–89. 161 Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt (wie Anm. 118) S. 17 f. 162 Peter Oestmann, Die Grenzen richterlicher Rechtskenntnis, 1999. In: Ders., Aus den Akten des Reichskammergerichts. Prozeßrechtliche Probleme im Alten Reich (Rechtsgeschichtliche Studien 6), Hamburg 2004, S. 301–344. – Ders., Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich (Rechtsprechung. Materialien und Studien 18), Frankfurt am Main 2002, bes. S. 669–687. 163 Vgl. zum Begriff der Allegation Oestmann, Rechtsvielfalt (wie Anm. 162) S. 29–36. 164 Oestmann, Rechtsvielfalt (wie Anm. 162) S. 681–687. 165 Udo Schäfer, Hanserezesse als Quelle hansischen Rechts. In: Albrecht Cordes (Hrsg.), Hansisches und hansestädtisches Recht (Hansische Studien 17), Trier 2008, S. 1–14, hier S. 10–14. 166 Vgl. zum Begriff des hansischen Rechts Albrecht Cordes, Hansisches Recht. Begriffe und Probleme. In: Ders. (Hrsg.), Hansisches und hansestädtisches Recht (Hansische Studien 17), Trier 2008, S. 205–213, bes. S. 212. 167 Vgl. zur Anwendung des lübischen Rechts in einem Prozess zwischen hansischen Kaufleuten Bernhard Diestelkamp, Rechtsfälle aus dem Alten Reich. Denkwürdige Prozesse vor dem Reichskammergericht, München 1995, S. 279–285. 168 Vgl. Rath (wie Anm. 74) S. 115.
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Als weitere Autorität führte Ahasver Fritsch Johannes Limnaeus169 an. Dessen Gesamtdarstellung „Ius publicum imperii Romano-Germanici“, die in erster Auflage in den Jahren 1629 bis 1634 erschien, schloss die Gründungsphase der juristischen Disziplin des öffentlichen Rechts ab. Johannes Limnaeus wendete sich von den Begriffs- und Systembildungen der mittelalterlichen Rechtswissenschaft ab und legte seiner Darstellung die Quellen des positiven deutschen Verfassungsrechts sowie die Theorien der politischen Wissenschaft zu Grunde. Dabei betonte er den monarchisch-oligarchischen „status mixtus“ des Reiches. An einer juristischen Fakultät lehrte Johannes Limnaeus nicht. Seit 1639 bekleidete er in der Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach das Amt eines Geheimen Rates und Kämmerers. Von den neun Büchern seiner Gesamtdarstellung widmete er eines den Städten. In dessen erstem Kapitel „De nominis atque rei definitionibus nec non divisionibus civitatum“170 setzte er sich auch mit dem „foedus Hanseaticum“ auseinander. Ebenso wie Matthias Stephani übernahm Johannes Limnaeus die von Rutger Rulant als Antithese vorgetragene Ansicht, der hansische Verband habe über das Ius Archivi im aktiven Sinne verfügt. Dessen These erwähnte er anders als Matthias Stephani nicht mehr.171 Die juristische Frage, ob den Hansestädten kollektiv das Ius Archivi im aktiven Sinne zuzuerkennen sei, hatte den Weg aus der prozessrechtlichen in die öffentlich-rechtliche Literatur genommen und war in der Gesamtdarstellung des Johannes Limnaeus positiv beantwortet worden. In dem Kapitel „De archivi divisione ejusque variis speciebus in imperio hodie usitatis“172 seiner juristischen Abhandlung über das Archivwesen griff Ahasver Fritsch noch einmal die gelehrte Konstruktion eines zentralen hansischen Schriftgutdepots auf. Dabei wird anders als in dem Kapi169 Vgl. zu Johannes Limnaeus und seinem wissenschaftlichen Werk Rudolf Hoke, Die Reichsstaatsrechtslehre des Johannes Limnaeus. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft im 17. Jahrhundert (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF 9), Aalen 1968, bes. S. 7–16, 221–224. – Ders., Johannes Limnaeus. In: Michael Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker in der Frühen Neuzeit, München 31995, S. 100–117. – Ders. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, Berlin 2 2016, sub voce Limnaeus, Johannes (1592–1663), Sp. 1000–1002. – Stolleis (wie Anm. 46) S. 152, 180 f., 221–224, und Friedrich (wie Anm. 117) S. 54–57. 170 Johannes Limnaeus, Ius publicum imperii Romano-Germanici, Tomus tertius, Editio tertia, Straßburg 1657 (Staatliche Bibliothek Regensburg – URN: urn:nbn:de:bvb:12bsb11067404-0 – Abruf: 29.1.2020), 7.1. 171 Limnaeus (wie Anm. 170) 7.1.77. 172 Fritsch (wie Anm. 47) 4, S. 28–37.
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tel „Quibus jus archivale competat“ sein Wissen um die Historizität der Hanse erkennbar. Das zentrale Schriftgutdepot werde in der Reichsstadt Lübeck unterhalten, „ubi olim, cum adhuc societas illa floreret, quotannis civitates illae foederatae convenire solebant“ – „wo sich einst jene verbündeten Städte jährlich zu versammeln pflegten, als jene ‚societas‘ noch in Blüte stand“. In der Sache bietet die Stelle lediglich einen Verweis auf die oben behandelte Stelle aus dem Werk des Johannes Limnaeus.173 Ahasver Fritsch bezog sich in beiden Stellen nur auf die gelehrte Kon struktion eines in Lübeck belegenen zentralen Schriftgutdepots der Hanse. Dieser Einrichtung erkannte er den Status eines öffentlichen Archivs im Sinne des „ius publicum“ zu.174 In dem oben angegebenen Rubrum verstand er unter den „civitates Hanseaticae“ also den hansischen Verband, nicht aber die einzelnen Hansestädte. Allerdings lässt nicht nur der Hinweis des Matthias Stephani auf die Allegation partikularen Rechts vor dem Reichskammergericht, sondern auch das folgende, von Rutger Ruland aus der Mitgliedschaft von Reichsstädten in der Hanse abgeleitete und von Matthias Stephani, Johannes Limnaeus und Ahasver Fritsch rezipierte Argument die Trennschärfe vermissen: „… ideo ex earum dignitate merito omnia caeterarum civitatum Anseaticarum iura regulari debent.“ – „… deshalb dürfen aus deren Würde heraus verdientermaßen alle Rechte der übrigen Hansestädte gesetzt werden.“ Denkbar ist nämlich eine Interpretation, dass sich die Hansemitgliedschaft von Reichsstädten in der Weise auswirke, dass jede Hansestadt individuell das Ius Archivi im aktiven Sinne in Anspruch nehmen dürfe.175 Obwohl der hansische Verband als „societas“176 bezeichnet wurde, wird aus der unscharfen Trennung zwischen Hansestädten im kollektiven und im individuellen Sinne deutlich, dass das Phänomen der Hanse mit den begrifflichen Apparaten des „ius commune“ und des „ius publicum“ kaum zu erfassen war.177
Fritsch (wie Anm. 47) 4.25, S. 37. Vgl. Iwanov (wie Anm. 62) S. 281, Anm. 1058. 175 So Vogtherr (wie Anm. 46) S. 405. 176 Vgl. zur „societas“ als Institut des Gesellschaftsrechts Ralf Mehr, „Societas“ und „universitas“. Römischrechtliche Institute im Unternehmensgesellschaftsrecht vor 1800 (Forschungen zur Neueren Privatrechtsgeschichte 32), Köln-Weimar-Wien 2008, S. 30–215. 177 Vgl. Heinz Schilling, Konfessionskonflikte und hansestädtische Freiheiten im 16. und frühen 17. Jahrhundert. Der Fall „Lemgo contra Lippe“. In: Hansische Geschichtsblätter 97 (1979) S. 36–59, hier S. 57 f. 173 174
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4.2 „Civitates mixtae vel pactiae jus archivi habent“178 „Die vermischten oder verabredeten Städte haben das Ius Archivi inne.“ In dem Kapitel „Quibus jus archivale competat“ setzte sich Ahasver Fritsch auch mit der Frage auseinander, ob die „civitates mixtae“ berechtigt seien, öffentliche Archive im Sinne des „ius publicum“ einzurichten und zu unterhalten. Da es keine Vereinigung gab, in der sich Städte als „civitates mixtae“ zusammengeschlossen hatten, bezog sich sein Rubrum auf die einzelnen Städte, die einen solchen Status in Anspruch nehmen konnten. Während Rutger Rulant in dem Kapitel „Quinam ius archivi habeant.“ seines Werkes noch eine differenzierte Auffassung vertrat,179 erkannte Ahasver Fritsch jeder „civitas mixta“ das Ius Archivi im aktiven Sinne zu.180 In die Kategorie der „civitates mixtae“ ordnet die moderne historische Forschung auch Hansestädte ein.181 Bereits die juristische Disziplin des „ius publicum“ erkannte Hansestädten, die nicht den verfassungsrechtlichen Status einer Reichsstadt innehatten, einen „status mixtus“ zu.182 Unter einer „civitas mixta“ verstand sie ein kommunales Gemeinwesen, das sich unter Wahrung seiner „jurisdictio“ und seiner „libertas“ vertraglich einem Landesherrn („superior“) unterworfen habe.183 Obwohl sich die Wissenschaft vom öffentlichen Recht mit der in den Jahren 1629 bis 1634 in erster Auflage veröffentlichten Gesamtdarstellung des Johannes Limnaeus von den Methoden und den Begriffen der mittelalterlichen Rechtswissenschaft gelöst hatte, legt das Begriffspaar „jurisdictio libertasque“ die Interpretation nahe, dass die publizistische Definition der „civitas mixta“ den Begriff „iurisdictio“ in legistischer Tradition als Inbegriff öffentlicher Gewalt verwendete. In der juristischen Theorie wurden der Autokephalie und der Autonomie der „civitates mixtae“ durch die mit Landesherren geschlossenen Verträge Grenzen gezogen, so dass es sich um eine „iurisdictio limitata“ handelte.184 Eine eingeschränkte Befugnis, sich selbst zu regieren Fritsch (wie Anm. 47) 3, Summaria, Rubrum 11, S. 19. Rulant (wie Anm. 133) 2.5.4.47, Sp. 252. 180 Fritsch (wie Anm. 47) 3.25, S. 25. – Vgl. Ebel (wie Anm. 83) S. 154 f. 181 Ebel (wie Anm. 83) S. 154 f. – Schilling (wie Anm. 177) S. 57 f. – Ders. (wie Anm. 79) S. 31 f. – Cordes (wie Anm. 82) S. 55 f. – Rolf Hammel-Kiesow, Die Hanse, München 32004, S. 120 f. – Rath (wie Anm. 74) S. 150 f. 182 Stephani (wie Anm. 148) 2.2.3.3, S. 361. 183 Fritsch (wie Anm. 47) 3.25, S. 25. 184 Für das deutsche „regnum“ des späten Mittelalters hat Isenmann (wie Anm. 160) S. 176, betont, dass selbst die Reichsstädte und die Freien Städte nicht über die „omnis iurisdictio“ verfügt hätten. 178 179
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sowie selbst Recht zu setzen und zu sprechen, vermochten an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert vielleicht die von Jochen Rath zu den Gruppen der „inner six and outer eight“185 gerechneten reichsmittelbaren Hansestädte in Anspruch zu nehmen – unter diesen sicher aber die Städte Hamburg und Bremen. Schließlich sollten letztere bereits in den Jahren 1618 und 1646 verfassungsrechtlich als Reichsstädte anerkannt werden. Sofern die juristische Theorie einer Hansestadt den Status einer „civitas mixta“ zuerkannte, hatte diese Stadt das Recht inne, ein öffentliches Archiv einzurichten und zu unterhalten. Als „civitates mixtae“ verfügten jedenfalls die Hansestädte Hamburg und Bremen individuell über das Ius Archivi im aktiven Sinne. 4.3 Ergebnis Der verfassungsrechtliche Status einer Reichsstadt berechtigte die Hansestädte Lübeck und Köln, Goslar und Dortmund, öffentliche Archive im Sinne des „ius publicum“ einzurichten und zu unterhalten. Das Ius Archivi im aktiven Sinne stand individuell auch den reichsmittelbaren Hansestädten zu, die sich als Inhaber einer „iurisdictio limitata“ auf den Status einer „civitas mixta“ berufen konnten. Der publizistischen Definition der „civitas mixta“ entsprachen insbesondere die Hansestädte Hamburg und Bremen. Aus der Mitgliedschaft in der Interessengemeinschaft oder der Interessenvertretung der Hanse als solcher leitete die Rechtswissenschaft des 16. und 17. Jahrhunderts jedoch keine individuelle Befugnis ab, ein öffentliches Archiv einzurichten und zu unterhalten. 5 . Z u r E d i t i o n v o n Ur k u n d e n i n e i n e m Pr o z e s s z w i s c h e n d e m Gr a f e n z u Ho l s t e i n - Pi n n e b e r g u n d d e r H a n s e s t a d t H a m b u r g v o r d e m Re i c h s k a m m e r g e r i c h t „Archive im Alten Reich als Herrschaftsinstrumente.“ Am 28. November 2019 bot das Fachgespräch zu diesem Thema in der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns dem Verfasser die Gelegenheit, erste Überlegungen zu der Frage vorzutragen, ob die Hansestädte im 16. und 185 Rath (wie Anm. 74) S. 149–154, 153 (Abbildung 3), hat zu den „inner six“ neben dem „core of three“ die Städte Lüneburg, Magdeburg und Braunschweig sowie zu den „outer eight“ neben der Reichsstadt Köln die Städte Greifswald, Rostock, Stralsund, Wismar, Hildesheim, Danzig und Stettin gerechnet.
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17. Jahrhundert individuell das Ius Archivi im aktiven Sinne innehatten. Der damalige Direktor des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, Bernhard Grau, hatte zuvor Archive der Prämoderne bereits in zwei Veröffentlichungen186 als Herrschaftsinstrumente charakterisiert. Die Archive hätten Herrschaftsträger in die Lage versetzt, Ansprüche auf Herrschaft, auf Eigentum oder auf Leistungen durch schriftliche Aufzeichnungen nachzuweisen. Auch kommunale Herrschaftsträger wie zum Beispiel die Hansestädte Lübeck, Hamburg187 und Bremen hatten insbesondere vor den obersten Reichsgerichten188 gegenüber benachbarten Landesherren den Nachweis zu führen, dass sie entsprechende Rechte innehatten. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags soll der Blick lediglich auf Prozesse vor dem Reichskammergericht,189 nicht aber vor dem Reichshofrat190 geworfen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Prozessakten des Reichskammergerichts im 19. Jahrhundert nach dem Sitz oder dem Wohnsitz der oder des Beklagten auf die staatlichen Archive der Mitglieder des Deut186 Bernhard Grau, „Original“ – Archive und historische Authentizität. In: Original! Pracht und Vielfalt aus den Staatlichen Archiven Bayerns. Eine Ausstellung der Staatlichen Archive Bayerns im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, München, 11. Oktober bis 5. Dezember 2017, Redaktion: Christian Kruse (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 59), München 2017, S. 11–21, hier S. 15–17. – Ders., Authentizität als neues Paradigma – Wert und Nutzen der traditionellen archivischen Methoden im digitalen Zeitalter. In: Verlässlich, richtig, echt – Demokratie braucht Archive! 88. Deutscher Archivtag 2018 in Rostock. Redaktion: Tobias Herrmann (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag 23), Fulda 2019, S. 133–144, hier S. 138 f. 187 Robert Riemer, Frankfurt und Hamburg vor dem Reichskammergericht. Zwei Handels- und Handwerkszentren im Vergleich (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 60), Köln-Weimar-Wien 2012, S. 85–88. 188 Tobias Freitag – Nils Jörn, Zur Inanspruchnahme der obersten Reichsgerichte im südlichen Ostseeraum 1495–1806. In: Nils Jörn – Michael North (Hrsg.), Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 35), Köln-Weimar-Wien 2000, S. 39–141. 189 Vgl. zu diesem Heinz Duchardt, Das Reichskammergericht im Verfassungsgefüge des Alten Reiches. In: Ingrid Scheuermann (Hrsg.), Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, Mainz 1994, S. 35–39. – Ders., Das Reichskammergericht. In: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der Frühen Neuzeit (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 29), Köln-Weimar-Wien 1996, S. 1–13, und Bernd Schildt, Reichskammergericht – Geschichte, Verfassung und Überlieferung. In: JURA 27 (2006) S. 493–501. 190 Vgl. zu diesem Wolfgang Sellert, Der Reichshofrat. In: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der Frühen Neuzeit (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 29), Köln-Weimar-Wien 1996, S. 15–44.
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schen Bundes verteilt worden sind.191 Akten zu Verfahren, in denen der Rat einer der drei Hansestädte Klage gegen eine benachbarte Landesherrschaft erhoben hat, wären in den Beständen des Niedersächsischen Landesarchivs192 und des Landesarchivs Schleswig-Holstein zu suchen. Für den vorliegenden Beitrag wurden entsprechende Recherchen nicht vorgenommen. Die Sachindices zu den Findbüchern der Reichskammergerichtsakten im Archiv der Hansestadt Lübeck,193 im Staatsarchiv Hamburg194 und im Staatsarchiv Bremen195 führen das Lemma „ius archivi“ nicht auf. Für das 16. und das 17. Jahrhundert ist unter dem Lemma „Archiv“ eine Prozessakte aus dem Archiv der Hansestadt Lübeck angegeben. Auf diese wird auch unter dem Lemma „Einsichtnahme in Dokumente“, nicht aber unter den Lemmata „Beweisführung“ und „Echtheit“ verwiesen. Es handelt sich um einen Prozess zwischen den Herzögen von Holstein-Gottorf und Sachsen-Lauenburg auf der einen und dem Rat der Stadt Lübeck auf der anderen Seite über die Auslösung der lübischen Pfandschaft an der Herrschaft Mölln und dem Gut Ritzerau.196 Unter dem Lemma „Echtheit“, nicht jedoch unter den Lemmata „Beweisführung“ und „Einsichtnahme in Dokumente“ werden drei Verfahren zwischen benachbarten Landesherren und dem Rat der Stadt Hamburg benannt. In dem ersten Verfahren197 191 Walther Latzke, Das Archiv des Reichskammergerichts. In: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 78 (1961) S. 321–326, hier S. 322–324. – Thomas Reich, Reichskammergericht – Archivgeschichte. In: Peter Oestmann – Wilfried Reininghaus, Die Akten des Reichskammergerichts. Schlüssel zur vormodernen Geschichte (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen 44), Düsseldorf 2012, S. 40–46, hier S. 43 f. 192 Vgl. zum Beispiel Pitz (wie Anm. 33) Sp. 280. 193 Findbuch der Reichskammergerichtsakten im Archiv der Hansestadt Lübeck, Bd. 2, Titelaufnahmen S–Z, Indices, bearb. von Hans-Konrad Stein-Stegemann (Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs 19), Schleswig 1987, Sachindex, S. 985–1055. 194 Findbuch der Reichskammergerichtsakten im Staatsarchiv Hamburg, Teil 4, Indices, bearb. von Hans-Konrad Stein-Stegemann (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg 13, 4), Hamburg 1995, S. 1625–1725. 195 Inventar der Bremer Reichskammergerichtsakten, bearb. von Andreas Röpcke und Angelika Bischoff (Kleine Schriften des Staatsarchivs Bremen 22), Bremen 1995, Sachindex, S. 205–210. 196 Findbuch der Reichskammergerichtsakten im Archiv der Hansestadt Lübeck, Bd. 1, Titelaufnahmen A–R, bearb. von Hans-Konrad Stein-Stegemann (Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs 18), Schleswig 1987, Prozesseintrag H 57, S. 280–287. 197 Findbuch der Reichskammergerichtsakten im Staatsarchiv Hamburg, Teil 1, Titelaufnahmen A–H, bearb. von Hans-Konrad Stein-Stegemann (Veröffentlichungen aus dem
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klagten der König von Dänemark und der Herzog von Holstein-Gottorf gegen den Rat der Stadt Hamburg auf die Auslösung der hamburgischen Pfandschaft an der Hälfte des Zolls zu Hamburg, während sie in dem zweiten Verfahren198 die Ablösung einer Rentenschuld begehrten, deren Gläubiger der Rat der Stadt Hamburg als Rechtsnachfolger des 1529 aufgelösten199 Klosters der Dominikaner war. Auch das dritte Verfahren200 ist nicht unter dem Lemma „Archiv“ ausgewiesen. Die Durchsicht der Prozessakten ergab aber, dass die Edition von Urkunden aus Archiven Gegenstand des Beweisverfahrens201 war. In dem Prozess hatte der Graf zu Holstein-Pinneberg Klage gegen die Hansestadt Hamburg auf Auslösung der hamburgischen Pfandschaft an der Landschaft Billwerder erhoben. Allerdings wurden in diesem Verfahren lediglich Urkunden aus landesherrlichen Archiven als Beweis vorgelegt. Eine Edition aus dem Archiv der Hansestadt Hamburg lag den Beweisaufnahmen nicht zu Grunde. Da sich die Hansestadt Hamburg jedoch gegen Ansprüche benachbarter Landesherrschaften zu verteidigen hatte, lässt auch eine inverse Konstellation Erkenntnisse zu der Frage erwarten, ob das Ius Archivi im aktiven Sinne in territorialpolitischen Konflikten zwischen Hansestädten und benachbarten Landesherrschaften von Relevanz war.
Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg 13, 1), Hamburg 1995, Prozesseintrag D 4 a, S. 174–176. 198 Findbuch der Reichskammergerichtsakten im Staatsarchiv Hamburg, Teil 1 (wie Anm. 197), Prozesseintrag D 4 b, S. 176 f. 199 Daniel Tilgner. In: Hamburg Lexikon, hrsg. von Franklin Kopitzsch und Daniel Tilgner, Hamburg 32005, sub voce Johannis-Kloster, S. 259. – Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt (†), Hamburg. Dominikaner 2.1.3. In: Klosterbuch Schleswig-Holstein und Hamburg. Klöster, Stifte und Konvente von den Anfängen bis zur Reformation, hrsg. von Oliver Auge und Katja Hillebrand, Bd. 1, Regensburg 2019, S. 423–425. 200 Findbuch der Reichskammergerichtsakten im Staatsarchiv Hamburg, Teil 3, Titelaufnahmen S–Z und Nachträge, bearb. von Hans-Konrad Stein-Stegemann (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg 13, 3), Hamburg 1995, Prozesseintrag S 11, S. 891 f. – Findbuch der Reichskammergerichtsakten im Staatsarchiv Hamburg, Teil 1 (wie Anm. 197), Prozesseintrag H 12, S. 327–329. 201 Vgl. zum Beweisverfahren vor dem Reichskammergericht Bettina Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555 (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 10), Köln-Wien 1981, S. 164–173.
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5.1 Der Prozess über die Auslösung der hamburgischen Pfandschaft an der Landschaft Billwerder Am 24. Juni 1385 veräußerte Adolf VII., Graf von Holstein aus der „Plöner“ Linie des Hauses Schauenburg, unter dem Vorbehalt des Rückerwerbs die südöstlich von Hamburg zwischen den Flüssen Bille und Dove-Elbe gelegene Marschlandschaft Billwerder202 an die Hamburger Ratsherren Albert und Johann Hoyer.203 Die beiden Ratsherren bestätigten dem Grafen am 10. November desselben Jahres, „dat he den Billenwerder wedderkøpen unde løsen mach, den he uns vorkoft heft“.204 Entgegen der in beiden Urkunden verwendeten Begrifflichkeit („vorkopen“) handelte es sich nicht um den Erwerb auf Grund eines Kaufvertrages, sondern um den Erwerb einer Pfandschaft.205 Solche Pfandschaften waren ein Instrument der Territorialpolitik. Auf den Pfandnehmer wurden Herrschaftsrechte und Rechte auf Leistungen übertragen.206 Als Adolf VII. im Jahre 1390 starb, erlosch die „Plöner“ Linie. Deren Rechte gingen auf die „Rendsburger“ Linie über. In einem Erbvertrag207 setzten sich die „Rendsburger“ und die „Pinneberger“ Linie des Hauses Schauenburg am 17. April 1390 gegenseitig zu Erben ein.208 Dabei erhob die „Rendsburger“ Linie Anspruch auf „alle de werdere, de an der Elue ligget, de wy ok aldus lange gehad hebbet in unsen weren.“ Allerdings übertrug sie die Landschaft Billwerder mit dem Recht auf Auslösung der Pfandschaft auf die „Pinneberger“ Linie. In zwei Ausfertigungen wird der Erbvertrag im Landesarchiv SchleswigHolstein verwahrt. Vgl. zu dieser Harald Richert. In: Hamburg Lexikon, hrsg. von Franklin Kopitzsch und Daniel Tilgner, Hamburg 32005, sub voce Billwerder, S. 70 f. 203 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 710-1 I Threse I, L 11. – Schleswig-Holsteinische Regesten und Urkunden, Bd. 6, 1, 1376–1388, bearb. von Werner Carstens, Neumünster 1971, Nr. 587, S. 398–400. – Vgl. Hamburgs Gedächtnis – die Threse des Hamburger Rates. Die Regesten der Urkunden im Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg, Bd. 1, 1350–1399, hrsg. von Jeanine Marquard, Nico Nolden und Jürgen Sarnowsky, Hamburg 2014, Nr. 325, S. 396 f. 204 Schleswig-Holsteinische Regesten und Urkunden, Bd. 6, 1 (wie Anm. 203), Nr. 609, S. 419 f. 205 Vgl. Isenmann (wie Anm. 61) S. 680. 206 Ulrich-Dieter Oppitz. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl., Bd. 4, 27. Lfg., Berlin 2018, sub voce Pfandschaft, Sp. 541–544. 207 Schleswig-Holsteinische Regesten und Urkunden, Bd. 6, 2, 1389–1400, bearb. von Werner Carstens, Neumünster 1971, Nr. 877, S. 622–627. 208 Hoffmann (wie Anm. 94) S. 225. – Rolf Hammel-Kiesow – Ortwin Pelc. In: Geschichte Schleswig-Holsteins (wie Anm. 94) S. 119 f. 202
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Als die „Rendsburger“ Linie im Jahre 1460 erlosch, gelang es der „Pinneberger“ Linie nicht, die sich aus dem Erbvertrag ergebenden Ansprüche auf die Grafschaft Holstein gegen König Christian I. von Dänemark durchzusetzen. Die „Pinneberger“ Linie hatte die Grafschaft Schaumburg an der Weser und die nordwestlich von Hamburg gelegene Herrschaft Pinneberg in Personalunion inne. In der Regel hielten sich die Grafen in einer der schaumburgischen Residenzen auf. Nach der Erhebung der Grafschaft Holstein zum Herzogtum im Jahre 1474 wurde die Herrschaft Pinneberg als Grafschaft bezeichnet. Unter der Herrschaft des Grafen Ernst von 1601 bis 1622 wurde die Verwaltung beider Grafschaften modernisiert.209 Im Jahre 1640 erlosch das Haus Schaumburg mit dem Tod des Grafen Otto V. Während das Land an der Weser unter den benachbarten Landesherren aufgeteilt wurde, veranlasste König Christian IV. von Dänemark in einem ersten Schritt die Besetzung der Grafschaft Holstein-Pinneberg. In weiteren Schritten teilten die königliche und die „Gottorfer“ Linie der Herzöge von Holstein das Territorium unter sich auf.210 Am 19. Mai 1395 erteilten Graf Otto I. zu Schaumburg und sein Bruder Bernhard, Propst des Domkapitels zu Hamburg, dem Rat und der Gemeinde zu Hamburg die Einwilligung, die Pfandschaft an der Landschaft Billwerder von Johann Hoyer und den Erben des verstorbenen Albert Hoyer abzulösen. Unter der auslösenden Bedingung der Ablösung der Pfandschaft übertrugen die beiden Brüder dem Rat der Stadt Hamburg die Befugnis, in der Landschaft Billwerder Recht zu setzen und zu sprechen, „alle de wyle dat id in erer were unde besittinge is.“ Mit der Ablösung der Pfandschaft würde die Stadt Hamburg also die Gewere211 an Gerhard Menk, Holstein-Schaumburg als Territorialstaat zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Politik und politische Kultur unter Fürst Ernst zu Holstein-Schaumburg. In: Stefan Brüdermann (Hrsg.), 1615 – Recht und Ordnung in Schaumburg (Schaumburger Studien 74), Bielefeld 2018, S. 9–68. 210 Helge bei der Wieden. In: Die Fürsten des Landes (wie Anm. 94) S. 390–403. – Vgl. bereits Gottfried Ernst Hoffmann – Klauspeter Reumann. In: Dies. – Hermann Kellenbenz, Die Herzogtümer von der Landesteilung 1544 bis zur Wiedervereinigung Schleswigs 1721 (Geschichte Schleswig-Holsteins 5), Neumünster 1986, S. 117–122. 211 Vgl. zur Gewere als Figur deutscher Partikularrechte Takeshi Ishikawa, Die Gewere im Sachsenspiegel. In: Karl Kroeschell (Hrsg.), Festschrift für Hans Thieme zu seinem 80. Geburtstag, Sigmaringen 1986, S. 59–82, und Steffen Schlinker. In: Ders. – Hannes Ludyga – Andreas Bergmann, Privatrechtsgeschichte, München 2019, § 14, Rdnrn. 6 f., S. 205–207, § 15, Rdnr. 13, S. 217 f. – Vgl. zum Verständnis der Gewere auch Emanuele Conte, Diritto comune. Storia e storiografia di un sistema dinamico, Bologna 2009, S. 93 f., und ders., Gewere, vestitura, spolium: un’ipotesi di interpretazione. In: Der Einfluss der 209
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der Landschaft Billwerder erwerben. Darüber hinaus verpflichtete sich das Haus Schaumburg, die Pfandschaft nicht vor dem 19. Mai 1415 auszulösen. Für die Zeit ab diesem Termin behielt sich das Haus Schaumburg das Recht vor, die Pfandschaft gegen eine Summe von 2.500 „mark penninge“ und den Ersatz der durch Eindeichungen verursachten Verwendungen auszulösen. Die entsprechende Urkunde212 wird in zwei Ausfertigungen im Staatsarchiv Hamburg verwahrt. Der den beiden Brüdern vom Rat der Stadt Hamburg am selben Tag erteilte Revers213 ist im Landesarchiv Schleswig-Holstein lediglich abschriftlich überliefert. Als Graf zu Holstein-Pinneberg erhob Graf Otto IV. zu Schaumburg im Jahre 1561 Klage gegen die Stadt Hamburg auf Auslösung der hamburgischen Pfandschaft an der Landschaft Billwerder.214 Als Intervenienten beteiligten sich die Herzöge von Holstein an dem Verfahren.215 Deren Intervention entsprach einer Hauptintervention216 im Sinne des modernen Zivilprozessrechts. Die Herzöge von Holstein nahmen das Recht, die hamburgische Pfandschaft auszulösen, für sich in Anspruch. Die Beklagte bestritt die Authentizität des im Prozess edierten Reverses vom 19. Mai 1395. Nach einem außergerichtlichen Vergleich wurde der Prozess im Jahre 1610 beendet.217 Am 29. September 1604 bestätigte Graf Ernst zu HolKanonistik auf die europäische Rechtskultur, Bd. 1, Zivil- und Zivilprozessrecht, hrsg. von Orazio Condorelli, Franck Roumy und Mathias Schmoeckel (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 37, 1), Köln-Weimar-Wien 2009, S. 169–191. – Vgl. zum Verständnis der Gewere in der Tradition des „Deutschen Privatrechts“ Ralf Michaels, Sachzuordnung durch Kaufvertrag. Traditionsprinzip, Konsensprinzip, ius ad rem in Geschichte, Theorie und geltendem Recht (Schriften zum Bürgerlichen Recht 259), Berlin 2002, S. 90 f., und Werner Ogris. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 22012, sub voce Gewere, Sp. 347–352, sowie aus kritischer Distanz Peter Koch, § 1007 BGB. Neues Verständnis auf der Grundlage alten Rechts (Forschungen zur Neueren Privatrechtsgeschichte 26), Köln-Wien 1986, S. 10–45. – Vgl. zur Wissenschaftsgeschichte Frank L. Schäfer, Juristische Germanistik. Eine Geschichte der Wissenschaft vom einheimischen Privatrecht (Juristische Abhandlungen 51), Frankfurt am Main 2008, S. 274–276, 481, 494–496, 560–563, 572 f. 212 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 710-1 I Threse I, R 1, Nr. 1. – Staatsarchiv Hamburg, Bestand 710-1 I Threse I, R 1, Nr. 2. – Schleswig-Holsteinische Regesten und Urkunden, Bd. 6, 2 (wie Anm. 207) Nr. 1194, S. 844–846. – Vgl. Hamburgs Gedächtnis (wie Anm. 203) Nr. 435, S. 520 f. 213 Schleswig-Holsteinische Regesten und Urkunden, Bd. 6, 2 (wie Anm. 207) Nr. 1195, S. 846 f. 214 Vgl. Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, S 11, Teil 1, Q 4. 215 Vgl. Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, S 11, Teil 1, Q 11. 216 §§ 64 f. ZPO. – Vgl. Schwab (wie Anm. 5) Rdnrn. 58–60, 69, S. 32 f., 38. 217 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, S 11, Teile 1–3.
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stein-Pinneberg und zu Schaumburg, dass er von den 32.000 Reichstalern, zu deren Zahlung bis zum Jahre 1605 sich die Stadt Hamburg als Gegenleistung für den Verzicht auf die Auslösung der hamburgischen Pfandschaft verpflichtet habe, bereits 20.000 Taler erhalten habe.218 Die Herzöge von Holstein, König Christian IV. von Dänemark und Johann Adolf von Gottorf, nahmen am 16. Dezember 1608 die Intervention zurück. Auch sie verzichteten auf die Auslösung der hamburgischen Pfandschaft.219 Am 31. Januar 1609 stellte der Rat der Stadt Hamburg den Herzögen von Holstein einen Revers aus. Er bezog sich sowohl auf die Rücknahme der Intervention in dem Prozess über die Auslösung der Pfandschaft an der Landschaft Billwerder als auch auf die Rücknahme von Rechtsmitteln, die die Herzöge von Holstein in anderen Verfahren vor dem Reichskammergericht gegen die Stadt Hamburg eingelegt hatten.220 Von den Rücknahmen hatten die Herzöge lediglich das seit 1548 anhängige Verfahren über die Verpflichtung der Stadt Hamburg, Reichssteuern zu entrichten, ausgenommen.221 In dem Revers vom 31. Januar 1609 sicherte der Rat der Stadt Hamburg König Christian IV. von Dänemark und Herzog Johann Adolf von Holstein-Gottorf zu, dem gemeinsamen Archiv der Herzöge von Holstein in Schloss Gottorf Abschriften aller Urkunden zu übergeben, die die Streitgegenstände der durch außergerichtliche Vergleiche beigelegten Prozesse betrafen. Mit der Zusicherung verband der Rat das Anerkenntnis, dass die bei der Stadt Hamburg verbleibenden Ausfertigungen dieser Urkunden mit der Übergabe der Abschriften die Beweiskraft verlieren würden. Am 30. Oktober 1603 hatten die Hamburger gegenüber König Christian IV. von Dänemark und Herzog Johann Adolf von Holstein-Gottorf die Huldigung vollzogen. Das Bedürfnis der Herzöge von Holstein, sich in dem Revers ein solches Anerkenntnis geben zu lassen, obwohl sie die Stadt Hamburg rechtlich als landsässige Stadt betrachten durften, lässt erkennen, dass sie den aus dem Archiv der Stadt vorgelegten schriftlichen Aufzeichnungen nicht ohne weiteres den Status als „instrumenta authentica“ abzusprechen vermochten. 218 Beyträge zur politischen Hamburgischen Historie, hrsg. von Christian Ziegra, Stück 1, Hamburg 1766 (Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky – PURL: https://resolver.sub.uni-hamburg.de/kitodo/PPN88567295X – Abruf: 16.8.2020), Nr. 16, S. 60–62. 219 Beyträge zur politischen Hamburgischen Historie (wie Anm. 218) Nr. 19, S. 67–69. 220 Beyträge zur politischen Hamburgischen Historie (wie Anm. 218) Nr. 20, S. 70–74. 221 Dokumente (wie Anm. 95) Nr. 42, S. 157.
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5.2 Die Edition insbesondere des Reverses der Stadt Hamburg über die Pfandschaft an der Landschaft Billwerder vom 19. Mai 1395 Als Kläger hatte der Graf zu Holstein-Pinneberg und zu Schaumburg den Beweis zu führen, dass er berechtigt sei, die im Jahre 1395 von der beklagten Stadt Hamburg durch Ablösung erworbene Pfandschaft an der Landschaft Billwerder auszulösen. Den Beweis konnte er durch die Aussagen von Zeugen oder die Edition von Urkunden antreten.222 Er trat den Beweis an, indem er in Ausfertigung den Erbvertrag zwischen der „Rendsburger“ und der „Pinneberger“ Linie des Hauses Schauenburg vom 17. April 1390 und den Revers der Stadt Hamburg über die Pfandschaft an der Landschaft Billwerder vom 19. Mai 1395 aus seinem Archiv vorlegte. Im Jahre 1575 legte die Stadt Hamburg unter anderem gegen die Feststellung, der Revers sei authentisch, Berufung ein.223 Das gelehrte Prozessrecht sah vor, dass sich eine Berufung nicht nur gegen ein Endurteil, sondern auch gegen ein Zwischenurteil richten konnte.224 Vor dem Reichskammergericht war die Berufung gegen ein Zwischenurteil zulässig, wenn es die Kraft eines Endurteils hatte oder dessen Beschwer mit dem Endurteil nicht mehr hätte behoben werden können.225 Auf die Berufung hin führte eine Kommission unter dem vom Reichskammergericht bestellten Kommissar Eberhard, Administrator der Hochstifte Lübeck und Verden, eine Beweisaufnahme durch. In das Protokoll226 und in den Rotulus227 ist die Niederschrift228 über die als „productio documentorum“ bezeichnete Edition der beiden Urkunden aufgenommen worden. Außerdem wird der Wortlaut des Erbvertrages229 und des Reverses230 im Protokoll und im
Dick (wie Anm. 201) S. 170 f. Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, H 12, Teil 1, Q 3. 224 Schäfer (wie Anm. 27) S. 428 f. 225 Dick (wie Anm. 201) S. 199. 226 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, H 12, Teil 1, Q 5, Protokoll zu 1575 Oktober 12. 227 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, H 12, Teil 1, Q 13, Rotulus. 228 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, H 12, Teil 1, Q 5, Bl. 11v–12r. – Ebd. H 12, Teil 1, Q 13, Bl. 14r–14v. 229 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, H 12, Teil 1, Q 5, Bl. 94v–99v. – Ebd. H 12, Teil 1, Q 13, Bl. 109r–113r. 230 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, H 12, Teil 1, Q 5, Bl. 99v–102v. – Ebd. H 12, Teil 1, Q 13, Bl. 113v–116r. 222 223
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Rotulus abschriftlich wiedergegeben.231 Zwanzig Jahre später erfolgte im Rahmen des Hauptverfahrens durch eine andere Kommission eine weitere Beweisaufnahme, deren Ergebnisse in einem Rotulus232 aufgezeichnet worden sind. Mit dem im Jahre 1597 erschienenen Werk „De commissariis et commissionibus camerae imperialis“ des Rutger Rulant erkannte die kammergerichtliche Literatur den Reichsgrafen das Ius Archivi im aktiven Sinne zu.233 Trotzdem kam es sowohl im Haupt- als auch im Berufungsverfahren nicht auf die Vorlage aus einem öffentlichen Archiv, sondern auf die Prüfung der als Beweismittel verwendeten Siegel an. Von Seiten der Stadt Hamburg wurde dem Siegel, mit dem der Revers vom 13. Mai 1395 versehen worden war, die Anerkennung verweigert. Im Jahre 1604 wurde das Berufungsverfahren wieder aufgenommen. Eine Kommission unter Herzog Franz II. von Sachsen-Lauenburg als vom Reichskammergericht bestellten Kommissar wiederholte die Beweiserhebung. Auch deren Ergebnisse sind in einem Rotulus234 aufgezeichnet worden. Am 12. und 13. Juli 1604 kam es in Lüneburg zu Verhandlungen vor der Kommission. Nun legte der Vertreter der Intervenienten die im gemeinsamen Archiv der Herzöge von Holstein in Schloss Gottorf verwahrten Ausfertigungen des Erbvertrages235 vom 17. April 1390 und des in seiner Authentizität von der Stadt Hamburg bestrittenen Reverses236 vom 13. Mai 1395 vor. Graf Otto I. und sein Bruder Bernhard aus der „Pinneberger“ Linie des Hauses Schauenburg hatten der Stadt Hamburg die Urkunde über die Einwilligung in die Ablösung der Pfandschaft in zwei Ausfertigungen übergeben. Offenbar hatte auch die Stadt Hamburg den Revers zweifach ausgefertigt. Eine Ausfertigung könnte von der „Pinneberger“ an die „Rendsburger“ Linie weitergeben worden sein. Von der 231 Vgl. zur Anlage und Führung von Protokollbuch und Rotulus während eines Prozesses vor dem Reichskammergericht Peter Oestmann, Leitfaden zur Benutzung von Reichskammergerichtsakten. In: Ders. – Wilfried Reininghaus, Die Akten des Reichskammergerichts. Schlüssel zur vormodernen Geschichte (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen 44), Düsseldorf 2012, S. 6–20, hier S. 6–13, 18. 232 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, S 11, Teile 2–3, Rotulus zu 1595 Oktober 1. 233 Rulant (wie Anm. 133) 2.5.4.27, Sp. 247 f. 234 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, H 12, Teil 2, Q 14, Rotulus. 235 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, H 12, Teil 2, Q 14, Bl. 77r–80v. 236 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, H 12, Teil 2, Q 14, Bl. 82v–84v.
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Vergleichssumme in Höhe von 32.000 Reichstalern hatte Graf Ernst zu Holstein-Pinneberg und zu Schaumburg bereits am 24. Juni 1604 die erste Rate in Höhe von 10.000 Talern erhalten.237 Aus dem Stand des außergerichtlichen Vergleichs zwischen Kläger und Beklagter erklärt sich, weshalb der Vertreter der Intervenienten Kritik an der Prozessverzögerung nicht nur durch den hamburgischen, sondern auch durch den holsteinpinnebergischen Vertreter übte.238 Zu den Verhandlungen in Lüneburg hatte sich der königliche Landkanzler und promovierte Jurist Dr. Jonathas Gutzloff als Vertreter der Intervenienten von Abel Berner, dem Archivar („commentariensis“) des gemeinsamen Archivs der Herzöge von Holstein in Schloss Gottorf und Stiftsherrn des seit 1542 evangelischen239 Domstifts Schleswig, begleiten lassen. Am ersten Tag der Verhandlungen beantragte Jonathas Gutzloff für den folgenden Tag die Vernehmung des Archivars Abel Berner als Zeugen. Dabei benannte er auch die wesentlichen Interrogationsartikel („interrogatoria“), zu denen die Kommission Abel Berner vernehmen sollte. Im Übrigen stellte er die Abfassung der „interrogatoria“ in das Ermessen der Kommission.240 Mit der Vernehmung beabsichtigte der Vertreter der Intervenienten, den Nachweis der „Informationssicherheit“ des gemeinsamen Archivs in Schloss Gottorf zu erbringen. Nach deme sein gnedigster und gnediger herr nuhe lange jahr hero dem ehrwürdigen, wolgelartenn ern Abell Berner, canonicum des stieffts Schlesewigk, zu ihrer Koniglichen Mayestätt und Furstlichen Gnaden koniglichen und furstlichen gemeinen archivio, inn welchem der reversalbrieff, benebenst andern documenten und briefflichen urkunden, vorwarlich endthalten worden, als commentariensem gebrauchet, welcher dann guete, glaubhaffte zeugnus und kundtschafft umb die beschaffenheit des archivi zu geben weiß: Unnd aber Ihre Konigliche Mayestätt und Furstliche Gnaden eine notturfft zu sein erachtet, das Seine Ehrwurden umbstendtlich Beyträge zur politischen Hamburgischen Historie (wie Anm. 218) Nr. 16, S. 60–62. Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, H 12, Teil 2, Q 14, Bl. 33r–34r. 239 Wolf Werner Rausch (†), Schleswig. Säkularkanoniker 2.1.3. In: Klosterbuch Schleswig-Holstein und Hamburg. Klöster, Stifte und Konvente von den Anfängen bis zur Reformation, hrsg. von Oliver Auge und Katja Hillebrand, Bd. 2, Regensburg 2019, S. 627 f. 240 Vgl. zu den „interrogatoria“ als Instrument des gelehrten Prozessrechts Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht (wie Anm. 9) S. 142, und Dick (wie Anm. 201) S. 164 f. 237 238
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abgehöeret werde, sintemahl sie solches beweißthumbs, so uber gedachtem archivo aufgenommen, sich kunfftig zu gebrauchenn haben werden: Weill dann derselbe jezo mit alhier zur stette: So bitte er ann, Seine Ehrwurden nach dieses tages citation zu decerniren und abgehen zu laßen, seinen bericht und außage zu thunn, sich stellig zu machenn, und also dann denselben mit fleiß abzuhöeren: Inn betrachtung, das er nunmehr ein alter, betagter mann und valetudinarius: Zudeme auf andere zeitt nicht bequemblich die weite reiße abermals auf sich nehmenn kondte: Unnd leßet zu der herrn subdelegirten discretion gestellet sein, auf deßen persohn articulos und fragpuncta zu vorfaßen: Alß nemblich vonn wehme er befehlicht, benebenst andern, das archivum zu eroffenen? Wie daßelbig geschloßen und vorwarlich gehalten wurde? Woher die schlüßell zu eroffnung genommen und wohin dieselbe wieder gelegt worden? Item was sonsten zur erkundigung des archivi beschaffenheit nöetig sein muchte: Unnd, weil diese seine pitte dem rechten gemeß, getröestet er sich willfähriger befurderung. Gibet auch den herrn subdelegirten anheimb, da Seine Ehrwurden des zeugen aydt nicht erlaßen werdenn muchte, denselben gleichsfals vonn ihme zu fordern und leistenn zu laßenn.241 Noch am 12. Juli 1604 wurde Abel Berner von der Kommission als Zeuge geladen.242 Nach Leistung des Eides wurde er am folgenden Tag zu generellen und speziellen Interrogationsartikeln vernommen.243 Die Interrogationsartikel bezogen sich auf die persönlichen Verhältnisse und die Zuverlässigkeit des Zeugen (Generalia 1 bis 4), das Verhältnis des Zeugen als Archivar zu seinem Dienstherrn als Archivträger (Generalia 5 bis 9, Interrogatoria 1 und 2), den Ort, an dem die im Prozess edierten Urkunden verwahrt wurden (Interrogatoria 3), den Schutz des Ortes244 vor einem Zugang durch unbefugte Personen (Interrogatoria 5 bis 8), die Ordnung
Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, H 12, Teil 2, Q 14, Bl. 34r–35r. 242 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, H 12, Teil 2, Q 14, Bl. 44v–45v. 243 Vgl. Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, H 12, Teil 2, Q 14, Bl. 46r. 244 Vgl. zu den Raumstrukturen der Archive in der Frühen Neuzeit Friedrich (wie Anm. 45) S. 159–163, 165–172. 241
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der Urkunden245 (Interrogatoria 10), das Verfahren, in dem Urkunden aus der Verwahrung genommen und wieder in die Verwahrung gegeben wurden (Interrogatoria 4 und 9), und die Anordnung, die im Prozess edierten Urkunden aus der Verwahrung zu nehmen (Interrogatoria 11). Actus examinationis ern Abell Berners. […] Folgenn die articull und fragstucke und darauf erfolgete außage. Generalia. 1. Wie zeuge heiße? 2. Wie aldtt? 3. Ob er ehlich geboren, wes vormügens und standes er sey? 4. Ob er irgendteines strafflichen lasters beschuldiget oder theilhafft? 5. Ob er den herrn producenten mit pflichtenn oder sonstenn verwandt? 6. Ob er von den herrn producenten oder deroselben wegen unterrichtet sey, was er jezunder zeugenn und außagenn solle? 7. Ob er sich zu dieser außage und kundtschafft selbest anerbottenn? 8. Ob ihme auch deßwegen etwas gebenn oder vorsprochen sey oder sonsten darvon zu genießen habe? 9. Welchem theile in dieser sachenn er denn sieg am liebstenn gonne? Interrogatoria. Worauff der commentariensis, ehr Abell Berner, ambts halber examinirt unnd vorhöeret werdenn soll. 1. Welchem herrn herrn [!] und welcher gestaldt demselbenn er vorwandtt? 2. Wieviel jahre er im dienste gewesen? 3. Ann welchem orte die jezt producirten brieffe und siegell vorwarlich endthaltenn gewesen? 4. Wer mit ihme solche brieve ann demselben orte erhoben und heraußgelangett?
Vgl. zur Ordnung der Archive in der Frühen Neuzeit Friedrich (wie Anm. 45) S. 163–165.
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5. Ob der ordt, daraus die instrumenta genommenn, ein abgesondertes gemach oder gewolbe sey? 6. Ob solch gemach oder gewolbe sonderlich zu behaltung beider herrn producenten gemeinen siegell und briefen vorordenet sey? 7. Wie und welcher gestaldt derselbig ordt vorwahret und vorschloßenn sey? 8. Wer die schlußell in vorwahrung habe? 9. Wehr mehr bey eroffnung des gemachs und auch heraußlangung und wiederhinlegung der schriefftlichen urkundenn und jurium sey? 10. Wie die vorwahrung von zeugen befunden sey? 11. Wer die heraußlangung der mehrgemeltenn instrumentorum zeugen befehlenn? Zeugenaußsage. Ad generalia. 1. Er heiße Abell Berner. 2. Er sey anno [15]35, dem 21. Augusti, geborenn. 3. Zeuge sey ehelich geboren und seines vaters, so zu Luebeck gewohnet, einiger sohn und vom selbenn in den studiis aufferzogen. Habe der Koniglichen Mayestätt in Dennenmarck zwey- und zwanzig jahr vor einen secretarium gedienet und in vorfaßung deüdtscher und lateinischer schriefften ann frembde potentatenn sich gebrauchenn laßen. Hernacher, alters und schwacheit halben, gnedigste dimission erlanget und mit einem canonicatu oder lectoratu zu Schlesewigk belehnet wordenn. Sey gleichwoll biß ann jezo der Koniglichen Mayestätt mit dienste vorhafftet. 4. Negat. 5. Referirt sich auf die beim vorgehenden 3. beschehene außage. 6. Welchermaßen er hierzu befehlicht, wolle er mit der Koniglichen Mayestätt ann ihne ergangene schreiben bezeugenn. Welches er dann also unter dem koniglichen insiegell und handt auffgeleget deßenn glaubhaffte copey hirnegst nach der volnendeten depositien zu befindenn. Worauf ihme Furst zu Holstein den gerichtssecretarium Johann Friederich zugeordenett, benebenst welchem er die documenta heraußgelanget und darauf
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mit dem herrn landtcanzler, Doctore Jonatha Guzloff, anhero zur stette kommenn. 7. et 8. Negat. Unnd habe hirvon sein jerlich stipendium. 9. Er gonne dem den sieg, der das beste recht habe. Auf die specialfragpuncte. 1. Zeug habs zuvorn berichtet, das er niemandt als allein der Koniglichen Mayestätt mit dienstenn vorwandt und zugethann. 2. Er sey 34 jahr in der Königlichen Mayestätt dienste gewesen. 3. Zeuge saget, das die vorgehendes tages producirte siegell und brieffe im gewölbe und archivo zu Gottorff vorwahrlich endthalten werden, in maßen dann von alters hero alle documenta dero jederzeit regierenden herrn zu Schleßwigk und Holstein et cetera daselbsten in vorwahrung gehaltenn wordenn. 4. Zeuge saget, das er oben beim 6. generali hirvon seine außage gethan und habe hirmit diese beschaffenheit, das wann sachen furfallenn, inn welchen der eine oder der ander herr der documenten bedurfftig, alßdann beide herrn und ein jeder fur sich zwene oder drey ihrer vortrawten diener, auch nach der furfallenden sach wichtigkeit konigliche und furstliche stadthalter und rähte, zu eröffnung des gewolbes und archivi gezogen werden. Unnd mußen dieselbe mitlerweile ein designation unter ihrer handt biß zur wiedereinlieferung von sich gebenn. 5. Zeuge saget, dieser ordt sey ein sonderlich starck gewölbe von mauren, viereckig, doch etwas lenger als breit. Wann mann darzu wolle, komme mann erstlich per aream arcis in ein stadtlich vorgewölbe. Vom eintridt deßelbenn nach der lincken handt sey dieß gewolbe gelegen. Wann mann darin will, steige mann vier oder funff steinern staffeln hinauf, aldar eine starcke eiserne beschlagene thur mit zweyen starcken anhangenden schlossern, zu welchem der eine regierender herr den einen, der ander den andern schlußell hat. Unnd werden solche schlußell in eines jeden herrn canzleycasten einen zuruck geleget. Eß sey auch in diesem gewolbe anders nichts als ezliche hohe, stadtliche, breite schoppen mit 30, 40, auch wohl mehren capseln unterscheiden, mit numeris intutulirt, damit mann wißen müge, was in jeglichen begrieffen. Die fenster des gewolbes gehen in aream arcis, starck vorrigeldt und mit eisern dralgen
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und gitterwerck vorsehenn, das niemandt darzu reichen oder kommen müge. 6., 7. et 8. Hirvon hab er beim vorigen seine wißenschafft deponirt unnd außgesagett. 9. Sey obenn erwehnett. 10. Zeuge habe in der hamburgischenn capsel die documenta angetroffenn und vorwahret befunden. 11. Zeuge habes zuvorn angedeutet, das es ihme von der Koniglichen Mayestätt anbefohlen und weiter angeordenet, das der herr landtcanzler dieselbe vor den herrn subdelegatis produciren solle.246 In seinen Antworten zu dem generellen Interrogationsartikel 6 und dem speziellen Interrogationsartikel 11 verwies Abel Berner auf ein Reskript247 König Christian IV. von Dänemark als Herzog von Holstein vom 5. August 1599. Bereits fünf Jahre vor den Verhandlungen in Lüneburg hatte König Christian IV. von Dänemark dem Archivar des gemeinsamen Archivs der Herzöge von Holstein in Schloss Gottorf die Weisung erteilt, die sich auf die Ablösung der Pfandschaft an der Landschaft Billwerder beziehenden, in Ausfertigung vorliegenden Urkunden („documenta originalia“) gemeinsam mit einem Vertreter des Herzogs Johann Adolf von Holstein-Gottorf aus dem Archiv zu entnehmen und dem königlichen Landkanzler Dr. Jonathas Gutzloff zur Edition vor einer Kommission des Reichskammergerichts zu übergeben. Christian der Vierdte, von Gottes gnaden zu Dennenmarck, Norwegen, der Wenden und Gotten König, Herzogk zu SchlesewiegkHosteinn et cetera. Ehrwürdiger, lieber, andechtiger und getrewer, wir fuegen euch hirmit gnedigst zu wißenn, das die notturfft erfordert, zu probirung unsers rechtens in sachen des die ablöesung des Billwerders contra Hamburgk ezliche documenta außem gewelbe zu Gottorff zu nehmen und derselben bey vorstehender hierzu angestelten commission zu gebrauchen. Thun euch demnach zu dero behueff hiermit die 246 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, H 12, Teil 2, Q 14, Bl. 46r–50v. 247 Vgl. zum Begriff des Reskripts Michael Hochedlinger, Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit (Historische Hilfswissenschaften), Wien-München 2009, S. 188 f.
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schlußeln zu gemeltem gewelbe ubersenden und gnedigst befehlen, das ihr, neben des hochwurdigen, hochgebornen Fursten, unsers freundtlichenn, lieben vettern, schwagers, brudern und gevattern, Herrn Johann Adolffenn, erwölten Bieschoff zu Luebeck, Erbenn zu Norwegen, Herzogen zu Schlesewigk et cetera, vorordneten, daßelb eroffnet, die documenta originalia nach außweisunge beyliegenden vorzeichnuß auffsuchen und dem hochgelarten, unserm raht, landtcanzler in dem furstenthumb, und lieben getrewenn, Jonathas Guzloffen, der rechten doctorn, gegen seine schriefftliche recognition zu stellet, auch uns die schlußeln wohl vorsiegeltt wiederumb zurucksendet. Darann thudt ihr unsern gnedigsten willen unnd befehligs meinung unnd seindt euch mit könniglicher gnadenn wohlgewogenn. Datum auff unserm schloß Copenhagen, dem 5. Augusti anno 1599. Christiann et cetera. Dem ehrwurdigen, unserm lectorn der bisthumb kirchen zu Schleswiegk, auch secretarien und lieben getrewen, Abell Bernernn et cetera.248 An der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert erkannte die kammergerichtliche Literatur nicht nur den Reichsgrafen, sondern erst recht den Fürsten das Ius Archivi im aktiven Sinne zu.249 Entsprechend wurde das gemeinsame Archiv der Herzöge von Holstein in Schloss Gottorf in einem in den Rotulus aufgenommenen Verzeichnis250 der Schriftstücke, die der Kommission von dem Vertreter der Intervenienten vorgelegt worden waren, als „archivum publicum“ bezeichnet.251 Legte ein Herrschaftsträger, der über das Ius Archivi im aktiven Sinne verfügte, vor dem Reichskammergericht aus seinem Archiv Schriftstücke vor, so entfaltete die Vorlage nach der von Ahasver Fritsch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vertretenen Auffassung eine Territorien und Ebenen überschreitende beweisrechtliche Wirkung. In dem im Jahre 1597 veröffentlichten Werk des
248 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, H 12, Teil 2, Q 14, Bl. 51r. 249 Rulant (wie Anm. 133) 2.5.4.25, Sp. 246 f. 250 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, H 12, Teil 2, Q 14, Bl. 164r–168v. 251 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, H 12, Teil 2, Q 14, Bl. 168r.
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Rutger Rulant zeichnete sich diese Auffassung bereits ab.252 Das Reichskammergericht hatte im Jahre 1604 noch nicht über die im Jahre 1548 vom Fiskal erhobene, die Reichsunmittelbarkeit der Stadt Hamburg behauptende Klage entschieden. Am 30. Oktober 1603 hatte die Stadt Hamburg sogar gegenüber König Christian IV. von Dänemark und Herzog Johann Adolf von Holstein-Gottorf die Huldigung vollzogen. In dem Prozess um die Auslösung der Pfandschaft an der Landschaft Billwerder durften die intervenierenden Herzöge von Holstein deshalb die beklagte Stadt Hamburg als landsässige holsteinische Stadt betrachten. Im Verhältnis zur Beklagten kam es daher auf eine Territorien überschreitende Wirkung der Edition von Urkunden aus dem gemeinsamen Archiv der Herzöge von Holstein in Schloss Gottorf nicht einmal an. Nach der schon von den mittelalterlichen Prozessualisten vertretenen Ansicht bestand die beweisrechtliche Wirkung darin, dass aus einem „archivum publicum“ vorgelegte Aufzeichnungen als glaubwürdig zu betrachten seien, ohne dass es einer Prüfung der verwendeten Beglaubigungsmittel bedürfe. Als promovierter Jurist wird der königliche Landkanzler Dr. Jonathas Gutzloff über Kenntnisse des gelehrten Prozessrechts und der kammergerichtlichen Literatur verfügt haben. Indem die Beklagte das als Beglaubigungsmittel verwendete Siegel nicht anerkannte, hatte sie bisher mit Erfolg die Authentizität des die Befugnis zur Auslösung der Pfandschaft belegenden Reverses vom 13. Mai 1395 bestritten. In Kenntnis des Instituts des Ius Archivi im passiven Sinne versuchte Jonathas Gutzloff die ausbleibende Anerkennung des Siegels durch die Beklagte in zwei Schritten zu überwinden. In einem ersten Schritt beantragte er während der Verhandlungen in Lüneburg am 12. und 13. Juli 1604 die Vernehmung des Archivars Abel Berner als Zeugen, um die „Informationssicherheit“ des gemeinsamen Archivs der Herzöge von Holstein in Schloss Gottorf zu beweisen. Während der weiteren Verhandlungen in Lüneburg vom 20. bis zum 22. August 1604 berief sich Jonathas Gutzloff in einem zweiten Schritt in einer seiner Stellungnahmen253 ausdrücklich auf die „fides archivi“: „Hir neben thue er auch anzeigen, das solche documenta auß dem königlichen und furstlichen archivo zu Gottorff erhoebenn. Des archivi hette man auch keine ohnwißenheitt. So nun aber hoffnung, de fidi archivi disputiret werden solte, wolte er sich deßen fidem ferner zu verifiRulant (wie Anm. 133) 2.5.5.1–23, Sp. 257–262. Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, H 12, Teil 2, Q 14, Bl. 122r–129r. 252 253
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ciren reserviret und furbehaltenn habenn.“254 Er wies darauf hin, dass der Kommission und den Parteien bekannt sei, dass die Edition der Urkunden aus dem Archiv der Intervenienten erfolgt sei. Deshalb brachte er seine Hoffnung zum Ausdruck, dass das Vertrauen in das Archiv – die „fides archivi“ – Eingang in die rechtliche Würdigung der Beweisaufnahme finde. Dabei behielt er sich vor, den Nachweis zu erbringen, dass das Vertrauen gerechtfertigt sei. Um diesen Nachweis erbringen zu können, hatte er die Vernehmung des Archivars als Zeugen veranlasst. Offenbar sah Jonathas Gutzloff den Status des gemeinsamen Archivs der Herzöge von Holstein in Schloss Gottorf als „archivum publicum“ als erforderlich, aber nicht als hinreichend an, um Vertrauen in die vorgelegten Urkunden in Anspruch nehmen zu dürfen. Vielmehr müsse auch die „Informationssicherheit“ des Archivs bewiesen werden. Den Beweis beabsichtigte er, durch die Zeugenaussage des Archivars zu führen. Auf Grund der bereits begonnenen Verhandlungen über außergerichtliche Vergleiche ist es wohl zu einer „publicatio attestationum“255 vor dem Reichskammergericht in Speyer nicht mehr gekommen. Im Staatsarchiv Hamburg ist in zwei Ausfertigungen die Urkunde überliefert, mit der Graf Otto I. zu Schaumburg und sein Bruder Bernhard, Propst des Domkapitels zu Hamburg, dem Rat und der Gemeinde der Stadt Hamburg am 19. Mai 1395 die Einwilligung erteilten, die Pfandschaft an der Landschaft Billwerder abzulösen. Ebenso wie der von der Stadt Hamburg in seiner Authentizität bestrittene Revers verfügt auch die Urkunde selbst über die Klausel, nach der der Pfandgeber berechtigt sei, die Pfandschaft vom 19. Mai 1415 an auszulösen. Am 16. Dezember 1608 verzichteten die Herzöge von Holstein auf den Rat256 des königlichen Landkanzlers Dr. Jonathas Gutzloff hin auf die Auslösung der hamburgischen Pfandschaft. Auf dessen Idee wird auch die Übergabe der Abschriften von Urkunden durch die Stadt Hamburg an das gemeinsame Archiv der Herzöge von Holstein in Schloss Gottorf und die Erklärung der Stadt über den mit der Übergabe verbundenen Verlust der Beweiskraft der Ausfertigungen beruhen. Trotz der Huldigung vom 30. Oktober 1603 erkannte Jonathas Gutzloff offenbar der reichsmittelbaren Hansestadt Hamburg 254 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 211-2 Reichskammergericht, H 12, Teil 2, Q 14, Bl. 123v–124r. 255 Vgl. zur „publicatio attestationum“ als Instrument des gelehrten Prozessrechts Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht (wie Anm. 9) S. 145–147, und Dick (wie Anm. 201) S. 170. 256 Beyträge zur politischen Hamburgischen Historie (wie Anm. 218) Nr. 19, S. 68.
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den Charakter einer „civitas mixta“ zu, die ebenso wie die Herzöge von Holstein über die Befugnis verfügte, ein „archivum publicum“ einzurichten und zu unterhalten. Vorbehaltlich des Nachweises der „Informationssicherheit“ wird er in einem aus dem Archiv der Hansestadt Hamburg vorgelegten Schriftstück ein „instrumentum authenticum“ gesehen haben. Das moderne Zivilprozessrecht bietet dem Beweisführer die Möglichkeit, den Prozessgegner zur Edition einer Urkunde, die sich in dessen Besitz befindet, zu verpflichten. Für den Fall, dass eine von einer Partei vorgelegte Urkunde nur zum Teil in die Niederschrift über die Verfahrenshandlungen aufgenommen worden war, gewährte das gelehrte Prozessrecht der anderen Partei das Recht, die wiederholte Vorlage der Ausfertigung zu verlangen.257 Jedenfalls war dem gelehrten Prozessrecht der Anspruch einer Partei auf Vorlage einer Urkunde durch die andere Partei nicht unbekannt. Denkbar ist deshalb, dass Jonathas Gutzloff bei einer Fortsetzung der Beweisaufnahme die Edition einer Ausfertigung der von Graf Otto I. zu Schaumburg und seinem Bruder Bernhard ausgestellten Urkunde durch die Beklagte beantragt hätte. Die Edition hätte die Authentizität des Reverses bestätigt. Das Vertrauen in das Archiv der Herzöge von Holstein wäre durch das Vertrauen in das Archiv der Hansestadt Hamburg ergänzt worden. Den prozessualen Erfolg der Intervenienten hätte die Beklagte nur durch ein Verschweigen der beiden Ausfertigungen verhindern können. Gegenstand der Klage des Grafen zu Holstein-Pinneberg und zu Schaumburg war die Annahme der Auslösesumme und die Herausgabe der Landschaft Billwerder durch die Stadt Hamburg. Die Gewere an der Landschaft Billwerder bot der Beklagten einen prozessualen Schutz gegen die Herausgabe. In der partikularrechtlichen Figur der Gewere verband sich die tatsächliche Sachherrschaft mit der Vorstellung einer Berechtigung.258 Die Vorlage des von der Beklagten nicht bestrittenen Erbvertrages zwischen der „Rendsburger“ und der „Pinneberger“ Linie des Hauses Schauenburg vom 17. April 1390 war geeignet, die Vorstellung, die Stadt Hamburg sei berechtigt, die Sachherrschaft über die Landschaft Billwerder auszuüben, in Frage zu stellen. Sie versetzte den Kläger in die Lage, den 257 Udo Schäfer, Verschriftlichung von Verfahrenshandlungen vor kirchlichen Gerichten durch Protokollierung. Der Kanon X 2.19.11 und seine Interpretation durch die mittelalterliche Kanonistik. In: Irmgard Christa Becker u.a. (Hrsg.), Archiv – Recht – Geschichte. Festschrift für Rainer Polley (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 59), Marburg 2014, S. 275–310, hier S. 302 f. 258 Schlinker. In: Ders. – Ludyga – Bergmann, Privatrechtsgeschichte (wie Anm. 211) § 14, Rdnr. 6 f., S. 205–207, § 15, Rdnr. 13, S. 217 f.
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Nachweis einer früheren Gewere des Hauses Schauenburg an der Landschaft Billwerder zu erbringen. Hätte sich Jonathas Gutzloff im weiteren Verlauf des Verfahrens auf diesen Nachweis berufen, so hätten die in der Figur der Gewere zum Ausdruck kommenden partikularen Rechtsgewohnheiten der Beklagten keinen prozessualen Schutz mehr gewährt. Das Sächsische Landrecht259 – der zwischen 1220 und 1235 als private Aufzeichnung von Rechtsgewohnheiten entstandene Sachsenspiegel260 – bot mit der Stelle SsLdr. 2.70261 eine Regelung, die sich dem durch die Gewere vermittelten prozessualen Schutz gegen die Herausgabe einer Liegenschaft widmete.262 In seiner Glossierung263 dieser Stelle allegierte der im Dienste des Markgrafen Ludwig von Wittelsbach zwischen 1332 und 1340 als Hauptmann der Mark Brandenburg wirkende Jurist Johann von Buch264
259 Huneke (wie Anm. 139) S. 533–535. – Vgl. bereits Hiram Kümper, Sachsenrecht. Studien zur Geschichte des sächsischen Landrechts in Mittelalter und früher Neuzeit (Schriften zur Rechtsgeschichte 142), Berlin 2009, S. 200–206. 260 Friedrich Ebel. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, Berlin 1990, sub voce Sachsenspiegel, Sp. 1228–1237. – Peter Landau, Der Entstehungsort des Sachsenspiegels – Eike von Repgow, Altzelle und die anglo-normannische Kanonistik, 2005. In: Ders., Deutsche Rechtsgeschichte im Kontext Europas, Badenweiler 2016, S. 323–348. – Rolf Lieberwirth. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Berlin 22008, sub voce Eike von Repgow (um 1180–nach 1233), Sp. 1288–1292. – Kümper (wie Anm. 259) S. 68–91. – Dirk Heirbaut, Le „Miroir des Saxons“: un texte remarquable, mais presque inconnu dans l’historiographie française. In: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 84 (2016) S. 401–422. – Heiner Lück, Der Sachsenspiegel. Das berühmteste deutsche Rechtsbuch des Mittelalters, Darmstadt 2017, S. 15–17, 22–25. 261 Sächsisches Landrecht (SsLdr.) 2.70. In: Sachsenspiegel. Landrecht, hrsg. von Karl-August Eckardt (Monumenta Germaniae Historica. Fontes iuris germanici antiqui N.S. 1, 1), Göttingen 31973, S. 190. 262 Ishikawa (wie Anm. 211) S. 65 f. – Schlinker. In: Ders. – Ludyga – Bergmann, Privatrechtsgeschichte (wie Anm. 211) § 15, Rdnr. 13, S. 217, mit Anm. 1183. 263 Gl. ad SsLdr. 2.70. In: Glossen zum Sachsenspiegel-Landrecht. Buch’sche Glosse, Teil 2, hrsg. von Frank-Michael Kaufmann (Monumenta Germaniae Historica. Fontes iuris germanici antiqui N.S. 7, 2), Hannover 2002, S. 903. 264 Vgl. zu Johann von Buch und seinem wissenschaftlichen Werk Rolf Lieberwirth – Frank-Michael Kaufmann. In: Glossen zum Sachsenspiegel-Landrecht. Buch’sche Glosse, Teil 1, hrsg. von dems. (Monumenta Germaniae Historica. Fontes iuris germanici antiqui N.S. 7, 1), Hannover 2002, S. XXIII–XXXI; Bernd Kannowski, Die Umgestaltung des Sachsenspiegelrechts durch die Buch’sche Glosse (Monumenta Germaniae Historica. Schriften 56), Hannover 2007, S. 73–106; Heiner Lück, Johann von Buch (ca. 1290–ca. 1356) – Stationen einer juristisch-politischen Karriere. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 124 (2007) S. 120–143. – Ders. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 22012, sub voce Johann
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mit jeweils einer Stelle aus dem Codex Iustinianus265 – einem weiteren Element der Kodifikation des oströmischen Kaisers Justinian – und dem Liber Extra266 aber bereits Quellen der gelehrten Rechte, die sich auf den prozessualen Schutz des Besitzes („possessio“) und des Eigentums („proprietas“) bezogen. In dem hypothetischen weiteren Verlauf des Verfahrens hätte sich aus der partikularrechtlichen Figur der Gewere keine gerichtliche Entscheidung ableiten lassen. Vielmehr hätte auch das Reichskammergericht auf Dogmen des seit dem späten Mittelalter im deutschen „regnum“ rezipierten267 römisch-kanonischen „ius commune“268 zurückgreifen müssen.269 Im Hinblick auf den Erwerb des Eigentums differenzierte das „ius commune“ zwischen der „iusta causa traditionis“ und der „traditio“.270 Auf der Grundlage dieser Differenzierung entwickelte die Privatrechtswissenschaft in Deutschland seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Lehre, dass zum Erwerb des Eigentums ein „titulus“ – ein Rechtsgeschäft – und ein „modus acquirendi“ – der Erwerb des Besitzes – erforderlich
von Buch (um 1290–um 1356), Sp. 1376 f. – Ders., Der Sachsenspiegel (wie Anm. 260) S. 118–129, und Kümper (wie Anm. 259) S. 166–179. 265 Cod. 3.32.13. In: Corpus Iuris Civilis, Bd. 2, Codex Iustinianus, hrsg. von Paul Krüger, Berlin 61895, ND New Jersey 2010, S. 139. 266 X 2.12.2. In: Corpus Iuris Canonici, Bd. 2 (wie Anm. 38) Sp. 276. 267 Wolfgang Sellert, Zur Rezeption des römischen und kanonischen Rechts in Deutschland von den Anfängen bis zum Beginn der frühen Neuzeit: Überblick, Diskussionsstand und Ergebnisse. In: Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Teil 1, Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters, 1994 bis 1995, hrsg. von Hartmut Boockmann u.a. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Dritte Folge 228), Göttingen 1998, S. 115–166. – Ulrich Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, München 7 2019, Rdnrn. 208–217, S. 103–108. – Schlinker. In: Ders. – Ludyga – Bergmann, Privatrechtsgeschichte (wie Anm. 211) § 1, Rdnrn. 21–24, S. 9–11. 268 Vgl. zum Begriff „ius commune“ Tilman Repgen, Ius Commune. In: Hans-Peter Haferkamp – Tilman Repgen (Hrsg.), Usus modernus pandectarum. Römisches Recht, Deutsches Recht und Naturrecht in der Frühen Neuzeit. Klaus Luig zum 70. Geburtstag (Rechtsgeschichtliche Schriften 24), Köln-Weimar-Wien 2007, S. 157–173, und Susanne Lepsius. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 22012, sub voce Ius commune, Sp. 1333–1336. 269 Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht (wie Anm. 162) S. 9 f., 603–605. 270 Eltjo J. H. Schrage, Traditionibus et usucapionibus, non nudis pactis dominia rerum transferuntur. Die Wahl zwischen dem Konsens- und dem Traditionsprinzip in der Geschichte. In: Mario Ascheri u.a. (Hrsg.), „Ins Wasser geworfen und Ozeane durchquert“. Festschrift für Knut Wolfgang Nörr, Köln-Weimar-Wien 2003, S. 913–958.
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sei.271 Der Titel, auf dem das Recht der Stadt Hamburg zum Besitz der Landschaft Billwerder beruhte, ergab sich aus der Urkunde, die dem Rat der Stadt am 19. Mai 1395 von Graf Otto I. zu Schaumburg und seinem Bruder Bernhard ausgestellt worden war. Allerdings hätte die Edition der Urkunde zugleich die Pflicht der Beklagten zur Annahme der Auslösesumme und zur Herausgabe der Landschaft Billwerder bewiesen. Indem die Stadt Hamburg die Authentizität des Reverses vom 19. Mai 1395 bestritt, begab sie sich der Möglichkeit, aus dem kommunalen Archiv die Ausfertigung272 einer Urkunde des Grafen Otto II. zu HolsteinPinneberg und zu Schaumburg vom 5. Januar 1447 vorzulegen, in der dieser das Haus Schaumburg verpflichtete, die Pfandschaft an der Landschaft Billwerder nur zusammen mit den Pfandschaften an den Landschaften Moorwerder und Ochsenwerder auszulösen. Die Pfandschaften an der zwischen Norder- und Süderelbe gelegenen Landschaft Moorwerder und an der zwischen den Flüssen Dove-Elbe und Elbe gelegenen Landschaft Ochsenwerder hatten Graf Otto I. zu Schaumburg und sein Bruder Bernhard dem Rat und der Gemeinde der Stadt Hamburg am 23. April 1395 bestellt.273 Da die Auslösesumme für die Landschaften Moorwerder und Ochsenwerder lediglich 1.000 „mark Hamborgher penninghe“ betrug, wird dem Rat der Stadt Hamburg das Risiko zu hoch gewesen sein, dass eine die Auslösung hemmende Einrede durch eine entsprechende Erhöhung der Auslösesumme hätte überwunden werden können.
271 Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. 1, Älteres Gemeines Recht, 1500 bis 1800, München 1985, S. 178–180, 302–306. – Michaels (wie Anm. 211) S. 136 f. – Wolfgang Ernst. In: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, hrsg. von Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert und Reinhard Zimmermann, Bd. 3, 1, Schuldrecht: Besonderer Teil, vor § 433–§ 656, Redaktion: Joachim Rückert – Frank L. Schäfer, Tübingen 2013, § 433, Rdnr. 8. – Schlinker. In: Ders. – Ludyga – Bergmann, Privatrechtsgeschichte (wie Anm. 211) § 15, Rdnr. 36, S. 230. 272 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 710-1 I Threse I, R 7 b. – Die Urkunden über die Erwerbung der Landschaften Bill- und Ochsenwärder durch Hamburg. In Anlaß der 500jährigen Vereinigung, hrsg. von Anton Hagedorn, Hamburg 1895, Nr. 4, S. 14–16. 273 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 710-1 I Threse I, R 4 a. – Staatsarchiv Hamburg, Bestand 710-1 I Threse I, R 15. – Schleswig-Holsteinische Regesten und Urkunden, Bd. 6, 2 (wie Anm. 207) Nr. 1186, S. 840 f. – Vgl. Hamburgs Gedächtnis (wie Anm. 203) Nr. 432, S. 517 f.
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5.3 Ergebnis Im Umland größerer und mittlerer deutscher Städte erwarben Bürger, geistliche Korporationen und die kommunalen Gemeinwesen selbst während des späten Mittelalters Ansprüche auf Herrschaft, auf Eigentum oder auf Leistungen. Dabei verfolgten reichsunmittelbare wie reichsmittelbare Städte eine der Sicherung der Versorgung und des Handelsverkehrs dienende Landgebiets- oder sogar eine auf den Aufbau eines Territoriums zielende Territorialpolitik.274 In Niederdeutschland betrieben insbesondere die Hansestädte Lübeck, Hamburg und Bremen eine extensive Landgebietspolitik.275 So erwarb die Hansestadt Hamburg im Jahre 1395 nicht nur die Pfandschaft an der Landschaft Billwerder, sondern auch die Pfandschaften an den Landschaften Moorwerder und Ochsenwerder.276 Der Pfandschaft als Instrument der Landgebietspolitik war das Risiko des Verlustes der erworbenen Rechte immanent. Eine Edition der in zwei Ausfertigungen im Staatsarchiv Hamburg verwahrten Urkunde vom 19. Mai 1395 in dem Prozess vor dem Reichskammergericht hätte zum Verlust der hamburgischen Herrschaft über die Marschlandschaft Billwerder geführt. Wie die beiden denkbaren weiteren Verläufe des Verfahrens zeigen, blieb der Hansestadt Hamburg wohl nur die Möglichkeit, außergerichtliche Vergleiche zu suchen. Im Jahre 1601 hatte Graf Ernst die Regierung in den beiden schaumburgischen Territorien an der Weser und an der Elbe angetreten. Sein Interesse galt in beiden Territorien einer moderneren Administration. Im Verhältnis zur nordwestlich von Hamburg gelegenen Grafschaft Holstein-Pinneberg hätte die südöstlich von Hamburg gelegene Landschaft Billwerder aber eine Exklave gebildet. Es wird dem Rat der Hansestadt Hamburg deshalb nicht schwergefallen sein, Graf Ernst gegen die Leistung von 32.000 Reichstalern von dem Verzicht auf die Position als Pfandgeber zu überzeugen. 274 Isenmann (wie Anm. 61) S. 679–689. – Franz Irsigler, Stadt und Umland vom Hochmittelalter bis zum 16. Jahrhundert – Eine Forschungsbilanz. In: Stefan Sonderegger – Helge Wittmann – Dorothee Guggenheimer (Hrsg.), Reichsstadt und Landwirtschaft. 7. Tagung des Mühlhäuser Arbeitskreises für Reichsstadtgeschichte, Mühlhausen, 4. bis 6. März 2019 (Studien zur Reichsstadtgeschichte 7), Petersberg 2020, S. 25–66. 275 Hans-Joachim Behr, Die Landgebietspolitik nordwestdeutscher Hansestädte. In: Hansische Geschichtsblätter 94 (1976) S. 17–37. 276 Peter Gabrielsson. In: Hamburg, Bd. 1 (wie Anm. 111) S. 104–107. – Vgl. bereits Heinrich Reincke, Hamburgische Territorialpolitik. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 38 (1939) S. 28–116, hier S. 44–47.
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Christian IV. hatte die Regierung in den Herzogtümern Schleswig und Holstein 1593 und in den Königreichen Dänemark und Norwegen 1596 übernommen.277 Zwischen der Huldigung vom 30. Oktober 1603 und dem Urteil des Reichskammergerichts vom 6. Juli 1618 erwies sich das Verhältnis zwischen König Christian IV. von Dänemark und der Hansestadt Hamburg eher auf Kooperation als auf Konfrontation angelegt.278 Die Herzöge von Holstein, Christian IV. und Johann Adolf von Gottorf, folgten dem Rat des königlichen Landkanzlers Dr. Jonathas Gutzloff, auf den Anspruch auf Auslösung der hamburgischen Pfandschaft an der Landschaft Billwerder zu verzichten. Auf diese Weise wird Jonathas Gutzloff versucht haben, die Bereitschaft der „civitas mixta“ Hamburg zur Integration in das Herzogtum Holstein zu fördern. Möglich wurden die außergerichtlichen Vergleiche mit dem Grafen zu Holstein-Pinneberg und zu Schaumburg als Kläger und den Herzögen von Holstein als Intervenienten erst dadurch, dass die Stadt Hamburg in dem Prozess die Authentizität des in jeweils einer Ausfertigung aus dem Archiv des Klägers und dem Archiv der Intervenienten vorgelegten Reverses bestritt und so die Existenz der in zwei Ausfertigungen im Archiv der Stadt verwahrten Urkunde, zu der der Revers ausgestellt worden war, implizit verschwieg. 285 Jahre nach dem Ende des Prozesses veröffentlichte der das Staatsarchiv Hamburg leitende Senatssekretär Anton Hagedorn279 im Jahre 1895 die Schrift „Die Urkunden über die Erwerbung der Landschaften Bill- und Ochsenwärder durch Hamburg. In Anlaß der 500jährigen Vereinigung“280 – mit einer Abbildung281 einer der beiden Ausfertigungen282 und einer Edition283 der Urkunde. Während der Verhandlungen vor der Kommission des Reichskammergerichts in Lüneburg im Jahre 1604 berief sich der Vertreter der Intervenienten, Jonathas Gutzloff, auf das Ius Archivi im passiven Sinne als Institut Hoffmann – Reumann. In: Dies. – Kellenbenz (wie Anm. 210) S. 115. Loose (wie Anm. 96) S. 2–6. 279 Vgl. zu Anton Hagedorn, Hans Wilhelm Eckardt. In: Hamburgische Biografie. Personenlexikon, hrsg. von Franklin Kopitzsch und Dirk Brietzke, Bd. 4, Göttingen 2008, sub voce Hagedorn, Anton Bernhard Carl, S. 128 f. 280 Die Urkunden über die Erwerbung der Landschaften Bill- und Ochsenwärder (wie Anm. 272). 281 Die Urkunden über die Erwerbung der Landschaften Bill- und Ochsenwärder (wie Anm. 272), Lichtdruck II. 282 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 710-1 I Threse I, R 1, Nr. 1. 283 Die Urkunden über die Erwerbung der Landschaften Bill- und Ochsenwärder (wie Anm. 272), Nr. 3, S. 12–14. 277 278
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des Prozessrechts. Das Ius Archivi im aktiven Sinne als Institut des öffentlichen Rechts erkannte er nicht nur den Herzögen von Holstein als Fürsten, sondern wohl auch der Hansestadt Hamburg als „civitas mixta“ zu. Der Verfasser des im Hinblick auf die Rechtsfigur des Ius Archivi maßgeblichen Werks der kammergerichtlichen Literatur, Rutger Rulant, war seit 1599 in Hamburg als Advokat tätig. Dem Rat der Hansestadt Hamburg wird diese Rechtsfigur bereits vor den Verhandlungen in Lüneburg bekannt gewesen sein. Die Recherche nach einer Edition von Urkunden in einem Verfahren zwischen einer benachbarten Landesherrschaft und einem Mitglied des hansischen „core of three“ vor dem Reichskammergericht hatte lediglich Prozesse über die Auslösung von Pfandschaften zum Ergebnis. Es lag in der Natur der Pfandschaft, dass der Titel, den der Pfandnehmer durch die Ausstellung einer Urkunde über dieses Rechtsgeschäft erwarb, bereits mit einer auflösenden Bedingung versehen war. In territorialpolitischen Konflikten mit benachbarten Landesherrschaften bot das Ius Archivi im aktiven Sinne deshalb der Reichsstadt Lübeck und den „civitates mixtae“ Hamburg und Bremen eher keinen rechtlichen Vorteil. 6 . H a n s e s t ä d t i s c h e A r c h i v e . Ko l l e k t i v e s G e d ä c h t n i s – Wi s s e n s o r t – He r r s c h a f t s i n s t r u m e n t Die Edition von Urkunden vor Gericht entsprach der traditionellen Funktion284 prämoderner Archive, Rechte zu sichern. Mit der Vorlage aus einem „archivum publicum“ wurde eine Aufzeichnung mit dem Status eines „instrumentum publicum vel authenticum“ versehen. Für die Aufzeichnung konnte der Beweisführer volles Vertrauen in Anspruch nehmen. Ebenso wie den reichsunmittelbaren Hansestädten erkannte die Rechtswissenschaft an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert den reichsmittelbaren Hansestädten, die als Inhaber einer „iurisdictio limitata“ den Status einer „civitas mixta“ in Anspruch nehmen konnten, individuell die Befugnis zu, ein „archivum publicum“ einzurichten und zu unterhalten. Allerdings zeigt der Prozess zwischen dem Grafen zu Holstein-Pinneberg und der Hansestadt Hamburg als Fallstudie, dass das Ius Archivi im aktiven Sinne als Institut des öffentlichen Rechts und das sich von diesem ableitende Ius Archivi im passiven Sinne als Institut des Prozessrechts eher den Landesherren als den Hansestädten juristische Vorteile verschaffte. Christian Keitel, Zwölf Wege ins Archiv. Umrisse einer offenen und praktischen Archivwissenschaft, Stuttgart 2018, S. 28–37. 284
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In der modernen historischen Forschung werden Archive der Prämoderne als kollektives Gedächtnis (Mathias Schmoeckel), Wissensort (Markus Friedrich) oder Herrschaftsinstrument (Bernhard Grau) bezeichnet. Dabei stellen die Begriffe „kollektives Gedächtnis“ und „Wissensort“ Bezüge zu kultur- und verwaltungswissenschaftlichen Diskursen über Archive der Gegenwart her. Allerdings lassen sich nicht nur die beiden Begriffe, sondern auch einzelne, in diesen Diskursen gewonnene Erkenntnisse auf Archive der Prämoderne anwenden. In Bezug auf hansestädtische Archive möge die Fallstudie auch insoweit als Paradigma dienen. Prinzipiell ist auch die kulturwissenschaftliche Differenzierung zwischen dem Speicher- und dem Funktionsgedächtnis285 auf Archive der Prämoderne anwendbar. Während des sich über ein halbes Jahrhundert von 1561 bis 1610 erstreckenden Prozesses über die Auslösung der hamburgischen Pfandschaft an der Landschaft Billwerder hat der Rat der Hansestadt Hamburg auf sein Archiv als Speichergedächtnis zurückgegriffen, die Urkunden aus den Jahren 1395 und 1447 ermittelt und in deren Kenntnis seine Prozesstaktik festgelegt. Da die beiden Urkunden der Hansestadt Hamburg keine Legitimation vermittelten, um über die Landschaft Billwerder auf Dauer die Herrschaft auszuüben, wurde auf deren Edition vor Gericht verzichtet, so dass sie keinen Eingang in das Funktionsgedächtnis fanden. Die landesherrlichen Archive des Grafen zu Holstein-Pinneberg und der Herzöge von Holstein aber hatten die juristische Reversibilität der hamburgischen Herrschaft über die Landschaft Billwerder über eineinhalb Jahrhunderte vor dem Vergessen bewahrt und der Klage wie der Intervention die Legitimation geboten. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert jedoch bemühte sich der hamburgische Senatssekretär Anton Hagedorn, den beiden Textzeugen eine Position innerhalb einer sich der Entstehung des hamburgischen Landgebietes widmenden kommunalen Erinnerungskultur zu verschaffen. Auch die verwaltungswissenschaftliche Erkenntnis, dass Archive und Recht sich bei der (Re-)Konstruktion von Wirklichkeit im Rahmen rechtlich geregelter Verfahren gegenseitig bedingen,286 ist auf Archive der Prä285 Aleida Assmann, Archive als Medien des kulturellen Gedächtnisses. In: Lebendige Erinnerungskultur für die Zukunft. 77. Deutscher Archivtag 2007 in Mannheim. Redaktion: Heiner Schmitt (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag 12), Fulda 2008, S. 21–33. 286 Ino Augsberg, Informationsverwaltungsrecht. Zur kognitiven Dimension der rechtlichen Steuerung von Verwaltungsentscheidungen (Jus Publicum. Beiträge zum Öffentlichen Recht 227), Tübingen 2014, S. 157–162, 166–168.
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moderne übertragbar. In dem Prozess zwischen dem Grafen zu HolsteinPinneberg und der Hansestadt Hamburg verwendeten der Kläger und die Beklagte ebenso wie die Intervenienten das aus dem eigenen Archiv gewonnene Wissen, um die Wirklichkeit aus der jeweiligen Perspektive zu (re-)konstruieren und dem Gericht zu präsentieren. Sowohl das Archiv der Hansestadt Hamburg als auch das Archiv des Grafen zu Holstein-Pinneberg blieben während des Prozesses als Wissensort im Hintergrund. Das gemeinsame Archiv der Herzöge von Holstein hingegen wurde durch die Aussage des Archivars Abel Berner als Infrastruktur des Wissens287 erkennbar. Er beschrieb den Ort, an dem die im Prozess vorgelegten Aufzeichnungen verwahrt wurden, den Schutz dieses Ortes vor einem Zugang durch unbefugte Personen, die Ordnung, in der die vorgelegten Aufzeichnungen verwahrt wurden, und das Verfahren, in dem Aufzeichnungen aus der Verwahrung genommen und wieder in die Verwahrung gegeben wurden. Mit seiner Aussage versuchten die Herzöge von Holstein das Gericht von der Wirklichkeit zu überzeugen, die sie durch die Edition von Urkunden aus dem gemeinsamen Archiv (re-)konstruiert hatten. Mit der Urkunde aus dem Jahre 1395 hatte das Haus Schaumburg dem Rat der Hansestadt Hamburg auch das Recht übertragen, in der Landschaft Billwerder Recht zu setzen und zu sprechen. Solange die hamburgische Pfandschaft bestand, vermittelte die Urkunde dem Rat die Legitimation, um über die Einwohner der Landschaft Billwerder Herrschaft auszuüben. Im Verhältnis zur Bevölkerung des Landgebiets trat die Funktion des die Urkunde verwahrenden Archivs als Herrschaftsinstrument deutlich hervor.288
Friedrich (wie Anm. 45) S. 15–17. Der Aufsatz basiert auf dem Vortrag des Verfassers beim Archivwissenschaftlichen Fachgespräch „Archive im Alten Reich als Herrschaftsinstrumente“ am 28. November 2019 in der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns. 287 288
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Das ius archivi – Wunschtraum und Wirklichkeit im Leben eines Registrators/Archivars in der Zeit um 1800 Von Joachim Wild Schon seit langem hat mich die Frage interessiert, ob überhaupt, und wenn ja in welchem Ausmaß, das ius archivi das berufliche Wirken eines Registrators bzw. Archivars in der Zeit des Alten Reiches konkret beeinflusst hat oder ob es sich bloß um einen terminologischen und eher abstrakten Disput um Begriffe handelt. Meine Vorstellung war, eine real existierende Person zu suchen, in deren Berufsleben das ius archivi tatsächlich eine nicht unbeträchtliche Rolle spielte. Ich glaube, diese Person nun gefunden zu haben, die zunächst in der Funktion eines Registrators durch den Nichtbesitz des ius archivi erheblich behindert wird, genauer gesagt, es ihr unmöglich gemacht wird, ein wirkliches Archiv einzurichten. Und wie sie dann, zu Archivarsehren und zur Leitung eines bedeutenden Landesarchivs aufgestiegen, das ius archivi in vollem Ausmaß in Händen hat. Aber macht sie etwas daraus und welche Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen sie ihr? Dieser Registrator/Archivar ist niemand anderer, als der in der bayerischen Archivgeschichte so bedeutsame Franz Josef Samet1. Alle Absolventinnen und Absolventen der Bayerischen Archivschule sind im Unterricht mit ihm vertraut gemacht worden. Dennoch sei hier ein kurzer Überblick über sein Berufsleben geboten. 1758 in München geboren, besuchte er das dortige Jesuitengymnasium mit gutem Erfolg. Sein Vater war ein Bäckerssohn aus der Oberpfalz, der in München zunächst als Schreiber arbeitete und später dann als Hofmarksverwalter der Hofmarken Harmating, Humbach und Fraßhausen, die der Münchner Patrizierfamilie Barth gehörten, einen wenn auch bescheidenen Karriereschritt vollzog. Sohn Franz arbeitete zunächst an der Seite seines Vaters als Schreiber beim Hofmarksgericht Harmating. Von 1781 bis 1783 war er als Jurastudent an der Landesuniversität in Ingolstadt, ein Semester auch in Göttingen, 1 Walter Jaroschka, Reichsarchivar Franz Joseph von Samet (1758–1828). In: Archive. Geschichte – Bestände – Technik. Festgabe für Bernhard Zittel (Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern, Sonderheft 8), München 1972, S. 1–27. Die folgende Kurzbiographie nach Jaroschka.
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eingeschrieben. Sein weiterer Lebensweg wurde entscheidend beeinflusst durch seine – übrigens lebenslange und sehr enge – Freundschaft mit den Brüdern Krenner, mit Johann Nepomuk Gottfried, dem älteren Krenner, und mit Franz de Paula, dem jüngeren Krenner. Vater Johann Georg Krenner war schon seit vielen Jahren Sekretär bei der Hofkammer gewesen und stieg 1780 zum Hofkammerrat auf, sein jüngerer Sohn Franz wurde ihm 1785 in der Funktion eines Hofkammerrats adjungiert. Samet war als Schüler und später als Student im Hause Krenner ständig aus- und eingegangen. Dies umso mehr, nachdem 1772 seine Mutter gestorben und Madame Krenner ihm gleichsam eine zweite Mutter geworden war; Samet nannte sie in Briefen oft Frau Mama. Als Samet sich zu Anfang des Jahres 1786 bewarb, die Hauptregistratur der kurfürstlichen Hofkammer in München neu einzurichten, hätte unter normalen Umständen sein Antrag keine Chancen gehabt, denn bislang war Samet noch keine Stunde in der Hofkammer tätig gewesen. Dass seinem Gesuch sofort entsprochen wurde, kann man nur so erklären, dass Vater Krenner und der jüngere Krenner ihren Schützling Franz Josef Samet entsprechend instruiert sowie behördenintern bestens vorgearbeitet und alle Hindernisse aus dem Weg geräumt hatten. Samet bewarb sich nicht um einen gewöhnlichen Registratorposten, sondern um die Aufgabe eines „Registratureinrichters“ und „Actenrevisors“, eine Funktion, die es bislang bei der Hofkammer nicht gab. Dass eine solche Aufgabe dringend vonnöten war, konnte nur ein Insider wissen. Am 26. April 1786 erhielt Franz Josef Samet sein Anstellungsdekret. Umgehend legte er einen Plan vor, wie „die churfürstliche Hauptcameralregistratur neu eingerichtet und zur erforderlichen Brauchbarkeit hergestellet werden kann“, wobei er sich auf einen gnädigsten Befehl vom 6. März 1786 berief.2 Unter den Formalia brachte er eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen zur Handhabung der Akten wie das Anbringen von Titelblättern, eine konsequente Produktnummerierung usw. vor. Bei dem zweiten Teil seines Plans, den materiellen Gesichtspunkten, fällt auf, dass er noch keine genauere Kenntnis der Hofkammerregistratur hat und deswegen auch keinen umfassenden Gliederungsplan vorlegen kann. Doch ein Punkt sticht hier heraus, der uns direkt zu unserer Fragestellung führt und deswegen zitiert werden soll: „Diejenigen älteren Acten so andere Hauptoriginaldocumenta, so viel deren etwa separirter oder verbundener sich vorfinden därften, welche die 2
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beträchtlichen landesfürstlichen Gerechtsamme schüzen und auf deren Daseyn und Erhaltung dem churfürstlichen höchsten Interesse und dem Staate mehr als an der ganzen übrigen Registratur gelegen seyn muß, werden von den übrigen Acten separirt, ihnen besondere Kästen gewidmet, dazu ein ganz eigenes Actenverzeichnuß verfast und also auf diese Weise ein kleines CameralArchiv zu stande gebracht“3. Das Wort „CameralArchiv“ ist im Originaltext unterstrichen. Obwohl Samet noch keine konkrete Kenntnis von der Hofkammerregistratur hat, ist es für ihn ein von Anfang an bestehender und vordringlicher Wunsch, neben bzw. in der Hofkammerregistratur ein eigenes Kameralarchiv einzurichten. Erst gut zwei Jahre später, am 28. September 1788, legte Samet einen umfassenden Plan vor, wie die Hofkammerregistratur in Zukunft strukturiert werden sollte4. Er beginnt mit der Feststellung: „Daß die churfürstl. Cameralregistraturen zu München in einer sehr grossen Unordnung und Verwirrung sich befinden, ist eine allgemein bekannte Sache“. Als Haupt ursache für die Unordnung benennt er die häufige Bildung von Nebenregistraturen, die alle separat verwaltet würden, sodass man keinen Überblick mehr habe, was wo verwahrt werde. Neben der Kameralhauptregistratur führt er elf Nebenregistraturen auf: 1. „Cameralhauptregistratur 2. Oberpfälzische Registratur 3. Salz- und Bräu-Registratur 4. Maut-Registratur 5. Straßen-, Brücken- und Wasserbau-Registratur 6. Plan-Conservatorium 7. Herzog Maxische Registratur 8. Hofanlags- und Scharwerks-Registratur (mit Visitationsrats-Registratur 1672 und Status-Commissions-Registratur 1756) 9. Siegel- und Kriegsbuchhalterey-Registratur 10. Decimations-Registratur 11. Rentamt Münchnerische Registratur (so Hofkammerrat von Schiesl bei sich zu Hause hat in einem eigens angemieteten Zimmer) 12. Umgelds-Registratur, die Herr Sekretär Faßmann in Handen hat.“ 3 4
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BayHStA, HR I Fasz. 277 Nr. 40, fol. 197. BayHStA, HR I Fasz. 277 Nr. 40, fol. 33–64.
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Zusätzlich hatte Samet noch folgende Entdeckungen gemacht: 13.
„auf dem Thurme, dan unter den Dachungen des Alten Hofs eine derley ungeheure menge alt und neuer Acten und Pappiere zu ganzen hauffen aufgethürmt und in einer solchen Unordnung, daß alle 8 statusmässige Registratoren mit vereinigtem Fleiße nicht im Stande sind, solche in Jahr und tag in Ordnung zu bringen.“ Parallel und ergänzend hierzu heißt es an anderer Stelle: „Auf dem Alten Hof-Gebäude zwei große Speicher, die theils mit alten, theils mit neuern Cameralacten angestopfet sind. Hierunter liegen auch 60 bis 80 große alte schwarzleinene Säcke, die wenigstens ein paar hundert Jahre lang nicht mehr geöfnet worden, und worin viele wichtige Pappiere verborgen seyn müssen“5.
Als wichtigste Maßnahme für eine Neustrukturierung der Registratur schlug er die Zusammenführung aller genannten Haupt- und Nebenregistraturen vor, dann die grundsätzliche Teilung der Registraturen in eine laufende Registratur und in eine reponierte, die er Conservatorium nennt. Die Grenzscheide soll das Jahr 1745 sein. Die Hauptgliederung der Registratur, sowohl der laufenden wie der reponierten, sollte nach den fünf Rentmeisterämtern erfolgen (also Amberg, Burghausen, Landshut, München und Straubing) und als sechste Hauptgruppe benennt er „die sogenannte Hofamts- oder eigentliche General-Hofkammerregistratur“. Darunter versteht er alles, was sich nicht topographisch unter eines der fünf Rentämter einteilen lässt. Hier sieht er zwei Teile6: 1. 2. 5 6
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Sämtliche Hofämter und Hofstäbe Ein Konglomerat von unterschiedlichsten Sachbereichen, unter ihnen – die Generalverordnungen – die Differenzen und Verhandlungen mit allen auswärtigen Staaten – das Plan-Conservatorium – sämtliche Saal- und Urbarbücher – die landschaftlichen Verhandlungen – Reichs-, Kreis-, dann Kammergerichts- und Reichshofratssachen
BayHStA, HR I Fasz. 277 Nr. 40, fol. 127 verso. BayHStA, HR I Fasz. 277 Nr. 40, fol. 33–64.
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Dieser zweite Teil lag Samet besonders am Herzen und diesen wollte er selbst betreuen. Als er am 23. April 1790 ein Promemoria über die Arbeitsverteilung unter den Registratoren vorlegte, wies er sich selber zu: „Das CameralConservatorium respect. Archiv“ und er führte hierunter die eben genannten Gegenstände erneut auf.7 Für Samet ist also das „CameralConservatorium“ identisch mit dem von ihm von Anfang an geplanten Archiv. Aber offensichtlich hat er es nicht gewagt, das erst noch zu formierende „CameralConservatorium“ zum Hofkammerarchiv erheben zu lassen. Oder ein solcher Versuch ist schon im Vorfeld gescheitert. In den folgenden zehn Jahren ist es beim Begriff „Conservatorium“ geblieben. Mit der ihm eigenen Tatkraft hat er wirklich einige Bestände formiert und detailliert verzeichnet, die für ihn den Kern dieses geplanten Hofkammerarchivs ausmachten: –
Die Gruppe der Urbar- und Salbücher, heute ein Bestand von 320 Bänden einschließlich des von Samet angelegten Repertoriums8.
–
Die Grenzakten, alphabetisch nach den Staaten gegliedert, zu denen Kurbayern in Beziehung stand (Ansbach – Würzburg), wobei die Anrainerstaaten besonders zahlenstarke Bestände ergaben. Samet bildete pro auswärtigem Staat zwei Teilbestände, einen naturgemäß kleineren für Grenzverträge (Terminologie Samets) und einen größeren für die Grenzakten. In den Jahren 1789 bis 1793 arbeitete er daran und fertigte die Repertorien9.
Die von Samet intensiv betriebene Zusammenführung der bisherigen Nebenregistraturen mit der Hauptregistratur sowie die Trennung in eine laufende Registratur (ab 1745) und eine alte Registratur (vor 1745) erforderte unabdingbar neue Archivräume, die Samet schließlich in der alten Hofstallung (Pferdeställe) im Südflügel des Alten Hofs fand. Im ersten Stock des Südflügels befand sich ohnehin schon die laufende Registratur der Hofkammer. Nach der Räumung der Ställe 1790 wurde im Erdgeschoss die untere (= ältere) Registratur eingerichtet, zu deren inneren Gliederung in 14 Abteilungen Samet eigenhändig eine Skizze fertigte und be-
BayHStA, HR I Fasz. 277 Nr. 40, fol. 116. BayHStA, Kurbayern Hofkammer, Conservatorium Camerale; das von Samet verfasste Repertorium ist als Band 338 angereiht. 9 BayHStA, Kurbayern Hofkammer, noch ohne Signatur. 7 8
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schriftete. Dieser neue große Archivsaal konnte nach Samets Plan Regale mit 4.529 Fächern aufnehmen.10
Eigenhändige Planskizze Franz Josef Samets (der 1790 neu geschaffenen) unteren Registratur im Alten Hof mit Beschriftung der Abteilungen (BayHStA, HR I Fasz. 277 Nr. 40, fol. 209).
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Die Aufhebung der Hofkammer 1799 im Zuge der Montgelas’schen Behördenreform beendete alle weiteren geplanten Schritte. Dass die Hoffnung Samets, aus dem Hofkammer-Conservatorium ein Hofkammerarchiv zu machen, nicht ganz unbegründet war, zeigt das Beispiel des – gemessen an der Hofkammer – viel kleineren und am Ende des 18. Jahrhunderts eigentlich ganz unbedeutend gewordenen Oberstlehenhofs. 1791 wurde die Oberstlehenhofsregistratur „in ein förmliches Archiv erhoben, sohin derselben die gebührende Archivs-Praerogativen eingeräumet und zugetheilt worden“ sind11. Worin diese Praerogativen bestanden, wird an dieser Stelle nicht ausgeführt, es war aber für den Verfasser dieser Schrift klar, dass ein Archiv gegenüber einer einfachen Registratur deutliche Vorrechte besaß, die wohl allgemein bekannt waren. Das Jahr 1799 bescherte Franz Josef Samet einen enormen Karriere sprung12. Im Zuge der Neuorganisation der kurfürstlichen Archive, bei der das Geheime Landesarchiv (für die innere Staatsverwaltung), das Geheime Staatsarchiv (für die auswärtigen Beziehungen) und das Geheime Hausarchiv (für die Belange des Herrscherhauses) entstanden, wurde Samet zum Leiter des Geheimen Landesarchivs ernannt, des mit Abstand größten dieser drei Archive. Auch hier spielten persönliche Beziehungen wieder eine große Rolle. Es war sein alter Freund aus Kindheits- und Jugendtagen Johann Nepomuk von Krenner, inzwischen zum Geheimen Legationsrat beim Ministerialdepartement der Auswärtigen Angelegenheiten aufgestiegen, der mit der Neuorganisation beauftragt worden war und mit warmen und lobenden Worten Franz Josef Samet für diese Position in Vorschlag gebracht hatte13. Er bezeichnete in seinem Gutachten Samet als einen Mann, „welcher inner verhältnismäßig kurzen 10 Jahren bereits eine derley herkulische Arbeit geleistet hat und der durch dessen ausgezeichneten und zu derley Geschäften erforderlichen Scharfsinn, Treue, Fleiß und Kenntnisse diesen Posten mit dem besten Erfolg bekleiden wird“. Nun endlich war Samet Archivar geworden und das nicht nur bei einem Behördenarchiv, sondern bei einem der drei zentralen Landesarchive. War schon Josef Burgholzer, Allgemeine Geschichte der Archive und Registraturen, München 1796, S. 151 (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Staatsverwaltung 3360). 12 Für das Folgende: Jaroschka (wie Anm. 1) S. 7. – Elisabeth Weinberger, Schatzkammer – Herrschaftsinstrument – Gedächtnis des Freistaats Bayern. 100 Jahre Bayerisches Hauptstaatsarchiv. In: 100 Jahre Bayerisches Hauptstaatsarchiv (Staatliche Archive Bayerns – Kleine Ausstellungen 66), München 2021, S. 17–52, hier S. 25 f. 13 BayHStA, MA 9472. – Jaroschka (wie Anm. 1) S. 7. 11
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die Neustrukturierung der Hofkammerregistraturen eine enorme Aufgabe, so wurde sie bei weitem in den Schatten gestellt durch die Anforderungen, die die Formierung des Geheimen Landesarchivs aus einer großen Zahl bisher bestehender kurbayerischer, pfalz-neuburgischer und kurpfälzischer Archive und Behördenregistraturen mit sich brachte14. 1802/1803 folgte in Bayern die Säkularisation der Hochstifte und Klöster, deren Archive einen enormen Zuwachs für das Landesarchiv bedeuteten, bald darauf die Mediatisierung der reichsfreien Herrschaften und der Reichsstädte mit nochmals gewaltigen Archivalienzuflüssen. Das Archiv der bayerischen Landstände wurde 1808 weitgehend vollständig dem Landesarchiv eingegliedert. Obwohl Samet also mit archivischen Strukturierungsarbeiten mehr als beschäftigt war, hat er sich im Jahr 1804 selbst anerboten, bei der Herausgabe der Monumenta Boica durch die Kurbayerische Akademie der Wissenschaften mitzuwirken und hierzu die Druckvorlagen zu liefern15. Auch wenn vermutlich Lorenz Westenrieder, damals der Sekretär der Historischen Klasse der Akademie, der spiritus rector bei diesem Angebot gewesen ist, so hat Samet diese Anregung bereitwillig aufgegriffen. Was stand hier im Hintergrund? Für die kurfürstliche Akademie war durch die Säkularisierung der Klöster die schwierige Situation entstanden, dass nun zwar die allermeisten Klosterarchive Altbayerns sich im Geheimen Landesarchiv befanden, dort aber eine wissenschaftliche Benützung grundsätzlich nicht vorgesehen war. Insbesondere die landesherrlichen Archive hatten nach damaliger Definition die alleinige Aufgabe, der Wahrung und Verteidigung der landesherrlichen Rechte zu dienen, was eine wissenschaftliche Benützung durch Dritte zunächst ausschloss. Mit dem Kunstgriff, den Leiter des Geheimen Landesarchivs in das Editionsprojekt einzubinden, gelang es, eine eigentlich gar nicht gegebene Archivbenützung elegant zu umgehen. Die Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften war für Samet der Lohn16. Die Druckvorlagen für den 17. Band der Monumenta Boica, der die Urkunden der Klöster Altenhohenau, Hohenwart und Schamhaupten bieten sollte, wie auch für die Bände 18 bis 21 entstanden in der Weise, dass ein im Lesen der Urkundenschriften erfahrener Schreiber bzw. Sekretär des Geheimen Landesarchivs die Abschriften fertigte und anschließend der Geheime Weinberger (wie Anm. 12) S. 26–28. Joachim Wild, Die Monumenta Boica nach 1803 und der Geh. Landesarchivar Franz Josef Samet. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 80 (2017) S. 433–447. 16 Ebd. S. 436–439. 14 15
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Landesarchivar Samet gemeinsam mit seinem Freund Lorenz Westenrieder persönlich die Abschriften mit den Originalen kollationierte. In der Vorrede zum 1806 erschienenen Band 17, übrigens der erste, der seit 1795 die Reihe fortsetzte, beschrieb Westenrieder diesen Arbeitsvorgang. Auf die Vorrede folgt ein Testimonium, in dem Samet – unter Anführung seiner vollen Amtstitulatur – versichert, dass die in diesem Band gebotenen Urkunden nicht nur von den Originalen sorgfältig abgeschrieben worden seien, sondern, was die Hauptsache sei, mit den Originalen „ea methodo, cura et attentione“ (Methode, Sorgfalt und Aufmerksamkeit) kollationiert worden seien, so dass sie die gebührende Förmlichkeit und Rechtskraft erhielten („ut debitum solemnitatem et vim juris et legis obtineant“). Zur Beglaubigung unterschreibe er dieses feierliche und öffentliche Testimonium17. Sowohl die Vorrede wie erstaunlicherweise auch das Testimonium Samets stammen aus der Feder Westenrieders, der sich hier erneut als die treibende Kraft im Hintergrund erwies18. In diesen beiden Texten begegnet uns eine direkte Anspielung auf das ius archivi, insbesondere mit der Aussage, wenn ein Archivar die Urkunde abschreibe und (in unserem Fall der Landesarchivar selbst) die Abschrift mit dem Original sorgfältig kollationiere, dann besitze dieser Text Beweiskraft. Das ius archivi sagt eigentlich nur aus, dass Schriftstücke, die aus einem Archiv vorgelegt werden, regelmäßig Glaubwürdigkeit verdienen und keines anderen, von außen kommenden Beweises bedürfen19. Weil aber die im 18. Jahrhundert erschienenen 16 Bände der Monumenta Boica wiederholt harsche Kritik erfahren mussten und in überspitzt aufklärerischem Duktus z.B. als „Misgeburt von mönchischer Arbeit“ tituliert wurden20, wollte Samet (und mit ihm Westenrieder) jeder zukünftigen Kritik die Spitze nehmen, indem die vielfach gerügte Ungenauigkeit der ersten 16 Bände nun ab dem 17. Band als konsequent getilgt dargestellt wurde. Die von Samet und Westenrieder praktizierte Arbeitsweise sollte eine zusätzliche Garantie sein, dass bei jeder abgedruckten Urkunde ein Vgl. auch Wolf Bachmann, Die Attribute der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1807–1827 (Münchener Historische Studien Abt. Bayerische Geschichte 8), Kallmünz 1966, S. 253. 18 Wild (wie Anm. 15) S. 441 mit Anm. 35. 19 Artikel Ius Archivi in http://de.wikipedia.org/wiki/Ius_Archivi (zuletzt am 14.1.2021 um 10:08 bearbeitet) (aufgerufen am 17.11.2021). 20 Andreas Kraus, Die historische Forschung an der Churbayerischen Akademie der Wissenschaften (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 59), München 1959, S. 182–188, hier S. 183. 17
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(Vorrede und) Testimonium Franz Josef Samets zu Monumenta Boica. Volumen Decimum Septimum edidit Academia Scientiarum Boica, Monumenta Altenhohenauensia, Hohenwartensia, Schaumhauptensia, Monachii 1806 (BayHStA, Amtsbibliothek). Als Internetressource abrufbar unter: https://www.deutschedigitale-bibliothek.de/item/CSCQ6BC2RSPUA6POVLEAMFN7LRP6H4XW.
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absolut korrekter Text dargeboten wird. Auf den durchaus zu Fragen herausfordernden Umstand, dass 1806 die Urkunden der bayerischen Klöster höchstens seit drei Jahren im Geheimen Landesarchiv verwahrt worden sein konnten, ging das Editorengespann nicht ein. Ganz unbestreitbar war in der Unterbringung der Urkunden in jüngster Zeit ein deutlicher Bruch eingetreten, der eigentlich noch dadurch verschärft wurde, dass die Urkunden der Klöster meistens nicht unmittelbar nach der Aufhebung der Klöster ins Geheime Landesarchiv transferiert wurden, sondern oft Monate, in einigen Fällen sogar erst Jahre später. In dieser Zwischenzeit waren sie in ihrer bisherigen Lokalität im aufgehobenen Kloster geblieben, wobei zwar der Aufhebungskommissär den Zugang versiegelt hatte, aber es niemanden gab, der nach der Abreise des Aufhebungsbeamten ein Auge auf die Sicherheit des Archivguts gehabt hätte21. Lorenz Westenrieder hatte Samet in seiner Vorrede volltönend „sagacissimus rerum diplomaticarum indagator“ (scharfsinnigster Erforscher der Diplomatik) genannt. Heute wissen wir, dass dieses Lob nicht der Wahrheit entsprach22. Samet war ohne Zweifel ein geübter Paläograph, aber vom discrimen veri ac falsi, der Unterscheidung von echt und gefälscht, verstand er wenig, und er machte auch gar nicht den Versuch, in diese Sphären vorzudringen. Diplomatik hatte Samet trotz gegenteiliger Behauptung nicht gelernt, und man gewinnt aus seinen Worten den Eindruck, er setze Diplomatik mit Paläographie gleich: „… daß ich mich schon seit langer Zeit auf die Diplomatick oder das Studium, alle alten lateinische und teutsche Schriften zu lesen, ihr Zeitalter zu erkennen, zu copiren u.d.g. mit ganz besonderer Neigung und Fleiss verleget“ 23. Grundsätzlich hat es ihn zu wissenschaftlicher Tätigkeit nicht hingezogen und es sind von ihm fast keine Werke bekannt24. Die von ihm 1804 verfasste Schrift „Beiträge zur Geschichte der Hofkammer“ z.B. ist im Grunde sehr enttäuschend, weil er darin nur die Hofkammerordnungen in chronologischer Ordnung anführt und interpretiert, aber von einer eigentlichen
21 Hierzu umfassend: Walter Jaroschka, Die Klostersäkularisation und das Bayerische Hauptstaatsarchiv. In: Glanz und Ende der alten Klöster. Säkularisation im bayerischen Oberland 1803 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur Nr. 21/91), München 1991, S. 98–121. 22 Wild (wie Anm. 15) S. 442 f. 23 BayHStA, MF 12.782/4. 24 Jaroschka (wie Anm. 1) S. 21–23.
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Geschichte der Hofkammer weit entfernt ist25. Es ist nicht übertrieben, wenn man behauptet, dass sich bei Samet die Urkundenkritik auf ein akribisch genaues Lesen reduziert. Außerdem stellt sich die Frage, ob er die Bedeutung des Begriffes ius archivi richtig sieht, denn ein Großteil der im Geheimen Landesarchiv verwahrten Urkunden ist erst in den Jahren um 1800 dorthin transferiert worden. Landesarchivar Franz Josef Samet hatte Glück, dass er wegen seiner vollmundigen Testimonia nie in Regress genommen worden ist. Noch in seiner Amtszeit hat einer seiner Kanzlisten, Josef Selhamer mit Namen, eine gelehrte Fälschung verfertigt, die das Stadtrecht von Burghausen, angeblich aus dem Jahr 1307 stammend, sein soll. Das Machwerk ist in paläographischer Hinsicht erstaunlich gut gelungen und deshalb auch lange Zeit nicht erkannt worden. Erst vor einigen Jahren hat eine Archivarin des Bayerischen Hauptstaatsarchivs unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten einer akribischen diplomatischen Untersuchung das Falsifikat als solches überzeugend nachgewiesen26. Der Begriff „ius archivi“ wird von Samet nie wörtlich zitiert und in Anspruch genommen. Aber Samet sonnt sich durchaus in seiner Funktion des Direktors des Geheimen Landesarchivs, das fraglos das ius archivi besitzt. Die von ihm im Rahmen der Urkundeneditionen der Monumenta Boica so heftig und im Verein mit Lorenz Westenrieder betriebene Kollationierung der Urkundenabschriften mit den Originalurkunden hat eigentlich nur am Rande etwas mit dem ius archivi zu tun. Sie resultiert vielmehr aus dem Bestreben, der überaus heftigen Kritik an den im 18. Jahrhundert erschienenen 16 Bänden der Monumenta Boica für die zukünftigen Bände den Boden zu entziehen. Doch hat das ius archivi wesentlich dazu beigetragen, dass Samet die Mitgliedschaft in der Kurbayerischen Akademie der Wissenschaften angetragen wurde. Ihm als Oberregistrator der Hofkammer wäre diese Ehre sicherlich nicht zuteil geworden.27
BayHStA, Nachlass Montgelas Nr. 214. Diese Schrift wurde anscheinend nur Staatsminister Montgelas überreicht, aber nicht veröffentlicht. 26 Elisabeth Noichl, Späte Blüte – oder warum wurde das Burghauser Stadtrecht von 1307 erst im 19. Jahrhundert wirksam? In: Archiv für Diplomatik 59 (2013) S. 165–207. – Wild (wie Anm. 15) S. 446. 27 Der Aufsatz basiert auf dem Vortrag des Verfassers beim Archivwissenschaftlichen Fachgespräch „Archive im Alten Reich als Herrschaftsinstrumente“ am 28. November 2019 in der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns. 25
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Geschichtsschreibung, Staatsrecht und Archivtheorie in den Territorien der pfälzischen Wittelsbacher (mit besonderer Berücksichtigung der pfalz-zweibrückischen Archivare Johann Heinrich und Georg August Bachmann) Von Paul Warmbrunn Einleitung Die Darstellung der Geschichte der rheinischen Pfalzgrafschaft zählt „zu den schwierigsten Aufgaben der deutschen Landesgeschichte“;1 dies trifft wohl auch für das Archivwesen und seine Geschichte zu. Einem nicht allzu großen und vor allem stark zersplitterten Territorium und einer äußerst vielschichtigen Binnenstruktur durch mehrfache Trennung in Neben- und Seitenlinien mit Erbfolgen innerhalb der Dynastie stehen andererseits der hohe Rang der Kurpfalz als vornehmstes weltliches Kurfürstentum, vielfältige und strukturell unterschiedliche Konflikte mit den Nachbarmächten und ein intensives, mit der Kurwürde verbundenes reichspolitisches Engagement gegenüber. Dem entspricht ein reichhaltiges und ausdifferenziertes, in Vergangenheit wie Gegenwart auf verschiedene Standorte verteiltes Archivwesen, von dem im Folgenden zwei Komplexe exemplarisch herausgegriffen werden sollen: das Kurarchiv der regierenden Pfalzgrafen bei Rhein bzw. pfälzischen Kurfürsten2 und das Archiv des Herzogtums Alois Gerlich, Geschichtliche Landeskunde des Mittelalters. Genese und Probleme, Darmstadt 1986, S. 49. – An Überblicksdarstellungen zur Geschichte der pfälzischen Wittelsbacher und der Kurpfalz seien hier nur herausgegriffen: Ludwig Häusser, Geschichte der Rheinischen Pfalz nach ihren politischen, kirchlichen und literarischen Verhältnissen, 2 Bde., Heidelberg 1845, ND Pirmasens 1971; Meinrad Schaab, Geschichte der Kurpfalz, Bd. 1: Mittelalter, Stuttgart u.a. 1988, Bd. 2: Neuzeit, Stuttgart u.a. 1992; zur Verwaltungsgeschichte s. Volker Press, Die Wittelsbachischen Territorien: Die pfälzischen Lande und Bayern. In: Kurt G. A. Jeserich – Hans Pohl – Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, S. 552–599. 2 Vgl. Max Josef Neudegger, Geschichte der pfalz-bayerischen Archive der Wittelsbacher, Teil IV: Das Kur-Archiv der Pfalz zu Heidelberg und zu Mannheim, München 1890/1894 (Separat-Abdrucke aus der Archivalischen Zeitschrift 14 [N.F. 1] (1890) S. 203–240 (= S. 12–49), 15 [N.F. 2] (1891) S. 289–373 (= S. 51–135) und 17 [N.F. 4] (1893) S. 1–105 (= S. 137–241). 1
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Pfalz-Zweibrücken, das am Ende des Alten Reiches dank der Wirksamkeit der Archivarsfamilie Bachmann besondere Bedeutung erlangte.3 An ihrem Beispiel lässt sich der Zusammenhang von aus dem Staatsrecht erwachsener Geschichtsschreibung, Theoriebildung und archivischer Praxis besonders gut aufzeigen. Anfänge des Archivwesens d e r p f ä l z i s c h e n Wi t t e l s b a c h e r Die Wittelsbacher, seit 1180 Herzöge von Bayern, wurden 1214 vom deutschen König Friedrich II. auch zu „Pfalzgrafen bei Rhein“ ernannt und mit Ländereien am Ober- und Mittelrhein belehnt.4 Über ein Jahrhundert lang konnte in den rheinischen Besitzungen von einer stetigen Hofhaltung mit Regierungs- und zentraler Verwaltungstätigkeit aber keine Rede sein. Erst als das frühere Nebenland im Hausvertrag von Pavia 1329 – und endgültig 1353 mit dem Regierungsantritt Ruprechts I. – territoriale Eigenständigkeit erlangte und zum Kurfürstentum aufstieg, konnte – mit Hilfe von Fachkräften aus den hierin weiter fortgeschrittenen geistlichen Nachbarterritorien, darunter auch Speyerer und Wormser Bischöfen – ein hoch entwickeltes Verwaltungs- und Schriftwesen aufgebaut werden.5 In ihm nahm die fürstliche Kanzlei6 – aus der während der Re3 Hierzu v.a. Paul Warmbrunn, Spätblüte von Archivwesen und Rechtsgelehrsamkeit in einem historisch bedeutsamen Kleinterritorium. Das Wirken von Johann Heinrich und Georg August Bachmann in Pfalz-Zweibrücken in der Endphase des Ancien Régime und in der Übergangszeit. In: Volker Rödel (Hrsg.), Umbruch und Aufbruch. Das Archivwesen nach 1800 in Süddeutschland und im Rheinland (Werkhefte der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg A 20), Stuttgart 2005, S. 77–99. 4 Zur Pfalzgrafschaft bei Rhein bzw. Kurpfalz im Mittelalter s. jetzt Jörg Peltzer – Bernd Schneidmüller – Stefan Weinfurter – Alfried Wieczorek (Hrsg.), Die Wittelsbacher und die Kurpfalz im Mittelalter – Eine Erfolgsgeschichte? Regensburg 2013, hier zur Verwaltungs- und Archivgeschichte: Volker Rödel, Ämter und Kanzlei am kurpfälzischen Hof, S. 263–280. 5 Vgl. Rödel, Ämter und Kanzlei (wie Anm. 4), bes. S. 279 f. 6 Grundlegend zur kurpfälzischen Kanzlei jetzt: Ellen Widder, Kanzler und Kanzleien im Spätmittelalter. Eine „Histoire croisée“ fürstlicher Administration im Südwesten des Reiches (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in BadenWürttemberg, Reihe B, 204), Stuttgart 2016, bes. S. 127–500; vgl. auch Henry J. Cohn, Die Herrschaft in der Pfalz am Rhein im 15. Jahrhundert (Stiftung zur Förderung der Pfälzischen Geschichtsforschung, Reihe B, 16), Neustadt a.d. Weinstraße 2013, hier S. 197–206 (Übersetzung von Ders., The Government of the Rhine Palatinate in the fifteenth Century, London 1965).
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gierungszeit König Ruprechts I. 1400 bis 1410 problemlos die königliche Hofkanzlei organisiert werden konnte7 – eine Schlüsselrolle ein. In der Residenz der pfälzischen Wittelsbacher in der Unteren Burg auf dem Jettenbühl8 befand sich das nach Christoph von Brandenstein9 1388, nach neueren Forschungen von Joachim Spiegel10 aber schon 1349 erstmals und dann mehrfach in der Teilungsurkunde von 1410 urkundlich nachgewiesene „Briefgewölbe“11 als Schatzarchiv – Auslesearchiv – des regierenden Herrscherhauses in Nachbarschaft zur kurfürstlichen Schatzkammer und der Burgkapelle. In der bis 1621 kurpfälzischen Oberen Pfalz verfügte das Amberger Schloss über ein 1436 erstmals erwähntes Briefgewölbe, ebenso wie die Kanzlei der Neumarkter Pfalzgrafen.12 Seit der Zeit König Ruprechts stieg in der kurpfälzischen Verwaltung (mit dem Rat als eigentlichem Regierungsorgan) der Anteil der akademisch gebildeten bürgerlichen Juristen, was auch Auswirkungen auf das Kanzlei- und Archivwesen hatte.
Vgl. Rödel, Ämter und Kanzlei (wie Anm. 4) S. 272–274. Ab 1401 wurde sie zum Schloss ausgebaut, 1479 erweitert und 1689/93 zerstört. Heute steht dort die weltberühmte Ruine des Heidelberger Schlosses; vgl. Achim Wendt – Michael Benner, Das Heidelberger Schloss im Mittelalter. Bauliche Entwicklung, Funktion und Geschichte vom 13. bis zum 15. Jahrhundert. In: Volker Rödel (Red.), Mittelalter. Der Griff nach der Krone. Die Pfalzgrafschaft bei Rhein im Mittelalter (Schätze aus unseren Schlössern 4), Regensburg 2000, S. 165–181, hier S. 177. 9 Christoph Frhr. von Brandenstein, Urkundenwesen und Kanzlei, Rat und Regierungssystem des Pfälzer Kurfürsten Ludwig III. (1410–1436) (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 71), Göttingen 1983, hier S. 200. 10 Joachim Spiegel, Urkundenwesen, Kanzlei, Rat und Regierungssystem des Pfalzgrafen bei Rhein und Herzogs von Bayern Ruprecht I. (1309–1390), 2 Bde. (Stiftung zur Förderung der Pfälzischen Geschichtsforschung, Reihe B, 1), Neustadt a.d. Weinstraße 1996 und 1998, hier Bd. 1, S. 199. 11 S. Neudegger, Kur-Archiv (wie Anm. 2) S. 21. – Brandenstein (wie Anm. 9) S. 200. – Spiegel (wie Anm. 10) S. 199 f. 12 Vgl. zum Archivwesen der Oberpfalz, auf das hier nicht näher eingegangen werden kann, z.B. Karl-Otto Ambronn – Rudolf Fritsch (Bearb.), Vom mittelalterlichen Briefgewölbe zum modernen Staatsarchiv. Eine Ausstellung zur Geschichte des Staatsarchivs Amberg [28. Juli bis 19. September 2003] (Staatliche Archive Bayerns – Kleine Ausstellungen 20), München 2003. 7 8
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A r c h i v w e s e n u n d G e s c h i c h t s s c h re i b u n g i n d e r Ku r p f a l z i n d e r Fr ü h e n Ne u z e i t Auch als die Heidelberger kurpfälzische Kanzlei nach einem Brand 1462 ein neues Gebäude unten in der Stadt nahe der Heiliggeistkirche erhielt,13 verblieb das Briefgewölbe bis zum Dreißigjährigen Krieg – weitgehend ohne Verluste und bis 1581 auf 20.000 Urkunden angewachsen – auf dem Schloss.14 Zur Kanzlei, die dem kurfürstlichen Kanzler unterstellt war, gehörte die Registratur, deren Grundbestand die Pfälzer Kopialbücher bildeten. Die Aktenablage befand sich zum Teil in der Kanzlei, zum Teil im Briefgewölbe des Schlosses. 1577 war die Registratur in Unordnung geraten; mit ihrer Reorganisation beauftragte der selbst mit historischen Veröffentlichungen hervorgetretene Kurfürst Ludwig VI. den späteren Kanzler Justus (auch Jost bzw. Jobst) Reuber (1542–1607)15, promovierter Jurist und zuvor Advokat am Reichskammergericht in Speyer, der eine neue Registraturordnung erstellte. Ein wesentliches Antriebsmoment für Reuber war die Suche nach Beweismaterial – „archivalischen Waffen“, wie Volker Press schreibt – für die kurpfälzische Mediatisierungspolitik gegenüber der Reichsritterschaft; damit tritt uns auch in den wittelsbachischen Ländern ein Juristenarchivar im Dienst seiner Landesherrschaft entgegen. Was die Verbindung juristischer Kenntnisse mit historischem Interesse betrifft, kann der etwas später in Heidelberg wirkende Hofgerichtsrat Marquard Freher16 (1564– 1615) Reuber – freilich ohne dessen enge Affinität zum Registratur- bzw. Archivwesen – zur Seite gestellt werden.17 Mit seinen „Origines Palatinae“18 Vgl. Cohn (wie Anm. 6) S. 205. Vgl. Neudegger, Kur-Archiv (wie Anm. 2) S. 47. Zur Geschichte von Kanzlei und Schriftgutverwaltung der Kurpfalz in der Frühen Neuzeit s. insbesondere Volker Press, Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz (Kieler Historische Studien 7), Stuttgart 1970, besonders S. 15–20 und 58–77. 15 Zur Biographie Reubers vgl. Press (wie Anm. 14) S. 69 f. 16 Vgl. Hermann Wiegand, Marquard Freher – der Vater der pfälzischen Geschichtsforschung (Förderkreis Lebendige Antike Ludwigshafen – Schriftenreihe 23), Ludwigshafen 2015, mit weiterführenden Literaturangaben auf S. 28 f. – Jörg Kreutz – Hermann Wiegand (Hrsg.), Marquard Freher (1565–1614). Historiker, Jurist und Dichter der Kurpfalz (Rhein-Neckar-Kreis, Bausteine zur Kreisgeschichte 11), Heidelberg 2016. 17 Vgl. Press (wie Anm. 14) S. 465 f. 18 Marquard Freher, Originum Palatinarum commentarius pars prima et secunda, 1. Aufl. Heidelberg 1599. Weitere Auflagen erschienen 1612/13, 1686 und 1748. Vgl. auch Irmgard Bezzel, Marquard Frehers „Origines Palatinae“ und der Streit um die pfälzische Kurwürde. In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 62 (1964) S. 59–65. 13 14
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(erstmals 1599) gilt er als „Vater der pfälzischen Geschichtsschreibung“, verteidigte aber auch, ganz im Sinne und Dienste der Landesherrschaft, 1610 mit juristisch-historischen Deduktionen gegen Bayern und Pfalz-Neuburg den Kurpfälzer Anspruch auf das Reichsvikariat.19 Erste Verlagerungen von Teilen des Archivs und auch gravierende Verluste brachten die Kriege des 17. Jahrhunderts, zuletzt die Flüchtung nach Straßburg 1689 im Pfälzischen Erbfolgekrieg. Nachdem die Residenz unter Kurfürst Johann Wilhelm von der seit 1685 regierenden katholischen Linie Pfalz-Neuburg zeitweise in Düsseldorf gewesen war, erlebte Mannheim 1720 bis 1777 seine Blütezeit als kurpfälzische Hauptstadt.20 Im neu erbauten Residenzschloss wurden bis 1749 die aus London, Paris und Straßburg heimgeholten Archivalien untergebracht. Seit 1756 wurde das Kurarchiv in drei eigens hierfür hergerichteten Räumen im Erdgeschoss des Bibliotheksbaus im Ostflügel des Mannheimer Schlosses aufbewahrt. 1763 gründete Kurfürst Karl Theodor nach dem Vorbild der seit vier Jahren bestehenden Kurbayerischen Akademie in München die „Kurpfälzische Akademie der Wissenschaften“ in Mannheim.21 Mit der bis zum Ende der Kurpfalz 1803 bestehenden Akademie, nur einer von sechs im Reich, wurde Mannheim Teil der europäischen, von der Aufklärung geprägten Gelehrtenrepublik. Der Akademie waren die höfischen Sammlungen, darunter die Bibliothek und das Archiv, zugeordnet; ihr erster Direktor, Johann Georg Anton von Stengel, war gleichzeitig kurpfälzischer Kanzleidirektor und Staatsrat in Mannheim und München.22 Angeregt Vgl. Wiegand (wie Anm. 16) S. 12 f. – Press (wie Anm. 14) S. 465. Zusammenfassend Ulrich Niess – Michael Caroli (Hrsg.), Geschichte der Stadt Mannheim, Band 1: 1607–1801, Heidelberg u.a. 2007, hier die Beiträge von Hermann Wiegand, Auf dem Weg zur Residenz unter Kurfürst Karl Philipp, S. 332–371, und Stefan Mörz, Glanz der Residenz zur Karl-Theodor-Zeit, S. 372–527. Zur Karl-Theodor-Zeit s. auch Stefan Mörz, Haupt- und Residenzstadt. Carl Theodor, sein Hof und Mannheim (Kleine Schriften des Stadtarchivs Mannheim 12), Mannheim 1998. 21 Vgl. Ludwig Eid, Die gelehrten Gesellschaften der Pfalz, Speyer 1926. – Mörz, Residenz (wie Anm. 20) S. 501–504. – Wilhelm Kreutz, Aufklärung in der Kurpfalz: Beiträge zu Institutionen, Sozietäten und Personen (Rhein-Neckar-Kreis, Historische Schriften 4), Ubstadt-Weiher u.a. 2008, hier S. 43–57. – Ders., Die „Kurpfälzische Akademie der Wissenschaften“ in Mannheim und die „Kameral-Hohe-Schule“ in (Kaisers-)Lautern – Bildung im Aufklärungsjahrhundert. In: Angelo van Gorp – Ulrich Andreas Wien (Hrsg.), Weisheit und Wissenstransfer. Beiträge zur Bildungsgeschichte der Pfalz (Forschungen zur Pfälzischen Landesgeschichte 1), Ubstadt-Weiher u. a. 2018, S. 43–56, hier S. 43–50. 22 Vgl. Caroline Gigl, Die Zentralbehörden Kurfürst Karl Theodors in München 1778– 1799 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 121), München 1999, bes. S. 134, 235 und 237. 19 20
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als Akademie zum Studium der Landesgeschichte von dem bedeutenden Straßburger Geschichtsschreiber Johann Daniel Schöpflin, hatte sie anfangs einen eindeutigen Schwerpunkt in der historische Klasse;23 neben der Herausgabe des Lorscher Codex nahm sie sich insbesondere der Erforschung der mittelalterlichen Ursprünge des Pfalzgrafenamts an, um – wie von der Landesherrschaft gewünscht – dessen hohes Alter nachzuweisen.24 Weitere herausragende Vertreter der Geschichtsschreibung in der Akademie waren Andreas Lamey, Christoph Jakob Kremer und Georg Christian Crollius. Als Karl Theodor 1778 nach dem Tod des letzten bayerischen Wittelsbachers seine Residenz von Mannheim nach München verlegte, mussten die wittelsbachischen Hausurkunden und Staatsakten vom nunmehrigen „kurpfalz-bayerischen Landesarchiv“ in Mannheim an das „Hauptarchiv der vereinigten kurpfalzbayerischen Lande“ in München ausgeliefert werden. Dies war der Anfang der endgültigen und dauernden Aufteilung des pfälzischen Kurarchivs vor allem auf die zentralen Archive in München (Bayerisches Hauptstaatsarchiv) und Karlsruhe (Generallandesarchiv).25 Nachdem auch Karl Theodor 1799 ohne legitime Erben gestorben war, beerbten ihn seine Verwandten aus der – als einzige der wittelsbachischen Linien bis heute bestehenden – Nebenlinie Pfalz-Zweibrücken-Birkenfeld und regierten künftig als Herzöge / Kurfürsten von Pfalz-Bayern und 1806 bis 1918 als Könige von Bayern. Di e A n f ä n g e d e s p f a l z - z w e i b r ü c k i s c h e n A r c h i v w e s e n s b i s z u m B e g i n n d e r „ Ä r a Ba c h m a n n “ u n d d e r E r r i c h tung eines eigenen Archivgebäudes 1744/47 Die Erbteilung der kurpfälzischen Territorien nach dem Tod König Ruprechts 1410 begründete neben der Kurlinie und den bereits im 15. Jahrhundert ausgestorbenen Linien Pfalz-Neumarkt(-Neunburg) und PfalzMosbach die Linie Pfalz-Simmern-Zweibrücken, aus der bei einer weiteren Vgl. hierzu Peter Fuchs, Palatinatus illustratus. Die historische Forschung an der kurpfälzischen Akademie der Wissenschaften, Mannheim 1963. – Jürgen Voss, Universität, Geschichtswissenschaft und Diplomatie im Zeitalter der Aufklärung: Johann Daniel Schöpflin (1694–1771), München 1979. – Mörz, Residenz (wie Anm. 20) S. 502. 24 Vgl. Mörz, Residenz (wie Anm. 20) S. 502. 25 Zur Neuorganisation des pfalz-bayerischen Archivwesens 1799 vgl. Max Josef Neu degger, Geschichte der Bayerischen Archive IIIa: Die Organische Umgestaltung der drei Haupt-Archive in München seit 1799, München 1904. – Gigl (wie Anm. 22) S. 245. 23
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Teilung 1453/59 die Herzogtümer Pfalz-Simmern und Pfalz-Zweibrücken hervorgingen.26 Damit war 1410 auch das „Geburtsjahr“ eines eigenen pfalz-zweibrückischen Archivs,27 denn Herzog Stephan I. wurden aus dem Kurarchiv in Heidelberg alle Urkunden ausgehändigt, die sich auf die ihm in der Teilung zugefallenen Landesteile bezogen. Mit dem alten gräflich zweibrückischen und dem pfalz-veldenzischen Archiv bildeten sie künftig den Kern des zweibrückischen Hauptarchivs, das neben der Kanzlei und den herzoglichen Behörden in Zweibrücken, seit 1459 ständiger Sitz der Regierung, verwahrt wurde. Es war zunächst in dem alten, unter Herzog Wolfgang28 erheblich erweiterten Grafenschloss,29 später – zusammen mit der Bibliothek – in dem von Wolfgangs Sohn und Nachfolger Johann I. um 1589 errichteten „Langen Bau am Wasser“ untergebracht.30 Das an Kriegen reiche 17. Jahrhundert überstand das Archiv – auch dank rechtzeitiger Auslagerung in der Zeit der Reunionen und der „Schwedenzeit“ (1681–1718) – glücklicherweise ohne gravierende Einbußen.31 Zusammenfassend Paul Warmbrunn, Pfalz-Simmern-Zweibrücken/Pfalz-Zweibrücken, Herzogtum, publiziert am 04.04.2017. In: Historisches Lexikon Bayerns, http://www. historisches-lexikon-bayerns.de/Pfalz-Simmern-Zweibrücken/Pfalz-Zweibrücken, Herzogtum (eingesehen am 11.11.2019), mit weiterführenden Literaturangaben. 27 Eine erste Archivgeschichte des Herzogtums Zweibrücken und seiner Vorgänger-Territorien gibt Johann Heinrich Bachmann selbst in der Vorrede zu: Pfalz-Zweibrükisches (!) Staats-Recht, Tübingen 1784, S. II–IX. Immer noch grundlegend zur pfalz-zweibrückischen Archivgeschichte: Max Josef Neudegger, Geschichte der pfalz-bayerischen Archive der Wittelsbacher, Teil V: Das herzogliche Archiv zu Zweybrücken mit seinen Neben-Archiven Veldenz, Sponheim und Rappoltstein, München 1896, siehe S. 217 Anm. 2. – Kurzer Überblick: Paul Warmbrunn, Das Archivwesen. In: Charlotte Glück-Christmann (Hrsg.), Die Wiege der Könige – 600 Jahre Herzogtum Pfalz-Zweibrücken, Zweibrücken 2010, S. 393–395. 28 Der für die Profan- wie Kirchengeschichte des Herzogtums bedeutsame Regent ließ 1559 auch eine neue Kanzlei-Ordnung durch seinen Kanzler Ulrich Sitzinger erstellen (Abdruck bei: Philipp Keiper – Rudolf Buttmann [Hrsg.], Kanzlei-Ordnung des Herzogs Wolfgang von Pfalz-Zweibrücken vom 2. Januar 1559, Speyer 1899), und 1567 ließ sich Wolfgang einen ausführlichen Bericht über die Ordnung der Registratur vorlegen: Landesarchiv Speyer, Best. B 2 Nr. 4760; vgl. Johannes Mayerhofer, Inhalt und Zustand des Pfalz-Zweibrückischen Archivs im Jahre 1567. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins NF 11 (1896) S. 230–253 (Text ab S. 248). 29 Vgl. Ludwig Molitor, Geschichte einer deutschen Fürstenstadt. Vollständige Geschichte der ehemals pfalz-bayerischen Residenzstadt Zweibrücken von ihren ältesten Zeiten bis zur Vereinigung des Herzogtums Zweibrücken mit der Bayerischen Krone, Zweibrücken 1885, ND 1989, S. 247. 30 Vgl. Neudegger, Zweybrücken (wie Anm. 27) S. 8. – S. Abb. S. 224. 31 Ebd. S. 12–16. 26
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Herzogliches Archiv und Langer Bau am Wasser in Zweibrücken. Nachzeichnung des Zweibrücker Stadtbaumeisters Gustav Groß aus dem 20. Jahrhundert (Foto: Stadtmuseum Zweibrücken).
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brücker Schlosses35 zu verdanken ist – in exponierter Lage an der Westseite des Schlossplatzes errichtet.36 Einer der ersten Archivzweckbauten in Deutschland und dabei „ein künstlerisch hoch zu wertender Bau“,37 blieb das Archivgebäude, nach 1816 in verschiedener Weise weiter genutzt,38 bis 1945 in seinem Bestand erhalten. Im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt, wurde die Ruine 1953 leider ganz abgetragen. Sofort nach Bezug des Gebäudes nahm Bachmann die Ordnung, Regestierung und Repertorisierung der Urkunden in Angriff.39 Schon 1751 war ihre Aufstellung nach einem Gesamtplan, den Bachmann „Directorium“ oder „Archivum originalium“ nannte, abgeschlossen. Wesentlich zeitaufwändiger war der Eintrag der Regesten in feste Bände, sogenannte Real-Repertorien, von denen heute noch zehn (von ursprünglich 15) im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München erhalten sind.40 Ebenso wie die Akten des pfalz-zweibrückischen Archivs, die er parallel hierzu ordnete,41 teilte Bachmann das Urkundenarchiv in drei große Gruppen ein:42 1. Das Zweibrücker Archiv, 2. das Veldenzer Archiv und 3. das Sponheimer Archiv. Auf der Grundlage seiner umfangreichen juristischen GutSchweden und Pfalz-Zweibrücken. Probleme einer gegenseitigen Integration. Das Fürstentum Pfalz-Zweibrücken unter schwedischer Fremdherrschaft (1681–1719), Diss. Phil. Saarbrücken 1988, S. 419 mit Anm. 110. 35 Vgl. Ludwig Molitor, Das Herzogsschloß in Zweibrücken, Zweibrücken 1861, ND Zweibrücken 1990. – Otmar Freiermuth, Das Herzogsschloss in Zweibrücken, Worms 2005. 36 Zur Kunst- und Baugeschichte vgl. Herbert Dellwing – Hans Erich Kubach (Bearb.), Die Kunstdenkmäler der Stadt und des ehemaligen Landkreises Zweibrücken (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz 7,2), Bd. 1, Mainz 1981, S. 225–227 (mit weiterführenden Literaturangaben auf S. 225 f.). 37 Ebd. S. 227. 38 Von 1816 bis 1837 als Gerichtsgebäude, dann als Bezirkskommando, 1919 als „Coopérative Française“ und zuletzt als Heimatmuseum. – S. a. Abb. S. 226 und 236. 39 Vgl. hierzu und zum Folgenden Hans-Walter Herrmann, Vorwort zum Repertorium: Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München, Bestand Pfalz-Zweibrücker Urkunden, München 1957–1959, S. 1–24, hier S. 3–6. – Neudegger, Zweybrücken (wie Anm. 27) S. 29. 40 Beschreibung bei Neudegger, Zweybrücken (wie Anm. 27) S. 33–54. 41 Zu jeder der Gruppen ist ein „Archivs-Plan“ Bachmanns aus dem Jahr 1761 im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, München, Kasten blau 436/44–46, vorhanden; vgl. ebd. S. 55–58. – Herrmann (wie Anm. 39) S. 6. 42 Eine Übersicht über die Betreffe der einzelnen Laden gab der 1761 von Bachmann angelegte „Status, wie die zu dem eigentlichen zweybrückischen Archiv gehörigen Originalia in anno 1761 in den Kästen des unteren Gewölbs rangiert worden“; vgl. Aufstellung bei Herrmann (wie Anm. 39) S. 10–19 sowie ebd. S. 5. – Warmbrunn (wie Anm. 3) S. 85 f.
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Zerstörtes Archivgebäude Zweibrücken, Äußeres von Süden nach 1945. Quelle: Dellwing – Kubach (wie Anm. 36) S. 226.
achtertätigkeit entwarf Bachmann auch eine Anleitung zur einheitlichen Handhabung der Akten, also eine Art Aktenordnung. Auf ihn geht auch das äußere Erscheinungsbild der im Landesarchiv Speyer43 überlieferten Zweibrücker Rechnungen zurück, die einheitlich hellgraue Einbände mit Rückenbeschriftung aufweisen. Noch heute erstaunt an Bachmann seine außerordentliche Vielseitigkeit – als Archivar, Staatsrechtslehrer, Vorsitzender des lutherischen Oberkonsistoriums, „Vater“ des Homburger Waisenhauses und Zunftreferendar, um nur die wichtigsten seiner zahlreichen Funktionen zu nennen44 – und 43 44
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Landesarchiv Speyer, Best. B 3. Näheres hierzu bei Warmbrunn (wie Anm. 3) S. 87.
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die Verbindung der Beamtentätigkeit mit einer profunden und umfassenden Gelehrsamkeit. Um die Geschichtsschreibung des kleinen, aber geschichtlich bedeutsamen Fürstentums erwarb er sich größte Verdienste – hierin nur erreicht oder gar übertroffen von Georg Christian Crollius (1728–1790),45 dem bekannten Rektor des Zweibrücker Gymnasiums, Mitglied der Bayerischen und der Kurpfälzischen Akademie der Wissenschaften und Verfasser der „Origines Bipontinae“, der ihm als Rektor der herzoglichen Bibliothek direkt unterstellt war – was das persönliche Verhältnis beider Männer leider nicht positiv beeinflusste. Mit zahlreichen rechts- und staatswissenschaftlichen Abhandlungen stellte Bachmann, ebenfalls Mitglied der Münchner und der Mannheimer Akademie der Wissenschaften, seine wissenschaftlich exakte, sehr quellennahe Arbeitsweise unter Beweis.46 Er verfasste zahlreiche Gutachten zur rechtlichen Untermauerung pfalz-zweibrückischer Ansprüche und scheute auch vor einer gelehrten Auseinandersetzung mit dem berühmten Staatsund Völkerrechtler Johann Jacob Moser (1701–1785) über die zukünftige pfalz-zweibrückische Landesfolge nicht zurück.47 1784 erschien sein juristisch-historisches Hauptwerk, „Pfalz Zweibrükisches(!) Staats-Recht“,48 das er seinem Landesherrn Karl II. August äußerst devot widmete. Er beschrieb darin nicht nur den bestehenden, aus der Geschichte hergeleiteten Rechtszustand des Fürstentums, er wollte damit auch den Staatsdienern eine Anleitung „zu guter Regierung“ geben. Ursprünglich „zur Instruktion eines angehenden Archivars niedergeschrieben“,49 zeichnet sich das umfangreiche Werk durch ein solides Quellenfundament und große historische Zuverlässigkeit aus und ist auch heute noch eine unverzichtbare Grundlage für Arbeiten zur Profan- und Kirchengeschichte Pfalz-Zweibrückens.
Vgl. Hans Ammerich, Georg Christian Crollius (1728–1790). In: Pfälzer Lebensbilder, Bd. 4, hrsg. von Hartmut Harthausen (Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 80), Speyer 1987, S. 123–146. 46 Näheres hierzu bei Warmbrunn (wie Anm. 3) S. 88 f. 47 „Beantwortung der Schrift des Königlich Dänischen Staats-Raths, Herrn Johann Jacob Mosers, von der zukünftigen pfalz-zweybrückischen Landesfolge“, o. O. [Mannheim] 1781. – S. auch Warmbrunn (wie Anm. 3) S. 89. 48 Vgl. Anm. 27 und zum Folgenden Karl Lillig, Rechtsetzung im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken während des 18. Jahrhunderts (Rechtshistorische Reihe 44), Frankfurt a. M. u.a. 1985, hier S. 55–59. – Warmbrunn (wie Anm. 3) S. 89 f. 49 Zitiert nach dem „Vorbericht“ Georg August Bachmanns zu den „Beyträgen“ (wie Anm. 55) S. VII. 45
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Johann Heinrich Bachmann, „Pfalz Zweibrükisches Staats-Recht“, Tübingen 1784, Titelseite.
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G e o r g Au g u s t Ba c h m a n n – l e t z t e r A r c h i v a r d e s Fü r s t e n t u m s u n d b e d e u t e n d e r A r c h i v t h e o re t i k e r Von Johann Heinrich Bachmanns Kindern führte Georg August (1760– 1818)50 das pfalz-zweibrückische Archiv nach dessen Tod weiter. Nach der Besetzung Zweibrückens durch französische Truppen im Gefolge der Revolutionskriege musste 1793 die Flüchtung des gesamten Archivs aus der Residenzstadt organisiert werden.51 Georg August Bachmann meisterte diese Bewährungsprobe mit Bravour. Zunächst wurden die wertvolleren Teile des Urkundenarchivs nach Mannheim geflüchtet. Von dort gelangten sie nach einer siebenjährigen Odyssee schließlich 1800 ins Geheime Staatsarchiv München. Die Akten und die weniger wertvollen Urkunden wurden 1793 und 1796 aus Zweibrücken zunächst in die rechtsrheinischen Bergungsorte Heidelberg (Karmeliterkloster) und Hanau und von dort Anfang 1802 nach Mannheim überführt, wo dann eine große Aufteilung vorgenommen wurde: die das Gebiet auf dem linken Rheinufer betreffenden Archivalien wurden den Franzosen zur Überführung in das Archiv des Departements Donnersberg in Mainz52 ausgeliefert – heute befinden sie sich größtenteils im Landesarchiv Speyer53 –, der restliche Bestand Vgl. zu seiner Biografie Neudegger, Zweybrücken (wie Anm. 27) S. 31, Anm. 1. – Ammerich (wie Anm. 34) S. 216. – Leesch (wie Anm. 32) S. 40 f. – Warmbrunn (wie Anm. 3) S. 90–96. – Ders. (wie Anm. 27) S. 394. 51 Vgl. zum Folgenden Paul Warmbrunn, Die Bedeutung des Quellenmaterials im Landesarchiv Speyer für die wissenschaftliche Darstellung des Herzogtums Pfalz-Zweibrücken und für die Vorgänge in der Revolutionszeit. In: Das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken und die Französische Revolution. Landes-Ausstellung in der Karlskirche Zweibrücken 16. April bis 28. Mai 1989, hrsg. vom Kultusministerium Rheinland-Pfalz, Zweibrücken 1989, S. 119–124. – Ders. (wie Anm. 3) S. 97 f. – Ders. (wie Anm. 27) S. 394 f. 52 Vgl. Wolfgang Hans Stein, Die Archive des Departements Donnersberg. Eine Möglichkeit, die Methoden der französischen Sozialgeschichte für die deutsche Landesgeschichte fruchtbar zu machen. In: Vom Alten Reich zu neuer Staatlichkeit. Alzeyer Kolloquium 1979: Kontinuität und Wandel im Gefolge der Französischen Revolution am Mittelrhein (Geschichtliche Landeskunde 22), Wiesbaden 1982, S. 152–173, bes. ab S. 167. – Ders., Die französische Archivorganisation auf dem linken Rheinufer. Verwaltungs- und Kulturkompetenz zwischen Peripherie und Zentrum. In: Rödel, Umbruch und Aufbruch (wie Anm. 3) S. 101–118. 53 Bei der staatlichen Neugliederung der Gebiete auf dem linken Rheinufer nach der Zeit der Zugehörigkeit zu Frankreich und einer bayerisch-österreichischen Übergangsverwaltung wurden die Archivalien des Departementalarchivs in Mainz, die sich auf den seit 1816 bayerischen Rheinkreis (seit 1838 Kreis „Pfalz“) bezogen, in das für diesen 1817 neu errichtete „Kreisarchiv“ in Speyer gebracht; vgl. Volker Rödel, Die Anfänge des Landesarchivs Speyer. In: Archivalische Zeitschrift 78 (1993) S. 191–256, hier S. 200 f. – Ders., 50
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wurde größtenteils direkt nach München, teilweise auch über Würzburg nach Bamberg überführt und gelangte von dort in späteren „Extraditionen“ ebenfalls teils nach München, teils nach Speyer.54 Ebenfalls ausgehend von juristischen Gutachten, setzte Georg August Bachmann die reiche literarische Tätigkeit seines Vaters fort. Er gab 1792 die noch von diesem als Ergänzung seines Hauptwerks konzipierten „Beyträge zu dem Pfalz Zweybrückischen Staats-Recht“55 heraus. Mit seinem Hauptwerk „Ueber Archive [...]“,56 das er dem pfalzbayerischen Herzog und späteren König Max IV./I. Joseph widmete, beeinflusste er entscheidend den Gang der archivtheoretischen Diskussion.57 In kritischer, Ein Land braucht auch ein Archiv. Zur Gründung des Landesarchivs Speyer 1817. In: Walter Rummel (Hrsg.), 200 Jahre Landesarchiv Speyer. Erinnerungsort pfälzischer, rheinhessischer und deutscher Geschichte, 1817–2017 (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz 122), Koblenz 2017, S. 27–38. 54 Bedingt durch die dynastische Entwicklung in den wittelsbachischen Linien und die geschilderte Odyssee nach dem Ende des Alten Reiches, sind heute die Archivalien des ehemaligen Herzogtums Pfalz-Zweibrücken, wie es bei den Territorien des pfälzisch-oberrheinischen Raums fast die Regel ist, auf verschiedene Aufbewahrungsorte verteilt – freilich mit eindeutigem Schwerpunkt auf dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München und dem Landesarchiv Speyer. Wichtige archivalische Unterlagen zur Geschichte des Herzogtums werden auch im Archiv der Herzog-Wolfgang-Stiftung in Zweibrücken und – aufgrund der Regentschaft von Prinzen aus der Linie Zweibrücken-Kleeburg als Könige von Schweden 1661–1718 – im Reichsarchiv Stockholm sowie im Landeshauptarchiv Koblenz, im Generallandesarchiv Karlsruhe und im Stadtarchiv Zweibrücken verwahrt; vgl. Franz Xaver Glasschröder, Über die Schicksale rheinpfälzischer Archive. In: Archivalische Zeitschrift 38 (1929) S. 1–22. – Walter Jaroschka, Das Bayerische Hauptstaatsarchiv in München. Zur Geschichte und Struktur seiner pfälzischen Bestände. In: Karl Heinz Debus (Hrsg.), Das Landesarchiv Speyer. Festschrift zur Übergabe des Neubaues (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz 40), Koblenz 1987, S. 209–216. – Ders., Die Neuorganisation des bayerischen Archivwesens in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und die Einbeziehung der Pfalz: der Antagonismus von Zentralisation und Regionalisierung. Mit einem Ausblick bis zur Gegenwart. In: Rödel, Umbruch und Aufbruch (wie Anm. 3) S. 199–214. – Warmbrunn (wie Anm. 27) S. 394 f. 55 Georg August Bachmann, „Beyträge zu dem Pfalz Zweybrückischen Staats-Recht“, erschienen 1792 bei Jakob Friederich Heerbrandt in Tübingen. 56 Ders., „Ueber Archive, deren Natur und Eigenschaften, Einrichtungen und Benutzung nebst praktischer Anleitung für angehende Archivbeamte“, erschienen 1800 im Verlag der „privilegirten Commerzienrath Seidlischen Kunst- und Buchhandlung“ in Amberg und Sulzbach. 57 Vgl. auch Adolf Brenneke – Wolfgang Leesch, Archivkunde. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte des europäischen Archivwesens, Leipzig 1953, ND München 1988, S. 51 f. – Johannes Papritz, Archivwissenschaft, Bd. 1, 2. durchgesehene Auflage (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg / Institut für Archivwissenschaft), Marburg 1983, S. 3 f.
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Georg August Bachmann, „Ueber Archive“, Amberg und Sulzbach 1800, Titelseite.
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manchmal auch polemischer Auseinandersetzung mit den führenden Archivtheoretikern des 18. Jahrhunderts – dem Juristen Johann Stephan Pütter (1725–1807),58 dem Professor in Göttingen, Begründer der Historischen Hilfswissenschaften und Verfasser eines Lehrbuchs zur Diplomatik59 Johann Christoph Gatterer (1727–1799),60 dem markgräflich bayreuthischen Archivar auf der Plassenburg Philipp Ernst Spieß (1734–1794)61 und dem Straßburger Stadtarchivar Jacob Wencker (1688–1743)62 – plädierte er in Abkehr von der Vorstellung eines mehr oder weniger immer passenden Generalaktenplans für eine Ordnung, die sich an den staatsrechtlichen Verhältnissen des betreffenden Landes – und nicht an den Archivalien selbst63 – orientieren müsse. Folgerichtig entwarf er das Muster eines Ordnungsplans für ein fürstliches Archiv.64 Dieser Archivplan sollte seiner Ansicht nach auch der Einteilung der Registraturen, aus denen Material in Auswahl an das Archiv gelangt, zugrunde gelegt werden.65 Den Zusammenhang von Archiv und Registratur hat Bachmann gut erkannt, ebenso die Notwendigkeit, zwischen beiden Übereinstimmung zu schaffen. Allerdings erliegt er einem Trugschluss, wenn er nicht die Gestalt, zu der die Registratur im Geschäftsgang erwachsen ist, zum Ausgangspunkt nimmt, sondern die staatsrechtliche Tätigkeit des Archivars, der er die Verhältnisse in der Registratur unterordnen will. Vielfalt im Archivwesen soll nur in unterschiedlichen Ländern möglich sein, innerhalb eines Landes ist größtmögliche Uniformität anzustreben. Die Staatstätigkeit, in erster Linie die Erstellung von juristischen Gutachten und Deduktionen, müsse die Richtschnur auch für die Aufgabenwahrnehmung des Archivars sein.66 Vgl. zu seiner Biographie Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 26, 1888, S. 749–777 (= F. Frensdorff ). – Zu seiner Schrift „Anleitung zur juristischen Praxis“, Göttingen 1753 (mit einem 3. Teil: „Von Archiven“): Brenneke – Leesch (wie Anm. 57) S. 49. 59 „Nouveau Traité de diplomatique“ (Neues Lehrgebäude der Diplomatik), erschienen 1765. 60 Vgl. zu seiner Biographie: Karl Heinz Debus, Die Sammler. In: Landesarchiv Speyer: Der Gatterer-Apparat (KulturStiftung der Länder – Patrimonia 119), Speyer 1998, S. 9–19, hier S. 9–16. 61 Vgl. zu Spiess, der mit seiner Schrift „Von Archiven“, Halle 1777, die archivwissenschaftliche Diskussion entscheidend beeinflusste: Leesch (wie Anm. 32) S. 581 f. – Papritz (wie Anm. 57) S. 2 f. 62 Vgl. zur Biographie Leesch (wie Anm. 32) S. 659. – Allgemeine Deutsche Biographie, Band 41, 1896, S. 710 (= W. Wiegandt). 63 So die Auffassung von Spiess (wie Anm. 61). 64 Bachmann (wie Anm. 56) S. 68–77. 65 Ebd. S. 93–104. 66 Vgl. Warmbrunn (wie Anm. 3) S. 95. 58
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Daneben sind allerdings auch wissenschaftliche Arbeiten zugelassen, sofern sie für die Hauptaufgaben des Archivs von Nutzen sind. Dies betrifft auch die Archivgeschichte, die ihren Stellenwert und ihre Bedeutung dadurch erhält, dass durch sie viele für die praktische Arbeit des Archivs nützliche Archivalien und Fakten ans Licht kommen.67 Als „persönliche Erfordernisse“ eines Archivars sieht Bachmann folgende Eigenschaften an:68 Treue, Aufmerksamkeit, (Kenntnisse in den) Wissenschaften, Ordnung, Fleiß, Lust, Schnellkraft und Deutlichkeit (im Vortrag und in der Handschrift). Der unter den „Wissenschaften“ im Einzelnen aufgelistete Fächerkanon69 (1. Bürgerliches Recht in allen seinen Teilen, 2. Reichsgeschichte und deren Hilfsmittel, 3. Deutsches Staatsrecht, 4. Geschichte der Landesherrschaft und des Landes, 5. Lehenrecht, 6. Diplomatik, 7. Hilfswissenschaften, 8. Sprachen, 9. Staatswirtschaft mit allen ihr zugehörigen Wissenschaften, 10. Französisch) muss als „ein kennzeichnender Ausdruck der Archivtheorie des ausgehenden Ancien Régime“70 angesehen werden. Mit drei von insgesamt zehn Fächern liegt das Schwergewicht also eindeutig auf der Rechtswissenschaft. Dem alles beherrschenden Nützlichkeitsdenken verdankt Bachmanns Archivtheorie zahlreiche praktische Ratschläge, die eine aus heutiger Sicht oft erstaunliche Realitäts- und Praxisnähe aufweisen, gelegentlich aber auch skurrile Züge annehmen, so wenn er etwa detaillierte Hinweise gibt, wie mit Mäusen als „Feinden der Sicherheit der Archive“ umzugehen sei,71 oder die reizvolle Zeichnung eines „Schränkgens“ des pfalz-zweibrückischen Archivs in den Text einfügt.72 So zeitgebunden uns heute – zusammenfassend gesagt – Bachmanns Konzeption erscheinen mag, sie erlangte durchaus auch historische Bedeutung und hat insbesondere die Entwicklung im bayerischen Archivwesen beeinflusst. 1801 schied Georg August Bachmann aus dem kurpfalzbayerischen Staatsdienst aus und wechselte zur Reichsstadt Frankfurt am Main, wo er bis zu seinem Tode 1818 außerhalb des Archivbereichs als Syndikus und Appellationsgerichtsrat tätig war.
Bachmann (wie Anm. 56) S. 51 f. Ebd. S. 12–37. 69 Ebd. S. 15–21. Vgl. Papritz (wie Anm. 57) S. 3 f. 70 Papritz (wie Anm. 57) Bd. 1, S. 3. 71 Bachmann (wie Anm. 56) S. 61. 72 Ebd. S. 64; vgl. Warmbrunn (wie Anm. 3) S. 96. 67 68
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Zeichnung eines „Schränkgens“ (Archivschranks) des pfalz-zweibrückischen Archivs. Quelle: Bachmann „Ueber Archive“ (wie Anm. 56) S. 64.
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Auch Georg Augusts älterer Bruder Carl Heinrich (geb. 1754)73 schlug die Beamten- und Archivarslaufbahn ein und war in Zweibrücken und Trarbach, der Hauptstadt der von Pfalz-Zweibrücken und Baden gemeinschaftlich regierten Hinteren Grafschaft Sponheim, sowie zuletzt in München in verschiedenen Verwaltungsstellen tätig,74 ohne auch nur annähernd eine ähnlich umfangreiche schriftstellerisch-publizistische Tätigkeit wie sein Vater und Bruder zu entfalten. Fa z i t Schicksal und berufliches Wirken von Vater und Sohn Bachmann sind – zusammenfassend gesagt – exemplarisch für eine Archivlandschaft und ein Berufsbild des Archivars in einer Endzeit und im Umbruch. Johann Heinrich steht noch ganz für den auf das regierende Fürstenhaus fixierten, juristisch ausgebildeten Archivar des Alten Reiches, bei dem die archivarische Arbeit der rechtlichen Berater- und Gutachtertätigkeit untergeordnet und auf sie ausgerichtet war – einen Typus, dem wir auch bei den Betreuern des „Kur-Archivs“ der rheinischen Pfalzgrafschaft bzw. der Kurpfalz zuerst in Heidelberg, dann in Mannheim begegnet sind. Hand in Hand damit ging eine Geschichtsschreibung, die dem Staatsrecht untergeordnet war und in erster Linie dem Beweis und der Sicherung von Rechtsansprüchen der herrschenden Dynastie diente. Dagegen sah sich Georg August mit den durch die Französische Revolution hervorgerufenen Umwälzungen konfrontiert. So groß seine Verdienste um die Rettung und Erhaltung der pfalz-zweibrückischen Archive dabei auch sind, der Untergang des Alten Reiches und seiner Territorien bedeutete gleichzeitig das Ende seiner archivarischen Tätigkeit, die noch ganz dem Leitbild des Juristen-Archivars des Alten Reiches75 verpflichtet war. Hatte dieses in der Realität bereits Risse bekommen, so hat es Georg August Bachmann 1800, also kurz vor dem endgültigen Untergang der alten Ordnung, auf der Grundlage des Lebenswerks seines Vaters in seinem Buch „Ueber Archive“ noch einmal theoretisch zusammengefasst und damit einen eigenständigen und bei aller Zeitgebundenheit wichtigen, bis Das Todesjahr ist nicht bekannt. Zu seiner Biographie vgl. Ammerich (wie Anm. 34) S. 220. – Lillig (wie Anm. 32) S. 14. – Warmbrunn (wie Anm. 3) S. 96 f. 74 Archivalische Unterlagen hierzu im Landesarchiv Speyer, Best. B 2 Nr. 6074 und 6722. 75 Grundsätzlich zum Wandel des Archivarsberufs vom Juristen-Archivar zum HistorikerArchivar des 19. Jahrhunderts: Eckhart G. Franz – Thomas Lux, Einführung in die Archivkunde, 9. Aufl., Darmstadt 2018, S. 103 (mit weiterführender Literatur auf S. 105). 73
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heute zu wenig rezipierten Beitrag zur Archivtheorie und -wissenschaft geleistet.76
Das 1744–1747 errichtete historische Archivgebäude in Zweibrücken, Äußeres von Südosten. Quelle: Dellwing – Kubach (wie Anm. 36) S. 225.
Der Aufsatz basiert auf dem Vortrag des Verfassers beim Archivwissenschaftlichen Fachgespräch „Archive im Alten Reich als Herrschaftsinstrumente“ am 28. November 2019 in der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns. 76
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Das Geheime Archiv des Fürstentums BrandenburgAnsbach und seine Blüte im 18. Jahrhundert1 Von Daniel Burger (Die Geheimen Räte) liessen sich erstlich die Disposition aller Repositorien, Schränke und Schubladen, dann auch die ältesten und wichtigsten Originalien vorzeigen, brachten damit über 1 ½ Stund sehr vergnügt zu ... (Archivar Johann Sigmund Strebel über die Visitation 1737) Di e A r c h i v v i s i t a t i o n v o n 1 7 3 7 Am 28. Juni 1737 visitierte der Geheime Rat des Fürstentums Brandenburg-Ansbach das Archiv. Der Geheime Archivar Johann Sigmund Strebel fertigte hierüber einen Bericht, der uns über den Ablauf und Erfolg unterrichtet.2 Strebel hatte um 3 Uhr nachmittags Geheimratspräsident Freiherr von Seckendorff in dessen Wohnhaus abgeholt und zu den Archivräumlichkeiten im Kanzleigebäude begleitet, wo bereits weitere Geheime Räte warteten bzw. bald eintrafen und vom Archivar, dem Protokoll entsprechend auf der Treppe, mit einem Kompliment empfangen wurden. Es folgte an der großen Tafel des Archivraums, eingeleitet von nochmaliger Begrüßung und Dankesworten, ein Vortrag Strebels mit kurzer Darstellung der Ansbacher Archivgeschichte (die er auch schriftlich übergab), dann Erläuterungen des jetzigen Status und geleisteter Arbeiten unter Vorlage alter und aktueller Repertorien durch alle classen und titulos sowie Der vorliegende Text basiert auf dem hier leicht bearbeiteten und ergänzten Aufsatz des Verfassers: Daniel Burger, Geheimes Archiv und Ämterregistraturen. Die Schriftgutverwaltung im Fürstentum Brandenburg-Ansbach unter Markgraf Carl Wilhelm Friedrich (1729–1757). In: Georg Seiderer (Hrsg.), Carl Wilhelm Friedrich von Brandenburg-Ansbach (1712–1757). Der „Wilde Markgraf“? (Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken 103), Ansbach 2015, S. 199–232. – Er war Grundlage des Vortrags des Verfassers beim Archivwissenschaftlichen Fachgespräch „Archive im Alten Reich als Herrschaftsin strumente“ am 28. November 2019 in der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns. 2 Staatsarchiv Nürnberg (StAN), Veraltete Repertorien (hier: Archivanzeigen, siehe Anm. 11) 1, Prod. 215. Abgedruckt bei Burger (wie Anm. 1) S. 231–232. 1
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schließlich Anzeige der geplanten künftigen Arbeiten. Die Geheimen Räte sahen auch tatsächlich sich die Findbücher genau an und approbierten die vorgestellte Gliederung und Ordnung. Hinsichtlich der zukünftigen Arbeiten aber äußerten sie durchaus eigene Vorstellungen, was als vordringlich zu behandeln sei (etwa eine Zusammenschau der Verträge und Teilungen der verschiedenen hohenzollerischen Linien, die Akquisitionen des hochfürstlichen Hauses und dann Kopialbücher der wichtigsten Dokumente). Es folgte eine Besichtigung der Archivmagazine, wobei man im Vorübergehen auch einen Blick in die benachbarten Amtsstuben und Registraturräume der Zentralbehörden warf. Archivar Strebel wird die Gelegenheit begrüßt haben, seine hochrangigen Gäste auf diese Ämterregistraturen hinzuweisen, war doch deren Beziehung zum Archivwesen nicht ohne organisatorische Kompetenzprobleme. In den Archivgewölben angekommen, ließ sich der Geheime Rat zuerst die Grundeinrichtung mit Aufstellung der Reposituren, Schränke und Schubladen zeigen, dann zeigte Strebel auch die ältesten und wichtigsten originalien und so brachten seine Gäste damit über 1 ½ stund sehr vergnügt zu. Am Ende stattete Strebel nochmals seinen Dank für die Visitation ab und als Antwort äußerten die Geheimen Räte in besonders wohlwollenden Worten ihre besondere satisfaction über die ganze dispositionem archivi und dabey angewendete bemühung und sicherten zu, dem Landesherrn (Markgraf Carl Wilhelm Friedrich von Brandenburg-Ansbach) den bißhero bezeigte(n) fleiß und dadurch hergestellte gute ordnung zu rühmen und ausführlich darzulegen. Angesichts dieses vollen Lobes muss es Strebel als besonders günstiges Vorzeichen gedeutet haben, dass man nach der vierstündigen Visitation beim Verlassen des Archivs auch noch die Kammer- und Hofratsregistratur in Gegenwart aller Registratoren besichtigte. Tatsächlich fand die Visitation von 1737 nach Abschluss einer groß angelegten Neustrukturierung des Ansbacher Archivs statt, der noch mehrere Jahrzehnte fleißiger Arbeit folgen sollten. Der damals präsentierte Stand und der in den folgenden Jahrzehnten – eng mit der Regierung Markgraf Carl Wilhelm Friedrichs verbunden – realisierte Fortschritt der Archivarbeit spiegelt sich bis heute in den Beständen des Fürstentums Brandenburg-Ansbach wider, die sich im Staatsarchiv Nürnberg befinden.
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Das Geheime Archiv Brandenburg-Ansbach
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Knappe Bemerkungen zur Überlieferungsgeschichte Die Überlieferung des Fürstentums Brandenburg-Ansbach3 gliedert sich in zwei Blöcke: Zum ersten das fürstliche Geheime Archiv4, das in der Residenzstadt Ansbach untergebracht war, und zum zweiten die verschiedenen Amtsregistraturen der Zentral-, Mittel- und Unterbehörden. Eine Sonderstellung quasi als dritter Block nimmt das Geheime Hausarchiv (einst auf der Plassenburg) ein, das seit dem Spätmittelalter die wichtigsten Unterlagen beider fränkischer Zollernlinien (sowohl Ansbachs als auch Kulmbach-Bayreuths) aufnahm und an das durch eine enge Kooperation noch im späten 18. Jahrhundert Unterlagen aus Ansbach abgegeben wurden. Dieser inzwischen rekonstruierte Archivbestand befindet sich heute – entsprechend der Lage der Plassenburg über der Stadt Kulmbach – im für Oberfranken zuständigen Staatsarchiv Bamberg.5 Dort lagert auch das Geheime Archiv Bayreuth, sozusagen das Gegenstück zu Ansbach, welches nach der Teilung der beiden fränkischen Fürstentümer 1603 in Folge des Erlöschens des alten fränkischen Hohenzollernhauses konsolidiert wurde.6 Als Einführung und Übersicht noch immer grundlegend Günther Schuhmann, Die Markgrafen von Brandenburg-Ansbach. Eine Bilddokumentation zur Geschichte der Hohenzollern in Franken (Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken 90), Ansbach 1980; Alois Gerlich – Franz Machilek, Die Herrschaft der Zollern in Franken (Burggrafschaft Nürnberg, Markgraftümer Brandenburg-Ansbach und Brandenburg-Kulmbach). In: Max Spindler (Begr.) – Andreas Kraus (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Geschichte. 3. Band, 1. Teil, 3. Auflage, München 1997, S. 579–600; Reinhard Seyboth, Ansbach, Markgraftum: Politische Geschichte. In: Historisches Lexikon Bayerns, http:// www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Ansbach,_Markgraftum:_Politische_Geschichte (publiziert 12.12.2016; zuletzt eingesehen 8.11.2022). 4 Grundlegend Otto Karl Tröger, Die Archive in Brandenburg-Ansbach-Bayreuth. Ihr organisatorischer Aufbau und ihre Einbindung in Verwaltung und Forschung, Selb-Oberweißenbach 1988; Gerhard Rechter, Getrennte Einheit. Die Archive der zollerschen Fürstentümer in Franken. In: Volker Rödel (Hrsg.), Umbruch und Aufbruch. Das Archivwesen nach 1800 in Süddeutschland und im Rheinland (Werkhefte der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, Heft 20), Stuttgart 2005, S. 59–76. 5 Vgl. Gerhard Rechter, Zur künftigen Tektonik der brandenburg-bayreuthischen Schriftgutüberlieferung im Staatsarchiv Bamberg. In: Hermann Rumschöttel – Erich Stahl eder (Hrsg.), Bewahren und Umgestalten. Aus der Arbeit der Staatlichen Archive Bayerns. Walter Jaroschka zum 60. Geburtstag (Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern, Sonderheft 9), München 1992, S. 159–176; Stefan Nöth, Das Geheime Hausarchiv Plassenburg. In: Die Plassenburg. Zur Geschichte eines Wahrzeichens (CHW-Monographien 8), Lichtenfels 2008, S. 109–116. 6 Stefan Nöth, Die Wiederherstellung des Geheimen Archivs Bayreuth (GAB). In: Gerhard Hetzer – Bodo Uhl (Hrsg.), Festschrift Hermann Rumschöttel zum 65. Geburtstag 3
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Das Ansbacher Archiv wurde nach dem Anfall des Fürstentums an das Königreich Bayern 1806 weitergeführt, wobei Preußen das Zollernhaus betreffende Unterlagen und andere ausgewählte Archivalien aus Ansbach in das Bayreuther Fürstentum bzw. nach Berlin hatte verbringen lassen. Aber dann wurde das Ansbacher Archiv 1820 doch aufgelöst und die Bestände in das verbliebene Archiv nach Nürnberg gebracht, dem heutigen Staatsarchiv Nürnberg. Hierhin gelangten auch die Amtsregistraturen des Fürstentums Brandenburg-Ansbach – aber erst mit deutlicher Verzögerung, nämlich mittels verschiedenster Behördenabgaben des 19. und 20. Jahrhunderts, denn nach 1806 hatten aufzulösende markgräfliche (respektive nach 1791 königlich preußische) Behörden fast nie unmittelbar an die nun bayerischen Archivbehörden ausgesondert, sondern deren Registraturgut war auf die Nachfolgebehörden aufgeteilt worden. Diese nur noch leidlich überschaubare Überlieferungslage wurde archivintern verkompliziert, da man im 19. Jahrhundert ausgewählte Archivalien (insbesondere die ältesten Urkunden bis einschließlich 1400 und die wichtigsten Akten und Amtsbücher, die sog. Literalien) im Allgemeinen Reichsarchiv in München zentralisiert hatte. Einzelne Stücke kehrten schon vor 1900 zurück, der Großteil der Urkunden wurde vom Bayerischen Hauptstaatsarchiv 1992 an das Staatsarchiv Nürnberg übergeben.7 Aber auch in das Staatsarchiv Bamberg waren Ansbacher Archivalien (über den Umweg Plassenburg) gekommen, die 1949 und 1953 in großen Mengen, später erst nach aufwendigen Analysearbeiten erkannt und bis in die frühen 2000er Jahre ebenfalls zurückgegeben werden konnten. Dies erklärt, warum die Rekonstruktion der bis 1806 geschlossen vorhandenen Bestände des Geheimen Archivs und der Amtsregistraturen ein so aufwendiger, langwieriger Prozess ist.8 Nun darf man unabhängig von dem archivtheoretischen Prinzip der Bestandsbildung und Rekonstruktion der Archivfonds durchaus kritisch (= Archivalische Zeitschrift 88), Köln u.a. 2006, Teilband 2, S. 675–687. 7 Vgl. Michel Hofmann, Um die Heimkehr der Verschleppten. In: Archivalische Zeitschrift 46 (1950) S. 174–181; Walter Jaroschka, Beständebereinigung mit Franken. In: Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern 20 (1974) S. 2–21; Ders., Zentralisierung und Dezentralisierung im bayerischen Archivwesen. Voraussetzungen und Ergebnisse der Beständebereinigung. In: Hermann Bannasch (Hrsg.), Beständebildung, Beständeabgrenzung, Beständebereinigung (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, Heft 3), Stuttgart 1993, S. 37–51. 8 Vgl. Gerhard Rechter, Beständebereinigung in Franken. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 61 (1998) S. 165–177.
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fragen, ob diese Rekonstruktionsarbeiten wirklich lohnen oder eine moderne Gliederung nicht einfacher, effektiver zu bewerkstelligen wäre? Die Arbeiten an den Beständen, die der Verfasser seit 2009 im Staatsarchiv Nürnberg für Brandenburg-Ansbach durchführt, haben in erfreulicher Deutlichkeit eine positive Antwort gebracht: Das Ansbacher Archiv war am Ende des Alten Reichs in einer mustergültigen Ordnung und die Arbeit der Ansbacher Archivare strahlte auch auf die Ämterregistraturen aus. Dies soll im Folgenden etwas beleuchtet werden. Der Ort des Geschehens Das Geheime Archiv hatte zunächst seine Heimat im Ansbacher Residenzschloss, das aus einer an der Wende zum 15. Jahrhundert errichteten Wasserburg hervorgegangen war.9 Seit 1705 waren barocke Umbaumaßnahmen am Ansbacher Schloss vorgenommen worden, doch einschneidend für die bauliche Situation wurde der verheerende Schlossbrand des Jahres 1710, der zum weitgehenden Neubau den Anstoß gab. Die Archivalien konnten noch während des Feuers in feuerfeste Gewölbe des Südbaus mit einem großen runden Eckturm gerettet werden, in dem in den Obergeschossen auch die markgräfliche Kunstkammer eingerichtet war. Doch diese Unterbringung war nur eine aus der Not geborene Lösung, denn die engen Raumverhältnisse gestatteten keine Archivarbeit, so dass man unverzüglich nach anderen Räumen Ausschau hielt, die nach der Natur der Sache nur außerhalb des Schlosses liegen konnten. Man fand sie im Kanzleigebäude10, einem dreiflügeligen Renaissancebau (1594–1597) an der St. Gumbertuskirche nur wenige hundert Meter vom Schloss entfernt. In dem dreigeschossigen Bau hatten mehrere markgräfliche Behörden ihren Sitz. Dies war für das Archiv einerseits von Vorteil, denn so herrschte Vgl. Josef Maier, Residenzschloß Ansbach. Gestalt und Ausstattung im Wandel der Zeit (Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken 100), Ansbach 2005. Zur Ausstattung, einschließlich Abdruck wichtiger Inventare, siehe Christoph Graf von Pfeil, Die Möbel der Residenz Ansbach, München-London-New York 1999. 10 Vgl. Günter P. Fehring, Stadt und Landkreis Ansbach (Bayerische Kunstdenkmale. Kurzinventar 2), München 1958, S. 43–45 (mit Abb. des Erdgeschossgrundrisses, mit jüngeren Veränderungen). – Grundrisse aller drei Etagen im Zustand 1808–1812 in der umfangreichen Planaufnahme der Staatsgebäude in Ansbach, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. icon. 207 md, fol. 15–15a (online verfügbar unter: https://bildsuche.digitale-sammlungen.de/index.html?c=viewer&bandnum mer=bsb00055351&pimage=207&v=100&nav=&l =de; zuletzt aufgerufen Februar 2022). 9
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das Prinzip der kurzen Wege, andererseits aber konkurrierte man um den knappen Platz und wie meist hatte das Archiv gegenüber den mächtigen Zentralbehörden das Nachsehen. Interessanter Weise hat man bei den groß angelegten Neubauplänen der Residenz einen systematischen Rückumzug des Archivs offenbar nicht mehr erwogen; dies im Gegensatz zur markgräflichen Bibliothek, die 1745 in eigene Räume des Schlosses einzog. Das Geheime Archiv nutzte im Kanzleibau drei aufeinander folgende Gewölbe im westlichen Erdgeschoss des Nordflügels als Magazin (wobei der Eckraum als „Hauptgewölbe“ bezeichnet wurde) sowie zwei Etagen höher die Archivstube, d.h. einen Arbeitsraum nebst angrenzendem Kabinett für die Kanzlisten. 1731 wurde das Kanzleigebäude umgebaut, u.a. bekam es einen neuen Eingang mit neuem Stiegenhaus. Auch wurde für die Registratur der Hofkammer ein zusätzliches Gewölbe benutzt und für die Abtrennung eine Mauer eingezogen, was den Eingang zum Archivgewölbe sehr verfinsterte.11 Aber nicht nur das: Es sei, so das Archiv in seiner Eingabe an den Fürsten, zu beförchten (…), dass in feuersnöthen (welche Gott in gnaden verhüten wolle) mit denen großen kästen und einschlägen, da selbige erst über die stiege (allwo zu einer solchen zeit ohne hin alles in gröster bestürzung hin und wieder lauffet) 6 treppen hinauff und so viel wieder hinunter mit gröster mühe geschleppet werden müsten, in geschwindigkeit und ohne confusion nicht durchzukommen seyn mögte. So schlug man vor, das neu abgetrennte, direkt an das Archiv anstoßende Gewölbe eben jenem zuzuschlagen und für die Kammerregistratur der obere, ohnehin an das alte cammergewölb stoßende theil deß archivs überlassen würde. Über die Einrichtung des Archivs geben drei Planskizzen Aufschluss, welche unmittelbar nach dem Dienstantritt der Archivare Jung und Strebel 1732 angefertigt wurden.12 Aus den Plänen erfahren wir nicht nur die (räumliche) Ordnung, sondern auch einige interessante Details über im Archiv gelagerte Objekte. So stand etwa im Archivstüblein im Eck neben der gedoppelten Eingangstür StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 74 (Bericht des Archivs vom 28. August 1731). – Die „Archivanzeigen“ befinden sich heute im Bestand „Veraltete Repertorien“, was jedoch irreführend ist; im Folgenden wird, im Vorgriff auf angestrebte Ordnungsarbeiten, die ältere Bezeichnung „Archivanzeigen“ verwendet. Die „Archivanzeigen“ gliedern sich in 13 Bände „ältere Anzeigen“ von 1580–1806 (d.h. bis zum Anfall an das Königreich Bayern) sowie 15 Bände „neuere Ansbacher Archivanzeigen“ von 1806–1822. Hinzu kommen 3 Bände über die Auflösung des Ansbacher Archivs und Spezialakten, etwa über Korrespondenz mit anderen Archiven oder Abgaben bestimmter Archivalien. 12 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 104, 105, 106, 106a. 11
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eine eiserne Kiste mit den Reliquien des Hl. Gumbertus (so uneröffnet), an der Längswand zum Kabinett hingen die große und die kleine Landkarte (sicherlich die berühmten gedruckten Vetter’schen Landkarten)13. 1735 beklagte sich Jung über die schlechten Lichtverhältnisse in der Archivstube, die den Augen sehr schädlich seien.14 Das benachbarte Kabinett der Kanzlisten aber müsse die Hitze und Wärme teils aus dem Archiv, teils aber oben von dem in die advocatenstube gehenden gitter nehmen, von dort aber insbesondere im Winter von den Advokaten und Parteien ein solche unruhe, getümmel entsteht, dass man offt seines eigenen wortes nicht hört – auch sah man umgekehrt durch diese Schallverbindung die im Archiv notwendige Geheimhaltung bedroht. Markgraf Carl Wilhelm Friedrich hatte ein Einsehen und verfügte am 7. Januar 1735, dass die oberhalb des Archivs befindliche Landschafts-Obereinnehmerei-Stube samt kleinem Nebenzimmer dem Archiv übergeben werde, der Landschaft dagegen die Kammer-Rechnungs-Revisions-Stube (die sowieso neben der LandschaftsRatsstube lag) überlassen werde, die Rechnungs-Revisoren aber die bisherige Archivstube erhalten sollten.15 Doch gegen die Umsetzung dieses Projektes sträubten sich die betroffenen canzley-verwandten und es taten sich nach Strebel mancherley weitläuffig- und verdrießlichkeiten hervor, so dass am Ende das Archiv nun die neu eingerichtete, leer stehende vormalige Ausschreib-Stube (die dem Lehenhof zugedacht gewesen war) erhielt, die in der Nähe des Konsistoriums lag.16 Der Lehenhof wiederum erhielt als Ersatz die vormalige Archivstube. Es waren diese, nachträglich zum Archivmagazin gewidmeten Gewölbe und von mehrfachen „Büroumzügen“ geprägten Schreibstuben und Registraturräume, die der Geheime Rat 1737 visitiert hatte. Trotz des großen Lobes war die Unterbringung ein Dauerproblem und Grund ständiger Sorge. 1750 berichtete das Archiv, dass der Platz durch die alltäglich anwachsende Aktenmenge in den Archivgewölben zu eng werde.17 Wichtige Serien konnten nicht mehr angereiht werden, Bände wurden übereinanVgl. Karl Hauck, Johann Georg Vetter (1681–1745) – der Schöpfer der ersten einheitlichen Ansbachischen Oberamtsbeschreibungen und Landkarten (mit einer Kunstdruckbeilage sowie einer Tabelle als Anlage). In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 11/12 (1953) S. 297–322; Ludwig Schnurrer, Johann Georg Vetter (1681–1745) und sein Werk. In: Jahrbuch des Historischen Vereins „Alt-Dinkelsbühl“ für 1967/68, S. 30–83. 14 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 155. 15 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 157. 16 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 171. 17 StAN, Archivanzeigen 5, Prod. 23. 13
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dergestapelt und sogar verstekt, was man hinsichtlich der Bergungsmöglichkeiten bei Feuersgefahr als hoch kritisch ansah. Das Archiv schlug vor, das erste Archivgewölbe der angrenzenden Kammerregistratur zu überweisen und im Gegenzug das in der Nähe befindliche Kammergewölbe, in dem alte und bereits abgehörte Rechnungen lagerten, dem Archiv zu übergeben. Dies hätte den Vorteil, dass im Notfall der freie Zu- und Ausgang in den unteren Kanzlei-Vorhof gewonnen würde. Doch erst mit Dekret vom 12. August 1757 wurde das am Eck des Kanzleibaus gegen Norden gelegene Gewölbe für das Archiv geräumt und stattdessen die Kammerakten im Gewölbe beim damaligen Eingang des Archivs gelagert.18 Der Gebietszuwachs durch die preußischen Revindikationen und die Säkularisation brachte auch dem Ansbacher Archiv neue Zugänge, auf die man mit erstaunlichem Arbeitseifer reagierte; das von Archivar Johann Lorenz Albrecht Gebhard geschaffene „Neue Generalrepertorium“ legt hiervon bis heute Zeugnis ab. Aber das Platzproblem muss sich bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts fast unerträglich verschärft haben. Eine (allerdings geringe) Entlastung schuf die Verlegung der Büroräume in den nordwestlichen Marstall- und Küchenflügel des Residenzschlosses, die vormalige Sattelkammer19. 1799 wurden im Magazingewölbe des Kanzleibaus neue Reposituren auf die vorhandenen Schränke aufgesetzt; eine Benutzung war nur noch mittels Leitern möglich.20 Archivar Heinrich Christoph Büttner (1766–1816)21 konnte nur für wenige Jahre drei Zimmer in einem Schlossflügel beziehen, seit 1801 waren er und sein Mitarbeiter und späterer Nachfolger Gebhard wieder in der vormaligen Sattelkammer einquartiert. Für seine Arbeit hatte er die Repertorien und die Archivbibliothek bei sich, dazu auch eine Auswahl wichtiger und kostbarer Archivalien, darunter die großformatigen Waldbücher, sowie die eigentliche Archivregistratur.22 1820 wurde das Ansbacher Archiv aufgelöst und die Unterlagen nach Nürnberg (respektive in Auswahl nach München) transportiert. Einsprüche der Regierung, die auf ihre häufige Archivbenutzung verwies, verhall-
StAN, Archivanzeigen 5, Prod. 58, 59. Die Arbeiten verzögerten sich aufgrund der Rechnungsmenge ins folgende Jahr. 19 Vgl. Maier (wie Anm. 9). 20 Tröger (wie Anm. 4) S. 286. 21 Tröger (wie Anm. 4) S. 451–455. 22 Tröger (wie Anm. 4) S. 280, 286, 294–297. 18
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ten ebenso wie der Vorschlag einer Rückführung 1825.23 Obwohl Ansbach stets Sitz der Kreisregierung blieb und das größere Nürnberg das Nachsehen hatte24, hat die Frage, ob das zuständige Archiv dort seinen Platz erneut bekommen sollte, danach nie mehr eine größere Rolle gespielt. Ganz selbstverständlich war 1880 im Neubau des Kreis- und nachmaligen Staatsarchivs Nürnberg im Viertel „Gärten hinter der Veste“ eine Raumflucht den Ansbacher Beständen vorbehalten und bis heute sind die „markgräflichen“ Quellen in der Noris zuhause.25 Di e A r c h i v a re , A r c h i v s e k re t ä re u n d Mi t a r b e i t e r Die Tätigkeit des Geheimen Archivs in Ansbach ist sehr gut anhand der erhaltenen Akten der Archivregistratur nachzuvollziehen.26 In schlicht gebundenen Bänden wurden die an das Archiv gerichteten Dekrete und meist auch die Entwürfe der Antworten (Anzeigen) zusammengebunden, erschlossen durch ausführliche Inhaltsverzeichnisse (Conspectus Materiarum) zu Beginn jeden Bandes. Darüber hinaus ist in den jeweiligen Sachakten der Zentralbehörden die Mitarbeit des Archivs dokumentiert, wenn dieses zu historisch-juristischen Fragen gutachtete. Ein Abgleich mit den „Archivanzeigen“ zum tieferen Verständnis der archivischen Einbindung in die Verwaltung steht noch aus. Das markgräfliche Archivpersonal27 wäre zweifellos eine gesonderte Untersuchung wert; einzelne herausragende Persönlichkeiten haben bereits Darstellungen erfahren. Die markgräflichen Bestallungsurkunden und Carl Adam, Das Staatsarchiv Nürnberg – wie es wurde, wie es ist. In: Horst Heldmann (Hrsg.), Archive und Geschichtsforschung (Festschrift Fridolin Solleder zum 80. Geburtstag), Neustadt a.d. Aisch 1966, S. 359–371, hier S. 361; Tröger (wie Anm. 4) S. 293–294. 24 Vgl. Herbert Schott, Von der Hauptstadt des Pegnitzkreises (1808) zur Metropolregion – Warum wurde Nürnberg nicht die Hauptstadt von Mittelfranken? In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 100 (2013) S. 449–500. – Ders., Ansbach als Sitz der Regierung von Mittelfranken. In: Daniel Burger – Wolfgang F. Reddig (Hrsg.), Ansbach, Beiträge zur Stadtgeschichte (Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken 106), Ansbach 2022, S. 329–369. 25 Während der sanierungsbedingten Räumung des Standorts Archivstraße 17 fanden ab 2019 (bis voraussichtlich 2026) die Altbestände, darunter die Bestände des Fürstentums Ansbach, ihr Ausweichquartier in angemieteten Räumen des Landeskirchlichen Archivs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (Veilhofstraße 8), wo sie weiterhin der Forschung zur Benutzung zur Verfügung stehen. 26 Zu den Archivanzeigen siehe Anm. 11. 27 Vgl. Tröger (wie Anm. 4) S. 152–157, 197–205, 429–495. 23
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-akten28, die Hofkalender und die Archivregistratur ermöglichen detaillierte Einblicke bis hin zur Entlohnung der verwitweten Frau Nützel, die für die Arbeit und Reinigung in Archiv und Registratur 1730 sechs Eimer Bier und 2 Simra Korn erhielt.29 Die prägenden Archivare der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren die Hofräte Carl Ferdinand Jung (1699–1772) und Johann Sigmund Strebel (1700–1764). Nach dem Tod des Archivars Johann Philipp Schneider hatte Markgraf Carl Wilhelm Friedrich (geb. 1712, reg. 1729–1757) beschlossen, zur besseren Ordnung des Archivs gleich zwei Nachfolger zu bestallen, was mit Dekreten vom 28. Juli 1732 erfolgte. Die Aufgabenteilung wurde so vorgenommen, dass Jung, unterstützt durch den vormaligen Archivsekretär und nunmehrigen Lehenrat Christoph Wilhelm Flechtner, für die nachbarschaftlichen Differenzien, Konferenzen, fürstliche Privilegien, Regalien usw. zuständig sein sollte, während Strebel haubtsächlich auf die general-ordnung und speziale disposition deß ganzen hochfürstlichen archivs (…), ingleichen auf die fortsez- und ergänzung deß repertorii generalis sowohl alß derer repertoriorum specialium (…) zu achten hatte.30 Somit leiteten formell drei Personen das Archiv: Jung, Strebel und Flechtner, deren Unterschriften sich auf den Berichten auch stets in dieser Reihenfolge finden. Der tatsächlich führende, d.h. das Archiv organisierende Kopf war jedoch – wie bereits die Bestallung angewiesen hatte – Johann Sigmund Strebel.31 Er war Hauslehrer des Erbprinzen Carl Wilhelm Friedrich gewesen und so dem Fürsten seit 1727 persönlich bekannt. Strebel war sofort nach Regierungsantritt Carl Wilhelm Friedrichs zum Justizrat ernannt worden. Als
StAN, Fürstentum Ansbach, Geheimes Archiv: Bestallungen. – Dieser Bestand ist leider stark dezimiert worden, so dass die zeitgenössischen Findmittel des 18. und frühen 19. Jahrhunderts eine wesentliche Quelle darstellen. Im Staatsarchiv Nürnberg wurde aus diesen Repertorien, den gedruckten Hofkalendern sowie einschlägigen Amtsbüchern die sog. Dienerkartei als übergreifendes Recherchemittel gefertigt. 29 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 70. 30 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 80. 31 Zu Strebel vgl. Johann August Vocke, Geburts- und Todten-Almanach Ansbachischer Gelehrten, Schriftsteller und Künstler, Band 2, Augsburg 1797, S. 172; Christian Meyer, Johann Siegmund Strebel. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Band 36, Leipzig 1893, S. 551 (mit falschem Geburtsdatum); F. Fikenscher, Johann Sigmund Strebel. Archivar und Historiker. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken 82 (1964/65) S. 243–245; Alois Schmid, Johann Sigmund Strebel (1700–1764). In: Fränkische Lebensbilder, Band 16, Neustadt a.d. Aisch 1996, S. 95–108. 28
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Leiter der Hofbibliothek32 bewies er sein besonderes Ordnungsgeschick, was ihn für die Tätigkeit als Archivar als besonders geeignet erscheinen ließ. 1732 wurde Strebel als Justizrat resolviert und unter Dispensierung von dieser Tätigkeit zum wirklichen Hofrat cum voto et sessione ernannt, wobei ihm die mitbesorgung des hochfürstl. archivs … nebst der beybehaltenden obsicht über die bibliothec aufgetragen wurde.33 Für diese Tätigkeit im Archiv erhielt Strebel neben dem Hofratsgehalt zusätzlich 100 Reichstaler und für die fortgeführte Bibliotheksarbeit eine Aufstockung um 50 Gulden. Für das 18. Jahrhundert ist weiterhin als ungemein tatkräftiger Ansbacher Archivar Gottfried Stieber (1709–1785)34 zu nennen, der 1733 Zutritt zur Hofrats-Registratur erhielt, 1735 zum dortigen Registrator aufstieg und von dort 1739 als Sekretär ins Geheime Archiv wechselte, wo er 1751 das Prädikat Archivrat erhielt. Als Hof- und Regierungsrat (seit 1762) war er in einer zweifellos hilfreichen, jedoch auch belastenden Doppelfunktion tätig. Wie Jung, so war auch Stieber als Autor von diplo Markgraf Wilhelm Friedrich (reg. 1703–1723) hatte die erste öffentliche Bibliothek in der Residenzstadt ins Leben gerufen. Durch Dekret vom 21. Dezember 1720 erklärte er die bisherige fürstliche Hausbibliothek zur öffentlichen Landesbibliothek, bestätigt durch hochfürstliches Ausschreiben vom 14. Juli 1721. 1738 erließ Markgraf Carl Wilhelm Friedrich einen Fundationsbrief, durch den die fürstliche Büchersammlung zusammen mit dem angegliederten Münzkabinett zu einer öffentlichen fideikommissarischen Anstalt des Hauses Brandenburg-Ansbach erklärt wurde: Die Hochfürstliche Bibliothek sollte „niemals geteilt“ werden und „eine ständige Zierde Ansbachs“ bilden zum Nutzen Einheimischer und Fremder, Lehrender und Lernender. Privilegierte Benutzer waren die Mitglieder der fürstlichen Kollegien, des Hochfürstlichen Geheimen Archivs und die studierende Jugend des Gymnasiums Carolinum mit seinen Lehrern. Zum Nachfolger des ersten Bibliothekars (1725) Magister Krebs wurde 1729 Johann Sigmund Strebel bestellt. Er machte sich um die Katalogisierung der Bestände zusammen mit dem zweiten Bibliothekar Gottlieb Paul Christ sehr verdient. Mit der wachsenden Bedeutung der Schlossbibliothek kam 1765 sogar ein dritter Bibliothekar hinzu, der auch als Münzinspektor die umfangreiche 1735 mit den Bücherschätzen vereinte Münzsammlung zu betreuen hatte, der Theologe und Numismatiker Johann Jakob Spieß, bekannt als Verfasser der „Brandenburgischen historischen Münzbelustigungen“ (1768–1772). Vgl. Günther Schuhmann, Ansbacher Bibliotheken vom Mittelalter bis 1806. Ein Beitrag zur Kultur- und Geistesgeschichte des Fürstentums Brandenburg-Ansbach (Schriften des Instituts für Fränkische Landesforschung an der Universität Erlangen 8), Kallmünz 1961. 33 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 79 (Abschrift). 34 Zu Stieber vgl. die Kurzbiographie („Nachwort“) von Gerhard Rechter im Nachdruck von Stiebers Historische(r) und Topographische(r) Nachricht von dem Fürstenthum Brandenburg-Onolzbach“ (Schwabach 1761), ND Neustadt a.d.Aisch 1994, S. I–XVI, wichtig auch wegen des Nachweises der noch vorhandenen Manuskripte. 32
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matischen und historisch-politischen Schriften tätig. Jungs Werke sind allerdings aufgrund etlicher Fehler („schlampig verfaßt“)35 und in ihrer unkritisch vor dem Leser ausgekippten Sammlung vor allem als Materialsammlung brauchbar, Stieber lag systematische Forschung deutlich näher. Hoch verdienstvoll ist die von ihm 1761 herausgegebene Landesbeschreibung „Historische und Topographische Nachricht von dem Fürstenthum Brandenburg-Onolzbach“ (Schwabach 1761), die auf der gründlichen Kenntnis der amtlichen Überlieferung beruht, deren Ordnung und Verzeichnung in seiner Ära stattfand.36 Den Druck seiner umfangreichen Geschichte der 1608 zu Auhausen gegründeten Protestantischen Union konnte Stieber nicht mehr bewerkstelligen, sie ist bis heute als Manuskript von drei Bänden Text (zusammen 2225 Seiten) und einem Band Urkundenbeilagen (1654 Seiten) erhalten.37 Nachdem 1769 unter dem letzten fränkischen Markgrafen Alexander (geb. 1736, reg. 1757–1791, gest. 1806)38 die Fürstentümer Ansbach und Bayreuth in Personalunion vereinigt worden waren, richtete man 1773 eine archivische Oberbehörde in Form des Oberdirektoriums unter der Leitung des bisherigen Kammerpräsidenten, Ersten Ministers und Geheimen Rats Wilhelm Friedrich Freiherr von Benckendorff (1720–1796) ein.39 Mit bemerkenswertem Eifer arbeitete sich von Benckendorff in die archivischen Belange ein und traf nach einer Archivkonferenz 1774 wegweisende Beschlüsse. Unter anderem wurde festgelegt, dass hinsichtlich des modus registrandi, das heißt die Art und das System der Erschließung, künftig einheitlich nach Ansbacher Vorbild vorgegangen werden solle. Doch schon bald trat die Archivarbeit des Oberdirektors gegenüber seinen anderen Aufgaben in der Staatsverwaltung in den Hintergrund; besondere Wirkung entfaltete er nicht mehr. Freiherr von Benckendorff trat nach dem Thronverzicht Markgraf Alexanders und der Besitzergreifung Tröger (wie Anm. 4) S. 430. Hierzu fertigte Stiebers Nachfolger J. L. A. Gebhard eine Ergänzung mit Korrekturen an: StAN, Fürstentum Ansbach, Geheimes Archiv: Ämterbeschreibungen 71. – S.a. Anm. 34. 37 Ein Manuskript von 1741 (3 Bände zu je 1000 Seiten) gelangte zusammen mit den Unionsakten nach Berlin; Tröger (wie Anm. 4) zitierte 1988 (S. 441, Anm. 49) noch die Signatur des DDR-Archivwesens: Zentrales Staatsarchiv Merseburg, Rep. 88 Nr. 81. Eine weitere Fassung (von 1778) befindet sich im Staatsarchiv Nürnberg: StAN, Historischer Verein für Mittelfranken, Handschriften 583/1–4. 38 Vgl. Arno Störkel, Christian Friedrich Carl Alexander: Der letzte Markgraf von Ansbach-Bayreuth, Ansbach 1995. 39 Tröger (wie Anm. 4) S. 198–206. 35 36
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Preußens 1792 von seinem Amt als Archivoberdirektor zurück und wurde durch Minister Karl August von Hardenberg (1750–1822) selbst ersetzt, so dass die Archive nunmehr wieder unmittelbar einer Zentralbehörde (nun dem fränkischen Landesministerium mit Sitz in Ansbach) unterstanden. 1796 von Hardenberg und Lang formulierte Überlegungen, ein einziges Zentralarchiv für die beiden fränkischen Fürstentümer zu schaffen, wurden nicht weiter verfolgt.40 Es blieb auch in preußischer Zeit bei der bewährten Aufteilung. Für die letzten Jahre des Ansbacher Archivs – zuletzt nur noch im Status eines Archiv-Conservatoriums (bis 1820) – ist noch der „Conservator und Archiv-Secretär“ Johann Lorenz Albrecht Gebhard zu nennen, der aufgrund der territorialen Änderungen in Folge der Säkularisation, Mediatisierung und verschiedener Gebietsarrondierungen – in preußischer und zuletzt in königlich bayerischer Zeit – nochmals enormen Arbeitsanfall bewältigte und bis ins hohe Alter von 74 Jahren seinen Dienst leistete; seine Epoche muss aufgrund der engen Verflechtung mit der bayerischen Archivgeschichte unter Reichsarchivar Franz Joseph Samet (1758–1828) einer gesonderten Darstellung vorbehalten bleiben.41 Eine nicht zu unterschätzende Arbeit leisteten die verschiedenen Kanzlisten und Schreiber. 1730 wurde Johann Martin Dill als zusätzlicher Schreiber oder Kanzlist in das Archiv aufgenommen.42 Als der bisherige Kanzlist Andreas Baurenberger43 1731 verstarb, rückte auf seine Stelle der bereits im Archiv tätige Christoph Sebastian Schreiber nach und so konnte der ebenfalls als „Assessionarius“ beim Archiv stehende Johann Martin Dill nun die Schreiber’schen Bezüge (Tractament) genießen.44 Um die 1732/33 erledigte Kanzlistenstelle des Kanzlisten Carl bewarben sich mehrere Personen; auch Schreiber verstarb wenig später. Die Stellen der Archivkanzlisten erhielten 1733 Franz Conrad Otho und Caspar Schubart, letzterer wechselte aus der Hofratskanzlei ins Archiv.45 Otho erhielt 1735 das Prädikat eines Tröger (wie Anm. 4) S. 270–271. Vgl. Tröger (wie Anm. 4); Walter Jaroschka, Reichsarchivar Franz Joseph von Samet (1758–1828). In: Archive. Geschichte – Bestände – Technik. Festgabe für Bernhard Zittel (Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern, Sonderheft 8), München 1972, S. 1–27. 42 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 68. 43 Er war 1720 nach zweijähriger fleißiger Arbeit im Archiv als Archivkanzlist aufgenommen worden und erhielt die gleiche Besoldung wie der dort bereits tätige Archivkanzlist Caspar Auernheimer. StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 39. 44 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 73. 45 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 112, 113 40 41
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Archivsekretärs.46 Der Registrator Caspar Auernheimer (gest. 1745) erhielt auf Spezialbefehl des Markgrafen 1733 für seinen besonderen Fleiß statt der bisherigen Besoldung nunmehr 200 Gulden und 2 Simra Getreide.47 1733 wurde Franz Conrad Otho als Archivkanzlist mit der gewöhnlichen Besoldung von 132 Gulden und 2 Simra Korn aufgenommen.48 Ebenfalls 1733 wurde der Hofratskanzlist Caspar Schubart zum Archivkanzlisten ernannt.49 Der cand. jur. Christoph Ludwig Meelführer erhielt 1745 Access beim Archiv.50 1756 wurde Archivregistrator Meelführer in Ansehung seiner langjährigen treuen Dienste zum wirklichen Archivsekretär (nach dem Archivrat Stieber) ernannt.51 Wie kompliziert die Rangverhältnisse im Geheimen Archiv werden konnten, zeigte sich, als am 6. Mai 1757 der Markgraf dem Johann Sigmund Beer das Prädikat des Hof-Regierungs- und Justizrats-Assessors verlieh und ihm zugleich den „Access“ zum Archiv gab, jedoch dergestalt …, dass in dem archiv der archiv-rath Stieber den rang vor ihm nehmen solle.52 Die Arbeitszeit (hier des Sekretärs Stieber und der beiden Registratoren Caspar Schubart/Schubert und Meelführer) dauerte 1750 im Sommer von 7 bis 12, nachmittags von 2 bis 5 Uhr; im Winter aber so lange das Tageslicht ausreichte, mithin erweißlicher massen mehr als die meisten ihres gleichen bey denen hochfürstlichen canzleyen.53 Die Besoldung war nicht besonders hoch, ersterer erhielt 250 fl und 2 Simra Korn, der zweite und dritte jeweils 200 fl und 2 Simra Korn. Daneben gab es noch sog. Gewölbeknechte, die für die Reinigung der Archivräume und der Hofratsregistratur sowie andere anfallende Arbeiten zuständig waren. Als ein solcher kann exemplarisch der 1732/33 angenommene Stephan Hintringer (gest. 1765) genannt werden.54 Obwohl das Ansbacher Archivpersonal überschaubar geblieben ist, kann man das 18. Jahrhundert auch bezüglich des Personalstands als eine Blütezeit bezeichnen. Der Sparzwang des hochverschuldeten Fürstentums StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 167. StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 111. 48 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 112. 49 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 113. 50 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 245. 51 StAN, Archivanzeigen 5, Prod. 56. Er hatte damit den Rang eines wirklichen Hof- und Regierungsrats-Sekretärs. Zugleich erwarb er die Expektanz auf die Besoldung des Archivrats Stieber. 52 StAN, Archivanzeigen 5, Prod. 57. 53 StAN, Archivanzeigen 5, Prod. 22. 54 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 100, 108. 46 47
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machte sich unter Markgraf Alexander und der preußischen Regierung bemerkbar. 1798 zählte das Archivwesen in den Fürstentümern Ansbach und Bayreuth – also mit Standorten in Ansbach, Bayreuth und auf der Plassenburg – unter dem Geheimen Archivrat Georg Karl Sigmund Strebel (dem „jüngeren Strebel“) und dem „Geheimen Archivarius“ Karl Lang (dem späteren Ritter von Lang, der seine Memoiren mit spitzer Feder überlieferte) zwei Archivsekretäre, drei Archivkanzlisten und zwei Archivdiener55. Diese knappe Personaldecke änderte sich auch im Königreich Bayern nicht mehr. Bei der Auflösung 1820 umfasste das Ansbacher Archiv lediglich den inzwischen 74-jährigen Conservator und Archivsekretär Gebhard als Leiter, den gleichfalls alten Kanzlisten Staudt und den „Archivdiener“ Viol,56 die mit Auflösung des Archivs sämtlich in den Ruhestand gingen bzw. aus dem Dienst schieden. Di e O rd n u n g s a r b e i t e n i m G e h e i m e n A r c h i v Im Folgenden können nur ausgewählte Bereiche vorgestellt werden, die das Wirken der Archivare im 18. Jahrhundert besonders deutlich machen. Es sei betont, dass das Geheime Archiv weitaus mehr Bestände umfasst. Der Kernbestand Den Kern des Geheimen Archivs machte das fürstliche (im zeitgenössischen Duktus: „hochfürstliche“!) Haus und dessen landesherrliche Gerechtsame und Besitzungen aus. Hierbei muss angemerkt werden, dass die Geheimen Archivare in Ansbach ein sprechendes Signatursystem verwendeten (im Gegensatz etwa zum abstrakten System des Geheimen Hausarchivs Plassenburg), was zu einer Vielzahl größerer und kleinerer Bestände führte (z.B. „Altväterliche, brüder- und vetterliche Dispositionen, Differenzien“ + laufende Nr., „Fürstliche Ehepacta und Bewittumben“ + laufende Nr.). Mittels eines systematisch gegliederten Generalrepertoriums, einer Art Verschränkung aus Beständeübersicht und Findbuch, war die Identifikation des für Recherchen einschlägigen Bestandes aber leicht möglich. Adreßbuch für die königlich-preußischen Fürstenthümer Ansbach und Bayreuth auf das Jahr 1798, Ansbach o.J., S. 28. 56 Adreß- und statistisches Handbuch für den Rezatkreis im Königreich Baiern, Ansbach 1820, S. 360. 55
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Die Gliederung des im 18. Jahrhundert auf älteren Grundlagen neu geschriebenen dreibändigen Generalrepertoriums entspricht auffallend der Zuständigkeitsregelung des Geheimen Rats nach der Ordnung von 1679, der u.a. die consilia auf beobachtung unser, unserer angehörigen und anverwandten hoheit, respect, herkommen, jura, particular negocia, als vermählungen, heirats-pacta, widdumb, jungen herrschafft education, peregrination, testamenta und dergleichen zu richten hatte. Das Generalrepertorium beinhaltet demzufolge haus- und staatsrechtliche Sachen: Erbeinigungen mit anderen Fürstenhäusern, Passivlehen, Privilegien, Haus- und Teilungsverträge, Beziehungen zu BrandenburgKulmbach, Landvogtei Elsaß, Wildbann, Eheverträge, Wittumsverschreibungen, Vormundschaften, markgräfliche und andere fürstliche Geburten und Trauerfälle, Landesordnungen, Erb- und Landeshuldigungen, hinterlegte Testamente anderer Stände, Privilegien benachbarter Stände, Verträge mit dem Adel u. a. Bereits 1734 konnte ein Bericht über die in vorigen zeiten biß anhero in ordnung gebracht u. in repertoria eingetragen(en) Archivalien vorgelegt werden.57 Die 25 Positionen lauteten: 1. Die von der brandenburgischen genealogie u. ankunft, auch aquisition vorhandenen bücher u. manuscripta 2. die vorhandenen sigilla, dann zur titulatur u. wappen gehörige documenta u. acta 3. die keyser- u. königliche general- u. particular-lehen-briefe 4. die lehenbriefe von churfürsten u. ständen 5. die keyser- u. königliche general- u. particular-privilegia 6. die alt-vätterlichen, vetterlichen u. brüderlichen pacta, dispositiones, einigungen, landestheilungen u. verträge 7. die Bayreuthische conferenz-acta 8. die mit dem hochfürstlichen hauß Brandenburg-Culmbach verhandelte acta, die praecedenz u. das craißausschreibamt betreffend 9. die ainigungen mit den erbverbrüderten häusern 10. die ainigungen zwischen der crone Böheim u. dem hauß Brandenburg 11. die ainigungen zwischen Brandenburg und Zollern 57
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die ainigungen des brandenburgischen hauses mit denen chur- und fürsten 13. die schwäbischen-bunds-documenta et acta 14. die ainigungen etlicher reichsstätte in Franken 15. verträge mit denen fränkischen bundsständen 16. ainigungen der Augspurgischen religions-verwandten unter sich, gegen die catholische stände 17. nachbarliche verträge u. recesse mit allen angränzenden herrschaften 18. fürstliche ehe-pacta u. bewittumben 19. fürstliche testamenta, verlassenschaften u. inventarien 20. fürstliche vormundschaft-acta 21. die religions-acta 22 a) die in 19 tomis vorhandene sogenannte gemeinbücher [ab 1685 aber noch fortzusetzen]; 22 b) die original-documenta u. acta von denen eingezogenen 9 stiftern u. clöstern (…) 23. die original-documenta u. acta von stadt u. amt Onolzbach 24. die original-documenta u. acta von dem oberambt Colmberg, u. dessen eingehörigen aemtern Colmberg u. Leutershausen, Jagsberg und Brunst. Als noch anstehende Arbeit wurde ein stattlicher Katalog von 52 Positionen aufgelistet, bei dem der erste Schwerpunkt (Nr. 1–13) auf den übrigen Oberämtern sowie den geistlichen Gütern des ehemaligen Stifts Ansbach und den Klöstern Heidenheim und Sulz lag.58 Dies griffen die Archivare auch mit großem Elan an und erstellten in den folgenden Jahren tatsächlich zu allen diesen Ämtern einheitlich aufgebaute Repertorien. 1735 meldete man als Arbeitsstand zum Band III des Generalrepertoriums folgende neu erfassten Abschnitte (also bearbeitete Teilbestände): 1. Fürstliche Vormundschaften und deren Einrichtung 2. Geburt fürstlicher Personen in dem hochfürstlichen Haus 3. Geburt auswärtiger fürstlicher Personen 4. Fürstlich brandenburgische Leichen- und Trauer-Akten 58
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Absterben auswärtiger fürstlicher Personen Erb- und Landeshuldigungs-Akten Fürstlich Brandenburgische Landes-, Haus-, Hof- und Kanzleiordnungen 8. Jagens-Begünstigungen und dagegen ausgestellte Reverse 9. Annahme und Bestallungs-Reverse der Räte und Diener. Des Weiteren vermeldete man die fortschreitende Bearbeitung der Unterlagen zu den 15 Oberämtern, die zuvor kaum 24 Laden umfasst hatten und die nun stattliche 110 Schubläden füllten. Hiervon waren bereits mehrere repertorisiert. Hinzu kam die Arbeit an den Unterlagen zur preußischen Sukzession (15 Bände) und den Kreistagsakten (bearbeitet von 1590 bis 1674) sowie die jüngere Kabinetts-Registratur, welche seit 20 jahren in unordnung verblieben war und die auf archivwürdiges Aktengut durchsucht wurde. Auch für die Arbeit des Jahres 1736 wurde ein Bericht geliefert.59 Die Repertorien der Oberämter und Stifte Das gesamte Fürstentum Brandenburg-Ansbach decken die Findbücher zu den Oberämtern und Stiften ab, deren Unterlagen die Archivare Jung, Strebel und Stieber nach einheitlichen Prinzipien ordneten. Hierfür zog man die amtliche Überlieferung in einer außergewöhnlichen Konsequenz ein, denn mit Dekret vom 20. August 1733 wurde verfügt, dass zur vollkommenen und kompletten Instandsetzung des hochfürstlichen Archivs mithin alle bey denen städten / ober- und aemtern befindliche briefliche urkunden und documenten in originali dahin [in das Archiv] bringen und hinterlegen zu lassen, wofür eine knappe Frist von lediglich vier Wochen zugestanden war.60 Der Erfolg war offenkundig beachtlich und schon 1735 konnte das Geheime Archiv eine Übersicht über die 110 Schubladen mit den Unterlagen zu den Oberamtsunterlagen vorlegen.61 Die Verzeichnungsarbeit an den Amtsunterlagen – wohlgemerkt handelt es sich dabei um einen im Geheimen Archiv gebildeten Pertinenzbestand, der Unterlagen verschiedener Behörden vereinigte! – fand in zwei Abschnitten statt. Der erste Teil widmete sich den Unterlagen zu den Rechten und BesitzunStAN, Archivanzeigen 1, Prod. 207. StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 110 (angeheftet). 61 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 170. 59 60
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Ein Beispiel eines im Geheimen Archiv Ansbach erstellten Repertoriums; hier: Oberamt Ansbach, 1735 (Staatsarchiv Nürnberg, Repertorium 141).
gen in den jeweiligen Oberämtern, deren Findbücher in den Jahren 1735 bis 1737 entstanden: – Oberamt Ansbach, 1735, von Jung (Rep. 141) – Oberamt Burgthann, 1735, von Jung (Rep. 142) – Oberamt Cadolzburg, 1735, von Jung (Rep. 143) – Oberamt Colmberg, 1735, von Jung (Rep. 144) – Oberamt Creglingen, 1735, von Jung (Rep. 146) – Oberamt Gunzenhausen, 1735, von Jung (Rep. 148) – Oberamt Hohentrüdingen, 1735, von Jung (Rep. 149) – Oberamt Crailsheim, 1736, von Jung (Rep. 145) – Oberamt Wassertrüdingen, 1736, von Jung (Rep. 154) – Oberamt Uffenheim, 1737, von Jung (Rep. 153) – Oberamt Stauf und Landeck, 1737, von Jung (Rep. 152)
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– Oberamt Feuchtwangen, 1737, von Jung (Rep. 147) – Oberamt Schwabach, 1737, von Jung (Rep. 151) – Oberamt Windsbach, 1738, von Jung (Rep. 155) – Oberamt Roth, 1740, von Jung (Rep. 150). Hierbei galt das Prinzip, dass Urkunden entsprechend der Originalsprache regestiert wurden, das heißt lateinische Urkunden erhielten auch ein lateinisch abgefasstes Regest. Aber diese Findbücher waren (und sind) weit mehr als Bestandskataloge, denn die fleißigen Archivare arbeiteten auch inhaltliche Querverweise ein, etwa auf kopiale Überlieferungen in den sog. Gemeinbüchern oder den sog. Ankunftsbüchern. In einer zweiten Phase erstellte vornehmlich Stieber die Findbücher zu den ehemaligen Klöstern und Stiften im Fürstentum, wobei in konsequenter Analogie zur Fortführung der Klöster als Verwaltungsämter auch Unterlagen nach der Säkularisation hier Eingang fanden: – Klosterverwalteramt Heidenheim, 1749, von Stieber (Rep. 160) – Klosterverwalteramt Wülzburg, 1750, von Stieber (Rep. 165) – Klosterverwalteramt Anhausen a.d. Jagst, 1751, von Stieber (Rep. 156) – Stift St. Gumbert Ansbach, 1752, von Stieber (Rep. 157) – Klosterverwalteramt Auhausen, 1752, von Stieber (Rep. 158) – Stift Feuchtwangen, 1752, von Stieber (Rep. 159) – Klosterverwalteramt Heilsbronn, 1752, von Stieber (Rep. 161) – Klosterveralteramt Solnhofen, 1753, von Stieber (Rep. 162) – Klosterverwalteramt Sulz, 1753, von Stieber (Rep. 164). Weiterhin: – Reichsgrafschaft Geyer, 1753, von Stieber (Rep. 167). Hinsichtlich der Verzeichnungsarbeit kann man feststellen, dass Stieber im Vergleich zu Jung offenbar ein stärkeres Augenmerk auf archivalientypologische und konversatorische Aspekte richtete. Während zuvor bei Urkunden nur knapp vermerkt wurde, ob ein Siegel noch vorhanden war oder nicht (cum sigillo, mit 2 sigillis o.ä.), vermerkte Stieber nun Typus und Befestigungsart genauer (cum appensa bulla plumbea funiculo cannabino, mit dem an braun seidenen schnur anhangenden großen kayserl. majestätssiegel) und vermerkte auch die Art eventuell vorhandener Beschädigungen.
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Die Repertorien der Reichstagsakten und Comitialia sowie der Kreistagsakten Nachdem die Archivare die Findmittel zu den Oberämtern und Stiften angefertigt hatten, wandte man sich den comitial- und craiß-tags-acta zu, welche doch zu einem eingerichteten fürstlichen archiv besonders … in negottiis fast alltäglich nöthig … gehören.62 Die Comitialakten wurden durch Archivsekretär Stieber zwischen 1741 und 1746 mit unverdroßenem fleiß, unablässiger gedult u. behöriger accuratesse zu stand gebracht und fassten für den Zeitraum von 1356 bis einschließlich 1745 stattliche 301 Bände. Stieber ging sogar so weit, in seiner Freizeit (Neben-Stunden) zu Hause hierzu in jahrelanger Arbeit ein vollständiges Lexicon comitiale in drei Bänden Entwurf bzw. fünf Bänden Reinschrift anzufertigen, was ihm ein besonderes Lob seines Vorgesetzten mit Fürsprache einer besonderen Belohnung einbrachte.63 Die Ansbacher Serie der Fränkischen Kreistagsakten (1438–1792) ist hinsichtlich ihrer Ordnung und Erschließung die beste überhaupt, ja einzigartig.64 Pretiosen, Typare, Münzstöcke und Medaillen im Archiv Zu den wohl ungewöhnlichsten Objekten im Geheimen Archiv Ansbach gehörten die sog. Pretiosen. Hierunter verstand man eine kleine Anzahl von meist kostbaren Objekten mit unmittelbarem Bezug zur markgräflichen Familie: Schmuckgegenstände wie ein Kettchen, ein Armband, Trau- respektive Eheringe u.ä., die 1784 auf hochfürstlichen Befehl von dem Kabinettssekretariat aus der Verlassenschaft der Markgräfin Friederike Luise an das Geheime Archiv abgegeben worden waren und als deren persönlichstes Eigentum angesehen werden können. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf das Verhältnis zwischen dem letzten Markgrafen Alexander und seiner Mutter aus königlich preußischem Haus, dass der Fürst diese Objekte nicht bei sich oder in der markgräflichen Kunstkammer verwahren ließ. Diese engstens mit dem Haus Hohenzollern verbundenen Objekte wurden 1806 zusammen mit anderen ausgewählten Archivalien StAN, Archivanzeigen 5, Prod. 21 (1750). StAN, Archivanzeigen 5, Prod. 21. 64 Mein Dank gilt meiner Kollegin Frau Dr. Nicola Humphreys, Staatsarchiv Nürnberg, als bester Kennerin der Kreisüberlieferung für ihre freundlichen Hinweise. Vgl. Nicola Humphreys, Der Fränkische Kreistag 1650–1740 in kommunikationsgeschichtlicher Perspektive (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Reihe 2, Geschichte des Fränkischen Kreises 3), Würzburg 2011. 62 63
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zum Transport nach Berlin verpackt und – um den Zielort gegenüber den in Ansbach bereits eingerückten französischen und bayerischen Truppen zu verschleiern – zunächst als Teil von vereinbarten Archivalientransporten auf die Plassenburg geliefert, wo sie aufgrund der weiteren Kriegsentwicklungen dann festsaßen.65 Über das weitere Schicksal dieses Sonderbestands ist bislang nichts weiter bekannt. Ebenfalls kein klassisches Archivgut, jedoch mit solchem enger verbunden, waren alte, nicht mehr benutzte Siegelstempel oder Typare der Markgrafen. Persönliche Typare waren seit dem 18. Jahrhundert im Geheimen Archiv verwahrt worden und gegen Ende des Jahrhunderts gelangten im Zuge der Behördenneuorganisation zunehmend auch ausgediente Amtssiegelstempel dorthin.66 Die Typarsammlung des Geheimen Archivs Ansbach wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts – wahrscheinlich über den Umweg Plassenburg – der großen Sammlung des Allgemeinen Reichsarchivs in München einverleibt. Leider erlitt diese bedeutende Sammlung im Zweiten Weltkrieg, als das Gebäude (heute ausschließlich von der Bayerischen Staatsbibliothek genutzt) von Bomben getroffen wurde, schwerste Verluste.67 1730 wurde das fürstliche Medaillenkabinett zur besseren Verwahrung dem Archiv übergeben; den Einwand der Archivare, wie alle Gewölbe im Kanzleigebäude sei auch das Archiv feucht und daher dem Metall nicht zuträglich, wurde nicht stattgegeben und die Lagerung dort an einem erhöhten orth befohlen.68 1737 wurde zudem verfügt, die alten Münzstöcke aus der Hofkammer in das Archiv zu liefern, dort von Rost zu reinigen und in einem eigens zu fertigenden Kästchen aufzubewahren. Selbstverständlich sollte das Archiv diesen Zugang auch erschließen, d.h. anzeigen, von was geprägen und jahrgängen selbige seyn.69 Die Abgabe der Münzprägestöcke an das Archiv Tröger (wie Anm. 4) S. 251–257, hier 255. StAN, Archivanzeigen 7, Prod. 73 Dekret zur Ablieferung von 14 großen und kleinen herrschaftlichen Siegeln zur Aufbewahrung vom 17. Februar 1775; StAN, Archivanzeigen 9 Prod. 75 Dekret zur Aufbewahrung von 2 Siegeln der verstorbenen Markgräfinwitwe und des Markgrafen vom 28. Mai 1789; Prod. 76 Recognition darüber. 67 Die Kenntnis des einst in Ansbach vorhandenen Bestands ist aufgrund des sog. Generalrepertoriums relativ gut möglich; ein entsprechendes Findbuch des Allgemeinen Reichsarchivs existiert leider nicht (mehr). Mein Dank gilt Frau Alexandra Scharmüller, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, für ihre freundlichen Hinweise. 68 StAN, Archivanzeigen 2, Prod. 30, 31, 33. 69 StAN, Archivanzeigen 2, Prod. 142. 65 66
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war durchaus folgerichtig, denn hierbei handelte es sich ähnlich wie bei Siegelstempeln um hoheitliche Objekte von rechtlicher Relevanz. Manuskripte und Nachlässe Wie im modernen Archivwesen üblich, so hatte bereits das Geheime Archiv Ansbach die Möglichkeit, neben dem eigentlichen staatlichen Registraturgut auch privates Schriftgut ergänzend zu sammeln. So wurde 1732 verfügt, die Manuskripte und „Collectanea“ des verstorbenen Hofrats Schneider aufzunehmen und aufzubewahren.70 1740 wurden die Manualakten des verstorbenen Geheimen Rats von Schemel auf fürstlichen Befehl hin in das Archiv geliefert und dort auf den genaueren Inhalt hin geprüft und verzeichnet.71 1746 beauftragte der Geheime Rat das Archiv, zu prüfen, ob man aus der zu versteigernden Canzlar Ludwig’schen Bibliothec zu Halle (zweifellos Johann Peter von Ludewig, gest. 1743) nicht einige nützliche „Deductiones und Manuscripta“ erwerben sollte.72 Es zeigte sich, dass das meiste einschlägige in Ansbach bereits vorhanden war. Allerdings konnte nicht immer archivwürdiges Material für das Archiv gesichert werden. So fahndete man 1744 vergeblich nach sechs kostbar gebundenen Großfoliobänden über Nürnbergische Arcanis, welche angeblich durch den Landarzt Daniel Gottlieb Schmid zu Fürth nach Aussage der Schmid’schen Witwe in das Archiv geliefert worden waren.73 1746 gab der Geheime Ratspräsident Freiherr von Seckendorff einen kleinen Bestand „Assessor Carlische Scripturen und Acta“ an den Geheimen Rat Strebel, womit Materialien des Juristen und Wirtschaftswissenschaftlers Ernst Ludwig Carl (1682–1742) in das Geheime Archiv gelangten.74 StAN, Archivanzeigen 2, Prod. 37. StAN, Archivanzeigen 2, Prod. 174–175. 72 StAN, Archivanzeigen 4, Prod. 10, 11, 12. 73 StAN, Archivanzeigen 3, Prod. 53, 54. 74 StAN, Veraltete Repertorien 436/II, Prod. 68, Verzeichnis vom 21. April 1759. Vgl. Anton Tautscher, Ernst Ludwig Carl (1682–1743), der Begründer der Volkswirtschaftslehre, Jena 1939; Anton Tautscher, Carl, Ernst Ludwig. In: Neue Deutsche Biographie, Band 3, Berlin 1957, S. 139; Karl Kunze, Ernst Ludwig Carl. Ein fränkischer Chargé d‘affaires und Kameralist an Höfen des europäischen Absolutismus (Diss. phil. Erlangen-Nürnberg) (Beiträge zur Landes- und Volkskunde Frankens 6), Nürnberg 1966; Karl Kunze, Der ansbachische Hofrat E. L. Carl als Kameralist, Literat und Agent im Paris des frühen 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken 85 (1967/68) S. 40–59; 70 71
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Diese Erwerbspraxis wurde auch nach 1750 fortgesetzt, indem sich das Geheime Archiv wiederholt bemühte, historisch interessante Nachlässe zu erwerben. Hierzu zählten insbesondere die Manuskripte der verstorbenen Archivare, aber auch anderer dem Hof bzw. der Staatsverwaltung nahestehender Personen. Der Geheime Rat und Direktor des gemeinschaftlichen Ratskollegiums Christoph Philipp Sinold gen. von Schütz (1689–1762) übergab angesichts seines nahen Todes seine Collectaneen mit einem Schreiben vom 13. Oktober 1761 an das hochfürstliche Geheime Archiv.75 Zuvor hatte der Archivrat Gottfried Stieber ein Repertorium angefertigt. Die Schützische Sammlung, welche der Gliederung des Generalrepertoriums sehr ähnlich aufgebaut war, ist heute im Bestand „Ansbacher Historica“ aufgegangen. Gleiches geschah mit den Manuskripten des Sekretärs Friedrich Christoph Neydecker zu Fürth (gest. 1772).76 Einen besonders bedeutenden Zuwachs stellte der Nachlass des Ansbacher Prozessrats Johann Christian Valentin Hagen (1711–1779)77 mit umfangreichen Col lectaneen zur Geschichte des Hauses Brandenburg und der fränkischen Hohenzollern-Territorien dar, den das Geheime Archiv 1781 erwerben konnte und der als eigener Bestand („Hagen‘sche Bücher“) fortbesteht. Eine Vielzahl an kleineren Manuskripten und historisch-genealogischen Ausarbeitungen vor allem aus der Feder Gottfried Stiebers befindet sich heute auch im Bestand „Ansbacher Archivakten“.78 Dies ist ein Hilfsbegriff, da hier v.a. Registraturgut verschiedener markgräflicher Behörden enthalten ist. Eine Analyse muss noch klären, was davon – wie zu vermuten – an das Geheime Archiv abgegebene oder dort im Rahmen der Auftragserledigung der Archivare entstandene Unterlagen sind, was als deren Manuskripte typologisch eher unter die Nachlässe zu rechnen ist und was
Karl Kunze – Thomas Lambertz, Die Abhandlung über den Reichtum der Fürsten und ihrer Staaten des ansbachischen Hofrats Ernst Ludwig Carl. Übersetzung und Kommentar. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken 94 (1988–1989) S. 78–118. 75 StAN, Fürstentum Ansbach, Brandenburg Literalien 880. Der Nachlass selbst umfasst die Bände StAN, Fürstentum Ansbach, Geheimes Archiv: Historica Nr. 341–351. 76 Bände StAN, Fürstentum Ansbach, Geheimes Archiv: Historica Nr. 281–340. Zu Neydecker hatte das Geheime Archiv wegen dessen Arbeiten Kontakt, siehe StAN, Archivanzeigen 6, Prod. 38–40, 42, 44–46. 77 Vgl. Georg Wolfgang Augustin Fikenscher, Gelehrtes Fürstentum Bayreuth: oder biographische und literarische Nachrichten von allen Schriftstellern, welche in dem Fürsten thum Baireuth geboren sind und in oder außer demselben gelebt haben und noch leben in alphabetischer Ordnung, 4. Band, Erlangen 1801, S. 221–225. 78 Vgl. Rechter (wie Anm. 34) S. XI–XIV.
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im 19. Jahrhundert unter Pertinenzgesichtspunkten erst nachträglich hier angereiht wurde. Nur am Rande sei erwähnt, dass der letzte Ansbacher Archivar Johann Lorenz Albrecht Gebhard – ungeschmälert seiner hohen archivischen Verdienste – „keinerlei historische Forschung betrieben hat. Was von ihm an Gutachten und Ausarbeitungen vorliegt, hält sich im Rahmen der üblichen Bearbeitung der ans Archiv gerichteten Anfragen der Verwaltung.“79 An dieser veränderten Ausrichtung mag es liegen, dass das Archiv unter Gebhard keine Archivarsnachlässe oder Manuskripte mehr erwarb.80 Amtsbibliothek Kurz erwähnt sei die einstige Amtsbibliothek des Geheimen Archivs. Hierunter muss man sich den für die Arbeit unabdingbaren Handapparat an juristischer und historischer Fachliteratur vorstellen, wie er bis heute für den internen Dienstbetrieb eines Archivs notwendig ist. 1787 sah man die Gelegenheit, die Ausstattung mit im Archiv nur in geringer anzahl vorhandene(n), gleichwohl aber höchstnöthige(n) diplomatischen und historischen schriften bei der Auktion der Bibliothek des verstorbenen Hofrats und Archivars Stieber deutlich zu verbessern.81 Mit Auflösung des Ansbacher Archivs ist auch der immerhin 806 Nummern umfassende Bücherbestand abtransportiert worden und fand weitgehend in der Amtsbibliothek in Nürnberg, im Allgemeinen Reichsarchiv in München (heute Bayerisches Hauptstaatsarchiv) und wohl auch im Staatsarchiv Bamberg eine neue Heimat. Ein Bibliothekskatalog von der Hand des Archivars Johann Lorenz Albrecht Gebhard um 1800 und die von ihm eingetragene Signatur im Innendeckel der Bände macht es möglich, die zugehörigen Stücke zu identifizieren.82 Jedoch gehört die Erforschung historischer
Tröger (wie Anm. 4) S. 455. Tröger (wie Anm. 4) S. 450–451 unter Hinweis auf den weitestgehend verlorenen Nachlass des „jüngeren“ Strebel (gest. 1813), von dem noch Nachlass-Splitter sich in der Urkundensammlung des Historischen Vereins für Mittelfranken (heute als Depot im Staatsarchiv Nürnberg) befinden. 81 StAN, Archivanzeigen 9, Prod. 34–35. 82 StAN, Veraltete Repertorien 423 und 424 (Stand 1800); dazu Nr. 434 mit Katalog von 1850, d.h. nach Überführung und Zusammenlegung des Nürnberger und Ansbacher Archivs. 79 80
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Amtsbibliothek(en) zu den Desideraten, die noch lange Zeit auf eine Bearbeitung werden warten müssen.83 Im Di e n s t e d e s St a a t e s Streben um bessere Schriftgutverwaltung Die Ordnung der Staatsverwaltung, die „Gute Policey“84 des Landes und die Gesundung der Staatsfinanzen waren Markgraf Carl Wilhelm Friedrich, dessen Gedenken lange unter der populären, aber einseitig-negativen Presse des frühen 19. Jahrhunderts litt, die ihm den Beinamen „Wilder Markgraf“ verpasste, durchaus ein Anliegen. Hierbei kam es zu einer typisch barocken Regelungswut, deren Masse an Ausschreiben und Verordnungen den Erfolg der Unternehmungen leicht verschleiern kann.85 Die persönliche Teilnahme des Fürsten an Sitzungen zum Thema Schriftgutverwaltung, etwa zu Registraturplänen, ist ausdrücklich belegt, insofern darf man wohl auf ein gewisses persönliches Interesse schließen. Hier seien aus dem Bereich der Policeyordnungen beispielhaft hinsichtlich der Verwaltung genannt: – Kanzleireglement 173086 – Gerichts- und Prozessordnung 1730 – Amtlicher Registraturplan für Ämter 1738 – Onolzbachische Kammer- und Kanzlei-Sporteln-Tax 1742 – Stampfordnung 1753 – Amtlicher Registraturplan für Dekanate, Pfarreien und Kaplaneien 1761.
Siehe aber die jüngste Diskussion auf dem 72. Westfälischen Archivtag (17./18. März 2021) im eigenen Abschnitt „Stiefkind Archivbibliothek? Profil, Nutzen, Fachlichkeit“. 84 Vgl. die Auswahledition bei Wolfgang Wüst (Hrsg.), Policeyordnungen in den Markgraftümern Ansbach und Kulmbach-Bayreuth. Ein Quellenwerk (Die „Gute Policey“ im Reichskreis. Zur frühmodernen Normensetzung in den Kernregionen des Alten Reichs 5), Erlangen 2011. 85 Vgl. die Statistik bei Burger (wie Anm. 1) S. 218. Die dortige Zählung basiert auf der Auswertung der chronologischen Findbücher des 18. Jahrhunderts (angefertigt durch den Archivar Gebhard nach 1783), die bis heute im Staatsarchiv Nürnberg zur Erschließung dienen: StAN, Fürstentum Ansbach, Repertorien Nr. 116 I–III. 86 Vgl. Wüst (wie Anm. 84) S. 377–398. 83
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In dieses Streben nach besserer, um nicht wertend zu sagen: modernerer, Staatsverwaltung fügt sich die Sorge um die Schriftgutverwaltung und die Arbeit des Ansbacher Geheimen Archivs gut ein. Zu den Grundbedingungen des ordentlichen Staatshandelns gehört schon immer die vollständige und nachvollziehbare Aktenführung. Oft stand es damit nicht zum Besten und man musste gegensteuern. Am 30. Dezember 1739 etwa erging folgendes Dekret: nachdem man in müßliebige erfahrung bringen müssen, dass bey denen hochfürstl. canzleyen die an die hochfürstl. collegia von dem hochfürstl. geheimen rath ergehende decreta zum öffteren verleget werden oder gar verlohren gehen; Alß wird gesammten canzleyen hiemit intimiret, dass die geheime canzley alle und jede an die hochfürstl. collegia übergebende decreta von jedem enpfanger in einem zu haltenden diario sich einzeichnen lassen solle, von welchem sonach die verantwortung abgefordert werden wird.87 Da sich immer wieder Akten, Dokumente und Briefe in den Privathäusern der Räte, Sekretäre und anderer „Kanzleiverwandten“ auffanden, folglich in den Registraturen fehlten, erließ der Fürst am 2. Februar 1752 ein deutliches Dekret, eine universale verordnung an alle und jede hochfürstl. raths-collegia, canzleyen, registraturen und balleyen.88 Demnach waren alle herrschaftlichen Akten, sofern sie nicht präcise zu einer unter handen seyenden arbeit erforderlich sind, binnen 14 Tagen bey vermeydung herrschaftl. ungnade, an die jenige registratur und stelle, worein solche acten gehören … zurück(zu)liefern. Über die dringend benötigten, also noch ausgefolgten Akten aber war eine Übersicht zu erstellen und bei der jeweiligen Registratur einzuliefern. Binnen drei Wochen hatte jeder Rat und Diener über den Vollzug dieser Befehle an den Geheimen Rat zu berichten. Witwen und Erben von verstorbenen Räten und anderen Dienern mussten nach solchen verschollenen Papieren nachsuchen und diese einliefern, sonst drohte der Verlust des Nachsitzes und Rückforderung der hieraus bislang genossenen Bezüge – eine schwere Drohung. Die Scheidung des Nachlasses zwischen privatem Schrifttum und Amtsschriftgut sollte unter Zuziehung eines herrschaftlichen Dieners erfolgen. Wie oft bei solchen Aktionen ist jedoch über den Erfolg nichts Näheres bekannt. Innerhalb des Bemühens um eine bessere Organisation der Staatsverwaltung und ihres Schriftguts im Fürstentum Brandenburg-Ansbach kam im 18. Jahrhundert dem Archiv eine besondere Rolle zu. Das Geheime 87 88
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Archiv stand nach Ansicht der Zeitgenossen mit der Hofratsregistratur in genauer connexion, weshalb die Sekretäre und Registratoren des Hofrats angewiesen wurden, hinsichtlich Handhabung der Akten (d.h. wohl der Aktenführung) sich nach Maßgabe des Archivs zu richten.89 Als Markgraf Carl Wilhelm Friedrich 1733 eine Trennung des Hof- und Justizrats in zwei Bereiche verfügte, hatte dies natürlich sofort Auswirkungen auf die registratur-stuben und gewölbe, die ebenfalls geteilt werden mussten. Dies geschah unter ausdrücklich anbefohlener Aufsicht des Archivs, beschäftigte das Archiv natürlich angesichts der Größe jener Zentralbehörde noch geraume Zeit (1752 kam es jedoch zur neuerlichen Zusammenführung von Hof- und Justizrat).90 Die bei der nun folgenden Trennung zutage tretende nachlässige Aktenführung des Hof- und Justizrats wurde in einem Dekret von 1734 scharf gerügt und bemängelt, die Registratoren trügen am wenigsten ihr augenmerk und sorge auf die complirung der acten (…), selbige unordentlich auf einander, nummeriren sie nicht einmahln (…), mithin verschiedene acta mit einander confundiren und vermischen, auch nachmittags die wenigste zeit oder wohl gar nicht in der registratur sich befinden, sondern nach ihrem gefallen mit zurücklaßung der arbeit ab- und weggehen.91 Die Archivare wurden daher ausdrücklich beauftragt, auf die Hof- und Justizratsregistratoren eine genaue obsicht zu führen, wobei bei schweren Verstößen deren Anzeige sogar zur Entlassung führen sollte. Der Akt des Geheimen Archivs enthält den Entwurf des „RegistraturReglements“ mit dem klaren Zusatz nach maaßgab des am 24. dec. 1734 in praesentia serenissimi vorläufig abgefassten conclusi.92 Bereits am 29. Dezember 1734 – man hatte also über die weihnachtlichen Festtage hinaus kaum Muße – lag eine ausformulierte Reinschrift des Registratur-Reglements vor, die am 30. Dezember in praesentia serenissimi abgelesen und approbirt wurde.93 Da diese unter dem II. und III. Titel sich der Registratur des Hof- bzw. Justizrats speziell zuwandte, wurden die Hofräte und Archivare Jung und Strebel beauftragt, dieses Reglement den dortigen Registratoren persönlich zu eröffnen.94 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 101 (Dekret vom 13. Februar 1733). StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 115, 116, 124 (Dekret vom 11. Januar 1734). 91 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 142. 92 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 149. 93 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 151 (der Vermerk auf der letzten Seite verso). 94 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 152. 89 90
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In einem zweifellos auf jene Sitzung vom 24. Dezember 1734 zurückzuführenden Dekret diesen Datums verfügte der Markgraf, dass künftig alle einlaufenden Schreiben bei der Hof- und der Justizratsregistratur sogleich eingehefftet werden sollen.95 Dies war ein wichtiger Schritt zur Vollständigkeit der Aktenführung. Das Problem der losen Papiere und die Frage der Aktenheftung sollte (nicht nur) im fränkischen bzw. bayerischen Registraturwesen bis in das 20. Jahrhundert immer wieder auftreten.96 Ebenfalls 1734 sollte auch die Konsistorial-Registratur neu geordnet werden, und zwar in behörige ordnung nach denen jährgängen (…) und die zerstreüte jedoch unter eine rubric behörige fasciculi oder materien ordentlich auf einander registriret, dann alle und jede acta in folio geleget und sofort gehefftet oder gebunden werden.97 Die hierzu erforderliche Person wurde bestimmt und das Konsistorium zu nötiger anleitung an das hochfürstliche archiv gewiesen. 1735 fasste der Fürst den Entschluss, nun auch die Kammerregistratur in einen vollkommenen stand und ordnung bringen (zu) lassen, auch hier wurden wieder die Archivare in diese Arbeit voll eingebunden und per Dekret des Geheimen Rats beauftragt, Vorschläge zu Vorgehen und Personal zu erarbeiten.98 Gleiches erfolgte für die Registratur der Landschaft.99 Am Ende des Jahres konnte das Archiv tatsächlich einen Gliederungsentwurf für die Hofkammer-Registratur in 15 Haupttitel und für das Konsistorium in 20 Haupttitel vorlegen.100 1736 erarbeitete Archivar und Hofrat Strebel eine Instruktion zur Einrichtung der Jagd- und Wildbanns-Registratur.101 Für das Registraturwesen der Unterbehörden kann man eine wesentliche und wirkungsvolle Maßnahme feststellen: 1738 wurde für sie ein ein-
StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 146. 1737 wurde hierzu Bericht eingefordert, ebenda Prod. 211. 96 Als „Badische Aktenheftung“ war sie in einer besonderen Variante in der badischen Justiz und Verwaltung üblich, während sich sonst die Aktenschnellhefter und Aktenordner mit Lochung weit durchgesetzt haben. Im modernen staatlichen bayerischen Archivwesen werden die Akten aus Aktenordnern auf säurefreie, alterungsbeständige Plastikbügel zwischen Pappdeckel umgelegt, da so gegenüber Aktenordnern deutlich Platz eingespart werden kann. 97 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 165. 98 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 164. 99 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 169. 100 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 183. 101 StAN, Archivanzeigen 1, Prod. 189, 190. 95
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Der 1738 im Druck herausgegebene Einheits-Registraturplan, hier der Abschnitt Titel I zu den Herrschaftlichen Gerechtsamen (S. 1–2) (Staatsarchiv Nürnberg, Fürstentum Ansbach, Druckschriften 528).
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heitlicher Akten- und Registraturplan sogar im Druck herausgegeben.102 Demnach wurden alle Behördenregistraturen in fünf Classis oder Hauptgruppen eingeteilt, die wiederum mehrere Titel umfassten: I. Klasse: Landesherrliche Regalia und Jura II. Klasse: Geistliche Pfarr-, Kirchen- und Schulsachen, inklusive Konsistorial- und Ehesachen III. Klasse: Kameralia (d.h. Finanzverwaltung, Rechnungswesen) IV. Klasse: Landschaftliche Sachen (betreffend Steuer und Militär) V. Klasse: Zivil-Klag- und Parteisachen. Besonders modern wirkt der Schlusssatz, der eine Erweiterung des Plans ermöglichte, so dass Behörden mit besonderen Aufgaben oder Erweiterungen des Aufgabengebietes hier integriert werden konnten. Mit Hilfe der Archivare des Geheimem Archivs kam es in Folge des neuen Registraturplans von 1738 zu einer Neuordnung verschiedener Amtsregistraturen: 1743 Heidenheim, Crailsheim, Geleitsamt Fürth; 1744 Stadtregistratur Ansbach; 1745 Windsbach, Gunzenhausen, Wülzburg; 1747 Kastenamt Wiesenbach im Oberamt Crailsheim; 1749/50 Hohentrüdingen, Lobenhausen, Treuchtlingen. Danach ebbte diese Tätigkeit für externe Behörden allerdings ab, wahrscheinlich war die Leistungsfähigkeit der personell kleinen Archivverwaltung erschöpft. Soweit bei den Aktenanalysen bislang zu sehen war, haben sich fast alle übrigen Ämter auch nach diesem Plan gerichtet, selbst wenn man im Einzelnen nicht die gleichen Nummerierungen übernahm.103 Daher wurde 2009 im Staatsarchiv Nürnberg beschlossen, diesen Einheits-Registraturplan von 1738 als Grundlage für die Rekonstruktion der Unterbehörden des Fürstentums Brandenburg-Ansbach heranzuziehen. 2015 wurde diese mustergültige Ordnung auch als Vorbild für die Gliederung der Unterbehörden des Fürstentums Brandenburg-Bayreuth adaptiert.104 1761 wurde
StAN, Fürstentum Ansbach, Druckschriften 528 (dort Prod. Nr. 14); s. in diesem Beitrag S. 277 ff. 103 Mein herzlicher Dank gilt meinem Kollegen Herrn Gunther Friedrich, Staatsarchiv Nürnberg, der seit vielen Jahren die Provenienzanalysen der markgräflichen und preußischen Mittel- und Unterbehörden durchführt, für seine freundlichen Hinweise. 104 Mein Dank gilt dem seinerzeitigen Leiter des Staatsarchivs Bamberg, Dr. Stefan Nöth, für die Möglichkeit, während meiner Abordnungszeit an das Staatsarchiv Bamberg die Gliederung und Verzeichnung der markgräflichen bzw. königlich preußischen Unterbehörden voranzubringen. 102
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ganz entsprechend – formal vom fürstlichen Konsistorium ausgehend – ein einheitlicher Registraturplan für die Dekanate und Pfarreien erlassen.105 Was jedoch nach dem derzeitigen Stand der Analysen schwer wiegt, ist das weitgehende Scheitern von Reformbemühungen bei der Schriftgutverwaltung der Zentralbehörden. Das Geheime Archiv wurde als Departement oder Anhängsel des Geheimen Rats angesehen, die Archivare konnten sich hier kaum durchsetzen. Die Registratoren der Zentralbehörden wachten eifersüchtig über ihre Unterlagen und gaben nur zögernd an die Archivare ab. Raummangel gab nie den Anstoß für Aktenaussonderungen. Visitationen oder gar Vorschriften durch die Archivare ließen sich kaum durchsetzen, im Großen und Ganzen herrschte bei den Zentralbehörden wohl einiges Durcheinander bei der Aktenablage. Zensur und Gutachtertätigkeit in wissenschaftlicher Publizistik Eine immer wieder auftretende Tätigkeit war die Auskunft an Forscher bzw. noch mehr die Revision (Censur oder Recension) von zum Druck vorgesehenen historischen Schriften, so insbesondere die zahlreichen und umfangreichen Arbeiten Johann Heinrich von Falkensteins (1682–1760).106 Teilweise (so etwa zu den Falkensteinischen „Antiquitates Nordgauienses“) wurden hier detaillierte Monita vorgelegt. Das Archiv wurde auch in den Streit zwischen den Gelehrten hineingezogen, so als der Hofrat von Falkenstein Zweifel über die Arbeiten des Pfarrers Samuel Wilhelm Oetter (1720–1792) zur burggräflichen Geschichte äußerte.107 Das Archiv schlug hier angesichts eher geringfügiger Differenzen vor, dass von Falkenstein StAN, Fürstentum Ansbach, Druckschriften 526, Prod. 14; siehe in diesem Beitrag S. 283 ff. Inwieweit diesem gefolgt wurde, wäre noch zu prüfen. Allerdings haben die evangelischen Pfarreien im 19. Jahrhundert einen neuen Einheitsaktenplan erhalten. Ich danke Herrn Dr. Daniel Schönwald, Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, für seinen freundlichen Hinweis. 106 Vgl. Heinrich Schlüpfinger, Leben und Werk des Johann Heinrich von Falckenstein. In: Ders. (Hrsg.), Schwabach. Beiträge zur Stadtgeschichte und Heimatpflege 1977, Schwabach 1977, S. 109–138; Ders., Biographie des Historikers und Chronisten Johann Heinrich von Falckenstein (1677–1760) auf Grund neuer Forschungsergebnisse. In: Schwabacher Heimat 31,2 (1992), S. 1–8. 107 StAN, Archivanzeigen 4, Prod. 101, 102, 103, 104 (1752). Es handelt sich um Samuel Wilhelm Oetter, Versuch einer Geschichte der Burggraven zu Nürnberg und nachmaligen Markgraven zu Brandenburg in Franken …, deren erster Teil 1751 erschienen war. Zum Autor siehe Siegfried Hänle, Oetter, Samuel Wilhelm. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Band 24, Leipzig 1887, S. 562–564. 105
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statt eines öffentlichen Druckwerks seine irgendhabende zweiffel und anstände dem pfarrer Ötter zu Linden mittelst eines freundlichen commercii litterarum in privato zu erkennen geben sollte – und der Hofrat folgte diesem Vorschlag, was freilich nicht lange währte, so dass man das Archiv anwies, neue Manuskripte beider durchzugehen und über jedes sich separat gutachterlich zu äußern, ob ein Druck unbedenklich (d.h. in den Worten des Archivars: nicht der wahrheit der geschichte oder der ehre u. hoheit der herren burggrafen zu nahe getretten) sei.108 Wie unmittelbar das Geheime Archiv in die Publikation historischdiplomatischer Werke eingebunden war, zeigt sich etwa darin, dass dort das von Falkenstein‘sche Manuskript der Codices diplomatici als Teil der Nordgauischen und Burggräflichen Geschichte in Verwahrung lag, auf deßen edirung das publicum bekanntlich schon lange wartet und 1763 erst auf ein archivisches Gutachten die Herausgabe an den Schwabacher Buchhändler Endres erfolgte, was 1784 für das gleiche Begehren des Nachfolgers, den Buchhändler Riedel zu Neustadt an der Aisch wiederholt wurde.109 Ein besonderer Auftrag erreichte das Archiv im Juni 1774, als nach zwölf Jahren Arrest auf der markgräflichen Festung Wülzburg der Hofrat Kucher gegen Urfehde entlassen und des Landes verwiesen wurde. Er erhielt seine beschlagnahmten und beim Geheimen Archiv in einem versiegelten coffre verwahrten Papiere zurück, nicht ohne diese zuvor auf Befehl hin nochmals durchzugehen, die verdächtige(n) briefschafften daraus zurück zu behalten.110 Hier fungierte das Archivs sozusagen als Asservatenkammer und juristischer Zensurort. Recherchen für die Staatsverwaltung Die Kernaufgabe des Geheimen Archivs war selbstverständlich die Zuarbeit für die eigene Staatsverwaltung. Dies betraf vor allem die Wahrung der staatlichen Gerechtsame, aber auch die Landesfinanzen. Im Einzelnen kann dies hier nicht näher dargestellt werden, aber ein Beispiel aus dem Jahr 1737 illustriert das sehr schön: Das Archiv erhielt den Auftrag, zu künfftiger wissenschaft, nachricht und anerinnerung alle und jede prätensioStAN, Archivanzeigen 6, Prod. 2–6 (1757–1758). StAN, Archivanzeigen 6, Prod. 30–32. Das Zitat im Dekret vom 13. September 1763 zur Erstellung des Gutachtens. StAN, Archivanzeigen 8, Prod. 61–63. 110 StAN, Archivanzeigen 7, Prod. 62–63. 108 109
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nes und forderungen des hochfürstl. haußes an auswärttige sowohl von älteren alß jüngeren zeiten, nur in kürze in ein buch zusammen zutragen und davon ein exemplar zum hochfürstl. geheimen rath zu überreichen.111 Die Archivare Jung und Strebel baten um nähere Auskunft über die Intentionen dieser Anweisung, ob hiebey die absicht auf jura oder nomina zu nehmen, mithin in obiges buch die zusprüche auf expectationen, successionsrechte etc. oder nur auf capitalienforderungen nach substantionalem inhalt ingrossiert werden sollen? Die Antwort war vorherzusehen: Alle Möglichkeiten sollten berücksichtigt werden. Leider ist es bislang nicht gelungen, dieses Praetensionsbuch – so es denn zustande kam – in einem Archivbestand zu identifizieren. Immerhin ist nachzuvollziehen, dass sich Jung und Strebel mit großer Gründlichkeit an die Arbeit machten. Sofort stießen sie auf fehlende Unterlagen; so waren etwa 1715 aus dem Archiv an eine Juristenfakultät übergebene Unterlagen noch nicht wieder zurückgegeben worden und man bat um Nachfrage bey einem und anderen dero herrn minister und räthen, wohin wohl damals die Akten gegeben worden waren.112 Die Arbeit wurde auch durch Nichtreaktion etwa des Lehenhofes auf Archivanfragen verzögert. Andere Behörden lieferten entsprechende Übersichten ein, so etwa die Obereinnehmerei über bei benachbarten Herrschaften und auf Gütern verzinslich stehende Kapitalien oder die Hofkammer.113 1740 fragte man nochmals das Archiv nach dem Stand des Prätensionsbuches – in dem Konzept der Antwort wurde dann zumindest schon die 28 Punkte umfassende Gliederung dargelegt.114 Wie eng verwoben historische Recherchen und Staatsaufgaben waren, zeigt das Beispiel der kirchlichen Baulast: Ob die Kirchenstiftung („Heiligen“), ein Patronatsherr oder der Landesherr („Staatsgebäude“) für den Bauunterhalt zuständig war, musste immer wieder aus dem Einzelfall heraus ermittelt werden. In einem solchen Fall hat beispielsweise der Hofrat für die erst nach dem Dreißigjährigen Krieg von Brandenburg-Ansbach eingezogene Herrschaft Treuchtlingen ausführlich die Geschichte der Religionsverhältnisse (die Konversion des Grafen Gottfried Heinrich von Pappenheim mit Rekatholisierung des Ortes sowie den Kampf der verblie-
StAN, Archivanzeigen 2, Prod. 148. StAN, Archivanzeigen 2, Prod. 155. 113 StAN, Archivanzeigen 2, Prod. 161–165. 114 StAN, Archivanzeigen 2, Prod. 183, 191. 111 112
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benen evangelischen Teilbevölkerung um Ausübung und Ort des Gottesdienstes) darstellen lassen.115 Ein anderes Beispiel von 1743 betrifft die Erstellung eines Gutachtens über die Funktion des Fränkischen Kreisobristen116 oder 1744 ein zu erstattendes Gutachten über die Beschaffenheit der ehemaligen vier Hoferb ämter des Burggraftums Nürnberg angesichts einer durch BrandenburgBayreuth vorgeschlagenen Wiedereinführung.117 1747 sollte das Archiv – angestoßen übrigens durch das königlich preußische Ministerium – berichten wegen des von Würzburg sich angemaßten tituls eines herzogs von Franken (…), was desfalls in vorigen zeiten verhandelt worden u. was vor deductiones hierüber vorhandelt worden.118 1749 wurde das Archiv zum Bericht aufgefordert, wie es bei denen k. thron-belehnungen der beeden hochfürstl. Brandenburg. häuser gehalten worden119, 1750 lieferte man einen Aktenauszug über die Königswahlen von 1460 bis 1745, also bis in die Gegenwart – ohne Zweifel aufgrund aktueller politischer Überlegungen.120 Sehr grundsätzlich wurde 1774 der höhere Rang und Ansehen alter gegenüber neu geschaffener Fürstenwürde bearbeitet, hierzu legte das Archiv ein Gutachten vor, dessen eng geschriebenes Konzept 411 Seiten (!) umfasst und nicht zuletzt auch darstellte, wie solche Vorzüge und Rechte bei aller gelegenheit vertheidigt worden.121 Rang- und damit Zeremonialfragen beschäftigen in Folge das Archiv immer wieder, so etwa 1777 im Fall des königlich französischen Ministre Plenipotentaire Vicomte de Vibraye.122 Unmittelbar im Anschluss hieran fertigte der Archivar Stieber eine aus original-acten gezogene nachricht von dem ceremonial-wesen I. in ansehung der chur-, auch erb- und nachgebohrenen prinzen aus chur- und alten fürstlichen häußern, II. in ansehung der alten fürsten und deren verhältnus gegen die chur- auch neue fürsten, ingl. die gesandten von auswärtigen mächten im Umfang von 204 Konzeptseiten.123 115 StAN, Fürstentum Ansbach, Ansbacher Archivalien 16195 (darin Bericht Johann Sigmund Strebels 1745). 116 StAN, Archivanzeigen 3, Prod. 8, 12, 20, 22, 23, 25. 117 StAN, Archivanzeigen 3, Prod. 52, 57, 61, 66. 118 StAN, Archivanzeigen 4, Prod. 26, 27. 119 StAN, Archivanzeigen 4, Prod. 79, 80. 120 StAN, Archivanzeigen 4, Prod. 90. 121 StAN, Archivanzeigen 7, Prod. 72. 122 StAN, Archivanzeigen 8, Prod. 1–2. 123 StAN, Archivanzeigen 8, Prod. 3.
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Mitunter hatte das Geheime Archiv auch mit weit zurückreichenden Fragen der fürstlichen Genealogie zu tun. So etwa 1750 angesichts der Frage, ob sich in der Pfarrkirche zu Cadolzburg tatsächlich ein Grab eines burggräflichen Prinzen Johann aus dem 14. Jahrhundert befinden könnte.124 Als sich 1740 die Berichte der Oberämter häuften, dass selbige vor Ort keine Texte der mit benachbarten Territorien abgeschlossenen Rezesse besaßen, wurde das Archiv beauftragt, von solchen abgängigen Verträgen vidimierte Abschriften anzufertigen und den Ämtern zuzustellen; die zusätzlichen Schreibarbeiten wurden durch von jeder Kanzlei abzustellende ein bis zwei Kanzlisten und den vormaligen Stadtschreiber geleistet.125 Markant ist, dass in den letzten Jahren der preußischen Herrschaft die behördliche Inanspruchnahme der Archive massiv abnahm – die Zeiten der juristischen Auseinandersetzungen, etwa aufgrund der massiven Revindikationspolitik, waren vorüber und die preußischen Behörden und Gerichte konnten anhand der eigenen Registratur offensichtlich gut arbeiten.126 Die Amts- und Oberamtsbeschreibungen Für die eigene Landesverwaltung und insbesondere der Behauptung der Landeshoheit im territorium non clausum – zur aufrechthaltung der hohen regalien in allen ober- u. aemtern – waren die Landes- bzw. Ämterbeschreibungen wesentlich.127 Mit Dekret vom 26. Juli 1734 wurde auf Vorschlag des Hofrats dem Geheimen Archiv als geeignetem Fachorgan (da sowohl mit Hofräten als auch Archivaren versehen) deren Revision übertragen.128 Allerdings zeigte das Archiv an, dass das ganze archiv der betrübten und leidigen kriegstroublen halber zu dato noch eingepakt ist und man daher bislang nur auf die in dem Hofratsregistraturgewölbe zugänglichen Akten zurückgreifen könne. Die durch den Hofrat Strebel in Arbeit befindlichen Archivrepertorien werden bei dieser Arbeit, so kündigte man an, ein großer Nutzen sein. Allein die vollständige Übernahme der Aufgabe durch das Geheime Archiv sei aus solchen Gründen unmöglich, da zu zeitaufwendig, StAN, Archivanzeigen 4, Prod. 84, 85. StAN, Archivanzeigen 2, Prod. 182. 126 Vgl. Tröger (wie Anm. 4) S. 245. 127 StAN, Archivanzeigen 2, Prod. 74, 75. 128 StAN, Archivanzeigen 2, Prod. 70–73. 124 125
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und so baten Carl Jung und Johann Sigmund Strebel um eine gleichteilige Aufteilung der Aufgabe zwischen den Behörden (d.h. auf Archiv und Hofrat). Tatsächlich folgte am 17. August 1734 ein Dekret an den Hofrat mit dem etwas schwammigen Befehl, bey denen vorkommenden umbständen das nöthige dabey zu beobachten.129 Das Geheime Archiv war auch verantwortlich für die Verteilung der Vetter’schen Oberamtsbeschreibungen, von welchen jedes Oberamt ein Exemplar wie auch eines der großen Vetter’schen Landkarte erhalten sollte.130 Johann Georg Vetter hatte seine Arbeit in drei Exemplaren abzuliefern: Das erste Exemplar ging an das Geheime Archiv, das zweite zum Hofrat und das dritte Exemplar einzeln weiß an das jeweilige Amt. Tatsächlich hatte Vetter jedoch, wie das Archiv 1737 auf Nachfrage meldete, zwar schon vor drei Jahren die Amtsexemplare in 15 Bänden eingeliefert und im vorigen Jahr das Hofratsexemplar in vier Bänden übergeben, das erste aber, weil es das completeste u. mit spezial-charten über iedes oberamt u. dahin incorporirte aemter versehene exemplar seyn soll, bißanhero noch nicht ausgehändigt.131 Daher hatte das Archiv notgedrungen die Amtsexemplare zum eigenen Gebrauch zurückbehalten; auf Rückfrage versicherte Vetter, das Archivexemplar sei nahezu (bis auf das Pflegamt Nördlingen) fertig. Vetter wurde unverzüglich und deutlich angewiesen, binnen vierzehn Tagen die komplette Lieferung vorzunehmen.132 Die Lieferung von fünf Spezialkarten wurde allerdings noch 1743 angemahnt.133 1736 wurde das Archiv beauftragt, aus den Vetterschen Ober- und Amtstabellen Extrakte zu fertigen und zum Landschaftsdirektorium einzusenden, zum gebrauch von denen march-commissarien bey regulirung der march-stationen.134 – Das ist ein schöner Beleg, wie diese Ämterbeschreibungen für die Staatsverwaltung nutzbar gemacht wurden.
StAN, Archivanzeigen 2, Prod. 77. StAN, Archivanzeigen 2, Prod. 122 (1735), 136 (1737). Zu Johann Georg Vetter siehe Anm. 13. 131 StAN, Archivanzeigen 2, Prod. 137 (Bericht vom 23. Januar 1737). 132 StAN, Archivanzeigen 2, Prod. 138 (Dekret vom 24. Januar 1737). 133 StAN, Archivanzeigen 3, Prod. 33, 34. 134 StAN, Archivanzeigen 2, Prod. 125. 129 130
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Fa z i t Unter der Regierung des Markgrafen Carl Wilhelm Friedrich wurde das Geheime Archiv Ansbach mit fähigem und energievollem Personal ausgestattet, das die seit dem Schlossbrand 1710 in neuen Räumlichkeiten untergebrachten Bestände neu erschloss und systematisch ergänzte, insbesondere durch eine große Einsendeaktion 1733/34 aus den Unterbehörden. Dies erfolgte in Abstimmung mit den markgräflichen Spitzenbehörden und unter persönlicher Billigung des Fürsten als Teil einer angestrebten Reform und Verbesserung. Die Einbindung des Archivs in die Staatsverwaltung war nicht zuletzt durch die Doppelposition der Archivare als Hofräte gegeben, die Mit- bzw. Zuarbeit seitens des Archivs war eng. Ob die vielen Einzelverordnungen und Maßnahmen als Teil einer gesamthaft geplanten Reformpolitik gedeutet werden dürfen, ist zwar kritisch zu hinterfragen, die Schriftgutverwaltung wurde auf jeden Fall hochgeschätzt. Innerhalb kurzer Zeit hatten die sich bestens ergänzenden Archivare Jung und Strebel ein Konzept entwickelt, das die Leitlinie für die gesamte folgende Zeit des Ansbacher Archivs darstellte. Das Ansbacher Ordnungsund Verzeichnungsprinzip wurde nach Vereinigung der fränkischen Zollernlande sogar als zukünftiges Muster für die anderen Archive festgelegt. Als außergewöhnliche Leistung muss der gedruckte Einheits-Registraturplan für die markgräflichen Ämter aus dem Jahre 1738 gesehen werden, zumal dieser nicht Theorie blieb, sondern – unter der Mithilfe des Archivs – in den Unterbehörden umgesetzt wurde. Hier gründete sich eine hervorragende Aktenführung, auf der nach dem Übergang des Fürstentums Ansbach an das Königreich Preußen die neuen Behörden bestens aufbauen konnten. Während wir bei den Unterbehörden – nicht zuletzt dank der Archivare des 18. Jahrhunderts – auf eine hervorragende Überlieferung und gute Ordnung blicken bzw. nach unseren Rekonstruktionen wieder blicken werden, ist dies bei den Zentralbehörden wesentlich schwieriger. Vielleicht ist dies bereits ein Vorgriff auf ein Ergebnis einer noch zu schreibenden Ansbachischen Behördengeschichte.135 Im Ergebnis ist das 18. Jahrhundert als die Blütezeit des Ansbacher Archivs anzusehen, übrigens in Parallele zur markgräflichen Bibliothek. Otto Vgl. Manfred Jehle, Ansbach. Die markgräflichen Oberämter Ansbach, ColmbergLeutershausen, Windsbach, das Nürnberger Pflegamt Lichtenau und das Deutschordens amt (Wolframs-)Eschenbach (Historischer Atlas von Bayern, Teil Franken, Reihe I Heft 35/1–2), München 2009. 135
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Karl Tröger kam zu dem rühmenden Fazit: „Mit Fug und Recht kann man das Geheime Archiv Ansbach ab 1785 als eines der wenigen vollständig geordneten und voll benutzbaren, weil erschlossenen und mit fachlich gebildetem Personal besetzten Archive in Deutschland bezeichnen (...).“136 Die Ansbacher Archivare waren auch wissenschaftlich tätig, wobei sich deren Arbeiten aber eher im zeitgenössisch üblichen bewegten, weitgehend mit diplomatisch-historischen, genealogischen und historisch-topographischen Arbeiten. Am öffentlichen archivwissenschaftlichen Diskurs und der archivischen Ausbildung, wie dies etwa ihr kulmbach-bayreuthischer Kollege Philipp Ernst Spieß (1734–1794) mit seinem Werk „Von Archiven“ (Halle 1777) tat, nahmen die Ansbacher Archivare nicht teil.137 Immerhin stellte das Geheime Archiv Ansbach 1780 bis 1793 bereitwillig Urkunden für den hilfswissenschaftlichen Unterricht in Diplomatik an der Universität Erlangen zur Verfügung.138 Das Verdienst der Ansbacher Archivare liegt vielmehr an der gründlichen Ordnung und Erschließung der von ihnen betreuten Bestände, deren Wert sich daran ermessen lässt, dass die damals geschaffenen Findmittel im Kern noch heute – bis vor kurzem im Original und nun durch Retrokonversion über EDV-gestützte Archivinformationssysteme – in Benutzung sind oder die wertvolle Basis für moderne Erschließungsarbeiten darstellen.
Tröger (wie Anm. 4) S. 170. Vgl. auch Schuhmann (wie Anm. 32) S. 115. Vgl. Tröger (wie Anm. 4) S. 359–403. 138 Vgl. Tröger (wie Anm. 4) S. 424–425; es handelte sich um 20 Königs-, Bischofs- und Papsturkunden sowie eine Urkunde des Konzils von Basel, von 1289 bis 1498. 136 137
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Edition Vorbemerkung: Die Transkription erfolgt unter Beibehaltung der Orthographie einschließlich der Groß- und Kleinschreibung des gedruckten Originals. Abkürzungen werden in eckigen Klammern aufgelöst. Die Interpunktion wird zur Erleichterung der Lektüre dem modernen Sprachgebrauch angepasst. Der Umlaut mit übergeschriebenem „e“ wird als „ü“ wiedergegeben. Die Unterscheidung deutscher und lateinischer Worte durch Fraktur- bzw. lateinischer Schrifttype wird hier nicht berücksichtigt. 1. Der brandenburg-ansbachische Registraturplan für Ämter von 1738 Druck, Papier, 4 Blätter (Staatsarchiv Nürnberg, Fürstentum Ansbach, Druckschriften 528, Prod. 14) Plan, nach welchem die Einrichtung einer Amtlichen REGISTRATUR zu veranstalten wäre. Classis I: Die Hoch-Fürstl[ichen] REGALIA und Landesherrliche JURA betreffend. Tit. I.
II.
III.
Saal-, Urbar- und Lager- wie auch Particular-Bücher; item 16. Puncten-Bericht139 und Amts-Beschreibung. Allgemeine Fraisch-, Gränz-, Bereit- und Beschreibungen des Amts. Copial-Bücher über die Documenta und Urkunden gesamtes Amt betreffend.140
Diese aufgrund eines standardisierten Fragenkatalogs (Ausschreiben des Markgrafen Joachim Ernst vom 4. Januar 1608) durch die Unterbehörden formulierten 16-PunkteBerichte dienten einer umfassenden Information über das Fürstentum, seine Organisation und Nachbarschaftsverhältnisse. Die Fragen behandeln die Rechtsverhältnisse der jeweiligen Ämter bezüglich Fraisch (Hochgerichtsbarkeit), Vogtei, Forst-, Jagd- und Geleitshoheit, Dorf- und Gemeindeherrschaft. Während einige Ämter bereits 1608 berichteten, verzögerte sich dies bei anderen bis hin zum Jahr 1624. Der Dreißigjährige Krieg hat wohl verhindert, dass die fürstliche Verwaltung aus diesen Berichten allzu großen Nutzen ziehen konnte. 1681 wurde die Umfrage erneuert und zu diesem Zweck dem ursprünglichen Fragenkatalog eine weitere 17 Fragen umfassende Liste hinzugefügt (sog. 33-Punkte-Berichte). Es ist nicht zuletzt aufgrund des Registraturplans von je einer Version des Berichts auf unter- und zentralbehördlicher Ebene auszugehen; aus den zentralbehördlichen Exemplaren wurde dann die Serie im Geheimen Archiv formiert. 140 Diese Kopialbücher sind sicherlich aufgrund der 1733/34 im Original in das Geheime Archiv eingezogenen Urkunden erstellt worden. 139
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IV.
Hoch-Fürstl[iche] allgemeine Ausschreiben und Landes-Ordnungen secundum seriem annorum nach Unterschied der Materien v.c. Regalien-, Justiz-, Cammer-, Landschaft-, Heiligen-, Vormundschaffts-Sachen etc. V. Copial-Bücher über die mit benachbarten Herrschafften errichtete Recesse und Verträge. VI. Landes- und Erbhuldigungs-Acta. VII. Malefiz-, Fraisch- und Criminal-Acta. VIII. Ehebruchs-, Fornications-, frühe Beyschlaffs- und Fensterungs-Fälle nach Alphabetischer Ordnung derer Orte im Amt. IX. Frevel- und Injurien-Sachen nach gleicher Ordnung. X. Nachbarliche Requisitiones und Gerichtliche Stallungen, auch erfolgte Auslieferungen. XI. Flüchtige und ausgetrettene Personen, derentwegen emanirte Ausschreiben und Steck-Briefe, item StraifSachen. XII. Differentien mit Benachbarten in Hochfraischlichen Obrigkeits-Fällen. XIII. Wildbahns- und Jagd-Sachen XIV. Wilpret-Schützen und deren Bestrafung. XV. Jagd-Frohn-Acta. XVI. Herrschafftliche Fallhäusser und Unterhaltung der Jagd-Hunde. XVII. Differentien mit Benachbarten in Jagd-Sachen. XVIII. Zehend-Acta. Differentien mit Benachbarten in Zehend-Sachen. XIX. Lehen-Acta. XX. Frohn und Dienst. XXI. Glaits-Acta. XXII. Zoll-Sachen. XXIII. Zoll-Schalckungen und deren Abwandlung. XXIV. Differentien mit Benachbarten in Zoll-Sachen. XXV. Erhaltung der Brucken, Weg und Steg. XXVI. Münz-Sachen. XXVII. Policey-Acta. XXVIII. Kirchweyh-Schutz und Fried-Gebot. XXIX. Landes-Trauer, ingleichen Verbot und Vergünstigung der Spielleute.
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XXX. XXXI.
Acta in Contagions- und Vieh-Seuch-Fällen. Dorff- und Gemeind-Herrschafft, nach dem Alphabeth. XXXII. Trieb, Huth und Wayd. XXXIII. Siebnerey- und Marckungs-Sachen. XXXIV. Wehr- und Wässerungs-Sachen. XXXV. Salpetergraben und Steinbrüche.141 XXXVI. Manufacturen und Fabriquen. XXXVII. Concessiones neuer Gewerber und Gerechtigkeiten. XXXVIII. Neue Mannschafften und öder Güter Erbauung. XXXIX. Handwercks- und Innungs-Sachen. XL. Schutz- und Schirms-Gerechtigkeit.142 Appendix.
I. II.
III.
Ober-Amtliche Sachen. Receptiones, Besoldungen und Emolumenta derer Herrschafftlichen Beamten und Dienere. Acta in verschiedenen Herrschafftlichen Commissionen.
Classis II: Geistliche Pfarr-, Kirchen- und Schulen-, auch Consistorial- und Ehe-Sachen. Tit. I. II.
III.
IV.
V. VI. VII.
Jura Episcopalia und Parrochalia in genere. Investituren der Geistlichen und Schul-Diener, deren Besoldung und Emolumenta. Die Pfarr im Amts-Ort samt deren Caplaneyen und Filialen oder Vicariaten. Die übrige im Amt gelegene Pfarren und Schulen nach dem Alphabeth. Heiligen-Sachen-143 und Rechnungen. Consistorial- und Ehe-Sachen. Dispensationes in Ehe-Sachen.
141 Im Fürstentum Brandenburg-Ansbach spielte der Bergbau nur eine untergeordnete Rolle, anders als im Fürstentum Brandenburg-Kulmbach-Bayreuth. 142 Hierunter fallen wohl auch Judenangelegenheiten, für die kein eigener Punkt ausgeworfen wurde. In der Praxis des Staatsarchivs wurde ein eigener Punkt hinzugefügt. 143 Der Begriff rekurriert auf den Heiligen, dem die Kirchen- oder Pfründestiftung gewidmet war und für den Heiligenpfleger die Geschäfte führten.
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VIII.
Differentien mit Benachbarten in causis ecclesiasticis & matrimonialibus. Classis III: CAMERALIA.
Tit. I.
II. III. IV.
V.
VI. VII. VIII. IX. X. XI. XII. XIII. XIV. XV. XVI.
XVII. XVIII. XIX. XX. XXI. XXII. XXIII. XXIV. XXV. XXVI.
Amts-Rechnungen mit ihren Manualien, AbrechnungsBüchern und Diariis. Cammer-Rest Verweise. Rechnungs-Mängel. Commissorialische Rechnungs-Abschlüsse und Abrechnungen. Zinnß-Mehrungen, von eingezogenen Herrenlosen und verkaufften Herrschafftlichen auch der Unterthanen zerschlagenen Gütern. Lichtmeß-Steuer-Acta. Frohn-Register und Anspann-Gelder. Umgelds-Sachen und Rechnungen. Zoll- und Glaits-Rechnungen. Gemeind-Rechnungen. Accis und Cammer-Steuer. Handlohns-Acta. Nachsteuer-Acten. Schutz-Gelder, deren Exaction und Erlaß betreffend. Getraid-Sachen. Herrschafftliche Güter, deren Er- und Verkauff-, auch Bestand-Verleihung betreffend. Herrschafftliche Präu-Häusser. Ziegel-Hütten. Fischerey- und Fisch-Wasser. Malefiz- und Straf-Gelder-Rechnungen. Wildpreth-Rechnungen. Wald- und Forstey-Sachen. Holz-Abgab und Holz-Rechnungen. Aufgenommene und ausgeliehene Capitalien. Einnahm von andern Ämtern an Geld, Getraid etc. Oede Güter und deren Abgangs-Register.144
144 Franken war im Dreißigjährigen Krieg, vor allem ab 1631 schwer von Truppendurchzügen und Kriegshandlungen getroffen worden. Die Anzahl der zerstören und lange öd liegenden Güter war hoch.
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XXVII. XXVIII. XXIX. XXX. XXXI. XXXII.
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Renthey-Abrechnungen und Cammer-Assignationes. Herrschafftliche Ablager145 und Auslosungen. Besoldungs-Abrechnungen. Auf Befehl und aus Gnaden. Cammer-Moderationes und Cammer Befreyungen. Gemeine Rechnungs-Sachen.146 Classis IV: Landschafftliche Sachen.
Tit.
I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII.
IX.
X. XI. XII.
XIII. XIV. XV.
XVI.
Alte Landtags-Acta. Steuer-Catastra und Revisiones. Allgemeine Steuer-Befehle. Ordinari-Steuer-Register. Ausgeschlagene Extra-Steuern. Extra-Steuer-Register. Steuer-Befreyungen. Landschafftliche Capitalia und Ober-Einnehmerey-Assignationes. Ober-Einnehmerey-Abrechnungen und Steuer-Manualia. Steuer-Rest-Verweiße. Commissorialische Steuer-Abschlüsse. Steuer-Abrechnungen mit denen incorporierten Aemtern. Differentien mit Benachbarten in Steuer-Sachen. Landes-Defension- und Ausschuß. Einquartier- und Verpflegung der Hoch-Fürstl[ichen] Miliz.147 Völcker-March- und Quartier-Sachen.
Ablager, d.h. zeitweiser Aufenthalt des Landesherrn und seines Hofes. Hiernach wurde in der Praxis nach Aktenbefund ein weiterer Punkt „Herrschaftliche Bauten“ hinzugefügt. Die unterbehördliche Überlieferung ist eine willkommene Ergänzung bzw. Ersatzüberlieferung zum markgräflichen Bauamt in Ansbach. Zu letzterem ist der Bestand im Staatsarchiv Nürnberg nur noch ein Fragment, da offenbar noch nicht an das Archiv ausgesonderte Unterlagen bei der Nachfolgebehörde des markgräflichen Bauamts, dem Landbauamt Ansbach, im Zweiten Weltkrieg 1944/45 vernichtet wurden. 147 Die Überlieferung des markgräflichen Militärs ist sehr gering, man muss von einer weitgehenden Vernichtung der primären Unterlagen nach 1806 ausgehen. Daher sind Unterlagen der Unterbehörden in diesen Punkten eine willkommene Ergänzung. 145 146
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XVII.
XVIII.
Differentien mit Benachbarten wegen der Einquartierung. Werbungen und Desertion der Soldaten etc. Classis V: Zivil-, Klag- und Parthey-Sachen.
Tit. I. II. III.
IV. V. VI. VII. VIII. IX. X.
Amts- und Gerichtliche Klag-Protocolla. Allerhand Privat-, Klag- und Streit-Sachen. Schuld-Klagen, Subhastationes148 und Schuld-Austheilungen. Obligationes- und Consens-Ertheilungen. Kauff-, Tausch- und Bestand-Contraecte. Heyraths-Abredungen und Kinder-Vergleiche. Erbschaffts-, Inventur- und Theilungs-Sachen. Vormundschafften. Geburts- und Lehr-Briefe. Amtliche Intercessiones, Attestata und Abschiede.
Nota. Die Verfassung und Beschaffenheit dieses oder jenen Amts insonderheit wird von selbsten an die Hand geben, wie bey mancher Registratur verschiedene Tituli wegfallen, an deren Stelle hingegen andere zu substituiren oder in der behörigen Classe einzuschalten seyen. Onolzbach, A[nno] 1738.
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Versteigerungen, hier meist als Zwangsversteigerung zur Schuldentilgung.
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2. Der brandenburg-ansbachische Registraturplan für Dekanate, Pfarreien und Kaplaneien von 1761 Druck, Papier, 2 Blätter (Staatsarchiv Nürnberg, Fürstentum Ansbach, Druckschriften 526, Prod. 14) Nachdeme man biß anhero aus alltäglicher Erfahrung wahrgenommen, welchergestalten bey denen allermehresten Decanaten, Pfarren und Caplaneyen die bey solchen anzutreffende Registraturen und darinnen befindliche Acta sich in sehr mangelhafften, besonders aber äusserst zerstreuten Zustand befinden, wodurch dann die dem allhiesig-Hoch-Fürstl[ichem] Hauß zustehende Episcopal-Kirchen- und Matrimonial-Gerechtsame nicht wenig beschädiget- und vielen Praejudiciis und Nachbarl[ichen] Anfechtungen oder Eingriffen ausgesetzet und bloß gestellet werden müssen; Man aber dieser unanständig und äusserst schädlichen Unordnung Amtsund Pflichten halben fernerhin nachzusehen nicht gemeinet; vielmehr auch hierinnen gute Ordnung einzuführen und solche forthin beyzuhalten gedencket: zu solchem Ende auch einen deutlichen und vollstündigen Plan oder Entwurff abgefasset und um bequemen Gebrauchs willen dem Druck überlassen hat, nach welchem eine jedwede Pfarr-amtliche Registratur ohne sonderbare Mühe eingerichtet und in guter Ordnung hergestellet werden kan; Als wird hierdurch zum Decanat [Lücke zum Einfügen des Namens und der jeweiligen Anzahl] Exemplarien mit der Verordnung gesendet, ohne Anstand durch ein Circulare, sämtliche Capitulares nachdrücklich zu ermahnen, nach solchem sämtliche Pfarr-Bücher, Acta und Brieffschafften in Ordnung zu legen, die sich vorfindende Fragmenta, Hiatus und Lacunas aus der Decanats- oder Hoch-Fürstl[ichen] Consistorial-Registratur zu suppliciren, den Inhalt eines jedweden Voluminis fornen an einen Con spectum zu bringen, und sodann, wann die gesamte Pfarr-Registratur in Plan-förmiger Disposition vollkommen fertig vor Augen lieget, solche per modum Revisionis noch einmal durch zu laufen, als bey welcher sich ohnfehlbar noch mancherley Verbesserungen und Zusätze von selbsten ergeben werden; Wenn aber auch solche vollkommen geschehen ist, alsdann und nicht ehender sind die Acta Classen- und Titul-weiß einem Brandenburg-Onolzbachischen Buchbinder nach vorgängig-genauestem Accord, über welchem mit dem weltlichen Amt Communication zu pflegen ist, zu übergeben, welcher solche im Pfarr-Hauß in Beyseyn und unter den Augen jeden Pfarrers oder Caplans nach Beschaffenheit ihres weniger oder
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mehr wichtigen Inhalts, auf Kosten des Heyligen, zu hefften oder in bequeme und mittelmäßige Folio Ruck- und Eck-Bände zu bringen hat. Da auch übrigens leicht voraus zu sehen ist, daß diese ganze Verrichtung, auch mit aller nur erdencklichen Bequemlichkeit in denen längsten SommerTägen, und in Nebenstunden binnen einer Jahres-Frist zu Stand gebracht werden kan; Als ist denen gesammten Capitularen dieser allerlängste und höchste Terminus vorzuschreiben, nach dessen Verfluß aber von dem würklichen Vollzug bey jeder Pfarr umständlicher Bericht abzufordern, auch besonders dabey sub Designatione anzeigen zu lassen, ob und was sich vor Original-Documenta auf Pergament oder Papier in der Registratur würcklich vorgefunden haben. Über den würcklichen Vollzug dieser Pfarr-Registratur-Einrichtung ist seiner Zeit eine förmliche Relation mit genauer Anmerckung, welche von denen Capitularen sich vor andern distinguiret, d[as] i[ist] behörige Sorgfalt, Mühe und Ordnung würcklich angewendet haben, zum Hoch-Fürstl[ichen] Consistorio zu erstatten. Signatum Onolzbach den 1. Martii 1761. Ex Consistorio. Plan, nach welchem eine jedwede Pfarr-amtliche Registratur, mutatis mutandis, additis addendis, einzurichten, in Ordnung zu bringen, und in solcher zu erhalten ist.149 1.) 2.) 3.) 4.) 5.)
Acta, Das Hoch-Fürstl[iche] Hauß, dessen Genealogie, Geburten, Vermählungen, Huldigungen, Absterben und Begräbniße, dann Landes-Trauer und Trauer-Läuten betr[effend]. Erb-vereinigte und erb-verbrüderte Häuser, nemlich Sachsen und Hessen, und andere verwandte und verbundene hohe Häuser. Hoch-Fürstl[iche] Collegia, deren Ordnungen und Verfassungen überhaupt. Hoch-Fürstl[iches] Consistorium und Ehe-Gericht, dann deren Ordnungen insonderheit. Anordnung des Decanats im XVI. Saeculo, dessen Ordnung und Verfassung.
Nachfolgende 57 Nummern sind in Tabellenform zu 5 Spalten und 12 Zeilen aufgelistet, so dass eine Art Regal simuliert wird. 149
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6.) 7.) 8.) 9.) 10.) 11.) 12.) 13.) 14.) 15.) 16.) 17.) 18.) 19.) 20.) 21.) 22.) 23.) 24.)
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Decanats-Verwesung in annis, eingelaufene Berichte, und darauf ergangene Decreta und Befehle. Capitul und dessen Ordnung. Seniorat. Camerariat. Religions-Sachen, und zwar a.) gemeine, b.) besondere, z[um] E[xempel] Hohenlohica. Auswärtige Religionen, insonderheit: Catholische, Reformirte, auch andere Secten. Acta, Die Kirchen-Handlungen und den öffentlichen Gottesdienst und die Liturgie betr[effend]. Religions-Sachen, Die Kirchen-Ceremonien nach allen Classen betr[effend]. Religions-Sachen, Die Sabbaths-Feyer, deren Schändung und die Bestraffung dergleichen Sabbaths-Schänder betr[effend]. Religions-Sachen, Die ausserordentlich angeordnete Feste, als: Buß-Täge. ausgeschriebene Danck-Feste. Trauer-Predigten. Huldigungs-Feyer etc. betr[effend]. Religions-Sachen, Die Administration der Sacramenten, nemlich: die heil[ige] Tauf und das heil[ige] Abendmahl betr[effend]. Religions-Sachen, Den Beichts-Stuhl, Admission zu solchem, oder Abhaltung von demselben, und den Kirchen-Bann betr[effend]. Religions-Sachen, Die Trauungen oder Copulationes betr[effend] und zwar: a.) offentliche mit gewöhnlichem Kirch-Gang, b.) Privat-Copulationes, c.) Fornicanten-Copulationes. Begräbnuß-Acta, a.) offentliche und gewöhnliche, Privat- und Frühe-Leichen. b.) Sepultura minus honesta & canina. Acta, Die Jura Ecclesiastica sive Episcopalia, sive plena cum omnibus effectibus, sive minus plena betr[effend]. Acta, Die Erbauung der Pfarr-Kirche und deren von Zeit zu Zeit vorgefallene Reparationes betr[effend]. abgehaltene Synodi von Jahren zu Jahren, jährlich ausgeschriebene Synodal-Quaestiones und darauf eingesendete Elaborationes und Censuren. Ortschaffte, Weyler, Höfe und Mühlen. Eingehörige Filial-Kirche oder Kirchen. Acta, Die Dotirung, Besoldungen und andere Emolumenta in ältern, mittlern- und neuern Zeiten, dann deren Verringerung oder Schmälerung betr[effend]. Acta, Die Lateinische und teutsche Schul, Cantorat, item die Meßnereyen betr[effend].
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286 25.) 26.) 27.) 28.) 29.) 30.) 31.) 32.) 33.) 34.) 35.) 36.) 37.) 38.) 39.) 40.) 41.) 42.) 43.)
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Acta, Die auf der Pfarr hafftende Pensiones, Servitutes, und andere Onera betr[effend]. Acta, Die Fundation des Heiligen, oder Aerarii ecclesiastici, dessen Zu- und Abnahm, auch gegenwärtigen Vermögens Zustand betr[effend]. Acta, Die Inventaria, und Veränderungen der Kirchen-Gefäße und anderer Kirchen-Geräthschafften betr[effend]. Acta, Die Administration des Heiligen, oder Heiligen-Rechnung, und deren Abhörung betr[effend]. Acta, Die Erbauung des Schul-Hauses, deren Erhaltung und Reparation, dann Schul-Ordnung und Lectiones, als: schreiben, rechnen, und Gesang etc. betr[effend]. Acta, In causis sponsalitiis & matrimonialibus, in specie ad contrahendum & conservandum. Acta, In iisdem causis, in specie ad dissolvendum oder Ehe-Scheidungs-Acta. Acta, In Fraisch-, Cent-, Criminal- und Malefiz-Fällen. Acta, In Vogtheylichen oder niedern Obrigkeits-Fällen. Acta, In Policey-Sachen, als: Heb-Ammen, deren Annahm und Veränderung mit denenselben, vorgeschriebene Ordnung, deren Exeminir- und Verpflichtung betr[effend]. Acta, Die Victualien und deren Taxation, Accise, und Aufschlag, Zoll- und Weeg-Geld betr[effend]. Acta, Die Anordnung der jährlichen Kirchweyhen, und deren Begehung, Kirchweyh-Predigt, item Kirchweyh-Frevel betr[effend]. Acta, Die Vergönstigung, oder das Verboth öffentlicher Tänze und Frölichkeiten betr[effend]. Acta, Die Anordnung der Jahr- und Wochen-Märckte betr[effend]. Acta, Die Versorgung der Hauß-Armen und offentlicher Bettlere im Dorf und denen eingepfarreten Orten betr[effend]. Acta, Die Judenschafft am Ort, deren Anwachs oder Verminderung, item deren Synagoge und Juden-Schule betr[effend]. Acta, Die Abtreibung der Vagabunden, Diebs- oder Jauners-Gesinde betr[effend]. Acta, Die das Jahr hindurch pro concione abzulesende Herrschafft liche Verordnungen und Ausschreiben betr[effend]. Acta, Die Errichtung des Archi-Diaconats, oder der Caplaney, item aufgerichtete besondere Verträge zwischen dieser u[nd] der Pfarr betr[effend].
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44.) 45.) 46.) 47.) 48.) 49.) 50.) 51.) 52.) 53.) 54.) 55.) 56.) 57.)
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Acta, Die Errichtung des Diaconats, dessen Besoldung, Abtheilung der Pfarrlichen Verrichtungen betr[effend]. Acta, Die vom Decanat von Zeit zu Zeit vorgenommene PfarrVisitationes, betr[effend]. Acta, Die von Zeit zu Zeit in der Pfarr gehaltene Haus-Visitationes und dabey geführte Seelen-Register betr[effend]. Acta, Die Praeparation, Bekehrung, Ausführung und Hinrichtung der Maleficanten betr[effend]. Acta, Die Providirung der Catholischen eingesessenen Unterthanen, durch ihre Geistliche, und darüber ausgestellte Reverse in casibus reciprocis betr[effend]. Acta, in Fornications- und frühen Beyschlafs-Sachen. Acta, in einfachen und doppelten Ehe-Bruchs-Fällen. Acta, in Wildbanns-, Jagd- und Forstey-Sachen. Acta, in Zehend-Sachen. Acta, in Umgelds-Sachen. Acta, in Steuer-Sachen. Acta, in Nachsteuer-Sachen. Acta, in Dorffs- und Gemeind-Herrschafftl[ichen] Fällen. Acta, in aufgetragenen Commissionen.
Nota. Die Acta, die benachbarte Strittigkeiten betr[effend], werden in jede Classe mit eingeschaltet. Onolzbach, Gedruckt bey Christoph Lorenz Messerer, Hoch-Fürstl[ichem] privil[egiertem] Hof- und Canzley-Buchdrucker, Mense Martii Anno 1761.
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Die Erfindung der Akte in der ostpreußischen Landesverwaltung Von Denny Becker Seit ein paar Jahrhunderten gehören Akten zu den wichtigsten Beweismitteln und Arbeitsinstrumenten von Regierungen und Verwaltungen. Um die Jahrtausendwende, so schien es, dämmerte ihr Ende. Die digitale Revolution brachte neue Varianten der Schriftkultur hervor, E-MailAblagen, Social-Media-Plattformen und elektronische Fachverfahren erweiterten die konventionellen Kommunikationskanäle und Informationsverarbeitungen. Betrachtet man die Themensetzungen von Fachtagungen und Arbeitskreisen im letzten Jahrzehnt, so arbeiten Recordsmanager und Archivwissenschaftler intensiv an der Rettung der Akte durch deren digitale Transformation. Die Anstrengungen sind berechtigt, denn es gibt kein besseres Medium, um die unterschiedlichsten Dokumente, die während der Bearbeitung eines Vorgangs entstehen, zusammenzubringen und das Verwaltungshandeln lückenlos zu dokumentieren. Der Bund und alle Bundesländer haben in den letzten beiden Jahrzehnten Gesetze zur Förderung der elektronischen Verwaltung erlassen, die die e-Akte und die elektronische Verwaltung bis zur kommunalen Ebene regeln. Zu Beginn des Aktenzeitalters konkurrierten ebenfalls verschiedene Ablagestrukturen miteinander. Die aus dem Mittelalter tradierte Arbeitsweise mit Urkunden und Amtsbüchern galt noch lange als der Königsweg in den sich langsam aber stetig formierenden Behörden. Wie kam es also dazu, dass sich die Akte überall verbreitete und als wichtigstes Herrschaftsin strument durchsetzte? Anhand der Überlieferung der Geheimen Kanzlei, die als Organisationseinheit der Altpreußischen Landesregierung deren Schriftgut in einer Zentralregistratur im Königsberger Schloss verwaltete, lassen sich die Entwicklungsstufen der Schriftgutverwaltung nachvollziehen. Sie erhellt, wie durch die Ausdehnung der Verwaltungsaufgaben in der Frühen Neuzeit auch die Schriftgutproduktion stark anstieg und die Schriftgutexplosion mit den tradierten Methoden der Schriftgutverwaltung nicht mehr zu bewältigen war. Die Altpreußische Landesregierung hatte in ihrer dreihundertjährigen Existenz große Umstrukturierungen erfahren. Im frühen 16. Jahrhundert
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Das Königsberger Schloss, Luftaufnahme vom 1. Januar 1925 (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:K%C3%B6nigsberg_(Luftaufnahme).JPG).
war sie als Beratergremium des Landesherrn entstanden, professionalisierte sich zur obersten Landesbehörde mit mehreren Verwaltungszweigen. Im Zuge der frühmodernen Staatsbildung von Brandenburg-Preußen und der dominanten Residenzlandschaft Berlin-Potsdam verlor sie einige Verwaltungszweige an neugegründete zentralstaatliche Behörden.1 Zwar wurde Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. Die Behördenorganisation und die allgemeine Verwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, Band 6, 1. Hälfte. Einleitende Darstellung der Behördenorganisation und allgemeinen Verwaltung in Preußen beim Regierungsantritt Friedrichs II. von Otto Hintze, hrsg. von der königlichen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1901, hier vor allem der 3. Abschnitt, S. 201–492. – Zur Behördenorganisation im 18. Jahrhundert, insbesondere dem Generaldirektorium und der Kriegs- und Domänenkammer, vgl.: Acta Borussica (s.o.). – Hans Hausherr, Verwaltungseinheit und Ressorttrennung vom Ende des 17. Jahrhunderts 1
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Nordseitiges Gewölbe des Geheimen Archivs im Königsberger Schloss um 1930 (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Geheimes_Archiv_K%C3%B6nigsberg.jpg).
sie 1804 als oberste Landesbehörde abgewickelt, durch das „Reglement über die Vertheilung der Geschäfte zwischen den Landes-Collegien in Ostpreußen und Litthauen“ vom 21. Juni 1804 jedoch wurde aus der Altregistratur in der ehemaligen Geheimen Kanzlei, dem sogenannten Geheimen Archiv, das erste Provinzialarchiv im Gesamtstaat Preußen.2 Für die ersten Staatsarchivare dieses neu geschaffenen ostpreußischen Provinzialarchivs gab es noch keine festen Regelwerke für die archivische bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Berlin 1953. – Carl Hinrichs, Die Preußische Zentralverwaltung in den Anfängen Friedrich Wilhelms I. In: Ders., hrsg. von Gerhard Oestreich, Preußen als historisches Problem. Gesammelte Abhandlungen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin 10), Berlin 1964, S. 138–160. – Wolfgang Neugebauer, Das preußische Kabinett in Potsdam. Eine verfassungsgeschichtliche Studie zur fürstlichen Zentralsphäre in der Zeit des Absolutismus. In: Ders., Potsdam – Brandenburg – Preußen. Beiträge der Landegeschichtlichen Vereinigung zur Tausendjahrfeier der Stadt Potsdam (Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 44), Berlin 1993, S. 69–11. – Ders., Potsdam – Berlin. Zur Behördentopographie des preußischen Absolutismus. In: Bernhard R. Kroener (Hrsg.), Potsdam. Staat, Armee, Residenz in der preußisch-deutschen Militärgeschichte, Berlin u.a. 1993, S. 273–296. 2 Bernhart Jähnig – Jürgen Kloosterhuis, Zum Geleit. In: Bernhart Jähnig – Jürgen Kloosterhuis (Hrsg.), Preußens erstes Provinzialarchiv. Zur Erinnerung an die Gründung des Staatsarchivs Königsberg vor 200 Jahren (Tagungsberichte der Historischen Kommission für Ost- und Westpreussische Landesforschung 20), Marburg 2006, S. 7–9, hier S. 8.
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Arbeit. Die aus der Vormoderne stammenden Ordnungsprinzipien galten für die Schriftgutverwaltung, für die Bearbeitung von Archivgutbeständen waren sie kaum geeignet. In der Folge wurden aus der bunten Vielfalt von Ablagestrukturen eine ebenso bunte Mischung aus Provenienz- und Pertinenzbeständen. Die fehlenden Grenzen zwischen Registraturgut- und Archivgutverwaltung führten zum Auseinanderreißen von Entstehungskontexten, bis schließlich die Altpreußische Landesregierung als Schriftgutproduzent nicht mehr erkenntlich war. Anhand der Unterlagen der Königsberger Geheimen Kanzlei lassen sich Entwicklungsstufen des Aktenzeitalters ebenso untersuchen, wie die Irrwege zu Beginn der modernen Archivwissenschaften. Die Entwicklungen und Zusammenhänge werden im folgenden dargestellt.3 I. Die Altpreußische Landesregierung in Königsberg war seit der Umwandlung des Deutschordensstaates in ein weltliches Herzogtum im Jahr 1525 die oberste Landesbehörde. Bis zu ihrer Abwicklung im Jahr 1804 wurde sie mehrfach umbenannt, hieß zeitweilig „Oberratsstube“, erhielt nach der Angliederung Westpreußens an den Gesamtstaat die Namenserweiterung „Ostpreußische Regierung“ und gegen Ende ihres Daseins den Ehrentitel „Etatsministerium“. Sie war zuständig für die Innen- und Außenpolitik, für die Domänen-, Wirtschafts-, Finanz-, Justiz-, Militär-, Sozial-, Sanitäts-, Religions-, Bildungs- und Wissenschaftsverwaltung. Als oberste Landesbehörde war sie weisungsbefugt gegenüber den Konsistorien, den Hauptämtern und Städten, dem Oberforstamt und dem Sanitätskollegium. Sie leitete die Landtagsverhandlungen und führte die Korrespondenz zwischen den Landesbehörden und dem Landesherrn. Seit der RegimentsDie Ausführungen stammen weitgehend aus der Transferarbeit: Denny Becker, „Gleich einem hohen Berge dahin geworffene Schrifften.“ Konzipierung eines Erschließungsmodells für die Überlieferung der Altpreußischen Regierung zu Königsberg. Transferarbeit des 50. Wissenschaftlichen Lehrgangs an der Archivschule Marburg, 2019 (als Onlineressource abrufbar unter: http://archiv.ub.uni-marburg.de/es/2020/0007/pdf/epa-01.pdf; zuletzt aufgerufen Februar 2022). Diese wurde in Auszügen veröffentlicht unter : Denny Becker, Frühneuzeitliche Schriftgutverwaltung und die fragmentierte Überlieferung der Altpreußischen Regierung zu Königsberg - eine virtuelle Bestandsrekonstruktion. In: Preußenland. Neue Folge. Jahrbuch der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung und der Copernicus-Vereinigung für Geschichte und Landeskunde Westpreußens Mitteilungen aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz 8 (2017) S. 130–157. 3
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notell des Jahres 1542, dem Landtagsrezess von 1566 und dem herzoglichen Testament des Jahres 1567 war sie als Kollegium, bestehend aus den vier obersten Hofämtern, dem Kanzler, Landhofmeister, Obermarschall und Oberburggrafen, organisiert. Auch die Titulatur der Regierungsräte änderte sich mehrfach, sie hießen anfangs „Regimentsräte“, wurden zwischenzeitlich zu „Oberräten“ degradiert und erhielten schließlich den Ehrentitel „Etatsräte“.4 Abgesehen von einigen Ressortveränderungen bildete sich eine mehr oder weniger feste Zuständigkeit der Regierungsräte heraus.5 Sehr bestänBei den Auswärtigen Angelegenheiten waren die Hauptleute der Ämter Brandenburg, Schaaken, Fischhausen und Tapiau sowie die Bürgermeister der Dreistadt Königsberg hinzuziehen, vgl.: Richard Ecker, Die Entwicklung der Königlich Preußischen Regierung von 1701 bis 1758, Königsberg 1908, S. 9–22, 83. – Bernhart Jähnig, Kanzlei, Registratur und Archiv unter dem ersten König in Preußen. In: Bernhart Jähnig (Hrsg.), Die landesgeschichtliche Bedeutung der Königsberger Königskrönung von 1701 (Tagungsberichte der Historischen Kommission für Ost- und Westpreussische Landesforschung 18), Marburg 2004, S. 75–99, hier S. 74. – Bernhart Jähnig, Vom Etatsministerium zum Geheimen Archiv. Kanzlei, Registratur und Archiv in Königsberg von der ausgehenden Ordenszeit bis zum beginnenden 19. Jahrhundert. In: Bernhart Jähnig – Jürgen Kloosterhuis (Hrsg.), Preußens erstes Provinzialarchiv. Zur Erinnerung an die Gründung des Staatsarchivs Königsberg vor 200 Jahren (Tagungsberichte der Historischen Kommission für Ostund Westpreussische Landesforschung 20), Marburg 2006, S. 53–84, hier S. 54–55, 76. – Robert Bergmann, Die Geschichte der ostpreußischen Stände und Steuern von 1688 bis 1704, Leipzig 1901, S. 5–11. – Kurt Forstreuter, Das Preußische Staatsarchiv in Königsberg. Ein geschichtlicher Rückblick mit einer Übersicht über seine Bestände (Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung 3), Göttingen 1955, S. 43–44. – Jähnig – Kloosterhuis (wie Anm. 2) S. 8. – Joachim Krause, Die kurfürstliche Verwaltung im Herzogtum Preußen am Ende des 17. Jahrhunderts, Bonn 1973, S. 38–46. – Wolfgang Neugebauer, Brandenburg-Preußen um 1600: Struktur – Dynastie – Konfession. In: Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 1, hrsg. im Auftrag der Historischen Kommission zu Berlin von Wolfgang Neugebauer, Berlin 2009, S. 121–144. – Wulf D. Wagner, Das Königsberger Schloss. Eine Bau- und Kulturgeschichte. Band 1: Von der Gründung bis zur Regierung Friedrich Wilhelms I. (1255–1740), Regensburg 2008 S. 106. – Wulf D. Wagner – Heinrich lange, Das Königsberger Schloss. Eine Bau- und Kulturgeschichte. Band 2: Von Friedrich dem Großen bis zur Sprengung (1740–1967/68). Das Schicksal seiner Sammlungen nach 1945, Regensburg 2011, S. 64. 5 Wagner (wie Anm. 4) S. 106 ff. – Eine festere Ressortzuständigkeit bildete sich ab 1712. Die Ressorts wurden in vier Departements aufgeteilt und von den Regierungsräten geleitet. Im Jahr 1721 erfolgte eine Reform der vier Departements, vgl. Ecker (wie Anm. 4) S. 30–33, 66–67. Friedrich Wilhelm I. schnitt die vier Departements der Regierungsräte neu zu und gründete ein fünftes Departement, vgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), I. Hauptabteilung (HA), Repertorium (Rep.) 96 B, Geheimes Kabinett, Nr. 3, Eintrag 1716: Friedrich Wilhelm I. an Regierung, Potsdam 29.5.1730, Bl. 237v–239. 4
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dig war der Aufgabenbereich des Kanzlers. Er war Chef der Justizverwaltung, verantwortlich für die Kirchen- und Schulpolitik und leitete die Geheime Kanzlei mit der Zentralregistratur, die das Schriftgut der Regierung und ihrer Organisationseinheiten verwaltete.6 Der Oberburggraf war zuständig für die Domänen und das Königsberger Hospital. Zudem führte er die Oberaufsicht über die Amtskammer, war zeitweilig sogar deren Kammermeister, später Kammerpräsident in Personalunion.7 Der Landhofmeister war zuständig für die Steuererhebung, leitete die Sitzungen des Regierungskollegiums und führte die Oberaufsicht über die Kriegskammer.8 Der Obermarschall vertrat den Landhofmeister bei dessen Abwesenheit und leitete die Hofstaatsverwaltung. Die vier Regierungsräte tagten an fünf Tagen pro Woche.9 Mit der Kammerordnung des Jahres 1677 erhielt die Amtskammer eine eigenständigere Position innerhalb der Landesregierung. Sie war nun ebenfalls kollegial organisiert mit einem Kammermeister an der Spitze. Die Regierung behielt jedoch die Oberaufsicht über diese Organisationseinheit, indem sie eingehende Post in der Sitzung prüfte und auf die Amtskammer zuschrieb, Konzepte ausgehender Schriftstücke revidierte und Ausfertigungen unterzeichnete. Die „Kammersachen“ waren stets der erste Tagesordnungspunkt der Sitzung des Regierungskollegiums.10 Auch wenn die Königsberger Kammer nach und nach dazu überging, mit der Berliner Hofkammer direkt zu kommunizieren und mit der Kammerordnung von 1698 dem Oberburggrafen die Entscheidung überlassen wurde, ob er die Kammerschreiben selbst revidierte oder dem Regierungskollegium zur Behandlung zuwies,11 blieb die Amtskammer aus Sicht der Schriftgutverwaltung eine Organisationeinheit der Landesregierung. Wie die Amtskammer wies auch die Kriegskammer eine Tendenz zur Verselbständigung auf. Auch sie wurde 1685 zu einer kollegialen Organisationseinheit erweitert. Ein Oberkommissar leitete diese Organisationseinheit mit zwei Kommissaren und fünf Kanzleibediensteten. Wie bei der Amtskammer setzte sich auch bei der Kriegskammer die Praxis durch, dass der Landhofmeister, in dessen Vertretung der Obermarschall, die Oberaufsicht führte, die ReJähnig, Kanzlei (wie Anm. 4) S. 84. Zur personellen Ausstattung der Kanzlei, zur Besoldung und zu den biografischen Daten der Kanzleibediensteten, vgl. ebd. S. 85. 7 Ecker (wie Anm. 4) S. 12. 8 Ebd. S. 19. 9 Ebd. S. 22–25. 10 Ebd. S. 10–11. – Wagner (wie Anm. 4) S. 235 f. 11 Ecker (wie Anm. 4) S. 13. – Wagner (wie Anm. 4) S. 236 f. 6
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vision der Konzepte übernahm und darüber entschied, ob Materien im Regierungskollegium zu behandeln waren. Neben der Kanzlei, der Rentei, den Gerichten und Kammern existierte der Landkasten als weitere Organisationseinheit der Regierung. Die Stände bestellten sechs Oberkastenherren, die mit Kastenschreibern die Steuereinnahmen verwalteten. Mit der Einführung der neuen Kriegssteuern ging die Steuererhebung in den Ressortbereich des Kriegskommissariats über.12
Behördenorganisation im 17. Jahrhundert mit Verselbständigungstendenzen (ohne Konsistorien und Städte). Die Regierung ist mit ihren Organisationseinheiten und die Hauptämter sind mit ihren Ressorts dargestellt (Denny Becker).
Im 18. Jahrhundert setzte sich der Verselbständigungsprozess einzelner Organisationseinheiten der Landesregierung fort. Schon im 17. Jahrhundert hatte mit der Einführung von Kontribution und Akzise eine Kompetenzverschiebung eingesetzt und auch die Verpachtung der Domänen führte zum Kompetenzverlust in den Hauptämtern.13 Den Landesherren ging es vor allem darum, diese neuen Steuern und Pachteinnahmen der Befugnis der ständisch eingesetzten Regierung zu entziehen. Kriegskammer und Amtskammer waren durch den Geschäftsgang, der nach wie vor durch die Landesregierung gesteuert wurde, in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt. Die stetigen Kompetenzstreitigkeiten löste erst die Verwaltungsreform Friedrich Wilhelms I.14 Das Kriegskommissariat vereinigte sich im Jahr 1722/23 mit den Kammern der Regierung zur Kriegs- und Ecker (wie Anm. 4) S. 15–22. – Krause (wie Anm. 4) S. 92–95, 108–112. Krause (wie Anm. 4),S. 13–18, 33–35. Nachprüfungen ergaben, dass die Regierungsräte auch den Schriftwechsel mit den drei Landkästen im Samland, Oberland und Natangen sowie mit Steuerpflichtigen führten, vgl. GStA PK, XX. HA, Ostpr. Fol. 895. 14 Ecker (wie Anm. 4) S. 36–43. – Jähnig, Etatsministerium (wie Anm. 4) S. 76. 12 13
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Domänenkammer. Diese neue oberste Landesbehörde der Domänen-, Finanz-, Wirtschafts- und Polizeiverwaltung, der auch die Lizentkammer unterstellt wurde, wurde aus der Landesregierung herausgelöst und unterstand nun der Berliner Zentralverwaltung.15 Bis zu ihrer Abwicklung 1804 behielt die Landesregierung nur noch Reste ihrer einstmaligen Zuständigkeit, insbesondere die Landtagsverhandlungen, die Justiz-, Kirchen- und Schulverwaltung.16 II. In der Geheimen Kanzlei waren unter dem Kanzler zwei Obersekretäre beschäftigt. Sie protokollierten die Sitzungen des Regierungskollegiums und steuerten den gesamten Schriftverkehr der Organisationseinheiten im Königsberger Schloss. Neben dem Registrator, der zugleich Archivar im Rang eines Hofrats war, waren in der Kanzlei ein Botenmeister, ein Taxator, acht Kanzlisten und ein Aufwärter beschäftigt.17 Richard Ecker fasste die Zuständigkeit der Kanzleibediensteten wie folgt zusammen: „Entsprechend der zentralen Stellung der Regierung hatte ihre Geheime Kanzlei, die unter der speziellen Aufsicht des Kanzlers und der beiden Obersekretäre stand, alle Schreibarbeiten auch für sämtliche andere königlichen Oberbehörden in Preußen sowohl der Verwaltung wie der Justiz zu erledigen.“18 Mit den Kammerordnungen war zwar die Bildung eigener Registraturen verbunden, diese Kammerregistraturen arbeiteten jedoch noch nicht komplett selbständig.19 Erst im Jahr 1717, kurz vor Gründung GStA PK, XX. HA EM, Tit. 21, Nr. 2: Friedrich Wilhelm I. an Regierung, Berlin 28.1.1723, Bl. 1–2. – Ecker (wie Anm. 4) S. 68–69. 16 Bergmann (wie Anm. 4) S. 5–12. – Ecker (wie Anm. 4) S. 66. – Forstreuter (wie Anm. 4) S. 37. 17 Ecker (wie Anm. 4) S. 25–26. 18 Ebd. S. 25. 19 Mehrfach wurde die Kanzlei angewiesen, die Kammerschriftstücke, auch nachdem sie im Regierungskollegium behandelt worden waren, nicht in der Kanzlei fertigen und ablegen zu lassen, sondern der Kammerregistratur zu übergeben, vgl. GStA PK, XX. HA EM, Tit. 19a, Nr. 42: Regierung an Kanzleiinspektor und Registrator-Archivar Johann Fauljoch, Königsberg 30.10.1655, Bl. 17–17v. – Ecker (wie Anm. 4) S. 15, 34–35, 39. Vermutlich hat Max Hein im 20. Jahrhundert die Kammerregistratur mit der Repositur 3 „Amtskammer“ als gesonderten Bestand angelegt. Laut Altfindmittel sind die dort verzeichneten 85 Akten nicht überliefert. Die Registratur der Kriegs- und Domänenkammer verzeichnete Max Hein unter der Repositur 5 und das Hofgericht unter der Repositur 25, vgl. Altfindbuch 258. 15
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der eigenständigen Kriegs- und Domänenkammer, erhielten Amtskammer und Hofgericht eine eigene Kanzlei mit einer eigenständigen Registratur.20 Ende des 17. Jahrhunderts wurden pro Jahr 1542 Ausfertigungen in der Kanzlei erstellt. Davon ergingen mit 451 die meisten an die Hauptleute, 164 an Domänenbedienstete, 100 an die Justizkommission, 121 an den Magistrat Königsberg und 135 an den Landesherren. Die Schriftgutproduktion spiegelt die Tätigkeit der Regierung als oberste Landesbehörde wider.21 Nach der Kanzleiordnung des Jahres 1529 hatten die Kanzleibediensteten alle Händel, Briefe und Handfesten in Registranten abzuschreiben und zu registrieren, Kopien der Handfestenbücher anzulegen und den Hauptleuten zu übergeben. Im Jahr 1582 wurde die Kanzleiordnung erweitert. Demnach sollten unter Leitung eines Kanzleiinspektors die Kanzlisten auch die Verschreibungen, Lehns- und Begnadigungsbriefe registrieren und zu Buch bringen, mündliche Gesuche von Gesandten und Botschaftern verzeichnen, Beschlüsse des Regierungskollegiums konzipieren und ausfertigen sowie die eingehenden Schriftstücke rubrizieren, signieren, registrieren und in die vorgesehenen Schränke ablegen.22 Kanzler und Obersekretäre hatten die orthografische Richtigkeit der Ausfertigungen zu prüfen und mit Konzepten und Kopien zu kollationieren. Anschließend waren Ausgangsschreiben dem Herzog in der Audienz vorzutragen und zur Unterzeichnung vorzulegen. Alle Copien so in unserm oder unserer Räthe nahmen außgehen, sollen in gleichnüs nach dem Cantzeleybrauch, in sondere Registranten eingeschrieben werden, deßselben beide Cantzler undt Ober GStA PK, XX. HA EM, Tit. 19 b, Nr. 16: Einrichtung einer Hofgerichtskanzlei, 1717. – Ebd. Abt. 21 aa Nr. 4. – Ecker (wie Anm. 4) S. 13, 39, 44, 62, 81, 85–87. – Es dauerte jedoch noch einige Zeit, bis diese Registraturen selbständig arbeiteten. Noch in den 1730er Jahren mussten Geheimkanzlisten bei den Kammer- und Gerichtsregistraturen aushelfen. Zudem ließen auch neu gegründete Behörden nicht selten Schreiben in der Geheimen Kanzlei, die im 18. Jahrhundert aus 11 ordentlichen und 5 bis 7 außerordentlichen Mitarbeitern bestand und von einem Archivar geleitet wurde, erstellen. Die Prästationstabellen (Rechnungsschriftgut) sind von der Kammerkanzlei erstellt worden und die Amtsrechnungen ab der Mitte des 18. Jahrhunderts dorthin abgegeben worden, vgl. Forstreuter (wie Anm. 4) S. 36–37. – Der Prozess der Verselbständigung von Gerichten und Kammern aus den Landesregierungen heraus fand in allen preußischen Ländern statt, vgl. dazu Otto Hintze, Preußens Entwicklung zum Rechtsstaat. In: Gerhard Oestreich(Hrsg.), Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und Sozialgeschichte Preußens, Band 3: Regierung und Verwaltung, 2. Auflage, Göttingen 1967, S. 97–163, hier S. 113 f. 21 Krause (wie Anm. 4) S. 47–48. 22 Jähnig, Etatsministerium (wie Anm. 4) S. 64. 20
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Secretarius mit fleiß von Quarthal zu Quartahl darauf sehen, daß solche mit fleiß correct, rein und sauber eingeschrieben undt gefertiget werden, damit wir undt alle nachkommende, iederzeit, alle Hendel gelegenheit Unß daraus zuersehen undt zuerkündigen, denen auch gutter glaube zugestellet werden möge. Insonderheit aber sollen die Lehnbriefe, auch Instructiones undt Responsa auff einander, an welchen am meisten gelegen, vor allen andern mit fleiß ordentlich undt woll Correct eingeschrieben undt Collationiert werden.23 Der Kanzler Fischer erwähnte im 16. Jahrhundert, dass es einen Kasten (= Schrank) mit 25 Capsen (= Schubladen), beschriftet nach Rang der Korrespondenzpartner sowie nach Materien gab. 16 Registranten sollten geführt und sachlich zusammen mit den Schreiben in den Schubladen gelagert werden. Im Laufe der Jahre wuchs die Anzahl der Schränke auf sieben. Davon enthielt der dritte Schrank allerlei gestelte und registrirte concepta und hendel, der vierte Schrank Schriftstücke, die nicht in Registranten abgeschrieben wurden, u.a. Religionssachen, Reichstage, Musterungen und polnische Beziehungen.24 Schon um 1600 zeigten sich deutliche Missstände in der Schriftgutverwaltung. Der Kanzleiinspektor sollte dafür sorgen, dass zerrisene Hendel zusammengebracht werden, neu eingebunden und ebenfalls mit Indexregistern versehen werden.25 Die klassische Amtsbuchführung, wie sie die Kanzleiordnungen des 16. Jahrhunderts vorschrieben, brach nach und nach zusammen. Es gelang den Kanzleibediensteten nicht mehr, dem ansteigenden Schreibaufwand mit den tradierten Methoden der Schriftgutverwaltung nachzukommen. Es fehlte an Zeit und Personal, um das Abschreiben in Amtsbücher aufrechtzuerhalten. Die Folge waren unten, durch- und übereinander gleich einem hohen Berge dahin geworffene Schrifften.26 Die Regierungsräte verteidigten den Kanzleiinspektor. Mit der Steuerung und Produktion des kurrenten Schriftgutes sei er so sehr beschäftigt gewesen, dass keine Zeit für eine sorgfältige Ablage übrigblieb.27
GStA PK, XX. HA EM, Tit. 19 a, Nr. 36: Kanzleiordnungen 1527–1613. GStA PK, XX. HA EM, Tit. 19 a, Nr. 42: Verzeichnis der Kanzleiregistratur o. D., Bl. 6–12v. – Forstreuter (wie Anm. 4) S. 24–27, 50, 69. 25 GStA PK, XX. HA EM, Tit. 19 a, Nr. 38: Dienstordnung des Kanzleiinspektors [1578/1603], n. f. – Jähnig, Etatsministerium (wie Anm. 4) S. 68. 26 GStA PK, XX. HA EM, Tit. 19 c I, Nr. 27: Untersuchungsbericht, Königsberg 8.1.1682, Bl. 12–13. 27 GStA PK, XX. HA EM, Tit. 19 c I, Nr. 27: Untersuchungsbericht, o. O. [1671], Bl. 1–9v; Kanzleibericht, o. O. 10.2.1682, Bl. 14–16. 23 24
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Mehrere Untersuchungskommissionen sollten die Missstände in der Kanzlei ermitteln und die Schriftgutverwaltung verbessern. Im Jahr 1669 wurde die Kanzlei angewiesen, alles lose Schriftgut, auch das ältere, zu Bänden zu formieren und davon Spezifikationen und Register anzufertigen.28 Offenbar wurde diese Anweisung nicht befolgt, denn als Kanzleiinspektor und Registrator-Archivar Daniel Behm seinen Dienst 1679 antrat, war er schockiert über die große Unordnung, die er von seinem Vorgänger, Johann Fauljoch, übernommen hatte. Eine erneute Kommission untersuchte das Königsberger Kanzleiwesen. Sie stellte fest, dass Behm sehr engagiert die auf dem Boden liegenden Berge loser Schriften in richtige Ordnung gebracht und in gewiße capsulen und Schaffe geleget, und mit rubricen und Auffschriften verneuert. Darüber hinaus habe er die Preußische Registranten von anno 1527 biß 1641 bey continuirung derselben in der vorigen Registratur biß auf diese Zeiten dergestalt mit separaten registern, secundum seriem materiarum, derer jede sich auff seinen Ohrt referirt, verbessert, daß ein jeder, dem von dem Register und Methodo nur etwas wißend ist, darauß eine desidirte materie leicht finden kann. Gleichen Fleiß hat Er auch bey denen so genanten, theils von anno 1517 biß 1641 eingebundenen, theilß von anno 1641 bis dato unter anderen Convoluten steckenden ohneingebundenen Abschieden, imgleichen bey denen Verschreibungen von des Ordens- biß auf diese zeiten, Relationen, ergangenen Churfürstl eigenhändigen Rescriptis, Lehnund Landtags-Sachen, so von anno 1511 biß 1641, eingebunden, wie auch bey denen Hof-Gerichts-Sachen und Grenzbüchern erweisen, so daß alle von Ihm bis auf diese Zeit zusammen getragen und in gewiße capsulen registrirt wordenn. Behm sortierte das lose Schriftgut nach seiner Funktion, legte daraus neue Folianten an, ergänzte bestehende Registranten, indem er sie als Konzeptbände fortführte und erstellte ein neues Generalverzeichnis. Die Kommission befürwortete diese Ordnung und folgte seiner Ansicht, die Belehnungen, Landtagsverhandlungen, Verschreibungen, Konfirmationen, Konsense, Abschiede und Reskripte, die seit 1641 separat und lose gelegen haben, ebenfalls zu binden.29 GStA PK, XX. HA EM, Tit. 19 c I, Nr. 27: Untersuchungskommission an Obersekretäre, o. O., 7.9.1669, Bl. 5–5v. 29 GStA PK, XX. HA EM, Tit. 19 c I, Nr. 27: Untersuchungsbericht, Königsberg, 8.1.1682, Bl. 12–13. Ferner ging die Untersuchungskommission der Klage Behms nach Unvollständigkeit der Unterlagen nach. Hier kam sie zu dem Schluss, dass nicht mehr damit zu rechnen sei, dass die Verabschiedungen und Konsense von 1614 bis 1635, Landtagsverhandlungen, und ein Band Konfirmationen mit der Laufzeit 1631, die nach Berlin-Cölln oder Warschau verbracht worden seien, nach Königsberg zurückgebracht würden. Entwendete 28
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Denny Becker Zusammenbruch der Ausgangsablage in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Ablösung der Amtsbucheintragungen durch chronologisches Zusammenbinden von Konzepten der Ausgangsschreiben (Foto: Vinja Rutkowski).
Die Kanzleiordnungen des 16. Jahrhunderts beinhalteten keine Regelungen, wie mit den Konzeptpapieren umzugehen sei, nachdem sie in die Amtsbücher abgeschrieben waren. Schon die Regierungsräte klagten, dass ausgefertigte Verschreibungen, Konsense und Belehnungen besiegelt an den Botenmeister gelangten, ohne dass dies auf den Konzepten vermerkt sei, obwohl der Landtagsbeschluss des Jahres 1663 solches vorschrieb. Ferner sei die getrennte Lagerung von Abschieden, Konfirmationen, Berichten und Reskripten, derer sich eines auff das andere beziehet ein großer Mangel.30 Auch die Kanzleibediensteten klagten über das mühsame Suchen nach Vorgängen. Man müsse die Folianten nebeneinanderlegen und chronologisch durchblättern, um zusammengehörige Schriftstücke zu finden. Eine zukünftige Ablage nach Materien könnte das Suchen erleichtern und die zeitaufwändige Registrantenführung erübrigen.31 Eine Novellierung der Kanzleiordnung wurde sowohl von den Regierungsräten als auch von den Kanzleibediensteten als notwendig erachtet. Schriftstücke zu den auswärtigen Beziehungen finden sich insbesondere in der Rep. 9 des Geheimen Rates „Beziehungen zu Polen“. Für die Zeit von 1525 bis 1672 wurden 218 Registranten gezählt. Behm zählte im Jahr 1684 674 Folianten, vgl. Forstreuter (wie Anm. 4), S. 31, 35. – Ariane Knackmuss, Die Ostpreußischen Folianten – Zur frühneuzeitlichen Entwicklung der Amtsbücher im Staatsarchiv Königsberg. In: Bernhart Jähnig – Jürgen Kloosterhuis (Hrsg.), Preußens erstes Provinzialarchiv. Zur Erinnerung an die Gründung des Staatsarchivs Königsberg vor 200 Jahren (Tagungsberichte der Historischen Kommission für Ost- und Westpreussische Landesforschung 20), Marburg 2006, S. 185– 196, hier S. 192, 195. – Über die Konzeptbücher gibt eine Aktennotiz aus dem Jahr 1751 Auskunft. Es seien Alte Preußische Registranten, worin die Concepte jeden Jahres eingehefftet, jedoch sind hierin die Concessiones, Confirmationes u. Verabscheidungen nicht befindlich, welch in besonderen Büchern eingebunden sind, vgl. GStA PK, XX. HA EM, Tit. 19 c I, Nr. 17: Aktennotiz zur Lagerung der Folianten [1751], Bl. 17. 30 GStA PK, XX. HA EM, Tit. 19 c I, Nr. 27: Kanzleibericht, o. O. 10.2.1682, Bl. 14–16. 31 GStA PK, XX. HA EM, Tit. 19 c I, Nr. 27: Untersuchungsbericht, o. O. [1671], Bl. 1–9v.
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Die überarbeite Kanzleiordnung des Jahres 1673 traf nun Vorkehrungen zum Umgang mit Konzepten. Der Registrator-Archivar hatte sie, nachdem sie ausgefertigt und unterschrieben worden waren, an sich zu nehmen, die Cammersachen wochentlich zu unterscheiden und zur Cammer zuschicken, auch eine Consignation deßen, was wochentlich zur Cammer abgeliefert, in der Canzeley beyzubehalten. Staats-, Landtags- und Judicial-Sachen, Kriegsund Friedens-, Lehns- und Fiscalische Händel, Consistoriale, was ex officis oder uf der Parte anhalten ergangen, iedes an seinen orth zu bringen, zu bewachen, keine Urkunden, Documenten und Nachrichten, daran Unß, Landen und Leuten gelegen, noch andere privat-Sachen, ohne des Canzlers, oder der Ober-Secretarien vorwißen und einwilligen herauszugeben […] Alles fleißig zusammen zuhalten, in richtige Register zubringen, die Convoluta mit Überschriften, nach den darin enthaltenen materien, zubezeichnen, zusammenzubinden, oder auch, was der Importanz und nötig, in gewiße Bücher einhefften zu lassen und an gewiße Orthe zustellen. Ein besonderer Kriegssekretär sollte abgeordnet sein, der die Unterlagen der „Landes-Defension“, beispielsweise die Musterungsrollen, pflegte und die Abrechnungen in den Kammern kollationierte. Ein Jagdsekretär verwaltete nun die Unterlagen der Holzund Jagdsachen und arbeitete den Oberjägern und Oberforstmeistern zu. Die Kanzlei hat alle aus der Ober-Rathstuben, vom Hoffgericht und aus der Cammer einkommende Concepte zu muntiren, was ein ieder mundiret, mit allem fleiß, damit nicht etwas mentose ausgehe, bey vermeidung ernsten einsehens, zu überlesen, mit dem Concept zu collationiren und ihrer arbeit mit allem fleiß und treuen obzuliegen, […] was ausgefertigt, der Canzeley-Brauch und Verordnung nach, an den Registratoren übergeben, der es seinen Pflichten nach, in die sondere darzu verordnete Stellen, Behälter und Örter wol zuverwahren, uffzuheben, und einzuzeichnen. […] Dann daß Sie die Concepte, so die Woche über gesamblet, des Sonnabendts bey Zeiten dem Registratori richtig abliefern, damit er sie durchschieße, was zur Cammer gehöret, dahin schicke, und was in die Canzeley-Registratur anzunehmen, alda behalte.32 Was diese Kanzleiordnung neu einführte, ähnelt der Aktenführung. Schriftstücke sollten nun zu Konvoluten gesammelt und die wichtigsten zu Büchern gebunden werden. Schriftstücke wurden nun nicht mehr nach ihrer Funktion getrennt gelagert, sondern nach ihrem sachthematischen Zusammenhang. Es waren die Reformbemühungen des Kanzleiinspektors und Registrator-Archivars Daniel Behm, die dazu führten, dass die GeheiGStA PK, XX. HA EM, Tit. 19 a, Nr. 40 a: Kanzleiordnung vom 20. Juli 1673, Bl. 23–31. 32
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me Kanzlei im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts die Vorgangsbildung und demzufolge einen neuen Foliantentyp einführte. Nicht nur die Verwaltung sollte davon profitieren. Behm fürchtete, dass die schlechte Auffindbarkeit der Schriftstücke zu Klagen Anlass geben könnte, besonders bei den Gerichten, wo die Privat-Streitsachen verhandelt würden und zu denen es häufig Nachfragen gäbe.33 Nach der überarbeiteten Kanzleiordnung von 1673 schrieb der Kanzleiinspektor die Vorgänge auf die Kanzlisten zu.34 Die nun erstellten Folianten enthalten sowohl Eingangsschreiben
Zwischenstufe zwischen Amtsbuch und Akte. Zusammengebundene Vorgangsdokumente in einem Folianten Ende des 17. Jahrhunderts (Foto: Denny Becker).
als auch die Konzepte der Ausgangsschreiben und bilden somit eine Zwischenstufe zwischen Amtsbuch- und Aktenführung.35 Die Verwaltungsreform Friedrich Wilhelms I. brachte weitere Neuerungen in der Schriftgutverwaltung. Einige Organisationseinheiten wurden aus dem Geschäftsbereich der Regierung herausgelöst und mit eigenen Kanzleien und Registraturen ausgestattet. Im Juli 1719 wies der König die Behörden an, Akten zu heften, sie zu foliieren und mit einem Rotulus zu versehen.36 Bisher galt dieser „Aktenführungserlass“ Friedrich Wilhelms I. GStA PK, XX. HA EM, Tit. 19 c I, Nr. 27: Friedrich Wilhelm an Regierung, Potsdam 5.10.1687, Bl. 26–27. 34 Jähnig, Etatsministerium (wie Anm. 4) S. 70. 35 Knackmuss (wie Anm. 29) S. 188, 190. 36 GStA PK, XX. HA EM, Tit. 19 c I, Nr. 30: Friedrich Wilhelm I. an Regierung, Berlin 1.7.1719, Bl. 1–1v. 33
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als Beginn der rational-deduktiven Aktenbildung.37 Die Antwort aus Königsberg zeigt, dass die Kanzleibediensteten die Aktenführung besonders bei den Gerichten zwar als sehr zweckmäßig erachteten. Was [jedoch] der Regierung anbetrifft, so haben wier bereits berichtet, wie das hiesige Archiv von alters her nicht in der Ordnung gehalten worden, wie es woll hätte seyn sollen, und vor unser Zeiten, unter den vorigen von der hohen Landesherrschaft verordneten Archivariis, in große Verwirrung gerahten, da denn auch endlich Ew. K. Mayst. auf unseren wiederhohleten Vorschlag, den jetzigen Archivarium Scheel im vorigen Jahre zum Archivario bestellet haben, welcher vom frühesten morgen an bis in den späten abend mit gar großen Fleiß bemühet ist, das Archiv in eine gantz neue Ordnung zu bringen, ungeachtet er bis dato noch gar keine Gehalt genießet. Und möchten wir wünschen, daß dabey die sämtliche acta auch gehefftet und foliiert werden könten. Es ist aber ratione der alten acten solches noch zur Zeit aus vielen uhrsachen gantz unmöglich. Wegen der neu dazu kommenden acten aber müsten wir erstlich vorstellen, daß bey der Regierung eigentlich dergleichen Justizsachen in der Art wie bey den Justiz collegiis nicht tractiret und recht förmliche processe geführet werden, sondern solche Sachen vorkommen, wie in der dortigen geheimbden Cantzley aus gefertiget, und in dem geheimbden Archiv daselbst reponiert werden, hiervon aber bestehet der wenigste Theil in Partsachen, und wird das meiste ex officio ausgefertigt. Und ob wier gleich voll begreifen, daß es gutt wäre, wenn es mit solchen Regierungs actis ebenfalls auf obige Art eingerichtet werden könnte, und solches selbst gewis sehen möchten, so ist es doch eine sehr große Menge, was täglich in die Cantzley kompt, und keine Archivarii werden, acta zu hefften und zu binden, als welcher seine zeit, bevorab bey dem zustande des hiesigen Archivs, besten anwenden kann.38 Ein weiterer Aktenvermerk vom 24. April 1727 erhellt: Da die Auffwahrter bey der Geheimbten Cantzeley nicht im Stande sind, die in derselben ihnen gegebene Acta zu hefften, auch mit der Einbindung nicht wohl umbzugehen wißen, so daß sie Papier theils zerreisen, theils dahin einhefften, wo so nicht hingehören, so muß künftig allemahl, wenn Acta zu hefften vorfallen, ein Buchbinder zu solchen Behuff auff die Cantzely gehohlet und in Gegenwart eines Auffwahrters diese Arbeit verrichtet werden.39 Seit Jahrhunderten banden der Hofbuchbinder und weitere Königsberger Buchbindereien die Regierungsunterlagen. Die angeordnete AktenForstreuter (wie Anm. 4) S. 32. – Knackmuss (wie Anm. 29) S. 194. GStA PK, XX. HA EM, Tit. 19 c I, Nr. 30: Regierungsbericht, o. O. 7.8.1719, Bl. 6–8. 39 GStA PK, XX. HA EM, Tit. 19 c I, Nr. 30: Aktenvermerk, Königsberg 24.4.1727, Bl. 12. 37 38
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Mit Bünden formierte Akte der Kriegs- und Domänenkammer zu Königsberg im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts (Foto: Christine Ziegler).
führung änderte daran nichts. An einer Akte der Kriegs- und Domänenkammer aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sieht man, wie sie durch Bünde zusammengehalten wird. Die berühmte „preußische Fadenheftung“ war zumindest in der Frühen Neuzeit doch nur eine „Berliner Fadenheftung“. Was die Regierung in ihrem Bericht mit ganz neuer Ordnung des Archivars Benjamin Scheel bezeichnete, war in der Tat eine Abkehr von dem in Misskredit geratenen praktisch-induktivem Ablagesystem. Scheel, der bereits als Adjunkt in der Registratur gearbeitet hatte und im Jahr 1722 als Archivar eingestellt worden war, ging die Ressorts und Aufgaben der Regierung durch und erarbeitete daraus einen sachlich-topografischen Aktenplan. Nunmehr sollten die Schriftstücke nicht in Amtsbücher abgeschrieben bzw. in Folianten weggebunden werden, sondern nach der Aktenplanposition, den Abteilungen, abgelegt werden.40 Alles Schriftgut, sowohl dasjenige, das den Weg in die Folianten noch nicht gefunden hatte, wie neu anzulegende Vorgänge, wurde nun in 221 Abteilungen abgelegt. Sein Nachfolger Elias Diederich von Klinggräf erachtete die Anzahl als zu weitläufig und reduzierte sie auf 142, indem er einige Abteilungen zu Unterabteilungen verschob.41
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Forstreuter (wie Anm. 4) S. 35. Jähnig, Etatsministerium (wie Anm. 4) S. 75. – Wagner – Lange (wie Anm. 4) S. 129.
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III. Als die Altpreußische Landesregierung im Jahr 1804 ihre Arbeit einstellte, hatte sie eine sehr komplexe und schwer zu nutzende Überlieferung hinterlassen. Seit dem 16. Jahrhundert gab es eine klassische Amtsbuchführung mit Abschriften von Schreiben und Urkunden. Ab dem 17. Jahrhundert kamen „Folianten“ hinzu, in denen lose Schriftstücke nach Schreibrichtung (Einlauf, Ausgang), nach Funktion oder zu ganzen Vorgängen eingebunden worden waren. Im 18. Jahrhundert stellte die Geheime Kanzlei auf eine parallele Aktenführung um.
Ausgangsablage im 16. Jahrhundert. Ausgehende Schreiben wurden in Amtsbüchern abgeschrieben. Aus den Amtsbuchserien wurden im 19. Jahrhundert mehrere unechte Pertinenz- und Provenienzbestände gebildet (Foto: Denny Becker).
Seit dem 19. Jahrhundert haben Archivare versucht, aus diesen unterschiedlichen Ablagestrukturen Archivbestände zu formieren. Friedrich Adolf Meckelburg (Direktor des Königsberger Staatsarchivs von 1863 bis 1874) verzeichnete die sogenannten Ostpreußischen Folianten (Ostpr. Fol.) in der Reihenfolge, wie sie nach der Ordnung in der Regierungsregistratur, nach Abteilung, Gruppen und Untergruppen,
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aufgestellt waren.42 Daraus entstand ein bis heute im Einsatz befindliches Sammelfindbuch (s.a. S. 311). Für die Ordnung und Verzeichnung der Bestände des 16. Jahrhunderts war Hermann Ehrenberg zuständig. Die auswärtige Korrespondenz, die nach ständischem Rang der Korrespondenzpartner in Schränken in der Registratur geordnet war, löste er in den 1880er Jahren auf und ordnete sie nach Sachen und Ländern neu. Diese Neuordnung orientierte sich an tradierten Verzeichnungsmethoden. Angelehnt an das Ordensbriefarchiv entstand so das „Herzogliche Briefarchiv“ (HBA) als unechter Provenienzbestand. Zwar finde man sich in dieser Ordnung gut zurecht, die Erschließung Ehrenbergs bewerteten spätere Archivare dennoch als trocken und lieblos; Kurt Forstreuter bezeichnete sie sogar als „Schmerzenskind“.43 Die rein formale Abgrenzung der Archivalien nach Briefen und Akten verwirre, so befinde sich die Korrespondenz mit Polen beispielsweise einerseits im Herzoglichen Briefarchiv, andererseits nach wie vor in der Regierungsregistratur, dabei ist die Provenienz doch dieselbe, so Stefan Hartmann.44 Einen weiteren unechten Provenienzbestand legte der Archivar George Adalbert von Mülverstedt in den 1850er Jahren an. Aus genealogischem Interesse entnahm er aus der Regierungsregistratur einzelne lose Schriftstücke und Vorgänge, um sie als Sammlungsbestand „Adelsarchiv“ neu aufzustellen. Bereits in Folianten gebundene Schriftstücke ließ er unbe-
Stefan Hartmann, Das Herzogliche Briefarchiv und seine Regestierung. In: Bernhart Jähnig – Jürgen Kloosterhuis (Hrsg.), Preußens erstes Provinzialarchiv. Zur Erinnerung an die Gründung des Staatsarchivs Königsberg vor 200 Jahren (Tagungsberichte der Historischen Kommission für Ost- und Westpreussische Landesforschung 20), Marburg 2006, S. 197–213, hier S. 198. – Forstreuter (wie Anm. 4) S. 24. – Bernhart Jähnig, Die Bestände des historischen Staatsarchivs Königsberg als Quelle für Familien- und Personenforschung. In: Der Herold. Vierteljahreschrift für Heraldik, Genealogie und verwandte Wissenschaften, N.F. Bd. 10 [25] (1982), Heft 6/7, S. 151–163, hier S. 155. – Zu weiteren Erschließungsbemühungen im 19. Jahrhundert vgl. Wagner - lange (wie Anm. 4) S. 130 ff. 43 Forstreuter (wie Anm. 4) S. 70–71. 44 Forstreuter meint sogar, dass der gesamte Bestand neu verzeichnet werden muss, ebd. S. 50, 69, 70–71. – Hartmann (wie Anm. 42) S. 199–213. Seit den 1990er Jahren arbeitet ein Regestierungsprojekt kontinuierlich daran, Schriftstücke aus dem Herzoglichen Briefarchiv und den Ostpreußischen Folianten editorisch zusammenzuführen, vgl. Dieter Heckmann, Einleitung. In: Ders. (Bearbeiter), Die Beziehungen der Herzöge in Preußen zu West- und Südeuropa (1525–1688). Regesten aus dem Herzoglichen Briefarchiv und den Ostpreußischen Folianten (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz 47), Köln u.a. 1999, S. 1–18. 42
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Eingangsablage im 16. Jahrhundert. Aus dieser Einzelblattablage wurde im 19. Jahrhundert der unechte Provenienzbestand „Herzogliches Briefarchiv“ gebildet (Foto: Denny Becker).
rücksichtigt. Wie beim Herzoglichen Briefarchiv entstand so eine hybride Überlieferung.45 Die „Hufenschoßprotokolle“ (GHS) bilden weitere hybride Regierungsunterlagen. Um die Steuererhebung von der Bewilligung des Landtags unabhängig zu machen, wurde die Kontribution zu einer permanenten Grundsteuer umgebildet. Die Protokolle der Hufenschoßkommission verzeichnete der Archivar Kleimau bereits im Jahr 1931 und verwies in der Findbucheinleitung darauf, dass sich die Aktenüberlieferung dazu in der Regierungsregistratur befindet. Die Protokolle dienten als Bemessungsgrundlage für die Steuererhebung und fungierten somit als analoges Fachverfahren der Regierung. Durch die gesonderte Verzeichnung wurden sie als unechter Pertinenzbestand aufgestellt. Die Amtsrechnungen waren bereits im 19. Jahrhundert in einem gesonderten Findbuch verzeichnet worden, ebenso die sogenannten Metriken-, Haus-, Ingrossations- und Grundbücher. Letztere enthalten Urkundenabschriften, die von der Geheimen Kanzlei einerseits angelegt worden waren, GStA PK, XX. HA, Adelsarchiv, Bestandseinleitung. – Hans Koeppen, Das „Adelsarchiv“ des Staatsarchivs Königsberg (Archivbestände Preußischer Kulturbesitz) im Staatlichen Archivlager in Göttingen. In: Preußenland. Jahrbuch der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung und der Copernicus-Vereinigung für Geschichte und Landeskunde Westpreußens; Mitteilungen aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz 12 (1974), Heft 3/4, S. 33–62. 45
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um den Hauptleuten beim Amtsantritt einen Überblick über die Rechtsverhältnisse vor Ort zu verschaffen und andererseits zur Rechtssicherheit, um bestehendes Recht zu dokumentieren und Urkunden reproduzierbar zu halten. Als oberstes Rechtsinstitut besaßen Abschriften durch die Regierung und deren Verwahrung in der Geheimen Kanzlei Beweiskraft.46 Die Erschließung der parallelen Aktenüberlieferung begann durch Archivar Max Hein in den 1920er Jahren.47 Mit der Verzeichnung der Abteilungen 2 bis 9 des „Etatsministeriums“ (EM) entstand so ein weiterer unechter Provenienzbestand.48 In den 1970/80er Jahren wurde die Verzeichnung fortgeführt. Dabei wurden die sogenannten Abteilungen aus dem 18. Jahrhundert größtenteils beibehalten und in Titel umbenannt.49 Insbesondere bei Verlust der Ausfertigungen war es möglich, anhand des Amtsbucheintrags eine Urkunde zu reproduzieren. Diese Amtsbücher enthalten Abschriften mittelalterlicher Urkunden und wurden teilweise durch Streichungen, Vermerke und Nachträge fortgeschrieben. Urkundenabschriften mussten von den Hauptleuten bei der Regierung eingereicht werden, die Geheime Kanzlei ließ sie zu Folianten binden, vgl. Stephan Waldhoff, Zur Überlieferung mittelalterlicher Urkunden in Amtsbüchern des 16. Jahrhunderts. In: Matthias Thumser – Janusz Tandecki – Dieter Heckmann (Hrsg.), Edition deutschsprachiger Quellen aus dem Ostseeraum (14.–16. Jahrhundert), Toruń 2001, S. 99–119, hier S. 107–109, 114. 47 GStA PK, XX. HA, Etatsministerium: Vorbemerkungen im Findbuch Nr. 1, S. 1. – Jähnig, Etatsministerium (wie Anm. 4) S. 75. – Forstreuter (wie Anm. 4) S. 81. 48 Knackmuss (wie Anm. 29) S. 185 f. 49 Jürgen Kloosterhuis, Der Schlüssel zum Geheimen. Die Tektonik-Geschichte des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz. In: Jürgen Kloosterhuis (Hrsg.), Streifzug durch Brandenburg-Preußen. Archivarische Beiträge zur kulturellen Bildungsarbeit 2010 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Arbeitsberichte 14), Berlin 2011, S. 461–495, hier S. 475. – Ders., Von der Repositurenvielfalt zur Archiveinheit. Die Etappen der Tektionierung des Geheimen Staatsarchivs. In: Jürgen Kloosterhuis (Hrsg.), Archivarbeit für Preußen. Symposium der Preußischen Historischen Kommission und des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz aus Anlass der 400. Wiederkehr der Begründung seiner archivischen Tradition (Veröffentlichungen aus den Archiven Preussischer Kulturbesitz 2), Berlin 2000, S. 47–78, hier S. 49. – Heinz-Ulrich Hardenberg, Neuverzeichnung der „Licentsachen“, „Zollsachen“, „Pest- und Sterbesachen – Vieh“ des Etatsministeriums. In: Preußenland 16 (1978) S. 1–7. – Stefan Hartmann, Die Neuverzeichnung der Abt. 98 „Amt und Stadt Memel“ des Etats-Ministeriums Königsberg im Staatlichen Archivlager Göttingen. In: Preußenland 13 (1975) S. 35–42. – Stefan Hartmann, Die Verzeichnung der Abt. 97 „Moskau“ des Etatsministeriums Königsberg. In: Preußenland 19 (1981) S. 33–44. – Ursula Benninghoven, Bericht über die Verzeichnung der Abteilungen 128, 133, 53 und 54, 135, 136 des Etatsministeriums Königsberg. In: Preußenland 25 (1987) S. 1–64. – Ursula Schäfer, Neuverzeichnung der Abteilung 122 „Hauptamt Rhein“ des Etatsministeriums Königsberg. In: Preußenland 22 (1984) S. 61–64. – Jähnig, Etatsministerium (wie Anm. 4) S. 75. 46
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Die Trennung der Regierungsunterlagen in unechte Provenienz- und Pertinenzbestände besitzt eine lange Tradition. Die weit ins 19. Jahrhundert zurückreichende separierte Verzeichnung der Folianten nach Pertinenz bzw. nach Organisationseinheiten wurde noch im 20. Jahrhundert fortgeführt. Sie verschleiert, wer der Schriftgutproduzent ist und suggeriert, es bestünden eigenständige Behörden nebeneinander, was aber nicht der Fall war. Trotz der Verselbständigungstendenzen blieben Kammern und Gerichte Organisationseinheiten der Regierung (vgl. dazu die Abb. zur Behördenorganisation im 17. Jahrhundert S. 295). Deren Schriftgut wurde ebenso in der Geheimen Kanzlei verwaltet wie dasjenige, welches die Regierungsräte entweder in kollegialer Zusammenarbeit oder getrennt in ihrer jeweiligen Ressortzuständigkeit produzierten. Erst mit der Gründung eigener Kanzleien und Registraturen im 18. Jahrhundert bildeten sich weitere echte Bestände, was die gesonderte Verzeichnung in Reposituren durch Max Hein in den 1920/30er Jahren rechtfertigt.50 I V. Der Begriff „Foliant“ definiert zunächst ein Buchformat. Durch einmaliges Falten eines Bogens Büttenpapiers bildet sich das Folioformat.51 Die sogenannten Ostpreußischen Folianten – im 16. Jahrhundert oft Amtsbücher mit kunstvollen Holzdeckeleinbänden – bieten ein reiches inhaltliches Spektrum: Tagebücher zur Notierung der Posteinläufe und -ausgänge, Registranten mit Abschriften ausgelaufener Schriftstücke und Hausund Grundbücher mit diesbezüglichen Urkundenabschriften (vgl. Abb. S. 305 und 310). Im 18. Jahrhundert traten dazu Protokollbücher (Eintrag von Beschlüssen) und Reskriptenbücher (Eintrag innerbehördlicher Dienstanweisungen). Diese Foliantentypen entsprechen als Kopiare oder Register der Definition klassischer Amtsbücher – in Büchern gebundene Lagen Papier mit seriellen Einträgen.52 Nach der Amtsbuchlehre lassen sie Forstreuter (wie Anm. 4) S. 81; vgl. auch Anm. 25 und 26. – Zur Raumordnung der Organisationseinheiten im Nordflügel des Schlosses vgl. Wagner (wie Anm. 4) S. 107– 110, 237 f., 348–354. 51 Johannes Papritz, Archivwissenschaft, Band 1, 2. Auflage, Marburg 1998, S. 184. – Josef Hartmann – Jürgen Kloosterhuis, Amtsbücher. In: Friedrich Beck – Eckart Henning (Hrsg.), Die Archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die historischen Hilfswissenschaften, 3. Auflage, Köln 2003, S. 40–73, hier S. 54 f. 52 Hartmann – Kloosterhuis (wie Anm. 51). – Johannes Papritz, Archivwissenschaft, Band 2, 2. Auflage, Marburg 1983, S. 74–190. – Stefan Pätzold, Amtsbücher des Mittel50
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Ausgangsablage durch Abschrift der Ausgangsschreiben in einem Amtsbuch Mitte des 16. Jahrhunderts (Foto: Christine Ziegler).
sich als „Amtsbücher zur Rechtsaufschreibung, zur Justizausausübung, zur Verwaltungs- oder Wirtschaftsführung“ klassifizieren.53 Im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts waren einige Kopiare durch sogenannte Konzeptbände abgelöst worden (vgl. dazu Abb. S. 300). Die Einbände sind meist einfacher gehalten. Statt der Amtsbucheinträge waren Schriftstücke nach Einlauf bzw. Ausgang chronologisch sortiert eingebunden worden. Weitere Foliantentypen entstanden Mitte des 17. Jahrhunderts durch das Zusammenbinden von Vorgangsdokumenten und das Zusammenbinden von Schriftstücken nach formalen Kriterien zu einem bestimmten Zweck (vgl. dazu Abb. S. 302).
alters. Überlegungen zum Stand ihrer Erforschung. In: Archivalische Zeitschrift 81 (1998) S. 87–111. – ders., Zwischen archivischer Praxis und kulturgeschichtlichen Paradigma: Jüngere Ansätze der Amtsbuchforschung. In: Wilfried Reininghaus – Marcus Stumpf (Hrsg.), Amtsbücher als Quellen der landesgeschichtlichen Forschung (Westfälische Quellen und Archivpublikationen 27), Münster 2012, S. 9–40. 53 Hartmann – Kloosterhuis (wie Anm. 51) S. 65.
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Obwohl diese Foliantentypen die Kopiare in veränderter Form fortführen, sind sie keine Amtsbücher.54 Stattdessen handelt es sich nach der Papritz’schen Strukturlehre entweder um Serien- oder um Sachakten, die jedoch statt der Aktenheftung eine Buchbindung aufweisen.55 Sie sind demnach als „zu Serien- oder Sachakten buchgebundene Schriftstücke“ zu klassifizieren. Diejenigen Folianten, die für bestimmte Datenabfragen angelegt worden waren, sind als „zu Fachverfahren buchgebundene Schriftstücke“ zu klassifizieren. Das Sammelfindbuch Friedrich Adolf Meckelburgs zu den „Ostpreußischen Folianten“ (s.a. S. 305 f.) führt die innere Korrespondenz unter den Begriff „Kammersachen“ getrennt in sieben Serien auf, die folgendes beinhalten: – Erste Serie56 (Folianten 912–980): Beglaubigungen von Urkunden und Verträgen durch die Regierung, zumeist Verschreibungen, Verpfändungen, Handfesten, Kaufverträge, Kreditverträge, Bestallungen, Testamente und Eheverträge. Sie beginnen als Kopiare und gehen seit 1606 in Vorgangsfolianten über. – Zweite Serie57 (Folianten 981–996): Ergänzungen zur ersten Serie als nachgebundene Schriften. – Dritte Serie58 (Folianten 997–1092): „Anweisungen der Altpreußischen Landesregierung“. Sie besteht bis zum Jahr 1616 aus Kopiaren, danach aus Ausgangsfolianten. – Vierte Serie59 (Folianten 1093–1129a): Ergänzungen zur dritten Serie. Sie beginnt mit vier Kopiaren, gefolgt von 39 Eingangsfolianten, die Suppliken und Berichte von nachgeordneten Behörden, Bediensteten, Vasallen oder Untertanen an die Altpreußische Landesregierung enthalten.
Kloosterhuis nennt sie „Pseudo-Amtsbücher“, vgl. Hartmann – Kloosterhuis (wie Anm. 51) S. 57. 55 Papritz, Band 2 (wie Anm. 52). 56 Bisheriger Serientitel: „Hoheits- und Gnadensachen, Confirmationen u. Consense. Copiarium der Verschreibungen, Bestallungen, Kauf- und Tauschverträge, Obligationen, Reverse, Quittungen, Testamente, Leibgedinge, Heiratsnoteln, Mutzettel, Confirmationen und Transsumption, Atteste aus den Jahren …“. 57 Bisheriger Serientitel: „Verschreibungen in Kammersachen, Concepte der Verschreibungen, Bestallungen, Contracte, Confirmationen und Transactionen in Kammersachen, zusammengebunden aus den Jahren …“. 58 Bisheriger Serientitel: „Erlasse in Verwaltungsangelegenheiten“. 59 Bisheriger Serientitel: „Abschiede in Kammersachen“. 54
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– Fünfte Serie60 (Folianten 1130–1207c): Protokollbücher, die aus Sitzungsprotokollen und weiteren zusammengebundenen Suppliken, Berichten und Konzepten bestehen. – Sechste Serie61 (Folianten 12736–12818): enthält in 190 Bänden, beginnend als Kopiar und ab 1603 als Ausgangsfoliant, zwar ebenfalls Anweisungen der Altpreußischen Landesregierung, sie richtet sich jedoch in Angelegenheiten der Hauptamtsverwaltung konkret an die Hauptleute. – Siebte Serie62 (Folianten 1208–1269): Korrespondenz mit dem Landesherren. Sie ist entweder als Kopiar, Eingangs- oder Ausgangsfoliant angelegt. Die Folianten der auswärtigen Korrespondenz sind als Kopiare (Folianten 1–115b) angelegt, ebenso die der Landtagsverhandlungen (Folianten 468–793, 15663–15674). In der Justiz-, Finanz- und Militärverwaltung waren seit der Mitte des 17. Jahrhunderts verstärkt Vorgangsfolianten in Gebrauch. Die Gerichte formierten vor allem Folianten mit Verhandlungsprotokollen und Urteilssammlungen. Die meisten Foliantenserien enthalten jedoch Abrechnungen. Die Hofstaatsverwaltung legte 225, die Rentei 362, die Lizentkammer 164 und die Amtskammer sogar 11.237 Rechnungsbände an. Generell ergab eine Provenienzprüfung im Jahr 2017, dass der Schriftwechsel der Organisationseinheiten überwiegend in den Etatsministeriums-(EM)-Abteilungen abgelegt und nur die Abrechnungen, Tabellen, Protokolle, Musterungsrollen sowie Urteils-, Urkunden- und Dokumentensammlungen zu Bänden gebunden wurden. Als analoge Datenbanken, Fachverfahren und Nachschlagewerke wurden sie für die tägliche Verwaltungsarbeit benötigt und gingen daher nicht zu den Akten. Durch die zentrale Aufstellung in der Geheimen Kanzlei waren sie von der Regierung und ihren Organisationseinheiten leicht zugänglich und für verschiedene Zwecke verwendbar.63 Bisheriger Serientitel: „Protokollbücher der Oberratsstube“. Davon enthalten Bände im 17. Jahrhundert auch Suppliken, Berichte und Konzepte („Rat und Abschied“), Bände im 18. Jahrhundert bestehen aus Sitzungsprotokollen. 61 Bisheriger Serientitel: „Missiven in Amtssachen“. 62 Bisheriger Serientitel: „Berichte an den Hof und Reskripte in Kammer- und allen anderen Sachen“. 63 Kanzlei (EM 19), Amtskammer (EM 3, 5), Officium Fisci (EM 32, 33), Rentei (EM 123), Lizentkammer (EM 89), Kriegskammer (EM 75, 83), Kriegskommissariat (EM 21), Hofgericht (EM 60), Hofhalsgericht (EM 62). In der Einleitung des Findbuches 209 wur60
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Kennzeichnend für alle diese Foliantenserien und ‑typen ist, dass es dazu jeweils eine parallele Aktenüberlieferung im „Etatsministerium“ bzw. parallele Dokumentensammlungen im „Herzoglichen Briefarchiv“ und im „Adelsarchiv“ gibt und sie daher als hybrid zu betrachten sind. V. Dass sich die Akte als neue Form der Informationssicherung in der ostpreußischen Landesverwaltung im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts durchsetzte, war eher ein Zufall und aus der Not heraus geboren, denn mit dem Anwachsen der Verwaltungsaufgaben, stieg auch das Aufkommen an Schriftgut und damit die Anforderungen an deren effiziente Ablage. Die Registratur der Altpreußischen Landesregierung im Königsberger Schloss brach aus Überlastung zeitweilig zusammen. Die Kanzleibediensteten versuchten aus den überhäuften losen Blattablagen nutzbare Folianten zu binden. Beiläufig wurde die aktenmäßige Formierung der Dokumente als praktikabler erkannt. Die erste Generation von Archivaren, die im 19. Jahrhundert die zum Staatsarchiv Königsberg avancierte Altregistratur zu verwalten hatten, tat sich mit ihrer mediävistischen Ausbildung schwer in dieser Vielfalt von Ablagestrukturen. Gewohnt an die Einzelblattverzeichnung, verblieben sie bei der Regestierung von Urkunden und Amtsbucheinträgen. Eine fachliche Trennung von Registratur und Archiv gab es im 19. Jahrhundert noch nicht. Regelwerke existierten nur für die Schriftgutverwaltung, aber nicht für die archivische Arbeit. Ordnungsprinzipien, die für die Ablage von älterem Schriftgut anwendbar waren, bewiesen sich für die archivische Ordnung ungeeignet. Mit der Bildung von Selekten wurden Entstehungszusammenhänge sogar zerstört. Die nächste Archivarsgeneration folgte dem Regulativ von 1881, wonach die Archivalien nach dem Provenienzprinzip zu erschließen seien.64 Was für die archivische Überlieferungsbildung generell einen Segen darstellt, war für die Anwendung auf die frühneuzeitde vermerkt, dass in den Folianten nur die Visitationsprotokolle der Kirchen- und Schulkommissionen gebunden wurden, während sich die Akten dazu in den einzelnen EMAbteilungen der Ämter befinden. Ein gleiches findet sich in der Einleitung des Findbuches 162 b, dass nur die Protokolle der Hufenschoßkommission in Folianten gebunden und die Akten dazu in der entsprechenden EM-Abteilung abgelegt wurden. 64 Das Provenienzprinzip galt seit 1881 für die Bestandsbildung und Erschließung im Geheimen Staatsarchiv und wurde 1896 auch den Provinzialarchiven empfohlen, vgl. dazu Johannes Schultze, Gedanken zum „Provenienzgrundsatz“. In: Hans Beschorner (Hrsg.),
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liche Überlieferung fatal, denn das Königsberger Schloss fungierte in der Frühen Neuzeit noch weitgehend als ein archaischer Verwaltungsorganismus bestehend aus Ratsstube, Kammern und Gerichten. Aus der Überlieferung der Verwaltungszweige und Organisationseinheiten der Altpreußischen Landesregierung wurden in der Folge 26 unechte Provenienz- und Pertinenzbestände gebildet und die Unterlagen dadurch noch weiter aus dem Entstehungskontext gerissen. Um das Provenienzprinzip in Anwendung bringen zu können, hätte zuvor eine Unterscheidung zwischen denjenigen Unterlagen, die seit jeher als geschlossene Altregistratur im Königsberger Geheimen Archiv verwahrt, und denjenigen Unterlagen, die von weiteren Landesbehörden übernommen worden waren, stattfinden müssen. In den Anfängen des modernen archivwissenschaftlichen Denkens kam es immer wieder zu Fehl- und Überinterpretationen von Pertinenz und Provenienz. Selbst im Geheimen Staatsarchiv, dem Zentralarchiv des Preußischen Staates, wo das Provenienzprinzip entwickelt und erstmalig umgesetzt worden war, wurde es anfangs deutlich überdehnt. Wie Johannes Schultze darstellt, wurden bisweilen Aktenbände auseinandergenommen und vermeintlichen Provenienzen zugeordnet: „Dabei blieb noch unbeachtet, ob nicht vielleicht schon früher bei den doch kleinen Verhältnissen mehrere Dienststellen eine gemeinsame Registratur gehabt und damals schon ihre Akten zusammengelegt hatten“.65 Die Irrungen und Wirrungen im Königsberger Archivwesen des 19. Jahrhunderts decken sich weitgehend mit den Befunden von Meta Kohnke für das Geheime Staatsarchiv in Berlin.66 Im frühen 20. Jahrhundert verzweifelten sowohl Archivare als auch Historiker an den unübersichtlichen, unechten Pertinenz- und Provenienzbeständen. Besonders die Auswertung der isolierten Amtsbuchserien im Königsberger Staatsarchiv war deutlich erschwert. So verzichtete der Schüler des berühmten Preußenforschers Otto Hintze, Eduard Rudolf von Uderstädt, bei seiner Untersuchung der ostpreußischen Kammerverwaltung auf eine Auswertung der Königsberger Amtsbücher, „weil Verfasser Archivstudien. Zum siebzigsten Geburtstage von Woldemar Lippert, Dresden 1931, S. 225–236, hier S. 227. 65 Schultze (wie Anm. 64) S. 229. 66 Meta Kohnke, Die Ordnung der Bestände im Geheimen Staatsarchiv zu Berlin vor und nach der Einführung des Provenienzprinzips. In: Archivmitteilungen 11 (1961) S. 111–116. – Dies., Die Pertinenzbestände im Deutschen Zentralarchiv, Abteilung Merseburg. Geschichte, Struktur und archivische Bearbeitung. In: Archivmitteilungen 14 (1964) S. 223–231.
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Die Erfindung der Akte
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nach der Durchsicht einiger Jahrgänge sah, dass die Resultate keineswegs der aufgewendeten Arbeit entsprachen“.67 Der spätere Mitherausgeber der Acta Borussica, Hugo Rachel, kam bei der Darstellung der ostpreußischen Stände fast ohne die Königsberger Überlieferung aus.68 Es verwundert daher nicht, dass die borussische Geschichtsschreibung die Beziehung zwischen Monarch und Ständen häufig zu einseitig darstellte. Ende des 20. Jahrhunderts stellte der Präsident des Landesarchivs Baden-Württemberg Wilfried Schöntag erneut klar, dass mühsam und zeitaufwändig auszuwertende Quellen von der Forschung häufig vernachlässigt würden.69 Behörden waren und sind keine starren, sondern dynamische Institutionen. Behördengeschichte ist immer eng mit der gesellschaftlichen Entwicklung und der Ereignisgeschichte verbunden. Sie gewinnen Kompetenzen dazu und geben Aufgaben ab. Sie gründen Organisationseinheiten, formen sie um oder lagern sie aus. Auch die Altpreußische Landesregierung war in ihrer dreihundertjährigen Geschichte Veränderungsprozessen unterworfen. Zweifelsohne hatte sie im Rahmen der frühmodernen Staatsbildung Federn lassen müssen und verschwand 1804 schließlich ganz aus der Behördenlandschaft. Durch die Erhebung des Behördenarchivs der Altpreußischen Landesregierung zum Provinzialarchiv, lebte sie in veränderter und stark reduzierter Form jedoch fort. Behördliche Schriftgutverwaltung ist kein Selbstzweck. Sie richtet sich immer nach den Bedürfnissen der Verwaltung. Genügte es im 16. Jahrhundert noch, die Schriftstücke chronologisch nach Einlauf oder Ausgang zu kopieren, war im Zuge der Schriftgutexplosion dieses Ablagesystem zusammengebrochen und der Leidensdruck im Ablegen, Suchen und Bereitstellen so groß geworden, dass mit der Erfindung der Vorgangsbildung sich ein Paradigmenwechsel in der Schriftgutverwaltung vollzog. Heute ist das vorgangsbezogene Arbeiten Teil optimierter Verwaltungsabläufe. Als Ableitung des Verwaltungsverfahrensgesetzes ist sie in Geschäftsord67 Eduard Rudolf von Uderstädt, Die ostpreußische Kammerverwaltung, ihre Unterbehörden und Lokalorgane unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. bis zur Russenokkupation, dargestellt nach den Publikationen der Acta Borussica, den Akten des Berliner Geheimen Staatsarchivs und den Akten des Königlichen Archivs zu Königsberg, Teil 2: Unterbehörden, und Teil 3: Lokalbehörden, Königsberg 1911, S. XIV. 68 Hugo Rachel, Der Große Kurfürst und die ostpreußischen Stände 1640–1688. In: Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen 24, 1. Heft, Leipzig 1905, ND Bad Feilnbach 1990, S. 1–346. 69 Wilfried Schöntag, Archivische Strukturbereinigung in Baden-Württemberg. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 61 (1998) S. 147–156, hier S. 150.
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nungen staatlicher Behörden sogar vorgeschrieben und zählt mittlerweile zum internationalen Standard.70 Der Ursprung liegt in der frühmodernen Verwaltung. Der Zwang, mit Schriftlichkeit immer umfangreicher und komplexer werdende Aufgaben zu erfüllen, führte zu neuen Methoden der Schriftgutverwaltung. Die Einführung der Vorgangsbildung, des Aktenplans und der aktenmäßigen Ablage sowie die Entwicklung und Fortschreibung analoger Fachverfahren waren das Ergebnis eines Anpassungsund Rationalisierungsdruckes der Schriftgutverwaltung auf die Bedürfnisse exekutiver Verwaltungstätigkeit.
Verwaltungsverfahrensgesetz. In: https://www.gesetze-im-internet.de/vwvfg (aufgerufen am 16.2.2020). – Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien. In: https:// www.bmi.bund.de/DE/themen/moderne-verwaltung/verwaltungsmodernisierung/geschaeftsordnung-bundesministerien/geschaeftsordnung-bundesministerien-node.html (aufgerufen am 16.2.2020); Moderner Staat – Moderne Verwaltung. Richtlinie für das Bearbeiten und Verwalten von Schriftgut (Akten und Dokumenten) in Bundesministerien (RegR), hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Berlin 2001. – Joachim Kemper – Alexandra Lutz – Imgard Mummenthey – Christoph Popp – Steffen Schwalm – Claudia Zenker-Oertel, Schriftgutverwaltung nach DIN ISO 15489. Ein Leitfaden zur qualitätssicheren Aktenführung, hrsg. von Alexandra Lutz, Berlin u.a. 2012. 70
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Max Lehmann und das Archiv der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen Von Holger Berwinkel Max Lehmann ist bekannt als geistiger Vater des Regulativs von 1881, das im preußischen Geheimen Staatsarchiv das Provenienzprinzip verbindlich machte.1 Mit dem Wechsel in das akademische Lehramt scheint seine Archivarsbiographie danach recht bald geendet zu haben. Doch ein Vierteljahrhundert später fand sie eine kurze, wenig beachtete2 Fortset Text des Regulativs: Johanna Weiser, Geschichte der preußischen Archivverwaltung und ihrer Leiter von den Anfängen unter Staatskanzler von Hardenberg bis zur Auflösung 1945 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beihefte 7), Köln-WeimarWien 2000, S. 247–251. – Lehmanns Denkschrift: Jürgen Kloosterhuis, Preußens archivische Revolution. Quellen zur Einführung und Anwendung des Provenienzprinzips im Preußischen Geheimen Staatsarchiv und den Staatsarchiven in den preußischen Provinzen 1881–1907. In: Ders. (Hrsg.), Archivarbeit für Preußen (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Arbeitsberichte 2), Berlin 2000, S. 423–440, hier S. 423– 437. – Zur Einordnung des individuellen Beitrages Lehmanns siehe Klaus Neitmann, Ein unbekannter Entwurf Max Lehmanns von 1884 zur Einführung des Provenienzprinzips in den preußischen Staatsarchiven. In: Archivalische Zeitschrift 91 (2009) S. 59–108, insb. S. 100 f., in Auseinandersetzung mit der älteren Forschung; ebd. S. 102–108 Abdruck einer weiteren konzeptionellen Auseinandersetzung Lehmanns mit dem Problem. – Statt der oft zitierten Untersuchung von Ernst Posner, Max Lehmann and the Genesis of the „Principle of Provenance“. In: Indian Archives 4 (1950) S. 133–141, vgl. jetzt Raimo Pohjola, Max Lehmann ja provenientsipõhimõtte areng. In: Tuna 3/2016, S. 61–78, übersetzt mit https://translate.google.de (aufgerufen am 17.11.2020). 2 Lehmann selbst hielt die Episode für wichtig genug, um sie in einem autobiographischen Essay zu erwähnen, siehe Max Lehmann, [Beitrag zu] Göttinger Professoren. Lebensbilder von eigener Hand. In: Universitätsbund Göttingen, Mitteilungen 4 (1922) S. 27–44, hier S. 43: „Die als Verwaltungsbeamter gemachten Erfahrungen verwertete ich durch Katalogisierung der Seminar-Bibliothek und durch Aufrichtung eines leicht benutzbaren Gehäuses für die Fakultätsregistratur.“ – Dieser Essay wurde nochmals veröffentlicht in Sigfrid Steinberg (Hrsg.), Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1925, S. 207–232, hier S. 225. – Lehmanns Diktum wird aufgegriffen von Helga Grebing, Zwischen Kaiserreich und Diktatur. Göttinger Historiker und ihr Beitrag zur Interpretation von Geschichte und Gesellschaft (M. Lehmann, A. O. Meyer, W. Mommsen, S. A. Kaehler). In: Hartmut Boockmann – Hermann Wellenreuther (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe (Göttinger Universitätsschriften A 2), Göttingen 1987, S. 204–238, hier S. 205. – Zur erwähnten Katalogisierung der Bibliothek des Historischen Seminars der Universität Göttingen siehe Universitätsarchiv 1
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zung, die Lehmann nicht nur als Archivorganisator zeigt, sondern auch in der seltenen Position, mit Durchgriff auf die Aktenführung des Registraturbildners die Grundlagen für eine geordnete Überlieferungsbildung zu schaffen. Diese archivarische Coda im Leben des Historikers Max Lehmann war eine Etappe auf dem Weg zum heutigen Universitätsarchiv Göttingen. Sie wirft außerdem ein Licht auf den archivischen Niederschlag von Fakultäten als Typ akademischer Registraturbildner und gehört zur Wirkungsgeschichte der ersten Marburger Archivschule. Nach einigen Jahren als Gymnasiallehrer war Lehmann, ein Schüler Jaffés, Rankes und Sybels, 1875 im Alter von 30 Jahren in den Dienst des Geheimen Staatsarchivs getreten.3 Neben seinen Verdiensten um das Provenienzprinzip war er vor allem als Editor für das unter der Direktion Heinrich von Sybels aufgelegte ehrgeizige Publikationsprogramm der preußischen Staatsarchive tätig.4 Obwohl ihm als Protegé Sybels dort weitere Karrierechancen eröffnet waren, zog es Lehmann letztlich in die akademische Laufbahn. Nach mehreren Ansätzen konnte er 1888 einen Ruf für mittlere und neuere Geschichte an die Philipps-Universität in Marburg annehmen. Das sprichwörtliche Lahn-Athen eröffnete Lehmann nicht nur das gesuchte wissenschaftliche Wirkungsfeld, sondern bot sich ihm als Idyll dar, das verlassen zu haben er immer bedauerte.5 Nach einem fast traumatischen Zwischenspiel in Leipzig wurde er zum Wintersemester 1893/94 an die Georg-August-Universität in Göttingen berufen, wo er 1921 emeritiert wurde und 1929 starb.6
Göttingen (im Folgenden: UniA GÖ), Phil. Inst. 1, Lehmann und Kehr an Kurator, 1895 Mai 21. 3 Eckart Henning – Christel Wegeleben, Archivare beim Geheimen Staatsarchiv in der Berliner Kloster- und Neuen Friedrichstraße 1874–1924. In: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 29 (1978) S. 25–61, hier S. 51. 4 Weiser (wie Anm. 1) S. 56–58. 5 Franz Gundlach, Catalogus professorum academiae Marburgensis, Bd. 1: Von 1527 bis 1910, Marburg 1927, Nr. 622. – Lehmann (wie Anm. 2) S. 40. – Waltraut Reichel, Studien zur Wandlung von Max Lehmanns preußisch-deutschem Geschichtsbild (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 34), Göttingen-Berlin-Frankfurt/M. 1963, S. 75 mit Anm. 14–15. In dieser Studie entfallen auf eine Druckseite zu Lehmanns Biographie zwischen 1888 und seinem Todesjahr elf Seiten Anmerkungen mit ausführlichen Quellenauszügen, die in Ermangelung einer Lehmann-Biographie ein wertvoller Materiallieferant sind. 6 Wilhelm Ebel, Catalogus professorum Gottingensium 1734–1962, Göttingen 1962, Ph 1, 172. – Reichel (wie Anm. 5) S. 75 f.
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Die wissenschaftlichen Verdienste und akademischen Fehden dieses äußerst streitbaren „Fanatiker[s] der Gerechtigkeit“7, der aus Protest gegen die Ernennung eines Kardinals zum Ehrenmitglied aus der Göttinger Akademie austrat, sich als ebenso scharfer wie sachkundiger Kritiker der geschichtsteleologischen Meistererzählung einer kleindeutschen Mission Preußens mit der borussischen Historikerzunft einschließlich Sybels überwarf und als einer von wenigen Geisteswissenschaftlern in Göttingen konsequent für das Frauenstudium kämpfte, können hier nicht im Detail nachvollzogen werden.8 Es genügt die Feststellung, dass Lehmann unter seinen Kollegen einigermaßen isoliert war. Nach eigener Aussage hielt er sich bewusst auch von den Fakultätsgeschäften fern und nahm im akademischen Jahre 1905/06 das Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen nur an, um die Spaltung der Fakultät zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern zu verhindern.9 Dazu kam es noch nicht. Lehmanns Dekanatsjahr stand ausweislich der Fakultätsprotokolle10 vor allem im Zeichen einer Revision der Promotionsbestimmungen. Zum Schluss setzte der Dekan dann das Thema auf die Agenda, das hier interessiert: die Reform von Archiv und Registratur der Fakultät. Der Philosophischen Fakultät waren aus der Gründungszeit der Georgia Augusta rudimentäre Bestimmungen über die Schriftgutverwaltung mitgegeben: Rechtsquellen, Rechnungen, Promotionsvorgänge und andere erhebliche „acta“ sollten in Buchform vom jeweiligen Dekan sicher verwahrt werden.11 Noch 1903 ging die Geschäftsordnung der Fakultät darüber nicht wesentlich hinaus. Zwar traf sie detaillierte Bestimmungen So sein Schüler Götz von Selle, Die Georg-August-Universität zu Göttingen 1737– 1937, Göttingen 1937, S. 331. 8 Rüdiger vom Bruch, Lehmann, Max. In: Neue Deutsche Biographie Bd. 14, Berlin 1985, S. 88–90, hier S. 89 f. – Grebing (wie Anm. 2) S. 214 f., 232–234. – Zur historiographischen Einordnung siehe Reichel (wie Anm. 5) passim. – Speziell zu seinem Eintreten für akademische Gleichberechtigung: Ilse Costas, Der Beginn des Frauenstudiums an der Universität Göttingen. Die Wissenschaft, das „Wesen der Frau“ und erste Schritte zur Öffnung männerdominierter Karrieren. In: Kornelia Duwe – Carola Gottschalk – Marianne Koerner (Hrsg.), Göttingen ohne Gänseliesel. Texte und Bilder zur Stadtgeschichte, Gudensberg 1988, S. 185–193, hier S. 188–191. 9 Lehmann (wie Anm. 2) S. 43. 10 UniA GÖ, Phil. Fak. 482, S. 6–8. 11 Kap. 1 § 6 Statuta Facultatis Philosophicae, Original: UniA GÖ, Urk. 12, gedruckt bei Wilhelm Ebel (Hrsg.), Die Privilegien und ältesten Statuten der Georg-August-Universität zu Göttingen, Göttingen 1961, Nr. VIII. Ebel übersetzt den Auffangbegriff „acta“ zu eng mit „Protokolle“. Die tatsächliche Überlieferung umfasst neben den Sitzungsprotokollen der Fakultät insbesondere auch Umläufe und externen Schriftverkehr. 7
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zum Geschäftsgang, die Aktenführung blieb jedoch der Diskontinuität des Dekanatswechsels überlassen: Zum 1. Juli jeden Jahres hatte der scheidende Dekan seinem Nachfolger zum Amtswechsel die laufenden Vorgänge zu übergeben. Danach blieben ihm zwei Wochen, um die abgeschlossenen Akten des Jahres durch Register zu erschließen und ebenfalls zu übergeben.12 So produzierte jeder Dekan „seinen“ Band. Dies entsprach zwar heutigen Vorstellungen, die Schriftgutverwaltung als Führungsaufgabe zu formulieren, tatsächlich machte es die Vollständigkeit und Benutzbarkeit der einzelnen Bände von den individuellen Neigungen des Dekans zur Aktenführung abhängig. Von der Aufnahme des Lehrbetriebs 1734 bis zu Lehmanns Dekanat umfasst die chronologische Serie dieser, noch heute so genannten, Dekanatsbände 220 Einheiten – keine Amtsbücher zwar im Sinne der Statuten, aber buchförmig gebundene Akten. Die Zahl der Bände übertrifft die der Jahre, weil sich die Serie 1880 durch die Ausgliederung der Promotionsvorgänge in eigene Bände spaltete. Diese Vorgänge überwiegen zahlenmäßig bei Weitem. Die Verleihung akademischer Grade war und ist eine Kernkompetenz der Fakultäten wissenschaftlicher Hochschulen. Ähnliche Mengenverhältnisse der personenbezogenen Einzelfallakten aus Promotionsverfahren13 zu anderen Betreffen zeigen in Abstufungen auch die Bestände der übrigen Fakultäten, wobei das krasseste Übergewicht erwartungsgemäß in der Medizin besteht. Die klassische deutsche Fakultät ist eine den zentralen Organen der Universität, wie Rektor und Senat, mehr neben- als untergeordnete Stelle, eine fachspezifische Untergliederung der akademischen Korporation, die für ihre Fächer elementare Aufgaben der Wissenschaftsverwaltung wahrnimmt. Neben Promotionen und den seinerzeit seltenen Fakultätsexamina umfasste ihre Zuständigkeit im frühen 20. Jahrhundert vor allem noch die Selbstergänzung der Korporation im Wege der Habilitation und Berufung, ferner die Organisation des Lehrbetriebs.14 Es ist leicht zu erkennen, dass es vor der bürokratisierten Massenuniversität wenig Aufwand erforderte, diese Aufgaben zu erfüllen, und dabei wenig schriftlicher Niederschlag §§ 31–32 Allgemeine Geschäftsordnung. In: Handbuch für die Philosophische Fakultät der Universität Göttingen, Göttingen 1903, S. 14–16. 13 Zur Quellenkunde siehe Holger Berwinkel, Promotionsakten der Georg-AugustUniversität Göttingen. In: Jens Heckl (Hrsg.), Unbekannte Quellen. Massenakten des 20. Jahrhunderts, Bd. 4 (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen 75), Duisburg 2019, S. 153–170. 14 Arnold Köttgen, Deutsches Universitätsrecht, Tübingen 1933, S. 175–178. 12
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entstand. Abseits der Promotionen wird die Aktenlage bestimmt von Formen kollegialer Entscheidungsfindung, nämlich Sitzungsprotokollen und Umläufen, sowie Schriftwechsel mit vorgesetzten Instanzen. In der Philosophischen Fakultät war der Anteil dieses allgemeinen Schriftgutes durch die Vielzahl der in ihr vertretenen Fächer noch deutlich höher als in den anderen drei Fakultäten (Theologie, Jura, Medizin). Die Zahl der Promotionen wuchs hier jedoch gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor allem in der Mathematik und den Naturwissenschaften, für die der preußische Staat Göttingen als Schwerpunkt-Universität ausbaute, überproportional. Im Unterschied zu den anderen Fakultäten wurden die philosophischen Promotionen nicht lose als Einzelvorgänge abgelegt, sondern mitsamt den Doppelstücken der großformatigen Promotionsurkunden, die dazu mehrfach gefaltet werden mussten, jahrgangsweise zu Büchern gebunden; die Umständlichkeit der Suche nach einer bestimmten Promotion liegt auf der Hand. Mithilfe der vom Dekan anzulegenden Register konnte man sich zwar innerhalb der Bände rasch orientieren, doch die gesamte Serie der Dekanatsbände wurde bis 1905 nur durch eine summarische Liste der Jahrgänge erschlossen, die 1743 als Übergabeprotokoll für den Dekanatswechsel begonnen worden war.15 Im November 1905 hatte Max Lehmann als Dekan der Philosophischen Fakultät zwei Anfragen zu Promotionen ungewissen Jahrganges zu beantworten.16 Dass die Aktenführung den angewachsenen Fakultätsgeschäften nicht mehr gerecht wurde, wird ihm nicht erst aus diesem Anlass aufgefallen sein, könnte ihn im Plan einer Reform aber bestärkt haben. Der genaue Weg dorthin wird aus den Akten der Fakultät nicht klar. Das für Universitätsverwaltungen kennzeichnende Prinzip des organisatorischen Minimums und der Vorrang mündlicher Beratungen unter Professoren statt schriftlicher Prozeduren erschweren es auch in diesem Fall, die Entscheidungsfindung in einer Fakultät zu rekonstruieren. Jedenfalls beschloss die Fakultät in ihrer Sitzung vom 10. Mai 1906 einstimmig, die Akten künftig „nach Materien“ zu führen und den Dekan mit der Ausarbeitung einer Registratur- und Archivordnung zu beauftragen. In der nächsten Sitzung, am 31. Mai, wurde diese Ordnung auch bereits angenommen, zugleich wurden Lehmann und die Professoren Brandi und Schröder aber beauftragt, „eine Verschärfung der Bestimmungen über die Einsicht Fremder in die
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Fakultätsakten vorzunehmen“.17 Denn am Vortag war wieder eine Anfrage eingegangen, mit der diesmal der Physiker Ernst Hagen, Abteilungsleiter an der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin,18 für eine geplante Biographie Robert Bunsens nicht nur umfassende Recherchen zu dessen Göttinger Zeit, sondern auch die Übersendung der Fundstücke an seine Behörde erbat. An diesem Punkt wird die Aktenlage wieder schwammig: Ein Antwortentwurf Lehmanns vom 2. Juni hätte die Ausleihe nur unter dem Vorbehalt genehmigt, ein Archiv oder eine Bibliothek in Berlin müsse die Akten treuhänderisch verwahren – „nach den diesseitigen Bestimmungen“, also der gerade verabschiedeten Ordnung. Ausgefertigt wurde offenbar aber etwas anderes, denn im Gegenzug verpflichtete sich die Reichsanstalt in einem Revers, die Akten in eigenen Räumen Punkt für Punkt so aufzubewahren, wie es der spätere endgültige Wortlaut der Ordnung vorsah.19 An Brandi und Schröder richtete Lehmann erst Mitte des Monats in einem Umlauf den Vorschlag, die Entscheidung über den Aktenzugang für Externe vom Dekan auf den Ausschuss der Fakultät zu verlagern. Da neigte sich sein Dekanat schon dem Ende zu. Die Stellungnahme der beiden Professoren ließ bis Dezember auf sich warten und wurde vom neuen Dekan, dem Agrarwissenschaftler Konrad von Seelhorst, durch eine nicht weiter dokumentierte mündliche Rücksprache erledigt. Der Text der Registratur- und Archivordnung ist in einer einzigen Überlieferungsform erhalten, die unter dem Datum des 31. Mai 1906 steht, aber einen späteren Stand wiedergibt. Berücksichtigt sind Lehmanns Vorschlag zur Benutzung durch Dritte und die von der Reichsanstalt akzeptierten Ausleihbedingungen, nicht aber die späteren Vorschläge Brandis und Schröders.20 Der Text ist im Anhang abgedruckt. Mit dieser Ordnung wurde die Serie der Dekanatsbände geschlossen und damit ein Archiv der Fakultät im engeren Sinne erst begründet. Zur archivischen Bearbeitung dieser Bände wird freilich nichts gesagt. Es wurde auch nichts dazu unternommen. Ordnungsarbeiten erübrigten sich wohl angesichts der Serienstruktur, und die Benutzbarkeit der Einzelbände war durch die vorhandenen Register hinlänglich möglich. Eine bandübergreiUniA GÖ, Phil. Fak. 481, S. 12 f. Richard Vieweg, Hagen, Ernst. In: Neue Deutsche Biographie Bd. 7, Berlin 1966, S. 471. 19 UniA GÖ, Phil. Fak. 476, Bl. 12. 20 UniA GÖ, Phil. Fak. 475, Bl. 3–5. 17 18
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fende Erschließung dürfte die Möglichkeiten der Fakultät überstiegen haben. Genuin archivisch war an dieser Ordnung das Benutzungsrecht. Seine Ausführlichkeit mag erstaunen, trug die ganze Konstruktion doch zunächst den Charakter eines internen Verwaltungsarchivs. Doch waren hier Historiker am Werk, denen die Bedeutung von Archiven für die Forschung klar war, und zwar in einer Zeit, in der die Freiheit des Archivzuganges von der Geschichtswissenschaft immer deutlicher als öffentliche Forderung gegenüber der restriktiven Politik der Staatsarchive erhoben wurde. Im preußischen Geheimen Staatsarchiv war die Benutzung gerade einmal bis 1700 unter Auflagen frei.21 Lehmann, der diese Rechtsgrundlagen als preußischer Archivar selbst angewandt hatte, und seine Mitarbeiter formulierten für „ihr“ Göttinger Archiv ein überraschend modernes Gegenmodell mit einer allgemeinen Schutzfrist von 40 Jahren und einer besonderen Frist für personenbezogenes Archivgut, die sich nach der Lebenszeit bemaß und auf postmortalen Persönlichkeitsschutz verzichtete. In den übrigen Teilen zielte die Ordnung auf die kurrente Registratur. Obwohl zentral, wird die Umstellung auf Sachbetreffsakten nicht weiter ausgeführt. Dies blieb einem Aktenrepertorium vorbehalten. Stattdessen steht die Bindung des Dekans an Praktiken einer geordneten Aktenführung im Mittelpunkt, um über den jährlichen Wechsel hinaus zu einem einheitlichen Niveau zu kommen. Es sollte nicht mehr nur einmal jährlich veraktet werden, sondern in jeder vorlesungsfreien Zeit. Bemerkenswert ist der § 4, der Beleg- und anderes Massenschriftgut zu Wegelegesachen erklärt. Für das so schon reduzierte Schriftgut sollte der Dekan Bewertungsentscheidungen anhand des Primärwertes für die Fakultätsgeschäfte und möglicher Sekundärwerte für die historische Forschung treffen – nur waren diese Entscheidungen mit Rücksicht auf den Dekanatswechsel vom Zeitpunkt einer künftigen Archivierung bereits auf die bloße Veraktung vorgezogen. Alles in allem war diese Ordnung eine intelligente Anpassung von Grunderfordernissen nachvollziehbarer Aktenführung an die Möglichkeiten einer Institution ohne eigene Verwaltungsstruktur. Praktisch wurde die neue Aktenführung „nach Materien“ ausweislich des Repertoriums,22 das zugleich Aktenplan und Aktenbestandsverzeichnis war, als einstufige Betreffsregistratur aus alphabetisch angeordneten Schlag21 Weiser (wie Anm. 1) S. 81 f., 252. – Vgl. Peter Wiegand, Etappen, Motive und Rechtsgrundlagen der Nutzbarmachung staatlicher Archive. Das Beispiel des sächsischen Hauptstaatsarchivs 1834–1945. In: Archivalische Zeitschrift 91 (2009) S. 9–57, hier S. 33. 22 UniA GÖ, Find. 10.
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wörtern realisiert, unter denen die tatsächlich angelegten Einzelfallakten durchnummeriert wurden.23 Zu Personalien der Lehrenden wurden Einzelfallakten gebildet, die Promotionsakten in General- und Spezialakten unterteilt, wobei letztere jeweils mehrere Jahrgänge von Einzelfällen nach dem Namensalphabet zusammenfassten. Vielleicht die wichtigste Maßnahme war es jedoch, den Dekan zwar nicht von der Verantwortung für die Akten zu entlasten, die Praxis aber einem Registrator anzuvertrauen, der die Akten in Fadenheftung führte und die Tekturen beschriftete. Dafür wurden vorgedruckte Deckel nach dem üblichen Muster preußischer Behörden beschafft. Da die Fakultät keinen eigenen Stab besaß, wurde ein professioneller Kanzlist aus dem Universitätssekretariat gegen eine zusätzliche Vergütung dafür geworben.24 Nach eigener Aussage haben Lehmann verwaltungspraktische Gründe zu dieser Reform bewegt.25 Es ist aber kaum vorstellbar, dass er an dieses Problem nicht als erfahrener Archivar herangegangen sein sollte. In diesem Kontext wird interessant, dass er sich dabei der bereits genannten Fakultätskollegen Karl Brandi (1868–1946) und Edward Schröder (1858– 1942) bediente. Dafür gab es einen formalen Grund: Brandi gehörte bis zum 1. Juli 1906 dem Ausschuss der Fakultät an, Schröder folgte ihm nach.26 Dem Dekan zu seiner Unterstützung in der Verwaltung beigegeben, bereitete der Ausschuss insbesondere die Fakultätsbeschlüsse vor.27 Es ergab also Sinn, ein scheidendes und ein kommendes Mitglied in die Registraturreform einzubeziehen. Aber der Zusammenhang geht tiefer: Max Lehmann hatte Marburg 1893 verlassen, in dem Jahr, in dem die Pläne seines damaligen Freundes Paul Kehr zur Gründung eines Hilfswissenschaftlichen Seminars an der Philipps-Universität, das in erster Linie der Ausbildung der Anwär23 Zur Einordnung des Registraturtyps vgl. Gerhart Enders, Archivverwaltungslehre, Nachdruck der 3., durchgesehenen Auflage, hrsg. v. Eckart Henning – Gerald Wiemers, Leipzig 2004, S. 48 f. 24 Vertrag in UniA GÖ, Phil. Fak. 475, Bl. 8. Der beauftragte Sekretär Adalbert Suter lebte in drückenden finanziellen Verhältnissen und war von solchen Nebeneinkünften abhängig (UniA GÖ, Kur. 3762, Bl. 117, 123, 169). – Die Sekretariatsregistratur wurde bereits in Fadenheftung geführt, war aber altertümlich nach physischen Lokaten geführt und konnte daher kein Vorbild für die Lehmannsche Reform sein. 25 Siehe oben, Anm. 2. 26 Liste der Ausschussmitglieder für die jeweiligen Dekanatsjahre: UniA GÖ, Phil. Fak. 479. 27 § 20 Normativ, betreffend die Zuständigkeiten und Einrichtungen der philosophischen Fakultät der Universität Göttingen. In: Handbuch (wie Anm. 12) S. 7–13.
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ter für den preußischen Archivdienst dienen sollte, Gestalt annahmen.28 Zu diesem Zeitpunkt lehrte in Marburg auch Edward Schröder bereits als Ordinarius für Deutsche Philologie. Er gehörte zu dem Kreis von Professoren, die von Anfang an in die Verhandlungen Kehrs mit dem Ministerium einbezogen waren, und unterrichtete später in den Archivschulkursen Mittelhoch- und Mittelniederdeutsch.29 Als Altgermanist arbeitete Schröder nicht nur in hohem Maße historisch, er engagierte sich nachdrücklich auch in der Geschichtskultur. Über den Marburger Zweigverein des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde stand er ebenso wie über den Unterricht der Archivschüler in Beziehung zum Direktor des Staatsarchivs Marburg, Gustav Könnecke. Daraus entstand eine persönliche Freundschaft, die auch Schröders Berufung nach Göttingen im Jahre 1902 überdauerte.30 Hier übernahm er 1906 den Vorsitz des Geschichtsvereins, den er rasch auf eine breitere Grundlage als den bisherigen Vereinszweck der Förderung des Städtischen Museums stellte. Dazu gehörte auch die Verbindung zum Archivwesen.31 Ebenfalls 1906, am 30. März, stellte der Göttinger Stadtarchivar Wagner in einem Vortrag vor einem Verein die erste Bestandsübersicht seines Hauses vor und wies auf den besonderen Wert der Göttinger Amtsbuchserien hin.32 Im selben Jahr wie Schröder nahm auch Karl Brandi einen Ruf von Marburg nach Göttingen an. Er hatte sich dort bereits bei Kehr habilitiert und 1897, nach dem Zwischenspiel Michael Tangls, die Leitung des Marburger
Zum Verhältnis zwischen Lehmann und Kehr in Marburg, das in ihrer Göttinger Zeit erkalten sollte, siehe Reichel (wie Anm. 5) S. 75 mit Anm. 18, und Michèle Schubert, Paul Kehr und die Gründung des Marburger Seminars für Historische Hilfswissenschaften im Jahre 1894. Der Weg zur preußischen Archivschule Marburg. In: Archivalische Zeitschrift 81 (1998) S. 1–59, hier S. 29–34. 29 Schubert (wie Anm. 28) S. 40, 53. – Wolfgang Blöss, Anfänge archivarischer Berufsausbildung in Deutschland. Die „Archivschule“ in Marburg 1894. In: Archivmitteilungen 9 (1959) S. 52–59, hier S. 54, 58. 30 Gerhard Menk, Gustav Könnecke (1845–1920). Ein Leben für das Archivwesen und die Kulturgeschichte (Schriften des Hessischen Staatsarchivs Marburg 13), Marburg 2004, S. 45 f. – Die spärliche erhaltene Korrespondenz mit Könnecke in Schröders Nachlass in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (im Folgenden: SUB GÖ), Cod. ms. E. Schröder 241 und 522, berührt allerdings keine archivischen Themen. 31 Waltraud Hammermeister, 100 Jahre Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung 1892–1992, Göttingen 1992, S. 13. 32 Ferdinand Wagner, Aus dem Stadtarchiv zu Göttingen. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen [72] (1907) S. 1–38. – Vgl. Walter Nissen, Das Göttinger Stadtarchiv. Seine Geschichte und seine Bestände, Göttingen 1969, S. 35. 28
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Hilfswissenschaftlichen Seminars und der Archivschule übernommen.33 Beider gleichzeitigen Weggang wertete Könnecke als schweren Verlust für die Marburger Archivschule, die zwei Jahre später auch aufgehoben wurde.34 In Göttingen blieben beide Gelehrte miteinander verbunden: Sie wohnten in unmittelbarer Nachbarschaft,35 und Schröder gehörte zu den ersten Mitgliedern der von Brandi initiierten Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen.36 Brandi wandte sich in Göttingen zwar der Universalgeschichte zu, blieb aber den Hilfswissenschaften durch die Gründung des Archivs für Urkundenforschung als Fachorgan und das Mitdirektorat des Diplomatischen Apparates, der bekannten Göttinger Lehrsammlung von Urkunden und anderen paläographischen Zeugnissen verbunden.37 Just 1906 beklagte sich Brandi beim Universitätskurator über den Zeitaufwand für Recherchen, Ordnung und Verzeichnung in dieser Sammlung; ungewollt stand er der Archivpraxis also nahe.38 Im Unterschied zu Lehmann waren Brandi und Schröder keine ausgebildeten Archivare. Ihre fachspezifische Lehre an der Marburger Archivschule war nicht mit dem archivwissenschaftlichen Curriculum verbunden, das Könnecke allein vertrat und das auch nicht Gegenstand des Examens vor der Prüfungskommission war.39 Der inhaltliche Austausch mit dem sehr darauf bedachten Könnecke kann jedoch nicht ausgeblieben sein. Jedenfalls standen beide seit ihrer Marburger Zeit in fortgesetzter Berührung mit archivfachlichen Themen. So ballte sich 1906 in der Personenkon stellation Lehmann – Brandi – Schröder in seltenem Maße archivarische Wolfgang Petke, Karl Brandi und die Geschichtswissenschaft. In: Boockmann – Wellenreuther (wie Anm. 2) S. 287–320, hier S. 294. 34 Menk (wie Anm. 30) S. 108. 35 Schröder wohnte im Grünen Weg 2, Brandi im Grünen Weg 6 (Amtliches Verzeichnis des Personals und der Studierenden der Königl. Georg-August-Universität zu Göttingen [Göttingen 1906], S. 9). Es handelt sich um die heutige Wagnerstraße. 36 Petke (wie Anm. 33) S. 297. 37 Ebd. S. 298–300. – Ders., Aus der Geschichte des Diplomatischen Apparats der Universität Göttingen. In: Göttinger Jahrbuch 50 (2002) S. 123–148, hier S. 141, 145, 147. 38 UniA GÖ, Kur. 10031, Brandi an Kurator, 1906 März 24. 39 Menk (wie Anm. 30) S. 44–45. – Blöss (wie Anm. 29) S. 59. – Weder aus den Nachlässen, SUB GÖ, Cod. ms. K. Brandi und Cod. ms. E. Schröder, noch aus den Geschäftsakten des Staatsarchivs Marburg ergeben sich Hinweise zum Archivbezug der fachspezifischen Lehre Brandis und Schröders für die Anwärter. Dasselbe gilt für die von Verlusten betroffene Überlieferung im Universitätsarchiv Marburg. – Für außergewöhnlich zuvorkommende Auskünfte im „Lockdown“ des Jahres 2020 ist der Verf. in diesem Zusammenhang Dr. Katharina Schaal, Universitätsarchiv Marburg, und Dr. Karl Murk, Hessisches Landesarchiv, Abteilung Hessisches Staatsarchiv Marburg, zu größtem Dank verpflichtet. 33
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Kompetenz in der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität und verband sich in Schlüsselpositionen mit der förmlichen Kompetenz40, dauerhafte Grundlagen für eine praxistaugliche und historisch nutzbare Aktenführung zu legen. Tatsächlich bewährte sich Lehmanns Rubrikenschema ausweislich des Repertoriums und der heute im Universitätsarchiv Göttingen vorliegenden fadengehefteten Akten. Es hielt auch dem sprunghaften Wachstum der Fakultät stand, die mit dem Dekanatsjahr 1910/11 in zwei weitgehend unabhängige Abteilungen, eine historisch-philologische und eine mathematisch-naturwissenschaftliche, geteilt wurde.41 Die Abteilungsvorsteher konnten ihre laufenden Vorgänge selbst führen und Generalakten aus der Registratur als Handakten benutzen.42 So wurde die Fakultätsregistratur von 1906 zu einer abteilungsübergreifenden Altregistratur und rückte als Überlieferungsschicht ein Stück an die bereits geschlossenen Dekanatsbände heran. Die physische Ordnung der Akten hielt Schritt: Brandi sorgte 1913 als Dekan dafür, dass die Vergütung des immer noch damit beauftragten Kanzleisekretärs entsprechend dem höheren Arbeitsaufkommen erhöht wurde.43 Erst nach dem Ersten Weltkrieg zeigten sich Risse im System. Das Repertorium wurde nur bis 1922 fortgeführt – dem Jahr, in dem die mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung zur unabhängigen Fakultät erhoben wurde. Die drastisch verkleinerte Philosophische Fakultät legte nun vermehrt Einzelsachakten nach dem Tagesbedarf an und verwässerte das Rubrikenschema, während Mathematiker und Naturwissenschaftler weiter Sachbetreffsakten mit aussagekräftigen Titeln bildeten, diese aber konsequent der einzigen Rubrik „Generalia et Varia“ zuordneten. In den folgenden Jahren verdrängte der Schnellhefter die Fadenheftung. Diesen Qualitätsverlusten zum Trotz sind diese beiden Archivbestände heute die Nominell wäre Paul Kehr als Initiator der Archivschule der vierte im Bunde gewesen, doch war er seit 1903 zur Leitung des Preußischen Historischen Institut in Rom von seiner Göttinger Professur beurlaubt, siehe Josef Fleckenstein, Paul Kehr. Lehrer, Forscher und Wissenschaftsorganisator in Göttingen. In: Boockmann – Wellenreuther (wie Anm. 2) S. 239–260, hier S. 251. An Lehmanns Registraturreform konnte er keinen Anteil nehmen. 41 Chronik der Georg-August-Universität Göttingen für das Jahr 1911, Göttingen 1912, S. 4 f. 42 §§ 18–19 Allgemeine Geschäftsordnung der Fakultät. In: Handbuch für die Philosophische Fakultät der Universität Göttingen und ihre beiden Abteilungen, Göttingen 1912, S. 16–21. 43 UniA GÖ, Phil. Fak. 475, Bl. 9–10. 40
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vollständigsten, inhaltsreichsten und am besten strukturierten Fakultätsüberlieferungen im Universitätsarchiv Göttingen. Sie sind auch diejenigen, deren archivische Gestalt am ehesten denen einer normalen behördlichen Überlieferung mit den gewohnten Strukturmerkmalen und Registraturschnitten44 entspricht. Es ist das bleibende Verdienst das Archivars Max Lehmann, mit seiner Registraturreform hierfür die Basis geschaffen zu haben. Als Archivorganisator an der Georgia Augusta folgte ihm Karl Brandi, der 1923 im Vorgriff auf das 200. Jubiläum der Universitätsgründung die Einrichtung eines Zentralarchivs initiierte. Auch die 1906 geschlossenen Dekanatsbände der Philosophischen Fakultät wurden in den Grundstock des Universitätsarchivs eingebracht.45 Mit dem ersten Universitätsarchivar Götz von Selle (1893–1955) war es schließlich ein Lehmann-Schüler46, der zu den Dekanatsbänden zwischen 1926 und 1929 ein bandübergreifendes Register anlegte47 und damit den Schlussstein zur Sorge seines Lehrers um die Überlieferung der Philosophischen Fakultät setzte.
Nach 1906 auch 1945 (Bildung von Korrespondenzserien) und nochmals 1970 (Aktenplan). 45 Ulrich Hunger, Das Universitätsarchiv. Gedächtnis der Georgia Augusta. In: Georgia Augusta 49 (1988) S. 25–39, hier S. 30 f. – Zur Aufbauphase des Archivs siehe auch Götz von Selle, Das Archiv der Universität Göttingen. In: Archivalische Zeitschrift 37 (1928) S. 269–273, hier S. 273. 46 Akten des Promotionsverfahrens in: UniA GÖ, Phil. Prom. S 8, Nr. 6. – Weiteres Licht auf die Frühgeschichte des Universitätsarchivs, die teils in den informellen Bahnen des von Brandi geleiteten Universitätsbundes verlief, hätten von Selles Personalakten aus dieser Zeit werfen können, die jedoch 1945 in Königsberg, wohin er 1939 versetzt worden war, untergegangen sind. – Zur Rolle Brandis, der mithilfe des von ihm geleiteten Universitätsbundes auch die Finanzierung der Arbeiten sicherstellte, siehe UniA GÖ, Bund 66 und Wolfgang Sellert, Die Geschichte des Göttinger Universitätsbundes. Zum 100-jährigen Jubiläum, Göttingen 2018, S. 66. 47 Götz von Selle, Kurzgefasstes Repertorium des Universitäts-Archivs zu Göttingen. In: Max Arnim, Corpus Academicum Gottingense (1737–1928), Göttingen 1930, S. 329– 346, hier S. 340. 44
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Edition Registratur- und Archivordnung der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen vom 31. Mai 1906. UniA GÖ, Phil. Fak. 475, Bl. 3–5. – Halbbrüchige Aktenreinschrift von Kanzleihand. Marginalien von der Hand Lehmanns wurden in eckigen Klammern in den Text integriert. § 1 Registratur und Archiv stehen unter der Aufsicht und Verwaltung des Dekans. Er ist für ihre sichere Aufbewahrung verantwortlich. § 2 Die Akten werden von nun an nach Materien aufgestellt. § 3 Die Akten-Rubra sind in der Beilage [siehe das besonders gebundene Repertorium über Archiv und Registratur]48 enthalten. Vermehrung bleibt vorbehalten. § 4 Es werden nur die Schriftstücke aufbewahrt, die für den Geschäftsgang erforderlich oder für die Geschichte der Korporation von Interesse sind. Die Kassen-Belege (Rechnungen pp.) werden zwei Jahre (ungeheftet) aufbewahrt, sodann vernichtet. Schriftstücke betreffend Fleiß- und Militärzeugnisse werden spätestens nach drei Monaten vernichtet, sofern sie nicht von einer vorgesetzten Behörde ausgehen. Ebenso in der Regel Entschuldigungsschreiben, Ankündigung von Reisen, Korrespondenz mit Doktoranden über den Prüfungstermin usw. Über die Frage, ob ein Schriftstück zu kassieren ist, entscheidet jedenfalls der Dekan, nicht der Registrator. § 5 Die übrigen Schriftstücke werden beim Beginn der nächsten Ferien (Anfang August, Mitte Dezember, Anfang März) und vor dem Dekanatswechsel dem Registrator der Fakultät übergeben, der sie nach Anweisung der Beilage [siehe das „Repertorium“] ordnet und heftet, auch die Rubra auf die Akten-Deckel schreibt. Er erhält dafür bis auf Weiteres eine Remuneration von fünfzig (50) Mark [der Vertrag in dem Fascikel Archiv 2]49. UniA GÖ, Find. 10. UniA GÖ, Phil. Fak. 475, Bl. 8. Vgl. oben Anm. 24. Da es sich um denselben Aktenband handelt, wurde die Ordnung diesem erst später hinzugefügt. 48 49
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§ 6 Die Herren Dekane werden gebeten, auf das erste Blatt jedes AktenFascikels die etwa von ihnen in den älteren (chronologisch geordneten) Aktenbänden gefundenen Vorakten zu notiren. § 7 Jedes Mitglied der Fakultät hat das Recht, sämtliche Akten (der Registratur wie des Archivs) einzusehen. § 8 Nichtmitgliedern der Fakultät erteilt die Erlaubnis zur Benutzung der Registratur und des Archivs der Fakultäts-Ausschuß. Im Allgemeinen soll sie erst nach 40 Jahren gestattet werden. Akten, die Lebende betreffen oder von Lebenden herrühren, dürfen ohne deren Zustimmung keinesfalls von Nichtmitgliedern der Fakultät eingesehen oder gar excerpirt werden. § 9 Es ist gestattet, die verlangten Papiere aus den Aktenbänden herauszunehmen; doch müssen sie nach geschehener Benutzung an Ort und Stelle zurückgebracht werden. § 10 Versendung ist nur zulässig, wenn die Akten foliiert und geheftet (oder gebunden) sind. Sie darf nur an eine öffentliche Behörde und erst dann erfolgen, wenn diese sich verpflichtet hat, die Akten in Empfang zu nehmen, feuersicher aufzubewahren, nur dem bezeichneten Benutzer vorzulegen und für porto- und bestellgeldfreie Rücksendung zu sorgen. In Göttingen geschieht die Benutzung in dem Lesezimmer der Universitäts-Bibliothek. § 11 Alle ausgegebenen Akten werden in ein besonderes Verzeichnis eingetragen und nach spätestens drei Monaten zurückgefordert.
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Pergamenturkunden des Stadtarchivs von Reval/Tallinn. Erinnerungen an eine unvollendete archivarische Arbeit und einige biographische Bemerkungen1 Von Ludwig Biewer Das Stadtarchiv von Reval oder Tallinn2 gehört mit seinen Beständen zu den wertvollsten Archiven des Ostseeraumes. Im Schatten des hohen und mächtigen Turmes der St. Olaikirche in den beachtenswerten und schönen Häusern Tolli (Zollstraße) 4, 6 und 8 in Tallinn – Gebäude aus der zweiten Hälfte des 14. (Nr. 6), aus der ersten Hälfte des 15. (Nr. 4) und dem Ende des 18. Jahrhunderts (Nr. 8, gebaut als Zoll- und Packhaus) – sind nicht Auf der Grundlage dieser Ausarbeitung wurde 2020 in dem im Zweijahresrhythmus erscheinenden „Jahrbuch“ des Stadtarchivs Tallinn eine estnische Fassung bzw. Übersetzung veröffentlicht: Ludwig Biewer, Tallinna Linnarhiivi pärgamentürikud. Meenutusi lõpetamata jäänud arviivitööst ja mõned biograafilised märkused [Pergamenturkunden des Stadtarchivs von Reval/Tallinn. Erinnerungen an eine unvollendete archivarische Arbeit und einige biographische Bemerkungen]. In: Vana Tallinn 30 bzw. 34 (2020) S. 241–256. Dafür danke ich den beteiligten Kolleginnen und Kollegen in Tallinn herzlich. Die Ausführungen über die Geschichte des dortigen Stadtarchivs blieben mit meiner Zustimmung in der estnischen Veröffentlichung unberücksichtigt, da sie bei der fachkundigen estnischen Leserschaft gut bekannt sind. 2 Da mir der Stadtname Reval von Kind auf geläufiger als der Name Tallinn ist – beide sind estnischen Ursprungs – benutze ich die Bezeichnung Reval, womit auf keinen Fall eine Zurücksetzung der Form Tallinn gemeint ist. – Grundlegend zur Geschichte der Stadt nach wie vor Eugen von Nottbeck – Wilhelm Neumann, Geschichte und Kunstdenkmäler der Stadt Reval, 2 Bde., Reval 1904, Neudruck in einem Band Hannover 1973; Constantin Mettig, Baltische Städte. Skizzen aus der Geschichte Liv-, Est- und Kurlands, 2. Aufl., Riga 1905, S. 196–211; Erik Thomson, Reval. Porträt einer Ostseestadt (Ostmitteleuropäische Geschichte in Bildern und Dokumenten 2), Rodenkirchen 1979 (für den historisch interessierten Laien gedacht); Norbert Angermann – Wilhelm Lenz (Hrsg.), Reval. Handel und Wandel vom 13. bis zum 20. Jahrhundert (Schriften der Baltischen Historischen Kommission 8), Lüneburg 1997. Zur Frühzeit siehe Paul Johansen, Nordische Mission, Revals Gründung und die Schwedensiedlung in Estland (Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademiens Handlingar 74), Stockholm 1951 sowie ders. – Heinz von zur Mühlen, Deutsch und undeutsch im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reval (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart 15), Köln-Wien 1973. Eine Hommage an die Stadt, ein bibliophiles Lesebuch und keine Stadtgeschichte, ist der Sammelband: Sabine Schmidt (Hrsg.), Europa erlesen. Tallinn, Klagenfurt 2003, dessen entspannende Lektüre empfohlen sei. 1
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nur die wichtigsten Quellen zur politischen, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der estnischen Hauptstadt und Estlands überliefert, sondern auch in beachtlichem Umfang solche zur Geschichte der Hanse, deren Mitglied Reval, seit 1248 mit Lübischem Recht begabt, seit 1284 war, des Deutschen Ordens, der die Stadt 1346 vom König von Dänemark gekauft hatte und zu dem sie bis 1561 gehörte, der der nordischen Geschichte und des Ostseeraumes. Das kann nicht verwundern, war Reval/Tallinn doch von 1219 bis 1346 Teil des dänischen Herzogtums Estland und gehörte dann, wie schon erwähnt, zum Deutschen Orden. Angesichts der durch den Russeneinfall drohenden Gefahr suchte die Hansestadt 1561 Schutz beim Schwedischen Reich und war bis zur Eroberung durch Zar bzw. Kaiser Peter den Großen 1710 Teil des Herrschaftsbereichs der Krone Schwedens und von da bzw. von 1721 an, seit dem Frieden von Nystad, eine Stadt der autonomen „Provinz“ Herzogtum Estland des Russischen Reichs. Als dieses samt dem Zarentum 1917 zerbrach, wurde Tallinn 1918, dem Geburtsjahr der unabhängigen Republik Estland, deren Hauptstadt. Die Stadt- und Landesgeschichte bis 1853 (!) spiegelt sich auch in dem Archivbestand, für den sich die Bezeichnung „Pergamenturkunden“ eingebürgert hat, und hier wiederum für dessen größten Teil, die sogenannte Hauptserie. Sie war mit einem roten Punkt auf den kräftigen braunen Papierumschlägen gekennzeichnet, die die Urkunden viele Jahrzehnte umschlossen und sicherten – von ihnen wird noch zu sprechen sein. In der ältesten Beständeübersicht für das Archiv aus dem Jahre 18963 wurde diese Serie als Teil „E“ mit dem Titel „Regesten von 1245 Urkunden, die in festen Papierumschlägen auf einem Regal im zweiten Archivraum aufgestellt
3 Gotthard von Hansen, Katalog des Stadtarchivs, Reval 1896. Diese Übersicht ist heute selten geworden und nur in wenigen Bibliotheken vorhanden. Mir lag ein besonderes Exemplar vor, das Gottfried Carl Georg von Törne (1854–1918), der zeitweise am Stadtarchiv Reval gewirkt hat, mit zahlreichen handschriftlichen Zusätzen und Ergänzungen versehen hat und das er dem „HEROLD. Verein für Heraldik, Genealogie und verwandte Wissenschaften“ zu Berlin (gegründet 1869) im Jahre 1903 schenkte. Er war seit dem 3.3.1891 (ehrenhalber) Korrespondierendes Mitglied dieses Vereins. Auf dem Tauschwege gelangte das Buch, das eigentlich als Handschrift zu behandeln wäre, in die Dienstbibliothek des GStA PK. – Einen guten anschaulichen und beeindruckenden Einblick in die ältere Überlieferung bietet Tiina Kala (Hrsg.), Mittelalterliche Handschriften in den Sammlungen des Stadtarchivs Tallinn und des Estnischen Historischen Museums. Katalog, Tallinn 2007. Beide Häuser lernte ich bei meinem ersten Besuch in Tallinn und Estland im Februar 2007 kennen. – Zu von Törne siehe Unterlagen des „Herold“ in Berlin und Wilhelm Lenz [sen.] (Hrsg.), Deutschbaltisches Biographisches Lexikon 1710–1960, Köln-Wien 1970, S. 805.
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sind“, bezeichnet.4 Bis heute sind die Urkunden chronologisch geordnet und durchgezählt, und mit ihnen habe ich mich einige Zeit beschäftigen dürfen. Wie kam es dazu? In den ersten beiden Jahren meiner beruflichen Laufbahn als wissenschaftlicher Archivar von 1979 an – die 24 vorangehenden Monate der Ausbildung als Archivreferendar sind nicht mitgezählt – hielt ich diese Urkunden Tag für Tag in Händen. Daran und an die damit verbundene Arbeit denke ich zurück und halte meine Erfahrungen fest. So wird in den folgenden Seiten auch keine wissenschaftliche Analyse und keine ausführliche archivfachliche Bestandsbeschreibung geboten werden. Die geneigten Leserinnen und Leser wollen es mir nachsehen, dass ich hier und an anderen Stellen autobiographische Bemerkungen einfließen lasse, es liegt in der Natur der Sache. Nach meiner Promotion zum Dr. phil. an der Johannes-Gutenberg-Universität zu Mainz in den Fächern Geschichte (Mittlere und Neuere Geschichte), Alte Geschichte und Germanistik 1977 und der Ausbildung zum wissenschaftlichen Archivar am Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden und an der Archivschule in Marburg an der Lahn5 von April 1977 bis zum 31. März 1979 trat ich mit Wirkung vom 1. April 1979 meinen Dienst am Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) in Berlin-Dahlem an, dem ehemaligen traditionsreichen und -bewussten Zentralarchiv des untergegangenen Staates Preußen.6 Dort sollte ich bis Ende Mai 1987 bleiben, ab 1. Juli V. Hansen (wie Anm. 3) S. 237, Regesten S. 239–398. Walter Heinemeyer, 40 Jahre Archivschule Marburg 1949–1989. In: Archiv für Diplomatik 34 (1989) S. 631–671. – Angelika Menne-Haritz (Hrsg.), Überlieferung gestalten. Der Archivschule Marburg zum 40. Jahrestag ihrer Gründung (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg. Institut für Archivwissenschaft 15), Marburg an der Lahn 1989. – Angelika Menne-Haritz, 40 Jahre Archivschule Marburg. In: Der Archivar 42 (1989) Sp. 165–176. – Zu den Vorgängereinrichtungen der Marburger Archivschule siehe Wolfgang Leesch, Das Institut für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung (IfA) in Berlin-Dahlem. In: Gerd Heinrich – Werner Vogel (Hrsg.), Brandenburgische Jahrhunderte. Festgabe für Johannes Schultze zum 90. Geburtstag (Veröffentlichungen des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg 35), Berlin 1971, S. 219–254. 6 Eine aktuelle und brauchbare Beständeübersicht gab es zu meiner Zeit leider nicht. Die damals tätigen Archivare behalfen sich bei Auskünften und Beratungen ggf. mit der knappen, aber inhaltsreichen Broschüre: GStA. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Archivführer, Berlin 1974 mit zahlreichen Ausführungen meines Kollegen Professor Dr. Eckart Henning M.A. – Eckart Henning, Archivalien und Archivare Preußens. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 2013. Seit einigen Jahren liegt eine Übersicht über die Tektonik dieses wichtigen Archivs und seiner Bestände vor: Jürgen Kloosterhuis (Hrsg.), Tektonik des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, bearb. v. Rita Klauschenz, Sven 4 5
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1979 als Archivrat. Zum 1. Juni 1987 wechselte ich auf eigenen Wunsch an das Politische Archiv des Auswärtigen Amts in Bonn, seit dem 1. Oktober 2000 in Berlin am Werderschen Markt, dessen Leitung ich vom 1. Mai 2003 bis zum 30. Juni 2014, meinem Eintritt in den Ruhestand, innehatte. In Dahlem war ich hauptsächlich für die Archivalien zur Verfassungsund Verwaltungsgeschichte Preußens zuständig. Von den zu betreuenden Beständen standen damals freilich durch die kriegsbedingten Auslagerungen und Verluste oft nur Überlieferungssplitter zur Verfügung. Da diese Akten alle verzeichnet und zumindest einigermaßen zufriedenstellend erschlossen waren, ich aber als Berufsanfänger mit der Kärrnerarbeit des Archivars, dem Verzeichnen, vertraut werden musste und wollte, sollte ich den Hauptteil des genannten Urkundenfonds aus Reval mit Regesten neu verzeichnen oder da, wo es vertretbar war, schon vorhandene, ggf. gedruckte Regesten nach Überprüfung an Hand der Vorlagen übernehmen. Wie kam es dazu und wieso war diese Arbeit im oder am GStA PK möglich? Jahrhundertelang blühte das Stadtarchiv Reval im Verborgenen. In der Mitte des 17., Anfang und Ende des 18. sowie in der ersten Hälfte des frühen 19. Jahrhunderts gab es Ansätze zu seiner Ordnung und einer geregelten Verwaltung,7 doch blieben diese Arbeiten in den Anfängen stecken, und die große Bedeutung der Überlieferungen wurde bis weit in das 19. Jahrhundert hinein verkannt. Im Jahr 1843 wurde der Rechtsgelehrte und Rechtshistoriker Professor Dr. Friedrich Georg von Bunge (1802–1897)8 Syndikus der Stadt Reval und stieg von 1844 bis 1856 zu einem der vier Kriese und Mathis Leibetseder (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz; Arbeitsberichte 12), Berlin 2011. Darüber hinaus werden von den am GStA PK tätigen Kolleginnen und Kollegen seit 2003 nützliche und informative Sach- und Regionalinventare erarbeitet und in derselben Reihe wie der Tektonik-Band veröffentlicht. 7 Wilhelm Lenz [jun.], Das Revaler Stadtarchiv. Bemerkungen zu seiner Geschichte, seinen Archivaren und seinen Beständen. In: Jürgen von Hehn – Csaba János Kenéz, Reval und die baltischen Länder. Festschrift für Hellmuth Weiss zum 80. Geburtstag, Marburg an der Lahn 1980, S. 233–242. 8 Wilhelm Greiffenhagen, Dr. jur. Friedrich Georg v. Bunge, Reval 1891, enthält auf den S. 5–30 eine Autobiographie Bunges. – Siehe ferner Friedrich Georg von Bunge, Die Revaler Rathslinie nebst Geschichte der Rathsverfassung und einem Anhange über Riga und Dorpat, Reval 1874, S. 84 f. – Ludwig Stieda, Bunge: Friedrich Georg v. Bunge. In: Allgemeine Deutsche Biographie Bd. 47 (Neudruck Berlin 1971), S. 364–368. – Deutschbaltisches Biographisches Lexikon (wie Anm. 3) S. 132. – Otto Renkhoff, Nassauische Biographie. Kurzbiographien aus 13 Jahrhunderten (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau 39), Wiesbaden 1985, S. 48.
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Bürgermeister seiner Vaterstadt auf, von 1847 bis 1854 zum „worthabenden“, d. h. präsidierenden Bürgermeister. Sogleich nach seinem Amtsantritt als Syndikus wandte er sich der Ordnung und der Verzeichnung der ihm bekannten Teile des Stadtarchivs zu. Wenigstens erwähnt werden muss, dass der Gelehrte auch mit ambitionierten und großen Quellen editionen hervorgetreten ist,9 von denen hier nur die ersten sechs Bände des „Liv-, Est- und Kurländischen Urkundenbuchs“ genannt werden sollen, deren Bearbeiter er war. Sie bieten Urkunden und andere Quellen der Zeit von 1093 bis 1423 und erschienen in Reval 1853 bis 1859 sowie in Riga 1867 und 1873.10 Dieses große Quellenwerk, das erst in unserer Zeit abgeschlossen werden kann, beruht zu einem wichtigen Teil auch auf den Überlieferungen im Stadtarchiv Reval/Tallinn. Bunges Editionen stellen zweifellos eine große Einzelleistung dar, genügen aber den seither weiterentwickelten Anforderungen an Urkundeneditionen in keiner Weise, so dass für das hier in Frage stehende Urkundenbuch schon seit den 1870er Jahren grundlegend neue Richtlinien angewendet werden, die sich bewährt haben.11 Tiina Kala, Friedrich Georg von Bunges Quellenedition zur Geschichte der russischen Ostseeprovinzen und das Revaler Ratsarchiv. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 152 (2016) S. 343–367. 10 Friedrich Georg von Bunge (Hrsg.), Liv-, Est- und Kurländisches Urkundenbuch nebst Regesten, ab Bd. 7 im Auftrag der baltischen Ritterschaften und Städte, fortgesetzt von Hermann Hildebrand – Philipp Schwartz – August von Bulmerincq, Abt. 1, Bde. 1–12 [ Laufzeit 1093–1471] sowie Sachregister zu Bd. 7–9, Reval 1853–1859, Riga 1867, 1873, Riga-Moskau 1881–1910, Bd. 13 [1472–1479], bearb. v. Klaus Neitmann – Mad lena Mahling – Mattias Thumser, Köln-Weimar-Wien 2018, Bd. 14 [1480–1483], bearb. v. Christian Gahlbeck – Klaus Neitmann – Madlena Mahling – Mattias Thumser, Köln-Weimar-Wien 2020, Leonid Arbusow [sen.] (Hrsg.), Abt. 2 [1494–1510], RigaMoskau 1900, 1905. Wie man sieht, wird erst in unserer Zeit die sog. Lücke des Urkundenbuchs für die Jahre 1472 bis Mai 1494 geschlossen. Der 13. Bd. enthält 844 Urkunden, der 14. Bd. umfasst 999 Nummern. Die Bde. 15 und 16 [1484–1488, 1489 – Mitte Mai 1494] sind in Arbeit bzw. in Planung. 11 Bei dem Liv-, Est- und Kurländischen Urkundenbuch liegt ab Bd. 7 [1423–1429], RigaMoskau 1881, die Editionstechnik zu Grunde, die von dem Historiker und Editor Hermann Hildebrand (1843–1890) nach dem Vorbild der Monumenta Germaniae Historica (MGH) und des Hansischen Urkundenbuchs entwickelt wurde und die auch in angepasster Form für die Bde. 13 bis 16 Anwendung findet. Zu H. Hildebrand: Deutschbaltisches Biographisches Lexikon (wie Anm. 3) S. 320 f. – Zur Problematik: Klaus Neitmann, Geschichte und Zukunft des Liv-, est- und kurländischen Urkundenbuches. In: Winfried Irgang – Norbert Kersken (Hrsg.), Stand, Aufgaben und Perspektiven territorialer Urkundenbücher im östlichen Mitteleuropa (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung 6), Marburg an der Lahn 1998, S.107–121. – Madlena Mahling, Klaus Neitmann – Mattias 9
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Bunge fand bei seinem Amtsantritt als Syndikus das Archiv in recht verwahrlostem Zustand vor. Seine Bestände lagen in einem dunklen Keller des Rathauses.12 Bunge verlieh mit seinen Arbeiten dem Stadtarchiv im Wesentlichen die Struktur, die es für seine älteren Bestände im Grunde bis heute beibehalten hat.13 Dass er sich bei seinen Arbeiten vom Betreff der Archivalien leiten ließ und nicht von ihrem Entstehungszusammenhang, das Pertinenzprinzip statt des heute allgemeingültigen Provenienzprinzips anwandte, mag man bedauern, ist aber zeitbedingt. Sein Weggang von Reval nach St. Petersburg 1856 unterbrach die Arbeiten im Archiv. Bei Umbauarbeiten im Revaler Rathaus entdeckte man im Jahre 1882 zwei lange Zeit vermauerte und vergessene Räume mit Archivalien, vorzüglich die bereits erwähnten Pergamenturkunden des 13. bis 17. Jahrhunderts und zahlreiche Amts- und Stadtbücher.14 Dieser Fund führte sehr wahrscheinlich dazu, dass die Stadt von 1883 an hauptamtliche wissenschaftliche Archivare anstellte, die in den kommenden Jahrzehnten die einst von Georg von Bunge als ehrenamtlichem Archivar begonnenen Arbeiten wieder aufnahmen und fortführten. Bis 1939 wirkten als Stadtarchivare, d. h. Direktoren oder Leiter des Stadtarchivs, Theodor Schiemann
Thumser, Einleitung, in dem in Anm. 10 zitierten 13. Bd. der 1. Abt. des Liv-, Est- und Kurländischen Urkundenbuchs, S. 7–22. – Generell Matthias Thumser, Zehn Thesen zur Edition deutschsprachiger Geschichtsquellen (14.–16. Jahrhundert). In: Matthias Thumser – Janusz Tandecki unter Mitarbeit von Antje Thumser (Hrsg.), Methodik – Amtsbücher. Digitale Edition – Projekte. Editionswissenschaftliche Kolloquien 2005/2007 (Publikationen des Deutsch-Polnischen Gesprächskreises für Quellenedition 4), Toruń (Thorn) 2008, S. 13–19. – Theo Kölzer, Urkundeneditionen heute?! In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 147 (2011) S.183–193. – Ders., Konstanz und Wandel. Zur Entwicklung der Editionstechnik mittelalterlicher Urkunden. In: Werner Maleczek (Hrsg.), Urkunden und ihre Erforschung. Zum Gedenken an Heinrich Appelt (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 62), Wien 2014, S. 33–52. 12 Greiffenhagen (wie Anm. 8) S. 23 f. und Hansen (wie Anm. 2) S. III–VII. 13 Friedrich Georg von Bunge, Nachrichten über das alte Archiv des Rathes zu Reval. In: Archiv für die Geschichte Liv-, Esth- und Curlands 3/3, Dorpat 1844, S. 293–312. 14 Lenz (wie Anm. 7) S. 235.
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(1883–1887),15 Gotthard von Hansen (1887–1900), Otto Greiffenhagen (1900–1934)16 und schließlich Paul Johansen (1934–1939).17 Richard Salomon, Theodor Schiemann. In: Historische Vierteljahresschrift 21 (1922/23) S. 251–254. – Klaus Meyer, Theodor Schiemann als politischer Publizist (Nord- und osteuropäische Geschichtsstudien), Frankfurt am Main-Hamburg 1956, S. 21–28. – Wolfgang Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Lehrstuhlinhaber für Geschichte von den Anfängen des Fachs bis 1970, Frankfurt am Main-Bern-New York-Nancy 1984, S. 511 f. – Zu seiner und seiner Nachfolger Hansens und Greiffenhagens Arbeit im Stadtarchiv Reval siehe den Sammelband: Fünfzig Jahre wissenschaftlicher Arbeit im Revaler Stadtarchiv, Reval 1933, besonders Otto Greiffenhagen, Zur Geschichte des Revaler Stadtarchivs, S. 39–58. – Deutschbaltisches Biographisches Lexikon (wie Anm. 3) S. 676 f. 16 Deutschbaltisches Biographisches Lexikon (wie Anm. 3) S. 294 (zu Hansen) und S. 257 (zu Greiffenhagen). 17 Ebd. S. 258. – Hellmuth Weiss, Paul Johansen †. In: Der Archivar 19 (1966) Sp. 370– 372 und ders., Johansen, Paul. In: Neue Deutsche Biographie Bd. 10, Berlin 1974, S. 580 f. – Georg v. Rauch, Paul Johansen (1901–1965). In: Zeitschrift für Ostforschung 14 (1965) S. 727–731. – Norbert Angermann – Wolfgang Veenker – Hugo Weczerka, Gedanken zum 80. Geburtstag von Paul Johansen. In: Zeitschrift für Ostforschung 31 (1982) S. 559–592. – Weber (wie Anm. 15) S. 273 f. – Hugo Weczerka, Johansen, Paul, Historiker. In: Ostdeutsche Gedenktage 1990. Persönlichkeiten und Historische Ereignisse, Bonn 1989, S. 75–77, Porträt S. 75. – Karl-Heinz Schlarp, Hamburg. Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte im Historischen Seminar. In: Erwin Oberländer (Hrsg.), Geschichte Osteuropas. Zur Entwicklung einer historischen Disziplin in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1945–1990 (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 35), Stuttgart 1992, S. 109–124, hier S. 110–115. – Paul Kaegbein – Wilhelm Lenz [jun.], Fünfzig Jahre baltische Geschichtsforschung 1947–1996, Köln 1997, S. 121 f. – Zusammen- und umfassend jetzt Jüri Kivimäe, Paul Johansen: The Identity of a Historian. In: Jens E. Olesen (Hrsg.), Denmark and Estonia 1219–2019. Selected Studies on common Relations (Studien zur Geschichte der Ostseeregion 1), Greifswald 2019, S. 241–264 mit Porträtfoto von Paul Johansen aus dem Jahr 1939 S. 264. – J. Kivimäe war bis zu seinem Weggang als Professor für Geschichte und Estnische Studien an der Universität Toronto im Jahr 2000 Leiter des Stadtarchivs Tallinn (und Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität Tartu/Dorpat). – Indirekt wurde auch ich von Johansen beeinflusst, nicht nur durch meine Arbeit mit seinen grundlegenden Darstellungen, sondern auch weil mein Doktorvater Gotthold Rhode, seit 1956 zunächst außerordentlicher, seit 1960 ordentlicher Professor für Mittlere und Neuere Geschichte und Osteuropäische Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Johansen eng verbunden war. Auch Rhode, den 1939 an der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau zum Dr. phil. promovierten Fachmann für die Geschichte Osteuropas, hatte es nach dem Zweiten Weltkrieg nach Hamburg verschlagen, wo er am Historischen Seminar ab Mai 1946 als Tutor und seit 1947 als wissenschaftlicher Assistent wirkte und sich 1952 habilitierte. Er pflegte guten Kontakt zu Johansen, der ihn förderte und forderte; zu Rhode Eike Eckert, Zwischen Ostforschung und Osteuropahistorie. Zur Biographie des Historikers Gotthold Rhode (1916–1990) (Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau 15
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Auf ihn sei hier wenigstens mit einigen Sätzen eingegangen. Der in Reval als Sohn dänischer Eltern geborene Johansen (1901–1965) wurde 1924 an der Universität Leipzig zum Dr. phil. mit einer von dem einflussreichen und schulebildenden Landeshistoriker Rudolf Kötzschke18 betreuten Dissertation promoviert. Er nahm in demselben Jahr als „Gehilfe“ des Stadtarchivars von Reval seine Arbeit auf, die dem Gedächtnisspeicher seiner Vaterstadt zu der Bedeutung verhalfen, die ihm zukommt. Die Staatsbürgerschaft der noch jungen Republik Estland, die 1918 die Selbständigkeit errungen hatte, erlangte er am 9. Mai 1934, kurz bevor er am 1. Juni desselben Jahres zum Stadtarchivar, d. h. zum Archivleiter, ernannt wurde.19 1939 wurde Johansen mit fast allen Deutschbalten in Folge der politischen Entwicklung (Hitler-Stalin- bzw. Molotow-Ribbentrop Pakt)20 nach Posen umgesiedelt. Der Kriegsdienst hinderte ihn daran, dem 1940 an ihn ergangenen Ruf auf eine Geschichtsprofessur an der Universität Hamburg zu folgen. Zu Beginn des Wintersemesters 1946/47 wurde Paul Johansen zum Extraordinarius für Osteuropäische und Hansische Geschichte der Hamburger Universität ernannt. Erst zehn Jahre später, am 25. Mai 1956, wurde die Professur in ein Ordinariat umgewandelt. Auf Johansens Initiative und sein Betreiben hin wurde 1953 eine Abteilung für FinnischUgrische Sprachen und Finnlandkunde beim Orientalischen Seminar der Hamburger Universität eingerichtet, die 1959 zu dem selbständigen Finnisch-Ugrischen Seminar unter seinem Direktorat erhoben wurde. Nach Johansens frühem Tod würdigte ihn sein Kollege als Archivar und Hoch27), Osnabrück 2012. – Jan Kusber, Gotthold Rhode (1916–1990). In: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Mainzer Historiker, Mainz 2020, S. 191–211. 18 Enno Bünz, Ein Landeshistoriker im 20. Jahrhundert: Rudolf Kötzschke (1867–1949) zwischen methodischer Innovation und Volksgeschichte. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 141/142 (2005/2006) S. 347–367. – Die Beiträge von Enno Bünz, Julia Sobotta, Karlheinz Blaschke und Harald Lönnecker. In: Enno Bünz (Hrsg.), 100 Jahre Landesgeschichte (1906–2006). Leipziger Leistungen, Verwicklungen und Wirkungen (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 38), Leipzig 2012, S. 43–157, im Kapitel „1. Rudolf Kötzschke und die Landesgeschichte in Leipzig“. 19 Lea Kõiv, Paul Johansen und das Stadtarchiv Reval/Tallinn. In: Jörg Hackmann – Robert Schweitzer (Hrsg.), Nordeuropa als Geschichtsregion, Helsinki-Lübeck 2006, S. 45–59, hier S. 54. 20 Ludwig Biewer, Archivalien als Mittel zur Vergangenheitsbewältigung und zur Versöhnung zwischen Völkern und Staaten? Eine persönliche Erfahrung. In: Reimund Haas – Christiane Heinemann – Volker Rödel (Hrsg.), Zwischen Praxis und Wissenschaft. Aus der Arbeit einer Archivarsgeneration. Freundesgabe des 16. Wissenschaftlichen Kurses der Archivschule Marburg für Rainer Polley zum 65. Geburtstag (Beiträge zur Geschichte Nassaus und des Landes Hessen 7), Wiesbaden 2014, S. 37–46.
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schullehrer, der bekannte Vertreter der Historischen Hilfswissenschaften Ahasver von Brandt (1909–1977, Leiter des Archivs der Hansestadt Lübeck 1946–1962, o. ö. Professor in Heidelberg 1962–1974),21 als „einen der bedeutendsten Vertreter der nordosteuropäischen Geschichtsforschung [… und]‚ als Beispiel besten hansischen Menschentums“.22 Sein Lebenswerk wird zu einem großen Teil durch seine jahrelange erfolgreiche Arbeit im Stadtarchiv Reval und an dessen Beständen geprägt. Diese, „seine“, Urkunden, Amts- bzw. Stadtbücher, Briefe und Akten sind die Grundlagen, auf denen er sein großes und umfangsreiches wissenschaftliches Œuvre aufbaute.23 Vor mehr als 25 Jahren dankten Estland und Tallinn Paul Johansen für seine großen Verdienste um die Erforschung und Darstellung ihrer Vergangenheit und der Bewahrung ihres Erbes. Am 16. Dezember 1996 wurde im Innenhof des Stadtarchivs Tallinn in Gegenwart des damaligen Staatspräsidenten von Estland Lennart Meri und der Kinder von Paul Johansen feierlich ihm zu Ehren und zur Erinnerung an ihn und sein Lebenswerk eine Büste enthüllt.24 Den genannten Stadtarchivaren oder – offiziell – Leitern des Stadtarchivs waren „Gehilfen“, heute sprechen wir von stellvertretenden Archivleitern, und zeitweise auch Hilfskräfte zur Seite gestellt. Zu ihnen gehörten von 1881 bis 1913 Gottfried von Törne.25 Von 1924 bis 1934 war Johansen Vertreter von Otto Greiffenhagen. 1929 wurde die Zahl der wissenschaftlichen Archivare auf drei erhöht und Rudolf Kenkmaa eingestellt, der erste Este als wissenschaftlicher Archivar des Stadtarchivs Reval, der 1934 Johansens Vertreter wurde und ihn 1939 als Stadtarchivar beerbte. Dessen ungeachtet gab es zwischen den beiden angesehenen Historikern schon bald erhebliche Spannungen, deren Gründe nicht nur in der Wissenschaft und in ihrem Beruf, sondern auch in ihren Zugehörigkeiten zu Zu diesem ausgewiesenen Kenner der hansischen, nordischen und Lübecker Geschichte sowie der Historischen Hilfswissenschaften, der einer preußischen Offiziersfamilie entstammte und Paul Johansen vielfältig verbunden war, Antjekathrin Grassmann, Brandt, Ahasver Theodor von. In: Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck Bd. 12, Neumünster 2006, S. 43–46. 22 Schlarp (wie Anm. 17) S. 114 f. 23 Auf Johansens wissenschaftliches Werk kann hier leider nicht eingegangen werden; darüber unterrichten die in Anm. 17 aufgeführten Nachrufe und Würdigungen. Auch seine Arbeit im Stadtarchiv Reval kann nur gestreift werden, weshalb auf die Darstellung von Lea Kõiv verwiesen wird (wie Anm. 19). 24 Freundliche Auskunft des Stadtarchivs Tallinn/Reval, Frau Kollegin Lea Kõiv, mit Mail vom 24.9.2018, für die ich ebenso herzlich danke wie für alle ihre Hilfen und ihre Geduld! 25 Siehe Anm. 3. 21
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verschiedenen Nationalitäten zu suchen sind. Nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich der Este Kenkmaa schon 1934 Hoffnungen machte, Stadtarchivar zu werden, zumal Johansen aus seinem „Estländertum“ keinerlei Geheimnis machte.26 Dem Revaler Archivgut war nicht immer die für seinen Erhalt lebenswichtige Ruhe vergönnt. Schon zur Amtszeit von Bunges wurden während des Krimkrieges die damaligen Bestände 1854 von Reval nach Weißenstein (Paide) geflüchtet, konnten von dort aber alsbald unversehrt zurückgeführt werden. Wegen des Ersten Weltkriegs mussten sie fünf Jahre in 87 Kisten in Moskau verbringen.27 Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurden im Frühjahr 1944 etwa zwei Drittel des Archivgutes, 187 laufende Archivmeter in 171 Kisten, von Beauftragten des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete Alfred Rosenberg, selbst ein Sohn, wenn auch ein missratener, der Stadt Reval, ausgelagert und im Juni 1944 nach Schloss Schlodien im Kreis Preußisch Holland in Ostpreußen verbracht, wo sie jedoch nur für kurze Zeit verblieben.28 Auf der weiteren Flucht kamen die Archivalien zusammen mit den älteren Beständen des Preußischen Staatsarchivs Königsberg in Preußen weiter nach Westen, und beide Archive gelangten in das Bergwerk Grasleben bei Helmstedt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lagerten sie zunächst bis zum Frühjahr 1952 als „Zonales Archivlager“ in der Kaiserpfalz zu Goslar. Ab April 1953 wurden sie als Staatliches Archivlager nach Göttingen gebracht, das am 16. November 1953 feierlich eröffnet wurde29. Dort kümmerte sich in seiner Zeit als ReKõiv (wie Anm. 19) S. 49–59. Lenz (wie Anm. 7) S. 233 f. 28 Raimo Pullat, Der Kampf um die Provenienz. Tallinn bekommt seine Geschichte zurück. In: Hansische Geschichtsblätter 109 (1991), S. 93–97, hier S. 94 f. – Wilhelm Lenz [jun.], Die Verlagerung des Revaler Stadtarchivs im Rahmen des „Archivschutzes“ während des Zweiten Weltkrieges. In: Angermann – Lenz (wie Anm. 1) S. 397–443. 29 Kurt Forstreuter, Das Preußische Staatsarchiv in Königsberg. Ein geschichtlicher Rückblick mit einer Übersicht über seine Bestände (Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung 3), Göttingen 1955, S. 89 und 93 f. – Michael Kruppe, Das Staatliche Archivlager in Göttingen (1953–1979): seine Geschichte, seine Bedeutung. In: Preußenland. Neue Folge. Jahrbuch der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung und der Copernicus-Vereinigung für Geschichte und Landeskunde Westpreußens sowie Mitteilungen aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz 6 (2015) S. 126–162; zur großen Bedeutung des kleinen, aber feinen Archivs und der dort einst gepflegten Atmosphäre Sven Ekdahl, Gemeinsame Göttinger Jahre – Wissenschaftsgeschichte in persönlichen Begegnungen. Festvortrag aus Anlass des 75. Geburtstages von Prof. Dr. Bernhart Jähnig im Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin am 7. Oktober 2016, ebd. 7 (2016) S. 177–183. 26 27
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ferent Dr. Friedrich Benninghoven,30 ein Schüler von Paul Johansen, um die Revaler Archivalien. Er regte eine ganze Reihe von wichtigen Arbeiten an, die aufgrund der einschlägigen Bestände geschrieben wurden.31 Wie schon angedeutet, fand die erste Verzeichnung der Urkunden dieses Archivs gegen Ende des 19. Jahrhunderts statt, und das Ergebnis wurde in dem bereits genannten „Katalog des Stadtarchivs“ von Gotthard von Hansen aus dem Jahr 1896 veröffentlicht. Dort wurden die Urkunden in Regesten vorgestellt, die für die damalige Zeit durchaus für genügend erachtet worden waren. Die Unzulänglichkeit dieser Regesten wurde schon bald offenbar, so dass eine Neuverzeichnung in Angriff genommen wurde. Diese Arbeit war eine von mehreren, die Paul Johansen übernahm.32 Freilich konnte er wegen des Zeitdrucks nur Archivregesten verfassen, die ganz knapp den Inhalt der Pergamente angeben. Dem Anspruch aber, den man an genaue Vollregesten im Interesse der Schonung der Originale stellen muss, können sie nicht gerecht werden.33 Aus Gründen, die wir nicht kennen, konnte Johansen diese Arbeit nicht weiterführen und verfasste lediglich Regesten der Urkunden Nr. 1 bis 360 aus den Jahren 1233 bis 1375. Schon in früherer Zeit, sehr wahrscheinlich schon Ende des 19. Jahrhunderts, waren die braunen Umschläge, in denen die Urkunden viele Jahre steckten, mit knappen (Archiv-)Regesten beschriftet worden, wohl unter Zeitdruck und hier und da mehr schlecht als recht. Dies geschah vermutlich zur Amtszeit von Theodor Schiemann in den 1880er Jahren.34 Lenz (wie Anm. 7) S. 233 f. – Benninghoven, ein Schüler von Paul Johansen, wirkte in Göttingen als Referent von 1965 bis 1971, ging dann nach Berlin an das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, dessen Direktor er von 1974 bis 1990 war, siehe: Dieter Heckmann, Friedrich Wilhelm Benninghoven zum Gedenken. * Berlin 9. März 1925, † Berlin 22. Oktober 2014. In: Preußenland. Neue Folge. Jahrbuch der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung und der CopernicusVereinigung für Geschichte und Landeskunde Westpreußens sowie Mitteilungen aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz 5 (2014) S. 190–195. – Der Hinweis auf diesen wohlwollenden Nachruf mag hier genügen, da Friedrich Wilhelm Benninghoven auch ganz anders gesehen werden kann. 31 Lenz (wie Anm. 7) S. 233 f., Anm. 4. 32 Gotthard von Hansen, Katalog des Revaler Stadtarchivs, 2. umgearbeitete und vermehrte Aufl. hrsg. v. Otto Greiffenhagen, 3 Abteilungen, Reval 1924–1926, III. Abteilung: Urkunden-Regesten, S. 193–232. 33 Richtlinien für die Regestierung von Urkunden. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 101 (1965) S. 1–7, und in: Walter Heinemeyer (Hrsg.), Richtlinien für die Edition landesgeschichtlicher Quellen, Marburg an der Lahn-Köln 1978, S. 7–15. 34 Freundliche Auskunft des Stadtarchivs Tallinn/Reval, Frau Kollegin Lea Kõiv (wie Anm. 24). 30
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Um wenigstens einen Findbehelf als Fortsetzung der Johansenschen Regesten vorlegen zu können, wurden diese Aufschriften auf den Urkundenumschlägen im Göttinger Staatlichen Archivlager von einer Schreibkraft in ein Findbuch übertragen, wobei Unzulänglichkeiten auftraten. Ein kleiner Teil der Urkunden wurde in den 1960er Jahren von Dr. Roland Seeberg-Elverfeldt in einem dreibändigen Regestenwerk erfasst und veröffentlicht. Die ersten zwei Bände der verdienstvollen Arbeit setzen mit der Überlieferung ab dem Jahr 1500 ein und sind thematisch auf die Städtekorrespondenz beschränkt; der dritte Band des Werkes enthält Testamente Revaler Bürger der Zeit von 1369 bis 1851, von denen nur wenige in unserem Bestand überliefert sind.35 Eine Neuverzeichnung des gesamten Bestandes an Pergamenturkunden wurde immer dringlicher, vorerst aber verzögert, da das Stadtarchiv Reval wieder auf Wanderschaft gehen musste. Mit Bundesgesetz vom 25. Juli 1957 wurde die Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit Sitz in Berlin (-West) geschaffen, die ihre Arbeit aber erst nach einem Rechtsstreit und der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe vom 14. Juli 1959 mit der Verordnung über die Satzung der Stiftung vom 15. September 1961 und der Konstituierung des Stiftungsrates am 25. September 1961 in Berlin aufnehmen konnte.36 Mit dem Gesetz gingen auch die Teile des Staatsarchivs Königsberg im Staatlichen Archivlager in Göttingen an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz über und mussten in den Jahren 1978 und 1979 in das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz nach Berlin-Dahlem (GStA PK) verlagert werden. Die Bestände nicht-preußischer Provenienz des Staatlichen Archivlagers gelangten zur treuhänderischen Verwahrung in die Obhut des Bundesarchivs in Koblenz. Dies waren neben denen des Stadtarchivs Reval solche aus den Staatsarchiven Schwerin und Zerbst, die im Zuge eines deutsch-deutschen Archivalienaustauschs 1986/87 an ihre Ursprungsorte zurückkehrten. Die in den Westen ausgelagerten Bestände des Stadtarchivs Reval kehrten erst nach schwierigen Verhandlungen, die mit einem diplomatischen Notenwechsel abgeschlossen wurden, im Oktober 1990 nach Reval/Tallinn zurück. Im Gegenzug gelangten etwa gleichzeitig die von der Sowjetunion beschlagnahmten Archivalien der Hansestädte Lü-
Roland Seeberg-Elverfeldt, Revaler Regesten, 3 Bde. (Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung, Hefte 22, 26, 35), Göttingen 1966, 1969, 1975. 36 Vermächtnis und Verpflichtung (Jahrbuch der Stiftung Preußischer Kulturbesitz I 1962), Köln-Berlin 1963, S. 79–143, 152. 35
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beck, Hamburg und Bremen an ihre rechtmäßigen Ursprungsorte.37 Bei den Verhandlungen, die auf der Seite der Bundesrepublik Deutschland, die die Annexion Estlands durch die Sowjetunion nie völkerrechtlich anerkannt hatte, federführend vom Auswärtigen Amt geführt wurden, legte die Verhandlungsführung neben anderen Zielen größten Wert darauf, dass die Archivalien direkt nach Tallinn zurückkehrten und nicht etwa erst nach Moskau gelangen durften, wie das die sowjetische Seite zunächst nachdrücklich verlangte.38 Wegen der gebotenen Neuverzeichnung der Urkunden des Stadtarchivs Reval sorgte Friedrich Benninghoven, mittlerweile Direktor des GStA PK, dafür, dass die Urkunden 1979 zur Bearbeitung an „sein“ Haus ausgeliehen wurden. Diese Ausleihe war nur einem kleinen Kreis von Fachleuten bekannt und sollte nicht an die Öffentlichkeit getragen werden. Wie schon eingangs erwähnt, wurde mir kurz nach meinem Dienstantritt in Berlin die Aufgabe übertragen, die Urkunden der Hauptserie von der Nr. 361 (1376) bis zur Nr. 1214 (1796 November 30) mit Regesten nach den neuesten fachlichen Richtlinien zu erfassen und zu erschließen, wenn möglich und nötig unter der Verwendung älterer Vorlagen sowie des Liv-, Est- und Kurländischen Urkundenbuchs. Mein Vorgesetzter Benninghoven stellte dabei einen Druck der neuen Regesten in Buchform in Aussicht. Der Beginn der Arbeit glich einem Sprung in kaltes und trübes Wasser, denn ich kam von der Neueren und Neuesten Geschichte her und musste mich erst einmal intensiv mit der Vergangenheit Revals, Estlands und der baltischen Länder beschäftigen und in diesen Stoff einarbeiten, was mir in relativ kurzer Zeit auch gelang.39 Die Verzeichnungsarbeiten konnte ich Dazu und zum Folgenden Pullat (wie Anm. 28) und Henning von Wistinghausen, Im freien Estland. Erinnerungen des ersten deutschen Botschafters 1991–1995, KölnWeimar-Wien 2004, S. 26–32 mit den Abb. 2, 3 und 5. – Der Diplomat Henning von Wistinghausen, ein Estländer, von 1991 bis 1995 erster Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Tallinn, ist Mitglied der Baltischen Historischen Kommission, deren Interessen er bei den Verhandlungen vertrat, an denen ich zeitweise als Vertreter des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes teilnahm. 38 v. Wistinghausen (wie Anm. 37) S. 31. 39 Dabei stützte ich mich in erster Linie auf Reinhard Wittram, Baltische Geschichte. Die Ostseelande Livland, Estland, Kurland 1180–1918, München 1954. – Genealogisches Handbuch der baltischen Ritterschaften, Teil Estland, 3 Bde., Görlitz 1929–1942, und Teil Oesel, Tartu /Dorpat 1935. – Walther Baron v. Ungern-Sternberg, Geschichte der Baltischen Ritterschaften, Limburg/Lahn 1960. – Wilhelm Baron v. Wrangell – Georg v. Krusenstjern, Die Estländische Ritterschaft, ihre Ritterschaftshauptmänner und Landräte, Limburg/Lahn 1967. – Ernst Mühlendahl – Heiner Baron Hoyningen gen. Huene, 37
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entgegen meinen eigenen Erwartungen vom August 1979 bis zum Herbst 1981 – bei einigen längeren Unterbrechungen – bewältigen und vorläufig abschließen. Die fragile Vorläufigkeit war mir stets bewusst, und ich habe immer wieder darauf verwiesen. Bei der Arbeit war hilfreich und wichtig, dass ich mich zuverlässiger Nachschlagewerke bedienen konnte, die mir die Dienstbibliothek des Geheimen Staatsarchivs als Dauerleihgaben überlassen hatte.40 Vom Beginn meiner Arbeiten an wurde ich hilfsbereit und tatkräftig von meinem etwas älteren und erfahrenen Kollegen Dr. Bernhart Jähnig unterstützt, der bis zu seiner Versetzung an das GStA PK im Frühjahr 1979 im Staatlichen Archivlager in Göttingen tätig gewesen war und die Urkunden kannte.41 Bei etwa zehn Urkunden in schwedischer Sprache stand mir Dr. Sven Ekdahl und bei drei russischen Dokumenten der leiDie Baltischen Ritterschaften. Übersicht über die in den Matrikeln von Livland, Estland, Kurland und Oesel verzeichneten Geschlechter (Aus dem Deutschen Adelsarchiv 4), Limburg/Lahn 1973. – Mittlerweile wären noch zu berücksichtigen: Horst Kühnel (Hrsg.), Die Deutschen im Baltikum. Geschichte und Kultur (Veröffentlichungen des Hauses des Deutschen Ostens 3), München 1991. – Gert v. Pistohlkors (Hrsg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas. Baltische Länder, Berlin 1994. – Wilfried Schlau (Hrsg.), Die Deutschbalten (Vertreibungsgebiete und vertriebene Deutsche. Eine Studienbuchreihe zur Zwischenbilanz der Umsiedlung, Flucht, Deportation, Vertreibung und Aussiedlung 6), München 1995. – Wilfried Schlau (Hrsg.), Tausend Jahre Nachbarschaft. Die Völker des baltischen Raumes und die Deutschen, München 1995. – Ralph Tuchtenhagen, Geschichte der baltischen Länder, München 2005. – Norbert Angermann – Karsten Brüggemann, Geschichte der baltischen Länder, Ditzingen 2018. – Bernd Lemke (Hrsg.), Wegweiser zur Geschichte. Baltikum, im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Paderborn 2018 (Schwerpunkt auf Militärgeschichte und Neuester Geschichte). 40 Z.B. Leonid Arbusow [sen.], Livlands Geistlichkeit vom Ende des 12. bis ins 14. Jahr hundert. In: Jahrbuch für Genealogie, Heraldik und Sphragistik 1. [A–E], 2. [G–Z und Nachträge], 3. Zweiter Nachtrag, 4. Dritter Nachtrag, Anlagen, Register, Mitau 1902, 1904, 1914, S. 33–480, S. 1–160, S. 39–134, S. 1–432. – Ders., Die im Deutschen Orden in Livland vertretenen Geschlechter. In: Jahrbuch für Genealogie, Heraldik und Sphragistik, Mitau 1901, S. 27–139, Nachtrag dazu ebd. 1907 und 1908, Mitau 1910. – Eugen v. Nottbeck – Wilhelm Neumann, Geschichte und Kunstdenkmäler der Stadt Reval, 2 Bde., Reval 1904 (Neudruck in einem Bd. Hannover 1973). – C. G. Rücker, Generalkarte der Russischen Ostseeprovinzen Liv-, Est- und Kurland nebst Beikarte Riga und Umgebung, 7. Auflage, Reval 1914. – Carl Arvid v. Klingspor, Baltisches Wappenbuch. Wappen sämtlicher, den Ritterschaften von Livland, Estland, Kurland und Oesel zugehörigen Adelsgeschlechter, Stockholm 1882. – Patrick v. Glasenapp (Hrsg.), Baltisches Wappenbuch, Alling 1980. 41 Ludwig Biewer, HEROLD-Vorsitzender Professor Dr. Bernhart Jähnig 75 Jahre alt. In: Der Herold. Vierteljahrsschrift für Heraldik, Genealogie und verwandte Wissenschaften. Neue Folge Bd. 19, Heft 3–4, Jg. 59 (2016) S. 383–386. – Ders., Professor Dr. Bernhart
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der schon verstorbene Dr. Stefan Hartmann (1943–2016) zur Seite, zwei Berliner Kollegen mit Berufserfahrung in Staatlichen Archivlager.42 Den drei Kollegen bin ich für ihre uneigennützige Hilfe immer noch dankbar! Die Arbeit an den Urkunden hatte ich so organisiert, dass ich möglichst an jedem Arbeitstag morgens drei bis fünf Urkunden bearbeitete. Wie schon gesagt, wendete ich die geltenden Richtlinien für Regesten an. Danach wurden alle Personen- und Ortsnamen in allen vorkommenden Schreibvarianten aufgenommen und auf Karteikarten ein vorläufiger Index erstellt. Das übernahm mein Mitarbeiter Werner Petermann. Nach diesem Index könnte manche Bischofsliste im baltischen und im nordischen Raum ebenso ergänzt werden wie Ratslisten und -linien einer Reihe von Städten im Ostseeraum und der Hanse. Es wurden auch alle Siegelankündigungen und Siegler aufgenommen und auf die entsprechenden Siegel, deren Art und Erhaltung verwiesen. Die vollen Datierungen wurden abgeschrieben. Zudem nahm ich Hinweise auf Drucke der Urkunden auf, meist aus dem Liv-, Est- und Kurländischen Urkundenbuch, und manchmal wurden, wenn ich es für nötig erachtete, Teilabschriften angefertigt. Notizen über Besonderheiten, die für eine spätere Einleitung zum Regestenwerk gedacht waren, überstanden die Zeitläufe nicht. Vom Anfang der Arbeit an war mir klar, dass mir Fehler passieren würden, Lesefehler, solche aus Unkenntnis usw. Deshalb drang ich immer wieder auf Korrekturlesen durch Dritte, leider vergeblich. Nachdem ein erster Durchgang gegen Ende des Jahres 1981 abgeschlossen war, musste eine weitere kontinuierliche Beschäftigung unterbleiben, da mir in größerem Umfang andere dienstliche Pflichten übertragen wurden. An Korrekturlesen und an einen zweiten Durchgang, die beide dringend nötig waren, und eine Drucklegung waren – vorerst – nicht (mehr) zu denken. Eine Arbeit von ungefähr zwei Jahren blieb ein Torso, der allmählich und unbemerkt der Vergessenheit anheimfiel. Diese Neuverzeichnung, die an die entsprechende Arbeit von Paul Johansen anschloss, sollte, so wurde mir Jähnig 80 Jahre alt, Ehrenmitglied des HEROLD. In: Ebd. Bd. 20, Heft 3–4, Jg. 64 (2021) S. 540–543. 42 Zu Stefan Hartmann siehe Arno Menzel-Reuters – Klaus Neitmann (Hrsg.), Preußen und Livland im Zeichen der Reformation (Tagungsberichte der Historischen Kommission für Ost- und Westpreußische Landesforschung 28), Osnabrück 2014, Schriftenverzeichnis Hartmanns S. 345–366. Er hat seine Dissertation an der Philipps-Universität Marburg an der Lahn zu einem einschlägigen Thema verfasst und dabei intensiv Quellen aus dem Stadtarchiv Reval herangezogen: Stefan Hartmann, Reval im Nordischen Krieg (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte 1), Bonn-Bad Godesberg 1973.
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im Frühjahr 1979 erklärt, nur der erste, größere Teil eines Unternehmens sein, das mit einer erneuten Regestierung der einst von Johansen bearbeiteten älteren Urkunden seinen Abschluss finden sollte. Andere Aufgaben führten dazu, dass diese Arbeit unterbleiben musste. Meine Regesten und die Indices harrten viele Jahre nahezu ungenutzt der Veröffentlichung. Die von Benninghoven zugesagte Drucklegung unterblieb. Als ich 1987 an das Politische Archiv des Auswärtigen Amts in Bonn (seit 2000 wieder in Berlin) versetzt wurde, konnte ich die Regesten in zwei Stehordnern an den Rhein mitnehmen. Gleichzeitig mit der Verzeichnung der Pergamente wurden in der Restaurierungswerkstatt des Geheimen Staatsarchivs die zahlreichen Siegel dieser Urkundenserie fachgerecht restauriert.43 Als mit der Neuregestierung begonnen wurde, stellte Benninghoven eine Bearbeitung bzw. Verzeichnung der Siegel in Aussicht, die er selbst vornehmen wollte; dazu kam es aber nicht. Später fand nach erfolgter Restaurierung eine Aufnahme der fraglichen Siegel durch eine wissenschaftliche Angestellte des GStA PK statt, Dr. Ursula Benninghoven.44 Auch das Siegelwerk soll(te) eigentlich gedruckt werden. Die qualitätvollen Fotografien der Siegel und die Verzeichnung von Ursula Benninghoven waren einige Zeit verschollen, wurden aber 2020 im Geheimen Staatsarchiv wieder aufgefunden und können in der Zukunft in geeigneter Weise veröffentlicht werden. Darüber werden derzeit Gespräche und Verhandlungen zwischen dem Stadtarchiv Tallinn, dem Dahlemer Archiv und der Baltischen Historischen Kommission unter dem Vorsitz von Professor Dr. Matthias Thumser, Emeritus des FriedrichMeinecke-Instituts der Freien Universität Berlin, geführt, die hoffentlich zu einem befriedigenden Ergebnis und glücklichen Ende führen werden. Diese Arbeit wurde nach Einweisung von Ludwig Ritterpusch/Hessisches Staatsarchiv in Marburg an der Lahn von Frau Gisela May vorgenommen. – Zur Schwierigkeit der Siegelerhaltung und -restaurierung siehe z.B. Toni Diederich, Die Erhaltung von Siegeln. Eine vordringliche Aufgabe des Denkmalschutzes für die Archive. In: Der Archivar 34 (1981) Sp. 379–388. – Eckart Henning, Zum gegenwärtigen Stand der Siegelforschung in Deutschland und Österreich. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 120 (1984) S. 549–562, hier S. 552–554, auch in: Tom C. Bergroth (Hrsg.), Genealogica & Heraldica. Report of the 16th International Congress of Genealogical and Heraldic Sciences in Helsinki 16–21 August 1984, Helsinki 1986, S. 335–347, hier S. 337 f.. 44 Bernhart Jähnig, Ursula Benninghoven. * Bonn 30. November 1952, † Berlin 17. April 2010. In: Preußenland. Neue Folge. Jahrbuch der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung und der Copernicus-Vereinigung für Geschichte und Landeskunde Westpreußens sowie Mitteilungen aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz 1 (2010) S. 144. 43
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Bis dahin sind wir immer noch auf die Arbeit von Eugen von Nottbeck aus dem Jahre 1880 angewiesen, ein Siegelwerk, das eigentlich keines ist, sondern vielmehr lediglich von Nottbecks Studie über die ältesten Revaler Ratsfamilien um deren Wappen ergänzen sollte.45 Spätesten ab 1984 habe ich mich nur noch hin und wieder mit der Geschichte Revals, Estlands, des Baltikums und der Baltischen Ritterschaft befasst. Als 1988/1989 nicht nur die Freiheitsbewegungen in der damaligen DDR, sondern auch und gerade in den baltischen Ländern immer deutlicher und lauter ihre Stimmen erhoben und in Estland, Lettland und Litauen die Rufe und Forderungen nach Wiedererlangung der staatlichen Souveränität unüberhörbar wurden, erhielten Sprecher der Unabhängigkeits- und Freiheitsbewegung in Estland aus den Beständen des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts jede Unterstützung, um die gebeten wurde und mit denen sie ihre Rechte untermauern konnte, in vielen Fällen beglaubigte Kopien. Dienstliche und private Anfragen wurden vorrangig und noch umfassender bearbeitet als das ohnehin der Fall war. Nach der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und den baltischen Staaten 1991 wurde eine von ihren Botschaften in Berlin erarbeitete Ausstellung unter dem Titel „Von Randstaaten zu Partnern in Europa“ am 22. September 2006 im Lichthof des Auswärtigen Amts in Anwesenheit des lettischen und des litauischen Ministerpräsidenten mit einer Rede des damaligen Kanzlers, das heißt Verwaltungschefs, des estnischen Außenministeriums, Matti Maasikas feierlich eröffnet. Zu ihr konnte das Politische Archiv des Auswärtigen Amts mit Leihgaben beitragen. In einer von der Botschaft der Republik Estland in Berlin überarbeiteten Form wurde die Präsentation unter dem Titel „Fragmente der Erinnerung“ in Tallinn am 7. Februar 2007 durch den damaligen estnischen Außenminister Urmas Paet eröffnet.46 Da ich gebeten worden war, bei dieser Eugen von Nottbeck, Siegel aus dem Revaler Rathsarchiv. Sammlung von Wappen der Revaler Rathsfamilien, Lübeck 1880. – Ein solches Siegelwerk ist wegen der großen Bedeutung kunstvoller Siegel als Quellen zur allgemeinen, der Rechts-, Kultur- und Kunstgeschichte überaus wünschenswert. – Siehe dazu jetzt übergreifend und allgemeingültig den gelungenen Überblick von Toni Diederich, Zum Rang des abendländischen Siegelwesens in der Kulturgeschichte. In: Peter Bahl (Hrsg.), Festschrift zum 150-jährigen Bestehen des Herold zu Berlin. 1869–2019 (Herold-Jahrbuch N. F. 23/24), Berlin 2019, S. 13–54. 46 Reich illustrierter und informativer Katalog Pille Toompere – Rita Warfia, Fragmente der Erinnerung. Beiträge zum 85. Jahrestag der Aufnahme und zum 15. Jahrestag der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Estland und Deutschland, hrsg. v. der Botschaft der Republik Estland, Berlin 2007. 45
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Vernissage einige Worte für die deutsche Seite zu sagen, eine große und seltene Ehre für einen Archivar, konnte ich eine einwöchige, hochinteressante Dienstreise nach Estland und Tallinn unternehmen. Sie war auf estnischer Seite u. a. von der damals im estnischen Außenministerium für das Archivwesen zuständigen Diplomatin Kadri Linnas, meiner sachkundigen Gesprächspartnerin, perfekt vorbereitet worden. Im Rahmen dieses Aufenthalts besuchte ich das Stadtarchiv Tallinn, wo ich von dem damaligen Leiter Urmas Oolup, der bald als Übersetzer an das Europäische Parlament wechselte, und von Lea Kõiv, Tiina Kala und Juhan Kreem freundlichst empfangen wurde; der gute kollegiale Kontakt dauert bis heute an. In einem vorbildlich, geradezu großzügig ausgestatteten Magazinraum standen wir, für mich trotz der ganzen Vorgeschichte letztlich unerwartet, vor den mir nur zu gut bekannten Urkunden, die sich damals immer noch in den festen braunen Papierumschlägen befanden, die ihrerseits in Holzschubläden aufgestellt waren, in denen sie wohl schon vor ihrer Verbringung aus Estland 1944 aufbewahrt gewesen waren. Auf einigen Rückseiten der Umschläge fand ich sogar noch Bleistiftnotizen von meiner Hand. Kurze Zeit später wurden die Urkunden in moderne Pappumschläge umgebettet, die allen Ansprüchen an die Bestandserhaltung gerecht werden. Urmas Oolup wusste von meinen Regesten und fragte danach. Darauf sicherte ich ihm zu, ihm nach meiner Rückkehr nach Berlin die beiden Stehordner für die weitere Arbeit zu überlassen. Ich schickte sie auf dem Kurierweg über die Deutsche Botschaft an das Stadtarchiv Tallinn. In Tallinn wurden die Regesten von Frau Triin Kröönström mit kleinen Korrekturen in das Informationssystem der estnischen Archive übertragen. Diese Fassung der Regesten steht heute, wie man jetzt sagt, „im Netz“ und ist unter http:// www.ra.ee/pargamendid/index.php/en für jedermann zugänglich und einsehbar. Als Findmittel führen sie zu den Digitalisaten der Urkunden, die auf diese Weise gelesen und benutzt werden können. So werden die Originale geschont. Es ist also, wenn auch gänzlich anders als einst 1979 vorgesehen, doch noch zu einer Veröffentlichung meiner Arbeit und damit zu einem glücklichen und nützlichen Ende gekommen. Dank der beiden mehrfach genannten und zitierten Archivkataloge von 1896 und 1926, die selten sind, und durch einschlägige Veröffentlichungen, die hauptsächlich aus dem reichen Fundus des Revaler Stadtarchivs schöpften, wurden die Bestände des Stadtarchiv Reval/Tallinn der interessierten Öffentlichkeit bekannt. Dazu trug auch eine gelungene Archivali-
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enausstellung des Staatlichen Archivlagers in Göttingen von 1968 bei.47 In diesen Beständen kann oder konnte man immer noch überraschende und mitteilenswerte Funde machen, wie das auch mir widerfuhr. 1981 stellte ich eine bis dahin unbekannte Königsberger Urkunde von 1460 vor und veröffentliche sie.48 1986/87 gelang mir der Nachweis, dass an einer Urkunde von 1326 die ältesten überlieferten Siegel von finnischen Landschaften oder Provinzen hängen.49 Schon vorher, 1985. hatte ich darauf hingewiesen, dass in Estland im 18. Jahrhundert sogar meine vom Ostseestrand so weit entfernte Heimat Rheinhessen Spuren hinterlassen hat, wenn auch nur spärliche. Sie sind im Stadtarchiv Reval zu finden, allerdings nicht im Urkunden-, sondern im Aktenbestand.50 Den Ständen Alt-Livlands, dem grundbesitzenden Adel und den Städten, damit selbstverständlich auch Reval, gelang es bis ins 19. Jahrhundert immer wieder, dass ihnen die jeweiligen Landesherren, die Könige von Dänemark und Schweden, dazwischen Hochmeister- und/oder Landmeister für Livland des Deutschen Ordens und danach die russischen Zaren bzw. Kaiser ihre Privilegien (u. a. Selbstverwaltung, eigene Gerichtsbarkeit und Steuerhoheit) bestätigten; die letzte Privilegienbestätigung für die Stadt Reval/ Tallinn geschah mit Urkunde von Kaiser Nikolaus I. im Jahr 1827. Die frühen Ausfertigungen dieser Urkunden begründeten die starke Vorherrschaft von deutschbaltischem Adel, der Ritterschaften und Bürgertum, die späteren festigten diese Stellung. Die Bindungen und Handelsbeziehungen Revals nach Westen waren intensiv. So sind zum Beispiel für die Zeit von 1361 bis 1499, das heißt aus schriftarmer Zeit, in dem Bestand je Friedrich Benninghoven, Hansestadt Reval. Siebenhundert Jahre nordosteuropäischer Geschichte im Spiegel eines Stadtarchivs. Eine Archivalienausstellung (Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung 8), Göttingen 1968. 48 Ludwig Biewer, Eine unbekannte Königsberger Urkunde aus dem Jahre 1460. In: Preußenland. Jahrbuch der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung und der Copernicus-Vereinigung für Geschichte und Landeskunde Westpreußens; Mitteilungen aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz 19 (1981) S. 54– 58. 49 Ders., Die ältesten Siegel Finnlands. Ein Beitrag zur Geschichte des Stadtarchivs von Reval. In: Reinhard Härtel u.a. (Hrsg.), Geschichte und ihre Quellen. Festschrift für Friedrich Hausmann zum 70. Geburtstag, Graz 1987, S. 485–495. 50 Ders., Spuren von Alzeyer „auswärtigen Beziehungen“ im 18. Jahrhundert in Reval. In: Alzeyer Geschichtsblätter 19 (1985) S. 127–131; auf diese kleine Studie verweise ich der Vollständigkeit halber. Das entsprechende Archivale wurde damals im Bundesarchiv verwahrt und hatte die Signatur Stadtarchiv Reval, Bn 13, Blatt 114, Regest bei SeebergElverfeldt (wie Anm. 35) Bd. 1, Nr. 879, S. 372. 47
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fünf Urkunden aus Soest, Essen und Münster zu finden, je vier aus Dortmund, Wesel, Dülmen und Schwerte und je drei aus Lentzen, Hamm, Hameln, Recklinghausen, Lüneburg und Kampen (heute in der niederländischen Provinz Overijsel). Es sind unter den Urkunden auch Quellen zum schwierigen und tragisch endenden Leben und Wirken hansischer Kaufmannsfamilien, hier der Familie Veckinchusen, aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts überliefert.51 Auch die sogenannte große Politik ist in den Urkunden nachzuweisen, was abschließend wenigstens mit einem Beispiel belegt sei. Ein Spross des pommerschen Herzogshauses der Greifen wurde nach der Kalmarer Union vom Juli 1397 als Nachfolger seiner Großtante Königin Margrethe von Dänemark, Norwegen (seit 1387) und Schweden als Erich von Pommern in Personalunion König der drei genannten nordischen Königreiche, blieb aber zugleich Herzog von Pommern-Stolp. Insgesamt regierte und agierte er wenig glücklich. So verwickelte er sich von 1410 bis 1435 in einen lang andauernden kriegerischen Streit mit den Grafen von Holstein um das Herzogtum Schleswig oder, wie es damals in den Quellen heißt, Südjütland („Sønderjylland“). Darauf ist hier nicht näher einzugehen. Der Streit führte aber noch vor anderen Ursachen dazu, dass der König 1439 in Dänemark und Schweden sowie 1442 in Norwegen seine Kronen verlor. Die fruchtlosen Auseinandersetzungen verschlangen enorme Gelder, was Unzufriedenheit in allen drei Reichen, insbesondere in Schweden und Norwegen, hervorrief und Erich die Königswürde kostete. Das war aber nicht immer abzusehen. In einem Prozess vor seinem Schwager Sigismund, u.a. deutscher König von 1410 bis 1437, Kaiser seit 1433, errang der Unionskönig am 24. Juni 1424 einen Sieg, und Schleswig wurde zum Teil des dänischen Reiches erklärt. Das Urteil konnte aber nicht durchgesetzt werden und der Kampf der Holsteiner Grafen, die sogenannte Holsteinische Grafenfehde, ging weiter.52 Das führte dazu, dass König Sigismund mit Urkunde vom 11. März 1425 die Städte und Gemeinden zu Livland, 51 Franz Irsigler, Der Alltag einer hansischen Kaufmannsfamilie im Spiegel der Veckinchusen-Briefe. In: Hansische Geschichtsblätter 103 (1985) S.76–99. Festzuhalten ist jedoch, dass in mindestens zwei entsprechenden Urkunden (zu Zeit meiner Arbeit die alten Nrn. 475, 492, vielleicht auch 495) eindeutig als zweiter Buchstabe des Namens ein „o“ steht, mir also beim Regestieren kein Lesefehler unterlaufen ist. Auch hier danke ich Frau Kollegin Koïv für die Bestätigung mit ihrer Mail an mich vom 4.11.2019. 52 Jens E. Olesen, Macht und Recht – Erich von Pommern und die holsteinischen Grafen. In: Ders., Erich von Pommern und Christopher von Bayern. Studien zur Kalmarer Union (Publikationen des Lehrstuhls für Nordische Geschichte 21), Greifswald 2016, S. 89–103.
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also auch Reval, aufforderte, in diesem blutigen und teuren Streit auf die Seite des Unionskönigs zu treten, weil dessen Gegner sich seinem königlichen Urteil freventlich nicht unterwerfen wollten. Diese Königsurkunde hat im Stadtarchiv von Tallinn heute die Signatur TLA.230.1-I.575 – die Nr. 575 freilich trägt sie schon seit mehr als einem Jahrhundert und unter dieser hatte ich sie wohl 1980 in der Hand. Das muss festgehalten werden, weil ich danach anfing, mich mit meinen Regesten nach denen im Liv-, Est- und Kurländischen Urkundenbuch zu richten. Immer aber nahm ich selbstverständlich jedes Dokument in die Hand, las es, überprüfte das gedruckte Regest, übernahm oder ergänzte und veränderte es. Diese Arbeit war für mich lehrreich und dankbar denke ich daran zurück. Das Stadtarchiv Reval bzw. Tallinn, genauer gesagt: seine Urkunden, ist/ sind ein wenig auch zu „meinem“ Archiv geworden. Zufrieden, ja glücklich bin ich, dass die wertvollen Urkunden seit 1990 in Tallinn, wo sie hingehören, vorbildlich betreut werden.
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„Organisches Wachstum“ und Provenienzprinzip. Grundlage oder Altlast der Archivwissenschaft?1 Von Philip Haas 1. Einleitung Funktionen und Tätigkeiten von Archiven zu untersuchen, ist seit einigen Jahren ein beliebtes Thema der Geschichts- und Kulturwissenschaften.2 Dabei wird von archivfachlicher Seite kritisiert, dass ein diffuser Archivbegriff zur Anwendung komme, der nicht mit der Arbeitspraxis dieser Institutionen in Einklang zu bringen sei.3 Das Archiv werde entweder vereinfachend als eine Sammlung alter Dokumente und Gegenstände aufgefasst oder – angeregt durch poststrukturalistische Ansätze – verkomplizierend als Produzent eines komplexen Gefüges von Wissen und Macht gedeutet. Kritik kommt nicht nur aus den Reihen der Archivare, sondern auch innerhalb der kulturwissenschaftlichen Fachdiskussion selbst wird 1 Für Hinweise und Korrekturen danke ich ganz herzlich meinem Kurskollegen aus dem 52. Wissenschaftlichen Lehrgang der Archivschule Marburg, Dr. Martin Schürrer, dem Dozenten, Dr. Dominik Haffer, und der Leiterin der Archivschule Marburg, Dr. Irmgard C. Becker sowie Dr. Christian Hoffmann vom Niedersächsischen Landesarchiv. – Der vorliegende Text entstand im Herbst 2018 zunächst als Prüfungsarbeit („Essay zu einer archivwissenschaftlichen Fragestellung“) an der Archivschule Marburg und wurde zu Anfang des Folgejahres zu einem Aufsatz ausgebaut. Aufgrund zweier thematischer Sonderausgaben der Archivalischen Zeitschrift verzögerte sich seine Publikation. Neuere Forschungsliteratur und vom Verfasser in der Zwischenzeit gesammelte Praxiserfahrungen konnten nur in den vorhandenen Fußnoten und daher lediglich teilweise ergänzt werden. 2 Vgl. Annika Wellmann, Theorie der Archive – Archive der Macht. Aktuelle Tendenzen der Archivgeschichte. In: Neue Politische Literatur 57 (2012) S. 385–401. – Mario Wimmer, Archivkörper. Eine Geschichte historischer Einbildungskraft, Konstanz 2012. – Markus Friedrich, Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013. – Philipp Müller, Die neue Geschichte aus dem alten Archiv. Geschichtsforschung und Arkanpolitik in Mitteleuropa ca. 1800 – ca. 1845. In: Historische Zeitschrift 299 (2014) S. 36–69. – Peter Bexte – Valeska Bührer – Stephanie Sarah Lauke (Hrsg.), An den Grenzen der Archive. Archivarische Praktiken in Kunst und Wissenschaft, Berlin 2016. – Falko Schmieder – Daniel Weidner (Hrsg.), Ränder des Archivs. Kulturwissenschaftliche Per spektiven auf das Entstehen und Vergehen von Archiven, Berlin 2016. – Lorraine Daston (Hrsg.), Science in the Archives. Pasts, Presents, Futures, Chicago 2017. 3 Vgl. etwa Anja Schipke, Sammelrezension zu: Bexte – Bührer – Lauke (wie Anm. 2) und zu Schmieder – Weidner (wie Anm. 2). In: Archivar 71 (2018) S. 189–190.
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der vage Archivbegriff als „Crux“4 empfunden und beklagt, dass der Leser sich durch „Nebelschleier“5 zu kämpfen habe. Die Archivare haben dem bislang keine eigene Sichtweise entgegenzusetzen, da dies innerfachlich und arbeitspraktisch nicht nötig zu sein scheint.6 Was ein öffentliches – insbesondere ein staatliches – Archiv ist und was ein Archiv macht, ist innerhalb des Berufsstandes weitgehend unumstritten und offensichtlich kaum noch diskussionsbedürftig. Demnach handelt es sich um eine Einrichtung, die vornehmlich Unterlagen archiviert, welche innerhalb eines bestimmten Sprengels in der Verwaltung des jeweiligen Archivträgers entstanden sind und deren Handeln dokumentieren. Dieses amtliche Schriftgut wird dem Archiv zumeist periodisch zur Übernahme angeboten. Solche Unterlagen zeichnen sich durch ihren Herkunftszusammenhang aus, welcher sich vom Provenienzprinzip herleitet. Das amtliche Schriftgut ist demnach innerhalb der Behörde und im Zuge von deren Verwaltungshandeln „organisch erwachsen“7 und bildet folglich „eine Ganzheit, die ohne Zutun des Archivars besteht“.8 Durch diese sozusagen automatische Art seiner Entstehung und Strukturierung im Zuge des Behördenhandelns unterscheidet es sich von Sammlungsgut, das vom Sammler – also etwa auch von einem Archivar – vermeintlich willkürlich ausgewählt und angeordnet wurde. Aus archivarischer Sicht sammeln vornehmlich Bibliotheken und Museen.9 Zudem grenzen sich die Archive von „Ansammlungen alter Dokumente“ ab, also von Altregistraturen und von Institutionen, die sich zwar 4 So Henning Trüper, Rezension zu: Daston (wie Anm. 2). In: H-Soz-Kult, 12.7.2018, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-26962 (Stand: 23.7.2018; zuletzt aufgerufen Januar 2022). 5 So Achim Landwehr, Rezension zu: Wimmer (wie Anm. 2) In: H-Soz-Kult, 10.1.2013, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-19465 (Stand: 23.7.2018; zuletzt aufgerufen Januar 2022). 6 Vgl. hierzu die Kritik von Robert Kretzschmar, Quo vadis – Archivwissenschaft? Anmerkungen zu einer stagnierenden Diskussion. In: Archivalische Zeitschrift 93 (2013) S. 9–32, hier S. 10. 7 Eine Vielzahl von Belegen hierzu findet sich in den folgenden Abschnitten der Untersuchung. 8 Dietmar Schenk, Kleine Theorie des Archivs, Stuttgart 2008, S. 78. 9 Dass Archive nicht sammeln, wird in einschlägigen Handbüchern und Einführungswerken immer wieder hervorgehoben, so etwa in: Eckhart G. Franz, Einführung in die Archivkunde, 5. Aufl., Darmstadt 1999, S. 99. Zur Bibliothek als Sammlerin vgl. beispielsweise: Klaus Gantert – Rupert Hacker, Bibliothekarisches Grundwissen, 8. Aufl., München 2008, S. 11–12.
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selbst als Archiv bezeichnen, aus archivarischer Sicht aber eben bestenfalls als „Sammelarchiv“ zu etikettieren sind,10 wie etwa das Literaturarchiv in Marbach. Für ein Archiv im engeren Sinne bedarf das Sammeln hingegen einer gesonderten Begründung. Zumeist soll das Sammlungsgut das amtliche Archivgut ergänzen und erläutern. Es erfüllt damit eine dienende Funktion für das amtliche Archivgut.11 Auch die 17 deutschen Archivgesetze teilen explizit oder implizit diese Wertsetzung und erklären das Sammeln nichtamtlicher Unterlagen lediglich zur fakultativen Aufgabe der Archive.12 Der eben skizzierte Archivbegriff und die Bedeutung des Provenienzprinzips sind innerhalb der deutschsprachigen Archivwelt und darüber hinaus weitgehend konsensfähig. Das Provenienzprinzip gilt als basic principle of archival science13 und wurde deshalb in zahlreichen Studien behandelt.14 Im Vordergrund steht dabei die Herausbildung dieses Konzepts im Pointiert etwa: Birgit Kehne, Bewahren und Beraten. Archivberatung einst – und jetzt? In: Sabine Graf – Regina Rössner – Gerd Steinwascher (Hrsg.), Archiv und Landesgeschichte. Festschrift für Christine van den Heuvel (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 300), Göttingen 2018, S. 43–53, hier S. 43: „Der Begriff Archiv ist nicht geschützt, er bezeichnet in den Behörden die Altregistratur, er wird als Etikett für Sammlungen verwendet oder im Internet als Ablageort für elektronische Informationen. Daher liegt für Bürgerinnen und Bürger die Assoziation nahe, dass es sich um einen Ort für Dokumente aller Art handelt, die möglichst ‚alt‘ sind.“ 11 Vgl. beispielsweise: Gunnar Teske, Sammlungen und nichtamtliche Überlieferung. In: Norbert Reimann u.a. (Hrsg.), Praktische Archivkunde. Ein Leitfaden für Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste, Fachrichtung Archiv, 3. aktualisierte Aufl., Münster 2013, S. 143–167, hier S. 143. 12 Vgl. hierzu: Christian Keitel, Aussonderung und Übergabe. In: Irmgard Christa Becker – Clemens Rehm (Hrsg.), Archivrecht für die Praxis. Ein Handbuch (Berliner Bibliothek zum Urheberrecht 10), München 2017, S. 72–85, insbesondere S. 84–85. 13 Michel Duchein, Theoretical Principles and Practical Problems of Respect the fonds in Archival Science. In: Archivaria 16 (1983) S. 64–82, hier S. 64. 14 Als Überblicksdarstellungen seien genannt: Berent Schwineköper, Zur Geschichte des Provenienzprinzips. In: Forschungen aus mitteldeutschen Archiven. Zum 60. Geburtstag von Hellmut Kretzschmar (Schriftenreihe der Staatlichen Archivverwaltung 3), Berlin 1953, S. 48–65. – Maynard Brichford, The Provenance of Provenance in Germanic Areas. In: Provenance, Journal of the Society of Georgia Archivists 7,2 (1989) S. 54–70. – Tom Nesmith (Hrsg.), Canadian Archival Studies and the Rediscovery of the Provenance, Metuchen, N.J.-London 1993. – Kerstin Abukhanfusa u.a. (Hrsg.), The Principle of the Provenance. Report from the First Stockholm Conference on Archival Theory and the Principle of Provenance, 2–3 September 1993 (Skrifter utgivna av Svenska Riksarkivet 10), Stockholm 1994. – Bodo Uhl, Die Bedeutung des Provenienzprinzips für Archivwissenschaft und Geschichtsforschung. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 61 (1998) (= Landesgeschichte und Archive. Bayerns Verwaltung in historischer und archiv10
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19. Jahrhundert und die Abkehr vom lange Zeit vorherrschenden Pertinenzprinzip. Bislang nicht systematisch untersucht wurde hingegen die Imprägnierung des Provenienzprinzips mit dem Begriff des „organischen Wachstums“. Das eben umrissene Verständnis vom Archiv und seiner Tätigkeit resultiert aber zu nicht geringem Teil aus einem organischen Verständnis des Provenienzprinzips. Der innerhalb der Archivwelt dominante Archivbegriff basiert auf Vorstellungen des organischen Wachsens von amtlichem Schriftgut innerhalb einer Behördenregistratur. Obwohl organische Metaphorik in diesem Kontext heute nur sehr sparsam verwendet wird, wirkt der zugrunde liegende Denkrahmen offensichtlich latent fort. Eine Reflexion über diesen Zusammenhang findet kaum statt, die Archivwissenschaft hat es bislang versäumt, einen elementaren Teil ihrer eigenen Grundlagen kritisch aufzuarbeiten. Vorliegender Aufsatz wird deshalb der Frage nachgehen, wie das organische Verständnis des Provenienzprinzips historisch entstanden ist und inwiefern diese Semantik des Organischen das Verständnis vom Archiv und seinen Aufgaben geprägt hat und weiterhin prägt. Daran schließt sich die Frage an, ob die damit verbundenen Konzepte noch tragfähig sind oder ob sie nicht umgekehrt den Weg zu einem zeitgemäßen Archivbegriff verstellen, die Diskussion mit den Kulturwissenschaften behindern und deshalb einer Modifikation bedürfen. Ziel der Abhandlung kann es aber lediglich sein, für Schwächen und Probleme des bisherigen Archivbegriffs zu sensibilisieren und damit Denkanstöße für eine Überarbeitung zu liefern. Das Vorgehen der Untersuchung ist dabei ein chronologisches. In einem ersten Schritt ist zu klären, wie sich das Provenienzprinzip und die Rede vom „organischen Wachstum“ des Archivguts im 19. Jahrhundert entwickelte. Anschließend soll untersucht werden, wie die preußische Archivwissenschaft der 1920er und 1930er Jahre diese Konzepte aufgriff und weiterentwickelte. Die Zwischenkriegszeit gilt als „konstitutive Phase“ der deutschen Archivwissenschaft, in der entscheidende Weichenstellungen für die Ausrichtung des Faches getroffen wurden, welche auch nach 1945
wissenschaftlicher Forschung) S. 97–121. – Shelley Sweeney, The Ambiguous Origins of the Archival Principle of „Provenance“. In: Library & the Cultural Record 43,2 (2008) S. 193–214. – Angelika Menne-Haritz, Provenienz und Emergenz. Moderne Konzepte in der Archivwissenschaft Adolf Brennekes. In: Hans-Christof Kraus – Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Historiker und Archivar im Dienste Preußens. Festschrift für Jürgen Kloosterhuis, Berlin 2015, S. 625–643.
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fortwirkten.15 Sie verdient deshalb besondere Beachtung und eine gesonderte Betrachtung. In einem dritten Schritt soll die Rezeptionsgeschichte des Konzepts bis in die jüngere Vergangenheit betrachtet werden, um den bis heute prägenden Einfluss zu erklären. Dabei wird sich die Untersuchung auf Leitlinien der Rezeptionsgeschichte beschränken müssen. Im Anschluss ist zu prüfen, inwiefern das Konzept des „organischen Wachstums“ mit all seinen Voraussetzungen und Implikationen gegenwärtig noch tragfähig ist und wo sich Probleme auftun. Das Fazit fasst die Ergebnisse abschließend zusammen und zieht aus ihnen Schlussfolgerungen für die Archivwissenschaft. 2 . Fo n d s p r i n z i p u n d Re g i s t r a t u r p r i n z i p Die Entstehung des Provenienzprinzips wird ursächlich darauf zurückgeführt, dass im Zuge der Ausdifferenzierung der Verwaltung im 18. und 19. Jahrhundert die Archive nicht mehr nur für einen oder wenige, sondern für eine Vielzahl von Registraturbildnern zuständig waren.16 Als Anfangspunkt wird zumeist ein an die französischen Departement-Archive gerichtetes Rundschreiben (circulaire) vom 24. April 1841 mit dem Titel Instructions pour la mise en ordre et le classement des archives départementales et communales ausgemacht.17 Darin wurde den Archivaren aufgetragen, Archivalien nach Fonds zu gruppieren, also nach denjenigen Körperschaften, Einrichtungen oder Personen, von welchen sie erzeugt wurden und herstammen (provenir).18 Die einzelnen Archivalien innerhalb der jeweiligen Fonds sollten dann in eine systematische Klassifikation (un classement systématique) nach Sachbetreffen eingegliedert werden, die bei allen Beständen gleich zu sein hatte, unabhängig von etwaigen Besonderheiten des Registraturbildners und des von ihm erzeugten Schriftguts.19 Dietmar Schenk, Die Deutsche Archivwissenschaft im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit. In: Archivar 70 (2017) S. 402–411, direktes Zitat auf S. 405. 16 Vgl. Uhl (wie Anm. 14) S. 102. 17 Neben den oben genannten Überblickswerken, vgl. Nancy Bartlett, The Origins of the Modern Archival Principle of Provenance. In: Lawrence J. McCrank (Hrsg.), Bibliographical foundations of French historical studies, New York 1992, S. 106–114. 18 Instructions pour la mise en ordre et le classement des archives départementales et communales. In: Rapport au Roi sur les Archives Départementales et Communales, Paris 1841, S. 32–41, hier S. 33: Rassembler les différents documents par fonds, c’est-à-dire former collection de tous les titres qui proviennent d’un corps, d’un établissement, d‘une famille ou d’un individu […]. 19 Ebd. S. 37: La même ordre doit être adopté dans chaque fonds pour le classement des matières […]. 15
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Viele Archivare hatten sich bei ihrer Arbeit bis dato am Vorbild der Bibliotheken orientiert und Bestände mittels einer Anordnung der Archivalien nach Sachgruppen gebildet.20 Nach dem Fonds-Prinzip sollten vom Archivar festgelegte Sachbetreffe (Pertinenzen) nun nicht mehr als Kriterium der Bestandsbildung dienen, sondern lediglich als Kriterien zur Ordnung innerhalb eines Bestandes. Für die Bestandsbildung galt der respect des fonds, also die Integrität des Schriftguts gemäß der abgebenden Stelle. Dieser Ansatz war nicht neu, bereits im 18. und frühen 19. Jahrhundert hatte man in vielen staatlichen Archiven ältere Fonds unangetastet gelassen, statt Mischfonds nach Sachbetreffen zu bilden.21 Dies geschah vor allem aus Gründen der Praktikabilität, da es eines enormen Arbeitsaufwandes bedurft hätte, einen Fonds „zu zerreißen“ und die einzelnen Archivalien nach Pertinenzen wieder zu verteilen. Es war also die Arbeitspraxis im Archiv, welche eine Trennung der Fonds nahelegte. Das circulaire von 1841 formulierte dieses Vorgehen aus und legte es den französischen Archiven eher als Norm auf, als es zu erfinden. Zudem handelte es sich hierbei um eine verwaltungsinterne Verfügung, eine theoretische Begründung, etwa in Form eines gelehrten Traktats oder wissenschaftlichen Abhandlung, existierte bislang noch nicht. Dessen ungeachtet besagt das im 20. Jahrhundert vorherrschende Narrativ, das Provenienzprinzip habe sich „gewissermaßen von selbst aufgedrängt und durchgesetzt […] je mehr die wissenschaftlichen Gesichtspunkte“ sich im Laufe des 19. Jahrhunderts im Archiv „Geltung verschafft“ hätten.22 Das Provenienzprinzip sei aus wissenschaftlicher Einsicht heraus entstanden und von einem historisch gebildeten Archivar neuen Schlages ersonnen, vertreten und eingeführt worden. Auch habe die Geschichtsforschung des 19. Jahrhunderts dieses Ordnungsprinzip eingefordert, um Besonders einflussreich für das 17. und 18. Jahrhundert war in dieser Hinsicht das Werk von Gabriel Naudé, Advis pour dresser une bibliothèque, Paris 1627. Vgl. auch: Heidrun Alex – Guido Bee – Ulrike Junger (Hrsg.), Klassifikationen in Bibliotheken. Theorie – Anwendung – Nutzen (Bibliotheks- und Informationspraxis 53), Berlin-Boston 2018. 21 Dies gilt etwa für die Urkundenfonds des Niedersächsischen Landesarchivs, Abteilung Wolfenbüttel (NLA WO), welche um das Jahr 1750 übernommen wurden, so beispielsweise für die vom Verfasser neu erschlossenen Bestände NLA WO 13 Urk (Benediktinerkloster Königslutter), 22 Urk (Zisterzienserkloster Mariental), 26 Urk (Zisterzienserinnenkloster St. Crucis Braunschweig) und 41 Urk (Stadt Gandersheim). – Vgl. mit zahlreichen Beispielen: Schwineköper (wie Anm. 14) S. 60–63. Vgl. auch Brichford (wie Anm. 14) S. 55 und Sweeney (wie Anm. 14) S. 195. 22 Hans Kaiser, Aus der Entwicklung der Archivkunde. In: Archivalische Zeitschrift 37 (1928) S. 98–109, hier S. 107. 20
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wirkungsvoll Quellenkritik üben und Urkundeneditionen nach Maßgabe der ursprünglichen Fonds erstellen zu können.23 Tatsächlich entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts der Historismus zu einer bedeutenden geistigen Strömung, welche den Stellenwert der modernen Geschichtswissenschaft begründete und sich über diese hinaus auch auf weitere Fächer erstreckte.24 Der Historismus betonte die historische Bedingtheit alles Seienden und stellte damit den Gedanken der geschichtlichen Entwicklung in den Vordergrund. Auch löste der HistorikerArchivar den juristisch gebildeten Archivbeamten im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend ab.25 Demgegenüber lässt sich aber feststellen, dass „weniger die Wissenschaftler oder wissenschaftlich orientierten Archivare“ das Provenienzprinzip vertraten und zur Anwendung brachten, „sondern hauptsächlich Männer, die in der Tätigkeit des Behördenarchivars und Registrators geschult waren.“26 Die Wissenschaftlichkeit des Provenienzprinzips wurde vor allem betont, um dessen weitere Entwicklung als teleologische Fortschrittsgeschichte schreiben zu können, was historisch gebildeten Archivaren als Verdienst anzurechnen sei. Die als Registraturprinzip bezeichnete Variante des Provenienzprinzips wurde innerhalb der deutschen beziehungsweise preußischen Archivwissenschaft später in diesem Sinne als Verbesserung des Fondsprinzips betrachtet. Mittels eines „Regulativ[s] für die Ordnungsarbeiten im GeheiVgl. etwa Hermann Rumschöttel, Die Entwicklung der Archivwissenschaft als wissenschaftliche Disziplin. In: Archivalische Zeitschrift 83 (2000) S. 7–21, hier S. 10; Uhl (wie Anm. 14) S. 103. Regelmäßig wird dabei auf Forderungen Theodor von Sickels aus dem Jahre 1869 verwiesen, vgl. Schwineköper (wie Anm. 14) S. 64–65. 24 Zur Entwicklung und zu den Charakteristika des Historismus existiert eine unüberschaubare Masse an Literatur. Genannt seien: Friedrich Jaeger – Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992. – Otto Gerhard Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 116), Göttingen 1996. – Otto Gerhard Oexle – Jörn Rüsen (Hrsg.), Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundlagenprobleme (Beiträge zur Geschichtskultur 12), Köln 1996. – Johannes Heinssen, Historismus und Kulturkritik. Studien zur deutschen Geschichtskultur im späten 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 195), Göttingen 2003. – Frederick C. Beiser, The German historicist tradition, Oxford 2011. 25 Dass bereits in der Frühen Neuzeit Archivare auch als Historiker fungieren mussten, Archive somit auch Orte der Geschichtsforschung waren und umgekehrt im 19. Jahrhundert noch lange Zeit arkane Bereiche staatlicher Verwaltung blieben, zeigen: Friedrich (wie Anm. 2) hier S. 132–135, 231–235. – Müller (wie Anm. 2). 26 Schwineköper (wie Anm. 14) S. 63. 23
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men Staatsarchiv“ vom 1. Juli 1881 hatte Heinrich von Sybel, der seit 1875 den preußischen Staatsarchiven als Direktor vorstand, das Registraturprinzip als Norm für das Geheime Staatsarchiv in Berlin-Dahlem festgelegt.27 Das Regulativ ordnete ebenfalls eine Trennung der Fonds an, aber darüber hinaus sollten „die Akten in der Ordnung und mit den Marken“, also den Signaturen, belassen werden, „die sie im Geschäftsgang der betreffenden Behörde erhalten haben.“28 Indem Bestände so in das Archiv übernommen wurden, wie sie innerhalb der Behördenregistratur geschaffen worden waren, sollte die Provenienz nicht nur als Mittel zur Bildung eines Bestandes, sondern auch als Mittel zu dessen innerer Ordnung dienen. Auch dieses Regulativ war aus praktischen Gründen erlassen worden. Die Mischfonds und die bisherige Ordnung stellten die Archivare vor handfeste Probleme, wie Paul Bailleu, der seit 1876 am Geheimen Staatsarchiv tätig war, in seinen Ausführungen 20 Jahre später zu berichten wusste: In der Praxis waren namentlich die Anforderungen der Behörden nicht immer leicht und rasch zu befriedigen. Man mußte in den Ablieferungstabellen nach dem gewünschten Aktenstücke suchen, eine Art Umrechnung der Signaturen der Registratur, in der das Aktenstück entstanden war, in die Signaturen des Geheimen Staatsarchivs vornehmen etc. Oeffnete man ein Aktenpacket namentlich über politische Verhandlungen, so war man sicher, darin Schriftstücke verschiedensten Ursprungs vereinigt zu finden, deren Zugehörigkeit besonders für ungeübte Beamte nicht immer leicht festzustellen war.29 Nicht historisches Denken und geschichts- oder archivwissenschaftliche Überlegungen, sondern die praktischen Erfordernisse der Behörden waren Zu den Hintergründen, insbesondere den Verwaltungsreformen der 1870er Jahre und dem Einfluss Max Lehmanns auf Sybel, vgl. Uhl (wie Anm. 14) S. 104–106. – Johanna Weiser, Geschichte der Preußischen Archivverwaltung und ihrer Leiter. Von den Anfängen unter Staatskanzler Hardenberg bis zur Auflösung im Jahre 1945 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beiheft 7), Köln-Weimar-Wien 2000, S. 63–65, 78–79. 28 Regulativ für die Ordnungsarbeiten im Geheimen Staatsarchiv. In: Bestimmungen aus dem Geschäftsbereich der Königlichen Preußischen Archivverwaltung, Leipzig 1908, S. 16–20, hier S. 17. Auch abgedruckt in: Weiser (wie Anm. 27) S. 247–251. 29 Paul Bailleu, Das Provenienzprinzip und dessen Anwendung im Berliner Geheimen Staatsarchiv. In: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 50 (1902) S. 193–195, hier S. 194. Allerdings verweist Bailleu darauf, dass das Registraturprinzip „in gleichem Maße unserm historischen Denken und unseren archivalischen Erfahrungen“ entsprochen habe. 27
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ausschlaggebend für das Regulativ von 1881. Das Provenienzprinzip war „eine Notgeburt angesichts der sich auftürmenden Schriftgutmassen“.30 Sybels Nachfolger, Reinhold Koser, übermittelte das Regulativ von 1881 durch Verfügung vom 12. Oktober 1896 den Staatsarchiven in den preußischen Provinzen zur Kenntnisnahme und empfahl es ihnen zur Nachahmung.31 Somit wurde das Registraturprinzip für sämtliche preußische Staatsarchive zur Norm erhoben und mit unterschiedlichem Erfolg zur Anwendung gebracht.32 Erst 1898 wurde das Provenienzprinzip abseits von verwaltungsinternen Denkschriften und Anweisungen in einer ausführlichen Abhandlung, die sich an ein breiteres Fachpublikum richtete, theoretisch begründet. Die Direktoren der Archive von Utrecht, Groningen und Middelburg, Muller, Feith und Fruin, verfassten auf Niederländisch ein „Handbuch zum Ordnen und Beschreiben von Archiven“ (Handleiding voor het ordenen en beschrijven van archieven),33 welches 1905 ins Deutsche34 und in den folgenden Jahren in zahlreiche weitere Sprachen übersetzt wurde und einen enormen Wiederhall in der internationalen Archivwelt fand.35 Bei ihren Ausführungen griffen die Autoren ebenso auf ihre eigenen Erfahrungen
Gerd Steinwascher, Archivische Flurbereinigung als Tauschgeschäft? Vom Umgang des Oldenburger Landesarchivs mit seinen Nachbararchiven. In: Sabine Graf – Regina Rössner – Gerd Steinwascher (Hrsg.), Archiv und Landesgeschichte. Festschrift für Christine van den Heuvel (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 300), Göttingen 2018, S. 135–146, hier S. 136. 31 Regulativ (wie Anm. 28) S. 16, Anmerkung 1. – Vgl. hierzu auch: Helmut Lötzke – Manfred Unger, Das Provenienzprinzip als wissenschaftlicher Grundsatz der Bestandsbildung, Teil 1. In: Archivmitteilungen 26 (1976) S. 49–55, hier S. 52. 32 So verweist Koser beispielsweise darauf, dass das Prinzip im Staatsarchiv Hannover zur Anwendung komme, vgl. Max Bär, Übersicht über die Bestände des K. Staatsarchivs zu Hannover (Mitteilungen der K. Preussischen Archivverwaltung 3), Leipzig 1900, Vorwort Reinhold Kosers. Das bedeutet aber nicht, dass es konsequent zur Anwendung gelangte, vgl. Christian Hoffmann, „… behufs Aufstellung unter Des. Hann. 91 …“. Provenienzprinzip und Bestandsbildung im Staatsarchiv Hannover am Ende des 19. Jahrhunderts. In: Archiv-Nachrichten Niedersachsen. Mitteilungen aus Niedersächsischen Archiven 18 (2014) S. 84–91. 33 S. Muller – J. A. Feith – R. Fruin, Handleiding voor het ordenen en beschrijven van archieven, Groningen 1898. 34 Hans Kaiser (Bearb.), Handbuch zum Ordnen und Beschreiben von Archiven von Dr. S. Muller Fz. – Dr. J. A. Feith und Dr. R. Fruin Th. Az, Leipzig-Groningen 1905. 35 Vgl. Peter Horsman – Eric Ketelaar – Theo Thomassen, New Respect for the Old Order: The Context of the Dutch Manual. In: The American Archivist 66 (2003) S. 249–270, zur internationalen Rezeption des Werks, insbesondere S. 265–269. 30
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wie auf die Anwendung des Registraturprinzips in den preußischen Staatsarchiven zurück. Das Handbuch betont, dass ein Archiv vom Archivar „nicht willkürlich gebildet“ werde, „wie man die eine oder andere Sammlung historischer Handschriften zusammenstellt“, sondern „stets den Niederschlag der Funktionen des Kollegiums oder seines Beamten darstellt“, für dessen Schriftgut es verantwortlich ist. Aufgrund dieser Verbindung zur Behörde und deren Tätigkeit ist das Archiv „ein organisches Ganzes, ein lebender Organismus, der nach festen Regeln wächst, sich bildet und umbildet. Aendern sich die Funktionen des Kollegiums so ändert sich damit auch das Wesen des Archivs.“36 Aus der organischen Verbindung zwischen Behördenhandeln und Archiv leiteten die Verfasser des Handbuchs die Schlussfolgerung ab, Archivgut müsse streng nach Registraturprinzip übernommen werden, wenn das Archiv seiner spezifischen Aufgabe gerecht werden wolle. Allerdings gestanden sie nicht nur dem Schriftgut von Behördenregistraturen „organisches Wachstum“ zu: „Es gibt auch privatrechtliche Körper, wie Klöster, Spitäler, Bruderschaften etc. und in unserer Zeit Gesellschaften und Vereinigungen […], die also in dieser Hinsicht mit öffentlich-rechtlichen Körpern gleichzustellen sind.“37 Entscheidend für das Attribut des „organischen Wachstums“ war letztlich eine gut strukturierte Schriftgutverwaltung und Aktenführung, nicht zwangsläufig der Bezug zum Staat und zur öffentlichen Verwaltung. Das niederländische Handbuch fand mit dem „organischen Wachstum“ eine theoretische Begründung für das Registraturprinzip. Hatte man es zuvor aus arbeitsökonomischen Gründen angewandt, so wurde nun das „Wesen des Archivs“ darin gesehen, das „organische Wachstum“ der Unterlagen beim Registraturbildner zum Ausdruck zu bringen. Das Archiv speiste sich aus einem lebenden Organismus und sollte damit selbst zu einem Organismus werden. Die Figur vom „organischen Wachstum“ des Archivs stieß in der preußischen Archivwissenschaft auf großen Anklang. Dass der Übersetzer des Handleiding, Hans Kaiser, der Meinung war, „alle übrigen Fortschritte in Fragen der Theorie und Praxis“ der Archivkunde träten in den Hintergrund, nun da „die Erkenntnis des ureigenen Wesens des Archivs als eines 36 37
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Kaiser (wie Anm. 34) § 2, S. 4–5. Ebd. § 3, S. 5.
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organischen Ganzen sich Bahn gebrochen hat“, verwundert nicht.38 Bemerkenswert ist hingegen die Auseinandersetzung des preußischen Archivrates Georg Winter mit dem Stockholmer Archivar Carl Gustav Weibull, denn sie zeigt, welchen Stellenwert diese Auffassung wenige Jahrzehnte später einnahm. Letzterer hatte sich gegen das Registraturprinzip und für die Anwendung des Fondsprinzips ausgesprochen, da eine Klassifikation der Bestände nach Sachbetreffen den Bedürfnissen der historischen Forschung dienlicher sei, als die Ordnung der Registratur zu übernehmen. Diese Pertinenzen dürften allerdings nicht für alle Bestände einheitlich sein, vielmehr müssten sie deren Spezifika gerecht werden, indem sie sich „organisch an die Tätigkeit einer Behörde anschließen“. Die Tätigkeit des Archivbeamten dürfe hingegen „nicht mehr nur restaurierend sein“, sondern sie müsse „bis zu einem gewissen Grad neuschaffend“ sein.39 Auch Weibull griff auf die Semantik des Organischen zurück, auch wenn seine Vorstellungen in eine gänzlich andere Richtung wiesen. Winter warf Weibull vor, dieser propagiere mit seiner Absage an das „preußisch-holländische Prinzip“ eine „Rückkehr zu der früheren eingeschränkten Auffassung des Provenienzprinzips als des bloßen Grundsatzes der Nichtvermischung verschiedener Archivfonds“. Damit verfehle er einerseits die praktischen Erfordernisse der preußischen Staatsarchive und andererseits gehe der „organische Anschluß“ des Archivs an die Behörde verloren, denn „das Leben der Behörde gebiert die Sachgruppen der Registratur“.40 Dreierlei ist an Winters Argumentation bemerkenswert: Erstens handelt es sich beim Registraturprinzip mittlerweile um ein preußisch-holländisches Konzept, die preußische Archivpraxis ist nun fest mit den Ausführungen des Handbuchs und dem Konzept des „organischen Wachstums“ verbunden. Zweitens interpretiert Winter dieses Prinzip als Weiterentwicklung des Fondsprinzips, es handelt sich nicht um gleichwertige Alternativen. Weibull wird als Reaktionär dargestellt, der zu einer längst überholten Kaiser (wie Anm. 22) S. 109. Carl Gustav Weibull, Archivordnungsprinzipien. Geschichtlicher Überblick und Neuorientierung. In: Archivalische Zeitschrift 42/43 (1934) S. 52–72, hier S. 64, mit Diskussionsbeiträgen der Schriftleitung, Georg Winters und Robert Fruins auf den Seiten 68–72. Bereits 1930 hatte Weibull seine Thesen auf Schwedisch verfasst, vgl. Carl Gustav Weibull, Arkivordningsprinciper, Lund 1930. 40 Georg Winter, Archivordnungsprinzipien. In: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 78 (1930) Sp. 138–147, hier Sp. 138– 139, 141. 38 39
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Entwicklungsstufe des Provenienzprinzips zurückkehren wolle. Drittens sind es für Winter ausschließlich Behörden, welche „organisch gewachsenes“ Schriftgut produzieren, nur sie haben „Leben“ und können Ordnung „gebären“. Dass Weibull auch die Sachbetreffe als „organisch gewachsen“ verstanden wissen will, tut für Winter nichts zur Sache: Wenn nicht die direkt von der Behördenregistratur geschaffene Ordnung bewahrt werde, liege „immer reine Willkür“ und „persönliche Ansicht“ des Archivars vor.41 Die Tätigkeit der staatlichen Behörde hat offenbar eine höhere Vernunft und Legitimation aufzuweisen, als der vereinzelte Verstand des Archivars. Der preußische Archivar nimmt seine Person ostentativ hinter den Staat zurück und sieht sich als historischer Sachverwalter von dessen Strukturen und Tätigkeiten. Es soll an diese Stelle aber nicht verschwiegen werden, dass sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Stimmen erhoben, die sich für eine gezielte Sammlungspolitik der Archive stark machten. Zu nennen wäre etwa der Braunschweiger Archivar – und damit Nichtpreuße – Paul Zimmermann, der im Landeshauptarchiv Wolfenbüttel eine ungewöhnlich vielseitige Sammlung nichtstaatlicher Unterlagen betrieb und seine zugrunde liegenden Prinzipien auf dem Deutschen Archivtag 1911 in Graz darlegte. Seine Argumentation gründete – ähnlich wie bei Weibull – auf dem wissenschaftlichen Auftrag der Archive. Bemerkenswert ist, dass das gezielte Erwerben der archivischen Sammlung, das heißt letztlich dem Archiv, „Leben“ verleiht.42 Zeitgeschichtliche Sammlungen gehörten denn auch zum Aufgabenspektrum nicht weniger Archive. Aber sie galten – zumal für den staatlichen Bereich – nicht als Kernaufgabe und ihre theoretische Begründung blieb verhalten. Vierzig Jahre später ist Hermann Kleinau, dem Leiter des Wolfenbütteler Archivs, bezeichnender Weise ein gewisses Befremden über die Aktivitäten seines Vorgängers anzumerken. Dieser habe „dem Archive weitere, nicht seinem ursprünglichen Aufgabenbereich angehörende Schätze“ zugeführt, aber auch Zugänge beschert, „die außerhalb des allmählichen, natürlichen Anwachsens aus dem behördlichen AkWeibull (wie Anm. 39) S. 69 (Entgegnung Georg Winters). Paul Zimmermann, Was sollen Archive sammeln? In: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine 59 (1911) Sp. 465–477, hier Sp. 476: „Die ganze Vergangenheit steht ihm dann lebendig vor Augen. Eine Sammlung erhält erst Leben, wenn wirklich gesammelt wird, so macht der Beruf des Archivars diesen unwillkürlich zum Sammler. Und es ist nur gut, daß und wenn es so ist. […] Die allgemeine geschichtliche Wissenschaft und die engere Heimat werden in gleicher Weise den Segen davon haben […]“. 41 42
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tengute des Sprengels lag und die über den Rahmen vieler staatlicher Archive hinausgeht.“43 Helmuth Rogge, Archivar im Reichsarchiv, versuchte sich unter explizitem Bezug auf Zimmermann an einer wissenschaftlichen Begründung des archivischen Sammelns. Dabei war er „nicht im Zweifel darüber, daß diese Tätigkeit keineswegs bei allen Archiven, und am wenigsten vielleicht bei den staatlichen, Zustimmung finden wird“,44 da Sammeln als nicht verwaltungsgebunden und damit fakultativ und subjektiv gelte. Gesammelte Unterlagen seien und blieben „geduldete Fremdkörper am organisch gewachsenen Leibe des Archivs“,45 müssten aber angesichts ihres Quellenwertes für die zeitgeschichtliche Forschung gleichwohl archiviert werden. Die Widerstände von Seiten des archivischen Mainstreams mit denen Rogge und andere „Sammler“ zu kämpfen hatten, treten plastisch hervor. 3 . D a s Pre u ß i s c h e In s t i t u t f ü r A r c h i v w i s s e n s c h a f t und der „Archivkörper“ Der Umstand, dass Weibull mit seinen „vielumstrittenen Ansichten […] in Fachkreisen starkes Aufsehen“ erregte,46 zeigt, welchen Stellenwert das Registraturprinzip unter Archivaren im deutschsprachigen Raum und in Hermann Kleinau, Geschichte des Niedersächsischen Staatsarchivs in Wolfenbüttel (Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung 1), Göttingen 1953, S. 80–82. 44 Helmuth Rogge, Zeitgeschichtliche Sammlungen als Aufgabe moderner Archive. In: Archivalische Zeitschrift 41 (1932) S. 167–177, direktes Zitat auf S. 176. – Zu Rogge vgl. Astrid M. Eckert, Kampf um die Akten. Die Westalliierten und die Rückgabe von deutschem Archivgut nach dem Zweiten Weltkrieg (Transatlantische historische Studien 20), Stuttgart 2004, S. 157–160. – Rogge war über längere Zeit am Reichsarchiv tätig, das sich angesichts des Umgangs mit modernem Massenschriftgut partiell von den Vorgaben der damaligen Archivistik lösen musste und als kriegshistorische Dokumentationsund Forschungsstelle auch innovative Praktiken des archivischen Sammelns entwickelte, vgl. Matthias Hermann, Das Reichsarchiv (1919–1945). Eine archivische Institution im Spannungsfeld der deutschen Politik (Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv Kamenz 4), Kamenz 2019, S. 119, 152 und 326–330. 45 Rogge (wie Anm. 44) S. 172–173. Rogge fährt fort: „Aber das Wort ‚Sammlungen‘ läßt unmißverständlich die fremde Herkunft der unter ihm zusammengefaßten Materialien, die Freiwilligkeit der Übernahme aus irgendwelcher Hand gegenüber dem zwangsläufigen Anfall aus staatlicher Registratur erkennen. ‚Sammlungen‘, das besagt zugleich auch, daß es sich im Gegensatz zum Archiv um etwas Subjektives, nämlich vom Sammler bedingtes handelt.“ 46 Weibull (wie Anm. 39) S. 68 (Nachwort der Schriftleitung). 43
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anderen europäischen Ländern bereits zu Beginn der 1930er Jahre einnahm.47 Dennoch erfuhr dieses Konzept im Rahmen des Forschungs- und Lehrbetriebs am „Preußischen Institut für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung“ (IfA) eine neue Kontextualisierung und einen gewissen Kanonisierungsprozess. Trotz früherer Ansätze48 wurde mit der Gründung des IfA im Jahre 1930 erstmals eine standardisierte archivwissenschaftliche Ausbildung für die preußischen Staatsarchive etabliert.49 Im Umfeld dieser Einrichtung entwickelten Heinrich Otto Meisner (1890–1976) und Adolf Brenneke (1875–1946) ihre wegweisenden Abhandlungen, welche dem Provenienzprinzip eine zentrale Funktion zuwiesen. Durch Meisner erhielt das Registraturprinzip eine Neufassung, deren sukzessive Entwicklung sich in seinen Schriften ab 1930 nachzeichnen lässt. Meisner bemühte sich in dieser Zeit um eine terminologische Klärung und Vereinheitlichung innerhalb der deutschsprachigen Archivwissenschaft. Zu diesem Zweck konzipierte er einen Fragebogen und schickte ihn an zahlreiche Archive im In- und Ausland. Die Adressaten sollten Angaben zur Verwendung und Bedeutung bestimmter archivischer Begriffe in ihrem Haus machen. Einer der am wenigsten verwendeten Begriffe war der des „Archivkörpers“. Außer in Preußen fand er lediglich im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien Anwendung, dessen Mitarbeiter seit 1924 in engem Kontakt mit den Berliner Archivaren standen und den Terminus 47 Über die preußischen Staatsarchive heißt es bei Paul Kehr, Ein Jahrhundert preußischer Archivverwaltung. In: Archivalische Zeitschrift 35 (1925) S. 3–22, hier S. 18: „Im inneren Dienst wurde das Provenienzprinzip zum Gesetz aller Ordnungsarbeiten gemacht und so eine Einheitlichkeit in der Ordnung der Bestände der preußischen Archive herbeigeführt, die keine andere Archivverwaltung aufzuweisen hat.“ Offensichtlich ist mit dem Provenienzprinzip als Gesetz der Ordnungsarbeiten das Registraturprinzip gemeint. 48 Vgl. Johannes Papritz, Die Archivschule Marburg. In: Archivum. Revue Internationale des Archives 3 (1953) S. 61–76. – Wolfgang Leesch, Zur Geschichte der Archivarsausbildung. In: Der Archivar 39 (1986) Sp. 149–156, hier Sp. 153–154. 49 Albert Brackmann, Das Dahlemer Institut für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung in den Jahren 1930–1932 und das Problem des archivarischen Nachwuchses. In: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 80 (1932) Sp. 150–155, zum Curriculum vgl. insbesondere Sp. 150–152. – Pauline Puppel, Die „Heranziehung und Ausbildung des archivalischen Nachwuchses“. Die Ausbildung am Institut für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung in Berlin-Dahlem (1930–1945). In: Sven Kriese (Hrsg.), Archivarbeit im und für den Nationalsozialismus. Die preußischen Staatsarchive vor und nach dem Machtwechsel von 1933 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Forschungen 12), Berlin 2015, S. 335–370.
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offensichtlich von diesen übernommen hatten.50 Bereits 1925 hatte der Wiener Archivar Ludwig Bittner hierzu eine Definition verfasst, die sich dann fünf Jahre später in sehr ähnlicher Form in der Beantwortung des Fragebogens durch das Haus-, Hof- und Staatsarchiv wiederfand: Man unterscheide zwischen Archiv im engeren Sinne oder Archivkörper (der Gesamtheit aller Schriftbestände, die aus der schriftlichen Tätigkeit und dem schriftlichen Verkehr einer physischen oder juristischen Person organisch erwachsen sind, soweit sie bestimmungsgemäß bei dieser verbleiben sollten), und Archiven im weiteren Sinne oder Archivanstalten, in denen ein oder mehrere solcher Archivkörper verwahrt und verwaltet werden.51 Nach der von Bittner gegebenen Definition handelt es sich bei einem „Archivkörper“ um einen Fonds, der bei einem nicht näher bestimmten Registraturbildner „organisch erwachsen“ ist. Unter direktem Verweis auf das eben angeführte Zitat fasste Meisner 1930 als „Archivkörper“ einen „leidlich deutsche[en], jedenfalls sinnfällige[n] Ausdruck für den französischen Begriff ‚fonds‘“. Dem Wort „Bestand“ sei keine innere Bindung eigen, an einem Archivkörper hingegen „kann und darf man nicht künstlich herumsezieren, ohne sein organisches Leben zu gefährden.“52 Der „Archivkörper“ steht hier für die organisch aufgeladene Integrität der Fonds, also für das Prinzip des respect des fonds. Dass Meisner auf den Österreicher Bittner verweisen musste, obwohl dieser mit dem Konzept des „Archivkörpers“ mutmaßlich durch den Kontakt zu preußischen Archivaren in Berührung kam, spricht dafür, dass diese Definition bislang noch nicht anderweitig verschriftlicht wurde. Wie bereits bei dem Handbuch von 1898 ist die theoretische Reflexion der praktischen Anwendung zeitlich nachgeordnet. Vier Jahre später definierte Meisner den Begriff des Archivkörpers jedoch gänzlich anders:
Zur Debatte um die Terminologie, zur Umfrage und zu den Kontakten zwischen Wien und Berlin vgl. Mario Wimmer, Die kalte Sprache des Lebendigen. Über die Anfänge der Archivberufssprache (1929–1934). In: Peter Becker (Hrsg.), Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts (1800–2000. Kulturgeschichten der Moderne 2), Bielefeld 2011, S. 45–74, hier S. 59–62. 51 Ludwig Bittner, Das Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv in der Nachkriegszeit. In: Archivalische Zeitschrift 35 (1925) S. 141–203, hier S. 147, Anm. 1. 52 Heinrich Otto Meisner, Unsere Berufssprache. In: Archivalische Zeitschrift 39 (1930) S. 260–273, hier S. 262. 50
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Bleibt nach der Übernahme der ursprüngliche Registraturaufbau im wesentlichen erhalten, so sprechen wir von „Archivkörpern“ (preußisches System), ist er dagegen im Archiv nach einem neu erfundenen, weniger den behördlichen Funktionen als den wissenschaftlichen Bedürfnissen angepaßten Schema wesentlich umgestaltet worden, entsteht ein „Fond(s)“ (französisches System). […] „Archivkörper“ nach preußischem System beruhen auf dem zum Registraturprinzip gesteigerten Provenienzgrundsatz.53 Womöglich unter dem Eindruck der Weibull-Winter-Kontroverse oder der Diskurse am IfA wollte Meisner den „organisch gewachsenen Archivkörper“ nun auf Bestände beschränkt wissen, die nach dem Registraturprinzip gebildet und geordnet worden waren. Er setzte dieses preußische Prinzip dem französischen Prinzip als Steigerungsform entgegen und kontrastierte dessen Behördenbezug mit einer Ausrichtung nach den Erfordernissen der Wissenschaft, wie Weibull sie vertreten hatte. Was ändert sich nun durch Meisners Verbindung von Registraturprinzip und Archivkörper? Ein solcher Archivkörper sei durch einen character indelibilis (unzerstörbares Wesen) gekennzeichnet.54 Selbst wenn er später zerstreut und zerrissen würde, sei er doch einmal in einer Registratur organisch erwachsen, habe Leben gehabt und als Organismus existiert. Organische Semantik mischt sich hier mit einer archivischen Ideenlehre: Die gleichsam ideelle Existenz des Archivkörpers könne nicht zerstört, sondern schlimmstenfalls unkenntlich gemacht werden. Der Begriff des Archivkörpers immunisiert folglich organisch erwachsenes Registraturgut gegen Eingriffe des Archivars und externe Zerstörungen gleichermaßen, welche nun aber als eine Art Körperverletzung erscheinen. Auf dem eben skizzierten Verständnis Meisners vom Provenienzprinzip basierte sein Verständnis vom Archiv und dem Beruf des Archivars.55 Auch Heinrich Otto Meisner, Archivarische Berufssprache. In: Archivalische Zeitschrift 42/43 (1934) S. 260–280, hier S. 260–261. 54 So bereits in: Meisner (wie Anm. 52 ) S. 263. 55 Meisner schrieb in einer berufskundlichen Broschüre zu diesem Thema: „Man kann über den Beruf des Archivars nicht sprechen, ohne sich zuvor über den Begriff Archiv zu verständigen. […] Stets aber bleibt für diesen echten Archivbegriff, das Merkmal des Organischen charakteristisch, das von einer Registratur unzertrennlich ist. Wir haben es in der Hauptsache nicht mit künstlichen Sammlungen zu tun – Archive sind keine Aktenmuseen –, sondern mit organisch erwachsenen Körpern […]. Denn die richtig entwickelte Registratur ist einem Lebewesen vergleichbar, mit eigenem Blutkreislauf und einer ständigen Wechselbeziehung aller seiner Glieder.“ Die gesamte berufliche Tätigkeit des Archivars 53
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floss es in die von ihm begründete „Aktenkunde“ ein,56 als deren Grundlagenwerk sein gleichnamiges Buch aus dem Jahre 1935 gilt. Der Gegensatz von „preußischem“ und „französischem System“ und die Bedeutung des Archivkörpers werden am Ende des Buches als Kennzeichen des „Aktenschriftstück[s] im Archiv“ expliziert.57 Der indirekte Einfluss dieser Konzepte auf Meisners Aktenkunde ist aber weit höher zu gewichten: Die Aufgabe, welche Meisner sich in seinem Werk stellt, besteht darin, eine der Diplomatik vergleichbare Aktenwissenschaft zu konzipieren. Zu diesem Zweck untersucht er, „was in den amtlichen Schreibstuben das Licht der Welt erblickte“, also die Akten „während ihres eigentlichen Lebens“ in den Behörden.58 Seine Untersuchung konzentriert sich fast ausschließlich auf den vorarchivischen Zustand des Schriftguts, dessen „Geburt“ und „Leben“ in den Registraturen als dem primären und wahren Organismus. Adolf Brenneke, Dozent für Archivgeschichte und Archivtheorie am IfA,59 betrachtete die Art der Handhabung des Provenienzprinzips als wird im Folgenden von diesem Begriff des Archivs abgeleitet (Heinrich Otto Meisner, Der Archivar. Die akademischen Berufe. Hrsg. vom Akademischen Auskunftsamt Berlin in Verbindung mit dem Amt für Berufserziehung und Betriebsführung in der Deutschen Arbeitsfront, 2. Aufl., Berlin 1941, S. 5. Die erste Auflage war 1938 erschienen). 56 Vgl. Eckart Henning, Wie die Aktenkunde entstand. Zur Disziplingenese einer Historischen Hilfswissenschaft und ihrer weiteren Entwicklung im 20. Jahrhundert. In: Ders., Auxilia Historica. Beiträge zu den Historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselwirkungen, 3. erw. Aufl., Köln u.a. 2015, S. 121–143. – Lorenz Beck – Robert Kretzschmar, Zum Begriff Aktenkunde – Verständnis und Abgrenzung als Disziplin. In: Holger Berwinkel – Robert Kretzschmar – Karsten Uhde (Hrsg.), Moderne Aktenkunde (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Hochschule für Archivwissenschaft 64), Marburg 2016, S. 23–27, insbesondere S. 23. 57 Heinrich Otto Meisner, Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens, Berlin 1935, S. 168–169. 58 Ebd. S. 1–2. – Freilich war Meisner auch in erheblichem Maße durch seinen akademischen Lehrer, Michael Tangl, beeinflusst, dessen diplomatische Methodik er auf neueres Schriftgut zu übertragen suchte. Tangl hatte sich unter anderem auf die Erforschung des päpstlichen Kanzlei- und Registerwesens im Mittelalter spezialisiert, vgl. Annekathrin Schaller, Michael Tangl (1861–1921) und seine Schule. Forschung und Lehre in den Historischen Hilfswissenschaften (Pallas Athene 7), Stuttgart 2002, S. 303–304. Zu Tangls Forschungen in diesem Kontext, vgl. S. 196–198. 59 Zum Leben und Wirken Brennekes mit weiterführender Literatur, vgl. Dietmar Schenk, Archivwissenschaft im Zeichen des Historismus – ein Nachwort. In: Ders. (Hrsg.), Adolf Brenneke: Gestalten des Archivs. Nachgelassene Schriften zur Archivwissenschaft (Veröffentlichungen des Landesarchivs Schleswig-Holstein 113), Hamburg 2018, S. 163–254, hier S. 173–188 (auch online verfügbar: https://hup.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2018/183/ chapter/HamburgUP_LASH_113_Brenneke_Gestalten_Nachwort.pdf, zuletzt aufgerufen Januar 2022). – Philip Haas, Unbekannte Fotos – unbekannte Aussagen. Adolf Brenneke auf
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Indikator „für den jeweiligen Stand des Archivwesens überhaupt“60 und schenkte ihm folglich in seinem Werk große Aufmerksamkeit. Als Brennekes Hauptwerk gilt seine von Wolfgang Leesch posthum 1953 herausgegebene „Archivkunde“,61 wobei nicht klar ist, in welchem Maße der Herausgeber inhaltliche Eingriffe vorgenommen hat.62 Jüngst hat Dietmar Schenk Manuskripte aus dem Nachlass Brennekes ediert, vor allem zwischen 1943 und 1946 verfasste „Beiträge zu einem Sachwörterbuch für die Deutsche Geschichte“.63 Die verschiedenen Artikel zu archivkundlichen Themen lassen sich im Folgenden ergänzend hinzuziehen. Wie Meisner verstand Brenneke unter einem „Archivkörper“ einen „organisch gewachsenen“ Bestand, dessen vorarchivische Ordnung bei der Archivierung im Wesentlichen unangetastet geblieben ist. Zugleich sei der „Archivkörper“ aber auch „Ausdruck eines aus Entschluß und Tat erwachsenen, lebendig fortschreitenden Prozesses, auf den wir Vorstellungen des lebendigen Wachstums anwenden können.“ Dies sei dann der Fall, wenn die Entstehung der Schriftstücke auf eine „Behördenpersönlichkeit“ zurückgehe und das Schriftgut „den einheitlichen Willen, der hinter den Akten steht, verkörpert“ und „das Leben in der Behörde widerspiegelt, wie es wirklich war“. Hierin unterscheide sich ein Archiv von einer Bibliothek, deren Bücher bestenfalls eine „Sachverwandtschaft“ aufwiesen. Keinesfalls sollten bei der Archivarbeit „die Bedürfnisse der Verwaltung“ durch „Bedürfnisse der wissenschaftlichen Forschung in unorganischer Weise“ zurückgedrängt werden.64 der Tagung der Leiter der preußischen Staatsarchive am 3.–4. Oktober 1941 in Marburg. In: Archivar 72 (2019) S. 131–138. – Philip Haas, „Haben Sie Lust an das hiesige Archiv zu kommen?“ Adolf Brenneke, Paul Zimmermann, Hermann Voges und die Professionalisierung der Archivarbeit in Braunschweig und Preußen. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 93 (2021) S. 179–205. 60 Adolf Brenneke, Provenienzprinzip (archivischer Herkunfts- oder Erwachsungsgrundsatz). In: Dietmar Schenk (Hrsg.), Adolf Brenneke: Gestalten des Archivs. Nachgelassene Schriften zur Archivwissenschaft (Veröffentlichungen des Landesarchivs SchleswigHolstein 113), Hamburg 2018, S. 91–93 hier S. 93 (auch online verfügbar: https://hup. sub.uni-hamburg.de/volltexte/2018/183/chapter/HamburgUP_LASH_113_Brenneke_Gestalten_Archivartikel.pdf, zuletzt aufgerufen Januar 2022). 61 Adolf Brenneke – Wolfgang Leesch, Archivkunde. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte des europäischen Archivwesens, Leipzig 1953. 62 Vgl. hierzu bereits die Rezension von Johannes Papritz, Adolf Brenneke: Archivkunde. In: Archivalische Zeitschrift 52 (1956) S. 237–244. 63 Vgl. Schenk, Brenneke-Archivartikel (wie Anm. 60) S. 9–142. 64 Brenneke – Leesch (wie Anm. 61) S. 22–23.
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Ein Archiv voller „Archivkörper“ werde „zum Ausdruck des Aufbaus und der Geschichte des Staates“ mit allen seinen Einrichtungen, also zu einer Art Mikrokosmos des Staates, seines Aufbaus und Willens. Die einzelnen Bestände sind dann „so etwas wie Zellen eines lebendigen Körpers […], die alle von der gleichen Lebenskraft durchpulst sind“, nämlich der des Behördenwillens und in Summa des dahinter stehenden Staatsgebildes.65 In gewisser Weise setzt sich der Staat sogar erst im Archiv zusammen, da die „Archivkörper“ der einzelnen Behörden nun als Körperzellen eines Gesamtkörpers fungieren können. Die Niederländer – damit meint Brenneke das oben angeführte Handbuch – hätten den Organismusbegriff „rein biologisch“ aufgefasst, er verstehe ihn hingegen „philosophisch“. Die Registraturordnung sei menschengemacht, ein Konstrukt und nicht naturwüchsig: „Das Leben habe die Registraturen geschaffen meinen die Niederländer; aber bei Lichte besehen, hat sie ein Registrator geschaffen, der einen Zopf trug“. Der Archivar dürfe folglich nicht ein „verlängerte[r] Registrator“ sein, seine Aufgabe bestehe nicht darin, „Registraturen für immer zu konservieren und damit monströse Zufallsbildungen für immer zu erhalten“, sondern er müsse selbst „organische Archivkörper bilden“. Brenneke griff nicht auf den Begriff des „Archivkörpers“ zurück, um die absolute Unversehrtheit der vorarchivischen Ordnung zu verlangen, sondern um zu betonen, dass „das innere Wesensgesetz des Organismus in der äußeren Gliederung der Registratur“ beziehungsweise des Archivbestandes rein zur Geltung kommen müsse.66 Dies könne aber nur durch schöpferische Eigenleistung des Archivars geschehen, der Archivar müsse den „Archivkörper“ in eben skizziertem Sinne herausarbeiten. Hinsichtlich des Provenienzprinzips stellen die Ausführungen Brennekes einen Wendepunkt dar: Die Gliederung des Bestandes richtet sich weder nach einer festgelegten Klassifikation, wie beim französischen Fondsprinzip, noch nach dem Wachstum der Akten innerhalb der Behörde, wie beim preußischen Registraturprinzip, sondern nach der durch den Archivar getroffenen Anordnung. Der Archivar modelliert den „Archivkörper“ aktiv, statt die gewachsene Registratur lediglich zu ernten. Insofern hat Brenneke ein anderes Berufsbild des Archivars vor Augen. Allerdings müsse dieser dabei quasi als „Eingeweihter“ dem Raunen des Schriftguts lauschen: „Es gilt, mit künstlerischem Einfühlungsvermögen dem Bestande 65 66
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die geheimen Gesetze seines Werdens und Wachsens abzulauschen und in den Formen zum Ausdruck zu bringen.“67 Dennoch entdämonisiert Brenneke letztlich die aktive Rolle des Archivars bei der Gliederung des Bestandes und entkleidet sie dem Attribut des willkürhaften, indem er sie an den „Archivkörper“ rückbindet. Ob es sich bei diesem „freien Provenienzprinzip“ allerdings um einen Mittelweg zwischen „französische[m] Fondsprinzip und „niederländischem Registraturprinzip“ handelt, wie Leesch in einer Fußnote behauptet,68 ist fraglich.69 Vielmehr scheint Brenneke einerseits die praktischen Probleme erkannt zu haben, die sich aus der orthodoxen Anwendung des Registraturprinzips bei einer schlechten Aktenführung der Behörde ergaben,70 und andererseits setzte er mit seinem Fokus auf den Willen des Staates schlichtweg einen anderen archivischen Schwerpunkt. Dieser ist nicht weniger problematisch: Registraturgut ist bei Brenneke menschengemacht, Archivgut ebenfalls, aber Wille und pulsierendes Leben des Staates, welche diesen immanent sind, sind Tatsachen – ja sogar die elementaren Kräfte der Geschichte – und sozusagen die Seele des Provenienzprinzips. Brenneke intensiviert und extensiviert die organische Semantik sogar, um dies zum Ausdruck zu bringen. Auf welche Ursachen lässt sich zurückführen, dass das Provenienzprinzip preußischer Prägung behördlichem Schriftgut den Vorrang einräumte, Registraturgut gegebenenfalls unverändert übernehmen wollte und dies mit den Konzepten des „organischen Wachstums“ und dem „Archivkörper“ verschränkte?71 Diese Frage verweist auf zwei unterschiedliche Denkfiguren, welche aber bei der hier betrachteten Thematik eng miteinander verbunden waren, nämlich den Staat als Bezugspunkt und organizistisches Denken im weiteren Sinne.
Ebd. Ebd. S. 21, Anm. 17. 69 Brenneke selbst meinte, das „Bär’sche Prinzip“ (Verzeichnung nach numerus currens) stehe „zwischen der französischen und preußischen Spielart des Provenienzprinzips […] in der Mitte, ja der ersteren näher.“ (Adolf Brenneke, Archivische Ordnungsprinzipien (geschichtliche Folge, Erklärung der archivgeschichtlichen Voraussetzungen). In: Schenk, Brenneke-Archivartikel (wie Anm. 60) S. 47–59, hier S. 57). 70 Vgl. ebd. S. 57 sowie Schenks Ausführungen (wie Anm. 59) auf S. 216–218. 71 Vgl. hierzu die post-strukturalistisch orientierte Untersuchung des Medienwissenschaftlers Wolfgang Ernst, Nicht Organismus und Geist, sondern Organisation und Apparat. Plädoyer für archiv- und bibliothekswissenschaftliche Aufklärung über Gedächtnistechniken. In: Sichtungen 2 (1999) S. 129–139, hier S. 132–134. 67 68
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Bereits in der Frühphase der Romantik propagierten führende Vertreter, wie etwa Friedrich Schlegel, die Ansicht vom „Kunstwerk als Organismus“ und übertrugen damit Naturvorstellungen Kants sowie Entwicklungsvorstellungen Herders und Goethes auf das Gebiet der Ästhetik. Demnach wird ein Kunstwerk einerseits nicht von einem externen Künstler künstlich geschaffen, sondern es organisiert und bildet sich selbst in natürlicher Weise. Andererseits ist jeder Teil des Kunstwerks Zweck und Werkzeug aller anderen Teile, kein Teil ist ohne diesen Verweisungszusammenhang zu verstehen.72 Der Begriff des Organismus wurde dabei auch zum politischen Konzept und auf den Staat übertragen, wodurch die Staat-Körper-Metaphorik, wie sie seit der Antike oftmals Verwendung fand, in der Folge eine gesteigerte Bedeutung erlangte.73 Insbesondere konservative Strömungen der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sahen im Staat eine lebendige Körperschaft und einen Organismus. Kurz vor der Jahrhundertwende heizten sozialhygienische Konzepte biologistische Vergleiche zwischen Natur und Politik weiter an.74 Die Vorstellung, Staats- und Volkskörper seien unbedingt schützenswerte Güter, war über Deutschland hinaus in gebildeten Schichten weit verbreitet.75 Letztlich diente es der „Verschleierung des Konstruktionscharakters“ einer modernen Gesellschaft,76 indem es dieser den Anschein des Natürlichen und Manuel Bauer, Schlegel und Schleiermacher. Frühromantische Kunstkritik und Hermeneutik (Schlegel-Studien 4), Paderborn u.a. 2011, S. 41–43. 73 Vgl. Matthias Löwe, „Politische Romantik“ – Sinnvoller Begriff oder Klischee? Exemplarische Überlegungen zum frühromantischen „Staatsorganismus“-Konzept und seiner Rezeptionsgeschichte. In: Athäneum 21 (2011) S. 191–204. Vgl. hierzu insbesondere das Werk Heinrich Adam Müllers, Die Elemente der Staatskunst, Berlin 1809. 74 Hierzu grundlegend: Knut Langewand, Die kranke Republik. Körper- und Krankheitsmetaphern in politischen Diskursen der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 2016. Der Verfasser zeichnet nach, wie einerseits politische Themenfelder in den Fokus der Naturwissenschaften und Medizin gerieten (S. 63–112) und zu einer „Politisierung der Gesundheit“ (S. 82) führten und andererseits Krankheitsmetaphern in das politische Denken einzogen (S. 112–164), wobei „die Vorstellung vom Volkskörper“ den „Dreh- und Angelpunkt“ bildete. Wie Langewand zeigen kann, blieb die Imprägnierung des politischen Denkens mit Krankheitsmetaphorik fast ausschließlich auf das rechte Lager beschränkt (S. 116–142) und ist auf Seiten der Republikaner (S. 145) sowie der Linken (S. 155–163) kaum auszumachen. 75 Vgl. Armin Mohler – Karlheinz Weissmann, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, 6. völlig überarbeitete und erweiterte Aufl., Graz 2005, S. 25, 40–41. 76 Langewand (wie Anm. 74) S. 164. 72
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Gewachsenen verlieh. Das 1898 verfasste Handbuch ist auch in diesem Kontext zu sehen. Auch in archivtheoretischen Abhandlungen des 19. Jahrhunderts griff man auf organische Staatsvorstellungen zurück, um die Archivkunde als Wissenschaft zu etablieren. Friedrich Ludwig von Medem vertrat 1835 die Auffassung, Archive müssten „in einem sehr bestimmten Verhältniß zum Staate gedacht werden“ und darin „eine Stelle einnehmen […], die aus diesem Organismus selbst hervorgeht“. „Hervorgegangen aus den schriftlichen Verhandlungen der Staats-Verwaltung, muß der Inhalt der Archive das Abbild derselben sein, sie in allen Verzweigungen umfassen“ und „alle Seiten des Staatslebens“ umgreifen. Der geschichtswissenschaftliche Charakter der Archive solle zwar prinzipiell gewahrt bleiben, sei aber im Vergleich zu den eben genannten Erfordernissen archivwissenschaftlicher Art sekundär.77 Diese romantische Vorstellung vom Archiv als historischem Spiegelbild des Staatsorganismus erinnert bereits an Brennekes Ausführungen.78 Aber Brenneke und Meisner griffen auch direkt auf den Entwicklungsgedanken Herders und Goethes zurück und wurden nicht nur mittelbar durch diesen beeinflusst.79 Der idealistisch-romantische Entwicklungsgedanke war zugleich ein Kennzeichen des Historismus. Diese bereits erwähnte Strömung der Geschichtswissenschaft, welche zwischen dem frühen 19. Jahrhundert und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Geschichtswissenschaft stark prägte, war zudem auf politische Geschichte und Staatstätigkeit konzentriert. Teilweise wurde diese Staatsfixierung von Seiten der Wissenschaftsgeschichte überbetont, da insbesondere die Vertreter der Neuen Sozialgeschichte in den 1960er und 1970er Jahren ihr eigenes Profil durch Friedrich Ludwig von Medem, Ueber den organischen Zusammenhang der Archive mit den Verwaltungs-Behörden. In: Zeitschrift für Archivkunde, Diplomatik und Geschichte 2 (1835) S. 1–28, hier S. 3, 5–6. 78 Bereits Wolfgang Leesch führte den Organismus-Begriff des niederländischen Handbuchs und mittelbar Brennekes „Archivkörper“ auf den „Entwicklungsgedanken und das Individualitätsprinzip der Romantik“ zurück (Wolfgang Leesch, Methodik, Gliederung und Bedeutung der Archivwissenschaft. In: Staatliche Archivverwaltung im Staatssekretariat für Innere Angelegenheiten (Hrsg.), Archivar und Historiker. Studien zur Archiv- und Geschichtswissenschaft. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Otto Meisner (Schriftenreihe der staatlichen Archivverwaltung 7), Berlin 1956, S. 13–26, hier S. 17). – Zur Verwendung derartiger Begriffe innerhalb der Archivistik des 19. Jahrhunderts vgl. Philipp Müller, Geschichte machen. Historisches Forschen und die Politik der Archive, Göttingen 2019, S. 47–50. 79 Vgl. Schenk, Nachwort (wie Anm. 59) S. 211–213. 77
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polemische Kritik am Historismus schärften.80 Gleichwohl zeigt etwa der Methodenstreit um Karl Lamprecht während der 1890er Jahre, dass dem Historismus eine gewisse Fokussierung auf „Haupt- und Staatsaktionen“ nicht abzusprechen ist. Lamprechts Vorstoß, kultur-, gesellschafts- und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen stärker in den Blick zu nehmen, stieß auf die schroffe Ablehnung seiner professoralen Kollegen.81 Diese in Deutschland vorherrschende Ausrichtung der Geschichtswissenschaft zog ein primäres Interesse an staatlichen Quellen nach sich und ließ die nichtstaatliche Überlieferung in den Hintergrund treten. Die Archivare, in der Regel selbst promovierte Historiker, waren hierdurch beeinflusst. Als der Historismus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in eine konzeptionelle Krise geriet, beeinflusste dies die Archivare – gerade in Brennekes Generation – nur geringfügig.82 Zudem sahen sich die preußischen Archivare selbst traditionell nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Staatsdiener. So schrieb etwa der preußische Archivar Ernst Maximilian Posner (1892–1980), der aufgrund seiner jüdischen Herkunft während der 1930er Jahre in die USA hatte emigrieren müssen, ein Gutachten für das amerikanische Militär über die Berufsgruppe der deutschen Staatsarchivare. Darin leitet er die unter deutschen Archivaren vorherrschende „nationalistische Grundhaltung […] aus ihrer traditionellen Staatsfixiertheit ab. Von den beiden Säulen des Berufes – dem Dienst für die Verwaltung und dem für die Forschung – habe der Archivar stets den Staat vorgezogen.“83 Die Folgen des Ersten Weltkriegs und die Krise der Zwischenkriegszeit stärkten in weiten Kreisen des gebildeten Bürgertums sowohl Diskurse über einen engeren Staatsbezug84 als auch organizistische Begründungs80 Vgl. prototypisch: Wolfgang J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 1971. Hierzu bilanzierend: Thomas Nipperdey, Historismus und Historismuskritik heute. Bemerkungen zur Diskussion. In: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 18), Göttingen 1976, S. 59–73, insbesondere S. 61–63. 81 Dabei wurde freilich auch Kritik an Lamprechts unwissenschaftlicher Arbeitsweise geübt, nicht nur an der methodischen Ausrichtung seiner Forschungen. Vgl. Jonas Flöter – Gerald Diesener (Hrsg.), Karl Lamprecht (1856–1915). Durchbruch in der Geschichtswissenschaft, Leipzig 2015, insbesondere Abschnitt III. 82 Vgl. Schenk, Nachwort (wie Anm. 59) S. 177–178. 83 Eckert (wie Anm. 44) S. 129. Vgl. hierzu auch Schenk, Nachwort (wie Anm. 59) S. 182–183. 84 Vgl. Stefan Breuer, Die radikale Rechte in Deutschland 1871–1945. Eine politische Ideengeschichte (Reclams Universal-Bibliothek 18776), Stuttgart 2010, S. 178–185.
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zusammenhänge. Gerade unter höheren Beamten wurde es Mode, ihren Tätigkeitsbereich mittels Körpermetaphern und Worten aus dem semantischen Bereich von Leben und Vitalität zu beschreiben. Dies stand in Zusammenhang mit Diskursen zur Regeneration von Staat und Nation. Zugleich verwies dieser Wortgebrauch aber auch darauf, dass diese Entitäten fragil und bedroht seien und Schonung verdienten, für welche nicht zuletzt die Beamten selbst zuständig wären.85 Mario Wimmer sieht die Sprache der Archivare während der Zwischenkriegszeit durch eine „enge Verschränkung technischer Rationalität mit vitalistischem Geschichtsdenken“ charakterisiert und spricht von der „kalten Sprache des Lebendigen“.86 Der „organisch erwachsene Archivkörper“ ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Was sich hingegen nicht feststellen lässt, ist ein direkter Einfluss nationalsozialistischen Gedankenguts auf das organische Provenienzprinzip. Dietmar Schenk fordert in seinem Aufsatz zur Archivwissenschaft im Nationalsozialismus zu überprüfen, inwiefern die am IfA praktizierte Archivistik durch die NS-Zeit beeinflusst wurde.87 Zweifellos ist die Rede vom „organischen Wachstum“ mit all seinen Implikationen eher in einem konservativen Diskurszusammenhang zu verorten. Aber die hier betrachteten Konzepte entstanden zeitlich eindeutig vor der Machtergreifung der NSDAP und entwickelten sich in den Jahren 1933 bis 1945 nicht maßgeblich weiter. Sie stehen, wie eben skizziert, in Kontinuität zu Ideen des 19. Jahrhunderts und der 1920er Jahre. 88 Allerdings wurde während des Zweiten Weltkrieges das Provenienzprinzip zeitweilig in Zweifel gezogen: Bekanntlich waren deutsche Archivare in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten für den Schutz von Archivalien eingesetzt, was vor allem in Osteuropa nicht selten in Archivalienraub mündete.89 In diesem Kontext wurde – insbesondere mit Blick auf Moritz Föllmer, Der „kranke Volkskörper“. Industrielle, hohe Beamte und der Diskurs der nationalen Regeneration in der Weimarer Republik. In: Geschichte und Gesellschaft 27 (2000) S. 41–67, insbesondere S. 48–49. 86 Wimmer (wie Anm. 50) S. 46, 48. 87 Vgl. Schenk (wie Anm. 15) S. 404. 88 Dass die Jahre 1933 und 1945 für die Archivwissenschaft keinen wesentlichen Bruch markierten, betont die jüngst erschienene Dissertationsschrift von Tobias Winter, Die deutsche Archivwissenschaft und das „Dritte Reich“. Disziplingeschichtliche Betrachtungen von den 1920ern bis in die 1950er Jahre (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Forschungen 17), Berlin 2018. 89 Vgl. insbesondere: Stefan Lehr, Ein fast vergessener „Osteinsatz“. Deutsche Archivare im Generalgouvernement und im Reichskommissariat Ukraine (Schriften des Bundesarchivs 68), Düsseldorf 2007. 85
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Frankreich – innerhalb der preußischen Archivverwaltung eine Grundsatzdebatte geführt, ob weiterhin das Provenienzprinzip zu achten sei oder ob man nicht aus politischen Gründen zeitweilig zum Pertinenzprinzip zurückkehren müsse. Dahinter stand die Frage, ob auch Archivalien ins Reich zu überführen seien, die zwar nicht von dort stammten (Provenienz), sich aber inhaltlich auf Deutschland bezogen (Pertinenz). Ironischerweise machte sich vor allem Georg Winter für die Berücksichtigung der Pertinenz stark, obwohl er in den Jahrzehnten zuvor vehement das Registraturprinzip propagiert hatte. Die Debatte berührte im Kern die Frage, ob fachliche oder politische Erwägungen für die Archivare in den besetzten Gebieten ausschlaggebend sein sollten.90 Sie wurde nicht öffentlich geführt und hatte keine direkten Auswirkungen auf den Fachdiskurs nach 1945. 4 . Re z e p t i o n u n d Wi r k u n g d e s Pr ov e n i e n z p r i n z i p s p re u ß i s c h e r Pr ä g u n g Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es weder personell noch inhaltlich zu einem radikalen Bruch innerhalb des deutschen Archivwesens. Die preußische Archivverwaltung und die preußische Archivistik nahmen einen paradigmatischen Rang ein und blieben unangefochtener Bezugspunkt für verschiedene Projekte zur Gründung einer archivarischen Ausbildungsstätte.91 Das Provenienzprinzip preußischer Prägung, wie das organizistisch aufgeladene Registraturprinzip und das „freie Provenienzprinzip“ Brennekes hier übergreifend genannt werden sollen, wurde zunächst nicht in Frage gestellt. In einer nun einsetzenden Debatte um die Wissenschaftlichkeit der Archivistik, wurde es sogar zum Kern der Archivwissenschaft erklärt und somit in seiner Bedeutung noch einmal gestärkt.92 Allerdings
Hierzu ausführlich: Winter (wie Anm. 88) S. 310–316. Letztlich einigte man sich auf einen von Georg Schnath eingebrachten Kompromiss („Pariser-Formel“). 91 Vgl. Philip Haas – Martin Schürrer, Was von Preußen blieb. Das Ringen um die Ausbildung und Organisation des archivarischen Berufsstandes nach 1945 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 183), Darmstadt-Marburg 2020. 92 Das gilt auch hier nur in Hinblick auf eine Art vorherrschenden Trend. Freilich gab es innerhalb des Berufsstandes auch eine Strömung, welche die Wissenschaftlichkeit der Archivistik grundsätzlich in Zweifel zog. So etwa: Georg Wilhelm Sante, Die Archive zwischen Verwaltung und Wissenschaft. In: Der Archivar 7 (1954) Sp. 1–12, hier Sp. 1: „Wir müssen uns selbst der Ketzerei bezichtigen, daß wir an eine Archivwissenschaft, die diesen Namen ohne Einschränkung verdiente, nicht recht glauben können. Wir glauben eher daran, daß sie sich […] als eine immer wieder geläuterte Erfahrung darstellt. Die Archive 90
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distanzierten sich die Akteure teilweise von der bislang so dominanten organischen Semantik. So vertrat etwa Wolfgang Leesch die Auffassung, die „eigenständige Methode der Archivwissenschaft erwächst aus […] der Erkenntnis, daß jedes Archiv eine gewachsene Individualität, einen gegliederten Organismus darstellt, dessen Teile untereinander und mit dem Ganzen durch enge Wechselbeziehungen verflochten sind.“ Das Provenienzprinzip preußischer Prägung sei aber nicht nur ein Gebot der Wissenschaftlichkeit, sondern es müsse durch ein Archivgesetz unter staatlichen Schutz gestellt werden. Museen und Bibliotheken könnten niemals als Organismen aufgefasst werden „und es muß daher als recht zweifelhaft angesehen werden, wenn Bibliothekslehre oder Museumskunde den Anspruch erheben wollen, echte Wissenschaften zu sein“.93 Demgegenüber räumte er aber ein, dass die organizistische Metaphorik Brennekes – denn als Metapher sei der „Archivkörper“ zu verstehen – zu zahlreichen Missverständnissen geführt habe.94 Gerhart Enders teilte Leeschs Einschätzung, dass das Provenienzprinzip „das Zentralproblem der Archivtheorie, in gewissem Grade der Archivwissenschaft überhaupt“ sei, aber „man sollte nicht mit biologischen Begriffen gesellschaftliche Gegebenheiten bezeichnen“. Dabei mache es keinen Unterschied, ob man solche Termini philosophisch verwende, wie Brenneke, die Gefahr falsche Assoziationen zu wecken, sei zu groß.95 Meisner, der nach 1945 zur Zentralgestalt des ostdeutschen Archivwesens aufrückte, mied in der dritten Auflage seiner Aktenkunde aus dem Jahre 1969 den Begriff „Archivkörper“, ansonsten blieben die Begrifflichkeiten aber nahezu identisch. Inhaltlich maß er dem organischen Wachstum sogar noch weit größere Bedeutung bei: Ihm war nun der erste Abschnitt des Werkes zu „Grundlagen und Definitionen“ im Wesentlichen
sind zu eng mit der Geschichte verbunden […], als daß sie ihre Grundsätze anders als aus der geschichtlichen Erfahrung schöpfen könnten.“ 93 Leesch (wie Anm. 78) S. 15–17, für die Forderung nach einem Archivgesetz vgl. S. 21. 94 Brenneke – Leesch (wie Anm. 61) S. 21, Anm. 17. Andere Archivare schreckten nicht vor der Verwendung organischer Begriffe zurück, vgl. beispielsweise die Bestimmung des Archivs als eines „notwendigen Teils des staatlichen und gesellschaftlichen Organismus“ bei: Fritz Zimmermann, Was ist ein Archiv? Zur Definition des Archivbegriffs. In: Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern 7 (1961), Heft 1/2, S. 1–9, hier S. 8. 95 Gerhart Enders, Probleme des Provenienzprinzips. In: Staatliche Archivverwaltung im Staatssekretariat für Innere Angelegenheiten (Hrsg.), Archivar und Historiker. Studien zur Archiv- und Geschichtswissenschaft. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Otto Meisner (Schriftenreihe der staatlichen Archivverwaltung 7), Berlin 1956, S. 27–44, hier S. 27, 42.
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gewidmet, so dass die eigentliche Untersuchung nun auch sichtbar auf diesem Konzept basierte.96 Unmittelbar nach dem Krieg setzte in der deutschen Geschichtswissenschaft ein Prozess der Selbstreflektion ein. Auch betont konservative Historiker sprachen sich nach dem Zweiten Weltkrieg für eine Abkehr vom Historismus und den mit ihm verbundenen Konzepten und Begriffen aus.97 So forderte etwa Gerhard Ritter (1888–1967) auf dem Historikertag im Jahre 1949 eine Abkehr der Geschichtsforschung von der „Staatsfreudigkeit“, wie sie für diese wissenschaftliche Disziplin bislang kennzeichnend gewesen sei und verwies darauf, dass auch die bislang so positiv konnotierte Rede vom „organischen Wachstum“ ausgedient habe.98 Diese Forderung wurde in den nächsten Jahrzehnten von Vertretern einer jüngeren Historikergeneration wiederholt.99 Es verwundert daher nicht, wenn auch Archivare zunehmend vorsichtiger mit organischen Begriffen und Metaphern umgingen. Ein inhaltliches Umdenken war mit diesen sprachlichen Kautelen nicht verbunden. Johannes Papritz (1898–1992), ab 1949 Dozent an der Archivschule Marburg, von 1954–1963 deren Leiter,100 beschritt in gewisser Weise den umgekehrten Weg. Während sich – wie er selbst ausführt – nicht nur in Heinrich Otto Meisner, Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918, Leipzig 1969, S. 21–24. Der Dualismus von organisch erwachsenem Archivgut und Sammlungsgut prägt die gesamte Untersuchung. Vgl. etwa: „Zweiter Abschnitt (§§ 2–5): Die archivische Dokumentation im staatlichen Bereich“ und „Vierter Abschnitt (§ 11): Das archivische Sammlungsgut“. 97 Zur „Revisionsliteratur“ in den ersten Jahren nach dem Krieg vgl. Winfried Schulze, Die „deutsche Katastrophe“: Stellungnahmen Meineckes, Ritters und Rassows aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. In: Ders., Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 (Historische Zeitschrift NF 10), München 1989, S. 46–76, unter Nennung zahlreicher Titel verschiedener Autoren auf S. 46–47. 98 Gerhard Ritter, Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft (1949). In: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Über das Studium der Geschichte, München 1990, S. 287–311, hier S. 291–292. 99 Vgl. etwa Christian Meier, Die Wissenschaft des Historikers und die Verantwortung des Zeitgenossen (1968). In: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Über das Studium der Geschichte, München 1990, S. 323–346, hier S. 327. 100 Eine umfassende Biografie zu Papritz gilt als Forschungsdesiderat. Zu Leben und Werk vgl. Fritz Wolff, Archivwissenschaft und Archivpraxis bei Johannes Papritz. In: Angelika Menne-Haritz, Archivische Erschließung – Methodische Fachkompetenz. Beiträge des 3. Archivwissenschaftlichen Kolloquiums der Archivschule Marburg (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Hochschule für Archivwissenschaft 30), Marburg 1999, S. 11–24. – Nils Brübach, Johannes Papritz – eine Archivarsbiographie. In: Ebd. S. 25–38. 96
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Deutschland, sondern etwa auch in den Niederlanden die Archivare zunehmend sprachlich von derartigen Konzepten distanzierten, betonte er ausdrücklich, dass in Hinblick auf das Provenienzprinzip „gegen den Ausdruck organischen Wachstums, den man ungern missen möchte, nichts einzuwenden“ sei. Gleiches gelte für verwandte Begriffe wie etwa den des „Archivkörpers“.101 Obwohl Papritz konsequent dem organizistischen Sprachduktus der Vorkriegszeit verhaftet blieb und viele aus den organizistischen Konzepten abgeleitete Schlussfolgerungen teilte,102 bewertete er das Provenienzprinzip preußischer Prägung weder als Errungenschaft eines historischen Entwicklungsprozesses noch als Kernsatz und Dogma der Archivwissenschaft. Das Provenienzprinzip solle nur zur Anwendung kommen, wenn praktische Gründe dafür sprächen, unter Umständen sei sogar eine Archivierung nach Pertinenzen vorzuziehen.103 Ausschlaggebend sei die vorarchivische Struktur des Schriftguts, seine „Strukturform“ oder sein „Strukturtyp“, worunter Papritz letztlich die Textgattung (Amtsbücher, Sachakten etc.)104 der Unterlagen versteht: Das Strukturprinzip statuiert, daß die Strukturform, in der das Schriftgut organisch zum Schriftgutkörper erwachsen ist, entscheidend für alle archivischen Maßnahmen ist. Bisher war die Einstellung der Archivare derart, daß sie ein bestimmtes archivisches Prinzip zur ausschließlichen Geltung brachten […]. Das Strukturprinzip geht zwar vom Provenienzprinzip aus, aber im Rahmen der Gegebenheiten der verschiedenen Strukturtypen können auch andere, gegenteilige Grundsätze zur Verwendung gelangen oder erforderlich sein.105
101 Internationaler Rat für das Archivwesen (Hrsg.), V. Internationaler Archivkongress. Brüssel 1.–5. September 1964. Neuzeitliche Methoden der archivischen Ordnung. Schriftgut vor 1800. Bericht von Johannes Papritz, Brüssel 1964, S. 13–14. 102 Vgl. insbesondere Johannes Papritz, Archivwissenschaft, Band 3, 2. Aufl., Marburg 1983, S. 104–106; zur Abwertung von Sammlungsgut S. 116–118; zum Provenienzprinzip als Grundlage historischer Quellenkritik S. 125. Fritz Wolff betont allerdings auch den Einfluss phänomenologischer und botanischer Konzepte auf Papritz‘ Denken, vgl. Wolff (wie Anm. 100) S. 17–18. 103 Vgl. Papritz, Archivwissenschaft, Band 1, 2. Aufl., Marburg 1983, S. 16–23. 104 Genauer gesagt versteht Papritz hierunter die Gebilde „erster Kompositionsstufe“, welche in der Behörde aus einzelnen Schriftstücken zusammengesetzt wurden, vgl. insbesondere Papritz, Archivwissenschaft, Band 2, 2. Aufl., Marburg 1983. 105 Papritz, Archivwissenschaft Band 1 (wie Anm. 103) S. 72.
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Johannes Papritz verlagert das „organische Wachstum“ von der Registratur („Archivkörper“) auf die einzelnen Schriftguteinheiten („Schriftgutkörper“). Letztere entstehen oder „wachsen“ zeitlich und sachlich zuerst („erste Kompositionsstufe“) und werden in einem zweiten Schritt zu einer Registratur zusammengefügt („zweite Kompositionsstufe“). Beim Strukturprinzip handelt es sich um die tragende Säule des Papritzschen Systems, von ihr werden alle archivischen Tätigkeiten abgeleitet.106 Begrifflich wie inhaltlich baut das Strukturprinzip auf dem organizistischen Denken auf, das Papritz unmittelbar dem Provenienzprinzip preußischer Prägung entnimmt, welches er aber umgekehrt in seiner Geltung relativiert. Etwa zeitgleich nahm Gerhart Enders eine weitere Ausdifferenzierung des Provenienzprinzips vor. Er unterschied zwischen einem strengen und einem regulierten Registraturprinzip, wobei letzteres geringfügige Eingriffe von Seiten des Archivars erlaubte. Zudem könne man sich auch an dem Aufbau der Verwaltung und deren Aktenplan orientieren (Verwaltungsstrukturprinzip) oder an den von der Behörde erfüllten Funktionen (Funktionsprinzip), um somit Umstrukturierungen der Registraturbildner für das Archiv besser kompensieren zu können. Unter Umständen sei auch eine künstliche Ordnung von Beständen nötig (abstrakt-systematisches Prinzip).107 Unter den Archivaren machte sich im Laufe der 1960er und 1970er Jahre ein Generationenwechsel bemerkbar. Die in den späten 1890er Jahren geborenen preußischen Archivare hatten in ihren Reihen zahlreiche Ostforscher aufzuweisen, wie etwa Johannes Papritz, Rudolph Grieser, Erich Weise oder Kurt Forstreuter. Diese standen Ansätzen der „Volksgeschichte“ offener gegenüber, welche etwa auch auf quantitative Verfahren und Strukturuntersuchungen zurückgriff und damit zu einem wichtigen Ausgangspunkt für die Neue Sozialgeschichte wurde.108 Die in den Vgl. ebd. S. 75. Gerhart Enders, Archivverwaltungslehre, Nachdruck der 3., durchgesehenen Auflage, mit einem bio-bibliographischen Vorwort herausgegeben von Eckart Henning und Gerald Wiemers, Leipzig 2004, S. 109–114. 108 Vgl. Winfried Schulze, Von der „Politischen Volksgeschichte“ zur Neuen Sozialgeschichte. In: Ders., Deutsche Geschichtswissenschaft (wie Anm. 97) S. 281–301. – Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 101), Göttingen 1993. – Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 (Ordnungssysteme 9), München 2001. – Lutz Raphael (Hrsg.), Von der Volksgeschichte zur Strukturgeschichte. Die Anfänge der westdeutschen Sozialgeschichte 106 107
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1920er Jahren geborenen Archivare wurden nicht nur durch diese ältere Generation beeinflusst, sondern auch durch Hochschullehrer wie Theodor Schieder, Werner Conze und Otto Brunner. Diese ehemaligen Vertreter der „Volksgeschichte“ prägten zum einen namhafte Sozialhistoriker wie Hans-Ulrich Wehler, Hans und Wolfgang Mommsen, Reinhard Koselleck zum anderen aber auch bedeutende Archivare wie etwa Hans Booms oder Carl Haase. Diese sozialgeschichtlich sozialisierten Archivare konnten mit dem staatsfixierten Provenienzprinzip preußischer Prägung wenig anfangen. Sie verstanden Staatsarchive als Zentren gesellschaftlicher Dokumentation, forderten eine gezielte Übernahme nichtamtlichen Schriftguts und wollten die wissenschaftliche Seite des Archivs gegenüber dessen Behördendasein stärken.109 Dabei speiste sich ihre Kritik auch aus dem „Kassationsproblem“, das angesichts der überhand nehmenden Aktenmassen als zunehmend dringlicher empfunden wurde.110 So sah etwa Hans Booms (1924–2007), von 1972–1989 Präsident des Bundesarchivs, in der bisherigen Handhabung des Provenienzprinzips eines der Grundübel der Archivwissenschaft. Hieraus sei die „traditionelle Verabsolutierung des Staates“ unter deutschen Archivaren abzuleiten, welche eine breite Überlieferung nichtamtlichen Schriftguts bislang verhindert habe. Vor allem aber sei das Provenienzprinzip ein Hemmschuh gezielter Bewertung: Die Archivare hätten trotz Jahrzehnte währender Fachdiskussion noch keinen objektiven Wertungsmaßstab gefunden, ja nicht einmal ernsthaft nach einem solchen gesucht, da das Denken in „prachtvoll gewachsenen Registraturen“ und „organischen Archivkörpern“ dies verhindert habe. Ihnen sei es stets nur darum gegangen, mittels Kassation „das Wesentliche des Überlieferungs-‚Organismus‘ klarer noch herauszumodellieren“, statt aktiv und gezielt nach archivwürdigem Schriftgut zu suchen.111 1945–1968, Leipzig 2002. – Christoph Nonn, Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert (Schriften des Bundesarchivs 73), Düsseldorf 2013, S. 333–357. 109 Vgl. hierzu: Philip Haas, Sozialgeschichte und Staatsarchive. Traditionsbruch im deutschen Archivwesen angesichts eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmenwechsels. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 67 (2019) S. 335–355. 110 Vgl. Matthias Buchholz, Archivische Überlieferungsbildung im Spiegel von Bewertungsdiskussion und Repräsentativität (Landschaftsverband Rheinland. Archiv- und Museumsamt: Archivhefte 35), 2. Aufl., Köln 2011. 111 Hans Booms, Gesellschaftsordnung und Überlieferungsbildung. Zur Problematik archivarischer Quellenbewertung. In: Archivalische Zeitschrift 68 (1972) S. 3–40, hier S. 20 und 25 unter Verweis auf Stellen bei Adolf Brenneke und Hermann Meinert.
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Unter Archivaren herrschte in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich die Ansicht vor, „jeder Archivkörper trägt das Maß der zulässigen und notwendigen Kassation ins sich“, weshalb sich das Ausmaß der Kassation nicht nach der zur Verfügung stehenden Lagerungskapazität richten dürfe.112 Booms wollte die Bewertungskriterien nicht mehr von der Beschaffenheit des „Archivkörpers“ ableiten, sondern einen Bewertungsmaßstab in Form von zeitgenössischen Leitwerten aus der Analyse des jeweiligen historischen Gesellschaftsprozesses gewinnen. Dies stieß bei seinen Kollegen nicht auf Zustimmung, seine Abhandlung wurde kritisiert oder ignoriert.113 Angesichts der Integrität des „Archivkörpers“ als zentralem Bewertungskriterium musste auch die Forderung Carl Haases (1920–1990), des Direktors der Niedersächsischen Staatsarchive, nach scharfer Kassation und einer Kassationsquote, welche er bei etwa 90 % Kassanda festlegte, als Provokation erscheinen.114 Eine derartige Reduktion des Registraturguts auf zehn Prozent Archivgut drohte den „Archivkörper“ zu einem Rumpf zu verstümmeln, der einen organischen Zusammenhang von Teilen und Ganzem nicht mehr gewährleistete.115 Ähnlich wie Booms hielt der Direktor der Niedersächsischen Staatsarchive der zeitgenössischen Archivwissenschaft und der vorherrschenden Bewertungspraxis entgegen, Überlieferungsbildung müsse sich vor allem an inhaltlichen Maßstäben orientieren. Haase dachte dabei an einen „Problemkatalog“ zur Dokumentation von
112 Leesch (wie Anm. 78) S. 25. Vgl. etwa auch Johannes Papritz, Zum Massenproblem der Archive. In: Der Archivar 17 (1964) Sp. 213–220, hier S. 219–220. 113 Vgl. Gerhard Granier, Die archivarische Bewertung von Dokumentationsgut – eine ungelöste Aufgabe. In: Der Archivar 27 (1974) Sp. 231–240. 114 Vgl. Carl Haase, Kostenfaktoren bei der Entstehung behördlichen Schriftgutes sowie bei seiner archivischen Bearbeitung und Aufbewahrung. In: Der Archivar 25 (1972) Sp. 49–57. – Ders., Kassation – eine Überlebensfrage für die Archive. In: Der Archivar 26 (1973) Sp. 395–400. – Ders., Studien zum Kassationsproblem [erster Teil]. In: Der Archivar 28 (1975) Sp. 405–418, hier Sp. 405–406. 115 Bereits im Jahre 1957 machte sich Georg Wilhelm Sante hinsichtlich der Überlieferungsbildung für „den Grundsatz der Auslese“ stark. Die schon länger etablierten Vorbehalte der Opponenten fasste er wie folgt zusammen: „Es ist leicht, im Besitz des Provenienzprinzips, dieses Verfahren ob der Zerstörung zu kritisieren, die es in den Registraturen anrichtete – es war in der Tat fähig, alle organischen Zusammenhänge aufzulösen und eine Sammlung eigens ausgewählter Archivalien zu begründen.“ (Georg Wilhelm Sante, Archive und Verwaltung – historische Provenienz und Probleme der Gegenwart. In: Der Archivar 10 (1957) Sp. 7–16, hier Sp. 8, Hervorhebung im Text).
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Schlüsselthemen des jeweiligen Archivsprengels, der an ein Dokumentationsprofil erinnert.116 Kritik erhob sich auch von Seiten der DDR-Archivwissenschaft, die sich intensiv mit dem Provenienzprinzip auseinandersetzte, wie es in der Bundesrepublik praktiziert wurde. Das Fondsprinzip erhielt durchaus Anerkennung und galt als passendes Prinzip für das Archivwesen eines sozialistischen Staates. So war insbesondere der Einführung der Ordnungs- und Verzeichnungsgrundsätze der DDR (OVG) in den 1950er und 1960er Jahren eine lange, intensive Fachdiskussion vorausgegangen, welche das Provenienzprinzip miteinbezog. Analog zur Debatte in der BRD nahm auch hier die Absicht, „wissenschaftlich begründete […] Arbeitsverfahren“ zu finden und die künftige „Anwendung archivwissenschaftlicher Grundsätze“ zu gewährleisten, einen zentralen Stellenwert ein.117 Dem Provenienzprinzip und der Art seiner Anwendung wurden abermals Schlüsselpositionen für die Wissenschaftlichkeit der Archivistik zugemessen. Dabei setzte sich die Ansicht durch, dieses Prinzip dürfe lediglich bei der Bestandsbildung und -abgrenzung Anwendung finden, während das Registraturprinzip auf Ablehnung stieß.118 In dem Bestreben, das Provenienzprinzip unter Rückgriff auf biologische Begrifflichkeiten „auf die innere Ordnung eines Bestandes auszudehnen“, erblickte man in der Folge – wohl in Analogie zum Fetischcharakter der Ware nach Karl Marx – einen „Registraturfetischismus“. Hierin liege „letztlich das Gemeinsame der bürgerlichen Ordnungslehre“.119 In den 1990er Jahren wurde von Seiten der Marburger Archivwissenschaft unter Leitung von Angelika Menne-Haritz eine Rückbesinnung auf Carl Haase, Studien zum Kassationsproblem [dritter Teil]. In: Der Archivar 29 (1976) Sp. 183–196, hier Sp. 190–192. 117 Staatliche Archivverwaltung im Ministerium des Innern der Deutschen Demokratischen Republik (Hrsg.), Ordnungs- und Verzeichnungsgrundsätze für die staatlichen Archive der Deutschen Demokratischen Republik, Potsdam 1964, S. 13, 19. 118 Ebd. S. 19. Allerdings soll „die vorgefundene Registraturordnung“ die „Grundlage für den Aufbau des Bestandes“ darstellen, sie wird idealerweise „in der überlieferten Form übernommen“ (S. 34). Ist dies nicht möglich, so soll das Verwaltungsstrukturprinzip zur Anwendung kommen, wenn auch dies nicht machbar ist, das Funktionsprinzip (S. 36–37). Vgl. hierzu: Ilka Hebig, Zur Entstehungsgeschichte der Ordnungs- und Verzeichnungsgrundsätze der DDR (OVG). In: Angelika Menne-Haritz, Archivische Erschließung – Methodische Fachkompetenz. Beiträge des 3. Archivwissenschaftlichen Kolloquiums der Archivschule Marburg (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Hochschule für Archivwissenschaft 30), Marburg 1999, S. 181–196, hier S. 188. 119 Lötzke – Unger (wie Anm. 31) S. 54. 116
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das Verwaltungsdasein und die frühere etatistische Ausrichtung der Staatsarchive gefordert.120 Dies stand in Zusammenhang mit einer Neuauflage der Bewertungsdiskussion, die nun um die Dichotomie evidenzbasierter und inhaltlicher Wert kreiste, und einer Debatte um das Berufsbild des Archivars.121 Dabei griff Menne-Haritz, wie ihr ihre Kritiker vorwarfen, „auf Brennekes Organismus-Begriff zurück, um einer autonomen Archivwissenschaft die nötigen Weihen zu geben“,122 erklärte das organische Provenienzprinzip zur Grundlage der Archivwissenschaft und Voraussetzung der Quellenkritik. Tatsächlich sieht Menne-Haritz auch in ihrem jüngsten Beitrag zu diesem Thema im „Begriff des organischen Wachstums“ den „erste[n] Versuch einer wissenschaftlich tiefer gehenden Begründung der Archivwissenschaft“. Innerhalb der anglo-amerikanischen Archivwissenschaft werde selbstverständlich von „organic groth“ und „archival body“ gesprochen, hieran könne man sich ein Beispiel nehmen.123 Umgekehrt sind die Ansichten von Menne-Haritz zugleich innerhalb eines internationalen Kontexts zu verorten: In den 1990er Jahren kam es zu einer „rediscovery of provenance by archivists in various countries“. Auch hier wurde darauf verwiesen, dass der Kern der Archivwissenschaft im organischen Provenienzprinzip liege und Quellenkritik ohne dieses nicht möglich sei.124 120 Vgl. bereits in Ansätzen: Angelika Menne-Haritz, 40 Jahre Archivschule Marburg. Perspektiven der Archivarsausbildung. In: Der Archivar 42 (1989) Sp. 165–176; deutlicher dann in: Angelika Menne-Haritz, Umrisse einer zukünftigen Archivwissenschaft. In: 50 Jahre Verein deutscher Archivare. Bilanz und Perspektiven des Archivwesens in Deutschland. Referate des 67. Deutschen Archivtags 1996 in Darmstadt und des Internationalen Kolloquiums zum Thema: Die Rolle der archivarischen Fachverbände in der Entwicklung des Berufsstandes, 17.–20. September 1996 in Darmstadt. Redaktion: Diether Degreif (Der Archivar, Beiband 2), Siegburg 1998, S. 177–185, insbesondere S. 183–185. Als hiervon beeinflusst gilt auch: Angelika Menne-Haritz, Schlüsselbegriffe der Archivterminologie. Lehrmaterialien für das Fach Archivwissenschaft (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Hochschule für Archivwissenschaft 20), Marburg 1992. 121 Vgl. bilanzierend: Robert Kretzschmar, Die „neue archivische Bewertungsdiskussion“ und ihre Fußnoten. Zur Standortbestimmung einer fast zehnjährigen Kontroverse. In: Archivalische Zeitschrift 82 (1999) S. 7–40. 122 Volker Schockenhoff, Nur „zölibatäre Vereinsamung?“ – Zur Situation der Archivwissenschaft in der Bundesrepublik 1946–1996. In: Degreif (wie Anm. 120) S. 163–175, hier S. 169. 123 Menne-Haritz (wie Anm. 14), direktes Zitat auf S. 626, zur anglo-amerikanischen Archivwissenschaft vgl. S. 636. 124 Tom Nesmith, Archival Studies in English-speaking Canada and the North American Rediscovery of Provenance. In: Ders. (wie Anm. 14) S. 1–28, direktes Zitat auf S. 1. Vgl. neben der in Anmerkung 14 genannten Forschungsliteratur aus den 1990er Jahren insbesondere: Peter Horsman, Taming the Elephant. An Orthodox Approach to the Principle
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Bodo Uhl, der ähnliche Standpunkte wie Menne-Haritz vertrat, warf Archivaren vor, sie seien auf einer ahistorischen und unwissenschaftlichen Stufe des Denkens stehengeblieben, wenn sie das Provenienzprinzip aus arbeitspraktischen Erwägungen anwendeten. Dies sei etwa bei Johannes Papritz der Fall gewesen, treffe aber auch gegenwärtig auf viele Kollegen zu.125 Eine historische Kontextualisierung und kritische Aufarbeitung der Verbindung von „organischem Wachstum“ und Provenienzprinzip fand im Rahmen dieser polemisch geführten Kontroverse nicht statt. Sie steht bis heute aus, ja es existieren sogar eher Überlegungen, diesen Denkfiguren zu neuem Ansehen zu verhelfen. So vertrat vor kurzem Gerhard Leidel die Ansicht, die Ordnung innerhalb der Provenienzstelle müsse „eigentlich das Orientierungszentrum für die wissenschaftliche Betrachtung des Archivwesens sein“. Die Rede vom „organischen Wachstum“ werde lediglich metaphorisch gebraucht, sei zu unpräzise und letztlich eine „tote Metapher“. Man müsse den Begriff wiederbeleben und eine „Systematik der organischen Kommunikation“ entwickeln, worum Leidel sich unter Rückgriff auf Gedanken des Biologen Ludwig von Bertalanffy bemüht.126 Leidel hat Recht, wenn er die mangelnde Präzision im Umgang mit diesen Begriffen kritisiert. Ob aber eine Erneuerung dieser Konzepte sinnvoll ist, die dem Denken des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuzuordnen und nur aus diesem zu erklären sind, scheint fraglich. 5 . He u t i g e Tr a g f ä h i g k e i t – Pr o b l e m e u n d Pe r s p e k t i v e n Bis heute gilt das Provenienzprinzip als „Fundament der Archivistik“127 und als Kern der Archivwissenschaft.128 Allerdings bleibt meist offen, was of Provenance. In: Kerstin Abukhanfusa u.a. (Hrsg.), The Principle of the Provenance. Report from the First Stockholm Conference on Archival Theory and the Principle of Provenance, 2–3 September 1993 (Skrifter utgivna av Svenska Riksarkivet 10), Stockholm 1994, S. 51–63, hier S. 51 und 56–57. 125 Vgl. Uhl (wie Anm. 14) S. 103. Uhls scharfe Kritik dürfte auch durch seine Erfahrungen mit den seit Jahrzehnten währenden Bestandsbereinigungen in den Staatlichen Archiven Bayerns geprägt sein. 126 Gerhard Leidel, Über Prinzipien der Herkunft und des Zusammenhangs von Archivgut. In: Archivalische Zeitschrift 86 (2004) S. 91–130, direktes Zitat auf S. 91–92. 127 Schenk (wie Anm. 8) S. 76. 128 Vgl. etwa Rumschöttel (wie Anm. 23) S. 19.
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konkret darunter zu verstehen und wie es anzuwenden ist,129 womöglich auch deshalb, weil die Ordnungslehre – zumindest in Marburg – kaum noch Gegenstand der archivarischen Ausbildung ist und nicht mehr denselben Stellenwert einnimmt, wie dies in früheren Archivarsgenerationen der Fall war.130 Häufig scheint eine Art Basisdefinition gemeint zu sein, die sich in etwa mit dem Fondsprinzip deckt und vor allem auf die Anwendung des Provenienzprinzips bei der Bildung und Abgrenzung der Bestände zielt.131 Dennoch wirken darüber hinausreichende Implikationen, wie sie eben dargelegt wurden, latent auf die Archivwissenschaft und damit indirekt auch auf die Arbeit in den Archiven ein. Im Folgenden sollen einige Beispiele hierfür genannt und gegebenenfalls problematisiert werden. Heutige Übernahmequoten liegen bekanntlich weit niedriger als die von Carl Haase angesetzten zehn Prozent. Von einem integren „Archivkörper“, der das „Wachstum“ einer gesamten Registratur enthält, kann zumeist keine Rede mehr sein. Doch selbst bei höheren Übernahmequoten wäre fraglich, ob überhaupt die materiellen Voraussetzungen hierfür gegeben wären. Bereits Winter und Brenneke verwiesen auf die oftmals mangelhafte Schriftgutverwaltung und Aktenführung von Behörden, die keine Übernahme nach dem Registraturprinzip erlaubten, sondern Eingriffe des Vgl. insbesondere Duchein (wie Anm. 13) S. 64–81. – Sweeney (wie Anm. 14) S. 193–194. 130 Vgl. etwa für die Archivschule Marburg das Modulhandbuch für das Referendariat im höheren Archivdienst aus dem Jahre 2013: https://www.archivschule.de/DE/ausbildung/ hoeherer-dienst/ (Stand: 5.7.2018, zuletzt aufgerufen Januar 2022). Dort wird die Ordnungslehre im Rahmen der theoretischen Ausbildung nicht erwähnt. Allerdings wird sie im Rahmen des Erschließungsunterrichts de facto mitbehandelt. 131 So beispielsweise Brigitta Nimz, Archivische Erschließung. In: Norbert Reimann u.a. (Hrsg.), Praktische Archivkunde. Ein Leitfaden für Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste, Fachrichtung Archiv, 3. aktualisierte Aufl., Münster 2013, S. 105–141, hier S. 115–116. – So stellt sich in der archivischen Praxis etwa oftmals die Frage, was als provenienzmäßiger Bezugspunkt anzusetzen ist. Sollten etwa Adelsbestände aufgeteilt werden, wenn eines der betreffenden Güter in einem anderen Territorium lag und dort Schriftgut produziert wurde ? – Wohl eher nicht. Aber ab wann ist die Grenze zu einem eigenständigen Registraturbildner überschritten? Dem Verfasser stellten sich diese Fragen beispielweise bei der Erschließung der Urkunden der Deutschordensballei Sachsen (NLA WO 30 Urk), die mitunter in den einzelnen Kommenden entstanden waren, welche ihrerseits teilweise im Sprengel anderer Archive lagen. Hier wurde für eine übergeordnete Ansetzung des Provenienzprinzips und die Integrität des Gesamtbestandes plädiert (vgl. den Vermerk: NLA WO 30 C Urk Nr. 18–23. Ihre Zugehörigkeit zur Deutschordensballei Sachsen oder zu einem separaten Archiv des Spitals zum Heiligen Geist in Aken, in der Dienstakte NLA WO 56321 – 30 C Urk). 129
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Archivars erforderten. Die Kanzleigeschichte des 20. Jahrhunderts ist geprägt durch eine Entformalisierung des Geschäftsganges, Fragmentierung des Verwaltungswissens und Entkörperlichung oder Hybridisierung von Unterlagen. Der Geschäftsgang hinterlässt „schwächere und flüchtigere Spuren“ und nicht alle vorgangsrelevanten Unterlagen werden aktenkundig.132 Mehr noch: Seit Auflösung der Zentralregistratur im Zuge der Büroreform der 1920er und 1930er Jahre133 stellt sich die Frage, was das Wort „Registratur“ überhaupt bedeuten soll. Letztlich kann damit nur die Summe der in den Behörden real vorgefundenen Ablagen gemeint sein, die sich bestenfalls sinnbildlich zu einer „Registratur“ zusammensetzen. Dennoch herrscht nicht nur in älteren,134 sondern auch in aktuellen Werken zur Quellenkunde von archivarischer Hand die Ansicht vor, bei Archivalien handle es sich im Sinne Johann Gustav Droysens und Ernst Bernheims um „Überreste“ und nicht um „Traditionen“.135 Auch Robert Kretzschmar vertritt die Ansicht, „Archivgut fällt in die Kategorie der Überreste“, da es innerhalb der Behörde „prozessgeneriert“ worden sei. Anschließend räumt er aber ein, es handle sich zugleich „um das Ergebnis von Auswahlprozessen“, und zwar sowohl innerhalb der Behörde als auch von Seiten des Archivs. Dieses „Moment der Tradition“ verlange, von
132 Holger Berwinkel, Zur Kanzleigeschichte des 20. Jahrhunderts – ein Versuch. In: Holger Berwinkel – Robert Kretzschmar – Karsten Uhde (Hrsg.), Moderne Aktenkunde (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Hochschule für Archivwissenschaft 64), Marburg 2016, S. 29–50, hier S. 30 und 48. – In diesem Sinne ist auch die strikte Trennung von Nils Brübach zwischen „Akten“, die aus dem Entstehungszusammenhang erwachsen, und „Records“, die selektiv gesammelt werden, in dieser Schärfe fraglich geworden, vgl. Nils Brübach, Records oder Akten – Internationale Normung für die Schriftgutverwaltung. In: Andreas Metzing (Hrsg.), Digitale Archive – Ein neues Paradigma? Beiträge des 4. Archivwissenschaftlichen Kolloquiums der Archivschule Marburg (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Hochschule für Archivwissenschaft 31), Marburg 2000, S. 221–237, hier S. 228–229. 133 Vgl. Hans-Jürgen Höötmann, Schriftgutverwaltung und Überlieferungsbildung. In: Norbert Reimann u.a. (Hrsg.), Praktische Archivkunde. Ein Leitfaden für Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste, Fachrichtung Archiv, 3. aktualisierte Aufl., Münster 2013, S. 55–83, hier S. 60–64. 134 Vgl. Ahasver von Brandt, Werkzeug des Historikers. 18. Aufl., Stuttgart 2012, S. 54– 55 sowie S. 113–114 zum Provenienzprinzip. 135 Vgl. Eckart Henning, Einleitung. In: Friedrich Beck – Ders. (Hrsg.), Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften. 5. Aufl., Köln-Weimar-Wien 2012, S. 13–21, hier S. 13.
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„absichtlich erhaltenen Überresten“ als einer „dritten Kategorie zwischen Überrest und Tradition“ zu sprechen.136 Während die Geschichtswissenschaft schon seit Jahren nicht mehr mit der Dichotomie „Überrest“ und „Tradition“ operiert, da der Charakter der Quelle von der Fragestellung des Forschenden abhängt, wurde das Begriffspaar jüngst auch von Seiten der Archivwissenschaft problematisiert und als untauglich zur Beschreibung der Überlieferungsbildung erklärt.137 Zwar erfüllen Archivalien für Nutzerinnen und Nutzer zumeist einen Sekundärzweck, der sich von dem Primärzweck unterscheidet, den sie innerhalb der Behörde erfüllt haben.138 Das ändert aber nichts daran, dass die Archivarin oder der Archivar in beiden Fällen die Auswahl trifft und Unterlagen damit gezielt tradiert. Im Falle elektronischer Unterlagen, wie etwa bei Fachverfahren, ist oftmals nicht nur eine solche Auswahl zu treffen, sondern das Archivale muss überhaupt erst gebildet werden.139 Umgekehrt sind die aufgrund einer Bewertungsentscheidung archivierten Unterlagen aber nur „ein Angebot an die Historiker“, eine „Auswertungsoffenheit“ bleibt bestehen, so dass sich der Charakter der Quellen letztlich aus dem Zusammenspiel von Archivar und Historiker, von Bewertung und Auswertung ergibt.140 Fest steht aber: Archivarinnen und Archivare sind in diesen Prozess eingebunden und können sich nicht aus der Überlieferungsbildung herausnehmen und Bestände ohne ihr Zutun „wachsen“ lassen, wie frühere Generationen dies postulierten. Sie selbst wählen aus, womöglich auch nach inhaltlichen Kriterien, schaffen damit potenzielle Quellen historischer Forschung und sind als zentrale Akteure in die Überlieferungsbildung involviert. Da Nutzerinnen und Nutzer meist am Sekundärzweck von Unterlagen interessiert sind, ist es häufig nicht das Behördenhandeln, welches sie 136 Robert Kretzschmar, Absichtlich erhaltene Überreste. Überlegungen zur quellenkundlichen Analyse von Archivgut. In: Archivar 67 (2014) S. 265–269, hier S. 265–266. 137 Vgl. Irmgard C. Becker, Zum Charakter archivalischer Quellen und dessen Bedeutung für die Überlieferungsbildung. In: Gerald Maier – Clemens Rehm (Hrsg.), Archive heute – Vergangenheit für die Zukunft. Archivgut – Kulturerbe – Wissenschaft. Zum 65. Geburtstag von Robert Kretzschmar (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung BadenWürttemberg, A, 26), Stuttgart 2018, S. 25–34. 138 Vgl. hierzu insbesondere Theodor Schellenberg, Modern Archives: Principles and Techniques, Melbourne-Chicago 1956. 139 Vgl. Frank M. Bischoff, Bewertung elektronischer Unterlagen und die Auswirkungen archivarischer Eingriffe auf die Typologie zukünftiger Quellen. In: Archivar 67 (2014) S. 40–52, insbesondere S. 48–52. 140 Becker (wie Anm. 137) hier S. 32–33.
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nachvollziehen wollen, sondern ein bestimmter Sachbetreff steht im Vordergrund. Das Provenienzprinzip nutzt dem Archivar, nur bedingt dem Nutzer. Dies spiegelt sich auch in Nutzeranfragen wider, die sich zumeist nach bestimmten Themen erkundigen und nicht etwa nach einzelnen Registraturbildnern. Die Aufgabe der Archivarin oder des Archivars besteht bei der Beantwortung oftmals darin, die angefragte Pertinenz in Provenienzen zu übersetzen, hierin liegt eine ihrer Schlüsselkompetenzen.141 Die Suchfunktion der Archivsoftware erfüllt ebenfalls diese Aufgabe, so wie in der Vergangenheit die Sonderfindbücher oder sachthematische Inventare. Ob Nutzerinnen und Nutzer aus der Provenienz und dem Überlieferungszusammenhang anschließend quellenkritische Schlussfolgerungen ableiten, ist sicherlich individuell verschieden. Zweifellos sind zusammengehörige Schriftstücke und Vorgänge, welche eine Akte bilden, oftmals nicht isoliert zu verstehen, weshalb sie gemeinsam überliefert werden müssen. Demgegenüber ist nicht zwangsläufig eine große Menge Akten desselben Bestands nötig, um Quellenkritik zu üben, und es ist fraglich, ob ein solches Vorgehen der heute gängigen Auswertung entspricht. Angesichts der derzeitigen Situation der historischen Hilfswissenschaften142 dürfte dies selbst unter wissenschaftlichen Nutzerinnen und Nutzern eher die Ausnahme darstellen.143 Auch handelt es sich bei der Aktenkunde, die wie gezeigt eng mit der Ausformung des Provenienzprinzips preußischer Prägung verbunden war, nicht um eine universitäre Disziplin, sondern um eine „Archivarswissenschaft“, weshalb die Archivwelt offensichtlich dazu So schreibt bereits Max Lehmann 1881 in seiner Denkschrift zur Neuordnung des Preußischen Geheimen Staatsarchivs auf Grundlage des Provenienzprinzips: „Ganz gewiß erwächst dem Archivar, welcher seine Bestände nach der Provenienz aufstellt, die Verpflichtung, für gute Indices der einzelnen Abtheilungen und für einen Generalindex des Ganzen (und zwar einen chronologischen wie einen sachlich-alphabetischen) zu sorgen.“ (Jürgen Kloosterhuis, Preußens archivische Revolution. Quellen zur Einführung und Anwendung des Provenienzprinzips im Preußischen Geheimen Staatsarchiv und den Staatsarchiven in den preußischen Provinzen, 1881–1907. In: Ders. (Hrsg.), Archivarbeit für Preußen. Symposion der Preußischen Historischen Kommission und des Geheimen Staatsarchivs Preussischer Kulturbesitz aus Anlass der 400. Wiederkehr der Begründung seiner archivischen Tradition (Veröffentlichungen aus den Archiven Preussischer Kulturbesitz, Arbeitsberichte 2) Berlin 2000, S. 423–440, hier S. 426). 142 Vgl. etwa: Werner Paravicini, Von der Hilfswissenschaft zur Grundwissenschaft. Über Gegenwart und Zukunft des Handwerks der Historiker. In: Archiv für Diplomatik 63 (2017) S. 1–25. 143 Aber bereits in früheren Jahrzehnten mussten überzeugte Befürworter des Registraturprinzips einräumen, dass sich die Geschichtswissenschaft nicht für den Wachstumsprozess des Behördenschriftguts interessiert, vgl. etwa: Duchein (wie Anm. 13) S. 83. 141
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neigt ihren Einfluss auf und ihre Relevanz für Nutzerinnen und Nutzer zu überschätzen. Umgekehrt stellt sich die Frage – welche bereits im Handbuch von 1898 positiv beschieden wurde – ob nicht auch private Einrichtungen oder Personen zielgerichtet und gut strukturiert Schriftgut produzieren können. Dass man dies in Preußen primär (staatlichen) Behörden zugebilligt hat, lässt sich durch die beschriebene Staatsfixierung der Historiker und Archivare erklären. Unter Umständen ist ein Sammlungsbestand sogar homogener und „gewachsener“ als eine stichprobenhaft archivierte amtliche Überlieferung. Zudem sind Archive heute auch „Dienstleister für die Gesamtgesellschaft und verstehen sich als kulturelles Gedächtnis der jeweiligen Gesellschaft“.144 Dies kann die Übernahme nichtamtlichen Schriftguts implizieren, welches nicht nur amtliche Unterlagen ergänzt, also das „Leben“ innerhalb der Behörden erläutert, sondern das politische, kulturelle oder wirtschaftliche Leben innerhalb des Sprengels dokumentiert. Stellt man diese Funktion der Archive mehr in den Vordergrund, so ergeben sich unter Umständen gewisse Schnittmengen mit den geschichts- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen zum Archiv. Um nicht falsch verstanden zu werden: Dass die personellen Mittel und finanziellen Voraussetzungen oftmals nicht gegeben sind, um Unterlagen über das amtliche Archivgut hinaus einzuwerben, ist nicht zu bestreiten. Zudem ergibt sich das Aufgabenprofil seit den 1980/90er Jahren aus dem archivgesetzlichen Auftrag der Archive, in welchen der oben umrissene Denkrahmen in Teilen kodifiziert wurde. Auf den gesetzlichen Auftrag sollte denn aber auch gegebenenfalls verwiesen werden und nicht auf ein nur schwer vermittelbares und stark zeitgebundenes Konzept vom Archiv, wie es sich aus den oben referierten Schriften ergibt. Die Archivistik erhält ihren wissenschaftlichen Charakter nicht dadurch, dass sie einen zentralen Lehrsatz als allgemein akzeptiertes Dogma propagiert. Die Konzentration auf „gewachsene“ Strukturen, das Provenienzprinzip und die Ordnungslehre hat sogar lange Zeit den Blick auf andere Themen verstellt. Wie jede Wissenschaft muss auch die Archivistik auf Grundlage einer nachvollziehbaren Methodik Kausalzusammenhänge erkennen und intersubjektiv nachvollziehbare Erkenntnisse daraus gewin144 Simone Tibelius, Archiv. In: Terminologie der Archivwissenschaft. Archivschule Marburg. Erstellt am 21. September 2015: https://www.archivschule.de/uploads/Forschung/ArchivwissenschaftlicheTerminologie/Terminologie.html (Stand: 6.7.2018, zuletzt aufgerufen Januar 2022).
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nen. Hieraus kann eine Pluralität von zum Teil widerstreitenden Hypothesen entstehen, solange diese begründet und nachvollziehbar bleiben. Dabei sprechen sehr viele Sachgründe für die Anwendung des Provenienzprinzips, und zwar gerade archivwissenschaftliche und nicht geschichtswissenschaftliche, die hier nicht im Einzelnen aufgelistet werden müssen. Als Prinzip der Bestandsbildung (Fondsprinzip) ist die Provenienz nahezu alternativlos, als Registraturprinzip hingegen kaum mehr praktikabel. In der Praxis hat sich ein gangbarer Mittelweg etabliert, indem bei der Bestandsgliederung, in Anlehnung an Enders‘ Funktionsprinzip, die Aufgaben der jeweiligen Organisation zum Ausdruck gebracht werden sollen, unabhängig von etwaigen Umstrukturierungen oder von Änderungen der Arbeitsabläufe innerhalb des Registraturbildners. Die Gliederung der Bestände legt die Archivarin oder der Archivar fest, Gliederungsprinzipien der Organisation, wie sie etwa in Aktenplänen zum Ausdruck kommen, dienen dabei als Hilfsmittel, aber nicht als normative Instanz.145 In gewisser Weise ähnelt dieses Vorgehen dem „freien Provenienzprinzip“ Brennekes, nur dass es nicht um „Leben“ und „Willen“ von Behörden und Staat geht, sondern um das Handeln von Organisationen. Dass ein Landes- oder Staatsarchiv dabei vorrangig staatliches und ein Kommunalarchiv primär kommunales Schriftgut zu archivieren hat, ergibt sich aus seinem gesetzlichen Auftrag und der „Zuständigkeitsbindung“146 an diese Institutionen. Es resultiert nicht aus der höheren Qualität dieses amtlichen Schriftguts. 6 . Z u s a m m e n f a s s u n g u n d Fa z i t In Folge der Ausdifferenzierung des Behördenapparates und des Anschwellens der Schriftgutmassen setzte sich aus arbeitspraktischen Gründen im Laufe des 19. Jahrhunderts das Provenienzprinzip in vielen europäischen Ländern allmählich durch. Wurde es zunächst in Frankreich 1841 in Gestalt des Fondsprinzips festgelegt, so folgte 40 Jahre später in Preußen das Registraturprinzip. Dieses wurde um die Jahrhundertwende Vgl. etwa: Erschließungsrichtlinien für das Niedersächsische Landesarchiv, Abschnitt 2.2 (Stand: 11.9.2015; für den internen Gebrauch bestimmt). – Joachim Wild, Möglichkeiten und Probleme der Strukturierung bei der Wiederherstellung von Altbeständen. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 61 (1998) (= Landesgeschichte und Archive. Bayerns Verwaltung in historischer und archivwissenschaftlicher Forschung) S. 157–164, hier S. 164. 146 Michael Hochedlinger, Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit (Historische Hilfswissenschaften 3), Wien-München 2009, S. 22. 145
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in den Niederlanden theoretisch begründet und mit einer Sprache des Organischen angereichert, die sich letztlich auf die Romantik des frühen 19. Jahrhunderts und zeitgenössische biologische Diskurse zurückführen lässt. Die preußischen Archivare eigneten sich dieses Konzept an und verengten es auf staatliche Behörden. Sie sahen im „preußisch-holländischen Prinzip“ die letzte Entwicklungsstufe des Provenienzprinzips. Diese Behauptung trug nicht nur eine antifranzösische Spitze, sondern Winter verteidigte das Registraturprinzip etwa auch vehement gegen den schwedischen Archivar Weibull. Dessen Vorschlag, das Fondsprinzip mit „organischen“ Sachbetreffen zu kombinieren, zeigt zugleich, dass das zeittypische organizistische Denken der Zwischenkriegszeit nicht auf die preußischen Archivare beschränkt blieb. Das organizistisch aufgeladene Registraturprinzip floss während der 1930er und 1940er Jahre in den Unterricht des IfA ein und erfuhr an diesem Institut zugleich eine neue Kontextualisierung beziehungsweise konzeptionelle Überarbeitung. Während Meisner es seinen Forschungen zur Aktenkunde und Archivterminologie zugrunde legte, brachte Brenneke das „freie Provenienzprinzip“ in die Debatte ein, das auf den „Behördenwillen“ zentriert ist. Angeregt durch Diskurse des Organischen, wie sie zeitgenössisch innerhalb des höheren Beamtentums verbreitet waren, durch den Entwicklungsgedanken des Deutschen Idealismus und den Historismus intensivierten beide Archivwissenschaftler die organizistischen Bezüge des Provenienzprinzips weiter. Der Begriff des „Archivkörpers“ erfuhr eine Umdeutung und konnte nun die organische Integrität eines Bestandes verbürgen und als Lebewesen ausweisen, welches sich seinerseits als Körperzelle in das Archiv als Gesamtorganismus eingliedern konnte. Das Registraturprinzip entwickelte sich während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem zentralen Leitsatz der preußischen Archivistik. Dieses Prinzip wurde nach außen verteidigt und exportiert, etwa in die Niederlande und Österreich, dann aber in modifizierter Variante wieder reimportiert. Das „preußische System“ entstand also nicht in Preußen allein, sondern im Austausch mit und zugleich in Konkurrenz zur französischen, niederländischen, schwedischen und österreichischen Archivistik. Es war zwar Teil einer nationalen oder besser gesagt regionalen Profilierung, hätte aber ohne einen internationalen Austausch und die Überarbeitung außerhalb Preußens in dieser Form gar nicht entwickelt werden können. Der Umgang mit dem Provenienzprinzip preußischer Prägung war nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine gewisse Ambivalenz geprägt. Einer partiellen sprachlichen Abschwächung stand ein gesteigerter inhaltlicher Stel-
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lenwert entgegen. Einerseits geriet die Archivistik in das Fahrwasser der Geschichtswissenschaft, die sich bis zu einem gewissen Grad neu auszurichten begann und Abstand von bestimmten Begrifflichkeiten, etwa auch aus dem Bereich des Organischen, nahm. Viele Archivare verzichteten auf den bisher gepflegten Sprachduktus und Stimmen erhoben sich, die eine konzeptionelle Trennung des Provenienzprinzips vom Organizismus forderten. Andererseits gewann das Provenienzprinzip preußischer Prägung an Gewicht. Die Archivistik war bestrebt, sich zu einer Archivwissenschaft weiterzuentwickeln, das Provenienzprinzip in genanntem Sinne wurde zum Axiom, auf welchem sich diese Wissenschaft gründen ließ. Brennekes Archivkunde erschien nun überhaupt erst im Druck, Meisner machte auch in späteren Auflagen seiner Aktenkunde das „organische Wachstum“ zum Fundament und Papritz, der als Dozent bekanntlich eine ganze Generation von Archivaren prägen sollte, entwickelte es zum Strukturprinzip weiter, das die organizistischen Implikationen beibehielt. Die nun folgende Archivarsgeneration war auf Seiten einiger ihrer Wortführer von der Neuen Sozialgeschichte geprägt. Wie das Beispiel Booms und Haase zeigt, grenzten sich diese radikal vom Provenienzprinzip preußischer Prägung ab und forderten eine Neuausrichtung der Überlieferungsbildung. Inhaltliche Bewertungsmaßstäbe, Bedürfnisse der (Sozial-) Geschichtsforschung und gesellschaftliche Dokumentation sollten die traditionelle Staatsfixierung der Archive überwinden und über der Dokumentation von Behördenhandeln rangieren. In den 1990er Jahren kam es dann zu einer gewissen Rückbesinnung auf den Behördencharakter und die administrative Einbindung der Archive, die sich zu nicht geringem Teil auf das Provenienzprinzip preußischer Prägung stützte. Abermals wurde der wissenschaftliche Charakter der Archivistik hierauf zurückgeführt, darüber hinaus aber auch eine Berufsbilddebatte daran festgemacht. Zu einer historischen Einordnung und kritischen Betrachtung dieses Konzepts kam es in diesem Kontext nicht, vielmehr wurden die Ideengeber als Autoritäten und Kronzeugen der eigenen Bestrebungen angeführt. Vorstellungen vom organischen Charakter des Archivs qua Provenienz sind also in mehreren Schichten gelagert und fließen folglich bis heute aus mehreren Quellen in die Archivwissenschaft ein. Die „Klassiker“ (Meisner, Brenneke, Papritz) bauen ihre Gedankengebäude voll auf das Konzept des organischen Wachstums auf, es ist geradezu der gemeinsame Nenner ihrer Systeme. Ohne sie wäre die deutsche Archivwissenschaft in dieser Form nicht gegeben, sie beeinflussten seit den 1930er Jahren in entscheidendem
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Maße das deutsche Archivwesen und werden mitunter bis heute rezipiert. Auf diesen „Klassikern“ gründeten in besonderem Maße die archivtheoretischen Schriften der Nachkriegsjahrzehnte. Und schließlich kam es an der Archivschule Marburg in den 1990er Jahren zu einer „Renaissance“ dieser Ansätze. Dies schlug sich in Form von Publikationen nieder, vor allem aber floss es – wie zuvor die „Klassiker“ – in die Ausbildung der Archivarinnen und Archivare ein. Die vorliegende Analyse konnte den Untersuchungsgegenstand nicht erschöpfend abhandeln und hat dies auch gar nicht bezweckt. Vielmehr sollte der Beitrag ein bislang brach liegendes Feld der Archivwissenschaft erstmals bearbeiten, zur Diskussion anregen und zugleich weiterführenden Fragestellungen den Weg bahnen. Während sich die Untersuchung auf archivtheoretische Texte und Erlasse begrenzen musste, wäre etwa anhand konkreter Archivbestände zu untersuchen, ob und bis zu welchem Grade in Preußen, den postpreußischen Gebieten und darüber hinaus tatsächlich das Registraturprinzip zur Anwendung kam. Welche Registraturen ließen aufgrund ihrer hohen Qualität eine direkte Umwidmung zu Archivgut überhaupt zu? Wie gingen die Archivare mit der Umgliederung oder Auflösungen von Behörden um? War das preußische System ein Mittel der alltäglichen Arbeit in den Archiven oder ein zum Mythos überhöhtes theoretisches Konstrukt? Wilfried Reininghaus, der im Zuge seiner Biografie Friedrich Philippis (1852–1930) auch die Arbeitsweise in den Staatsarchiven Münster und Osnabrück beleuchtet, zeichnet eine deutlich heterogenere Archivpraxis nach. Demnach wurde bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert zwischen den Archivaren um verschiedene Ordnungsprinzipien gestritten, das Fondsprinzip musste mit der Bildung von Selekten konkurrieren und etablierten Strukturen von Beständen wurde Rechnung getragen.147 Obwohl die Vernetzung mit den Diskursen in anderen Ländern nicht ausgespart wurde, blieb der Fokus der Analyse bewusst auf Preußen haften. Zu prüfen wäre der Stellenwert der hier betrachteten Konzepte in anderen Ländern und Sprachräumen. Wann und weshalb ist beispielsweise im Englischen von organic groth, archival body oder lifecycle of a file die Rede? Sind diese Begrifflichkeiten auf das niederländische Handbuch zu147 Wilfried Reininghaus, Friedrich Philippi. Historiker und Archivar in wilhelminischer Zeit. Eine Biographie (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 15; zugleich: Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen 47), Münster 2014, S. 114–117. Ähnlich auch: Hoffmann (wie Anm. 32).
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rückzuführen oder auf eine Rezeption preußischer Konzepte, etwa über Mittelsmänner wie Theodor Schellenberg und Ernst Maximilian Posner? Darüber hinaus stehen die hier untersuchten Konzepte und ihre starke Ausrichtung auf amtliche Unterlagen in einem gewissen Spannungsverhältnis zu Bemühungen um die Pflege nichtamtlicher Bestände seit dem 19. Jahrhundert. Angesprochen wurden die (zeithistorischen) Sammlungen. Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges gab es von Seiten der preußischen Archivverwaltung aber auch Bestrebungen, mittels eines Archivalienschutzgesetzes eine Aufsicht der Staatsarchive über nichtstaatliche und private Archive zu begründen. Ein solches Gesetz sollte insbesondere den Zugriff des Staates auf die Adelsarchive von Fürstenhäusern sicherstellen, die bis 1918 regiert hatten, zielte also vornehmlich auf ehemals staatliche Bestände.148 Dennoch ist das Verhältnis dieser Bestrebungen zu den hier untersuchten Strömungen der Archivistik erklärungsbedürftig. Wie sind die hier betrachteten Denkfiguren nun zu bewerten? Handelt es sich um unveräußerliche Grundlagen der Archivwissenschaft oder eher um unzeitgemäße Altlasten? Das organische Provenienzprinzip gehört fest zum Kanon der Archivistik, die sich während des 20. Jahrhunderts zur Archivwissenschaft wandeln wollte. Die hier betrachteten Konzepte sind ebenso aus diesem innerfachlichen Entwicklungsprozess wie aus verschiedenen vorherrschenden Strömungen und Gedanken ihrer Zeit heraus zu verstehen. Die Rede vom „organischen Wachstum“ des Archivs ist so omnipräsent in den Grundlagentexten der Archivistik und derart in die Berufssprache der Archivarinnen und Archivare eingesickert, dass man sie daraus nicht gänzlich entfernen kann und auch nicht entfernen sollte. Aber wer sich dieser Sprache bedient – und sei es nur als Metapher – sollte sich ihrer historischen Entstehung ebenso bewusst sein, wie der mangelnden Übertragbarkeit auf die unmittelbare Gegenwart. Ein Archivbegriff, welcher auf automatisch wachsenden Registraturen und der unbedingten Höherwertigkeit amtlicher Unterlagen beruht, stützt sich unkritisch auf Denkfiguren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein solcher Begriff müsste dann, wie Leidel zurecht deutlich macht, neu konzeptualisiert und aktualisiert werden. Ob das überhaupt möglich ist, bleibt zu bezweifeln. Vgl. Norbert Reimann, Kulturgutschutz und Hegemonie. Die Bemühungen der staatlichen Archive um ein Archivalienschutzgesetz in Deutschland 1921–1972 (Antrittsvorlesung anlässlich der Ernennung zum Honorarprofessor am Fachbereich Informationswissenschaften der Fachhochschule Potsdam am 15. Mai 2003), als Manuskript gedruckt, Münster 2003. 148
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In jedem Fall verhindert dieser Archivbegriff den Dialog mit interessierten Nachbarwissenschaften und trägt damit zu weiteren Unklarheiten bei. Er ist außerhalb der Archivwelt nicht vermittelbar, wie selbst seine Verfechter einräumen müssen.149 Wie der vorliegende Aufsatz zu zeigen bemüht war, sind sich nicht einmal die Archivarinnen und Archivare selbst seiner Voraussetzungen und historischen Hintergründe vollauf bewusst. Auch ist dieses Verständnis vom Archiv heute weder für die Arbeitspraxis noch für die wissenschaftliche Selbstbehauptung der Archivistik nötig. Nicht in der Konservierung gewachsener Bestände und in der Einhaltung eines naiven Provenienzprinzips zeigt sich das historische Bewusstsein des Archivarsberufs, sondern darin, sich über die historischen Wurzeln des eigenen Denkens und Handelns im Klaren zu sein.
Bodo Uhl, Registraturen und Archive. Zwei verbundene Pole des Dokumentierens von Verwaltungshandeln. In: Archivalische Zeitschrift 94 (2015) S. 51–68, hier S. 51. 149
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An der Schwelle zur Institutionenbildung. Ein mittelalterlicher Archivbehelf im bischöflichen Archiv zu Freising* Von Adelheid Krah Diese kleine Studie entstand aufgrund der Überlegung, dass die mittelalterlichen Kopialbücher der Klöster und Bistümer des süddeutschen Raumes Zeugen früher Ordnungsarbeiten in den Archiven dieser geistlichen Zentren sind. Als Traditions- und Amtsbücher bezeichnet, verkörpern sie den Besitzstand ihrer Institutionen und dokumentieren deren Rechtsgeschäfte und Einnahmen. Diese Praxis der Verschriftlichung von Verwaltungshandeln reicht bis in die Zeit der Herrschaft Karls des Großen zurück und wurde in den folgenden Jahrhunderten des Mittelalters fortgeführt. Sie unterlag einem Wandel durch die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, welche die Verwaltung geistlichen Besitzes und die Kanzleiarbeit in den Zentren vor große Herausforderungen stellte, die zu bewältigen waren. Besonders gut wird die Kontinuität durch die Amtsbücher des Bistums bzw. Hochstifts Freising überliefert, die im Bayerischen Hauptstaatsarchiv aufbewahrt sind. Die wertvollsten Bände wurden digitalisiert und sind inhaltlich wissenschaftlich erschlossen; teilweise liegen auch neue, digitale Editionen vor.1
* Da am Bayerischen Hauptstaatsarchiv (BayHStA) im Herbst 2021 für die ältesten Freisinger Amtsbücher eine Provenienzbereinigung vorgenommen wurde und sich die Signaturen daher verändert haben, sind in dieser Studie aktuelle und frühere Signaturen vermerkt. Die bisher vorliegende Literatur ging von den seit Theodor Bitterauf zu Beginn des 20. Jahrhunderts gültigen Signaturen dieser Codices aus. Auch die von der Verfasserin bisher vorgelegten Forschungen sind entsprechend angepasst zu verstehen. – In der vorliegenden Studie wurden Dokumente aus drei Freisinger Amtsbüchern ausgewertet: Cozroh-Codex, jetzt Hochstift Freising Archiv 1 (vormals HL Freising 3a), online verfügbar unter: https:// www.bavarikon.de/object/bav:GDA-OBJ-0000000000000001?view=meta&lang=de; Kopial- und Amtsbuch des Conradus Sacrista, jetzt Hochstift Freising Archiv 3 (vormals HL Freising 3c), online verfügbar unter: https://www.bavarikon.de/object/bav:GDA-OBJ0000000000000009?lang=de; Kopialbuch für den Freisinger Fernbesitz, jetzt Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4), online verfügbar unter: https://www.bavarikon. de/object/bav:GDA-OBJ-0000000000000004?view=meta&lang=de. – Als Abkürzungen
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Das Prestige dieser exzellenten Produkte freisingischer Verwaltungsarbeit war sehr hoch. Die Ursprünge solcher Wertschätzung liegen aber nicht in Freising, wo das karolingische Niveau pragmatischer Schriftlichkeit, das an den Verwaltungszentren des Reiches im Westen an Bischofssitzen und Klöstern entwickelt worden war, während der Regentschaftsjahre von Kaiser Ludwigs des Frommen Sohn Lothar in seiner Funktion als Unterkönig in Bayern eingeführt und an die bestehenden Gegebenheiten adaptiert wurde. In dieser Zeitspanne – ab 824 bis etwa 827 – wurde das bischöfliche Archiv in Freising, das aus einem herzoglich-agilolfingischen entstanden war, umgeordnet, damit Cozroh als Kanzleivorstand auf Anordnung seines Bischofs Hitto sein berühmtes Traditions- und Amtsbuch nach westlichem Muster und Niveau überhaupt schreiben konnte. Die Anstrengungen waren enorm und sind anhand von Analysen zur Textanordnung, zu den angefertigten Registern und zur synchronen Nummerierung sowie der Initialen und Auszeichnungen im Schriftbild textkritisch-methodisch und paläographisch nachvollziehbar. Aber nicht alles wurde in diesem, den mehrjährigen Arbeitsprozess finalisierenden Werk dokumentiert. Bei den Vorarbeiten, der Auffindung und Umordnung der großen Menge bereits damals vorhandener Dokumente, auch nach Freising transferierter Archivbestände aus Klöstern, und deren Ablage nach inhaltlichen und anderen Ordnungsvorgaben, wurden vermutlich Archivbehelfe auf Zetteln oder Wachstäfelchen angelegt, die wir heute nur rekonstruieren könnten.2 Dass sie aber vorhanden waren und so gearbeitet werden im Text verwendet: LK = Landkreis (für Orte in Bayern), PB = Politischer Bezirk und GB = Gerichtsbezirk (für Orte in Österreich). 1 Zum Gemeinschaftsprojekt Freisinger Handschriften vgl. zuletzt Adelheid Krah, Verwaltung und Repräsentation. Freisinger Fernbesitz zwischen Bischofsherrschaft, Königen und Kaisern, den Herzögen von Österreich und der böhmischen Krone. Ein Amtsbuch zum Freisinger Fernbesitz mit einer Handakte aus dem 13. Jahrhundert. In: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 60 (2020) S. 33–144, hier S. 33, Anm. 1, und S. 37, Anm. 8, sowie Adelheid Krah – Stephan Kellner – Ulf Röhrer-Ertl, The „Libri censuales“ – Freising manuscripts from conservation to digital edition. In: Conservation Update – Publication of the ERC / European Research Centre for Book and Paper ConservationRestoration 2 /November 2019, S. 14–23, ebenso zum Wandel und veränderten Erfordernissen der Verwaltung des Grundbesitzes des Bistums Freising. 2 Die Thematik des Transfers von Urkundenbeständen im Mittelalter wurde eingehend auf der Tagung „Écrits et dépendances monastiques II: Transferts d‘archives (IXe–XVe siècle)“ am Deutschen Historischen Institut in Paris vom 1.–2. Februar 2018 diskutiert, wobei insbesondere die Organisation geistlichen Besitzes im Pyrenäenraum im 11. und 12. Jahrhundert und für das Großkloster Cluny beleuchtet wurde. Für die Anfänge der Diözese Freising hat die Verfasserin damals im Beitrag „Der Transfer von Urkundenbestän-
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wurde, belegt schon der Eintrag eines solchen aus dem 11. Jahrhundert auf einer und einer halben Leerseite des Cozroh-Codex, was kein Zufall ist. Es handelt sich dabei um einen bisher kaum beachteten Kleintext, der interessante Einblicke in die Arbeit der Freisinger Kanzlei ermöglicht und sich als Quelle und verwendeter „Renner“ bei der Anlage von zwei Freisinger Amtsbüchern des 12. Jahrhunderts entpuppte. Dieser Text verdient es daher, näher untersucht und im Kontext mit seiner Benutzung analysiert zu werden. Zunächst aber noch einige Worte zur Bedeutung von Archivbehelfen und zu archivischen Ordnungsarbeiten im Mittelalter sowie zum Freisinger Fernbesitz. I . Z u O rd n u n g s a r b e i t e n u n d Re g i s t e r f ü h r u n g i n A r c h i v e n , i n s b e s o n d e re g e i s t l i c h e n A r c h i v e n Für die angesprochenen Ordnungsarbeiten und Neuorganisationen innerhalb der geistlichen Kanzlei bedurfte es praktikabler Hilfsmittel in Form von Listen, wodurch Urkundenbestände kontrollierbar und so auch vor Verlusten gesichert waren oder die Existenz von verlegten und verloren geglaubten Urkunden definitiv festgehalten wurde. Hierzu dienten der Verwaltung bekanntlich seit alters Archivbehelfe, die in Form von „Kleinstregistern“ auf einzelnen oder mehreren Blättern einem Urkunden- oder Aktenbündel beigelegt wurden. Diese Vorgehensweise ist freilich keine erst neuzeitlich praktizierte archivische Methode, sondern ein epochenübergreifendes Mittel als Behelf, um Ordnung im Schriftverkehr an Institutionen des öffentlichen Lebens zu schaffen; es wurde bereits in den Ämtern der bischöflichen Stadtherren in den spätantiken civitates des Römerreiches in Gallien für alle anfallenden gesta municipalia oder im privaten Schriftverkehr praktiziert.3 In der Neuzeit entstanden in Weiterentwicklung der archivischen Ordnungssysteme dann die großen den in das Monasterium Sancti Corbiniani auf dem Freisinger Burgberg. Ursachen und Bedeutung anhand der Überlieferungen im Freisinger Traditionsbuch des Cozroh“ einige Überlegungen zur Organisation der Verwaltung geistlichen Grundbesitzes am Beginn des Hochstifts Freising vorgestellt und gezeigt, wie sich dieses von einem herzoglichen Archiv zu einem geistlichen wandelte. 3 Zur Übernahme der Praxis der spätantiken gesta municipalia in den gallorömischen Städten des Merowingerreiches vgl. Josiane Barbier, Archives oubliées du haut Moyen Âge. Les gesta municipalia en Gaule franque (VIe–IXe siècle) (Histoire et archives, vol. 12), Paris 2014, rezensiert von Adelheid Krah. In: Historische Zeitschrift 302 (2016), Heft 2, S. 480–482.
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Repertorien zu den inzwischen stark angewachsenen Archivbeständen, die in umfangreichen Verwaltungsarbeiten der geistlichen Kanzleien oft von mehreren Generationen von Archivaren angelegt worden sind.4 Durch die politischen Umwälzungen der letzten Jahrhunderte in Europa und die neu entwickelten, modernen Archivierungspraktiken des 19. und 20. Jahrhunderts waren andere Maßstäbe nötig, um die Dokumente der Vergangenheit als kulturelles Erbe aus zeithistorischer Perspektive zu verwalten und zugänglich zu machen. Daher sollen an dieser Stelle kurz zwei Beispiele moderner Archivierungspraxis genannt sein, eins aus der Neuzeit in Folge der Französischen Revolution, das Andere aus der Gegenwart des Records Management.5 Die französischen Bezeichnungen differenzieren zwischen Inventaren, Beständeverzeichnissen und Registern, welche im Zuge der Revolution und danach entstanden als Repertorien zu faktisch neu konstruierten Sammlungen; diese Methode beschreibt der berühmte Gelehrte und Archivar an den Archives Nationales der Belle Epoque, Jules Tardif (1827–1882)6, in der Einleitung seines Verzeichnisses zur Edition der Urkunden der fränkischen und französischen Könige in den „Monuments historiques“; er schildert die enormen Umwälzungen in der Archivierung der historischen Bestände treffend wie folgt: Le fonds d´archives auquel on a donné, sans raison valable, le titre de Monuments historiques, n´est pas, à propement parler, un fonds d´archives; c´est une réunion arbitraire de diplômes, de chartes, de traités et d´actes d´une grande anciennité et d´un prix infini, qu´on a arrachés à de véritables archives pour en former une grand collection factice.7
Vgl. hierzu etwa eindrucksvoll: BayHStA, Hochstift Passau Blechkastenarchiv; ferner z.B. Österreichisches Staatsarchiv/Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Sonderbestand Alte Archivbehelfe: https://www.archivinformationssystem.at/detail.aspx?ID=2199116 (aufgerufen am 16.11.2021). 5 Dazu zuletzt Julie Brooks, Perspectives on the relationship between records management and information governance. In: Records Management Journal 29 (2019), Iss. 1/2, S. 5–17. – Auf diese komplexen und schwierigen Zusammenhänge hatte Margit KsollMarcon bereits bei ihrem Vortrag vom 3. April 2009 am Institut für österreichische Geschichtsforschung hingewiesen. 6 Zur Persönlichkeit vgl. den Nachruf von Eugène Lelong, Jules Tardif (1827–1882). In: Bibliothèque de l‘école des chartes 45 (1884) S. 437–477. 7 Zur Auffindung von Urkunden und Urkundenbüchern (Cartulaires) benützt man das Inventar von Jules Tardif, Cartons des Rois, Paris 1866. – Ders., Archives de l´Empire. Inventaires et documents. Monuments historiques, Paris 1866, S. 10, nachdem die seit dem Mittelalter gewachsenen Archive durch die Revolution entwurzelt waren. 4
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Für die heutige, moderne Zugangsweise soll hier als Beispiel die Seite „Was sind Archivbehelfe?“ des Innenministeriums der Tschechischen Republik zur modernen Administration von Verwaltungsschriftgut stellvertretend für vieles andere angeführt werden, da auf ihr der Begriff „Archivbehelf“ anschaulich und erstaunlich nah an der gewachsenen Wortbedeutung aufgesplittet wird. Denn untergliedert werden drei Gruppen, diese wiederum in Unterabteilungen wie folgt: I. Die Gruppe möglicher Archivbehelfe: 1. Provisorisches Inventarverzeichnis, 2. Teilinventar, 3. Inventar, 4. Vereinigtes und Gruppeninventar, 5. Katalog. II. Die Gruppe Sonderbehelfe: 1. Register, 2. Thematischer Katalog, 3. Dokumentenverzeichnis, 4. Thematisches Register. III. Die Gruppe Referenzbehelfe: 1. Bestandsverzeichnis, 2. Bestandsbeschreibung, 3. Archivführer, 4. Editionen.8 Erwähnt sein muss in diesem Zusammenhang ferner, dass Beständebereinigung in modernen Archiven immer auch zu Veränderungen der vorhandenen, älteren Register führt.9 Alte Ordnungsverzeichnisse gingen aber nicht erst durch die Revolution in Frankreich und in Bayern und Österreich durch die Säkularisation verloren, sondern bereits im Zuge der Modernisierung der geistlichen Verwaltungszentren seit dem Hochmittelalter; sie wurden vielfach als Makulatur mit anderem Schriftgut verwendet, weil sie aufgrund veränderter Verwaltungsmechanismen und der seit dem späten 12. Jahrhundert einsetzenden Wirtschaftsreformen der Abgabenverwaltung durch nun institutionalisierte Ämter als überholt galten und nicht mehr gebraucht wurden.10 8 Vgl. Ministry of the Interior of the Czech Republic, Dokumenty – Was sind Archivbehelfe? Link: https://www.mvcr.cz/mvcren/article/was-sind-archivbehelfe.aspx (aufgerufen am 16.11.2021). 9 Hierzu Walter Jaroschka, Zentralisierung und Dezentralisierung im bayerischen Archivwesen. Voraussetzungen und Ergebnisse der Beständebereinigung. In: Hermann Bannasch (Hrsg.), Beständebildung, Beständeabgrenzung, Beständebereinigung. Verhandlungen des 51. Südwestdeutschen Archivtags am 11. Mai 1991 in Augsburg mit einem Anhang zur Geschichte der südwestdeutschen Archivtage (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Reihe A, 3) Stuttgart u.a.1993, S. 37–51. 10 Vgl. dazu etwa Gerhard Immler, Die Überlieferung der altbayerischen Klöster im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. In: Adelheid Krah – Herbert W. Wurster (Hrsg.), Die virtuelle Urkundenlandschaft der Diözese Passau. Vorträge der Tagung vom 16./17. September 2010 in Passau (Veröffentlichungen des Instituts für Kulturraumforschung Ostbaierns und der Nachbarregionen der Universität Passau 62), Passau 2011, S. 37–43.
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Als eine mögliche Erklärung solcher Verluste ist aber auch die Praxis in den Archiven einzubeziehen, nämlich dass solche, sorgfältig angelegten, aber veralteten Listen in den geistlichen Kanzleien nicht zusammen mit den Dokumenten aufbewahrt wurden und deshalb unauffindbar verlegt worden waren. Eine größere Chance für lange Überlieferung hatten freilich Texte, die auf dem für Nachträge frei gelassenen Blattraum oder auf Rückseiten und unbeschriebenen Blättern der Lagen eines Kompendiums notiert wurden, da die spätere Buchbindung in der Regel den Zusammenhalt der Materialien garantierte. Dazu jedoch später. Vorab muss aber noch klargestellt werden, dass ein Archivbehelf nichts mit der im bayerischen Raum in Klöstern und in den Hochstiften Passau und Regensburg ab der Mitte des 13. Jahrhunderts üblich gewordenen Registerführung in Form von in sich geschlossenen Handschriften zu tun hat, wofür separat angelegte, umfangreiche Registerhandschriften überliefert sind.11 Allerdings haben Archivbehelfe mit Registern das Bestreben gemeinsam, in den jeweiligen Archiven Ordnung schaffen zu wollen, nach bestimmten Kriterien sortiertes Material zu verzeichnen, gleiche oder ähnliche Vorkommnisse nochmals in Kurzform festzuhalten und zusammenzustellen.12 Abgesehen von der gängigen Form der Ein- und Auslaufregister gab es im bayerischen Raum auch anders gestaltete Registerhandschriften: so etwa die unter Abt Hermann von Niederaltaich (1242–1273) angelegte, die in formelhaft gestalteten Kurztexten das gesamte Wirtschaftsleben der entstehenden Klösterämter widerspiegelt. Joachim Wild warf deshalb die Frage auf, ob man diese Handschrift überhaupt noch ein Register nenFür viele Hinweise zur Registerführung im Hochstift Passau danke ich Herrn Archivdirektor i.R. Dr. Herbert W. Wurster herzlich. – Einschlägig hierzu Joachim Wild, Beiträge zur Registerführung der bayerischen Klöster und Hochstifte im Mittelalter (Münchener Historische Studien, Abteilung Geschichtliche Hilfswissenschaften 12), Kallmünz 1973, und Matthias Thiel, Das St. Emmeramer Register von 1275 in Clm 14992, seine Vorstufen und Nachläufer. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 33 (1970) S. 85–134 (online verfügbar unter: https://periodika.digitale-sammlungen.de/zblg/seite/zblg33_0111 [aufgerufen am 15.11.2021]) Das St. Emmeramer Register umfasst 81 Blätter. – Unbedingt anzuführen ist in diesem Zusammenhang das unter Bischof Otto von Lonsdorf von 1254–1263 erstellte Register (BayHStA, Hochstift Passau Inneres Archiv 6 [vormals HL Passau 4]). Zum Wirken von Bischof Lonsdorf in Passau vgl. Josef Breinbauer, Otto von Lonsdorf, Bischof von Passau 1254–1265 (Passauer historische Forschungen 6), Köln u.a. 1992. 12 Vgl. die gute Übersicht der Entwicklung der bayerischen Register bei Wild (wie Anm. 11) S. 5–22. 11
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nen dürfe?13 Ein Beipiel anderer Art, aber aus der gleichen Zeitspanne, ist die während der Regierung von Bischof Otto von Lonsdorf (1254–1265) angelegte Passauer Registerhandschrift, denn sie überliefert den Zusammenhang zwischen Registerführung, Kopialbuch und Zentralisierung und zerfällt daher in zwei Teile: in den Registerteil mit einer Laufzeit von 1254 bis April 1263 und diesem folgend das Kopialbuch als eigenem Teil mit den Abschriften der Urkunden des Bischofs und von Privilegien für einige, von Passau abhängige Klöster.14 Auch wies Matthias Thiel sehr genau auf die Schnittstelle der Veränderungen in der Verwaltung geistlichen Grundbesitzes am Beispiel von St. Emmeram bei Regensburg hin, wenn er für das fortführende Register dieses Klosters von 1329 eine Gliederung nach acht Klösterämtern angibt.15 Eine solche Schnittstelle ist für die Verwaltung des Hochstifts Freising sichtbar geworden, überliefert im Salbuch von 1305, das auch ein eigenes, separates Register hat. Die neue Zeit der veränderten Wirtschaftsstrukturen des Spätmittelalters aufgrund der vorhergegangenen Intensivierung der Kultivierung des Landes war den Zeitgenossen damals sehr bewusst. Das spiegelt sich auf dem Initialblatt dieses Salbuches, wo als Zeitpunkt des Abschlusses der Handschrift der dritte Fastensonntag im liturgischen Festkreis vermerkt ist, dessen Feier mit dem Introitus des Psalms „Oculi mei“ nach dem römischen Graduale beginnt, was durchaus im historischen Bewusstsein der enormen Leistungen der Freisinger Bischöfe für das Bistum über Jahrhunderte zu verstehen ist. Denn arrondierter geistlicher Grundbesitz Freisings befand sich damals – wie der Schreiber des Textes, Georius de Lok, cives im Freisinger Amt Bischofslack (Škofja Loka, Slowenien), auf dem Initialblatt widergibt – nicht nur in Bayern, sondern in verschiedenen anderen Ämtern, die in den östlichen Herzogtümern und Marken Austria, Styria, Carinthia, Carniola et Marchia großflächig vom Freisinger Bischof verwaltet wurden. Das eigenständige, zum Salbuch erstellte Register erfasst die im Freisinger Salbuch vorkommenden Ortschaften alphabetisch und ist das Werk eines Archivars des 19. JahrhunVgl. Wild (wie Anm. 11) S. 51. Vgl. auch Michael Hochedlinger, Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit (Historische Hilfswissenschaften 3), Wien u.a. 2009, Kapitel: Internes Schreibwerk S. 221–235, der allerdings die Entwicklung geistlicher Archive nicht berücksichtigt, auch nicht den Begriff „Archivbehelf“ im Register des Buches aufführt. 14 Wild (wie Anm. 11) S. 83–89, sowie die Beschreibung der Registerhandschrift bei Breinbauer (wie Anm. 11) S. 276–279. 15 Thiel (wie Anm. 11) S. 91. 13
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derts, datiert auf das Jahr 1812, der hier im Trend der napoleonischen Zeit „Faktizität“ schaffen wollte. Ein früheres Register zu diesem Salbuch, das vermutlich existierte, dürfte nach anderen Kriterien erstellt gewesen sein.16 Das Datum für die Beendigung des Salbuches exakt am Sonntag „Oculi“, also zu Mittfasten, das im Jahr 1305 auf den 21. März fiel, dürfte vom Verfasser Georius de Lok programmatisch und in eschatologischer Zeitsicht gewählt worden sein: Was die Arbeit des Bistums Freising im Garten Gottes betraf, so hatte man in Freising aus seiner Sicht die halbe Strecke auf dem Weg zur Erlösung und zur kommenden Herrschaft des Reiches Gottes bewältigt. Diese vorbereitend, bestellten die Freisinger Bischöfe in der Nachfolge der Jünger Jesu ihren Weinberg.17 Von diesem Status der Herrschaftsbildung im Hochstift Freising zu Beginn des 14. Jahrhunderts war man Jahrhunderte früher noch weit entfernt. Das an den vorgenannten Beispielen nur kurz skizzierte, hochmittelalterliche Registerwesen, das der Verwaltung des sich wandelnden geistlichen Grundbesitzes im süddeutschen Raum von Stiften und Hochstiften damals diente und den Herausforderungen offenbar gewachsen war, musste erst schrittweise entwickelt werden. Freilich war es immer notwendig, den sich zunehmend ansammelnden, geistlichen Grundbesitz für eine effektive Verwaltungstätigkeit transparent aufzubereiten. Dessen Rückgrat bildeten aber die von den Königen und Kaisern des Reiches ausgestellten Privilegien und deren Bestätigungen. Für die Freisinger Bischöfe waren dies insbesondere die Privilegien der großflächigen Gebiete, die im bayerischen Herzogtum und damit im unmittelbaren Diözesangebiet lagen, und ebenso die Privilegien für den Fernbesitz in Österreich und Oberitalien, in Kärnten und in der Krainer Mark mit der wichtigen slawischen Region am Ostrand der Alpen und dem Zentrum der freisingischen Stadt Bischofslack (Škofja Loka) im heutigen Slowenien. Diese „Au des Bischofs von Freising“ erreichte als freisingische Herrschaft eine Fläche von etwa 500
Vgl. BayHStA, HL Freising 7 und HL Freising 7a. Vgl. hierzu die im Text bei Anm. 7 zitierte Aussage von Tardif. 17 Deutsche Bibelgesellschaft, Vulgata, Psalm 24, 15–16, Psalmi iuxta hebraicum translatus: (15) Oculi mei semper ad Dominum, quia ipse educet de rete pedes meos (16) respice in me et miserere mei, quoniam solus et pauper sum ego. Link: https://www.bibelwissenschaft.de/onlinebibeln/biblia-sacra-vulgata/lesen-im-bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/19/240001/249999/ch/3 2635b52bd727140ba16651c0fc52ab8/ (aufgerufen am 16.11.2021). Zum Gleichnis der Arbeiter im Weinberg vgl. das Evangelium nach Matthäus 20, 1–16. 16
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Quadratkilometern.18 Für deren Verwaltung wurden Kopialbücher und Listen angelegt; die Ersteren sind überliefert, die ihnen zugehörigen Listen jedoch kaum. Aufgrund der für den Kärntner Raum und für Bischofslack zeitnah einsetzenden Abrechnungsbücher könnte die Anfertigung von Listen nicht erforderlich gewesen sein.19 I I . Di e E n t s t e h u n g d e s f r ü h e n Fre i s i n g e r A r c h i v b e h e l f s i n d e r g e i s t l i c h e n K a n z l e i w ä h re n d d e r A m t s z e i t e n d e r Bi s c h ö f e E g i l b e r t ( 1 0 0 5 – 1 0 3 9 ) u n d El l e n h a rd ( 1 0 5 2 – 1 0 7 8 ) u n d d e r My t h o s d e s h l . C o r b i n i a n Bei der neuzeitlichen Bindung des ältesten Freisinger Traditionsbuches (Signatur: Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Hochstift Freising Archiv 1 [vormals HL Freising 3a]) wurde jedoch eine erhaltene Urkundenliste mitberücksichtigt, auch wenn sie mit der dann folgenden Kopie des frühesten Freisinger Urkundenbestandes fast nichts zu tun hat. Dass sie nicht verloren ging, hängt wohl damit zusammen, dass es sich dabei vor allem um eine Bischofsliste mit Notizen handelt, welche mit der Person des hl. Corbinian, also dem Freisinger Patron, zeitlich im ersten Drittel des 8. Jahrhunderts beginnt und bis Bischof Egilbert in die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts reicht. Diese Namensliste wurde auf die letzte Rückseite eines Doppelblattes geschrieben, das Cozrohs eigenhändigen Prolog zu seinem Kopialbuch enthält. Es wurde also nachträglich, wohl während der Amtszeit von Bischof Egilbert, genau diese freie Seite von der Kanzlei dazu genutzt, um hier eine linke Kolumne mit den Namen der Freisinger Bischöfe von Corbinian bis Egilbert mit breitem Abstand zwischen den einzelnen Namen an18 Gertrud Thoma, Zur Grundherrschaft des Bistums Freising im Hochmittelalter: Organisation und Nutzung der Besitzungen in Bayern und im Ostalpenraum. Ein Vergleich. In: Krista Zach – Mira Miladinović Zalaznik (Hrsg.), Querschnitte. „Der wissendlich Romanen für Historien ausgibt …“. Deutsch-slovenische Kultur und Geschichte im gemeinsamen Raum (Veröffentlichungen des Südostdeutschen Kulturwerks 80), München 2001, S. 21–55, hier S. 42ff. – Umfassend dazu Pavle Blaznik, Das Hochstift Freising und die Kolonisation der Herrschaft Lack im Mittelalter (Litterae slovenicae 5), München 1968, sowie die Übersicht von Peter Štih, Ursprung und Anfänge der bischöflichen Besitzungen im Gebiet des heutigen Sloweniens. In: Matjaž Bizjak (Hrsg.), Festschrift für Pavle Blaznik, Ljubljana 2005, S. 37–53. 19 Vgl. dazu Pavle Blaznik, Urbaria episcopatus Frisingensis (Fontes Rerum Slovenicarum Tomus IV, Urbaria aetatis mediae Sloveniam spectantia Vol. IV), Ljubljana 1963, S. 259–278.
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zulegen, wobei die übrige Seite rechts unbeschrieben blieb. Sie bot Raum für Eintragungen von anderer Hand. Dabei fällt auf, dass den Namen der frühen Bischöfe des 8. und 9. Jahrhunderts, Ermbert, Joseph, Aribo, Hitto und Erchanbert in dieser Liste fast keine Einträge gegenüberstehen und der Freiraum nicht beschrieben wurde, obgleich aus deren Amtszeiten die zahlreichen Urkunden des ältesten Freisinger Traditionsbuches datieren. Eine Ausnahme bilden hier die wenigen Einträge zu den Namen der beiden Bischöfe Atto und Hitto sowie eine kleine Notiz neben dem Namen des hl. Corbinian, betreffend das Privileg der freien Bischofswahl für das Bistum Freising, das der hl. Corbinian in einem, freilich durch den Dombrand von 903 verlustigen Chirograph erhalten habe.20 Die hier überlieferte Liste kann also nicht ein Archivbehelf für die Anlage des Cozroh-Codex gewesen sein, schon deshalb nicht, weil sich an diese im Codex die Blätter des Registers zu den dann folgenden Schenkungen an Freising während der Amtszeit von Bischof Atto anschließen. Die Register zu den Traditionen seiner Amtsvorgänger Ermbert und Joseph sind heute vor dem Prolog eingebunden, denn sie waren von Cozroh separat angefertigt worden. Diesen Registern schließt sich nach einer Leerseite der Text der großzügigen Schenkung der Kirche von Bittlbach durch ihren Stifter Haholt an den Freisinger Bischof Joseph an, welche auch die Oblation seines Sohnes Arn vom 25. Mai 758 an den Freisinger Bischof im Oratorium der cella des hl. Zeno in Isen überliefert. Dieses wichtige Ereignis, mit welchem gleichsam die Karriere des späteren Salzburger Erzbischofs von seinem Vater in die Wege geleitet worden war, wurde von Cozroh bei der Anlage des Kopialbuches um 824 aufgrund der herausragenden Bedeutung des ersten Salzburger Erzbischofs ebenfalls separat auf Blätter geschrieben und nicht zu den weiteren Schenkungen der Amtszeit
Der verheerende Brand des Jahres 903 führte zur Vernichtung großer Teile der Freisinger Dombibliothek, vgl. hierzu bei Josef Mass, Das Bistum Freising in der späten Karolingerzeit. Die Bischöfe Anno (854–875), Arnold (875–883) und Waldo (884–906) (Studien zur altbayerischen Kirchengeschichte 2), München 1969, 6. Abschnitt: Kunst und Wissenschaft im Bistum, II. In der Regierungszeit Bischof Waldos S. 203–215, hier S. 203f. und S. 214f. Mass weist auf gebotene Vorsicht hin, die gegenüber der Nachricht über das verbrannte Privileg des hl. Corbinian zur freien Bischofswahl in Freising angebracht sei, von dem freilich auch im Diplom Königs Ludwigs des Kindes vom 8. Mai 906 (MGH DD LdK Nr. 44, S. 165) die Rede ist. 20
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von Bischof Joseph chronologisch eingeordnet.21 Die letzte Seite und das folgende Blatt blieben zunächst leer. Hier findet sich auf Blatt 8 der neuzeitlichen, mit Bleistift erfolgten Foliierung der Vorbindungen des Codex eine Fortsetzung der Bischofsliste mit den Namen der Bischöfe Nitker und Ellenhard des 11. Jahrhunderts und mit Einträgen zu Privilegien, die sie erhalten hatten, geschrieben von einer Hand gegen Ende des 11. Jahrhunderts. – Die Nummerierung dieser vorgebundenen Blätter dürfte im 19. Jahrhundert geschehen sein. Doch ist anzunehmen, dass Cozrohs Register, sein Prolog und die weiteren Blätter mit der oben erwähnten, kopierten Schenkungsurkunde des Hahold und den späteren Ergänzungen des 11. Jahrhunderts zunächst separat zum Codex aufbewahrt wurden, wie Joachim Wild bereits vor Jahren gesprächsweise vermutet hat. Hierüber geben leider auch die als Papierblätter dem Cozroh-Codex im 19. Jahrhundert beigebundenen, handschriftlichen Angaben der Münchner Archivare Karl Roth und Pius Wittmann von 1870 und 1876 keine Auskunft; deren Beilagen zum Codex dürften parallel zu einer damals erfolgten Neubindung unter Verwendung des alten Ledereinbandes entstanden sein; sie beschreiben den Codex nur wenig.22 Bei der Bischofs- und Urkundenliste, die somit in zwei Teilen erhalten ist und in zwei zeitlich unterschiedlichen Schreibphasen von zwei verschiedenen Schreibern angefertigt wurde, handelt es sich jedoch um kein beiläufiges Dokument, denn sie ist noch ein zweites Mal in ganz anderem Kontext überliefert, nämlich im Codex BSB Clm 6427 auf folium 157, dem letzten Blatt dieses Codex. Der Band enthält ein liturgisches Kopialbuch, und zwar ein Rituale im Kleinformat mit einem Schriftspiegel von nur 10 Zentimetern in der Breite. Nach Günter Glauche ist das Buch in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts im Hochstift Freising unter Bi-
BayHStA, Hochstift Freising Archiv 1 (vormals HL Freising 3a), Vorbindung Bleistiftfoliierung 6 a–c; Edition: Die Traditionen des Hochstifts Freising, 1. Band: 744–926, hrsg. von Theodor Bitterauf (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte NF 4), München 1905 (im Folgenden abgekürzt Bitterauf ), Bitterauf Nr. 11. – Vgl. Wilhelm Störmer, Der junge Arn in Freising. Familienkreis und Weggenossen aus dem Freisinger Domstift. In: Meta Niederkorn-Bruck – Anton Scharer (Hrsg.), Erzbischof Arn von Salzburg (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 40), Wien u.a. 2004, S. 9–26. 22 Bitterauf (wie Anm. 21): vgl. die Beschreibung der Handschrift S. XVII–XXV, hier S. XVIIIf. – Adelheid Krah, Die Handschrift des Cozroh. Einblicke in die kopiale Überlieferung der verlorenen ältesten Archivbestände des Hochstifts Freising. In: Archivalische Zeitschrift 89 (2007) S. 407–431. 21
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schof Ellenhard ({1052} – 11. März 1078) entstanden und es weist auch einen Exlibris-Vermerk der Freisinger Dombibliothek auf.23 Offenbar war damals die Niederschrift des Duplikats der Bischofs- und Urkundenliste im „geschützten Kontext“ des liturgischen, häufig benutzten, gebundenen Buches beabsichtigt worden für den Fall, dass die kleine Bischofs- und Besitztumsliste auf der Rückseite des Doppelblattes des separat aufbewahrten Prologs des Cozroh von 824 zu seinem Traditionsbuch, das in der Freisinger Kanzlei zur Zeit Bischof Ellenhards als Archivbehelf vorhanden war und benützt wurde, verloren gehen könnte. Dieses Duplikat ist von einer Hand geschrieben und reicht nun durchgehend von der Zeit des Bistumsgründers Corbinian bis zum Ende der Amtszeit von Bischof Ellenhard. Es entspricht inhaltlich der im Cozroh-Codex in zwei Teilen, nämlich der auf fol. 4v und Blatt 8 der Vorbindung, überlieferten Liste. Ergänzt wurde stilistisch nur mit wenigen Worten, so etwa durchgehend der aus der Zeitsicht des Investiturstreits unbedingt erforderliche Bischofstitel bei den Namen der Bischöfe. Dieses Duplikat wurde im Codex BSB Clm 6427 auf folium 157 von den Händen der gleichen beiden Schreiber angefertigt, die auch die späteren Ergänzungen des Archivbehelfs auf Blatt 8 der Vorbindungen im Cozroh-Codex zu den Bischöfen Nitker und Ellenhard, also deren Namen und die Kurzangaben zu deren Privilegien, notiert hatten. Dadurch wird klar, dass am Ende der Amtszeiten von Bischof Egilbert († 1039) und nochmals von Bischof Ellenhards († 1078) die Urkundenbestände im Freisinger Bischofsarchiv durchforscht und umgeordnet wurden, auf der Suche nach vorhandenen Königs- und Kaiserprivilegien für das Hochstift Freising, wobei die auf diesem Archivbehelf dann verzeichneten Urkunden eine ganz besondere Rolle spielten. Warum? – Eine Beantwortung muss erneut bei den rudimentären Einträgen des Originals des Archivbehelfs im Cozroh-Codex beginnen, damit auf der Rückseite des Doppelblattes von Cozrohs Prolog, heute auf fol. 4v. Hier finden sich nämlich neben den Namen einiger Bischöfe die angesprochenen großen Lücken für noch offene Einträge; jedoch wird durch die chronologische Reihung der Namen München, Bayerische Staatsbibliothek (BSB), Clm 6427, auch online verfügbar unter: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00115103?page=,1. – Die Pergamenthandschriften aus dem Domkapitel Freising. Band 2: Clm 6317–6437. Neu beschrieben von Günter Glauche (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis. Tomus 3, Pars 2, Band 2), Wiesbaden 2011, S. 275–278 (= Clm 6427). – Inhalt der Handschrift: Kollektar fol. 1r–100v, Rituale fol. 101r–157r, Privilegien der Freisinger Kirche fol. 157r–v; Größe 24 x 17 cm. 23
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die Kontinuität des Freisinger Bistums als bestehende geistliche Institution über insgesamt 300 Jahre vermittelt, nämlich vom Auftreten des hl. Corbinian in Bayern und Freising bis zur Amtszeit von Bischof Egilbert († 1039), somit von der Zeit der Herrschaft der pippinidischen Hausmeier bis zum Ende der Regierung des ersten Salierkaisers im 11. Jahrhundert – fast vier Jahrzehnte vor dem Ausbruch des Investiturstreits und seinen Auswirkungen. Zweifellos wurden auch für die Bischöfe Arbeo, Anno und Erchanbert, die bedeutende Persönlichkeiten des 8. und 9. Jahrhunderts in Freising waren und für welche im Archivbehelf nur ihre Namen angegeben sind, zahlreiche Schenkungsurkunden und Geschäftsvorgänge damals im Freisinger Bischofsarchiv verwahrt, die wohl ziemlich vollständig kopial im Cozroh-Codex und im Freisinger Tauschbuch überliefert sind, und für die Bischöfe Hitto, Waldo und deren Nachfolger bis Egilbert war viel mehr an Schriftgut vorhanden, als nur die wenigen, hier in der Liste stichwortartig erfassten Vorgänge. Sie alle dürften aber nicht das Thema der Ordnungsarbeiten gewesen sein, welches diese Liste dokumentiert, da nur wenige Ergebnisse durch die Kanzlei für sie verzeichnet werden konnten und man offenbar auf weitere „Funde“ hoffte. Eine solche Vermutung ist auch aufgrund der Weiterführung des Archivbehelfs zur Zeit Bischof Ellenhards und aufgrund des damals angefertigten Duplikats auf dem letzten Blatt des Rituale von Codex BSB Clm 6427 naheliegend. Das in der Kanzlei Bischof Egilberts begonnene Vorhaben war während der Amtszeit Bischof Ellenhards im Investiturstreit für den Besitz des Freisinger Bistums offenbar von enormer Bedeutung. Denn im Duplikat wurden nicht nur die großen Auslassungen bei einzelnen Bischofsnamen für eventuell noch einzutragende Stichwörter zu weiteren, vorhanden geglaubten, älteren Urkunden als Leeräume genau übernommen, sondern auch dieselbe Auswahl der unter Bischof Egilbert als vorhanden verzeichneten Privilegien, wie sie der Cozroh-Codex auf fol. 4v dokumentiert. Ein Verdacht ist naheliegend: Arbeitete man während der Amtszeit Bischof Ellenhards in der bischöflichen Kanzlei in Freising an Fälschungen, um ältere Privilegien gegebenenfalls vorlegen zu können, die dann im Archivbehelf nachträglich noch einzutragen gewesen wären? Gab das vorhandene Material Aussicht auf Erfolg oder waren bereits einige gefälschte Dokumente vorhanden, datiert auf die Zeit der Kaiser Otto II. und Otto III., in welcher ja auch der Passauer Bischof Pilgrim sein großes Fälschungsprojekt inszenieren konnte? Damit würde die Regierungszeit
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Bischof Abrahams von Freising (957–993) eine interessante Facette gewinnen; dazu aber später.24 Blättert man im Cozroh-Codex noch etwas weiter nach vorne in den Vorbindungen zu dem heute mit fol. 8 gekennzeichneten Blatt, wo sich die erwähnte Fortsetzung der Liste des Archivbehelfs mit den Einträgen der Namen und Stichwörter zu den unter den Bischöfen Nitker und Ellenhard erhaltenen Privilegien befindet, so ist festzustellen, dass hier lückenlos aufgezeichnet wurde, so dass sich die Eintragungen zu Bischof Ellenhard an die seines Vorgängers Nitker unmittelbar anschließen. Derart angeordnet überliefert es auch das Duplikat im Codex BSB Clm 6427 auf fol. 157. Im Cozroh-Codex aber schließt diese Liste der Privilegien der Bischöfe Nitker und Ellenhard inhaltlich unmittelbar an die Beschreibung des Amtes Hollenburg an, welches damals dem Freisinger Kollegiatstift des hl. Castulus in Moosburg gehörte. Diese Beschreibung des Amtes Hollenburg steht sowohl paläographisch wie inhaltlich im Kontext zur hierauf folgenden Liste der Privilegien der Bischöfe Nitker und Ellenhard. Die Region um Hollenburg liegt im heutigen Niederösterreich (PB Krems an der Donau); aufgrund des günstigen Klimas und der Möglichkeit des direkten Handels über die Donau war sie ein begehrter Siedlungsraum und wurde zum Freisinger Fernbesitz. In dieser wunderschönen Landschaft formte sich eines der sehr frühen Freisinger Ämter zu einem arrondierten, geistlichen Verwaltungsbezirk, denn aufgrund der frühen Entstehung wird das Amt Hollenburg in diesem Dokument noch traditionell als „marcha“ im militärischen Sinn bezeichnet.25 Die Schrift dieses Textes unterscheidet sich deutlich von der Hand, die auf fol. 4v, der Rückseite von Cozrohs Prolog, den frühen Archivbehelf zu einzelnen Freisinger Privilegien aus der Zeit von Corbinian bis Egilbert schrieb, und auch von derjenigen zu den Einträgen für Nitker und Ellenhard. – Der paläographische Befund bestätigt somit die Vermutung von zwei Arbeitsgängen in der freisingischen Kanzlei zu verschiedenen Zeiten: einen zur Amtszeit Bischof Egilberts und einen zweiten, diesen aufgreifend, ergänzend und weiterführend zur Amtszeit von Bischof Ellenhard. Aber worum handelt es sich bei diesen Einträgen inhaltlich? Vgl. unten zu den Privilegien Ottos II. und Ottos III. für Freising. – Zu den berühmten Pilgrimschen Fälschungen vgl. Franz-Reiner Erkens, Die Fälschungen Pilgrims von Passau. Historisch-kritische Untersuchungen und Edition nach dem Codex Gottwicensis 53a (rot), 56 (schwarz). (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte NF 56), München 2011. 25 Vgl. hierzu zum Quellentext bei Anm. 102. 24
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Dieser Archivbehelf ist eine Auflistung von Stichwörtern zu Freisinger Privilegien in chronologischer Zuordnung zu den Freisinger Bischöfen bis Bischof Ellenhard, die vor allem den Freisinger Fernbesitz betreffen, der durch die Erwähnung eines angeblich einmal existenten Privilegs der freien Bischofswahl für den Bistumsgründer Corbinian eingeleitet wird. Als Bischof Ellenhard in Freising von {1052} bis 1078, also am Vorabend und Beginn des Investiturstreites amtierte, war die Frage der freien Bischofswahl schon lange ein großes Thema der Reformer des 10. Jahrhunderts und für den Disput um neue Kompetenzregelungen zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt.26 Es verwundert daher nicht, dass die Liste der Privilegien für Freising genau damit beginnt. Der Eintrag des Archivbehelfs hält fest, dass bereits Corbinian ein solches Dokument als herrscherliches Chirograph besessen haben soll, mit welchem ihm für sein Bistum Freising das Recht der freien Bischofswahl vom Herrscher – apud imperatorem – verbrieft worden sei. Hierbei dürfte vermutlich in der historischen Rückschau des 10. und 11. Jahrhunderts der Hausmeier Pippin der Mittlere gemeint gewesen sein und kein Mitglied der untergeordneten, agilolfingischen Herzogsfamilie. Möglicherweise spielte in der damaligen Zeitsicht auch die Romnähe Corbinians eine Rolle, denn er soll vom Papst das Pallium zur Glaubensverkündung erhalten haben.27 Das kostbare Dokument zum Recht der freien Bischofswahl sei aber beim Brand des Freisinger Domes zur Zeit von Bischof Waldo zerstört worden, weshalb es ihm im Jahr 906 durch den König Ludwig das Kind erneuert wurde.28 Dieses StateHierzu noch immer unübertroffen das Werk von Gerd Tellenbach, Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreites (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte 7), Stuttgart 1936, stellvertretend für vieles andere. 27 Franz Brunhölzl, Vita Corbiniani. Bischof Arbeo von Freising: Das Leben des heiligen Korbinian. In: Ders. – Hubert Glaser – Sigmund Benker (Hrsg.), Vita Corbiniani: Bischof Arbeo von Freising und die Lebensgeschichte des hl. Korbinian (Sammelblatt des Historischen Vereins Freising 30), München u.a. 1983, S. 77–159, hier Kap. 9, S. 100f. in Verbindung zur 2. Romreise Corbinians Kap. 14, S. 120–123. 28 Möglicherweise wurde die Originalurkunde König Ludwigs des Kindes mit nachgetragenem Datum vom 8. Mai 906 und Verortung in Holzkirchen von der bischöflichen Kanzlei in Freising vorgefertigt, da Waldo einst Kanzler Kaiser Karls III. gewesen war und überdies die Urkunde wenige Tage vor Waldos Tod ausgestellt wurde; vgl. die Vorbemerkung zu MGH DD LdK Nr. 44, S. 164f., sowie die Formulierung der Rückblende in die Zeit des hl. Corbinian in diesem Text am Beginn der Publicatio: Unde notum fieri cupimus omnibus sanctae dei ecclesiae fidelibus presentibus scilicet et futuris, qualiter sanctus Corbinianus Frisingensis aecclesiae episcopus apud antecessores nostros suo interventu impetraverat plebi et familiae suae licentiam inter se eligendi episcopos preceptorum firmari rogavit suamque peticionem apud eos obtinere promeruit. Diese freie Bischofswahl sei bis in die Zeit Bischof Waldos 26
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ment des Eintrags zu Corbinian wurde dann folgerichtig als bestehendes Faktum und als letzter Eintrag zu den Privilegien von Bischof Waldo im Archivbehelf verzeichnet. Ein Chirograph ist eine charta partita, eine geteilte Urkunde, von der jeder der beiden Vertragspartner einen Teil erhält und diesen bei sich aufbewahrt. Im Beweisfall konnten die Vertragspartner ihren Teil der Urkunde vorweisen, die zusammen dann ein Ganzes bildete. Eine solche Form der Beurkundung war im 11. Jahrhundert während der Amtszeiten der Bischöfe Egilbert und Ellenhard nichts Außergewöhnliches, um auf diese Weise ein vor Fälschungen sicheres Dokument bei wichtigen Angelegenheiten für Vertragspartner herzustellen, für das frühe 8. Jahrhundert freilich schon. Der weltweit geehrte Münchner Paläograph Bernhard Bischoff hat seine Beobachtungen zum Vorkommen solcher Urkunden im Frühmittelalter in einer kurzen Abhandlung zusammengetragen und vermutete eine insulare Herkunft dieser Beurkundungsform, die im Frankenreich um die Mitte des 9. Jahrhunderts gut belegt sei.29 Allerdings fände sich bereits im palimpsestierten Lexikon des sogenannten Abba-Abacus-Glossar aus dem Kloster Bobbio, das in der Stiftsbibliothek St. Gallen unter der Signatur Cod. Sang. 91230 aufbewahrt wird – mit Datierung der Oberschrift auf den Beginn des 8. Jahrhunderts – eine Worterklärung, wo es heißt: chirografum cautio propria manu scripta. Diese Definition des frühmittelalterlichen Lexikons belegt, dass diese Art der Beurkundung bereits im 8. Jahrhundert im süddeutschen Raum bekannt war. Um dieselbe Zeit wurde in der Kanzlei des bayerischen Herzogs Tassilo III. das Wort chirografum in anderer Schreibweise in einer seiner herzoglichen Schenkungsurkunden gebraucht, mit welcher der Herzog im Jahr 769 den Siedlungsraum um durchgeführt, das Dokument aber beim Dombrand vernichtet worden. Auf Bitten der Erzbischöfe Hatto von Mainz und Theotmar von Salzburg und weiterer Bischöfe wurde es vom jungen König für Waldo erneuert. Das Wort Chirographum findet sich in dieser Urkunde aber nicht. Die Urkunde wird im Bayerischen Hauptstaatsarchiv aufbewahrt: Domkapitel Freising Urkunden 1 (freundlicher Hinweis von Herrn Ltd. Archivdirektor Dr. Gerhard Immler). 29 Bernhard Bischoff, Zur Frühgeschichte des mittelalterlichen Chirographum. In: Archivalische Zeitschrift 50/51 (1955) S. 297–300. 30 Vgl. die online-Version des Codex in der Sammlung Schweizer e-codices, St. Gallen, Stiftbibliothek, Cod. Sang. 912, p. 49, unter: https://www.e-codices.unifr.ch/de/csg/0912/49/0/ Sequence-711 (aufgerufen am 15.11.2021). Der Glossator orientierte sich dabei an der griechischen Wortbedeutung. – Vgl. Thomas Vogtherr, Chirographum. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Band 1, 2. Auflage, Berlin 2008, Sp. 833–835.
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Innichen (Südtirol, heute Politische Provinz Bozen, damals zum Herzogtum Bayern gehörend) an das Kloster Scharnitz und dessen Abt Atto dotierte: […] quia manu propria ut potui caracteres cyrografu inchoando depinxi coram iudices atque optimates meis, quia et ipsa loca ab antiquo tempore inanem atque inhabitabilem esse cognovimus […].31 Bernhard Bischoff führte das Vorkommen dieses Wortes in der herzoglichen Urkunde zu Recht auf den Einfluss des St. Galler Scriptoriums und der St. Galler Schule zurück, das im süddeutschen Raum tonangebend war.32 Vermutlich dürften sich auf diese Weise sowohl die fränkisch-merowingischen wie auch die langobardischen Kanzleigepflogenheiten über den alemannischen Raum in den Südwesten des bayerischen Dukats verbreitet haben. Jedenfalls könnte das Privileg der freien Bischofswahl, das Corbinian für seine Gründung des Bistums Freising vom fränkischen Hausmeier erhalten habe, der aus retrospektiver Sicht des 11. Jahrhunderts gar zum Kaiser wurde – apud imperatorem –, genau diese romanisch-fränkische Tradition und ferner die damals übliche Doppelfunktion des Bischofs, der zugleich auch der vom Konvent gewählte Abt in seinem (Bischofs-)Kloster war, deutlich machen.33 Ist also einerseits der etwas spektakuläre Inhalt am Beginn des Archivbehelfs, der eine freie Bischofswahl seit den Anfängen des Bistums mittels eines Chirographum festhalten möchte, dem Zeitgeist des Investiturstreits und der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts verhaftet, so entbehrt dieser erste Eintrag andererseits nicht der historischen Realität. Möglicherweise war Corbinian vom fränkischen Hausmeier tatsächlich mit einem solchen Dokument für seine Missionstätigkeit im agilolfingischen Dukat ausgestattet worden, um hier mittels Bistumsgründungen und durch den Aufbau von Diözesen nach westlichem Muster an den spätantiken, traditionellen Herrschaftszentren und am agilolfingischen Herzogssitz in Freising den fränkischen Einfluss voranzutreiben – und dies auch gegenüber dem langobardischen Königreich im angrenzenden, südlichen Alpenraum zu tun, worauf die Schenkung der Besitzungen an den Heiligen in Kortsch und Mais hindeuten. Der Einfluss seiner in Freising allseits präsenten Vita und die frühe Stilisierung seiner Person durch den karolingerzeitlichen Bitterauf (wie Anm. 21) Nr. 34, S. 61 f. Bischoff (wie Anm. 29) S. 298. 33 Immer noch gültig: Friedrich Prinz, Frühes Mönchtum im Frankenreich. Kultur und Gesellschaft in Gallien, den Rheinlanden und Bayern am Beispiel der monastischen Entwicklung (4. bis 8. Jahrhundert), 2. Auflage, Wien 1988. – Diese Tradition greift auf Augustinus und im merowingisch-fränkischen Bereich auf den hl. Martin zurück. 31 32
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Bischof Arbeo sind hierbei nicht zu unterschätzen.34 Auch bedurfte es im Beweisfall immer der zweiten Hälfte eines Chirographs, diese wäre in der Kanzlei des fränkisch-pippinidischen Hausmeiers zu Anfang des 8. Jahrhunderts zu suchen gewesen und war wahrscheinlich längst verloren gegangen, hätte König Ludwig das Kind im Jahr 906 auf einer Vorlage des zweiten Teils des ursprünglichen Dokuments bestanden und nicht der Freisinger Kanzlei geglaubt. I I I . D e r A r c h i v b e h e l f f ü r d e n Fre i s i n g e r Fe r n b e s i t z Zweifellos entstand der Archivbehelf aus dem Bedürfnis heraus, den von Königen und Kaisern dem Freisinger Bistum zugewandten Besitz ehemaliger Königsgüter des Reiches, die vor allem den Fernbesitz des Bistums betrafen, in chronologischer Reihung festzuhalten. Vieles, was die Kaiser der Ottonendynastie dotiert hatten, stellte das Bistum und die Verwaltungsorganisation am Ende des ersten Jahrtausends vor neue Herausforderungen. Zudem konnte dieser Fernbesitz im 11. Jahrhundert unter Bischof Egilbert (1006–1039) von Privilegien Kaiser Heinrichs II. und der ersten Salierkaiser bestätigt und vergrößert werden. Dies erklärt das Bestreben Bischof Egilberts, die hierzu vorhandenen Dokumente zu bündeln und geordnet aufbewahren zu lassen. Während der zweiten Hälfte des Saeculums verstanden es die Freisinger Bischöfe Nitker und Ellenhard, den Fernbesitz erneut zu vergrößern, was zu den Ergänzungen zur Liste von fol. 4v auf dem Freiraum von fol. 8v der Vorbindung im Cozroh-Codex führte und gleichzeitig zur Kopie dieses Archivbehelfs, inklusive der aktuellen Ergänzungen, im Codex BSB Clm 6427 auf fol. 157, dem Leerblatt am Ende des oben erwähnten Freisinger Rituale. Bisher wurde diese Urkundenauflistung auf ca. 1075 datiert, was für den ersten Teil der Liste, bis zum Ende der Amtszeit Bischof Egilberts führend, auch paläographisch nicht zutreffen kann.35 In einer Zeit des Umbruchs und des weltlichen Machtverlustes der Könige und Kaiser im Reich wachte der Freisinger Bischof als Grundherr über den kirchlichen Besitz seiner Diözese und seines Fernbesitzes, insbesondeBrunhölzl (wie Anm. 27), hier Kap. XXXIII, S. 150f. – Vgl. die Zusammenstellung der Quellen zum Besitz Corbinians bei: Die Regesten der Bischöfe von Freising. Band 1: 739–1184. Bearb. von Alois Weissthanner. Fortgesetzt und abgeschlossen durch Gertrud Thoma und Martin Ott (Regesten zur bayerischen Geschichte 4; Die Regesten der Bischöfe von Freising 1), München 2009, Nr. 2, S. 1f. 35 Vgl. bei Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 78, S. 59, Abs. 3. 34
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re in den Gebieten und Siedlungsräumen, in denen geistlicher Besitz nun arrondiert worden war und wo sich deshalb bereits Verwaltungseinheiten als Vorformen der spätmittelalterlichen Ämter formierten.36 Ein zeitnah entstandenes Gedicht über Bischof Ellenhard überliefert, dass ihm dies auch vorgehalten wurde; so habe er sich wie ein Leopard gegen die kleinen Pfarreien gebärdet und deren Kauf und Verkauf mehr als geduldet.37 Jedoch, während man damals gerade in anderen Bistümern des Reiches über die Formalien der Bischofswahl stritt und danach trachtete, sich auf den nur von Kanonikern zu führenden und auf sie zu beschränkenden Wahlmodus zu einigen, blieb dieser Diskurs des Investiturstreits für Freising unangefochten, weil man hier die freie Bischofswahl als Institution traditionell mit dem Wirken des Bistumsheiligen Corbinian und der ihm zugesprochenen Gründung des Bistums begründen konnte. So überliefert es jedenfalls der Archivbehelf.38 Die Könige und Kaiser des Mittelalters verschenkten das Land großzügig an Bistümer und Klöster, weil diese in der Lage waren, durch Rodung und Kultivation die großen Freiflächen in die vorhandenen Infrastrukturen des Reiches einzubinden und sie für Wirtschaft und Handel zu erschließen. Die Religion mit dem von ihr vorgegebenen Zeitenlauf der Jahres-, Monats-, Wochen- und Tagesrhythmen wirkte als Medium zur Bewältigung des Alltagslebens im Rhythmus zwischen Arbeit und Ruhe und sorgte für christliche Feiern. Auf diese Weise war Anreiz für Migration in die Randzonen des bischöflichen Fernbesitzes gegeben; und weil die Kleriker die Arbeitskräfte dabei begleiteten oder bereits vorher missionierend tätig gewesen waren, ließ sich das vorhandene Potential an freien wie unfreien Arbeitskräften des Bistums auch im Fernbesitz zu einem sozialen, Vgl. bei Anm. 25 und 102. Es heißt hier etwa: Hinc Ellenhardus, Frisingensis leopardus/ Appreciatarum raptores ecclesiarum/Omnes mutavit, aliis curiisque locavit […]. Is qui vendebat velut immunis residebat […], ediert von Oswald Holder-Egger, Aus Münchener Handschriften. In: Neues Archiv 13 (1888) S. 557–588, hier S. 571f. – Das Gedicht steht in der Handschrift aus dem Kloster Indersdorf, heute BSB Clm 7804 auf fol. 106r–v. – Beschreibung der auf 1125 datierten Handschrift durch Karl Halm – Georg von Laubmann – Wilhelm Meyer, Catalogus codicum latinorum Bibliothecae Regiae Monacensis, Bd.: 1, 3, Codices num. 5251–8100 complectens, secundum Andreae Schmelleri indices composuerunt Carolus Halm, Georgius Thomas, Gulielmus Meyer, Monachii 1873, Nr. 1607, S. 200. – Die Konkurrenz zwischen entstehenden Pfarreien – parrochiis –, die der weltliche Adel stützte, und den Interessen der bischöflichen Verwaltung wird am Beginn des Gedichts sehr deutlich und ist ein Thema der Zeit Bischof Ellenhards. 38 Vgl. Anm. 28. 36 37
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dem Bistum hörigen Personenverband bündeln. Dieser Personenverband war materiell vom kirchlichen Grundherrn ebenso abhängig wie spirituell von den Patronen des Bistums oder Klosters. Für den Freisinger Fernbesitz dürfte sich das Patronat der hl. Maria als mentale Stütze der Arbeitskräfte im slawischen Raum aufgrund der wohl noch vorhandenen spätantiken Traditionen des Muttergotteskultes und des byzantinischen Einflusses der Missionare Kyrill und Method im 9. Jahrhundert günstig ausgewirkt haben, ebenso die sehr positive Haltung zu Maria des Paulinus von Aquileia und Alkuins in der Zeit Karls des Großen als „unversehrte Herrin und durchaus heilige Gottesmutter“ nach dem siebten ökumenischen Konzil von Nicäa des Jahres 787.39 Neben dieses trat der hl. Corbinian als wirkmächtiger Bekenner und erster Bischof in Freising,40 spirituell sicher bedeutend, weil in der Nachfolge der Jünger Jesu in Bayern missionierend, jedoch für die Anliegen der Bevölkerung mental nicht im Rang der Muttergottes und großen Fürbitterin aller Anliegen der Bevölkerung stehend. Königsschenkungen boten daher eine Chance für großflächig organisierte Bewirtschaftung des von den Herrschern erhaltenen Landes und für die Lenkung und Bindung der dort lebenden Bevölkerung an das Reich und die Religion durch den geistlichen Grundherrn. Abhängigkeit entstand vornehmlich durch Abgaben, welche sich um Laufe der Zeit in immer drückender werdene Systeme wandelten und zum Verlust der Freiheit für Arbeitskräfte, Inhaber und Inhaberinnen geistlicher Lehen führten, die sich mit Abgaben politische, rechtliche und persönliche Sicherheit durch den mächtigen Freisinger Bischof meinten erkaufen zu können.41 Der König blieb zwar weltlicher wie sakraler Herrscher des Landes; dessen Einflussnahme wurde allerdings aufgrund des Verlustes von Königsland auf besuchsweise Repräsentation und Gastung zunehmend begrenzt.
Hierzu bei Adelheid Krah, Veränderungen der Wirtschaftsentwicklung und der Strukturen im Bistum Freising zur Zeit der Bischöfe Hitto (810/11–834/35) und Erchanbert (835/36–854). In: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 58 (2018) S. 5–110, hier das Kapitel „Die Bethäuser der hl. Maria – ein Erfolgskonzept“ S. 13–15. – Zum Bilderstreit vgl. Hans Georg Thümmel, Die Konzilien zur Bilderfrage im 8. und 9. Jahrhundert. Das 7. Ökumenische Konzil in Nikaia 787. Konziliengeschichte A: Darstellungen (Konziliengeschichte 20), Paderborn u. a. 2005. 40 Brunhölzl (wie Anm. 27) Vita Corbiniani Kap. I und II, wo Corbinian von Bischof Arbeo durch eine Palette von eingängigen Wundertaten sofort zum venerandus vir Dei stilisiert wurde, die seine Romfahrt vorbereiten. 41 Krah – Kellner – Röhrer-Ertl (wie Anm. 1). 39
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Am Beginn der Verwaltung der auf diese Weise entstandenen, großflächigen geistlichen Territorien des Bistums Freising steht also die hier zu besprechende kleine Liste der königlichen und kaiserlichen Schenkungen, die sich in Form eines Archivbehelfs erhalten hat. Die sehr klug erdachte Aussortierung der wichtigsten Urkunden war nämlich nicht nur für die Zeit des Investiturstreits von Bedeutung, in der es Bischof Ellenhard als seine Aufgabe ansah, den mittels Herrscherschenkungen angesammelten Grundbesitz für sein Bistum zu bewahren; vielmehr entfaltete die Liste, einmal erstellt und durch die Nennungen der unter den Bischöfen Nitker und Ellenhard dem Bistum übergebenen Herrscherdotationen erweitert, in der Stauferzeit und darüber hinaus eine enorme Wirkung: Sie wurde nicht nur für Archivarbeiten als Hilfsmittel nachweislich benutzt, sondern auf ihr basierten sowohl die spätere Anlage eines eigenen Amtsbuches für den Freisinger Fernbesitz als auch mehrere Einträge im monumentalen Amtsbuch des 12. Jahrhunderts, welches der Freisinger Sakristan Konradus um 1187 zur prachtvollen Dokumentation des Grundbesitzes des Bistums und seiner Bischöfe hatte anlegen lassen: Der Archivbehelf war in der Kanzlei bekannt und wurde von Conradus Sacrista verwendet, wie es die folgende Edition deutlich machen soll. I V. A n a l y s e u n d In t e r p re t a t i o n d e s A r c h i v b e h e l f s f ü r d e n Fre i s i n g e r Fe r n b e s i t z i m Ko n t e x t der urkundlichen Quellen Die folgende Analyse bringt eine Edition des Textes des Archivbehelfs nach der Überlieferung im Cozroh-Codex fol. 4v und fol. 8 der Vorbindungen zum Codex, hiernach gegliedert in zwei Teilen. Die Wortergänzungen im Duplikat des Freisinger Rituale BSB Clm 6427 auf fol. 157 sind in Klammern gestellt. Es schließt sich die Kommentierung zu den jeweiligen Passagen an, durch die der Inhalt der im Archivbehelf notierten Urkunden im historischen Kontext erläutert wird. Ferner soll die Wirkung des Archivbehelfs auf die Anlage des Freisinger Amtsbuches des Conradus Sacrista (BayHStA, Hochstift Freising Archiv 3 [vormals HL Freising 3c]) von 1187 gezeigt werden, in das einzelne Textpassagen des Archivbehelfs übernommen wurden, sowie dessen Verwendung bei der Anlage des Amtsbuches zum Freisinger Fernbesitz (BayHStA, Hochstift Freising Archiv 7 [vormals HL Freising 4]).
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Teil 1, Cozroh-Codex fol. 4v S{anctus} Corbinianus suo tempore impetravit apud imperatorem cum cirographo licentiam huic familiae perpetualiter episcopum eligere inter se; quod cirographum temporem Waltonis episcopi combustum est.42 Erimbertus {episcopus} Joseph {episcopus} Aribo {episcopus} Atto {episcopus} suo tempore comitatum Otingan, Burgreina, sub Ludovico pio imperatore {primus etiam monasterium istud edivicavit}, idem vero con struxit ecclesiam S. Candidi apud Intichingam, et canonicos ibi collegit ad S. Mariae frisingense totum donavit; postea idem locus de ecclesia S{anctae} Mariae alienatus est. Kommentierung: Hier findet sich der erste größere Eintrag mit detaillierten Angaben zu einer Ausweitung der Diözesanstruktur in karolingischer Zeit in zwei größeren Landschaftsräumen mit Angabe der Regierungszeit Kaiser Ludwigs des Frommen, welche Bischof Atto von Freising, der 811 verstarb und 783 noch zur Zeit Herzog Tassilos zum Bischof von Freising erhoben worden war, allerdings nicht mehr erlebte. Es geht einerseits um den Ausbau der heute dem Landkreis Erding, östlich von München, zugehörenden Gebiete um die Siedlungsplätze Kirchötting und Burgrain mit dem geistlichen Zentrum des agilolfingischen St. Zeno-Klosters in Isen und andererseits um das Kollegiatstift Innichen, das ebenfalls eine agilolfingische Schenkung an das Kloster Scharnitz war, dem Bischof Atto auch als Abt vorgestanden hatte. Das erklärt diesen Eintrag zu seiner Person, obgleich unter seinem Nachfolger die von Atto angelegten Strukturen erst vollendet wurden, und ebenso das Fehlen von Datumsnennungen möglicher Privilegierungen; sie setzen auf dem Archivbehelf erst mit der Amtszeit Bischof Waldos (883–903) ein. • Kirchötting und Burgrain Helmuth Stahleder, der offensichtlich diesen Eintrag kannte und den Forschungen von Ernst Klebel und Karl Bosl folgte, vermutete hier den Argumentiert wird im historischen Kontext, der auf den Brand des Freisinger Domes zu der Zeit von Bischof Waldo Bezug nimmt. Zum Chirograph vgl. oben bei Anm. 29. 42
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Bischof tatsächlich als Inhaber von Grafschaften östlich von München mit den Zentren Kirchötting und Burgrain während der Regierungszeit Kaiser Ludwigs des Frommen.43 Wie wir aus dem Eintrag erfahren, hatte der Kaiser aber den Freisinger Bischof gezielt mit Königsgut dieser Gegend ausgestattet, das ehemaliges Herzogsgut gewesen war und das die Karolingerherrscher nach Tassilos Absetzung usurpiert hatten. Was früher als ein Schutzgebiet des Herzogs nach Osten hin galt, sollte nun vom Freisinger Bischof für den Kaiser in Form eines hier eingerichteten, abhängigen karolingischen Missatica-Bereiches mit landschaftlichem Zentrum entsprechend der Struktur des Reiches verwaltet werden, in dem die karolingischen Gesetze, Kapitularien- und Synodalbeschlüsse, gezielt und regelmäßig öffentlich verlesen und damit allgemein bekannt gemacht wurden.44 Insbesondere fällt im Eintrag die Bezeichnung des comitatus Burgrain auf, also der Landschaftsraum an der Isen mit dem monastischen Zentrum des St. Zeno-Klosters Isen, das somit zur Drehscheibe karolingischer Verwaltung im Osten der Diözese Freising geworden war. Das heutige Kirchdorf Burgrain der Gemeinde Isen im Landkreis Erding gab damals dem gesamten Landschaftsraum den Namen, vermutlich auch als militärisches Zentrum, das aufgrund der Zugehörigkeit des Klosters Isen zum Bistum Freising dort bereits eine eingespielte, eigene Kanzlei für den Schriftverkehr
Vgl. Helmuth Stahleder, Hochstift Freising (Freising, Ismaning, Burgrain) (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern, 33), München 1974, S. 14. – Man sollte sicherlich nicht mehr das sich nach dem Sturz Tassilos um den Bischofssitz Freising befindliche Königsgut als von Königsfreien verwaltetes Reichsgut ansehen, wohl aber als eine damals erfolgte Stärkung des Freisinger Bischofssitzes, welches von den Getreuen Karls des Großen mitverwaltet wurde. Zu der sehr unterschiedlich verstandenen Schicht der „Königsfreien“ vgl. Gabriele von Olberg, Die Bezeichnung für soziale Stände, Schichten und Gruppen in den Leges barbarorum (Die volkssprachigen Wörter der Leges barbarorum Teil 2, Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 11), Berlin 1991, S. 36–45. 44 Zu Kirchötting, südlich von Erding gelegen, vgl. Philipp Apian, Chorographia Bavariae (1568, im Druck erschienen nach 1651, Blatt 4, Mapp. XI, 25a), digital abrufbar über die Bayerische Landesbibliothek online. – Die Einteilung des Karolingerreiches in MissaticaBereiche, welche das gesamte Reich in geistliche Bezirke untergliederte, denen jeweils ein Bischof oder Abt vorstand, ist in den karolingischen Kapitularien gut dokumentiert. Diese von Karl dem Großen begonnene Strukturierung erlebte ihre Hochform unter seinem Nachfolger Ludwig dem Frommen, der offensichtlich auch den ehemaligen bayerischen Dukat miteinbezogen hatte; zur Strukturierung Neustriens in Missatica vgl. Adelheid Krah, Zur Kapitulariengesetzgebung in und für Neustrien. In: Hartmut Atsma (Hrsg.), La Neustrie 1. Les pays au nord de la Loire de 650 à 850. Colloque historique international (Beihefte der Francia 16), Sigmaringen 1989, S. 565–581. 43
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besaß.45 Natürlich handelte es sich bei diesem Landschaftsraum auch um die Heimat des Salzburger Erzbischofs Arn (geb. nach 740, † 24.1.821), so dass anzunehmen ist, dass der Ausbau dieses Landschaftsraums in Form eines Missatica-Bereiches auch in seinem Interesse war und dem Aufbau der Verwaltungsstrukturen im Westen seiner erst seit 804 bestehenden Erzdiözese dienen sollte. Hieraus hat sich im Laufe der Jahrhunderte das Freisinger Amt Burgrain entwickelt, das bis zur Säkularisation von 1802/03 bestand.46
Abb. 1: Beginn des Archivbehelfs (BayHStA, Hochstift Freising Archiv 1 [vormals HL Freising 3a], Cozroh-Codex fol. 4v).
Anders als der Verfasser des Eintrags im Archivbehelf zu Bischof Atto von Freising ging Conradus Sacrista gegen Ende des 12. Jahrhunderts vor, denn er hat diesen Eintrag des Behelfs nicht übernommen. Attos Leistung für Freising lag in der Gewinnung von Grundbesitz für das Bistum mit Hilfe der Verfahren der karolingischen Gerichtsbarkeit, mit welchen er den ehrwürdigen Stiftungsfamilien ihren einstigen Allodialbesitz erfolgZum geographischen Raum vgl. Die Urpositionsblätter der Landvermessung in Bayern. Isen und Umgebung im Jahre 1876, digital in Bayerische Landesbibliothek online: https:// www.bayerische-landesbibliothek-online.de/images/blo/positionsblaetter/karten/blatt_672.jpg (aufgerufen am 31.10.2020), zur Entwicklung des Amtes Burgrain Stahleder (wie Anm. 43) S. 272–343. 46 Vgl. Stahleder (wie Anm. 43) S. 344–355. – Zu Arn vgl. Störmer (wie Anm. 21). 45
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reich für immer entzog.47 Damit hat er natürlich seinem Nachfolger Hitto vorgearbeitet, dessen Nähe zu Kaiser Ludwig dem Frommen bekannt ist und der vom Kaiser die besagten Privilegien dann erhielt. Conradus Sacrista stellte vielmehr ans Ende der Erfolgsschiene Bischof Attos dessen Vergleich mit dem Abt des Chiemseeklosters über strittige Kirchen, der auf dem kaiserlichen Gerichtstag Karls des Großen in Bad Aibling vom 13. Januar 804 beurkundet worden sei. Dieser Gerichtstag ist sonst nicht bezeugt; er erscheint jedoch wahrscheinlich, da sich Karl der Große im Herbst des Jahres 803 in Regensburg länger aufhielt, wo er eine Gesandtschaft der Awaren empfing, ebenfalls ist der Kaiser als in Salzburg residierend nachweisbar mit Empfang einer Gesandtschaft aus Jerusalem. Von hier war er dann nach Westen über Como und Alemannien gezogen, dann rheinabwärts nach Worms und nach Aachen. Da damals die bayerischen Angelegenheiten geregelt wurden und die Lex Baiuvariorum auch Zusätze in Form einer Anpassung an die fränkischen Gepflogenheiten erhielt, ist die Zusammenarbeit mit Bischof Arn von Salzburg sicher realistisch, der natürlich die Interessen des Freisinger Bischofs Atto in der Auseinandersetzung mit dem Abt von [Herren-] Chiemsee, wie es die Urkunde zeigt, unterstützte. Diese Urkunde ist nur im frühen Cozroh-Codex überliefert; Conradus Sacrista ließ sie abschreiben und mit dem Bild des auf einem Reisethron sitzenden Kaisers Karl illuminieren, womit er den Teil der Urkunden Bischof Attos in seinem Ko-
Abb. 2: Traditionscodex des Conradus Sacrista von 1187 (BayHStA, Hochstift Freising Archiv 3 [vormals HL Freising 3c], fol. 38v). Detailreich untersucht durch Warren Brown, Unjust seizure. Conflict, interest and authority in an early medieval society, Ithaca 2001. 47
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pialbuch abschloss. Die Abbildung visualisiert die hier richtig überlieferte gute Zusammenarbeit der beiden Bischöfe mit dem Kaiser.48 Das Freisinger Kopialbuch Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4) enthält jedoch die beiden hier im Archivbehelf erwähnten Urkunden, ordnet sie aber fälschlich der Amtszeit Bischof Attos zu, vermutlich aufgrund der Notizen des Archivbehelfs und weil man sich noch im 13. Jahrhundert am alten Traditionsbuch des Cozroh orientierte, das die Vorarbeit Attos für den Gewinn des comitatus Burgreini für das Bistum überliefert hat. Hier findet sich nämlich auf fol. 141v eine Noticia des Tauschvertrages, welcher Bischof Atto gegen sein Lebensende am 24. Mai 811 noch gelungen war und wo dies rechtskräftig bezeugt wurde, nämlich unter Anwendung des in der Lex Baiuvariorum für Zeugen seit alters her obligaten Rituals des „Ohrenziehens“.49 Ebenso ist klar formuliert, dass dieser Tausch in der Absicht erfolgte, eine spätere kaiserliche Bestätigung noch einzuwerben, denn es heißt: Erat enim utrisque conveniens et commodum istum concambium fieri deditque Rifuinus haec praedicta propria […] in proprium Deo et sanctae Mariae in perpetuam possessionem eo tenore, ut si domni nostri imperatoris esset voluntas hoc ex utrisque partibus ita suo confirmare praecepto, ut econtra dedisset ei domnus Atto episcopus aliud tantum valente ex rebus sanctae Mariae sibi in perpetuum hereditatem filiisque et posteris eius […].50 Das bedeutet aber, dass nur eine Hälfte des Tausches unter Bischof Atto getätigt wurde und sein Verdienst darin lag, vom adeligen Rifuin die Zusicherung des Erbbesitzes für die geplante Aktion schriftlich erhalten zu haben, für welchen Rifuin und seine Erben aber noch vom Bistum Freising zu entschädigen waren! Vgl. Traditionscodex des Conradus Sacrista (BayHStA, Hochstift Freising Archiv 3 [vormals HL Freising 3c]), Freising, 1187, fol. 38v, sowie Cozroh-Codex (BayHStA, Hochstift Freising Archiv 1 [vormals HL Freising 3a]), fol. 139, und die Edition der Urkunde bei Bitterauf (wie Anm. 21) Nr. 193, S. 182–185. – Zum historischen Kontext s. RI I n. 404b. In: Regesta Imperii Online, URI: http://www.regesta-imperii.de/id/0803-0000_1_0_1_1_0_1071_404b (aufgerufen am 30.10.2021). 49 Vgl. Cozroh-Codex (BayHStA, Hochstift Freising Archiv 1 [vormals HL Freising 3a]), fol. 141v–142v, sowie Bitterauf (wie Anm. 21) Nr. 298, S. 257f. – Zum in der Lex Baiuvariorum beschriebenen Ritual des „Ohrenziehens“ bei weltlichen Rechtsgeschäften vgl. Adelheid Krah, Gemeinschaft – Zeugen – Vernetzungen. Inszenierte Gemeinschaften im frühmittelalterlichen Bayern. In: Dies. (Hrsg.), Quellen, Nachbarschaft, Gemeinschaft. Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Kulturgeschichte Zentraleuropas, Wien u.a. 2019, S. 14–46, hier S. 40f. 50 BayHStA, Hochstift Freising Archiv 1 (vormals HL Freising 3a), fol. 142; Bitterauf (wie Anm. 21) Nr. 298 S. 257f. 48
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Es lag also im Interesse des Ausbaus der karolingischen Verwaltungsstrukturen, dass dieses Gebiet im Westergau, der unter Rifuin wohl wirklich ein comitatus im militärischen Sinn gewesen war, in einen Verwaltungsbereich des Bistums Freising umgewandelt werden sollte, aber auf alle Fälle nun dem Bistum und seinen bedeutenden militärischen Ressourcen unterstand. – Diese Notiz der Urkunde hat Conradus Sacrista auf fol. 32r–v, dem Text des Cozroh-Codex folgend, in seinen Codex kopieren lassen.51 • Ähnliches galt für das gesamte Pustertal mit dem Zentrum Innichen, wobei hier Attos Leistung festgehalten wurde, der als Abt des Klosters Scharnitz 769 von Herzog Tassilo III. den Besitz Innichens und des gesamten Pustertals erhalten hatte, um im Sinne der von hier aus nach Osten vordringenden Missionierung der Awaren tätig zu werden. Atto habe die Kirche des hl. Candidus erbaut und das Kloster in ein freisingisches Kanonikerstift umgewandelt.52 Die Vorarbeiten Bischof Attos waren für den Aufbau des Bistums enorm wichtig. Ganz offensichtlich wurden hier auch karolingische Verwaltungsbezirke, sogenannte Missatica-Bereiche aufgebaut, wobei man diese Umstrukturierungen des Herzogtums in der Amtszeit Bischof Attos (783–811) schrittweise umsetzte. Den großen Durchbruch brachte dann die Herrschaft Karls des Großen in Bayern nach der Absetzung Herzog Tassilos III. Dies spiegelt sich auch in Karls Kapitulariengesetzgebung nach 788 mit den Reformen des Jahres 789 wider.53 Mit den benannten zeitlichen Überschneidungen ist deswegen zu rechnen, weil der agilolfingische Herzog schon vor seiner Absetzung zunehmend seine eigene, ihm getreue, adelige Gefolgschaft einbüßte, die sich für neue Ämter und Aufgaben interessierte. Die beiden Kaiserurkunden Ludwigs des Frommen für Freising, die diese Bestrebungen im Pustertal bestätigen, gehören aber der Amtszeit BiVgl. BayHStA, Hochstift Freising Archiv 3 (vormals HL Freising 3c), fol. 32r–32v. Vgl. bei Anm. 59. 53 Während Karl der Große im Capitulare von Herstal von 779 die kirchliche Verwaltung stärkt, ansonsten sich aber stark der Gesetzgebung seines Vaters König Pippin anschließt (etwa in Titel 12), setzte er mit seiner weit verbreiteten Admonitio generalis, seinem gleichzeitig erlassenen Edikt, und der Anweisung für seine Verwaltungsträger in Aquitanien von 789 zehn Jahre danach ganz andere Maßstäbe: Das große Reich bekam eine Verwaltungsstruktur, die sich stark an die geistliche Reichsordnung anlehnte. – Vgl. MGH Capitularia regum francorum 1, ed. Alfred Boretius, Hannover 1883, nr. 23–25, S. 52–66. 51 52
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schof Hittos von Freising an und vollenden somit Attos Werk, worauf im Archivbehelf auch narrativ hingewiesen wird, wiederum ohne Nennung von Datumsangaben der Kaiserurkunden. Hitto {episcopus} Quem denuo Hitto episcopus requisivit sub Ludovuico imperatore. Kommentierung: Wie ersichtlich, zog sich die Ausstellung der kaiserlichen Bestätigungen und damit auch der Aufbau der beiden geschlossenen Verwaltungsregionen für Freising in die Länge und konnte nicht mehr zu Lebzeiten Kaiser Karls des Großen erfolgen. Dies mag weniger mit dem Amtswechsel in Freising zu tun gehabt haben als vielmehr mit den politischen Zielen des Kaisers und mit seinem Gesundheitszustand. Beides zwang ihn zu langen Aufenthalten in Aachen, wo Karl die Hofakademie förderte sowie die Gesetzgebung des Reiches forcierte und in den heilsamen Quellen seine fortschreitende Krankheit lindern konnte. Die Urkunden für Attos Verdienste wurden erst von Kaiser Ludwig dem Frommen seinem Nachfolger Hitto (811–835) bei dessen Aufenthalten im Februar und im August des Jahres 816 in Aachen ausgestellt. Diese kaiserlichen Bestätigungen hat Cozroh nicht in das Traditionsbuch aufgenommen, obgleich es unter Bischof Hitto entstand. Freilich existiert für das Stift Innichen noch die Originalurkunde, die Hitto damals erhalten hatte. Die Bestätigung des Tauschvertrages Bischof Attos mit dem Adeligen Rifuin wie auch die kaiserliche Confirmatio für Innichen finden sich als kopiale Texte auch im Freisinger Fernbesitz-Amtsbuch des späten 12. Jahrhunderts (BayHStA, Hochstift Freising Archiv 7 [vormals HL Freising 4]) und zwar in der gleichen logischen Reihenfolge des Ablaufes des Rechtsvorganges, wie ihn auch der Archivbehelf überliefert: zuerst die Confirmatio des Tausches mit Rifuin, betreffend die bischöfliche Besitzlandschaft im Westergau vom 23. August 816, und im Anschluss daran die Confirmatio von San Candido im Pustertal vom 5. Februar 816. Die Reihung der beiden Urkunden in diesem Amtsbuch folgt also dem Archivbehelf. Bischof Hitto und Erzbischof Arn von Salzburg hielten sich im Februar 816 gemeinsam am Kaiserhof in Aachen auf, wohin der Kaiser einen Reichstag einberufen hatte, um aktuelle Angelegenheiten zu regeln.54 Im August 816 war Bischof Hitto Teilnehmer des berühmten Konzils von Aachen, auf welchem die reformierte Regula für das Zusammenleben von RI I n. 607. In: Regesta Imperii Online: http://www.regesta-imperii.de/id/0816-0205_2_0_1_1_0_1493_607 (aufgerufen am 15.11.2021). 54
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Klerikern in Kanonikerkonventen für das gesamte Karolingerreich verabschiedet wurde.55 Zu den beiden, im Kontext kopierten Kaiserurkunden im Codex BayHStA, Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4): • Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4), Freisinger Amtsbuch des späten 12. Jahrhunderts, fol. 29v–30r, Confirmatio des Tausches des Rifuin mit Bischof Atto von Besitz im Westergau (alle Orte LK Erding) nun für Bischof Hitto von Freising, ausgestellt von Kaiser Ludwig dem Frommen in Aachen am 23. August 816, wobei zur Ergänzung des Regierungsjahres eine Lücke gelassen wurde.56 Kommentierung: Amtszeit Bischof Atto 783–811, 27. September. Diese Bestätigungsurkunde für Bischof Hitto basiert auf der Tauschurkunde Attos mit dem Rifuino quidam nobili vom 24. Mai 811, überliefert im Cozroh-Codex fol.141v–142v und im Codex des Conradus Sacrista fol. 32, ediert von Bitterauf (wie Anm. 21) Nr. 298.57 • Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4), Freisinger Amtsbuch des 12. Jahrhunderts, fol. 30r–30v, Restitution und Confirmatio der Zelle San Candido (Innichen, Pustertal, Provinz Bozen, Italien) an Bischof Hitto auf Bitten von Erzbischof Arn von Salzburg, die Bischof Atto von Freising errichtet und dotiert hatte und die zuletzt aber Erzbischof Arn als Beneficium besaß, in Aachen am 5. Februar 816, mit Lücke im Text zur Datierung.58 Kommentierung: Die vom Freisinger Domkapitel mit durchgedrücktem Siegel beglaubigte Einzelabschrift auf Pergament von Anfang des 12. JahrConcilium Aquisgranense 816 (mensibus Augusto et Septembri) MGH Concilia aevi karolini, 2,1, recensuit Albert Werminghoff, Hannover-Leipzig 1906, Nr. 39, S. 307–464. – Es ist aufgrund ihres gemeinsamen Aufenthaltes ab Anfang Februar 816 in Aachen davon auszugehen, dass Erzbischof Arn und Bischof Hitto maßgeblich an der Ausarbeitung und Vorbereitung der neuen Kanoniker-Regula beteiligt waren. 56 Die Urkunde ist ediert in: MGH DD LdFr Nr. 104, S. 250f. von Kölzer zum Jahr 816 eingereiht; ferner von Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 17, S. 13f. – Auf fol. 29v–30r der Handschrift BayHStA, Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4) finden sich die Randnotizen De Burgreni und von späterer Hand Atto episcopus; die in der Handschrift häufige Nachzeichnung des Herrschermonogramms fehlt hier. 57 Vgl. bei Anm. 50. 58 Editionen: MGH DD LdFr Nr. 87, S. 212–214; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 16, S. 11–13, zur vidimierten Zweitschrift durch das Domkapitel vgl. Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 268, S. 196. 55
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hunderts ist im Stiftsarchiv in Innichen erhalten.59 Im Text findet sich folgender Hinweis auf Attos Tätigkeit in Innichen: […] quia Atto quondam Frisingensis ecclesiae episcopus struxit quandam cellulam, que nuncupatur Inticha, et fratres ibidem ad dei omnipotentis officium peragendum congregavit in confinio videlicet Pudigin et Carniensi, ubi Draus fluvius oritur, et eam in honorem sancti Petri principis apostolorum et sancti Candidi martiris construxit et constructam atque propriis ditatam rebus praedictae ecclesiae Frisingensi in perpetuo habendum tradidit, sed postea casu ab eadem ecclesia abstracta est et in beneficium data. – Diese Passage der Urkunde verändert völlig die Sachlage der Schenkungsurkunde Herzog Tassilos an Abt Atto von Scharnitz/Schlehdorf von 769.60 Tassilo tradierte den wichtigen Ort im Quertal der Alpen wegen der Schlehdorf übertragenen Awarenmission, wie oben dargestellt. Der Entfremdung-Topos wird in der Narratio der Urkunde gezielt angewandt, um die Anbindung von Innichen an das Papsttum aufgrund der Übertragung der Reliquien des römischen Märtyrers Candidus durch Papst Hadrian an die von Atto gegründete Kirche deutlich zu machen. Atto war Anfang August 779 oder 780 als Diakon und offenbar auch Gesandter Karls des Großen in Rom tätig gewesen und erhielt vom Papst die Zusage für die wohl übrig gebliebenen Märtyrerreliquien des Candidus, welche der Papst aber ins Frankenreich translationiert wissen wollte.61 Dieses Schreiben Papst Hadrians macht deutlich, dass Atto damals als Gesandter Karls des Großen handelte und wohl auch im Auftrag des mächtigen, fränkischen Abtes Fulrad von Saint Denis, wobei es bei dieser Mission vor allem um die vom Papst gewünschte militärische Unterstützung durch Karl den Großen in Süditalien gegen Benevent und gegen Byzanz ging. Als Gegengabe brachte der Papst den Körper des Märtyrers Candidus ins Spiel, welcher zwar von seinem Vorgänger Paulus anderweitig schon Erzbischof Wilcharius von Sens versprochen worden war, jedoch von diesem abgelehnt wurde und daher frei verfügbar war. – Innichen war demnach zwar eine Gründung Herzog Tassilos durch Dotation von Herzogsgut, aber aufgrund der Übertragung der Karl dem Großen vom Papst zugesagten Ganzkörper-Reliquie des Märtyrers Candidus letztlich eine Gründung der dem bayerischen Herzog übergeordneten Institutionen, des Innichen, Stiftsarchiv, Urkunden XXIII Nr. 2/2a. Vgl. Cozroh-Codex (BayHStA, Hochstift Freising Archiv 1 [vormals HL Freising 3a]) fol. 73r–75r. 61 Vgl. das Schreiben Papst Hadrians an Karl den Großen in: Codex Carolinus, ed. Wilhelm Gundlach, MGH Epistolae Merowingici et Karolini aevi 1, Berlin 1893, Nr. 65, S. 592f. 59 60
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fränkischen Königs Karl und des Papstes in Rom. Atto von Scharnitz war dabei als Gesandter Karls des Großen, Abt von Scharnitz und ab 783 als Bischof von Freising in mehrfacher Funktion und in mehreren Positionen tätig geworden, um das Projekt in seinem Sinne zu vollenden.62 Durch die Aktivitäten von Abt und Bischof Atto bei der Gründung von Innichen als strategisch wichtigem Missionskloster tritt die gewichtige Schenkung Tassilos stark in den Hintergrund. Daher wurde in der historischen Rückschau des 11. und 12. Jahrhunderts in Freising die Gründung zwar mit dem Abt und Bischof Atto, jedoch nicht mehr mit Herzog Tassilo verbunden. In der kaiserlichen Bestätigungsurkunde Ludwigs des Frommen konnte Bischof Hitto die Rechte Freisings an Innichen gegen den Salzburger Erzbischof Arn behaupten, der offenbar aufgrund der ihm und dem Erzbistum Salzburg von Karl dem Großen übertragenen großflächigen Awaren- und Slawenmissionstätigkeit Innichen zuvor als Lehen erhalten hatte. Da damals Kaiser Ludwig der Fromme im Zuge eines Reichstages auch kirchliche Angelegenheiten regelte, scheint es so, dass Erzbischof Arn und Bischof Hitto zur Schlichtung des Streits um die Rechte der kirchlichen Abhängigkeit des Kanonikerstiftes Innichen vor den Kaiser gezogen waren. – Denn am gleichen Tag bestätigte der Kaiser in Aachen der erzbischöflichen Kirche von Salzburg ihre Besitzungen, Immunität und seinen Königsschutz. Zugleich kam auch die Ordnung der Archive ins Spiel mit der berühmten Regelung der Verhältnisse im spanischen Pyrenäenraum vom 10. Februar 816 in Aachen. Dieser Erlass, den Kölzer im Kontext der Diplome Kaiser Ludwigs des Frommen ediert hat, spiegelt das Bestreben des Kaisers um eine zentrale Verwaltungsordnung des Reiches durch Reformen wider.63 In den Kontext dieser kaiserlichen Verwaltungsanordnungen gehört die nur durch das Domkapitel von Freising als Vidimus in EinZur Gründung von Innichen durch den späteren Bischof Atto, damals Abt des Klosters Scharnitz von 769 mit Konsens Herzog Tassilos III. vgl. BayHStA, Hochstift Freising Archiv 1 [vormals HL Freising 3a]) (Cozroh-Codex) fol. 73r–v, Initialblatt der Traditionsurkunden der Zeit Attos, Adelheid Krah, Cozroh-Codex (Hochstift Freising Archiv 1), Digitale Edition. In: Freisinger Amtsbücher; Regesten fol. 73–173, fol. 73r; https://freisin geramtsbuecher.bavarikon.de/Handschriften/Cozroh-Codex (Freischaltung ab 2023); ediert Bitterauf (wie Anm. 21) Nr. 34, S. 61 f.; Krah (wie Anm. 22) S. 413. – Mass (wie Anm. 20) weist S. 107–111, besonders S. 109, richtig auf die hohe Verehrung von Translationsheiligen im 8. und 9. Jahrhundert im Frankenreich hin, die mit der Translation des hl. Candidus dann auch Innichen zunehmend genoss. 63 Vgl. MGH DD LdFr Nr. 88, S. 214–217. 62
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zelabschrift erhaltene Urkunde der Besitzzugehörigkeit von Innichen, die deutlich die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Salzburg und Freising im 12. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Anlage des Freisinger Urbars und des Amtsbuches Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4) zeigt.64 – In der Datumszeile ist der Monatsname vom Schreiber aus gestrichen Sept. zu Febr. emendiert, offenbar ein Diktatfehler. Anno {episcopus} Erchanperht {episcopus} Arnolfus (statt Arnoldus) {episcopus} Kommentierung: Die Reihenfolge der Bischöfe ist nicht korrekt, da auf den für Freising überaus erfolgreich agierenden Bischof Hitto (810/11– 834/35) dessen Neffe Erchanbert folgte (834/35–854); ihm war es gelungen, Freising durch die schwierige Phase der karolingischen Bruderkriege und der Reichsteilung sowie der Konsolidierung des Ostfrankenreiches unter König Ludwig dem Deutschen zu führen. Die falsche Reihung in der im 11. Jahrhundert angefertigten Liste könnte aber auch dadurch entstanden sein, dass in Freising ein Text bekannt war, der die Bischofserhebung Annos durch einen Volkstumult überliefert. Dies wäre als Bischofserhebung durch die Freisinger familia, also durch den gesamten in Freising ansässigen bischöflichen Personenverband – Kleriker, weltlicher Adel, Freie, Abhängige aus freiem und unfreiem Stand – zu erklären, welche offenbar als von Gott gewollter Wahlmodus verstanden wurde. Den Text überliefert Conradus Sacrista in seinem monumentalen Codex, wo es heißt: Quodam tempore dum turbida res agitabantur in episcopatu frisingense contigit deo donante plebem elegisse sibi Annonem episcopum. Quod domnus rex Ludowicus assensit talemque votum benigne sus cepit illumve statuit feliciter regere sanctum ovile.65 Ein weiterer Punkt für die Umstellung der Namen, die Bischof Anno direkt als Nachfolger Bischofs Hittos fälschlicherweise visualisiert, dürfte die vermutete Missionstätigkeit Annos in Begleitung seines gleichnamigen Kölzer datiert die Textüberlieferung auf die Jahre 1170/74. BayHStA, Hochstift Freising Archiv 3 (vormals HL Freising 3c), fol. 82, rechte Kolumne, zweiter Text der Traditionen und Geschäftsvorgänge der Amtszeit Bischofs Annos. Dabei handelt es sich um die Arenga zu einer Streitschlichtung durch die im Namen König Ludwigs handelnden, königlichen Gesandten zugunsten von Bischof Anno, welche in Bad Aibling am 17. März 855 erfolgte. Unterlegen war Bischof Ulrich von Trient, der Freisinger Weinbesitz um Bozen damals seiner Diözese einverleiben wollte. Edition MGH DD LdDt. Nr. 72, S. 101f. 64 65
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Onkels und Passauer Chorbischofs am Leithagebirge im Awarenland gewesen sein, wo sich später Freisinger Fernbesitz befand. König Ludwig der Deutsche hatte auf seinem Hoftag in der Pfalz Osterhofen am 4. März 833 dieses Gebiet zwar der Passauer Kirche dotiert, jedoch dem Chorbischof lebenslange Nutzung beurkundet.66 Die Verwandtschaft Bischof Annos war offensichtlich an den Außenzonen des Ostreiches begütert. Nicht nur am Leithagebirge, sondern auch in Hall in Tirol lag Familienbesitz, welchen der gleichnamige Neffe Annos, nobilis vir nepos et aequivocus domni Annonis episcopi am 20. Mai 875 am Altar der hl. Maria in Freising komplett tradierte. Da dies kurz vor dem Tod Bischof Annos geschah, dürfte eine dann nicht gelungene Nachfolge des damals allerdings weltlichen Neffen vom Onkel vorbereitet worden sein.67 Ferner hatte Anno bereits am 21. März 861 in Regensburg vom Slawenfürsten Kozel Besitz am Plattensee erhalten, wofür in Freising jedoch im 11. Jahrhundert keine Urkunde auffindbar gewesen war, nur eine Traditionsnotiz, welche Conradus Sacrista ebenso überliefert wie die Notiz des in Innichen in Anwesenheit von Bischof Anno vollzogenen Tausches von Land in der Südtiroler Region Tesido gegen Geld des Bischofs. Das Rechtsgeschäft wurde in der St. Georgskirche im Tesido beurkundet, wo der Bischof ein placitum abhielt – actum est in publico placito prope ecclesiam sancti Georii […].68 Für den in Freising im 11. Jahrhundert offenbar kaum noch beachteten Nachfolger Annos, Arnoltus, sind keine Schenkungen überliefert. Rapide ist nach Annos Tod ein Schlussstrich dieser Praxis, warum auch immer, gezogen worden.69 Arnolt musste sich mit Tauschverträgen zufriedengeben, welche alle undatiert sind. Besser in Erinnerung war in Freising der Name Arnolf geblieben, sei es aufgrund des Karolingerkaisers Arnolf von KärnMGH DD LdDt. Nr. 9, S. 11. Vgl. dazu auch Mass (wie Anm. 20) S. 15. Bitterauf (wie Anm. 21) Nr. 914, S. 711; der Neffe Annos tradiert […] ante requiem sanctae dei genetricis Mariae sanctique Corbiniani confessoris Christi tradidit in capsam eiusdem virginis Mariae […]. In Frage kommt auch eine Besitzsicherung als Memoria für den Onkel. 68 BayHStA, Hochstift Freising Archiv 3 (vormals HL Freising 3c), fol. 83; Bitterauf (wie Anm. 21) Nr. 887, S. 696 und Bitterauf Nr. 888, S. 696f. – Die beiden Traditionsnotizen zum Fernbesitz überliefert Conradus Sacrista im Kontext auch mit Hinweis im Text zu einer ausführlicheren Fassung der Notitiae, welche in einem Liber Traditionum zu finden sei, der aber nicht der Cozroh-Codex sein kann. – Zu vermuten ist die romanische Georgskirche im Tesido, etwa 15 km von Innichen entfernt im Pustertal. 69 Vgl. die Tauschnotizen zur Amtszeit Bischof Arnolts Bitterauf (wie Anm. 21) Nr. 921–958. 66 67
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ten oder, was eher zutreffend sein dürfte, weil der Luitpoldinger Herzog Arnolf im Jahr 920 die Vogtei an dem Kanonikerstift in Moosburg an sich gebracht hatte, welche Freising damals für immer verloren hatte.70 – Bischof Arnold wird hier als Arnolfus angeführt.
Abb. 3: Archivbehelf (BayHStA, Hochstift Freising Archiv 1 [vormals HL Freising 3a], Cozroh-Codex fol. 4v).
Walto {episcopus} conquisivit ab Arnolfo rege in Carinthia regalem capellam apud Lurna cum adiacentibus bonis. Postea acquisivit ab eodem rege aliam Capellam apud Liburniam cum adiacentibus bonis. Anno domini DCCCXCI. 70
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Vgl. Stahleder (wie Anm. 43) S. 4.
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Dehinc etiam conquisivit ab eodem regem (sic!) Mosaburch cum adiacentibus bonis. Anno domini DCCCXCV. Post hec etiam acquisivit ab eodem sal quod regibus debebatur in Salina de servis et locis huius ecclesiae. Anno Domini DCCCXCVIII. Postea impetravit ab eodem Ludouvico rege, filio Arnolfi renovari cirographum de eligendo episcopo, quod a S{ancto} Corbiniano prius impetratum istius tempore est combustum. Anno Domini DCCCCVI. Kommentierung: Verzeichnet sind fünf Privilegien, die Bischof Walto/ Waldo von den beiden letzten Herrschern der ostfränkischen Karolingerdynastie, Arnolf und Ludwig dem Kind, erhalten hatte, in chronologischer Reihenfolge aus den Jahren 891, 895, 898, 906. Es erscheinen hier zwei Schenkungen von königlichem Besitz am spätantiken Zentrum um St. Peter im Holz am Lurnfeld. In der Freisinger Kanzlei waren bei Ausfertigung des Archivbehelfs offenbar sowohl die Urkunde Arnolfs vom 21. Juli 891, betreffend die Schenkung des Königshofes Liburnia, vorhanden, wie auch eine auf der Basis dieser Urkunde erstellte Fälschung. Letztere bringt eine von Papst Zacharias angeblich im zeitlichen Kontext der Königserhebung Pippins I. von 749 vorgenommene Besitzzuweisung und Missionsregelung beiderseits der Drau für Freising ins Spiel, welche der Erzbischof Theotmar von Salzburg zur Zeit Arnolfs anerkannt habe. Die Fälschung meint aber eine Besitzerweiterung für Freising, wenn die Bezeichnung des Ortes als Bereich mehrsprachig erklärt wird: […] quandam iuris nostri capellam in Sclauinie partibus ad curtem nostram, quae Liburnia vulgo Lurna vocatur […].71 Auch ist das zum Jahr 906 vermerkte, erneuerte Chirograph zur freien Bischofswahl in Freising nicht existent. Es verbleiben daher die Urkunden Arnolfs von 891, 895 und 898, das sind die Schenkung des Königshofes Liburnia, ferner die Schenkung von St. Castulus zu Moosburg an Freising, realisierbar gewesen beim Tod seiner Mutter Liutswind als deren Memoria, und das Kaiserdiplom über die Zollfreiheit der Salzfuhren nach Freising. Die Originale der Schenkung hinsichtlich Moosburg und das Salzprivileg werden im Bayerischen Hauptstaatsarchiv aufbewahrt unter den Signaturen BayHStA, Hochstift Freising Urkunden (Urk.) 3 und BayHStA, Hochstift Freising Urk. 4.
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Vgl. die Edition bei Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 45, S. 32–34.
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•
891, 21. Juli, wurde im Könighof in Mattighofen der Königshof Liburnia in Kärnten von König Arnolf an Freising geschenkt.72 • 891, 21. Juli, ist die durchgängig in den Freisinger Kopialbüchern ab der Mitte des 12. Jahrhunderts überlieferte, jedoch verunechtete, auf eine päpstliche Schenkung zurückgreifende angebliche Confirmatio von Königsbesitz beiderseits der Drau für Freising datiert, und zwar seit der Erhebung des Hausmeiers Pippin zum fränkischen König, welche damals der Patriarch von Aquileia Johannes bewilligt habe.73 • 895, 16. Juli, dotierte König Arnolf in Regensburg das Gut seiner Mutter Liutswind, das monasterium des hl. Castulus in Moosburg, heute zum Landkreis Freising gehörend, dem Bischofssitz und Bischof Waldo als Memorialstiftung für sich und seine Eltern bei auch künftiger Wahrung der Rechte der Kleriker.74 • 898, 13. Dezember, erhielt Bischof Waldo von Freising eine umfassende Befreiung für den Transport von Salz nach Freising und auf Freisinger Besitzungen, zu Wasser und zu Land. Befürwortet wurde dies von Bischof Engilmar von Passau und der Königin Oda. Da am gleichen Tag auch Bischof Engilmar mit einem kaiserlichen Privileg ein Grundstück innerhalb seiner Bischofsstadt von Kaiser Arnolf geschenkt wurde, implizieren beide Urkunden den Dank des schwerkranken Kaisers für geleistete Unterstützung der Reichspolitik durch die beiden Bischöfe.75 • 906 vermerkt der Archivbehelf die Erneuerung des Privilegs der freien Bischofswahl durch König Ludwig das Kind für Bischof Waldo und seine Nachfolger.76 Die chronologische Reihenfolge der Privilegien Arnolfs wird mit der Urkunde zur Bischofswahl durch seinen Nachfolger König Ludwig das Kind von 906 abgeschlossen; anders ist die Ordnung im Kopialbuch des 12. Jahrhunderts, BayHStA, Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4), das dieses Dokument programmatisch an den Anfang auf fol. 1r–v gestellt hat, dem sich Arnolfs Privileg der zollfreien Salzzufuhr nach Editionen: MGH DD Arn. Nr. 91; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 44, S. 30–32. Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 45, S. 33. 74 MGH DD Arn. Nr. 136. 75 MGH DD Arn. Nr. 170. 76 Vgl. oben bei Anm. 28.
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Freising und die ottonischen Privilegien anschließen.77 – Die verunechtete Schenkung von Lurn von 891 findet sich hier deutlich nach unten gereiht auf fol. 21r–22r, sowie auf fol. 31v–32r, die Regalis concessio de Mosaburc auf fol. 9v–10r. Weitere in dieses Kopialbuch aufgenommene Texte sind die Bestätigung des Tauschgeschäfts von Bischof Waldo mit dem Vasallen Jakob auf fol. 5r–v, durch welches die Orte Mintraching und Figlsdorf (LK Freising) in den Besitz von Freising übergingen, sowie auf fol. 23v–24r die Schenkung des Königshofes Föhring durch König Ludwig das Kind an Bischof Waldo vom 30. November 903, also nach dem Freisinger Dombrand. Im Amtsbuch des Conradus Sacrista beginnt die Phase der unter Waldo erhaltenen Privilegien und Urkunden mit dem angeblich von König Ludwig dem Kind erneuerten Privileg der freien Bischofswahl, dem sich die Zollfreiheit für Salzfuhren nach Freising und zwei Privilegien für das Kanonikerstift St. Castulus in Moosburg anschließen, das damals aus der bischöflichen Obödienz gelöst wurde; es folgen Arnolfs Schenkung des Königshofes Liburnia an Bischof Waldo und weitere Kopien der Dokumente seiner Besitzerwerbungen für das Bistum. Diese Zusammenstellung endet auf auf fol. 100, rechte Spalte, mit der aus dem Archivbehelf zu Bischof Waldo übernommenen Textpassage, welcher seiner Amtszeit hinzugefügt wurde, denn es heißt dort: Et sede huius episcopatus rexit XXII bus annis et deinde excessit rebus humanis.78 Uoto {episcopus. Requisivit a primo Heinrico rege […]} Dracholfus {episcopus} Wolframus {episcopus} Requisivit a primo Heinrico rege praedia S{ancti} Corbiniani, hoc est Meies, Chorzes, Cheines, quae prius ecclesiae ablata fuerunt. Anno Domini DCCCCXXXI. Kommentierung: Zu den Bischöfen Uoto (906–907) und Dracholf (907–926) überliefert der Behelf keine Einträge, das Duplikat bringt einen Kopierfehler vom Anfang des für Bischof Wolfram dann zutreffenden Textes der Restitution des Freisinger Besitzes in Mais und Kuens und des Landschaftsraumes um Kortsch im Vintschgau (alle Provinz Bozen, Italien) durch König Heinrich I., ausgestellt in Quedlinburg am 14. April 931. Die Originalurkunde wird unter der Signatur BayHStA, Hochstift 77 78
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Vgl. Krah (wie Anm. 1) S. 55. BayHStA, Hochstift Freising Archiv 3 (vormals HL Freising 3c), fol. 100.
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Freising Urk. 6 im Bayerischen Hauptstaatsarchiv aufbewahrt. – Während das Amtsbuch des Conradus Sacrista auf fol. 100v kleinere Texte zu den Bischöfen Uoto und Dracholf und deren Medaillons sowie das König Heinrichs I. überliefert, wird hier auf fol. 101r die Schenkung Heinrichs an Bischof Wolfram wiederholt, und zwar im Kontext einer weiteren Urkunde, diesen Freisinger Besitz betreffend, die der bayerische Luitpoldingerherzog Berthold für Bischof Wolfram offensichtlich im Zusammenhang mit der königlichen erlassen hatte und die vermutlich in Freising vorgefertigt worden war, um den Herzog nicht zu übergehen. Das Kopialbuch Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4) überliefert die Königsschenkung auf fol. 26r und die herzogliche auf fol. 35r–35v. Es handelt sich bei letzterer um eine der seltenen Herzogsurkunden aus dieser Zeit.79 Lantbertus {episcopus} Impetravit a primo rege Ottone renovari traditionem de Mosaburch et Veringam. Anno Domini DCCCCXL. Kommentierung: Für Bischof Lantbert ({937}–957) wurde am 29. Mai 940 durch König Otto I. die Zugehörigkeit der Abtei Moosburg sowie des Königshofes in Oberföhring bestätigt.80 Das Original wird im Bayerischen Hauptstaatsarchiv unter der Signatur BayHStA, Hochstift Freising Urk. 7 aufbewahrt. Das Kopialbuch des Conradus Sacrista überliefert die Urkunde auf fol. 102r und das Kopialbuch Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4) auf fol. 15v–16r mit Datierung auf den 1. Juni 940. Abraham {episcopus} Impetravit a primo rege Ottone Gudigan ad suam vitam; post obitum suum ad servicium S{ancti} Candidi anno Domini DCCCCLXXII. Ipse impetravit a II.{secundo} Ottone Chreina, anno Domini DCCCCLXXIIII. Idem prius etiam impetravit ab eodem Ottone Chr{e}inamarcha, anno Domini DCCCCLXXIIII. {Eodem anno} ipse quoque renovari fecit a tercio Ottone traditionem de Gudigan. Anno Domini DCCCCXCII.
Vgl. MGH DD HI Nr. 28; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 78, S. 59f. sowie Nr. 81, S. 61f., ausführlich kommentiert bei Krah (wie Anm. 1) S. 77. 80 Editionen MGH DD OI Nr. 30; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 83, S.63f. 79
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Kommentierung: Die Urkunden sind im Verzeichnis chronologisch nach den Ausstellungsjahren geordnet, sie sind im Amtsbuch BayHStA, Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4) kopial erhalten; das verunechtete Original über die Restitution entzogener Besitzungen im Puster-, Lurn- (Provinz Bozen, Italien) und Kadobertal (Cadore, Provinz Belluno, Italien) durch Kaiser Otto II., datiert auf den 28. Mai 974, wird im Bayerischen Hauptstaatsarchiv unter der Signatur BayHStA, Hochstift Freising Urk. 10 aufbewahrt und ist als Anfang des 12. Jahrhunderts angefertigte Fälschung eingestuft im Fälschungskontext zur Urkunde Kaiser Ottos I. von 972/73. Interessanterweise wird dieser Kontext hier im Amtsbehelf dokumentiert.81 • Auf den 28. Mai 972 wurde das angeblich in Pavia ausgestellte Diplom Ottos I. datiert, mit welchem er Besitz und Einkünfte in den Grafschaften Vicenza und Treviso dem hl. Candidus in Innichen mit lebenslangen Nutzungsrechten für Bischof Abraham tradiert haben soll. Dieses Diplom dürfte eine konstruierte Vorurkunde zur Urkunde Kaiser Ottos III. von 992 sein, wie Theodor Sickel sehr genau dargelegt hat.82 Der spannende Fälschungskontext und seine sehr bewusste Einordnung auch in der Freisinger Kanzlei spiegelt sich in der Reihenfolge der diese Güter betreffenden Diplome der ottonischen Kaiser im Amtsbuch für den Freisinger Fernbesitz, Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4), wider, wo ganz klar das Diplom Ottos III. vom 5. November 992 an die Spitze des Codex gestellt wird; die Fälschungen wurden nachgereiht, das heißt, dass ihnen bei der Anlage des Amtsbuches weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde als dem Diplom Ottos III. • 974 – Die beiden Einträge im Archivbehelf beziehen sich auf die zu Regierungsbeginn von Otto II. in Tribur am 30. Juni 973 und im thüringischen Heiligenstadt am 23. November 973 ausgestellten großen Schenkungen umfangreichen Königslandes in der Krain für Bischof Abraham von Freising, dessen Königsnähe und familiaritas mit letzterer belohnt werden sollte. Da die Gebiete innerhalb genau umschriebener Grenzen lagen, dürfte Bischof AbEditionen MGH DD OII Nr. 80; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 99, S. 77–79, beide mit ausführlicher Kommentierung. 82 MGH DD OIII Nr. 452, Vorbemerkung S. 612. – Sickel versteht MGH DD OI Nr. 30 als Nachzeichnung der Urkunde Ottos III. von 992. 81
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raham wohl vor seiner Teilnahme am Aufstand gegen Otto II. von 974 noch eine Bestätigung des gesamten Besitzes in der „Chreina marcha“ erbeten haben – freilich umsonst, da er gemeinsam mit den aufständischen und slawischen Nachbarn unterlag und im Kloster Corvey in Haft genommen wurde. Die Schenkungsurkunde vom 30. Juni 973 ist kopial überliefert im Amtsbuch Hochstift Freising Archiv 7 [vormals HL Freising 4] auf fol. 19r–20r; für die Schenkung vom November des Jahres ist das Original erhalten (BayHStA, Hochstift Freising Urk. 10).83 • Auf den 5. November 992 datiert das leider nur kopial überlieferte Diplom Kaiser Ottos III., mit welchem er im sächsichen Dornburg die durch seinen Großvater dem hl. Candidus zu Innichen geschenkten Besitzungen und Einkünfte der villa Godego bestätigte mit für Bischof Abraham (957–993/994) lebenslangen Nutzungsrechten. Da Bischof Abraham damals bereits 35 Jahre das Bischofsamt in Freising innehatte, erklärt sich hieraus das wirtschaftliche Interesse des Freisinger Kollegiatstifts an Innichen und die mit retrospektiver Begründung auf die Zeit Ottos I. geführte inhaltliche Verfremdung des Sachverhaltes.84 Diese Urkunden stehen am Ende der von Bischof Abraham für Freising erreichten Privilegien im Amtsbuch des Conradus Sacrista (BayHStA, Hochstift Freising Archiv 3 [vormals HL Freising 3c], fol. 103r–105r). – Die Zeilen des Archivbehelfs, betreffend die Privilegien des unter Bischof Abraham erhaltenen Fernbesitzes, finden sich auf fol. 105r, linke Kolumne, mit folgender Fortsetzung zum Turmbau des Bischofs in Freising als letzter Aktivität und zu seinem Tod: His quoque ab imperatoribus ecclesiae suae impetratis turre quadam monasterium adauxit et diversis ornamentis ecclesiarum implenariis et tapetibus diligentur ac devotus adornavit. Rexitque hanc sedem episcopalem annis XXX.VII et mortuus est et sepultus est in basilica quam in honorem sancti Thomae apostoli erexerat, feliciter amen. Daneben sind drei Randkommentare in Wimpelform geschrieben. – Mit Bischof Abraham wurde auf fol. 102v erstmals im Amtsbuch des Conradus Sacrista von 1187 ein Bischof in Ganzkörperhaltung dargestellt und seine Person auf diese Weise illuminiert, um seiner Bedeutung und Wertschätzung im 83 Editionen: MGH DD OII Nr. 66; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 97, S. 73–75; MGH DD OII Nr. 66; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 98, S. 75f.; vgl. dazu Krah (wie Anm. 1) S. 67. 84 Vgl. dazu ausführlicher Krah (wie Anm. 1) S. 56 und S. 67f.
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Bistum Ausdruck zu verleihen; die Vorgänger wie auch sein Nachfolger Gottschalk sind in Medaillons visualisiert. Das Amtsbuch für den Freisinger Fernbesitz (BayHStA, Hochstift Freising Archiv 7 [vormals HL Freising 4]) hat entsprechend der Bedeutung der Urkunden in der Kanzlei eine Umsortierung vorgenommen: Die gefälschte Urkunde Ottos II. von 974, die im Archivbehelf nicht aufscheint und mit welcher angeblich der Besitz der villa Godego, also Besitz im Puster-, Lurn- und Cadobertal, Innichen bestätigt worden war, wurde auf fol. 2r–2v nach oben gereiht, um einen inhaltlichen Kontext zur jüngsten Urkunde von 992 auf fol. 2v–3v herzustellen; auf fol. 10r–10v findet sich dann die gefälschte Urkunde Ottos I. vom Mai 972, welche die Formeln der Urkunde Ottos III. von 992 spiegelt, und auf fol.19r–20r wurde die Schenkung Ottos II. an Freising vom 30. Juni 973 über Besitzungen in der Krain, etwa des späteren Zentrums Bischofslack (Škofja Loka, Slowenien), an Bischof Abraham kopiert. Dies bedeutet, dass im Amtsbuch ein Sachzusammenhang gewahrt worden war und man die Fälschung der Schenkung durch Otto I. hintangestellt hatte. Die chronologische Liste des Archivbehelfs gibt eine andere Aussage. Dieses Kopialbuch kennt als weitere Urkunden der Zeit Bischof Abrahams die Schenkung Ottos III. an einen Besitznachbarn Freisings im Bereich von Waidhofen vom 15. Juni 993 auf fol. 11v–12r, überliefert auch als Original, BayHStA, Hochstift Freising Urk. 11, und auf fol. 38v–39v eine weitere Schenkung Ottos III. von Besitz in der Krain an Bischof Abraham, ausgestellt in Frankfurt am Main am 10. Oktober 989, sowie auf fol. 40v ein undatiertes Tauschgeschäft Bischof Abrahams mit dem Freisinger Priester Reganfrid über Güter zu Moosburg gegen andere zu Allershausen.85 Gotescalchus {episcopus} Commitatum bonis ecclesiae iuxta Chremisa a III. Ottone, Zudamarisfelt anno Domini DCCCCXCV. Ipse quoque impetravit ab eodem Ottone Nivuinhouan, XXX regaliter hobas, anno Domini DCCCCXCVI. Idem vero impetravit ab eodem Ottone Mereatum omni die in Frisinga legitimum et Monetam Ratisponensem theloneium quoque huius loci quod prius debebatur regibus. Anno Domini DCCCCXCVI.
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Impetravit etiam a rege Heinrico in Carniola bona inter fluvios III, Libniza, Sabum, Zuoram. Anno Domini MII. Commutavit etiam ab eodem rege cum bonis ecclesiae Nauva, Duria, curtem Rotagan, anno Domini MIII. Impetravit ab eodem regem Drubinaha cum adiacentibus bonis. Anno domini MIII. Post obitum suum ad usus fratrum S. Stephani et S. Viti. Kommentierung: Verzeichnet sind sechs Urkunden, wovon Bischof Gottschalk drei von Kaiser Otto III. und drei von König Heinrich II. erhielt. Sie sind im Urkundenbehelf chronologisch nach den Ausstellungsjahren geordnet, anders im Kopialbuch BayHStA, Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4). • Auf den 16. August 995 ist die in Magdeburg ausgestellte Urkunde datiert, mit welcher Bischof Gottschalk sechs Königshufen an der Ybbs zu Ulmersfeld (GB Amstetten, Niederösterreich, Österreich) von Otto III. gegen einen Freisinger Landsitz nahe der Stadt Krems ertauschte. Dem Kaiser ging es damals darum, seine Präsenz am Handelsstützpunkt der auf spätantikem Fundament stehenden Stadt Krems auszubauen und dem Bischof um Ulmerfeld ein slawisches Missionsgebiet zuzuweisen. Hieraus hat sich später das Freisinger Amt Ulmerfeld entwickelt.86 Das Original der Urkunde wird im Bayerischen Hauptstaatsarchiv unter der Signatur BayHStA, Hochstift Freising Urk. 12 aufbewahrt. • Am 1. November 996 wurde in Bruchsal die Schenkungsurkunde Kaiser Ottos III. von 30 Königshufen mit Zentrum Neuhofen an der Ybbs für Bischof Gottschalk ausgestellt, betreffend einen ganzen Landschaftsraum im heutigen Oberösterreich, den die Urkunde als in regione vulgari vocabulo Ostarrichi in marcha et in comitatu Heinrici comitis filii Liutpaldi marchionis in loco Niuuanhova dicto bezeichnet. Diese Urkunde hat Theodor Sickel noch als Diplom zweifelhafter Geltung eingestuft, während seit der Untersuchung von Siegfried Haider von 1997 sie als unverdächtig von der For-
Editionen: MGH DD OIII Nr. 170; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 116, S. 89f. – Die Bedeutung der Stadt Krems als spätantiker Handelsplatz ist in der Vita des hl. Severin bezeugt, die Urkunde Ottos III. benennt den dortigen bischöflichen Besitz Gottschalks als praediolum suae aecclesiae iacens in confinio nostrae proprietatis orientalis urbis quae dicitur Cremisa. 86
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schung akzeptiert wurde.87 Die Urkunde ist im Original erhalten (BayHStA, Hochstift Freising Urk. 14). Am 22. Mai 996 erhielt der Bischof in Rom vom Kaiser das Marktrecht für Freising mit Regensburger Münze, sechs Tage früher als er ein solches für Erzbischof Hadwig von Salzburg und dessen Bischofsstadt ausfertigen ließ, mit ähnlichem Textaufbau. Mit Sicherheit waren Bischof Gottschalk, der Salzburger Erzbischof, aber auch der Regensburger Bischof damals mit dem Kaiser nach Rom gezogen, wie auch der gesamte Romzug und die beteiligten Personen das große Interesse am Handel zwischen dem italienischen Reichsteil und dem deutschen sowie mit der Republik Venedig deutlich werden lassen. Die Urkunde ist im Original überliefert (BayHStA, Hochstift Freising Urk. 13).88 1002 wurde am 24. November in Regensburg von König Heinrich das Königsgut Drasich (Stražišče bei Krainburg, Slowenien) und weiterer Besitz in der Krain, zwischen den Flüssen Leibnitz, Save und Zeier (Slowenien) in der Grafschaft Graf Waldos gelegen, Bischof Gottschalk sowie künftig dem Freisinger Domkapitel geschenkt. Wie auch bei den Diplomen Ottos III. für Gottschalk spielt dabei die Errichtung einer Memoria für die Eltern als Gegenleistung des Bischofs und des Domkapitels eine bedeutende Rolle.89 Mit den beiden am 9. September 1003, dem Tag nach Mariä Geburt, in Bamberg für Bischof Gottschalk ausgestellten Urkunden bestätigte und schenkte König Heinrich dem Bischof Land in der Oberpfalz, also im bayerischen Dukat nördlich der Donau. Damit setzte er eine bereits unter seiner Herzogspolitik begonnene Strategie fort, hier ein Gegengewicht gegen den Passauer sowie den Regensburger Bischof und zu den böhmischen Přemysliden zu bilden und zugleich den auch in Schwaben begüterten Bischof auf Bayern zu beschränken. Die königliche Bestätigung eines Tausches von Herzogsgut an den beiden Orte Dicherling und Zenzing
Editionen: MGH DD OIII 232; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 119, S. 92f.; vgl. Siegfried Haider, Zur Entstehung der Ostarrichi-Urkunde vom 1. November 996 (DO. III.232). In: Albrecht Liess – Hermann Rumschöttel – Bodo Uhl (Hrsg.), Festschrift Walter Jaroschka zum 65. Geburtstag(= Archivalische Zeitschrift 80) 1997, S. 96–124. 88 Editionen: MGH DD OIII Nr. 197; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 117, S. 90f. 89 Editionen: MGH DD HII Nr. 32; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 127, S. 97f. 87
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in der Oberpfalz (LK Cham) ist im Original erhalten (BayHStA, Hochstift Freising Urk. 16).90 Dieser Teil des Archivsbehelfs zu Bischof Gottschalk wurde von Conradus Sacrista, der ihm ohnehin wenig Aufmerksamkeit schenkte, nicht in sein Amtsbuch kopiert, sondern es sind Bischof Egilbert als Nachfolger Gottschalks und König Heinrich, rex gloriosus, am Textende der fünf, für Gottschalks Amtszeit relevanten Urkunden in Medaillons visualisiert. Diese Urkunden überliefert der Codex Hochstift Freising Archiv 3 (vormals HL Freising 3c) in folgender Reihenfolge: fol. 106r – die Schenkung von Neuhofen von 996 (sogenannte Ostarrichi-Urkunde), fol. 105v – die Einrichtung einer Münze in Freising von 996 mit Regensburger Währung, fol. 106r – die kaiserliche Schenkung von Reichsgut an zwei Orten bei Krems von 995, fol. 106r–v – die königliche Tauschbestätigung für Besitz des Bischofs in der Oberpfalz von 1003, fol. 106v – die königliche Schenkung des Predium Drasich (Stražišče bei Krainburg, Slowenien) von 1002, für welche der spätere Freisinger Bischof Egilbert als cancellarius invice Willigis archicancellarius verantwortlich zeichnete. Im Kopialbuch für den Freisinger Fernbesitz des 12. Jahrhunderts ist die Tauschurkunde zwischen Otto III. und Bischof Gottschalk auf fol. 27r–27v überliefert, die Ostarrichi-Urkunde auf fol. 20v–21r, was zeigt, dass deren von Haider konstatierter Zusammenhang kopial hier nicht übernommen wurde. In den Kontext der neuen Wirtschaftsentwicklungen Ottos III. gehört auch die römische Urkunde zum Marktrecht für den Freisinger Bischof, die im Kopialbuch nach oben auf fol. 12f. gerückt wurde und die Randnotiz De mercato Frisingensis sedis erhielt. Die nur kopial überlieferte Schenkung des Predium Drasich (Stražišče bei Krainburg, Slowenien) ist auf fol. 37r–37v geschrieben und die Bestätigung Heinrichs II. für Gottschalk für Besitz in der Oberpfalz auf fol. 18v–19r, die Schenkung Heinrichs II. an ihn vom gleichen Tag auf fol. 28r–28v. – Eine weitere Urkunde der Amtszeit Bischof Gottschalks im Kopialbuch auf fol. 40v–41r betrifft ein Tauschgeschäft Bischof Gottschalks mit dem Priester Reganfrid über Besitz zu Piesing, Langenbach und Eggenberg mit namentlich genannten Hörigen.91 Editionen: MGH DD HII Nr. 55; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 134, S. 100–102; MGH DD HII Nr. 56; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 135, S. 102f. 91 Vgl. Krah (wie Anm. 1) S. 80. – Auf dem in Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4) zwischen fol. 40v und 41r eingebundenen Pergamentzettel wurde der Streubesitz einer Einzelperson, vermutlich eines Freisinger Priesters, mit den Namen der ihn bewirt90
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Egilbertus {episcopus} Impetravit Chatzis ab eodem rege {Heinrico}. Anno Domini MVII. Ipse impetravit ab eodem rege Sahsongan{h}, ad ecclesiam S. Stephani, anno Domini MXXI{I}. Ipse renovari fecit a rege Chuonrado traditionem curtiferi in Ratispona quem prius rex Heinricus donavit {post obitum suum ad usum fratrum Sancti Stephani et Sancti Viti}; anno Domini MXXIIII. {Ipse} Impetravit etiam ab eodem rege praedia iuxta Danubium, anno Domini MXXV. Impetravit quoque ab eodem universalem confirmationem bonorum a prioribus regibus donatorum, anno Domini MXXVIIII. Commutavit sub eodem {rege} Dietpirgiriut cum Hasalpach, anno Domini MXXXI. Impetravit {etiam} ab eodem in oriente praedia iuxta Murun, anno Domini MXXXIII{I}. Impetravit etiam ab eodem curtem Einlingun cum adiacentibus bonis, anno Domini MXXXIII. Impetravit ab eodem curtem Alarun in Marchia, {eodem anno} anno Domini MXXXIII. Kommentierung: Die Urkunden sind hier chronologisch nach den Ausstellungsjahren geordnet. • Am 10. Mai 1007 stattete König Heinrich II. das Bistum Freising mit Besitz in dem damals zum Herzogtum Kärnten gehörenden oststeirischen Raum aus. Der Archivbehelf vermerkt seine überaus großzügige Schenkung des Königsbesitzes um Katsch an der Mur (PB Murau, Steiermark, Österreich), welche Heinrich aufgrund seiner engen Verbindung zu den Freisinger Bischöfen und der unter Bischof Abraham genossenen ersten Erziehung sowie auf Intervention der Königin Kunigunde und seines Regensburger Jugendfreundes Erzbischof Taginos von Magdeburg ausstellen ließ.92 Vom gleichen Tag datiert die als Original erhaltene schaftenden Hörigen verzeichnet, unter anderem von Besitz in Toblach sowie an der Drau. Man kann hierin einen Beleg für eine frühe Form der Privatisierung von an die Institution der geistlichen Herrschaft gebundenem Besitz sehen. 92 Editionen: MGH DD HII Nr. 136; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 145, S. 107– 109; vgl. Joseph (von) Zahn, Codex Diplomaticus Austriaco-Frisingensis. Sammlung von
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Schenkungsurkunde von Königsgut in Oberwölz und Lind (GB Judenburg, Steiermark, Österreich), von welcher das Kopialbuch Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4) eine unbeglaubigte Zweitschrift als Einbindung zwischen folia 29 und 30 enthält, vermutlich in der königlichen Kanzlei ausgefertigt nach Freisinger Vorlage.93 Der Freisinger Bischof kontrollierte damit die wichtige Handelsroute von der Oststeiermark in den bayerischen Raum. Zugleich wurde mit diesen umfangreichen Schenkungen von Königsland die Basis für die Entstehung der späteren Freisinger Ämter Katsch und Rothenfels mit Zentrum in Oberwölz gelegt.94 Am 14. November 1021 wurde im schwäbisch-augsburgischen Mering die Besitzübertragung der Donaufurten am sogenannten Sachsengang (heute bei Groß-Enzersdorf, Niederösterreich, Österreich) dem von Bischof Egilbert neu gegründeten Kloster des hl. Stephan (Weihenstephan) beurkundet, was diesem in großem Stil den Donauhandel mit Ungarn ermöglichte, aber auch die Verpflichtungen zur Grenzsicherung mit sich brachte. Das Original wird im Bayerischen Hauptstaatarchiv unter der Signatur BayHStA, Hochstift Freising Urk. 18 aufbewahrt.95 Nach der Wahl Konrads II. Anfang September 1024 am rechten Rheinufer in Kamba gegenüber von Oppenheim ließ sich Bischof Egilbert, der dabei anwesend war, dann auf Konrads erstem Hoftag in Mainz seine bebaute Hofstätte in Regensburg im Bereich der ehemaligen bayerischen Herzogs- und Königspfalz von ihm bestätigen. Diese dürfte Egilbert während seiner Zeit als Kanzler
Urkunden und Urbaren zur Geschichte der ehemals freisingischen Besitzungen in Österreich I (Fontes Rerum Austriacarum II/31), Wien 1870, Nr. 55, S. 56f. 93 Vgl. Krah (wie Anm. 1) S. 72, Editionen: MGH DD HII 137; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 146, S. 109f. 94 Vgl. hierzu Stahleder (wie Anm. 43) S. 7, sowie die Forschungen von Johannes Grabmayer und Walter Brunner, insbesondere Walter Brunner, Die steirische Herrschaft Rothenfels. In: Hubert Glaser (Hrsg.) Hochstift Freising. Beiträge zur Besitzgeschichte (Sammelblatt des Historischen Vereins Freising 32), München 1990, S. 333–350, hier S. 336–338 und S. 341f. zu den Urkunden König Heinrichs II. vom 10. Mai 1007 (die Schenkung von Wölz wird hier fälschlich als Kaiserdiplom bezeichnet, König Heinrich II. wurde erst am 14. Februar 1014 in Rom zum Kaiser gekrönt). 95 Editionen: MGH DD HII Nr. 45; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 157, S. 114f. – Zur Entwicklung des dort entstandenen Freisinger Amtes und zum Streit über die dortigen Vogteirechten vgl. Krah (wie Anm. 1) S. 83–138.
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Heinrichs II. für das Deutsche Reich und Italien von 1002–1005 erhalten haben. Die früheste Überlieferung der Urkunde bringt das Freisinger Kopialbuch für den Fernbesitz BayHStA, Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4).96 Am 6. Mai 1025 erhielt Egilbert in Schwarzenbruck nahe Nürnberg fünf kleinere Güter nördlich der Donau im heutigen Landkreis Regensburg, welche aber durch gemeinsame Verwaltung des königlichen Hörigen Pezili bereits eine geschlossene Einheit darstellten. Die Schenkung erfolgte vermutlich, um für Egilberts Aufenthalte in seinem Regensburger Hof die Verpflegung sicherzustellen. Die früheste Überlieferung des Textes bringt der Codex BayHStA, Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4).97 Am 3. März 1029 ließ sich Bischof Egilbert von Kaiser Konrad II. in Freising den gesamten bischöflichen Besitz bestätigen, dies vermutlich als Gegenleistung für seine seit 1027 als Vormund des Thronfolgers Heinrich in Bayern geführte Herzogsherrschaft. Die Urkunde ist im Original überliefert (BayHStA, Hochstift Freising Urk. 20).98 Wie sehr Bischof Egilbert der Ausbau des bischöflichen Besitzes in Bayern nördlich der Donau am Herzen lag, zeigt die kaiserliche Bestätigung seines Tauschgeschäftes vom Jahr 1031, ausgestellt in der Pfalz Goslar. Gegen Besitz zu Diepenried (LK Schwandorf ) erhielt dessen Eigentümer Willibord Besitz in Haselbach.99 Am 21. Juli 1033 wurde Bischof Egilbert in Memleben der überaus gut ausgestattete Königshof Aindling (LK Aichach-Friedberg) übereignet, wobei das nur kopial erhaltene Schriftstück mit frühester Überlieferung im Kopialbuch Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4), fol. 22v–23r neben dem Kaiser seinen
Editionen: MGH DD KoII Nr. 3; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 163, S. 118f. Editionen: MGH DD KoII Nr. 29; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 165, S. 123f. 98 Editionen: MGH DD KoII Nr. 136; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 169, S. 125– 127. 99 Editionen: MGH DD KoII Nr. 170; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 173, S. 128f. – Aufgrund der Häufigkeit des Ortsnamens Haselbach/Hasalbach könnte es sich um einen lokalen Tausch in der Oberpfalz gehandelt haben. Auch Theodor Bitterauf, Die Traditionen des Hochstifts Freising, 2. Band: 926–1283 (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte NF Bd. 5), München 1909, Nr. 1431, S. 286 lässt die Identifikation des Ortes offen. 96 97
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Sohn Heinrich als Mitunterzeichner mit eigenem, stilisiertem Monogramm angibt.100 • Ebenfalls in Memleben erhielt Egilbert am 19. Juli 1033 den Königshof Ollern als Schenkung, welche auch König Heinrich gemeinsam mit seinem kaiserlichen Vater unterzeichnete. Das Original ist erhalten (BayHStA, Hochstift Freising Urk. 21). Bischof Egilbert ließ sich seinen Königsdienst großzügig entgelten; deutlich wird hierbei auch die gemeinsame Politik des Freisinger Bischofs mit dem Thronfolger, dessen Erzieher er gewesen war. Zwei Jahre später führte dies zur Entfremdung zwischen Egilbert und dem Kaiser und gipfelte in einem spektakulären Auftritt auf einem Hoftag in Mainz, bei welchem der Kaiser dem Freisinger Bischof die Tür wies, was aber nicht die Absetzung Bischof Egilberts, sondern des Kärntner Herzogs Adalbero zur Folge hatte.101 Ollern liegt südlich der Donau und westlich von Klosterneuburg im Wienerwald Richtung Tullner Becken und dürfte damals ein bayerisches Rodungsgebiet gewesen sein. Das Kopialbuch des Conradus Sacrista setzt nach den Schenkungen innerhalb des Freisinger Diözesangebiets entsprechend dem Archivbehelf mit der Schenkung von Katsch auf fol. 108 ein, gefolgt von der Confirmatio des gesamten Freisinger Besitzes durch Konrad II., hier unter dem programmatischen Titel De stabilitate frisingensis ecclesiae, und den Schenkungen von Besitz um Regensburg, der Schenkung von Furten bei Sachsengang sowie der Schenkung des Königshofes Ollern durch Kaiser Konrad II. und seinen Sohn König Heinrich III. auf fol. 109r–v; es folgen die Schenkung von Besitz am Fluß Url bei Mauer vom 7. Mai 1034 sowie die Schenkung des Königshofes in Aindling, beide fol. 109v, und hier auch die Bestätigung der Schenkung Heinrichs II. betreffend den Freisinger Hof in Regensburg durch Konrad II. und die Schenkung von Besitz der Kaiserin Kunigunde an Bischof Egilbert vom Jahr 1025; anschließend ist das Tauschgeschäft mit Bischof Gebhard von Regensburg noch vor der Kopie des Textes aus dem Archivbehelf eingetragen. 100 Editionen: MGH DD KoII Nr. 196; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 185, S. 135– 137. 101 Editionen: MGH DD KoII Nr. 195; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 184, S. 133– 135. – Zur Entzweiung Egilberts mit dem Kaiser vgl. bei Adelheid Krah, Die Absetzung Herzog Adalberos von Kärnten und die Südost-Politik Kaiser Konrads II. In: Historisches Jahrbuch 110 (1990) S. 309–369.
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Das Freisinger Kopialbuch für den Fernbesitz ordnet die Urkunden der Zeit Bischof Egilberts in anderer Reihenfolge: Die Schenkung des königlichen praediums Katsch an der Mur ist auf fol. 4v–5r nach oben gereiht, ebenso die Universalis confirmatio des gesamten Besitzes für Bischof Egilbert durch König Konrad II. von 1029 auf fol. 6v–7v; die Schenkung von Besitz nördlich der Donau von 1025 steht auf fol. 12r und die eines Teils der Furten bei Sachsengang von 1021 auf fol. 14r, die kaiserliche Bestätigung des Tauschgeschäfts in der Oberpfalz von 1031 steht auf fol. 16v– 17r; die Bestätigung des Freisinger Hofes in Regensburg durch Konrad II. mit sehr genauer Besitzbeschreibung bringt der Text auf fol. 32r–32v und die Schenkungen der Königshöfe in Aindling und Ollern auf fol. 17r–18r sowie auf fol. 22v–23r. – Folgende weitere Urkunden aus der Amtszeit Bischof Egilberts sind in diesem Kopialbuch enthalten: 1. Die Confirmatio der Kirche in Baumkirchen (heute Stadtteil von München) sowie die Bestiftungen von St. Veit in Freising durch die Bischöfe Egilbert (1005–1039) und Nitker (1039–1052) auf fol. 16r–16v. 2. Schenkung mehrerer Königshuben am Fluß Url (GB Mauer/Am stetten a. d. Ybbs, Niederösterreich, Österreich) an die Kirche von Freising und Confirmatio des Besitzes an der Ybbs und bei Kröllendorf (GB Waidhofen a.d. Ybbs, Niederösterreich, Österreich) von 1034 auf fol. 24r–25r. 3. Die Schenkung Heinrichs II. und seiner Gemahlin Kunigunde der königlichen Fiskalgüter zu Wölz (Steiermark, Österreich) und Lind (Unzmarkt, PB Judenburg, Steiermark, Österreich) von 1007 auf dem eingenähten Blatt fol. 30a (wie oben ausgeführt). 4. Ein Tauschgeschäft eines gewissen Popo mit Bischof Egilbert und seinem Vogt Udalschalk, wobei Popo Güter in Rangersdorf, Stall und Latzendorf (GB Winklern, Kärnten, Österreich) und Obergottesfeld (GB Spittal a.d. Drau, Kärnten) sowie an der Drau gegen ehemalige Güter des Iring in Malta und Aich (beide GB Spittal an der Drau, Kärnten) erhält, auf fol. 35v–36r. 5. Die Annullierung eines Tausches der Freisinger Güter in Castello di Godego (Provinz Treviso, Italien), welchen Bischof Egilbert mit Bischof Ulrich I. von Trient gegen näher gelegene Güter abgeschlossen hatte, mit dessen Nachfolger, Bischof Ulrich II. von
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Trient, aufgrund von Uneinigkeit bezüglich der Leibeigenen auf fol. 36v–37r. 6. Die Schenkung der Güter der Kaiserin Kunigunde von 1025 im Innviertel (GB Braunau a. Inn, Oberösterreich, Österreich) und zu [Reichen-]Hall gegen Nießbrauch von Prekarien zu Isen, Burg rain, Dorfen und Tegernbach (alle im LK Erding) auf fol. 37v–38v. 7. Das Tauschgeschäft Bischof Egilberts mit Bischof Gebhard I. von Regensburg, betreffend dessen Erbbesitz in Lajen (Provinz Bozen, Italien) auf fol. 39v–40r.
Abb. 4: Beginn der Abschrift des Eintrags im Archivbehelf zu Bischof Egilbert nach der Version der Überlieferung des Behelfs im Freisinger Rituale BSB Clm 6427; dieser Text bildet im Codex des Conradus Sacrista (BayHStA, Hochstift Freising Archiv 3 [vormals HL Freising 3c] fol. 111r) den Abschluss der kopierten Urkunden der Amtszeit von Bischof Egilbert. – Deutlicher als in den beiden Medaillons am Ende der rechten Kolumne in diesem Codex hätte die exzellente Zusammenarbeit dieses Bischofs mit den Königen und Kaisern seiner Zeit, bei der er alle politischen und persönlichen Hürden wendig nahm, nicht visualisiert werden können.
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Die Zeilen des Archivbehelfs finden sich in gleicher Reihenfolge auch im Amtsbuch des Conradus Sacrista (BayHStA, Hochstift Freising Archiv 3 [vormals HL Freising 3c], fol. 111r) mit folgender Fortsetzung am Ende: Omnibus his peractis ecclesiam istam diversis et optimis ut pro parte inprae sentiarum cernitur, decoravit ornamentis, cyborum enim quod erat ante ignis vastationem super maius altare expansum auro et argento et lapidibus praeciosis erat intextum. Tabulam quoque ex auro purissimo quae in diebus festis ante ipsum altare deponitur, fabrili opere conpegit. Sarcofagum maius et duos lapides itinerarios et libros auro et argento et lapidibus intextos et cappas et casulas quae hic habentur meliores cum calicibus optimis ecclesiae contulit. Plura candelabra circa chorum et pulpitum in quo legebatur evvangelium et duas coronas unam in choro dependentem, alteram ad sanctam crucem miro opere ut merito de ipso dici possit Domine dilexi decorem dominus t. et. l. h. g. t. praeparaverat. Cetera quoque altaria videlicet sanctae crucis et sanctis stephani tabulis et sarcofagis auro et argento cooperta ornaverat. Crucem maiorem ut hodie videtur argento cooperuit. Minorem quoque auro et margaritis cooperuit. Parva quae assidue defertur de puro argento fabricari instituit. Ampullas in cena domini deferendas cum VII candelabris et sedes ferreas III episcopales argento coopertas praeparari iussit. Inmultis quoque reditibus quousque iucit ecclesiam istam ditavit. Der mächtige Besitzzugewinn unter Bischof Egilbert spiegelt sich daher direkt in der während seiner Amtszeit erfolgten, prächtigen Ausstattung seiner Bischofskirche wider, die in diesem Text detailreich beschrieben ist.
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Teil 2, Cozroh-Codex fol. 8 Kommentierung: Teil 2 der Besitzliste, betreffend die Besitzerwerbungen der Bischöfe Nitker und Ellenhard, wurde auf fol. 8 der Vorbindungen des Cozroh-Codex von anderer Hand nachgetragen und steht im Kontext zur vorhergehenden Beschreibung des Amtes Hollenburg auf diesem Blatt.
Abb. 5: Cozroh-Codex, Archivbehelf Teil 2, vorgebundene Blätter fol. 8r untere Hälfte, von einer Hand des 11. Jahrhunderts (BayHStA, Hochstift Freising Archiv 1 [vormals HL Freising 3a]).
Im Folgenden wird der Text der ältesten Grenzbeschreibung des Amtes Hollenburg (BayHStA, Hochstift Freising Archiv 1 [vormals HL Freising 3a], vorgeheftete folia 7v, 8r), von einer Hand des 11. Jahrhunderts, wiedergegeben. Ihm folgt die Auflistung der Erwerbungen von Fernbesitz durch die Bischöfe Nitker († 1052) und Ellenhard († 1078) von anderer, aber wohl zeitgleicher Hand, was darauf hindeutet, dass die Ämterbildung im Fernbesitz damals begonnen hatte.102 102 Der Text wurde ediert von Joseph (von) Zahn, Codex Diplomaticus Austriaco-Frisingensis. Sammlung von Urkunden und Urbaren zur Geschichte der ehemals freisingischen Besitzungen in Österreich III (Fontes Rerum Austriacarum II/36), Wien 1871, Nr. 3.
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Hic notantur marchae quae ad Holmpurch pertinent ad servicium sancti Castuli martyris ad Mosapurch. Inprimis ubi Spuotinesgang ex Danubio effluit usque ad illud Wagreini quod dividit Smurseseigan et praedium sancti Castuli et inde ad usque illam lapideam columnam quae contra Treismo sita est. Et ex ipsa columna per medium fundum Treism et ipsius fluminis usque ad illam lapideam plateam, et sursum per eandem plateam usque ubi Nuzpah in eam plateam cadit, et inde sursum per medium Nuzpah usque ad illum locum, ubi pridem ille lapideus Nuosch iacebat et exinde per eundem rivulum usque ubi ille staphol stat prope fontem, et inde ex illo fontem sursum per medium illius vallis usque ad illam marcham quam Susilinpah vocatur, quae ibi praedium sancti Petri et sancti Castuli et Pernhardi de Vohapurch suorum coheredum disterminat et deinde ad Horiginpahes Houpit, et inde ad illos cumulos quos Leuvn vocamus, et ex inde in tiuphin tal, et deinde per eandem tiuphin tal usque ubi Horiginaltaha Danubium influit et ille Werte qui Ratbicheswerte vocatur, prout medius lucus circuit. Inter has marchas quas notavimus, nihil est excepta una Sclavanica Hoba et una vinea quae ad sanctum Ruodpertum ad Salzpurch aspicit, nisi praedium sancti Castuli martyris ad Mosapurch. Nitkerus {episcopus} Impetravit a. III. rege Heinrico universalem confirmationem cunctorum ecclesiae bonorum. Anno Domini MXXXVIIII. Renovari quoque perfecit ab eodem traditionem de Alarum {Alerun}. Anno Domini MXL. Impetravit ab eodem curtem Ostermundingan in pazo Salzgowe. Anno domini MXL{I}. Impetravit ab eodem Ardacharen. Anno Domini MXLVIIII. Confirmatum ab eodem ecclesias Bouminich{irhen} et Hachingen et Einilingun {Einlingen} et quicquid Egilbertus {episcopus} ad ecclesiam S{ancti} Viti delegavit. Anno Domini MLII. Impetravit ab eodem fratribus huius ecclesiae Leian, Ufchirchen, Ebarash{usen}. Anno Domini MLV. Kommentierung: Verzeichnet sind sechs Urkunden König Heinrichs III. für Freising in chronologischer Reihenfolge mit Datierung von 1039, 1040, 1041, 1049, 1052, 1055. Die Urkunden sind als Originale und in Kopie überliefert. Die Urkunden sind chronologisch nach den Ausstellungsjahren geordnet, anders im Kopialbuch Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4).
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1039 wurde um Weihnachten eine Universalis confirmatio aller Besitzungen und Rechte des Hochstifts für Bischof Nitker durch die Kanzlei König Heinrichs III. ausgestellt. Diese ist nach dem Diktat der Urkunde König Konrads II. vom 3. März 1029 mit veränderten Personennamen und Eschatokoll gefertigt. Bischof Nitker, der sich vermutlich nach Regensburg begeben hatte, wo der Kaiser den Jahreswechsel beging, erhielt sie am Beginn seiner Amtszeit. Von dort war der Kaiser über Augsburg ziehend und das Heer sammelnd nach Oberitalien aufgebrochen. Das Original wird unter der Signatur BayHStA, Hochstift Freising Urk. 23 verwahrt.103 1040, am 18. Januar, erhielt Nitker in Augsburg die königliche Bestätigungsurkunde für die Besitzungen Freisings in Ollern (heute im niederösterreichischen GB Tulln, Österreich). Diese war entsprechend der Vorurkunde Konrads II. vom gleichen Freisinger Kleriker vorbereitet worden. Sie wird im Original unter der Signatur BayHStA, Hochstift Freising Urk. 24 im Bayerischen Hauptstaatsarchiv verwahrt.104 1041, datiert auf den 14. Mai und ausgestellt in Worms, erhielt Nitker den traditionsreichen Königshof Ostermieting/Ostermundingun (heute GB Braunau am Inn, Oberösterreich, Österreich), wo sich bereits eine agilolfingische und karolingische Pfalz befand. – Vermutlich erhielt der Freisinger Bischof den lukrativen Platz in der Grafschaft des Pfalzgrafen Aribo zur weiteren Sicherung des Fodrums für den König, wenn er auf Reisen war und zur Unterstützung der Heereszüge nach Osten, denn es heißt im Text: ob dilectionem et gratum nobis servicium Nitgeri ecclesiae praefatae venerabilis episcopi. Hierfür spricht auch die Intervention der Kaiserin Gisela und des Salzburger Erzbischofs Thietmar.105 1049, am 7. Januar, wurde im bayerischen Ebersberg die Schenkung Kaiser Heinrichs III. von konfisziertem und damit an den Herrscher des Reiches heimgefallenen Besitz der nach Volksrecht verurteilten adeligen Personen Ascuin und Ulrich in Ardagger an die bischöfliche Kirche zu Freising beurkundet, mit der Ver-
Editionen: MGH DD HIII Nr. 11; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 196, S. 145–147. Editionen: MGH DD HIII Nr. 30; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 198, S. 147–149 105 Editionen: MGH DD HIII Nr. 79; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 199, S. 149f. 103
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pflichtung, hier ein Stift für weltliche Kleriker/Kanoniker zu begründen mit dem Patrozinium der hl. Margarete. Der Text dieser Gründungsurkunde des Stiftes Seitenstetten (Österreich) sowie des Freisinger Amtes Ardagger ist nur im Kopialbuch des Stiftes überliefert.106 Die Kirche in Ardagger wurde am 4. September 1063 von Erzbischof Anno von Köln geweiht und zwar anlässlich des Ungarnzugs Heinrichs IV.107 Überliefert sind die Spitzenvertreter der großen, damals anwesenden Gefolgschaft des jungen Königs. Im folgenden der Text nach dem Kopialbuch Seitenstetten: Anno domini incarnationis millesimo LXIII., indictione I., II. non. Septembr. dedicata est hec eclesia a venerabili Annone Coloniensis eclesie archiepiscopo, cooperantibus scilicet Sigefrido Magunciacensi archiepiscopo, Adalberto Premensi archiepiscopo, Ellenhardo Frisingensi episcopo aliisque XXIIII in honore domini nostri Jesu Christi et victoriosissime sancte crucis et perpetue virginis Marie et sanctorum angelorum, archangelorum, patriarcharum, profetarum, apostolorum, martyrum, confessorum, virginum et eorum, quorum reliqui hic sunt recondite: de corpore sancti Iacobi apostoli, Mathei apostoli, Bartholomei apostoli; sanctorum martyrum Georgii, Sebastiani, Primi et Feliciani, Tertulini, Cyriaci, Pancratii, Crisogoni, Castorii, Lamberti; sanctorum confessorum Felicis, Nycolai, Udalrici; sanctarum virginum Margarete, Erindrudis, Cecilie, Gerdrudis. Im Text der damals inszenierten Weihe wird eine soziale und spirituelle Gemeinschaft des Bistums Freising unter Bischof Ellenhard umschrieben: Beim Weiheakt interagieren die höchsten kirchlichen Würdenträger des Deutschen Reiches mit den spirituellen Trägern der Religion – mit dem Religionsgründer, der durch das damals aufgrund der Pilgerreisen nach Konstantinopel und ins Heilige Land hoch verehrte Kreuz Christi präsent war, der hl. Maria und den Erzengeln, den Aposteln und Märtyrern, mit drei ausgewählten Heiligen der Ost- und Westkirche und mit vier heiligen Jungfrauen, unter denen sich die hl. Margarete als ausgewählte Patronin des Stiftes befindet. Der frühe Urkundenbestand
Cod. Seitenstetten 238, fol. 107v, 13. Jahrhundert. – Editionen: MGH DD HIII, Nr. 230; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 208, S. 154f. 107 Editionen: Harry Bresslau (Ed.), Dedicatio ecclesiae Ardachrensis, MGH SS 30/2, Leipzig 1934, S. 778; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 230, S. 172. 106
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der sicherlich auf die Weihe dann folgenden Besitzausstattung des Kollegiatstiftes Ardagger ging leider im Jahr 1250 verloren. Damals vernichteten bewaffnete Anhänger des Herzogs von Bayern anlässlich eines Streits mit dem Stift das gesamte Schriftgut.108 1052, am 18. Mai, bestätigte Kaiser Heinrich III. umfangreichen Besitz des Freisinger Domkapitels in Baumkirchen (heute ein Stadtteil von München), in Poing (LK Ebersberg), in Haching und Aindling (LK Aichach-Friedberg) sowie die Dotationen Bischof Nitkers und seines Amtsvorgängers Egilbert an das von diesem gegründete Stift des hl. Vitus in Freising.109 Bischof Nitker war bereits am 6. April dieses Jahres bei der Rückreise aus Italien in Ravenna verstorben.110 Anders als bei Hermann von der Reichenau, der in seinen Annales den Tod Nitkers zum Frühjahr 1052 vermerkt und dabei auf dessen enorme superbia verweist, werden in der Urkunde für das Domkapitel die großen Verdienste und die Königsnähe Bischof Nitkers hervorgehoben. Die Urkunde dürfte vom Domkapitel während der Sedisvakanz in Freising für die Fortführung der Amtgeschäfte nach Nitkers Tod erfolgreich eingefordert worden sein, ebenso die im Archivbehelf fälschlich für die Amtszeit von Bischof Nitker noch konstatierte nächste Urkunde. 1055, am 10. Dezember, erhielt das Domkapitel von Freising mit der in Neuburg an der Donau ausgefertigten, noch im Original erhaltenen Urkunde Kaiser Heinrichs III. die konfiszierten Besitzungen des ehemals bayerischen Markgrafen Otto zu eigen, welche dieser einst in Lajen (Provinz Bozen, Italien), Aufkirchen (LK Erding) und Hebertshausen (LK Dachau) dem Domkapitel als Prekarien zur Bewirtschaftung gegeben hatte. Markgraf Otto war wegen Verwandtenehe nach bayerischem Recht verurteilt und abgesetzt worden. Vermutlich fiel die Vorbereitung dieser Schen-
108 Vgl. Paul Herold, Stift Ardagger im Mittelalter und die Unmöglichkeit einer Besitzgeschichte. Von Gedächtnisorten, Zufällen der Überlieferung und dem Wandel des erhaltenen Schriftgutes. In: Thomas Aigner (Hrsg.), Das Kollegiatsstift Ardagger (St.-Pöltner Diözesanblatt 20, zugleich: Beiträge zur Kirchengeschichte Niederösterreichs 3), St. Pölten 1999, S. 78–103, hier S. 79f. 109 Editionen: MGH DD HIII Nr. 288; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 219, S. 161f. 110 Georg Heinrich Pertz (Ed.), Hermanni Augiensis Chronicon, MGH SS 5, Hannover 1894, ad a. 1052, S. 131: Et Nizo Frisingiensis episcopus, prius ex superbissimo vitae habitu ad humilitatis et religionis speciem conversus, ac denuo ad pristinae conversationis insolentiam reversus, cum eum iussu imperatoris Ravennam perduxisset, subita inibi morte periit.
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kung in die Zeit der Sedisvakanz des Freisinger Bischofsstuhles. Die beiden Privilegien durch Kaiser Heinrich III. für das Domkapitel wurden offenbar zusammen aufbewahrt und daher in den Archivbehelf in dieser Reihenfolge für die Amtszeit Nitkers aufgenommen.111 Der Text des Archivbehelfs findet sich mit nur geringfügigen Veränderungen im Buchstabenbereich im Amtsbuch des Conradus Sacrista (BayHStA, Hochstift Freising Archiv 3 [vormals HL Freising 3c]) auf fol. 112v, und zwar im Anschluss an die Abschriften von folgenden Privilegien, die Bischof Nitker erhalten hatte: 1. Schenkung von Ostermieting, 2. Universalis Confirmatio, 3. Bestätigung der Schenkung von Baumkirchen, Haching und anderen Orten, 4. Bestätigung der Schenkung der „curtis Alarun in marchia“ (Ollern), die also in anderer Reihenfolge und nicht chronologisch kopiert wurden. Im Amtsbuch des 12. Jahrhunderts zum Freisinger Fernbesitz wurde ebenfalls umsortiert: Die Schenkung des Hofes Ostermieting vom 14. Mai 1041 steht auf fol. 4r–v, die Universalis Confirmatio von Weihnachten 1039 auf fol. 5v–6v, die Confirmatio der Schenkung von Baumkirchen und anderen Orten vom 18. Mai 1052 an das Domkapitel auf fol. 16r–v und die Confirmatio des Hofes in Ollern vom 18. Januar 1040 auf fol. 27v–28r. Die Schenkung von Ardagger vom 7. Januar 1049 fehlt und als weiteres Privileg der Bischofszeit Nitkers wird auf fol. 43r die kaiserliche Entscheidung über die Vermögenskonfiskation eines Albertus filius Alberti in Oberitalien auf dem Gerichtstag in der Gerichtslaube des Klosters von San Pietro in Ciel d´Oro bei Pavia vom 5. Juli 1051 kopial überliefert.112 Ellenhardus {episcopus} Universalem confirmationem impetravit omnium ecclesiae bonorum a IIII rege H{einrico} anno Domini MLVII. Impetravit ab eodem Pirian et Niuvvinburch. Anno Domini MLXII. 111 Original: BayHStA, Hochstift Freising Urk. 25; Edition: MGH DD HIII Nr. 360; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 221, S. 163. – Zum Verfahren s. Adelheid Krah, Absetzungsverfahren als Spiegelbild von Königsmacht. Untersuchungen zum Kräfteverhältnis zwischen Königtum und Adel im Karolingerreich und seinen Nachfolgestaaten (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF 26), Aalen 1987, S. 367 sowie Eduard Hlawitschka, Konradiner-Genealogie, unstatthafte Verwandtenehen und spätottonisch-frühsalische Thronbesetzungspraxis. Ein Rückblick auf 25 Jahre Forschungsdisput (Monumenta Germaniae Historica 32), Hannover 2003, S. 93. 112 Vgl. hierzu Krah (wie Anm. 1) hier S. 81.
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Impetravit ab eodem Abbatiam Buran, anno Domini MLXV. Impetravit ab eodem in Marchia Histriam Gubida, Lonza, Ozba cum ceteris. Anno Domini MLXVII. Impetravit ab eodem C hobas apud Litaha. Anno Domini MLXXIIII. Kommentierung: Verzeichnet sind fünf Urkunden König Heinrichs IV. für Freising in chronologischer Reihenfolge mit Datierung von 1057, 1062, 1065, 1067, 1074. Die Urkunden sind als Originale und in Kopie überliefert. • 1057 erfolgte mit der Volljährigkeit Heinrichs IV., also in der Phase der Ausstellung der Bestätigungsurkunden für geistliche Amtsträger, eine Universalis Confirmatio des gesamten geistlichen Grundbesitzes für Freising und Bischof Ellenhard, ausgefertigt am 9. Februar 1057 von der königlichen Kanzlei in Neuburg an der Donau. Die Urkunde ist im Original erhalten unter der Signatur BayHStA, Hochstift Freising Urk. 26.113 • Am 24. Oktober 1062 wurde in Augsburg die königliche Schenkung von Fiskalgütern zu Piran und Cittanova/ Novigrad (Istrien, Slowenien) an das Kollegiatstift St. Andreas zu Freising, welches Bischof Ellenhard (1052–1078) gegründet hatte, ausgestellt.114 • Vom 18. August 1065 datiert die im sächsischen Gerstungen beurkundete Schenkung der Abtei Benediktbeuern (LK Bad TölzWolfratshausen) an Bischof Ellenhard (1052–1078) und seine Nachfolger, die ebenfalls noch als Original im Bayerischen Hauptstaatsarchiv verwahrt wird unter der Signatur BayHStA, Hochstift Freising Urk. 27.115 • Die vierte verzeichnete Urkunde betrifft die königliche Schenkung der Königshöfe Kubed, Predloka, Osp, Rožar, Truške, welche alle in der Gemeinde Koper/Capodistria in Slowenien liegen, sowie der zwei weiteren Orte Steina und Sanctepetre. Das Original wurde am 5. März 1067 in der Pfalz in Regensburg ausgestellt; es wird
113 Editionen: MGH DD HIV Nr. 6; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 223, S. 165–167, Rückvermerk der Originalurkunde und Randnotiz Confirmatio Heinrici regis quarti. 114 Editionen: MGH DD HIV Nr. 93; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 227, S.169–171. 115 Editionen: MGH DD HIV Nr. 164; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 233, S. 173f.
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im Bayerischen Hauptstaatsarchiv unter der Signatur BayHStA, Hochstift Freising Urk. 28 verwahrt.116 • Im Zuge der Neuregelung der Grenzregion am Neusiedler See gegen Ungarn schien der Freisinger Bischof dem König eine wichtige Stütze zu sein, da er ihm in Regensburg am 26. November 1074 eine umfassende Dotation von dortigem Königsland im Umfang von hundert Mansen an namentlich genannten Orten am Leithagebirge ausstellen ließ; diese Region hatte zuvor König Salomon von Ungarn an König Heinrich IV. und das Reich abtreten müssen. Genannt werden Bruck a. d. Leitha sowie weitere Orte zwischen Leithagebirge und Neusiedler See (Burgenland, Österreich); davon ausgenommen waren das Wildbannrecht am Leithagebirge, das sich der König vorbehielt. Das Original der Königsurkunde wird im Bayerischen Hauptstaatsarchiv unter der Signatur BayHStA, Hochstift Freising Urk. 30 verwahrt.117 Diese Passage des Urkundenbehelfs, betreffend fünf wichtige Urkunden König Heinrichs IV. für Freising und Bischof Ellenhard, wurde mit geringfügigen Veränderungen im Buchstabenbereich im Amtsbuch des Conradus Sacrista (BayHStA, Hochstift Freising Archiv 3 [vormals HL Freising 3c]) auf fol. 115r übernommen; sie bildet den Abschluss der Abschriften von folgenden Texten: 1. Institutio Ellenhardi episcopi, 2. Schenkung Heinrichs III. von Besitzungen an der Leitha an Freising (ohne Überschrift) 3. De stabilitate frisingensis ecclesiae, also die Universalis Confirmatio des gesamten geistlichen Grundbesitzes für Bischof Ellenhard, 4. De Cubida, Lonza, Ozpe, Razari, Trusculo, Steine, 5. De Piran Niuwenburc, 6. De Abbatia Burun, 7. Convencio inter Gebehardus Salzburchi archiepiscopum et Ellenhardum frisingensem episcopum de decimis apud Werde et aliis villis, 8. Conventio inter Ellenhardum frisingensem episcopum et Sigehardum AquileEditionen: MGH DD HIV Nr. 187; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 234, S. 174– 176. – Die bedeutenden Schenkungsurkunden Heinrichs IV. von Besitz in Istrien für Freising sind in der slowenischen Forschung voll reflektiert worden, s. etwa Darja Mihelič, Der mittelalterliche Besitz des Hochstifts Freising in Istrien. In: Matjaž Bizjak (Hrsg.), Festschrift für Pavle Blaznik, Ljubljana 2005, S. 67–81 mit genauen Analysen. 117 Editionen: MGH DH IV, Nr. 276; Weissthanner (wie Anm. 34) Nr. 239, S. 182f.; zu dieser Urkunde vgl. auch Peter Štih, Anfänge und Entwicklung der Urkunden und urkundennahen Schriftlichkeit im Gebiet Sloweniens bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts. In: Reinhard Härtel – Günther Hödl † – Cesare Scalon – Peter Štih (Hrsg.), Schriftkultur zwischen Donau und Adria bis zum 13. Jahrhundert (Schriftenreihe der Akademie Friesach 8) Klagenfurt 2008, S. 295–310, hier S. 304. 116
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giensium episcopum, 9. Traditio Cappella, 10. Sigihostetin, 11. Traditio Avasia. Vier der in der Liste festgehaltenen Königsschenkungen wurden dabei im Kontext von weiteren, für Freising wichtigen kirchenpolitischen Verordnungen und wirtschaftlichen Vergleichen mit Partnern kopiert, und zwar als Texte 2, 4, 5 und 6, betreffend die Schenkungen von Fernbesitz der Jahre 1057, 1062, 1065 und 1074 sowie die Zugehörigkeit der Abtei Benediktbeuern zu Freising. Es fehlt aber die Universalis Confirmatio Heinrichs IV. von 1057, die der Archivbehelf an erster Stelle der Privilegieneinträge zur Amtszeit von Bischof Ellenhard angibt. Im Freisinger Amtsbuch des 12. Jahrhunderts, heute der erste Teil des Codex BayHStA, Hochstift Freising Archiv 7 (vormals HL Freising 4), fol. 1r–46r, das die Urkunden des Freisinger Fernbesitzes kopial überliefert, sind diese Urkunden nicht der Amtszeit Bischof Ellenhards zugeordnet, sondern der Band folgt einer anderen inneren Ordnung.118 Weil für den Kopisten enorm wichtig, wurde die Schenkung der Grenzregion am Leithagebirge von 1074 nach oben auf fol. 3v–4r gereiht; es folgen verstreut etwas weiter unten die Universalis Confirmatio von 1057 auf fol. 7v–8v, die Schenkung der slowenischen Königshöfe in Kubed, Predloka, Osp, Rožar, Truške von 1067 auf fol. 12v–13r, dann auf fol. 13v die Schenkung von Fiskalgütern zu Piran und Cittanova/ Novigrad in Istrien von 1062 an das Kollegiatstift St. Andreas zu Freising und auf fol. 15r–15v die Schenkung der Abtei Benediktbeuern (LK Bad Tölz-Wolfratshausen) an Bischof Ellenhard (1052–1078) und seine Nachfolger aus dem Jahr 1065.
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Vgl. dazu Krah (wie Anm. 1) hier S. 55–83.
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V. Re s ü m e e Im Vorstehenden konnte gezeigt werden, dass der auf fol. 4v und fol. 8 der Vorbindungen des Cozroh-Codex überlieferte Kleintext auf vielfältige Weise die Anlage der beiden Freisinger Amtsbücher beeinflusst hat, die in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in der bischöflichen Kanzlei entstanden sind. Die im Archivbehelf aufgelisteten Privilegien der Könige und Kaiser für die Freisinger Bischöfe wurden bis auf wenige Ausnahmen im Volltext in diese Amtsbücher aufgenommen. Dies bedeutet, dass damals die Originalurkunden oder deren Zweitausfertigungen im bischöflichen Archiv vorhanden waren und als Vorlagen zur Verfügung standen. Sie wurden unter Verwendung dieses Archivbehelfs ausgehoben und wieder an ihren Platz im Archivschrank zurückgebracht. Daher kopierte Conradus Sacrista die Privilegien aus der Amtszeit Bischof Egilberts in der gleichen chronologischen Abfolge, wie sie im Archivbehelf notiert sind. Da es Conradus Sacrista in seinem Amtsbuch vor allem um eine repräsentative Freisinger Bistumsgeschichte in Dokumenten ging, hat er zu den prominenten Freisinger Bischöfen des 10. und 11. Jahrhunderts, Abraham, Egilbert, Nitker und Ellenhard, seine Quellen angegeben, so dass die entsprechende Passage des Archivbehelfs für jeden dieser Bischöfe bei seiner Darstellung im Codex den Abschluss bildet. Dieser Zusammenhang war der Forschung bisher nicht bekannt. Das Freisinger Amtsbuch für den Fernbesitz (BayHStA, Hochstift Freising Archiv 7 [vormals HL Freising 4]) orientierte sich ebenfalls an diesem Archivbehelf, aber nicht nur. Es wurde hier zwar wie im Archivbehelf das frühe Privileg der freien Bischofswahl als im Rang am höchsten stehendes an den Beginn des Codex gestellt, jedoch in der Form der Renovatio durch König Ludwig das Kind für Bischof Waldo von 906. Viele der großen und für die Stabilität des Freisinger Besitzes wichtigsten Schenkungen der Fernbesitzungen sowie der umfassenden, königlichen und kaiserlichen Bestätigungen des gesamten Besitzes des Bistums sind in dem kleinformatigen Codex bewusst nach vorne gereiht worden, um sie sofort – ohne langes Suchen – vorweisen zu können. Priorität hatten die Schenkungen der großen südlichen Weingebiete; so stehen die Confirmatio des Hofes in Castello di Godega durch König Otto III. an Bischof Abraham von 992 und die Schenkung von hundert Mansen am Leithagebirge durch König Heinrich IV. an Bischof Ellenhard von 1074 im Kontext auf fol. 2v–3v und fol. 3v–4r. Beide Regionen – die heutige Provinz Treviso wie die Abhänge
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des Leithagebirges im Burgenland gegen den Neusiedler See – wurden bereits römerzeitlich als hervorragende Lagen für guten Wein geschätzt und kultiviert.119 Die Bestätigungen des gesamten Besitzes über viele Generationen von den Königen und Kaisern des Reiches bildeten im juristischen und verwaltungstechnischen Sinn das Herzstück des Freisinger Grundbesitzes; oft wurde nicht nur bestätigt, sondern es gelang im Detail zugleich die gewünschte Erweiterung. Auf eine chronologische Anordnung, welche im Verwaltungsablauf nur wenig hilfreich gewesen wäre, wurde im Amtsbuch für den Fernbesitz und die Freisinger Ämter verzichtet. Mit einer Laufzeit der Dokumente von Bischof Hitto bis Bischof Otto I., nach den Datierungen der Urkunden von 816 bis 1159, war es der Zweck der Anlage dieses Kopialbuches, die Basis von Grundbesitz, Wirtschaft, Verwaltung und Handel von den Freisinger Ämtern seiner Fernbesitzungen zum Bischofssitz in Freising in einem Buch zusammenzufassen. Dass man dabei Dokumente aus fast 350 Jahren zusammenstellte und zusammenstellen konnte, liegt am Zeitbewusstsein und der eigenen Wertschätzung. Beide Eigenschaften wurden in geistlichen Institutionen des Früh- und Hochmittelalters gepflegt und in ihren Schulen und Bibliotheken, die geschätzte Bildungseinrichtungen des Reiches waren, von Generation zu Generation weitergegeben. Die neuen Wirtschaftsreformen der Zisterzienser im 12. Jahrhundert, denen Bischof Otto I. angehörte, haben viel zugunsten der Verwaltung in den Ämtern beigetragen. Entstanden waren sie aber durch die Privilegien, welche die Vorgänger Bischof Ottos I. über Jahrhunderte als im Dienst des Reiches stehende Führungspersönlichkeiten für ihr Bistum Freising erwirken konnten. Mit Hilfe dieser Dokumente und in einer solchen Tradition stehend, ließ sich die Verwaltung ausbauen und Besitz vor Verlust schützen, notfalls durch Fälschungen von Dokumenten im Stil der vorhandenen. Für deren Einfügung und Zuordnung zu früheren Freisinger Bischöfen war im Archivbehelf, hierfür vorsorgend, genügend Platz gelassen worden.
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Die Geschichte der archivarischen Ausbildung in Deutschland bis 1949/50. Ein Überblick aus Anlass des 200-jährigen Bestehens archivischer Schulen in Europa Von Clemens Regenbogen Vor 200 Jahren nahmen 1821 in München und Paris zwei eigentümliche Bildungsstätten erstmals ihren Betrieb auf, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, leitende Verantwortliche (später: höherer Archivdienst) in Archiven auf ihren späteren Beruf vorzubereiten. Trotz aller anfänglichen Geburtswehen an beiden Orten war damit ein Meilenstein auf dem langen Weg hin zu einer geregelten Archivarsausbildung gesetzt worden. Deren durchaus komplexe Historie in Deutschland ist heutzutage sehr disparat erforscht: Eingehender sind bislang lediglich Preußen und die Zeit des Nationalsozialismus beleuchtet worden – in Form von Einzelstudien zu bedeutenden Persönlichkeiten oder einzelnen Institutionen. Weit weniger spezifische Untersuchungen bestehen dagegen über das auf diesem Felde lange führende Bayern,1 andere Gliedstaaten und insbesondere der nichtstaatliche Archivsektor scheinen noch weitestgehend unerforscht. Als vorrangiges Desiderat ist eine Überschau über die Genese archivischer Ausbildungsstätten in Deutschland zu nennen, handelte es sich dabei doch um einen langwierigen Prozess, der sich während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wiederholt an einzelne Persönlichkeiten knüpfte und gleichzeitig eng mit Institutionen in Frankreich und Österreich verbunden war. Charakteristisch ist die durchgehend gegebene starke Verflochtenheit der Berufsausbildung der Archivare mit, vielmehr gar deren Abhängigkeit von den Historischen Hilfswissenschaften, sei es in personeller, institutioneller und daraus resultierend auch inhaltlicher Hinsicht. Nach einleitenden Ausführungen über die Situation vor der Existenz einer formalisierten Archivarsausbildung in der Frühen Neuzeit möchte der vorliegende Beitrag in einem zweiten, ausführlichen Teil die buntscheckige und häufig auch kurzatmige Geschichte derjenigen Einrichtungen nachzeichnen, an denen seit dem 19. Jahrhundert Archivare, und später 1 Beispielsweise behandelt auch der dem Thema „Die Staatlichen Archive Bayerns in der Zeit des Nationalsozialismus“ gewidmete Band 96 (2019) der Archivalischen Zeitschrift die Archivarsausbildung an der Bayerischen Archivschule nicht in einem eigenen Beitrag.
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auch Archivarinnen, ausgebildet wurden. Ein dritter Abschnitt widmet sich sodann den Lehrinhalten, dem Unterricht und den Prüfungen, ein vierter einer „kleinen Soziologie“ der Archivschüler. Es soll hierbei also ein dreifacher Zugriff auf das Thema erfolgen, auf Entstehen (und auch Vergehen) von Bildungseinrichtungen, auf Curricula und auf Personen. Zeitlich enden soll der Betrachtungszeitraum in den ausgehenden 1940er Jahren, als sowohl die Archivschulen in Marburg und Potsdam gegründet wurden, die von ihrem Auftrag her der Bezeichnung „Archivschule“ dann längerfristig gerecht wurden. 1 . Z u r Au s b i l d u n g s s i t u a t i o n i n d e r Fr ü h e n Ne u z e i t Der Weg zu einer formalisierten Ausbildung für Archivare in deutschen Landen, aber auch in Europa insgesamt war langwierig. Erste Ansätze und Überlegungen darüber, was ein Archivar – avant la lettre – für die Ausübung seines Berufes beherrschen sollte, gab es hingegen bereits in der Frühen Neuzeit – institutionelle Schulen entwickelten sich allerdings erst in einem neuen historischen Kontext ab dem 19. Jahrhundert. Bevor es so etwas wie eine geregelte Ausbildung von Archivaren geben konnte, musste über so grundlegende Fragen wie nach dem Wesen eines Archivs bzw. nach dem Berufsbild eines Archivars ein gewisser Konsens vorhanden sein. Archive waren aus den herrschaftlichen Verwaltungen heraus entstanden, nachdem das Schriftgut zugenommen, sich vom (Staats-)Schatz emanzipiert hatte, und es fachkundigen Personals bedurfte, dieses zu ordnen. Was seit dem ausgehenden 15. und verstärkt dann während des 16. und 17. Jahrhunderts zunächst in den Territorialherrschaften unter den Chiffren einer „Registratur“ beziehungsweise eines „Registrators“ lief, meinte nichts anderes als Verwaltungsmitarbeiter oder Kanzlisten, denen die Obsorge um die Unterlagen anvertraut war.2 Der württembergische Registrator und Stadtschreiber Jakob von Rammingen (1510–1582)3 schuf mit der 1571 in Druck gegangenen Schrift „Von der Registratur“ eine erste Registraturordnung, die unter anderem 2 Zu frühen Registratoren und Archivaren vgl. Bernd Ottnad, Das Berufsbild des Archivars vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. In: Gregor Richter (Hrsg.), Aus der Arbeit des Archivars. Festschrift für Eberhard Gönner (Veröffentlichungen der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 44), Stuttgart 1986, S. 1–22, hier S. 3 f. 3 Zur Person vgl. Beat Rudolf Jenny, Vom Schreiber zum Ritter: Jakob von Ramingen 1510 – nach 1582. In: Schriften des Vereins für Geschichte und Naturgeschichte der Baar und der angrenzenden Landesteile in Donaueschingen 26 (1966) S. 1–66.
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auch ein zehn Punkte umfassendes, idealtypisches Anforderungsprofil der dort Beschäftigten enthielt. So heißt es darin unter anderem, der Registrator „in iuditio et iure möge ein Authorität und Stand und ein Glauben haben“,4 des Weiteren auch „fürsichtig, weiß, verständig, gelehrt, vilwissend, vilgesehen und erfahren, vilkundig, witzig“,5 des Lateinischen mächtig und nicht zuletzt ein veritabler Könner der Schreibkunst sein.6 Rammingen, Bernd Ottnad folgend „erster Theoretiker und Programmatiker“7 des sich im Werden befindlichen Berufsbildes, lässt schließlich auch die Examination des Registrators, welche mündlich und praktisch zu erfolgen habe, nicht außer Acht.8 Im 18. Jahrhundert verfasste der in brandenburg-ansbachischen Diensten stehende Archivar Philipp Ernst Spieß (1734–1794),9 der hier als Exponent einer Reihe von Theoretikern fungieren soll, das Werk „Von Archiven“, 1777 zu Halle an der Saale erschienen. Weniger als von Rammingen rekurriert er darin auf das geistige Profil des Registrators als vielmehr auf einen ausbuchstabierten Fächerkanon: alle Rechtsgebiete, Universal- und deutsche Reichsgeschichte, Heraldik, Numismatik und alle weiteren Hilfswissenschaften, Genealogie, Landesgeschichte, Verfassungsgeschichte, Diplomatik, Registraturkunst und bei allem „eine beständige Unverdrossenheit in Durchsuchung und Durchlesung der verwirrtesten, staubigsten und unleserlichsten Urkunden und Acten“.10 Ein Jahr vor dem Tode Spieß’ hatte die Universität Mainz 1793 eigens einen „Lehrstuhl für Archivwissenschaft“ eingerichtet,11 woran ersichtlich wird, in welchem Maße die Institutionalisierung der Archivistik am Ende des 18. Jahrhunderts bereits vorangeschritten war. Wie aber sah die Realität der Vorqualifikation der Archivare in staatlichen, kirchlichen, adligen oder städtischen Einrichtungen aus?
Jakob von Rammingen, Von der Registratur, und iren Gebäwen und Regimenten, Heidelberg 1571, S. 47. 5 Ebd. S. 49. 6 Vgl. ebd. S. 50. 7 Ottnad (wie Anm. 2) S. 5. 8 Vgl. Rammingen (wie Anm. 4) S. 51–56 „De Examinatione Registratoris“. 9 Zur Person vgl. Hans Jürgen Wunschel, Philipp Ernst Spieß. In: Alfred Wendehorst (Hrsg.), Fränkische Lebensbilder, Bd. 12, Neustadt a.d. Aisch 1986, S. 206–218. 10 Philipp Ernst Spiess, Von Archiven, Halle an der Saale 1777, S. 8 f. 11 Vgl. Ernst Posner, European Experiences in Training Archivists. In: Ken Munden (Hrsg.), Archives & The Public Interest. Selected Essays by Ernst Posner. Introduction by Paul Lewinson, Washington D. C. 1967, S. 45–57, hier S. 45. 4
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Lange Zeit vorherrschend war die Besetzung von Archivarsstellen mit Männern, die ein Jura-, Theologie- oder seltener ein Geschichtsstudium absolviert hatten. Dementsprechend waren neben wenigen Ausnahmen wie etwa Kameralisten oder Medizinern vorwiegend Juristen, Geistliche, Lehrer oder Historiker im Archivarsberuf anzutreffen.12 Ihre eigentlichen archivarischen Kenntnisse erlangten sie gewissermaßen „learning by doing“. Noch im 19. Jahrhundert waren 20 bis 40 Prozent der Registratoren und Archivare ohne vorhergehenden Universitätsbesuch tätig.13 Dessen ungeachtet konnte es vorkommen, dass die anstellende Behörde im individuellen Falle Vorgaben über konkrete Bildungsziele vor Antritt des Archivariats machen konnte. Als ein badisches Beispiel für eine, man ist geneigt zu sagen personenbezogene Proto-Archivarsausbildung des frühen 19. Jahrhunderts sei an dieser Stelle kurz der 1791 geborene Ernst Julius Leichtlen erwähnt. Leichtlen war nach dreimonatiger praktischer Ausbildung im Generallandesarchiv Karlsruhe an die Universitäten Göttingen und Heidelberg entsandt worden, wo er nach einem vom badischen Innenministerium vorgegebenen Curriculum Historische Hilfswissenschaften und archivistische Studien zu betreiben hatte. Daraufhin musste er sich vor einer Kommission leitender Archivare einer Abschlussprüfung unterziehen, um nach einem weiteren Vorbereitungsdienst in einer Ministerialregistratur 1816 endgültig in den staatlichen Archivdienst des Großherzogtums Baden aufgenommen zu werden.14 2 . In s t i t u t i o n e n g e s c h i c h t e Infolge der großen politischen Verwerfungen der Jahre um 1800 wurde demgegenüber eine (endgültige) Professionalisierung des Archivarsberufes in Gang gesetzt. Die immer gleichen Stichworte Französische RevolutiVgl. Frank M. Bischoff, Professionalisierung des Archivars – Anforderungen und Bildungswege vom Ancien Régime bis zur Gegenwart. In: Peter Wiegand (Hrsg.), Festakt des Sächsischen Staatsarchivs aus Anlass des 175-jährigen Bestehens des Hauptstaatsarchivs Dresden und Fachtagung „Archivische Facharbeit in historischer Perspektive“, veranstaltet vom Sächsischen Staatsarchiv in Gemeinschaft mit der Fachgruppe 1 des VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e. V., Dresden, 22.–24. April 2009, Dresden 2010, S. 47–54, hier S. 50. 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. Wolfgang Leesch, Zur Geschichte der Archivarsausbildung. In: Ders., Gesammelte Archivwissenschaftliche Arbeiten (Generalstaatsarchiv und Staatsarchive in der Provinz, Studien 62), Brüssel 1994, S. 161–173, hier S. 161.
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on, Säkularisation, Mediatisierung, Wiener Kongress mögen hier als Hintergrundfolie genügen; eine immense Zahl alter Rechtstitel war damals zu historischen Unterlagen geworden.15 Die aufkeimende historistische Weltsicht trug zu einer Emanzipation der Archive aus dem engen Verwaltungsrahmen bei. Der bisherige „Juristen-Archivar“, seines Zeichens in erster Linie Herrendiener, wandelte sich langsam zum wissenschaftlichen Typus des „Historiker-Archivars“.16 Zu dieser Entwicklung trugen nicht unwesentlich auch jene Ausbildungsstätten bei, die in den folgenden Jahrzehnten nun erstmals geschaffen wurden, waren sie strukturpolitisch wie bildungstechnisch doch gleichsam aufs engste mit der ebenfalls als feste Disziplin sich ausschälenden Geschichtswissenschaft verbunden. Zwei Länder, die von wenigen Ausnahmen abgesehen mehr als andere in ihrer Landes- und Flächenstruktur tiefgreifende Veränderungen erfuhren, waren vielleicht nicht zufällig führend in der Einrichtung von, wie es damals beidseits des Rheins hieß, pépinières, „Pflanzschulen“ für Archivare: die Rede ist von Bayern und Frankreich, die bis heute streiten, wer 1821, mithin vor 200 Jahren, die erste Archivschule gegründet hat. Bayerische Archivschule, München Bis zum heutigen Tage beschreitet Bayern einen Sonderweg in der deutschen Archivarsausbildung. Dieser setzte auffallenderweise schon sehr früh ein, viel früher als in den anderen deutschen Ländern, nachdem Absichten des preußischen Staatskanzlers Karl August Fürst von Hardenberg (1750–1822) für die Einrichtung einer eigenen Ausbildungsstätte für künftige Archivare nach Pariser Vorbild in Berlin aufgrund seines Todes im November 1822 nicht verwirklicht worden waren.17 Im neuen KönigVgl. Bischoff (wie Anm. 12) S. 49. Dass bereits in der Frühen Neuzeit Archivare auch als Historiker fungieren konnten, Archive somit auch Orte der Geschichtsforschung waren und umgekehrt im 19. Jahrhundert jedoch noch lange Zeit arkane Bereiche staatlicher Verwaltung blieben, zeigen: Markus Friedrich, Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte. München 2013, S. 132–135 und 231–235. – Philipp Müller, Die neue Geschichte aus dem alten Archiv. Geschichtsforschung und Arkanpolitik in Mitteleuropa ca. 1800–1845. In: Historische Zeitschrift 299 (2014) S. 36–69. – Ders., Geschichte machen. Historisches Forschen und die Politik der Archive, Göttingen 2019. 16 Vgl. Bischoff (wie Anm. 12) S. 49. 17 Vgl. Johanna Weiser, Geschichte der Preußischen Archivverwaltung und ihrer Leiter. Von den Anfängen unter Staatskanzler Hardenberg bis zur Auflösung im Jahre 1945 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beiheft 7), Köln-WeimarWien 2000, S. 17. 15
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reich Bayern waren seit der napoleonischen Zeit angesichts einer Vielzahl territorialer Erwerbungen besonders große Mengen von Archivalien aus den inkorporierten Territorien für die Verwaltungsaufgaben zu erschließen und nutzbar zu machen. Nachdem der Zugang zum Archivdienst über die bisherigen Juristen hinaus auch auf Anwärter für den diplomatischen Dienst erweitert worden war, wurde am 13. Februar 1821 durch König Maximilian I. Joseph (1756–1825) das „Archivalische Unterrichtsinstitut am Königlich Bayerischen Allgemeinen Reichsarchiv“ in München ins Leben gerufen.18 Der Schwerpunkt des Unterrichts lag auf verschiedenen Staatsrechten, „damit sie [die Archivpraktikanten] bei ihrer Verwendung in den verschiedenen Archiven die planmässige Ordnung der Archivalien begreifen können.“19 Großen Raum nahm auch die Schulung in praktischer Diplomatik an Originalen aus den Reichsarchivbeständen ein. Der erste Kurs endete im Sommer 1824 und war mit Juristen, Philologen, Lehrern und pensionierten Soldaten besetzt. Manche von ihnen waren bereits fest in bayerischen Archiven angestellt, andere waren Aspiranten, dritte freiwillige Hörer. Der Fortbestand der Schule war nicht allein aus finanziellen Gründen unsicher, da das zuständige Ministerium nur nach Bedarf ausbilden wollte.20 1829 kam es zur Wiedereröffnung, nunmehr unter dem Namen „Pépinière und Lehranstalt der Diplomatik am Allgemeinen Reichsarchiv“. Der Ausbildungsgang wurde an die unterdessen von Landshut nach München verlegte Universität transferiert, wo fortan die Lehrveranstaltungen stattfanden.21 Von einer weiteren Professionalisierung der Schule kann daraufhin erst ab den 1860er Jahren durch den ehemaligen literarischen Sekretär des geschichtsbegeisterten Königs Maximilian II. (1811–1864), Franz von Löher (1818–1892), die Rede sein. 1865 hatte Löher eine Denkschrift „Über Einrichtung einer Archivschule oder einer Lehranstalt für die gesammte Archiv- und Registraturwissenschaft am K. Allgemeinen Reichsarchiv“ verfasst und darin zentrale Herausforderungen einer adäquaten wissenschaftlichen Archivarsausbildung skizziert.22 Zwei Vgl. Hans Rall, Die Anfänge der Bayerischen Archivschule. In: Comité Mélanges Braibant (Hrsg.), Mélanges offerts par ses confrères étrangers à Charles Braibant, Brüssel 1959, S. 377–395, hier S. 379. 19 Personalakt Johann Nepomuk Buchinger (Bayerisches Hauptstaatsarchiv [BayHStA], Generaldirektion der Staatlichen Archive 2780), zitiert nach Rall (wie Anm. 18) S. 380. 20 Vgl. ebd. S. 381–383. 21 Vgl. ebd. S. 386 f. 22 BayHStA, Generaldirektion der Staatlichen Archive 1562, vgl. dazu Hermann Rumschöttel, Professionalisierung – Differenzierung – Spezialisierung. Überlegungen zu 18
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Jahre später legte derselbe die Statuten des „Diplomatischen Seminars“, das mittlerweile wieder beim Münchner Reichsarchiv angesiedelt worden war, fest.23 Löher kommen für die Fortentwicklung der Archivistik im deutschsprachigen Raum in dieser Zeit gleich mehrere Verdienste zu: Er war nicht nur der Vater des ältesten noch bestehenden deutschsprachigen Fachorgans, der Archivalischen Zeitschrift (AZ) von 1876 sowie Autor eines zukunftsweisenden Handbuchs der Archivistik,24 sondern auch Schöpfer der pionierhaften Prüfungsordnung für angehende Archivare von 1882, auf die später noch kurz einzugehen ist. Die „Bayerische Archivschule“ ist bis heute keine eigenständige Dienststelle oder gar Behörde, sondern als ein eigener Aufgabenbereich Bestandteil der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns.25 Weitere Spezifika der Münchner Schule sind ihre unregelmäßigen, da bedarfsbezogenen Lehrgänge sowie das Fehlen hauptamtlicher Dozenten, die sich nebenamtlich größtenteils aus leitenden Archivbeamten rekrutieren.26 École des chartes, Paris Wie schon in München, so stand auch in Paris mit der École des chartes (also Urkundenschule) eine erste nationale Ausbildungsstätte für Archivare institutionell noch eine ganze Weile auf wackligen Füßen. Im Geiste der Mittelalterromantik und der Wiederherstellung der Bourbonen-Monarchie gleichfalls im Februar 1821 per königlicher Verfügung Ludwigs XVIII. (1755–1824) ins Leben gerufen, bestand ihr ursprünglicher Zweck vorwiegend in der Befähigung von Mediävisten für vaterländische Quelleneditionen und Forschungsarbeiten. Problematischer Weise entließ die École ihre Absolventen zunächst ohne gesicherte Berufsaussichten, was die
Geschichte, Stand und Zukunft der Archivarsausbildung in Bayern. In: Ders. – Erich Stahleder (Hrsg.), Bewahren und Umgestalten. Aus der Arbeit der Staatlichen Archive Bayerns. Walter Jaroschka zum 60. Geburtstag (Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern, Sonderheft 9), München 1992, S. 93–107, hier S. 98. 23 Vgl. Rall (wie Anm. 18) S. 393 f. 24 Franz von Löher, Archivlehre. Grundzüge der Geschichte, Aufgaben und Einrichtung unserer Archive, Paderborn 1890. 25 Vgl. Hermann Rumschöttel, Die Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns. In: Albrecht Liess – Hermann Rumschöttel – Bodo Uhl (Hrsg.), Festschrift Walter Jaroschka zum 65. Geburtstag (Archivalische Zeitschrift 80), Köln-Weimar-Wien 1997, S. 1–36, hier S. 10. 26 Vgl. Rumschöttel (wie Anm. 22) S. 95 f.
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wesentliche Ursache für ihr rasches Eingehen Ende 1823 darstellte.27 Die Schule wurde 1829/30 erneuert und curricular jenseits des Lesens alter Dokumente erweitert. Auch richtete sie ihre Aufmerksamkeit nun stärker als zuvor über die Hauptstadt hinaus auf provinziale Sammlungen und Archive in Staatseigentum.28 Ihre chartistes genannten Schüler erlangen seit 1829 – und bis heute – nach erfolgreicher Ablegung ihres Examens das Diplom eines sogenannten archiviste-paléographe. Eine grundlegende Reform erfuhr die Lehranstalt dann 1846, als ein fester Lehrplan eingeführt wurde, der erstmals dezidiert auch Archiv- und Bibliothekswissenschaften umfasste.29 Von 1850 an wurde der ausschließlich an der École erwerbbare Titel des archiviste-paléographe für die Leiter der französischen Departementalarchive verpflichtend,30 seit 1887 auch für die Nationalarchivare.31 Ein sehr kompetitives Auswahlverfahren forderte ab 1872 über das Bakkalaureat hinaus den zweijährigen Besuch des Pariser Lycée Henri IV.32 Wer es in den dreijährigen Kurs der École des chartes geschafft hatte, wurde und wird noch heute staatlich remunerierter Student. In diesem gradualen System wurde in der Regel nebenher noch ein Universitätsstudium absolviert. Lange Zeit war die École in verschiedener Hinsicht eine sehr konservativtraditionsbewusste Einrichtung, so stand etwa erst seit 1968 [!] die neuere Geschichte auf dem Lehrplan, der hinfort auch nach dem dritten Semester zwischen Archivaren, Bibliothekaren und Museumskonservatoren aufgetrennt wurde, die bis zu diesem Zeitpunkt gemeinsam unterrichtet wurden.33 Ein dreimonatiges Archivpraktikum war für die Chartisten, die seit 1907 vereinzelt auch Frauen in ihren Reihen vorzuweisen hatten, erst von 1949 an im Anschluss an das Studium vorgesehen.34 Nicht zuletzt auf Vgl. hierzu und zu den Hintergründen der Gründung und frühen Geschichte der École des chartes Lara Jennifer Moore, Restoring Order. The Ecole des Chartes and the Organization of Archives and Libraries in France, 1820–1870, Duluth 2008, S. 23–60. 28 Vgl. ebd. S. 66–71. 29 Vgl. Leesch (wie Anm. 14) S. 162. – Moore (wie Anm. 27) S. 150–154. 30 Vgl. Moore (wie Anm. 27) S. 171. 31 Vgl. Leesch (wie Anm. 14) S. 162. 32 Vgl. ebd. 33 Vgl. ebd. 34 Vgl. ebd. – Seit 1951 bot der Stage technique international d’archives den Chartisten die Möglichkeit, praktische Archiverfahrungen zu sammeln, nachdem eine wachsende Diskrepanz des Unterrichts zu den realen Berufsanforderungen erkannt worden war. Vgl. Paule René-Bazin – Marie-Françoise Tammaro, Le Stage Technique International d’Archives: An Historical Overview and Future Prospects. In: The American Archivist 53 (1988) S. 356–362. 27
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den aus der preußischen Provinz Sachsen stammenden Theodor von Sickel (1826–1908) ist es zurückzuführen, dass die Pariser École des chartes als wichtige Station in einer Geschichte der Archivarsausbildung in Deutschland aufgeführt wird. Dieser hatte von 1850 bis 1852 die École als externer Schüler kennengelernt35 und zeigte sich von deren Ausbildungssystem, das er aus den deutschen Staaten derart nicht kannte, beeindruckt. Der Theologe und Historiker Sickel war aus politischen Gründen nach 1848 nach Frankreich übergesiedelt und nahm verschiedene französische Forschungsaufträge an, die ihn 1855 nach Wien führten, wo er von 1869 bis 1891 als Direktor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung amtieren sollte. Institut für Österreichische Geschichtsforschung (IÖG), Wien In Wien war 1854 eine Einrichtung, die auf die Ausbildung von Mittelalterhistorikern abzielte, gegründet worden – das Institut für Österreichische Geschichtsforschung (IÖG).36 Sein ursprünglicher Zweck bestand darin, die Kenntnisse der Vorgeschichte der habsburgischen Erbmonarchie zu erweitern und somit dem Patriotismus im Kaisertum Österreich neue Kraft zu verleihen. Unter der Ägide Sickels, der den Gründungsvorstand und alleinigen Lehrer Albert Jäger (1801–1891) im Jahre 1869 ablösen sollte, erhielt das Institut nach Pariser Vorbild in den kommenden Jahrzehnten eine markante hilfswissenschaftliche Ausrichtung, insbesondere in der Diplomatik konnte es neue Maßstäbe setzen.37 Anders als in Paris war die Aufnahme in das IÖG nur ein Ergänzungskursus zum regulären Studium an der Universität Wien. Vor ihrer Aufnahme in den Kursus musste von den Kandidaten entweder ein fünfsemestriges Universitätsstudium oder ein absolviertes Universitätsstudium vorgewiesen werden.38 PflanzVgl. Johannes Papritz, Die Archivschule Marburg/Lahn. In: Archivum. Revue internationale des Archives 3 (1953) S. 61–75, hier S. 62. 36 Grundlegend zur Geschichte des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung: Alphons Lhotsky, Geschichte des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 1854–1954 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 17), Graz-Köln 1954. – Manfred Stoy, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 1929–1945 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 50), München 2007. 37 Vgl. hierzu zuletzt Ernst Zehetbauer, Geschichtsforschung und Archivwissenschaft. Das Institut für Österreichische Geschichtsforschung und die wissenschaftliche Ausbildung der Archivare in Österreich, Hamburg 2014, S. 80–161. 38 Vgl. Leesch (wie Anm. 14) S. 163. 35
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schule für Archivare konnte das IÖG im eigentlichen Sinne erst werden, nachdem es ab 1874 sukzessive Archivverwaltungslehre und Bibliothekswissenschaft in seinem Curriculum verankert hatte.39 In den 1890er Jahren wurde die Staatsprüfung der IÖG-Kursteilnehmer dann Voraussetzung für die Laufbahn in den meisten staatlichen Archiven Österreichs. Gleichwohl bestand bis 1927 für Extraneer ohne Institutsvorbildung die alternative Möglichkeit, eine sogenannte „Archiv-Ergänzungsprüfung“ vor einer Prüfungskommission aus IÖG-Dozenten abzulegen, um auf diese Weise ebenfalls in den staatlichen Archivdienst Österreichs eintreten zu können.40 Von 241 Absolventen des Instituts während der Jahre von 1854 bis 1904 wurden insgesamt mehr als ein Drittel Universitätslehrer, weniger als ein Drittel Archivare.41 Was Theodor von Sickel einst mit dem Transfer der französischen École nach Wien gelungen war, erstrebte eine Generation später der Thüringer Paul Fridolin Kehr (1860–1944) mit einem Transfer des österreichischen Instituts nach Preußen. „Preußische Archivschule“, Marburg Paul Fridolin Kehr, 1860 in Waltershausen bei Gotha geboren, hat zweifelsohne als einer der großen Organisatoren der deutschen Geschichtswissenschaft im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu gelten.42 Er war unter anderem Direktor des Preußischen Historischen Instituts in Rom, Generaldirektor der preußischen Staatsarchive, Präsident der Monumenta Germaniae Historica (MGH) und zuletzt Direktor des Kaiser-WilhelmInstituts für Geschichte in Berlin. Schon während seines GeschichtsstuVgl. Thomas Winkelbauer, Die Entwicklung der archivwissenschaftlichen Ausbildung im Rahmen des Ausbildungslehrgangs am Institut für Österreichische Geschichtsforschung (1855–2004) und des Magister- bzw. Masterstudiums „Geschichtsforschung, Historische Hilfswissenschaften und Archivwissenschaft“ (seit 2005 bzw. 2008) an der Universität Wien. In: Daniel Doležal (Hrsg.), Archivní Časopis. Výuka archivnictví – vývoj, úkoly a perspektivy. Mezinárodní konference 14.–16.3.2012 České Budějovice (Supplementum ročníku 64), Prag 2014, S. 10–20, hier S. 11. – Posner (wie Anm. 11) S. 53. 40 Vgl. Wolfgang Leesch, Das Institut für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung (IfA) in Berlin-Dahlem (1930–1945). In: Ders., Gesammelte Archivwissenschaftliche Arbeiten (Generalstaatsarchiv und Staatsarchive in der Provinz, Studien 62), Brüssel 1994, S. 176–210, hier S. 184. – Posner (wie Anm. 11) S. 49. 41 Vgl. Posner (wie Anm. 11) S. 50. 42 Zur Person vgl. Horst Fuhrmann, Paul Fridolin Kehr. „Urkundione“ und Weltmann. In: Ders., Menschen und Meriten. Eine persönliche Portraitgalerie, München 2001, S. 174–212. 39
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diums in Göttingen war Kehr Spezialist für Urkundenlehre geworden.43 Angezogen vom großen Diplomatiker Theodor Sickel in Wien, wurde er danach außerordentliches Mitglied des IÖG.44 Neben der Errichtung eines preußisch-deutschen Instituts in Rom, wofür Sickels österreichische Gründung Pate stand, schwebte dem jungen Kehr ebenso eine dem Wiener Institut nachempfundene deutsche, vulgo preußische Archivschule vor. 1889 habilitierte er sich in Marburg an der Lahn für Geschichte und Historische Hilfswissenschaften.45 Der junge und in finanziell eingeschränkten Verhältnissen lebende Privatdozent richtete 1892, mitten im Ringen um eine feste eigene berufliche Existenz eine Denkschrift an den Direktor der preußischen Archivverwaltung, Heinrich von Sybel (1817–1895), einen ausgewiesenen Wissenschaftsorganisator, indem er über den Zustand der Historischen Hilfswissenschaften im Kaiserreich und das Fehlen einer zentralen Institution vergleichbar jenen in Frankreich und Österreich Klage führte.46 Unterschiedliche Sichtweisen auf ein neuzugründendes Seminar prallten in der Folge aufeinander. Während Sybel die Notwendigkeit einer reinen Archivschule verfocht, wollte Kehr ebenso oder gar vorrangig Hochschullehrernachwuchs ausbilden.47 Die signifikant steigende Zahl an Anfragen und Benutzertagen in den preußischen Staatsarchiven, welche die 1880er Jahre mit sich gebracht hatten, ließen Mängel in der Befähigung und auch im Willen des Archivpersonals zutage treten, sich dieser neuen Situation erfolgreich zu stellen.48 Bei den Verantwortlichen um Sybel und in der Regierung war daraufhin die Einsicht gewachsen, den Missständen insbesondere durch eine bessere Auswahl und Ausbildung der Archivare zu begegnen. Somit war im Preußen des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Frage nach einer berufsfachlichen Ausbildungsstätte virulenter geworden, seitdem sie nach dem Tode
Zur langen Göttinger Forschungstradition in den Historischen Hilfswissenschaften vgl. Martin Gierl, Geschichte als präzisierte Wissenschaft. Johann Christoph Gatterer und die Historiographie des 18. Jahrhunderts im ganzen Umfang (Fundamenta Historica 4), Stuttgart-Bad Cannstatt 2012. 44 Vgl. Michèle Schubert, Paul Kehr und die Gründung des Marburger Seminars für Historische Hilfswissenschaften im Jahre 1894. Der Weg zur preußischen Archivschule Marburg. In: Archivalische Zeitschrift 81 (1998) S. 1–59, hier S. 3 f. 45 Vgl. ebd. S. 8–10. 46 Vgl. ebd. S. 23–27. 47 Vgl. Papritz (wie Anm. 35) S. 63. 48 Vgl. Wolfgang Blöss, Anfänge archivarischer Berufsausbildung in Deutschland. Die „Archivschule“ in Marburg 1894. In: Archivmitteilungen 9 (1959) S. 52–59, hier S. 52 f. 43
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Hardenbergs über ein halbes Jahrhundert nicht weiter verfolgt worden war. Vier Tage nach einer Unterredung in Berlin wurde Kehr Anfang Oktober 1893 endlich zum außerordentlichen Professor für Historische Hilfswissenschaften in Marburg bestellt.49 Kehr arbeitete daraufhin einen Lehrplan für ein Hilfswissenschaftliches Institut aus; seinerzeit „modern“ an ihm waren der Wunsch des Arbeitens an urkundlichen Faksimiles und die Anschaffung eines Fotoapparats.50 Sybel sah in Kehrs Entwurf zu wenige der archivfachlichen Anforderungen verwirklicht und legte einen eigenen, auf sieben Semester angelegten Lehrorganisationsplan vor.51 Im Januar 1894 kam es nach abschließenden Diskussionen, bei denen sich weitgehend der arriviertere Sybel durchsetzen konnte, zur Gründung der „Marburger Archivschule“, einer eigenartigen Konstruktion.52 Dieselbe bestand nämlich zum einen aus dem Institut für Historische Hilfswissenschaften, dessen Leitung dem Extraordinarius Kehr übertragen wurde und das schließlich im sogenannten Kugelhaus in der Marburger Oberstadt seine eigene Heimstatt fand, und zum zweiten aus einer Prüfungskommission, bestehend aus dem Marburger Staatsarchivdirektor und vier Universitätsprofessoren der Geschichte, der Hilfswissenschaften, der Rechtswissenschaft sowie der Germanistik mitsamt festem Prüfungsplan als Kern der Ausbildung.53 Dagegen existierte kein fester Lehrplan. Die Archivaspiranten waren angehalten, für den Besuch der relevanten Veranstaltungen an der Marburger Universität selbst Sorge tragen.54 Als Dozent für die archivnahen Fächer fungierte in erster Linie der Leiter des Marburger Staatsarchivs Gustav Könnecke (1845–1920).55 Eine sichtbare Gleichwertigkeit der Archivwissenschaft mit den anderen Fächern, etwa in Gestalt eines universitären Lehrstuhls, wurde nicht angestrebt. Auch Sybel, in dessen Vgl. Schubert (wie Anm. 44) S. 38 f. Vgl. ebd. S. 40 f. 51 Vgl. ebd. S. 43–45. 52 Die „Gründungsurkunde“ findet sich abgedruckt bei Blöss (wie Anm. 48) S. 57 f. 53 Vgl. Schubert (wie Anm. 44) S. 46–49. 54 Vgl. Papritz (wie Anm. 35) S. 63. 55 Vgl. hierzu Karl Gustav Könnecke, Archivlehre. Vorlesung, gehalten an der Universität Marburg im Wintersemester 1894/95. Nach einer Mitschrift von Felix Rosenfeld herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Johannes Burkardt. In: Archivalische Zeitschrift 82 (1999) S. 41–80; zu seiner Person vgl. Gerhard Menk, Gustav Könnecke (1845–1920). Ein Leben für das Archivwesen und die Kulturgeschichte (Hessische Forschungen zur geschichtlichen Landes- und Volkskunde 42, Schriften des Hessischen Staatsarchivs Marburg 13), Marburg 2004. 49 50
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Interesse die Stärkung des archivischen Elements der neuen Schule lag, musste sich hierbei dem ablehnenden Votum des akademischen Lehrerkollegiums der Marburger Universität fügen.56 Mit elf Aspiranten begann im April 1894 der Lehrbetrieb.57 Eine deutsche École des chartes war damit zweifellos institutionell nicht geboren worden, aber immerhin ein Anfang getan, glichen sich doch die Unterrichtsfächer ungemein. Die Absolventen wurden in der Tat ausnahmslos Archivare, anders als es Kehr vor Augen hatte. Kehr verließ Marburg schon 1895 nach Göttingen. In Michael Tangl (1895–1897),58 Karl Brandi (1897–1902) und Johannes Haller (1902–1904) wurden Nachfolger als Institutsleiter gefunden, die sich allesamt nach ihrer Marburger Zeit auf je eigene Weise als Hochschullehrer profilieren konnten. Wenig Bedarf an Nachwuchs in der preußischen Archivverwaltung, überlange Wartezeiten der fertig Ausgebildeten59 sowie ungeklärte Probleme des archivischen Vorbereitungsdienstes insgesamt, auf die später noch im Rahmen des strukturellen Wandels der Lehrinhalte einzugehen ist, hinderten ein weiteres Gedeihen der Marburger Archivschule, deren originär archivischer Teil, also die Vorlesungen und Übungen Könneckes nebst der Prüfungskommission sich immer weiter vom zunehmenden Eigenleben des Hilfswissenschaftlichen Seminars entfernte. Zudem erhoben sich bereits seit 1895 Stimmen, die sich für eine Verlagerung der Archivarsausbildung in die preußische Hauptstadt aussprachen.60 All dies veranlasste im Jahre 1904 letztlich den Direktor der preußischen Archivverwaltung und Nachfolger Sybels, Reinhold Koser (1852–1914), die Prüfungskommission aus der mittelhessischen Universitätsstadt nach Berlin zu verlegen.61 „Preußische Archivschule“, Berlin Mit dem Umzug der Kommission war indes kein Transfer von Lehrveranstaltungen nach Berlin verbunden, sodass sich die wenigen Anwärter Vgl. Blöss (wie Anm. 48) S. 57. Vgl. Schubert (wie Anm. 44) S. 56. 58 Vgl. hierzu Annekatrin Schaller, Michael Tangl (1861–1921) und seine Schule. Forschung und Lehre in den Historischen Hilfswissenschaften (Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 7), Stuttgart 2002, S. 55–94. 59 Vgl. Walter Heinemeyer, 40 Jahre Archivschule Marburg 1949–1989. In: Archiv für Diplomatik 35 (1989) S. 631–695, hier S. 637. 60 Vgl. Schaller (wie Anm. 58) S. 175. 61 Vgl. Papritz (wie Anm. 35) S. 64. 56 57
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weiterhin ganz selbstständig durch den Besuch von Veranstaltungen – bestenfalls an der Berliner Universität – auf die Archivprüfung vorzubereiten hatten.62 Von einer Archivschule im engeren Sinne, das heißt mit festem Lehrplan und obligatorischem Charakter, konnte weiterhin nicht die Rede sein. Lediglich der praktische Teil der Ausbildung war unter Koser bereits 1896/97 dergestalt geregelt worden, dass fortan ein verpflichtendes zweijähriges Volontariat eingeführt worden war, um die archivpraktischen Vorerfahrungen der Archivaspiranten in ausreichendem Maße sicherzustellen.63 Ohne erfolgreiches Absolvieren dieses obendrein noch unentgeltlichen Volontariats durfte die Abschlussprüfung vor der Prüfungskommission, seinerzeit von Koser als Vorsitzendem, einem Vertreter des Geheimen Staatsarchivs und Berliner Universitätsprofessoren, darunter Michael Tangl für die Hilfswissenschaften, gebildet,64 nicht abgelegt werden. Erneut war es Paul Fridolin Kehr, der 1917, nun in seiner Funktion als Generaldirektor der preußischen Staatsarchive in der Nachfolge Kosers, für eine Neubelebung und Verbesserung der Archivarsausbildung am Geheimen Staatsarchiv sorgte. Angeblich hatte Kehr schon vor seiner Berliner Berufung seit Jahren die fertigen Pläne für eine Reorganisation in der Tasche. Anders als noch in den 1890er Jahren, als Kehr mehr als die Archivare insbesondere der Hochschullehrernachwuchs vor Augen stand, war die nunmehrige „Verordnung betr. die Zulassung zum wissenschaftlichen Archivdienst bei den Königlichen Staatsarchiven“65 allein auf diese Zielgruppe zugeschnitten. Anders als damals und auch abweichend von den Pariser und Wiener Vorbildern sollte die deutsche Ausbildung in Zukunft gänzlich von den Universitäten getrennt sein, demgegenüber verwaltungsintern ablaufen und räumlich an die Archive heranrücken, zwei Jahre dauern und in der Staatsprüfung ihren Abschluss finden. Ein mit Doktorgrad abgeschlossenes Hochschulstudium sowie ein Lehramtsexamen Vgl. Pauline Puppel, Die „Heranziehung und Ausbildung des archivalischen Nachwuchses“. Die Ausbildung am Institut für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung in Berlin-Dahlem (1930–1945). In: Sven Kriese (Hrsg.), Archivarbeit im und für den Nationalsozialismus. Die preußischen Staatsarchive vor und nach dem Machtwechsel von 1933 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Forschungen 12), Berlin 2015, S. 335–370, hier S. 327. – Leesch (wie Anm. 40) S. 180 f. 63 Vgl. Leesch (wie Anm. 40) S. 182. – Ders. (wie Anm. 14) S. 168. – Papritz (wie Anm. 35) S. 64. 64 Vgl. Schaller (wie Anm. 58) S. 178. 65 Vgl. Ministerialblatt für die gesamte innere Verwaltung in den Kgl. Preußischen Staaten 78 (1917) S. 235–238. 62
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wurden nun zur conditio sine qua non.66 Zum Ausgleich von universitären Defiziten wurde seitens des Leiters Wert auf die Ergänzung und Vertiefung von Kenntnissen in den klassischen Historischen Hilfswissenschaften und auf Sprachkenntnisse in Deutsch, Latein und Französisch gelegt.67 So sollten die Vorteile einer spezifischen Ausbildung an der Pariser École oder dem Wiener Institut mit einem bewährten deutschen Universitätsstudium kombiniert werden. Zudem glich sich beamtenrechtlich der archivische Vorbereitungsdienst den Assessoraten der höheren Dienste in Justiz und Schuldienst an.68 Bis 1929 war die Archivschule in den Händen Kehrs, dem sein einstiger Schüler Albert Brackmann (1871–1952) folgte, unter dem gewisse Paradigmenwechsel vollzogen wurden. Institut für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung (IfA), Berlin Albert Brackmann, 1871 in Hannover geboren, war großbürgerlich-protestantischer Herkunft. Nach anfänglicher Neigung zur Theologenlaufbahn wechselte er zum Geschichtsstudium, das in eine Promotion bei Paul Fridolin Kehr in Göttingen einmündete. In Folge avancierte Brackmann zu einem Bearbeiter der Germania Pontificia, einem Projekt, das sich der Ermittlung päpstlicher Überlieferung in deutschen Landen verschrieben hatte. 1905 wurde er ohne Habilitation außerordentlicher Professor in Marburg, es reihten sich Ordinariate in Königsberg, Marburg69 und Berlin Vgl. Papritz (wie Anm. 35) S. 65. Vgl. ebd. – Mehrfach beklagte sich Kehr mit Blick auf die Archivarsausbildung, Editionsprojekte und die Besetzung von universitären Lehrstühlen: „Unsere jungen Historiker verlassen die Universität fast ausnahmslos mit absolut unzureichender Vorbildung für wissenschaftliche Forschung“, worunter er vor allem Forschung in den Historischen Hilfswissenschaften verstand. „Ganz unerträglich endlich ist die Spezialisierung auf die neuere und neueste Geschichte hin mit bewußter Abkehr von der Geschichte des Mittelalters und ihren Hilfsdisziplinen: mit solcher für Mädchenlyzeen passenden Ausbildung läßt sich keine gelehrte Forschung größeren Stils treiben.“ Zitiert nach Horst Fuhrmann, „Sind eben alles Menschen gewesen“. Gelehrtenleben im 19. und 20. Jahrhundert. Dargestellt am Beispiel der Monumenta Germaniae Historica und ihrer Mitarbeiter. Unter Mitarbeit von Markus Wesche, München 1996, S. 73. – Für den Hinweis auf dieses Zitat und auf weitere Literatur dankt der Verfasser Dr. Philipp Haas, Wolfenbüttel. 68 Vgl. Tobias Winter, Die deutsche Archivwissenschaft und das ‚Dritte Reich‘. Disziplingeschichtliche Betrachtungen von den 1920ern bis in die 1950er Jahre (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Forschungen 17), Berlin 2018, S. 94. 69 Zum Marburger Ordinariat Brackmanns vgl. Gerhard Menk, Albert Brackmann und Marburg – Personelle und politische Hintergründe seiner zweiten Marburger Jahre (1920– 66 67
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aneinander. Mit seinem Ruf nach Königsberg 1913 verlegte er sich von der mittelalterlichen Kirchengeschichte auf die Geschichte des Deutschen Ostens, nachhaltig prägte ihn der Eindruck des Russeneinfalls in Ostpreußen 1914, woraufhin er sich der deutsch-slawischen Beziehungsgeschichte zuwandte und dabei zunehmend zum Propagandisten einer kulturellen Überlegenheit des Deutschtums mutierte. Die Abwehr polnischer territorialer Ansprüche und der „Grenzlandkampf“ gerieten in seinen Fokus – er wurde in jenen Jahren zum zentralen Initiator der sogenannten Ostforschung, um die herum viele neue Publikationsorgane entstanden. Brackmanns Stellung in der deutschen Geschichtswissenschaft der späten Weimarer Jahre manifestierte sich 1928, als er neben Friedrich Meinecke zum Herausgeber der Historischen Zeitschrift (HZ) aufrückte.70 Das war jener Karrierehintergrund, vor dem Brackmann nun als Kandidat in der schwierigen Suche nach einem Nachfolger für Paul Fridolin Kehr als Generaldirektor der preußischen Archive gehandelt wurde. Brackmann ließ sich als Generaldirektor tatsächlich verpflichten, nicht ohne sich jedoch die Einrichtung einer neuen Ausbildungsstätte für den akademischen Nachwuchs zusichern zu lassen.71 Sein Anliegen bestand – demjenigen des „Marburger Kehr“ nicht unähnlich – in der gleichlaufenden Ausbildung von Archivaren und Hochschullehrernachwuchs. Anders als in Paris und Wien sollte dieses duale Modell allerdings weiterhin postuniversitär und damit nach dem Prinzip des „Berliner Kehr“ ablaufen. Besonders begabte Historiker sollten sowohl mit dem Archivwesen als auch mit dem vertieften Umgang mit Quellen vertraut gemacht werden, damit sie für eine Mitarbeit an den großen preußisch-deutschen Editions- und Forschungsunternehmen wie den MGH, der Germania Sacra und der Germania Pontificia, bei denen Brackmann schließlich selbst auch leitende Positionen innehatte, befähigt wurden. Daneben sollte die archivarische Fachausbildung fortentwickelt werden. Gerade das Lehrangebot Kehrscher Provenienz war noch relativ ungeregelt, worunter die Fachausbildung bislang litt. Einher ging dieses Reformprogramm der späten Weimarer Jahre mit einer prononcierteren Politisierung der archivischen Arbeit. Um Albert Brackmann hier zu zitieren: „Als ich nämlich bemerkte, dass sowohl die Russen die Schätze 1922). In: Irmgard Christa Becker (Hrsg.), Archiv, Recht, Geschichte. Festschrift für Rainer Polley (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg. Institut für Archivwissenschaft 59), Marburg 2014, S. 113–158. 70 Vgl. Winter (wie Anm. 68) S. 109–114. 71 Vgl. Leesch (wie Anm. 40) S. 175.
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der Preussischen Staatsarchive für ihre Landesinteressen ausnutzten und ebenso die Polen, […] habe ich nach Kündigung des Archivvertrages mit Sowjet-Russland die wissenschaftliche Arbeit der Archivbeamten in den Abwehrkampf gegen Polen eingegliedert.“72 Für die zukünftigen Archivare konstatierte Brackmann ein stärkeres „Hineingezogensein in die Welt“ mit neuen Aufgabenfeldern, namentlich der Mitarbeit in provinzialen historischen Kommissionen, der Teilhabe an (Ost-)Forschungsprojekten und an Publikationsorganen;73 ihm schwebte folglich ein neuer, offensiverer, politischerer Archivarstyp vor. 1930 öffnete das neue „Institut für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung“, kurz IfA, in Berlin-Dahlem am Standort des Geheimen Staatsarchivs seine Pforten – mit eigenen Unterrichtsräumen und eigener Bibliothek im Verwaltungsbau des Geheimen Staatsarchivs. Das IfA unterstand sowohl dem preußischen Ministerpräsidenten als auch dem preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung.74 War das Institut in den Anfangsjahren noch zuweilen finanziell in seinem Bestand gefährdet, erlaubte ihm der größere Nachwuchsbedarf nach 1933 eine sicherere Existenz.75 1936 begann das IfA auch mit der dreijährigen Ausbildung von Archivanwärtern im gehobenen Dienst, den sogenannten Archivzivilsupernumeraren.76 In Bayern war deren Ausbildung bereits 1924 begonnen worden, um den wissenschaftlichen Archivaren insbesondere angesichts der immer größeren Übernahmemengen an Aktenschriftgut und deren erforderlicher Erschließung unterstützend und entlastend zur Seite zu stehen.77 1937 ging die Leitung des IfA von Brackmann auf den Verwaltungsfachmann Ernst Zipfel (1891–1966), einen strammen Parteigenossen der NSDAP über.78 Bis 1945 durchliefen insgesamt über 100 Absolventen in neun Kursen das IfA.79 Während bis 1933 nur zehn Prozent der IfA-Teilnehmer außerpreußischen Archiven entAus einem Lebenslauf Albert Brackmanns, Bundesarchiv Berlin, R 153/1039, zitiert nach Winter (wie Anm. 68) S. 115. 73 Vgl. Winter (wie Anm. 68) S. 129. 74 Vgl. Puppel (wie Anm. 62) S. 340. 75 Vgl. ebd. S. 340 f. 76 Vgl. ebd. S. 343. 77 Vgl. Rumschöttel (wie Anm. 25) S. 30. – Ders. (wie Anm. 22) S. 99. 78 Zu Zipfel als Generaldirektor der preußischen Staatsarchive vgl. Weiser (wie Anm. 17) S. 144–212. 79 Vgl. Papritz (wie Anm. 35) S. 66. – Puppel (wie Anm. 62) S. 362 nennt unter Berufung auf Leesch (wie Anm. 40) S. 243–246 gar 132 bzw. 138 IfA-Absolventen. 72
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stammten, wuchs diese Zahl 1934 und 1935 auf zwanzig Prozent, in den Jahren 1936 bis 1939 gar auf die Hälfte an.80 Entgegen der ursprünglichen Intention Brackmanns verfolgte die deutliche Mehrheit der IfA-Absolventen eine Archivarskarriere, nur wenige nutzten es als Sprungbrett für eine Hochschullaufbahn. 1944 wurde das IfA der Bombardierungen Berlins wegen nach Marburg verlegt, nachdem insbesondere aufgrund der Einberufungen zur Wehrmacht die Kurse in den Kriegsjahren bereits zahlenmäßig sehr vermindert waren.81 Aus dem selben Jahr stammt schließlich, ohne dass er noch unter den ihm zugrunde gelegten Rahmenbedingungen in praxi umgesetzt worden wäre, der erste Versuch einer reichsweiten Vereinheitlichung der Archivarsausbildung in Gestalt der „Vorläufigen Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Anwärter des höheren Archivdienstes beim Reichsarchiv Wien“82. Der Ausbildungsgang des traditionsreichen Wiener IÖG, nun neu benannt in „Institut für Geschichtsforschung und Archivwissenschaft“, sollte nach dem Vorbild des Berliner IfA ausgerichtet werden, sah indes eine Verlängerung des theoretischen Lehrgangs von bisher anderthalb auf zwei Jahre vor, gefolgt von einem anschließenden halbjährigen Praktikum beim Reichsarchiv Wien, sodass sich die Gesamtausbildungsdauer auf zweieineinhalb Jahre verlängern sollte. Anstatt des (in Berlin) zuvor zwingend absolvierten Lehramtsexamens wurde eine Aufnahmeprüfung für die Bewerber eingeführt. Eine anpassende Verfügung für das IfA Berlin legte den Grund für einen theoretisch einheitlichen Vorbereitungsdienst an beiden Standorten.83 Archivschulen Marburg II und Potsdam Die Luftangriffe auf Berlin zeitigten, auf das Geheime Staatsarchiv bezogen, schwere Beschädigungen am Gebäude, den Verlust der Bibliothek, die Verlagerung, in Teilen gar Vernichtung von Beständen. Der Untergang des NS-Staates, die Einteilung in Besatzungszonen, die spezielle Lage Berlins darin, all das hatte Auswirkungen auch auf künftige Strukturbedingungen der Formung archivarischen Nachwuchses nach dem Zweiten Weltkrieg. Vgl. Torsten Musial, Staatsarchive im Dritten Reich. Zur Geschichte des staatlichen Archivwesens in Deutschland 1933–1945 (Potsdamer Studien 2), Potsdam 1996, S. 65. 81 Vgl. Puppel (wie Anm. 62) S. 358–361. 82 Abgedruckt in: Mitteilungen des Instituts für Geschichtsforschung und Archivwissenschaft in Wien 55 (1944) S. 527–533. 83 Vgl. Papritz (wie Anm. 35) S. 66 f. – Leesch (wie Anm. 40) S. 190. 80
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In der britischen Zone war 1946 der Plan, in Münster in Westfalen eine Archivschule einzurichten, schon recht weit gediehen.84 Auch München stand damals als Standort einer westdeutschen Archivschule zur Diskussion, konnte sich aber „nicht durchsetzen, weil es nicht dem postpreußischen Archivkosmos“ angehörte, wie Philipp Haas und Martin Schürrer jüngst aufzeigen konnten.85 Eine Bamberger Archivarstagung, auf der sich Vertreter der drei Westzonen einfanden, legte sich 1947 dann allerdings auf Marburg als Standort fest – wie es heißt „im Hinblick auf die günstigeren Bedingungen und in Anbetracht der alten Tradition“.86 Für die hessische Stadt an der Lahn sprachen mehrere Faktoren, so die erste preußische Archivschule, eine unzerstörte Stadt, eine Universität mit zumal hilfswissenschaftlichem Profil in der historischen Fakultät, die Westdeutsche Bibliothek, schließlich die Bestände des damals sehr modernen, erst 1938 eröffneten Staatsarchivs, des mit 130.000 mittelalterlichen Urkunden zweitgrößten deutschen Urkundenarchivs nach München. Dazu kamen 20.000 laufende Meter an Akten und Amtsbüchern, die nahezu alle bürokratischen Ebenen abdeckten.87 1949 konnte im Staatsarchiv Marburg der Lehrbetrieb aufgenommen werden, laut Satzung von 1950 war dessen Direktor zugleich Leiter der Archivschule. In Potsdam startete 1950 beim Deutschen Zentralarchiv ein neues IfA, wo die Archivarsausbildung für die sowjetische Zone angesiedelt wurde. Das Potsdamer IfA trat zudem in die Fußstapfen der archivfachlichen Ausbildung der Thüringer Staatsarchive, welche unter Armin Tille (1926–1934) und Willy Flach (1934–1949) einen eigenen, vom Dahlemer IfA unabhängigen Weg in der archivfachlichen Berufsvorbereitung eingeschlagen hatten. 1934 von Flach gegründet, sollte die „Thüringer Archivschule“ in zweijährigen Lehrgängen bis 1949 insgesamt sieben Historiker ausbilden.88 In Potsdam, woVgl. dazu sowie insgesamt zur Genese der Entscheidung für Marburg als Standort einer westdeutschen Archivschule Philip Haas – Martin Schürrer, Was von Preußen blieb. Das Ringen um die Ausbildung und Organisation des archivarischen Berufsstandes nach 1945 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 183), Darmstadt-Marburg 2020, S. 80–85. 85 Ebd. S. 114. 86 N. N., Bericht über die Tagung der Archivare der amerikanischen Zone in Bamberg vom 10. und 11. April 1947. In: Der Archivar 1 (1947) Sp. 9–14, hier Sp. 13. 87 Vgl. Heinemeyer (wie Anm. 59) S. 638–640. 88 Vgl. Musial (wie Anm. 80) S. 64. – Volker Wahl, Einleitung. Thüringer Archivar, Landeshistoriker und Goetheforscher Willy Flach (1903–1958). Ein Lebensbild. In: Ders. (Hrsg.), Willy Flach (1903–1958). Beiträge zum Archivwesen, zur thüringischen Landesgeschichte und zur Goetheforschung, Weimar 2003, S. 10–55, hier S. 23. 84
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hin Flach überwechselte, wie auch in Marburg, bestanden personelle und inhaltliche Kontinuitäten des alten Berliner IfA. Erinnert sei in Marburg an die Namen Ludwig Dehio (1888–1963), Ewald Gutbier (1887–1965) und Ewald Herzog (1893–1967), welche am IfA unterrichtet hatten, und an die jungen, am IfA ausgebildeten Johannes Papritz (1898–1992), Kurt Dülfer (1908–1973) und Walter Heinemeyer (1912–2001), in Potsdam insbesondere an Heinrich Otto Meisner (1890–1976).89 Auch gab es eine weitgehende Konstanz der Berliner Lehrpläne, in Potsdam wurden nun aber zusätzlich historischer und dialektischer Materialismus und politische Ökonomie unterrichtet,90 wie hier auch stärker als in Marburg eine Hinwendung zum modernen Schriftgut sowie zur Technik- und Verkehrsgeschichte vollzogen wurde.91 3 . L e h r i n h a l t e , Un t e r r i c h t u n d Pr ü f u n g e n Wie aber, so ist nach dem institutionellen Rundgang im Nachfolgenden zu fragen, hatten bislang die Lehrinhalte im Entwicklungsgang der deutschen Archivarsausbildung ausgesehen? Wie gestaltete sich der Unterricht? Wie die Prüfungen? Gemeinhin als erste spezifische Archivexamensordnung in Deutschland erachtet wird die von Franz von Löher konzipierte Prüfungsordnung der Bayerischen Archivschule in München, die am 3. März 1882 durch König Ludwig II. von Bayern (1845–1886) erlassen wurde.92 Diese „Vorbedingungen zur Anstellung im k. bayerischen Archivdienste“ genannte Verordnung sah für den theoretischen Unterricht insgesamt vier Fächergruppen vor: Die sogenannten Archivalischen Fächer (A) bestanden aus dem Verstehen der alten Schriften und ihrer Geschichte, der Diplomatik und der Archivkunde. Die Historischen Fächer (B) umfassten deutsche und europäische Geschichte, bayerische Geschichte sowie die mittelalterliche Vgl. Heinemeyer (wie Anm. 59) S. 638. Vgl. Winter (wie Anm. 68) S. 447. – Zu Marburg jüngst Robert Meier, Archivausbildung in Deutschland. Die Archivschule Marburg. In: Paginae historiae 29 (2021) S. 47–51. 91 Vgl. Botho Brachmann – Klaus Klauss, „De me ipso!“ Heinrich Otto Meisner und die Ausbildung archivarischen Nachwuchses in Potsdam und Berlin. In: Friedrich Beck – Wolfgang Hempel – Eckart Henning (Hrsg.), Archivistica docet. Beiträge zur Archivwissenschaft und ihres interdisziplinären Umfelds (Potsdamer Studien 9), Potsdam 1999, S. 601–629, hier S. 626. 92 Vgl. Leesch (wie Anm. 14) S. 168. – Heinemeyer (wie Anm. 59) S. 669. 89 90
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Geographie Deutschlands. Im Bereich der Juristischen Fächer (C) wurden deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, Hauptbegriffe und Grundsätze des bürgerlichen Rechts und Kirchenrecht gelehrt. Bei den Sprachlichen Fächern (D) handelte es sich um Unterricht in der französischen Sprache. Die schriftliche Prüfung sah für die Fachgruppen A und C praktische Fälle zur Bearbeitung vor. In der Prüfung zur Fachgruppe D galt es eine französische Urkunde oder ein französisches Schriftstück ins Deutsche zu übersetzen und eine kurze Inhaltsangabe in französischer Sprache anzufertigen.93 Wenige Jahre vor der Jahrhundertwende, 1896, wird die stark wissenschaftslastige Ausbildung an der Archivschule Marburg, deren Curriculum trotz regionaler Abweichungen im Sprach- und Geschichtsunterricht überwiegend mit demjenigen in München übereinstimmt, durch praktische Elemente ergänzt, da festgestellt wurde, dass die angehenden Archivare in der Verwaltungsumgebung und der Archivtechnik bislang zu wenig geschult worden waren. Ein zweijähriges Volontariat in einem preußischen Staatsarchiv wird zur Pflicht, wie bereits oben erwähnt. Im zweiten Jahre konnten die Anwärter das Marburger Staatsarchiv besuchen, um dem Archivschulunterricht folgen zu können. Diese neue Struktur des Vorbereitungsdienstes kollidierte des Öfteren mit dem Studium der Bewerber, sodass ab 1898 das Doktorexamen verpflichtende Voraussetzung des Volontärdienstes wurde – genau hier ist die deutsche Sonderentwicklung in der Archivarsausbildung gegenüber Frankreich und Österreich anzusetzen. Mit der Wiedereröffnung der Preußischen Archivschule in Berlin durch Paul Fridolin Kehr gingen ab 1917 organisatorische und auch einzelne inhaltliche Neuerungen einher: die Einführung des einjährigen Praxisteils, gefolgt von einem gleichfalls einjährigen Theorieteil, der nunmehr anders als einst in Marburg, wo ein freiwilliger Veranstaltungsbesuch möglich war, fester strukturiert wurde. Auch werden nun die Keime von neuen Unterrichtsfächern wie etwa Aktenkunde, Archivtheorie, Archivterminologie, Ordnungslehre, Wertung und Kassation erkennbar.94 Unter Albert Brackmann reformierten sich am IfA Ablauf und Lehrpläne erneut. Auch zielte Brackmann nunmehr darauf ab, ausgesuchte Universitätslehrer als Dozenten für das IfA-Curriculum in Dienst zu nehmen, nachdem es bis zu Kehrs Reform 1917 noch jene Universitätslehrer gewe93 Vgl. Rall (wie Anm. 18) S. 393 f. Vollständiger Abdruck der Verordnung in: Archivalische Zeitschrift 7 (1882) S. 267–275. 94 Vgl. Papritz (wie Anm. 35) S. 65.
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sen waren, die maßgebliche Inhalte der Archivarsausbildung in ihren Seminaren bestimmt hatten.95 Stärker als Kehr hatte er auch ein Gespür für die Belange des kommunalen Archivwesens und der Archivpflege.96 Nach anderthalb Jahren Theorie am IfA folgte ein halbes Jahr praktischer Arbeiten am Geheimen Staatsarchiv oder in einem Provinzialarchiv.97 Brackmann schwebte hinsichtlich künftiger Archivare folgendes Berufsideal vor: „Diese müssen Historiker sein, die die ganze deutsche Geschichte von ihren Anfängen bis auf den heutigen Tag genau kennen, die die historischen Hilfswissenschaften, Paläographie, Diplomatik, Chronologie, Sphragistik, Heraldik, Quellenkunde und Archivlehre virtuos beherrschen, die philologisch gut geschult und sprachenkundig sind und in der Rechtswissenschaft genau Bescheid wissen, auch nationalökonomische Kenntnisse besitzen müssen.“98 Demgemäß kam es zu einer Aufweitung der Lehrfächer: Wirtschaftswissenschaften, Zeitungs- und Filmkunde, Siedlungskunde, Münzkunde, Restaurierung und Konservierung standen nun ebenfalls auf dem Stundenplan.99 Ein ab 1931 verpflichtender Polnischkurs sollte den Archivarsnachwuchs nicht nur für potenzielle östliche Staatsarchive rüsten, sondern für die Ostforschung brauchbar machen. Als das Erlernen dieser sehr komplexen Fremdsprache als eine zu große Belastung empfunden wurde, wurde der Polnischkurs fakultativ, die Teilnahme daran gleichwohl erwartet von Kursteilnehmern der östlichen Provinzen.100 Über die Unterrichtszeiten am IfA ist bekannt, dass sie von 9.00 bis 13.00 Uhr,101 später bis 15.00 Uhr dauerten.102 Der Donnerstag war unterrichtsfrei, um Verzeichnungs- und Rechercheübungen abzuhalten oder ganztägige Aufenthalte in der Berliner Staatsbibliothek oder in der Universität zwecks Forschungsaufträgen zu absolvieren.103 Ein bis zwei Referate waren pro Kursteilnehmer pro Semester zu halten. Die Abschlussprüfung sah einen schriftlichen Teil von drei Klausuren vor, das heißt editionsreifen Abschriften von lateinischen und deutschen Urkunden, des Weiteren eines Vgl. Haas – Schürrer (wie Anm. 84) S. 99. Vgl. Leesch (wie Anm. 40) S. 186. 97 Vgl. ebd. S. 189. 98 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, VI. HA, Nl Albert Brackmann, Nr. 93/2, Bl. 96, zitiert nach Puppel (wie Anm. 62) S. 339. 99 Vgl. Leesch (wie Anm. 40) S. 188. 100 Vgl. Winter (wie Anm. 68) S. 131. 101 Vgl. Puppel (wie Anm. 62) S. 346. 102 Vgl. ebd. S. 353. 103 Vgl. ebd. S. 346. 95 96
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deutschen und französischen Aktenstückes aus dem 18. Jahrhundert mit Zusatzfragen. Daneben waren vier mündliche Prüfungen à anderthalb bis zwei Stunden zu den einzelnen Fächern angesetzt.104 Während der Leitung des IfA durch Ernst Zipfel ab 1937 schließlich ist eine unverkennbar nazifizierende Tendenz in der Ausbildungsgestaltung zu bemerken. Waren die Archivare in Zipfels Augen früher „vielfach Philologen, die keine Lust hatten Oberlehrer zu werden, oder verhinderte Universitätsprofessoren, jedenfalls mehr oder weniger Eigenbrötler“,105 verlangte Zipfel künftig „anstelle der Stubenhocker“ „tatkräftig gewandte junge Männer“,106 die ihren Beamtendienst als „Soldaten im Zivilrock“107 wahrnähmen und sich offen zum Nationalsozialismus bekannten. Am Lehrplan monierte er, dass Rassenkunde und Vorgeschichte bislang zu wenig berücksichtigt worden seien.108 Konkret fanden sich im Lehrplan nun Vorlesungen Zipfels zu weltanschaulicher Schulung im Sinne des Nationalsozialismus und zum NS-Beamtenrecht.109 4 . „ K l e i n e So z i o l o g i e “ d e r A r c h i v s c h ü l e r Zuletzt sei noch ein Blick auf die Archivschüler selbst, ihre Herkunft und ihre Anforderungsprofile geworfen. Valide Zahlen über die Archivschüler im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden bisher noch nicht erhoben. Sicher ist jedenfalls, dass lange Zeit ein geringer Bedarf an Nachwuchsarchivaren bestand, der eine Institutionalisierung der staatlichen Ausbildung nicht gerade beförderte. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es im ganzen Deutschen Reich lediglich etwa 140 staatliche Archivare.110
Vgl. ebd. S. 350. Aus einer Denkschrift Ernst Zipfels über die reichseinheitliche Ausbildung der Beamten des höheren Archivdienstes von 1941, Bundesarchiv Berlin, R 1506/1029, zitiert nach Winter (wie Anm. 68) S. 357. 106 Ernst Zipfel anlässlich einer Arbeitstagung der preußischen Staatsarchivdirektoren und Einsatzgruppenleiter im Generalgouvernement und in den besetzten Gebieten, Marburg (2.–4. Oktober 1941), Bundesarchiv Berlin, R 1506/1027, zitiert nach Winter (wie Anm. 68) S. 357. 107 Manuskript über „Das neue Deutsche Beamtengesetz und die Reichsdienststrafordnung vom 26.1.1937“, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 76, Nr. 1263, Bll. 92–94, hier Bl. 93, zitiert nach Puppel (wie Anm. 62) S. 355. 108 Vgl. Puppel (wie Anm. 62) S. 345. 109 Vgl. ebd. S. 354. 110 Vgl. Musial (wie Anm. 80) S. 15. – Winter (wie Anm. 68) S. 107. 104 105
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Wer in den exklusiven Kreis dieser recht wenigen staatlichen Fachbeamten vorstoßen, mithin den Weg eines Archivaspiranten einschlagen wollte, sah sich im Laufe der Zeit zunehmenden Anforderungen ausgesetzt. Neben einem Studium, in aller Regel der Geschichte und anderer Geisteswissenschaften, häufig der Philologien, wurde durchweg eine erfolgreiche Promotion in Geschichte, häufig in mittelalterlicher Geschichte, verlangt, darüber hinaus Sprachnachweise insbesondere in Latein und Französisch. Paul Fridolin Kehr erwartete für die Bewerber seiner neuen Berliner Archivschule ab 1917, wie schon beiläufig erwähnt, überdies ein Lehramtsexamen in Geschichte, Deutsch und Latein, mindestens mit gutem Erfolg abgeschlossen.111 Dies hatte einen praktischen Grund, der über die Zeit Kehrs hinaus auch am IfA Gültigkeit besitzen sollte: Wer sich in der bei Kehr äußerst streng gehandhabten Ausbildung nicht bewährte, sollte ohne zeitlichen Verlust in die Laufbahn eines Gymnasiallehrers abgeschoben werden können.112 Albert Brackmann führte für die Auslese der IfA-Bewerber hinzukommend ein, dass die Kandidaten bei ihm persönlich ihre Aufwartung machen mussten und einem Prüfungsgespräch unterzogen wurden. Der NS-Staat setzte ab 1939 die „deutschblütige Abstammung“ voraus, ferner die Mitgliedschaft in der NSDAP oder in einer ihrer Gliederungen, obendrein das Reichssportabzeichen oder alternativ das SA-Wehrabzeichen, schließlich den Nachweis des geleisteten Dienstes im Reichsarbeitsdienst oder in der Wehrmacht.113 Man erkennt daran, wie der zunehmend totalitäre Staat bei der Auswahl seiner Beamten mit den Jahren immer restriktiver wurde. Nach dem Krieg galt in Marburg die Promotion zu einem geschichtswissenschaftlichen Thema als Bedingung, das Lehramtsexamen wurde je nach Landesarchivverwaltung weiterhin für verpflichtend erachtet. Erst ab 1963 öffnete eine neue Archivschulsatzung den Archivarsberuf über die bisherige Historiker-Klientel auch für Juristen, Theologen und Volkswirte.114
Vgl. Heinemeyer (wie Anm. 59) S. 654. Vgl. Papritz (wie Anm. 35) S. 65. – Winter (wie Anm. 68) S. 94. 113 Vgl. Puppel (wie Anm. 62) S. 344. – In Bayern war bereits seit Mitte 1933 die „arische“ Abstammung conditio sine qua non bei der Bewerberauswahl für die Ausbildungskurse der Archivreferendare, ab 1934 kam die politische Zuverlässigkeit der Kandidaten als weiteres entscheidendes Kriterium hinzu. Vgl. Bernhard Grau, „Im bayerischen Archivwesen gehört ausgemistet“ – Personalpolitik und Personalentwicklung der Staatlichen Archive Bayerns im NS-Staat. In: Archivalische Zeitschrift 96 (2019) S. 151–196, hier S. 177. 114 Vgl. Heinemeyer (wie Anm. 59) S. 655. 111 112
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Angesichts der hohen akademischen Hürden für den Eintritt in einen staatlichen Archivarslehrgang nimmt es nicht wunder, wenn es sich bei den Lehrgangsteilnehmern sozial gesehen um eine recht geschlossene Gesellschaft handelte. Wie Tobias Winter insbesondere für die 1920er bis 1940er Jahre, aber auch mit Gültigkeit für die Zeit zuvor zeigen konnte, war ihnen ein gemeinsames Herkunftsmilieu eigen: dem Bürgertum, meist Bildungsbürgertum entstammend, humanistisch geprägt, mit tendenziell nationalkonservativer Einstellung. Auffallend ist unter konfessionellen Gesichtspunkten die starke protestantische Dominanz mit Ausnahme von Bayern und Baden.115 Über Lehrgangsteilnehmer deutsch-jüdischer Herkunft wird demgegenüber aus der bestehenden Literatur nichts Näheres bekannt.116 Vom akademischen Werdegang her liegt mehrheitlich eine Nähe zur mittelalterlichen Geschichte und zu landesgeschichtlichen Milieus vor.117 Ein weiterer wichtiger, bisher noch nicht zur Sprache gekommener Grund für das Fehlen von Teilnehmern einfacherer sozialer Herkunft ist die Tatsache, dass die Archivarsausbildung in Deutschland bis 1939 [!] ohne jedwede Vergütung abzuleisten war. Wie es damals hieß, waren gesicherte Mittel zum „standesgemäßen Unterhalt“ unabdingbar für den Vorbereitungsdienst.118 Bis 1945 bestand nach der Lehrgangsteilnahme denn auch kein Anspruch auf Übernahme, sodass das Wagnis unbezahlter Jahre sicherlich manchen Kandidaten abschrecken musste. Zum Alter der Kandidaten lässt sich sagen, dass 1930 die Teilnehmer des ersten IfA-Kurses im Schnitt 26,5 Jahre alt waren.119 Das Alter ist im Vergleich zu heute bekanntlich vor dem Hintergrund anderer Studiendauern und Dissertationsumfänge zu sehen. Was die geographische Herkunft der Teilnehmer aus dem Reichsgebiet angeht, fällt auf, dass auch nichtpreußische Archivverwaltungen und vereinzelte Kommunen ihren Archivarsnachwuchs nach Berlin ans IfA sandten.120 Vgl. Winter (wie Anm. 68) S. 104. Musial (wie Anm. 80) S. 28 konstatiert lediglich allgemein, dass der „Zutritt zur Berufsgruppe der Archivare […] für Juden und Liberale […] nicht leicht“ war. Ebd. S. 29 nennt er mit Alex Bein (1903–1988), Hans Goldschmidt (1879–1940), Martin Löwenthal (1887–nach 1958) und Ernst Posner (1892–1980) deutsch-jüdische Archivare, die in den Jahren ab 1933 aus dem Dienst des Reichsarchivs respektive des Geheimen Staatsarchivs entlassen wurden. 117 Vgl. Winter (wie Anm. 68) S. 105 f. 118 Vgl. ebd. S. 95. 119 Vgl. ebd. S. 128. 120 Vgl. Leesch (wie Anm. 40) S. 198. 115 116
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Bleibt die Frage nach Teilnehmerinnen in der Archivarsausbildung. Lange Zeit wurde Frauen der Zugang dazu verwehrt.121 Die ersten Kursteilnehmerinnen gab es im IfA in den 1930er und 1940er Jahren, acht an der Zahl.122 Frauen war im Nationalsozialismus allerdings das Verbot auferlegt, als Beamtinnen im Staatsdienst zu arbeiten. Sie durften als Hospitantinnen an den Lehrgängen partizipieren, um danach als angestellte Mitarbeiterinnen in Archiven beschäftigt zu werden.123 5. Schlussbetrachtung Die Geschichte der Archivarsausbildung in Deutschland zeichnet sich durch ein langes Ringen um das richtige Gerüst der Ausbildung, um die angemessene Form des Zusammenspiels von Theorie und Praxis aus, ehe sich ihr bis in die Gegenwart anhaltendes Merkmal des postuniversitären, verwaltungsinternen Charakters herausbildete. Parallel damit einher gingen institutionelle Diskontinuitäten, sieht man von der seit dem späteren 19. Jahrhundert gefestigteren bayerischen Archivarsausbildung ab. Dies hing nicht zuletzt mit dem auffallenden Befund zusammen, dass es wiederholt einzelne Personen waren, die über Ländergrenzen hinweg für den Transfer und die Implantation von Ausbildungskonzepten sorgten, erst Theodor von Sickel von Paris nach Wien, dann Paul Fridolin Kehr von Wien nach Marburg, später nach Berlin, schließlich Albert Brackmann. Mit dem Einsatz für die Berufsgruppe der Archivare konnten sie nebenbei ihre (extra-)universitären Karrieren vorantreiben. Erst seit den 1930er Jahren gab es in Deutschland mit dem IfA Berlin, Brackmanns Schöpfung, eine archivarische Fachausbildungsstätte mit reichsweiter Ausstrahlung. Gleichzeitig frappiert ein zweiter Befund: Nicht Facharchivare waren es, sondern in den Historischen Hilfswissenschaften profilierte Historiker, die die Archivarsausbildung hierzulande stufenweise aus der Taufe gehoben haben. Wenn ein Moment in Anbetracht aller institutionellen Verlagerungen im Kleinen und aller Brüche deutscher Staatlichkeit im Großen für Kontinuität bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gesorgt hat, dann war es die Vorherrschaft der Historischen Hilfswissenschaften 121 Vgl. hierzu Gisela Vollmer, Archivarinnen gestern und heute. Zur Entwicklung des Frauenanteils insbesondere im staatlichen Bereich. In: Der Archivar 42 (1989) Sp. 351– 374, insbesondere Sp. 352–356. 122 Vgl. Winter (wie Anm. 68) S. 129 f. – Zu den IfA-Kursteilnehmerinnen detailliert Vollmer (wie Anm. 121) Sp. 354–356. – Puppel (wie Anm. 62) S. 364–369. 123 Vgl. Leesch (wie Anm. 40) S. 189 f. – Puppel (wie Anm. 62) S. 365.
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in der archivischen Ausbildung.124 Deren Kerncurriculum wurde im Laufe der Zeit erst nach und nach von den Rändern her um archivspezifische Fächer ergänzt. Die Archivwissenschaft wurde gegenüber der Geschichte, den Hilfswissenschaften, der Philologie und den Rechtswissenschaften nicht als gleichwertige Wissenschaft anerkannt. In der Geschichte ihrer Ausbildung spiegelt sich umgekehrt auch die Geschichte des seinerzeitigen beruflichen Selbstverständnisses der Archivare wider.125
Selbst nach 1945 spielten einzelne Lehrstühle für Hilfswissenschaften eine wichtige Rolle bei der Vorbildung künftiger Marburger Lehrgangsteilnehmer, ohne dass diese Praxis bislang näher untersucht worden wäre, vgl. hierzu zuletzt Haas – Schürrer (wie Anm. 84) S. 101 f. 125 Der vorliegende Aufsatz stellt die ergänzte und erweiterte Fassung eines Referats dar, das der Verfasser als Mitglied des 53. Wissenschaftlichen Lehrgangs der Archivschule Marburg im Rahmen des Kurses „Entwicklung und Geschichte des Archivwesens und der Archivtheorie in Deutschland“ bei Dr. Niklas Konzen im Sommertrimester 2019 gehalten hat. 124
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Adelige Archivpraxis in der Weimarer Republik im Spannungsfeld von staatlicher Zentralisierung und regionaler Innovation. Das Beispiel der „Vereinigten Westfälischen Adelsarchive“1 Von Tom Tölle Der Schutz nichtstaatlicher archivalischer Überlieferung entwickelte sich in der Weimarer Republik zu einem hochumstrittenen Politikum. Nichtstaatliche Archive als zentrale Kulturgüter verbrieften den historischen Status – beispielsweise des Adels, der Städte, der Kirchen – und schützten regionale Erinnerungskultur vor realem oder imaginiertem (zentral-)staatlichem Zugriff.2 Während mit der Zäsur 1918/19 der Adel in Deutschland, der im Zentrum dieser Betrachtung stehen wird, seine wichtigsten Standesvorrechte verlor, erlebte das nichtstaatliche Archivwesen eine wichtige Innovationsphase. Zugleich prägten massive logistische Probleme in Zeiten von Massenschriftgut und Institutionenzerfall das staatliche Archivwesen.3 Diese Probleme ließen ein mögliches Aufgehen Der Verfasser dankt Prof. Dr. Markus Friedrich, Dr. Sarah Schmidt, den Archivarinnen und Archivaren des LWL-Archivamts für Westfalen, Münster, insbesondere Prof. Dr. Marcus Stumpf, sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Vorlesungsreihe „Junge Hamburger Geschichtswissenschaft“ für zahlreiche kritische Hinweise. Frederik Schroers gilt besonderer Dank für die Unterstützung bei der Recherche und Manuskripteinrichtung. – Der Verfasser hat den dieser Ausarbeitung zugrundeliegenden Vortrag unter dem Titel „Aristokratisch archivieren. Zur Sozialgeschichte adeliger Archivpraxis“ am 10. Dezember 2018 an der Universität Hamburg gehalten. Die Arbeit entstand im Rahmen des DFG-Projekts „Adel und Archive. Zu einer Sozialgeschichte der Archive“, das von der Universität Hamburg, Lehrstuhl Prof. Dr. Friedrich, zusammen mit dem LWL-Archivamt für Westfalen durchgeführt wurde. 2 Markus Friedrich, Sammlungen. In: Ulrich Raulff – Marcel Lepper (Hrsg.), Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, Stuttgart 2016, S. 152–162. – Norbert Reimann, Kulturgutschutz und Hegemonie. Die Bemühungen der staatlichen Archive um ein Archivalienschutzgesetz in Deutschland 1921–1972, Antrittsvorlesung anlässlich der Ernennung zum Honorarprofessor am Fachbereich Informationswissenschaften der Fachhochschule Potsdam am 15. Mai 2003, als Manuskript gedruckt, Münster 2003. – Bernhard Grau, Archivpflege und Archivalienschutz. Das Beispiel der Familienarchive und ‚Nachlässe‘. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 56 (2011) S. 703–737. 3 Überblicksweise in Robert Kretzschmar, Obsolete Akten, Bewertungsdiskussion und zeitgeschichtliche Sammlungen. Der Erste Weltkrieg und die Überlieferungsbildung in 1
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nichtstaatlicher Überlieferung in staatlichen Archiven nicht mehr nur aus ideologischen, sondern auch aus konservatorischen Gründen zunehmend zweifelhaft erscheinen. Dieser Beitrag zeigt, wie Autodidakten und Laienarchivare politische Debatten um adeligen Statusverlust einsetzten, um Archivinnovation voranzutreiben. Er verfolgt exemplarisch für die Politisierung des nichtstaatlichen Archivwesens die „Vereinigten Westfälischen Adelsarchive“ (künftig: VWA), einen regionalen Archivverein in Nordwestdeutschland, der indes überregionale Wirkung entfaltete. Am Beispiel eines seiner zentralen Protagonisten, Heinrich Glasmeier (*1892, † 1945), eines Weltkriegsveteranen, Laienarchivars und späteren Reichsrundfunk intendanten, spürt der Aufsatz dazu der ambitionierten und innovativen Programmatik der VWA, den intellektuellen und politischen Kontexten des Vereins und den konkreten Praktiken archivwissenschaftlicher Außenseiter nach. Glasmeier propagierte, so zeigt sich, eine archivtheoretisch aufgeladene Beförderung eines völkischen Partikularismus. Die Geschichte der VWA steht damit symptomatisch für weiterreichende Entwicklungen: Erstens bündelt sie Debatten über die Bewahrung von materiellen Kulturgütern.4 In Abgrenzung von staatlichen Archiven entstanden in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg zahlreiche nichtstaatliche Initiativen, die sich der Überlieferung der untergehenden Welt des Kaiserreiches annahmen.5 Zweitens steht sie für Initiativen des Adels gegen dessen Statuserosion in der Republik.6 Aufgelöste Heroldsämter, die zuvor adelige Vorrechte verbrieft hatten, wurden teils in Vereine überführt, Archiven. In: Rainer Hering – Robert Kretzschmar – Wolfgang Zimmermann (Hrsg.), Erinnern an den Ersten Weltkrieg, Archivische Überlieferungsbildung und Sammlungsaktivitäten in der Weimarer Republik (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Reihe A, 25), Stuttgart 2015, S. 11–28. – Markus Friedrich – Sarah Schmidt – Tom Tölle (Hrsg.), Archivare zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. Institutionen, Schriftgut, Geschichtskultur (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg 26), im Druck. 4 Vgl. Astrid Swenson, The Rise of Heritage. Preserving the Past in France, Germany and England, 1789–1914, Cambridge 2013. 5 Z.B. Marcus Schröter, Auf der Suche nach der Wahrheit im Krieg der Worte. Die Kriegssammlung der Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau. In: Rainer Hering – Robert Kretzschmar – Wolfgang Zimmermann (Hrsg.), Erinnern an den Ersten Weltkrieg (wie Anm. 3) S. 149–206. – Lena Krull (Hrsg.), Der Archivar als Chronist. Eduard Schulte und die Revolution 1918/19 in Münster (Kleine Schriften aus dem Stadtarchiv Münster 16), Münster 2021. 6 Eckart Conze – Wencke Meteling – Jörg Schuster – Jochen Strobel (Hrsg.), Aristokratismus und Moderne. Adel als politisches und kulturelles Konzept. 1890–1945 (Adelswelten 1), Köln u.a. 2013.
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die nun zumindest die kulturelle Distinktion des Adels durch dessen Titel bewahrten.7 Drittens zeigen sich hier die steigenden Spannungen zwischen staatlichen Organisationen einer- und republikkritischen nichtstaatlichen Organisationen andererseits.8 Während neu entstehende Institutionen, wie beispielsweise das Reichsarchiv, den genuinen Aufgabenbereich staatlicher Archive mit ihrer Sammlungstätigkeit überschritten, begannen nichtstaatliche Initiativen, Veteranenverbände und Vereine eigene Überlieferungen (nicht nur) zum Ersten Weltkrieg zu bilden.9 Anhand nichtstaatlicher Organisationen, etwa von Adelsarchiven, lässt sich aufzeigen, wie eng Innovationen in der Archivpraxis mit politischen Einstellungen gegenüber der Weimarer Demokratie, in diesem Fall mit einer republikfeindlichen Haltung, verbunden waren.10 Dieser Beitrag versteht sich somit auch als kritische Intervention in der Debatte um das spannungsvolle Verhältnis zwischen Wissensbeständen und Arbeitstechniken. In der archivgeschichtlichen Forschung hat es seit dem Stuttgarter Archivtag 2005 eine lebhafte Debatte über eine etwaige 7 Walter von Hueck, Organisationen des deutschen Adels seit der Reichsgründung und das Deutsche Adelsarchiv. In: Kurt Adamy – Kristina Hübener (Hrsg.), Adel und Staatsverwaltung in Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert. Ein historischer Vergleich (Potsdamer Historische Studien 2), Berlin 1996, S. 19–37. – Harald von Kalm, Das preußische Heroldsamt (1855–1920). Adelsbehörde und Adelsrecht in der preußischen Verfassungsentwicklung (Quellen und Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 5), Berlin 1994. – Andrea Schwarz, Das Königlich Bayerische Reichsheroldenamt und die Adelsmatrikel. In: Herold-Jahrbuch NF 3 (1998) S. 159–182. 8 Zum Vereinswesen Frank Bösch, Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost- und westdeutschen Regionen (1900–1960) (Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen 19), Göttingen 2002. – Zu Veteranen insbesondere Benjamin Ziemann, Contested Commemorations. Republican War Veterans and Weimar Political Culture (Studies in the social and cultural history of modern warfare), Cambridge 2012. 9 Friedrich (wie Anm. 2) – Matthias Herrmann, Das Reichsarchiv 1919–1945. Eine archivische Institution im Spannungsfeld der deutschen Politik (Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv Kamenz 4), Kamenz 2019 (Diss. Humboldt-Univ., Berlin 1994). – Markus Pöhlmann, Kriegsgeschichte und Geschichtspolitik. Der Erste Weltkrieg. Die amtliche deutsche Militärgeschichtsschreibung, 1914–1956 (Krieg in der Geschichte 12), Paderborn 2002. 10 Karl Ditt, Raum und Volkstum. Die Kulturpolitik des Provinzialverbandes Westfalen 1923–1945 (Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für Westfälische Landes- und Volksforschung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe 26) Münster 1988. – Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 101), Göttingen 1993.
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„Nazifizierung des Archivwesens“ gegeben.11 Einige Diskutanten in Stuttgart betonten, man könne nicht zwischen Akteuren und ihren Arbeitstechniken trennen.12 Andere – wie der Medientheoretiker Wolfgang Ernst – argumentierten, Speichermedien entzögen sich qua Definition einer Ideologisierung.13 Seither ist die Debatte nicht verstummt, doch hat dabei bisher vor allem das staatliche Archivwesen im Fokus gestanden.14 Dabei steht – wie zu zeigen sein wird – die Idee, alle Adelsarchive einer Region zu vereinen, in einem engen ideologischen Zusammenhang mit einer zunehmenden Politisierung des Archivwesens. Vieles spricht daher gegen die Grenzziehung Wolfgang Ernsts. Bestimmte Techniken des Archivierens hatten in der Weimarer Republik nur deshalb breitenwirksame Durchsetzungschancen, weil Akteure sich sowohl auf das zunehmend politisierte Vereinswesen und konservative institutionelle Verflechtungen als auch auf praktische Innovation verstanden. Glasmeier und andere spitzten in diesem Konflikt das Provenienzprinzip, die Übernahme organisch gewachseAstrid M. Eckert, Zur Einführung: Archive und Archivare im Nationalsozialismus. In: Robert Kretzschmar u.a. (Red.), Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag 10), Essen 2007, S. 11–19, hier S. 13. 12 So dokumentiert in der Podiumsdiskussion „Archive und Archivare im Nationalsozialismus“ (redigiert von Robert Kretzschmar). In: Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus (wie Anm. 11) S. 486–513, etwa die Positionen von Lorenz Mikoletzky, Robert Kretzschmar oder Torsten Musial. – Torsten Musial, Staatsarchive im Dritten Reich. Zur Geschichte des staatlichen Archivwesens in Deutschland 1933–1945 (Potsdamer Studien 2), Potsdam 1996. – Sven Kriese, Konsistenz und Wandel der preussischen ‚Archivarbeit‘ im Nationalsozialismus. Ein Arbeits- und Forschungsaufruf. In: Archivar 70 (2017) S. 370–375. – Tobias Winter, Die deutsche Archivwissenschaft und das „Dritte Reich“. Disziplingeschichtliche Betrachtungen von den 1920gern bis in die 1950er Jahre (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Forschungen 17), Berlin 2018. 13 Z.B. Wolfgang Ernst, Archivische Technologien im Nationalsozialismus als Instrumente der Täter und Gedächtnis der Opfer. In: Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus (wie Anm. 11) S. 22–33, vor allem aber in der dokumentierten Diskussion (wie Anm. 12). Auf diesen Fall bezogen siehe Norbert Fasse, Vom Adelsarchiv zur NSPropaganda. Der symptomatische Lebenslauf des Reichsrundfunkintendanten Heinrich Glasmeier (1892–1945) (Schriftenreihe des Jüdischen Museums Westfalen 2), Bielefeld 2001, hier S. 26. 14 Z.B. der Schwerpunkt in: Archivar, Heft 4 des Jahrganges 70 (2017). – Die Staatlichen Archive Bayerns in der Zeit des Nationalsozialismus = Archivalische Zeitschrift 96 (2019). – Peter Fleischmann – Georg Seiderer (Hrsg.), Archive und Archivare in Franken im Nationalsozialismus (Franconia. Beihefte zum Jahrbuch für fränkische Landeskunde – Beiheft 10), Neustadt an der Aisch 2019. 11
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nen Schrifttums, auf Kriterien von Volk und Kulturraum zu. Sie suchten dazu einen regional und partikularistisch begründeten Schulterschluss mit Kulturkritikern der späten Weimarer Republik; eine Strategie, die notwendig zum Konflikt mit den nationalistischen und zentralistischen Zielsetzungen anderer möglicher Bündnispartner führte. Zunächst betrachtet der Beitrag die Vereinsgründung in Westfalen im intellektuellen Kontext des Archivschutzes (I). Dann diskutiert er eine Programmschrift Glasmeiers in der Archivalischen Zeitschrift, die in ihrer legitimatorischen Funktion gelesen wird (II). Ein weiterer Schritt kontrastiert die organisatorischen und öffentlichkeitswirksamen Ambitionen mit den Innovationen und praktischen Herausforderungen von Glasmeiers Archivtätigkeit in Westfalen (III). Sodann arbeitet der Beitrag aus einer Liste von Gewährsleuten, die in dieser Schrift prominent auftreten, Glasmeiers intellektuelles und politisches Milieu heraus (IV). Aus diesem an der Verflechtungsforschung orientierten Zugang ergibt sich ein Verständnis der Vereinsgründung in ihrem komplexen und zunehmend politisierten Kontext (V). I. Archivschutz und nichtstaatliches Archivwesen Der Aufstieg von Archiven und die Intensivierung von Staatlichkeit verliefen parallel. Staatliche Archive waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch ideell eng mit den Herrschaftsträgern verwoben, die sie finanzierten, strukturierten und mit Personal ausstatteten.15 Doch mit welchen Herrschaftsträgern? Die politische Verfassung änderte sich rapide, als zunächst das Deutsche Kaiserreich am Ende des Ersten Weltkriegs, dann die Weimarer Republik 1933 und zuletzt das NS-Regime am Ende des Zweiten Weltkriegs zerfielen.16 Nach dem Versailler Vertrag wurde beispielsweise der Generalstab ohne institutionellen Ersatz aufgelöst, und dessen Überlieferung gewissermaßen heimatlos, bevor sie im neu gegründeten Reichsarchiv aufging.17 Flüchtungen, Raub und Zerstörung von Archivalien ebenso wie territoriale Verluste hatten die Fragilität von Archivgut sinnfällig vor Augen gestellt. Gerade in der Anfangsphase der Weimarer Republik, deren 15 So zuletzt Philipp Müller, Geschichte machen. Historisches Forschen und die Politik der Archive, Göttingen 2019. 16 Zu (Dis)kontinuitäten exemplarisch Bernhard Grau, „Im bayerischen Archivwesen gehört ausgemistet“ – Personalpolitik und Personalentwicklung der Staatlichen Archive Bayerns im NS-Staat. In: Archivalische Zeitschrift 96 (2019) S. 151–196. 17 Herrmann (wie Anm. 9).
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Gründung von traditionellen Eliten des Kaiserreichs als dramatische Zäsur wahrgenommen wurde, gab es seitens adeliger Eigentümer Bestrebungen, ihre Archive vor dem staatlichen und damit nun republikanischen Einfluss zu schützen. Der regionale, oft katholische Adel außerhalb Preußens etwa intensivierte dazu in Westfalen, im Rheinland, aber auch anderswo seine Förderung des nichtstaatlichen Archivwesens.18 Die intellektuellen Grundlagen dazu legten in Fach- und zunehmend auch in Adelskreisen die Debatten über den sogenannten Archivschutz, die zunehmend auch auf Privatarchive ausgedehnt wurden.19 Bereits auf dem 4. Deutschen Archivtag in Danzig 1904 hatte Max Bär, Danziger Staatsarchivar, die Sorge für „schriftliche Denkmäler“ auf eine Stufe mit denen aus Stein und Eisen gestellt, betonte indes, Privatarchive seien und blieben Privateigentum.20 1907 fügte Paul Bailleu, ehemaliger Sekretär Leopold von Rankes und seit 1906 zweiter Direktor der preußischen Staatsarchive, hinzu, man müsse den Adel dennoch – wie etwa in Westfalen seit 1899 geschehen – ermuntern, seine Bestände verzeichnen zu lassen.21 Diskussionsbeiträge in Fachzeitschriften antworteten in der Folge zunehmend aufeinander, als zunächst die städtische Überlieferung, dann auch die kirchlichen und privaten Archive, in den Blick der Archivare gerieten. Otto R. Redlich, bis 1929 Leiter des preußischen Staatsarchivs Düsseldorf, vertrat 1931 mit Blick auf die Bestände des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation generell die Ansicht, der „organisch erwachsene Bestand eines Archivkörpers“ müsse über politische Zäsuren hinweg erhalten werden.22 Lothar Groß, selbst Generalstaatsarchivar in Wien, griff in seinem Artikel „Zur Geschichte des Archivschutzes in Österreich“ von 1934 ebenTom Tölle, Ein Experiment delegitimiert das Modell: Die (Nicht-)Etablierung von Adelsarchivvereinen in Westfalen (1923), im Rheinland (1926) und in Österreich in der Zwischenkriegszeit. In: Markus Friedrich – Sarah Schmidt – Tom Tölle (Hrsg.), Archivare zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik (wie Anm. 3). 19 Eine summarische Darstellung bei Winter (wie Anm. 12). 20 Max Bär – Hubert Ermisch – Herrmann Knapp, Über eine gesetzliche Regelung des Schutzes von Archivalien und der Beaufsichtigung nicht fachmännisch verwalteter Archive und Registraturen. In: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichtsund Altertumsvereine 52 (1904) S. 376–400. 21 Armin Tille, Pflege und Inventarisation nichtstaatlicher Archive. In: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 55 (1907) S. 161–175. 22 Otto R. Redlich, Die Fürsorge für nichtstaatliche Archive und die Archivberatungsstelle der Rheinprovinz. In: Hans Oskar Beschorner (Hrsg.), Archivstudien. Zum 70. Geburtstage von Woldemar Lippert, Dresden 1931, S. 192–199. 18
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falls auf das Ende des Alten Reiches zurück, um den „neuen schweren Sorgen“ um „Vernachlässigung“ und „Vernichtung“ von Archivgut gerecht zu werden.23 Hermann Knapp legte eine umfassende, westeuropäische Übersicht über die „Fürsorge für die nichtstaatlichen Archive“ vor und ging dabei dezidiert auch auf Adelsarchive ein.24 Groß war es jedoch, der in einer Literaturschau schon 1926 die Leistungen der Historischen Kommission der Provinz Westfalen besonders gewürdigt hatte. Ihr gehörte unter anderem Heinrich Glasmeiers Doktorvater Ludwig Schmitz-Kallenberg an.25 Darüber hinaus lobte Groß auch die Vereinsgründung der VWA 1923. Er bezeichnete den Verein als eine Form, „deren Nachahmung wir Archivare nur allen beteiligten Kreisen wärmstens empfehlen können“.26 In diesen Debatten spielte – wie im Fall Redlichs vielleicht am deutlichsten zu sehen – das Provenienzprinzip, d.h. die Ordnung von Archivalien nach ihrem örtlichen und organisatorischen Entstehungszusammenhang, eine zentrale Rolle.27 Wie Mario Wimmer gezeigt hat, setzte sich im Zuge von Konflikten über das Provenienzprinzip zwischen Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien und den preußischen Staatsarchivaren der organizistische Begriff des „Archivkörpers“ prominent durch.28 Wolfgang Ernst 23 Lothar Gross, Zur Geschichte des Archivschutzes in Österreich. In: Archivalische Zeitschrift 42/43 (1934) S. 159–182. Zu Groß vgl. Michael Hochedlinger, Lothar Groß (1887–1944). In: Archivalische Zeitschrift 89 (2007) S. 45–118. 24 Hermann Knapp, Die Fürsorge für die nichtstaatlichen Archive. In: Archivalische Zeitschrift 26 [N.F. 13] (1906) S. 67–96 und Tille (wie Anm. 21). 25 Lothar Gross, Literaturberichte. IV Deutschland. In: Archivalische Zeitschrift 36 (1926) S. 235–288, hier S. 255. Zu Schmitz-Kallenberg vgl. Wilfried Reininghaus, Der Historiker Ludwig Schmitz-Kallenberg als Leiter des Staatsarchivs Münster 1921–1932. In: Markus Friedrich – Sarah Schmidt – Tom Tölle (Hrsg.), Archivare zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik (wie Anm. 3). – Vgl. auch: Jessica von Seggern, Tagungsbericht „Weimars (un)getreue Archivare“? Politische Zäsur und Archivpraxis nach 1918/19. In: Archivjournal. Neuigkeiten aus dem Staatsarchiv Hamburg, Ausgabe 2/2021, S. 10. 26 Gross (wie Anm. 25) S. 256. 27 Grundlegend dazu Jürgen Kloosterhuis, Preußens archivische Revolution. Quellen zur Einführung und Anwendung des Provenienzprinzips im Preußischen Geheimen Staatsarchiv und den Staatsarchiven in den preußischen Provinzen, 1881–1907. In: Ders. (Hrsg.), Archivarbeit für Preußen. Symposion der Preußischen Historischen Kommission und des Geheimen Staatsarchivs Preussischer Kulturbesitz aus Anlass der 400. Wiederkehr der Begründung seiner archivischen Tradition (Veröffentlichungen aus den Archiven Preussischer Kulturbesitz, Arbeitsberichte 2), Berlin 2000, S. 423–440. 28 Mario Wimmer, Die kalte Sprache des Lebendigen. Über die Anfänge der Archivberufssprache (1929–1934). In: Peter Becker (Hrsg.), Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts (1800–2000. Kulturgeschichten der Moderne 2), Bielefeld 2011, S. 45–74, hier S. 62 und Ders., Archivkörper. Eine Ge-
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hat diese metaphorische Rede vom Körper des Archivs in die deutsche Romantik mit ihrer Hinwendung zu biologischen Vorstellungen von Gemeinschaft zurückverfolgt.29 Systematisiert wurde der Begriff in der Archivtheorie allerdings in den 1920er Jahren, als Heinrich Otto Meisner „organisch gewachsene[n] [Beständen] oder solche[n] durch den Archivar nur wiederhergestellte[n] Archivteile[n]” in seinem Versuch einer deutschlandweiten Archivsprache, basierend auf Fragebögen an alle Staatsarchive, als „Archivkörper” eine wichtige Rolle zuwies.30 Zwar verbanden konstante Rückbezüge auf Bestandserhaltung, Erschließung und zunehmend auch auf Benutzbarkeit Zentralisierer und Regionalisten im Archivwesens miteinander. Die Frage nach den Implikationen von „Provenienz“ – im Preußischen Geheimen Staatsarchiv seit 1881 die Norm – trennte aber die Diskutanten. Das freie Provenienzprinzip, das später Adolf Brenneke theoretisierte, hätte die Zentralisierung von Beständen erlaubt, solange damit das „Wesen“ eines Bestandes nicht verletzt würde. Andere, die wir weiter unten kennenlernen werden, verstanden Provenienz nicht nur archivintern, sondern zunehmend regionalistisch: Provenienz konnte somit gegen Zentralisierung mobilisiert werden. Einige Kirchen in Deutschland etwa fürchteten – wie Norbert Reimann gezeigt hat – „eine Verarmung und Verödung des geistigen Lebens auf dem Lande, wenn die dort vorhandenen ... Quellen in absehbarer Zeit restlos in entlegene Staatsarchive entführt werden“.31 Die Professionalisierung, unter anderem der preußischen Archive, wurde deshalb von nichtstaatlichen Archivaren als nachahmenswert einer- und als Bedrohung andererseits verstanden. Der rheinische Archivar Wilhelm Kisky pries den Standard der Erschließung, während Glasmeier warnte, viele Privatleute würden eher Bestände zerstören, als sie ‚den Berlinern’ auszuliefern.32 Wie die Trias des Archivschutzes – Bewahrung, Erschließung, lokale Nutzung – konkret umzusetzen war, blieb somit in der Weimarer Republik umstritten. Das schichte historischer Einbildungskraft, Konstanz 2012. – Der Vorgang von Archivdiebstählen wird diskutiert in Heinrich Otto Meisner, Die Archivdiebstähle Haucks. Tatsachen und Folgerungen. In: Archivalische Zeitschrift 36 (1926) S. 178–187. 29 Wolfgang Ernst, Nicht Organismus und Geist, sondern Organisation und Apparat. Plädoyer für archiv- und bibliothekswissenschaftliche Aufklärung über Gedächtnistechniken. In: Sichtungen 2 (1999) S. 129–139. 30 Heinrich Otto Meisner, Elemente der archivarischen Berufssprache. In: Archivalische Zeitschrift 39 (1930) S. 260–273, hier S. 261. 31 Zitiert nach Reimann (wie Anm. 2). 32 Zu Kisky: Fürstlich Salm-Salmsches Archiv, Anholt, FSS Archivverwaltung vor 1945.
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Provenienzprinzip, so stellte sich heraus, eröffnete eine Möglichkeit, die regionale Verankerung von Archiven für politische Debatten zu öffnen. Zur Ordnung und Erschließung ihrer Archive bedienten sich Adelsfamilien (auch aus Kostengründen) kreativer Außenseiter, die nicht an Staatsarchiven ausgebildet und angestellt waren. Heinrich Glasmeier war ein solcher Außenseiter. Noch als Geschichtsstudent an der Universität Münster hatte ihn sein Professor Ludwig Schmitz-Kallenberg, selbst eine Instanz des regionalen Archivwesens, als Archivar dem Herzog von Croÿ empfohlen. Glasmeiers Doktorarbeit wiederum basierte auf Quellenarbeiten aus dem Archiv der gräflichen Familie von Merveldt, deren Archivalien auf Lembeck er teils verzeichnete.33 Zwischen diesen Tätigkeiten und der Vereinsgründung lag der Erste Weltkrieg. Während der Krieg aber die Verzeichnung von Archivbeständen unterbrach, stärkte er Glasmeiers Verankerung im adeligen Milieu noch. Wie sein mit Sinnsprüchen aristokratischer Kameraden gefülltes Frontalbum zeigt, ermöglichte ihm der Dienst in der adelig geprägten Kavallerie, in diesem Milieu engere Verbindungen als zuvor aufzubauen.34 Insbesondere der Kontakt zu Max von Landsberg-Velen verband Glasmeier mit dem im Münsterland angesehenen Kürassier-Regiment Nr. 4 („von Driesen“). Die VWA, die er 1923 mit Unterstützung seines Förderers Graf Landsberg-Velen gründete, umfassten zunächst 16 private Adelsarchive. Auf regelmäßigen Vereinstreffen und durch die Vereinszeitung „Westfälisches Adelsblatt“, vor allem aber durch seine persönlichen Kontakte und zahllosen Reisen in der Region hielt Glasmeier den westfälischen Adel über den Fortgang der Arbeiten auf dem Laufenden.35 Heinrich Glasmeier, Das Geschlecht von Merveldt zu Merfeld. Ein Beitrag zur Familien- und Standesgeschichte der Münsterschen Ritterschaft ( = Westfälisches Adelsblatt 8, 1931), S. 1–84 (Diss. 1920). 34 Frontalbum Heinrich Glasmeier (LWL-Archivamt, NL Glasmeier 901/49). – Der Nachlass (NL) von Heinrich Glasmeier befindet sich im Archiv des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Münster (LWL-Archivamt) unter der Bestandsnummer 901. – Daraus wie aus anderen Quellen zitierte Korrespondenz wird nur im Einzelfall als eingelaufenes Schreiben, Entwurf/Durchschlag oder Kopie charakterisiert; bei den Zitierungen in diesem Beitrag erschließt sich diese Charakterisierung aus dem Zusammenhang. 35 Z.B. Heinrich Glasmeier, Archivfahrten kreuz und quer durch Westfalen. In: Westfälisches Adelsblatt. Monatsblatt der Vereinigten Westfälischen Adelsarchive e.V. 1 (1924) S. 55–79 und in 19 Fortsetzungen bis Ders., Archivfahrten kreuz und quer durch Westfalen. 19. Fortsetzung. In: Ebd. 9 (1937) S. 49–65, sowie Ders., Ein Jahr „Vereinigte westfälische Adelsarchive“. In: Ebd. 2 (1925) S. 4–8 und „Bericht über das Vereinsjahr 1925“. In: Ebd. 3 (1926) S. 1–8. 33
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Glasmeier vertrat ein Argument, das auch in der Debatte um Archivschutz prominent vorkam:36 Man müsse der befürchteten Überführung in – oder sogar Enteignung von Archivgut durch – staatliche Archive zuvorkommen. Dazu müsse man den Gegnern privater Archivpraxis ihre Argumente nehmen. Die Kritik der Gegner entzündete sich daran, private Archive seien unterfinanziert, es fehle ihnen an Expertise und sie blieben exklusiv, sodass Kritiker mangelnden Schutz, mangelnde Pflege und mangelnden Zugang als Argumente gegen nichtstaatliche Archive mobilisieren konnten. Als Antwort auf solche Kritiker vollzog Glasmeiers Ansatz eine paradoxe Volte. Er schlug vor, Archive eigeninitiativ zu zentralisieren und professionalisieren, um sie vor staatlicher Zentralisierung zu schützen. I I . Au ß e n d a r s t e l l u n g : „ Vo m n i c h t s t a a t l i c h e n A r c h i v w e s e n We s t f a l e n s “ ( 1 9 3 0 ) Glasmeiers Aufsatz „Vom nichtstaatlichen Archivwesen Westfalens“, den er 1930 im zentralen Fachblatt der Archivare, der Archivalischen Zeitschrift, veröffentlichte, sollte im Streit zwischen ‚Regionalisten’ und ‚Zentralisierern’ in der Archivpflege gelesen werden. Er ging aber im Grad seiner Politisierung, rhetorischen Zuspitzung und technischen Detailliertheit weit über vergleichbare Texte hinaus. Glasmeier betrieb zunächst eine gezielte und planvolle Selbsthistorisierung. Dazu lokalisierte er seine Archivüberlegungen in dem Schlüsselereignis, das adelige und nichtadelige ehemalige Frontkämpfer in der Weimarer Republik oft in Abwehrhaltung gegen die Republik miteinander verband. Er erklärte seine eigene Fronterfahrung im September 1918 an der Westfront zum Ursprung des Archivvereins. „In diesem ‚Milieu‘“, schrieb er, ist
Zu Glasmeier Birgit Bernard, Korruption im NS-Rundfunk. Die Affäre um die ‚Bunten Abende‘ des Reichssenders Köln. In: Geschichte im Westen 23 (2008) S. 173–203. – Dies., Dienstreisen durch deutsche Grenzlande. Die Exkursionen der Rundfunkintendanten durch Westdeutschland und Ostpreußen im Sommer 1937. In: Geschichte im Westen 20 (2005) S. 155–172. – Norbert Fasse, Katholiken und NS-Herrschaft im Münsterland. Das Amt Velen-Ramsdorf 1918–1945 (Schriftenreihe der Stadt Velen 4), Bielefeld 1996, S. 27–30, 147–173. – Ders. (wie Anm. 13). – Norbert Reimann, Heinrich Glasmeier. In: Westfälische Lebensbilder 17 (2005) S. 154–184. – Nicky Rittmeyer, Das politische und berufliche Wirken des Reichsintendanten des Deutschen Rundfunks Dr. Heinrich Glasmeier, unter besonderer Betrachtung der Jahre 1930–1942, ungedruckte Diplomarbeit, Potsdam 2006. 36
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„eigentlich der Archivverein des westfälischen Adels entstanden“.37 Dass diese Verortung nicht unkritisch akzeptiert werden sollte, legen einige Einzelbeobachtungen nahe. Erstens erwähnte Glasmeier das eigene, nicht mehr erhaltene Fronttagebuch, das diese Erinnerung angeblich unmittelbar festgehalten habe. In der Weimarer Republik schied ein solcher Rekurs auf das direkte Fronterlebnis regelmäßig zwischen denjenigen, die sich zu 1918 äußern durften, den aktiven Kriegsteilnehmern, und allen anderen, die es in den Augen der Veteranen gerade nicht durften.38 Zudem fällt der Hinweis auf den „Verrat“ auf, der „unsern Angriff vorzeitig zum Erliegen gebracht“, denn als Glasmeier 1930 seinen Beitrag schrieb, war der Streit um die Weltkriegsniederlage in vollem Gange.39 Die Geschichte des „Verrats“ bei Reims konnte man seit kurzem im Band „Deutsche Siege 1918“ in der populären Reihe „Schlachten des Weltkrieges“ des Reichsarchivs nachlesen.40 Fronterlebnis, Verrat und Revanche traten also in einen Begründungszusammenhang, um die Notwendigkeit nichtstaatlichen Archivwesens zu erklären. Obwohl Kritik am Versailler Vertrag auch im linken politischen Spektrum existierte, wies Glasmeier dadurch, dass er 1930 in dieser Weise von 1918 sprach, dem Verein einen Platz im konservativen „Milieu“ zu. Glasmeier setzte diesen Platz des Vereins im konservativen Spektrum darüber hinaus gezielt in Szene. Im Text verlegte der Archivar seine Pläne für einen Verein, der erst 1923 gegründet wurde, bereits vor die entscheidende Zäsur 1918/19. Glasmeier nahm eine vermittelnde Position zwischen Adel und republikanischer Regierung ein. In der Praxis war diese Rolle schon deshalb nicht gegeben, weil er eben zuerst Angestellter des Adels und erst danach Vereinsgründer gewesen war. Rhetorisch war Glasmeiers Vorgehen aber geschickt, denn er konnte das Misstrauen des Adels gegen Zentralstaatlichkeit aus der Beobachterperspektive beschreiben und zugleich sich selbst dafür verantwortlich erklären, dass es nun sukzessive überwunden worden war. Nach 1918 sei es vor allem die „Angst vor Sozialisierungs37 Heinrich Glasmeier, Vom nichtstaatlichen Archivwesen Westfalens. In: Archivalische Zeitschrift 39 (1930) S. 81–113, hier S. 81. 38 Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, S. 1002. 39 Boris Barth, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933 (Schriften des Bundesarchivs 61), Düsseldorf 2003, insbes. Kapitel 5. 40 Glasmeier (wie Anm. 37) S. 81. – Thilo von Bose, Deutsche Siege 1918 (Schlachten des Weltkrieges 32), Berlin 1928.
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maßnahmen der Regierung“ gewesen, die die Pläne für den Verein vorantrieb.41 Man habe gefürchtet, dass Bestände zuerst „in Staatsarchive“ übergehen und es dann „mit Hilfe dieser Unterlagen […] ein Leichtes sein“ würde, „auch die Beschlagnahme des übrigen Vermögens“ durchzusetzen.42 Neben diese Furcht vor der Sozialisierung adeligen Besitzes, die sich nicht bewahrheitete, stellte Glasmeier einen Motivkomplex, den er durch seine Beteiligung am Erbstreit der Familie Croÿ gut kannte, das adelige Erbrecht: „Durch die Gesetze über die Aufhebung der Fideikommisse und aus anderen Gründen“ ergab sich „die Notwendigkeit […], archivalische Nachforschungen anzustellen, ja die Archive regelrecht zu ordnen, um die benötigten Nachweise erbringen zu können“. An dieses adelige Eigeninteresse an Archivarbeit habe Glasmeier – so die Selbstbeschreibung, die ihn von der Rolle eines Erfüllungsgehilfen adeliger Interessenpolitik distanzieren sollte – mit seiner Sorge um Kultur und Wissenschaft angeschlossen. In einer Politisierung ex post verflocht Glasmeier seine vermeintliche Motivation zudem mit der zeitgenössischen Rhetorik von der „Liebe zur Scholle“ und der organischen Verbindung zum historischen Boden.43 Zunächst erzählte er eine Verfallsgeschichte des alten „Kulturlandes“44 Westfalen. Hier fügten sich all die anonymen Negativbeispiele von Adeligen ein, die ihre Archive mit Taubenschlägen und Kuhställen zusammengelegt oder als Jugendliche zum Vergnügen auf alte Siegel geschossen hatten.45 Mit der Vereinsgründung begann indes ein selbst diagnostizierter Wandel zum Besseren. Die Wendung hin zur Kulturpflege, die Glasmeier auch selbst „unter dem Einflusse der in Westfalen sehr starken Heimatbewegung“ durchgemacht habe, war somit nicht artifiziell oder realitätsfremd, wie er betonte.46 Unter (archiv-)wissenschaftlichen Gesichtspunkten sehe er ein, dass man Archivgut zentralisieren müsse, zugleich sei es aber für die Region, das „Kulturland“, das „Land der Roten Erde“ schädlich, die „Archivalien dem heimischen Boden zu entreißen, auf dem sie erwachsen sind“.47 Dieses organische Archivverständnis, das bereits skizziert wurde, band Archivgut an regionale Kultur zurück und nahm damit eine Redu-
Glasmeier (wie Anm. 37) hier S. 82, 83, 90. Ebd. S. 82. 43 Ebd. S. 100. 44 Ebd. S. 84. 45 Ebd. S. 87. 46 Ebd. S. 89. 47 Ebd. S. 84. 41 42
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zierung des Provenienzprinzips auf Kulturraumkonzepte vor.48 Bei Glasmeier gipfelte dieser Konnex „Archiv und Boden“ in einer Kritik des Antiquarismus: „Offen bekenne ich: ich liebe das Pergament nicht um des Pergamentes willen“, hielt der Text fest, sondern „Dienst am Volke (nicht an der Masse!) soll auch die Archivarbeit sein“.49 Dieses Zukunftsprojekt verband Glasmeier mit anderen Heimatbewegten seiner Zeit. Mit seinem organischen und regional verwurzelten Archivverständnis kontrastierte Glasmeier die staatlichen Zentralisierungsbestrebungen, die er als artifiziell ansah. Ihm selbst seien sie abstrakt einsichtig, aber es sprächen eben lokale Widerstände, mangelnde Kenntnis der Begebenheiten und positive Entwicklungen der letzten Jahre gegen ein solches zentralisierendes Bestreben. Er führte, wie erwähnt, Archivbesitzer an, „die schworen, eher ihre Archivalien zu verbrennen, als sie ‚den Berlinern‘ auszuliefern“.50 Dabei wies er sich selbst eine vermittelnde Rolle zu („nachdrücklichst betonte ich: ‚Der Staat will nicht Archivraub, sondern Archivschutz‘“).51 Seine besondere Fähigkeit sei es, Vorteile zu erläutern und „Vorurteil[e] gegen wissenschaftliche Benutzung der Bestände und wegen einer eventuellen Einmischung der staatlichen Behörden“ zu beseitigen.52 Insgesamt sei es seine Strategie gewesen, dem Staat die Sorgen zu nehmen, indem „man alle Vorwände beseitige, welche die Regierung zur Beschlagnahme der Archive etwa angeben könnte, d.h. wenn man sie selber ordne, sicher aufbewahre und der wissenschaftlichen Forschung freiwillig zur Verfügung stelle“.53 Damit präsentierte sich Glasmeier letztlich als vorauseilender Erfüllungsgehilfe staatlichen Archivschutzes. Eine künstliche Zentralisierung Eine zeitgenössische Definition des Provenienzprinzips etwa in Wolfgang Leesch – Adolf Brenneke (Hrsg.), Archivkunde. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte des Europäischen Archivwesens, Leipzig 1953, S. 85, indes ohne die biologisch organische Sprache, orientiert an einer Gegenüberstellung von Provenienz und Pertinenz – siehe auch Dietmar Schenk, Nachwort. In: Ders. (Hrsg.), Adolf Brenneke. Gestalten des Archivs. Nachgelassene Schriften zur Archivwissenschaft (Veröffentlichungen des Landesarchivs SchleswigHolstein 113), Hamburg 2018, insbes. S. 179–181. 49 Glasmeier (wie Anm. 37) S. 100. – Auch bei Albert Brackmann, dessen Vortrag auf dem Deutschen Archivtag in Linz 1930 Glasmeier gehört haben dürfte: Albert Brackmann, Das Institut für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung am Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem. Vortrag gehalten auf dem XXII. Archivtag zu Linz a.D. am 15. September 1930. In: Archivalische Zeitschrift 40 (1931) S. 1–16. 50 Glasmeier (wie Anm. 37) S. 82, 85, 88. 51 Ebd. S. 82. 52 Ebd. S. 92f. 53 Ebd. S. 82. 48
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sei schon deshalb nicht nötig, weil alle damit verbundenen Ziele bereits erfüllt seien. Glasmeier wies auf Kurse in Archivpflege, seine Träume von einer Westfälischen Archivschule und einer archivtechnischen Abteilung in Schloss Velen, dem Sitz der Landsberg-Velen hin.54 Westfalens Adel, so Glasmeier, war auf dem besten Wege, alles das zu leisten, was den Vertretern der Staatsarchive vorschwebte; nur eben lokal, historisch gewachsen und ohne die Bestände ihrem „organischen“ Gefüge zu entreißen. Die Spannung zwischen regionalen „Wurzeln“ und nationalem Nutzen des Archivs, die Glasmeier evozierte, ließ sich allerdings nicht aufheben, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil Glasmeier weiter in der Geschichte zurückgriff als bis 1918 oder bis zur Reichsgründung 1871. Westfälische Adelige hätten auch vorher schon gegen preußische Angriffe auf „ihre“ Archivalien argumentiert.55 Letztlich spielte Glasmeier hier auf eine (vermeintlich) jahrhundertealte Eigenständigkeit westfälischer Adelsherrschaft an, die sich immer schon in Unabhängigkeit gegenüber zentralstaatlicher, als fremd empfundener Oberherrschaft manifestierte. Woran Glasmeier genau dachte, wurde nicht ausgeführt, aber zu verweisen wäre etwa auf die Anbindung des westfälischen Adels an die Reichskirche im Alten Reich, die ihm eine Positionierung zwischen den Großmächten Preußen und Österreich ermöglichte. Demgegenüber verkörperte dann der Eindruck preußischer Einflussnahme, der immer auch konfessionell grundiert war und blieb, bei aller befürwortenswerten Propagierung der Reichseinheit insbesondere das Risiko des Verlustes regionaler Eigenartigkeit.56 Nach 1918 stand diese Vereinheitlichung zudem unter den Vorzeichen eines bis zum „Preußenschlag“ (1932) sozialdemokratisch regierten Preußen und eines republikanischen, föderalen Bundesstaats. In der Weimarer Republik blieb Zentralisierung eine Idee, die mehrere Bedeutungsebenen umfasste: Die ausgreifende (moralisch als fragwürdig porträtierte) Republik, der preußische (modernisierende, aber konfessionell als fremd empfundene) Staat und die alte (indes über die Grenzen der Republik weit hinausweisende) Reichsidee. Wer wie Glasmeier von den Ebd. S. 90, 92, 95, 102. Ebd. S. 99f. 56 Manfred Hettling, Volk und Volksgeschichten in Europa. In: Ders. (Hrsg.), Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen 2003, S. 7–37, hier S. 16. – Michael Fahlbusch, Volk ohne Raum – Raum ohne Volk. Der lange Schatten der DeutschVölkischen in der Weimarer Republik. In: Heidrun Kämper – Peter Haslinger – Thomas Raithel (Hrsg.), Demokratiegeschichte als Zäsurgeschichte. Diskurse der frühen Weimarer Republik (Diskursmuster 5), München 2014, S. 253–284. 54 55
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„Wurzeln“ des Archivs sprach, spielte mit dieser Mehrdeutigkeit. Wer aber des Weiteren die Idee der Wurzeln in völkischem Sinne zuspitzte – wie Glasmeier es eben auch tat –, vereindeutigte diesen Gedanken in politischer Absicht. Mittels personeller Bezüge, die Glasmeier herstellte, lässt sich diese gezielte Politisierung im vierten Teil noch genauer fassen. III. Glasmeiers Archivpraxis Ein Blick auf Glasmeiers praktische Tätigkeit verschiebt zuvor aber den Fokus von seiner Theorie nichtstaatlicher Archive hin zu den alltäglichen Problemen des westfälischen Archivvereins. Bei der Bewertung von Beständen traf Glasmeier auf adelige Familien, die er als im Niedergang befindlich beschrieb. Die Kassation von ausgesonderten Archivalien sorgte für Konflikte. Der Umgang mit Benutzern gestaltete sich für den Archivdirektor frustrierend und die logistische Verbindung der Einzelarchive mit einem Automobil war mit erheblichen Kosten und Kritik verbunden. Ähnliches galt für seine neuen Methoden zur Archivalienaufbewahrung und -magazinierung, das sogenannte System Landsberg, das Glasmeier bald die finanziellen Grenzen seiner Pläne aufzeigte, weil die moderne Einrichtung zunächst Investitionen verlangte.57 Wie beispielsweise Willi Oberkrome für die Vertreter der „Volksgeschichte“ und Christoph Kleßmann für die Repräsentanten der „Ostforschung“ dargestellt haben, gingen auch in Glasmeiers Fall republikkritische politische Positionen mit innovativen technischen und wissenschaftlichen Methoden einher.58 Zudem bestand ein Spannungsverhältnis zwischen Glasmeiers täglichen Frustrationen vor Ort und der Erfolgsgeschichte, die er 1930 den Fachkollegen vorstellte.
Heinrich Glasmeier an Ludwig Schmitz-Kallenberg, 14.8.1927 (Westfälische WilhelmsUniversität Münster, Universitätsarchiv, Bestand 119, G, Bd. 8). – Zum „System Landsberg“, womit eine Verbesserung der Lagerung und damit auch von Ausheben und Einstellen von Archivalien erreicht werden sollte, vgl. Glasmeier (wie Anm. 37) S. 94 f.; z.B. sollten Urkunden in senkrecht abgestellten Mappen aus Karton gelagert werden und komplizierte Signaturen durch einfache abgelöst werden; s.a. in diesem Beitrag S. 506 f. 58 Oberkrome (wie Anm. 10) S. 220–229. – Christoph Klessmann, Osteuropaforschung und Lebensraumpolitik. In: Peter Lundgreen (Hrsg.), Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 1985, S. 350–383, hier S. 353. Siehe auch Michael Fahlbusch – Ingo Haar – Alexander Pinwinkler (Hrsg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme, 2. grundlegend erweiterte und überarbeitete Aufl., München u.a. 2017. 57
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Von Velen aus überzog Glasmeier die Adeligen der Region mit Angeboten, ihre Bestände kostenlos zu sichten. Dahinter stand nicht selten die Hoffnung, neue finanzkräftige Mitglieder für den Verein zu gewinnen. Glasmeier fand dabei jedoch zu seiner eigenen Enttäuschung immer wieder statt investitionsbereiten Besitzern Niedergangsstimmung vor, die gerade nicht für eine vitale Adelsregion sprach. Konkret begegnete er Familien, die ihre Stammsitze verkaufen mussten, oder traf auf alternde Adelige, die keinen Erben mehr besaßen und daher ihre Archive abzugeben bereit waren. So schrieb ihm Rittmeister a. D. von Zastrow von Haus Saengerhoff bei Welver, er habe sein Gut „an einen Herrn aus der Industriegegend verkauft“, der selbst am Archiv kein Interesse habe.59 An Freiin Anna von Raesfeld im oberbayrischen Bad Tölz wandte sich Glasmeier direkt selbst.60 Mit dem Hinweis, sie sei „die einzig lebende Angehörige der jüngsten Freiherrlichen Generation des Geschlechtes Raesfeld“,61 sandte er der Freiin einige Fotos des alten Stammsitzes ihrer Familie und bot die Übernahme ihres Archives an. Selbst in solchen Konstellationen war das Interesse oft begrenzt: Die Witwe von Borries, die auf Gut Ulenburg lebte, ersuchte Glasmeier um einen baldigen Termin, da „die Auflösung“ ihres „Haushalts immer näher“ rücke.62 Während seine Geschäftskorrespondenz vorwiegend pragmatisch klingt, sind die privaten Aufzeichnungen seines kürzlich wiederentdeckten Tagebuchs viel stärker von Nostalgie geprägt. Auf Schloss Heessen bei Hamm beispielsweise, das den Freiherrn von Boeselager gehörte, fielen Bewertung und Nostalgie in eins. Das „stolze Schloss“ stünde unbewohnt da, beklagte der Archivar, während „nicht weit davon entfernt […] die Fördertürme der Zechen in den düster-nassen Himmel“ ragten.63 Der Baron selbst habe sich längst nach Höllinghofen (bei Arnsberg im Sauerland) zurückgezogen, wo es sich für einen „Feudalherren ja auch besser“ leben lasse. Es ging – so machen diese Passagen deutlich – auch um die Verbindung von Archiv und Kulturraumvorstellung und um einen tief und täglich als Verfall empfundenen Wandel der Region, die er bereiste. Von Zastrow an Glasmeier, Velen, 14.7.1925 (LWL-Archivamt, NL Glasmeier 901/17). Glasmeier an Freiin Anna von Raesfeld, Bad Tölz, Velen, 9.2.1926 (LWL-Archivamt, NL Glasmeier 901/17). 61 Ebd. 62 Frau von Borries an „Glassmeyer“ (sic), Ulenburg, 22.10.1927 – Ders. an dies., 3.11.1927 – dies. an dens., Ulenburg, 7.11.1927 (Zitat) (alle LWL-Archivamt, NL Glasmeier 901/17). 63 Dies und folgende: Tagebuchfragment (LWL-Archivamt, NL Glasmeier 901/50, 4f.). 59 60
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Archivbenutzern begegnete Glasmeier mit kritischer Distanz, wann immer er die Sicherheit der Archivbestände und damit seine eigene Reputation bedroht sah. Konkret ging es um die Frage, ob Fachkollegen weiterhin – wie im 19. Jahrhundert durchaus üblich – Archivalien für Forschungsarbeiten ausleihen durften.64 Der Erste Weltkrieg hatte zahlreiche Forschungsprojekte unterbrochen, wie der prominente Fall des Kunsthistorikers Richard Klapheck zeigt. Der Düsseldorfer Ordinarius hatte für eine Arbeit zu den Schlossbauten der Raesfeld eine Anzahl Pläne aus dem Landsberger Archiv entliehen.65 Wie er selbst angab, hatte er das Material, als er im „Jahre 1915 zum Militär ging […,] versiegeln lassen.“66 Auch 1923 waren die Unterlagen noch nicht zurück im Velener Bestand. Klapheck, der zusammen mit Freiherr Engelbert Kerckerinck zur Borg den Begriff „Weserrenaissance“ für den regionalen Baustil geprägt hatte, traf nun also auf einen Archivar, der die Zeit, die Mittel und die Verbindungen besaß, den Fall mit Obsession zu verfolgen. Klapheck führte die Besetzung des Rheinlandes als Erklärung an, warum ein Teil seiner Korrespondenz Glasmeier nicht erreicht hatte. Sein Adressat nahm die „vorgebrachten Entschuldigungen“ nicht an und eskalierte den Streit bis zu Klaphecks Verleger.67 Der Heimatverlag, ein Druckhaus, das der Dachorganisation der Heimatvereine, dem „Heimatbund“, angeschlossen war, versuchte zu schlichten. Klapheck musste schließlich die Klischees, d.h. die Druckvorlagen für den Hochdruck des Buches als Ersatz für die wohl verlorenen Archivalien abgeben.68
Markus Friedrich, Vom Exzerpt zum Photoauftrag zur Datenbank. Technische Rahmenbedingungen historiographischer Forschung in Archiven und Bibliotheken und ihr Wandel seit dem 19. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 22 (2014) S. 278–297. 65 Richard Klapheck, Die Schlossbauten zu Raesfeld und Honstorff und die Herrensitze des 17. Jahrhunderts der Maastal-Backstein-Architektur (Westfälischer Heimatbund: Veröffentlichung 3), Dortmund 1922. 66 Klapheck an Glasmeier, unter Briefkopf des Heimatverlages, Dortmund, 18.4.1923 (LWL-Archivamt, NL Glasmeier 901/17). 67 Glasmeier an Klapheck, Düsseldorf, 28.3.1923 (LWL-Archivamt, NL Glasmeier 901/17). 68 Glasmeier an Wil Hardtwieg, Velen, 10.6.1923 (LWL-Archivamt, NL Glasmeier 901/17). 64
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Ähnlich konfliktvoll verlief auch der Erwerb, Erhalt und Einsatz eines Archiv-Automobils, das als Signum der Epoche für die Erreichbarkeit und dynamische Verbindung zwischen den Adelsarchiven stand.69 Kein Artikel über Glasmeiers Arbeit erschien, der nicht topisch den über Westfalens Landstraßen brausenden Aga-Wagen imaginierte.70 Die Korrespondenz zeichnet ein anderes Bild, denn der versprochene Mobilitätsgarant erwies sich als unzuverlässig, teuer und anfällig für Kritik. Glasmeier übernahm das Automobil mit dem Anspruch, die kostenlose Benutzung mit aktiver Werbung für dessen „absolute Zuverlässigkeit, große Schnelligkeit […] außerordentliche Betriebssicherheit“ abzugelten.71 Der motorisierte Archivar stellte jedoch bald fest, dass nicht viel am Produkt zu bewerben war. Ständige Reparaturkosten, die der Verein tragen musste und die er an seine adeligen „Kunden“ weiterzugeben versuchte, frustrierten den Automobilenthusiasten. Im Fall der Witwe von Borries etwa hielt der Archivar fest, die Bewertung sei zwar kostenlos, er müsse aber seine Reisekosten in Rechnung stellen. Die Witwe, die sich eigentlich einen Verkauf ihrer Archivalien versprach, fand die Rechnung wie auch die Benutzung eines Automobils extravagant.72 Glasmeier hatte sie besucht und Fotografien einiger Stücke angefertigt, dann aber den Bestand ihr gegenüber als „von geringerem Belange“ bezeichnet. Die größte Mobilität zeigten dabei wohl die zahlreichen Rechnungen, Mahnungen und Protestbriefe, die zwischen Velen und den Involvierten hin- und herreisten. Um den Verein gegen solcherlei Kosten wirtschaftlich abzusichern, begann Glasmeier bald nach dessen Gründung, das „System Landsberg“ für die physische Lagerung von Akten in verschiedenen Zeitschriften als Mo-
69 Michael Salewski, Technik als Vision der Zukunft um die Jahrhundertwende. In: Ders. – Ilona Stölken-Fitschen (Hrsg.), Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert (Historische Mitteilungen 8), Stuttgart 1994, S. 77–92. 70 Gross (wie Anm. 25) S. 255–257 und Heinrich Glasmeier, Sicherung und Erschließung der nichtstaatlichen Archive mit besonderer Berücksichtigung Westfalens. In: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 73 (1925), Nr. 1–3, Sp. 3–6. 71 Gebrüder Schultz an Glasmeier, Münster, 30.12.1924. – Glasmeier an Gebrüder Schultz, Münster, 7.2.1925 (alle LWL-Archivamt, NL Glasmeier 901/7). 72 Z.B. Glasmeier an Gebrüder Schultz, Münster, 16.4.1925, und Dr. Borghorst an Gebrüder Schultz, Velen, 22.4.1925, Kopie in Glasmeiers Besitz (LWL-Archivamt, NL Glasmeier 901/7); von Borries an Glasmeier, Ulenburg, 23.11.1927 (LWL-Archivamt, NL Glasmeier 901/17).
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dell für das gesamte nichtstaatliche Archivwesen anzupreisen.73 In mehreren wissenschaftlichen Abhandlungen von 1925 und 1931 etwa kontrastierte er das in preußischen Staatsarchiven verwendete Düsseldorfer Modell – mit Pappkästen und Urkunden in Aktenbögen – mit dem auch im Haus-, Hof- und Staatsarchiv verwendeten süddeutschen Modell einer stehenden Aufbewahrung in steifen Umschlägen.74 Ersteres System kritisierte er für Probleme beim Reponieren von Urkunden, letzteres für die an die Urkunde angepassten und somit uneinheitlichen Umschläge. Seine eigene Aufstellung sah Schnellhefterkartons vor, die mit Falzungen eine Aktenmappe erzeugen konnten. Diese Kartons sollten dann „wie eine Kartei hintereinander“ in handelsübliche Vertikalregistraturschränke aufgestellt werden. Dabei hätte auffallen können, dass Glasmeiers System letztlich die Probleme mit den unterschiedlich-formatigen Urkunden nicht löste. Es wäre sicher auch aufgefallen, wenn der Archivar nicht mit allen Mitteln eines Propagandisten die Idee persönlich auf dem Archivtag in Münster 1924 vertreten hätte. Protegiert und eingeführt wurde er bei dieser Gelegenheit von Schmitz-Kallenberg, der selbst für die Historische Kommission nach 1899 nichtstaatliches Archivgut in Westfalen verzeichnet hatte.75 Nach dem Archivtag setzte Glasmeier die (dann doch begrenzte) Zahl von Enthusiasten – einige Stadtarchivare und die Adelsarchive des Vereins – gezielt ein, um die neue Methode in ein vermarktbares Komplettsystem zu transformieren. Einige Archivare, wie beispielsweise der Mainzer Stadtarchivar Aloys Ruppel, ließen sich von Glasmeiers Ideen ködern.76 Ihnen gegenüber warb Glasmeier mit den günstigen Preisen seines Systems – Preise, die er bei Herstellern nur deshalb aushandeln konnte, weil er weite Verbreitung in der ganzen Republik versprach, die solche Rabatte
73 Z.B. Heinrich Glasmeier, Die vereinigten westfälischen Adelsarchive e.V. In: Familiengeschichtliche Blätter 22 (1924) S. 141–142. – Ders., Vereinigte Westfälische Adelsarchive e.V. In: Die Heimat. Zeitschrift des Westfälischen Heimatbundes 6 (1924) S. 273–275. – Ders., Über die bisherige Tätigkeit der vereinigten westfälischen Adelsarchive. In: Westfälischer Anzeiger (1926). – Vgl. auch Anm. 57. 74 Glasmeier (wie Anm. 70). Dies und die folgenden aber: Heinrich Glasmeier, Die in den deutschen Archiven verwendeten Methoden zur Aufbewahrung von Urkunden. In: Hans Oskar Beschorner (Hrsg.), Archivstudien. Zum 70. Geburtstage von Woldemar Lippert, Dresden 1931, S. 103–107. 75 Gross (wie Anm. 25) – Zu Schmitz-Kallenbergs eigener Arbeit in der Historischen Kommission siehe Reininghaus (wie Anm. 25). 76 Dr. Ruppel, Stadtbibliothek und Stadtarchiv und Glasmeier, Mainz, 15.9.1924 – Ruppel an Glasmeier, Mainz, 31.10.1924 (beide LWL-Archivamt, NL Glasmeier 901/15).
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rechtfertigte.77 Seinem adeligen Gönner Graf Max von Landsberg-Velen gegenüber – dessen Verwaltung die vielen Briefe Glasmeiers versendete und viele Bestellungen betreute – konnte er im Gegenzug Provisionen der Hersteller versprechen.78 Unter perfekten Bedingungen hätte dieses System vielleicht funktioniert. Doch mancher Brief war verspätet und manch ein Zahler säumig, sodass Glasmeier zunehmend mit lästigen Vermittlerarbeiten beschäftigt war. Ruppel beispielsweise reklamierte die gelieferten Mappenmuster, weil er nicht mit dem prätentiösen Frontaufdruck einverstanden war.79 Zudem wartete Glasmeier Monate auf Provisionen für Schreibmaschinen und Schränke, während bereits angestellte und angereiste Archivare in Westfalen ihre Arbeit wegen Materialmangels nicht aufnehmen konnten. Mit diesen Konflikten ist die Frage nach der Verbindung zwischen Archivpraxis und Ideologie bereits explizit berührt. Das Bewerten und das Ordnen, die Öffnung für Benutzer, das Archivauto als Symbol der Verbindung nichtstaatlicher Archive und Innovationen der Aufbewahrung lassen sich nur künstlich von ihrer elementaren Situierung in einem komplexen Geflecht interpersoneller Beziehungen trennen. Die akademische und institutionelle Welt der Weimarer Archivare, die dringend weiterer Forschung bedarf, beruhte in hohem Maß auf solchen persönlichen Verbindungen. Für Glasmeier, der außerhalb der Organisationsstruktur staatlicher Archive stand, galt dies in besonderem Maße. Glasmeier setzte seine archivalische Methode lokal in oft konfliktträchtiger Korrespondenz zwar nur teilweise durch. Diese Korrespondenz verband dennoch Akteure von westfälischen Adeligen bis zu rheinischen Stadtarchivaren, von Autohändlern bis zu Büromöbelherstellern mit lokaler Archivpraxis. Auf überregionaler Ebene indes konstituierte sich innovative Praxis – deren erfolgreiche lokale Verwirklichung Glasmeier als Verkaufsargument stets behauptete – im Austausch zwischen Akteuren, die einander durch regelmäßige Korrespondenz, Studienaufenthalte, Verbandstreffen und Vereinszugehörigkeit kannten. Hinzu trat der Umstand, dass die Weimarer Republik zahlreiche Möglichkeiten bot, die eigenen Innovationen auch öffentlich zu machen. In Glasmeiers Fall reichten diese publizistischen Ka Z.B. Glasmeier an die Orga AG, Berlin, 6.3.1925 (LWL-Archivamt, NL Glasmeier 901/15). 78 Siehe etwa die Provisionskoupons (LWL-Archivamt, NL Glasmeier 901/7). 79 Ruppel an Glasmeier, Mainz, 22.12.1924, die wie Glasmeier an Ruppel, 29.12.1924, festhielt „geschmacklosen Reklameangaben“ seien ohne Glasmeiers „Genehmigung“ geschehen (beide LWL-Archivamt, NL Glasmeier 901/7). 77
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näle von der selbstgedruckten Vereinszeitschrift über regionale Zeitungen bis zu republikweit rezipierten Fachzeitschriften wie der Archivalischen Zeitschrift. Mochte die Praxis für Glasmeier frustrierend sein, versprach er sich von einer Flucht nach vorne, in die Welt der Archivwissenschaften, weitere Unterstützer. I V. Pe r s o n e l l e B e z ü g e u n d d i e v ö l k i s c h e Z u s p i t z u n g d e s Pr ov e n i e n z p r i n z i p s In Glasmeiers programmatischem Aufsatz tritt eine Gruppe prominenter Akteure auf, die zusammengenommen andeuten, wie Glasmeier öffentlichkeitswirksam auf ein wachsendes republikkritisches Geflecht intellektueller Gewährsleute rekurrierte. Im Folgenden möchte ich mittels sechs dieser Akteure – Max und Albert von Landsberg-Velen, Ludwig Bittner, Albert Brackmann, Karl Wagenfeld und Eugen Fischer – Verbindungen zu fünf solch größeren Kontexten aufzeigen. Zwei dieser Kontexte, die mit Bittner und Brackmann in Zusammenhang stehen, sind archivtheoretisch. Drei weitere verweisen auf die Rolle von Geschichte auf Grundlage archivalischer Quellen für militärische oder revanchistische, volksgeschichtliche und heimatschützerische Kreise. Vollzieht man diese Bezüge im Einzelnen nach, zeigt sich, dass Glasmeier ein solches republikkritisches Netzwerk in seinen Schriften nicht nur behauptete, weil er ein in der Praxis dahindümpelndes und unterfinanziertes Projekt legitimieren wollte. Hinter den behaupteten Bezügen standen in vielen Fällen reale und zum Teil intensive Kontakte, die Glasmeiers Darstellung politischer Seilschaften in manchen Fällen weniger eindeutig erscheinen lassen.80 An prominenter Stelle erwähnte Glasmeier beispielsweise den „jetzigen Generaldirektor“ der Preußischen Staatsarchive Albert Brackmann in Berlin, wohl in der Hoffnung, seine dünne Personaldecke mit Freiwilligen aus staatlichen Archiven auffüllen zu können.81 Der Adelsarchivar versprach Dies greift den Anspruch auf, konkrete Verflechtung nachzuweisen, z.B. Wolfgang E. J. Weber, Pikante Verhältnisse. Verflechtung und Netzwerk in der jüngeren historisch-kulturwissenschaftlichen Forschung. In: Regina Dauser – Stefan Hächler – Michael Kempe – Franz Mauelshagen – Martin Stuber (Hrsg.), Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentransfer in europäischen Korrespondenznetzen des 18. Jahrhunderts (Colloquia Augustana 24), Berlin 2008, S. 289–299. 81 Zu Brackmann Michael Burleigh, Germany Turns Eastward. A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988, S. 43–77. – Ders., Albert Brackmann (1871–1952) Ostforscher. The Years of Retirement. In: Journal of Contemporary History 23 (1988) S. 80
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sich von Brackmann, der 1926 Generaldirektor geworden war, vermutlich auch eine bessere Kooperation über die Köpfe seiner Kritiker im Preußischen Geheimen Staatsarchiv hinweg.82 Glasmeier fühlte sich, so stellt er selbst dar, zu Unrecht vom Zugriff auf die Absolventen der (neuen) Archivarsausbildung ausgeschlossen und versprach sich vom neu berufenen Brackmann Besserung.83 Schließlich – so glaubte Glasmeier – trug der Archivverein zum Archivschutz im Sinn der preußischen Archivgesetzgebung bei. In einem Brief an seinen Doktorvater Schmitz-Kallenberg von 1927 etwa argumentierte er, bei einer geplanten Archivberatungsstelle läge „ein Eingriff in staatliche Rechte […] absolut nicht vor“ und der „Staat [habe] lange genug Zeit gehabt“.84 In diesem Fall wichen Glasmeiers anfängliche Hoffnungen bald handfesten Konflikten. Denn Brackmann erwies sich als einer der wichtigsten Fürsprecher der Zentralisierung im Archivwesen. Wie Norbert Reimann gezeigt hat, protestierte Glasmeier mehrfach schriftlich gegen dessen Zentralisierungspläne.85 Brackmanns eigene Interessen, die er in der Folgezeit institutionell vorantrieb, lagen im Bereich der sogenannten Ostforschung. Als ehemaliger Königsberger Ordinarius interessierte sich Brackmann für ein ethnozentrisches Geschichts narrativ, das den Deutschen in Osteuropa eine zentrale zivilisatorische Rolle zuwies.86 Im Gegensatz zu Glasmeier, der sich wiederholt als Verehrer des Freiherrn vom Stein präsentierte, mangelte es Brackmann an Inter573–588. – Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und „Volkstumskampf ” im Osten (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 143), Göttingen 2000, S. 106–149. – Stefan Lehr, Ein fast vergessener Osteinsatz. Deutsche Archivare im Generalgouvernement und im Reichskommissariat Ukraine (Schriften des Bundesarchivs 68), Düsseldorf 2007. – Sven Kriese, Albert Brackmann und Ernst Zipfel. Die Generaldirektoren im Vergleich. In: Ders. (Hrsg.), Archivarbeit im und für den Nationalsozialismus. Die preußischen Staatsarchive vor und nach dem Machtwechsel von 1933 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Forschungen 12), Berlin 2015, S. 17–94. 82 Zu Brackmann in der Weimarer Zeit Winter (wie Anm. 12). 83 Glasmeier (wie Anm. 37) S. 96 und explizit Anm. 21: „... Archivanwärter zeitweise überweisen ...“. 84 Glasmeier an Ludwig Schmitz-Kallenberg, Velen, 14.8.1927 (Westfälische WilhelmsUniversität Münster, Universitätsarchiv, Bestand 194, Nr. 119, 2). 85 Reimann (wie Anm. 2). 86 Z.B. Stefan Lehr, „Schuldige Väter, milde Söhne, strenge Enkel“. Diskussionen über die deutsche Ostforschung, In: Dietmar Neutatz – Volker Zimmermann (Hrsg.), Von Historikern, Politikern, Turnern und anderen. Schlaglichter auf die Geschichte des östlichen Europa. Festschrift für Detlef Brandes zum 75. Geburtstag (DigiOst 6), München 2016, 15–40. – Kriese, Brackmann (wie Anm. 81).
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esse für die preußische Reformzeit und ihre lokalen Autonomieideen und wohl auch an Westfalen.87 Dies bedeutete aber im Umkehrschluss nicht, dass Glasmeier Ideen einer Raumforschung, wie Brackmann sie vertrat, inhaltlich ferngelegen hätten. Wie ein Bericht wenige Jahre später nahe legt, hatte sich Glasmeier bald in Richtung der ebenfalls entstehenden „Westforschung“ orientiert, die ebenso ethnozentrisch die deutsche Rolle in Westeuropa festschrieb. Im Frühjahr 1932 lud er etwa den Westforscher Bruno Kuske ein, der diese Arbeiten von Köln aus vorantrieb. Was hier zunächst wie eine enttäuschte persönliche Hoffnung Glasmeiers anmutet, hatte also ernstere archivpolitische Hintergründe. Es bezog sich nämlich auf eine virulent werdende Debatte über die Zuständigkeiten staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen in der Archivpflege.88 Glasmeier hatte – wie wir bereits gesehen haben – das Provenienzprinzip als Argument für Ortsgebundenheit ins Feld geführt. Diese Debatte strahlte auch in das nahe gelegene Rheinland aus. Hier bestand über den wichtigsten Fürsprecher lokaler Autonomie in der Archivpflege, Wilhelm Kisky, ein persönlicher Bezug nach Westfalen. Kisky hatte als Archivar die Bestände der fürstlichen Familie Salm-Salm in Anholt verzeichnet.89 Wie Glasmeier leitete er eine lokale Archivberatungsstelle und ebenfalls wie Glasmeier hatte er 1926 eine Vereinsgründung unter den Adeligen des Rheinlandes angeregt. In seinem Widerstand gegen Brackmanns Zentralisierungspläne um 1936 bemühte Kisky Argumente, die Glasmeier in ähnlicher Weise in den 1920er Jahren angeführt hatte,90 wenn auch in NS-Diktion. Archive sollten – so Kisky – nicht „mumifiziert“ werden, sondern „Bindemittel Heinrich Glasmeier, Freiherr vom Stein. Sein Leben und Wirken in Bildwiedergaben ausgewählter Urkunden und Akten, Münster 1931. 88 Reimann (wie Anm. 2). – Ders., Archivgesetzgebung im Nationalsozialismus. Ein gescheiterter Versuch. In: Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart (wie Anm. 11) S. 45–56. – Ders., Kommunales Engagement und Privatinitiative. 75 Jahre nichtstaatliche Archivpflege in Westfalen. In: Archivpflege in Westfalen und Lippe 57 (2002) S. 8–16. – Martin Leibetseder, Konkurrenz als handlungsleitendes Moment. Zur Politik der Preußischen Archivverwaltung auf dem Gebiet der Archivpflege vor und nach 1933. In: Sven Kriese (Hrsg.), Archivarbeit im und für den Nationalsozialismus. Die preußischen Staatsarchive vor und nach dem Machtwechsel von 1933 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Forschungen 12), Berlin 2015, S. 371–405. 89 Klaus Wisotzky, Der Vollmer-Kisky-Streit. Nicht nur ein Kapitel rheinischer Archivgeschichte. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 210 (2007) S. 181– 200, hier S. 184. 90 Tölle (wie Anm. 18). 87
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zwischen Blut und Boden“ sein.91 Sie lebten nur, „wenn sie am Ort bleiben und von örtlichen Kräften verwaltet werden und nicht künstlich mit der kalten Strenge und Würde einer staatlichen […] Anstalt umkleidet werden“.92 Ortsgebundenheit, ein Prinzip, das sowohl Glasmeier als auch Kisky ansprachen, verband das Konzept „organisch“ entstandener Bestände mit einem bereits vorher bestehenden Regionalismus. Institutioneller Widerstand der nichtstaatlichen Archivare, ihrer Vereine und Beratungsstellen gegen staatliche Zentralisierung trat hier also in einem Gewand auf, das sich nahtlos in völkische Argumentationsmuster einfügte. In Antwort auf Brackmanns mangelnden Enthusiasmus suchte Glasmeier auch andere Förderer, um die bestehenden Personalprobleme bei der Archivarbeit in nichtstaatlichen Archiven zu beheben. Einen Schwerpunkt von Glasmeiers Aktivitäten bildete dabei das österreichische Archivwesen, insbesondere das Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien, das er in seinem Beitrag in der Archivalischen Zeitschrift von 1930 lobend erwähnte. In Wien wirkte jahrzehntelang Oswald Redlich, der innovative Vorschläge für die Neuordnung des österreichischen Archivwesens, insbesondere für die Beziehungen zu den Nachfolgestaaten der zerfallenen Habsburgermonarchie, vorlegte.93 Dabei orientierte sich Redlich, Generalbevollmächtigter ab 1918, ebenfalls dezidiert am Provenienzprinzip, wenn er den Zusammenhalt eines „organisch erwachsenen Bestandes eines Archivkörpers“ über politische Zäsuren hinweg forderte.94 In den 1920er-Jahren stand der Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs Ludwig Bittner (1920–1945) mit Glasmeier in einem fachlichen Briefwechsel. Bittner griff die Pläne Glasmeiers für nichtstaatliche Archive auf und vermittelte ihm Kontakte zu Archivaren in Österreich. Glasmeier musste den Archivleiter nicht lange von einem Austausch unter „deutschen“ Vorzeichen überzeugen. Wie Thomas Just gezeigt hat, trieb Bittner aktiv eine deutschösterreichische Wisotzky (wie Anm. 89) S. 200. Ebd. – Stephan Laux, ‚Positivismus‘ und ‚warme Bodenständigkeit‘. Zum historiographischen Selbstverständnis der ‚Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein‘ und ihrer Macher (1854/55–2003). In: Ulrich Helbach (Hrsg.), Historischer Verein für den Niederrhein. Festschrift zum 150-jährigen Bestehen (Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 207), Pulheim 2004, S. 261–308. 93 Thomas Just, Oswald Redlich als Archivbevollmächtigter der Republik (Deutsch-) Österreich. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 117 (2009) S. 418–425. 94 Rudolf Neck, Oswald Redlich und das österreichische Archivwesen. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 28 (1975) S. 378–389, 382. 91 92
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Ausrichtung „seines“ Archives voran.95 Glasmeier versuchte bei Bittner diejenigen Fachkollegen anzulocken, die ihm Brackmann in Berlin verweigerte. In seinen Briefen bat er etwa vorranging um pensionierte oder junge österreichische Archivare. Nicht ohne zu präzisieren, dass er „natürlich gern jemanden [hätte], der zum Kopieren von Urkunden, zum Wiederherstellen, zum Siegel behandeln und zu ähnlichen Obliegenheiten besonders gut geeignet ist.“96 Bittner verteilte von Wien aus Glasmeiers Anliegen vom Wiener Stadtarchiv bis in die Landesarchive, mit indes begrenztem Rücklauf.97 Ein Kollege lobte den „Geist, der daraus spricht“. Bittner selbst notierte, Glasmeier „verenge hiermit die Bande, die uns mit dem Reiche verbinden.“98 Bittner nahm Glasmeiers Ideen auf, um in Österreich eine Bündelung adeligen Archivgutes im Sinne des Bestandsschutzes, wohl aber auch mit Blick auf eine Einigung der alten Habsburger Eliten anzuregen. In Glasmeiers Aufsatz von 1930 kam diese alte Verbindung zu den Habsburgern expressis verbis vor.99 Bittner konnte nun im Gegenzug Glasmeier, der gerade ihn und nicht die preußischen Archivare so lobend erwähnt hatte, auch dadurch Respekt zollen, dass er ihn um Belegexemplare seines Textes von 1930 bat, um sie unter potenziellen adeligen Fürsprechern zirkulieren zu lassen, die ja selbst – so Bittner – die Archivalische Zeitschrift nicht läsen.100 Glasmeier kam diensteifrig dieser Bitte nach und bot Bittner an, bei einer anstehenden Wienreise auch selbst Adelige zu treffen, um sie von den Vorzügen seines Systems zu überzeugen. Inwieweit es dazu 95 Thomas Just, Ludwig Bittner (1877–1945). Ein politischer Archivar. In: Karel Hruza (Hrsg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, Band 1, Wien u.a. 2008, S. 283–306. 96 Z.B. Heinrich Glasmeier, Velen an Ministerialdirektor Ludwig Bittner, Wien, 17.1.1927 (Wien, Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Sonderbestände, Kurrentakten (künftig: HHStA SB KA) 266/192 (Zitat) ). – Glasmeier an Bittner, Velen, 6.9.1930 (Wien, HHStA SB KA 2979/1930). 97 Der Verteiler umfasste das Staatsarchiv des Innern und der Justiz, das Hofkammerarchiv, das Kriegsarchiv, das Oberösterreichische und das Niederösterreichische Landesarchiv, das Archiv der Stadt Wien, das Landesregierungsarchiv für Tirol, das Steiermärkische Landesarchiv, das Kärntner Landesarchiv, Klagenfurt und das Steiermärkische Landesregierungsarchiv. 98 Dr. [Wutt], Kärntner Landesarchiv, an Bittner, Klagenfurt, 5.2.1927 (Wien, HHStA SB KA 452/1927) und Bittner an Glasmeier (Wien, HHStA SB KA 266/1927). 99 Glasmeier (wie Anm. 37) S. 99f. 100 Bittner an Glasmeier, Wien, undatiert (Wien, HHStA SB KA 2921/1930).
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gekommen ist, bedarf weiterer Forschung.101 Zumindest hat sich aber ein Schreiben Bittners an die Grafen Rudolf und Ferdinand Colloredo und Heinrich Waldstein-Wartenberg überliefert, dem Glasmeiers Aufsatz mit der Frage beilag, ob „sich eine ähnliche autonome Organisation der oesterr[eichischen] Adelsarchive zum Nutz und Frommen der Archivbesitzer und der oesterr[eichischen] Wissenschaft verwirklichen“ ließe.102 Zwar stand der Austausch beider unter ausdrücklich großdeutschen Vorzeichen, er verwies jedoch explizit lediglich auf die frühneuzeitliche Reichsidee. Um Bittners Anliegen einer solchen archivalischen Brücke in das Alte Reich auch praktisch zu unterfüttern, boten die Reisen der vermittelten Archivare nach Westfalen wertvolle Belege. Einen besonders eindrücklichen Bericht einer solchen Reise, der sich in der archivierten Altregistratur des Haus-, Hof und Staatsarchivs erhalten hat, lieferte der pensionierte Adolf Zawrzel, der Bittner eine begeisterte Schilderung zusandte. Bittner hielt Zawrzel, einen vormaligen Archivar im Archiv des Finanzministeriums und österreichischen Landeshistoriker, für „gesellschaftlich nicht sehr bewandert“, wie er im Leumund an Glasmeier verdeutlichte.103 Nun war Bittner mit einem Text Zawrzels konfrontiert, der des Lobes voll war. Der Pensionär erwähnte das Automobil, mit dem Glasmeier ihn vom Bahnhof abholte, und die junge, schöne Gräfin Bentheim-Tecklenburg-Rheda, die ihn durch die Schlosskapelle führte. Er genoß das feudale Leben auf Schloß Velen und im Stadthof der Landsberg-Velens.104 Er schwärmte vom treuen Hauspersonal, den Gesprächen beim Abendessen über Österreich und von livrierten Dienern. Dieser Faszination für Relikte einer Welt, die selbst dem nostalgischen Zawrzel vergangen schien, trat aber ein bestimmtes Verständnis von Moderne hinzu, das diesem Blick durch eine exzeptionelle Lebenswirklichkeit auf die Vergangenheit eine utopistische Note gab. Der Archivar lobte die nichtstaatlichen Archive und vor allem Glasmeier. Unzählige Pergamenturkunden hätten durch ihn „zum großen Teil – wenn nötig auch restauriert – einen mustergültigen Schutz durch sinnvolle, raumsparende Einbände und luf-
101 Anhaltspunkte in Michael Hochedlinger, Von Schlössern, Käsestechern und Gesetzen. Zur Geschichte von (Adels-)Archivpflege und Archivalienschutz in Österreich. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 56 (2011) S. 43–176. 102 Bittner an Grafen Rudolf und Ferdinand von Colloredo[-Mansfeld] und Heinrich Waldstein-Wartenberg (Wien, HHStA SB KA 3982/1930). 103 Ludwig Bittner an Heinrich Glasmeier, 7.4.1927 (Wien, HHStA SB KA 982/1927). 104 Adolf Zawrzel an Bittner, Bad Driburg, 20.8.1927 (Wien, HHStA SB KA 2453/1923).
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tige, trockene Aufstellung gefunden.“105 Besonders beeindruckte ihn der Archivneubau in Velen, den Glasmeier angeregt hatte: „Ein Archivgebäude auf grüner Wiese, von wo man nur hohe Waldbäume sieht, entspricht so gar nicht den leider herkömmlichen Vorstellungen von Archiven mit Staub, Schmutz, Feuchtigkeit, Dunkelheit und schlechter Luft.“106 Hier gingen die Vorstellung von Landleben und einem „praktisch[en] und modern[en]“ Zweckbau ein enges Bündnis ein. Das Staatsarchiv Münster und dessen kundige Archivare fanden zwar Erwähnung. Mehr Lob hatte Zawrzel, der einen Teil des Gräflichen Archives Oeynhausen-Sierstorpff verzeichnete, aber für die Ordnung des Stadtarchives Münster nach dem „System Landsberg“ übrig.107 Adeliges Leben, modernste Archivtechnik und -standards und ein Blick in eine idyllische Landschaft – Zawrzel malte diese Vorzüge des am originären Archivstandort untergebrachten Archivgutes gegenüber Bittner in schönsten Farben. Glasmeiers Beitrag von 1930 neigte zudem sehr der ausgeprägten Heimatbewegung in seiner Region zu.108 Der Topos der „roten Erde“ der Heimat deutet diesen Bezug bereits an. Er wurde im 19. Jahrhundert lyrisch verarbeitet, gerann aber in der Folgezeit mehr und mehr zu einer Rhetorik republikfeindlicher Ideologen. Eine zentrale Rolle spielte bei dieser Radikalisierung der westfälische „Heimatbund“, der als Sammlungsorganisation die zunächst widerstreitenden Tendenzen in einer Institution bündelte. Explizite Erwähnung fand bei Glasmeier der niederdeutsche Heimatdichter Karl Wagenfeld (1869–1939), Vorsitzender des Westfälischen Heimatbundes. In einem Beitrag im Westfälischen Adelsblatt zeigt sich, wie Glasmeiers und Wagenfelds Ideen zueinander standen.109 In diesem Aufsatz stellte Wagenfeld die Verbindung zwischen Adel und Heimatbewegung über Argumente der Blutsreinheit her. Seine Kritik, Internationalismus verbände Hochadel und Hochfinanz, milderte Glasmeier jedoch als Schriftleiter für den westfälischen Fall gezielt ab.110 Karl Ditt hält in seiner grundlegenden Studie fest, dass Wagenfeld „den Schutzgedanken
Ebd. 2r. Ebd. 1v. 107 Ebd. 4r. 108 Ditt (wie Anm. 10). – Bösch (wie Anm. 8) S. 58–60. 109 Karl Wagenfeld, „Adel und Heimatbewegung“. In: Westfälisches Adelsblatt 2 (1925) S. 103–106. 110 Ebd. S. 104: „Hochfinanz und Hochadel i) sind durchweg international eingestellt […] i) Mit gerade in Westfalen vorhandenen guten Ausnahmen! Die Schriftleitung“. 105 106
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von der Kunst und Natur auf das Volkstum ausweitete und dieses […] auch geographisch-biologisch mitbestimmt sah.“111 Bisher ergibt sich der Eindruck, dass Glasmeier sich im Bereich des völkisch orientierten Vereinslebens einbrachte, er versuchte aber auch biologistische Forschung der Zeit nach Westfalen zu bringen. Er knüpfte zum Beispiel an rassehygienische Forschungen des Kaiser-Wilhelm-Instituts an, die er im Beitrag in der Archivalischen Zeitschrift von 1930 ebenfalls prominent erwähnt. Karl Wagenfeld überschritt die Grenze zu rassischen Argumenten regelmäßig.112 Auch für Glasmeier lässt sich festhalten, dass er solche disziplinären Grenzarbeiten der Volksgeschichte zwischen Abstammung und Rasse anregte.113 Auf seine Initiative hin sollte etwa eine Fachstelle für Eugenik im „Heimatbund“ eingerichtet werden. Dr. Hermann Muckermann, Abteilungsleiter im Kaiser-Wilhelm-Institut, sprach 1927 gleich mehrfach in Westfalen. Darüber hinaus führte Glasmeier den Institutsleiter Prof. Dr. Eugen Fischer beim Herrenabend der VWA ein. In einem dort gehaltenen Vortrag stellte Fischer eine Fülle internationaler Studien – von „Mischlingen zwischen Buren und Hottentotten“ über die Vererbung von Augenfarben bis zum Schulerfolg englischer Schüler – vor.114 In der gedruckten Fassung für die Vereinszeitschrift indes schlug er auch eine Brücke nach Westfalen, indem er die „Durcheinanderkreuzung“ der Großstadt mit dem „gesunden“ Menschen auf „heimischer Scholle“ kontrastierte.115 Fischer begann bei dieser Gelegenheit, auch Schädelformen westfälischer Adeliger zu vermessen.116 Mit einem Hinweis auf Glasmeiers Vorsitzenden im Veteranenverein Albert von Landsberg-Velen stellte der Archivar zuletzt explizit den Bezug zu seinem Regiment und den Veteranenverbänden her. In der Republik dienten diese Verbände zugleich als ein Ort adeliger Soziabilität und politischer Organisation. Glasmeier, Veteran eines Husarenregiments, arbeitete seit längerem an einer Regimentsgeschichte des aufgelösten Kürassier-RegiDitt (wie Anm. 10) S. 66. Fasse (wie Anm. 13) S. 20. 113 Hettling (wie Anm. 56) S. 33. – Ditt (wie Anm. 10) S. 77f. 114 Klinikbesuch und Herrenabend des Archivvereins am 17. Februar 1928. In: Westfälisches Adelsblatt 5 (1928) S. 9–14 und Eugen Fischer, Heutige Aufgaben der Anthropologie. In: Ebd. S. 14–16. 115 Eugen Fischer, Eugenik und Anthropologie. Der Untergang der Kulturvölker im Lichte der Biologie. In: Westfälisches Adelsblatt 6 (1929) S. 49–63. 116 Glasmeier an Graf Max Schmising, Tatenhausen, 22.4.1929 (LWL-Archivamt, ArchivLWL Kulturabteilung, 702/285). 111 112
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ments Nr. 4 „von Driesen“. Die Historisierung, die Max von LandsbergVelen vorantrieb, fiel in eine Zeit, als das Regiment keineswegs vergessen war. Die seitenfüllenden Porträtfotos der gefallenen Offiziere etwa lesen sich wie eine Liste der wichtigsten Familien des westfälischen Adels. Zudem hatten die Kürassiere, die erst 1920 aufgelöst worden waren, in der Frühphase der Republik bei der Niederschlagung des Spartakus- und des Ruhraufstandes mitgeholfen. Auch hier hielt Glasmeier am Dualismus der im Felde Unbesiegten und der Regierung fest: „Der wenig rühmliche Ausgang des Kampfes“, notierte er, „war den schlechten Maßnahmen und überstürzten Anordnungen der Regierung zuzuschreiben, nicht der Truppe, die tadellose Haltung gewahrt hatte.“117 Der Offiziersklub der Kürassiere in Münster bot dem Verein zudem ein repräsentatives Forum, in dem beispielsweise Eugen Fischer vor der versammelten Professorenschaft, zahlreichen Adeligen, aber auch Archivaren wie Schmitz-Kallenberg und Heimatbündlern wie Wagenfeld sprechen konnte.118
Die gefallenen Offiziere des [Kürassier-]Regiments [von Driesen]. In: Glasmeier (wie Anm. 117) Bildtafel 3. Heinrich Glasmeier, Geschichte des Kürassier-Regiments von Driesen (Westf.) Nr. 4 (Erinnerungsblätter deutscher Regimenter / Truppenteile des ehemaligen preußischen Kontingents, 334), Oldenburg i.O. 1932, S. 347. 118 Eine Anwesenheitsliste. In: Klinikbesuch (wie Anm. 114) S. 16. 117
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V. Fa z i t : Zw i s c h e n re g i o n a l e r A r c h i v p r a x i s und nationalem Archivschutz Wie diese Ausführungen gezeigt haben, weisen Glasmeiers Aktivitäten weit über Westfalen hinaus. Der Archivar bereiste nicht nur seine westfälische Adelsregion, er öffnete die lokalen Archivpraktiken auch den zahlreichen kontroversen politischen Debatten seiner Zeit über die Rolle von Volk, Kulturraum und Rasse, oft um seine nichtstaatlichen Archivpläne zu legitimieren. Es gelang ihm dabei, regionales und völkisches Geschichtsbewusstsein gegen zentralisierende Bestrebungen im staatlichen Archivwesen zu mobilisieren. Wie die Auswertung gezeigt hat, ist die Komplexität der dabei entstehenden Wechselwirkungen zwischen Ideologie und Archivpraxis bisher viel zu wenig beachtet worden. Der Anspruch, Privatarchive gegen ein mögliches Archivgesetz zu schützen, speiste sich in seiner Vehemenz aus Debatten über Republik sowie aus Verbindungen in die vergangene Welt der Zeit vor 1914 und sogar des Alten Reiches. Er ist letztlich nur vor dem Hintergrund einer, nicht zuletzt konfessionell grundierten Skepsis gegenüber preußischem Zentralismus und zunehmend aus einer völkisch kulturkritischen Ablehnung einer demokratisch verfassten und als krisenhaft empfundenen Staatsordnung verständlich. Zuletzt möchte ich daher einige Einzelbefunde festhalten: Sowohl das Potenzial für Innovation in den VWA als auch die Offenheit für ideologische Einflüsse hatten damit zu tun, dass es sich bei Glasmeier gerade nicht um einen staatlichen Archivar handelte. Er war Historiker, Schreibstubenveteran und hatte sich dem Archiv über die Forschung genähert wie viele seiner Zeitgenossen. Er hatte jedoch – anders als einige seiner Zeitgenossen in Münster, Berlin und Wien – keine Ausbildung, beispielsweise in Berlin-Dahlem, durchlaufen. Es ist zu betonen, dass zwischen Glasmeier und vielen seiner Gesprächspartner im Archivumfeld ein reger, wenn auch nicht immer offen eingestandener Austausch entstand. Glasmeier konnte Potenziale erproben, die ideologisch ähnlich orientierte Staatsarchivare in politischen Zusammenhängen aufgreifen konnten. So gewann Glasmeier – eigentlich ein institutioneller Außenseiter – durch diese Verflechtung Einfluss weit über seine Region hinaus. Glasmeier stand dabei in den 1920er Jahren sowohl für eine sich radikalisierende und republikfeindliche Ideologie eines Teils des (nichtstaatlichen) Archivwesens als auch für innovative Archivpraxis. Als ImpromptuArchivar, technischer Modernisierer und medial-versierter Selbstdarsteller vertrat er weiterhin ein im Kaiserreich geformtes Weltbild, das zusehends
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völkisch aufgeladen wurde. Die Erkenntnis, dass er regionale Archive mit dieser Ideologie gegen Zentralisierung verteidigte, stellt sicher den zentralen Befund dar. Wie Manfred Hettling es in einer vergleichenden Arbeit zur „Volksgeschichte“ formulierte, „konnte [Volk] gegen Staat gesetzt werden, und Geschichte gegen Politik.“119 Glasmeier und andere luden in diesem Sinn gezielt das Provenienzprinzip „organisch gewachsener“ Bestände mit regionalgeschichtlichen, heimatkundlichen und zunehmend auch völkischen Ideen auf, um ihre Form eines laienbewegten regionalen Archivschutzes dem bürokratisch-staatlichen Archivschutz als überlegen gegenüberzustellen. Damit erfüllte sich die Gefahr, die nun gerade Wolfgang Ernst formulierte, dass in der Metaphorik vom sogenannten Archivkörper „mehr als ein Vergleich gesehen wird, sondern sich daran diskursiv anschließbare Ideologien des gesunden Körpers knüpfen“.120 Programmatisch verschwammen nämlich zunehmend die Grenzen zwischen archivischen Positionen, die Glasmeier schon Jahre zuvor vertreten und in Westfalen (mit wechselndem Erfolg) umgesetzt hatte, und politischer Ideologie. Diese Politisierung archivischer Praxis beschleunigte Glasmeier selbst in seiner Programmschrift in der Archivalischen Zeitschrift von 1930 öffentlichkeitswirksam: Erstens indem er die Vereinsgründung mit dem Fronterlebnis verband. Zweitens indem er als Vermittler zwischen Staat und Adel adelige Vorbehalte gegen die Republik kanalisierte. Drittens indem er an die völkische Rhetorik des Westfalenbundes anschloss. Viertens indem er sich an den vielfältigen, fluiden und bewusst mehrdeutigen Bezügen der Reichsidee der Großdeutschen von Westfalen bis Wien orientierte. Glasmeier war ideologisch und öffentlich-programmatisch bereits 1930 in seiner Rhetorik völkisch und deutschnational orientiert. Archive, das zeigt Glasmeiers Praxis, wurden zu Orten kreativer Debatten über Wissensaneignung unter den Vorzeichen der Zäsurerfahrung von 1918/19. Durch einen Blick auf diese Debatten stehen die späteren NSFunktionäre in Glasmeiers Umfeld, die bisher in der Forschung seinen Weg gleichsam vorzeichneten, nicht mehr eindeutig im Vordergrund. An ihre Stelle tritt eine größere und heterogenere Gruppe, die methodisch, institutionell und ideologisch für Glasmeier zentraler waren. Dem Leser begegnet ein breites Spektrum von adeligen Gönnern, Archivleitern, Publizisten und Wissenschaftlern, die zwar allesamt zunehmend republikkritisch, vor allem aber um 1930 in Debatten um die künftige Rolle von Ar119 120
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Hettling (wie Anm. 56) S. 19. Ernst (wie Anm. 29).
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chiven verstrickt waren. Damit erodiert die Eindeutigkeit einer Position, die nur diejenigen westfälischen Adeligen in Glasmeiers Radikalisierung einbezog, die bereits als spätere Nationalsozialisten bekannt waren. An ihre Stelle tritt ein besserer Eindruck der konkreten Schwierigkeiten, die den westfälischen Adeligen der Verlust ihrer rechtlichen Stellung bereitete. Eine Verlusterfahrung, die viele für ihre Archive begeisterte, ebenso viele in politische Frontstellung gegen die Republik brachte, einer gewisse Zahl die Hinwendung zum Nationalsozialismus erleichterte und einige zu Widerstand ermunterte. Der Nachhall der Initiativen der 1920er und 1930er Jahre, eine umfassende Zentralisierung von Archivgut zu verhindern, wirkte über den Nationalsozialismus fort.121 Es entstand gerade kein zentraler staatlicher Zugriff auf nichtstaatliches Archivgut, wie er Brackmann vorschwebte. Das heutige Nebeneinander von regionaler Zentralisierung und privater Initiative, etwa im adeligen Archivwesen, wird erst durch die Geschichte der kontroversen, grenzüberschreitenden und zutiefst politisierten Suche nach regionalen Wurzeln in der Weimarer Republik verständlich.
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Reimann, Archivgesetzgebung (wie Anm. 88).
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Das Archiv der Deutschen Kapuzinerprovinz Von Carolin Weichselgartner Der Orden der Kapuziner (OFMCap), eigentlich Orden der Minderen Brüder Kapuziner, entstand 1525 in Italien als Reformzweig des Franziskusordens. Als Zeichen der Reform wählten die Brüder einen braunen Habit mit spitzer Kapuze, wie sie ihn noch heute tragen. Im Jahre 1574 erhielt der Kapuzinerorden vom Papst die Erlaubnis, sich über Italien hinaus auszubreiten. Die Verkündigung des Glaubens unter den ärmeren Bevölkerungsschichten und der Kampf gegen soziale Missstände zeichneten die Brüder aus. Aufopfernd haben sie den Menschen gedient, insbesondere in der Pflege der Pestkranken. Die Klöster waren Anlaufstellen für Hungernde und Notleidende. Kapuziner als „Galgenpatres“ begleiteten die Delinquenten zur Hinrichtungsstätte. Auf drei Wegen kamen die Kapuziner nach Deutschland: von Mailand über die Schweiz nach Freiburg im Breisgau, von Mailand über Paris und Antwerpen nach Köln und von Venedig über Tirol nach Bayern. Die ersten beiden Wege führten zur Errichtung der Rheinischen Provinz (1611/26), von der 1668 die Kölnische Provinz abgetrennt wurde. Die seit 1860 bestehende Rheinisch-Westfälische Kapuzinerprovinz knüpfte an diese vor der Säkularisation bestehenden Provinzen im Norden Deutschlands an. Der letzte Weg führte zur Errichtung der Bayerischen Provinz im Jahre 1668.1
1 Zum geschichtlichen Teil vgl. [Werner Labus – Carolin Weichselgartner], Die Deutsche Kapuzinerprovinz. In: Katalog der Deutschen Provinz der Minderen Brüder Kapuziner vom 15. September 2014, S. 4–12. – Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei zur Geschichte der Bayerischen Kapuzinerprovinz auf folgende Literatur verwiesen: Angelikus Eberl, Geschichte der Bayerischen Kapuziner-Ordensprovinz (1593–1902), Freiburg im Breisgau 1902; Franz Xaver Hoedl, Lehrbuch der Franziskanischen Ordensgeschichte mit besonderer Berücksichtigung des Kapuzinerordens. Zum Gebrauch an Ordensschulen, Band 1: Die Geschichte des Ersten Ordens (ohne Kapuzinerorden), Altötting 1967; Band 2: Die Geschichte des Kapuzinerordens, o.O., o.J.; Band 3: Die Geschichte des Zweiten Franziskanischen Ordens, Altötting 1969; Band 4: Die Geschichte des Dritten Franziskanischen Ordens für Weltleute, Altötting 1969; Band 5: Die Geschichte des Franziskanischen regulierten Dritten Ordens für Frauen auf süddeutschem Raum, Altötting 1970. Alle fünf Bände als Manuskripte gedruckt; Alfons Sprinkart, Kapuziner. In: Walter
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1. Zur Geschichte der ehemaligen Ba y e r i s c h e n K a p u z i n e r p r ov i n z Die Wurzeln der Bayerischen Provinz sind in der Venezianischen Provinz zu suchen. Von dort trafen 1593 sieben Brüder in Innsbruck ein. Tirol-Bayern wurde bereits 1605 zur Ordensprovinz erhoben. Herzog Maximilian I. rief die Kapuziner im Jahr 1600 zur tatkräftigen Mitwirkung an der Gegenreformation nach München und ließ für sie dort ein Kloster errichten. 1668 erfolgte die Trennung in die Provinzen Tirol und Bayern. 1711 entstanden die Fränkische und 1789 die Schwäbisch-Pfälzische Provinz. Die Säkularisation hätte die Bayerische Provinz beinahe ausgelöscht, das Betteln und die Aufnahme von Kandidaten waren untersagt. Stattdessen wurden die Brüder 1802 von München nach Altötting überführt und dort in zwei „Zentralklöster“ eingezwängt: im Kloster St. Anna, aus dem zuvor die Franziskaner gewiesen worden waren, und im sogenannten Priesterhaus. Daneben blieben als Aussterbeklöster der Bayerischen Provinz erhalten: Burghausen, Wemding, Türkheim, Laufen und Immenstadt.2 König Ludwig I. verhalf der Ordensprovinz zu neuem Leben, indem er die Kapuziner in Bayern 1826/27 wieder zuließ und sie unterstützte. Die neue Bayerische Kapuzinerprovinz von 1835 war für alle auf bayerischem Gebiet liegenden Kapuzinerklöster zuständig, also auch für die in der Rheinpfalz befindlichen Konvente. Zu den wichtigsten Personen und Ereignissen der Ordensgeschichte in Bayern im 19. und 20. Jahrhundert, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, zählt sicher Bruder Konrad. 1851 trat Johann Birndorfer3 aus Parzham in das Noviziat der bayerischen Kapuziner ein. Als Bruder Konrad legte er 1852 die Ewigen Gelübde ab. Bis wenige Tage vor seinem Sterben versah er 41 Jahre lang treu, demütig und geduldig den beschwerlichen Pfortendienst im Wallfahrtskloster St. Anna in Altötting. Papst Brandmüller (Hrsg.), Handbuch der Bayerischen Kirchengeschichte, Band 2, St. Ottilien 1993, S. 795–824. 2 Als Zentralklöster blieben in der Fränkischen Provinz erhalten: Karlstadt, Königshofen, Ochsenfurt und Kitzingen; dazu kamen aus der Rheinischen Provinz Aschaffenburg und Lohr; in der Schwäbisch-Pfälzischen Provinz blieben Eichstätt und Dillingen erhalten. Vgl. dazu Katalog und Status der Provinz der Bayerischen Kapuziner 2007, S. 9. 3 Vgl. Franz Xaver Hoedl OFMCap, „Birndorfer, Konrad“. In: Neue Deutsche Biographie 2 (1955) S. 259–260 [Online-Version]; https://www.deutsche-biographie.de/pnd118511319. html#ndbcontent (zuletzt aufgerufen 22.2.2022).
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Pius XI. sprach ihn 1934 heilig. Bewusst sollte der schlichte, Gott und den Menschen dienende Bruder dem nationalsozialistischen Herrenmenschenideal gegenüber gestellt werden. 1894 übernahmen die bayerischen Kapuziner die Missionierung der Mapuche-Indianer in Araukanien im Süden Chiles. Sie bauten Berufsschulen sowie Krankenhäuser und unterstützten die Araukaner gegen die Unterdrückung durch die Weißen. Dem Landraub sollte Einhalt geboten werden. Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg trafen die Kapuziner, wie alle Orden, hart. Pater Ingbert Naab4, ein mutiger Kämpfer gegen das NSRegime, der eng mit Fritz Gerlich zusammenarbeitete, wurde unerbittlich verfolgt, bis er im Exil 1935 in Straßburg-Königshofen starb. Wie auch andere Angehörige von Ordensgemeinschaften wurden einige bayerische Kapuziner wegen Devisenvergehen und Verstößen gegen das Heimtückegesetz zu Gefängnisstrafen verurteilt. Einige Klöster oder klösterliche Gebäudeteile wurden für Wehrmachtszwecke, für die Kinderlandverschickung und ähnliche Bestimmungen beschlagnahmt.5 116 Brüder wurden als Soldaten an den Kriegsfronten getötet oder gelten als vermisst.6 Die schweren Lücken sind in der Nachkriegszeit geblieben, trotz der Aufnahme von 26 heimatvertriebenen Brüdern aus dem „Sudetendeutschen Kommissariat“. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich Pater Manfred Hörhammer (1905–1985) unermüdlich für die deutsch-französische Aussöhnung ein. Als Mitbegründer der Pax-Christi-Bewegung7 war er Generaldelegierter und geistlicher Beirat der deutschen Sektion. In der gesellschaftlichen und kirchlichen Umbruchszeit um das Jahr 1968 hat eine ganze Reihe von Brüdern den Orden verlassen. Aus Nachwuchsmangel müssen heute immer mehr Konvente geschlossen werden. Vgl. Helmut Witetschek, „Naab, Ingbert“. In: Neue Deutsche Biographie 18 (1997) S. 677–678 [Online-Version]; https://www.deutsche-biographie.de/pnd118828193.html# ndbcontent (zuletzt aufgerufen 22.2.2022). 5 Vgl. dazu Bonifatius Strack, Die Kapuziner im Erzbistum München und Freising. In: Georg Schwaiger (Hrsg.), Das Erzbistum München und Freising in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, Band 2, München-Zürich 1984, S. 445–458. 6 Vgl. Verzeichnis der Kriegsopfer im Totenbuch der Bayerischen Kapuzinerprovinz, Altötting 1953, S. 372–378. Als Manuskript gedruckt. 7 Pax Christi (Friede Christi) ist die internationale katholische Organisation der Friedensbewegung, die sich heute jedoch als ökumenisch offen versteht. Die Organisation entstand zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Frankreich. Schwerpunkt der Arbeit war zunächst die deutsch-französische Aussöhnung, wobei das gemeinsame Gebet und gemeinsame Wallfahrten eine große Rolle spielten. 4
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2. Zur Geschichte der ehemaligen R h e i n i s c h -We s t f ä l i s c h e n K a p u z i n e r p r ov i n z Die ersten Kapuziner kamen als Missionare 1611 nach Köln8. Sie wirkten in der Gegenreformation und bauten ihre Klöster dort, wohin sie gerufen wurden. Die Mitbrüder erlebten – vor allem im 17. Jahrhundert – Zeiten voller Drangsale. Sie harrten im ständigen Hin und Her der Kriege, der Hungersnöte und der Pestzeiten aus. In Notzeiten widmeten sich die Brüder der Krankenpflege. Neben dem pastoralen Einsatz ist das schriftstellerische Bemühen vieler Brüder zu nennen, darunter am erfolgreichsten Pater Martin Linius von Cochem (1634–1712).9 Die geistigen Strömungen der Aufklärung und schließlich die Säkularisation verursachten auch im Rheinland den großen „Klostersturm“. Die Französische Revolution und der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 brachten gewaltige Einschnitte in das Leben der Klöster. Diese wurden „verstaatlicht“, die Insassen vertrieben oder mit einer Pension abgegolten. Viele Klöster gingen unter, die verbliebenen waren zum Aussterben verurteilt, da sie keine Novizen mehr aufnehmen durften. Als 1850 die Neugründung klösterlicher Niederlassungen in Preußen zugelassen wurde, konnte der Kapuzinerorden rasch wiederaufleben. 1851 kamen Kapuziner aus Tirol und Holland nach Werne in Westfalen. Bereits ein Jahr später 8 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei zur Geschichte der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz auf folgende Literatur verwiesen: Arsenius Jakobs, Die Rheinischen Kapuziner 1611–1725. Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Reform (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 62), Münster 1933; Raymund Linden, Die Regelobservanz in der Rheinischen Kapuzinerprovinz von der Gründung bis zur Teilung 1611–1668 (Franziskanische Studien. Beiheft 16), Münster 1936; Ders., Vorlesungen zur Geschichte der Rheinisch-Westfälischen Ordensprovinz der Minderbrüder Kapuziner 1611–1893 (als Manuskript im Eigenverlag für interne Zwecke gedruckt), Koblenz ca. 1971; Bonaventura Dickers (von Mehr), Das Predigtwesen in der Kölnischen und Rheinischen Kapuzinerprovinz im 17. und 18. Jahrhundert (Bibliotheca Seraphico Capuccina. Sectio Historica Tom VI), Rom 1945 (Dissertation); Walther Hümmerich, Anfänge des kapuzinischen Klosterbaues. Untersuchungen zur Kapuzinerarchitektur in den rheinischen Ordensprovinzen (Rhenania Franziscana Antiqua 3), Mainz 1987; Reinhard Feldmann – Reimund Haas – Eckehard Krahl (Hrsg.), Frömmigkeit und Wissen. Rheinisch-westfälische Kapuzinerbibliotheken vor der Säkularisation. Katalog zur Wanderausstellung aus Anlass des Gedenkjahres 1803/2003, Münster 2003. 9 Vgl. Bonaventura Dickers (von Mehr), OFMCap, „Martin von Cochem“. In: Neue Deutsche Biographie 16 (1990) S. 278–279 [Online-Version]; https://www.deutsche-biographie.de/pnd118731319.html#ndbcontent (zuletzt aufgerufen 22.2.2022) und S. 538 in diesem Beitrag.
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wurde ein Noviziat errichtet. 1854 wurde in Mainz ein Studienkloster eingerichtet. Der Generalminister des Kapuzinerordens erhob die RheinischWestfälische Kustodie 1860 zur gleichnamigen Provinz. 1875 brachen die Stürme des Kulturkampfes über die junge Provinz herein. Die Konvente wurden aufgehoben oder auf den Aussterbeetat gesetzt. 42 von 67 Mitgliedern wanderten aus. Zwanzig Brüder gingen nach Cumberland in Nordamerika. Durch Zusammenschluss mit dem Bayerischen Kommissariat in Pittsburgh entstand 1882 die Pennsylvanische Kapuzinerprovinz. Erst die 1886 und 1887 veränderte Gesetzeslage ermöglichte die Rückkehr der verstreuten Mitbrüder in die Klöster, und sogleich ergab sich ein erstaunliches Wachstum. Im Königreich Preußen wurden neue Klöster gegründet. In Sigolsheim im Elsass errichteten die Kapuziner ein Noviziat. Dort verbrachte auch der selige, im Konzentrationslager Auschwitz ermordete Pater Anicet Koplin10 sein Probejahr.
KZ-Häftling Anicet Koplin (Archiv der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz 263; Geschenk des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau).
Eberhard Mossmaier, Pater Anicet Koplin. Der Vater der Armen von Warschau. Auschwitz-Häftling Nr. 20376, Stein am Rhein 1983.
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Die Kapuziner der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz betreuten folgende Missionsgebiete: Cumberland, USA (1875–1882), die deutschen Südsee-Kolonien mit den Karolinen-, Marianen- und den PalauInseln (1903–1919), China (1921–1952), Litauen (1928–1941), Mexiko (1985–2012), Gera (Thüringen 1992–2007), seit 1955 Indonesien (Sumatra und Nias) und seit 2007 Albanien.11 Die Rheinisch-Westfälische Provinz brachte nicht nur erfahrene Architekten und Baumeister hervor, sondern auch Theologen und Schriftsteller. Bis heute hat die Philosophisch-Theologische Hochschule des Kapuzinerordens in Münster einen wichtigen Auftrag für die intellektuelle Auseinandersetzung mit den Fragen der jeweiligen Zeit. Die Bibliothek des Kapuzinerklosters in Münster ist zugleich die Bibliothek der Deutschen Kapuzinerprovinz sowie Studienbibliothek der Philosophisch-Theologischen Hochschule.12 Deren Schwerpunkte sind Bibelwissenschaften, Philosophie und Religionswissenschaften, außerdem Spiritualität und franziskanische Literatur. Zusammen mit dem Kapuzinerkloster Münster war im Zweiten Weltkrieg auch die Klosterbibliothek weitgehend zerstört worden. Ursprünglich besaß das Kloster Münster eine Hausbibliothek, die seit 1773 durch einen Bibliothekar betreut wurde. Der Bestand belief sich bei der Aufhebung des Konventes 1811/12 in Zeiten der Säkularisation auf 3477 Bände. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute der damalige Bibliothekar, P. Dr. Pius Hegemann, die Bibliothek neu auf und trug dazu Buchbestände aus der ganzen Provinz zusammen13; seit 1954 war die Bibliothek wieder benutzbar. Der Altbestand von ca. 3000 Bänden wurde 1990 an die Universitäts- und Landesbibliothek Münster übertragen, wo die Bestände katalogisiert und – wenn nötig – auch restauriert wurden.14 Die Universitäts- und Landesbibliothek Münster erhielt von der Missionsprokur im Jahre 2010 und 2011 von der Deutschen Kapuzinerprovinz einen umfangreichen Archivbestand als Depositum. Es handelt sich um die Unterlagen ihrer Südseemission aus der Zeit von 1904 bis 1919 sowie ihrer Chinamission 1922 bis 1952 (https://www.ulb.uni-muenster. de/sammlungen/nachlaesse/sammlung-kapuzinermission.html; zuletzt aufgerufen 22.2.2022). – Das „Indonesienarchiv“ befindet sich jetzt im Provinzarchiv in Altötting. 12 Vgl. https://www.kapuziner.de/bildung/bibliothek/ und auch https://pth-muenster.de/bibliothek/ (zuletzt aufgerufen 22.2.2022). 13 Weitere Bibliothekare waren: P. Berard Krieg, P. Stephan Wisse, Hans-Jürgen Loska, Br. Bernhard-Maria Janzen. 14 Vgl. zur Bibliotheksgeschichte Reimund Haas, Kapuziner in Westfalen und im Rheinland sowie Spuren und Schicksal ihrer Bibliotheken bis zur Säkularisation. In: Reinhard Feldmann – Reimund Haas – Eckehard Krahl (Hrsg.), Frömmigkeit und Wissen. Rheinisch-westfälische Kapuzinerbibliotheken vor der Säkularisation. Katalog zur Wanderaus11
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3 . Di e Fu s i o n d e r Ba y e r i s c h e n u n d d e r R h e i n i s c h -We s t f ä l i s c h e n K a p u z i n e r p r ov i n z – Ko n s e q u e n z e n f ü r d i e A r c h i v e Bis zum Zusammenschluss 2010 gab es in Deutschland noch zwei Kapuzinerprovinzen: die Rheinisch-Westfälische und die Bayerische Provinz. Nachwuchsmangel veranlasste die Brüder der beiden Provinzen zur Fusion. Die Vereinigung zur Deutschen Kapuzinerprovinz fand am 25. Mai 2010, also am Pfingstfest, statt.15 Deshalb besteht das Archiv der Deutschen Kapuzinerprovinz im Wesentlichen aus zwei Provinzarchiven, dem „Archiv der Provinz der Bayerischen Kapuziner“ und dem „Archiv der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz“, so die offiziellen Bezeichnungen. Das „Archiv der Deutschen Kapuzinerprovinz“ ist erst im Entstehen begriffen. In den Aktenplan der neuen Provinz flossen die Strukturen beider Provinzen ein. Das Archiv der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz war zusammen mit dem Provinzialat im Kloster Koblenz-Ehrenbreitstein16 untergebracht. Der Sitz des Provinzials der Bayerischen Provinz und des Archivs war bis in die 1960er bzw. 1970er Jahre Altötting-St. Konrad (bis 1953 St. Anna17 genannt). 1966 wurde in München-St. Joseph (Tengstraße 7) das Provinzialat errichtet.18 Dort befand sich ein Konvent neben der von Kapuzinern betreuten Pfarrkirche St. Joseph. 1975 wurde das Archiv der Bayerischen Provinz in das Münchener Provinzialat verlegt.19 Als wichtige bestandserhalterische Maßnahme wurden dabei Schubladen aus säurefreiem Karton angeschafft. stellung aus Anlass des Gedenkjahres 1803/2003, Münster 2003, S. 38–48, hier S. 44, 47, 48. 15 Der Generalminister Mauro Jöhri hatte in der Sitzung vom 17. März 2010 – mit Zustimmung des Generaldefinitoriums – die Errichtung der Deutschen Kapuzinerprovinz beschlossen. 16 Seit 1908 war Ehrenbreitstein meist Sitz des Provinzialats. 17 Umwandlung des Namens der Kirche durch Indult der Heiligen Ritenkongregation vom 30. März 1953. Vgl. Rundschreiben vom 10. April 1953, Archiv der Provinz der Bayerischen Kapuziner VII 66 8. 18 Vgl. Rundschreiben Nr. 9/66 vom 23. März 1966, Archiv der Provinz der Bayerischen Kapuziner VII 66 10. 19 In einem Schreiben des Provinzsekretärs vom 12. Mai 1975 im Personalakt von Pater Johannes Nepomuk Misthilger wird das Jahr des Umzugs genannt. Die Rundschreiben des Provinzials und der Provinzbote schweigen sich darüber aus. Vgl. Archiv der Provinz der Bayerischen Kapuziner X 151 50 524.
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Aufstellung des Bayerischen Provinzarchivs (Foto: Gilbert Trojer).
Im Zuge der Vereinigung zur Deutschen Provinz wurde der Sitz des Provinzialates von München-St. Joseph bzw. Koblenz-Ehrenbreitstein nach München-St. Anton verlegt. In die frei werdenden Räume in der Tengstraße konnte im Herbst 2008 das Archiv der Rheinisch-Westfälischen Provinz aus Koblenz umziehen. Das Bayerische Provinzarchiv war dort im Keller und das Rheinisch-Westfälische Provinzarchiv im dritten Stock untergebracht. Das Kloster in Ehrenbreitstein wurde 2008 aufgelöst.20 Als wegen Nachwuchsmangels beschlossen wurde, auch das Kloster St. Joseph in München aufzuheben, brauchte das Archiv eine neue Bleibe. Nach längeren Überlegungen beschloss die Provinzleitung, das Archiv der Deutschen Kapuzinerprovinz im Kapuzinerkloster St. Magdalena in Altötting (Kapellplatz 9, 84503 Altötting) unterzubringen, und zwar im Keller in vier Räumen von rund 250 Quadratmetern. Seit September 2013 ist es dort vor Ort.
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Die Abschiedsfeier in Koblenz fand am 14. September 2008 statt.
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4 . Di e re c h t l i c h e E i n b i n d u n g d e s Pr ov i n z a r c h i v s Der Kapuzinerorden in seiner Gesamtheit ist weltweit in Provinzen aufgeteilt. Das genannte Archiv untersteht direkt dem Provinzialat bzw. der Provinzverwaltung der Deutschen Kapuzinerprovinz, die ihren Sitz seit 2008 in München-St. Anton hat. Es ist ein Zentralarchiv, das für ein bestimmtes Ordensgebiet zuständig ist. Beim Umzug nach Altötting umfasste es ungefähr zwei laufende Kilometer Archivgut. Das bis in das 17. Jahrhundert zurückreichende heterogene Schriftgut spiegelt die reichhaltige Tätigkeit des Ordens einst und jetzt wider. Seit 1575 schrieben die Konstitutionen des Ordens den Provinzoberen vor, dass der Provinzialminister und dessen Sekretär Aufzeichnungen und Register führen müssten, insbesondere, was die Professurkunden und die Protokollbücher betraf. Bereits 1612 gab es eine deutsche Fassung dieser Vorschriften.21 In den Satzungen der Minderen Brüder Kapuziner ist unter § 142 festgehalten: 1. An der Generalkurie, in den Kurien der einzelnen Ordensbezirke und in allen unseren Häusern soll ein Archiv bestehen, zu dem man nur mit Erlaubnis des zuständigen Oberen Zutritt hat. In ihm sollen alle erstellten und erhaltenen Dokumente, welche die Brüder, unser Leben und unsere Tätigkeit betreffen, geordnet und unter Verschluss aufbewahrt werden. 2. Der Zutritt zu den Archiven des Ordens werde durch Erlasse der Minister geregelt, wobei man sorgfältig die kirchlichen und zivilen Normen beachte.22 Damit steht die Existenz des Provinzarchivs der Deutschen Kapuziner auf dem Boden des Ordensrechts. Dem entsprechend wird in den Konsti-
Vgl. dazu Christian Schweizer, Tradition – Dokumentation: Das Provinzarchiv der Schweizer Kapuziner in Luzern. In: Helvetia Franciscana Bd. 36/1 (2007) S. 13–93, hier S. 20. 22 Konstitutionen der Minderen Brüder Kapuziner, Verordnungen der Generalkapitel. Regel und Testament des Heiligen Vaters Franziskus, Deutscher Text nach dem lateinischen Originaltext (Rom 2013) übersetzt im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen Kapuziner, veröffentlicht im Auftrag der drei deutschsprachigen Provinzialminister, Innsbruck u.a. 2015, S. 155. 21
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tutionen auch eine Zentral- oder Regionalbibliothek und in jedem Haus eine Konventsbibliothek empfohlen.23 Frater Flavio Roberto Carraro, Generalminister des OFMCap, erließ am 25. März 1994 ein Rundschreiben an die höheren Oberen und an alle Brüder des Ordens mit Anweisungen zur Wertschätzung und Pflege der Kulturgüter und der Archive.24 In deutscher Übersetzung ist über die Aufbewahrung zu lesen: Es ist dringender denn je, dass die Zeugnisse der Kultur, die unsere Mitbrüder hinterlassen haben, lebendig und in gutem Zustand erhalten bleiben. Jede Bewahrung und Instandhaltung wird bei einer liebevollen Entdeckung, Kenntnis, Sammlung und Niederschreibung eines Inventars unseres kulturellen Erbes beginnen.25 Carraro begründete die Pflicht zur Aufbewahrung mit der Tugend der Wertschätzung und der Unersetzlichkeit.26 Der Generalminister definierte weiter: Jede Herstellung (ob es die Künste, die Geschichte, das Archiv, das Buchhandwerk … betrifft), die in sich den Wert eines geistlichen und geschichtlichen Zeugnisses birgt und hilft, unsere Vergangenheit zu verstehen, um sie aufzunehmen und weiterzugeben, ist ein Kulturgut der Kapuziner.27 [...] Der Orden wird Frucht bringen können in der Gegenwart, wenn er es versteht, die Frucht der eigenen Vergangenheit zusammen mit den Kulturgütern der Gegenwart zu bewahren und zu schätzen.28 Dem Provinzarchiv schrieb er die Aufgabe zu, die gesamte Dokumentation der Provinz aufzubewahren.29
Ebd. Verordnungen 2/20 S. 207. Vgl. Principia normaeque ad bona ordinis culturalia aestimanda atque curanda. In: �������� Analecta Ordinis Fratrum Minorum Capuccinorum 110 (1994) S. 40–46, speziell Archive S. 43. 25 Internationale Kapuziner-Informationen (IKI) Jg. 24 Nr. 124 (1994) S. 61. 26 Vgl. ebd. S. 61/62. 27 Ebd. S. 60. 28 Ebd. S. 67. 29 Vgl. ebd. S. 62. 23 24
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Die Arbeitspapiere der Bundeskonferenz der kirchlichen Archive in Deutschland formulieren in den Hinweisen und Anregungen für die Archive kirchlicher Dienststellen und Einrichtungen in Deutschland: Bei allen Überlegungen ist von dem Grundsatz auszugehen, dass das Schrift- und Dokumentationsgut von der Stelle erhalten und verwaltet wird, bei der es entstanden ist. Wenn dies nicht mehr möglich ist, sollte es an eine übergeordnete Organisationseinheit abgegeben werden.30 Im Schreiben „Die pastorale Funktion der kirchlichen Archive“ der Päpstlichen Kommission für die Kulturgüter der Kirche vom 2. Februar 1997 heißt es: Auf Grund von Alter und Wichtigkeit der in ihnen gesammelten Dokumente kommt den Archiven der Klöster verschiedener Tradition besonders große Bedeutung zu. Das Klosterleben hat nämlich bei der Evangelisierung der Bevölkerung in der Umgebung der Ordensniederlassungen eine vorrangige Rolle gespielt; die Klöster haben bedeutsame karitative und Erziehungseinrichtungen ins Leben gerufen; sie haben die alte Kultur weitergegeben […].31 Des weiteren verbreitet sich immer mehr „die Überzeugung, dass die historischen Archive der kirchlichen Stellen zum nationalen Kulturerbe gehören, wenn auch mit Beibehaltung der ihnen gebührenden Autonomie.“32 5 . Di e A r c h i v b e s t ä n d e Das Archiv der Deutschen Kapuzinerprovinz ist nach dem Provenienzprinzip geordnet. Es verwaltet neben den historischen Beständen reponierte Unterlagen der Registratur der Ordensprovinzverwaltung. Letztere bestehen hauptsächlich aus Rechnungsbelegen, die nach zehnjähriger Aufbewahrungsfrist der Kassation zugeführt werden. Auch die Archive aufge-
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Päpstliche Kommission für die Kulturgüter der Kirche, Die pastorale Funktion der kirchlichen Archive. Schreiben vom 2. Februar 1997. Anhang: Dokumente zum kirchlichen Archivwesen für die Hand des Praktikers, 15. März 2016 (Arbeitshilfe 142), Bonn 2016, S. 57 – http://www.dbk-shop.de/ media/files_public/sxqxnkdwnv/DBK_5142.pdf. 31 Ebd. S. 15. 32 Ebd. S. 24. 30
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löster Konvente werden in das Provinzarchiv übernommen, das dadurch ständig wächst. 5.1 Bayerischer Teil In der Zeit der Säkularisation behielten in Bayern nur die Zentralklöster ihre Archive. Das Provinzialatsarchiv verschwand mit Ausnahme der Annalen. Bei den aufgelösten Klöstern kümmerte sich zunächst niemand um die verbliebenen Archivalien, die deshalb meist verloren gingen. Die Provinzannalen33 gingen an die Bayerische Staatsbibliothek und an das Bayerische Hauptstaatsarchiv. In der NS-Zeit erlitt das Provinzialatsarchiv nur geringfügige Verluste. Mit wenigen Ausnahmen ist alles zurückgegeben worden34: Provinzial P. Stanislaus Grünewald berichtete am 30. Oktober 1945, er habe von den Karmeliten erfahren, dass 15 nummerierte Kisten mit einer Kiste der Abtei Schweiklberg vorübergehend im Kloster Reisach aus Luftschutzgründen bei den Akten des Innenministeriums hinterstellt seien. Im Februar 1946 schrieb er an die für die Beziehungen zu den Religionsgemeinschaften zuständige US-Militärregierung, dass im April 1941 das Provinzarchiv von der Gestapo beschlagnahmt und nach München gebracht worden sei. Den Bemühungen der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns sei es zu verdanken, dass das Archiv von der Gestapo an das Bayerische Hauptstaatsarchiv abgegeben worden sei und auf diese Weise in Bayern verbleiben konnte. Es habe nämlich nach Berlin gebracht werden sollen. Dagegen habe der damalige Generaldirektor Dr. Josef Franz Knöpfler protestiert und erreicht, dass es ihm persönlich übergeben worden sei. Es wurde in das Bergungslager Urfahrn bei Kloster Reisach gebracht und überstand die Luftangriffe unbeschadet. Am 10. Juni 1947 konnte der Provinzsekretär P. Egino Kraus die Kisten in Reisach in Gegenwart des Staatsarchivbeamten Dr. Alois Weißthanner abholen und nach Altötting zurückbringen. Die Militärregierung hatte die Rückgabe erlaubt. Der Provinzsekretär schrieb im Provinzboten35 folgenden Bericht über die Rückgabe des Provinzarchivs:
S. Anm. 37 und 38. Vgl. dazu den Schriftverkehr im folgenden Akt: Im 3. Reich beschlagnahmte Akten, Archiv der Provinz der Bayerischen Kapuziner VII 73 1 c. 35 Provinzbote Heft 8 (1947) S. 11–12. 33 34
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Zu wiederholten Malen war die Provinzleitung an die Militärregierung herangetreten um die Rückgabe des Archivs zu erreichen und unter dem 30. Mai 47 teilte endlich das Hauptstaatsarchiv in München dem Provinzialate mit, dass das seinerzeit von der Gestapo beschlagnahmte und dem Hauptstaatsarchiv zur treuhänderischen Aufbewahrung übergebene Provinzarchiv der bayerischen Kapuziner von der Militärregierung zur Rückgabe an den Orden freigegeben worden sei. Das in 15 Kisten geborgene Archiv könne vom Provinzialate im Karmeliten-Kloster Reisach abgeholt werden, wohin es von Urfahrn aus gebracht worden sei. Zur Übernahme des Archivs möge ein Mitglied des Ordens bevollmächtigt werden, das Staatsarchiv seinerseits werde einen Beamten zur Übergabe entsenden. Auf Grund dieser Mitteilung wurden in Altötting Verhandlungen wegen des Transportmittels gepflogen und mit der Firma Bruckmayer zum Abschluss gebracht. Als Termin für die Fahrt wurde der 10. Juni bestimmt; die Firma stellte einen Lastkraftwagen mit drei Tonnen Tragfähigkeit zur Verfügung und stellte den Autolenker. Der Abholungstermin wurde an das Staatsarchiv gemeldet und dieses teilte mit, dass der zur Übergabe bevollmächtigte Beamte, Staatsarchivassessor Dr. Weisthanner, am 10. Juni in Reisach die Übergabe an den Bevollmächtigten der Provinz vollziehen werde. Die Fahrt erfolgte am 10. Juni von Altötting über Trostberg, Seebruck, Endorf, Rosenheim nach Reisach. Auf dem Lastwagen hatten Pater Egino und Bruder Heribert Platz genommen. Nach Ankunft in Reisach und nach dem Eintreffen des Archivbeamten wurde die Verladung der Kisten vorgenommen und dann die Übergabe in dreifacher Ausführung beurkundet: ein Exemplar für die Militärregierung, ein Exemplar für das Staatsarchiv und eines für den Orden. Hierauf erfolgte die Rückfahrt auf dem gleichen Wege wie die Hinfahrt. Pater Egino notierte am 30. Juli 194736: Pro-Memoria. Am 29. Juli 1947 hatte der unterzeichnete Provinzsekretär im Kloster Reisach eine Unterredung mit Dr. Knöpfler, Generaldirektor a.D. des bayerischen Staatsarchivs über noch Vgl. auch für die nachfolgende Entwicklung den Akt: Im 3. Reich beschlagnahmte Akten, Archiv der Provinz der Bayerischen Kapuziner VII 73 1 c. 36
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fehlende Stücke des Provinzarchivs der bayerischen Kapuziner. Dabei erklärte Dr. Knöpfler, dass zehn Faszikel (Akten P. Caelestin, Gerlach, Erzberger etc.) nach Berlin zur Auswertung gekommen seien. Ein gewisser Patin sollte diese zu einem Werk über die Kurienpolitik verarbeiten. Der Provinzial Felix Maria von Moreau stellte noch Nachforschungen in Berlin an, die aber scheinbar ergebnislos blieben. Auf Anfrage konnte das Bundesarchiv im Jahre 2014 sieben Akten ermitteln, deren Enthältvermerk u.a. auf die Beschlagnahme von Archivalien der Kapuziner verweisen. Dem Bundesarchiv zufolge entstammen diese Akten den Sammlungen des NS-Archivs des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Deren Weg in das MfS ist heute nicht mehr eindeutig nachvollziehbar. Das Bayerische Provinzarchiv ist in 13 Abteilungen untergliedert. Die heutige Gliederung entstand nach 1950 durch den Provinzarchivar Pater Dr. Franz Xaver Hoedl. I. Abteilung. Provinzgeschichte vor 1835: Hauptquelle für die Geschichte der Bayerischen Kapuzinerprovinz von der Gründung der Tirolisch-Bayerischen Provinz 1593 bis 1802 bilden die „Annales Provinciae“, deren Originale in je einem Exemplar – die behandelten Jahre stimmen nicht ganz überein – in der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek37 und im Bayerischen Hauptstaatsarchiv38 liegen. Davon gibt es im Provinzarchiv lediglich eine Kopie. Eine weitere wichtige Geschichtsquelle bilden die Spezialakten, die über verschiedene Klostergründungen und ganz besonders über die Vorbereitung und Durchführung der Säkularisation berichten. Die Originale dieser Spezialakten liegen vereinzelt in den Staatsarchiven Amberg, Augsburg, Bamberg, München, Nürnberg und Würzburg. Als wichtige Originalquelle für die Provinzgeschichte, die im Provinzarchiv selbst verwahrt wird, ist noch zu nennen: „Relatio de origine, statu et adiacentibus omnium conventuum etc.“ über die Gründung aller bis 1723 bestehenden bayerischen Klöster und deren Tätigkeit.39 Außerdem beinhaltet diese Abteilung Akten über einzelne Klöster der Bayerischen, München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 26493, Clm 26494, Clm 1538 und Clm 1539. 38 München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, KL Fasz. 445 Nr. 1, Nr. 1a, Nr. 1b und KL Fasz. 446 Nr. 2. 39 Vgl. dazu Eberl (wie Anm. 1) S. VI–VII. 37
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Schwäbisch-Pfälzischen und der Fränkischen Provinz, über die Säkularisation und die Wiedererrichtung der Provinz. II. Abteilung. Neuere Provinzgeschichte seit 1835: Im Fach „Besondere Ereignisse“ ist zu nennen der Kulturkampf, der Erste Weltkrieg (darunter befinden sich Kriegsberichte von zwei Feldgeistlichen), der Zweite Weltkrieg, die Inanspruchnahme von Klöstern usw. Breiten Raum nehmen dabei die Feldpostbriefe von Patres, Klerikern und Brüdern ein. Im Fach „Überblicke“ sind u.a. der Status und die Kataloge der Provinz40 untergebracht. Es folgt das Fach Abgelehnte Klosterangebote und die Provinzchronik (von 1873 bis 1878, 1930 bis 1940, 1951 bis 1978). III. Abteilung. Bestehende und aufgelöste Konvente: Von folgenden bereits aufgehobenen Klöstern sind (zum Teil noch nicht verzeichnete) Bestände im Provinzarchiv vorhanden: Altötting-St. Magdalena, Aschaffenburg, Augsburg, Blieskastel, Burghausen, Coburg, Dillingen, Eichstätt, Erding, Immenstadt, Karlstadt, Kempten, Königshofen, Laufen, Lohr, Mainburg, Maria Birnbaum, Maria Buchen, München-St. Joseph, Mussenhausen, Neuötting, Passau, Regensburg, Rosenheim, St. Ingbert, Türkheim, Vilsbiburg, Wemding, Würzburg. Von folgenden bestehenden Klöstern (und Institutionen) in Bayern sind Bestände im Provinzarchiv vorhanden: Altötting-St. Konrad, Franziskushaus-Altötting41; München-St. Anton, MünchenNymphenburg. Von Ingolstadt konnte noch nichts übernommen werden. Die Akten sind im Wesentlichen folgendermaßen strukturiert: Entstehung; Entwicklung; Bilder und Fotos; Besitzverhältnisse; Bauliches; Wirtschaftliches; Finanzielles; Briefwechsel; Behörden; Kirche: Bauliches, Bilder und Fotos, Kirchliches Leben; Jahresberichte; Einsatz usw.
Vgl. dazu Anm. 49 in diesem Beitrag. Die Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung unterhält eine staatlich anerkannte, private Grund- und Hauptschule mit Nachmittagsbetreuung und acht Kindergartengruppen. Seit 120 Jahren werden im Haus geistliche Exerzitien angeboten. Das Exerzitien-, Bildungsund Begegnungshaus beherbergt Seminar- und Tagungsgruppen sowie Pilgergruppen, angeschlossen ist ein Jugendgästehaus für Auszubildende. 40 41
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Abteilung. Kirchliche Obrigkeit: Unterteilung in Papsttum, Diözesen und kirchliche Organisationen, u.a. Pax Christi42. V. Abteilung. Weltliche Behörden (vor allem Ministerien). VI. Abteilung. Höhere Ordensobere: u.a. allgemeine Ordensgeschichte, Generalminister, Generalkapitel, Generalvisitationen und Observanz (darunter Verordnungen der Generalkapitel, Generalrundschreiben und Konstitutionen). VII. Abteilung. Provinzialat: u.a. Provinzkapitel, Provinzrundschreiben, Provinziale, Provinzsekretariat, Ökonomie, Räte und Kommissionen, Provinzarchiv, „Provinzbote“43, Provinzbrauchtum, Organisationen, fremde Provinzen und andere Orden (Männer und Frauen). VIII. Abteilung. Ordensjugend: Berufswerbung, Kandidaten, Seminare (Augsburg, Bamberg, Burghausen, Dillingen, Regensburg, Würzburg) und Klerikate (Dillingen, Eichstätt, Regensburg, Würzburg und Terziarklerikat Burghausen), Aufnahme in den Orden (u.a. Noviziate), Studium, Laienbrüder. IX. Abteilung. Apostolat: Sie ist unterteilt in den Dritten Orden, die Chile-Mission in Araukanien und in anderen Ländern, die Volksmission, Exerzitien, Seelsorge, Seraphisches Liebeswerk44, Schriftstellerei, Zeitschriften, Liturgie und Musik. Beim Dritten Orden ist vor allem die Krankenfürsorge in München-Nymphenburg wichtig. Bei der Chile-Mission sind besonders hervorzuheben die Fotobestände, die bei Forschern aus der ganzen Welt gefragt sind. Daneben sind zu nennen die Visitationen der Provinzialminister, die Niederlassungen, Briefe von einzelnen Missionaren und die Akten zu den Missionsbischöfen. Bei den Missionen in Deutschland sind die Missionsberichte und die Kapellwagen-Mission45 zu Vgl. Archiv der Provinz der Bayerischen Kapuziner IV 52 2. Vgl. dazu S. 548 f. in diesem Beitrag. 44 Das Seraphische Liebeswerk ist eine Ende des 19. Jahrhunderts gegründete Hilfs organisation für arme, elternlose und verwahrloste Kinder. Ziel des Vereins war und ist es, den Kindern Unterkunft, Versorgung und Ausbildung zu geben. Vgl. Andreas Henkelmann, Caritasgeschichte zwischen katholischem Milieu und Wohlfahrtsstaat. Das Seraphische Liebeswerk (1889–1971) (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen, 13), München u.a. 2008. 45 Die Kapuziner missionierten die katholischen Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie fuhren mit LKWs, VW-Bussen und Wohnwagen, in denen ein Altar aufgebaut war, von Ort zu Ort. 42 43
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erwähnen. Bei der Seelsorge sind die Militärseelsorge und die Lukasgilde46 von Interesse. X. Abteilung. Personalia: Diese wichtigste Abteilung im Archiv ist unterteilt in verstorbene Kapuziner, ausgeschiedene Novizen, ausgetretene Brüder nach Ablauf der Gelübde, ausgeschiedene Brüder mit Dispens, Exklaustrierte (aus der Klausur heraus), Säkularisierte (Weltpriester), Entlassene und Apostaten (also vom Glauben Abgefallene, Flüchtige). Hinzukommen die Heiligen, die Seligen und die Ehrwürdigen Diener Gottes aus dem Franziskusorden, aus anderen Orden und aus dem Laienstand. Aus dem Kapuzinerorden sind vor allem zu nennen Pater Ingbert Naab, Bruder Konrad von Parzham und Pater Viktrizius Weiß von Eggenfelden. Die Personalakten der verstorbenen Kapuziner beginnen mit dem Jahr 1816 und sind nach dem Todesdatum geordnet. Die Abteilung XI heißt Germania-Bavaria, Orbis Terrarum und schließlich gibt es noch die Abteilung XII Varia. die Abteilung XIII Außerdem befinden sich in Altötting noch das Bruder Konradarchiv (im Kloster St. Konrad) und das Predigtarchiv (unter der Basilika St. Anna). 5.2 Rheinisch-Westfälischer Teil Das Rheinisch-Westfälische Provinzarchiv besitzt ältere Akten und Handschriften seit ca. 1600. Hier sind vor allem die Akten von folgenden Niederlassungen der früheren Rheinischen und Kölnischen Provinz zu nennen: Leiningen-Grünstadt, Gernsheim, Burgsinn, Miltenberg-Engelberg, Wertheim, Walldürn, Mainz, Halberstadt, Bensheim, Königstein, Alzey, Bingen, Nothgottes, Lorch, Ravengiersburg, Dieburg, Frankfurt, Waghäusel, Philippsburg, Frankenthal, Neustadt, Speyer, Karlsruhe, Bretten, Worms, Grünstadt, Bruchsal, Heidelberg, Mannheim, Baden-Baden, Michaelsberg bei Bruchsal, Trier, Bacharach, Dierdorf, St. Goar, Bornhofen, Koblenz-Ehrenbreitstein, Cochem, Wadern, Bonn, Köln, Wittem, Wesel, Benrath, Rheinberg, Jülich, Zülpich, Euskirchen, Kleve, Xanten, Die Katholische Ärztegesellschaft „St. Lukas“ in München ist eine Vereinigung katholischer Ärzte. Es ist eine Art kirchliche Bruderschaft mit rein religiösen Zielsetzungen. Jeder Gilde steht ein vom Bischof bestallter Priester als verantwortlicher Rektor vor. 46
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Linz, Aachen, Ahrweiler, Sinzig, Monjoie, Düren, Aldenhoven, Düsseldorf, Münstereifel, Stolberg, Kaiserswerth, Münster, Essen, Werne, Coesfeld, Borken, Brakel, Paderborn, Hannover, Peine, Stadtberge-Marsberg, Dortmund-Vechta, Hildesheim, Brenschede, Werl und Rüthen. Bei den Handschriften sind wieder die Provinzannalen, aber auch die Annalen einzelner Klöster hervorzuheben. Daneben sei erwähnt die „Historia provinciae Rhenanae“, die u.a. Gründungsgeschichten einzelner Klöster enthält, und die „Delineationes Conventuum Spectantes Ad Archivium Provinciae Rhenanae“, um 1700 angefertigt, die Grundrisse von Konventen47 beinhalten. Die neueren Bestände sind unter lagerungstechnischen Gesichtspunkten in die Hauptgruppen I., II. und III. unterteilt. Sie decken insgesamt etwa den Zeitraum 1611 bis 2010 ab, die Schwerpunkte liegen im 19. und 20. Jahrhundert. I.1 Leitung. Diese Abteilung ist folgendermaßen unterteilt: Kirche, General, Generalkapitel, Gesetzgebung, Institutionen, Provinzial, Provinzkapitel, Provinzkurie, Ökonomie, Archiv und Bibliothek, Missionsprokur und Hausleitung. I.2 Geschichte. Diese Abteilung beinhaltet u.a. Akten zu den Klöstern in den ehemaligen Provinzen Köln, Rhein, Schwaben, Vorderösterreich und Elsass. Bezüglich der Unterabteilung „besondere Gestalten“ ist vor allem der bekannte Volksschriftsteller Pater Martin Linius von Cochem zu nennen. Er wurde am 13. Dezember 1634 in Cochem an der Mosel geboren und starb am 10. September 1712 in Waghäusel. Er war Volksmissionar und Autor zahlreicher religiöser Bücher, die weltweite Verbreitung fanden und bis in die 1950er Jahre nachgedruckt wurden. Daneben gibt es noch Akten zu Architekten und Künstlern des Ordens. I.3 Rheinisch-Westfälische Provinz. Hier geht es um die Neugründung der Provinz 1860, den Kulturkampf, um die geschichtliche Entwicklung seit 1887, die beiden Weltkriege und den Nationalsozialismus und die Diaspora-Seelsorge danach. Daneben sind die Missionen Von folgenden Konventen sind Grundrisse erhalten: Mainz, Königstein, Frankfurt, Aschaffenburg, Engelberg, Lohr, Walldürn, Dieburg, Bensheim, Mannheim, Heidelberg, Bruchsal, Waghäusel, Speyer, Neustadt, Grünstadt, Frankenthal, Worms, Alzey, Bingen, Nothgottes, Bacharach, Bornhofen, Koblenz-Ehrenbreitstein, Cochem und Trier; s. Archiv der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz PR G 13. 47
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in der Südsee, im chinesischen Kansu, in Litauen, im indonesischen Sibolga und in Mexiko zu nennen. I.4 Rheinisch-Westfälische (bestehende und aufgehobene) Klöster. Diese Abteilung beinhaltet Akten zu folgenden Konventen: Aachen, Bad Mergentheim, Bebra, Bensheim, Bocholt, Braunsrath, Bronnbach, Clemenswerth, Deggingen, Dieburg, Frankfurt, Gera, Germershausen, Gernsheim, Karlsruhe, Kempen, Kleve, Koblenz-Ehrenbreitstein, Krefeld, Laudenbach, Mainz, Münster, Offenburg, Ottbergen, Ottersweier, Ravensburg, Reute, Säckingen, Sterkrade, St. Gangolf, Stühlingen, Waghäusel, Werne und Zell am Harmersbach. Von folgenden Klöstern sind Baupläne vorhanden: Bebra, Bensheim, Bocholt, Karlsruhe, Kleve, Koblenz-Ehrenbreitstein, Münster, Ottersweier, Säckingen, Sterkrade, Waghäusel, Werne und Zell am Harmersbach. I.5 Personalia. Von 18 Brüdern sind Tagebücher überliefert. In dieser Abteilung sind Personalakten von Exnovizen (ausgeschiedene Kleriker- und Brüdernovizen) und Kandidaten abgelegt. Daneben enthält sie noch die Kataloge, den Status und Statistiken. I.6 Ausbildung: Hier geht es um die Ordensschulen, das Noviziat, das Studium und die Weiterbildung. Es sind Akten vom St. Josefs-Kolleg in Bocholt, vom St. Fidelis-Kolleg in Bensheim, vom St. Antonius-Kolleg in Koblenz-Ehrenbreitstein, vom St. Konrad-Kolleg in Zell am Harmersbach und vom St. Franziskus-Kolleg in Bad Mer gentheim vorhanden. I.7 Religiöse Übungen / Arbeiten. U.a. Volksmissionen, Seraphisches Liebeswerk, Militärseelsorge und Dritter Orden bzw. die Franziskanische Gemeinschaft, heute Ordo Franciscanus Saecularis (OFS)48 genannt. I.8 Bibliographia. Hauptsächlich Zeitschriften, Rezensionen, Schriftsteller und Verlage. I.9 Varia. In dieser Abteilung sind die Akten über die Heiligen und Seligen, Devotionalia und Reliquien abgelegt.
Dem katholischen Institut des geweihten Lebens gehören Frauen und Männer an, die sich der franziskanischen Idee und Tradition verbunden fühlen und in diesem Geist „in der Welt“ leben. Der OFS ist eine geistliche Laienbewegung der katholischen Kirche, dessen Anfänge bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen. 48
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Die Personalakten sind durch ein Findbuch bzw. Totenbuch erschlossen. Sie beginnen Anfang des 19. Jahrhunderts bzw. 1824 und sind nach dem Eintrittsdatum der Brüder geordnet. Unter II. sind hauptsächlich abgelegt Chroniken (der Provinz, einzelner Klöster, der Klosterschulen, des Klerikats und des Dritten Ordens), Predigtbücher, Professbücher, ein Novizenbuch, Noviziatschroniken, Chroniken einzelner Häuser, Gästebücher, Verkündbücher, Arbeitsbücher bzw. Aushilfsbücher. Von folgenden Konventen sind solche Unterlagen vorhanden: Aachen, Bebra, Bensheim, Bocholt, Braunsrath, Bronnbach, Clemenswerth, Dieburg, Frankfurt, Gernsheim, Karlsruhe, Kempen, Kleve, Koblenz-Ehrenbreitstein, Krefeld, Laudenbach, Mainz, Münster, Offenburg, Ottbergen, Ottersweier, Ravensburg, Säckingen, Sterkrade, Waghäusel, Werne und Zell am Harmersbach. Die unter III. zusammengefassten Unterlagen und Materialien betreffen folgendes: III.1 Leitung III.2 Geschichte. Es handelt sich hauptsächlich um Bücher zur Ordensgeschichte. III.3 Rheinisch-Westfälische Provinz III.4 Klöster III.5 Personalia: Darin sind Totenbücher und (kleinere) Nachlässe enthalten. III.6 Werbung, Ausbildung, Weiterbildung III.7 Arbeiten: Missionsverzeichnisse, Exerzitien usw.: Hier sind Missionschroniken zu nennen, Archivalien zum Dritten Orden und zur Mission. III.8 Bibliographia III.9 Varia Hinzukommen etwa 100 Fotoalben. Sie enthalten Fotos von Klöstern, Kirchen und Schulen, Porträtfotos von verschiedenen Kapuzinern, Gruppenfotos, Fotos von Kapiteln, von unterschiedlichen Aktivitäten, Theateraufführungen und Feierlichkeiten, vom Bau und der Einweihung der Kirchen und Klöster, von Schülern, vom Hochwasser in Ehrenbreitstein, von Kapuzinern im Soldatenkleid, Familienbilder und Bilder aus dem Klosterleben einzelner Kapuziner, alte Ansichtskarten usw. Besonders hervorzuheben sind zwei Fotoalben von Pater Kilian Müller (1867–1940) mit
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Kriegsbildern aus dem Ersten Weltkrieg. Er war Feld-Divisionspfarrer in Frankreich und Russland. 6 . Di e A r c h i v a re d e r Ba y e r i s c h e n u n d d e r R h e i n i s c h -We s t f ä l i s c h e n K a p u z i n e r p r ov i n z Um dem Standort des Provinzarchivs (der Sitz des Provinzarchivs und der Standort des Provinzarchivars müssen nicht identisch sein) und den Provinzarchivaren der Bayerischen und der Rheinisch-Westfälischen Provinz auf die Spur zu kommen, hat die Verfasserin die „Kataloge“ und den „Status“49 der beiden Provinzen durchgesehen. 6.1 Die Archivare der Bayerischen Kapuzinerprovinz Für die Bayerische Provinz ist der Katalog seit 1858 überliefert, der Status seit 1867, wobei nicht jedes Jahr einer erschienen ist. Versetzungen innerhalb des Ordens finden nach dem Provinzkapitel – heute nach Pfingsten, früher im August – statt. 1858 und 1863 war der Provinzial in München-St. Anton stationiert. In den Jahren 1866 bis 1871 ist kein Standort des Provinzials genannt. Ab 1872 bis 196650 residierte er in Altötting-St. Anna (1953 in St. Konrad umbenannt). Lediglich einmal im Jahre 1886 taucht in Dillingen ein Pater Bonaventura als Provinzannalist auf.
In der heutigen Zeit beinhaltet der „Katalog der Deutschen Kapuzinerprovinz“ im Wesentlichen die Leitung des Gesamtordens und der Provinz, eine kurze Geschichte der Deutschen Kapuzinerprovinz, die Brüder der Provinz (aufgelistet nach Ordensalter samt Ordensname, Namenstag, Tauf- und Familienname, Geburtsort, Bistum, Geburtsdatum, Ordenseintritt, zeitliche Profess, ewige Profess und gegebenenfalls Priesterweihe), die Brüder in den Missionen, die Brüder in brüderlicher Zusammenarbeit aus Indien, Gäste aus anderen Ordensprovinzen, Adressen der Konvente und der Missionare, statistische Angaben, Index. Das gedruckte Heft erscheint in unregelmäßigen Abständen. – Im „Status“, der auch Anschriften, Durchwahlen und E-Mail-Adressen enthält, ist ablesbar, welcher Bruder gerade in welchem Konvent lebt und, teilweise, welche Funktion er dort innehat. Der Status erscheint im Jahresrhythmus, meist gegen Jahresende, in Loseblattform. „Katalog“ und „Status“ sind vor allem für den ordensinternen Gebrauch bestimmt. Im Archiv sind beide Veröffentlichungen vorhanden. 50 Mit kurzer Unterbrechung 1882 in Altötting-St. Magdalena. 49
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1896 erscheint in Türkheim Pater Angelikus Eberl als Provinzchronist. Ein Jahr später wird er ebenda als Provinzarchivar51 bezeichnet. 1899 betreut er auch die Bibliothek des Hauses, 1903 ist er Provinzbibliothekar. 1902 ist er in Vilsbiburg, 1905 in München-St. Anton und 1909 in Maria Birnbaum stationiert. 1908 wird er nicht mehr als Provinzarchivar, sondern wieder als Provinzchronist und Bibliothekar bezeichnet. Bis 1926 einschließlich wird kein Provinzarchivar genannt. 1913 ist Pater Cölestin am Sitz des Provinzialates in Altötting-St. Anna Provinzchronist, ab 1914 bis 1921 Pater Pius. 1922 bis 1925 ist Pater Deikola Gfirtner52 Provinzchronist, 1927/1928 ist er Archivar in Altötting-St. Anna. Ab 1929 ist Pater Alfons Maria Brandl53 Provinzarchivar und (teilweise) Bibliothekar, zuerst in Mainburg, ab 1932 in Aschaffenburg, ab 1935 in Altötting-St. Magdalena, ab 1938 in Burghausen, ab 1941 wieder in Aschaffenburg, ab 1948 bis 1954 in Karlstadt. Ab 1950 ist Pater Dr. Franz Xaver Hoedl54 Provinzchronist mit Sitz in St. Anna, ab 1955 Provinzarchivar und Chronist in Personalunion. 1963 taucht Pater Gervasius Sprinkart als Hilfsarchivar auf. 1964 ist wieder PaP. Angelikus Eberl, geboren am 11. März 1856 in Egmating, trat am 16. September 1871 in den Kapuzinerorden ein, die Einfache Profess legte er am 17. September 1875 und die Feierliche am selben Tag 1878 ab. Ebenfalls am 17. September 1878 wurde er zum Priester geweiht. Er starb am 23. Februar 1911 in München-St. Joseph und wurde in MünchenSt. Anton begraben. Von ihm stammt das Standardwerk: Die Geschichte der Bayerischen Kapuziner-Ordensprovinz (1593–1902), Freiburg im Breisgau 1902. Vgl. Archiv der Provinz der Bayerischen Kapuziner X 151 29 333 (Personalakt) und IX 107 304. 52 P. Deikola Gfirtner wurde am 27. März 1887 in Stauern, Diözese Regensburg, geboren. Er wurde am 22. Juli 1907 in Laufen als Novize eingekleidet, die Einfache Profess empfing er am 22. Juli 1908 ebendort, die Feierliche am 23. Juli 1911 in Dillingen. Am 25. Juli 1912 wurde er in Dillingen zum Priester geweiht. Er starb am 4. Februar 1957 in Vilsbiburg. Vgl. Archiv der Provinz der Bayerischen Kapuziner X 151 123 894. 53 P. Alfons Maria Brandl wurde am 6. Januar 1883 in München geboren. Am 22. Juli 1902 wurde er in Laufen als Novize eingekleidet. Die Einfache Profess feierte er am 22. Juli 1903 in Laufen, die Feierliche am 17. Juli 1906 in Dillingen. Die Priesterweihe erhielt er am 28. Juli 1907 ebendort. Am 19. April 1955 starb er in Karlstadt. Vgl. Archiv der Provinz der Bayerischen Kapuziner X 151 118 874. 54 P. Franz Xaver Hoedl wurde am 7. Dezember 1900 in Altötting geboren. Seine Einkleidung erfolgte am 6. August 1919 in Laufen, die Einfache Profess feierte er am 7. August 1920 ebendort, die Feierliche am 7. August 1923 in Eichstätt. Die Priesterweihe erhielt er am 15. Juni 1924 in Eichstätt. Er promovierte über: Das Kulturbild Altbayerns in den Predigten des Pater Jordan von Wasserburg O.M.Cap. (1670–1739), München 1939. Am 16. Mai 1978 starb er in Altötting. Vgl. Archiv der Provinz der Bayerischen Kapuziner X 151 194 1098, IX 107 305 F–J. 51
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ter Franz Xaver Hoedl Provinzarchivar, Provinzchronist und Provinzhistoriker. 1967 wird Gervasius Sprinkart – 1970 nahm er seinen Taufnamen Alfons55 als Ordensnamen an – als Student der Geschichte und Archivwissenschaft in St. Anton bezeichnet. 1982 schloss er sein Studium mit dem Doktortitel ab. Mit seiner viel beachteten Arbeit über „Kanzlei, Rat und Urkundenwesen der Pfalzgrafen bei Rhein und Herzöge von Bayern 1294 bis 1314 (1317)“ füllte er eine Lücke in der bayerischen Geschichtsschreibung. 1966 wird in München-St. Joseph das Provinzialat errichtet. Laut Definitoriumsbeschluss vom 10./11. März 1966 blieb das Archiv vorerst in Altötting.56 1968 ist Pater Franz Xaver Hoedl zusätzlich noch gemeinsam mit seinem Bruder Pater Diego Hoedl, der in Burghausen stationiert ist, Provinzbibliothekar. 1976 ist Pater Christoph Mayer Mitarbeiter im Provinzarchiv. 1978 gibt es zwei Provinzarchivare: Christoph Mayer57 mit Sitz in München-St. Anton und Pater Alfons Sprinkart in Altötting-St. Konrad. Letzterer ist auch Provinzbibliothekar und Provinzchronist, ab 1982 zusätzlich Leiter der Zentralbibliothek. 1991 ist Pater Alfons nicht mehr Provinzarchivar, dafür Pater Albert Hierlwimmer in Burghausen Mitarbei-
P. Alfons [Gervasius] Sprinkart wurde am 23. März 1928 in Werdenstein, Diözese Augsburg, geboren. Die Einkleidung als Novize fand am 11. August 1954 in Laufen statt, ebendort feierte er die Einfache Profess am 22. August 1955. Die Feierliche Profess legte er am 1. Mai 1960 ab. Am 2. Oktober 1960 empfing er die Priesterweihe in Kempten. Gestorben ist er am 27. September 1997 in Altötting. Vgl. Archiv der Provinz der Bayerischen Kapuziner X 151 251/2 1262. – Alfons Sprinkart, Kanzlei, Rat und Urkundenwesen der Pfalzgrafen bei Rhein und Herzöge von Bayern 1294 bis 1314 (1317). Forschungen zum Regierungssystem Rudolfs I. und Ludwigs IV. (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 4), Köln u.a. 1986. 56 Rundschreiben Nr. 9/66 vom 23. März 1966, vgl. Archiv der Provinz der Bayerischen Kapuziner VII 66 10. 57 P. Christoph Mayer wurde am 24. Juni 1905 in Oberndorf bei Haag, Erzdiözese München und Freising, geboren. Die Einkleidung als Novize erfolgte am 16. April 1927 in Laufen. Ebendort legte er die Einfache Profess ab am 17. April 1928, die Feierliche am 17. April 1931 in Eichstätt. An diesem Ort wurde er am 29. Juni 1932 auch zum Priester geweiht. Im Dritten Reich wurde er im Oktober 1938 gebeten, sich als Oberer in das Wallfahrtskloster Mariasorg im Sudetendeutschen Kommissariat versetzen zu lassen. Dort arbeitete er in der Wallfahrtsseelsorge bis zu seiner Ausweisung im Dezember 1945. Von 1967 bis 1972 ordnete er die Studienbibliothek im Kloster Eichstätt. Die anschließenden vier Jahre war er Provinzbibliothekar. Am 9. November 1996 starb er in München-Nymphenburg. Vgl. Archiv der Provinz der Bayerischen Kapuziner X 151 251 1256. 55
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ter im Provinzarchiv. 1975 wurde das Provinzarchiv von Altötting nach München-St. Joseph verlegt. 1995 wird Pater Ludwig Wörle kommissarischer Provinzarchivar. 1996 ist Pater Ludwig Wörle alleiniger Provinzarchivar und daneben Provinzsekretär (bis 2002) in München-St. Joseph. 2003 siedelt er nach Würzburg um, 2009 nach Eichstätt. Als Leiter des Archivs der Deutschen Kapuzinerprovinz nach der Fusion von 2010 (s. S. 527) – neben anderen Aufgaben im Orden – unterstützte Pater Ludwig Wörle die Verfasserin in der Beantwortung der Benutzeranfragen und verzeichnet die Hausarchive von aufgelösten Klöstern und die Personalakten. Wenn der Weg nicht zu weit ist, fährt er nach dem Todesfall eines Mitbruders sofort hin und holt die Akten des Verstorbenen selbst ein. Seit 2007 war Dr. Carolin Weichselgartner Archivarin in München-St. Joseph. Sie arbeitete seit Juli 2005 für die Kapuziner, zuerst freiberuflich, dann auf einer befristeten halben Stelle und seit März 2009 in Vollzeit. Ihr Tätigkeitsfeld war sehr weit gefächert: Benutzerberatung, Aussonderung, Übernahme und Erschließung von Archivgut, Beschickung von Ausstellungen, Öffentlichkeitsarbeit (einschließlich der Konzipierung eigener Ausstellungen, der Erarbeitung von Aufsätzen und Festschriften nicht nur im Rahmen der Ordensgeschichte). Dazu kam die Übernahme (einschließlich Umzugsorganisation) von Hausarchiven, Bibliotheken und Kunstgegenständen aufzulösender Kapuzinerklöster. Außerdem war sie für die Bibliothek des Kapuzinerarchivs in Altötting zuständig. Dr. Carolin Weichselgartner ist im September 2022 aus dem Archiv der Deutschen Kapuzinerprovinz ausgeschieden. 6.2 Die Archivare der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz Für die Rheinisch-Westfälische Provinz sind Status und Katalog seit 1872 überliefert, wenngleich ebenfalls mit Lücken. 1872 residiert der Provinzialminister in Münster, 1879 in Dieburg, 1887 in Mainz. 1890 erscheint Pater Joseph Leonissa Bleyler58 als ProP. Joseph Leonissa Bleyler wurde am 26. Januar 1857 in Kappel im Schwarzwald geboren. Die Einkleidung fand am 17. September 1874 in Dieburg statt. Ebendort legte er die Einfache Profess 1875 ab. Durch den Kulturkampf gezwungen, ging er nach Tirol. Am 27. September 1878 legte er die Feierliche Profess in Brixen ab. Zum Priester wurde er ebendort am 20. Juli 1879 geweiht. 1887 wurde seine Heimatprovinz neu errichtet. Von 1911 bis 1917 und noch einmal von 1922 bis 1925 war er Provinzial. Am 20. Juni 1937 starb 58
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vinzarchivar, 1892/1893 keiner. 1894 wird Pater Bonifatius Brunner59 als Provinzchronist und -archivar in Mainz bezeichnet, der Provinzial residiert in Münster. Von 1895 bis 1907 findet sich kein Archivar in den Quellen. 1902 bis 1907 hat der Provinzial seinen Sitz in Straßburg-Königshofen. 1905 erscheint Pater Chilian Müller60 in Straßburg-Königshofen als Provinzchronist. 1908 bis 191361 ist Chilian Müller Provinzarchivar in Koblenz-Ehrenbreitstein, der Provinzial ebendort. 1919 ist Pater Chilian wieder Provinzchronist in Koblenz, der Provinzial in Münster. Nur für kurze Zeit – 1922 belegt – ist ein Pater Johannes Chrysostomus62 Provinzarchivar in Münster, das Provinzialat in Ehrenbreitstein. 1924 arbeiten der Provinzial und der Archivar in Frankfurt am Main. 1924 bis 1928 kehrt wieder Pater Chilian als Provinzarchivar und -chronist zurück. Ab 1925 bis 2008 residieren der Provinzial und das Archiv in Ehrenbreitstein. 1929/30 erscheint kein Archivar. Von 1931 bis 1952 blieb Pater Arsenius Jakobs63 Provinzarchivar und -chronist, das erste Jahr in Mainz und dann in Ehrenbreitstein. 1954/55 war das Archiv unbesetzt. 1956 war nur für ein paar Monate Pater Bonaventura Dickers64 im Amt. Er wurde an das Generalarchiv des Ordens in er in Freiburg und wurde in Frankfurt beigesetzt. Vgl. Archiv der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz 114. 59 P. Bonifatius Brunner wurde am 24. August 1849 in Darmstadt geboren. Die Priesterweihe empfing er am 12. August 1877. Zehn Jahre arbeitete er als Weltpriester, bevor er als Novize am 29. September 1887 in den Orden eintrat. Am 29. September 1888 legte er die Einfache Profess ab, die Feierliche 1891. Gestorben ist er am 8. Mai 1915 in Dieburg. Vgl. Archiv der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz 138. 60 P. Chilian Müller wurde geboren am 18. Oktober 1867 in Nüdlingen, Diözese Würzburg. Am 4. Oktober 1887 wurde er in Münster als Novize eingekleidet, ebendort fand am 4. Oktober 1888 die Einfache Profess statt. Die Feierliche Profess war am 14. Oktober 1891. Am 17. Oktober 1891 wurde er in Mainz zum Priester geweiht. Er starb am 4. Januar 1940 im Kloster Mergentheim und wurde in Deggingen begraben. Vgl. Archiv der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz 142. 61 Überlieferungslücke von 1914 bis 1918. 62 Anhand der Personalakten ließ sich leider nicht feststellen, welcher Johannes Chrysostomus damit gemeint ist, Branze (Archiv der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz 68), Schulte (356) oder Volk (889). 63 P. Arsenius Jakobs wurde am 27. Mai 1896 in Losheim, Diözese Trier, geboren. Am 8. Mai 1919 wurde er als Novize eingekleidet, am 9. Mai 1920 legte er die Einfache Profess ab, die Feierliche am selben Tag 1923. Alle drei Ereignisse fanden in Münster statt. In Mainz wurde er am 28. März 1925 zum Priester geweiht. Er starb in Koblenz am 15. Januar 1954. Vgl. Archiv der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz 503. 64 P. Bonaventura Dickers wurde am 18. November 1908 in Mehr, Diözese Münster, geboren. In Krefeld wurde er am 7. April 1928 als Novize eingekleidet, die Einfache Profess
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Rom berufen. Zunächst Stellvertreter, war er von 1958 bis 1970 Generalarchivar. Ihm folgte Pater Eberhard Moßmaier65 als Provinzarchivar und -chronist nach. 1968–70 wird Pater Eberhard nur noch als Provinzarchivar be-
legte er am 9. April 1929 in Stühlingen ab, die Feierliche am 14. April 1932 in Münster. Die Priesterweihe erfolgte am 19. März 1934 ebenfalls in Münster. 1943 promovierte er in Rom. Seine Doktorarbeit über das Predigtwesen in der Kölnischen und Rheinischen Kapuzinerprovinz im 17. und 18. Jahrhundert (Bibliotheca Seraphico Capuccina. Sectio Historica Tom. VI), Rom 1945, wurde ein anerkannter Beitrag zur Geschichte der deutschen katholischen Predigt. Er starb am 13. Februar 1975 in Karlsruhe und wurde in Ottersweiher beerdigt. Vgl. Archiv der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz 649. 65 Vgl. dazu Archiv der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz 596. – Ausführlich hat sich mit Eberhard Moßmaier und seinem Amtsnachfolger Konradin Roth Pater Leonhard Lehmann OFMCap befasst: Leonhard Lehmann OFMCap, Nicht nur Provinzarchivare: Eberhard Moßmaier (1904–1993) und Konradin Roth (1919–1994). In: Collectanea Franciscana. Periodicum cura Instituti Historici Ordinis Fratrum Minorum Capuccinorum editum 69 (1999) S. 653–712. – Der nachfolgende Lebenslauf basiert auf den Angaben Lehmanns: P. Eberhard Moßmaier wurde am 16. Oktober 1904 im schwäbischen Münsingen geboren und Hermann getauft. 1919 bis 1923 besuchte er die Kloster- und Missionsschulen der Kapuziner in Bocholt und in Bensheim, wo er 1925 am Altsprachlichen Gymnasium sein Abitur ablegte. Danach entschied er sich für den geistlichen Beruf. Bei seinem Eintritt in das Noviziat der Kapuziner in Krefeld am 7. April 1925 erhielt er den Namen Eberhard. In Krefeld legte er am 25. April 1926 die Einfache Profess und in Münster am 15. April 1929 die Feierliche ab. An diesen beiden Orten studierte er Philosophie und Theologie und wurde am 28. März 1931 in Münster zum Priester geweiht. Von 1931 bis 1936 studierte er in Münster weiter Kirchengeschichte und promovierte über das alte, in der Säkularisation aufgehobene Kapuzinerkloster in Münster (Eberhard Moßmaier, Beiträge zur Geschichte des ehemaligen Kapuzinerklosters zu Münster i.W. (1615–1811), Paderborn 1937). Im Zweiten Weltkrieg war er in Deutschland und Russland als Sanitäter eingesetzt. Von Ostern 1957 bis 1970 fungierte er als Provinzarchivar in Koblenz-Ehrenbreitstein. Er schrieb Monographien zu einzelnen Klöstern und an der Provinzgeschichte. Außerdem arbeitete er an einem Verzeichnis der unzähligen Schriften des Kapuzinerpaters Martin Linius von Cochem (1634–1712), vollendet von seinem Nachfolger Konradin Roth. Moßmaier verfasste Rezensionen, kurze Artikel, 900 Leserbriefe, Stellungnahmen, viele Nachrufe auf verstorbene Mitbrüder (die er im Nachrichtenblatt der Provinz veröffentlichte) und lange Briefe. Besonders hervorgehoben von seinen Lebensbildern sei das über den jetzt seligen KZ-Häftling Pater Anicet Koplin OFMCap, vgl. Anm. 10. – Aufgrund seiner guten Beziehungen zu Christen in der DDR und jenseits des Eisernen Vorhangs erhielt er von der Generalkurie in Rom den Auftrag, die polnischen Kapuziner mit Medikamenten und Büchern zu unterstützen. Er baute eine „Buchbrücke“ nach Lettland, Litauen und Polen auf. Seine Hilfe für den Osten machte ihn selbst zu einem „Brückenbauer zwischen Ost und West“, wie er sein letztes Buch betitelte. Am 12. Dezember 1993 starb er in Bad Mergentheim, wo er auch beerdigt wurde.
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zeichnet. Von 1971 bis 1989 ist Pater Konradin Roth66 Provinzarchivar. Seit 1989 ist daneben Pater Anicet Flechtker67 in dieser Funktion tätig, ab 1992 alleine bis 2000. 2000 bis 2006 ist Bruder Gerhard Lenz68 zusammen mit Anicet Provinzarchivar. Ab 2007 bis zum Umzug nach München hat eine Niederländerin das neuere Archiv weiter verzeichnet. Sie arbeitete damals hauptberuflich für das Erfgoedcentrum Kloosterleven Sint Agatha,
Vgl. dazu Archiv der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz 829. – Der Lebenslauf folgt den Angaben von Lehmann (wie Anm. 65): P. Konradin Roth wurde in Kella (Kreis Heiligenstadt) am 10. September 1919 geboren und auf den Namen Ernst getauft. Sein Onkel, der Kapuziner war, riet ihm, von der Volksschule seiner Heimatstadt an die Klosterschule in Bocholt zu wechseln. Am 28. März 1938 wurde er in Stühlingen als Novize eingekleidet. Die Einfache Profess legte er am 29. März 1939 ab. Sein Studium am Klerikat Krefeld musste er wegen seiner Einberufung zur Wehrmacht unterbrechen. Er war Hauptgefreiter im Nachrichten-Regiment 618 für Marine-Nachrichten. Ende des Krieges geriet er in französische Gefangenschaft und wurde am 22. Januar 1948 entlassen. Konradin erneuerte seine Gelübde am 21. März 1948 in Münster, am 4. Oktober 1949 legte er die Feierliche Profess ab. Nach Vollendung seines Philosophie- und Theologiestudiums wurde er am 17. März 1951 zum Priester geweiht. Angesichts der politischen Umstände in der damaligen DDR konnte er keine Heimatprimiz feiern, so zelebrierte er Ostern in Göttingen 1951 das erste Mal, sein Onkel, Pater Jakobus Schneider (1883–1959), hielt ihm die Primizpredigt. 1956 erhielten die beiden ein Visum, um in Kella in der DDR die Messe zu feiern. 1964 bis zu seinem Tode am 14. November 1994 war er in KoblenzEhrenbreitstein stationiert. 15 Jahre lang, zuerst drei Jahre in Werne, dann in Koblenz, war er Hausoberer. Wenn er nicht Guardian war, war er als Vikar sein Vertreter. Zusätzlich war er zeitweise auch Ökonom, Missionsprokurator, Bibliothekar und Sekretär des Provinzials. Er war mehr der stille Arbeiter am Schreibtisch. Als Sekretär schrieb er die provinzinternen „Mitteilungen“ und erstellte den Status und den Katalog der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz. Er blieb ununterbrochen Archivar, bis er wegen Krankheit seinen geliebten Posten aufgeben musste. Er hatte nicht Geschichte studiert, sondern sich aus eigenem Antrieb zum Historiker entwickelt. Mit Akribie erstellte er Statistiken und Register. Jährlich ergänzte er die Einträge im Totenbuch. Wichtig war ihm die Beratung von Studenten, Doktoranden und Forschern. P. Konradin Roth verfasste im Laufe der Jahre historische Untersuchungen und Lebensbilder, ferner Bibliographien und Nachschlagewerke. Besonders zu nennen ist das Totenbuch der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz, KoblenzEhrenbreitstein 1976, als Manuskript gedruckt. 67 P. Anicet Flechtker wurde am 23. Juni 1922 in Münster, Diözese Münster, geboren. Sein Noviziat begann er am 10. Mai 1946 in Stühlingen, am 11. Mai 1947 legte er ebendort die Einfache Profess ab. In Münster fanden die Feierliche Profess am 11. Mai 1950 und die Priesterweihe am 6. August 1951 statt. Er war 31 Jahre Missionar in Sumatra (Indonesien). Anicet starb am 24. Dezember 2011 in Münster. Vgl. Archiv der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz 852 und Archiv der Deutschen Kapuzinerprovinz 8.1.9. 68 Bruder Gerhard wurde am 21. September 1954 in Heidelberg geboren und war von 2007 bis 2016 Missionsprokurator. 66
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dem Zentralarchiv für Schriftgut der Ordensgemeinschaften in den Niederlanden. 7. Erschließung, Benutzung Das Archiv der Bayerischen Provinz ist durch einen alphabetischen Kärtchenkatalog erschlossen. Dieser ist in sich sehr gut strukturiert und gegliedert. Die Karteikarten wurden in die Datenbank Faust Entry Archiv eingegeben. Für das neuere Rheinisch-Westfälische Archiv wurde ein Findbuch am PC erarbeitet. Die älteren Handschriften und Akten sind ebenfalls durch Findbücher erschlossen. Das Archiv der Deutschen Kapuzinerprovinz wird intensiv von einem breiten Forscherkreis genutzt. Besonders gefragt sind die Personalakten, die Akten der einzelnen Klöster und die Bestände zu den Missionsgebieten. Falls Aktenmaterial noch den Schutzfristen unterliegt, kann der amtierende Provinzialminister die Einsichtnahme gestatten. Eine Benutzungs- und Gebührenordnung gibt es (noch) nicht. Für die Benutzung vor Ort ist eine Voranmeldung erforderlich. 8 . Mi t t e i l u n g s b l ä t t e r d e r b e i d e n Pr ov i n z e n Sowohl die Bayerische wie auch die Rheinisch-Westfälische Provinz brachten im 20. Jahrhundert wichtige Mitteilungsblätter heraus. Diese sind im Archiv der Deutschen Kapuzinerprovinz einsehbar. Der „Altöttinger Provinzbote. Amts- und Nachrichtenblatt der bayerischen Kapuziner“ beginnt am 20. September 1920 mit Jahrgang 1 und endet im Jahre 1995 mit Jahrgang 69 unter der Bezeichnung „Provinzbote der Bayerischen Kapuziner“.69 Weitergeführt wurde er in den Rundschreiben der Provinz. Das Pendant zum Provinzboten heißt „Assisi-Glöcklein. Familiennachrichten der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz“. Es wurde zuerst während des Krieges 1914 bis 1918 von den Klerikern in Münster herausgegeben als Mitteilungsblatt für die Mitbrüder im Felde. Nach dem Krieg, ab November 1919 (Nr. 1), wurde es als Provinzblatt weitergeführt und seit 1926 vom Provinzialat zusammengestellt und gedruckt. Von 1963 bis zur Einstellung 1975 lautet der Titel „Familiennachrichten. Rheinisch-Westfälische Kapuzinerprovinz“. Daneben bzw. danach gibt es von 1972 bis 2010 Rundschreiben bzw. „Mitteilungen der 69
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Die genaue Bezeichnung variiert im Laufe der Jahre.
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Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz“. Die letzte Nummer erschien im Mai 2010, kurz vor der Vereinigung mit der Bayerischen Provinz am 25. Mai 2010. Die „Mitteilungen“ gingen von da an über in die „Provinznachrichten der Deutschen Kapuzinerprovinz“. In beiden Provinzen gab es eine Zeitschrift mit Namen „Kapuziner“. Die bayerische entstand im Jahre 1985 und erschien bis 2009, die rheinischwestfälische mit den Zusatz „Berichte, Ereignisse, Fakten“ kam von 1995 bis 2010 heraus. Seitdem wird dieser Jahresbericht von der Deutschen Kapuzinerprovinz herausgegeben. Von den deutschsprachigen Provinzen in der Schweiz, Österreich und Deutschland wurde das Organ „Kapuziner intern. Informationen der Arbeitsgemeinschaft Deutschsprachiger Kapuziner“ von 2005 bis 2013 herausgebracht. Weitere Informationen zum Orden und zur Ordensliteratur können abgerufen werden unter: http:// www.ofmcap.org http://www.kapuziner.de/ http://www.ibisweb.it/bcc/deu/default.htm
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Zusammenfassungen „Geheimniss mit schwerem Schloss und Riegel“? Skizzen zu einer Kulturgeschichte der Archive im Alten Reich Anett Lütteken Die institutionelle Geschichte von Archiven ist – häufig regional oder lokal ausgerichtet – längst intensiv erforscht worden. Einige Desiderate lassen sich gleichwohl dort ausmachen, wo Archivgeschichte als Teil einer umfassenderen Kulturgeschichte verstanden werden kann. Im Beitrag wird dementsprechend der Versuch unternommen, mögliche Anknüpfungspunkte exemplarisch zu analysieren, wobei insbesondere auch die Relevanz des Gedankenguts der Aufklärung für die Professionalisierung des Archivwesens betrachtet wird: Neben verschiedenen praktischen Einführungen (wie z. B. denjenigen von Karl von Eckartshausen, Philipp Wilhelm Ludwig Fladt oder Johann Georg Schelhorn) werden die heute weniger bekannten Arbeiten von Historikern des Alten Reichs (darunter Hiob Ludolf, Friedrich Lucae und Johann Christian Lünig) gewürdigt, die in ihren Kompendien u.a. die hilfswissenschaftlichen Grundlagen für die neuzeitliche Archivarbeit erarbeitet haben. Das besondere Augenmerk gilt schließlich institutionellen Vordenkern wie Jakob Wencker, Gottfried Wilhelm Leibniz und Ludovico Muratori, die punktuell synergetische Arbeitstechniken praktiziert und geeignete Organisationsformen systematisch reflektiert haben. In die Registratur oder ins Archiv? Zur Zusammenarbeit von altbayerischen Archiven und Registraturen zwischen 1500 und 1800 Elisabeth Weinberger Ausgehend vom Spätmittelalter, in dem Kanzleien, Registraturen und Archiv funktional und organisatorisch eng miteinander verbunden und keine selbständigen Einrichtungen waren, stellt der Beitrag die Trennung von Archiv und Registratur an der Wende zur Frühen Neuzeit dar. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die weitere Zusammenarbeit von Archiv und Registraturen vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts: In Folge der Behördenspezialisierung im Herzogtum Bayern entwickelten sich nach
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1550 eine Reihe von Fachbehörden, denen eigene Kanzleien und Registraturen unterstanden. Das Archiv selbst konzentrierte sich weiterhin auf Urkunden und beförderte damit die Entstehung eines Aktenarchivs. Vor allem letzteres stand in andauernder Konkurrenz zu den Registraturen, die ihrerseits den rechtlich relevanten Status eines Archivs anstrebten. Getrennt und doch ganz nah. Archiv und Registratur im Fürststift Kempten im 17. und 18. Jahrhundert Gerhard Immler Das Archiv und die gesamte Schriftgutverwaltung der um 744/752 gegründeten Benediktinerabtei und des von ihr beherrschten reichsunmittelbaren Fürstentums Kempten befand sich, mitbedingt durch Flüchtungen während des Dreißigjährigen Krieges, in der Mitte des 18. Jahrhunderts in einem chaotischen Zustand. Um dem abzuhelfen, wurde 1755 der Pflegsverwalter (leitender Beamter einer Unterbehörde der inneren und Justizverwaltung) Joseph Feigele zum „Archiv-Registrator“ ernannt. In etwa 25 Jahren ordnete er das gesamte Archiv neu und gliederte ihm sämtliche abgeschlossenen Unterlagen der Zentralbehörden sowie als besonders wertvoll erachtete Akten der Unterbehörden ein. Das Archiv avancierte dadurch zur Zentralstelle der gesamten Schriftgutverwaltung des Landes. Für diese schuf ein gedrucktes Mandat des Fürstabts Honorius vom 30. September 1769 feste Rechtsgrundlagen, die mit der darin verankerten Anbietungspflicht zehn Jahre nach Abschluss der Akten erstaunlich modern anmuten. In seiner in Personalunion wahrgenommenen Funktion als Direktor (Stellvertreter des Amtschefs) der Hofkammer (zentrale Finanzbehörde) sorgte Feigele dort dafür, dass die Amtsakten schon in der Registratur auf die Archivierung vorbereitet wurden. Im Zusammenhang mit der späteren Schaffung einer Art Zwischenarchiv könnte Feigele sich auch über das Problem der Archivwürdigkeit Gedanken gemacht haben, doch hat dieser in der praktischen Arbeit so fruchtbare Archivar außer dem von ihm angeregten Archivmandat von 1769 keine Schriften hinterlassen, in denen er sein Tun theoretisch reflektierte.
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Das Archiv des Hochstifts Bamberg. Bestände, Aufgaben und Verhältnis zu den Behördenregistraturen Klaus Rupprecht Das Archiv des Hochstifts Bamberg befand sich in der Neuen Residenz in Bamberg, dem Verwaltungszentrum des Hochstifts im 18. Jahrhundert. Es war räumlich eng verknüpft mit der Kanzlei und der weltlichen Regierung. Institutionell unterstand es der Regierung und spiegelte inhaltlich deren zentrale Aufgaben. Intern unterschied man zwischen dem „geheimen Archiv“ (Gewölbe A bis C) mit den kirchen- und staatsrechtlich relevanten Urkundenserien sowie den Konferenz- und Differenzakten zu den Territorialnachbarn, dem Adel, dem Domkapitel, den Klöstern und Stiften etc. und dem „gemeinen Archiv“ in den anschließenden Gewölben mit den Unterlagen, erwachsen aus der Ausübung von Gerichtsbarkeit, Herrschaftsrechten und „guter Policey“. Es war kein reines Urkundenarchiv, sondern umfasste in überwiegend thematischer Zuordnung alle Archivalientypen. Auch wenn grundsätzlich der Anspruch erhoben wurde, schaffte man es nicht, das Archiv als Institution für die rechtsrelevanten Unterlagen aller hochstiftischen Zentralbehörden zu etablieren. Vielmehr mussten sogar zentrale Korrespondenzserien zur Reichs- und Kreispolitik am Ende des 17. Jahrhunderts an die Geheime Kanzlei abgegeben werden. Wurden Verhandlungen in Streitfällen durch die Regierung oder interne Vorgänge abgeschlossen, kamen die zugehörigen Akten unmittelbar in das Archiv, so dass sich eine tatsächliche Trennlinie zwischen Archiv und Regierungsregistratur nicht ziehen lässt. Die klassischen Archivaufgaben wie Verzeichnen, Ordnen und sicheres Aufbewahren waren eingebunden in eine der Tagespolitik der Regierung dienende Funktion. Das Archiv war Informationsbeschaffer (z.T. auch Gutachter) für die Verwaltung in Streitsachen und Vorlagengeber für eigene Rechtssetzungen im Hochstift. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es zu einer deutlichen Institutionalisierung des Archivs als Behörde (mit mehr Personal hierarchisch gegliedert mit Aufgabenbeschreibungen, Gebührenordnungen, neuen internen Schriftgutgruppen), einer Professonialisierung und teilweisen Neuausrichtung archivarischer Tätigkeiten. Man machte sich Gedanken um eine Gesamtsystematik, kümmerte sich um verbesserte Aufbewahrungsbedingungen, legte Sammlungen von Mandaten und Verordnungen an und fertigte hochaufwändige historisch-diplomatische Werke. Zum Archivar als Hüter der materiellen Ordentlichkeit, als Garanten der inhaltlichen Benützbarkeit und als kun-
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digem Informationsbeschaffer für die Regierenden trat nun – im Hochstift Bamberg v.a. mit der Person des Wilhelm Johann Heyberger – das Leitbild des Archivarsgelehrten, der zum einen archivtheoretische Schriften verfasste und zum anderen Urkundenwerke mit unterschiedlichen Zielsetzungen herausgab. Mitteleuropäische Veröffentlichungen über Archive (1664–1804) im Kontext des ius archivi1 Joseph S. Freedman Der Beitrag beginnt mit einer kurzen Zusammenfassung des ius archiviKonzepts – wie von Rutger Ruland (1597, 1604, 1664, 1724) formuliert – und, wie in der Folge Juristen in fünf lateinischen Veröffentlichungen (1664, 1668, 1876, 1681, 1688) Gebrauch vom ius archivi-Konzept machten. Gemäß diesen sechs Veröffentlichungen können alle Dokumente, die in einem mit ius archivi versehenen Repositorium verwahrt werden, rechtliche Geltung beanspruchen, unabhängig von ihrem tatsächlichen Inhalt. Ruland sprach das ius archivi nur den Repositorien zu, die hochrangigen Reichsständen des Heiligen Römischen Reichs gehörten, die späteren fünf Publikationen erweiterten diese politische Gruppe. Davon unterscheidet sich deutlich die Behandlung von Archiven in einem Werk zur Rechtspraxis von Johann Stephan Pütter (deutschsprachig, 1753, 1758, 1765, 1780, 1789, 1802), sowie in sieben archivarischen Abhandlungen – alle auf deutsch und von Archivaren verfasst – von 1777, 1783, 1786, 1799, 1800, 1800 und 1804. In Mitteleuropa stehen die verschiedenen Beschäftigungen mit dem ius archivi, hauptsächlich vom Standpunkt der Diplomatik aus, diesem im Lauf des 18. Jahrhunderts tendentiell immer kritischer gegenüber. Solche Kritiken finden sich weder im Traktat von Pütter noch in diesen deutschsprachigen archivarischen Veröffentlichungen (1777–1804). Stattdessen haben die Autoren Fragen des ius archivi anscheinend vermieden und sich vor allem auf die Archivbestände konzentriert. Die erwähnten, zwischen 1664 und 1804 veröffentlichten Beiträge behandeln alle den Konnex zwischen Archiven und Registraturen, mit der Ausnahme von Karl von Eckhartshausen (1786). Der Beitrag nimmt auch Abhandlungen über Registraturen (und darin enthaltene Einlassungen zu Archiven) von Jacob von Rammingen (1571), 1
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Die deutsche Übersetzung für diesen Text hat Julian Holzapfl, München, erstellt.
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Georg Aebbtlin (1669, 1728) und Philipp Wilhelm Ludwig Fladt (1764, 1765) in den Blick. Deutliche Unterschiede innerhalb der sieben archivarischen Abhandlungen (1777–1804) sind in folgenden Fachfragen festzustellen: [1] Angemessene Schwerpunkte der Beständebildung (vor allem bezüglich neuerer oder älterer Unterlagen), und [2] die angemessene Entlohnung, die Funktion und der Status des Archivars. Diese Unterschiede fallen damit zusammen, dass sich die Autoren überwiegend vom ius archivi abwandten, das in den Abhandlungen des 17. Jahrhunderts (1664–1688) noch den einheitlichen Rahmen gebildet hatte. Dies lässt sich jedoch auch so deuten, dass sich der Beruf des Archivars in Mitteleuropa spätestens mit der Archivabhandlung von Philipp Ernst Spiess von 1777 herausgebildet hatte. Das wiederum brachte mit sich, dass es von da an hauptsächliche Archivare (und nicht Juristen) waren, die zu archivischen Fragen publizierten. Hatten die Hansestädte im 16. und 17. Jahrhundert individuell das Ius Archivi inne? Zur Edition von Urkunden in einem Prozess zwischen dem Grafen zu Holstein-Pinneberg und der Hansestadt Hamburg vor dem Reichskammergericht Udo Schäfer Seit dem 14. Jahrhundert führte die sich entwickelnde kommunale Schriftlichkeit in Deutschland zur Einrichtung kommunaler Archive. So verfügten die Hansestädte Lübeck, Hamburg und Bremen schon seit dem 13. Jahrhundert über ein als „trese“ bezeichnetes Urkundendepot. Das Ius Archivi im aktiven Sinne – die Kompetenz, ein öffentliches Archiv einzurichten und zu unterhalten – und das Ius Archivi im passiven Sinne – die Befugnis, schriftlichen Aufzeichungen durch die Verwahrung in einem öffentlichen Archiv Authentizität zu vermitteln – stand in der juristischen Theorie des 16. und 17. Jahrhunderts auch den reichsunmittelbaren Hansestädten wie Lübeck sowie den als „civitates mixtae“ anerkannten reichsmittelbaren Hansestädten wie Hamburg und Bremen zu. Die bloße Mitgliedschaft in der Hanse, die als Interessengemeinschaft oder Interessenvertretung kaum mit den begrifflichen Apparaten des „ius commune“ und des „ius publicum“ zu erfassen war, vermochte das Ius Archivi nicht zu begründen. Auf Grund der Verdichtung des Reiches und der Ausbildung der Territorialstaaten bedurften selbst die Hansestädte Lübeck, Hamburg und Bremen ihrer Archive, um sich publizistisch und juristisch gegen poli-
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tische und rechtliche Ansprüche benachbarter Landesherrschaften zu verteidigen. Allerdings zeigt der Prozess zwischen dem Grafen zu HolsteinPinneberg und der Hansestadt Hamburg, der in den Jahren 1561 bis 1609 vor dem Reichskammergericht über die Auslösung der hamburgischen Pfandschaft an der Marschlandschaft Billwerder geführt wurde, dass das Ius Archivi in der gerichtlichen Praxis eher den Landesherrschaften als den Hansestädten juristische Vorteile bot. Das ius archivi – Wunschtraum und Wirklichkeit im Leben eines Registrators/Archivars in der Zeit um 1800 Joachim Wild Das ius archivi ist eigentlich bevorzugt nur theoretisch bzw. juristisch behandelt worden, während seine möglichen praktischen Auswirkungen im Berufsleben eines Registrators bzw. Archivars kaum in den Blick genommen worden sind. Genau diese praktischen Auswirkungen möchte dieser Beitrag untersuchen, indem er die berufliche Karriere einer in der bayerischen Archivgeschichte recht bedeutenden Persönlichkeit, nämlich Franz Joseph (von) Samet, verfolgt. Samet begann 1786 als Registraturleiter der kurbayerischen Hofkammer in München, wobei ihm aber das ius archivi für die Hofkammerregistratur trotz seiner steten Bemühungen verwehrt blieb. Als Samet 1799 zum Direktor des damals neu geschaffenen Geheimen Landesarchivs aufstieg, war ihm das so lange erstrebte ius archivi sozusagen über Nacht in den Schoß gefallen. Aber lediglich in seiner Beteiligung an den Urkundeneditionen der Monumenta Boica, herausgegeben durch die Bayerische Akademie der Wissenschaften, konnte er seine Stellung als Leiter des Geheimen Landesarchivs einbringen und für die Glaubwürdigkeit der in der Edition dargebotenen Urkunden garantieren, wobei seine Garantie eigentlich nur die korrekte Abschrift vom Original abdeckte. In weiterem Sinne trug das ius archivi zu seinem gesteigerten Ansehen bei, das z.B. in seiner Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften zum Ausdruck kam.
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Geschichtsschreibung, Staatsrecht und Archivtheorie in den Territorien der pfälzischen Wittelsbacher (mit besonderer Berücksichtigung der pfalz-zweibrückischen Archivare Johann Heinrich und Georg August Bachmann) Paul Warmbrunn Ausgangspunkt des Beitrags ist das sich seit dem Spätmittelalter aus den Kanzleien und „Briefgewölben“ in den Residenzstädten entwickelnde Archivwesen der pfälzischen Wittelsbacher, wobei das „Kur-Archiv“ der rheinischen Pfalzgrafschaft bzw. der Kurpfalz zuerst in Heidelberg, dann in Mannheim und das Archiv der Herzöge von Pfalz-Zweibrücken, das bereits 1747 einen der ersten Archivzweckbauten überhaupt erhielt, im Mittelpunkt stehen. Am Beispiel der Zweibrücker Archivare Johann Heinrich Bachmann (1719–1786) und Georg August Bachmann (1760– 1818), dessen Sohn, wird aufgezeigt, dass deren noch dem Leitbild des Juristen-Archivars des Alten Reiches verpflichtete archivarische Arbeit, die auch im Bayerischen Hauptstaatsarchiv deutlich erkennbar ist, ganz auf die rechtliche Berater- und Gutachtertätigkeit ausgerichtet war. Hand in Hand damit ging eine Geschichtsschreibung, die dem Staatsrecht untergeordnet war und in erster Linie dem Beweis und der Sicherung von Rechtsansprüchen der herrschenden Dynastie diente. Auch wenn sich Georg August, der letzte Archivar des Fürstentums, bereits mit den durch die Französische Revolution hervorgerufenen Umwälzungen konfrontiert sah und sich dabei große Verdienste um die Rettung und Erhaltung der pfalz-zweibrückischen Archive erwarb, hat er diese Sicht und Berufsauffassung 1800, also kurz vor dem endgültigen Untergang der alten Ordnung, in seiner Schrift „Ueber Archive“ in Auseinandersetzung mit wichtigen anderen Archivtheoretikern seiner Zeit noch einmal zusammengefasst. Hierbei plädierte er für eine Ordnung, die sich an den staatsrechtlichen Verhältnissen des betreffenden Landes – und nicht an den Archivalien selbst – orientieren müsse. Er hat damit einen eigenständigen und bei aller Zeitgebundenheit wichtigen Beitrag zur Archivtheorie und -wissenschaft erbracht, der insbesondere auch die Entwicklung in den bayerischen Archiven beeinflusste.
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Das Geheime Archiv des Fürstentums Brandenburg-Ansbach und seine Blüte im 18. Jahrhundert Daniel Burger Die Überlieferung des Fürstentums Brandenburg-Ansbach wird heute im Staatsarchiv Nürnberg, dem für den bayerischen Regierungsbezirk Mittelfranken zuständigen staatlichen Archiv, verwahrt. Sie gliedert sich in zwei große Blöcke: Zum einen das Geheime Archiv (das herrschaftliche Zentralarchiv in der Residenzstadt Ansbach) und die verschiedenen Behördenregistraturen. Letztere müssen aus jüngeren Behördenabgaben des 19. und und sogar des 20. Jahrhunderts im Staatsarchiv rekonstruiert werden. Die Bestände des Geheimen Archivs sind, nach teilweiser Zerstreuung im 19. Jahrhundert, inzwischen alle im Staatsarchiv Nürnberg versammelt. Die Rekonstruktion ist weit fortgeschritten, da vorzügliche historische Findbücher als Arbeitsbasis herangezogen werden können. Nach einem Schlossbrand im Jahre 1710 wurde das Geheime Archiv in den sogenannten Kanzleibau verlegt, in unmittelbare Nachbarschaft zu den wichtigsten Zentralbehörden. Das Archiv erlebte einen enormen Aufschwung, als es unter Markgraf Carl Wilhelm Friedrich (geb. 1712, reg. 1729–1757) mit neuem Personal ausgestattet wurde; besonders bedeutsam waren die Archivare Carl Ferdinand Jung (1699–1772), Johann Sigmund Strebel (1700–1764) und Gottfried Stieber (1709–1785). Sie erstellten ein Konzept zur Gliederung und Verzeichnung der Archivbestände und setzten dies in einer bewundernswerten Arbeitsleistung um. Mittels einer großen Einzugsaktion 1733/34 wurden die wichtigsten Unterlagen der Unterbehörden archiviert und erschlossen. Das Archiv wirkte auch an der Verbesserung der Schriftgutverwaltung der Behörden mit. Eine außergewöhnliche Leistung war der gedruckte Einheits-Registraturplan für die markgräflichen Ämter aus dem Jahre 1738, zumal dieser nicht Theorie blieb, sondern – unter der Mithilfe des Archivs – in den Unterbehörden umgesetzt wurde. Hier gründete sich eine hervorragende Aktenführung, auf der nach dem Übergang des Fürstentums Ansbach an das Königreich Preußen die neuen Behörden bestens aufbauen konnten. Die Ansbacher Archivare waren auch wissenschaftlich tätig, aber ihre Arbeiten bewegten sich im zeitgenössisch üblichen, bestanden weitgehend aus diplomatischhistorischen, genealogischen und historisch-topographischen Arbeiten. Ihr Verdienst liegt vor allem in der gründlichen Ordnung und Erschließung der von ihnen betreuten Bestände.
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Die Erfindung der Akte in der ostpreußischen Landesverwaltung Denny Becker Im Mittelalter bestand Schriftgutverwaltung im Wesentlichen auf der Ausstellung und Aufbewahrung von Urkunden sowie der Führung von Amtsbüchern. Durch die Ausdehnung von Verwaltungsaufgaben in der Frühen Neuzeit explodierte die Schriftgutproduktion. Die tradierten Ablagestrukturen brachen zusammen. In mehreren Phasen entwickelte sich aus den vorhandenen Ablageformen die Aktenführung. Die klassischen Amtsbücher der Altpreußischen Landesregierung in Königsberg beinhalteten in der Regel Abschriften von Dokumenten. Zunächst ging die Geheime Kanzlei im 16. und 17. Jahrhundert dazu über, die Dokumente nicht mehr abzuschreiben, sondern die Schriftstücke in die vorhandenen Serien der Amtsbücher getrennt nach Einlauf oder Ausgang einzubinden oder nach einer Systematik, zumeist nach Korrespondenzpartnern, lose in Schränken und Schubläden abzulegen. In der nächsten Entwicklungsstufe entstand die Vorgangsbildung. Zu einem Vorgang gehörende Dokumente wurden in Amtsbücher zusammengebunden. Damit war im 17. Jahrhundert der Grundstein der Aktenführung gelegt, auch wenn die Buchbindung durch die Aktenheftung erst nach und nach verdrängt wurde. Im 18. Jahrhundert wurde schließlich ein Aktenplan eingeführt, nach dessen Ordnungsrahmen die Dokumente aktenmäßig abgelegt wurden. Die Amtsbuchführung blieb zumeist in Form von Registern oder als Memorialschreibwerk weiterhin bestehen. Brandenburg-Preußen war ein zusammengesetzter Territorialstaat mit unterschiedlichen landständischen Traditionen. Über einen längeren Zeitraum bildete sich daraus ein behördlicher Zentralstaat der Hohenzollernmonarchie heraus. Königberg war in der Frühen Neuzeit das landesherrliche und landständische Verwaltungszentrum eines Fürstentums. Das Schloss fungierte als archaischer Verwaltungsorganismus bestehend aus Ratsstube, Kanzlei, Kammern und Gerichten. Im Zuge der Zentralisierungen im 18. Jahrhundert und der Ausprägung der Residenzlandschaft in Berlin-Potsdam erfolgten behördliche Umstrukturierungen und Kompetenzverschiebungen. Nach den Stein-Hardenbergschen Reformen wurde Königsberg Hauptstadt der Provinz Ostpreußen. Die frühneuzeitlichen Behörden wurden abgewickelt und das Geheime Archiv im Königsberger Schloss zum Provinzialarchiv. Archivare im 19. Jahrhundert versuchten, die Unterlagen im Geheimen Archiv nach ihren archivtheoretischen Vorstellungen zu erschließen. Das
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Verständnis für die Überlieferungsgeschichte fehlte ihnen allerdings oder wurde missachtet. Unterlagen wurden aus den Entstehungskontexten gelöst und daraus unechte Provenienz- und Pertinenzbestände gebildet. Das durch die preußische Archivverwaltung 1881 eingeführte Provenienzprinzip wurde überinterpretiert. Durch die archivischen Erschließungsarbeiten war die Überlieferung der vormodernen Altpreußischen Landesregierung bis zur Unkenntlichkeit zersplittert worden. Mit neuen Erschließungsmethoden wird es eine Aufgabe der jetzigen Archivarsgeneration sein müssen, aus den zersplitterten Bestandteilen eine authentische und integre Bestandsrekonstruktion durchzuführen und die ostpreußische Landesregierung in ihrer Ganzheit als oberste Landesbehörde sichtbar und nutzbar zu machen. Max Lehmann und das Archiv der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen Holger Berwinkel Max Lehmann (1845–1929) hatte am Preußischen Geheimen Staatsarchiv maßgeblich das Provenienzprinzip begründet, bevor er in das akademische Lehramt wechselte. Der Beitrag beleuchtet sein späteres archivisches Wirken als Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen, deren Archiv und Registratur er 1906 nach modernen Prinzipien reformierte und auf die historische Benutzbarkeit ausrichtete. Im Spiegel dieser Reform werden Eigenheiten der Aktenführung des Registraturbildner-Typs „Fakultät“ sichtbar. Lehmann wirkte dabei mit seinen Professorenkollegen Karl Brandi und Edward Schröder zusammen. Die Göttinger Archivgründung kann in dieser personellen Konstellation zur Wirkungsgeschichte der ersten Marburger Archivschule gerechnet werden. Im Anhang wird die von Lehmann ausgearbeitete Archivordnung der Fakultät veröffentlicht.
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Pergamenturkunden des Stadtarchivs von Reval/Tallinn. Erinnerungen an eine unvollendete archivarische Arbeit und einige biographische Bemerkungen Ludwig Biewer Das Stadtarchiv von Reval/Tallinn, seit 1918 Hauptstadt der Republik Estland, gehört zu den wertvollsten Archiven des Ostseeraumes. Es birgt nicht nur die wichtigsten Quellen zur Geschichte jener Stadt, sondern auch zur Geschichte des gesamten Ostseeraums, Skandinaviens, der Hanse, Alt-Livlands, Estlands und seiner Nachbarn, also Ostmitteleuropas. Im 19. und 20. Jahrhundert mussten seine Bestände kriegsbedingt wiederholt geflüchtet werden. Als Folge der Auslagerung 1944 kamen etwa zwei Drittel seiner Bestände in die spätere Bundesrepublik in die treuhänderische Verwahrung des Bundesarchivs. Nach schwierigen Verhandlungen mit der Sowjetunion 1986/87 kehrten sie im Oktober 1990 in die Obhut des Stadtarchivs Reval/Tallinn zurück. Das gilt auch für den chronologisch geordneten und aufgestellten Urkundenbestand, der lange verschollen und erst 1882 bei Umbauarbeiten des gotischen Rathauses wiederentdeckt worden war. Infolgedessen betraute die Stadt seit 1883 hauptamtliche wissenschaftliche Archivare mit der Archivleitung. Deren zügig erarbeitete, gedruckte Beständeübersichten (1896, 2. Aufl. 1924/26) enthielten auch knappe Urkundenregesten. Paul Johansen, der seit 1924 im Stadtarchiv arbeitete und es 1934 bis 1939 leitete, regestierte die Urkunden von 1233 bis 1375. Weitere Erschließungsarbeiten nach 1945 verliefen schleppend. Daher wurden die Revaler Urkunden 1979 vom Bundesarchiv an das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem ausgeliehen zur Überarbeitung der vorliegenden Regestierung bzw. einer Neuregestierung. Diese Aufgabe wurde im April 1979 dem Verfasser übertragen, der zunächst die ca. 860 Pergamenturkunden von 1376 bis 1796 regestieren, also die Arbeit von Paul Johansen vollenden sollte. Einen ersten Durchgang seiner Arbeit konnte der Verfasser Ende 1981 abschließen. Eine weitere Beschäftigung mit diesen Urkunden wurde ihm nicht mehr ermöglicht, auch die vorgesehene Drucklegung der Regesten wurde nicht realisiert. Nach einer Dienstreise nach Tallinn – der Verfasser war seit 1987 am Politischen Archiv des Auswärtigen Amts tätig – mit einem Aufenthalt im dortigen Stadtarchiv im Februar 2007 übergab Verfasser die bei ihm verbliebenen Regesten an die Kolleginnen und Kollegen des Stadtarchivs Tallinn. Sie stellten in der Folge seine Arbeit als Kopfregesten und gleichsam als Überschriften über
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die inzwischen digitalisierten Revaler Urkunden ins Netz, wo sie von jedermann jederzeit abgerufen und eingesehen werden können. Jetzt sind auch die nötigen Korrekturen und Ergänzungen der Regesten möglich, die schrittweise erfolgen. Auf diese Weise kann die Arbeit aus den Jahren 1979 bis 1981 doch noch erfolgreich und gewinnbringend abgeschlossen werden. „Organisches Wachstum“ und Provenienzprinzip. Grundlage oder Altlast der Archivwissenschaft? Philip Haas Die Übernahme amtlichen Archivguts nach dem Provenienzprinzip unter Wahrung des Entstehungszusammenhangs gilt als wichtiges Grundprinzip der Archivistik und unterscheidet dem eigenen Selbstverständnis nach das öffentliche Archiv von sammelnden Institutionen. Für die automatische Genese des amtlichen Schriftgutes innerhalb der Behördenregistratur wurde das Diktum vom „organischen Wachstum“ geprägt, das – etwa in Gestalt des „Archivkörpers“ – im Archiv abzubilden und zu bewahren sei. Organische Semantik bildet einen wirkmächtigen Diskurs, der sich geradezu leitmotivisch durch die Klassiker der Fachdebatte zieht und bis zur Gegenwart die Archivistik latent prägt. Insbesondere Reflexionen zum Provenienzprinzip sind vom Organischen regelrecht imprägniert. Der vorliegende Beitrag geht den organischen Konzepten und Semantiken im Kontext des Provenienzprinzips nach. Eine historische Betrachtung vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, von Frankreich über die Niederlande, Preußen bis in die BRD und DDR, untersucht die verschiedenen Ausgestaltungen des Provenienzprinzips und ihren Bezug zum Organischen. Auf dieser Grundlage lassen sich anschließend Schlussfolgerungen für die gegenwärtige Archivistik ziehen. An der Schwelle zur Institutionenbildung. Ein mittelalterlicher Archivbehelf im bischöflichen Archiv zu Freising Adelheid Krah Die Studie behandelt einen der ältesten überlieferten Archivbehelfe, seine Anlage unter den Freisinger Bischöfen Egilbert (1005–1039) und Ellenhard (1052–1078) und seine Benützung bei der Herstellung von
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Freisinger Amtsbüchern des 12. und 13. Jahrhunderts. Das brauchbare, in zweifacher Überlieferung erhaltene Hilfsmittel diente nicht nur der Sortierung der Archivalien im bischöflichen Archiv, sondern es wurden in diesem Schriftstück gezielt die Privilegien des Freisinger Fernbesitzes den Freisinger Bischöfen von Corbinian bis Ellenhard und ihren Amtszeiten zugeordnet. In einer breiten Analyse kann nachgewiesen werden, dass Conradus Sacrista diesen Archivbehelf bei der Anlage seines monumentalen Freisinger Amtsbuches von 1187 benutzt hat und einzelne Passagen daraus am Ende der kopierten Privilegien des Freisinger Fernbesitzes als seine Fundstellen in Form von Quellenzitaten in scholastischer Manier angegeben hat. Das Amtsbuch des Freisinger Fernbesitzes aus dem 13. Jahrhundert hat diesen Archivbehelf ebenfalls zur Auffindung der auch hier kopial überlieferten Dokumente benutzt. Jedoch folgt es deren chronologischer Reihung nur gelegentlich und nahm vielmehr eine eigene Sortierung der Dokumente nach Prioritäten vor, entsprechend den damals aktuellen wirtschaftlichen Interessen des Bistums. Der Text des Archivbehelfs wurde auf unbeschriebenem Leerraum im Kontext zum Prolog des Cozroh-Codex eingetragen, wobei für ergänzende Einträge bei den frühen Freisinger Bischöfen vorsorglich freier Platz gelassen wurde. In dieser Form ist der Archivbehelf als Duplikat am Ende eines kleinformatigen Freisinger Rituale des 11. Jahrhunderts überliefert. Es kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei den Eintragungen im Cozroh-Codex um das Original des Archivbehelfs handelt, welches in Zweitausfertigung dem Benutzer der liturgischen Handschrift greifbar sein sollte. Dies lässt den Schluss zu, dass unter den Bischöfen Egilbert und Ellenhard im 11. Jahrhundert die Dokumente des Freisinger Fernbesitzes systematisch erfasst wurden, der bekanntlich damals unter den Salierkönigen und -kaisern enorm vergrößert worden war. Conradus Sacrista benutzte später diesen Archivbehelf. Die durch die Analyse der Quellenzusammenhänge in der vorliegenden Studie transparent gewordene Verwaltungstätigkeit des bischöflichen Archivs in Freising im 11. und 12. Jahrhundert war die Basis für die Institutionenbildung der Freisinger Ämter als an den Bischofssitz gebundene Verwaltungszentren des Fernbesitzes über viele folgende Jahrhunderte.
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Die Geschichte der archivarischen Ausbildung in Deutschland bis 1949/50. Ein Überblick aus Anlass des 200-jährigen Bestehens archivarischer Schulen in Europa Clemens Regenbogen Im Februar 1821, vor nunmehr 200 Jahren, wurden zeitgleich, jedoch unabhängig voneinander mit dem „Archivalischen Unterrichtsinstitut“ in München und der „École des chartes“ in Paris erstmalig archivarische Ausbildungsstätten ins Leben gerufen. Während die Bayerische Archivschule bis heute eine konstante Größe in der Fachwelt ist, erweist sich die Geschichte vergleichbarer Einrichtungen in den anderen deutschen Staaten, namentlich in Preußen, als ausgesprochen wendungsreich. Nach einleitenden Ausführungen zur Ausbildungssituation von Archivaren in der Frühen Neuzeit zeichnet der Beitrag ein institutionengeschichtliches Panorama bis 1949/50, als mit der deutschen Teilung aus dem „preußischen Erbe“ zwei getrennte Archivschulen in Marburg und Potsdam entstanden. Dabei wird deutlich, wie sehr die Gründung von Archivschulen auf die Initiative von Einzelpersönlichkeiten wie Theodor von Sickel, Paul Fridolin Kehr und Albert Brackmann zurückzuführen ist. Als Mediävisten und Hilfswissenschaftler hoben sie die österreichisch-preußisch-deutsche Archivarsausbildung schrittweise aus der Taufe – in erster Linie gleichwohl als Nebenprodukt eigener wissenschaftlicher Institutsambitionen. Sowohl eine Analyse der Lehrpläne als auch eine Soziologie der Archivschülerinnen und Archivschüler veranschaulichen, in welch hohem Maße die Archivarsausbildung während des gesamten betrachteten Zeitraums in den Kontext der Historischen Hilfswissenschaften eingebettet war. Adelige Archivpraxis in der Weimarer Republik im Spannungsfeld von staatlicher Zentralisierung und regionaler Innovation. Das Beispiel der „Vereinigten Westfälischen Adelsarchive“ Tom Tölle Mit der Zäsur 1918/1919 verlor der Adel in Deutschland seine wichtigsten Standesvorrechte. Zugleich erlebte das nichtstaatliche Archivwesen eine seiner Innovationsphasen. Der vorliegende Beitrag verbindet diese beiden Prozesse miteinander: Er zeigt anhand eines regionalen Beispiels, der Gründung des Vereins „Vereinigte Westfälische Adelsarchive“, wie Autodidakten und Laienarchivare politische Debatten um adeligen Statusverlust
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dazu benutzten, Archivinnovation voranzutreiben. Anhand des zentralen Funktionärs dieses Vereins, des Weltkriegsveteranen, Historikers, Laienarchivars und späteren Reichsrundfunkintendanten Heinrich Glasmeier (*1892, † 1945), untersucht der Beitrag die ambitionierte und innovative Programmatik des Vereins „Vereinigte Westfälische Adelsarchive“, die intellektuellen und politischen Kontexte des Vereins sowie die konkreten Praktiken archivwissenschaftlicher Außenseiter. Glasmeier öffnete lokale Archivpraktiken für die kontroversen politischen Debatten seiner Zeit über die Rolle von Volk, Kulturraum und Rasse, um seine nichtstaatlichen Archivpläne zu legitimieren. Dabei gelang es ihm, ein regionales und völkisches Geschichtsbewusstsein gegen zentralisierende Bestrebungen im staatlichen Archivwesen zu mobilisieren. Für die „Vereinigten Westfälischen Adelsarchive“ propagierte er zunehmend eine archivtheoretisch aufgeladene Beförderung eines völkischen Partikularismus. Das Archiv der Deutschen Kapuzinerprovinz Carolin Weichselgartner Der Kapuzinerorden entstand 1525 in Italien als Reformzweig des Franziskusordens. Im Wesentlichen entwickelten sich in Deutschland zwei Provinzen, die Rheinisch-Westfälische und die Bayerische. Aus Mangel an Nachwuchs fusionierten sie 2010 zur Deutschen Kapuzinerprovinz mit Sitz in München-St. Anton. Das Archiv ist seit 2013 im Kloster St. Magdalena in Altötting untergebracht. Ausgehend von der Geschichte der beiden ehemaligen Provinzen befasst sich der Beitrag mit den Konsequenzen der Vereinigung für die Archive, mit der rechtlichen Einbindung des Provinzarchivs, mit den Beständen und mit den Archivaren. Daneben werden die Erschließung und Nutzung sowie die Betreuung heute besprochen. Bei den Archivbenutzerinnen und -benutzern sind die Personalakten, die Akten der einzelnen Klöster und die Bestände zu den Missionsgebieten besonders gefragt.
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Summaries1 „Secret with lock and key”? Sketches on a cultural history of archives in the Holy Roman Empire Anett Lütteken For a long time, the institutional history of archives has been the subject of intense research – in many cases with regional or local focus. Still, some desiderata remain when it comes to understanding archival history as part of a more global cultural history. The article thus attempts to analyse possible points of connection, while focusing especially on the relevance of Enlightenment thinking for the professionalisation of archive management: Alongside various practical introductions (as for example those by Karl von Eckartshausen, Philipp Wilhelm Ludwig Fladt or Johann Georg Schelhorn) it acknowledges the less known works by contemporary historians (among them Hiob Ludolf, Friedrich Lucae and Johann Christian Lünig), who amongst other things established the auxiliary sciences as basis for modern archival work. Finally, it directs special attention to institutional visionaries like Jakob Wencker, Gottfried Wilhelm Leibniz and Ludovico Muratori, who selectively employed synergetic working methods and systematically reflected on suitable forms of organisation. Into the registry or into the archive? On the cooperation of Bavarian archives and registries between 1500 and 1800 Elisabeth Weinberger Starting from the Late Middle Ages, when chancery, registry and archive were closely interconnected, both by function and by organisation, and did not constitute separate entities, this article analyses the separation of archive and registry at the turn to the Early Modern Period. Its main focus is on the continuing cooperation between archive and registries from the 16th to the end of the 18th century: Due to administrative specialisation in 1 Die Zusammenfassungen wurden von folgenden Personen übersetzt: Burger vom Autor selbst. – Berwinkel, Immler, Lütteken, Rupprecht, Weinberger, Wild von Hannah Hien, Würzburg. – Becker, Biewer, Haas, Krah, Regenbogen, Schäfer, Tölle, Warmbrunn, Weichselgartner von Julian Holzapfl, München.
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the Duchy of Bavaria, several specialised authorities were established, with their own subordinate chanceries and registries. The archive itself kept its focus on charters and, thus, promoted the emergence of a separate archive for files. Especially the latter continuously competed with the registries, which themselves aspired to the legally relevant status of an archive. Separate yet close. Archive and registry in the Abbey-Principality of Kempten in the 17th and 18th century Gerhard Immler In the 18th century, the archive and the whole records management of the Benedictine abbey of Kempten (founded around 744/52) and the immediate ecclesiastical principality of Kempten were in a chaotic state, partly due to evacuations during the Thirty Years’ War. Therefore, in 1755 the Pflegsverwalter (chief officer of a subordinate administrative and legal district office) Joseph Feigele was appointed „Archiv-Registrator” (records manager for the archive). Within approximately 25 years, he reorganised the archive and integrated all non-current records from the central administrative and legal offices as well as files from subordinate offices considered as extremely valuable. As a result, the archive became the centre of records management for the whole principality. A mandate issued by prince-abbot Honorius on September 30, 1769, established a sound legal basis for his work – surprisingly modern with mandatory disposal ten years after the closure of the records. Also acting as director (deputy head of office) of the Chamberlain’s Office (Hofkammer), Feigele took care that the records were prepared for archiving already in the registry. In light of his later establishment of a kind of interim archive (Zwischenarchiv), it is possible that Feigele might also have given some thoughts to the concept of archival value. Unfortunately, however, this archivist, who was so productive in his practical work, did not leave any theoretical reflections apart from his influence on the mandate from 1769.
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The archive of the Prince-Bishopric of Bamberg. Holdings, responsibilities and its relationship to the registries Klaus Rupprecht The archive of the Prince-Bishopric of Bamberg was located in the New Residence in Bamberg, the administrative centre of the ecclesiastical principality in the 18th century. Geographically, it was closely linked to the chancery and the Weltliche Regierung (18th century name for the court council (Hofrat)). Institutionally, it was subordinate to the Weltliche Regierung and its holdings thus mirror the central administrative functions of this office. The contemporaries differentiated between the Geheimes Archiv (Secret Archive) and the Gemeines Archiv (Common Archive). The Geheimes Archiv was located in vaults A to C and contained different series of charters with canonical and constitutional relevance as well as records about conferences and differences with territorial neighbours, the local nobility, the cathedral chapter, the monasteries and collegiate churches etc. The Gemeines Archiv (Common Archive) comprised all subsequent vaults and contained records that emerged from the exertion of jurisdiction, territorial rule (Herrschaftsrechte) and Gute Policey. It did not only hold charters, but incorporated all types of archival documents selected primarily for thematic reasons. Despite the claim, the archive could not be established as institution for the legally relevant records from all central offices in the Prince-Bishopric. In the 17th century, it even had to hand over central series of correspondence about matters concerning the relationship to the Empire and the Franconian Circle (Fränkischer Reichskreis) to the Secret Chancery (Geheime Kanzlei). Whenever the Weltliche Regierung concluded negotiations in conflict matters or internal administrative proceedings, the records were transferred directly to the archive. As a result, a clear separation between archive and registry is not possible. The classic archivists’ duties such as description, arrangement and preservation were integrated into serving the daily politics of the Weltliche Regierung. The archive provided information (sometimes also expert opinion) for the administrative offices in conflict matters and drafts for the Prince-Bishopric’s legislation. The second half of the 18th century saw a significant institutionalisation of the archive as administrative unit (with more personnel, structured hierarchically with task descriptions, fee schedules and new internal types of records), a professionalisation and a partial reorganisation of archivists’ duties. This process involved reflections about the overall classification system, improved conditions for preservation, the
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systematic collection of mandates and decrees and elaborate studies on history and diplomatics. The archivist as guardian of material orderliness, as guarantor of recourse to the records’ contents and expert provider of information for the rulers was met by the archivist as scholar, who wrote essays on archival theory and published diplomatic editions. In the PrinceBishopric of Bamberg, this type was mainly represented in the person of Wilhelm Johann Heyberger. Central European Publications on the Subject-Matter of Archives (1664–1804) in the Context of Ius Archivi2 Joseph S. Freedman This contribution begins with a brief summary of ius archivi (the right to establish and maintain an archive) as formulated by Rutger Ruland (1597, 1604, 1664, 1724) and how the ius archivi concept was subsequently utilized in five Latin-language legal publications (1664, 1668, 1676, 1681, 1688) on archives authored by jurists. According to these six publications, all documents kept within a repository with ius archivi have or can have legal validity without respect to the actual contents of those same documents. Ruland only accorded ius archivi to those repositories that belong to high-ranking political entities in the Holy Roman Empire while the later five publications did so with respect to a broader group of political entities. Very different is how archives were discussed within a treatise on the practice of law (published in German) by Johann Stephan Pütter (1753, 1758, 1765, 1780, 1789, 1802) as well as within seven archival treaties – all in German and authored by archivists – published in 1777, 1783, 1786, 1799, 1800, 1800, and 1804. In Central Europe, discussions of ius archivi – in large part from the vantage point of diplomatics – generally become increasingly critical in the course of the 18th century. Such criticisms are be found neither within the treatise by Pütter (1753f.) nor within these German-language archival publications (1777–1804). Instead, they all appear to have side-stepped ius archivi and instead to have focused mainly on the collections held within archives. The above mentioned writings published between 1664 and 1804 – with one exception: Karl von Eckhartshausen (1786) – all discussed or men2
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Der Originaltext stammt vom Autor selbst.
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tioned the connection between archives and registries. Attention is also accorded here to treatises on registries (and comments therein pertaining to archives) by Jacob von Rammingen (1571), Georg Aebbtlin (1669/1728) and Philipp Wilhelm Ludwig Fladt (1764/1765). Noticeable differences within these seven archival treatises published by archivists (1777–1804) can be ascertained with regard to their views concerning [1] appropriate collection foci (especially newer vs. older materials) and [2] the proper compensation, role, and status of the archivist. These differences coincided with their authors mainly distancing themselves from ius archivi, which apparently served within the 17th-century archival treatises (1664–1688) as a unifying framework. But it also appears that the archival profession – where it was mainly archivists (not jurists) who published archival treatises – saw its beginning in Central Europe by no later than with the publication of a treatise on archives by Philipp Ernst Spiess in 1777. Did the hanseatic cities individually hold ius archivi in the 16th and 17th centuries? On the legal production (Edition) of charters within a lawsuit between the count of Holstein-Pinneberg and the hanseatic city of Hamburg before the imperial chamber court Udo Schäfer From the 14th century onwards, developing administrative literacy in German cities led to the establishment of communal archives. Thus, the hanseatic cities of Lübeck, Hamburg and Bremen had, since the 13th century, kept repositories for charters known as trese. Both the hanseatic cities who had reached imperial immediacy, like Lübeck, and those who had not, but were accepted as civitates mixtae, like Hamburg and Bremen, could in principle claim ius archivi as by legal theory of the 16th and 17th centuries: This included ius archivi in the active sense – i.e. the authority to establish and maintain a public archive – and ius archivi in the passive sense – i.e. the permission to accord legal authority to records by keeping them in a public archive. Mere membership in the Hanseatic League, however, was no basis from which ius archivi could be derived, since the leage could be regarded more as a political community of common interest, and hence the terminologies of ius commune or ius publicum could hardly apply. Due to the concentration of imperial power and the emergence of territorial states, even the league cities of Lübeck, Hamburg and Bremen
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were in need of their archives to mount defenses against political and legal claims from their neighbouring states, both in legal proceedings and in public discourse. By the example of proceedings before the imperial chamber court (Reichskammergericht ) from 1561 to 1609 between the count of Holstein-Pinneberg and the hanseatic city of Hamburg over pledges held over the marshes of Billwerder, it can be shown that ius archivi, in legal practice, worked to the advantage of the territorial powers rather than that of the hanseatic cities. The ius archivi – wishful thinking and reality in the life of a records manager/archivist around 1800 Joachim Wild So far, the ius archivi has mainly been discussed theoretically or as a legal concept, whereas its potential practical impacts on the professional life of a records manager or archivist have hardly been considered. It is those practical impacts that this article attempts to examine by tracing the professional career of Franz Joseph (von) Samet, a central figure in the history of Bavarian archives. In 1786, Samet started out as head of the registry of the Chamberlain’s office (Hofkammer) in Munich for which he failed to obtain the ius archivi despite constant efforts. Eventually, in 1799, when he was promoted to director of the newly founded Geheimes Landesarchiv, the long-desired ius archivi virtually fell into his lap. However, it was only for his participation in the edition of the Monumenta Boica, published by the Bayerische Akademie der Wissenschaften, that he was able to make use of his position as head of the Geheimes Landesarchiv and vouch for the credibility of the published charters – a guarantee, that still only covered the correct transcription from the original. In a broader sense, the ius archivi increased his reputation, as demonstrated by his admission to the Bayerische Akademie der Wissenschaften.
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Historiography, state law and archival theory in the Palatinate territories of the house of Wittelsbach (with special consideration of the archivists Johann Heinrich Bachmann and Georg August Bachmann of Pfalz-Zweibrücken) Paul Warmbrunn The article takes its start from the archives of the Palatinate Wittelsbacher, as they have developed from the late middle ages out of chanceries and charter vaults (Briefgewölbe) in the residential cities. Its special focus is on the electoral archive (Kur-Archiv) of the County Palatine on the Rhine (Pfalzgrafschaft bei Rhein), later the Electoral Palatinate, first in Heidelberg and later in Mannheim, as well as on the archive of the dukes of Pfalz-Zweibrücken, which was housed in purpose-built lodgings as early as 1747. In the case of the Zweibrücken archivists Johann Heinrich Bachmann (1719–1786) and Georg August Bachmann (1760–1818), father and son, it can be shown that their work was still predominantly shaped by the professional ideal of the lawyer-archivist of the Holy Roman Empire, and devoted mostly to legal advice for their princes. Their archival work is still very much in evidence in the modern day Bayerisches Hauptstaatsarchiv. In keeping with this view of their professional duties, their historiography deferred to the „rights of the state“ throughout and first and foremost served to safeguard the dynastic claims of the reigning house. Georg August, the principality’s last archivist, was confronted by the upheavals of the French Revolution, and, to his great credit, managed to save the archives of Pfalz-Zweibrücken from destruction. In 1800, just before the breakdown of the old regime, he summarised this older concept and ethics of his profession in his treatise „On Archives“, engaging with other notable contemporary archival theorists. There, he argues for an archival order based strictly on the dynastic makeup and constitution of each individual territory, rather than on the intrinsic logic of archival records. His contribution to archival theory, while bound to its historical moment, is nonetheless an important and original one, which, not least, was influential for the development of state archives in Bavaria.
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The Secret Archives of the Principality of Brandenburg-Ansbach and its Flourishing in the 18th century Daniel Burger The records of the Principality of Brandenburg-Ansbach are now kept by the Staatsarchiv Nuremberg, the state archive responsible for the Bavarian administrative district of Middle Franconia. It is divided into two large blocks: Firstly, the Geheime Archiv (Secret Archives) (the central archive in the capital of Ansbach) and the various administry registries. The latter have to be reconstructed from more recent accessions of the 19th and 20th centuries in the Nuremberg State Archives. After being partially dispersed in the 19th century, the holdings of the Secret Archives are now all gathered in Nuremberg. The reconstruction is well advanced, as excellent historical finding aids can be used as a basis for work. After a palace fire disaster in 1710, the Geheime Archiv was moved to the socalled Kanzleibau, in the immediate vicinity of the most important central authorities. The archive experienced an enormous upswing when it was staffed with new personnel under Margrave Carl Wilhelm Friedrich (born 1712, ruled 1729–1757); particularly significant were the archivists Carl Ferdinand Jung (1699–1772), Johann Sigmund Strebel (1700–1764) and Gottfried Stieber (1709–1785). They drew up a concept for the structuring and indexing of the archive holdings and implemented it in an admirable feat of work. By means of a large collection campaign in 1733/34, the most important records of the lower authorities were archived and indexed. The archive also contributed to the improvement of the authorities‘ recordceeping management. An extraordinary achievement was the printed uniform file/registry plan for the margravial offices from 1738, especially since this did not remain theory, but was implemented – with the help of the archives – in the subauthorities. This was the foundation of an excellent record keeping system, which the new authorities were able to build on after the transfer of the principality of Ansbach to the Prussian Kingdom. The Ansbach archivists were also active academically, but their work was within the bounds of what was usual at the time and consisted largely of diplomatic-historical, genealogical and historical-topographical work. Their merit lies above all in the thorough organisation and indexing of the holdings in their care.
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The invention of the file in the administration of East Prussia Denny Becker During the middle ages, record keeping mostly consisted of the writing and keeping of charters, as well as on the keeping of registers (Amtsbücher). As the scope of administrative duties expanded, record keeping exploded. Traditional filing and storage strategies broke down. In several phases, modern file keeping developed out of existing filing traditions. The classical registers (Amtsbücher) of the Older Prussian Territorial Government (Altpreußische Landesregierung) in Königsberg, as a rule, contained copies of documents. As a first step, the privy chancery (Geheime Kanzlei) moved away from copying, and started binding single documents into the existing book series, separately for incoming and outgoing correspondence. Alternatively, documents could be filed into drawers and cabinets loosely, building a systematic order by partners of correspondence. In a next step, an order of activities (Vorgangsbildung) developed: Documents belonging to one activity (Vorgang) were bound together in books. Thus, the basis for file keeping was laid, even when binding in books was only gradually replaced by threaded stitching (Fadenheftung). Finally, a file / registry plan (Aktenplan) was introduced to provide an ordering framework for the filing of documents. The keeping of books stayed in use in the form of registers (Register) or for internal note keeping (Memorialschreibwerk). Brandenburg-Prussia was a composite state with diverse traditions of landed estate representation. Over a longer period, this was transformed into a bureaucratic centralised state under the Hohenzollern monarchy. Königsberg in the Early Modern Period was the administrative center of both a princely territory and of its estates. The castle was a rather archaic organism consisting of council room, chancery, chambers and courts. In the course of 18th century centralisations and the buildup of vast royal residences in Berlin and Potsdam, this complex was restructured and competencies were reassigned. After the Stein-Hardenberg reforms, Königsberg became capital of the province of East Prussia. The early modern agencies were wound down and the Geheime Archiv in Königsberg castle turned into the provincial archive. 19th century archivists tried to order and describe the records of the Geheimes Archiv according to their theoretical concepts. However, a proper understanding of transmission and provenance history was either missing or disregarded. Records were detached from the context of their creation to form record groups of pseudo-provenances (unechte Provenienzbestände)
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or pertinence collections. The principle of provenance, established by the Prussian archival administration in 1881, was overinterpreted. By this kind of ordering, the record contexts of early modern Older Prussian Territorial Government (Altpreußische Landesregierung) were fractured to the point of incoherence. With new methods of description, the current cohort of archivists faces the task of reconstructing an authentic and integral system of records with the aim of reconstructing the East Prussian territorial administration in clearly visible shape and to enable archival research based on it. Max Lehmann and the archive of the Faculty of Arts at the University of Göttingen Holger Berwinkel Max Lehmann (1845–1929) had already made significant contributions to the development of the principle of provenance at the Preußisches Geheimes Staatsarchiv, when he became university professor. This article examines Lehmann’s later archival activities as dean of the Faculty of Arts at the University of Göttingen, whose archive and registry he reformed in 1906 according to modern principles, making them usable for historic research. In the context of this reform, certain characteristics of records management with the special type of registry creator „faculty” become visible. Lehmann pursued this work in cooperation with his co-professors Karl Brandi and Edward Schröder. In this personal constellation, the founding of the archive in Göttingen can be counted towards the history of the first Marburg Archive School. Finally, the article includes an edition of the regulations for the faculty’s archive as defined by Max Lehmann. Parchment charters of the city archives of Reval/Tallinn. Memories of an archivists’ unfinished work, and some biographical observations Ludwig Biewer The city archive of Reval/Tallinn, capital of the Republic of Estonia since 1918, is among the most valuable archives of the Baltic. It holds not only the most important historical sources on the city itself, but also on the history of the whole Baltic, Scandinavia, the Hanseatic League, old Livland, Estonia and her neighbors in East-Central Europe. During the 19th and
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20th centuries, the archives had to be evacuated repeatedly in times of war. As a result of the 1944 evacuation, roughly two thirds were transferred to the later Federal Republic of Germany, where they were kept under the trusteeship of the Bundesarchiv. After difficult negotiations with the Soviet Union in 1986/87, they were returned into the possession of the Reval/ Tallinn City Archive in October of 1990. This includes the group of charters, chronologically ordered, that had long been missing and was only rediscovered in 1882 during renovations in the old gothic city hall. Following the rediscovery, the city had entrusted the management of the archive to academically trained archivists, who quickly produced a printed inventary (1896, 2nd edition 1924/26), containing short charter abstracts (Regesten). Paul Johansen, who worked in the city archive from 1924 onwards and headed it from 1934 to 1939, described the charters from 1233 to 1375. Follow-up work in description progressed only haltingly. Therefore, the Reval charters were loaned to the Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem in 1979 to enable a reworking of the existing description (Regestierung) as well as new description (Neuregestierung). This task was entrusted to the author in April of 1979, his first task being the description of about 860 parchment charters dating from 1376 to 1796, thereby finishing the work begun by Paul Johansen. The author finished a first draft of the series by the end of 1981. However, work on the charters had to be discontinued, and the planned print edition of the Regesten did not go ahead. After a work trip to Tallinn – the author had been employed at the Politisches Archiv des Auswärtigen Amts since 1987 – and some more work in the city archive in 2007, the author entrusted the Regesten in his possession to his Tallinn colleagues. By digitising the Regesten as headers of the equally digitised charters, they made them available for full time access for everybody. This also enables some corrections and additions to be made, which is being done step by step. Thus, work begun from 1979 to 1981 can be brought to a final and successful close.
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„Organic growth“ and principle of provenance. Bedrock or proble matic legacy for archival science? Philip Haas The accession of records following the principle of provenance, preserving intact the context of their production, is considered a major founding principle of archival science. By their own self-concept, this is mainly what sets archives apart from those cultural heritage institutions who instead „collect“. To conceptualise how records emerge within a registry, the notion of „organic growth“ was established. This was what should be mirrored and preserved in the archive after accession, e.g. in the shape of an „archival body“. This semantics of the organic has created its own powerful discourse, which permeates the classics of the field, but also still shapes current archivistic debates in more or less obvious ways. Discussions of the principle of provenance are saturated with organic imagery. This article explores concepts and semantics of the organic in the context of archival provenance. A historical survey from the 19th century into the present, taking in France, the Netherlands, Prussia as well as FRG and the GDR, looks into the different conceptualisations of the principle and the way they connect to organic thinking. On the basis of those findings, some final conclusions can be drawn for current achival science. At the threshold of institution-building. A medieval archival finding aid (Archivbehelf) in the episcopal archives of Freising Adelheid Krah This study covers one of the oldest archival finding aids on record, its writing unter Egilbert (1005–1039) and Ellenhard (1052–1078), bishops of Freising, and its uses in the composition of 12th and 13th century Freising registers (Amtsbücher). The archival finding aid, transmitted in two versions and still usable, not only served to sort records within the episcopal archives, but was also used to precisely designate the foundational charters of Freising’s outlying properties to the then reigning bishops and their periods of office, from Corbinian up to Ellenhard. In a broad analysis, it can be shown that Conradus Sacrista made use of this finding aid in composing his monumental Freising register of 1187: He referenced single passages at the end of some of his copied charters as source citations in the scholastic manner. The writer of the register of
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Freising’s outlying property from the 13th century also used this aid to track documents he collected in copied form. However, the chronological order laid down in the archival finding aid is only followed in part there. Rather, a new order is overlayed, granting priority to documents as dictated by contemporay economic interest of the bishopric. The text of the archival finding aid was written onto spaces left blank within the prologue of the Cozroh-Codex, leaving additional space for later annotations. In this form, the finding aid has also been transmitted in duplicate form at the end of a small-format 11th century liturgical book (Rituale). The evidence suggests that the entries in the Cozroh Codex are the original of the archival finding aid, which was then made available in duplicate for the users of the liturgical manuscript also. This again allows for the conclusion that during the tenure of Egilbert and Ellenhard in the 11th century, the documents attesting to Freising’s outlying properties, which had been vastly enlarged under the Salian dynasty of kings and emperors, were systematically compiled, and that Conradus Sacrista later used this same archival finding aid. The interconnectedness of sources analysed in this study shows that the administrative work done by the episcopal archives in the 11th and 12th centuries formed the basis for the institutional shape of offices that developed over the following centuries to administer the outlying Freising properties, binding them to the episcopal seat. The history of archivistical training in Germany up to 1949/50. A survey, occasioned by the 200 year anniversary of archival schools in Europe Clemens Regenbogen In February of 1821, the first two training institutions for archivists were created almost simultaneously, but quite independently of each other: The Archivalische Unterrichtsinstitut in Munich and the École des Chartes in Paris. While the former, as Bayerische Archivschule, has been a fixture in the archival world until today, the history of comparable institutions in other German states, namely in Prussia, is shown to be richer in twists and turns. After some introductory remarks on the training of archivists in the Early Modern Period, this article offers an overwiew of institutional histories up to 1949/50, when the Prussian heritage was split into two separate schools in Marburg and in Potsdam due to the separation of the German states.
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It can be shown to what extent the founding efforts depended on the personal initiative shown by the likes of Theodor von Sickel, Paul Fridolin Kehr and Albert Brackmann. As medievalists and scholars of auxiliary sciences (Hilfswissenschaftler), they proceeded to create the Austrian-Prussian-German archivist training regime step by step, although mostly as a side product of their ambitions to set up their very own scholarly institutions. Analysing both the study programmes and the sociology of trainees, the article shows how deeply embedded archivistical training was into the context of auxiliary sciences over the whole period covered. Aristocratic family archives in Weimar Germany between state-driven centralisation and regional innovation: The case of the „United Nobility Archives of Westphalia“ (Vereinigte Westfälische Adelsarchive) Tom Tölle In the watershed moment of 1918/1919, the German aristocracy lost their most important legal and corporate privileges. At the same time, the field of non-state archives went through one of its most innovative phases. This article aims for a linked view of both processes: Working from a regional case, the establishment of the „United Nobility Archives of Westphalia“ association, it explores how self-taught and amateur archivists used political debates around the loss of noble status to push for innovations in archiving. Focusing on the association’s major functionary Heinrich Glasmeier (1892–1945), war veteran, historian, amateur archivist und later chief officer of Reich radio services (Reichsrundfunkintendant), the article looks into the association’s ambitious and innovative aims, its intellectual and political contexts, as well as the actual archival work done by these professional outsiders. Glasmeier opened local archival practice up to the controversial political debates of his time, concerning the role of ethnic community, living space and race (Volk, Kulturraum und Rasse) in order to legitimise his plans for non-state archives. He actually succeeded in mobilising a regional and völkisch historical consciousness, harnessing it against centralising efforts driven by state archives. For the „United Nobility Archives of Westphalia“, he propagated a völkisch regional interest set in terms of archival theory.
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The archives of the German Province of the Order of Friars Minor Capuchin Carolin Weichselgartner The Capuchin friars were created in Italy in 1525 as a reformed branch of the Franscican order of friars. Two main provinces developed in Germany, the Rheinisch-Westfälische and the Bavarian province. For lack of novice friars, they were fused in 2010 into the German Province of the Order of Friars Minor Capuchin, which has its seat in the Munich parish of St. Anton. The archives have been lodged in the friary of St. Magdalene in Altötting since 2013. The article takes its start from the history of both the former provinces, and then covers the consequences of the fusion for the archives in legal and administrative terms, as well as in terms of collections and of the archivists. Additionally, the state of description, access to the archives as well as user services are discussed. The records most in demand from users are proving to be the personnel files, the records of individual friaries and records on the (overseas) mission territories.
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Résumés1 « Des secrets sous clés » ? Esquisses d’une histoire culturelle des Archives dans l’ancien Empire Anett Lütteken L’histoire institutionnelle des Archives a depuis longtemps fait l’objet de recherches intenses – souvent limitée au plan régional ou local. Certains desideratas sont perceptibles là où l’histoire des Archives peut être reconnue comme partie intégrante d’une histoire culturelle plus large. L’article tend ainsi d’analyser de façon exemplaire quelques éventuels facteurs de rattachement en prenant en considération l’importance de la pensée des Lumières pour la professionnalisation de l’archivistique. Outre diverses introductions pratiques (comme, par ex., celles de Karl von Eckartshausen, Philipp Wilhelm Ludwig Fladt ou Johann Georg Schelhorn), on rend hommage aux travaux un peu moins connus d’historiens de l’ancien Empire (parmi eux Hiob Ludolf, Friedrich Lucae et Johann Christian Lünig) qui ont élaboré, entre autres, les bases des outils scientifiques auxiliaires pour l’archivistique moderne. Enfin, une attention particulière est accordée à des maîtres à penser institutionnels tels Jakob Wencker, Gottfried Wilhelm Leibniz et Ludovico Muratori qui ont ponctuellement expérimenté des techniques de travail et imaginé systématiquement des formes d’organisation appropriées. A la registrature ou aux Archives ? A propos de la collaboration entre les anciennes Archives de Bavière et les registratures entre 1500 et 1800 Elisabeth Weinberger En partant de la fin du Moyen Âge alors que les chancelleries, les registratures et les Archives étroitement liées fonctionnellement et organisationnellement n’étaient pas des institutions indépendantes, l’article évoque la séparation entre Archives et registrature d’ordre au début de l’époque moderne. La continuation de la collaboration entre Archives et bureaux d’ordre du XVIe à la fin du XVIIIe siècles constitue le thème central de l’étude. Suite à la spécialisation institutionnelle dans le duché de Bavière, 1
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Übersetzung: Daniel Peter, Gottenhouse.
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des autorités compétentes disposant de chancelleries et de bureaux d’ordres propres se développèrent après 1500. Les Archives continuèrent à se focaliser sur les chartes et promut ainsi la création d’Archives de documents papier. Ces dernières se retrouvèrent en concurrence permanente avec les bureaux d’ordre qui, de leur côté, aspiraient au statut légalement important d’Archives. Séparés, mais toutefois proches. Archives et registrature d’ordre dans la principauté abbatiale de Kempten aux XVIIe–XVIIIe siècles Gerhard Immler Au milieu du XVIIIe siècle, suite aux déplacements durant la guerre de Trente Ans, les Archives et toute la production administrative des documents de l’abbaye bénédictine fondée vers 744–752 et de sa principauté immédiale d’Empire de Kempten, se trouvaient dans un état chaotique. Pour y remédier, l’administrateur (le fonctionnaire en charge d’un service de l’administration de l’Intérieur et de la Justice) Joseph Feigele fut nommé registraire des archives en 1755. En près de 25 ans, il reclassa la totalité des archives en y incorporant de nombreuses archives définitives des administrations centrales tout comme des documents de subdivisions administratives considérés comme particulièrement précieux. Les Archives devinrent ainsi le dépôt central pour toute la production administrative du territoire. Le 30 septembre 1769, le prince-abbé Honorius fixa par mandement un cadre juridique ordonnant le versement des dossiers définitifs au bout de dix ans remarquablement moderne pour l’époque. Tout en assumant sa fonction de directeur (adjoint du chef de l’administration) de la chambre des comptes (administration financière centrale), Feigele veilla à ce que les actes administratifs soient prêts à être archivés lors de leur passage dans le bureau d’enregistrement. Pensant sans doute à terme établir une sorte de préarchivage, il n’est exclu que Feigele se soit interrogé sur la valeur des archives. Mais hormis sa suggestion de mandement relatif aux archives, cet archiviste si prolifique sur le plan pratique n’a laissé aucun écrit reflétant ses activités de façon théorique.
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Les Archives du l’évêché de Bamberg. Fonds, missions et rapports avec les bureaux d’ordre des administrations Klaus Rupprecht Les Archives de l’évêché de Bamberg se trouvait dans la nouvelle résidence de Bamberg qui était le centre administratif de la principauté épiscopale au XVIIIe siècle. Elles se situait à proximité immédiate de la chancellerie et du gouvernement temporel. Sur le plan institutionnel, elles relevaient du gouvernement et témoignaient de ses missions centrales. En interne, on différenciait les Archives secrètes (voûtes A–C) comprenant les séries de chartes importantes pour les affaires religieuses et d’état ainsi que les dossiers relatifs aux discussions territoriales avec les territoires voisins, la noblesse, le chapitre de la cathédrale, les couvents et fondations ..., des archives communes placées sous les voûtes suivantes établies avec des documents issus de l’exercice du pouvoir judiciaire, de droits seigneuriaux et de « bonne police ». Il ne s’agissait pas uniquement d’un dépôt de titres, car il contenait également des archives de toute nature et relevant de classifications diverses. Même si la demande a été faite formellement, il n’a pas été possible de faire des Archives une institution pour les documents d’importance juridique pour toutes les administrations centrales de l’évêché. Au contraire, certaines séries de correspondance relatives à la politique d’empire de cercles territoriaux durent être versées à la chancellerie secrète à la fin du XVIIe siècle. Lorsque des négociations en cas de litiges avaient abouties du fait du gouvernement ou grâce à des processus internes, les dossiers correspondants étaient immédiatement versés aux Archives, ce qui empêche de distinguer clairement les Archives de la registrature du gouvernement. Les missions classiques des Archives telle décrire, classer et conserver de façon sécurisée faisait partie des fonctions de l’organisation quotidienne du gouvernement. Les Archives étaient fournisseurs d’information (et partiellement expert) pour l’administration en cas de contentieux et donatrices de soumissions pour des règlementations dans l’évêché. Durant la seconde moitié du XVIIIe siècle, on assiste à une nette institutionnalisation des Archives en tant qu’administration (avec plus de personnel organisé hiérarchiquement et des missions définiés par écrit, des tarifs, de nouvelles catégories de documents), une professionnalisation et, en partie, une réorientation des activités archivistiques. On réfléchit à une classification générale, on se préoccupa de meilleures conditions de conservation, on créa des collections de mandements et de décrets et on confectionna avec des
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efforts particuliers des oeuvres historico-diplomatiques. Désormais l’archiviste gardien de la régularité matérielle, garant de l’accessibilité interne et fournisseur d’information compétent pour le gouvernement cède la place à l’archiviste érudit – dans l’évêché, entre autres, avec la personne de Wilhelm Johann Heyberger – qui rédigeait, d’une part, des écrits théoriques d’archivistique et publiait, d’autre part, des chartriers avec divers objectifs. Les publications archivistiques d’Europe centrale (1664–1804) dans le contexte du Ius archivi Joseph S. Freedman L’article commence par un petit résumé sur le concept du Ius archivi tel qu’il a été énoncé par Rutger Ruland (1597, 1604, 1664, 1724) et utilisé, par la suite, par cinq juristes dans des publications en latin (1664, 1668, 1876, 1681, 1688). Suivant ces six ouvrages, tous les documents conservés dans un repositoire agrée par le Ius archivi peuvent servir à revendiquer des droits nonobstant leur contenu véritable. Ruland n’attribua le Ius archivi qu’à des repositoires relevant d’états d’Empire du Saint Empire romain germanique de haut rang, les cinq publications ultérieures élargirent cet ensemble. Un ouvrage juridique sur le traitement des archives de Johann Stephan Pütter (en allemand, 1753, 1758, 1765, 1780, 1789, 1802) et sept autres traités archivistiques – tous en allemand et rédigés par des archivistes – de 1777, 1783, 1786, 1799, 1800, 1800 et 1804, se démarquent nettement de cela. En Europe centrale, au cours du XVIIIe siècle, les diverses réflexions sur l’usage du Ius archivi, notamment sur le plan de la diplomatique, se font de plus en plus critiques. Ces critiques n’apparaissent ni dans le traité de Pütter, ni dans les publications archivistiques en allemand (1777–1804). En revanche, les auteurs semblent avoir évité toute question relative au Ius archivi et se sont surtout concentrés sur les fonds d’archives. Hormis Karl von Eckhartshausen (1786), les ouvrages publiés entre 1664 et 1804 évoqués plus haut, traitent tous du lien entre archives et bureaux d’ordre. L’étude s’intéresse également à des traités sur les bureaux d’ordre (et les acceptations dans les Archives) de Jacob von Rammingen (1571), Georg Aebbtlin (1669, 1728) et Philipp Wilhelm Ludwig Fladt (1764, 1765). On relève des disparités nettes dans les sept traités archivistiques (1777– 1804) : [1] des priorités proportionnées sur les constitutions des fonds
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(avant tout pour des documents plus récents ou anciens), et [2] la rémunération appropriée, la fonction et le statut de l’archiviste. La coïncidence de ces disparités montre que les auteurs se sont détournés du Ius archivi alors qu’il constituait encore le cadre unique dans les traités du XVIIe siècle (1664–1688). Cela indique également que le métier de l’archiviste en Europe centrale s’était constitué au plus tard avec le traité de Philipp Ernst Spiess de 1777. Cela eut pour conséquence qu’à partir de ce moment, les questions d’archives furent traitées par des archivistes d’importance (et non pas des juristes). Les villes hanséatiques du XVIe–XVIIe siècles se préoccupaient-elles du Ius archivi ? A propos de l’édition de documents relatifs à un procès entre le comte de Holstein-Pinneberg et Hambourg, ville de la Hanse, devant la chambre impériale Udo Schäfer Depuis le XIVe siècle, l’évolution de l’écrit communal en Allemagne a conduit à la création d’archives communales. Ainsi, les villes hanséatiques de Lubeck, Hambourg et Brême disposaient depuis le XIIIe siècle d’un lieu sûr appelé « trese » pour y conserver les documents. Le Ius archivi au sens actif du terme – la compétence d’établir des Archives publiques et de le faire fonctionner – et le Ius archivi au sens passif – le pouvoir d’octroyer une authenticité à des documents écrits du fait de leur conservation dans des Archives publiques – de la théorie légal des XVIe–XVIIe siècles étaient également concédées aux villes hanséatiques imédiates d’Empire comme Lubeck tout comme aux villes hanséatiques médiates d’Empire comme Hambourg et Brême reconnues « civitates mixtae ». Le seul fait d’appartenir à la Hanse, un groupement ou représentation d’intérêts, qu’il n’est guère possible de comparer avec des dispositifs compréhensibles du « Ius commune » et du «Ius publicum », ne justifiait pas le Ius archivi. En raison de la densification de l’empire et de la formation des états territoriaux, même les villes hanséatiques de Lubeck, Hambourg et Brême eurent besoin de leurs archives pour se prémunir médiatiquement et juridiquement des revendications politiques et légalement de principautés voisines. Toutefois, le procès entre le comte de Holstein-Pinneberg et la ville de la Hanse Hambourg, qui s’est tenu devant la chambre impériale de 1561 à 1609 à propos de la levée du gage hambourgeois sur Billwerde dans la région des
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Marchlande, montre qu’en pratique le Ius archivi fournit plutôt des avantages juridiques aux seigneurs territoriaux qu’aux villes hanséatiques. Le Ius archivi – Fantasme et réalité dans la vie d’un registrateur/archiviste aux environs de 1800 Joachim Wild Le Ius archivi a, en fait, de préférence été traité uniquement de façon théorique ou juridiquement alors que ses effets pratiques dans la vie professionnelle d’un registrateur ou d’un archiviste n’ont été guère pris en compte. L’article se propose justement d’étudier ces effets pratiques en retraçant la carrière professionnelle d’une personnalité relativement importante dans l’histoire des Archives bavaroises, c’est-à-dire Franz Joseph (von) Samet. Samet débuta en 1786 en tant que responsable de la registrature de la chambre des comptes de l’électorat de Bavière à Munich où l’application du Ius archivi lui fut refusée malgré ses sollicitations répétées. En 1799, lorsque Samet fut nommé directeur des Archives secrètes d’Etat nouvellement créées, le Ius archivi espéré depuis si longtemps lui est tombé du ciel du jour au lendemain. Mais il ne put imposer son point de vue de directeur des Archives secrètes d’Etat seulement lors de sa participation à l’édition des chartes de la Monumenta Boica publiée par l’Académie des sciences de Bavière en garantissant la fiabilité des chartes figurant dans l’édition sachant que sa garantie se limitait à la transcription exacte de l’original. Plus largement, le Ius archivi contribua à son prestige accrut, ce qui s’est manifesté lors de son admission à l’Académie des sciences. L’historiographie, droit public et théorie archivistique dans les territoires de la ligne palatine des Wittelsbach (avec une considération particulière pour les archivistes palatins-bipontins Johann Heinrich et Georg August Bachmann) Paul Warmbrunn Le point de départ de l’article sont les archives de la ligne palatine des Wittelsbach issues des chancelleries et des correspondances des villes de résidence depuis la fin du Moyen Âge parmi lesquelles les Archives électorales des comtes palatins du Rhin et plus particulièrement de l’électorat palatin d’abord conservées initialement à Heidelberg, puis à Mannheim, ain-
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si que les Archives des ducs de Palatinat-Deux-Ponts pourvues dès 1747 de l’un des premiers bâtiments d’archives fonctionnels, constituent le thème central. A l’exemple des archivistes bipontins Johann Heinrich Bachmann (1719–1786) et de son fils Georg August Bachmann (1760–1818), il est montré que tout leur travail archivistique était réalisé sur le modèle du juriste-archiviste de l’ancien Empire, c’est-à-dire conseiller juridiquement et établir des rapports d’expertise, à l’image de ce qui est également nettement reconnaissable dans les Archives d’Etat de Bavière. Ainsi naquit une historiographie écrite de concert, soumise au droit public et servant avant tout de preuve et de garantie des droits de la dynastie régnante. Même si Georg August, le dernier archiviste du duché, déjà confronté aux grands changements issus de la Révolution française durant laquelle il eut le grand mérite d’avoir assuré la sauvegarde et la conservation des archives palatinobipontines, il synthétisa encore une fois ce point de vue et cette conception du métier et en débattant avec d’autres théoriciens des archives importants, dans son ouvrage « Ueber Archive » publié en 1800, à la veille de la disparition de l’ordre ancien. A cet effet, il plaida pour un classement s’orientant selon les rapports institutionnels du territoire concerné et non pas selon les archives. Il proposa ainsi une contribution indépendante importante pour toute époque à la théorie et à la pratique archivistiques qui influenca particulièrement l’évolution des Archives de Bavière. Les Archives secrètes du margraviat de Brandebourg-Ansbach et leur apogée au XVIIIe siècle Daniel Burger De nos jours, le fonds d’archives du margraviat de Brandebourg-Ansbach est conservé aux Archives d’Etat de Nuremberg, le service d’archives compétent pour le district bavarois de Moyenne-Franconie. Il est composé de deux grandes parties : d’une part, les Archives secrètes (les archives centrales de la résidence d’Ansbach) et, d’autre part, les archives des différentes administrations. Ces dernières doivent être reconstituées par les Archives d’Etat à partir de versements administratifs récents du XIXe et même du XXe siècles. Les fonds des archives secrètes ont été partiellement dispersés durant le XIXe siècle, mais sont désormais tous rassemblés aux Archives d’Etat de Nuremberg. La reconstitution a bien progressé grâce à l’utilisation d’instruments de recherche historiques comme base de travail.
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Après un incendie du palais en 1710, les Archives secrètes ont été transférées dans le bâtiment dit de la chancellerie, à proximité immédiate des principales administrations centrales. Les Archives ont connu un essor considérable lorsqu’elles ont été pourvues de personnel nouveau sous le margrave Carl Wilhelm Friedrich (* 1712, règne 1729–1757) ; les archivistes Carl Ferdinand Jung (1699–1772), Johann Sigmund Strebel (1700– 1764) et Gottfried Stieber (1709–1785) furent particulièrement importants. Ils établirent un concept de structuration et de description des fonds d’archives et le mirent en œuvre de façon remarquable. Les documents administratifs les plus importants furent archivés et traités grâce à une grande action de collecte en 1733–1734. Les Archives se sont également attachées à améliorer la gestion des documents des administrations. L’impression d’un plan de classement unique pour les bailliages margraviaux en 1738 constitua une performance de taille dans la mesure où cela ne se limita pas à la théorie, mais qu’il servit dans les services avec l’assistance des Archives. A partir de là, on institua une gestion des documents de qualité que les nouvelles autorités purent utiliser efficacement après l’intégration de la principauté d’Ansbach au royaume de Prusse. Les Archives d’Ansbach avaient également une activité scientifique, mais leurs travaux se limitèrent aux préoccupations de l’époque, se s’intéressant essentiellement à des thèmes diplomatico-historiques, généalogiques et historico-topographiques. Leur mérite réside avant tout en le classement méthodique et le traitement des fonds dont elles avaient la charge. L’invention du dossier dans l’administration territoriale de Prusse orientale Denny Becker Au Moyen Âge, la gestion de l’écrit consistait essentiellement à l’établissement et la conservation de chartes tout comme la tenue de registres officiels. Suite au développement des missions administratives durant l’époque moderne, la production documentaire explosa. Les classements traditionnels s’effondrèrent. La gestion des documents se développa en plusieurs étapes à partir des anciennes formes de classement. Les registres officiels classiques des anciennes autorités prussiennes à Koenigsberg comprenaient en principe des copies de documents. Aux XVIe–XVIIe siècles, la chancellerie secrète commença tout d’abord à ne plus recopier les documents, mais à les relier séparément dans les séries
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des registres officiels existantes après l’entrée ou la sortie, ou à les ranger systématiquement, généralement par correspondant, par feuilles volantes dans des armoires ou des tiroirs. Puis, on s’attacha à la constitution du contenu. Tous les documents relevants d’un même contenu furent reliées en registres officiels. Ainsi débuta au XVIIe siècle la gestion des documents, bien que la reliure fut peu à peu délaissée au profit de l’agrafage. Au XVIIIe siècle on établit finalement un plan d’archivage selon lequel les documents devaient être versés. La gestion des registres officiels se poursuivit sous la forme de volumes ou d’écrits commémoratifs. Le Brandebourg-Prusse était un état issu d’une union personnelle avec des traditions provinciales variées. Après une longue période, un état centralisé de la monarchie des Hohenzollern lui succéda. Durant la période moderne, Koenigsberg était le centre administratif d’une principauté. Le château servait de centre administratif archaïque comportant une salle du conseil, une chancellerie, des chambres et des tribunaux. Suite à la centralisation du XVIIIe siècle et l’épanouissement de l’aménagement résidentiel à Berlin-Potsdam, des restructurations administratives et des transferts de compétences suivirent. Après les réformes de Stein-Hardenberg, Koenigsberg devint capitale de la province de Prusse orientale. Les autorités de l’époque moderne furent liquidées et les Archives secrètes du château de Koenigsberg transformées en Archives provinciales. Des archivistes du XIXe siècle tentèrent de traiter les documents des Archives secrètes selon leurs conceptions archivistiques théoriques. Mais il leur manquait la compréhension de l’histoire de la constitution des fonds ou ils n’en tinrent pas compte. Des documents furent retirés de leur contexte d’élaboration et cela mena à la création de faux fonds provinciaux et de pertinence. Le principe de provenance introduit par l’administration des Archives de Prusse en 1881 fut surinterprété. Le traitement archivistique a complètement fragmenté jusqu’à la déformation totale les fonds constitués de l’ancienne Prusse. De nouvelles méthodes de traitement doivent permettre aux générations d’archivistes actuelles d’entreprendre une reconstitution des fonds à partir de ces fragments et de rendre visible et exploitable l’action administrative du gouvernement de Prusse orientale en tant qu’autorité suprême dans sa globalité.
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Max Lehmann et les Archives de la faculté de philosophie de Göttingen Holger Berwinkel Avant de devenir professeur d’université, Max Lehmann (1845–1929) a introduit de façon décisive le principe de provenance dans les Archives secrètes d’Etat de Prusse. L’article met en lumière son action archivistique en tant que doyen de la faculté de philosophie de Göttingen dont il a réformé les Archives et la registrature en 1906 selon des principes modernes et en les orientant vers l’accessibilité historique. Grâce à la réforme, des particularités de la gestion des dossiers du type faculté de la registrature deviennent visibles. Lehmann travailla de concert avec ses collègues Karl Brandi et Edward Schröder. Dans le cadre de cette configuration personnelle, la création des Archives de Göttingen peut être comptée dans l’histoire de la première école d’archives de Marbourg. Les règles d’organisation des Archives de la faculté élaborées par Lehmann figure en annexe. Des chartes sur vélin des Archives municipales de Réval/Tallinn. Souvenirs d’un travail archivistique inachevé et quelques remarques biographiques Ludwig Biewer Les Archives municipales de Réval/Tallinn, depuis 1918 la capitale de la république d’Estonie, compte parmi les Archives les plus précieuses de la région baltique. Elles ne conservent non seulement les sources les plus importantes pour l’histoire de cette ville, mais également pour l’ensemble de l’histoire de la région baltique, la Scandinavie, la Hanse, l’ancienne Livonie, l’Estonie et ses voisins, c’est-à-dire l’Europe médiane. Aux XIXe et XXe siècles, ses fonds ont souvent été déplacés à cause des guerres. Lors du transfert de 1944, près de deux tiers de ses fonds parvinrent sur le territoire de la future République fédérale où elles furent conservées en dépôt par les Archives fédérales. Après des tractations difficiles avec l’URSS en 1986–1987, elles furent rendues aux Archives municipales de Réval/Tallinn en octobre 1990. Cela vaut également pour le fonds des chartes classé chronologiquement qui fut longtemps considéré comme disparu et ne fut retrouvé qu’en 1882 lors de travaux dans l’hôtel de ville gothique. A la suite de cela, en 1883, la ville confia la direction des archives à des archivistes scientifiques. Leurs états des fonds rédigé rapidement (1896, 2e éd. 1924–1926) comprenaient
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également quelques regestes de chartes limités. Paul Johansen, qui travaillait depuis 1924 aux Archives et qui en fut le directeur de 1934 à 1939, analysa les chartes de la période 1233 à 1375. D’autres traitements exécutés après 1945 avancèrent lentement. C’est pourquoi les chartes de Réval furent confiées en 1979 aux Archives secrètes d’Etat du patrimoine culturel prussien à Berlin-Dahlem pour une révision des analyses existantes voire de nouvelles descriptions. Ce travail fut confié en avril 1979 à l’auteur, ce dernier devant analyser près de 860 chartes sur vélin de la période 1376 à 1796, c’est-à-dire achever le travail entrepris par Paul Johansen. L’auteur pu achever une première révision de ce travail fin 1981. Mais il ne lui fut pas possible de continuer ce travail avec les chartes, ni de réaliser l’impression prévue des regestes. Après un déplacement professionnel à Tallinn – l’auteur était en poste aux Archives politiques du ministère des Affaires étrangères depuis 1987 – et un séjour aux Archives municipales en février 2007, l’auteur remit les regestes qu’il avait conservés aux collègues des Archives de la ville de Tallinn. Par la suite, ils utilisèrent ses travaux comme regestes principaux et comme titres pour les chartes désormais numérisées et mises en ligne sur internet où elles peuvent être consultées par tout le monde. Dorénavant, il est possible de faire les corrections et ajouts nécessaires, ce qui se produit progressivement. Ainsi, le travail réalisé durant les années 1979–1981 peut être achevé avec succès et de façon avantageuse. « Croissance organique » et principe de provenance. Base ou vieille baderne de l’archivistique ? Philip Haas La transmission des archives administratives basée sur le principe de provenance avec la garantie du contexte de leur élaboration apparaît comme le principe de base le plus important en archivistique, ce qui distingue les Archives publiques des institutions collectionneuses. La doctrine de la croissance organique, c’est-à-dire la figure du corps archivistique doit se reproduire et être conservée dans les Archives, a été inventée pour les documents générés dans la registrature administrative. La sémantique organique provoque une forte discussion incessante au travers des classiques du débat professionnel et marquant jusqu’à nos jours l’archivistique de façon latente. Les réflexions relatives au principe de provenance sont particulièrement imprégnées par l’organique. Le présent article étudie les concepts organiques et sémantiques dans le contexte du principe de prove-
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nance. Un examen historique allant du XIXe siècle à nos jours, de la France jusqu’à la RFA et le RDA en passant par les Pays-Bas et la Prusse, analyse les différentes organisations du principe de provenance et leur relation avec la structure organique. A partir de là, on peut tirer des conclusions pour l’archivistique contemporaine. Au seuil de la constitution des institutions. Un outil de gestion des archives du Moyen Âge des Archives de l’évêché de Freising Adelheid Krah L’étude est consacrée à l’un des plus anciens outils de gestion d’archives, son élaboration sous les évêques de Freising Egilbert (1005–1039) et Ellenhard (1052–1078) et son utilisation pour la réalisation des registres officiels de Freising des XIIe–XIIIe siècles. L’outil utilisable, conservé en deux exemplaires, ne servait pas uniquement au classement des archives dans les Archives épiscopales, mais le document contenait également les privilèges relatifs aux possessions lointaines de l’évêché de Freising intégrés sous les règnes des évêques Corbinian jusqu’à Ellenhard. Un examen large permet d’établir que l’outil a servi à Conradus Sacrista lors de la création de son registre officiel monumental de Freising de 1187 en indiquant de manière scolastique quelques extraits sous forme de citations de sources à la fin des privilèges des possessions lointaines recopiés. Cet outil a également été utilisé pour retrouver les documents dont les copies figurent dans le registre des possessions lointaines de Freising du XIIIe siècle. Mais il n’en suit que partiellement la chronologie et privilégia un classement des documents selon des priorités correspondant aux intérêts économiques de l’évêché de l’époque. Le contenu de l’outil a été transcrit sur des parties blanches du prologue du Codex Cozroh sachant que des emplacements furent prévus préventivement pour des inscriptions complémentaires par les anciens évêques de Freising. Il existe également un double de l’outil figurant à la fin d’un répertoire des rituels de Freising de petit format du XIe siècle. On peut admettre que les transcriptions dans le Codex Cozroh constituent l’original de l’outil qui devait être disponible sous forme de copie pour l’utilisateur du recueil liturgique. Cela permet de conclure que sous les évêques Egilbert et Ellenhard au XIe siècle, les documents relatifs aux possessions lointaines de Freising qui ont, comme chacun sait, considérablement aug-
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menté sous les Saliens, furent enregistrés systématiquement. Conradus Sacrista se servit plus tard de cet outil. L’analyse des liens entre les sources dans cette étude a permis de clarifier l’activité administrative des Archives de l’évêché de Freising aux XIe–XIIe siècles qui constitua le fondement de la formation des institutions des bailliages de l’évêché de Freising et des centres administratifs des possessions lointaines durant de nombreux siècles. Histoire de la formation archivistique en Allemagne jusqu’en 1949– 1950. Une rétrospective à l’occasion des deux siècles d’existence d’écoles d’archives en Europe Clemens Regenbogen Il y a 200 ans, en février 1821, les premières écoles d’archives ouvrirent simultanément tout en étant totalement indépendantes l’une de l’autre, à savoir l’Institut d’enseignement archivistique à Munich et l’Ecole des Chartes à Paris. Alors que, de nos jours, l’école d’archives bavaroise reste une référence dans le monde professionnel, l’histoire d’établissements similaires dans les autres états allemands, notamment en Prusse, connaît de nombreux rebondissements. Après quelques considérations sur la situation de la formation des archivistes à l’époque moderne en guise d’introduction, l’article décrit un large panorama jusqu’en 1949–1950, lorsque la division de l’Allemagne a fait naître de l’héritage prussien deux écoles d’archives séparées à Marbourg et Potsdam. En même temps, il apparait nettement combien la création d’écoles d’archives doit aux initiatives de personnalités comme Theodor von Sickel, Paul Fridolin Kehr et Albert Brackmann. En tant que historiens médiévistes et spécialistes des sciences auxiliaires, ils contribuent à la naissance progressive de la formation archivistique austro-germano-prussienne – avant tout sous forme de produit secondaire dans le cadre d’ambitions universitaires personnelles. Une analyse des programmes d’études ainsi qu’une étude sociologique des élèves illustre le haut niveau atteint par l’enseignement archivistique dans le contexte des sciences auxiliaires de l’histoire durant la période étudiée.
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La pratique archivistique nobiliaire dans le République de Weimar tiraillée entre centralisation d’état et innovation régionale. L’exemple des « Archives réunies de la noblesse de Westphalie » Tom Tölle Lors de la rupture de 1918–1919, la noblesse en Allemagne perdit ses principaux privilèges. Au même moment, les Archives non étatiques connut une étape d’innovation. Le présent article lie ces deux processus. Il montre à l’appui d’un exemple régional, la création de l’association « Archives réunies de la noblesse de Westphalie », comment des autodidactes et des archivistes amateurs ont usé de débats politiques relatifs à la perte du statut de noblesse, pour innover sur le plan archivistique. Par l’intermédiaire de l’administrateur central de cette association, du vétéran de guerre, historien, archiviste amateur et futur intendant du Reich de la radiodiffusion Heinrich Glasmeier (1892–1945), l’étude analyse le programme ambitieux et innovant de l’association « Archives réunies de la noblesse de Westphalie », le contexte intellectuel et politique de l’association tout comme les pratiques concrètes de marginaux archivistiques. Glasmeier ouvrit des pratiques locales pour les débats politiques controversés de son époque sur le rôle du peuple et espace culturel et race, afin de légitimer ses projets archivistiques non étatiques. Il réussit ainsi à mobiliser une conscience historique régionale et nationaliste contre les aspirations centralisatrices dans les Archives d’Etat. Il fut le chantre de façon croissante d’une promotion d’un particularisme nationaliste teintée de théorie archivistique pour l’association « Archives réunies de la noblesse de Westphalie ». Les Archives de la province allemande des capucins Carolin Weichselgartner L’ordre des capucins est né en 1525 en Italie en tant que branche réformée de l’ordre des franciscains. Pour l’essentiel, deux provinces se développèrent en Allemagne, celle de Rhénanie-Westphalie et celle de Bavière. Par manque de relève, elles fusionnèrent en 2010 avec la province allemande des capucins dont le siège se trouve à Munich-Saint-Antoine. Les Archives sont conservées depuis 2013 dans le couvent Sainte-Madeleine à Altötting. En se basant sur l’histoire des deux anciennes provinces, l’article étudie les conséquences de la fusion pour les archives, l’intégration juridique des
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Archives provinciales, les fonds et les archivistes. A côté de cela, il évoque le traitement et l’exploitation des archives tout comme leur prise en charge de nos jours. Les lectrices et lecteurs des Archives demandent surtout à consulter les dossiers personnels, les documents relatifs aux différents couvents et les fonds des territoires missionnaires.
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České resumé1 „Tajemství s těžkým zámkem a závorou“? Skici ke kulturním dějinám archivů ve Staré říši Anett Lütteken Institucionální dějiny archivů, ať už na regionální či místní úrovni, jsou již dávno intenzivně probádané. Několik deziderátů je možno spatřovat tam, kde se mohou dějiny archivu stát součástí rozsáhlejších kulturních dějin. Článek je tedy v tomto kontextu jakýmsi pokusem exemplárně analyzovat možné styčné plochy, přičemž bude také podrobně zkoumána relevance duševního vlastnictví osvícenství vůči profesionalizaci archivnictví. Vedle různých praktických úvodů (např. od Karla von Eckartshausena, Philippa Wilhelma Ludwiga Fladta nebo Johanna Georga Schelhorna) jsou dnes ceněny méně známé práce historiků Staré říše (mezi nimi např. Hioba Ludolfa, Friedricha Lucaeo a Johanna Christiana Lüniga), kteří ve svých kompendiích zpracovali mimo jiné základy pomocných věd historických v novodobé archivní práci. Zvláštní pozornost je nakonec třeba věnovat institucionálním předchůdcům myslitelů, jakými byli Jakob Wencker, Gottfried Wilhelm Leibnitz a Ludovico Muratori, kteří bod po bodu praktikovali synergetické pracovní techniky a systematicky reflektovali vhodné organizační formy. Do spisovny nebo do archivu? Ke spolupráci starobavorských archivů a spisoven v letech 1500–1800 Elisabeth Weinberger Vycházeje ze středověku, v němž byly kanceláře, registratury a archiv funkčně a organicky propojeny a netvořily tak samostatnou organizaci, popisuje tento příspěvek rozdělení archivu a registratury na přelomu raného novověku. V centru pozornosti studie stojí další spolupráce archivu a registratur od 16. do konce 18 století: V důsledku specializace úřadů vévodství bavorského po roce 1550 vzniklo několik specializovaných úřadů, jimž podléhaly vlastní kanceláře a registratury. Samotný archiv se soustředil dále na listiny a podporoval tak vznik archivu aktového materiálu. Po1
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Übersetzung: Karel Halla, Cheb/Eger.
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sledně jmenované i nadále konkurovalo registraturám, které samy usilovaly o právně relevantní status archivu. Oddělené a přeci zcela blízké. Archiv a registratura v knížecím klášteře Kempten v 17. a 18. století Gerhard Immler Archiv benediktinského opatství založeného někdy v letech 744/752, celé jeho registratury a jím ovládaného na říši nezávislého knížectví Kempten, se v polovině 18. století nacházelo v chaotickém stavu i díky útěkům během třicetileté války. Aby mohlo dojít k nápravě, byl roku 1755 do funkce „archivního registrátora“ jmenován správce (vedoucí úředník podřízeného správního úřadu vnitra a justiční správy) Joseph Feigele. V průběhu zhruba 25 let nově uspořádal celý archiv a zařadil do něj všechny uzavřené dokumenty centrálních úřadů, stejně jako velmi ceněné spisy úřadů podřízených. Archiv tím povýšil na ústředí správy dokumentů celé země. Pro ně zabezpečil jako právní základ tištěný mandát knížecího opata Honoriuse z 30. září 1769, který působil pozoruhodně moderně díky v něm zakotvené povinnosti nabídnout spis deset let po jeho uzavření archivu. V jeho dvojí funkci ředitele (zástupce šéfa úřadu) dvorské komory (centrální finanční úřad) se Feigele postaral o to, že úřední spisy byly již ve spisovně připraveny k archivaci. V souvislosti s pozdějším vytvořením jakéhosi meziarchivu se mohl Feigele zamyslet i nad problémem dokumentární hodnoty, ale bohužel nezanechal tento v praktické práci tak plodný archivář mimo již zmíněného mandátu z roku 1769 žádné dokumenty, které by reflektovaly jeho práci v teoretické rovině. Archiv arciopatství Bamberg. Fondy, úkoly a vztah k úředním registraturám Klaus Rupprecht Archiv arciopatství Bamberg se nacházel v Nové rezidenci v Bamberku, správním centru arciopatství v 18. století. Byl prostorově propojený s kancléřstvím a světskou vládou. Institucionálně spadal pod vládu a obsahově odrážel její hlavní úlohy. Interně se rozlišovalo mezi „tajným archivem“ (klenba A až C) s církevními a státoprávními sériemi listin, stejně jako konferenčními a diferenčními spisy k teritoriálním sousedům, šlech-
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tě, sborům kanovníků, klášterům a opatstvím atd. a „obecním archivem“ ve zbývajících klenbách s dokumenty, které vznikly v rámci výkonu soudní jurisdikce, vrchnostenských práv a „guter Policey“ (veřejného pořádku). Nebyl to čistě listinný archiv, zahrnoval většinou všechny tematicky řazené typy archiválií. I když byl vznesen zásadní požadavek, nikdy se nepodařilo etablovat archiv jako instituci pro právoplatné dokumenty všech arciopatských centrálních úřadů. O to více musely být na konci 17. století tajnému kancléřství předávány dokonce i ústřední korespondenční řady k říšské a krajské politice. Pokud došlo ze strany vlády k ukončení jednání v rámci sporných případů či interních postupů, byly příslušné spisy bezprostředně předávány archivu tak, že nelze narýsovat jednoznačnou dělící linii mezi archivem a registraturou. Klasické archivní činnosti jako třídění, pořádání a bezpečné ukládání byly propojené do funkčního celku každodenní vládní politiky. Archiv byl pořizovatelem informací (částečně také posuzovatelem) pro správu ve sporných záležitostech a předkladatelem vlastních právních norem v rámci arciopatství. V druhé polovině 18. století došlo k významné institualizaci archivu jako úřadu (s personálně hierarchicky členěnými popisy činností, sazebníky a novými interními skupinami písemností), profesionalizaci a částečně novému nasměrování archivních činností. Došlo i na úvahy nad celkovou systematikou, pečovalo se o zlepšení podmínek ukládání, založily se sbírky mandátů a nařízení a vytvářela se sofistikovaná historicko-diplomatická díla. Archiváře jako ochránce materiální pořádnosti, jako garanta obsahové využitelnosti a poučeného poskytovatele informací pro vládnoucí třídu představoval – v rámci arciopatství Bamberg především v osobě Wilhelma Johanna Heyberga – obraz archivně vzdělaného člověka, který jednak sepisoval archivně teoretické spisy, ale také s různými záměry vydával listináře. Středoevropské publikace o archivech (1664–1804) v kontextu ius archivi Joseph S. Freedman Příspěvek začíná stručným shrnutím konceptu ius archivi, formulovaného Rutgerem Rulandem (1597, 1604, 1664, 1724), a pokračuje sledem právníků v pěti latinských publikacích (1664, 1668, 1876, 1681, 1688) tak, jak je užili v rámci konceptu ius archivi. Podle těchto šesti publikací si mohou všechny dokumenty, které jsou uchovány v repositoriu opatřeném
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ius archivi, činit nárok na právní platnost, nezávisle na jejich skutečném obsahu. Ruland přisoudil ius archivi pouze repositoriím, které patřily předním říšským městům Svaté říše římské, později tuto politickou skupinu rozšířilo ještě pět publikací. Tím se výrazně liší pojednání o archivech v práci o právní praxi Johanna Stephana Püttera (německy, 1753, 1758, 1765, 1780, 1789, 1802), stejně jako v sedmi archivních pojednáních – všechna byla sepsána v němčině archiváři v letech 1777, 1783, 1786, 1799, 1800, 1800 a 1804. Ve střední Evropě oproti tomu v průběhu 18. století tendenčně stále kritičtěji vystupují různé práce s ius archivi, a to především z pohledu diplomatiky. Takové kritiky se neobjevují ani v Pütterově traktátu ani ve zmíněných německých archivních publikacích z let 1777–1804. Místo toho se autoři patrně vyhnuli otázkám ius archivi a soustředili se především na archivní fondy. Uvedené, v období mezi lety 1664 a 1804 publikované příspěvky, pojednávají všechny o souvislostech mezi archivy a registraturami, s výjimkou Karla von Eckhartshausena (1786). Příspěvek zohledňuje také statě o registraturách (a v nich obsažené vyjádření k archivům) Jacoba von Rammingena (1571), Georga Aebbtlina (1669, 1728) a Philippa Wilhelma Ludwiga Fladta (1764, 1765). Výrazné rozdíly mezi sedmi archivními pojednáními (1777–1804) lze sledovat v následujících odborných otázkách: [1] Přiměřený důraz na tvorbu fondů (především s ohledem na novější nebo starší dokumenty) a [2] přiměřená odměna, funkce a status archiváře. Tyto rozdíly lze tedy sjednotit, protože se autoři převážně odchýlili od ius archivi, který v pojednáních 17. století (1664–1688) ještě utvářel jednotný rámec. To lze však interpretovat i tak, že povolání archiváře ve střední Evropě vzniklo nejpozději s archivním pojednáním Philippa Ernsta Spiesse z roku 1777. To naopak způsobilo, že od této doby to byli především archiváři (nikoliv právníci), kteří publikovali k archivní problematice. Držela hanzovní města v 16. a 17. století individuálně Ius Archivi? K edici listin v procesu mezi hrabětem holštýnsko-pinnebergským a hanzovním městem Hamburk před řísškým komorním soudem Udo Schäfer Od 14. století vedlo rozvíjející se komunální písemnictví v Německu ke vzniku komunálních archivů. Hanzovní města Lübeck, Hamburk a Brémy tak disponovaly od 13. století listinným pokladem označovaným jako
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»trese«. Ius archivi v aktivním slova smyslu – kompetence zřídit a udržovat veřejný archiv – a Ius archivi v pasivním slova smyslu – oprávnění zprostředkovat písemným záznamům jejich autenticitu díky uchování ve veřejném archivu – příslušelo dle právních teorií 16. a 17. století také hanzovním městům nezávislým na říši jako Lübeck, stejně jako »civitates mixtae« uznaným říšským hanzovním městům Hamburk a Brémy. Prosté členství v hanze, tedy společenství zájmů nebo zástupce zájmů, bylo sotva chápáno jako abstraktní aparát »ius commune« a »ius publicum«, což nedokázal Ius archivi odůvodnit. Na základě tlaku říše a tvorby teritoriálních států potřebovala sama hanzovní města Lübeck, Hamburk a Brémy své archivy, aby se mohla publicisticky a právně bránit politickým a právním nárokům sousední zemské vrchnosti. Proces mezi hrabětem holštýnsko-pinnerbergským a hanzovním městem Hamburg vedený v letech 1561– 1609 před říšským komorním soudem ohledně vypořádání hamburské zástavy na území Billwerdské marše však jasně ukazuje, že právní výhody Ius archivi v soudní praxi poskytovaly výhody zemské spíše vrchnosti než hanzovním městům. Ius archivi – zbožné přání a každodennost v životě registrátora/archiváře v době kolem roku 1800 Joachim Wild Ius archivi byl vlastně přednostně využíván pouze v teoretické, resp. právní rovině, zatímco jeho možné praktické dopady v pracovním životě registrátora či archiváře nebyly prakticky vůbec zohledněny. V tomto příspěvku jsou zkoumány především tyto praktické dopady s tím, že je popsána profesní dráha jedné pro bavorské archivní dějiny významné osobnosti, totiž Franze Josefa (von) Sameta. Samet započal svou kariéru roku 1786 jako vedoucí registratury bavorské kurfiřtské dvorní komory v Mnichově, přičemž se mu i přes jeho četné snahy nepodařilo ius archivi v rámci dvorské komorní registratury prosadit. Když Samet roku 1799 povýšil na místo ředitele tehdy nově zřízeného tajného zemského archivu, spadlo mu archivní právo, o které tak dlouho usiloval, takřka přes noc do klína. Ale jen svou účastí na edici listin Monumenta Boica, vydané Bavorskou akademií věd, mohl garantovat své postavení ředitele Tajného zemského archivu a tím i věrohodnost edicí prezentovaných listin, přičemž jeho garance zahrnovala pouze správný opis originálu. Ius archivi přispěl k nárůstu osobní prestiže, která se následně projevila v jeho přijetí do Akademie věd.
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Historiografie, státní právo a archivní teorie na územích falckých Wittelsbachů (se zvláštním zřetelem k falcko-zweibrückským archivářům Johannu Heinrichovi a Georgu Augustu Bachmannovi) Paul Warmbrunn Východiskem tohoto příspěvku je zrod archivnictví falckých Wittelsbachů, které vznikalo již od pozdního středověku z kanceláří a „listinných kleneb“ v rezidenčních městech, přičemž v centru pozornosti stojí kurfiřtský archiv rýnského falcrabství resp. falcké kurfiřtství, nejprve v Heidelbergu, poté v Mannheimu, a dále archiv vévodů falcko-zweibrückských, který jako jeden z prvních disponoval účelovou archivní budovou již od roku 1747. Na příkladu zweibrückských archivářů Johanna Heinricha Bachmanna (1719–1786) a jeho syna Georga Augusta Bachmanna (1760– 1818) lze doložit, že oba byli ještě poplatní vzoru archivní práce právníka-archiváře Staré říše, která je jasně rozpoznatelná také u Bavorského hlavního státního archivu a spočívala zcela na právně poradních a znaleckých činnostech. Ruku v ruce s tím šla i historická věda, která byla podřízena státnímu právu a v první řadě sloužila prokazování a ochraně právních nároků vládnoucí dynastie. I když se poslední archivář knížectví Georg August cítil být konfrontován změnami vyvolanými francouzskou revolucí a výrazně se přitom zasloužil o záchranu a uchování falcko-zweibrück ských archivů, shrnul tento pohled a názor roku 1800, tedy krátce před definitivním zánikem starého řádu, do svého díla „O archivech“, který sepsal v rámci polemiky s dalšími důležitými archivními teoretiky své doby. V něm obhajoval řád, který se musel řídit státoprávními poměry příslušné země, nikoliv samotnými archiváliemi. Tím vnesl svébytný a ve všech časových souvislostech důležitý přínos k archivní teorii a vědě, který ovlivnil především vývoj bavorských archivů. Tajný archiv Braniborsko-ansbašského knížectví a jeho rozkvět v 18. století Daniel Burger Dokumenty braniborsko-ansbašského knížectví jsou v současnosti uloženy ve Státním archivu v Norimberku, který je příslušným státním archivem pro bavorský vládní obvod Střední Franky. Dělí se na dva velké bloky: Na tajný archiv (vrchnostenský ústřední archiv v rezidenčním městě Ansbachu) a na různé registratury úřadů. Posledně jmenované musely
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být ve státním archivu rekonstruovány z mladších svozů příslušných úřadů v 19. a 20. století. Fondy tajného archivu jsou, i přes částečné rozptýlení v 19. století, mezitím všechny deponovány ve Státním archivu v Norimberku. Rekonstrukce je již ve velmi pokročilém stádiu, poněvadž mohly být jako pracovní podklady využity vynikající historické archivní inventáře. Po požáru zámku roku 1710 byl tajný archiv přestěhován do tzv. kancelářské budovy nacházející se v bezprostřední blízkosti nejdůležitějších centrálních úřadů. Archiv se dočkal enormního rozkvětu pod vládou markraběte Karla Wilhelma Friedricha (nar. 1712, vládnoucího v letech 1729–1757), když byl obsazen novými úředníky; zvlášť významní byli archiváři Karl Ferdinand Jung (1699–1772), Johann Sigmund Strebel (1700–1764) a Gottfried Stieber (1709–1785). Vytvořili koncept členění a popisu archivních fondů a s obdivuhodným pracovním nasazením ho i využili. Prostřednictvím velké stěhovací akce v letech 1733/34 byly nejdůležitější dokumenty úřadů nižších stupňů archivovány a uspořádány. Archiv spolupracoval také na zlepšení výkonu spisové služby jednotlivých úřadů. Mimořádným výkonem byl tištěný jednotný registraturní plán pro markrabské úřady z roku 1738, protože nezůstal pouze v teoretické rovině, ale byl s pomocí archivu použit i u podřízených úřadů. Zde započalo vynikající vedení spisů, které mohlo být po přechodu knížectví ansbašského na království pruské výborně využito novými úřady. Ansbašští archiváři byli také vědecky činní, jejich publikace se ale pohybovaly v obvyklých dobových intencích a skládaly se především z diplomaticko-historických, genealogických a historicko-topografických prací. Jejich zásluha spočívá především v pečlivém uspořádání a inventarizaci jimi spravovaných fondů. Vynález spisu ve východopruské zemské správě Denny Becker Ve středověku spočívala správa dokumentů ve velké míře ve vystavování a uchovávání listin a vedení úředních knih. S ohledem na rozšíření správních potřeb v raném novověku explodovala i produkce dokumentů. Tradiční struktury archivace se zbortily. V několika fázích se ze stávajících forem archivace vyvinulo vedení spisů. Klasické úřední knihy Staropruské zemské vlády v Kaliningradu obsahují zpravidla opisy dokumentů. Nejprve přešla Tajná kancelář v 16. a 17. století k tomu, aby nadále neopisovala dokumenty, ale svazovala pí-
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semnosti ve stávajících sériích do úředních knih odděleně pro příchozí a odchozí, nebo podle systematiky, povětšinou dle korespondenčních partnerů, a ukládala je do skříní a šuplíků. V dalším vývojovém stupni vznikl úřední postup. K jednomu postupu náležející dokumenty byly svazovány do úředních knih. Tím byl v 17. století položen základní kámen vedení spisu, i když svazování knih stále ustupovalo praktičtějšímu sešívání spisů. V 18. století byl nakonec zaveden spisový plán, podle jehož systematiky byly dokumenty ukládány dle spisů. Vedení úředních knih setrvalo povětšinou ve formě registrů nebo pamětních záznamů. Braniborsko-Prusko bylo spojeným teritoriálním státem s různou tradicí zemských stavů. Po delší časové údobí se z něj vytvořil úřednický centrální stát hohenzollernské monarchie. Kaliningrad byl v raném novověku zeměpanským a zemským stavovským správním centrem knížectví. Hrad fungoval jako archaický správní organismus sestávající z radničního sálu, kanceláře, komory a soudů. V průběhu centralizace v 18. století a formování rezidenční krajiny v Berlíně-Potsdami došlo k úřední restrukturalizaci a přesunu kompetencí. Po Stein-Hardenbergeschových reformách se stal Kaliningrad hlavním městem provincie Východní Prusko. Raně novověké úřady se vyvinuly a Tajný archiv na hradě Kaliningrad se stal archivem provincie. Archiváři se v 19. století se pokoušeli pořádat dokumenty v Tajném archivu podle archivně teoretických představ. Porozumění pro dějiny původce jim buď chyběl nebo byl zneužíván. Dokumenty byly vytrhovány z kontextu jejich vzniku a z nich vytvářeny nepravé provenienční a pertinenční fondy. Roku 1881 pruskou archivní správou zavedený provenienční princip byl reinterpretován. Díky archivnímu zpracování byly písemnosti raně moderní Staropruské zemské vlády až k nepoznání roztříštěny. Úkolem současné generace archivářů bude prostřednictvím nových pořádacích metod z roztříštěných částí fondů rekonstruovat autentické a integrální fondy a zviditelnit tak východopruskou zemskou vládu v její celistvosti jako nejvyšší zemský úřad. Max Lehmann a Archiv Filozofické fakulty Univerzity Göttingen Holger Berwinkel Max Lehmann (1845–1929) zavedl u Pruského tajného archivu provenienční princip jako závazný ještě předtím, než začal učitelsky působit na akademické půdě. Příspěvek popisuje jeho pozdější archivní
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činnost na postu děkana na Filozofické fakultě Univerzity v Göttingenu, jejíž archiv a registraturu roku 1906 reformoval dle moderních principů a uspořádal pro historické potřeby. V zrcadle této reformy jsou viditelné zvláštnosti vedení spisů u původce typu „fakulta“. Lehmann zde působil společně se svými kolegy profesory Karlem Brandim a Edwardem Schröderem. Založení archivu v Göttingenu se tak v této personální konstelaci stalo součástí dějin působení Archivní školy v Marburgu. V příloze je zveřejněn Lehmannem vypracovaný archivní řád. Pergamenové listiny městského archivu Reval/Tallinn. Vzpomínky na nedokončenou archivní práci a několik biografických postřehů Ludwig Biewer Městský archiv v Revalu/Tallinnu, od roku 1918 hlavním městu Estonska, patří k nejhodnotnějším archivům Pobaltí. Schraňuje nejenom nejdůležitější prameny k dějinám města, ale také k dějinám celého Pobaltí, Skandinávie, hanzy, původního Livonska, Estonska a jejich sousedů, tedy středovýchodní Evropy. V 19. a 20. století musely být jeho fondy nuceně přemístěny kvůli válečným konfliktům. Jako důsledek přemístění roku 1944 se zhruba dvě třetiny jeho fondů dostaly na území pozdější Spolkové republiky do důvěrnické správy Spolkového archivu. Po náročných jednáních se Sovětským svazem 1986/87 se v říjnu 1990 vrátily zpět do péče Městského archivu Reval/Tallinn. To platí také pro chronologicky uspořádaný fond listin, který byl dlouho nezvěstný a teprve roku 1882 se ho v rámci přestavby gotické radnice podařilo znovu nalézt. V důsledku toho pověřilo město od roku 1883 vedením archivu vědecké archiváře zaměstnané na plný úvazek. Jejich svižně vypracované a tištěné přehledy fondů (1896, 2. vyd. 1924/26) obsahovaly také příslušné regesty k listinám. Paul Johansen, který v archivu pracoval od roku 1924 a v letech 1934–1939 ho i řídil, regestoval listiny z let 1233 až 1375. Další pořádací práce po roce 1945 probíhaly pozvolna. Proto byly revalské listiny roku 1979 zapůjčeny Spolkovým archivem k přepracování stávajících regest, resp. novému regestování, a to Tajnému státnímu archivu pruského kulturního dědictví v Berlíně-Dahlenu. Tato úloha byla autorovi svěřena v dubnu 1979, který měl nejprve pořídit regesty cca 860 pergamenových listin z let 1376 až 1796, tedy dokončit práci Paula Johansena. První část svého díla mohl autor ukončit na sklonku roku 1981. Další práce s těmito listinami mu ale nebyla umožněna, také zamýšlené
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vydání regest nebylo realizováno. Po služební cestě do Tallinnu – autor byl od roku 1987 činný v Politickém archivu zahraničního úřadu – spojené s pobytem v tamějším městském archivu v lednu 2007 předal autor zbylá regesta kolegyním a kolegům z městského archivu v Tallinnu. Ti postupně zveřejnili jeho práci na internetu v podobě klíčových regest a zároveň jako nadpisy mezitím digitalizovaných revalských listin, kde si je může kdokoliv a kdykoliv zobrazit a prohlédnout. V současné době jsou také umožněny potřebné korektury a doplnění regest, které probíhají postupně. Tímto způsobem může být práce z let 1979 až 1981 úspěšně a obecnému prospěchu badatelů dokončena. „Organický růst“ a provenienční princip. Základ, anebo staré zátěže archivní vědy? Philip Haas Přejímka úředních dokumentů do archivu dle provenienčního principu za předpokladu dodržení souvislostí vzniku je považována za důležitý základní princip archivnictví a rozlišuje tak podle vlastního sebeuvědomění veřejný archiv od sbírkotvorné instituce. Pro automatickou genezi úředních písemností uvnitř registratury úřadu byla ražena teze „organického nárůstu“, který se zhruba v podobě „archivního organismu“ utvářel a uchovával v archivu. Organická sémantika vytváří působivý diskurz, který se line přímo jako ústřední motiv odbornou debatou klasiků a latentně až do současnosti formuje archivní vědu. Obzvláště reflexe k provenienčnímu principu jsou zpravidla od toho organického odděleny. Předložený příspěvek pojednává o organických konceptech a sémantikách v kontextu provenienčního principu. Historická reflexe od 19. století až po současnost, zahrnující území od Francie přes Nizozemí, Prusko až do SRN a DDR, pojednává o různých úpravách provenienčního principu a jeho vztahu k organické sémantice. Na tomto základě lze vyvodit i důsledky pro současné archivnictví.
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Na přechodu k institualizaci. Středověká archivní pomůcka v biskupském archivu ve Freisingu Adelheid Krah Studie pojednává o jedné z nejstarších dochovaných archivních pomůcek, její příloze z období freisingských biskupů Egilberta (1005–1039) a Ellenharda (1052–1078) a jejím využití při produkci freisingských úředních knih ve 12.a 13. století. Využitelná, ve dvou exemplářích dochovaná pomůcka sloužila nejen k roztřídění archiválií v biskupském archivu, ale v jejím rámci došlo také k cílenému přiřazení privilegií freisingského majetku freisingských biskupů a k jejich době působení. V široké analýze lze prokázat, že Conradus Sacrista využíval tuto archivní pomůcku při sepisování jeho monumentální freisinské úřední knihy z roku 1187 a odkazoval na jednotlivé pasáže z ní na konci přepsaných privilegií freisingského majetku jako odkazů ve formě citace z pramenů ve scholastickém duchu. Úřední kniha freisingského majetku ze 13. století využila právě tuto archivní pomůcku k identifikaci dokumentů, jež byly do ní přepsány. Dodržuje ale její chronologické řazení pouze občas a využívá více vlastní třídění dokumentů podle priorit, což odpovídá tehdy aktuálním hospodářským zájmům biskupství. Text archivní pomůcky byl zaznamenán v nepopsané části k prologu Cozrohova kodexu, přičemž bylo prozřetelně ponecháno místo pro doplňující záznamy k raným freisingským biskupům. V této formě je zachována archivní pomůcka jako duplikát na konci maloformátového Freisingského rituálu z 11. století. Můžeme vycházet z toho, že se u záznamů v Cozrohově kodexu jedná o originál archivní pomůcky, která měla být ve stejnopisu k dispozici uživateli liturgického rukopisu. Lze tedy vyvodit, že za vlády biskupů Egilberta a Elenharda v 11. století byly dokumenty týkající se freisingského majetku systematicky pořádány. Jak je známo, k rozšiřování majetku tehdy došlo především v době sálských králů a císařů. Conradus Sacrista tuto archivní pomůcku využil později. Analyzované prameny v předložené studii osvětlují správní činnost biskupského archivu ve Freisingu v 11. a 12. století, kterí se tak staly základem institucionálního růstu freisingských úřadů jako na sídlo biskupa navázaných správních center majetku po mnohá další staletí.
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Dějiny archivního vzdělávání v Německu do roku 1949/50. Přehled k výročí 200. výročí existence archivních škol v Evropě Clemens Regenbogen V únoru roku 1821, tedy již před více jak 200 lety, byly současně, ale na sobě nezávisle, uvedeny v život první archivní školy, a to „Archivní vzdělávací institut“ v Mnichově a „École des chartes“ v Paříži. Zatímco Bavorská archivní škola je dodnes ve světě konstantní veličinou, jeví se historie srovnatelných institucí v jiných německých státech, jmenovitě v Prusku, jako výslovně proměnlivá. Po úvodních výkladech k situaci ve vzdělávání archivářů v raném novověku přináší příspěvek instutucionálně-historický přehled až k letům 1949/50, kdy v rámci dělení Německa z „pruského dědictví“ vznikly dvě oddělené archivní školy v Marburgu a Postupimi. Přitom je zřejmé, jak závislé bylo založení archivních škol na iniciativách jedinců jako byli Theodor von Sickel, Paul Fridolin Kehr a Albert Brack mann. Jako mediavisté a vědci v oboru pomocných věd historických postupně pozdvihli rakousko-prusko-německé vzdělávání archivářů zcela od základu, i když v první řadě jako vedlejší produkt vlastních vědeckých institucionálních ambicí. Jak analýza učebních plánů, tak sociologie studentek a studentů archivnictví názorně ukázaly, v jak vysoké míře bylo vzdělávání archivářů po celé sledované období začleněno do kontextu pomocných věd historických. Šlechtická archivní praxe ve Výmarské republice mezi státní centralizací a regionální inovací Příklad „Spojených westfálských šlechtických archivů“ Tom Tölle Na přelomu let 1918/1919 ztratila šlechta v Německu svá nejdůležitější stavovská práva. Současně s tím zažilo nestátní archivnictví jednu ze svých inovačních fází. Příspěvek propojuje oba tyto procesy: na regionálním příkladu ukazuje založení spolku „Spojené westfálské šlechtické archivy“, tj. jak mohou samouci a laičtí archiváři urychlit archivní inovace díky politickým debatám nad ztrátou šlechtického stavu. Na příkladu hlavního funkcionáře tohoto spolku, veterána světové války, historika, laického archiváře a pozdějšího rozhlasového intendanta Heinricha Glasmeiera (*1892, † 1945) popisuje tento příspěvek ambiciózní a inovativní program spolku „Spojené westfálské šlechtické archivy“, intelektuální a politické kontex-
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ty spolku stejně jako konkrétní praktiky archivně vědeckých outsiderů. Glasmeier otevřel lokální archivní praktiky kontroverzním politickým debatám své doby, pojednávajících o roli národa, kulturním prostoru a rase, aby tak legitimizoval nestátní archivní plány. Přitom se mu podařilo mobilizovat regionální a národní povědomí o dějinách vůči centralizujícím snahám ve státním archivnictví. Pro „Spojené westfálské šlechtické archivy“ usilovně propagoval archivně teoreticky laděnou podporu národního partikularismu. Archiv Německé provincie kapucínů Carolin Weichselgartner Řád kapucínů vznikl roku 1525 v Itálii jako reformní odnož františkánského řádu. V Německu se v podstatě vytvořily dvě provincie, rýnsko-westfálská a bavorská. Kvůli nedostatku nových bratří došlo roku 2010 ke spojení do jedné Německé kapucínské provincie se sídlem u sv. Antonína v Mnichově. Archiv je od roku 2013 uložen v klášteře sv. Magdalény v Altöttingu. Vycházeje z historie obou bývalých provincií se ���� tento příspěvek zaobírá důsledky spojení pro archivy, právním napojením provinčního archivu, fondy a archiváři. Vedle toho je zmíněno také dnešní pořádání a badatelské využití, stejně jako péče o fond samotný. Badatelky a badatelé obzvlášť preferují personální spisy, spisy jednotlivých klášterů a fondy misijních oblastí.
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