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German Pages 420 Year 2017
Gerrit Confurius Architektur und Geistesgeschichte
Architekturen | Band 41
Gerrit Confurius (Dr. phil.), geb. 1946, lebt als freier Autor in Berlin. Er arbeitete als Lektor für den »Greno-Verlag«, als Redakteur der »Bauwelt« und als Chefredakteur von »Daidalos«. Zu seinen Veröffentlichungen zählen u.a. »Sabbioneta oder die schöne Kunst der Stadtgründung« (Hanser), »Der Pinocchio-Effekt« (Sonderzahl) und »Ichzwang« (Matthes & Seitz).
Gerrit Confurius
Architektur und Geistesgeschichte Der intellektuelle Ort der europäischen Baukunst
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Inhalt
A. Orte und Grenzen, Leib und Blick, verkleinerte Modelle | 7 B. Die Sprache der Monumente, der Skandal des Ornaments | 167 C. Mitte und Peripherie | 271 D. Permanenz und Gedächtnis, Demiurg und Bastler | 341
A. Orte und Grenzen, Leib und Blick, verkleinerte Modelle The world of belief, of projects and representations is just as real as reality [… A]rchitecture is building as well as forming of thought. L ewis M umford Worte bezeichnen. Dinge werden bezeichnet. Obschon es Dinge gibt, die manchmal auch bezeichnen. A lciati Indem ich baute, warf er lächelnd hin, habe ich mich, glaube ich, selbst erbaut. Paul Valéry, E upalinos
A 1. Le Corbusier ging bei dem Besuch eines Klosters auf, dass viele der Menschheitsprobleme in Wahrheit Probleme architektonischer Gestaltung seien. Wenn man es etwas vorsichtiger ausdrückte, könnte man sagen, dass viele Probleme lösbarer aussehen, wenn man sie als Frage der architektonischen Gestaltung begreift. Auch die Parole »Architektur statt Revolution« behauptet diesen nicht nur sozialtechnologisch gemeinten grandiosen Anspruch. Mit der Verteilung der zu einem kompletten Gemeinwesen benötigten Elemente auf der Fläche ist in der Tat ein guter Teil getan. Die darüber hinausgehende Verheißung grenzt freilich an den Glauben an Magie. Dass man der Architektur diese Wunderwirkung zutraut, mag darin begründet sein, dass Architektur nicht nur Dinge und Personen im Raum verteilt und deren Erreichbarkeit sichert, auch dem Menschen nicht nur zum Überleben und zur Selbsterhaltung dient, sondern auch Lebensentwurf ist, Entwurf guten, richtigen Lebens. Wenn die Architektur eine Antwort gibt, dann könnte die Frage lauten: wie der Mensch es bewerkstelligt, sich in der Welt heimisch zu fühlen, wie er dafür zu sorgen weiß, in der Welt zuhause zu sein, sie zu bewohnen, sich in der Welt seiner Objektivationen wiederzufinden. (1) Damit ist die Hoffnung verknüpft, dass die Welt für den Menschen gemacht ist, seinen Ideen gemäß gestaltet, dass sie ist, wie sie sein soll, oder zumindest in dieser Richtung verbesserungsfähig.
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Angesichts der empirischen Gegebenheiten, die durchaus zu wünschen übrig lassen, scheint dies, so Blumberg, zu hoch gegriffen. Schon die Aufgabe, den Sollzustand eindeutig und einmütig zu definieren, stoße auf Schwierigkeiten. Zunächst geht es um den Sachverhalt, dass die biologische Grundausstattung des Menschen ihm seine Selbsterhaltung nicht ohne weiteres gewährleistet. Architektur zählt zu den notwendigen Reaktionen auf den »organologischen Dilettantismus des Menschen« (Max Scheler), die sich mit der Zeit des Überlebenskampfes summiert haben und denen man die Mühe ansieht, die es bereitet, sich die Mühsal ihres Auf baus nicht anmerken zu lassen. Es mag deshalb eher angebracht sein zu sagen, mit Architektur versuche der Mensch, über den Schutz gegen die Witterung hinaus das Zusammenleben mit anderen erträglicher zu gestalten. Mit Hilfe der Architektur versuche er sich die Bewältigung der anstehenden Aufgaben zu erleichtern, die unvermeidbaren Widrigkeiten des Alltagslebens aushaltbarer zu machen. Aber der Einzelne erwartet doch auf je eigene Weise mehr, nämlich, dass sein Leben gelingen möge. Die philosophische Anthropologie bringt diese Dimension auf den Begriff: »[In der] Praxis unserer Denk- und sonstigen Handlungen geben wir den Zielen, Situationen und Mitteln unseres Lebens eine bestimmte Form. Unsere gesamte Lebenspraxis wird von diesem Grundzug, dem eigenen Leben eine Form geben zu müssen, bestimmt. ›Müssen‹ bedeutet hier: Es ist für uns […] pragmatisch unmöglich, es nicht zu tun. Wir können nicht, in Situationen verstrickt, uns nicht entscheiden. Es ist pragmatisch unmöglich, als (erwachsener) Mensch sein Leben nicht irgendwie zu führen und zu formen. Jedermann fühlt sich in das nicht hintergehbare Gefüge hineingezogen, das aus der Unbestimmtheit und Nichtfestgelegtheit der Form (seines Lebens) auf der einen Seite und den praktischen Erfordernissen seiner Form- und Gestaltgebung auf der anderen Seite besteht.« […] [Das Leben wird] »nicht irgendwie gelebt, sondern nimmt eine Gestalt an, in der es gut vollbracht werden will und als Ganzes gelingen soll.« (2)
Optimistisch gesagt könnte man meinen, es ginge darum, mit den anderen in Frieden und glücklich zusammen leben zu können und bei dem Entwickeln eigener Fähigkeiten und dem Verfolgen eigener Pläne nicht auf zu viel Widerstände zu stoßen. Pessimistisch gestimmt kann man aber auch argwöhnen, es ginge darum, sich wenigstens den anderen als Wolf vom Leibe zu halten. Bei einer Begegnung auf der Straße kommt alles »darauf an, abzuschätzen […], wie man selbst als ihm Begegnender in seinen Handlungsablauf gerät«, wie man von seiner Intention her aussieht, ob als »Störung, Hindernis, Rivale, Helfer, Ablenker oder Förderer«, also als Freund oder Feind. Gewissheit, welche Position die angemessene wäre, ist nicht zu erlangen. So liegt es nahe anzunehmen, »die Situation könnte sich gerade aus ihrer Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit heraus entwickeln«. (3) Bei solcher Unbestimmtheit gibt es nur die Strategie der Prävention. Ob »als Steigerung der Aufmerksamkeit, Beachtung des Ausdrucks und der Richtung, in Ausweichen oder Umkehren, Demutsgestus oder Drohgebärde, ist sekundär«. Jeder von beiden »weiß von sich, dass er als Gattungsgenosse noch nicht genügend Determinanten vorzuweisen hat, um für die Freund-Feind-Entscheidung eindeutig zu sein«. Die eigene Unbestimmtheit kann er nur als die unkalkulierbare Größe des anderen nehmen. (4)
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In einer solchen Situation, in der es einem an ausreichenden Informationen über sich und den anderen fehlt, ist die Belastung so groß, dass sie durch die Bildung von »Quasi-Spezialitäten« aufgefangen werden muss, die man auch Vorurteile nennt. Deren Funktion ist, »die Überlast der Individuation auf die Vereinfachung der Spezifikation zu reduzieren: ›Charaktere‹, ›Temperamente‹, ›Typen‹ zu bilden«. (5) Architektur ist vielleicht angemessen zu begreifen als ein derartiges präventives positives Vorurteil: als das materielle Substrat der Summe unserer Präventionen, die nötig sind, um es darauf ankommen lassen zu können. Architektur wäre das, was das unübersehbare »Überraschungsfeld« (Arnold Gehlen) auf Typen des Erwartbaren reduziert, gerade um es offen zu halten, um etwas wagen zu können. Sie tut dies auf räumlich kanalisierende Weise. Architektur räumt ein, dass es zu Begegnungen kommt, Überraschungen möglich sind, und bietet zugleich Wege zum Ausweichen und geschützte Gebiete für den Rückzug. Derartige typenbildende Vorurteile sind ja nicht Anteile des Unbewussten, in ihnen nimmt das Bewusstsein nur den kürzeren Weg, im »Schnellverfahren des psychischen Mechanismus«, ohne sich die Zwischenschritte bewusst zu machen. In architektonischer Form ist das scheinbar Momentane in Raum und Zeit unendlich gedehnt. Zu bescheiden darf man nicht sein. »Eine allgemeine Prävention, die darin bestünde, jedermann als Feind zu behandeln, bis zum empirischen Beweis des Gegenteils – hätte alle Vorteile zerstört, die in möglichen Assoziationen liegen konnten.« (6) Wenn man sich nicht die Möglichkeit der Gemeinschaft offenhielte, müsste Xenophobie die Gemüter der Menschen und ihre Verhaltensweisen beherrschen. Nicht allein auf die Vorstellung angewiesen zu sein, dass der Mensch des Menschen Wolf sei, ist ein unbestreitbarer Selektionsvorteil. Also geben wir dem anderen eine Chance, gehen wir Risiken ein, die wir sogleich zu minimieren versuchen. Die Stadt in ihrer architektonischen Form ist der Ort dieser Vorteilsnahme. Sehen und Gesehen-Werden sind Vorbedingung und Gefahr zugleich. Wir sind als Sichtbare der Welt der Anderen ausgesetzt. Als Sehende werden wir zugleich gesehen. Damit Prävention im Falle der Begegnungen überhaupt möglich ist, muss dieses Minimum erfüllt sein: dass man aussieht, und dass man daran etwas sehen kann, was für beide lebenswichtig ist. Sichtbarkeit gibt aber noch nicht Aufschluss über die Motive und Gedanken, so dass Sichtbarkeit mit Undurchsichtigkeit verbunden ist. »Undurchsichtigkeit ist ebenso riskant wie unvermeidlich.« »Der Mangel spezifischer Vorentschiedenheit des Verhaltens zwingt, dieses als Erstreckung über die Zeit zu begreifen und den Augenblick der Wahrnehmung als Probe auf eine hypothetische Regelmäßigkeit zu nehmen: an den Anderen dicht heranzugehen, ihm ins Auge zu blicken […], um herauszubekommen, wie er sich in Zukunft verhalten könnte.« (7) Architektur bietet aber nicht nur den Raum für dieses Dicht-Herangehen, sondern lässt uns auch lernen, dass wir nicht alles über die anderen wissen müssen. Wie Balzac auf den ersten Seiten seines »Mädchens mit den Goldaugen« so anschaulich beschreibt, dass Thomas Mann ihn als den besten Soziologen bezeichnen wollte. Außerdem erfahren wir uns als Ich, Freuds triadischer Topik entsprechend, »von zwei Antagonisten bedrängt und beengt«, vom Ich-Anspruch als Abwehr der falschen Versuchungen und Gelegenheiten von außen, und vom Andrang der gegenüber der Realität ebenso rücksichtslosen Wunschenergie von innen. Auch die Einführung des Über-Ich in die Topik wurde erzwungen von einem Ausgesetztsein: von der Sichtbarkeit des Ich, von »seinem endogenen Sich-nicht-verbergen-
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Können«. (8) Auch für uns selbst gilt, dass wir uns nicht restlos kennen müssen, um im architektonisch gestalteten Lebensraum zuhause sein und bestehen zu können. Architektur gewährt uns freie Bahn und Sicht, Achsen, Perspektiven und Rahmen, wie sie auch Barrieren in den Weg legt, die Sicht versperrt und zur ästhetischen Bewirtschaftung auf dem engen Raum von Gassen und Plätzen zwingt. Sie setzt uns der Sichtbarkeit aus und gewährt uns Unsichtbar-Sein. Sie setzt beides vielfältig ins Verhältnis zueinander. Sie bildet die Bühne für die Sichtbarkeit und für das, was aus ihr folgen kann, gewährt aber auch Linderung angesichts des Umstands, dass die Welt das ist, aus dem wir nicht verschwinden können, und dass wir dem anderen immer schon zu viel zeigen, während wir über ihn wie über uns selber immer noch zu wenig wissen. Worauf Architektur antwortet, das könnte also so etwas sein wie die transzendentale Intersubjektivität, wenn es das denn gäbe: etwas zwischen den einzelnen Subjekten und zwischen Subjekt und Objektivität, »ein Verbund gegeneinander in Raum und Zeit verschoben gedachter Aspekte der Erfahrung«, ein Übergang zur Objektivität und zurück. (9) Architektur veranschaulicht den intersubjektiven Arbeitszusammenhang der Menschen und seine Bedingungen, den Raum der Erwartungserwartungen, der Austausch ermöglicht, aber auch die Möglichkeit einschließt, sich vor dem Zugänglichsein für andere zu schützen, sich zurückzuziehen, etwas zu verbergen haben zu dürfen, inkonsequent und inkonsistent sein zu können, vom einen zum anderen zu gelangen, aber auch etwas vorläufig im Dunkeln zu lassen, wenn man A gesagt hat, nicht notwendig B sagen zu müssen. Obwohl der Mensch nicht sagen kann, er habe die optimale Erfahrung, in der alle Dingeigenschaften sich darstellen, wie sie sind, kann ihn die Architektur diesbezüglich besänftigen und betrügend beruhigen. Die Architektur sagt uns, eine Welt kann nur sein, wenn in ihr Menschen sind und diese sich verständigen können, Geschichte und Sinn teilen, und dass der Entwicklungsstrom zur Kultur hinführen muss. (10) Man muss nun fragen, auf welche Weise Architektur zum friedlichen Zusammenleben und zum Gelingen des Lebensentwurfs beitragen kann. Arnold Gehlen hat, indem er die Notwendigkeit einer Stabilisierung des menschlichen Lebens ins Zentrum seiner Überlegungen zu einer philosophischen Anthropologie stellte, einen wichtigen Aspekt bezeichnet. In der Instinktunsicherheit des zu früh geborenen Menschenkindes sieht er notwendig den konstruktiven Charakter der menschlichen Spezies begründet. (11) Gehlen befindet sich mit der Ausgangslage in Übereinstimmung mit anderen Autoren. So spricht Henri Bergson von der unvorhersehbaren »schöpferischen Differenzierungstendenz« und der Ausbildung eines »inneren Milieus«. Was die Relation von Umwelt und Innenwelt betrifft, ist maßgebend Jakob von Uexkülls These, dass jedes Tier seinem spezifischen Bauplan gemäß in eine je selektive Umwelt eingepasst sei, stets nur wenige spezifische Wahrnehmungen der Welt habe, der Mensch dagegen das unspezialisierte »weltoffene« Tier sei. Ausgestattet mit einer »Erwerbmotorik« im Unterschied zur tierischen »Erbmotorik«, die sich durch eine nervöse Plastizität auszeichnet und bei der Bewegungen und Denken statt vom Instinkt von der Phantasie gesteuert sind. Das Menschenkind benötigt einen extrem langen Reifungsprozess und entwickelt beispiellose Zerebralität. (12)
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Biologisch fundierte Differenztheorien bilden den Ausgangspunkt aller vergleichbaren Ansätze. Für Helmuth Plessner stellt sich beim Menschen eine Unterbrechung des Reiz-Reaktions-Schemas ein. Er konstatiert einen Hiatus des Funktionskreises von Umwelt und Innenwelt, mit dem eine besondere Reflexivität einhergeht. Das menschliche Leben steht in Distanz zum eigenen Leib als Körper, der nicht fraglos in die Umwelt gesetzt ist, sondern, einströmenden Reizen von außen und von innen überschüssigen andrängenden Trieben ausgesetzt, das Verhältnis selbst definieren muss. Der Mensch ist nicht nur nicht in seine Umwelt eingepasst, er ist auch in seinem Inneren »ungewöhnlich heikel ausbalanciert«. Mit verlängerten und erfundenen Organen erschafft er eine künstliche Umwelt und auch eine künstliche Innenwelt und kann dies nicht nicht tun. Er braucht darum ein künstliches Gleichgewicht durch Artefakte, Routinen, Institutionen. Da die menschliche Bewegung sich durch ein »ursprüngliches und im Grunde nicht ausgleichbares Missverhältnis zu sich und seiner Sensorik« auszeichnet, wird die gesamte körperliche Existenz des Menschen als »Verkörperung« bestimmt, als Verhalten zu sich »als Körper und zu seinem Körper«. Plessner spricht von der Unergründlichkeit des Menschen für sich selber, vom homo absconditus. Aufgrund seiner exzentrischen Positionalität bildet er Ausdrucks-Masken und ist er auf solche angewiesen, für die anderen wie für sich selbst, die zugleich eine Verkörperung und Fixierung des Verhaltens sind und wechselseitig Erwartbarkeit sichern und zugleich eine Reserve ermöglichen. Zu diesen Ausdrucks-Masken zählt auch die Architektur. Bauten sind expressiver Ausdruck und auch Masken, die einen Rückzugsraum hinter ihren Oberflächen eröffnen. Die Architektur ist geeignet, dem »Zwang, sich gegenseitig bildhaft zu werden«, zu genügen, und zugleich zu »verhüllen, was der sozialen Umwelt vorenthalten werden soll«. (13) Die Phänomenologie beharrt als Korrektur dieses Verkörpern-Müssens auf der Fraglosigkeit des »Leibes« in der natürlichen Einstellung. Architektur hat teil an beidem, am Körper wie am Leib. Auf der essenziellen Ebene bietet Architektur Schutz, das Dach über dem Kopf, aber über dieses überlebenswichtige Milieu hinaus begründet im Gebauten, zu den wichtigsten kulturellen Objektivationen zählend, der Mensch sein Wesen. Mit dem »Haus«, so Scheler, tritt der Mensch aus der Natur heraus, schafft er sich ein eigenes Naturverhältnis. Das »unergründliche Wesen« muss stets erneut etwas werden. Einerseits bringt der Mensch die Form, sich selbst eingeschlossen, erst hervor, andererseits braucht er dabei eine Form, an die er sich halten kann: Dinge, die sich von ihm ablösen und eine vermittelte Unmittelbarkeit schaffen und in denen er im experimentellen Vorgriff Bekanntschaft mit sich selber macht. (14) Die Individuen handeln im Innern ihrer Gehäuse und Institutionen, von innen her. Indem jene, vom Einzelnen abgelöst, so das Innere stabilisieren, produzieren sie soziale Charaktere, Subjekte, Subjektpositionen. Institutionen werden von Arnold Gehlen thematisiert als künstlicher Außenund Innenhalt: indem sie Motive, Handlungen, Vorstellungen und soziale Beziehungen kanalisieren und habitualisieren, auf Dauer stellen und abschirmen gegen die einströmenden Reize, das Begehren und die Affektionen. In offenen und selbstkonstruierten, kontingenten Welten lebend ist der Mensch angewiesen auf Stabilisierungen, »Dauerantworten«. Solche Stabilisierungen sind auf Anschaulichkeit angewiesen. Sie bedürfen der Verkörperung. Sie bestehen in Lebensstilen, Körper-
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techniken, technischen Artefakten, Institutionen und Architektur, die aus der Welt eine künstliche Umwelt machen und einen »Lebenshorizont« bilden. Im Unterschied zu manchen Soziologen, denen der Prozess der Ablösung und Entsubjektivierung Anlass zu kulturpessimistischen Entfremdungsdiagnosen liefern, sieht Gehlen hierin die eigentliche Stabilisierungsleistung von Institutionen. Für Gehlen stellt die »allen Institutionen wesenseigene Entlastungsfunktion von der subjektiven Motivation und von dauernden Improvisationen fallweise zu vertretender Entschlüsse eine der großartigsten Kultureigenschaften« dar. Noch unterhalb der Schwelle vollständig ausgebildeter Organisationen stellen Institutionen stabilisierende Elemente bereit, die das feste Gerüst des im Fluss befindlichen Lebens bilden. Arnold Gehlen leitet ihre Entstehung und Funktionsweise aus einfachen Handlungsvollzügen ab, die eine »Habitualisierung eigenstabilen Verhaltens«, eine mit den Anforderungen des Objekts oder der Situation assoziierte »Gewohnheit« herbeiführen. Die Gewohnheit z.B. einer durch ein Werkzeug erforderten Handlungsfolge bewirkt ein Genügen eigener Art, das allein in der Ausführung dieser Handlungsfolge als solcher liegt. So kann sich das Handeln gegenüber seiner ursprünglichen Zweckbindung verselbständigen. Das so vom Primärinteresse und vom Bedürfnisdruck »entlastete« Verhalten gibt Raum für eine Fülle neuer Einfälle und Motive. Seine Hilflosigkeit macht den Menschen nicht nur angewiesen auf äußeren und inneren Halt, sie ermöglicht ihm auch Kreativität. Verhaltensweisen, Denkweisen, Motivationen, Kultur sind tätige Umschaffungen des nicht festgestellten Tieres, das sich immer wieder anders sieht und anders wird. So sieht Gehlen in der Kunst die Steigerung des Menschen zu sich selbst. (15) Was für Institutionen gilt, das gilt auch für die Dinge des täglichen Gebrauchs. Die entlastende Tätigkeit ist Ort des Schöpferischen, der Phantasie und der Erfindung, der Produktion von Dingen und der Entwicklung von Fähigkeiten, die sich im Nachhinein wiederum geeignet erweisen können für vorhandene Interessen. Das Wohlgeformte hat zunächst den sozialen Wert, Gruppenidentität zu bilden. In Riten und Praktiken präsent gehalten kann es darüber hinaus sekundäre Bedeutung erlangen. Die notwendige und durch Entlastung gegebene Distanzierung von der Eindrucksfülle der Welt erlaubt es, dass in der Relativierung des unmittelbaren Kontaktes mit den Dingen diese für unvorhersehbare Verwendungszusammenhänge zur Hand sein können. (16) Die Folge ist »die Verlagerung der Antriebsmomente in den Gegenstand des Verhaltens und die von ihm ausgehende Appell- oder Sollfunktion«. (17) In einer Umkehrung der Relation, einer »Inversion der Antriebsrichtung« figurieren menschliche Antriebspotentiale nicht nur als pragmatische Eingriffe, sondern vorfindliche Außenwelten können dazu benutzt werden, Steigerungen des Innenlebens zu erzeugen, Sensibilität und Einfühlungsfähigkeit zu differenzieren, Affekte zu produzieren. Man darf wohl folgern: Die Erhebung des Arbeitsmittels zum Selbstzweck, der sich dem Benutzer vorschreibt und ihm zugleich eine sekundäre, vom ursprünglichen Bedarf abgelöste Befriedigung bietet, finde ihren Inbegriff in der Architektur. Man mag an den Ausspruch Winston Churchills denken: »We shape our buildings and afterwards our buildings shape us.« (Auch wenn er ihn angesichts des von Bomben beschädigten House of Parliament getan hatte.) Die formale Verfestigung von Gewohnheiten, eingespielten Abläufen und von sozialen Einrichtungen aller Art macht diese erst invariant und in großem Stil
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wiederverwendbar. Auf diese Weise könnte man das Wesen der Architektur als Effekt unausgesprochener Verabredungen, als Quelle von »aus dem Unsichtbaren heraus wirksamen Normen und Regeln« begreifen, als »Transzendenz im Diesseits« (Gehlen). Wie institutionelle Regulative folgen architektonische Formen nicht nur vorhandenen Bedürfnissen, sondern sind auch geeignet und fähig, ihrerseits Folgebedürfnisse zu erzeugen und zu formen. Der Architektur eignet somit die Fähigkeit, die man ganz allgemein Begriffen zuschreibt, nämlich über das unmittelbar Gegenwärtige hinauszugehen und auf die Wahrnehmung von Neuem vorbereitet zu sein, insofern sie künftige Situationen davon befreit, »in der Irritation durch Reize zu ersticken oder zu zerflattern« (Blumenberg). Das Weniger-WahrnehmenMüssen steht bei dieser Überlegung ganz im Dienst des Mehr-Wahrnehmen-Könnens. Die Antizipation künftiger Geschehnisse kann angstfrei, spielerisch und genusshaft erfolgen. Architektur ist Inbegriff unserer Fähigkeit und Entschlossenheit, die Welt nach unseren Bedürfnissen zu gestalten. Und Architektur ist gleichzeitig Inbegriff all dessen, was uns nicht zur Verfügung steht, einschließlich dessen, wovon wir nicht einmal wissen, dass es uns nicht zur Verfügung steht, was über uns verfügt, weil wir es nicht anders kennen, was uns dank der Architektur aber nicht beunruhigen muss. Sie hilft uns gelassen auszuhalten, was wir nicht zu tun oder zu entscheiden vermögen. Sie räumt die Möglichkeit ein, etwas dahingestellt sein zu lassen. Sie bildet somit auch den Teil unserer Welt und unseres Lebens, den wir, geblendet von den Idealisierungen und Illusionen der Beherrschbarkeit und der individuellen Autonomie, der Bürgerlichkeit, des technischen Fortschritts, der Säkularisation, der Raumunabhängigkeit der Kommunikation, des Guten im Menschen, der Sicherheit in der Gemeinschaft etc. für bereits überwunden und irrelevant halten, und der dennoch wirksam ist. Und Architektur erlaubt uns, uns im Unvollkommenen einzurichten in einer Weise, die uns hinreichend erscheint. Wahrnehmen können wir Architektur zwar nur als Inbegriff all dessen, was uns zuhanden ist, was uns als Instrumente verfügbar ist, dessen wir sicher sein können, all dessen, was wie die Sprache, das Recht, die Institutionen insgesamt, der Idee nach Schutz bietet, wie es in Ausdrücken wie Heimat, Muttersprache, Vaterland, Gerechtigkeit, Sicherheit, Fähigkeiten, Kompetenzen, »festen Boden unter den Füßen haben« zum Ausdruck kommt. Zugleich aber verkörpert und birgt Architektur gerade deshalb auch das Gegenteil. Architektur stellt uns die Wirklichkeit als etwas vor Augen, das uns verfügbar ist, das wir zu ordnen fähig sind, in dem wir uns zurechtfinden, und verschleiert damit zugleich die womöglich weitgehende Nichtverfügbarkeit. Architektur hat in dieser Hinsicht den Charakter einer Beschwichtigung, eines Euphemismus. Einerseits beruhigt sie uns, indem sie evident macht, dass wir leben und funktionieren können, ohne alles perfekt zu beherrschen und ohne immer alles bis ins Letzte hinterfragen, bis in die letzte Tiefe ergründen zu müssen, dass wir vieles oder sogar das meiste im Moment ungeprüft lassen können. Andererseits führt sie uns vor Augen, dass wir unserer Sache nie ganz sicher sind, dass es immer einen unauflösbaren Rest gibt, gerade indem sie dies vor uns verbirgt. Sie führt uns durch ihre Camouflage vor Augen, dass wir vielleicht an anderen Orten eher zuhause und womöglich glücklicher wären und dass wir unser Leben und unsere Verhältnisse
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niemals vollständig selbst eingerichtet und gestaltet haben, dass immer andere das Sagen haben und fremde Mächte mit im Spiel sind, sie macht unumstößlich klar, das andere, darunter unsere Vorfahren, bereits das meiste entschieden haben, ohne uns zu fragen. Sie lässt sogar erahnen, dass wir uns mit der Zunahme von Wissen womöglich von dem, was wir wissen müssen, immer weiter entfernen und mit den technischen Lösungen für akute Probleme mehr Probleme schaffen, als wir lösen können, ja als wir überhaupt als Probleme erkennen können. Architektur entschärft den Umstand, dass es keine verlässliche Kenntnis des anderen gibt, keine Berührung über das Bewusstsein, lediglich vermittelte, kodierte Kommunikation über das wahrnehmbare Verhalten des Anderen. Sie lässt diesen Umstand gelten, ohne dass wir darunter leiden müssten. Zwar ist die gebaute Welt wie ein System eingerichtet, mit einem hohem Grad an Konsistenz und Stabilität, und doch gibt es Pannen, Porosität, Zusammenbrüche, klaffen hier und da Lücken, die mit nicht restlos begründbaren und gedeckten Entscheidungen »politisch« und ad hoc geschlossen werden müssen, und die zugleich zeigen, dass wir über geeignete Instrumente und Strategien verfügen, dies zu tun. Architektur versichert uns, dass dieses Kartenhaus solide gebaut sei. Die relative Erwartungskonstanz und Sicherheit, die Architektur begünstigt, ist freilich nicht überall gleich bemessen, und sie wird kulturell vermittelt erfahren. Wenn man in Berlin auf der Straße sein Geld zählen kann und in Venedig spät abends die Kinder auf der Piazza spielen können, wenn in Amsterdam das Fahrrad das Verkehrsmittel der Wahl ist, dann gilt das nicht für die meisten Städte in Lateinamerika, wo die körperliche Bedrohung aufgrund des Armutsproblems allgegenwärtig ist.
A 2. Architektur kann uns zeigen, ob wir auf der richtigen Seite stehen oder nicht, ob wir dazugehören oder nicht. Sie setzt Personen und Dinge in Nähe zueinander, stiftet Zusammenhang und fungiert auch als ein Mittel der Distanzierung. Wenn sich Naturwissenschaften und Technik ihres Ursprungs in der Idealisierung der Empirie immer weniger bewusst sind und sie zur Sinnentleerung in der Arithmetisierung streben, zur Konstruktion von künstlicher Welt überhaupt, zur Methode, nach technischen Regeln Ergebnisse zu gewinnen, bleibt Architektur der Lebenswelt verhaftet und beinhaltet auch das Bewusstsein, dass es sich bei ihrer Geometrie um eine Idealisierung handelt. In der Computertechnologie ist die Rechenfähigkeit zu einer Perfektion getrieben worden, die vom Menschenhirn nicht mehr einholbar ist. »Die Welt, die sich einmal damit abgefunden hat, mit dem immer schon Fertigen umzugehen und sich im Umgang mit den fertigen Begriffen und Sätzen nach der Strenge einer zumeist undurchschauten Methodik nur durch den Erfolg kontrollieren zu lassen, sieht sich schließlich hilflos vor so viel Fertigung und müht sich nur noch, ihren Produkten auch den Raum zu schaffen, den sie benötigen.« (18) Architektur ist Teil des »Ideenkleides« (Husserl), das bewirkt, dass wir für wahres Sein halten, was doch eigentlich nur eine Methode ist. Architektur hat teil an dieser Kunstwelt und ist zugleich Teil der Lebenspraxis; sie schwebt nicht wie die Naturwissenschaft über der Lebenswelt wie in einem leeren
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Raum, wie Husserl sich ausdrückte, sondern durchdringt sie und ist von ihr durchdrungen. Als Rahmen und Infrastruktur unserer Interaktionen als körperliche Wesen ist Architektur zugleich Kulisse des uns Selbstverständlichen und trägt wesentlich dazu bei, dass aus Kontingentem Selbstverständliches wird. Wenn die Phänomenologie mit ihrem Begriff des »Leibes« diese Fraglosigkeit in der natürlichen Einstellung bezeichnet, dann trägt sie im Begriff der »Lebenswelt« zugleich der Erkenntnisleistung des verkleinerten Modells als Steigerung der Intelligibilität der Dinge Rechnung. Er verbindet sich unversehens mit dem Begriff der Insel, »weil Lebenswelten immer Nahraumwelten sind und ihre Verletzlichkeit darauf beruht, dass die Totalität der Wirklichkeit nie identisch ist mit der Totalität der Lebenswelt«. (19) Husserl gab als Merkmal einer Lebenswelt an, dass sie einen jeweils unerfahrenen und unerfahrbaren, nicht nur praktisch außer Acht gelassenen, sondern »überhaupt für Praxis nicht in Frage kommenden Horizont hat, sich in einer praktischen Erfahrungs- und Wirkungsendlichkeit hält«, in einer gewissen Abschirmung gegen weitergehende Erfahrungen, »wie etwa die Lebenswelt eines Inselvölkchens, das ganz isoliert seine ›Weltvorstellung‹ hat und seine Welt als endliche Lebensumwelt«. (20) Nicht zufällig beginnt, woran Blumenberg erinnert, die utopische Literatur mit der Ausmalung des Zustands auf einer Insel. Die Vorstellung einer anderen Welt oder die mit der Robinsonade verbundene Isolierung von der Welt gewinnt selbst wieder den Anschein des Ganzen, der dadurch entsteht, dass eine überschaubare Insel ihren Bewohner ins Zentrum setzt. »Darum die Inselsehnsucht; die Ansiedlung der Utopien auf Inseln; die Herstellung künstlicher Inseln; Inseln aus Licht und Inseln des Bewusstseins, Enzensbergers ›Austern aus Rauch‹, optische und akustische Inseln (z.B. das Inselnschaffen in der Innendekoration); die Faszination der schwimmenden Inseln bis hin zu dem Menschen solidarisierenden Begriff ›Insel im Weltenraum‹.« (21)
In Heimito von Doderers »Strudelhofstiege« räsoniert ein Stammgast des Cafés Brioni über die Sitzgewohnheiten in Wiener Kaffeehäusern: »Ins Café geht man, um für sich zu sein, und jeder setzt sich, inselbildend so weit wie möglich von den anderen entfernt.« Das Selbstverständliche ist wie eine Insel, freilich wie eine Insel mit Verkehr. Institutionen »werden besichtigt, es werden Fragen gestellt, und die von außen herangetragenen Fragen werden in ihnen gehört«. Die Lebenswelt im Ganzen kennt nicht die künstliche regelhafte Abschirmung der Institutionen. »Ihre Abschirmung beruht auf natürlichen Distanzen, auch auf der, die ihre Abwehrkräfte herstellen.« (22) Von außen betrachtet hat die Lebenswelt wegen ihrer tendenziellen Bestandsträgheit einen konservativen Habitus. Es gibt zwar eine Autodestruktion der Lebenswelt, etwas, das dafür sorgt, dass wir herausgeschleudert werden oder aus ihr heraustreten können. Aber jede nur partielle oder kleinteilige Durchbrechung ihrer Beständigkeit wäre angesichts ihrer hochgradigen Integrationsfähigkeit zum Scheitern verurteilt. Ihre selektiv bewährten Regelungen sind stärker als jede periphere oder endogene Unstimmigkeit, als dieser oder jener Einbruch des Unbekannten. Sie enthält Regelungen auch für das Nichtfunktionieren ihrer Regelun-
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gen. Sie verfügt über präventive Aushilfen für fast jeden Fall von Unstimmigkeiten, Anfechtungen, Zweifeln, wie sie immer schon vorgekommen sind. (23) Die hochgradige Verteidigungsfähigkeit der Lebenswelt beruht darauf, dass die Wendung dessen, womit sie den »Innenseitern« (Husserl) die Beständigkeit gewährt, zur theoretischen Einstellung immer schon vollzogen ist. Das Ganze ihrer beiläufigen Errungenschaften ist bereits so dicht geworden, dass es zur Theorie eines Handbuchs gefasst werden könnte, woran die Innenseiter freilich überhaupt kein Interesse haben. Die Lebenswelt ist instabil, weil sie vom Schein ihrer Stabilität lebt, die sie gern in Listen austobt. In ihr selbst darf diese Instabilität nicht entdeckt werden. Das Bewusstsein erweist hier seine Fähigkeit und Funktion zur Selbststabilisierung des Umweltbezugs. Wir glauben, die Wirklichkeit sei wirklich so, wie wir sie wahrnehmen – eine Unterstellung jenseits jeder Nachweisbarkeit – was wir wahrnehmen ist die Welt. (24) Vom Ganzen können wir uns nur ein Bild machen, indem wir uns unzulässig weit von der Sache entfernen. Die Gefahr der Komplexitätsreduktion, die etwa ein erhöhter Standort gewährt, ist ihre Unwiderstehlichkeit. Gern wird diese Gefahr in architektonischen Bildern veranschaulicht. Der Blick des Planers, der sich über ein Territorium oder das Modell einer Stadt beugt, ist wie der Blick auf die reale Stadt von oben aus großer Höhe, von der Plattform eines Wolkenkratzers hinab, aus der Kanzel eines Flugzeugs, aus der hinabschauend man, wie Bomber-Harry berichtete, die Hemmungen verliert, die Bomben auszuklinken. Harry Lime vergleicht – aus der Gondel des Riesenrads auf Wien hinabschauend – die Menschen, denen er vergiftete Medikamente zu Wucherpreisen verkauft, mit Ameisen, die als Einzelne nicht zählen, wie auch Chestertons Pater Brown in »Der Hammer Gottes« räsoniert. Erkennen lässt sich die Stadt nur aus der Perspektive und auf Augenhöhe jener beschämten Ameisen, die in der Stadt umherziehen, ihr kleines Stück Geschichte mit sich herumtragend, die durch ihre Opfer die Stadt zu beherrschen meinen. Ihr Text lässt sich nur im Mitgehen entziffern, wenn man selbst Bestandteil der Schrift ist. Wilhelm Raabes Figuren befinden sich, wenn nicht in stillen Winkeln, auf Türmen oder in hochgelegenen Stübchen, oder wie Hans Unwirsch in »Der Hungerpastor« auf einer Anhöhe: »Vor dem Hügel lag die Ebene, wie sie hinter ihm sich dehnte; aber mit Staunen und Schrecken starrte Hans auf den feurigen Schein vor ihm und horchte auf das dumpfe Rollen und Summen, welches aus einer unendlichen Tiefe dicht zu seinen Füßen zu kommen schien. ›Das ist die Stadt!‹ sagte der Leutnant […] und er – Hans Unwirsch – stehe allein dem drohenden Untier da unten gegenüber.« (25)
Aus der Erhebung wird etwas »Erhabenes« und daraus Überheblichkeit. Über derlei »Kirchturmträumereien« schrieb Gaston Bachelard: »Der Mensch in der Einsamkeit betrachtet jene Menschen tief unter sich, die auf dem von der Sommersonne geweißten Platz ›ihr Wesen treiben‹. Die Menschen sind so klein wie die Fliegen, sie bewegen sich ohne Grund wie Ameisen […] Von der Höhe seines Turms miniaturisiert der Philosoph des Herrschers das Weltall. Alles ist klein, weil er hoch ist. Er ist hoch, also ist er groß. Die Höhe seines Standorts ist ein Beweis seiner eigenen Größe.« (26)
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Lars Gustafsson erfand einen Nachkommen des auf eisigen Höhen wandelnden Zarathustra, der auch mit Frankensteins Geschöpf verwandt ist. Sein Ballonfahrer Segantini, ein »Ungeheuer«, hat auf dem höchsten und gefährlichsten Punkt seines Aufstiegs – fern von allen Menschen und menschlichen Bindungen – das befreiende Gefühl, sein wirkliches Leben gefunden zu haben. Es ist nicht zu entscheiden, ob es sich um eine risikoreiche, weil nicht durch allgemeinen Konsens erleichterte Glückssuche außerhalb der gängigen Normen, im Geruch des Kalten und Unmenschlichen handelt, oder um eine risikoarme Lösung, weil es vom sozialen Leben mit seinen Widersprüchen und Krämpfen in sicherer Entfernung stattfindet. Der Blick von oben kann leicht zynisch-teuflische Züge annehmen. Man denke an den Turm von San Salvador in Madrid in Lesages »Le Diable Boiteux«, von dem aus Asmodée, Verführer zu Unzucht und Leichtsinn, den Studenten Don Cleofas zusehen läßt, wie er die Dächer abhebt. Da weiß man, was wirklich drin ist. Es ist gerade so, »wie man den Inhalt einer Pastete erblickt, indem man die Kruste abnimmt«. Roland Barthes griff diese Entdeckung auf, um im Blick von oben, der Vision des Semiologen, die Pariser Stadtlandschaft als Landschaft und Text des Lebens zu dechiffrieren und lesbar werden zu lassen: »Sind diese Punkte von Geschichte und Raum erst einmal vom Blick, oben her vom Eiffelturm, festgelegt, dann füllt die Einbildungskraft das Pariser Panorama weiter aus und gibt ihm seine Struktur; was dann aber hinzukommt, sind die menschlichen Funktionen; wie der Dämon Asmodis erlebt der Besucher des Turmes, wenn er sich über Paris erhebt, die Illusion, den enormen Deckel abzuheben, der das Privatleben von Millionen von Menschen bedeckt; dann wird die Stadt zu einer Intimität, deren Funktionen, also deren Verbindungen er dechiffriert; auf der großen polaren Achse, die quer zur horizontalen Kurve des Flusses verläuft, gibt es wie an einem ausgestreckten Körper drei übereinander liegende Zonen.« (27)
Etienne Cabet riet, die Türme von Notre-Dame zu besteigen, um das Chaos der Geschichte zu überblicken. Wie leicht könne man sich da eine Ordnung vorstellen. Auf der Aussichtsplattform der Kathedrale stehend entwirft er seine Utopie als Gegenbild zum realen Paris, das sich von dieser Warte aus als dringend ordnungsbedürftig präsentiert. Der Baron Hausmann mag sich genau diesen Blick gegönnt haben. Um eine Vision zu entwerfen, mag der erhöhte Standort hilfreich sein, man muss aber rechtzeitig wieder hinabgestiegen sein, um nicht der Melancholie zu verfallen. Friedrich von Raumer notierte in seinen »Briefen aus Paris«: »Vom Thurme Notre Dame herab übersah ich gestern die ungeheure Stadt; wer hat das erste Haus gebaut, wann wird das letzte zusammenstürzen und der Boden von Paris aussehen wie der von Theben und Babylon?« Dem Historiker schnurrt von hier oben Geschichte apokalyptisch zusammen. Victor Hugo imaginierte in einem Gedicht mit dem Titel »A l’arc de triomphe« ein wieder zu natürlicher Landschaft zurückentwickeltes Paris. In seiner Endzeit-Vision haben nur drei Monumente den Untergang überdauert, neben dem Triumphbogen die Sainte-Chapelle und die Vendôme-Säule. Sie stehen in einer »immense campagne« wie die Ruinen von Les Beaux in der Provence, die von der einstigen Kultur der Albigenser und ihrer besessenen Vernichtung zeugen. Hundert Jahre später wirft Léon Daudet einen Blick von Sacré Coeur über die Stadt. In seinem Auge spiegelt sich die Geschichte der Moderne in schreckenerre-
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gender Kontraktion. »Man sieht von oben her auf diese Ansammlung von Palais, Monumenten, Häusern und Baracken und bekommt das Gefühl, sie seien einer meteorologischen oder gesellschaftlichen Katastrophe vorbestimmt.« Der Kirchturmblick birgt auch die Kontingenzerfahrung, die Epiphanie der Unwahrscheinlichkeit dessen, was man sieht. »Ich habe Stunden auf Fourvières mit dem Blick auf Lyon, auf Notre-Dame-de-la-Garde mit dem Blick auf Marseille, auf Sacré-Coeur mit dem Blick auf Paris zugebracht […] Was von diesen Anhöhen am deutlichsten erkennbar wird, ist die Drohung. Die Menschenansammlungen sind bedrohlich [… D]er Mensch hat Arbeit nötig, das ist richtig, aber er hat auch andere Bedürfnisse […] Er hat unter anderen Bedürfnissen das des Selbstmords, das in ihm und in der Gesellschaft, welche ihn bildet, steckt; und es ist stärker als sein Selbsterhaltungstrieb. So wundert man sich, wenn man oben von Sacré-Coeur, Fourvières und Notre-Dame-de-laGarde heruntersieht, dass Paris, Lyon, Marseille noch vorhanden sind.«
Am Ende von Balzacs Erzählung vom »Haupt der Unersättlichen« Ferragus blickt Jacquet über die Gräberstraßen von Père-Lachaise: »Das ist noch einmal das ganze Paris mit seinen Straßen, seinen Ladenschildern, seinen Industrien, seinen Palästen, aber wie durch das verkehrte Ende eines Fernglases betrachtet, ein mikroskopisches Paris, reduziert auf die Maße von Geistern, Gespenstern und Toten, ein Menschengeschlecht, das groß nur noch in seiner Eitelkeit ist.« Hugo von Hofmannsthal sieht Victor Hugo auf den Klippen von Jersey brüten, wohin er verbannt war: »Wie er von einsamer Klippe hinüberblickt, der Verbannte, nach den großen schicksalvollen Ländern, so blickt er hinab in die Vergangenheit aller Völker […] Er trägt sich und seine Geschicke hinein in die Fülle der Geschehnisse, und sie werden ihm lebendig und verfließen mit dem Dasein der natürlichen Mächte, mit dem Meere, den verwitterten Felsen, den treibenden Wolken und den anderen Erhabenheiten, die ein einsames und ruhiges Leben im Verkehr mit der Natur enthält.«
Jules Desmarets erblickte indessen zu seinen Füßen das wirkliche Paris, ausgebreitet im weiten Tal der Seine zwischen den Hügeln von Vaugirard, Meudon, Belleville und Montmartre, eingehüllt in einen sonnendurchschimmerten blauen Schleier aus dem Rauch seiner Kamine. Er warf einen verstohlenen Blick auf die Masse jener vierzigtausend Häuser und sagte, indem er auf die Gegend zwischen der Vendôme-Säule und der goldenen Kuppel des Invalidendoms wies: »Dort ist es gewesen, dort ist sie mir entrissen worden durch die unselige Neugierde dieser Welt, in der ein jeder sich aufregt und drängt, nur um zu drängen und sich aufzuregen.« Das Besteigen eines Turms oder einer Anhöhe kann den Charakter eines kairos haben, den des günstigen Zeitpunktes für eine Entscheidung, um einen Auftrag zu erfüllen, seiner Bestimmung gerecht zu werden, oder der Ort, von dem aus die Vergeblichkeit allen Tuns schmerzhaft deutlich wird. »Auf den Gipfel des World-Trade-Center emporgehoben zu werden, heißt hingerissen zu sein von der Macht dieser Stadt. Der eigene Körper wird nicht mehr von den Straßen verschlungen, die ihn, nach einem nicht erkennbaren Gesetz, hierhin und dorthin lenken; unten ist er – Spieler oder Spielzeug – überwältigt vom unklaren Lärm all des Verschiedenartigen und
A. Or te und Grenzen, Leib und Blick, verkleiner te Modelle von der Nervosität des New Yorker Verkehrs. Wer aber da oben hinaufsteigt, enthebt sich der Masse, die in sich schon jedes klare Ich-Bewußtsein der Zuschauenden und Zuhörenden überschwemmt und verwischt […] Es schafft Distanz. Es verwandelt eine betörende Welt in einen Text. Es erlaubt, ihn zu lesen, ein Sonnenauge, der Blick eines Gottes zu sein. Überschwang einer gnostischen Schwingung. Nichts zu sein als dieser schauende Punkt, das ist die Fiktion des Wissens. Wird man nachher zurückfallen müssen in den dunklen Raum, wo sich die Massen drängen, die man sieht, die aber nicht sehen können? Sturz des Ikarus. Auf der 110. Etage stellt ein Plakat dem Fußgänger, der für einen Augenblick zum Seher geworden ist, die Rätselfrage der Sphinx: It’s hard to be down when you’re up.« (28)
Der Wunsch, die Stadt als Ganzes zu sehen, ging den technischen und architektonischen Möglichkeiten voraus in der perspektivischen Malerei der Renaissance, von einem Auge gesehen, das es nicht wirklich gibt. Die Malerei erfand den Flug über die Stadt. Das Panorama erschuf Götter. Die Wolkenkratzer sind von diesem Wunsch besessen. Sie setzen die Fiktion fort, die den Leser der Stadt schafft, die die Komplexität lesbar macht, die undurchsichtige Mobilität in einen Text verwandelt. Lesen heißt Verkennen. »Die gewöhnlichen Stadtbenutzer aber leben da unten, jenseits der Schwelle, dort, wo Sichtbarkeit aufhört. Sie leben eine Elementarform dieser Erfahrung, sie sind die ›Gehenden‹, die ›Wandersmänner‹, deren Körper sich dem Druck und Haarstrich eines ›Stadt-Textes‹ fügen, den sie schreiben, aber nicht lesen können. Diese Stadtbenutzer spielen mit unsichtbaren Räumen; sie haben eine blinde Kenntnis dieser Räume, so wie die Körper von Liebenden sich kennen. Die Wege, die sich in dieser Verflechtung treffen – unbewußte Dichtungen, in denen jeder Körper ein Element bildet, das unter vielen anderen und durch viele andere gekennzeichnet ist –, entziehen sich der Lesbarkeit. Alles geht so vor sich, als vollzöge sich, was zur Organisation der bewohnten Stadt gehört, blind. Die Gespinste dieser sich vorwärtsbewegenden, sich kreuzenden ›Schriften‹ setzen sich zu einer vielfältigen Geschichte zusammen, die keinen Autor und keinen Beobachter hat, die sich aus Bruchstücken von Flugbahnen und aus Veränderungen der Räume bildet […].« (29)
A 3. Institutionen und Gebräuche lassen sich als Entlastung begreifen. Sie müssen Arnold Gehlen zufolge für die fehlende Instinktsicherheit des zu früh Geborenen einspringen und die Unerträglichkeit des in die Welt-Geworfenseins abmildern. Seine melancholische Variation der modernen Anthropologie dient nicht nur der Legitimierung der gegebenen Institutionen, wie ihm seine Kritiker vorhalten, sondern trägt auch psychologischen Gegebenheiten Rechnung. Nach Gehlen ist der Mensch das dekadente Wesen der verlorenen Anpassungen, deren Verlust er durch Technik und Institutionen kompensieren muss. Der Mensch ist als Folge dessen das Wesen, das von Selbstverständlichkeiten umgeben ist. Er könnte nicht leben, wenn er alles durcharbeiten müsste, worauf die Möglichkeit seiner Existenz beruht. Aus der fernen Selbstverständlichkeit der animalischen Angepasstheit vertrieben schafft der Mensch sich ständig neue in den Regelungen und »kunstvollen Zuverlässigkeitsformen« seiner Kultur. Der Abbau der Belastbarkeit durch das
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technische und kulturelle Gehäuse führt zu Ersatzlösungen zur Entlastung von Unsicherheit und Uneingepasstheit. (30) Antony Giddens verwendet in einem dem Gehlen’schen Entlastungsbegriff ähnlichen Sinne den Begriff der Routinen. Architektur sichert die Selbstverständlichkeit der Alltagswelt, indem sie das Eingespielte stützt und Routinen untermauert. Die partielle Blindheit für das Vertraute ist nicht mit Bewusstlosigkeit gleichzusetzen. Um der beim Auf bau der Selbstverständlichkeitsstrukturen tätigen Art von Reflexion gerecht zu werden, darf man Handeln nicht als Exekution vorgefasster Intentionen oder internalisierter Werte oder eindeutig umrissener Motive begreifen, sondern muss Intentionalität des Handelns als die Fähigkeit zur selbstreflexiven Kontrolle im prozessierenden Verhalten verstehen. Einen klaren Umriss erhält das Handeln erst in der Interaktion in konkreten Situationen und stets in situativer Weise. Reflexivität kann im klaren Bewusstsein des Reflexionsaktes bestehen, aber auch in den sedimentierten Gewissheiten im Laufe der Handlungsvollzüge, in diskursivem oder in jenem bloß praktischen Bewusstsein, das in Routinen tätig ist und uns zu ihnen befähigt. (31) Das meiste Wissen ist seinem Wesen nach »praktisch«: Es gründet in dem Vermögen der Akteure, sich innerhalb der Routinen des gesellschaftlichen Lebens in Situationen und an Orten zurechtzufinden. Zwischen Diskursivem und Praktischem gibt es keine Schranke wie zwischen Bewusstem und Unbewusstem, sondern die Grenze ist fließend und durchlässig. Das Unbewusste schließt jene Formen der Wahrnehmung und des Antriebs ein, die entweder gänzlich aus dem Bewusstsein verdrängt sind oder im Bewusstsein nur in verzerrter Form erscheinen. Das komplexe Verhältnis von bewusstem und unbewusstem Handeln und damit unser Verhältnis zur Architektur wird Giddens zufolge zutreffend bezeichnet mit dem beides umfassenden Begriff der Routinisierung. Er schließt alles ein, was mehr oder weniger gewohnheitsmäßig getan wird. Die Handelnden besitzen die Fähigkeit, was sie tun in praktisch ausreichendem Maße zu verstehen, während sie es tun. Die reflexiven Fähigkeiten des Handelnden sind kontinuierlich mit dem Strom des Alltagslebens in den Kontexten des sozialen Handelns verbunden. Diese Reflexivität operiert nur teilweise auf der diskursiven Ebene. Was die Handelnden über ihr Tun und die Beweggründe wissen, ist ihnen weitgehend nur in der Form des »praktischen Bewusstseins« präsent. Diese »practical consciousness« umfasst alles, was die Handelnden stillschweigend wissen darüber, wie in bestimmten Kontexten zu verfahren sei, ohne dass sie in der Lage sein müssten, dem verbal Ausdruck zu verleihen oder es sich auch nur bewusst zu machen. Der Wiederholungscharakter von Handlungen, die in gleicher Weise Tag für Tag vollzogen werden, ist die Grundlage für den rekursiven Charakter des sozialen Lebens, d.h. dafür, dass die Strukturmomente des sozialen Handelns aus den sie konstituierenden Ressourcen fortwährend neu geschaffen werden. (32) Routinisierung ist notwendig für die psychischen Mechanismen, mit deren Hilfe Stabilität gesichert und ein Gefühl des Vertrauens und der Seinsgewissheit (Heidegger) aufrechterhalten wird. Die scheinbar unbedeutenden Konventionen des alltäglichen gesellschaftlichen Lebens besitzen eine grundlegende Bedeutung für die Bändigung und Entlastung von unbewussten Spannungsquellen, die sonst den Großteil unseres Lebens im Wachzustand mit Beschlag belegen und die Handlungsfähigkeit blockieren würden. Architektur liefert ebenjenen Konventionen, die
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sich unserer Aufmerksamkeit entziehen, damit sie sich unserer Aufmerksamkeit entziehen können, das Fundament und die Kulissen. Was ›vertrauen‹, ›lieben‹, ›sich ärgern‹, ›zufrieden sein‹ bedeutet, das lernen wir nicht wie Fahrradfahren. Was unsere leiblichen Zustände betrifft, haben das Miteinanderreden, das Vortragen von Beispielen und Gegenbeispielen dazu geführt, dass wir uns über jene Ausdrücke der Sprache, verständigen können. Es handelt sich hier nicht um intentionales Handeln, um das Ausführen einer Absicht, sondern um lebendig-leiblichen Umgang mit den Dingen unserer Welt, um Eingewöhnung, Hineingleiten. Der alltägliche Gebrauch der Dinge und Räume ist selbst Vollzug des Lebens. Wohnen ist Lebensvollzug. (33) Da Institutionen nicht schlicht eine Leitidee realisieren, sondern aus konfligierenden Interessen und Deutungen komponiert sind, die Leitideen, auf die sich diese normativ beziehen, also stets umkämpft und nie eindeutig sind, gewinnen sie ihre pragmatische Bedeutung im Lebensvollzug. Institutionelle Stabilisierungen bleiben dabei geknüpft an eine besondere Form und an Sichtbarkeit, der durch Sichtbarkeit suggestiv verstärkten Ordnungs-Magie. (34) Wir nehmen Architektur nicht nur im Modus der Zerstreutheit wahr, wie Walter Benjamin im Anschluss an Hegel betonte, wir begegnen ihr nicht nur mit Unaufmerksamkeit und Diffusität. Die Situierung des Handelns in Raum und Zeit, die Routinisierung der Tätigkeit und der repetitive Charakter des Alltagslebens sind auch Phänomene, die mit der Kopräsenz, der Anwesenheit auch anderer Individuen, verbunden sind. Die soziologische Relevanz von Architektur ist eben hier zu verorten, im Prozess der reflexiven Steuerung des im Alltagsleben enthaltenen Stroms von Begegnungen, wobei die gemeinhin unterbelichtete Positionierung des Körpers in sozialen Begegnungen in ihrer eminenten Bedeutung anzuerkennen wäre, wie etwa Irving Goffmans Betrachtungen über die in die Kontinuität des gesellschaftlichen Lebens eingehende Mimik, Gestik sowie die reflexive Kontrolle der Körperbewegungen eindrucksvoll belegen. Goffman wäre auch darum zu rühmen, weil er einer der wenigen Soziologen ist, die auch der Regionalisierung und Ortsbezogenheit von Begegnungen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit geschenkt haben. (35) Die Raumbezogenheit interaktiver Regeln ist evident bei solchen Kapitalüberschriften: abgeschirmtes Engagement, Spielräume für Desinteresse, geistige Absenz, die Struktur von Blickkontakten, Zugänglichkeit, Rechte auf Abgang, offenes Schneiden, exponierte Positionen. Orte sind dabei nicht einfach Schauplätze, an denen Handlungen stattfinden, sondern Bezugsrahmen für Interaktionen und Aufführungen. Akteure beziehen sich fortwährend stillschweigend auf diese Bezugsrahmen, um die Sinnhaftigkeit ihrer kommunikativen Handlungen zu konstituieren. Der wesentlich vorgegebene Charakter des physischen Milieus des Alltagslebens ist mit der Routine verwoben und hat starken Einfluss auf die Konturen der Reproduktion der Institutionen. Die Rolle der Zeitdimension darf man dabei nicht auf die lineare Zeit beschränkt sehen. Menschliches Handeln und Erkennen vollzieht sich nicht herauslösbar aus der Kontextualität von Raum und Zeit als eine durée, als ein kontinuierlicher Verhaltens- und Erlebensstrom mit Schleifen in die Vergangenheit. Zweckgerichtetes Handeln ist nicht ein Aggregat separater Intentionen, Gründe und Motive. Handeln setzt sich nicht aus einzelnen, diskreten, voneinander klar geschiedenen Handlungen zusammen. Eher wäre es vermöge seiner bedingten Reflexivität in der ständigen Steuerung des Verhaltens als eines Stroms verankert
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zu sehen. Handlungen als solche werden nur durch ein diskursives Moment der Aufmerksamkeit auf die durée durchlebter Erfahrungen konstituiert. Vor allem kann man Handeln nicht abgetrennt vom Körper, seinen Vermittlungen mit der Umwelt und der Kopräsenz anderer Handelnder diskutieren. Wenn die Zeitdimension des Handelns auch insgesamt überbetont wird und die Zeit geradezu den Raum aus der Soziologie hinausgedrängt zu haben scheint, so ist die Dimension des Räumlich-Körperlichen doch in diesem Kontext analytisch unentbehrlich. Die Gründe, die die Akteure für ihr Tun diskursiv anbieten, können von dem abweichen, wie es wirklich im Verhaltensstrom eingelagert ist. Gründe sind nicht mit normativen Verpflichtungen zu erklären. Aus eigener Erfahrung weiß man, dass es genügend Situationen gibt, in deren Wahrhaftigkeit nicht das leitende Motiv für die verbale Erklärung ist, und dass es selbst dann, wenn dies der Fall ist, oft unendlich schwer ist, der tatsächlichen Beweggründe und Rationalisierungen bewusst inne und sprachlich mächtig zu werden. Die Kunst des Schriftstellers, latente Motive ans Licht zu heben, wird nicht umsonst als mit hoher Konzentration verbundene Ausnahmefähigkeit bewundert. Was wir für Begründungen und Motive unseres intentionalen und moralisch verantwortungsvollen Handelns halten, sind oft nur akzeptable Rechtfertigungen, die dem genügen, was man in der amerikanischen Soziologie ›accountability‹ nennt, eine Vorstellung von Verantwortlichkeit als Überschneidung von interpretativen Schemata und Normen. Für die eigenen Handlungen ›verantwortlich‹ zu sein, heißt, sowohl die Gründe für sie zu explizieren, als auch die normativen Fundamente zu liefern, durch die sie ›gerechtfertigt‹ werden können.« (36) Entsprechend wäre es naiv, die Normen und Werte, die sich eine Gesellschaft gibt, schon für ihre Strukturen halten zu wollen. Es könnte sein, dass die von den Soziologen gemeinhin als faktisch gegeben angenommenen sozialen Strukturen sich einem Zirkelschluss verdanken und dass die vermeintlichen die wahren Strukturen verhüllen, als eine sich stets erneut in dem momentanen Verhaltenskontext produzierende Kontingenz. Garfinkel behauptet, eine jeweils momentane, situationsbedingte Glaubwürdigkeit im Verhalten fungiere als normativer und normalisierender Referenzpunkt. Er folgert: »Die Aktivitäten, mit denen Gesellschaftsmitglieder Situationen organisierter Angelegenheiten des Alltagslebens managen, sind identisch mit den Prozeduren der Mitglieder, solche Situationen nachvollziehbar zu machen.« (37) Für ihn gilt deshalb die methodische Regel: »Consider social facts as accomplishements« (Erklärungen, Rechtfertigungen, Rationalisierungen). »Die implizite Logik dieser Produktion, in der die ablaufende Interaktion sich ihre eigenen, durchaus als situationsenthobene Idealitäten erscheinenden Kriterien schafft«, ist der Forschungsgegenstand der Ethnomethodologie. Normalität wird im interaktiven Verhalten hergestellt. »Die konkreten Personen sowie die zeitlichen und räumlichen Verhältnisse bilden die stillschweigend vorausgesetzten Verankerungspunkte der Sinnmomente. In der Bindung der praktizierten Sinnstrukturen an das Hier und Jetzt sind sie einerseits nur für den Einzelnen verfügbar, zum anderen ist in dieser Bindung zugleich eine idealisierende Tendenz am Werk, die diesen Sinnstrukturen eine Selbstverständlichkeit und unantastbare Gültigkeit verleiht und sie zum Boden weiterführender Wirklichkeitsmomente werden lässt.« (38)
A. Or te und Grenzen, Leib und Blick, verkleiner te Modelle »Bestimmte im Umkreis des bekannten Handlungskontextes auftretende Erscheinungen werden als Anzeichen für das bisher nicht erkannte Bestehen eines tieferliegenden Sachverhalts aufgefasst, wobei umgekehrt dieser Sachverhalt vorausgesetzt wird, damit die gemeinten Erscheinungen überhaupt wahrnehmbar werden und einen aufeinander bezogenen Sinn aufzeigen können […] Auf diese Weise stellt sich ein äußerst feines Gewebe von Erklärungsund Überzeugungspraktiken her, in dem durch wechselseitige Einladung und Zustimmung gemeinsame Realitäten jeweils neu entstehen, sich bilden und umbilden.« (39)
Harold Garfinkel und seinen Mitstreitern kommt das Verdienst zu, sich daran gemacht zu haben, unbeeindruckt vom idealen Selbstbild einer Gesellschaft mit gezielten Störungen die wahre normative Struktur dieser Gesellschaft in ihren tatsächlichen Verkehrsformen allererst zu erkunden. Die sogenannte Ethnomethodologie, wie sie in der Tradition der Chicago-School im Gefolge von George Herbert Mead und Anselm Strauss von Garfinkel und Aaron Cicourel entwickelt wurde, arbeitet daran, in »breaching experiments« (Erschütterungsexperimenten) die tatsächlichen Strukturen der Gesellschaft zu erforschen, indem sie durch gezielt inszenierte Störungen der Gesundheit und Ethik sozialer Situationen deren Heilungsrituale zu eruieren unternimmt. Das simpelste Beispiel zur Veranschaulichung ist, auf die Frage, »Wie geht’s?« zu antworten: »Wie meinst du das?« Bisher wurde noch nicht in Betracht gezogen, die räumlich-architektonischen Korrelate dieser sprachlich und verhaltenstechnisch aufgefassten Heilungsrituale von Sabotageakten aufzuspüren. Von vorsätzlicher Verzerrung im Gegensatz zu Wahrheitstreue zu sprechen, ginge an der Sache vorbei. Die absichtliche Täuschung über die eigentlichen Beweggründe bildet nur einen geringen Teil dessen, was es an Verzerrungen und Verschleierungen gibt und was in seiner Gänze und Vielfalt als Grauzone gelten muss und was zum größten Teil dem diskursiven Bewusstsein der Akteure gar nicht zugänglich ist. Die große Masse des »Wissensvorrates« (Alfred Schütz) oder des »in Begegnungen inkorporierten gemeinsamen Wissens« (Giddens) ist dem Bewusstsein der Akteure nicht direkt zugänglich. Die vollständige Zugänglichkeit würde Handeln wahrscheinlich unmöglich machen. Handelnde benutzen bei der Konstitution und Rekonstitution von Begegnungen eine verwirrende Anzahl von Verfahren und Taktiken, wobei wahrscheinlich jene besonders bedeutsam sind, die keinen spezifischen Zweck verfolgen, sondern lediglich für die Aufrechterhaltung der Begegnungssituation und damit der Seinsgewissheit verantwortlich sind. Garfinkels Experimente haben gezeigt, dass die in die Strukturierung der alltäglichen Interaktionen einbegriffenen Vorschriften erheblich fixierter und zwingender sind, als es der Natürlichkeit, mit der sie scheinbar befolgt werden, anzusehen ist. Garfinkels Experimente haben geholfen, ein bemerkenswert reiches Forschungsfeld zu erschließen, dank einer »soziologischen Alchemie – die Verwandlung jedes beliebigen Ausschnitts aus dem alltäglichen sozialen Leben in eine interessante Veröffentlichung«, wie Irving Goffmann voller Bewunderung feststellte. (40) Die Welt ist nach Graden der Vertrautheit differenziert. Als Ganzes ist der gesellschaftliche Wissensvorrat undurchsichtig. Die Wirklichkeit der Alltagswelt erscheint uns immer als eine Zone der Helligkeit vor einem dunklen Hintergrund, Wenn meine Befehle alle befolgt werden, weiß ich doch nie alle Beweggründe der anderen. Ich weiß nicht einmal die meiner eigenen Befehle. Es geht immer etwas
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hinter meinem Rücken vor. Mein Alltagswelt-Wissen ist nach Relevanzen gegliedert. Einige ergeben sich durch praktische Zwecke, andere durch meine gesellschaftliche Situation. Die biologische Weltoffenheit des Menschen ist immer schon in eine Gesellschaftsordnung transformiert, in eine relative Geschlossenheit eingebettet, um der menschlichen Lebensführung einigermaßen Sinn und Bestand zu sichern, ihr Gerichtetheit und Stabilität zu verleihen. Diese Landschaft von Gewissheitszonen und Helligkeitsabstufungen färbt das Erleben der Stadtlandschaft wie auch einzelner Gebäude und wird durch diese mitgeprägt.
A 4. Die Architektur muss nicht in jeder Situation von neuem beginnen, die Alltagswelt aufzubauen. Die Wirklichkeit der Alltagswelt erscheint bereits objektiviert, konstruiert durch eine Anordnung der Objekte, die schon zu Objekten deklariert worden waren, bevor ich auf der Bühne erschien. Die Sprache versorgt mich unaufhörlich mit den notwendigen Objektivationen und setzt mir die Ordnung, in welcher diese Objektivationen Sinn haben und in der die Alltagswelt mir sinnhaft erscheint. Wenn sich auch Erfahrungen eines anderen Menschen nicht ganz mit den meinen decken, weiß ich doch, dass wir in derselben Wirklichkeit leben. Ich kann die Wirklichkeit dieser Wirklichkeit hypothetisch in Frage stellen, aber im Alltag muss ich solche Zweifel abwehren, um in einer Routinewelt existieren zu können, es sei denn, ich würde die natürliche Einstellung zugunsten einer theoretischen oder philosophischen aufgeben wollen. Dabei hilft die Architektur vermöge der Gebrauchsanweisungen, die ich aus ihr herauslese, und vermöge der körperlichen Bewegungen, die ich in ihren Räumen vollführe, die in der Weise aufgehen, wie ich die Architektur als objektive Wirklichkeit erlebe und von mir selber und meiner Körperlichkeit absehen kann. Soziale Ordnung ist dadurch garantiert, dass es gelingt, soziale Praktiken in ihrer regelmäßigen Abfolge auch über Zeit und Raum hinweg aufrechtzuerhalten. Soziale Systeme binden Zeit und Raum, indem sie Gegenwärtiges und Abwesendes aufeinander beziehen und integrieren. Giddens lenkte unser Augenmerk bereits auf den Routinecharakter von Alltagshandlungen und auf die Zwangsmomente, die dem Handeln in Zeit und Raum Grenzen setzen. Beim Durchlaufen der Raum-Zeit-Pfade ist jedes menschliche Wesen Restriktionen unterworfen, und wenn sich die individuellen Bewegungen der Menschen kreuzen, dann ist es nicht irgendwo, sondern wiederholt an bestimmten Stationen und Verkehrsknoten: an Raum-Zeit-Orten, an denen es zu Begegnungen kommt und soziale Ereignisse stattfinden können. Diese Haltestellen – Wohnungen, Straßenecken, Bahnhöfe, Kneipen, Spielplätze, Wochenmärkte – fungieren als Mobilitätsunterbrecher. Sie stellen Raum-Zeit-Ausschnitte dar, in denen sich Interaktionen bündeln und zentrieren. Sie bilden die Schauplätze sozialer Zusammenkünfte, liefern die Bühne für ko-präsente Interaktionen und Inszenierungen. Räumliche Strukturen sind Ausdruck der durch Alltagsroutinen gesteuerten Interaktionen, und sie helfen, die Ordnung zu sichern. Zentrum und Peripherie sind Resultat und Ursache der Nutzungsfrequenzen. Die Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit wie die von Norbert Elias getroffene Unterteilung in Vor-
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der- und Hinterbühne sichern Seinsgewissheit und autonome Körperkontrolle und dadurch die soziale Ordnung. (41) Wo Rückzugsmöglichkeiten verstellt sind, geraten die Personen in kritische Situationen. Die durch das Zusammenleben erhöhte Anwesenheitsverfügbarkeit muss ausgeglichen werden durch Möglichkeiten, sich abzuschließen und die Zugänglichkeit zu dosieren. Die Anstrengung der auf der Vorderbühne verlangten Selbststeuerung muss kompensiert werden durch eine gewisse Lockerung der Kontrollen von Körperhaltung, Gestik, Mimik und Kleidung auf der Hinterbühne. Das Verkennen der Differenz zwischen bekundetem Kooperationswillen und innerer Distanz, ohne dabei die Differenz zwischen Empfindung und Selbstdarstellung zu berücksichtigen wie auch die Notwendigkeit, das gegeben Scheinende immer wieder interaktiv herstellen zu müssen, führt zu allerlei klischeehaften Vorstellungen. So ist es z.B. ein trivialsoziologischer Gemeinplatz, dass Urbanisierung Entfremdung und kalte Anonymität fördere und mit dem Verlust der Gemeinschaft einhergehe. Wichtiger als die Frage, ob dies zutrifft oder ob nicht Einsamkeit auch aus der erdrückenden Zwangsgemeinschaft der von wechselseitiger Kontrolle und Xenophobie bestimmten ländlichen Gemeinschaft resultieren kann, ist aber der Umstand, dass Fremdheit genauso wenig wie gegenseitiges Vertrautsein bloß gegeben sind, sondern jeweils »hergestellt« werden müssen. Demonstrieren lässt sich dies etwa an Hand der leiblichen Zustände und Interaktionsmuster, wie sie sich beispielsweise in der klaustrophobischen Zwangsgemeinschaft eines Fahrstuhls einstellen. Hier wird das Bedrückende der Gemeinschaft buchstäblich »erfahrbar« und werden zugleich die Strategien der Individuen transparent, sich als Fremde zu behaupten, um die Fahrstuhlsituation ohne Gesichtsverlust zu überstehen. Fremdheit ist nicht gegeben, stößt uns nicht von außen zu, sondern sie wird aktiv und interaktiv hergestellt. Anwesenheit und Kopräsenz werden minimiert. Techniken hierfür sind Platzwahl, Distanzmaximierung, das Den-anderen-den-Rücken-Zuwenden, Hinausdrängeln, Blickpraxis. Die Arbeit, die hinter der Fremdheit und ihrer Aufrechterhaltung steckt, die Mühe, die es kostet, soziale Beziehungen abzulehnen, ohne Unpersonen zu erzeugen, die eigene Anwesenheit zu minimieren, ohne für ein Monster gehalten zu werden, kennt jeder, auch wenn sich wohl kaum jemand die Logik und die Arbeit, die dazu erforderlich ist, je bewusstgemacht hat. Was uns immer wieder in die Geselligkeit treibt, ist das »stählerne Gehäuse der Bequemlichkeit«. Dort finden wir unsere Körper zwangsweise vergemeinschaftet. Wie Hunde ihre Besitzer an der Leine hinter sich herzerren, drohen die Körper ihre Besitzer ins Gespräch zu zerren. Es handelt sich um eine Art visuellen Magnetismus: Blicke ziehen andere Blicke an, auch wenn man am liebsten niemanden sehen und von niemandem gesehen werden will. Diese Mechanik lässt sich nicht einfach abstellen, man muss sich tätig gegen sie wehren. (42) In Fahrstühlen oder U-Bahnen, Wartezimmern parkt man seinen Körper nach geometrischen Grundregeln, drei Personen bilden regelmäßig ein Dreieck, vier ein Quadrat. Wenn die Plätze besetzt sind, auf denen man mit dem Rücken zur Wand sitzen kann, bildet man Inseln. An das Blinken der Stockwerksanzeige hängt man seinen Blick wie die Jacke an den letzten freien Kleiderhaken. Reklame in der U-Bahn wird dankbar als Blickpunkt genutzt. Der Körper wird gewissermaßen abgeschaltet, den Blicken das Licht abgedreht. Ähnlich ist es in Straßenbahnen, Bussen, U-Bah-
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nen. Man möchte sich am liebsten gar nicht mehr bewegen, so dass das Aufstehen, um am Ziel auszusteigen, enorme Kraft kostet, wie Bertold Brecht in seiner Erzählung »Meine längste Straßenbahnfahrt« schildert. So sitzt oder steht man regungslos, tonlos, ausdruckslos, teilnahmslos. Zu lautes Reden oder zu heftige Gestik werden als unangemessen empfunden, es herrscht allgemeines Schweigegebot. Beispiele für diese Proxemik sowie über Verstöße gegen diese Regeln finden sich zuhauf in Goffmans Büchern über Verhalten in öffentlichen Situationen oder geschlossenen Anstalten, in Asylen. Man beobachtet eine Schauspielerei, bei welcher der Akteur alles daransetzt, nicht aufzufallen, nicht bemerkt zu werden, fremd zu bleiben, als Fremder das Fremdbleiben gegen die Zumutungen der Kommunikation zu verteidigen. Zweiergespräche werden beim Betreten eines Fahrstuhls in der Regel unterbrochen und erst bei Verlassen fortgeführt. Im Kontext einer solchem Begegnung können Machtungleichgewichte zum Ausdruck kommen. In einem Fahrstuhl eine Unterhaltung fortzuführen, kann bedeuten, auf andere absichtlich keine Rücksicht nehmen zu wollen, wenn man demonstrieren will, dass man sich als sozial höherstehend nicht an Konventionen gebunden fühlt. (43) Begegnungen schließen das aktive Organisieren des Raumes (spacing) ein. Dieses Organisieren unterliegt Koordinierungszwängen, und man muss mit einem begrenzten Fassungsvermögen des Raumes rechnen. Man kann beobachten, dass sich die Geltung entsprechender Konventionen zu verflüchtigen droht in einer Unkultur antrainierter Schamlosigkeit, die mit Selbstbewusstsein verwechselt wird. Man erkennt daran die Fremden, die nicht dazugehören, weil sie sich nicht zu benehmen wissen. Takt ist nicht nur eine zivilisationsgeschichtlich erworbene Annehmlichkeit, sondern erfüllt eine psychosoziale Funktion. Die Auflösung und der Angriff auf die normalen Routinen des Lebens erzeugen ein hohes Maß an Angst. Sie berauben den Menschen seiner anerzogenen Reaktionen, seiner sozialen Quasi-Instinktsicherheit, die mit der Sicherheit der Körperbeherrschung und einem vorhersehbaren Rahmen des gesellschaftlichen Lebens verbunden sind. (44) Seinsgewissheit gründet sich auf die Möglichkeit der autonomen Kontrolle des eigenen Körpers innerhalb vorhersehbarer Routinen und Begegnungen. Der Routinecharakter wird jeweils hergestellt oder erarbeitet mit Hilfe der Formen der reflexiven Steuerung des Handelns, wobei reflexiv nicht mit reflektiert verwechselt werden darf. Alltagsroutinen sind so gesehen nicht eine Einschränkung des Subjekts, sondern dessen Bestätigung, die Form, in der es sich verwirklicht, sein Medium. Die durch Routinen gestiftete Sicherheit bricht in totalen Institutionen wie Gefängnissen und Asylen nicht allein durch Misshandlungen und Gewalttaten zusammen, sondern vor allem dadurch, dass den Insassen die Möglichkeit genommen wird, sich einen Ausschnitt des Alltagslebens herausnehmen und als den ihren betrachten zu können. In Lagern wird die Unterteilung in Vorderbühne und rückseitige Regionen eingezogen, wodurch die Unvorhersehbarkeit von Ereignissen erhöht und die Basis für das Gefühl der Autonomie zerstört wird. Nur mit Hilfe von rückwärtigen Regionen und über die Stabilität von Routinen kann die für die einzelnen Akteure elementare Seinsgewissheit gewonnen und aufrechterhalten werden. In Schulen, Fabriken, öffentlichen Einrichtungen und Räumen, die Giddens als Machtbehälter bezeichnet, ist die Herstellung rückseitiger Regionen,
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verborgener Winkel, von Pausenräumen und Toiletten, Raucherecken deshalb so eminent notwendig und geradezu überlebenswichtig. Giddens’ an Foucault angelehnten, aber ihm gegenüber auch kritischen Analysen totaler Institutionen zufolge ist es auch ihren Insassen zumeist möglich, sich innerhalb gänzlich fremdbestimmter Situationen dennoch Nischen zu verschaffen, in denen sie der umfassenden Kontrolle zumindest zeitweise entgehen können. (45) Giddens ist auch unter solchen extremsten Bedingungen von der Handlungsfähigkeit der Individuen überzeugt, wenn es darum geht, sich auf den Schutz des eigenen Selbst zu konzentrieren. Entsprechende Abschottungsstrategien können sich auch in Körperhaltungen ausdrücken. In Extremsituationen freilich müssen sich Distanzierungsgesten in ruinöser Weise gegen einen selbst richten. Goffman spricht in solchen Fällen von »verrückten Orten«. (46) Am Arbeitsplatz oder in der Schule, wo die Individuen, anders als die Insassen der Psychiatrie, sich nicht die ganze Zeit aufhalten müssen, ist die Einsperrung einem Zweck untergeordnet, wie etwa dem, nützliche Produkte zu schaffen oder den Insassen Benehmen beizubringen und Bildung zu vermitteln. Während der Zeit, die Lehrer und Schüler zusammen verbringen, sind sie räumlich und zeitlich vor Störungen von außen abgeschirmt, damit der Lehrbetrieb gewährleistet ist. »Die Interaktion findet in geschlossenen, nicht öffentlich zugänglichen Räumen statt, so dass die Ablenkung durch die Umwelt minimiert werden kann […] Vor allem aber gewährleistet die räumliche Absonderung des Unterrichts, dass das Unterrichtssystem seine eigene Thematik kontrollieren und Beginn, Wechsel und Fallenlassen von Themen selbst bestimmen kann.« (47) Die Architektonik der Schule unterstützt die räumliche Ordnung und die Zeitabläufe des Unterrichtsgeschehens. Es gibt die genormten Klassenzimmer und deren Einteilung durch geregelte Tischordnung und Sitzverteilung, die Lehrern und Schülern ihre Rollen zuweisen. Für Giddens kann kein Zweifel daran bestehen, dass dies »die gewohnheitsmäßige Beschreibung und Zuteilung von Aufgaben erleichtert«. »In strengeren Formen der räumlichen Klassenzimmereinteilung wird die Spezifizierung der Positionen des Körpers, seine Bewegung und Haltung üblicherweise straff organisiert.« (48) Dass man heute allgemein zu aufgelockerteren räumlichen Arrangements übergegangen ist, ändert nichts an der prinzipiellen Strukturiertheit und ihrer praktischen Notwendigkeit. Die Aktivitäten sind strengen Regularien unterworfen, was jedoch nicht ausschließt, dass die Schüler wie die Lehrer vor Beginn einer Stunde und danach informelle Gespräche führen können. Es gibt und gab immer Schlupflöcher, in denen der »Kampf, der täglich zwischen Lehrern und Schülern ausgefochten wird«, vorübergehend zum Erliegen kommt. (49) Dass es in diesen Randzonen und Nischen auch zu persiflierender Nachahmung und Überbietung der Domestizierungsrituale kommen kann, für diese pervertierte Unter- oder Hinterwelt der Schule gibt Robert Musil in seinen »Verwirrungen des Zöglings Törleß« einen schwer verdaulichen Einblick, indem er eine Parallelwelt der Züchtigung und sadistischen Demütigung als pädagogisches Experimentierlabor beschreibt, das die Rigidität und den Sadismus der offiziellen Erziehung weit übertrifft. Die Schule ist ähnlich wie die Fabrik ein Machtbehälter, keiner jedoch, »der bloß fügsame Körper auswirft«. Die Schüler sind für Giddens keine machtlos wehrlosen, einem Räderwerk oder einer Disziplinarstruktur unterworfenen, einer Mechanik ausgelieferten Elemente, sondern Handelnde, Akteure, die täglich aufs
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Neue die Situation der Schule mit herstellen müssen, indem sie kooperieren und gegen die herrschenden Regeln ankämpfen, weshalb die Lehrer immer wieder aufs Neue den disziplinierenden Kontext mobilisieren wie auch die rückwärtigen Freiräume einräumen müssen.
A 5. Offenbar haben Raumformen und bauliche Strukturen einen Einfluss auf menschliche Verhaltensweisen. Handlungsmuster, Denkschemata und räumliche Arrangements bilden einen komplexen Zusammenhang. Bei Veränderungen einzelner Elemente dieses Zusammenhangs verändert sich das Gewebe der Raumerfahrung insgesamt. Jeder Prozess der Entbettung sozialer Beziehungen, wie sie beispielsweise durch die Ausbreitung der Geldwirtschaft, die Entwicklung von Verkehrsund Kommunikationstechnologien, von Expertensystemen erfolgt sind, wird mit einer erneuten Einbettung beantwortet. Auf jede Deterritoralisierung folgt eine Reterritorialisierung, um es mit Deleuze zu sagen. Das Verhältnis von Vertrautheit und Entfremdung muss immer wieder neu ausbalanciert werden. Stets steigern sich beide Seiten des Dualismus Individuum-Gesellschaft. Was als das »Gemütliche« gern kulturpessimistisch und entfremdungstheoretisch gegen die Moderne gehalten und romantisch verklärt und von der Gegenseite belächelt wird, ist in der Regel nicht aus der Nahwelt hervorgegangen, sondern in sie hineingepackt worden. Das Globale bringt das Lokale und alles, was mit ihm verbunden wird, erst hervor, nämlich gerade indem durch die moderne Alltagswelt der Druck auf den Einzelnen zunimmt und ihn zu einer reflexiveren Lebensführung zwingt. (50) Wenn nach dem Fallenlassen des traditionellen Raumdeterminismus und dem Aufgeben eines naiven Behälterverständnisses des Raumes immer mehr die aktive Hervorbringung von Raum in der Interaktion betont wird, darf man doch nicht die Wirksamkeit räumlicher Arrangements, wenn diese sich einmal geformt haben, außer Acht lassen und ihren Einfluss auf das Handeln nicht unterschätzen. Räume prägen das Verhalten und die Wahrnehmung. Auf Ämtern und Behörden, in der Kirche, im Wartezimmer, in Seminarräumen, im Gericht verhalten wir uns jeweils spezifisch und stets anders als zuhause. In Kirchen bemühen wir uns, leise zu sein, gehen mit Bedacht, nehmen den Hut ab, senken die Stimme. In einem hochstilisierten Barocksaal, so Arnold Gehlen, wird sich noch heute niemand ganz unbefangen bewegen können. Im Konzertsaal gehen wir auf Zehenspitzen. Der auf barocke Verhaltensformen abgestimmte Raum behält als »Außenhalt« bis heute eine »Sollsuggestion« (Gehlen). An der Peripherie benehmen wir uns anders als im Zentrum. (51) Man kann auch nicht umhin, mit bestimmten Gebäudetypen bestimmte Narrative zu verbinden. In einem neugotischen Schloss erwartet man, dass sich gewisse Dinge ereignen, von denen wir annehmen, dass sie in einem Bauhaus-Ensemble nicht geschehen können. In einem barocken Bürgerhaus lebt man als ein anderer als in einem Appartementhaus der zwanziger Jahre. Und dies nicht nur, weil wir fühlen, was sich in bestimmten Räumen ziemt und was nicht. Raumgestalten und Lebensformen scheinen jeweils eine ästhetische Einheit zu bilden. Auch
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rechnen wir damit, dass bestimmten Räumen bestimmte Handlungen zugeordnet sind. Man würde nicht ohne Weiteres in einem Schlafzimmer kochen oder in einer Küche schlafen. Wir sind zutiefst verwirrt, wenn ein Gerichtsverfahren, wie bei Kafka, auf dem Dachboden stattfindet oder das Parlament in einem Hühnerstall tagt. Derlei hängt nicht nur mit Vorstellungen von Würde und Angemessenheit zusammen. Räume helfen zu entscheiden, in welcher Situation wir uns befinden, und strukturieren vor, in welche wir kommen können, welche Erwartungen wir entwickeln und welchen Entwicklungen wir ausgesetzt sein werden. Sie machen bestimmte Interaktionsverläufe wahrscheinlicher als andere. Es ist freilich nie der Raum selbst in physischer Hinsicht, der bestimmt, sondern er ist stets vermittelt durch das Handeln und das Bewusstsein der Akteure. Nicht physikalische Raumstrukturen als solche determinieren Verhalten, sondern die Bedeutungen und Wertigkeiten, die Menschen bestimmten Orten zuerkennen, legen auch das ihnen entsprechende Verhalten nahe. Freilich kann man sich von der Suggestivkraft eines Raumes in gewissem Maße befreien und die Vorstrukturierung durchkreuzen und verfremden. Die Disko in der Kirche oder das Happening im Vorlesungssaal sind bekannte Beispiele. In der Regel ist man dankbar für die Wirkung des Raumes auf das Verhalten, weil es Kontingenz bewältigen hilft. Wir befinden uns umgeben von Architektur in einer »fürsorglichen Belagerung«. (52) Solange Dinge funktionieren und in Routinehandlungen eingebettet sind, werden sie trivial, ja geradezu unsichtbar. Die widerspenstige Seite der Dinge, die jederzeit akut werden kann, darf jedoch nicht unberücksichtigt bleiben. Materielle Kultur ist keine Substanz, sondern ein dynamischer Prozess. Die Wiederholung eingespielter Benutzungsformen oder sozialer Praktiken ist nie bloße Wiederholung, sondern immer auch Verschiebung als ständiges Neu-Hervorbingen, wobei die Machtkämpfe, mit denen solche Prozesse einhergehen, zuweilen auf brechen können. Die enge Verknüpftheit von architektonischen Strukturen und Lebensformen hat immer wieder die Frage aufgeworfen, ob sich mittels der architektonisch gestalteten Raumstruktur eine gewünschte Gesellschaftsformation herstellen oder bestimmte Verhaltens- und Denkweisen induzieren lassen. Das Ergebnis scheint auf eine Verbindung im Sinne einer Kausalität schließen zu lassen. Auf der anderen Seite wissen wir auch, dass man bei einem Menschen nicht schon dadurch eine Veränderung seines Charakters herbeiführen kann, dass man ihn einer auf bestimmte Weise gestalteten architektonischen Umgebung aussetzt, oder dass sich durch Änderung der Architektur aus einem kriegerischen Stamm ein friedfertiges Volk wird, auch wenn dies in Nachkriegsdeutschland die Alliierten gehofft haben mögen. Die Frage hatte immerhin lange Konjunktur, welche Architektur zur Demokratie passt und dieser günstig ist. Aus der durchaus evidenten Affinität von Räumen und Verhaltensweisen lassen sich keine Rezepte ableiten, wie Menschen charakterlich formbar wären. Architektur ist nicht direkt instrumentalisierbar zur Herstellung bestimmter Verhaltensformen und Charaktereigenschaften. Man kann sogar beobachten, dass Raumgestalten mit pädagogischem Zumutungscharakter eher Protestverhalten provozieren als Konformität zu stimulieren. Im Verstoß gegen die als rigide empfundene konventionelle Raumbenutzung und die Ver-
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haltensanmutungen einer Architektur liegt ein großer Reiz. Graffiti legen davon beredt Zeugnis ab, auch die Umfunktionierung der Eisenmann’schen Stelen zu einem Kinderspielplatz gibt ein überzeugendes Beispiel. Politische Eliten drängen auf architektonische Selbstdarstellung, junge Demokratien ebenso wie hybride Diktaturen. Die Monumente wie die Stadtordnung sollen Enthusiasmus zeigen und fördern. Die jeweilige politische Verfassung einer Gesellschaft ist gleichwohl nicht mit Sicherheit aus ihrer Architektur abzulesen. Demokratie und feudales Ambiente schließen sich nicht aus, wie man am englischen Parlament sehen kann. Die Beziehung zwischen Architektur und Politik ist weder linear noch historisch dauerhaft. Gleichartige politische Systeme können sich architektonisch auf völlig unterschiedliche Weise darstellen, wie umgekehrt politisch widerstreitende Richtungen nicht selten identische Architekturformen instrumentalisieren. Erst Rhetorik macht Architektur zum Politikum. Der OstBerliner »Palast der Republik« und der Bonner Plenarsaal bedienten sich im Prinzip derselben Architektursprache. Der Sowjetpalast ähnelte dem Speer’schen Entwurf zum Germania-Projekt, während die Pavillons beider Imperien auf der Pariser Weltausstellung 1937 anschaulich als unversöhnliche Gegensätze gegenüberstanden. Die geplanten monumentalen Großbauten auf beiden Seiten sahen vergleichbare architektonische Räume für die Massenzustimmung vor, auf beiden Seiten versuchte man, aus Säulenreihen und Natursteinfassaden schlagkräftige Waffen im Kampf der Ideologien zu schmieden. In ihrer Stummheit spiegeln Fassaden und Mauern jeweils die Ideologien wider, die auf sie projiziert werden. In Deutschland finden wir eine Architekturgeschichte von pathetisch inszenierten Neuanfängen, von demonstrativen oberflächlichen Kehrtwenden über untergründig latenten Kontinuitäten. Nach jedem Systemwechsel suchte sich die Gegenwart vom politischen Vorgänger, vom vorangegangenen Regime abzugrenzen. Dreimal in einem Jahrhundert, 1918, 1933 und 1945, sollte die Welt erfahren, wie schnell und gründlich ein Land sich verändern konnte. In dieser Epoche bildete sich ein Bautyp heraus, den Martin Warncke den »Gegenbau« nannte. Er ist ein polemischer Bau, der seine propagandistische Aufladung aus der direkten Konfrontation mit der Architektur des politischen Gegners oder Vorgängers bezieht, von der er sich so deutlich wie möglich abzusetzen versucht. Für den Gegenbau bedarf es keiner eigenen Werte, er ist dank der Unschärfe seiner Codes nahezu universell verwendbar, in der Polarisierung lernen die Bauten sprechen. Ein prägnantes Beispiel bildet das Bonner Bundeshaus von Hans Schwippert am Rheinufer. Die Umgestaltung der Pädagogischen Bauakademie 1949, ein Bau aus den frühen 30ern in den Formen des Bauhauses, ließ ein provisorisches Parlamentsgebäude entstehen, das in seiner gläsernen Offenheit, seiner Helligkeit und Leichtigkeit bewusst als Antithese zum wuchtigen Speer’schen Neoklassizismus entworfen war. Der Bau musste zugleich an einer zweiten Front als architektonische Waffe herhalten, als Abgrenzung gegen das Baugeschehen in der DDR. Dort wurde durch das 1950 verabschiedete Auf baugesetz nach sowjetischem Vorbild eine traditionalistische, an lokalen Bauformen orientierte Architektur und Stadtplanung vorgeschrieben, die die kosmopolitischen zynischen Leitbilder des »Neuen Bauens« bekämpfen und als Ausdruck kapitalistischer Ausbeutung und zynischer Volksferne bloßstellen musste. (53)
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Gläserne Offenheit galt im Nachkriegsdeutschland als Symbol für Erzogensein zur Demokratie. Ludwig Erhard vertraute auf diese Symbolik, wenn er sagte: »Sie lernen mich besser kennen, wenn Sie dieses Haus ansehen, als wenn Sie mich eine politische Rede halten sehen.« Versteckt im Park und auf großem Grundstück konnte man sich rundum Glas leisten, hier brauchte der Bungalow nicht einmal eine öffentliche Fassade. Die weißen Wände, wie man sie von außen sehen würde, wenn man Zugang hätte, sehen aus wie die Außenmauern eines Fernsehstudios. Wer hier residiert, hat nichts zu verbergen. Wer im weißen Licht präsentiert wird, ist ein lupenreiner Demokrat. Glas kann man freilich auch anders interpretieren. Die neuen Gebäude des BND, aus abertausend Fenstern bestehend, sollen Offenheit suggerieren. Das schießschartenhafte Fensterformat verrät aber, die Institution dient in Wahrheit der Durchleuchtung aller anderen. Die amerikanische Botschaft in Berlin geriert sich als eine Art Hochbunker, als sei man bedroht, obwohl man in Wahrheit von hier aus Spionageangriffe betreibt. Auf der von Rem Koolhaas kuratierten Architektur-Biennale in Venedig von 2014 (absorbing modernity 1914-2014) hat man in den deutschen Pavillon – Ernst Haiger monumentalisierte den von Daniele Longhi 1909 entworfenen Bau, nachdem Hitler ihn 1936 zu klein und bescheiden gefunden hatte – die 1963 bei Sepp Ruf in Auftrag gegebene Bundesvilla hineingebaut. Die Grundrisse beider Bauten greifen ineinander, sind übereinander geblendet, überschneiden einander passgenau und zeigen, wie gut die Architektur des einen durch die des anderen lesbar wird. Wer glaubte, die beiden Bauten lieferten ein simples Lehrstück von Gegensätzen, bei dem die Rollen von vornherein verteilt sind, wurde eines Besseren belehrt. Die Organisationsstruktur einer Gesellschaft lässt sich nicht ohne Weiteres und eindeutig aus ihrer Raumstruktur und ihrer Architektur herauslesen, da das schönende Bild, das sich eine Gesellschaft von sich macht, in das Bauen einfließt und die Art, wie Gesellschaften über sich nachdenken, die Produktion und Rezeption von Architektur mitbestimmen. Die Manifestation der Selbstverkennung in der Raumstruktur einer Gesellschaft musste Claude Lévi-Strauss am Beispiel der Dörfer der Bororo-Indianer feststellen. Er hat die Vermutung geäußert, dass die Annahme einer Abbildung der tatsächlichen Sozialstrukturen in den Raumstrukturen archaischer Gesellschaften ein von den Anthropologen selbst erzeugter Mythos sei. (54) In die Beschreibungen des Ethnologen fließen dessen Vorstellungen von Stringenz und Schönheit einer Struktur stets mit ein, so dass die Beschreibung dessen Bedürfnis nach Ordnung und Klarheit unter Umständen eher gehorcht, als dass sie die Struktur des Untersuchungsgegenstandes selbst tatsächlich abbilden würde. Während man bei sogenannten primitiven oder archaischen Gesellschaften von einer gewissen Naivität des Materials ausgeht, so dass die eine Ordnung unterstellende Beschreibung den ersten derartigen idealisierenden Zugriff darstellt, sind moderne komplex ausdifferenzierte Gesellschaften selbst schon durch die idealisierende Zurichtung in Form von Planung gekennzeichnet, sie sind gewissermaßen schon selbstreflexiv gebaut, mehrfach idealisiert und darum zur Unkenntlichkeit verzerrt. In modernen Gesellschaften wird der Raum in erheblich höherem Maße geplant als in archaischen Gesellschaften. Der geplante Raum kann aber gerade darum in Widerspruch geraten zu den unbewussten Strukturierungen. Je rationaler und selbstgewisser und weitreichender Raumplanung erfolge, so Lévi-
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Strauss, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit, dass unbewusste und irrationale Anteile des Raumerlebens und der Raumkonstitution dem Bild, das man sich von sich macht, widersprechen. Ebenso wie die vom Stringenz-Bedürfnis des Ethnologen bestimmte Beschreibung einer archaischen Gesellschaft die illusionäre Annahme einer Entsprechung von Raum- und Sozialstruktur bestärken kann, so kann auch das hohe Maß an Geplantheit einer modernen Gesellschaft das Verkennen der tatsächlichen Divergenz von Raumstrukturen und tatsächlicher Sozialstruktur fördern. Wenn im Fall der archaischen Gesellschaft das Verkennen dem Ordnungsbedürfnis des Ethnologen geschuldet ist, dann ist es im Fall der modernen Gesellschaft dem Idealisierungsbedürfnis der für die Planung zuständigen Mitglieder der Gesellschaft und dem normativen Ordnungsglauben der Benutzer selbst geschuldet. Architektur korrespondiert somit weniger mit der tatsächlichen Sozialstruktur als vielmehr mit der Neigung einer Gesellschaft und ihrer Mitglieder, ein idealisiertes Bild von sich anzufertigen und dies für die Realität selbst zu halten. (55) Hinter der offiziellen Erscheinungsform einer Gesellschaft ist stets eine zweite, latente, unsichtbare Hinterwelt zu entdecken, die sich als Rauschen des Problemdrucks, als Überforderung durch Kontingenz, als Drohung des Chaos und als Versprechen überbordender Möglichkeitsfülle zuweilen störend bemerkbar macht. Es ist nicht zu leugnen, dass Architektur faktisch der Zivilisierung und Enkulturation dient, zur Sozialisation, zur Einführung des Nachwuchses in die Anforderungen der sozialen Existenz. Architektur dient ohne Zweifel der Erziehung zu normenkonformem Verhalten. Man muss nicht nur an die Rolle der Puppenstuben denken, die heranwachsenden Mädchen die Bedeutung der Ausdifferenzierung von bestimmten Lebensbereichen zugewiesenen Zimmern einüben helfen sollen. Eine kultivierende und erzieherische Wirkung kann der Architektur insgesamt kaum abgesprochen werden. Dass die gestaltete räumliche Umgebung als eine Anmutung zu bestimmtem Verhalten und Wahrnehmen erfahren wird, setzt wiederum Bildung und Erziehung voraus, und sie kann als erfahrene darum auch gezielte Verstöße als lesbaren Protest provozieren. Erziehung durch Umgang mit Gebrauchsgegenständen und durch Raumgestalt ist seit jeher Teil der Kultur. Kinder lernen Umwelt in Verbindung mit den darin möglichen oder geforderten Interaktionsstrukturen kennen. Sozialisation besteht zu einem nicht unwesentlichen Teil darin, Gebrauchsweisen an Gegenständen und Räumen zu erlernen und die kontingente Vielzahl der Möglichkeiten auf den binären Code von richtig und falsch zu reduzieren. Eine Badewanne ist nicht nur praktischer Gebrauchsgegenstand, sondern zugleich ein Behälter sozialer Normen und derart ein Erziehungsinstrument. Sie dient auch zur Verinnerlichung von Reinlichkeitsnormen. Mit teuren und darum kostbaren Dingen geht man besonders behutsam um. Das Kind lernt von den Eltern, dass im Wohnzimmer über andere Dinge gesprochen wird als im Schlafzimmer. Wie es sich gehört, wird zu sachgemäßem Gebrauch. Architektonische Strukturen wirken dabei aber nicht unmittelbar sozialisierend oder verhaltensbestimmend, sondern vermittelt durch die familialen und außerfamilialen Strukturen und Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche, Institutionen und Riten. Die Prägung erfolgt auch nicht durch isolierte Erziehungsmaßnahmen oder
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einzelne Interaktionen, sondern im Kontext der gesamten Interaktionsstruktur und Interaktionsgeschichte sowie über ritualisierte Abläufe, in denen alle Einzelpersonen und Einzelakte über die Zeit hinweg ihren mehr oder weniger festen Platz innehaben. Soziale Identität wird nicht in der behavioristisch verkürzten Weise antrainierter Reflexe gebildet, sondern vermittelt über die Ausbildung eines psychischen Innenraumes, der die Entfaltung eines freien Willens und ästhetischer Ansprüche und idealisierender Selbstbilder bei möglicher Rollendistanz ermöglicht. Die durch die permanente Wechselbeziehung von Handeln und Erleben gesteuerte Auseinandersetzung mit den eigenen Bedürfnissen und Trieben einerseits und den Anforderungen und Einschränkungen der Umwelt andererseits vollzieht sich auf unterschiedlichen Stufen und nach einer bestimmten Entwicklungslogik als Aneignung gesellschaftlicher Standards und als Akkomodation an Konventionen. Diese Aneignung und Angleichung erfolgt auf jeder der Stufen stets auf drei (freilich nur analytisch trennbaren) Ebenen: der kognitiven Ebene des manipulativen Umgangs mit Dingen, der sprachlichen und moralischen Ebene des Umgangs mit anderen Subjekten und deren Äußerungen und schließlich der Ebene der Fähigkeit zum Verstehen und Antizipieren von Erwartungen, Normen und Wertsetzungen. Die auf diesen drei Ebenen jeweils erworbenen Fähigkeiten dienen dem Auf bau und der Stabilisierung des individuellen Systems der Ich-Abgrenzungen, das einerseits Voraussetzung für die Teilnahme an Arbeit und Kultur ist, dessen Konstitution andererseits erst von dieser Teilnahme abhängt. Dabei lernt das Individuum im Normalfall, die eigenen Antriebe mit den gesellschaftlichen Normen zu vermitteln und je nach dem Maß der geglückten Vermittlung die innere Natur der eigenen Person und die äußere Realität im Detail überhaupt erst wahrzunehmen. Dass es sich hierbei nicht um behavioristisch fassbares Verhaltenstraining handelt, das sich auch mit Ratten erzielen ließe, sondern um Verinnerlichung von Werten und Normen, um die Etablierung der Innerlichkeit, die auch die Verdrängung und Abwehr von nicht-integrierbaren Bedürfnissen und Triebregungen impliziert, wird exemplarisch deutlich in Kierkegaards Beschreibungen seiner häuslich-familiären Sozialisation. Ein besonders anschauliches Beispiel bildet die Passage, in welcher der junge Kierkegaard von dem fingierten Ausflug berichtet, den er in seiner Einbildung an der Hand seines Vaters innerhalb der elterlichen Wohnung vollführt. (56) Die Familie ist der privilegierte Ort der Ausbildung jenes Innenraumes der »Innerlichkeit«, und die familiäre Wohnung bilden darum den Kern der raumvermittelten Erziehungsprozesse, um die sich die sozialen Agenturen in konzentrischen Kreisen herumlegen. Die Familie und die Wohnung bilden den bedeutsamsten Ort der ontogenetischen oder lebensgeschichtlichen Aneignung der sozialen Strukturen wie der »zivilisatorischen Prozesse« (57). Sie werden erst später zu einem Teil eines größeren Erfahrungs- und Handlungsraumes. Die Wohnung in ihrem standardisierten architektonischen Zuschnitt ist die erste Welt, der erste Lebenshorizont, in dem sich die Zumutungen und die Gewalt der gesellschaftlichen Anforderungen in ein Bedürfnis und ein Vermögen umformen können, in einer Mischung aus Unterwerfung und Eroberung, Nachgeben und Kämpfen, Einsicht und Protest. Konkurrierend oder komplementär gibt es Institute, in denen größere Verbände von Individuen aufwachsen: Internate, Asyle, die Militär-Kaserne, Ferienherbergen, Wohngemeinschaften, Klöster, die den zivilisatorischen Prozess auf
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kollektivere Weise und, aus praktischen wie ideologischen Gründen, mit stärkerer Betonung auf formalen Regeln und unter Reduzierung der individuellen Identität und Bewegungsfreiheit gewährleisten sollen. Während in liberalen Gesellschaften der familiale Kern ideologischen Primat genießt, besitzt in diktatorischen Regimen die außerfamiliäre Erziehung Vorrang, die in Internaten und auf Militärakademien stattfindet. (58) Solche Gesellschaften sind es denn auch, die vornehmlich an Konzepten interessiert sind, Architektur pädagogisch instrumentalisierbar zu machen. Der ästhetische Reiz der faschistischen Architektur liegt in diesem pädagogischen und entindividualisierend-kollektivistischen Impetus. Wenn uns derlei schnell verdächtig vorkommt, so empfinden wir doch zugleich einen schmerzhaften Mangel angesichts des Unmöglichwerdens kollektiverer Lebensformen in unserer modernen Zivilisation. (59) Das wohlige Gruseln angesichts der faschistischen Bauten mag daher rühren, dass der Faschismus auf verführerische und zugleich erschreckende Weise eine Kombination inkonsistenter Einstellungen war: die korporatistisch-organisch ästhetisierte Vision eines Gemeinschaftskörpers einerseits und die extreme Technologisierung, Mobilisierung, Destruktivität, Auslöschung der letzten Überreste »organischer« Gemeinschaften herkömmlichen Zuschnitts (Familien, Universitäten, Genossenschaften, lokale Selbstverwaltungstraditionen) auf dem Niveau tatsächlicher Mikropraktiken der Machtausübung andererseits. Diese spezifisch paradoxe Kombination aus Gemeinschaftsnostalgie und dem Trieb zu rücksichtsloser Modernisierung mag es sein, was die gemischten Gefühle hervorruft. Bei allen partiellen Effekten gilt: So sehr die Entsprechung von sozialer Struktur und Raumstruktur auf der Hand liegt, so wenig ist vermittels der Raumstruktur eine bestimmte gewünschte Sozialstruktur vorsätzlich erzielbar. Obgleich die engen Relationen zwischen räumlichen und sozialen Strukturen evident sind und die Möglichkeit einer Instrumentalisierung nahelegen, lassen sich Raum und Verhalten, Architektur und charakterliche Disposition nicht in eine kausale zweckrationale Relation zwingen. Nicht nur handelt es sich um eine unüberschaubare Vielzahl von Faktoren, die am Resultat beteiligt sind, es bedarf auch jeweils der subjektiven Aneignungs- und Konstitutionsprozesse, um den einzelnen Faktoren ihre Wirksamkeit zu verleihen. Die verhaltensprägende Kraft der Architektur scheint nur so lange wirksam zu sein, wie man nicht nach ihr fragt. Wo Architektur um jeden Preis dazu gebracht werden soll, menschliches Verhalten oder Denken zu beeinflussen oder gar zu determinieren, muss sie wegen ihrer entgeisternden Wirkung enttäuschen oder zum Gefängnis ausarten und sich mit unkontrollierbarer Gewalt verbünden, so dass sie unweigerlich innerlichen oder tätigen Widerstand provoziert. Architektonische Strukturen auf zweckrationale Weise als Instrument zur Erzeugung bestimmter Handlungsweisen oder einer bestimmten sozialen Identität einzusetzen, ist nicht möglich. Das mag auf den ersten Blick an der Menge der Faktoren liegen, die bei der Entstehung eines Sozialcharakters eine Rolle spielen. Das kybernetische System, in dem Erziehung oder Enkulturation stattfindet, lässt sich nur schwer nach der Seite einer der Größen hin auflösen, zumal Architektur nicht nur eine Variable unter vielen ist, sondern auch der Anstellwinkel zur Instrumentierung extrem ungünstig ist. Die Subjekte entscheiden immer mit, ob und in welchem Maße Bedingungen Effekte zeitigen. Mit Recht kann von Architektur
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im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Konstitutionsprozessen nur die Rede sein als intervenierende Variable in einem von ihr selbst nicht bestimmbaren Kontext. Sie kann bereits angelegte Tendenzen verstärken oder hemmen. Sie kann etwa den spontanen Umgang mit Räumen und Dingen, die freie Interpretation von in Architektur kodierten Gebrauchsweisen begünstigen und den Mut stärken, gegen Vorgaben zu verstoßen, oder in den Menschen die Bereitschaft vergrößern, sich im Sinne einer Autoritätsfixierung Verhaltensweisen vorschreiben zu lassen, sich Vorschriften machen zu lassen. Obwohl das Vergebliche der Bemühungen, vermittels der Raumgestalt Verhalten zu determinieren, in der Geschichte allenthalben ersichtlich ist, sind die Architekturgeschichte und die Geschichte der architektonischen Ideen gleichwohl in hohem Maße von Traditionslinien dieser überzogenen Erwartung durchzogen. Man kann sogar sagen, dass ein hohes Maß dessen, was wir als Stil bezeichnen und empfinden, von der ostentativen Überschätzung der verhaltensbestimmenden Effekte der Raumgestalt, von falschen Erwartungen an sie und von Überforderungen herrührt. Architektur hat es mit dem Paradox der Planung von Spontanität zu tun. Jedes Projekt muss sich gewissermaßen die Gretchenfrage gefallen lassen: »Glaubst du wirklich, oder gehorchst du nur einem toten Buchstaben?« Der architektonische Entwurf muss den Erfolg von etwas vorwegnehmend festschreiben, das sich nur in der von unzähligen Faktoren abhängigen alltäglichen Interaktion freier Individuen herausbilden kann, aber nicht muss. Die Lebenswelt ist der Testfall des Projektes, in dem es sich bewähren muss. Das Problem liegt in der Notwendigkeit, die Bewährungsprobe als bereits bestandene planend vorwegzunehmen. Der Architekt muss sich also bemühen, die unerschöpfliche Komplexität in ein Modell zu übertragen, das dichte, undurchdringliche Netz aus stillschweigenden Übereinkünften, Ritualen, ungeschriebenen Gesetzen, eingespielten Gepflogenheiten, das sich nie zu einer Menge expliziter Normen objektivieren lässt, in ein Diagramm bestimmter interagierender Faktoren zu übersetzen, was gehörig schiefgehen kann. Es ist darum nur natürlich, dass wir es in der Architekturgeschichte namentlich der Moderne zumeist mit Artefakten zu tun haben, die uns reduktiv und ostentativ planerisch anmuten und deren Anspruch, eine Lebenswelt freier Individuen künstlich zu erschaffen, als pädagogische Zumutung greif bar wird, und dass als Gegenbild das Ambiente mittelalterlicher Städte beschworen wird, die als »gewachsene« gerühmt werden, obwohl diese genau besehen nicht weniger künstlich geplant worden sind als eine Trabantenstadt des 20. Jahrhunderts, eher sogar mit einem höheren Grad an regulierenden Vorgaben, Restriktionen und Idealen. Im Zuge der Artikulation eines postmodernen Überdrusses an den Erzeugnissen der Moderne fand das Anonyme und Vernakuläre besondere Beachtung und eine Wertschätzung, die man exemplarisch am Erfolg der Bücher Bernard Rudofskys und auch Rob Venturis ablesen kann, in denen sich eine »Architektur ohne Architekten« und das absichtslos Widersprüchliche und zufällig Komplexe von An- und Umbauten und von Bauten vermeintlich minderer Qualität als Lockerungsübungen für jeden Architekten empfehlen. Diese Stilisierung konnte freilich auch dazu führen, dass man Geplantes nicht als solches erkennen musste, und schlechtem Geschmack und einer nicht-elaborierten Wahrnehmung Vorschub leisten. (60)
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Bauformen und deren Tradierung basieren auf Gewohnheiten, die von der Ideologie vorgeschrieben, von Institutionen geregelt werden und ihre eigene Logik haben, ihre stabilisierende Regelmäßigkeit, so dass Foucault von der »Herrschaft der Gewohnheiten« sprechen konnte: »Programmierte Verhaltensweisen, die gleichzeitig wie Vorschriften wirken bezogen auf das, was zu tun bleibt (der Effekt der Jurisdiktion), und wie eine Kodifizierung, bezogen auf das, was zu wissen bleibt (der Effekt der ›Wahrhaftigkeit‹).« Rein funktional lässt sich z.B. die Existenz und der Erfolg des privaten Wohnhauses nicht erklären, auch nicht mit der Geltung bestimmter Normen. »Die Existenz der vertrauten Wohnung als nicht-kollektive Infrastruktur ist genealogisch nicht zu fassen als Ergebnis von Herrschaft und der Einrichtung einer neuen Ordnung durch Teilung allein. Der Nutzen ist sekundär.« Für die meisten Menschen bleibt bis heute das individuelle Haus die Verkörperung des Glücks. Ob es aber einem Bedürfnis entspringt, bleibt fraglich, da es zunächst nur Effekt der dem Einzelnen vom modernen Staat aufgezwungenen Strategien ist, für die es kaum Alternativen gibt, und das legendäre Syndrom aus Einsamkeit und Langeweile, das man mit den Suburbs verbindet, lässt Zweifel angebracht erscheinen. Die Ursache für die Entstehung eines Gebrauchsdings oder einer Gebrauchsweise und dessen schließliche Nützlichkeit, dessen tatsächliche Verwendung und Einordnung in ein System von Zwecken liegen auseinander. Es liegt, wie Nietzsche mutmaßte, daran, »daß etwas Vorhandenes, irgendwie Zustande-Gekommenes immer wieder von einer ihm überlegenen Macht auf neue Ansichten hin ausgelegt, neu in Beschlag genommen, zu einem neuen Nutzen umgebildet und umgerichtet wird […] Wenn man die Nützlichkeit von irgendwelchem physiologischen Organ (oder auch einer Rechtsinstitution, einer gesellschaftlichen Sitte, eines politischen Brauchs, einer Form in den Künsten oder im religiösen Cultus) noch so gut begriffen hat, so hat man damit noch nichts in Betreff seiner Entstehung begriffen.« (61) Dies mag als Warnung all denen dienen, die versuchen wollen, eine neue Planung des Raumes vorzunehmen, vermittels derer man zu neuen Zwecken, neuen Funktionen, zu einer neuen Nützlichkeit gelangen könne, einem neuen Menschen gar. Alle Zwecke und Nützlichkeiten seien nur Ausdruck davon, dass etwas über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat. Der private und individuelle Wohnungsbau hat sich erhalten und durchgesetzt, da er das einzige Modell ist, das es möglich macht, die familiäre Struktur zu monopolisieren und zu isolieren, und das es erlaubt, im Arbeiter das Gefühl von räumlicher Identität und materieller Kultur zu wecken, ihm trotz geringer Mittel den Sinn für Eigentum einzutrichtern, das symbolische Äquivalent für den heimischen Herd als Gegenwert für das Leben am Arbeitsplatz zu stabilisieren, den Körper zu disziplinieren und seine Gewohnheiten zu regulieren. Bescheidenheit ist also angebracht. Der Strukturalismus ist Ausdruck der Erfahrung, dass die Menschen in ihren Reden anderes sagen, als sie zu sagen denken, in ihren Handlungen anderes tun, als sie zu tun meinen, und dass es geheime Gesetze gibt, die ihrem Handeln und Sprechen vorausliegen. Rückblickend hat man darum von einem »Zeitalter des Verdachts« gesprochen. ›Zeitalter der Bescheidenheit‹ hätte auch gereicht. Auch der Pragmatismus kommt zur Annahme einer Eigengesetzlichkeit von Symbolsystemen. Sprachkultur ist zwar das Ergebnis menschlicher Handlungen, beruht aber nicht auf menschlichen Intentionen. Sprachwandel folgt weder natur-
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gesetzlichen Zwängen, noch unterliegt er dem menschlichen Willen, sondern ist etwas Drittes. Es ist wie bei dem Trampelpfad: Jeder Einzelne will nur den Weg abkürzen, aber die Summe dieser mikrostrukturellen Handlungen ergibt auf der makrostrukturellen Ebene die von niemandem gewollte Konsequenz des Trampelpfads. Wissenschaftler verfangen sich immer wieder in den Dichotomien von Natur und Kunst, Instinkt und Intention. Die schottischen Moralphilosophen beschäftigten sich mit solchen spontanen Ordnungen. Sie beschrieben solche Phänomene der dritten Art, die das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht aber Ergebnis nach Durchführung eines menschlichen Plans. Adam Smith versuchte, sie mit der »unsichtbaren Hand« zu erklären. Die Erfahrung zeigt, dass spontane Ordnungen, wie sie durch Prozesse mittels der unsichtbaren Hand entstehen, oft zweckmäßiger sind, als von langer sichtbarer Hand geplante. Als eine solche spontane Ordnung ist die deutsche Orthographie entstanden und hat bestens funktioniert, bis sich administrative Strukturen ihrer bemächtigten. Die unsichtbare Hand braucht zu ihrem Wirken einen gewissen Spielraum auf mikrostruktureller Ebene, eine gewisse Freiheit der Sprachbenutzer, die unter der Normung der Rechtschreibung kaum mehr gegeben ist. Wenn eine neue Ordnung entsteht, ist sie in der Mehrzahl der Fälle Resultat spontaner Ordnungsgenese.
A 6. Wer vermittels der Architektur und der Gebrauchsdinge die Menschen erziehen will, wer fixierte Verhaltensweisen und Denkschemata aufweichen und für veränderte Einsichten und Einstellungen öffnen will, der braucht eine Theorie der Vorgänge, wie sich Einstellungen bilden und festsetzen. Die Pragmatisten waren der Überzeugung, dass Erkenntnisse oder Wahrheiten weniger auf objektive Eigenschaften der Wirklichkeit bezogen sind, als vielmehr auf andere für wahr gehaltene Ansichten, die man gewohnt ist miteinander zu verknüpfen. Der im späten 17. Jahrhundert entstandenen und angelegten, im 18. maßgeblichen und im 19. Jahrhundert weiterentwickelten Assoziationstheorie liegt die Überzeugung zugrunde, dass der Mensch wesentlich durch seine Gewohnheiten geprägt sei. Ihr Gegenstand sind die physiologischen Abläufe bei der Entstehung von Vorstellungen und Ideen und die Regeln, gemäß deren sich diese derart assoziieren, dass die Bewusstwerdung der einen Idee auch die der anderen mit sich führt. Ihr Ziel ist es, die Entstehung und Verknüpfung der Ideen – von den einfachen bis hin zu den komplexen und abstrakten – anhand eines einheitlichen physischen Mechanismus zu erklären. Das Denken unterliegt demzufolge, ob bewusst oder unbewusst, im Wachzustand wie im Traum, denselben Assoziationsgesetzen. »Als ausschlaggebend für sämtliche mentalen Prozesse und somit für die individuelle Struktur des Denkens […] erkennt die Assoziationstheorie die Gewohnheiten.« (62) Der Assoziationstheorie zufolge sind die Sitten (customs) und die Moral Resultate von verfestigten Ideenassoziationen. Im Zentrum dieser Theorie steht entsprechend die Frage, wie es kommt, dass sich Gewohnheiten bilden und verfestigen und wie es gelingen kann, sich ihrer wieder zu entledigen. Auf den Grundlagen des Empirismus und des Sensualismus Locke’scher und Hume’scher Prägung, die hergebrachte Vorstellung angeborener Ideen ablehnend, führte man mentale Prozesse auf äußere Sinneseindrücke zurück, wobei in unter-
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schiedlichem Maße auch ein ›inner sense‹, eine Eigentätigkeit des Verstandes als weitere Erkenntnisquelle, als ein Reflexionsvermögen eine Rolle spielt. Auf die von John Locke und David Hume konstatierten Gesetzmäßigkeiten bei der Verknüpfung von Ideen begründete David Hartley die elaborierte Assoziations-Theorie als humanwissenschaftliche Disziplin. An seine Überlegungen schließen wiederum Joseph Priestly und James Mill an, bis die Theorie im 19. Jahrhundert durch William James und Johann Friedrich Herbart weiterentwickelt wird. (63) Bei einigen der Vertreter dieser Theorie überwog die Sorge, dass Eindrücke sich zu Vorurteilen verfestigen, die der freien Geistestätigkeit im Wege stehen und Reflexion verhindern. So fürchtete John Locke, dass die Assoziationen zu zwanghaften Ideen führen, ihre Verhärtung zu Habits verhindere die freie Entfaltung des Verstandes. Da die Verbindungen nicht natürlich, sondern zufällig oder durch Gewohnheit zustande kommen, bezeichnete er sie als eine Form von Wahnsinn und erklärte sie zur wichtigsten Ursache für alle Irrtümer in der Welt. Auf der anderen Seite gab es diejenigen, die in den Assoziationen allererst die Möglichkeit kritischer Reflexion begründet sehen wollten. David Hartley war davon überzeugt, dass Ideenassoziationen zur Erkenntnis führen, gerade weil sie sich zu komplexen Ideen auf bauen, die von der Empirie kaum mehr eines Besseren belehrt werden können. Deren Besonderheit und Vorteil liegt in ihrer Unabhängigkeit vom sinnlichen Eindruck. Der Umwandlungsprozess äußerer in innere Reize führe zur Transformation von Sinnlichkeit in Geistigkeit und ermögliche so erst sittliche und moralische Vervollkommnung. Durch Reflexion in Form eines rückwärts laufenden Dissoziationsprozesses, in dem komplexe Gebilde wieder in einfache Ideen zerlegt werden, können schlechte Gewohnheiten wieder abgelegt werden. (64) Ausgehend von der Vorstellung, dass Empfindungen zu Ideen führen, die sich entsprechend den Gewohnheiten miteinander verknüpfen und dabei bleibende Eindrücke im Geist hinterlassen, plädierten pädagogisch engagierte Verfechter dieser Assoziationstheorie wie John Priestly dafür, Kinder so früh wie möglich an Hingabe und Andacht zu gewöhnen. Die Disposition zu tugendhaftem Leben müsse als Gehorsam gegenüber Gott früh eingeübt werden. Die Assoziationstheorie begründet so eine Erziehungstechnik. Je häufiger eine Vorstellung erregt werde, desto tiefer präge sie sich ein und desto mehr Ideen assoziiere sie sich, bis sie schließlich unauslöschlich etabliert worden ist. Sind Ideen erst einmal als Spur und weitverzweigtes Netzwerk im Gehirn angelegt und in die Gehirnstruktur eingeprägt, gewinnen sie eine große Macht über den Geist, machen aber zunehmend unempfindlich gegen Eindrücke und erzeugen einen Widerstand gegen neue Erkenntnisse und empirische Überprüfung. Ihre größte Gefahr liegt in der Verknüpfung unnatürlicher Verbindungen, so etwa, wenn lasterhafte Gewohnheiten eine Verbindung mit dem Begriff der Ehre eingehen, während Tugenden wie Demut und Bescheidenheit, Mäßigung und Keuschheit mit Ideen des Abscheus und Widerwillens assoziiert werden. Eine Änderung der Gemütsart (temper) und der Denkgewohnheiten (habits) sind beim Erwachsenen kaum mehr möglich. Nur eine völlige Umwälzung (revolution) sämtlicher Lebensverhältnisse kann in den verfestigten Assoziationsgebäuden dann noch eine Änderung bewirken. (65) Die Neigung zur Fixation erfüllt zunächst aber einen guten Zweck. Neben der Möglichkeit der Etablierung guter Gewohnheiten und Tugenden entlastet sie den Menschen von dem Zwang, permanent Entscheidungen bezüglich des eigenen Verhaltens treffen zu müssen. David Hume hatte in seiner »Untersuchung über
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den menschlichen Verstand« den Hauptzweck der Gewohnheiten darin gesehen, dass sie den Menschen dazu befähigen, sich in der Welt zurechtzufinden. Die Gewohnheit galt ihm als »die große Führerin im menschlichen Leben«, denn sie erlaube, aus Erfahrungen auf künftig zu erwartende Ereignisse und die Folgen des eigenen Handelns zu schließen. (66) Pädagogisch orientierte Theologen und insbesondere die Verfechter der Reformation wie die der Gegenreformation waren sich der Bedeutung der Architektur im Prozess der Prägung des Individuums im Sinne der Frömmigkeit und Andacht bewusst. Es gab auch immer wieder Zeiten, da diese Ebene der Pädagogik und der Architektur auch in politischer Hinsicht mit großen Hoffnungen verbunden war. Die russische Avantgarde-Kunst beispielsweise beanspruchte die Erziehung des Menschen vermittels des spielerischen Umgangs mit Gebrauchsgegenständen und Milieus. Sie propagierte die kreative Erregung angesichts der sozialen Möglichkeiten, die die Industrialisierung zu eröffnen verhieß, und man war bestrebt, zugleich einen neuen Menschen zu erschaffen, der diese Möglichkeiten zu nutzen verstünde und, dank einer gewissen Kälte oder Coolness, zugleich den damit einhergehenden Belastungen gewachsen wäre. Der alte, in Traditionen verwurzelte Mensch mit Gefühlen und Leidenschaften sollte durch einen solchen ersetzt werden, der freudig seine Rolle als Bolzen oder Schraube in der gigantischen Industriemaschinerie erfüllt. Kunst wie Architektur zeichneten sich in diesen Zeiten aus durch Ultraorthodoxheit, durch Überidentifizierung mit der offiziellen Ideologie. Das Bild des Menschen, das uns Meyerhold, Eisenstein, Tretjakow, Malevitsch präsentierten, betont die Schönheit seiner mechanischen Bewegungen, seiner völligen Depsychologisierung und Behaviourisierung. Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold wollte wie Oskar Schlemmer vom Schauspieler nicht mehr die emphatische »Familiarisierung« mit der Figur, sondern die unerbittliche körperliche Ertüchtigung, um die Fähigkeit des Schauspielers zu schulen, eine Abfolge mechanischer Bewegungen auszuführen. Die Architektur-Entwürfe eines Leontinow, Melnikow, El Lissitzky oder Wladimir Tatlins bieten sich an als Typologie einer adäquaten Behausung dieses Selbstertüchtigungprogramms. Der eigenwillige Doppelzylinder, in dem Konstantin Melnikov sein legendäres Wohnstudio und Arbeitsatelier in Moskau unterbrachte, gehört ebenso dazu wie Vladimir Schuchovs in ein filigranes Netzwerk aufgelösten Funktürme oder Jakob Tschernichovs konstruktivistische Fabrik »Roter Nagel« in St. Peterburg. Kollektiv- und Kommune-Wohnhäuser, Arbeiterclubs als soziale Kraftwerke oder die hochrationalisierten Brotfabriken stehen für die neuen Bautypen, die die Revolution hervorgebracht hat. Le Corbusier ließ sich auf dem Weg zu »Modulor« und »Wohnmaschine« von Entwurfsideen und Architekturexperimenten der Architektur-Avantgarde in Sowjetrußland inspirieren, Erich Mendelsohn, Ernst May oder Bruno Taut reisten in die UdSSR, um dort Anschauungsunterricht zu nehmen. Architekten überall in der Welt von Philip Johnson bis Rem Koolhaas und Ben van Berkel zehren bis heute von der Entwurfsphantasie jener Kreativitätsexplosion. Heute gelten einige der Avantgardebauten in Russland als denkmalschutzwürdig, die meisten von ihnen jedoch sind vernachlässigt und gefährdet oder bereits abgerissen worden. (67)
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Walter Benjamin hat Scheerbarts Lob der Glasarchitektur ausdrücklich gewürdigt und dem Baumaterial Glas bescheinigt, dass sich an seiner glatten Oberfläche keine Emotionen und absetzen können und somit jeglicher Sentimentalität vorgebeugt werde. Helmuth Lethen hat in seiner sensualistischen Kulturgeschichte der Moderne diese insgesamt als Kultur der Kälte charakterisiert. (68) Im Unterschied zu den diesbezüglich eher vorsichtigen Demokratien haben die Diktaturen des Nationalsozialismus und des Faschismus die Bedeutung der Architektur und der Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs für das Handeln und die Weltanschauung als sehr hoch bewertet und diese Bereiche intensiv in Regie genommen. Das überaus reichhaltige Archiv der Formfindungs-Aktivität ist wegen ideologisch begründeter Zurückhaltung und Berührungsangst noch nicht ansatzweise gesichtet. Vorläufig hat man nur die negativen Aspekte im Blick, wie sie von Sigfried Kracauer unter dem Titel »Ornament der Masse« kritisch beleuchtet wurden. Man fixierte sich auf die Bauwerke und Platzgestaltungen, welche die Bedingungen dafür herstellen sollten, dass der Einzelne das hypnotische Erlebnis der Steigerung seines individuellen Selbst in einem durchorganisierten Kollektiv erfährt. Die Individuen sollten zu Elementen einer überdimensionierten Geometrie degradiert werden, und gerade dadurch sollten sie sich erhoben fühlen als Teil eines größeren Ganzen. (69) Obwohl räumliche Zurichtung für das Massenornament auf die Entfesselung der Massen zielt, muss sie doch zugleich die Furcht der Machthaber vor der destruktiven Potenz der Entfesselung bannen, soweit sie nicht restlos kanalisierbar ist. Der Architektur und dem Städtebau werden zugetraut, diese widersprüchliche Aufgabe zu lösen, die entfesselten Massen gerade in ihrer Entfesseltheit zu kontrollieren, ihre Destruktivität als etwas Kanalisierbares zu kodieren. In der Instrumentalisierung des Raumes für Massenaufmärsche und Spektakel stehen die kommunistischen Regime den faschistischen nicht nach. In der Hinsicht der Kanalisierung der Massenaffekte arbeiteten faschistische und kommunistische Architekturprogramme an demselben Projekt. Foucault interessierte sich im Zusammenhang mit seinen Macht-Analysen für die Züchtigung und Zurichtung des Menschen mit Hilfe der Architektur, der Kliniken, der Asyle, Schulen, der Gefängnisse. Er zeigt, wie das moderne Subjekt durch die Einwirkung auf den Körper und den Blick durch spezifische Architektur erzeugt wird, die als Dressurmittel, Heilmittel, Disziplinierungsinstrument entworfen wird. Die Steine machen die Individuen gelehrig. Die drastischste Variante einer Diziplinierungsarchitektur sind die Lager, die den Insassen keine Wahl lassen. Entwickelt und getestet wurde dieser Typus der Architekturpolitik an der imperialen Peripherie, in den Kolonien, in Kuba, im britischen Südafrika, in Deutsch-Südwest-Afrika. Die Kolonialarmeen wollten in ihren asymmetrischen Kriegen die Aufständischen von den Zivilisierbaren trennen, die zu Tötenden von den Brauchbaren unterscheidbar machen – um die Kolonialgesellschaften kontrollieren, disziplinieren, staatlicher Verwaltung und ökonomischer Ausbeutung unterwerfen zu können. Im Nationalsozialismus, der die Kolonisierung ins eigene Land verlegte, erfüllte das Lager extrem differenziert viele Rollen der Exklusion.
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In Lagern der Hitlerjugend und des Reichsarbeitsdienstes sollten »Volksgenossen« gestählt und indoktriniert werden, um die Jugendlichen zu nützlichen und belastbaren Gliedern der »Volksgemeinschaft« zu machen. In anderen sollten Juden, politische Gegner, Sinti und Roma, Behinderte, Kriegsgefangene im Rahmen von Zwangsarbeits- und Vernichtungsprozessen weggesperrt und aus dem »Volkskörper« entfernt werden. Für Lehrer, Ärzte, Juristen, Beamte wurden eigene Lager eingerichtet, um die Elite des Staates schneller nationalsozialistisch durchdringen zu können. Es gab auch andernorts Lager zur Umerziehung, zur Ausbeutung durch Arbeit und zur Homogenisierung des »Volkskörpers« in großem Maßstab. »Letztlich behauptete und entwickelte sich die Sowjetunion auch durch den Gulag, eine ihrer zentralen Systemstellen, an der sie Menschenleben in Modernisierung konvertierte – darin besteht sein dämonischer Erfolg.« (70) Lenins und später Stalins Sowjetregime nutzten die Kriegsgefangenenlager der Weltkriege gleich weiter als Konzentrationslager – für die »Feinde der Revolution«. Der millionenfache Tod kam im Gulag weniger durch Morde als durch Ausbeutung und Mangel an allem: Essen, Wohnraum, Wärme. Heather Jones folgert, »dass das Lager kein Zeichen eines Versagens der modernen Zivilisation ist, sondern vielmehr in deren ureigenen Prozessen angelegt. Eben darin bestand der revolutionäre Modernisierungsprozess. Sobald er sich mit einer ideologischen Radikalisierung verband, löschten die Anwendungen, die dieses neue Wissen später im 20. Jahrhundert fand, Millionen Menschenleben aus«. »Da die Gefangenen zunehmend als bloße numerische Einheiten – als Arbeitskräfte oder Geiseln – galten, konnte der Staat sie als eine uniforme, bürokratisch verwaltete Masse behandeln, um im Namen größerer Effizienz die rationellsten realpolitischen oder wirtschaftlichen Ziele zu verfolgen.« (71) Architektur ist in weiten Teilen angesteckt von dem ans Inhumane grenzenden oder diese Grenze überschreitenden Modernisierungsfuror. Architekten waren immer in der Gefahr, die Gewaltsamkeit von Modernisierung in Hygiene umdeutend zu begrüßen. Aus den Analysen der Disziplinararchitektur kann man jedoch keine Soziologie des architektonisch gestalteten Raumes allgemein gewinnen. Zwar spielen auch bei dem Einrichten von Lebenswelten Macht und Machterhaltungsinteressen eine Rolle, doch die Weise, wie die Lebenswelt mit dem Fundus und im Radius des Gewohnten Lebensstile, Habitus, Interaktionsformen, Denkweisen strukturiert, ist nicht einfach in eine Zweck-Mittel-Relation aufzulösen. In diesem Einrichtungsprozess »lassen sich Bauwerke als Medien und Symbole auffassen, mithilfe derer sich Menschen auf Welt einlassen, ihr Bewußtsein in dieser Welt objektivieren und untereinander kommunizieren«. Lebenswelten »bieten eine Infrastruktur der Kommunikation, welche die Hervorbringung und Wahrnehmung und das Verstehen von Zeichen gewährleistet. Architektur kommt dabei nicht nur die ontologische Aufgabe zu, die als sinnhaft konstituierte Welt in ihrer »Ständigkeit und Stetigkeit über den Erkenntnis- und Handlungsradius einzelner Akteure hinaus sicherzustellen; sie ist zugleich dasjenige politisch brisante Terrain, auf dem eine Kultur in Widerspruch zu dem von ihr Ausgeschlossenen tritt, ob dies nun als Natur, Chaos oder Barbarei, definiert ist«. (72)
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Architektur kann vermöge ihrer Massen und Beharrungskräfte, ihrer potentiellen Energien und Behinderungen einen Raum so definieren, dass er auch unabhängig von jeder politischen Anerkennung, allein auf der Ebene der interagierenden Körper effektiv ist. Räumliche Strukturen verleihen einzelnen Individuen besonderes Ansehen und politisches Gewicht, im Unterschied zur Masse der vielen, die stumm und stimmlos eine bloße Anzahl biologischer Körper bilden und »vergeblich in die Sichtbarkeit drängen«. Orte bilden selbst Grenzen. Das Fremde, die Feindschaft, das Andere sind Resultate solcher Demarkationen. Auch das eingeschlossene Innen ist durchzogen von einer Vielzahl unterschiedlicher Grenzen, »die politisches Handeln gestaltbar halten«. (73) Das Andere dieses Einrichtungsprozesses wird in utopischen Entwürfen teilweise als Zukünftiges imaginiert. »Zukunft ist das Medium, über das moderne Gesellschaften in Kontakt mit ihrem möglichen Anderssein treten.« Im Lichte des Zukünftigen erfahren sie ihre augenblickliche Selbstverständlichkeit als kontingent. »Zukunftsfiktionen dienen dazu, der Ungewißheit einen Ort im gesellschaftlichen Imaginationshaushalt zu geben, sie in die Gegenwart einzupreisen und die jeweilige Gegenwart auf das, was kommen wird, zu öffnen.« (74) Über den Zukunftsbezug versuchen Gesellschaften, ein Bild von sich selbst zu erzeugen, Gefährdungen zu extrapolieren und auch ihre Potenziale zu erproben. Zukunftsszenarien können sich utopisch oder apokalyptisch gestalten, das Bevorstehende als Belohnung oder als Strafe imaginieren. Es ist ein »Kennzeichen der Moderne, die radikal von Vergangenheits- auf Zukunftsreferenz umgestellt hat, im Zukünftigen das Bewältigbare zu sehen. Es kennzeichnet ihr Zeitbewusstsein, die Gegenwart im Vorgriff auf eine ungewisse, aber gerade darum gestaltbare Zukunft hin zu interpretieren. Diese dem Architekten zugemutete Rolle in der Moderne hat Rem Koolhaas mehrfach karikiert. »Tatsächlich sind Architekten in einer ähnlichen Lage wie die Geiseln bei einer Entführung, die gezwungen werden, zu Hause anzurufen, um zu sagen, daß alles in Ordnung ist, während man ihnen die Pistole an den Kopf hält.« (75) Bataille formulierte seine Ideologiekritik an der Moderne auch im Hinblick auf Architektur. Unter dem Stichwort ›Architektur‹ für ein »Dictionnaire Critique« schrieb er: »Architektur ist der Ausdruck der Seele von Gesellschaften, geradeso wie die Physiognomie der Ausdruck der Seele des Individuums ist. Dieser Vergleich trifft allerdings besonders auf die Physiognomien öffentlicher Personen zu (Prälaten, Magistraten, Admiräle). Genaugenommen ist es tatsächlich nur die ideale Seele der Gesellschaft, diejenige welche die Autorität hat zu befehlen und zu verbieten, die in architektonischen Kompositionen zum Ausdruck kommt. So sind große Monumente wie Deiche errichtet, die Logik und die Majestät der Autorität aufbietend gegen alle störenden Elemente: Es geschieht in der Form der Kathedrale oder des Palastes, dass Kirche oder Staat zu der Menge sprechen und dabei Ruhe gebieten/ stumm machen. Es ist tatsächlich offenkundig, dass Monumente Argwohn hervorrufen und manchmal sogar nackte Furcht. Die Erstürmung der Bastille ist ein Symbol für diese Seite der Dinge: Diese Massenbewegung ist kaum anders zu erklären als durch die Animosität der Menschen gegen Monumente, die ihre wirklichen Vorgesetzten oder Herren sind.« (76)
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Architektur symbolisiert nicht nur Ordnung, sie schafft sie, indem sie diese verlangt. Vom Symbol hat sie sich zum Meister entwickelt. Sie fängt Gesellschaft in der Falle des Bildes, das sie von dieser liefert, wie Denis Hollier kommentiert. (77) Diese hypostasierte Ordnung ist kaum wieder in Frage zu stellen. Bataille beschreibt Architektur als ein Stadium im Prozess der Menschwerdung, das er in Anlehnung an Lacan, gewissermaßen als Parodie von dessen Spiegelstadium, als »das architektonische Stadium« bezeichnet, »als formierende Funktion des Wir, als des Menschen soziales Imago«. Der Mensch baut sich freiwillig sein eigenes Gefängnis. Es sei aber unmöglich, dem Gefängnis den freien Mann gegenüberzustellen. Denn das hieße, gegen die eigene Form zu rebellieren, die menschliche Figur selbst. Die mythische Figur des Acéphalus sollte ebendies zeigen: der einzige Weg, der architektonischen Fesselung zu entkommen, ist, den Kopf zu verlieren oder sich von ihm zu trennen. Bataille versah die Zeichnung André Massons mit den Worten: »Der Mensch wird seinem Kopf entkommen wie ein Verurteilter seinem Gefängnis«. (78) Jean Starobinski referiert Bataille, wenn er im »Traum des Architekten« schreibt: »Unser wahrer Gegner ist die Architektur, die sich zwischen uns und die Autorität stellt […] doch wer wird ein Hindernis nehmen, das einen solchen Abstand bestimmt?« (79) Wenn Bernard Tschumi sein Projekt für den Parc de la Villette in Paris als Architektur vorstellte, die sich selbst erstürmt, als »Architecture against itself«, als könne Architektur als Sturmangriff ihren eigenen Sinn demontieren und sich selber niederreißen, sich selbst wie eine Festung erstürmen, sich selber schleifen, während sie sich selbst errichtet, nahm er dabei fraglos auf Batailles Aufsatz Bezug. Doch hatte Bataille keine simple Gegenüberstellung von Gefängnis und Freiheit im Sinn. In seinem Artikel über das Schlachthaus, illustriert mit Fotografien von Elie Lotar von dem blutigen Geschehen in den Schlachthäusern, in den Abattoirs de La Villette, erinnerte Bataille daran, was bis vor Kurzem dort stattfand, wo nun Architektur sich gegen sich selbst wenden sollte, und verlieh dem Schlachthaus eine religiöse Dimension als erotisch aufgeladene Opferstätte. Er verleiht den Schlachthöfen eine religiöse Bedeutung und gibt der Tötung des Minotaurus eine zur gängigen Bedeutung als Befreiung der Menschheit von bösen Mächten gegenläufige Interpretation. Wie Tempel alter Religionen gleichzeitig zwei Zwecken dienten, Gebeten und Opferungen, so sei das Schlachthaus in seiner quarantänehaften Isolierung ein Ort der Opferung und eines Kultes zugleich, doch weder die Tiere sind die eigentlichen Opfer, noch die Metzger, die dort ihre Arbeit verrichten, sondern die feinen Leute, die sich in ihrem pathologischen Bedürfnis nach Sauberkeit so weit von sich selbst entfernt haben, dass sie nicht in der Lage sind, sich in ihrer Hässlichkeit und Ungehörigkeit, Unziemlichkeit und Schmutzigkeit selbst zu ertragen. Der Schlachthof bezeichnet ein religiöses SichAbstoßen, ein Zurückschrecken vor der Tötung von Tieren und damit ein Zurückschrecken vor sich selbst. Die Demontage beraube die Menschen ihrer Möglichkeit, sich in dem ihm Fremden wiederzuerkennen, zugunsten der Zelebrierung eines Sauberkeitswahns. Die Außerbetriebnahme der Schlachthäuser als Tötung des Minotaurus, gemeint als hybride Einheit von Rindern und Metzgern, erscheint ihm nicht als humane Tat
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zur Befreiung der Bürger von einem Monster, sondern als Ausrottung der Menschlichkeit, verstanden als unbewusste Unähnlichkeit mit sich selbst. Im Artikel »Museum« beschreibt Bataille die gegenteilige Bewegung: auf Abstoßung folgt Anziehung. Dieselben, die ihre eigene Hässlichkeit als Gegensatz zu der ausbeuterischen Hässlichkeit der Metzger sehen, die den Anblick der Dekomposition und des Zerfalls nicht ertragen können, die ihnen dort zurückgespiegelt werden, fliehen die Hässlichkeit und das Chaos des Schlachthauses zugunsten der ausgeglichenen Schönheit des Museums. Museen seien so etwas wie die Lungen des Stadtorganismus: die Massen strömen jeden Sonntag wie Blut hinein, und dieses Blut fließt gereinigt zurück in den Kreislauf des Alltags. Die Menschen gehen ins Museum, um sich nach der Zerstückelung durch den Arbeitsalltag selbst wieder zusammenzusetzen. Beide Institutionen sind komplementär. Die zentripedale Bewegung des einen Ortes und die zentrifugale Bewegung des anderen ergänzen einander. Das eine existiert nicht ohne das andere. Keine Schönheit ohne Blut. Bataille erinnert an die Ursprünge des Louvre, der seine Funktion als Museum der Umnutzung durch den Revolutions-Konvent verdankte, also mit der Guillotine verbunden sei. Denis Hollier witzelte in Anlehnung an Freud: »Wo Es war, soll Museum werden.« (80) Mit der Konversion ging das Wissen verloren, dass keine Verausgabung ohne Schmutz möglich ist, kein Konsum, ohne dabei Abfall zurückzulassen. Das Museum suggeriert, dass Energie produziert und verbraucht werden könne, ohne Verschmutzung zu verursachen, dass das Leben insgesamt vollkommen repräsentabel sein könnte. Emile Zola spottete über die parkartige Anlage des Parmentier Platzes, die einst an die Stelle der abgebrochenen Schlachthäuser von Popincourt getreten war. Der Park »wirke ein bisschen wie Natur, die etwas falsch gemacht hat und dafür ins Gefängnis kam«. Dort hielten sich die Arbeiter auf, um in Ermangelung von Tieren die Zeit totzuschlagen. Der Hauptzweck der Architektur sei, das gesellschaftliche Leben mit einem formellen Kleid zu versehen, das die Unvollkommenheit und das Abgebrochene verschleiert, Momente, die der Tod in seiner Nacktheit ins Leben bringt, zu kaschieren. In der Harmonie beschwörenden Proportionslehre meldet sich Bataille zufolge die neurotische Furcht vor dem Formlosen und Undefinierten als abgewehrte. Vor dem Hintergrund der Anthropologie Batailles, die den Menschen als ein unmögliches Wesen zwischen Tier und Gott ansiedelt, erscheint Architektur als unterdrückende Kontrollinstanz, wie Denis Hollier kommentiert: »Architektur existiert allein, um die gesamte soziale Arena zu formen und zu kontrollieren. Sie wird konstituiert und durch diesen Impuls angetrieben, sich zu errichten als das Zentrum und alle Aktivitäten um sich herum zu organisieren.« (81) In den Kapiteln, die mit Labyrinth und Pyramide überschrieben sind, stellt Denis Hollier zwei Typen metaphorischer Architektur im Sinne Batailles vor. Wenn das Labyrinth der Ort derer ist, die, ohne Zugang zum Wissen zu haben, verdammt sind, vom Weg abzukommen und sich zu verirren, dann ist alles Trachten darauf gerichtet, dem Irrgarten zu entkommen. Bataille hat dessen metaphorischen Sinn umgestellt. Aus dem Labyrinth herausfinden zu wollen, bedeutet für ihn, aus ihm ein Projekt zu machen und sich damit selbst erst recht in ihm einzuschließen. Es sei unmöglich, das Labyrinth zu verlassen, weil man nie wisse, ob man drinnen oder draußen ist. Das Labyrinth ist unausweichlich ambivalent, ein Raum mit lauter Öffnungen, von denen man nicht weiß, ob sie hinaus oder weiter hinein führen.
A. Or te und Grenzen, Leib und Blick, verkleiner te Modelle »Man ist nie im Innern eines Labyrinths, denn, unfähig aus ihm hinauszufinden, unfähig, es mit einem Blick zu übersehen, weiß man niemals, ob man darinnen ist. Wir müssen als Labyrinth gerade jene unüberwindlich mehrdeutige Raumstruktur bezeichnen, wo man niemals weiß, ob man aus- oder eingeschlossen ist, ein Raum, der ausschließlich aus Öffnungen komponiert ist, bei denen man niemals weiß, ob sie sich auf ein Außen oder ein Innen öffnen, ob sie für den Abschied oder für das Eintreten da sind. Durch dieselbe Struktur ist Sprache charakterisiert, deren Worte mich einschließen, während ich sie verwende, nichtsdestotrotz, um die Eingrenzung zu überwinden, die sie aufrichten.« (82)
Wenn also das Labyrinth stets als etwas verstanden wird, dem man entfliehen möchte – Theseus befreite Athen von der Herrschaft des Monsters, das im Labyrinth hauste, Athen wurde geboren, indem es sich von seiner archaischen Vorgeschichte befreite – dann kehrt Bataille die Richtung um. Er will es bauen, als Ort eines namenlosen Exzesses. Der Wunsch, den er ins Spiel bringt, ist nicht der, aus dem Labyrinth ins Freie zurückzugelangen, sondern das Begehren des Minotaurus, des Menschen Animalität freizusetzen, die monströsen Metamorphosen wiederzuentdecken, die durch das Gefängnis des Projekts Moderne unterdrückt sind. (83) Bataille kann hierbei Bezug auf Nietzsche nehmen, der in der Götzen-Dämmerung die Hymne des willensstarken, machtbewussten Architekten anstimmte: »Der Architekt stellt weder einen dionysischen, noch einen apollinischen Zustand dar: hier ist es der große Willensakt, der Wille, der Berge versetzt, der Rausch des großen Willens, der zur Kunst verlangt. Die mächtigsten Menschen haben immer die Architekten inspiriert; der Architekt war stets unter der Suggestion der Macht. Im Bauwerk soll sich der Stolz, der Sieg über die Schwere, der Wille zur Macht versichtbaren; Architektur ist eine Art MachtBeredsamkeit in Formen, bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloß befehlend. Das höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in dem zum Ausdruck, was großen Stil hat. Die Macht, die keinen Beweis mehr nöthig hat; die es verschmäht, zu gefallen; die schwer antwortet; die keinen Zeugen um sich fühlt; die ohne Bewusstsein davon lebt, daß es Widerspruch gegen sie giebt; die in sich ruht, fatalistisch, ein Gesetz unter Gesetzen: Das redet als großer Stil von sich.« (84)
Angesichts derartiger Äußerungen ist immer wieder versucht worden, einen Zusammenhang zwischen Nietzsches Architekturimagines und der Architekturrhetorik im Dienste der europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts herzustellen. Was die Baukunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. angeht, wäre es auch auf dem Gebiet der Architektur nicht uninteressant, mit Sloterdijk zu fragen, ob nicht »disponible sublime Töne andauern«. Beispielsweise gibt es die moderne Akzeptanz des monströsen Charakters der Tatsachen. Es ist freilich eine der Hauptmerkmale von Modernität, dass es unmöglich scheint, das Gegenläufige zu Fortschritt und Aufklärung als notwendige Korrektur der voreiligen oder blinden Idealisierungen zu denken. Es ginge dabei nicht nur um Stilfragen, sondern auch darum, im Inneren der Diskurse Raum für das Unheimliche im Freud’schen Sinn von Betroffenheit und Wiederbegegnung mit sich selbst zu schaffen. Man könnte das Sublime als Artikulation dessen auffassen, was man verdrängt, weil es einen ohnmächtig erscheinen lässt. Nicht zufällig ist das Sublime
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von so unterschiedlichen Theoretikern wie Adorno und Lyotard neu aufgewertet und umgedeutet worden: »[Es ist ein Gefühl, das] dem Unermesslichen, dem Maßlosen, dem Irrationalen, dem Schrecklichen, dem Erdrückenden, dem Begeisternden, dem Majestätischen, dem Unsagbaren, dem Paradoxen, kurz all dem, was sich nicht in die herrschenden Koordinaten des Verständnisses, des Geschmacks und der Ethik einfügt, Platz einräumt. Es handelt sich um ein widersprüchliches Gefühl, das der Pluralität, der Heterogenität und der Komplexität der aktuellen Welt Tribut zollt und die vereinten Kräfte von Phantasie, kritischer Vernunft, Poesie und Wissenschaft mobilisiert und herausfordert. [Es handelt sich um] ein hybrides Register welches es gestattet, für die Alterität, den Fremden, für besiegte Kulturen Partei zu ergreifen; es kann jedoch auch seitens autoritärer und obskurantischer Ideologien für ihre Zwecke missbraucht werden«. (85)
Architektur, die sublim sein möchte, kann nicht umhin, stets beide Seiten gleichzeitig zu zeigen, die des Widerstands und die der Identifikation mit dem Angreifer. Georges Bataille charakterisiert am Beispiel der gestürmten Bastille monumentale Architektur als Verkörperung von Gewalt. Er geht darin noch über Laclau hinaus, für den die Architektur den ideologischen Zement der Verhältnisse verkörpert, der den Gesellschaftskörper zusammenbindet. In ähnlicher Weise haben Michel Foucaults Schriften Architektur zum Gegenstand. Er beschrieb die Produktion des Wahnsinns und der Kriminalität anhand der Architektur, die zur Kontrolle beider ersonnen wurde. In seiner »Histoire de la folie« machte Foucault die Architektur verantwortlich für die Erfindung und die Produktion von Wahnsinn, und in »Surveillir et punir« beschrieb er die Erfindung der Kriminalität durch Techniken der Raumplanung. Allerdings ist für Foucault Architektur etwas, das sieht, spioniert, überwacht, während sie für Bataille etwas ist, das gesehen wird und gesehen werden soll. Foucaults Architektur bringt die Menschen zum Sprechen, zum Bekennen, Beichten, während Batailles Architektur die Menschen zum Schweigen bringt. Für Foucault produziert Architektur als Disziplinierungsfabrik Subjekte, für Bataille zieht sie die Grenze zwischen Wahnsinn und Vernunft, einen Raum vor der Existenz des Subjekts. Sie würde nicht erlauben, dass der Raum und die Zeit entstehen können, die nötig wären, um Subjekt zu werden. Im Unterschied zu Foucault, der die Überzeugungs-Rhetorik der Architektur parallel zu den Machttechniken der Institutionen untersuchte und die Weise, wie die Disziplinierungsfabriken Individuen transformieren, indem sie Subjekte produzieren, persönliche Identität individualisieren, zum Gegenstand erhob, geht es Bataille um die unmittelbare Repräsentation von Gewalt durch Architektur. In Foucaults Analysen der Machtdurchdrungenheit gesellschaftlicher Institutionen ist Architektur materielles Substrat von Erziehungsprozessen und Disziplinierungsmaßnahmen, wie er an Benthams Panopticon exemplarisch dargestellt hat. Sie setzen dem Leib derart zu, dass dieser sich vor dem wissenschaftlichen Auge zurückzieht oder in einer Art Totstellreflex nur leblose Körperteile liefert. (86) Michel de Certeau lockert den hier unterstellten engen Konnex von Körper und Normalität oder Staat, indem er dem Individuum Raum lässt für seine subversiven Techniken, seine »verstohlene Kreativität«. (87) Von den zivilisatorischen Zurichtungen des menschlichen Körpers und der Sinnlichkeit und ihren Folgen für
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die Psyche und das Erkenntnisvermögen handelt auch Norbert Elias »historische Psychologie«, wie dieser selbst seinen Theorieansatz nannte. Gegenstand dieses Ansatzes ist der »Prozess der Zivilisation«. Ess- und Tischsitten sorgten für die Distanz zu den zu verzehrenden Lebensmitteln. Die Zubereitung wird auf die Hinterbühne der Küche verlegt, das Essen selbst erfolgt in einem eigens für das Essen reservierten Raum mittels Besteck und vom persönlichen Teller. In den Restaurants, hervorgegangen aus den Küchen, die die Palastköche nach der Revolution gründeten, auch um für sich selber bessere Arbeitsbedingungen zu genießen, demonstrieren die Gäste, dass Vornehmheit auch bedeutet, dass man keinen Hunger hat. Es geht nicht nur um das Essen, sondern auch um Repräsentation und Distinktion, mit Hilfe des lächelnden Kellners. Die harte Küchenarbeit, der Lärm und die ekelerregenden Vorgänge der Vorbereitung sind hinter die Bühne verbannt. (88) Nicht nur ist fortan derjenige, der seine Begierden zu zügeln und seine Affekte zu dämpfen und fernliegenden Zwecken unterzuordnen vermag, gesellschaftlich im Vorteil, die Affektmodellierung ermöglicht auch eine Subjektivierung der Sitten und eine Verinnerlichung der Normen, die äußerlichen Zwang zunehmend unnötig machen. Sozialisation und die Anerziehung von Tugendhaftigkeit können sich in der ausgegrenzten und gesellschaftsfreien Privatsphäre vollziehen. Die Fähigkeit zur Affektverschiebung schafft Distanz zu den Dingen, im Unterschied zu einer »traditionsverbundenen, nach Seinsverpflichtung begierigen Emotionalität«. (Norbert Elias) Selbstkontrolle und Langsicht sind wiederum ermöglicht worden durch die »Pazifizierung von Großräumen«, wie sie am konsequentesten vornehmlich in absolutistischen Zentralstaaten durchgesetzt wurden, mit seinem zentralen Gewaltmonopol. Diese haben die Ausbildung verlängerter Handlungsketten und die Ausprägung einer gesetzlich geschützten Privatsphäre allererst möglich gemacht. Ferner hat die Entwicklung der Werkzeugtechnik die Distanz des Menschen zu dem zu bearbeitenden Gegenstand vergrößert und damit auch die zu seinem eigenen Körper. Hiermit geht das Verschwinden einer ganzen Reihe von Ausdrucksformen des unmittelbaren Körpereinsatzes einher, so dass Marcel Mauss den Bedeutungsverlust der »Körpertechniken« konstatieren konnte, die teilweise mit Deformationen einhergehen, eine Erfahrung, die sich auch in Atgets photographischen Protokollen niederschlug. Der Prozess der Zivilisation ist eine Geschichte der Distanzierung vom Körper. In diesem Prozess entwickeln sich Zwischeninstanzen, Vermittlungen zwischen Subjekt und Objekt, Werkzeuge, Maschinen, Elektronik, Medien. Es handelt sich um einen Prozess des Verschwindens des Körpers. Diese Entwicklung, die in räumlicher Hinsicht ablesbar ist am Vorrücken der Peinlichkeitsschwellen und Schamgrenzen, findet ihren Niederschlag in der Architektur und ihrer Benutzung und manifestiert sich etwa in der Ausdifferenzierung eines nur dem Wohnen dienenden Wohnraumes und die Unterteilung des Hauses oder der Wohnung in die den einzelnen Lebensvollzügen dienenden Zimmer. An den Körper gebundene Handlungen werden dabei hinter die Bühne verlegt, während auf der Vorderbühne scheinbar körperlos agiert wird. Dem Augenschein nach müsste heute eher der entgegengesetzte Trend vorherrschen. Die Präsenz des menschlichen Körpers im öffentlichen Raum, die All-
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gegenwart der vor allem weiblichen Nacktheit in Reklame, Film, Fernsehen und Zeitschriften und der Umstand, dass Fitnesscenter und Solarien aus dem Boden sprießen, all das legt die Annahme nahe, dass der Körper nicht von der Bühne verschwindet, sondern sich geradezu aufdrängt. Doch handelt es sich um Bilder vom Körper, von seiner Schönheit und erotischen Ausstrahlung, die sich vor den Körper selbst schieben, ihn verstellen und ersetzen und die Erfahrung am eigenen Leibe unnötig machen und erschweren, um eine Art Hochstapelei. Auch der narzisstische Körperkult ist nicht eine Kultivierung der körperlichen Erfahrung von Wirklichkeit, sondern vielmehr ein ritualisiertes Abschotten dagegen. So gesehen handelt es sich selbst bei dieser Allgegenwart des menschlichen Körpers um das Symptom von dessen Zurückdrängung. Entgegen der Annahme, dass Gewalt zurückginge, weist Duerr außerdem eine Tendenz zur Verschärfung der Gewalt nach. Beim »Ficken von Feinden und Rivalen« sei zudem eine gewisse ikonographische Kontinuität zu erkennen. (89)
A 7. In der Zukunft spielt die Architektur eine größere Rolle als in der Gegenwart. Es ist nicht verwunderlich, dass Utopien sich in auffälligem und übertriebenem Maße an die Architektur und die räumliche Struktur halten. Die antiken philosophischen Entwürfe eines idealen Staatswesens kommen noch weitgehend ohne architektonische Konkretionen aus. Platon gründete seine ideale Stadt auf die Bedürfnisregulierung, eine Instanz, die durch eine arithmetisch optimierte Administration an das Göttliche heranreicht. Spätere soziale Utopien setzen jedoch in auffälligem Maße auf die prägende und integrative Kraft des architektonisch gestalteten Raumes. Dies ist gestiegenem Anspruch an Realismus zu verdanken, freilich auch dem Umstand geschuldet, dass sich dieser substrathafte Aspekt der Lebensform leichter veranschaulichen lässt, als die weniger materiell präsenten Aspekte der Interaktion. Den Utopien eignet ihrer übermäßigen Konkretisierung in räumlichkörperlicher Hinsicht wegen stets etwas Unwirkliches und Erzwungenes. Sie atmen in demselben Maße, wie sie auf die prägende Kraft der Raumgestalt setzen, ein repressives Klima. Das frostige Klima der Utopie ist nicht nur Resultat minderer literarischer Fähigkeiten der Vergegenwärtigung. Es liegt in der Natur der Sache. Durch die Dominanz des Raumes und des Körperlichen und das hohe Maß an vorauseilender Reguliertheit und räumlicher Fixierung scheinen deren Bewohner nicht eigentlich lebendige Wesen zu sein, sondern Marionetten, die in einem lebensfern hohen Maße nach Vorschrift agieren und gleichförmig leben. Sie sind lebendig gewordene, animierte Abstraktionen, Verkörperungen der Idee eines übersozialisierten Individuums, dessen Verhalten immer im Voraus berechenbar ist. Bewohner von Utopien lassen sich ein hohes Maß an Reglementierung gefallen und so tiefe Eingriffe in ihren Alltag, dass man an eine masochistische Disposition denken muss. Das erotische oder pornographische Flair, das Utopien häufig eigen ist, beziehen sie nicht zuletzt aus dieser Komponente. Die Individuen sind vermöge ihrer Kleidung, ihrer Zeremonien und ihrer Räume in eine umfassende Choreographie eingeordnet, die nichts dem Zufall zu überlassen wagt, so dass eine bedrückende, beklemmende Atmosphäre der Beeinflussung und hypnotischer Suggesti-
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bilität entsteht. Eine alle Lebensbereiche durchdringende und womöglich bis in die Gedanken reichende Kontrolle und Übereinstimmung lassen statt der behaupteten Glückseligkeit tödliche Langeweile oder eine furchtbare Tyrannei erahnen. Cabets Vision einer besseren Gesellschaft beispielsweise strahlt bedrückende Enge durch Reglementierung aus. In seinem Ikarien herrschen kleinbürgerliche Prüderie, engstirniger Puritanismus. In seinem idealisierten Paris fehlen Spielhäuser, Rauchsalons, Bars, Bordelle, Cabarets, selbst Cafés. Sie sind ersetzt durch Versammlungshäuser, Museen, hospizähnliche Gasthäuser. Die Boutiquen sind durch so etwas wie frühe Vorläufer der späteren Kaufhäuser ersetzt, die Cabet mit Museen der schönen Künste vergleicht, womit er der gegenwärtigen Kommerzialisierung der Museen vorgreift. (90) Selbst Fouriers libertäre Gesellschaftsvision, in der Aufklärungsideen und physiokratisches Gedankengut vermengt sind, atmet stellenweise ein repressives Klima, auch wenn es nicht lustfeindlich ist. Es ist aber auch nicht eigentlich Lust fördernder, sondern vielmehr Lust fordernder Natur. Selbst die Propagierung der Freiheit geschieht in einer exzessiv unfreien Weise. Seine Utopie entlehnt ihre Sprache repressiven Bereichen wie der Kirche, der Fabrik, der Schule, dem Internat, dem Gefängnis, der Strafkolonie, dem Bordell. Utopien wie die von Campanella oder Andreae symbolisieren das Aufgehobensein des Individuums in einem zur Ruhe gekommenen Kosmos, in dem alle Menschen, Dinge und Handlungen ihren Platz haben und alle Interaktionen festen Regeln gehorchen. Sie sind oft geboren aus dem Protest gegen verkrustete Strukturen, imaginieren jedoch nicht die Auflösung der repressiven Ordnung, sondern den Zustand einer wiedergefundenen, wiederhergestellten göttlichen oder philosophischen und als solche nicht minder repressiven Ordnung mit höherem Existenzrecht, die aufgrund des Vorrechts der Wahrheit als Selbstevidenz an die Stelle des korrupten Regimes treten soll. Sie signalisieren den Auf bruch aus einer unerträglich empfundenen Mangelsituation und sind zugleich auch Ausdruck des Bemühens, das beängstigende Chaos im Vorhinein zu bändigen, das in einer aufgrund eines drohenden Machtvakuums in Bewegung geratenen Welt auszubrechen droht. Sie sind gewissermaßen eine positive Apokalypse, die die Szene nicht in die Farben des Untergangs taucht, sondern in die Farbe der Verheißung. Utopien sind genuin architektonische Entwürfe. Mit ihren Gleichförmigkeiten und der freiwilligen Unterordnung gerät in den Visionen utopischer Gesellschaften das Soziale in den Sog der Architektur. Das Verb »utopieren« kam Anfang des 18. Jahrhunderts auf: Es meinte, Utopie aus der Realität zu machen, die Realität im Sinne der Vernunft zu steigern. Im Zuge dieser Entwicklung wurde Utopie zum Versuch, die empirische Realität zu analysieren, zu zerlegen und neu zusammenzusetzen, zu resynthetisieren. In einer Zeit der tatsächlichen Umwälzungen bildete die Utopie ein Gedanken-Labor für die experimentelle Konstruktion möglicher Gesellschaften und Gegenwelten. Das Utopieren war kognitive Reaktion auf die Produktion eines Überschusses an Alternativen. Was in extremen Maße die Diktaturen des 20. Jahrhunderts wagten, Maoismus und Stalinismus wie Faschismus und Nationalsozalismus, das wird bereits in der Zeit nach der französischen Revolution erprobt. Die Wertschätzung der Empirie wurde in dem Maße begünstigt, wie die französische Revolution als ein gigantisches soziales Experiment die Menschen mit Vorgängen konfrontierte, die man
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sich bisher bestenfalls partiell hatte ausmalen können. Die Erfahrungen mit dem Revolutions-Terror sowie die in der Folge der Revolution beginnende Industrialisierung bildeten einen kulturellen Schock, eine Traumatisierung, die die gesamte Gedankenwelt nachhaltig erschütterte. Die davon ausgelöste Krise hält bis heute an. Diese Krise ist aber auch der Quell unerschöpflicher Phantasie. Seit der Zeit der ›Terreur‹ waren die destruktiven Aspekte der durch die Revolution induzierten massenhaften Freisetzung der Individuen unübersehbar geworden. Angesichts einer zum Mob entfesselten Masse, zumal in der Zeit zwischen 1770 und 1789, widmete man den Disziplinierungsapparaten zunehmende Aufmerksamkeit. Die soziale Phantasie imaginierte in beinah obsessiver Weise einen Raum der sozialen Ordnung, der säuberlich unterteilt und geometrisch identifiziert und architektonisch stabilisiert war. Der Imaginationsfuror erreichte einen seiner vielen Höhepunkte in Jeremy Benthams panoptischem Gefängnis. Es ist kein Zufall, dass über Disziplinierung vor allem in Begriffen des Raumes nachgedacht wird, und dass man sich in der Praxis des Strafvollzugs und der Psychiatrie vorwiegend auf architektonische Modelle verließ. Bis man erkannte, dass die Kasernierung der Kriminellen und Irren die Gesellschaft zu teuer kommt, nutzte man vorhandene barocke Baukomplexe. Als man dazu überging, die Eingeschlossenen arbeiten und sich ihre Unterbringung und Versorgung selber verdienen zu lassen, kamen instrumentell gestrafftere Architekturkonzepte ins Spiel. Benthams Pläne wurden von der Nationalversammlung in Paris begeistert aufgenommen, jedoch nicht realisiert. Sein utilitaristisches Konzept, das unmittelbare Gewaltausübung im Strafvollzug unnötig machen sollte, wurde erst später und auf Umwegen wirksam. In seinem Panopticon sollten nicht nur Delinquenten eingesperrt sein, sondern auch Obdachlose, Arme, Behinderte und ledige Mütter sollten dort kaserniert werden, um zu arbeiten und ein nützliches Leben führen zu können. Er schlug später die Verwendung dieses Bautyps auch für Schulen vor (in seiner Schrift »Chrestomathia« von 1815), um den Kindern, durch das Fehlen von Fenstern mit Ausblick nach außen die Konzentration zu erleichtern. Einen gewissen Einfluss soll Bentham auf Owen ausgeübt haben. Sein Typus findet sich im Personal der Romane von Dickens wieder. Seine Idee findet einen phantastischen Nachklang in Alfred Jarrys Roman »L’amour absolut« (1899), dessen Handlung in einer Gefängniszelle der ›Santé‹ beginnt, die »genau wie ein ›steinerner Stern‹ und argusähnlich mit tausend Augen blickt«. (91) Eine hinsichtlich der architektonisch-räumlichen Dimension aus der Geschichte utopischer Konzeptionen herausragende Figur ist Charles Fourier. Sein unendlicher Appetit war es, der ihn danach verlangen ließ, des ganzen sinnlichen Reichtums des Lebens wenigstens in der Einbildung teilhaftig zu werden. Die Realität der Stadt Oaris, das gesellige Treiben, das gemeinsame Essen, Verabredungen-Treffen, galante Abenteuer-Erleben, Lieben, Einander-Kennenlernen sind wie in traumhafte Leichtigkeit des Wünschens getaucht, wie unter Wasser, alles gelingt wie von selbst. Es herrscht das Klima der unbegrenzten Verfügung und freiwilligen Verfügbarkeit pornographischer Literatur. Jedem Bedürfnis und jedem Begehren entspricht ein Angebot. In der Institution des Angelikats, um nur ein besonders bizarres unter den zahllosen Beispielen zu nennen, ist dafür gesorgt, dass Jungen ihr Kindermädchen heiraten dürfen. Bei Fourier tritt ein Element der Utopie mit größter Deutlichkeit hervor: das Element der Abgeschlossenheit des Ortes. Roland Barthes sah Fouriers Entwürfen
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ebenso wie de Sades Phantasien gleichermaßen dieses Motiv zugrunde liegen. Der Vergleich beider offenbare das Utopische des Sadismus und das Sadistische der Utopie. Beide Gesellschaften gewinnen ihre Identität und ihre Autarkie wie ihre ostentative Intelligibilität durch die Abgeschlossenheit. »Das Äquivalent, das der Sade’schen Gesellschaft am nächsten käme, wäre Fouriers Phalanstère: Hier wie dort das Bestreben, das Glück an einen endlichen und organisierten Raum zu binden.« »Das gleiche Projekt, eine sich selbst genügende menschliche Gesellschaft in allen Einzelheiten zu erfinden, der gleiche Wille, das Glück mit einem begrenzten organisierten Raum gleichzusetzen, die gleiche Energie, die Menschen durch ihre Funktionen zu definieren und das Zusammenspiel jener funktionalen Klassen durch eine minuziöse Inszenierung zu regeln, die gleiche Bemühung, eine Ökonomie der Leidenschaften zu institutionalisieren, kurz: die gleiche ›Harmonie‹ und Utopie. Die Sadesche Utopie – wie übrigens auch die Fouriers – läßt sich sehr viel weniger an theoretischen Deklarationen als vielmehr an der Organisierung des alltäglichen Lebens ermessen; denn das Kennzeichen der Utopie ist das Alltägliche. Oder: das Alltägliche ist utopisch: Stundenplan, Speisezettel, Kleiderordnungen, Mobiliarabgaben, Konversations- und Kommunikationsvorschriften […].« (92)
Fourier wie de Sade belehren uns darüber, dass wir es bei sämtlichen Utopien mit geschlossener Ordnung und erzwungenen Kollektiv-Identitäten zu tun haben. Der abgeschlossene Ort ist vorgeprägt von den geheimen Treffpunkten verschworener Brüderschaften, konspirativer Gruppen, von Sektierern, Mystikern, Illuminaten, im Gebirge, in abgelegenen Klöstern. Die Geschlossenheit wird von der Topographie und von Architektur gewährleistet. Noch die Gegen-Utopie bleibt dem Motiv der Einschließung verhaftet. In Rabelais 1. Buch von »Gargantua und Pantagruel« trifft sich die ideale Gesellschaft im Anti-Kloster Thelema. Da werden nur hervorragende Leute aufgenommen, die zum Libertinismus physisch und psychisch auch fähig sind: »Tut, was euch gefällt« – die einzige Regel des Ordens ist, dass es keine Regeln gibt. Und nach dieser Regel der Regeln zu leben verlangt Kondition. Die Abgeschlossenheit macht die Ordnung und die Imagination, die Überzeugungskraft auch dieser Phantasie erst möglich. (93) Architektur erträumt sich vielleicht stets als etwas Geschlossenes und Einschließendes. Wir fühlen angesichts des über die Maßen aufgelockerten Städtebaus der Moderne, die mit Zeilenbau und Sonnenlicht-Orientierung den unarchitektonischsten Städtebau der gesamten Menschheitsgeschichte konzipierte, dass hier gegen das Wesen der Architektur verstoßen wird, als würde sie neuerdings traumlos schlafen oder nur noch wachbleiben, auf der Hut sein, oder, wie Bloch mutmaßte, abreisen, verschwinden wollen, schon so gut wie weg sein. (94) Die Welt der institutionellen Reformen, die von den Aufklärern entworfen wurde, war eine Welt perfekt funktionierender, architektonisch strukturierter Maschinen. Gesundheit, Glück und Strafe kristallisieren sich in Gebäudetypen und administrativen Codes. Die fundamental neue Ordnung sollte nicht nur als Reform der alten entstehen, sondern völlig neu errichtet, konstruiert, im übertragenen wie im buchstäblichen Sinne »gebaut« werden, die Logik und Solidität eines Gebäudes aufweisen und als »Architektur« imponieren und überzeugen. Die ArchitekturMetapher, derer sich Generationen in ihren Traktaten und utopischen Entwürfen bedienten, war hier zugleich ganz wörtlich gemeint. Gemäß den Milieutheorien
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von Locke oder Condillac war man der Ansicht, dass das angemessene Environment die Gesellschaft umformen müsse im philosophisch antizipierten Sinn, da die Vernunft sich schon lange genug verspätet hatte. So war es auch nicht verwunderlich, dass Philosophen, Kulturkritiker und Architekten an demselben Projekt arbeiten konnten. Architekten wie Ledoux, Boullez und Lequeu beteiligten sich ebenso am Entwurf neuer, bis dato unbekannter Institutionen, wie es Rousseau im Medium der Literatur tat. Ledouxs Monumente für Einheit, Frieden, Tugend und Erinnerung lehnten sich einerseits an barocke Emblematik an, variierten gebräuchliche Symbole, seine Idealstadt Chaux basierte zugleich auf dem analytischen Konzept der Enzyklopädisten und den neuesten Erkenntnissen der Naturwissenschaft. Ähnlichkeiten mit Erfindungen von Rétif de la Bretonne, de Sade oder Fourier waren durchaus beabsichtigt. Sein Haus der Freude stand im Kontext mit den Maschinen zur Salzgewinnung. (95) Für ihre Entwürfe einer neuen Ordnung waren die Aufklärungstechnologen ebenso wie die Utopisten gezwungen, wie der Leiter einer Expedition oder ein Chefarzt für die Ausrüstung eines neuen Krankenhauses, Listen zu erstellen über alles, was dazugehören sollte, so ausführlich wie die Wissenschaften der Chemie oder Botanik, mit Klassen und Unterklassen. Gebäude sollten als gebaute Magie der Listen zu den Institutionen nicht nur genau passen, sondern auch die Verhaltensmuster und Charaktere für die neue Moral schaffen oder sich bilden lassen helfen. Das Material der Utopie waren freilich zunächst nicht die Menschen und die Steine, sondern die Sprache und die Zeichnung. Ihre »Architekten« mussten sich der vorhandenen Semantik, der eingebürgerten Bedeutungen und der Topoi der Zeit bedienen, und Veränderungen ließen sich nur einführen als deren Variation oder im Kontrast zu jenen. Die bekannte Sprache musste enorm strapaziert werden, um ihr neue potenzierte Bedeutungen abzugewinnen. Wie die Gesellschaft in Elemente zerfiel, die beliebig neu zusammensetzbar erschienen, so gab es eine Inflation von Wortschöpfungen und zahlreiche anders als gebräuchlich zusammengesetzte Wortkompositen. So enthalten denn Fouriers ebenso wie Ledouxs neue Welt Variationen, Transformationen, Serien, Aufzählungen, Kombinatorik – das ganze Arsenal rhetorische Figuren und Neologismen. Texte und Entwürfe sind weniger Realitätsentwurf als Sprach-Permutationen, weniger Körper als Wörter, weniger Gebäude und Leben als Papier und Zeichen, von wo aus in einer Art magischer Übersprungshandlung das Geschriebene ins Leben treten soll. Ihr Sprachcharakter hält sie zugleich von der Realität entfernt. De Sade wie Fourier nehmen die Sprache buchstäblich auseinander, verkehren alles in das Gegenteil, setzen die Teile neu zusammen, bedienen sich auch aller etablierten Typen der historischen Architektur (Burg, Schloss, Palast, Kloster, Kirche, private Residenz, Hotel), entvölkern sie, entleeren und entmöblieren sie und geben ihren atomisierten Elementen einen neuen Gebrauchszweck. Sie greifen außerdem alle neuen Typen auf, die in der jüngeren Zeit entwickelt worden waren, und zwingen sie in die Bewegung der Permutationen und der binären Codes signifikanter Gegensatzpaare hinein, das Theater, die Freimaurerloge, das Hospital und das Gefängnis. Der meistdiskutierte Haupttyp, Benthams Panoptikum, war wie das Kloster bei de Sade nicht nur ein mittelalterliches Gebäude, das romantisch
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umgenutzt wird, sondern eine komplette Neuorganisierung der Architektur nach Maßgabe der Rationalität und der Funktion. De Sade benötigte diesbezüglich keine Innovationen, er fand auf einer Reise nach Italien die zahlreichen Klöster wie die Katakomben bestens geeignet für die libertinäre Gesellschaft seiner Romane. In ihrem Licht scheint es so, als wären die historischen Gebäudetypen Vorwegnahmen der anvisierten Neuerungen. Das Konvent von Sainte-Marie-des-Bois in »Justine«, erinnert nicht zufällig an Benthams Panoptikum. Es ist zugänglich nur über einen unterirdischen Gang, der wiederum nur durch eine verborgene Tür in der Sakristei der sonst ganz unauffälligen Kapelle zugänglich ist. Dieser Tunnel windet sich durch die Erde und mündet in den Zellen des Freudenhauses, das selbst ein unentrinnbares Gefängnis für die Opfer der Libertins ist, in denen man ruhig säkularisierte Mönche erkennen mag. Es steht im Zentrum eines Systems aus konzentrischen Kreisen, gebildet aus Märchenhecken, sechs unüberwindlichen Bastionen von Dornbüschen, sowie einer ebenso dicken Mauer. Das Serail selbst ist von außen unmöglich einsehbar. Das Ganze könnte von Lequeu oder Ledoux entworfen sein. Die Beschreibungen lesen sich in ihrer Detailliertheit wie Bauanleitungen. Um der Verfolgung durch Staat und Kirche zu entgehen, mussten jene erotischen Geheimgesellschaften zuverlässig unzugänglich sein, ebenso wie die Freimaurerlogen, die für Reinhard Koselleck die von der Geheimpolizei verfolgten Keimzellen der bürgerlichen Gesellschaft bilden, die zugleich aber auch die Keimzellen einer modernen Kriminalität sind, deren Einfluss bis in die höchsten Kreise der Politik hineinreichte, die Zuflucht in gut getarnten oder in abgelegenen Privathäusern, Hotels, Restaurants fanden. (96) Bereits im Ursprung sind Ordnung und Verbrechen nicht zuverlässig zu unterscheiden. Abseits des öffentlichen Lebens, durch Mauern und Sicherheitsvorkehrungen von der übrigen Welt strikt abgeschieden, entwarfen die Freimaurer ihre eigene Welt. Sie gaben sich ihre eigenen Statuten und Gesetze, übten sich in Arbeitsteilung und Umgangsformen, in denen der vervollkommnete Mensch der Aufklärung und die Maximen der Gleichheit und Brüderlichkeit im Kleinen realisiert waren. Die Brüderlichkeit war freilich auch eine der privaten Geschäfts- und Machtinteressen. Initiationsriten sorgten dafür, dass die Logenbrüder von allen Einflüssen der korrupten höfischen Zivilisation gereinigt, als neue Menschen in die neue Sphäre der Republik eingingen. Da man, von der Polizei gejagt und von Spitzeln infiltriert, häufig die Adresse ändern musste, bildete sich ein fixer Formtypus für das Logenhaus erst spät heraus, als es zum Ausweis eines neu definierten, kriminell machtbewussten Adels gehörte, einer Loge anzugehören. Davon, dass die Logen die Kinderstube der Mafia bilden, vermittelt Balzacs »Geschichte der Dreizehn« eine Ahnung, einer Gruppe unter der Führung des Polizeipräfekten von Paris, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, so viel Böses zu tun wie nur möglich. Dabei diente jedes Detail der Festigung des Gruppenzusammenhalts. Das Logenhaus verlieh der Gruppe nicht nur Identität und Konkretheit, sondern hatte auch rituellen Erfordernissen zu genügen. Die Stationen der Initiation und die Embleme der Bruderschaft, anfangs auf schnell einrollbaren Teppichen symbolisch fixiert, wurden nun in Raumprogramme und architektonisches Ornament umgesetzt. Der von einem Bürgen oder Paten eingeführte Initiant wurde mit verbundenen Augen an den Ort geführt, wo er einer Reihe von Prüfungen, Belastungstests,
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peinlichen Befragungen ausgesetzt und rituell gereinigt, erschüttert und, mit neuem Namen, neu geboren wurde. Eine Verteidigungsschrift des in die Annalen der Architekturgeschichte eingegangenen Abbé Laugier gibt Auskunft über die Architektur eines solchen Ortes. Zunächst wurde der Initiant vom »Schröcker« des Tageslichts entwöhnt, mit erhabenen Effekten wie Höllenlärm und Theaterdonner und die Sicht raubendem Rauch wie in der Rummel-Geisterbahn in Angst und Schrecken versetzt, bis er am Ende das himmlische Schauspiel der weiß gewandeten Jury erblicken durfte, die ihn wie das Jüngste Gericht erwartete und von der er das Rangabzeichen verliehen bekam. Der Hauptraum war für Festbankette bestimmt, wo man im Geiste Rousseaus der Idee der ursprünglichen Gemeinschaft huldigte. (97) Derselbe Laugier, der die Urhütte der ersten ihrer Menschlichkeit bewußten Wesen rekonstruierte, führte die Logenarchitektur auf den Tempel Salomos zurück, d.h. auf das, was Archäologen und Philologen über diesen in Erfahrung gebracht zu haben glaubten und was sie an utopischen Unterstellungen hineininterpretiert hatten. Dem göttlichen Baumeister nacheifernd, verstanden sich die Freimaurer, in Vorwegnahme der positiven Religion Auguste Comtes, als Urzelle der Gesellschaft und als Baumeister des moralischen, sozialen Gebäudes. Indem sie die verstümmelten Fragmente des einstigen Baus, dessen Regeln in den Proportionen des Salomonischen Tempels vollkommen erfüllt und repräsentiert waren, zusammenklaubten und wieder neu zusammensetzten. Das Pathos dieses Menschheitstraumes des freiwilligen Zusammenschlusses freier und gebildeter und mit allen bürgerlichen Tugenden begabter Individuen überwinterte in den Logen, deren Zahl vor allem in Frankreich in der Zeit bis zur Revolution dramatisch anwuchs. Mit der Verbreitung des Logengedankens auch in den kleinbürgerlichen Schichten erlitt das Logenwesen später einen »Einbruch des Mystizismus«. Der wachsende Einfluss von Magiern, Scharlatanen und Alchimisten und der Zulauf von Jüngern und Adepten untergrub deren egalitäre Struktur und bildete eher in parodistischer Weise die gegebenen Macht-Hierarchien der Gesellschaft ab. Den immer zahlreicheren Anwärtern auf obskure Maurer-Würden fehlte in ihrer Halbbildung die Fähigkeit, die eklektizistischen Privatideologien der angemaßten Meister zu durchschauen. An dieser mit krimineller Energie aufgeladenen und von Stümperei und Betrug durchwachsenen Szenerie fanden auch die Dichter gefallen. Man denke nur an Schillers Geisterseher, Goethes Berührung mit Cagliostro, Casanovas Memoiren etc. In dem Maße, wie das Logenwesen die Exklusivität der gehobenen Kreise verließ, popularisiert und trivialisiert wurde, sah sich die Leisure-Class gezwungen, nach neuen Abgrenzungsmitteln zu suchen. Der Rousseau’sche Grundgedanke wurde verkompliziert durch detaillierte Formprogramme und die Verfeinerung des Geschmacks an sublimen, bizarren Effekten. Man fand gefallen an Chinoiserien und am Gotischen und an obskuren Quellen hermetischen Wissens. (98) Halb im Verborgenen entwickelte sich eine literarische Gattung pseudohistorischer Erzählungen, die mit Vorliebe aus Anlass von Einweihungsriten vorgetragen wurden. Eine solche war eine im alten Ägypten angesiedelte Erzählung des Abbé Terrasson. Dessen architektonische Phantasie war so konkret, dass Lequeu aufgrund der geschilderten Details ein Logengebäude entwerfen konnte. Man nahm allgemein an, dass alle initiatorische Literatur wie Architektur auf ägyptische Vor-
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bilder zurückgehe und dass die ägyptischen Pyramiden und Tempelanlagen als Stationen einer initiatorischen Reise zu verstehen seien, dazu gedacht, PriesterAspiranten in einen Zustand höherer Weihen zu überführen, ihnen einen Sinn für das Geheimnis und die Mysterien der Menschheit zu vermitteln, den Weg zu ebnen für die Teilhabe an den letzten Geheimnissen der Seele, wie Willermoz sich ausdrückte. Die Raumorganisation wurde als Mittel der Bewusstseinssteigerung angesehen, die auf unmittelbare Weise, vermöge des Erhabenen im Sinne Burkes, die Sinne und auf diesem Wege auch das Erkenntnisvermögen affiziert. Die Pyramide galt als Tor zur Unterwelt, als Beginn der mystischen Reise. Von hier aus führte der Weg über allerlei Hindernisse hinweg zum Tempel der Isis, der sich wiederum auf die elysischen, die glücklichen Gefilde hin öffnete. Tempelandeutungen waren häufig den gerade ausgegrabenen Anlagen von Theben und Karnak nachgebildet. Der Architekturtheoretiker Quatremère de Quincy, selbst Freimaurer, verfasste noch vor Napoleons extrem gut organisiertem und erfolgreichem Eroberungszug eine Dissertation über ägyptische Monumente und regte deren Ausgrabungen mit an, die helfen sollten, bisher nur behauptete und von anderen Schilderungen abgeschriebene Charakteristiken durch exakte Kenntnis aus eigener Anschauung zu ersetzen. Mit seiner Schilderung einer Loge befeuerte er die literarische wie die architektonische Phantasie: »Es war im Dunkel dieser unterirdischen Gewölbe, in der dunklen Tiefe der Gruft, wo die Initiation begann, und deren geheimnisvolle Atmosphäre bildete die erste Prüfung und die erste Stufe der Erkenntnis. Das noch undeutliche Geheimnis wurde im Namen des Gottes Harpokrates personifiziert. Durch zahlreiche Tore, die mit Schleiern verhangen waren, führte der Weg von Vestibül zu Vestibül, von Korridor zu Korridor, bis der Aspirant schließlich durch die Schleier hindurch von weitem des Heiligtums ansichtig wurde.« (99)
Die rituellen Wege waren bald nicht mehr auf das Innere des Gebäudes begrenzt, sondern verlängerten sich in den Garten hinaus. Eine mit der ägyptischen Tradition verknüpfte Auffassung stellte die Natur als Ort der Regeneration ins Zentrum der Spekulation. Die Landschaft, wie Rousseau sie verstand, wurde insgesamt zum Medium der Initiation, einer zweiten Geburt, der wahren Menschwerdung. Der Bankier Sarasin unterzog sich in einer von Cagliostro entworfenen Eremitage im abgelegensten Winkel seines Parks dem »altägyptischen Ritus«, indem er sich 40 Tage einschließen ließ und einem anstrengenden Programm aus Prüfungen und Exerzitien unterwarf. Ein ähnliches Refugium ließ sich der Graf Francois Racine de Monville in seiner »Desert de Retz« in unmittelbarer Nachbarschaft zu den königlichen Wäldern von Marly errichten. Scheinbar ein Sammelsurium architektonischer Kuriositäten, bildet die auf den Ruinen von Kirchen und auf den Trümmern ehemaliger Dörfer, die von ihren einstigen Bewohnern verlassen werden mussten, errichtete Anlage ein didaktisches und pädagogisches System, das Reflexionen stimulieren, Assoziationen wecken, Tagträume rigoros kodieren und Gedanken konzentrieren sollte. Wie de Laborde war der Graf Monville davon überzeugt, dass Gartenkunst »eine moralische Wissenschaft« sei. Ideelles Zentrum der Anlage bildet ein auf kreisrundem Grundriss erbautes Gebäude in der Gestalt einer gigantischen abgebro-
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chenen Säule als Symbol der Fragmenthaftigkeit des Lebens und der Allgegenwart des Todes. (100) Der Name »Desert de Retz« spielt auf Rousseaus »Neue Heloise« an. Für die empfindsame Julie ist die soziale Umwelt eine schreckliche Wüste, in der sie sich vollkommen verlassen vorkommt. In der Einöde der unberührten Natur, abseits vom entfremdeten Getriebe der Stadt dagegen findet man zu sich selbst und zur Einheit mit der Welt. Der Garten Ermenonville, den der letzte Gönner Rousseaus anlegen ließ, indem er einige Passagen in der »Neuen Heloise« als Bauanleitung las, wäre hier ebenso zu nennen, wie die »Landschaft der Illusionen« des Herzogs von Chartres in Monceaux oder der »Tempel des Schweigens«, den Lequeu für den Grafen de Bouville entwarf – Harpokrates, dem Gott der Stille geweiht, wobei Stille hier die konspirative Verschwiegenheit meint – oder die Entwürfe Ledouxs für den Park für den Marquis Montesquiou, auf der Domäne der Familie des MontesquiouFezensac, genannt Mauperthuis. William Beckford beschrieb in seinem »Vathek« eine Loge, die er 1784 besucht hatte und die sich seinen Angaben zufolge in der Nähe von Paris befunden haben soll. Er zählt zu jenen, die sich zugleich auf dem Felde der Literatur wie als Architekten betätigten. Seine Fonthill Abbey zählt zu den exquisitesten Exemplaren in der Geschichte philosophischer Architektur. (101) Der Park wird zum Initiationsgelände, das an erhabene Naturerlebnisse erinnert. Gefahrvolle Übergangsszenarien versprechen am Ende Erneuerung, Reinigung und Wiedergeburt. Brücken in schwindelnder Höhe mussten begangen, enge Tunnel durchschritten werden, bevor der Held im Licht des dämmernden Tages die Berghöhe erklimmen und auf der Höhe und im Bewusstsein seiner Kraft und Möglichkeiten ein neues Leben beginnen konnte. Solche initiatorischen Reisen werden in Kenntnis ihrer Vorläufer in der Renaissance und im Hellenismus unternommen. Schon in Andreaes »Chymischer Hochzeit«, dem Schlüsseltext der Rosencreutzer bis heute, wird eine solche Initiationsreise beschrieben, die wie die Erschaffung der Welt sieben Tage andauert. Ihre kosmologischen Rekurse verbinden sich nun mit sensualistischen Verhaltens- und Milieutheorien, wie sie von Burke angeregt und von Holbach und Helvetius kodifiziert worden waren. Der Weg zu de Sades Chateaux de Silling wirkt wie eine Illustration der Ästhetik des Erhabenen, wie sie etwa zeitgleich von Burke entwickelt wurde. Bei de Sade handelt es sich wie später bei Balzac um eine »Gesellschaft der Freunde des Verbrechens«, die sich, nicht anders als die Freimaurer, außerhalb geltender Moral und über diese stellten. Das de Sade’sche Serail bildet eine Art umgekehrtes Theater, eine Kombination aus Loge, Theater und Schlafzimmer, wie Barthes es beschrieb. De Sades Utopie ist als pornographischer Exzess durchaus einzuordnen in sozialpolitische Diskurse. Vom Bild des integralen Menschen als Inbegriff polymorpher Sinnlichkeit geradezu besessen, dachte de Sade im Kontext einer Gesellschaftskritik und einer städtischen Raumkonzeption. Die Stadt träumt sich immer wieder aufs Neue als Ort der geglückten Integration auch der libidinösen Aspekte des menschlichen Lebens. De Sade argumentierte, nun, da die religiösen Irrtümer überwunden seien und die Sicht nicht länger verstellten, und wir der Natur nähergekommen seien, bräuchten wir keine Vorurteile mehr gegenüber den bisher kriminalisierten Leidenschaften zu pflegen. Wir sollten nicht gegen unsere Triebe kämpfen, sondern sie in den Dienst des Ganzen stellen: indem wir sie regulieren, um Befriedigung zu erlangen und Frieden. Keine Freiheit sei wesentlicher als die
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in sexuellen Dingen. Es gelte, die Verbindung von Leidenschaft und Rationalität zu ergründen und zu etablieren. Aufgeklärte Politik sei auch rationale Sexualität. De Sade empfahl die Versorgung der Stadt mit Bordellen unterschiedlicher Art unter Berücksichtigung der als Perversionen geltenden Dispositionen. Solche »Theater der Subordination unter die Leidenschaften« würden die politische Harmonie und soziale Gleichheit fördern. De Sade forderte, die politische Wertung abweichenden Verhaltens zu überdenken. Der Staat solle sich nicht länger auf Normativität und legitime Genealogie stützen, sondern auf »Jouissance«. Sobald das Vergnügen die Basis der republikanischen Gleichheit bilde, könne auch die Republik als Teil einer kosmopolitischen Vereinigung gesehen werden. (102) Wenn er als architektonische Form des Bordells in seinen »Cent vingt jours« noch ein Theater der Ausschweifung vor Augen hatte, eine Kombination aus Freimaurerloge, Boudoir und antiken Amphitheater, dann entwickelte er unter dem Eindruck der Revolution einen Stadtplan mit rhythmisch verteilten Bordellen unterschiedlichster Art, die allen Geschlechtern, Altersstufen und Perversitäten einen eigenen Ort geben würden. Sexualität ist für ihn nicht mehr eine Frage von privatem Vergnügen, des Verhältnisses von Tugend und Laster, sondern ein öffentliches Terrain, das republikanische Politik und private Interessen rational verkoppelt. Demokratie sei nur möglich, wo es öffentliche Einrichtungen zur Aufführung der Lüste gebe. (103) Das Konzept, das Retif de la Bretonne zu diesem Anliegen vorlegte, dessen »Pornographe« von 1769, war noch eine freudlose Kaserne zur systematischen, industrialisierten Triebabfuhr und Ausbeutung der Frauen gewesen, mit dem Ziel, möglichst viel Lust für Männer bei möglichst wenig Krankheitsrisiko, mit dem Nebeneffekt einer Verminderung der sozialen Verelendung der Frauen zu erreichen. De Sade hatte eine umfassendere Idee. Eine frappierende Ähnlichkeit hat jenes de Sade’sche Serail mit Entwürfen für das Haus der Freude, ein Kuppelbau, der in Paris, auf dem Gipfel des Montmartre erstehen sollte. Dieser Bordell-Entwurf Ledouxs war die Vorstufe des Oikemas, auf dem Grundriss eines Phallus, das er für seine Cité de Chaux vorsah. Der Architekt sei mächtiger als die Liebe, brüstete sich Ledoux. Auch Fourier hatte in Ledoux den Architekten gefunden, der seinen Vorstellungen am nächsten kam. Besonders bewunderte er dessen private Villen, die er in den 1780ern entwarf. Er beklagte den Abriss des Hotel Thélusson 1822. Für Fourier waren Architekturen die Generatoren sozialer Ordnung. Für die Realisierung seiner utopischen Gesellschaft waren in seinen Augen die bestehenden Gebäudetypen der etablierten Zivilisation unbrauchbar. Das erste, was also nötig wäre, war die Erfindung neuer Gebäudetypen. Seine Phalanstère erinnert allerdings doch stark an Versailles. Fouriers wichtigste architektonische »Erfindung« war die Übernahme des Systems von Arkaden, wie er es im Palais Royale gesehen hatte, das er wie ein Märchenschloss bewunderte. Sie würden die Blocks und Flügel der Phalanstères miteinander verbinden. In seiner neuen Liebesordnung sind die gedeckten Gänge, die glasgedeckten Passagen in ihrem halböffentlichen Charakter von eminenter Wichtigkeit. In Fouriers festlicher Vision sollten sie beheizt und ventiliert sein, so
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dass in ihnen Tag und Nacht und zu jeder Jahreszeit jede Art von Geschlechtsverkehr möglich wäre. Das System der Gänge und Hallen bildete ein utopisches Äquivalent des Marktes, eine Börse ganz eigener Art, auf der Gleichgesinnte zueinander finden und sämtliche, auch noch so abartig empfundenen Bedürfnisse ihre Befriedigung finden sollten, gewissermaßen ein analoger Vorläufer des Internets. Noch die schwärmerischen Würdigungen der Pariser Laden-Passagen durch die Surrealisten, durch Aragon wie durch Walter Benjamin sind der permutativen Möglichkeiten der Fourier’schen Liebesordnung eingedenk. In der erotischen Anziehungskraft, die das Zusammenspiel der Geschlechter beherrscht, sieht Fourier einen Sonderfall dessen, was Newton als Gesetz der Schwerkraft identifizierte. Er ist besessen von der Idee, die Gesetze der Gravitation auf die Gesellschaft zu übertragen. Die Kraft großer Massen, Materie in ihren Bann zu ziehen und damit Zusammenhalt und Balance des gesamten Planetensystems zu gewährleisten, ist auch das, was die soziale Welt im Innersten zusammenhält. Er hält die unerklärliche Schwerkraft, mit der das Begehren die Menschen zueinander zieht und aneinanderbindet, für eine Analogie zur planetarischen Ordnung. Die Kraft, die Planeten zusammenzwingt, sei dieselbe, die Männer und Frauen umeinander kreisen lässt. Es ist ein und derselbe Eros, die Kraft der »leidenschaftlichen Anziehung«, durch deren Energie sowohl das materielle Universum, die Gesellschaft wie auch das individuelle Leben der Menschen beherrscht wird. Die Natur leistet sich nicht mehr Gesetze und Grundkräfte, als nötig. Und auch Gott verfährt ökonomisch. Er ist mit einer universalen Kraft ausgekommen, um den Kosmos zusammenzuhalten: mit der leidenschaftlichen Anziehungskraft, der Attraktion. Da nun im gesellschaftlichen Leben die erotische Attraktion nicht nur Quelle der Freude, Wollust und Schönheit, sondern potentiell auch die Ursache von Chaos, Verwirrung und Leid ist, sollte das ganze Bestreben des Menschen dahin gehen, das Wirken und Walten der universalen leidenschaftlichen Anziehung in bestmöglicher Weise im gesellschaftlichen Zusammenleben zu organisieren und zu nutzen. Damit glaubte Fourier, den Schlüssel zu einer universalen Harmonisierung und Humanisierung von Natur und Gesellschaft in den Händen zu halten. Die »Theorie der vier Bewegungen« besagt, dass nicht allein die materielle, sondern auch die organische, animalische sowie die soziale Bewegung dem Gesetz der Attraktion, der leidenschaftlichen Anziehung, unterworfen sind. Fourier kann nicht verstehen, warum man in zweieinhalbtausend Jahren Philosophiegeschichte nicht ein einziges Mal dieser Frage nachgegangen ist. Er ist überzeugt, das seit Jahrtausenden offenbare aber ignorierte Geheimnis des vollkommenen sozialen Glücks entdeckt zu haben, die Organisation des harmonischen menschlichen Zusammenlebens in Assoziationen und progressiven Serien, die auf die Kraft der Anziehung gegründet sind. Die Aufgabe besteht nicht darin, die Menschen zu ändern – das ist ohnehin nicht möglich –, sondern ihr Leben so zu organisieren, dass sich ihre Leidenschaften positiv harmonisieren und so produktive Kräfte freisetzen. Während die Kommunisten sich darauf versteiften, eine »neuen Menschen« zu erschaffen, verlangt Fourier, von dem auszugehen, was vorhanden ist, und es gründlich zu studieren. Das Universum scheint ihm im Prinzip gut angelegt, und Gott, ein Gott nicht der Verbote und Sittenstrenge, sondern der Wollust und der Leidenschaften, wollte zweifellos, dass die Menschen glücklich sind. Die Mittel hat er bereitgestellt, man
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muss sie nur zu nutzen wissen. Er rechnet mit mehreren Schöpfungsversuchen, die erste ist mit dem Aussterben der Saurier erledigt. Auch der zweite Versuch hat Mängel, für die jedoch die menschliche Gesellschaft verantwortlich ist. Wenn man die Welt nach Fouriers Prinzipien umgestalten würde, ginge es wieder voran. Von Verbesserungen der Welt sind auf dem Weg zur Vollkommenheit noch 14 weitere zu erwarten. Die Existenz des Bösen, Hässlichen und Gemeinen, etwa die Existenz von Spinnen, Ratten und ekligem Gewürm, die Ungenießbarkeit des versalzenen Meerwassers, die Unwirtlichkeit vieler Landstriche, das schlechte Wetter Mitteleuropas, all dies sind Spiegel, die Gott den Menschen vorhält, um ihnen zu zeigen, wie sehr sie mit der Triebrepression auf den falschen Weg geraten sind. Wenn die menschliche Harmonie dereinst auf der Erde verwirklicht sein wird, wird das dank planetarischer und geoklimatischer Transformationen kosmische Veränderungen ungeahnten Ausmaßes nach sich ziehen: die Verwandlung Europas und der nordpolaren Gebiete in eine Sommerfrische, die Aufforstung der Wüsten und die Umwandlung des Meerwassers in ein limonadenähnliches Getränk namens »Zedernsäure«. Die Nähe der harmonisierten Menschheit werden Tiere suchen, die bislang noch zu scheu sind, sich nutzen zu lassen. Verschwinden werden hingegen »die Klapperschlange, die Bettwanze, die Millionen Insekten und Reptilien, die Seeungeheuer, Gifte, Pest, Tollwut, Lepra, Geschlechtskrankheiten, Gicht«. All diese Widrigkeiten waren nur Reflexe des Schmutzes, des Unrechts und der Gewalt, die unsere erbärmliche Gesellschaft, die sogenannte Zivilisation, in sich angesammelt hat. Sie verlieren in der Zukunft ihre Funktion. Korrigiert werden bei der Gelegenheit auch gewisse »Schnitzer Gottes« bei der Schöpfung, unbequeme Meerengen und verkehrsungünstige Gebirge. In Fouriers kunstvoll ausgeklügelter Ordnung ist jede menschliche Handlung grundsätzlich Ausdruck eines spontanen, individuellen Begehrens und damit immer schon produktiv, weil jedes Begehren zur Erschaffung des begehrten Objektes anstachelt. Sie ist zudem, weil jede individuelle Leidenschaft zur objektiven Ordnung des Begehrens gehört, gesellig, ein sozialer, beziehungsstiftender Akt. Darum neigen Menschen mit gleichen Neigungen dazu, sich zu Gruppen zusammenzuschließen. Schon die kleinen Kinder, nach Altersstufen geordnet, dürfen arbeiten. Kinder, die leidenschaftlich gern mit Dreck und Schlamm herummatschen, machen sich als Müllabfuhr-Brigade oder bei der Kanalreinigung nützlich. Solche, die früh eine Bastelleidenschaft entwickeln, dürfen in der Tischlerei helfen, Zäunchen, Gatter und Käfige fürs liebe Zuchtvieh zu zimmern. Jugendliche, die zu Grausamkeit und Gewalttätigkeit neigen, wird man nicht bestrafen, sondern in den Schlachthäusern und Metzgereien werkeln lassen. Jungs, die auf Abenteuer in freier Natur aus sind, wetteifern in Baubrigaden oder in der Forstwirtschaft. Eher feminine Jungen schließlich schneidern für die Damen oder arbeiten als Friseure. Leidenschaftliche Lust ist das Motiv und die Triebkraft der Arbeit, und höchste Wollust bringt der Genuss des Produzierten. Ungeheure Produktivkräfte werden so freigesetzt und nicht mehr sinnlos verschleudert. Die Gesellschaft kommt ohne Strafgesetz, ohne Verbote und Sanktionen aus. Es bedarf keiner moralischen Erziehungstyrannei, keines Klerus. Es gibt keine schädlichen Leidenschaften, nur falsch eingesetzte. Die Orgie hat für Fourier eine sozial-integrative Wirkung und fungiert als Institution im Sinne eines sexuellen Humanismus. Entsprechend wird sie sorgfältig durch ein »Ministerium« organisiert. Da der Mensch durch die Orgie
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in seinen Leidenschaften umfassend wahrgenommen und befriedigt wird, werden sich »die Sympathien häufen und gegenseitig steigern«. Fourier entwarf das freie Spiel der Leidenschaften im ökonomischen Überfluss nach dem Modell des Marktes. Mit dem Austausch als Organisationsprinzip erscheinen die Phalanstères wie eine Persiflage auf die Pariser Börse. Das räumliche Zentrum war eine große Halle, in der die Vergnügungen ausgehandelt werden, die Bankette geplant und die Festchoreographie abgestimmt werden sollten. Der ›Échange‹ bildete die Börse für den Austausch von Angebot und Nachfrage, auf eine Weise, dass sich für jede Besonderheit ein Partner fände. (104) Roland Barthes fand, die Wärme und Sicherheit, die permanente Aufgeregtheit dieses gigantischen Treibhauses hätte seine Einwohner stimuliert, endlos mit den Möglichkeiten sinnlichen und sexuellen Vergnügens zu experimentieren. Pierre Klossowski notierte, dass sich in dieser »Republik der Sinnlichkeit« das Wesen der Arbeit radikal verändere. Die Aufteilung in Arbeit und Freizeit wird aufgehoben, wie die Trennung zwischen industriell bestimmten Bedürfnissen und leidenschaftlichem Streben durchbrochen wird. Arbeit vollzieht sich in der Euphorie der Einbildungskraft. Jede Aktivität soll sich als ein rituelles Spiel organisieren, bei dem das Schauspiel der Tauschakte zwischen unterschiedlichen Neigungsgruppen das Gleichgewicht sichern muss. Wollust und Libido werden in die Sphäre des Systems der Bedürfnisse integriert, das nach Hegel die bürgerliche Gesellschaft ausmacht. (105) Pierre Joseph Proudhon sollte die Kehrseite solcher Konzepte thematisieren, indem er derartige Systeme als pornokratische Tyrannei anprangerte, die in der brutalen Expansion und Ausbeutung erotischer Vergnügen bestehe. (106) Seine Argumente kehren wieder in der Kritik von Neil Leach an der Verbindung von Architektur und Body-Politics, die er in Orten wie Las Vegas am Werk sieht. Er sieht in der Reduktion der Architektur auf das Design von Bildwelten eine Strategie der Abstumpfung der Sinne, die vor allem den Zweck habe, Bewusstlosigkeit gegenüber den tatsächlichen politischen Vorgängen und speziell den Politiken des Raumes zu erzeugen und zu verbreiten. Die oberflächliche Verführungsgewalt architektonischer Bildwelten, Schminke und Entblößung, gleißendes Licht, seien Ausfluss der Proudhon’schen Pornokratie, der symmetrischen Akkumulation von Kapital und Verlangen. Erotik vereinigt sich mit Architektur zur Ausbeutung des Arbeiters. Die Ökonomisierung der Körper geht einher mit einer Ausweitung auf das Imaginäre und mit einer Einbindung des Obszönen.
A 8. Die Gewohnheit, die Initiation in einen neuen Stand mit einem Schreckenserlebnis zu verknüpfen, konnte sich auf die Kulturtheorie Giambattista Vicos berufen. Und auch Nietzsche setzt Kultur und Gewalt in ein Ursprungs-Verhältnis zueinander. Denen, die vermöge architektonischer Formensprache neue Formen sozialen Verkehrs installieren wollten, hält er entgegen, dass die Prägung kollektiver Symbole kaum von der artifiziellen Setzung von Codes ausgehen könne, weil sie die Folge sprachlich nicht steuerbarer Konstitutionsprozesse sei und es sich nicht um Vereinbarungen nach der Art von Verträgen handle. Für Nietzsche standen am Anfang einer jeden Institutionalisierung nicht etwa der Zeichenstift oder die
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Schreibfeder oder die konventionelle Vereinbarung, sondern Macht und Gewalt. »Damit es Institutionen gibt, muß es eine Art Wille, Instinkt, Imperativ geben, antiliberal bis zur Bosheit: den Willen zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus, zur Solidarität von Geschlechterketten vorwärts und rückwärts.« (107) Damit eine Struktur Geltung haben kann, muss sie allerdings jenes Ungebärdige, Gewalthafte ihres Ursprungs im Laufe der Zeit verloren haben. In der Bewertung dieses Umstands ist Nietzsche nicht eindeutig. Einerseits preist er den Frieden, der durch die Verdünnung der Bedeutung möglich wird, andererseits beklagt er die Schwäche der Zivilisation als dekadente Spätzeit im Vergleich zu den kräftigen Urzeiten. Was für die Sprache die Konvention und die Klischees sind, die zur Erleichterung der Verständigung beitragen, das ist für Architektur die gefällige Schönheit. Das ursprünglich kräftige Bedeuten ist der Zivilisation zum Opfer gefallen. Unter der an Hugo erinnernden Überschrift »Der Stein ist heute mehr Stein als früher« heißt es da: »Wir verstehen im Allgemeinen Architektur nicht mehr, wenigstens lange nicht in der Weise, wie wir Musik verstehen. Wir sind aus der Symbolik der Linien und Figuren herausgewachsen, wie wir der Klangwirkung der Rhetorik entwöhnt sind, und haben diese Art von Muttermilch der Bildung nicht mehr vom ersten Augenblick unseres Lebens an eingesogen. An einem griechischen oder christlichen Gebäude bedeutete ursprünglich Alles Etwas, u.z. in Hinsicht auf eine höhere Ordnung der Dinge: diese Stimmung einer unausschöpflichen Bedeutsamkeit lag um das Gebäude gleich einem zauberhaften Schleier. Schönheit kam nur nebenbei in das System hinein, ohne die Grundempfindung des Unheimlich-Erhabenen, des durch Götternähe und Magie Geweihten, wesentlich zu beeinträchtigen; Schönheit milderte höchstens das Grauen, – aber dieses Grauen war überall die Voraussetzung. – Was ist uns jetzt die Schönheit eines Gebäudes? Das Selbe wie das schöne Gesicht einer geistlosen Frau: etwas Maskenhaftes.« (108)
Soziales Funktionieren basiert auf einem Verblassen eines ursprünglichen Bedeutens von Handlungsmustern. Nietzsches Institutionentheorie korrespondiert mit seiner Sprachtheorie. Im Gegensatz zu der gewohnten Weise der Sprachkritik, der zufolge zwischen der Bezeichnung und dem Gegenstand eine Eintrübung eingetreten oder eine Entfremdung stattgefunden habe, die es, wenn möglich, wieder zu beseitigen gelte, ist es bei Nietzsche nicht eine Verunreinigung der Sprache, was uns die Realität entfremdet, sondern das Wesen der Sprache selbst, und diese Entfremdung sei positiv zu bewerten. Verständigung begreift er als eine durch externe Nervenreize ausgelöste, nur »auf dem Rücken der Dinge« spielende Fiktion, deren Erfolg über die Institutionalisierung entscheidet, und deren Verfestigung die Verpflichtung auferlegt, »nach einer festen Konvention zu lügen«. Verständigung beruht auf eingespielten Fehlleistungen, die gerade deshalb zur Kommunikation taugen, weil sie nicht an die Realität erinnern, weil durch Abstraktion, Entfärbung, Abkühlung kaum noch Spuren der anthropomorphen und metaphorischen Ursprünge der Begriffsbil-
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dung vorhanden sind. Sprachliche Ausdrücke ermöglichen Kommunikation gerade durch ihre Entfernung von ihren Ursprüngen, in ihrer Bedeutungsentleerung. Wahrheit ist für Nietzsche »ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken […] Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.« (109) Allerdings lebt der Mensch nur unter dieser Voraussetzung, dass das ursprünglich Erlebte umgangssprachlich zur intersubjektiven Gültigkeit sprachlicher Konvention geronnen ist, einigermaßen sicher. Die Verhärtungen und Entleerungen der Symbole, ihre Lügenhaftigkeit sind der Kommunikation nicht im Wege, sondern werden vielmehr notwendige Voraussetzung für das menschliche Zusammenleben und zwischenmenschliche Verständigung, für soziale Institutionen, für innere Ruhe und äußere Sicherheit. Nietzsche konfrontiert die »Lüge« des individualitätsvergessenen Begriffs mit der individualisierenden Metapher: »Nur durch das Vergessen jener primitiven Metaphernwelt, nur durch das Hart- und Starrwerden einer ursprünglich, in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse, nur durch den unbesiegbaren Glauben, diese Sonne, dieses Fenster, dieser Tisch sei eine Wahrheit an sich, kurz nur dadurch, daß der Mensch sich als Subjekt, u.z. als künstlerisch schaffendes Subjekt, vergißt, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Konsequenz: wenn er einen Augenblick nur aus den Gefängniswänden dieses Glaubens herauskönnte, so wäre es sofort mit seinem ›Selbstbewußtsein‹ vorbei.« (110)
Nietzsches Metaphernapologie darf nicht romantisch gelesen werden. Jene Produktivität aktualisiert nicht ein verschüttetes Wissen, sondern ist Manifestation eines Triebes. »Jener Trieb zur Metaphernbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde, ist dadurch, daß aus seinen verflüchtigten Erzeugnissen, den Begriffen, eine reguläre und starre neue Welt als eine Zwingburg für ihn gebaut wird, in Wahrheit nicht bezwungen und kaum gebändigt. Er sucht sich ein neues Bereich seines Wirkens und ein anderes Flußbett und findet es im Mythus und überhaupt in der Kunst. Fortwährend verwirrt er die Rubriken und Zellen der Begriffe dadurch, daß er neue Übertragungen, Metaphern, Metonymien hinstellt, fortwährend zeigt er die Begierde, die vorhandene Welt des wachen Menschen so bunt unregelmäßig, folgenlos unzusammenhängend, reizvoll und ewig neu zu gestalten, wie es die Welt des Traumes ist.« (111)
Wir leben zwar in einer Welt, die uns allein in einer Vielzahl von Perspektiven, lebensdienlichen Fälschungen und interessegeleiteten Interpretationen gegeben ist, und menschliches Leben ist darauf angewiesen, seine Deutungen der Wirklichkeit um der Sicherheit der Orientierung willen zu stabilisieren, ein Grundzug des Menschen ist jedoch zugleich, Künstler zu sein. Kunst aber wendet sich gegen die Versteinerung beweglicher Perspektiven in vermeintlich unzerstörbaren Wahrheiten. Sie löst Distanzierungsprozesse aus, dosierte Kontingenzerfahrungen, denen
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die Einsicht in das Scheinhafte des als Realität Erlebten entspringen kann. Kunst ist, mit Goethe gesprochen »tätige Skepsis«, welche vor dem Scheincharakter des Wirklichen nicht resigniert, sondern neue, nicht endgültige Sinnperspektiven aufreißt.
A 9. Die körperlich-kinetischen und räumlichen Vorbedingungen unseres Selbstbewusstseins und unserer Wahrnehmung und Welterfassung sind in soziologischer Theoriebildung merkwürdig unterbelichtet, wenn man von vereinzelten, marginalisierten Ansätzen und Theoriefragmenten absieht. Dass sich die Soziologie seit Beginn ihres Bestehens mit dem Raum und der körperlichen Natur des Menschen schwertut, liegt vor allem daran, dass sie ihr Entstehen der bürgerlichen Emanzipation verdankt, die auch eine Emanzipation vom Raum war insofern, als der Mensch in der feudal verfassten Gesellschaft Eigentum desjenigen war, dem der Boden gehörte, auf dem er lebte. Das bürgerliche Individuum ist dasjenige, das sich von der Versklavung durch den Grundeigentümer und der molluskenhaften Existenz der auf Agrarwirtschaft basierenden Feudalgesellschaft befreit hat. Die bürgerlichen Errungenschaften sind sämtlich raumunabhängig. Welche Macht der Raum nach wie vor auf das Individuum und das soziale Leben ausübt und welche Rolle er für die Vergesellschaftung und das soziale Leben spielt, muss der Soziologie weitgehend entgehen. Der Raum ist die »hidden dimension« (Edward T. Hall) nicht nur sozialwissenschaftlichen Denkens, sondern des Denkens überhaupt. Vereinzelte raumsoziologische Ansätze, dieses Manko zu beheben, haben an diesem Befund kaum etwas ändern können. Der Raum bildet so etwas wie den blinden Fleck der Soziologie und der Moderne generell. (112) In den klassischen Konzeptionen der Soziologie kann man den Rückzug des Raumes noch verfolgen. Emile Durkheim zufolge greift ein Abstraktionsprozess platz, dem die räumliche Anschaulichkeit des sozialen Lebens zum Opfer fällt, mit der eine Verringerung der affektiven Besetzung des Raums einhergeht. Für Georg Simmel entfalten die entwickelte Geldwirtschaft und das steigende Tempo von Verwertungsprozessen ebenfalls raumeliminierende Wirkung. Die raumlose Gesellschaft ist nach dem Modell des Geldes gebildet. »Das Geld steht vermöge der Abstraktheit seiner Form jenseits aller bestimmten Beziehungen zum Raum: Es kann seine Wirkungen in die weitesten Fernen erstrecken, […] aber es gestattet auch umgekehrt, die größte Wertsumme in die kleinste Form zusammenzudrängen.« (113) Lévi-Strauss sollte im Anschluss an Durkheim zwar den »marche vers l’abstraction« als die Knochenkrankheit der westlichen modernen Zivilisationen beklagen, abgesehen von seinem Beitrag reflektiert die Soziologie nach Durkheim das Zurückweichen der Raumdimension des sozialen Handelns allerdings nur als Bedingung ihrer eigenen Entstehung und Geltung. Das Zugeständnis eines Einflusses des Raumes auf soziales Verhalten gehört der Vergangenheit feudalen Rechts an, demzufolge derjenige, der den Grund und Boden besitzt, auf dem jemand lebt und arbeitet, auch Eigentümer jenes Menschen ist. Soziologie setzt das Ende räumlich begründeter Herrschaft voraus. In fortbestehenden Formen der Raumbezogenheit drücken sich folglich überholte Vergesellschaftungsweisen aus, fetischisierte Reste
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des obsolet Gewordenen. Lokale Bindungen und emotionale Bezüge zu Objekten geraten zum bloßen fetischhaften Ersatz für Freiheit und soziale Interaktion. Was diesem Paradigma oder Apriori zuwiderläuft, ist für die Soziologie nicht sichtbar. Als Agens der Raumauflösung hatte Marx das Kapital ausgemacht. Schon Adam Smith hatte festgestellt, wie Karl Marx referiert, »daß die Agrarkultur in ökonomischer Hinsicht, also der einzig berechtigten, von keiner anderen Industrie verschieden sei, also nicht eine bestimmte Arbeit, eine an ein besonderes Element gebundene, eine besondere Arbeitsveräußerung, sondern die Arbeit überhaupt das Wesen des Reichtums sei«. »Aller Reichtum ist zum industriellen Reichtum, zum Reichtum der Arbeit geworden, und die Industrie ist die vollendete Arbeit, wie das Fabrikwesen das ausgebildete Wesen der Industrie, d.h. der Arbeit ist und das industrielle Kapital die vollendete objektive Gestalt des Privateigentums ist«. (114) In den dem Kapitalismus vorangegangenen Produktionsverhältnisses waren Arbeitskräfte und Produktionsmittel Eigentum desjenigen, der die Macht über den Boden besaß. Das Kapital dagegen treibt zur Unabhängigkeit von Boden und Raum. Das Kapital produziert eine »Gesellschaftsstufe, gegen die alle früheren nur als lokale Entwicklungen der Menschheit und als Naturidolatrie erscheinen«. (115) Das Kapital, anfangs im Grundeigentum gefangen, drängt über jede natürliche und räumliche Schranke hinaus. Die Erde, bis hin zur Epoche der Physiokratie noch als Naturdasein anerkannt, dem auch Arbeit und Produktivität angehören, wird zum Resultat der Arbeit selbst. An die Stelle der Abhängigkeit vom »physical setting« tritt die Abhängigkeit von dem das Wachstum ermöglichenden technischen Eingriff und von der Spekulation auf Profit. Erst wenn die »gemütliche Seite der feudalen Eigentumsverhältnisse verloren, die Herrschaft des Privateigentums von aller »politischen Tinktur« gereinigt ist, kann das Grundeigentum zur Ware werden und sich die »Herrschaft der totgeschlagenen Materie über den Menschen« vollenden. Erst wenn die hierin liegende wechselseitige Abhängigkeit aller rein herausgearbeitet ist, kann überhaupt an wirklich soziale Gemeinschaftlichkeit gedacht werden, wie Marx gegenüber den voreiligen Frühsozialisten kritisch anmerkt. Die Physiokraten verkannten in den Augen von Marx ihre eigene objektive Leistung, indem sie versuchten, die Grundrente zu einer natürlichen Ressource zu verklären, gegen deren Wesen und Moral das Geldkapital als dekadente Abart verstoße, indem ihm die Sphäre, in der es sich vermehren will, gleichgültig ist. Während die Physiokraten das Heil in einer Stillstellung der kapitalistischen Dynamik suchten, fordert Marx die ungehinderte Entfesselung des Kapitals, weil erst sie die Möglichkeit einer Befreiung der ganzen Menschheit biete, nicht nur einer landbesitzenden und auf Sklaven angewiesenen Elite. Der Vorgang des Übergangs von Gesellschaften, in denen sich die Menschen zum Reichtum der Natur passiv-empfangend verhielten, zu solchen, in denen das Moment des subjektiven Eingriffs überwiegt, reflektiert sich im Begriff »Infrastruktur«. Deren Werkzeuge »entorganisieren« sich, und die Erde wird vom Paradies zum Laboratorium. Unter Infrastruktur versteht man nun »alle gegenständlichen Bedingungen, die erheischt sind, damit der Prozeß stattfinde. Sie gehen nicht direkt in ihn ein, aber er kann ohne sie gar nicht oder nur sehr unvollkommen vorgehen […] Arbeitsgebäude, Kanäle, Straßen usw. […] allgemeine Bedingungen für die Produktionsprozesse wie Baulichkeiten, Eisenbahnen etc.« alles, was relevant ist zur Verringerung der Zirkulationszeit, das gesamte »städtische Ensemble«. (116)
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Unter dem Zugriff des Kapitals verwandelt sich der Raum von einer Sphäre eigener gesellschaftlicher Qualität in eine bloße Randbedingung, einen der Zeit untergeordneten Faktor, eine Größe, deren Präsenz in Gestalt von Reibungsverlusten es zu minimieren gilt. Wo Architektur und Stadtplanung sich als Infrastruktur verfügbar machen sollen, müssen sie emotionalen Raumqualitäten gegenüber gleichgültig sein und gereinigt von allen Friktionen erzeugenden Umständlichkeiten. Manfredo Tafuri kam als Marxist nicht umhin, dieses Diktum anzuerkennen, obwohl er der Architektur eine genuin physiokratische Natur zuschrieb. Auch im entwickelten Kapitalismus sei es unabdingbar, die Architektur über die reine Zirkulations-Bedingung hinaus eine symbolische Rolle spielen zu lassen, als notwendiges Korrektiv zum abstrahierenden und raumnegierenden Kapitalismus. (117) Er stellte dem abstrakten New York das physiokratisch-palladianische Washington gegenüber. In der Tradition des Kommunitarismus forderte man die Etablierung oder Beibehaltung einer mittleren Integrationsebene in Form von zunftähnlichen Kooperationen, Interessengruppen oder vereinsartigen Zusammenschlüssen, zahlenmäßig begrenzten und zweckgebundenen Kollektiven, wie sie auch in Genossenschaften gegeben sind. Der Streit zwischen den Anhängern des Individualismus und der freien Marktwirtschaft und den Verteidigern inhaltlich definierter kleiner sozialer Verbände, dauert bis heute fort. Die Frage ist nicht nur die nach einer der möglichen Instrumente gegen das Aufreißen der Schere zwischen arm und reich, sondern auch die danach, wie man das Individuum in der modernen ausdifferenzierten Gesellschaft dazu motivieren kann, Bürgersinn zu entwickeln und sich nicht ohnmächtig und überflüssig, als bloßes Rädchen einer Maschine zu fühlen. Rousseau hatte in diesem kommunitarischen Sinne dem Negativbild der Metropole positiv die kleine Stadt gegenübergestellt, wie der Maskerade die Nacktheit, der Schrift die gesprochene Sprache, dem Theater das Volksfest. Sein Ideal ist eine Gemeinschaft von Nachbarn, die einander von Angesicht kennen und die sich mit dem gesprochenen Wort über alle gemeinsamen Belange vernünftig und ohne Vernachlässigung der Gefühle verständigen können, ohne dass ein Medium wie die Schrift dazwischentreten müsste. (118) Landauer, Kropotkin, Proudhon, Vertreter der Räterepublik hatten aus sozialpolitischen Gründen aus ihrer Perspektive in das Rousseau’sche Lob der kleinen Stadt eingestimmt. Auch Emile Durkheim redete angesichts der Erosion der sozialen Integrationsmedien Familie, Zunftwesen und Kirche und der Gefahr drohender Anomie der mittleren Ebene der Vereine und Verbände das Wort. Auch er propagierte die Förderung kleiner Gemeinschaften, die zwischen dem Staat und dem Einzelnen neben der Familie eine Vermittlerrolle spielen und die auch eine pädagogische Funktion wahrnehmen können, wenn es darum geht, soziale Tugenden einzuüben. Vereint durch ein gemeinsames Ziel, lernen unterschiedliche Menschen Unterschiede wahrzunehmen, den eigenen Standort zu erklären und Toleranz zu üben. Indem sich diese kleinen Gemeinschaften selbständig Ziele setzen, lernten ihre Mitglieder, Verantwortung zu übernehmen und Konflikte durch Kompromisse zu bewältigen. Mit ihrer Tätigkeit gestalten sie zudem ihre Umwelt mit. Der Staat, so die einhellige Meinung aller Gruppierungen, die in anderen Dingen höchst sonst unterschiedlicher Meinung sein mochten, die das Lob der kleinen Stadt anstimmten, lebt von Bedingungen, die er selbst nicht hervorzubringen ver-
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mag. Diese Bedingungen zu schaffen, bedürfe es eben solcher kleinen Zweckgemeinschaften. (119) Helmuth James Graf Moltke entwarf auf dem Höhepunkt nationalsozialistischer Machtentfaltung 1939 in einem Memorandum über »Die kleinen Gemeinschaften« das Modell einer freien Zivilgesellschaft, einer pluralistischen Ordnung, die Unterschiede nicht gleichschaltet, sondern ihnen in einer Fülle von Zweckverbänden Gestalt verleiht. Er blieb jedoch mit seinem Engagement isoliert, während der Doktrin der Nationalsozialisten jedwede kommunitaristische Mittelebene des Kommunismus verdächtig war und selbst das entwickelte Genossenschaftswesen ausgerottet wurde. Die Nationalsozialisten zerschlugen die als Nachbarschaften, Produktions-, Konsum- und Wohngenossenschaften und Genossenschaftsbanken bereits etablierten und bewährten Initiativen, von unten zum sozialen Frieden und zur Domestizierung der kapitalistischen Wirtschaft beizutragen, um die jeweiligen Lebensbereiche ähnlich den Berufsverbänden »gleichzuschalten« und besser manipulieren zu können. Diese Vorkehrung kann als Bestätigung der Behauptung verstanden werden, dass solche Kooperationen als Bollwerk gegen antidemokratische Tendenzen wirken können. Selbst der Familienverband wurde durch Mädchenbund und Ertüchtigungsinternate gesprengt zugunsten der zentralistischen Organisation der Einzelnen schon in der Jugend. Das NS-Regime und der Faschismus waren bemüht, gerade die Aspekte der Modernisierung zu forcieren, die in den Augen der Soziologen die Gefahr der Anomie und der Atomisierung bargen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann diese Problematik eine neue Aktualität, als sich die Alliierten fragen mussten, wie sich in Deutschland die Grundbedingungen für eine entnazifizierte, demokratische Gesinnung herstellen ließen, wie sich also ein womöglich langwieriger Zivilisationsprozess durch geeignete Eingriffe beschleunigen ließe. Auch Architektur und Stadtplanung wurden in diesem Licht möglicher Zivilisierung betrachtet und nach ihrem möglichen Beitrag hierzu befragt. Etwa die Großstadtplanungen für Berlin, die Hans Scharoun unmittelbar nach Kriegsende in Berlin entwickeln und ausstellen durfte, lassen diesen ethischen und politischen Aspekt von Stadtplanung und Architektur hervortreten. Dass die im Auftrag der russischen Kommandantur entstanden Pläne bis auf einen Nukleus im Hansaviertel nicht zur Ausführung gekommen sind, ist darauf zurückzuführen, dass sich die Auffassungen von Städtebau auf sowjetrussischer Seite in den Folgejahren radikal änderten in Richtung Zuckerbäckerstil und KarlMarx-Allee-Pomp und die Bedingungen für ein flächendeckendes Ignorieren der Kataster nicht gegeben waren. Die Verwandlung der steinernen Wüste der Großstadt in eine Landschaft galt ebenso wie das Gartenstadtmodell als ideologisch unverdächtig, aber nicht praktikabel. (120) Die deutsche Nachkriegszeit war ein Experimentierfeld für die Erforschung des Verhältnisses von Mentalität und Kulturpolitik in vielen Bereichen. Für den Bereich Film hat Siegfried Kracauer einen bedeutenden Beitrag zur Archivierung geleistet. Er tat das aufgrund der »Durchschnittsware«, der er Abend für Abend ausgesetzt war, um als Filmkritiker in der Zeitung darüber zu berichten, über den »Dreck«, wie er das selber nannte. Seine Filmanalysen wurden das Anschauungsmaterial, aus dessen Kenntnis er seine Thesen über die ideologischen Zusammenhänge von Prädisposition des Publikums und Determination durch die Kulturindustrie entwickeln sollte. Seine Arbeiten »From Caligari to Hitler« wie auch die Analyse der
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nationalsozialistischen Wochenschau, »Eroberung Europas auf der Leinwand«, hatten den inneren Zusammenhang von Ideologie und der mentalen Veranlagung einer Bevölkerung zum Gegenstand. Die von der »experimentellen Abteilung zur Erforschung der Kommunikation in Kriegszeiten« erteilten Forschungsaufträge standen mit ihrer kommunikationswissenschaftlichen Ausrichtung im Dienst der Abwehr und wohl auch der Anwendung psychologischer Kriegsführung. Mit Architektur hat man sich nicht so viel Mühe gemacht. Die Konkordanz von Modernismus und Demokratie stand fest und wurde nicht in Frage gestellt, ebenso wie die zwischen abstrakter Malerei und unverdächtiger Gesinnung. Freilich beruhte die fraglose Geltung dieser Annahmen auf vielen Missverständnissen und ging lange auf Kosten der figürlichen Malerei und des Bauens in geschlossenen Formen. Die ›Dokumenta‹ in Kassel war eines der Propagandamedien. Einen exemplarischen Fall für die Verwandlung eines Landes in ein kulturpolitisches Labor und Experimentierfeld bildete das sowjetische Russland der 30er Jahre. Die revolutionäre Kreativitätsstimmung war von der stalinistischen Paranoia erstickt worden, die Bindungskräfte der Gesellschaft waren reduziert auf den Faktor Angst, so dass sich niemand irgendeinem anderen Menschen anvertrauen konnte. Wenn man sich angesichts dessen fragt, wie eine solche Gesellschaft überhaupt funktionieren konnte, dann müsse man feststellen, so Barberowski, dass man von Funktion und Gesellschaft gar nicht reden konnte. Gesellschaft wäre nicht der zutreffende Begriff für diese Art der Agglomeration. Eher sollte man mit Hannah Arendt von Atomisierung sprechen. Jeder wusste selbst, was er zu tun hatte. Jeder kannte den Text, den er aufzusagen hatte. Er schildert zur Illustration eine Szene: In einer Ortsversammlung wird eine Note von Stalin verlesen, alle klatschen, und jeder weiß, wer als erster zu klatschen aufhört, der ist dran. Schließlich kann einer nicht mehr, steht auf und wird abgeholt. (121) Vereinzelung kann auch durch Architektur erzwungen werden. Wenn die Räume zwischen den Zeilenbauten zu weit sind und der Weg zum nächsten Supermarkt so weit, dass man zum Einkaufen das Auto braucht, dann hat die urbane Konzeption einen ähnlichen Effekt wie der stalinistische Säuberungsterror. Ein Gradmesser für Fehlentwicklung ist, wenn die Vereinzelung so weit fortgeschritten ist oder ihr so wenig entgegengesetzt wird, dass Gewalt allgemein hingenommen wird. Žižek notierte zu Barberowski: Wenn die Hälfte aufgestanden wäre, hätte die andere Hälfte nicht die Möglichkeit gehabt, über die andere herzufallen. Weil es immer ein Einzelner war, der vorgeführt wurde, konnten die anderen über ihn herfallen. Sie wussten dann, dass sie auf der richtigen Seite waren. So existierte eine Vorstellung von Normalität und Sozietät, obwohl alles vom reinen Gutdünken Stalins abhing. »Man kann die Gewalt nicht von ihrem Anfang her verstehen, sondern nur in ihrer aktuellen Dynamik. Denn Gewalt verändert Menschen, sie stellt die Welt auf den Kopf und zerstört das Vertrauen, das man braucht, um mit anderen in einer Gesellschaft zu leben.« Dass dem als Einzelnen Verhafteten immer eine Mehrheit von Nicht-Verhafteten gegenübersteht, garantierte die Akzeptanz der Gewalt. Nicht anders verhält es sich mit der Kriminalität in manchen sogenannten Schwellenländern. Beispielsweise kann sich der Einzelne in Brasilien selbst in einer dichten Menschenmenge nie sicher fühlen, weil er weiß, dass ihm im Falle eines Raubüberfalls niemand zu
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Hilfe kommen wird, sondern sich alle abwenden werden, als hätten sie nichts bemerkt. Es ist nicht nur die Armut und die extreme Ungleichheit, was Kriminalität erzeugt, sondern auch die Vereinzelung, die zum Akzeptieren von Gewalt führt.
A 10. Wenn Soziologie um den Raum und die Architektur einen Bogen macht, dann bleibt sie hinter dem zurück, was in der phänomenologisch orientierten Philosophie und von der philosophischen Anthropologie diesbezüglich thematisiert worden ist. Architektur wird erlebt und erfahren als etwas durch die Bewegungen des eigenen Körpers Vermitteltes. Indem wir uns durch Räume hindurchbewegen, nehmen wir deren Qualitäten wahr, wobei wir die Art und Weise, wie wir uns selbst dabei fühlen, der gegenständlichen Umwelt als Eigenschaften zuschreiben, nicht nur der gegenständlich greif baren Umwelt, sondern auch dem ungreif baren Dazwischen, in Form von Stimmungen und Atmosphären. Eine Begegnung mag uns in einer Umgebung, die wir physisch unterschwellig als wohltuend empfinden, so dass wir von ihr absehen können, angenehmer erscheinen, als dies möglich wäre in einer Umgebung, die sich ihrer Defizite wegen aufdrängte. Wenn ein Weg uns zu lang vorkommt, kommt uns seine Qualität erst vor Augen, erscheint uns die Gestaltung der Bebauung langweilig und monoton und sind wir anderen Menschen gegenüber vielleicht aggressiv eingestellt. Denn wenn wir uns langweilen, werden wir ungewollt auch unserer eigenen Körperlichkeit bewusst. Der Blick ist mit dem ›Leib‹ verknüpft, und beide sind Wesenselemente der Lebenswelt und somit Teil dessen, was sich normalerweise unserer besonderen Aufmerksamkeit entzieht. Husserl definierte die Lebenswelt als »Universum vorgegebener Selbstverständlichkeiten«. »Selbstverständlich« ist bei ihm jedoch nicht, wie man denken könnte, ein positiver Wert im Sinne der Geborgenheit des Daseins im Festen und Unfragwürdigen. Das Selbstverständliche ist der Gegenbegriff zu jener »Selbstverständigung«, die für Husserl die eigentliche Aufgabe einer phänomenologischen Philosophie zu sein hätte. Doch sie bezeichnet das, was Architektur uns schenkt: »Es ist ja nicht nur das Wesen des Selbstverständlichen, daß ihm irgendein Unverstandensein gar nicht zugetraut wird, sondern darüberhinaus, dass es eine schützende Sanktion darstellt, die alle in diesen Bezirk eindringenden Fragen als Vorwitz und Neugierde desavouiert. Von dieser Art ist die Lebenswelt […] als der zu jeder Zeit unerschöpfliche Vorrat des fraglos Vorhandenen, Vertrauten und gerade in diesem Vertrautsein Unbekannten. Alles, was in der Lebenswelt wirklich ist, spielt in das Leben hinein, wird genutzt und verbraucht, gesucht und geflohen, aber es bleibt in seiner Kontingenz verdeckt, d.h. nicht als auch-anders-sein-könnend empfunden.« (122)
Wenn wir von der Vermitteltheit des Erlebens von Architektur durch den eigenen Körper sprechen, ist die Frage, was wir mit dem Körper meinen, da dieser uns zwar einerseits unmittelbar gegeben ist, andererseits wir aber kognitiven Zugang zu seinem Einfluss auf unser Erleben nur nach Maßgabe unterschiedlicher, miteinander konkurrierender Theorien haben, die den Körper konstituieren. Es handelt sich um einen bestimmten Körper, wenn wir ihn mit den begrifflichen Mitteln Spino-
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zas verstehen, und um einen anderen, wenn wir ihn mit dem Instrumentarium Merleau-Pontys ansehen. Es handelt sich bei solchen Unterschieden nicht nur um unterschiedliche Betrachtungsweisen derselben Sache, wobei jeweils andere Merkmale in den Vordergrund rücken, sondern die Unterschiedlichkeit betrifft bereits das Verhältnis von Körperlichkeit und Denken. Bei Husserl stellt der Leib so etwas wie den Nullpunkt des Denkens dar, das zur Ruhe gekommene Denken, die Entlastung von Reflexion oder der Ausgangspunkt vor jeglicher Veranlassung zur Reflexion. (123) Bei Spinoza sind körperliche Tätigkeiten und Empfindungen ebenso wie das Denken eingebunden in eine umfassende Affekttheorie, der zufolge es nur positive und negative Affekte gibt. Die beiden Kategorien ›Leib‹ und ›Blick‹ finden wir an zentraler Stelle bei Nietzsche. Der Körper bei Nietzsche ist nicht etwas, welches das an sich reine Denken verunreinigen kann, so dass man ihn aus dem Denkgeschäft möglichst heraushalten sollte. Unter dem Namen ›Leib‹ bildet er vielmehr den zuverlässigsten Leitfaden des Denkens. Nietzsche stellt den eigenen Leib ins Zentrum seines Philosophierens. Der Mensch geht sich selbst voraus und muss sich doch erst selbst entwerfen. Die Selbsterschaffung des Menschen ist nicht dem Bewusstsein vorbehalten, sondern ist von einer Hermeneutik des Leibes im Sinne eines Auslegungsgeschehens innerer Triebvorgänge bedingt. Diese »leibhaftige« Kunst der Interpretation ist es, welche die Selbstschöpfung des Menschen begründet. Der Leib ist bei Nietzsche nicht bloßer Gegensatz zum Bewusstsein. Er postuliert nicht wie Sartre ein leibgebundenes Nichts, dem ein Werden im Freiheitsakt des Selbstentwurfs folgt. Er schreibt dem Leib ein schöpferisches Potenzial zu, das ihn empfehlen lässt, »am Leitfaden des Leibes« zu philosophieren. Dies ist freilich ein auf vielfache Weise missverstehbares Programm. In der vitalistischen, lebensphilosophischen Denktradition ist der Leib Inbegriff des Vernachlässigten, Verdrängten, und gerade darin hält er zentrale Erkenntnisse bereit, die nicht zu verachten seien. Eine der Reden Zarathustras wendet sich gegen die »Verächter des Leibes«: »Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit. Und wer weiß denn, wozu dein Leib gerade deine beste Wahrheit nötig hat.« Für Nietzsche ist der Schmerz das heuristische Mittel, die reflexionsfeindliche Oberfläche zu durchstoßen, die sich immer wieder über dem Schicksal der abendländischen Kultur schließt, die von der leidensscheuen Ratio geprägt ist, denn der »schreckliche Grundtext« der menschlichen Natur sei das Leiden am Leben. Dieses Leiden aber, weil man es am eigenen Leib erfährt, ist im Leib präsent und macht diesen zum wie immer auch vermittelten Erkenntnismedium. Der Geist ist nur dessen jüngstes, dabei »ärmlichstes und fehlgreifendstes Organ«, dem der Leib im Interesse seiner Instinkt-Sicherheit und Reaktionsgeschwindigkeit nur eine sehr begrenzte Auswahl bereits vereinfachter Erlebnisse zur Weiterverarbeitung vorlegt. Denen, die an den reinen Geist glauben, lässt Nietzsche seinen Zarathustra antworten: »Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Herde und ein Hirt. ›Ich‹ sagst du und bist stolz auf dieses Wort. Aber das Größere ist, woran du nicht glauben willst – dein Leib und seine große Vernunft: die sagt nicht Ich, aber tut Ich. Werk- und Spielzeug sind Sinn und Geist: hinter ihnen liegt noch das Selbst. Das Selbst sucht auch mit den Augen der Sinne, es horcht mit den Ohren des Geistes.« (124)
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Nietzsche nimmt an einer Stelle auf jene archaischen Praktiken, die in der Tätowierungsmode fortleben, Bezug als Vorbild aller Mnemotechnik des Menschen, dessen Instinkt bereits in dunkler Vorzeit »den Schmerz als stärkste Hilfe für die Erinnerung ahnte«: »Wie macht man dem Menschen-Thiere ein Gedächtnis? Wie prägt man diesem teils stumpfen, teils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaftigen Vergeßlichkeit Etwas so ein, dass es gegenwärtig bleibt? […] Dieses uralte Problem ist, wie man sich denken kann, nicht gerade mit zarten Antworten und Mitteln gelöst worden; vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik. Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis.« (125)
In der Geschichte der Nietzsche-Rezeption war der Leib auch in den Kontext einer Veredelung des Schmerzes als eine jener großen Herausforderungen geraten, an denen sich erweise, was der Mensch sei und tauge. Ernst Jünger reflektierte in seiner Abhandlung »Über den Schmerz« von 1934 das Ende der aufklärerischen Utopie der Schmerzlosigkeit und die wachsende Bereitschaft, Schmerz nicht nur zu dulden, sondern auch zuzufügen. Er diagnostizierte, dass die aufklärerische Auffassung, der Schmerz sei ein Vorurteil, das durch die Vernunft besiegt werden könne, seine Glaubwürdigkeit verloren habe. Man zog und zieht daraus leicht den voreiligen Schluss, dass die Aufklärung diskreditiert sei, weil sie der Herausforderung durch den Schmerz ausgewichen sei. Jüngers vergleichbare Wahrnehmungen haben ihre Gültigkeit in gewisser Hinsicht bis heute behalten, führen sie doch beispielsweise zu Fragen wie dieser: »Wie kommt es, daß in einer Zeit, in der um den Kopf eines Mörders mit dem vollen Aufgebot entgegengesetzter Weltanschauungen gestritten wird, in Bezug auf die unzähligen Opfer der Technik, und insbesondere der Verkehrstechnik, eine Verschiedenheit der Stellungnahme überhaupt nicht vorhanden ist? […] Wir sehen auch den Einzelnen immer deutlicher in einen Zustand geraten, in dem er ohne Bedenken geopfert werden kann.« (126)
Will man systematisch auf Nietzsches Konzeption des Leibes Bezug nehmen, muss man freilich weiter ausholen. Man erklärt uns, so Deleuze, dass ein denkender Mensch das Wahre liebe und Wahrhaftigkeit wolle, dass das Denken selbst das Wahre in sich berge. Um wahrheitsgemäß zu denken, sei es folglich ausreichend, richtig zu denken. Es gibt demnach eine Natur des Denkens, und es gibt den universellen gesunden Menschenverstand. Wenn wir vom Denken abgekommen sind, einem Irrtum verfallen, nehmen wir etwas Falsches für das Wahre. Der Irrtum kann nur von außen durch eine Verunreinigung des Denkens kommen, als Effekt äußerlicher, sich dem Denken entgegenstellender Kräfte. Man erklärt ferner, um richtig und wahr zu denken, brauche man eine Methode. Mit der richtigen Methode verschmelzen wir mit der dem Denken immanenten Wahrheit. Mit ihrer Hilfe können wir den Effekt fremder Kräfte ausschalten, die auf das Denken einwirken, es stören und ablenken. Deleuze wundert sich mit Nietzsche darüber, dass man nicht nach den Kräften fragt, die das Denken selbst ausmachen, die das Denken als Denken voraussetzt. »Stets haben wir immer nur die Wahrheiten, die wir […] tatsächlich auch verdie-
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nen.« Für Nietzsche ist das Wahre kein Element des Denkens. Nicht das Wahre und das Falsche sind dessen Kategorien, sondern das Vornehme und das Gemeine, das Hohe und das Niedrige, entsprechend den Kräften, die das Denken determinieren und sich seiner bemächtigen. Es gibt Wahrheiten der Niedrigkeit, und umgekehrt haben höchste Gedanken Teil am Falschen. Auch lässt sich aus dem Falschen eine künstlerische Macht erstellen, die ihre Wahrheit, ihr Wahr-Werden im Kunstwerk findet. (127) Die Dummheit macht eine Struktur des Denkens schlechthin aus, sie ist keine Art, sich zu täuschen. Man kennt Gedanken und Reden, die gänzlich aus Wahrheiten bestehen, aber sie können Erzeugnisse einer niedrigen, platten, einfältigen Seele sein. Nietzsche fragt unaufhörlich, wie viel Niedrigkeit dazu gehört, dieses oder jenes denken zu können. Die eigentliche Aufgabe und Leistung der Philosophie bestehe darin, der Dummheit Schaden zuzufügen, aus dieser etwas zu machen, dessen es sich zu schämen gilt. Es gelte, die Niedrigkeit des Denkens bloßzustellen. Für Nietzsche ist Denken niemals nur das Vollziehen eines natürlichen Vermögens. Das Denken denkt nicht allein und durch sich. Es wird auch nicht durch ihm äußerlich bleibende Kräfte gestört. Denken selbst hängt ab von Kräften, die sich seiner bemächtigen. Das liegt für Nietzsche daran, dass unser Denken von reaktiven Kräften besetzt ist, dass es seinen Sinn in reaktiven Kräften findet. Wem es gut geht, wer die Macht besitzt, hat keine Veranlassung, über sich und die Lage nachzudenken. Denken entsteht erst aus dem Gefühl des Zurückgesetztseins oder der Erfahrung des Unterlegenseins gegenüber einem anderen, als Reaktion auf die Niederlage, weshalb es sich als Ressentiment gebärdet und diese Eigenschaft zu reflektieren hätte. Die Fiktionen, dank deren die reaktiven Kräfte die Oberhand gewinnen, lassen dieses Reflektieren inaktiv bleiben. So konnte Heidegger verkünden, dass wir noch nicht denken. Wir warten auf die Kräfte, die das Denken zu etwas Aktivem, zur Bejahung machen. Das Denken ist eine Macht, es muss jedoch erst noch zu dieser Macht erhoben werden, damit es das Bejahende, Tanzende werde, von dem Nietzsche spricht. Ebenso wie gewisse Kräfte das Denken inaktiv und reaktiv werden lassen, müssen andere Kräfte es aktiv und bejahend werden lassen, indem sie sich des Denkens bemächtigen. Solche Überlegungen lassen sich mit »lebensphilosophischen« Reformbewegungen verbinden, die auf Architektur Einfluss hatten, namentlich auf ihre expressionistischen Formvarianten. »Das Bewusstsein an die notwendige Bescheidenheit erinnern heißt, es für das zu nehmen, was es ist: ein Symptom, nichts als das Symptom einer sehr viel tiefer greifenden Transformation und der Tätigkeit von Kräften einer gänzlich anderen denn geistigen Ordnung.« (128) »Es handelt sich vielleicht bei der ganzen Entwicklung des Geistes um den Leib.« (129) Bei Nietzsche werden Leib und Bewusstsein in Bezug auf Machtverhältnisse verstanden. »Das Bewußtsein ist stets Bewusstsein eines Unterlegenen gegenüber einem Überlegenen, dem es sich unterordnet oder den es sich ›einverleibt‹. Bewußtsein ist niemals Selbstbewußtsein, sondern Bewußtsein eines Ich in Beziehung auf ein Selbst, das nicht selbstbewusst ist. Es ist nicht Bewußtsein des Herrn, sondern Bewußtsein des Sklaven in Bezug auf einen Herrn, der sich seiner nicht bewusst zu sein braucht. Das Bewusstsein erscheint gewöhnlich erst, wenn das Ganze sich wieder einem höheren Ganzen unterordnen will… Das
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Architektur und Geistesgeschichte Bewusstsein entsteht in Bezug auf ein Wesen, dem wir Funktion sein könnten […] Das Bewußtsein bezeugt nur, dass ein höherer Leib sich bildet.« (130)
Die überlegenen Kräfte sind aktive, die beherrschten sind reaktive Kräfte. Man verkennt leicht den Vorrang, den die aktiven Kräfte haben, auf deren Wirkung hin erst die Anpassung als Reaktion erfolgt. Jene höheren Kräfte entgleiten ihrer Natur gemäß dem Bewusstsein. Das Bewusstsein ist selber wesentlich reaktiv. »Es ist nicht zu vermeiden, dass das Bewusstsein den Organismus von seinem Blickwinkel aus betrachtet und auf seine, d.h. auf reaktive Weise versteht.« (131) Der Organismus wird stets von seiner schwachen Seite aus gesehen, aus der seiner Reaktionen. Das wahre Problem besteht in der Aufdeckung der aktiven Kräfte, ohne welche die Reaktionen selbst keine Kräfte wären, die Aktivität notwendig unbewusster Kräfte. »Das ist es, was den Körper zu etwas allen Reaktionen, und im besonderen jener Reaktion des Ich, die man Bewusstsein heißt, Überlegenem, Höherem macht.« (132) »Dieses ganze Phänomen Leib ist nach intellektuellem Maßstab gemessen unserem Bewusstsein, unserem Geist, unserem bewussten Denken, Fühlen, Wollen so überlegen wie Algebra dem Einmaleins.« (133) »Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.« (134) »Die wirkliche Wissenschaft ist die der Aktivität, aber die Wissenschaft von der Aktivität ist zugleich die Wissenschaft vom notwendig Unbewussten. Wie absurd ist doch die Idee, dass die Wissenschaft gleichen Schritts mit dem Bewusstsein und in dieselbe Richtung zu gehen habe. Man spürt förmlich, wie in dieser Idee die Moral zu keimen beginnt. In Wahrheit ist Wissenschaft nur dort möglich, wo es kein Bewusstsein gibt und wo es kein Bewusstsein geben kann.« (135)
Nietzsche begründet den Primat des Leibes auch als Schnittstelle einer kategorialen Gleichsetzung von Erkennen und Ernähren. Das führt ihn dazu, die Funktionsweise des Gedächtnisses als Bedingung der Möglichkeit des Bewusstseins gemäß den Verdauungsmechanismen des Magens zu bestimmen. Er folgt dabei der Verknüpfung von Diätik und Selbstpraxis in der antiken Heilkunst, Zugleich wird ihm diese Verknüpfung zur Grundlage seiner Umwertung des asketischen Ideals zu etwas, das sich mittels der Kunst und insbesondere der Heilkunst die ästhetische Selbstbegründung zum Ziel setzt. Nicht das Bewusstsein macht die menschliche Existenz aus, sondern der Grund des Daseins bleibt uneinholbar rätselhaft. Dabei wird der Pathos-Begriff zur Chiffre für ein trieb- und instinktbedingtes Affektgeschehen der »großen Vernunft des Leibes«, das auf kein organisiertes Zentrum zurückgeführt werden kann. Der menschliche Organismus wird als Kampfplatz widerstreitender Affekte um die Vorherrschaft gedacht. Das Affektleben ist als etwas zu denken, das im Auslegen und Interpretieren besteht, gelenkt durch einen »Trieb zur Metaphernbildung«. Für die einzelnen sich im Leib manifestierenden Willensmomente ist die »Interpretation ein Mittel, […] um Herr über etwas zu werden«. (136) Erkenntnis ist begriffen als ein physiologischer Prozess, komplexitätsreduzierende, abkürzende Umdichtung des affektiven Geschehens zu einer merkbaren Zeichenschrift, als Ermöglichungsbedingung des Gedächtnisses. Der Erkenntnis-
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apparat ist nicht auf Erkenntnis gerichtet, sondern auf »Bemächtigung der Dinge«. Unter diesem Perspektivismus ist allein das Existieren-Wollen schon »ungerecht«. Ein Wahrheitsanspruch kann nicht erhoben werden. Alle Willensäußerungen sind dem Willen zur Macht verpflichtete Geschmacksurteile, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben. Mit dieser »Unreinheit des Urtheils« ist der »Irrtum über das Leben zum Leben« verbunden. (137) Den Wert des Daseins nicht begründen zu können, macht die tragische Existenz des Menschen aus, die weder Trost noch Heil findet. Diese tragische Grundlosigkeit der Existenz zu akzeptieren, bedeutet, die Welt »am Leitfaden des Leibes« auszulegen und somit die Einheit des Ich als »perspektivische Illusion« einer eigentlich ungeheuren Varietät positiv misszuverstehen. Die Vernunftkritik wird auf die Sinne selbst ausgeweitet. Bereits ihre Wahrnehmungen sind nach Ansicht Nietzsches interessenbedingt auswählend, verbindend, ausfüllend, auslegend und damit der Ernährung analog. Bei der »Assimilation und Umstellung des Ungleichartigen« geht es um »eine Art Einverleibung und Anpassung, zum Zwecke der Ernährung«. Wenn man davon ausgeht, dass alles, was nur von uns erlebt, erfahren, in uns hineingenommen wird, uns im Zustande der Verdauung oder »Einverseelung« ebenso wenig ins Bewusstsein tritt, wie der Prozess unserer leiblichen Ernährung, dann ist eine Konzeption des Bewusstseins als autonome, leibunabhängige Instanz undenkbar. Das Gedächtnis wird zu einem selbstorganisierten Verdauungssystem, dessen Erfindungskunst mit dem Freud’schen Bild der Wachstafel nur unzureichend beschrieben ist. »Der Mensch ist ein Formen- und Rhythmen-bildendes Geschöpf; er ist in nichts besser geübt, und es scheint, daß er an nichts mehr Lust hat als am Erfinden von Gestalten […] Ohne die Verwandlung der Welt in Gestalten und Rhythmen gäbe es für uns nichts ›Gleiches‹, also auch nichts Wiederkehrendes, also auch keine Möglichkeit der Erfahrung und Aneignung, der Ernährung. In allem Wahrnehmen […] ist das wesentliche Geschehen ein Handeln, ein Formen-Aufzwingen: – von ›Eindrücken‹ reden nur die Oberflächlichen […] Dieser Aktivität ist es zu eigen […] auch das geschaffene Gebilde in Bezug auf Einverleibung oder Abweisung abzuschätzen. so entsteht unsere Welt […] Aber wir sind schwer zu ernährende Wesen und haben überall Feinde und gleichsam Unverdauliches –: darüber ist die menschliche Existenz fein geworden und zuletzt noch so stolz auf seine Feinheit, dass sie es nicht hören mag, sie sei kein Ziel, sondern ein Mittel oder gar ein Werkzeug des Magens, – wenn nicht selber eine Art Magen!« (138)
Architektur ist Umwelt und Teil dieses sinnlichen und intellektuellen Verdauungsapparates. Für Merleau-Ponty, der eine konkretisierende Lesart von Husserls philosophischer Kritik vorschlug, geschieht die Welterfahrung durch das Medium des Körpers, »durch den Körper hindurch«, der den Raum »bewohnt«. Er sichert mein »Eingespieltsein« auf den Raum. Der Raum wird von unserem leiblichen Dasein immer schon eingenommen, ehe wir davon und von ihm ein Bewusstsein erlangen können. »Als leibliche Wesen ›glauben‹ wir an die Welt, bevor wir über sie nachdenken, haben wir die Welt, bevor wir sie thetisch setzen können.« Dieses »Bewohnen« der Welt stellt für Merleau-Ponty ein »anthropologisches Fundamental«
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dar, das nicht weiter reduzierbar ist, im Unterschied zu Husserls »Sein«, das sich durch den Rückgang auf das reine Bewusstsein enthüllt. Der bewohnte oder »gelebte« Raum verhält sich zum euklidisch-geometrischen wie die unwillkürliche Erinnerung zum Gedächtnis, wie die erfüllte zur leeren Zeit. (139) Der Leib ist für Merleau-Ponty ein Zwischenbereich zwischen Ich und Welt, durch den ich in der Welt verankert und an andere immer schon gewöhnt bin. Die Veränderungen, Überformungen, Verfälschungen, Deformationen bleiben ihm nicht äußerlich, sondern in ihn eingeschrieben. Husserl unterschied den Leib vom Körper. Der Leib ist uns fraglos gegeben. Der Leib meinte kein verfügbares oder zergliederbares Objekt, sondern die Einheit von Person, Leben und Leichnam, je nach Situation. Der Leibeigene konnte über seinen eigenen Leib nicht frei verfügen, er war als Rechtsperson dagegen sehr wohl Leib. Die Leibstrafe unterwarf den mittelalterlichen Untertan grausamen Qualen. Der Leib fungierte als Maß- und Zinseinheit für den Leib-Zins. Die Kirche erinnerte immer wieder daran, dass es darauf ankomme, den Leib, als Inbegriff der Sünde und der Verführbarkeit und Schwäche, zu töten. Bis heute überlebt hat der Begriff einzig in der Philosophie. Außerhalb der Philosophie firmiert der moderne Leib als Körper: den eigenen Blicken und Händen problemlos zugänglich, reinigungsbedürftig, weitgehend enttabuisiert, ein Instrument der Arbeit und der Lust. Die einst auf ihm lastenden Tabus und Angstvorstellungen sind nicht zuletzt dank der Hygienebewegung und etlicher Emanzipations- und Reformbewegungen des letzten Jahrhunderts überwunden. Walter Benjamin hat im Begriff ästhetischer Erfahrung ein Privileg der Kindheit wiedergefunden, nämlich ein sorgenfreies Verhältnis zum eigenen Körper zu haben, das »reine Schauen im unvorsorglichen Bleiben« zu erfahren. Entlastet von der Zeit lebt das Kind ein »nicht diszipliniertes Glück« im Augenblick. Diese Magie habe sich in einige Werke der Kunst wie der Dichtung hineingerettet. (140) Walter Benjamin führt als Beispiel etwa Stefan Georges Gedicht »Entführung« an. Was bei George jedoch immer wieder die Flucht in die entfremdete Starre und die Attitüde antritt, wird erst in Benjamins Sprachphilosophie dauerhaft. Benjamin sucht die Lyrik Georges nachträglich am Selbstverrat an ihren sprachmagischen Möglichkeiten zu hindern. Jede Minderung seiner Dienstfertigkeit lässt den Leib an Leiblichkeit verlieren, mit den Grenzwerten der Durchsichtigkeit des Leibes von innen, seiner Undurchsichtigkeit von außen. Die Undurchsichtigkeit des Leibes bewahrt nicht nur den, der sich hinter ihr verbirgt, vorm Durchschautwerden, sondern auch den anderen vor der Illusion, dass der andere in ihm nur das Duplikat seiner selbst zu sehen vermöchte. Fremdkörper und Eigenleib stehen einander gegenüber, nicht absolut entgegengesetzt, aber sie sind unterschieden durch das Maß der Vertrautheit. Der Eigenleib wird von innen erfahren, er steht so nahe an der Vertrautheitsstufe der innersubjektiven Reflexion. Als von außen Gesehener ist er einem selber fremd. Sichtbarkeit, als unausweichliche Selbstdarstellung, ist stets Sichtbarkeit für andere. Der Leib wird dem Subjekt dann fremd und zum Körper. Es muss sich entscheiden, als was es sich in seiner Visibilität darstellen will. Kleidung gehört zur fremden Visibilität, in gewissem Maß auch die Einrichtung und die Architektur. Umgekehrt können nicht-organische Gegenstände der
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Eigensphäre des Leibes auch integriert werden, neben Kleidungsstücken z.B. Gebisse, Prothesen, auch Fahrzeuge, Werkzeuge. Meine eigene Kleidung gehört mit zu meinem Hier. Husserl spricht von der »Einigkeit« der Kleider mit mir, er sagt dies auch vom Schreibtisch, solange ich an ihm sitzend auf ihn gestützt schreibe, im Lichtkegel der Lampe. Freilich hat der Leib auch selbst Fremdheitsmomente an sich, durch Faktoren der Unverfügbarkeit, wie Altern, Krankheit, Müdigkeit, Schwere, Temperaturempfindlichkeit, Hunger, er wird dann zum Auch-Körper. So wie der Eigenleib als normalerweise unbemerkter bei Auffälligkeit aus der widerstandslosen Dienstbarkeit herausfallen und zum Körper werden kann, so können umgekehrt Objekte Teil des Leibes werden. Architektur zählt sicherlich zumindest teilweise zu den verbundenen Objekten, die eingehen in die »Nullobjektqualität« des Leibes. »Das einen Umgebende wird derart akquiriert, dass es sein Dort verliert.« Umgekehrt, verliert das einen Umgebende die Unauffälligkeit, z.B. wenn gewartet werden muss, oder, wie oben erläutert, in Zwangsgesellschaften wie der des Fahrstuhls. Zur Überbrückung dieser Lücke hilft der Takt. (141) Institutionen tragen zur Erleichterung bei, dienen dazu, die Undurchsichtigkeit des Leibes für andere zu wahren und damit die Zuverlässigkeit des Eigenleibes. Wenn man keine Formen mehr für Situationen hat – in unserer heutigen Welt ist dies zunehmend der Fall –, macht sich schnell Verlegenheit breit. Der Narr und die Verrückten wissen sich der Undurchsichtigkeit ihres Leibes nicht zu bedienen, da sie sich unbeobachtet glauben. Durchsichtig zu werden für andere, ist nicht weniger lästig, als undurchsichtig für sich selbst zu sein. Im Gähnzwang verfällt die sonst gehütete Innerlichkeit der Ausdruckssphäre. Man spürt die Schwelle, an der der Leib seine selbstverständliche Durchlässigkeit verliert, sich eintrübt und dem Ich seinen selbstverständlichen Zugang zur Realität erschwert, in den er sich hineindrängt, andererseits zugleich die Undurchsichtigkeit für andere herabsetzt und das Ich aus seiner Leibverborgenheit heraus durch ebendiesen Leib preisgibt. Architektur vermag diesen Vorgang ebenso in Gang zu setzen, wie sie es auch vermag, ihn vermeiden zu helfen. Die Qualität des Gebauten bemisst sich daran, wie hoch oder niedrig jene Schwelle ist. Kultur generell ist Intensität der Intentionalität, nicht nur als Bezogensein auf Gegenstände, sondern als das Nicht-sichÜberlassen des Subjekts an sich selbst. Dies geschieht durch gesteigerte Reize, Affektionen, aber auch durch das Angebot vorgegebener Gliederung von Zeit und Raum, von Einladungen zu Handlungsritualen, Bildungsprägungen, ohne dass es uns dabei zu leicht gemacht wird und wir unterfordert werden. Kultur existiert und beglückt uns als Vermeidung von Selbstbelastung und Selbstauffälligkeit. Sowohl die interessante als auch die anstrengende Arbeit haben gemeinsam, dass man sich dabei nicht selbst auffällig werden kann. In der Langeweile dagegen trennt sich der Eigenleib vom Selbst, macht sich als Unbehagen (uneasiness) bemerkbar, in der Unruhe des Sitzvermögens, der aufreizenden Unbequemlichkeit des Gestühls, der Monotonie einer Straße, der Hässlichkeit von Details, der falschen Proportionen. (142) Was mir an meinem Leib auffällt und zur Thematisierung drängt, biegt dieser selbst in die Außensicht der Körperlichkeit um, so dass man dann die Krankheit hat. Der Gesunde lebt seinen Leib, aber er denkt nicht an ihn. Dass der Leib des Menschen für den Menschen eine Rolle spielt, ist abnormal. Sobald er eine Rolle zu spielen beginnt, ist er Körper, Objekt.
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Der Normalzustand des Leibes ist der der Unauffälligkeit, ihn nennt man auch Gesundheit. Der Leib ist gerade nicht da, wenn die Wahrnehmungsfähigkeit, wie bei ausfüllender Arbeit, voll aufgeboten wird. Krankheiten ebenso wie Langeweile sind Formen der Verletzung der Norm, dass der Leib sich nicht bemerkbar zu machen habe. Formen der Auffälligkeit wie Schmerz, Krankheit, Selbstablehnung, im Bewusstsein der Ungefälligkeit für andere, sind Zustände, mit denen man »auf die Gegenseite dessen gelangt, was sich von selbst versteht«. (143) Glückzustände sind solche der Selbstvergessenheit und der Selbstunauffälligkeit. Dieser Dualismus ist freilich nicht absolut, es gibt Übergangsphänomene, Übergänge zur intentionalen Verselbständigung des Leibes als ein dem Ich entgegenstehendes Objekt, Eintrübungen der selbstverständlichen Durchlässigkeit. Der Leib thematisiert sich dann gewissermaßen mehr oder weniger selbst. Die vor mir auf dem Tisch liegende eigene Hand bin ich und bin ich zugleich nicht. Sie ist Ich und Nicht-Ich. Der Mensch – das wäre eine weitere anthropologische Definition, die Blumenberg liefert – »ist das Wesen, das sich selbst fremd werden kann«. (144) Auf der Basis der phänomenologischen Leib-Theorie ließe sich eine ArchitekturTheorie auf bauen. Blumenberg skizziert das Koordinatensystem, indem er als ständige Gegenstände von Lebenswelttheorien den Boden, das Medium, den Horizont, Distanzen, Richtungen, lokale Besetzungen aufführt. Der »Lebensboden« ist entscheidend als Verbindungsstück zwischen dem Eigenleib und der Restwelt. Phänomenologisch gesehen ist der Planet Erde kein astronomisch-physikalischer Gegenstand. Boden und Leib sind gleichermaßen wesentlich bestimmt durch die Unmöglichkeit der Distanz zu ihnen. »Daß der Boden nur die Oberfläche eines Kugelkörpers im Raum ist, der zugleich die flache Hülle des Mediums festhält, in dem und von dem wir leben, sei so, wissen wir aus Quellen der positiven Wissenschaft, nicht und niemals aus unserer ›natürlichen Weltansicht‹ hervorgegangen. Für sie ist der Boden bestimmt durch seine Tragfähigkeit und Unerschüttertheit, zu schweigen davon, daß er auch noch Früchte trägt und das primitive Leben in seine Höhlen und Schlupfwinkel einläßt, Häuser in seinen Baugruben stehen.« (145)
Der Boden steht zwischen dem eigenen Leib und der Welt der fremden Körper, ohne die Durchsichtigkeit des Eigenleibs und auch ohne die Undurchsichtigkeit der Fremdkörper. Wer zu Boden sieht, will vermeiden zu stolpern, oder er schämt sich. Der Leib ist immer auf einen Boden bezogen, während es dem Körper gleichgültig ist, wo er liegt oder steht. Stolpern, Schmerz, »Krankheit, Alter, im Grenzfall der Tod, (sind) Entmächtigungen der Selbstverfügung, im Grunde Überschreitungen der Norm, daß der Leib sich nicht bemerkbar zu machen habe.« Der Boden gewährleistet meinem Leib, nicht da zu sein. (146) Der Körper ist beides, der Leib und der mit Rationalisierungen und Synthesen überformte und durch Konditionierungen und Körpertechniken und Abstraktionen unempfindlich, kalt gemachte Körper als Instanz des Allgemeinen. Für Foucault gehört Architektur zu den Instrumenten der Überformung, die zugleich diese gegen die Reflexion absichern.
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A 11. Von der Sichtbarkeit von Menschen und Dingen wird seit der Renaissance die Möglichkeit erwartet, ein Wissen über alle Vorgänge und Verhältnisse im Raum zu gewinnen und so Ordnung herstellen und sichern zu können. Wissen ist mit Sichtbarkeit gleichgesetzt. Architektur und Stadtplanung werden im Denkmodus der Renaissance, der sich im späten Mittelalter formiert, fortan unter das Diktat der Sichtbarkeit gestellt. Was dem Kontrollwissen entzogen bleiben darf, vor allem die bürgerliche Errungenschaft der rechtlich geschützten Privatsphäre, das ist demonstrativ unsichtbar, auf die Hinterbühne verlegt, um mit Norbert Elias zu reden, der diese Entwicklung an die Verschiebungen der Schwellen für Scham und Peinlichkeit bindet. Die Erfindung der Perspektive leistet die Verknüpfung von Erkenntnistheorie und Raumgestaltung. Das Auge als Organ, das Sichtbarkeit für den Einzelnen gewährleistet, wird in der Konstruktion der Perspektive in Regie und in die Pflicht genommen. Wenn so nun aber die organische Beschaffenheit des Sehvermögens mit der Ordnung der Dingwelt und der sozialen Welt in ein festes und verlässliches Verhältnis gesetzt wird, so wird gleichzeitig die Tätigkeit des menschlichen Auges als aktives und sinnstiftendes, gestaltgewohntes Vermögen zu einem Gegenprinzip emanzipiert. Der »Blick« geht gewissermaßen eigene Wege. Architektur verdankt ihre jeweilige stilistische Ausprägung einem kulturell kodierten Blick auf die Welt, und sie existiert vollständig erst im Blick des Betrachters. Gleichzeitig ist sie etwas, das sich dem Blick entzieht und die Aufmerksamkeit für anderes freimacht. Robert Musil nimmt mehrfach auf diesen Gegensatz Bezug. Er mochte den Namen der Stadt, in der er seinen »Mann ohne Eigenschaften« spielen lässt, nicht nennen. Man wolle durchaus nicht immer wissen, wo man sich gerade aufhält. Den Namen zu wissen, lenke von Wichtigerem ab. So steht auf den ersten Seiten des Romans zu lesen: »Wie alle großen Städte bestand sie aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander, und glich im ganzen einer kochenden Blase, die in einem Gefäß ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht.«
Orte sind mehr oder weniger sichtbar. Der Blick wird von ihnen mehr oder weniger affiziert oder verschluckt. Städte lassen sich ihrer Natur nach und zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichem Maße mit ihrer Bekanntheit gleichsetzen. Florenz zählt zu den Städten, die in höchstem Maße sichtbar gemacht worden sind. Das andere Extrem bildet Berlin, das sechzig Jahre lang seine besondere Anziehungskraft seiner mangelnden Sichtbarkeit verdankte. In Filmen, die vor dem Krieg entstanden waren, wie in Piel Jutzis »Berlin-Alexanderplatz« erkennt man die Stadt noch als das Berlin der Bilder gleich wieder, deren »Sinfonie« Walter Ruttmann fünf Jahre zuvor komponiert hatte. Man sieht baumbestandenen Ausfallstraßen, Kaffeehäuser auf dem Trottoir des Ku’damms. Bei Fritz Lang in »M« und in »Das Testament des Dr. Mabuse«, zeitgleich mit der Machtergreifung, kommt die Stadt nur noch als Straßenkarte und Horizont vor. Während am Alex ein modernes
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neues Viertel entsteht, klammert man sich an das Eingemachte, die verrauchten Eckkneipen, in denen sich auch Franz Biberkopf wohl fühlt, der Verlierer, der Narr von Berlin. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Berlin eine vollends unsichtbare Stadt. Gottfried Benn sah im Sommer 1945 in Schöneberg die Steppe Fuß fassen. In Rosselinis »Deutschland im Jahre Null« von 1948 kann man sehen, wie sich diese Steppe tatsächlich in der Mitte der Stadt ausbreitet, als das, was der abgeholzte Tiergarten hinterlässt, was durch die Schutthaufen aus dem Platz am Brandenburger Tor wird. Man sieht Trümmerstraßen bis weit in den Wedding hinein, das zerbombte Schloss, die verstümmelten Nymphen und Tritonen des Neptunbrunnens. Dann hat man auch noch diese verkohlten Reste abgeräumt und weggesprengt, bis weite Gebiete der Stadt unlesbar geworden waren. Nun war man auf den Blick des fliegenden Engels von oben angewiesen, wie in Wim Wenders »Der Himmel über Berlin«. Aus der Luft sieht man die weiten Brachen am Potsdamer Platz, wo Rolf Boysen nach etwas sucht, was mal da gewesen war, und die Ruinen am Askanischen Platz. Berlin war fortan auch in seinen Bildern eine Stadt bestehend aus freistehenden Brandmauern und kaputten Bunkern, von Gespenstern bevölkert. Die rennende Lola von Frank Tykwer hatte damit begonnen, die Fassaden und Straßen der Unsichtbarkeit wieder zu entreißen. (147) Den vorläufigen Abschluss der Berlin-Filme bildet Jaume Collet-Serras »Unknown Identity«. Mit Crashs und Explosionen bekommt Berlin die physische Präsenz zurück, die ihm 60 Jahre lang abhandengekommen war, wenn die Handlung auch von einem Mann bestimmt wird, der seine Identität verloren hat, weil man ihm in einer generalstabsmäßigen Intrige eine Inszenierung vorgespielt hat und sich nun niemand mehr an ihn und seine Ehe erinnern will, da seine eigene Erinnerung daran, dass sie tatsächlich ursprünglich als Inszenierung gedacht war, gelöscht ist. Wenn Walter Benjamin schrieb, die Straße sei die Wohnung des Kollektivs, dann sprach er damit etwas an, das vielfach als Bedrohung empfunden wurde und auch heute so empfunden werden kann. Wenn nicht mehr nur, wie Ende des 19. Jahrhunderts, einzelne technikvernarrte Flaneure mit versteckter Knopflochkamera umhergingen, wodurch der Flaneur zum Spion geworden war, dem nichts entging, dann ist heute potenziell jeder ein solcher Spion. Jeder trägt, wenn nicht eine Digitalkamera, so doch ein Handy mit eingebauter Fotofunktion bei sich, kann alles aufzeichnen und hinterlässt selbst ständig registrierte Spuren. Die Straße ist der Ort, wo das Kollektiv sich durch sich selbst kontrolliert. Was heute als Kontrolle zu begrüßen oder zu fürchten ist, das war für Rousseau noch das unschuldige Fest. Das Theater war für ihn der Ort, wo sich die Spaltung in Akteure und Zuschauer kundtut. Diese Spaltung hebt der öffentliche Raum auf. Der Festcharakter ist inzwischen dem Verkehr geopfert worden. Die Ankunft des Autos wird durch Ordnungspolitik vorbereitet. Im 19. Jahrhundert gerät das Leben unter Kontrolle. Hausnummern und Meldepflicht werden Normalität. Gustave Caillebotte konnte von seinem Balkon aus eine Verkehrsinsel mit Passanten sehen, die noch nicht durch kanalisierte Verkehrsströme an den Rand gedrängt werden. Der Hektik ist der Stillstand noch beigeordnet. (148) Wenige Jahre später sehen wir in Fotografien, wie Autos geordnet in Reih und Glied fahren und nur wenige Fußgänger an dafür vorgesehen Stellen zu dafür vorgesehenen Zeiten die Straßen überqueren. Dem Hang zu Unordnung und Barrikadenkämpfen ist ein-für-alle-mal ein Riegel vorgeschoben. Zwischen 1880 und
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1930 wandelte sich das Stadtleben radikal. Und wir werden vielleicht gerade Zeugen einer erneuten Wandlung, deren Richtung noch nicht zu erkennen ist. Der wünschenswerte Weg zurück zu einem »shared space«, wie man ihn in Städten südlicher europäischer Länder noch heute genießen kann, könnte durch neue Zonierungen und technologische Neuerungen allerdings versperrt bleiben. Eher als das Zurückdrängen des Automobils wird man im Zuge der Verbreitung des Internet der Dinge fahrerlose Vehikel herumgeistern sehen. Die als Alltagsmodus der Bewohner anzusehende Form des von den Details der Umgebung absehenden Wahrnehmens hat Musil in einem kleinen Prosatext über die Eigenheiten des Denkmals erläutert: »Denkmale haben außer der Eigenschaft, daß man nicht weiß, ob man Denkmale oder Denkmäler sagen soll, noch allerhand Eigenheiten. Die wichtigste davon ist ein wenig widerspruchsvoll; das Auffallendste an Denkmälern ist nämlich, daß man sie nicht bemerkt. Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler. Sie werden doch zweifellos aufgestellt, um gesehen zu werden, ja geradezu, um die Aufmerksamkeit zu erregen; aber gleichzeitig sind sie durch irgendetwas gegen Aufmerksamkeit imprägniert, und diese rinnt wie Wassertropfen-auf-Ölbezug-artig an ihnen ab, ohne auch nur einen Augenblick stehen zu bleiben. Man kann monatelang eine Straße gehen, man wird jede Hausnummer, jede Auslagenscheibe, jeden Schutzmann am Weg kennen, und es wird einem nicht entgehen, wenn ein Zehnpfennigstück auf dem Gehsteig liegt […] Es geht vielen Menschen selbst mit überlebensgroßen Standbildern so. Man muss ihnen täglich ausweichen oder kann ihren Sockel als Schutzinsel benutzen, man bedient sich ihrer als Kompaß oder Distanzmesser, wenn man ihrem wohlbekanntem Platz zustrebt, man empfindet sie gleich einem Baum als Teil der Straßenkulisse und würde augenblicklich verwirrt stehen bleiben, wenn sie eines Tags fehlen sollten: aber man sieht sie nie an und besitzt gewöhnlich nicht die leiseste Ahnung davon, wen sie darstellen, außer daß man vielleicht weiß, ob es ein Mann oder eine Frau ist.« (149)
»Man kann nicht sagen, wir bemerken sie nicht; man müsste sagen, sie entmerken uns, sie entziehen sich unseren Sinnen: es ist eine durchaus positive, zur Tätlichkeit neigende Eigenschaft von ihnen!« Musil betont, dass dieser Umstand nur zu verständlich ist. »Alles Beständige büßt seine Eindruckskraft ein. Alles, was die Wände unseres Lebens bildet, sozusagen die Kulisse unseres Bewusstseins, verliert die Fähigkeit, in diesem Bewusstsein eine Rolle zu spielen. Ein lästiges dauerndes Geräusch hören wir nach einigen Stunden nicht mehr. Bilder, die wir an die Wand hängen, werden binnen wenigen Tagen von der Wand aufgesogen; es kommt äußerst selten vor, dass man sich vor sie hinstellt und sie betrachtet. Bücher, die man, halb gelesen, in die prächtigen Bändereihen der Bibliothek einstellt, liest man nie mehr zu Ende. Ja, es genügt bei empfindlichen Personen, dass sie ein Buch, dessen Anfang ihnen gefallen hat, kaufen, und sie werden es nie wieder in die Hand nehmen. …Und in welch erhöhtem Maße müssen sich diese psychologischen Nachteile, denen das Beständige ausgesetzt ist, bei Erscheinungen aus Erz und Marmor geltend machen!« (150)
Aus dem Umstand, dass man sich auf anderen Gebieten nach Kräften bemüht, die Aufmerksamkeit zu erregen, durch Werbeanzeigen, Verkehrsschilder, Autohupen etc. folgert Musil augenzwinkernd: »Auch Denkmale sollten sich heute, wie wir es
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alle tun müssen, etwas mehr anstrengen! Ruhig am Wege stehn und sich Blicke schenken lassen, könne jeder; wir dürfen heute von einem Monument mehr verlangen.« Tatsächlich aber muss man den Schluss ziehen, dass man auf die Unsichtbarkeit der meisten Dinge, die uns zuverlässig umgeben, nicht verzichten kann, dass wir nicht allen Gegenständen der Umwelt, mit denen wir hantieren oder die uns potenziell zur Hand sind, mit gleicher Intensität unserere Aufmerksamkeit zuwenden können, dass wir geradezu darauf angewiesen sind, einen Teil von ihnen jeweils auszublenden. Es gilt also, ihnen ihre Unscheinbarkeit zu belassen, damit man sich ihnen nicht eigens zuwenden muss. Und wenn wir von Architektur reden, dann kann man sogar feststellen, dass gerade in der Unscheinbarkeit, der Unsichtbarkeit des Großteils ihrer Exemplare der Beweis für ihre Qualität weitgehend begründet ist. Umgekehrt ist der Umstand, dass ein Gebäude Aufmerksamkeit verlangt, Grund zur Befürchtung, dass er diese Eignung verfehlt und der Genuss der Zweckdienlichkeit durch das krampfhafte Bemühen eingeschränkt wird, sich Aufmerksamkeit dadurch zu verschaffen, dass es anders als alle anderen auszusehen versucht. Architektur scheint also in der Unsichtbarkeit zu existieren, der Aufmerksamkeit entzogen oder von ihr verschont. Dennoch gilt, dass man, wenn man ein einzelnes Bauwerk seiner Schönheit wegen rühmt, sich in dem Glauben wiegen darf, etwas über Architektur auszusagen. Die Konvention verlangt, dass man in dieser Weise über Architektur redet. Und Architektur ist nicht zuletzt die Art, wie man über sie redet. Hauptzugang zu Architektur als das, wie man über sie redet und damit oberstes Unterscheidungsmerkmal, ist der Grad der Schönheit. Damit reißt man das einzelne Exemplar aus dem Zusammenhang, lässt es mit allen anderen in Wettstreit treten und beurteilt es danach, wie weit es sich – wie auf einer Miss-Wahl – aus der Masse der übrigen Kandidatinnen heraushebt. Im Diskurs erscheint Architektur in Gestalt ihrer Individuen. Sie werden ins Licht gezerrt, müssen vortanzen. Dabei fühlt sich Architektur im Allgemeinen auf Rousseauistische Weise erst in der Anonymität der Gemeinschaft wohl. Dieser Konflikt lässt sich anhand der Spaltung von Stadtbewohner und Tourist verdeutlichen. Die Stadt, in der man wohnt, kennt man – anders als der Tourist, der sie besucht – kaum im architektonischen Detail. Für den Bewohner ist sie so weit wie möglich unsichtbar. Der von deren Bildern geprägte Sonntagsblick des Touristen auf eine Stadt ist grundverschieden von der Art und Weise, wie sie ihren Bewohnern normalerweise als Alltag erscheint. Jenes Sonntagsbild ist trügerisch. In Tourismus-Broschüren und Bildbänden gaukeln wir uns eine Präsenz der Stadt vor, die zumeist auf das historische Zentrum mit dem unantastbaren Altbaubestand, mit ihren »Sehenswürdigkeiten« beschränkt ist. Die Peripherie bleibt von diesem Blick ausgespart. Zudem entzieht sich die Stadt in dem Maße, wie sie von Touristen in den Blick und in Besitz genommen wird. Wenn Besucher an einen Ort strömen, der für seine Bohème berühmt ist, werden sie nach kurzer Zeit nur noch andere Besucher vorfinden, während die Bohème längst weitergezogen ist und die Ureinwohner sich so benehmen, wie man es von ihnen erwartet. Auch die Gentrifizierung eines Viertels nährt sich von einem blinden Drang zum Selbstbetrug. Wenn ein Bauwerk oder eine Stadt »schön« genannt wird, dann ist das in Verbindung mit Orten wie Florenz oder Venedig eine uns plausibel erscheinende Redeweise. Zugleich könnte, wie der Florentiner Manganelli anmerkt, jeder wissen,
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dass das auch »eine Gedankenlosigkeit« ist. Wenn wir Städte als »Orte ästhetischen Verweilens, als Parkplätze für den Geschmack unserer gebildeten, raffinierten Seelen anschauen, dann bedeutet das, dass wir gar nichts sehen«. Und er fährt fort: »Die sogenannte Ästhetik ist nichts anderes als eine weltliche List, um nicht mit der mythischen, gewalttätigen Materie, dem Dionysischen, das ein Objekt behaust, in Berührung zu kommen.« (151) Das kann »heißen, dass Florenz eine Stadt ist, die sich vollständig mit ihrer ästhetischen Berufung identifizieren lässt, ein Ort, der sich in seiner Schönheit erledigt, aber es kann auch heißen, dass man einem äußerst bedeutungsvollen Ort eine ästhetische Deutung aufgezwungen hat, damit dieser Ort sich ruhig verhält, zu nichts anderem Anlass gibt, als zu gebildeter Zerstreuung«. Es liegt aber bei uns, die Stadt in all ihren Seinsmöglichkeiten zu erleben, in den verschiedenen Lesarten, die sie anregt, in den Mutmaßungen über die Welt, die sie in ihren Plan aufgenommen hat. Als Tourist bleibt man von all dem ausgesperrt. In den meisten Fällen wird die Ästhetisierung durch die Bevorzugung der historischen Architektur erzielt. Dabei ist eine Stadt immer und vollständig zeitgenössisch. Auch dass in historischen Zentren unter hohen Kosten Altbau erhalten und Neubau nur unter hohen Restriktionen zugelassen wird und dies gesetzlich verankert ist, ist eine zeitgenössische Entscheidung. Von der kunsthistorischen Dimension der Stadt kann ich nur im kulturellen und intellektuellen Sinn Gebrauch machen. Gerade in Städten wie Florenz, Venedig oder Rom, die eine kunsthistorische Betrachtungsweise aufzudrängen scheinen, sei darum, so Manganelli, eine Ablehnung der Geschichte besonders wichtig. Die Werkästhetik bekommt in der Stadt, in der man lebt, die man nicht nur als Tourist zeitweise aufsucht, etwas Aufdringliches und Seinsvergessenes zugleich. Als Bewohner durchschaue ich den Appell: Sie erwartet von mir dümmliches Staunen, ohne Einwände, ohne andere Interessen. Als hätte ich in dieser Stadt sonst nichts zu tun oder als wollte ich sonst nichts erleben, als einzelne Gebäude ihres besonderen und sonderbaren Aussehens wegen zu bewundern. Der innere Widerstand gegen diese Zumutung manifestiert sich sogar bei Touristen vereinzelt darin, dass sie instinktiv nach nicht so bedeutenden Orten suchen, nach umstrittenen Gegenständen, nach abseits liegenden Welten, scheinbar unbeabsichtigten Formen, nach marginalen Fundstücken, deren Finder man dann selber ist, nach nicht so stimmigen Bildern, die teilhaben am Fehlerhaften, die man auch ignorieren könnte: Man bleibt hinter den anderen zurück und begibt sich heimlich an die Peripherie, um von dort mit einer besonderen Beute zur Meute zurückzukehren. Die touristische Wahrnehmung, mag sie auch hochgradig sozial akzeptiert und in die Alltagswelt eingebaut sein, unterscheidet sich wesentlich von der alltäglichen Wahrnehmung desjenigen, der an dem jeweiligen Ort zu Hause ist und seiner Arbeit oder seinen Geschäften nachgeht. Diese ist der Produktionsästhetik nachgebildet. Als bildungshungriger, kunstinteressierter Besucher bin ich nur wissensdurstiger Betrachter und gehalten, die Intentionen des Architekten nachzuempfinden, der vor sagen wir vierhundert Jahren dieses Meisterwerk vollbrachte. Dem Touristen und dem Kunstbeflissenen werden die Bauwerke an Hand der vermeintlichen Absichten erklärt, die der Architekt oder Baumeister bei dem Entwurf des betreffenden Gebäudes leiteten, oder welche der jeweilige Bauherr gehabt haben
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mochte. Wie viel wissen wir aber über Architektur, über ein Gebäude, wenn wir die Absicht des Erbauers kennen, soweit sie mit ästhetischen Konventionen übereinstimmen, wenn doch der tatsächliche Gebrauch davon abweichen kann und er sich im Laufe der Jahrhunderte mehrfach gewandelt hat und sie sein Fortbestehen gerade diesen Wandlungen und Umnutzungen verdankt. Der mehr oder weniger kunstbeflissene Tourist wird von einem singulären Objekt zum anderen geleitet, wie der gläubige Pilger von Heiligtum zu Heiligtum, von Reliquie zu Reliquie geleitet wird, wobei er für alles andere blind sein soll. Hier wie da ist das singuläre Objekt Gegenstand der Anbetung oder der Andacht. Insofern ist bei der Urlaubsreise an einen kunsthistorisch bemerkenswerten Ort der Alltag in gewissem Maße außer Kraft gesetzt. Gleichwohl kommt er in den Widrigkeiten und Albernheiten des Tourismusalltags zu seinem Recht. In Diebstahl, Moped-Lärm, Durst, lahmen Füßen und durchgelegenen oder verwanzten Matratzen rächt sich der banale Alltag für den Versuch seiner Ausblendung. Er meldet sich als lästiger Begleitumstand des andächtigen Pilgerns, ohne damit den Touristen sehender zu machen für die Umstände und die Architektur des Alltags, deren Wahrnehmung den Bewohnern und Eingeborenen vorbehalten bleibt. In Venedig ergibt sich eine besondere Situation insofern, als die »Eingeborenen« oder »Ureinwohner« in wachsender Zahl von der temporären Republik der Touristen verdrängt und ersetzt werden. Ein hoher Prozentsatz der Häuser und Wohnungen werden aus Prestigegründen oder zum Zweck der Vermietung an Touristen vorgehalten, stehen aber die übrige Zeit leer. Die eigentlichen Einwohner können sich das Wohnen in ihrer Stadt immer weniger leisten und sind zum Abwandern aufs Festland gezwungen und, um als Service-Personal für die Touristen zur Verfügung zu stehen, zum Pendeln verdammt. Die Venezianer spielen ihr Venezianer-Sein den Touristen nur vor. Die Stadtverwaltung vermag immer weniger die Interessen der verbliebenen Bewohner wahrzunehmen und sieht sich, um die Restaurierung der großen Paläste und die Unterhaltung der Infrastruktur zu sichern, von den Großkonzernen und Banken erpresst und zu weitreichenden Konzessionen gezwungen. Große Modefirmen wie Prada oder Benetton demonstrieren ohne Scham, dass inzwischen einige der Prunkstücke der Stadt ihnen gehören. So kommt es zu der kuriosen Situation, dass die Stadt nicht durch ihre Bewohner, sondern durch die temporäre Anwesenheit von Besuchern aus aller Welt am Leben gehalten wird, und die Besucher es sind, die die vitalen Interessen der Stadt vertreten, obwohl sie mit falschen Bildern im Kopf, einem von Sehnsüchten und nostalgischen Vereinfachungen verstellten Blick durch die Stadt gehen, sich auf realem Pflaster in einer virtuellen Welt bewegen. Aber es gehört inzwischen zum guten Ton, dass man als Tourist sich politisieren lässt und gegen die eigenen Auswüchse, etwa in Gestalt der Ozeanriesen vor San Marco, mitprotestiert.
A 12. In natürlicher Einstellung haben wir Architektur nicht vor Augen wie eine Skulptur auf einem Sockel oder wie ein Tafelbild, sondern sie umgibt uns, und wir erfahren sie und uns selbst vermittelt durch die körperlichen Bewegungen, die wir in ihren Räumen und Zwischenräumen vollführen, ohne uns dessen vollkommen
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bewusst zu sein, und nach Maßgabe dessen, worauf wir uns gerade konzentrieren, was wir gerade tun und vorhaben. (152) Im Unterschied zu Kunstwerken oder wissenschaftlichen Abhandlungen, denen wir aus der Distanz des aufmerksamen Betrachters oder interessierten Lesers heraus begegnen, sind wir vom Ensemble der Architektur immer schon umgeben, so dass wir mit ihr genauso gedankenlos zu tun haben wie mit den Gebrauchsgegenständen des täglichen Bedarfs, deren Gebrauchsanweisungen uns vertraut sind und unserer Aufmerksamkeit nicht mehr bedürfen. Sobald wir unsere Aufmerksamkeit von unseren Alltagsgeschäften abziehen und den räumlich-architektonischen Bedingungen unserer Bewegung im Raum und unseres Hantierens mit Dingen eingedenk werden, geraten wir ins Stocken und Stolpern. Umgekehrt werden wir uns dieser Dimension erst bewusst, wenn etwas schiefläuft, wenn der Fortgang ins Stocken gerät. Im Ensemble des Gebauten haben wir alle Dimensionen und Vollzüge unseres Lebens wie ein offenes Buch vor uns, in das wir nie hineinschauen. Die Art und Weise, wie wir Architektur erleben, hat mehr Ähnlichkeit mit einer Theateraufführung oder einem Film, in dessen Aufnahmen wir als Statisten selber verwickelt sind, ohne davon zu wissen, als mit der Rezeption eines Kunstwerkes. Wir sind sogar gehalten und bestrebt, unser Mitspielen möglichst natürlich aussehen zu lassen. Architektur wäre nicht trotz, sondern gerade wegen der partiellen Blindheit ihr und ihren Details gegenüber als ein kulturelles Symbolsystem erster Ordnung zu würdigen, ist sie doch in einem kaum zu überschätzenden Maße permanent in das soziale Leben involviert und allgegenwärtig. Sie ist immer schon da. Mit Architektur haben wir immer schon zu tun. Sie umgibt uns, ist Bühne unserer Dramen, Kulisse unseres Alltagslebens, Instrumentarium unserer Interaktionen. Sie ist überall und ragt bis in die privatesten und vermeintlich von Gesellschaft freien Räume unserer Privatsphäre und subjektiven Sinnsetzungen hinein. Das Taktile und das Geistige sind in ihrer Geschichte kaum positiv aufeinander bezogen, eher negativ, einander ausschließend. Diese Diskriminierung und Dissoziierung ist ein Erbe einer Komplizenschaft aus platonischer Erkenntnistheorie und christlicher Theologie. Selbst der Gesichtssinn wurde, soweit er als Bevollmächtigter des Tastsinns fungiert, mit dem verwerflichen fleischlichen Begehren assoziiert. Der Sprache vorhergehend, einer Welt nur aus Körpern und Bildern angehörend, bedurfte er der Disziplinierung und behielt aller Regulierung zum Trotz etwas Verdächtiges. So nennt Augustinus im X. Buch der »Confessiones« die drei Lastergattungen Fleischeslust, Hoffart und Augenlust. Die alte Kirche gründete ihre Autorität auf das Wort, auf die Schrift und den Ton. Die Protestanten versuchten nicht zufällig, die bei den Katholiken auch optischen Reizen geöffnete Vermittlung der Glaubenswahrheiten noch ausschließlicher auf das Gehör und das gesprochene Wort zu gründen. Und wenn die Gegenreformation mit einem verstärkten Herrschaftsanspruch des Bildes und einem optisch-rhetorischen Bombardement antwortet, so bricht sie deshalb nicht mit der restriktiven Tradition. Die Bilderflut hat nicht den Zweck, die Religion zu bebildern, sondern die Glaubensgewissheit mit Bildern gegen Bilder abzusichern. Der Rückgriff Loyolas auf die meditativen Exerzitien der Mystiker dient dazu, das die Überzeugung umgebende Vakuum mit
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Bildern vollzustopfen und den Geist in eine unendliche Bilderflut zu stürzen, um das Eindringen des Zweifels zu verhindern. (153) Die heutige Bilderflut ist, unter Bedingungen des Marktes und der Bewusstseinsindustrie, ähnlich als etwas interpretiert worden, das die Menschen sich dringend herbeiwünschen, um Melancholie, Selbstbesinnung und Zweifel zu verscheuchen, im Sinne eines »Melancholie-Verbots« (Lepenies). Als zu Beginn der Neuzeit oder mit beginnender Moderne im 17. und 18. Jahrhundert das Sehen unaufhaltsam an die erste Stelle der Sinneshierarchie und der ästhetischen Kategorien vorrückt, wird es im selben Maße vom Taktilen getrennt und von den Spuren seiner Leiblichkeit gereinigt. Die unsublimierte und nicht den Standards gemäß formalisierte körperliche Präsenz verfällt dem Verdikt der Unzivilisiertheit, der Körper wird in der höfischen Welt Opfer des Stilwillens. Rhetorik, die zu einer schnellen, florettähnlichen Waffe elaboriert wird, muss alle Gesten in sich aufnehmen. Auch die positiven Leidenschaften müssen sich ohne spürbare Gegenwart des Leibes ausdrücken. Die Gesetze der Höflichkeit, die Kultivierung des Geschmacks und das Empfinden für Anstand und Takt kontrollieren die Ausdruckssphäre und führen zu einer Vergeistigung des expressiven Aktes. Der Raum als Medium der Interaktion wird nicht mehr primär als eine Distanz wahrgenommen, die überwunden werden muss, und als Schauplatz, auf dem Körper miteinander kollidieren, sondern verwandelt sich in den Abstand zwischen den Personen, der eingehalten werden muss, in eine Leere, die nicht von Körpern durchkreuzt, sondern nur von Blicken durchdrungen wird. Die glückliche Gemeinschaft von Clarens in Rousseaus »Die neue Héloise« verzichtete auf Sprache und begnügte sich in ihrem empfindsamen Seelenverkehr mit flüchtigen Gesten und tiefen Blicken, um Lüge und Entfremdung zu verhindern, die mit der Sprache Einzug halten, wie die Schlange ins Paradies. Doch sind es gerade die verstohlenen Blicke und das verhohlene Lächeln, die Eifersucht und Misstrauen erwecken. Während sich die Körper in Blicke verflüchtigen und die Berührung durch die optische Wahrnehmung vertreten wird, lernt man, mit Blicken zu verletzen. In die Klarheit des erkennenden Blicks mischen sich die Komplikationen nicht ausgetragener Konflikte und die Leiden, die erst durch die unüberbrückbare Distanz möglich werden, welche die Personen voneinander trennt, während ihr Blick Kontakt hält. Stärker als bei Corneille ist für Racine der Akt des Sehens stets vom Unglück heimgesucht. Der Blick verrät unablässig Unzufriedenheit und Vorwurf. »Sehen ist ein leidvoller Akt und bleibt stets ein unvollkommenes Erfassen des begehrten Wesens. Gesehen zu werden, bringt nicht Ruhm, sondern bewirkt Scham. Wie der Held Racines sich im leidenschaftlichen Antrieb zeigt, kann er sich selbst nicht billigen und von seinen Rivalen nicht anerkannt werden. Fast immer strebt er danach, sich dem universellen Blick zu entziehen, durch den er sich von vornherein verurteilt fühlt.« (154)
Starobinski fährt fort: »Die ausgetauschten Blicke haben den Wert von Umarmungen oder Verletzungen. Sie sagen alles, was Gesten hätten sagen können, aber mit dem Potenzial, tiefer zu gehen, stärker zu beunruhigen: Sie stürzen die Seelen in Verwirrung.« (155)
A. Or te und Grenzen, Leib und Blick, verkleiner te Modelle »Der Akt des Sehens nimmt all jene Gesten in sich auf, die der Stilwille unterdrückt hat, er drückt sie symbolisch aus, er enthält alle ihre Spannungen und Wünsche. Darin liegt sicher eine ›Vergeistigung‹ des expressiven Aktes, die den Erfordernissen eines Zeitalters von Anstand und Höflichkeit entspricht: Die Leidenschaften können sich ausdrücken, aber gesittet, keusch, ohne übermäßige Gegenwart des Leibes. Bis zu dem Augenblick, wo der Dolch gezückt wird, stehen die Personen einander immer mit einem Zwischenraum gegenüber […] Leere scheint zu existieren, um von Blicken durchdrungen zu werden, Die Distanz, welche die Personen trennt, macht umgekehrt eine Grausamkeit möglich, die ganz Blick ist und durch die Reflexe von Liebe und Haß in den Augen die Seelen erreicht. Denn – trotz der Distanz und dank ihrer – gibt es einen Kontakt durch den Blick. Und wenn wir soeben die Vorstellung von einer Vergeistigung der Blick gewordenen physischen Gesten akzeptiert haben, müssen wir auch die umgekehrte Vorstellung von einer ›Materialisierung‹ des Blickes hinnehmen, der schwer wird, beladen mit allen körperlichen Werten, mit allen affektiven Bedeutungen, die ihn befallen haben.« (156)
Ein Vers bringt es auf den Punkt: »Und Eure Augen sind versunken in verhaltner Glut.« Starobinski kommentiert: »Kein klarer Blick mehr, der erkennt, sondern ein Blick, der begehrt und der leidet. Zunächst stellte sich uns der Racinesche Blick als Entfleischlichung der affektiven Geste dar; das Paradox liegt darin, dass er sich alsbald mit fleischlicher Verwirrung vollsaugt, die ihn beschwert. Schneidender Glanz, leidenschaftliche Trübung: Die Gegensätze existieren gemeinsam, und die Dichtung gefällt sich in dieser Ambiguität, dieser Mischung von Reinem und Unreinem.« (157)
Sehen hat die Bedeutung von Erkennen und Wissen, aber zugleich die der Gefahr eines unkontrollierten Affekt-Durchbruchs. Es bezeichnet im klassischen Drama Racines »einen Akt des Begehrens, der sich in verliebter Unersättlichkeit von der Gegenwart des begehrten Wesens nährt, heimgesucht von drohendem Unheil, im Vorgefühl eines Fluches oder einer Strafe, die solchem leidenschaftlichen Sehen anhaften«. Der architektonisch gestaltete Raum wird zur Kulisse eines Blick-Regimes. Die Personen sind gleichgültig gegen die Dinge im Raum, ihre Aufmerksamkeit ist ausschließlich auf das Blicken gerichtet. Was den Akteur allein interessiert, ist, »jemanden zu erfassen und zu wissen, ob die Augen, die er sucht, ihrerseits ihn betrachten oder gleichgültig sind«. Ein Jugenderlebnis betrifft eine Szene unter den missbilligenden Blicken eines Priesters, der Racines Augen überwachte. Dieser konnte nicht einmal mit einer begehrten Person einen Blick austauschen. »Der autoritäre Blick, der indiskret auf dem Helden ruht, trennt ihn von den Frauen, die er begehrt, stiehlt ihm buchstäblich das Vergnügen des Sehens und lässt ihm nur die Scham, zu schauen gewagt zu haben.« (158) Das Thema des betrachteten Blickes kehrt in den Tragödien immer wieder. »Selten nur findet ein Austausch von Blicken statt, ohne von den nahen oder fernen Blicken einer dritten Person überwacht zu werden. Eine von Racines Tragödien spielt wohl deswegen im Serail von Konstantinopel, weil ein Serail das vollkommene Modell eines Universums ist, wo alle Blicke von anderen Blicken ausgespäht werden.« (159)
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Die Liebe entsteht, wie die Rhetorik es will, auf den ersten Blick, im ersten »Augenblick«. Sich verlieben heißt, von einem Blick gefangen genommen werden. Der Blick ist ein Zaubertrank. Die Wirkungen dieses Zaubertranks sind bei Racine ernster als gewöhnlich. In der Nacht »getrunken« ist er »mit den Mächten des Unheils verbunden, mit schicksalhafter Kraft beladen«. Der Akt des Sehens hat eine frevelhafte Gewalt. Der Blick eines Siegers auf eine Gefangene oder der einer Gefangenen auf den Sieger ist der Beginn des Unglücks. Blicke zwischen Feinden hätten nicht getauscht werden dürfen. Allein weil jemand diesen Blick gewagt hat, verdient er den Tod. »Der Blick bei Racine ist eine unglückliche Gier. Stets wird ihm die Befriedigung versagt. Er bleibt ungestillt.« Gleichwohl kann er nicht vom anderen lassen. Die Personen müssen immer »wieder hinschauen, zu der trügerischen Nahrung zurückkehren, ein Glück verfolgen, das sich nie erfüllt, nie erobert wird. Sie stehen im Dienst der Wiederholung.« Die Liebe hat Ähnlichkeit mit einem endlosen Todeskampf, wobei »die Augen nur offenstehen, um sich mit Schrecken vor sich selbst zu füllen«. Der Liebende findet nichts als Schmerz und kann doch davon nicht lassen. So ist der erste Blick bereits das Verbrechen und in ihm der Untergang bereits besiegelt. (160) »Der Akt des Sehens bringt ein grundsätzliches Scheitern mit sich, in ihm stößt der Mensch auf ein undurchschaubares Hindernis und entdeckt seine eigene Ohnmacht. Nicht da es dem Blick an Klarheit mangelte, aber die Klarheit […] kann sich nie in einen festen Willen oder eine wirksame Tat verwandeln […] Racines Personen sind hellsichtig genug, um selbst in ihrer Raserei eine aussichtslose Schwäche zu erkennen. Sie wissen, daß sie wider Willen hingerissen werden und nichts tun können, um ihrem Untergang auszuweichen.« »Der Akt des Sehens, bei all seiner besitzergreifenden Gewalt, beherbergt die Schwäche und das Bewußtsein der Schwäche. Umgekehrt bedeutet das Gesehenwerden fast im selben Augenblick, sich als schuldig zu entdecken, in den Augen der anderen.« Der Angeblickte ist in seiner Schuldhaftigkeit fixiert. (161) Diese Poetik der Blicke sieht Starobinski als Resultat der Begegnung der griechischen Tragödie mit dem jansenistischen Denken. Racines Imagination fand, auf Euripides Dramen fußend, in Port-Royal übereinstimmende Ideologien. »Die christliche Tragik der Verfehlung vereint sich mit der antiken Tragik des Irrtums, und der verfolgende Gott des euripideischen Theaters vermischt sich mit jenem Gott, dessen Blick der Mensch nicht begegnen kann, ohne sich als Sünder zu fühlen.« (162) Diese Blick-Duelle finden auf dem Theater statt, jenem sonderbaren visuellen »Bau, wo Blick über Blick gezimmert ist«. Eine weitere Symptomebene für diesen Vorgang der Entkörperlichung des Verkehrs und der gleichzeitigen körperhaften Aufladung von Blicken sind die Architekturzeichnungen des 18. Jahrhunderts, die nicht selten trotz oder vermöge ihrer Genauigkeit erfüllt sind von der Ahnung rätselhafter Vorgänge. Die dramatischen Hell-Dunkel-Kontraste, die Fenster und Türöffnungen etwa bei Ledoux in tiefes Schwarz versenken, und Wolkengebirge, die sich bedrohlich zusammenziehen, unwirklich starr wie in der Ruhe vor dem Sturm, deuten auf etwas, das sich der Kontrolle entzieht, das unberechenbar ist. Sie tauchen die Gebäude und Szenerien in eine Atmosphäre der Erwartung, banger, lustvoller, aber auch und vor allem katastrophischer Ahnungen. Sie deuten auf die Anwesenheit von etwas Unsagbarem, dessen mögliche Auswirkungen mit der optischen Wahrnehmung allein nicht zu ermessen ist, obwohl es nur diese gibt,
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auf etwas, das es angeblich nicht gibt, das aber doch alles einfärbt, untermalt. Die Personen, die jene Zeichnungen bevölkern, die unverhofft aus den Schatten heraustreten, während sich andere vielleicht noch in ihnen verbergen, könnten einer eigenwilligen Sekte angehören oder einem verbotenen Geheimbund oder im Bann eines mythischen Schicksals stehen, das sie wie in einem Stück von Racine wie aus heiterem Himmel ereilen wird. Der Vernunft-Aufklärung werden so ihre Nebenwirkungen und ihr Preis nachgewiesen. Der Leibesverachtung des christlichen Abendlandes ist der Leib-Geist-Dualismus geschuldet, ihr verdankt sich aber auch die Anerkennung ästhetischer Empfindungen als selbständiger Erkenntnisbereich und die Begründung der Ästhetik als eigenständige Wissenschaft, in deren Konzepten die Trennung nach Aufhebung drängt. Für A. G. Baumgarten, der in einer 1735 erschienenen programmatischen Schrift die Ausbildung der Ästhetik als wissenschaftliche Disziplin fordert, handelt es sich um die Lehre von dem Schönen und damit um eine Lehre, die für das dunkle Vorstellen als der untersten Stufe unseres Vorstellungsvermögens ebensolche Regeln aufstellt, wie es die Logik für den klaren Verstand tut. Die Fortführung seiner Gedanken befreit das Schönheitsempfinden von seiner Abwertung als nochnicht-aufgeklärte Wahrnehmung und führt zu einer differenzierten Vermessung des Raumes ästhetischer Wahrnehmung, der sich dort auftat, wo man eben noch eine unüberbrückbare Kluft zwischen klarem Verstand und chaotischer Dunkelheit wähnte. (163) Robert Vischers Begriff der »Einfühlung« bezeichnete eine gewissermaßen mystische Verschmelzung des Erkennenden mit dem Objekt und verhalf einem neben der strengen Rationalität des intellektuellen Begreifens existierenden Modus des Erkennens zu verstärkter Anerkennung. Aus der Beobachtung, dass Gefühle auch durch das Erleben abstrakter Sachverhalte entstehen können, folgerte er, dass wir uns in Objekte einfühlen, indem wir unsere persönlichen Empfindungen auf sie projizieren, um sie dann als deren Eigenschaften wahrzunehmen. Ihm folgt eine Reihe von Anmutungstheorien. Heinrich Wölfflin endlich entwarf eine »Psychologie der Architektur«, in der er Architektur als sichtbaren Ausdruck des »état d’âme« begriff, des Gemütszustands des Betrachters. (164) Alois Riegl unterschied zwischen einer rein optischen Betrachtung aus der Distanz und einer taktilen Naherfahrung. Ihm folgte Adolf von Hildebrand, der die zweidimensionale Gesichtsvorstellung und das silhouettenartige Fernbild der taktilen und dreidimensionalen Bewegungsvorstellung gegenüberstellte, die sich zudem stets aus mehreren Eindrücken zusammensetzt, die nie eine Einheit vermitteln und vom jeweiligen Standort des Betrachters abhängig sind. »Denn wir erleben die Natur nicht allein mit dem Auge, auch nicht von einem einzigen Standort aus, sondern als etwas, das sich ständig verändert, ständig in Bewegung ist und das alle unsere Sinne erfordert.« (165) Unter diesem Aspekt gewinnt die romantische Rede von der Architektur als »gefrorene Musik« eine plastisch-dynamische Bedeutung, nämlich als eine Aufeinanderfolge von subjektiven Eindrücken, die man in jeder gewünschten Richtung, auch rückwärts durchwandern kann. Starke Anstöße für die Entwicklung einer eigenständigen Ästhetik gingen von den englischen Empiristen aus, bei denen das Sensuelle und die räumlich-körperliche Dimension des Handelns erheblich höhere Geltung besaßen als bei den Neu-
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platonikern. So schrieb Edmund Burke: »Schönheit wirkt, indem die Festkörper des ganzen Systems entspannt werden, (während) Körper, die rau und eckig sind, die Organe des Empfindens erregen und zwicken.« (166) In seinen Augen bedurften Gefühle keiner Rechtfertigung. In Fragen der Schönheit müsse das logische Denken seinen Autoritätsanspruch zugunsten der Vorstellungskraft aufgeben. Gefühle könnten eine Übereinstimmung zwischen einem Objekt und einem Denkorgan ausdrücken, die unabhängig von logischer Ableitung sei. Allison sprach von der Abhängigkeit des ästhetischen Erlebens vom Reichtum an Assoziationen, über die jemand verfügt, oder die einer Sache zuströmen, und der durch logische Strenge nur eingeengt werden könne. Schon vor Burke wurde das Schöne mit dem Süßen und das Erhabene mit dem Bitteren assoziiert, und das Taktile wird als unterschwellige Qualität des Visuellen reflektiert, als etwas, das, wie Burke sich ausdrückte, für »Delikatesse« sorgt. William Hogarth zählte zu den ersten Theoretikern, die physische Formeigenschaften, die mit taktilen Assoziationen wahrgenommen werden, als Ursache von Empfindungen des Schönen identifizierten. Dass geschwungene Linien und sanft ondulierte Oberflächen schon auf die primitive Psyche Eindruck machen, beweise, dass das Schönheitsempfinden nicht erst eine Folge der Geistestätigkeit und Ausdruck von Ideen ist, sondern auf der unmittelbaren Wirkung objektiver Eigenschaften beruht. Die Freude bei der Wahrnehmung geschwungener Formen beruhe darauf, dass der Gesichtssinn als Stellvertreter des Tastsinns fungiert. Das Sehen ist mit dem Wunsch nach Berührung verbunden. Während das Auge an der konvexen Gestalt entlangwandert, tastet es sie gewissermaßen ab. Hogarth traut dem Tastsinn zu, was man bis dahin dem Geist vorbehalten hatte: zu einem ästhetischen Urteil zu gelangen. (167) Burke behauptete in seiner Schrift »The Beautiful in Feeling« eine innere Analogie zwischen Sehen und Fühlen. Das Sehen selbst sei haptischer Natur. Auch er schenkte besondere theoretische Aufmerksamkeit den geschwungenen Linien, dem Konvexen und Konkaven. (168) Der empirische Zugang zu ästhetischen Phänomenen erlaubte, die dichotomische Struktur normativer Ästhetik zu überwinden und den Anteil negativer, anspannender Gefühle bei ästhetischen Empfindungen zu erkennen, die nämlich, worauf auch Shaftesbury hinwies, dann am stärksten seien, wenn der Schönheit eine gewisse Dosis Hässlichkeit beigemischt ist. Reine Schönheit sei langweilig und wirke kraftlos. Addison, der Schönheitsempfindungen als eine Frage der Ideenassoziationen verstand, vertrat einen moderateren Sensualismus als Burke. Erst recht Kant, der die ästhetische Freude aus unserer Urteilskraft herleitete, fand die Formeigenschaften der Objekte an der Genese des Schönheitsempfindens wohl beteiligt – während das Schöne im Zusammenhang steht mit der Beschränkung des Gegenstands, durch die er überhaupt erst existiert, wird das Erhabene mit dem Unbeschränkten und der Formlosigkeit in Verbindung gebracht – er sah jedoch die Quelle des Empfindens nicht in der Natur der Nerven, sondern im Gemüt. In Frankreich war es vor allem Diderot, der sich gegen die normative klassische Ästhetik auflehnte und sich über den kleinlich engen, zaghaft-konventionellen, ängstlich-empfindsamen Geschmack seiner Zeitgenossen mokierte, wobei er sich auch in Grobheiten gefiel. Er illustrierte seine Argumentation, der zufolge die Kunst und die Poesie nach dem Enormen strebe, mit Beispielen aus kriegerischen
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und revolutionären Zeiten, die der Geburt des dichterischen Genius günstiger gewesen seien, da sie seiner Einbildungskraft Beispiele von Grausamkeit, Zerstörung, Schrecken und Grauen boten. Kritiker warfen ihm vor, das Schöne einem Kult der Intensität zu opfern. Die Mythologie, die extremen und gegensätzlichen Gefühlen Ausdruck verleiht, belegt seiner Auffassung nach das Wilde und Maßlose der Anfänge unserer Kultur. Die Bemühungen, den Bereich der ästhetisch relevanten Phänomene über die Grenzen des Gefälligen hinaus zu erweitern und das Hässliche und das Schreckliche einzubeziehen, führen auch bei ihm zu einer Rehabilitierung des Tastsinns und der haptischen Qualität des Sehens. Die Raumdimension des Handelns und Erlebens kommt in Gestalt der Hässlichkeit und der Übertreibung wieder ins Spiel. Im Zentrum dieses Diskurses steht der Begriff des »Erhabenen«. Bisher eine Spielart des Schönen und diesem beigeordnet, wird es nunmehr eine vom Schönen unabhängige Kategorie und zum Sammelbegriff all jener negativen Eigenschaften, die auf uns einen ästhetischen Eindruck machen. Schon vor Burke suchte man in der Kunst den leidenschaftlichen, jähen Ausdruck, das Gegenteil der klassischen Dämpfung, und man bemängelte verschiedentlich, dass das Schöne in der Regel weder überraschend noch überwältigend sei. Als Folge eines Verlangens nach Intensität, Unmittelbarkeit, starken, tiefen Eindrücken begann man auch, das Derbe, Unangenehme, primitiv Erregende, Hässliche, Neurotische auf die ästhetische Eignung hin zu diskutieren. Welche diskursiven Widerstände dabei überwunden werden mussten, zeigt sich an den umständlichen Rechtfertigungen, derer es bedurfte, wenn das Schöne mit der Wirkung von derlei Qualitäten verglichen oder vermischt wurde. Bei Burke finden wir erstmals die explizit positive Erwähnung und eine systematische Einordnung des Hässlichen. Zwar das Gegenteil des Schönen, kann es doch erhaben wirken, wenn es Schrecken hervorruft. In dem Maße, wie man anerkennen lernt, dass nicht Proportionen und Maßverhältnisse die maßgeblichen Wesensmerkmale des Ästhetischen sind, sondern unser ästhetisches Urteil seinen Ursprung im unmittelbaren Empfinden des Individuums und in dem Appell des Objekts an dessen Einbildungskraft hat, wird das Schöne aus der Bevormundung durch Normen befreit und als einzige ästhetisch relevante Qualität entthront. In seiner »Inquiry of the Origins of Beauty and Taste«, deren Einfluss auf die Zeitgenossen wie auf die Nachgeborenen gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, stellte der junge Burke die Behauptung auf, dass die zwingenden ästhetischen Erfahrungen gar nicht mit dem Schönen verknüpft seien, sondern dass Schmerz und Gefahr wesentlich intensivere Stimuli seien als Schönheit und Gefälligkeit und Grazie, und dass sie zudem aus sicherer Entfernung erlebt und genossen geradezu lustvoll sein können. Burkes Theorie des Erhabenen hat sicherlich eine soziologische Dimension. Indem er nicht länger versuchte, die Verbindlichkeit einer normativen Theorie der Schönheit zu retten, reflektierte er den irreparablen Zerfall des hergebrachten sozialen Kosmos, als Reaktion auf die Notwendigkeit, nach neuen Instrumenten oder Mechanismen der sozialen Integration zu suchen, die an die Stelle der traditionellen Institutionen treten könnten. Im Individuum als dem Sitz der Vernunft meinte man, wenn man vom Erhabenen sprach, eine Disposition für das Übermächtige zu erkennen, eine Anfälligkeit für das es Überwältigende, als das sich auch das
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Kollektiv darstellt. Im vereinzelten, anomischen Individuum ist dieser Auffassung nach eine Veranlagung oder ein Talent zur Vergesellschaftung und zum Staatsbürger angelegt. Für Kant phantasiert sich im Erhabenen das Subjekt als Bezwinger dessen, was viel größer als es selbst ist, und zwar durch den Sieg der Vernunft über die Sinnlichkeit. Das Erhabene ist ihm das Gefühl des Triumphs, das den Menschen befällt, wenn er vor der ungeheuerlichen und formlosen Natur steht, die eigentlich Angst und Schrecken auslöste. Vernunft und Staat werden so kongruent. Das Gefühl des Erhabenen stellt sich ein, wenn zu diesem Schrecken über die Nichtigkeit in der Sinnenwelt die Erinnerung an die Größe des Menschen als vernünftiges, moralisches Wesen tritt, als das es sich im Staat eine Form gibt. Burke wertet das Überwältigtsein selbst als Disposition zum vernunftgemäßen Handeln. Das Angsterlebnis wird derart in einen Triumph umgewendet. Burke, wenngleich sein Traktat von den Eindrücken der Natur handelt und er als philosophische Erörterung ästhetischer Qualitäten der Natur interpretiert wird, ging aus von Beispielen »künstlicher Unendlichkeit«. Der von ihm angestoßene Diskurs um die Erhabenheit der Natur wurde geführt im Kontext technischer und rhetorischer Fragen der Gartenbaukunst. Er selbst lobte den Gartenarchitekten Chambers und erteilte ihm mehrere Aufträge. Im Landschaftsgarten wird das Erhabene als Naturtheater aufgeführt. Erhabenheit ist somit ein rhetorisch-theatralischer wie ein technischer Aspekt der Natur. Als »rohe« ist sie nicht erhaben, sondern nur, sofern sie bearbeitet ist. Die rohe Natur als Ursache eines erhabenen Gefühls ist Fiktion. Die »Allgewalt der Natur« darf nur scheinbar sein, weil sich der Mensch nur dann mit ihr messen kann. »Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden; und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen, und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Mut macht, uns mit der Allgewalt der Natur messen zu können.« (169) »Der Mensch setzt die Bedingungen des Duells, den Rahmen, in dem er sich mit der Natur mißt.« (170) Unter den Beispielen in der Natur, in der man das Erhabene – der Fiktion gemäß –ausschließlich anzutreffen meinte, weil es die menschlichen Möglichkeiten übersteige, dominieren Raumqualitäten wie Weite und Leere, sowie atmosphärische Aggregatzustände wie Unbestimmtheit und Dunkelheit, Wildheit. Burke spricht vom »pleasing horror« beim Anblick des unendlichen Horizonts oder des aufgewühlten Ozeans oder eines tiefen, dunklen Waldes. Die Wirkung des Unendlichen in der Architektur konnte etwa illusionistisch hervorgerufen werden im Medium doch stets endlicher Gebäude oder Ensembles etwa durch die unendlich erscheinende Reihung gleicher Elemente, oder durch die Verlängerung einer Stapelung oder einer Säule ins Unendliche. Die Wirkung schier endloser Arkadenstraßen produziert einen erhabenen Effekt, wozu die römische Antike Beispiele in großer Zahl lieferte. Dabei argumentiert Burke sensualistisch, wenn er die Wirkung von Übergröße und endlos scheinender Reihung von Elementen sich bemüht, auf physiologischer Basis zu erklären. Bei der visuellen Aufnahme eines großen Objekts müsse das Auge eine große Sehfläche rasch durchschreiten, was die Sehnerven derart anstrenge, dass ein Gefühl der Spannung und der Irritation entstehe.
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Der privilegierte Schauplatz des Erhabenen ist die Architektur. Die Beschwörung von erhabener Größe ist in den Bühnenentwürfen Galli Bibienas am weitesten getrieben. Auch Filippo Juvarra gibt in seinen Entwürfen Visionen einer ins Unermessliche geweiteten Baukunst. »Die barocke Bühne geht auf Überwältigung und Distanzierung des Betrachters aus […] Ob morgenländisches Gefilde oder die ritterliche Welt des Ariost – die Thronsäle und Galerien, die Treppenfluchten und Binnenhöfe folgen in der verwirrenden Vielfalt der Perspektiven und in der Tiefenerstreckung der Hallen und Gänge römisch-antikem Vorbild, das in zeitgenössischer Adaption mit der Vorstellung von Erhabenheit gleichgesetzt wird.« (171) Obwohl die Theaterarchitektur nur ihrer eigenen Idee verpflichtet und dem Kalkül bautechnischer Verwirklichbarkeit enthoben scheint, steht diese architektonische Beschwörung von Größe doch immer in dem Verweisungszusammenhang der Repräsentation göttlicher Macht durch die des Herrschers, der Repräsentation der Allgewalt des Souveräns durch die programmatische Prunkentfaltung seiner Bauten, etwa im Versailles Ludwigs des XIV. oder in Palazzo Reale zu Caserta. Auch die phantastischen Gedankenflüge einer erfundenen Bühnenarchitektur blieben auf den Vorgang der Haupt- und Staatsaktion bezogen. »[Sie] sind prunkender Rahmen für eine Dramatik hochmögender Heroen und erlauchter Handlungen, geprägt und zusammengehalten durch die Idee einer repräsentativen Besonderung und Heraushebung der höfisch-heroischen Sphäre. So zielt alles auf Überwältigung und Sinnverwirrung des Betrachters ab, der im versuchten Nachvollzug von Bühnenwelt und Bühnengeschehen seinen Abstand zu ihm erfährt. Aber zugleich bleibt der Sinnzusammenhang hinter der Erscheinung jederzeit gewahrt, legitimiert sich das Außerordentliche als Teil göttlicher Weltordnung.« (172) Seine eigentliche Verwirklichung sollte das Motiv der Größe bei Boullée erfahren, dessen monotone Säulenreihen sich mit dem Moment der Übergröße zu einem ins Erhabene gesteigerten Eindruck verbinden. Boullées eigene Äußerungen zum Erhabenen decken sich über weite Strecken mit Burkes Ansichten. Auch er würdigt den erhabenen Effekt dunkler Innenräume, megalomanischer Monumente und des Unendlichen, und er reflektiert auch den leiblichen, taktilen Anteil unserer Wahrnehmung von Architektur. Auf dem Weg der Einfühlung, der freudigen oder angstvollen Sympathie, die auf den taktilen Grundlagen des Sehens beruht, versuchen wir uns u.a. auch die enormen Anstrengungen zu vergegenwärtigen, die zur Errichtung monumentaler Bauwerke notwendig wären. Besondere Bedeutung schließlich gewann für Boullée Burkes Theorie vom schmerzhaften Effekt der Hell-Dunkel-Kontraste, der durch die Verunsicherung auf Grund der plötzlichen Überforderung der Sehnerven erklärt wird. Ledoux führte die Beliebtheit dieses Effekts zu seiner eigentümlichen Rustica-Bauweise und zu seiner durch Kuben unterbrochenen Säulenordnung. (173) Piranesi schließt mit seiner theatralischen Wiederherstellung des imaginären römischen Imperiums nur halbherzig an die Bühnenphantasien an. In der Potenzierung bricht er mit der Grundlage des Systems, der konstruktiven Logik der Entwürfe, die er zugleich virtuos zu suggerieren weiß. Zunächst füllt er die Blätter in rasender Selbstübertrumpfung mit übereinander getürmten Baumassen, schieben sich immer weitere Trakte ins Bild, bei Verkantung des Blickwinkels. Die Inhomogenität der Architekturteile und die Aufgliederung der Wände und Arkaden lassen
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eine Rekonstruktion des Ganzen in einem Blick nicht mehr zu. Wirksamer jedoch ist eine andere Strategie der Steigerung, die ebenfalls zur Widerlegung des Bühnenprinzips führt. Anders als im Barock-Bühnenbild nimmt er den Standort des Betrachters nicht außerhalb der Guckkastenbühne an, sondern zieht ihn in das Bild hinein. Bisher stand er vor der perspektivischen Flucht der Räumlichkeiten, durch den Bühnenrahmen vom Geschehen getrennt, in dem vom Architekten vorgesehenen Wahrnehmungszentrum, von dem aus sich der Zusammenhang organisiert und erschließt. »Bei Piranesi dagegen ist er in das Verwirrspiel der Fluchtlinien einbezogen. Der Raum wächst gewissermaßen über ihn hinweg.« (174) Er liebte es, »seine Räume aus einer verschobenen, meist weit von oben kommenden Sicht zu entfalten, so als sähe man von einer Terrasse oder Treppe auf den rings umgebenden Platz hinunter, in den nach jeder Richtung sich weiter erstreckenden Palast hinein. Die Bodenfläche dehnt sich vor dem nach Begrenzung suchenden Blick in den Hintergrund. Dagegen sind die Decke und die Gewölbe ganz oder teilweise vom oberen Bildrand abgeschnitten, was am meisten zu dem Eindruck beiträgt, als schlüge der Raum über dem Betrachter zusammen.« (175) Das Ergebnis ist »das paradoxe Zugleich einer Illusion handgreiflicher Wahrscheinlichkeit der vorgeführten Bauten […] deren Ordnung nachzugehen […] [man sich beinahe quälend verpflichtet fühlt,] und der blanken Unmöglichkeit, dem Gesetz und Plan dieser Atrien und Loggien auf die Spur zu kommen.« (176) »Wie später in den ›Carceri‹ sind die titanischen Bauten ja ganz offenbar nicht von den jämmerlichen Figuren – und auch nicht für sie – errichtet, die man da auf den Treppen und Denkmalssockeln herumlungern sieht. Rätselhafte Denkmäler unbekannter Größe oder Schuld, ragen sie, halb verwittert und verfallen, in eine fremde Gegenwart herein, die der nachschaffende Architekt in aller Doppeldeutigkeit mit beschwört. Piranesi überantwortet gewissermaßen seine Phantasie, damit sie ihrer Aufgabe gerecht werden kann, so gänzlich der Beschwörung von Unvergleichlichem, daß er selbst wie der Betrachter in die Rolle des Staunenden versetzt wird und – entsprechend seiner impliziten, dem Barocken gegenüber erschreckend radikalisierten Definition des Erhabenen – keinen Überblick über die Visionen mehr besitzen darf. Er denkt bei seinen Rekonstruktionen in enigmatischen Räumen, deren architektonische Verhältnisse ebenso wie die wahrnehmbaren Details in sich konstruktiv logisch geordnet erscheinen und so den Eindruck ausmeßbarer Räumlichkeit erwecken, deren Zusammenhang aber und damit auch die Möglichkeit eindeutiger perspektivischer Aussagen aufgehoben sind.« (177) Piranesi hat in seinen Radierungen »erstmals die Leistungen und Errungenschaften der Renaissance außer Kurs gesetzt, die uns die Erkenntnis des Raums durch die Vereinheitlichung der Wahrnehmung auf einen Augenpunkt und damit die Zusammensetzung des Raums zu einem einheitlichen Ganzen gelehrt hatte. Die einheitliche Wahrnehmung ohne gegebenen Orientierungspunkt erweist sich als trügerisch, die Architektur des Erhabenen als gebautes Paradox, dessen Unvergleichlichkeit darin besteht, nach den vertrauten Gesetzen nicht entwirrbar zu sein.« (178) Burke könnte zu seinen Überlegungen stärker als von den Schriften, die vor ihm von dem Sublimen handeln, von solchen angeregt worden sein, die über die Ursprünge der menschlichen Kultur spekulierten, namentlich von denjenigen Theorien, welche die Religion, die Wissenschaft und die Künste aus der Angst des pri-
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mitiven Menschen erklären. Diese Hypothese, die auf Demokrit zurückgehen soll, wurde u.a. von Thomas Hobbes aufgegriffen und von Giambattista Vico in seiner »Scienza Nova« beispielhaft ausgeführt. Vicos neue Wissenschaft, seine im Kontext der Frühaufklärung zu verstehende Geschichtsphilosophie, handelt von der Rolle der Angst für die Konstruktion des mythologischen Weltbildes. Sie erklärt, wie die Phantasie der ersten Menschen die kontingenten Gegebenheiten der Umwelt in Sinnzusammenhänge transformiert hat, die menschliches Leben allererst möglich machten. Eindrucksvollstes Beispiel für die kulturschöpfende Kraft der angsterfüllten Phantasie ist die Entstehung der Götter, die als anthropomorphe Antwort auf außergewöhnliche Naturerscheinungen wie Blitz und Donner gedeutet wird. Die Phantasie ist gefordert, sie als Zeichen einer übermenschlichen, dem Menschen gleichwohl ähnlichen Macht zu interpretieren. In den ungeheuren Stürmen der Sintflut hörten die Giganten und Heroen ihr eigenes Geschrei, das sie vor ihren tödlichen Kämpfen auszustoßen gewohnt waren, in furchteinflößender Verstärkung. Sie wendeten erstarrt den Blick zum Himmel und empfanden den Urheber dieses Geschreis als ein übermächtiges, angsteinflößendes Wesen, das sie Jupiter nannten. (179) Vico spricht von den Schrecken der Naturgewalten, denen sich die Menschen, die zu abstrakten Ideen noch nicht fähig waren, »noch ganz Staunen und Wildheit«, hilflos ausgesetzt sahen, von der »furchtbaren Religion der Blitze«, und von ihren institutionellen Folgen. Die Vorstellung wirkt auf das Verhalten der Menschen zurück. Der Respekt vor der Gottheit führt zur Kanalisierung und Stabilisierung der Triebe durch gesetzliche Lebensgemeinschaften, die wiederum Grundlage menschlicher Kultur sind. Kannibalisch drohende Kultmasken etwa verstand man als Nachahmung von Furcht und zurückgehend auf das Erleben des Angeblicktwerdens als etwas Furchtbarem. Erst mit der Depotenzierung der mythischen Furcht durchs erwachende Subjekt verliert sich dieser Ursprung und sein Wissen in der Kultur. Nietzsches Satz, alle guten Dinge seien einmal arge Dinge gewesen, und Schellings Einsicht vom »Furchtbaren am Anfang« erinnern an diesen vergessenen Ursprung. Vergessen werden mussten der Schrecken und die Furcht und der Umstand, dass die Götter vom Menschen selbst erfunden worden waren. Vico wurde in der Romantik als der erste gefeiert, der nach den Griechen philosophisch nach dem Wesen der Sprache, der Mythologie und der Entwicklung der Gesellschaft in funktionaler Hinsicht fragte. Die Sprache ist demnach als Fortführung der Geste aus dem Schrecken geboren, den die Natur dem Menschen verursacht hat und der im Geräusch des Donners im Höchstmaß verkörpert ist. Bei Burke finden sich viele Anklänge an Vicos Konzept, wenngleich es bei Burke in mehrfacher Hinsicht eine Umkehrung erfährt. Bei ihm ist der Schrecken zu einem von Menschen selbst produzierbaren ästhetischen Phänomen geworden, und die Menschen sind dem Stadium der Wildheit längst entwachsen. Der künstliche und kunstvoll dosierte Schrecken soll Vicos zivilisatorische Entwicklung momentan zurückzugehen ermöglichen, soll die durch Abstraktionsfähigkeit angstfrei gewordenen und in Kultur sicher eingebetteten Individuen wieder das Staunen und das Fürchten lehren. Aus Burkes Theorie spricht die Suche des durch ständige Reizung Abgestumpften, des übersättigten Großstädters nach neuen, stärkeren Reizen, nach dem Bizarren und Gewaltsamen der Überwältigung. Aber in ihr reflektiert sich auch die soziale Situation, die von Industrialisierung, Proletarisierung, Bevölkerungsexplosion und Verstädterung geprägt ist und von dem
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drohenden Versagen der herkömmlichen sozialintegrativen Kräfte beeindruckt ist. Der Schrecken soll das Individuum wieder nackt und sich seines Leibes als des einzigen sicheren Besitzes bewusstwerden lassen und ihm Angst einjagen und es dadurch empfänglich machen für die im zivilisierten Zustand gering erachteten Segnungen der sozialen Institutionen. Vielleicht ebenfalls an der Vico-Lektüre geschult und von Burke beeinflusst, identifizierte Alois Riegl später die taktile Wahrnehmung und die Neigung zum Gigantismus mit einer geistigen Furcht vor dem Raum, einer Art »horror vacui«, den er »Raumscheu« nannte. Er unterschied solche Epochen, in denen das »Kunstwollen« eine Negation oder Neutralisierung des Raumes darstellt, von anderen, in denen der Raum angenommen und die Angst überwunden wurde in der Ausprägung einer Fähigkeit zu offenen stereometrischen Gestaltungen, von den ägyptischen Pyramiden bis zum Tempel von Karnak. Hildebrand und Wölfflin adaptierten den Begriff der »Raumscheu« zur Interpretation der alten Monumente, auch etwa der Mode der Rustizierung der Mauern in der Renaissance, als Bemühungen, die furchterregende Leere zu füllen. Die Affinität zu einem solchen Erklärungsmodell hat wiederum Dolf Sternberger als Ausdruck der Zeit gedeutet. Er sah in der Theorie der Raumscheu den Reflex auf die verbreitete Unsitte, Wohnräume mit Mobiliar, Vorhängen und Trophäen vollzustopfen. (180) Der Terror des Sublimen ist aber auch Vorläufer einer existenzialistischen Akzentuierung der trüben Affekte, wie der Angst, der Langeweile und des Ekels etwa bei Sartre, da sie dem Geist näher und der Reflexion günstiger seien als die hellen Affekte des Schönen und des Gefallens. In dieser Interpretation ist das Erhabene verwandt mit dem »Heiligen« bei Durkheim. Auf dieses nimmt Bataille mit seinem Begriff des »Heterogenen« ebenso Bezug wie auf Nietzsches Überlegungen zum Leib und zur Erschütterung der moralisch abgesicherten und leidenschaftslosen Zivilisiertheit. Bataille spricht von der Faszination durch das Ausgegrenzte, die archaischen Ambivalenzen, in denen Hässlichkeit mit Schönheit, Glück mit Gewalt verknüpft ist, Rausch und Grauen ineinander verwoben sind. Das Heterogene ist wie das Sakrale in der auf anthropologische Befunde fußenden Soziologie Durkheims im Kontrast zur Welt des Profanen mit auratischer Kraft besetzt, die den Menschen zugleich verlockt und abstößt. Gerade diese Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Empfindungen ist es, was Bataille als Merkmal der körperlich-taktilen Wahrnehmung reklamiert, solange sie nicht durch rationalisierende und moralisierende Schemata verfälscht und domestiziert ist. Der Sorge um das Ganze ist das Erhabene in dieser Variante enthoben. (181) In ihm findet sich keine Spur mehr von der Suche nach dem Leviathan. Nicht dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, gilt das Interesse Batailles und der Existenzialisten, sondern den Möglichkeiten, dieser Homogenität zu entrinnen. Das nicht ungefährliche Vehikel ist der Überdruss, der Abscheu, der Ekel, der das Paris der »Eingeschlossenen« oder Paul Nizons Hafen von Aden vergiftet. (182) Das Erhabene erfährt im Licht oder im Schlummer des Existenzialismus eine nihilistische Modifikation. Es taucht auch auf als Chiffre für Versuche der Durchbrechung der falschen Totalität in einer Art unmittelbarer Offenbarung in Benjamins »profaner Erleuchtung« oder Musils »tagheller Mystik«, und bemüht dafür die snobistische Pose gegen das Gewöhnliche, wie sie Ernst Jünger einnahm. Im
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Begriff des Erhabenen überschreitet das Regime der Visualität die Grenze zum Taktilen und Körperlichen.
A 13. Die Moderne bäumt sich auf gegen Hässlichkeit und Verfall und Schwäche. Der Ingenieur, wie ihn Le Corbusier sich als Idealbewohner seiner strahlenden Stadt vorstellte und wie er ihn selbst verkörpern wollte, ist »gesund und männlich, aktiv und nützlich, moralisch und fröhlich«. Das Bild des mit Kraft und Energie aufgeladenen Körpers, dem der Boxer seine Idealgestalt verlieh, faszinierte eine Gesellschaft oder zumindest eine Künstlergeneration, bis Rem Koolhaas den Modernismus des entlasteten Lebens in seinem hybriden Hochhaus in »Delirious New York« ironisierend bebilderte. Im Zusammenhang mit der Entdeckung des Körpers und dem Realitätsgefühl stand ein Enthusiasmus für das Notwendige und Wesentliche. So war z.B. Adolf Behnes Ziel »die vollkommenste Anpassung an das Leben«. Den Anforderungen eines lebensfördernden Werkzeugs konnte die alte Bauweise mit den schweren, einschließenden Mauern mit kleinen Fensteröffnungen zu dunklen Hinterhöfen, welche die Wohnung zum Kellerloch machten, nicht genügen. Das neue Körpergefühl, das der sportliche Mensch in sich trägt, verträgt, so Sigfried Giedion »das kerkermäßig verklemmte Haus nicht mehr«. Sein Postulat: »Wir brauchen heute ein Haus, das sich in seiner ganzen Struktur im Gleichklang mit einem durch Sport, Gymnastik, sinngemäßer Lebensweise befreiten Körpergefühls befindet: leicht, lichtdurchlassend, beweglich.« Die moderne Architektur sollte der Inszenierung der neuen Körperlichkeit dienen, sie wurde darum in Analogie zu diesem konzipiert: als in den Raum übersetztes Körpergefühl. (183) George Steiner suchte, der Geometrisierung der Welt und dem Zugriff der Abstraktionsprozesse auf den Raum und das Leben eine umfassende pädagogische Lebens-Hygiene entgegenzusetzen, wobei er mit dem Tanz auch die Architektur einbezog und zum Leit-Medium machte. Die Avantgarde der Architektur-Moderne träumte insgesamt von einer gesunden Gesellschaft, heftiger noch, als die unter dem Schock der Pest von Gesundheitsfragen durchdrungenen späten RenaissanceTraktate und die von Religionskriegen ausgeblutete Welt der Aufklärung dies getan hatte. Die Verurteilung der großstädtischen Hinterhofenge, die Propagierung von Licht und Luft und die künstliche Beleuchtung, die die Nacht zum Tag macht, sowie die Sterilität von Eisen und Glas sollten im Rahmen einer umfangreichen »Hygiene des Optischen« die tiefsitzende Furcht vor dem Kranken, Schmutzigen vertreiben, die Staub- und Schimmelphobien, eine nur schlecht verdrängte Angst vor dem Verwesenden heilen helfen. Jede Gesellschaft erwartet von der Architektur, dass sie ihre Ideale spiegeln möge und ihre tiefsten Befürchtungen bändige. Die Avantgarde der ArchitektenModerne interpretierte diese Erwartung dahingehend, dass sie die hygienisch-therapeutische Bedeutung der Technik in den Vordergrund stellte und die Menschen zu Kranken und Invaliden erklärten, die diese Medizin bitter nötig hätten. Le Corbusier konnte es sich durchaus vorstellen, zusammen mit der Heilsarmee einen Feldzug durch Frankreich zu unternehmen, um der Bevölkerung beizubringen, wie sie im neuen Maschinenzeitalter leben, bauen und wohnen müsse. Blazer,
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Tennisschuhe und Feldstecher gehören zu den unentbehrlichen Requisiten seiner Entwurf-Zeichnungen. Auf den Flachdächern seiner Wohnmaschinen stand man wie ein Kapitän auf der Kommandobrücke eines Traumschiffes auf Kreuzfahrt. Die Moderne setzt die Utopie der Aufklärung im Sinne eines Menschen fort, der sich auf seinen durch sportliche Betätigung und Hygiene gestählten Körper verlassen kann und sich, da er zudem durch Maschinen und geeignete Organisationsformen für mancherlei Dienstleistungen von körperlicher Arbeit und von Hausarbeit entlastet ist, intellektuellen Vergnügungen zu widmen weiß. Georg Simmel beschrieb diesen neuen Menschen als einen solchen, der keiner Fetischisierungen bedarf und der, wenn wir mit Valéry und seinem Herrn Kopf den Gedanken fortspinnen, in dem allgemeinsten Interieur zu leben vermag. Jene ausgegrenzten Bereiche und verdrängten Phänomene der Unordnung, des Ungesunden, Unsauberen und der Dunkelheit üben aber gerade wegen ihrer Ausgrenzung zugunsten einer übersteigerten Hygiene einen ästhetischen Reiz aus, sei es deshalb, weil mit ihnen auch Quellen der Vitalität und der Lust ausgegrenzt werden, oder weil der Einzelne dagegen auf begehrt, dass es ihm versagt sein soll, sich selbst zu verlieren oder gar zugrundezurichten. Die Risse in der Oberfläche, Schatten, Spuren des Gebrauchs, Vorboten des Zerfalls kommunizieren mit unterdrückter Sinnlichkeit und mit uneingestandenen Regressionswünschen. Als Unbekanntes und Verbotenes locken sie mit einer tieferen Wahrheit über den Menschen. Die Stadt, wo sie den Idealen der Moderne entspricht, setzt das Leben einer gnadenlosen Helligkeit aus, die wie auf der Bühne Jean Genets zum Synonym für Ohnmacht wird. Die alten, noch nicht modernisierten Reste der Städte gegen ihre ungebetenen Retter verteidigend, schrieb de Certeau rückblickend in einer mit »Panik Stadt« betitelten Essaysammlung: »Was wir an unseren Städten lieben, sind ihre Löcher. Oder auch ihre Risse, Spalten, ihre Verluste, ihre Verstecke, ihre Geheimnisse und ihre Höhlen, und wenn man uns vertreibt aus all ihren Dunkelheiten, um uns dahin zu versetzen, wo nichts mehr passiert vor lauter Ruhe, d.h. an bis zum Rand mit Anstand gefüllte Orte, dann vertreibt man uns aus einem ungesunden Schatten, um uns der Sonne akademischer, demokratischer, technokratischer und programmierter Indifferenz auszusetzen. [Die Stadt ihrerseits entfremdet sich uns,] löst sich von uns, weil es ihr nicht mehr erlaubt ist, sich selbst zu zerstören.« (184)
Architektur setzt in einem Maße, dass nur die banalsten Gebrauchsgegenstände da mithalten können, auf Wiederholung des Immergleichen. Dies gilt in weit höheren Maße, als es für Institutionen und Gebräuche der Fall ist. Architektur steht damit in eklatantem Gegensatz zur Kunst. Auch in anderen Funktionssystemen wie Politik, Wirtschaft oder Rechtsprechung ist dies nicht annähernd in so hohem Maße gegeben und zuträglich. Während dort Wiederholungen schnell als Ritualisierungen und Denkfaulheit negativ auffallen, steht die Notwendigkeit des Wiederholungscharakters architektonischer Gesten und ihrer Wiedererkennbarkeit bei Architektur außer Frage. Die Überbewertung der Originalität wird nur insoweit im Medium des Architektur-Diskurses goutiert, als vom Architekten auch eine Handschrift und Originalität erwartet werden. Das paradoxe Verhältnis von Wiederholungscharakter und Erwartbarkeitsgebot auf der einen und Originalitätszwang hat Rosalind Krauss in eine Reihe von
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grundlegenden Paradoxien der Moderne gestellt. (185) Sie führt in ihrer Liste der Avantgarde-Mythen eine Reihe von Eigenschaften an, die der moderne Künstler haben müsse: Die Moderne versteht sich als die Auflehnung gegen das Zusammenkochen von Ingredienzien. Stattdessen muss das Werk jetzt ein im Ganzen Eigenes sein. Die endlose Folge von Formen, die in der historischen Perspektive die bisherige Geschichte der Kunst ausmacht, soll als sinnloses Spiel ohne Autor zum Abschluss kommen. Modern sein, heißt ernst werden, erwachsen werden, nicht mehr so verspielt sein, keine Zeit mehr vergeuden, die Dinge nicht mehr sich selbst überlassen, zielstrebig planen im Sinne einer Vernunft, deren Ökologie sich nicht mehr verändern muss. Man nimmt sich fest vor, kraft des Intellekts ein Reich puren Geistes zu errichten, eine Welt der Durchdachtheit und Entschlossenheit. »Funktionalität« ist nur ein anderer Name hierfür. Man lässt nur noch Arbeiten gelten, die für eine Idee unternommen werden, die größer ist als das Individuum: für die Idee des Kollektivs oder des Fortschritts. Außerdem will man nicht mit Eingebürgertem einfach fortfahren, nicht einfach so weitermachen wie bisher. Abgucken beim Nebenmann ist verpönt. Ein Kult der Originalität wuchs um die Modernen, den sie selbst erfanden, während sie offiziell Alleingänge diskriminierten. Die Modernen wollten Methoden liefern, die andere ebenso anwenden könnten. Es zeigte sich jedoch, dass sie nur Originale aus eigener Hand machen und zulassen wollten. Zugleich gibt man sich als Rahmen das Raster, das von der Originalität des Einzelnen am weitesten entfernte Schema. Le Corbusiers »Villes radieuses« sind wie Hilberseimers Kuben auf endlose Repetition angelegt, das paradoxe Bild einer Struktur ohne Mitte und einer Geschichte ohne Abfolge – die Weigerung zu sprechen. Einen neu eröffneten Raum der absoluten Freiheit, der absoluten Zweckungebundenheit eröffnen und betreten die Architekten mit der finsteren Entschlossenheit, sich sklavisch dem Zweck unterzuordnen, einer Tyrannei der Zwecke als Selbstzweck. Das Raster wird zum paradoxen Bild und Inbegriff des absoluten Neubeginns, obwohl es die absolute Negation von Originalität ist. Das Raster kann niemand erfinden. Es ist von selbst da, es repräsentiert Abwesenheit jeglicher intentionaler Intervention. Das Subjekt hat sich aus dieser Selbsterzeugung von Rastern wie bei einem missglückten Zauberkunststück selbst ausgesperrt. Unwiederholbare Originalität und wiederholbare Anonymität fallen in eins. Während Rosalind Krauss die Paradoxien der modernen Avantgarde als Folge mangelnder Selbstreflexion wertet, wären sie als paradoxe Eigenschaften der Architektur im Unterschied zur Bildenden Kunst zu werten. Ein wesentliches Merkmal ist die Balance von Überraschung und Redundanz, die das Bauwerk halten muss, besonders unter Bedingungen der Moderne, die, wenn man Rosalind Krauss liest, ähnlich wie der Klassizismus, selbstverordnete Kur zur Stabilisierung des Ich ist, Resümee der Selbsterhebung und der Selbst-Abdankung gleichermaßen.
A 14. Das Wesen der Architektur ist offenbar nicht ausgeschöpft, wenn man sie als Abbild der Gesellschaft und als passiven Abdruck der sozialen Vorgänge beschreibt. Es ist vielfach versucht worden, über den sozial diskriminierenden Effekt hinaus die aktiv gestaltende Rolle der Architektur zu fassen. Architektur ist nicht nur der
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bloße Hintergrund des sozialen Verhaltens und Lebens. Vielmehr sind Bauten als Agenten zu verstehen, die daran mitwirken, Denkweisen zu formen, Verhaltensweisen nahezulegen und zu festigen, zu versachlichen. Sie ist nicht nur gebaute Umwelt, sondern selbst Mitwelt. Die materielle Form der Architektur ist selber eine soziale Form, sie sortiert Ereignisse. (186) Um diese Dimension zu erfassen, bedarf es eines Umdenkens in der Soziologie. Normalerweise ist in soziologischen Theorien von Architektur als Ausdruck gesellschaftlicher Strukturen die Rede. Die Gesellschaft wird als reine Kommunikation gefasst. Sinnverstehendes Handeln, moralisch verpflichtende Institutionen, rationales Entscheiden sind die zentralen Kategorien. Die Artefakte und die gegenständlich-räumliche Umwelt sind als passive Objekte angesehen, die von den sozialen Strukturen und Machtverhältnissen mitgeprägt sind. Vereinzelte Abweichungen von dieser Regel konnten an dieser Praxis nichts ändern. So fand Walter Benjamin in den architektonischen Gebilden Aufschluss über die Genese der kapitalistischen Konsumgesellschaft und gestand den Pariser Passagen auch einen aktiven Anteil an ihrer Hervorbringung zu. Michel Foucault hat am Extremfall der Disziplinarchitekturen diese aktive Rolle herausgearbeitet, ohne aber die theoretische Grundlage für eine allgemeine Analyse der verhaltensmodellierenden Potenz von Architektur zu liefern. Seine Analyse von Benthams Panopticon führt nicht zu Einsichten über die aktive Rolle der Architektur im Allgemeinen. Zu ergründen, wie Architektur unsere Körper und unsere Blicke betrifft, erfordert einen anderen Denkansatz: Gefragt sind eine Soziologie des kreativen Handelns und eine Theorie der Affekte. Die soziologische Relevanz der Architektur wäre zu suchen in einer »subjektformierenden Affektivität« (Heike Dietz), die in den von der Architektur nahegelegten Blicken und den in ihr möglichen Bewegungen der Körper stecke. Dazu muss man soziales Handeln nicht als intentionales Handeln von Individuen begreifen, sondern kann es wie Deleuze halten, der alle Körper in einem aktiven Gefüge verortet sieht, aufeinander bezogen als Sozii, die nicht einzeln für sich, sondern nur zusammen beschreibbar sind. (187) Die Architektur ist für Castoriadis die Gestalt der Gesellschaft als Verräumlichung. Sie separiert die Aktivitäten, weist ihnen einen Ort zu, schafft dauerhafte Sichtbarkeit für die Weise, wie die Epochen eingeteilt werden, wie die Grenze zwischen innen außen hergestellt wird, welches Verhältnis eine Gesellschaft zur Natur hat, wie sich die Gesellschaft um ihr zentrales Imaginäres herum gruppiert oder ›krümmt‹. Sie ist weder ein bloßes Objekt, noch ein passiver Container, innerhalb dessen die Interaktionen stattfinden. Jede Architektur formt Techniken des Körpers und verschafft ihm jeweils bestimmte Sichtbarkeiten. Es handelt sich dabei um eine »muskuläre Konditionierung«. (188) Der kinästhetische und taktile Aspekt der Architektur ist mindestens ebenso wichtig wie der visuelle. Entscheidend ist der Umstand, dass die Architektur den Körper, dessen Bewegungen und Wahrnehmungen ständig umgibt. Die Architektur ist ein Ko-Akteur unserer Handlungen, ein Socius, wie es Seyfert in Anlehnung an Deleuze sagt. Architektur ist das, was die Einzelnen am Boden fixiert, was sie »territorialisiert«. (189) Ein gut nachweisbarer Aspekt des Einflusses der Architektur auf das Leben scheint in Bourdieus Augen die Fähigkeit der Architektur zur Distinktion zu sein. Sie sei, wie Bourdieu betont, eine symbolische Macht, die soziale Unterschiede reproduziert. Im Zentrum seiner Soziologie stehen die Anstrengungen, den Raum
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als das jeweils Eigene zu markieren, steht die Semiotik des eroberten und zu verteidigenden Raumes, in dem man bestrebt ist, Unerwünschtes fernzuhalten. Evident werden Bourdieus Thesen angesichts der immer mehr um sich greifenden Maßnahmen, den Stadtraum zu säubern, Vorsorge gegen ungebetene Subjekte zu treffen und dabei Konformismus zu schaffen. (190) »In ihrer Architektur segmentiert sich Gesellschaft anschaulich in Schichten, Gruppen, Milieus, Institutionen und sozialen Sphären. In ihrer Architektur macht eine Gesellschaft ihre einzelnen Mitglieder zurechenbar, macht sie zu Subjekten mit einem spezifischen Identitätskonzept, einem anderen als etwa Nomaden mit ihren beweglichen Heimen.« (191)
Es geht aber nicht nur darum, wie der Raum sozial hergestellt wird, sondern auch darum, zu erkennen und zu berücksichtigen, was er selbst vorgibt und tut. Über dieses offensichtliche Merkmal der Architektur hinaus gilt es, ihre aktive Rolle im sozialen Gefüge zu bestimmen. Menschen sind nicht nur Benutzer von Architektur, auch Zeichenleser, Interakteure mit ihr. Baukörper schlägt Fischer vor, ›Gleiter« zu nennen. »Die Wahrnehmung und die Bewegung gleitet an den Baukörpern entlang, schlüpft in sie hinein und wieder hinaus – und dabei gleitet die architektonische Sinnofferte beiläufig in die Menschen hinein.« (192) Architektur stellt Soziales auf Dauer, und sie schafft fortwährend neue Gestalten und neue Bedürfnisse und Emotionen, in der Moderne etwa die Beglückung, die Schwere der Mauern zu überwinden und Transparenz zu erzeugen. In der jeweils neuen Architektur verschafft sich das menschliche Leben »mitreißend, enthusiasmierend, beschwingend immer neue Befriedigungen« (193) Architektur spiegelt nicht nur bereits Vorhandenes, sie erzeugt neue Wirklichkeiten, erzeugt neue Weisen »zu gehen und sich zu halten«. (194) Auch wenn man die Effektivität nicht in Form von Kausalketten rekonstruieren kann, kann man feststellen, dass sich aus Gebäuden und den Veränderungen der Bauweisen eine Folge modifizierter subjektiver Haltungen ergibt, dass eine Verbindung von Bauwerken und menschlichen Körperhaltungen und Bewegungen existiert. »Was sich dabei entdeckt, ist die Kontingenz des einmal gewählten Lebensstils und die Möglichkeit diese zu bewältigen.« (195) Die Moderne wird anfangs begleitet von der Anerkennung der Künstlichkeit der neuen Lebensform, wobei die Menschen zu dieser Anerkennung namentlich durch die Architektur verführt wurden. Es handelt sich um eine Relation jenseits der klaren Trennung von Subjekt und Objekt, um einen Zusammenhang, der subjektiv und objektiv zugleich ist. (196) Indem sich die moderne Architekturauffassung auf die Funktionalität konzentrierte, hat die gebaute Umwelt und das Reden über sie mitgeholfen, eine spezifische Welt- und Gesellschaftsvorstellung und eine neue Selbstverständlichkeit mit zu erzeugen. Die Moderne steht dabei in einer langen Tradition der Überzeugung, dass die Gesellschaft »an der Kunst des Städtebaus genesen« werde, wie Camillo Sitte sich einst ausdrückte. (197) Man darf annehmen, dass jede ausdifferenzierte Gesellschaft angewiesen ist auf die Fähigkeit der Architektur, die Menschen zu erregen, zu faszinieren, die einzelnen so in diesem allgegenwärtigen Medium an sich zu binden. Kirchenbauten besitzen eine eigene Affektivität, ohne die ein Eindringen des Glaubens in die Menschen schwer vorstellbar ist. Diese Gebäude erzeugen die gläubigen Subjekte
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mit. Der Anteil der Architektur am So-Gewordensein der modernen Welt ist uns in der Regel nicht bewusst. Die Verortung der Architektur in ihrer aktiven Rolle ist dadurch erschwert, dass der Mensch im Unterschied zum Tier nicht in eine ihm angemessene Umwelt eingepasst ist, sondern diese und sich selbst selbst erschaffen muss. Es ist Castoriades zufolge weder normal noch anormal, dass es Häuser gibt. Dies muss als willkürlich, kontingent verstanden werden. Zwar werden die Rationalität als Maßstab angelegt und die Gegebenheiten der Wirklichkeit genutzt, es bedarf gleichwohl einer absoluten Setzung des Hauses. Es mag sich um sich aufdrängende, als obligatorisch scheinende Lösungen handeln, aber zugleich gilt, dass es für den Menschen keine solchen gibt wie für das Tier, weil es keinen Fixpunkt der menschlichen Bedürfnisse gibt. Es wird mit Architektur niemals Natur nachgeahmt. (198) Die Weise, in der die Setzung erfolgt und in der deren Kontingenz getilgt wird, ist wesentlich bestimmt durch unsere körperliche Existenz. Helmuth Plessner sieht die Bedeutung der Architektur für die Konstitution des Sozialen im Taktilen im Bezug zum Körper; in der »Einschmiegung«, im Mitgehen, Abtasten, Ausgefülltsein«, in den Arten und Weisen, Haltungen zu haben, »und durch Haltungen dem schwingenden Bild der Räume und Flächen eine unmittelbare Beziehung zu mir zu geben«. (199) Diese Vermittlung erfolgt in einer der jeweiligen Gesellschaftsform und den gegebenen Lebensumständen entsprechenden Weise. »Die Architektur gibt der Gesellschaft derart nicht nur eine Gestalt; über ihren Bezug zum Körper ist sie beteiligt an der Schaffung der je spezifischen Aktionen und Subjekte.« (200) Architektursoziologie wäre »eine Selbstaufklärung der architektonischen Kreativität, die […] immer die einer bestimmten Gesellschaft ist. Der architektonische Stil ist eingebettet in den »Denkstil« (Karl Mannheim) einer Epoche, verhaftet einer Episteme, einer Art und Weise zu denken und zu sehen…« (201) Marcel Mauss referierte Durkheim, wenn er vom materiellen Substrat der Gesellschaften sprach, in denen das Soziale eine sichtbare und greif bare Gestalt annimmt. Artefakte wie Wohnungen, Verkehrswege, Werkzeuge, Kleidung zählen ebenso zu den sozialen Tatbeständen wie institutionalisierte Verhaltensregeln oder geltende Moral. Architektur hat Teil an dem kollektiven Gedächtnis, und zugleich ist ihr eigen, wie den faits sociaux, die eine vom Willen des Einzelnen unabhängige Eigenexistenz haben und deren Gegebenheiten sich dem Einzelnen von außen aufdrängen, einen verhaltensdeterminierenden Zwang auszuüben. Architektur wird dabei gemeinhin auf den Aspekt der technischen Bewältigung von praktischen Problemen und der Bereitstellung nützlicher Artefakte reduziert. Die Phänomenologie trat dem hierin wirksamen naiven Verständnis von Technik entgegen, indem sie deren Rolle als Ablösung von den genetischen Bedingungen des kontingent Gegebenen betont. Technisierung wird offiziell als Steigerungsbedingung gewertet, da Technik nicht nur von eigenhändigen manuellen Operationen entlastet, sondern auch von der Geschichtlichkeit von Sinn. Technisierung derart als höhere Stufe der Symbolbildung verstanden, bewirkt im großen und ganzen, dass die Vergangenheit als erledigt und als abgeschlossen präsentiert wird, und der Handlungsraum für die Zukunft offen dazuliegen scheint. Die Phänomenologie begreift Technisierung als seinsvergessenes, kopfloses Dahinwerkeln. Technik gilt als Syndrom einer Verfallsgeschichte von Sinn. Die existenzialistisch gestimmte Phänomenologie befasst sich etwa mit dem, was sich
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zwischen das Individuum und die Effekte seines Tuns stellt und ihm das Resultat entwendet. Mechanisierung und Automatisierung erschweren die Anbindung an die individuelle Nachvollziehbarkeit und die Verortung in der Lebenswelt. Ein scheinbar belangloser Schritt in der technologischen Entwicklung bezeichnet einen diesbezüglich wesentlichen Unterschied, nämlich die Differenz zwischen Handgriff und maschineller Funktion in Bezug auf den Anteil des Subjekts. Am Beispiel zweier Typen von Türklingeln – Philosophen lieben das gesucht einfache Beispiel – hat Blumenberg versucht, die Tragweite dieser Differenz zu verdeutlichen: »Da gibt es die alten mechanischen Modelle von Zugklingeln oder Drehklingeln: betätigt man sie, so hat man noch das unmittelbare Gefühl, den beabsichtigten Effekt in seiner Spezifizität zu erzeugen, denn zwischen der tätigen Hand und dem erklingenden Ton besteht ein adäquater Nexus, d.h. wenn ich vor einer solchen Einrichtung stehe, weiß ich nicht nur, was ich tun muß, sondern auch, weshalb ich es tun muß. Anders als bei der elektrischen Klingel, die durch einen Druckknopf betätigt wird: die Verrichtung der Hand ist dem Effekt ganz unspezifisch und heteromorph zugeordnet – wir erzeugen den Effekt nicht mehr, sondern lösen ihn nur noch aus. Der gewünschte Effekt liegt apparativ sozusagen fertig für uns bereit, ja er verbirgt sich in seiner Bedingtheit und in der Kompliziertheit seines Zustandekommens sorgfältig vor uns, um sich uns als das mühelos Verfügbare zu suggerieren. Um dieser Suggestion […] willen ist die technische Welt, unabhängig von allen funktionalen Erfordernissen, eine Sphäre von Gehäusen, von Verkleidungen, unspezifischen Fassaden und Blenden […]« (202)
»In einer Welt, die immer mehr durch Auslösefunktionen gekennzeichnet ist, nimmt nicht nur die Auswechselbarkeit der für unspezifische Handlungen benötigten Personen zu, sondern auch die Verwechselbarkeit der Auslöser.« (203) Hieraus ergibt sich, daß die Selbstdarbietung des technischen Gegenstands alle neugierigen Fragen von sich abweist. »[Das gilt nicht nur für] solche nach dem Konstruktionsgeheimnis und Funktionsprinzip, sondern vor allem solche nach der Existenzberechtigung. Das Immer-Fertige […] ist legitimiert, indem es bestellt, abgenommen und in Betrieb gesetzt wird; Vorhandensein hat nicht sinngebende Bedürfnisse zur Voraussetzung, sondern es fordert und erzwingt seinerseits Bedürfnisse und Sinngebungen. Dazu muß unter Umständen eine ganze Schicht von Motiven und Geltungsfiktionen erst künstlich erzeugt, ihrerseits mit technischem Aufwand hergestellt werden. Das Ideal solcher Manipulation ist die Umkleidung des künstlichen Produkts mit Selbstverständlichkeit; sie läßt alle Fragen verstummen, ob das notwendig, sinnvoll, menschenwürdig, irgendwie zu rechtfertigen sei. Die künstliche Realität, der Fremdling unter den vorgefundenen Dingen der Natur, sinkt an einem bestimmten Punkte zurück in das ›Universum der Selbstverständlichkeiten‹, in die Lebenswelt«. (204)
Niklas Luhmann hat die phänomenologische Kritik ins Positive gewendet. Dass technische Arrangements in der Evolution präferiert werden, liegt daran, dass sie, obwohl es sich um artifizielle Produkte handelt, Konsens einsparen: Was funktioniert, das funktioniert. Was sich bewährt, das hat sich bewährt. Technik erspart, soweit sie Abläufe koordiniert, die immer schwierige und konfliktträchtige Koordination menschlichen Handelns«. (205) »Durch technische Kopplungen werden Konsensprobleme gespalten in Probleme der Zwecke und solche der Mittel oder
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Kosten. Man entwickelt dann relationale Rationalisierungen, um zu prüfen, ob sich der Aufwand lohnt. Diese Rationalisierungen sind eine Form der Lösung der durch Technik marginalisierten, liegen gebliebenen Konsensprobleme.« (206) Das Design ist gefragt, bei dem Prozess der Verselbstverständlichung zu helfen. Im Falle des Autos ist dies in außerordentlichem Maße gelungen. Wenn, wie Mark Wigley in einem Werbefilm für die Universität Columbia sagt, die Stadt die letzten hundert Jahre auf das Auto gehört hat wie der Hund auf ›his Master’s voice‹ und von ihm gelernt hat, dann werde in den kommenden hundert Jahren die Relation sich umkehren und das Auto auf die Stadt hören und von ihr lernen müssen. »The architect visualizes the world differently, makes you see the world differently, just for a moment, and in that moment, when you see the world differently, maybe you think differently, and if you think differently, maybe you dream differently, and if you dream differently, maybe you could live in a different society.« (207) Die Frage, vor der Architekten und Stadtplaner sich gestellt sehen, was die Zukunft der Städte sein wird, die sich angesichts wachsender Bevölkerung und limitierter Ressourcen mit einiger Dringlichkeit stellt, braucht den Architekten vom Typus des Konventionen perforierenden Bastlers. Nicht die geringste seiner Aufgaben wird sein, das Wohnen und Arbeiten mit Mobilität auf eine neue Weise zu verknüpfen. Weitreichende und enthusiasmierende Anregungen gehen vom Fahrrad aus. In vielen holländischen und skandinavischen Städten, allen voran Amsterdam und Kopenhagen, auch einigen Norditaliens, Bologna, Modena, Mantua, Parma, in Ansätzen in Berlin und in Paris kann man beobachten, wie sich eine Selbstverständlichkeit des Radfahrens abzuzeichnen beginnt. »Auch wenn unsere Bilder-, Kommunikations- und Konsumwelt immer mehr dahin tendiert, das Nachdenken über die Zukunft zu ersticken und unter den Evidenzen der Gegenwart zu erdrücken, sind heute dennoch möglicherweise die Voraussetzungen gegeben, eine urbane Utopie zu entwickeln, die Wirkung entfaltet, also die Bewohner der Stadt zu überzeugen vermag.« (208)
Der Polytheismus der Radfahrer könnte den Monotheismus des Erdöls zu Fall bringen. Radfahren erlaubt den Anschluss an die Kindheitserinnerungen. Die Einladung der Medien zur Passivität verliert ihre Kraft, sobald sich der Einzelne auf den Sattel schwingt. »Wir nehmen uns wieder selbst in die Hand.« Ich radle, also bin ich. Eine neue Heiterkeit könnte in das Verkehrswesen zurückkehren. Die Klassenschranken könnten zusammenbrechen, wie Augé schwärmt. Radler aller Länder, vereinigt euch! Radfahren ist permanente Erziehung zur Freiheit und zur Klarheit. »Allein schon weil das Radfahren dem Traum von einer utopischen Welt, in der es allen in erster Linie auf Lebensfreude ankommt und jeder Respekt genießt, eine greif bare Dimension verleiht, besteht Grund zur Hoffnung. Die Rückkehr zur Utopie wäre gleichbedeutend mit einer Rückkehr zur Realität […] Das Radfahren ist ein Humanismus.« (209) Die andere große Herausforderung ergibt sich aus dem Zurückweichen der Arbeit als maßgebendes und sinnstiftendes Prinzip. (210) die Utopie eines von der Mühsal der Erwerbsarbeit entlasteten Lebens, in dem man im Laufe des Tages mehrere Berufe haben kann, scheitert bisher an der Diskriminierung des Arbeitslosen.
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Was es schwer macht, sich eine Utopie eines glücklichen Individualverkehrs oder einer von der Sinn-Hegemonie des Arbeitsplatzes befreite Welt vorzustellen, das ist das Ausgreifen der Technik ins Atmosphärische. Wir haben es immer weniger mit Dingen zu tun, die wir Maschinen nennen würden. Vom Auto bis zum Fernseher, vom Staubsauger oder Rasenmäher bis zum Computer besiedeln sie so selbstverständlich unsere Alltagswelt, gehören zum Hintergrund unserer Alltagsdramen, dass wir sie kaum noch wahrnehmen. Sie haben wachsenden Einfluss auf unser Wahrnehmen und Handeln, ohne dass uns dies noch bewusst würde. Man spricht angesichts der diskreten Handlungsmacht der technisierten und digitalisierten Umwelt von ›environmental agency‹. Der Erkenntnisakt ist in das Ambiente hinein verschoben, so dass reflexive Distanzierung schwierig bis unmöglich geworden ist. Die klassische Erkenntnissituation, in der das Subjekt vor einem passiven Hintergrund die Objekte erkennt und bearbeitet, greift hier nicht mehr als Modell. Um das Verhältnis des Organismus zu seiner Umwelt auf den Stand der neuen technologischen Bedingungen zu bringen und darüber hinaus etwas anderes imaginieren zu können, müsste man die technischen Geräte aus ihrer Nebenrolle in der Herstellung von Sinn befreien und anerkennen, welche Hauptrolle sie eigentlich spielen. Notwendig wäre die Entthronung des Subjekts als Erfahrungsinstanz, auch die Verflüssigung der Grenzen zwischen Belebtem und Unbelebtem, ein Bewusstsein der allgemeinen Verbundenheit der Substanzen. Mit Felix Guattari müsste man die Geburt einer computergestützten Subjektivität konstatieren, die Affekten den Vorrang vor der Kognition gibt und auf den Animismus wilder elektronischer Umwelten vorausweist, der heute das Interesse einiger Forscher weckt, die angesichts der hinter dem Rücken der Akteure ablaufende technischen Prozesse von einem »technologischen Unbewussten« sprechen. Ein soziologisches und philosophisches Interesse an der Architektur und der Dingwelt muss sich gegen die Fixierung auf Institutionen durchsetzen. Foucault zufolge manifestiert sich zwar eine Wissensordnung nicht nur sprachlich, als Ideengeschichte, sondern auch materiell und räumlich. In seiner Diskursanalyse und seiner Polemik gegen die Illusion des souveränen Subjekts und den Fortschrittsglauben richtete er den Blick dennoch lieber auf das Gewebe aus Praktiken und Regeln, das unter den Worten und den Bedeutungen liegt. Abgesehen von seinem Beitrag zur Architektur der Gefängnisse und Asyle wird man bei ihm kaum fündig und ist man auf andere Autoren verwiesen. Baudrillard liefert einen Beitrag, wenn er beobachtete, »wie sehr die Gestik, die Mensch und Gerätschaft verbindet, zusehends verkümmert. Fast wie in einer Werkstatt herrschen auch im Haushalt die gleichen eintönigen Bewegungen des Einschaltens, Aufdrehens, Abstellens und Ausschaltens vor«. (211) In einer Dingtheorie würde es nicht ausreichen, auf das einzelne Ding zu schauen, um es als Fetisch- und Kultobjekt oder als Statussymbol zu analysieren oder seine bloße dienende Funktion zu beschreiben. Erst durch den Menschen werden die Dinge zum Leben erweckt, sie vervollständigen sich im Gebrauch und mit den Gesten des Gebrauchs und legen in der Mensch-Ding-Konstellation ihre Bedeutungen offen. Wer dabei was bedingt, ob es die Dinge sind, die den Menschen zu Gesten und Handlungen auffordern oder gar zwingen, oder ob es umgekehrt die Menschen sind, die den Dingen ihren Wert und Sinn zuweisen, ist eindeutig nicht zu sagen.
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Bruno Latour ist es, der in seiner Anthropologie das normalerweise angenommene Verhältnis wenn nicht umkehrt, so doch in die Schwebe bringt und die Dinge als Akteure erkennt, die das Verhalten des Menschen formen: Am Sicherheitsgurt, am automatischen Türöffner, am Handy, dem Sicherheitsetikett auf der Kleidung belegt er, dass den Dingen eine bestimmte Handlungskette eingeschrieben ist, die man unweigerlich vollziehen muss. Das Eigenleben und die Handlungsanmutung der Dinge werden immer dann manifest, wenn sie widerspenstig sind, nicht funktionieren wollen. Man könnte in diesem Zusammenhang beispielsweise fragen, warum der Henkel als Verlängerung der Hand immer mehr verschwindet, oder ob in den um 1970 aufkommenden Wohnlandschaften das ihnen eingeschriebene Potenzial der kollektiven Kommunikation nicht durch das Hinlümmeln vor der Glotze zum Scheitern verurteilt wurde. (212) In der Sozialgeschichte der Dinge markieren Bilderstürmer des 16. Jahrhunderts, die die Kirchen leerten und an den kahlen Wänden nur zurückließen, was die Protestanten zum Ritus unbedingt brauchten, ein besonderes Datum. Der Raum sollte von allem Überflüssigen abgelöst sein, um sich aufs Wesentliche konzentrieren zu können, auf Gott, nur dem heiligen Wort verpflichtet, mit einer befreiten Seele. Was im Rückblick als Barbarei erscheint und nicht so unterschieden war von dem, was die Taliban in Afghanistan und Mali veranstalteten, mag zu seiner Zeit auch einen emanzipativen Impetus gehabt haben. Auch die Ästhetik der Moderne war geleitet von der Idee der Auf- und Ausgeräumtheit. Die Leere der modernen Räume sollte dem zeitgenössischen Menschen die ideale Umgebung für eine Begegnung mit dem Wesentlichen, nämlich mit sich selbst ermöglichen. Allerdings, je weniger Dinge der Raum beherbergt, desto mehr Bedeutung erhält jedes einzelne, woraus der Minimalismus die fetischisierende Konsequenz zieht. Damit sind wir nicht weit von dem Ausstellen der Gebrauchsdinge im Museum. Damit ein Ding im emphatischen Sinn Ding sein und Eingang ins Museum finden kann, muss es sich von seinem ursprünglichen Gebrauch gelöst haben, in einen ideellen Zusammenhang getreten, auratisch geworden sein. Ein alternatives Konzept ist das Re-enactment historischer Wohnsituationen in Themenzimmern. Von einer fetischhaften Aufladung sind die Dinge freilich kaum jemals ganz frei. Wenn ein Meteorit vom Himmel fiel, konnte der mittelalterliche Mensch noch nicht glauben, dass dies nichts mit ihm persönlich zu tun habe, wobei die Differenz zwischen Hinein- und Herauslesen verschwindet. Aber auch wenn wir das inzwischen gelernt haben, von dem Brauch des Wünschens abgesehen, eine totale Säkularisierung hat es nie gegeben. Die energetische Aufladung der Dinge zu etwas Heiligem oder Magischem hat sich in den säkularisierten Räumen keineswegs verflüchtigt. Auch dem nachzugehen, wäre eine lohnende Aufgabe einer Dingwissenschaft. (213) Da wir inmitten der Dinge leben, nehmen diese an unseren Handlungen teil. Der Gebrauch von Schusswaffen ist weder auf den freien Willen zurückzuführen noch auf die Macht der Funktion der Waffe. Weder macht der Mensch die Waffe zum Tötungsinstrument, noch macht die Waffe den Menschen zum Mörder. Handeln tut der Aktant oder Hybrid Bürger-Waffe oder Waffen-Bürger. (214) »Jedes Mal, wenn eine Aktion in der Zeit andauert oder sich im Raum ausweitet, dann heißt das, dass man sie mit einem nicht-menschlichen Akteur geteilt hat.« (215)
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Die Dinge sind das Bindeglied zwischen Mikro- und Makrosoziologie. Handeln wird als Fähigkeit im Geflecht der Aktanten vorgebildet und umgekehrt. Je nach theoretischer Gewichtung ist die Rede von Praktiken der Dinge oder mit den Dingen. Wenn Bruno Latour den Dingen selbst Handlungspotenzial zuschreibt, haben sie bei Hörning Irritations- oder Herausforderungspotenzial. Für Latour ist z.B. ›Fliegen‹ eine Handlung, die auf »Flughäfen und Maschinen, Startrampen und Ticketschaltern«, Konstrukteure, Piloten, Fluggesellschaft, Bodenpersonal und Passagiere verteilt ist. Bei Hörning wird Technik zum Ausdruck und Träger sozialer Sinnbezüge, auch zum Mittler von Kultur. Es ist erst die Gebrauchspraxis, die einer Sache Bedeutung verleiht. Sie ist in Zeit- und Raumstrukturen einbettet, sie bekommt dabei eine bestimmte ›Position‹, einen bestimmten ›Wert‹ im Handlungsgefüge zuerteilt.« Aktanten sind Quasi-Objekte und insofern gewissermaßen Monstren, »something that acts or to which activity is granted by others« (216) Die Wiederholung eingespielter Benutzungsformen oder sozialer Praktiken ist nie bloße Wiederholung, sondern immer auch Verschiebung als ständiges Neu-Hervorbingen. Solange Dinge funktionieren und in Routinehandlungen eingebettet sind, werden sie trivial, ja geradezu unsichtbar. Die widerspenstige Seite der Dinge darf jedoch nicht unberücksichtigt bleiben. Sowohl Dinge als auch Praktiken und deren Rahmen werden ständig modifiziert und aktualisiert. Materielle Kultur ist keine Substanz, sondern ein dynamischer Prozess. Die Welt der Natur und die der Gesellschaft existieren miteinander. Weder ist das Soziale durch die Natur, noch die Natur durch die Kultur zu erklären. Vielmehr herrscht ein permanenter Kampf zwischen verschiedenen Akteuren. Hörning sieht in der Technik ein »Medium der Macht, das entweder zu stören oder zu glätten, Ordnungen zu stärken oder zu irritieren vermag«. (217) Latour stellt die Objektvergessenheit des Handlungs- und Akteursbegriffs heraus. Er betont das heimliche Mithandeln der Dinge. »Wir sind soziotechnische Tiere, und jede menschliche Interaktion ist eine soziotechnische Interaktion.« (218) Wenn bei Hörning die Dinge Material und Ressource für soziale Praktiken sind, sind sie bei Latour Mitspieler, wobei das soziale Band nur durch das Mitwirken der Dinge hält. Dauerhafte Sozialität wird erst durch Artefakte gewährleistet. »technology is society made durable«. (219) Erst durch das Mitwirken der Dinge sind Interaktionen über Räume und Zeiten hinweg möglich. Hörning geht es wie de Certeau um die »Kunst des Handelns«, die Produktivität der Konsumenten, Rezipienten, Nutzer, der »Experten des Alltags«. Es geht ihm um Aneignungsweisen, Fertigkeiten, Geschicklichkeit, das Umfunktionieren, den improvisierenden Gebrauch der Dinge im Alltag. (220) Hörning geht es um die kreativen Umnutzungen der Dinge im Alltag, um das kontingente Handeln mit »ready-made-technology«. Latour untersucht, wie Dinge im Gebrauch Netzwerke ausbilden. So etwa, wenn er die Übersetzungsprozesse beschreibt, die sich in einem »schlafenden Gendarmen« (Straßenbelagschwelle, Drempel, Lombada) verbergen. Die Anweisung, an der Schule vorbei im Schritttempo zu fahren, in den Beton der Drempel gegossen, so dass die Rückübersetzung in Handeln nunmehr eher lautet: »Schonen Sie Ihre Stoßdämpfer«. (221) »Es ist schwierig, irgendwo klar zu trennen zwischen Moral der Autofahrer, der Psychologie des Rasers, den Reflexen der Verkehrsteilnehmer, der Beschriftung und Aufstellung der Ver-
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Architektur und Geistesgeschichte kehrszeichen, der Strapazierfähigkeit der Stoßdämpfer, dem Lauf des Regenwassers, der Politik der Bürgermeister, dem Leiden der Väter, dem erratischen Verhalten der Schüler und den Erlassen des Verkehrsministeriums.« (222)
Der Mensch kreiert mit seinem Körper und seinen Bewegungen im Raum das, was der Architekt in Form bringt. Wir reflektieren unsere Art und Weise, den Raum zu erfahren, in Form von Metern und Zentimetern und vergegenwärtigen uns diese Erfahrung mittels des euklidischen Raum-Modells, aber tatsächlich erleben wir den Raum auf andere Weise, für die wir aber keine Sprache haben außer der Architektur, die uns von Reflexion und Artikulation entlastet, indem sie uns die Formulierung abnimmt. Unser Leben im Raum vollzieht sich auf eine so natürliche Weise, dass wir dies kaum reflektieren und die euklidische und metrische Vergegenwärtigung für selbstverständlich und objektiv nehmen, ebenso wie die perspektivische Selbstpositionierung in Distanz zu den Phänomenen als Objekten. Otto von Bollnow zufolge ist unser Raumerleben, solange nicht etwas schief läuft, gänzlich unbewusst. Und Olaf Eliasson rät uns, Raum zu verlernen, um etwas über ihn in Erfahrung zu bringen. Raum kann nicht rationalisiert werden wie ein physisches Objekt, »Raum ist kein Objekt«. (Bruno Latour). Maturana zufolge sind wir als autopoietischer Organismus in konstanter Interaktion mit der Umwelt. Wir haben eine innere Karte (internal mapping) der Welt, und wir sind involviert in einem zyklischen Prozess, einer Art Loop aus Perzeption, Interpretation und Handlung. Wir setzen uns in Differenz zur Umwelt und erschaffen Differenzen, indem wir eine Grenze ziehen (draw a line). Gregory Bateson brachte den Vorgang auf die Pointe: »A difference is a difference that makes a difference.« (223). Dieser Ansatz wäre zu kombinieren mit der Erkenntnis Henri Lefebvres: Raum ist produziert und produktiv zugleich. Die Konstitution des Raumes ist der reziproke Vorgang der Entfaltung unseres Engagements in der Welt. Bewohnter oder gelebter Raum ist physisch, aber man kann ihn nicht berühren wie ein Objekt. Unsere Inbesitznahme und Konstitution des Raumes definiert ein Modell der Art und Weise, wie wir Raum wahrnehmen, die wiederum dem zugrunde liegt, wie Architekten Architektur konstruieren. Der architektonische Entwurf handelt weniger von der Gegenwart und der Vergangenheit, als vielmehr von der Zukunft. Man zeichnet etwas Zukünftiges, das erst existieren wird, wenn es fertiggestellt und bewohnt sein wird. Die Zukünftigkeit hat in der Moderne eine größere Bedeutung als in der Geschichte zuvor, da man sich nicht mehr in dem Maße wie bis dahin auf etablierte Regeln und bewährte Verfahren verlassen kann. Zwar sind die Bedürfnisse standardisiert und die Lebensgewohnheiten stereotyp, – medial stabilisierte, eingefahrene Gewohnheiten und industriell gefertigte Bauteile und Einrichtungsgegenstände sorgen für eine gewisse Konstanz und Kalkulierbarkeit – aber es gibt zugleich das Bedürfnis nach Unterscheidung, und das hergebrachte Regulativ des Stils fällt weitgehend weg. Der moderne Architekt muss mit dem Entwurf zugleich sich und seine spezifische Handschrift entwerfen, und er muss dabei weitgehend ohne Vorgaben operieren. Er hat er es mit der gesamten Breite der historisch akkumulierten Möglichkeiten zu tun, er muss aus der vollständigen Fülle der Optionen wählen und sich dabei frei wähnen. Es mag ihm dabei wie dem Autisten gehen, der vor der Überzahl der Alternativen kapituliert und sich gelähmt sieht. Wenn er zwischen zwölf unterschiedlichen
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Varianten von Frühstück wählen muss, kann er sich gar nicht entscheiden und flüchtet sich in die Panik. Was er braucht, sind Beschränkungen der Wahlmöglichkeiten und feste Gewohnheiten. Die Moderne sollte daher weniger als das Resultat eines Prozesses der Emanzipation und der Befreiung von Traditionen und Konventionen verstanden werden, als vielmehr als die Not, die Konventionen selbst erfinden und neue Traditionen begründen zu müssen, ohne es so aussehen zu lassen. So ist das Entwerfen auch eine Suche nach Restriktionen, nach Einschränkungen der Fülle der Möglichkeiten und Sistierung der Beliebigkeit. In dieser Situation kann man sich auch dessen bewusst werden, dass das Individuum, das entwirft, wie auch das Individuum, das als Bauherr Wünsche hat und das Resultat bewohnt, nicht die Subjekte dieser Operation sind, sondern diese, eingebunden in diverse Kontexte, das Feld konstituiert, das Subjektpositionen bereitstellt, in welche die Individuen eintreten können. Beide Subjektpositionen sind nicht vorgängig verbunden. Die Spinne hat eine andere Umwelt und damit eine andersgeartete semiotische Freiheit, als die Fliege, ihre Welt zu gestalten. Die Umwelt der Spinne ist nicht entworfen zu dem Zweck, die Fliege einzufangen. Die Spinne hat sie nicht eigens zu diesem Zweck geschaffen. Aber wenn die Umwelt der Fliege mit jener der Spinne zusammentrifft, wird die Fliege mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Opfer der Spinne. Mit der Kollision der beiden Umwelten entstehen die Fliege und die Spinne als Subjekte.
A 15. In stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften, in denen das Gesellschaftssystem vertikal aufgeteilt ist in die ungleichen Schichten oder Kasten, bei geringer Durchlässigkeit, ist die Raumdimension in Form von Orten und Grenzen stark an der Vergesellschaftung und der Definition der Gesellschaft beteiligt. Die Schichtdifferenzierung stützt sich zwar primär auf rechtliche Setzungen, sie muss aber im alltäglich Wahrnehmbaren bestätigt werden, durch Unterschiede des Verhaltens, der Kleidung und an Unterschieden der Wohnhäuser und Milieus. »Diese Visibilität ermöglicht auch planvollen Zugriff bis hin zu Stadtplanungen auf Grund der stratifikatorischen Differenzierung. Was im Bereich der Normen immer auch Devianz und Kritik ermöglicht, wird in der wahrnehmbaren Welt zusätzlich mit Faktizität und Evidenz ausgestattet. Auch wird auf diese Weise dokumentiert, daß es nicht um Einzelpersonen geht, sondern um die alternativenlos sichtbare Ordnung der Gesellschaft.« (224)
Moderne funktional differenzierte Gesellschaften haben sich von den feudalen Abhängigkeiten und entsprechenden lokalen Bindungen emanzipiert. Credo aller soziologischen Theorie ist, dass es gesellschaftlich zu einer tiefenstrukturellen Umstellung der Vergesellschaftung von raumbasierter, »architekturgestützter Disziplinierung« zur »medienvermittelten Vergesellschaftung« gekommen sei. Das bürgerliche Recht, die Sprache und das Geld gelten als die Medien, die die Fähigkeit begründen, Raum- und Kontextunabhängigkeit mit Spezialisierung und Arbeitsteilung zu verknüpfen. Über symbolisch generalisierte Kommunikation zwischen einander unbekannten Personen ist Koordination möglich, ohne dass diese mit-
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einander in persönlichen Kontakt treten, ja ohne dass sie sich real an einem Ort begegnen müssen. Konstitutiv für die moderne Gesellschaft ist die Erfahrung, dass »die Aufnahme wirtschaftlichen Handelns und Geldgebrauchs gegenüber Unbekannten« in der Stadt geschehen kann, ebenso gut aber auch jenseits jeder spezifischen Stadt möglich ist. Ebenso wenig ist die »Bereitschaft zur politischen Unterwerfung« unter die Weisungen von Unbekannten an den städtischen oder irgendeinen spezifischen Raum gebunden. »Das Einreichen einer gerichtlichen Klage bei Unbekannten« wie die »Erwartung, von unbekannten Lehrern etwas lernen zu können« sind vom Prinzip her ebenso wenig an den städtischen Raum gebunden wie die »Fähigkeit, auf Heiratsmärkten auch Unbekannte zuzulassen«. (225) Dass nun die moderne Gesellschaft alle räumlichen Bezüge hinter sich gelassen habe, wie Luhmann betont und wie es allgemein Konsens ist, ist jedoch fraglich, drängt doch der Raum immer mehr ins Alltagsleben zurück und auch in Luhmanns Sprache hinein. Er schleicht sich ein in Problemthematisierung und Begrifflichkeit, wie Filippov feststellen zu können glaubt. (226) In der sozialen Realität ist die Rückkehr des Raumes ohnehin evident. Bewachte Kondominien werden in manchen Weltregionen immer mehr als Wohnort für unausweichlich gehalten. Momente der stratifikatorischen gesellschaftlichen Entwicklungsstufe ragen in die gegenwärtige funktional differenzierte Formation herein, und Prozesse der Refeudalisierung und der Neubildung apartheid-artiger Klassengesellschaften sind außerhalb Europas nicht zu übersehen und sollten nicht als Relikte überwundener Stadien und pathologisch-regressiver Rückfall belächelt, sondern als Zukunft Europas gefürchtet werden, die sich bereits abzeichnet. Luhmann verlangt freilich eine gewisse Immunität gegenüber der Realität. »Der Flug muss über den Wolken stattfinden, und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen. Man muss sich auf die eigenen Instrumente verlassen. Gelegentlich sind Durchblicke nach unten möglich – ein Blick auf Gelände mit Wegen, Siedlungen, Flüssen oder Küstenstreifen, die an Vertrautes erinnern; oder auch ein Blick auf ein größeres Stück Landschaft mit den erloschenen Vulkanen des Marxismus. Aber niemand sollte der Illusion zum Opfer fallen, dass diese wenigen Anhaltspunkte genügen, um den Flug zu steuern. […] Entscheidend ist […]. dass die Wissenschaft, Systeme bildend, über […] Punkt-für-Punkt Entsprechungen hinausgeht; dass sie sich nicht darauf beschränkt, zu kopieren, zu imitieren, widerzuspiegeln, zu repräsentieren; sondern dass sie Differenzerfahrungen und damit Informationsgewinnung organisiert und dafür adäquate Eigenkomplexität ausbildet. Dabei muss der Wirklichkeitsbezug gewahrt bleiben, aber andererseits darf die Wissenschaft, und besonders die Soziologie, sich von der Wirklichkeit auch nicht düpieren lassen.« (227)
Architektur als möglicher soziologischer Gegenstand kann so nicht in den Blick geraten, obwohl sie zu solchem Abheben in Turmhöhe selbst anstiftet. Zwar ist sie nicht als das geltend zu machen, das sich, sobald man zur Landung ansetzt, als Abweichung von dem auffällig macht, was die Theorie funktionaler Differenzierung erwarten lässt. In ihrer theoretischen Selbstreflexion ist die Gesellschaft »aus ihren Häusern ausgestiegen« und findet auch nicht wieder zurück. Doch könnte Architektur im Rahmen der Phänomene thematisiert werden, die einer Theorie der einsinnig fortschreitenden funktionalen Differenzierung entgegenlaufen.
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Wenn man sich von Luhmann nicht abschrecken lässt, Architektur als eigenes Kommunikationsmedium zu begreifen, muss man insofern, als sie stets auf dem Boden der Lebenswelt aufruht, auf der »Erde«, insofern, als sie zu dem Schweren und Trägen zu zählen ist, so etwas wie einen Schwerefaktor der Kommunikation darstellt, dieses Moment der Kommunikation in Rechnung stellen. »Schwer« ist die Architektur, weil es eine am baukörperlichen Material haftende Sinnkommunikation ist, gleich ob Holz oder Stein, Stahl und Glas, schwerer als der Körper, größer, aber auf sein sinnliches Erleben bezogen und angewiesen. Schrift und Geld lösen sich in ihren Sinnoperationen ab von der sinnlichen Präsenz ihres Trägers sowie von lokaler Kommunikation, sie können aber Baukörper nicht auflösen, auch wenn es immer wieder Entwürfe gibt, die dies versuchen zu suggerieren. (228) Wenn sich in der Ausdifferenzierung der »leichten« Kommunikationsmedien Aspekte des Welt-, Selbst- und Sozialverhältnisses aus den Verhältnissen herausgedreht haben, um über überlokalen Austausch die hochspezialisierte Feinkoordination der Erwartungserwartungen zu stabilisieren, ist damit Architektur nicht außer kraft gesetzt. Sie macht die Entwicklung der Moderne beobachtbar als KoEvolution von leichten und schweren Kommunikationsmedien. Das systemtheoretisch Überholte und Obsolete bleibt mit anwesend und in Geltung. Wegen ihrer Omnipräsenz für alle Erwartungserwartungen – darin vergleichbar nur mit dem Wetter – kann man die Architektur als das grundierende Kommunikations-Medium der Gesellschaft behaupten, als eine Art basso continuo. »Menschen in ihren Interaktionen gleiten Tag für Tag zwischen expressiven, schweren Gebäuden dahin, die den Interakteuren Sinnofferten zuwinken, die sie als Sinnprämissen ihres eigenen Erlebens und Handelns annehmen sollen.« (229) Architektur öffnet die Augen für die Nicht-Negierbarkeit, die »Unausräumbarkeit« des Raumes. (Joachim Fischer) Die Omnipräsenz des Gebauten müsste der Soziologie als Existenzbeweis für die Dennoch-Relevanz des Raumes auch in der Moderne gelten. Ein angemessener Begriff der Moderne würde sie nicht nur erfassen als Rückstand einer Deterritorialisierung der Kommunikation, sondern zugleich auch als Wiederentdeckung einer Reterritorialisierung. Architektur lenkt den Blick auch auf den »Widerfahrnischarakter der Vergesellschaftung«: »Als Korrektiv zu handlungstheoretischen (voluntaristischen) und sozialkonstruktivistischen Ansätzen, in denen die Machbarkeits- und Kontingenzerfahrung der Moderne zum Begriff gerinnt, wird in der Architektur der passivische Grundzug der Vergesellschaftung deutlich. Gewiss, gerade die Architektur ist konstruiert, aber die meisten ›Akteure‹ hausen in Häusern, die sie selbst nicht gebaut haben. Die Grunderfahrung ist die ›Gesetztheit‹ in Baukörpergrenzen, durch deren Affektion und Ausstrahlung sie zu- und gegeneinander vermittelt sind, bevor sie selbst Handlungssubjekte werden. Und wegen der relativen Schwere der Architektur, der relativen Trägheit gegenüber allen anderen Kommunikationsmedien, ist die Moderne ungeachtet aller Beschleunigung charakterisiert durch eine immer nur partielle Umkonstruierbarkeit.« (230)
Architektur versorgt zusammen mit den anderen Gebrauchsdingen und Objekten die Gesellschaft mit der nötigen Ruhe. Was zur Festigung sozialer Beziehungen und zur Stabilisierung von Institutionen beiträgt, sind weniger Normen, Strafandrohungen oder Verträge, auch nicht der berühmte Gesellschaftsvertrag, sondern
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Objekte. Nach Comte und Halbwachs hat zuletzt Michel Serres hervorgehoben, dass die Stabilisierung von Objekten durch Identifikation und Wiedererkennbarkeit, Wiederauffindbarkeit effektiver ist als jede Vereinbarung. »Man kann also vermuten, dass Objekte, die sich aus der rekursiven Anwendung von Kommunikation auf Kommunikationen ergeben, mehr als irgendeine Art von Normen und Sanktionen dazu beitragen, soziale Systeme mit den nötigen Redundanzen zu versorgen.« (231) Der symbolische Interaktionismus hatte den identifizierbaren, wiedererkennbaren Objekten eine zeitbindende Funktion zuerkannt, ohne welche die Realität des Erlebens und Handelns aus bloßen Ereignissen oder Handlungssequenzen bestünde, die sich immer wieder selbst auflösen. Da das Erleben und Miterleben anderer dem Bewusstsein prinzipiell unzugänglich bleibt, kann Konsens nur als Vermutung entstehen, die aber einen kontinuierlichen Anhaltspunkt braucht. Das Operieren des anderen wird wahrscheinlich, indem es durch die Identifikation von Objekten mitsymbolisiert wird. Objekte entlasten die verbale Kommunikation ähnlich wie die Annahme jenseitiger Mächte. »[Architektur hilft verstehen], warum es mitten in der virtuellen Moderne Kämpfe um Baukörpergrenzen wie um Persönlichkeitsgrenzen gibt, warum es nicht gleichgültig ist, wo ich stehe oder wohne, warum die Frage des Baustils gesellschaftlich so gravierend ist. Immer geht es darum, wie die umbauten Räume zueinander in Beziehung treten, wie Innenräume von Außenhüllen abgeschirmt und perforiert werden und in ihrer Stilisierung Beziehung zu anderen Baukörpern aufnehmen.« (232) Nicht nur durch jeden Abriss, jeden Umbau und jeden Neubau, auch durch biographische Veränderungen und die Wahrnehmung beeinflussende Erfahrungen verschiebt sich etwas im Kommunikationssystem der Baukörper und der Bewohner. Permanent ereignen sich ungeschriebene Körper-Raum-Ding-Romane. Dass gleichzeitig entgegengesetzte Baustile koexistieren, sollte als Hinweis auf die Unabschließbarkeit der Sinngebungsprozesse gewertet werden. Alles existiert nebeneinander: die Bauhaus-Moderne mit ihren Gebärden des Auf bruchs und dem verklemmten Oberlehrergestus, das Bauen mit historisierender Schutzgebärde, die expressionistische Architektur mit mystischen Baukörpermasken, Neoklassizismus mit Erhabenheits-Kommunikation, die Universale Abstraktion eines Mies van der Rohe und die Postmoderne mit den laut mitgeteilten Lockerungsübungen, Dekonstruktivismus mit gekonnten Störgesten, Rekonstruktion als bewusste Kommunikation mit den Vorfahren bürgerlicher Vergesellschaftung, mit dem Nebeneffekt der Einfrierung und Verteuerung von Zentren. Immer bleibt etwas liegen, um nochmal angepackt zu werden. In der Architektur macht die Gesellschaft die Erfahrung der systematischen Unvollendbarkeit der Moderne als Projekt. (233) Darin gerade liegt die Qualität einer Stadt wie Berlin. »Dass Schwere und Massenträgheit nicht nur zum Überwinden und Besiegtwerden da sind, sondern auch einen Sinn und ihren Reiz haben, damit tun wir uns schwer.« Mit Schwere muss nicht notwendig eine Kraft assoziiert werden, die sich an vermeintlich Natürliches, Authentisches, Hiesiges, Bodenständiges als Eigentliches klammert. Sie muss nicht identifiziert werden mit dem Wahren, mit Heimat, mit Wurzelnschlagen, mit traditionellen Werten, mit dem, was immer schon da war. Schwere, die hier gemeint ist, ist etwas, das im Gegenteil Dinge, die aufkommen wollen, vorläufig unten hält, sie am vorschnellen Auffliegen hindert, vor Schnellschüssen bewahrt, als inertia auch dazu neigt, mit Beharrlichkeit eine
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einmal eingeschlagene bewährte Richtung beizubehalten. Sie ist eine Kraft, die nicht nur zum Schlechten Pannen herauf beschwört. Im Stau stecken zu bleiben, kann einen auch vor ruinösen Geschäfts-Abschlüssen oder voreiligen Schwüren bewahren. (234) Hanimann geht es in seinem Plädoyer für das Schwere nicht um eine Verklärung von Begriffsstutzigkeit, auch nicht um die vielbeschworene Entdeckung der Langsamkeit, nicht um Hilfen bei der peinlich modischen »Entschleunigung«, für die man keine Seminare braucht, wenn man doch die Deutsche Post als kleine DDR hat. Die Rede von Schwere soll nicht Reklame machen für das verachtete Langatmige, Beschwerliche, Allzugewohnte, Gealterte, Müde, soll nicht das Langweilige als neue Qualität verkaufen. Vor derlei möchte er die Semantik des Schweren tunlichst bewahrt wissen. Diese Kraft hat freilich, wie er fröhlich anmerkt, Verteidigung und Lobreden gar nicht nötig. Sie wirkt ohnehin. (235) Im Raum und als Körper sind wir Handelnde und Interagierende und Kommunizierende eingebunden in ein diskursiv nicht fassbares, nur wahrnehmbares Sinngefälle. Mit jeder gedanklichen Durchdringung haben Dinge zugleich auch an einem Nicht-Durchdrungenwerden-Können teil, an etwas, das Nancy die »transzendentale Ästhetik der Schwere« nennt. (236) Als Diskurs abwesend, wird der Sinn der Schwere der Architektur mitten in dieser Abwesenheit gegenwärtig. Vielleicht muss man neben der fortschreitenden funktionalen Ausdifferenzierung von Gesellschaften das Vorhandensein und die Notwendigkeit von Räumen oder Zonen der Entdifferenzierung oder Differenzierungsverweigerung annehmen, ohne dies als Regression hinter evolutionäre Sollzustände auf primitivere, archaische Formen pathologisieren zu müssen. Man darf sich vielleicht nicht mit der systemtheoretischen Annahme zufriedengeben, dass Gesellschaften durch einen einheitlichen Grundtypus geprägt sind und als Ganze auf bestimmte Weise ausdifferenziert sind. Vielmehr gilt es, das Zusammenspiel von Differenzierung und Entdifferenzierung zu untersuchen. Auf semiotischen Feldern sind beide ungleichmäßig verteilt. Albrecht Koschorke hat diesen offensichtlichen Tatbestand für die Narratologie hervorgehoben. (237) Es sei ein Mythos von Kommunikationstheorien, Kommunikation erfolge zu dem Zweck, ein Informationsgefälle zu überwinden. Tatsächlich erlaubt das Erzählen, Kommunikation fortzusetzen, ohne von einem Übermaß an unverarbeiteter Information blockiert zu werden. Narrative Reduktionen versorgen Kommunikationssysteme mit Redundanz und Toleranz für Uneindeutiges und Unentscheidbares. Sonderfälle haben den Effekt, das Allgemeine auf individuellen Bühnen anschaulich in Szene zu setzen. Dem, was das Erzählen leistet, könnte etwas in der Architektur entsprechen. Es reagiert auf eine »unbeherrschbare, hochgradig turbulente Umwelt«, indem es Elemente aus dieser Umwelt aufnimmt, umwandelt und in redundante Schemata verwandelt. (238) Die segmentäre Differenzierung arbeitet mit der Zerlegung eines Ganzen in gleichartige Teile. Gleichartige Zeichenprozesse werden in großer Zahl nebeneinander durchgespielt, so dass Fehler oder Störungen im einzelnen keine nachteiligen Konsequenzen für das Ganze haben. Architektur könnte den Blick darauf lenken, dass gesellschaftliche Ordnung auf dem Nebeneinander der unterschiedlichen Differenzierungstypen beruht. »Hohe Interdependenz, die alles mit allem durch Abhängigkeiten verbindet und
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entsprechend störanfällig ist, braucht das Widerlager von strukturell gleichartigen Parallelwelten, die sich durch ›Sinngrenzen‹ von ihrer Umgebung abschirmen, dadurch ›Bereiche relativer Nichtzufälligkeit‹ schaffen und vor den offenen Raum unermesslicher Möglichkeiten ›Horizonte reduzierter Komplexität‹ einziehen, dabei jedoch strukturell ähnlich sind und vergleichbare Aufgaben erfüllen.« (239) Der Aufgliederung der Welt in Serien von gleichförmigen Geschichten kann nach wie vor die Funktion zugeschrieben werden, »überschaubare Räume verdichteter Relevanz« zu erzeugen. Nur in solchen Zonen verdichteter Relevanz können sich Akteure überhaupt als Betroffene und Handelnde begreifen. Einfache Erzählformen vermitteln wegen der unterstellten Analogie von sozialen und textuellen Strukturen ein Gefühl von Sicherheit. Zwar handeln sie von Gefahren, von der Begegnung mit furchteinflößenden Mächten, aber die Erzählkonvention gewährleistet, dass sie überwunden werden – eine Erwartungssicherheit, die beinah allein auf Redundanz und Wiederholung gründet, und der Held weiß immer, dass er gemeint ist. »Die Bedrohungen sind exklusiv auf ihn bezogen. Er hat es mit nicht-zufälligen Ereignissen zu tun und muss sich über seinen Standort in einer übersichtlichen Welt keine Gedanken machen. Das Erzählschema sichert, was Narratologen ›over-coherent-thinking‹ nennen.« (240) Ähnlich wie serielles Erzählen sichert das architektonische Ensemble Erwartungssicherheit, die auf Redundanz und Wiederholung gründet und den Einzelnen in die Mitte nimmt. Die auf kleinteilige Alltagsinteraktion fokussierte Soziologie ist durch ein gestärktes Interesse an Marginalisierungen und Ausschlussphänomenen geleitet und hat für diese Rückkehr sensibilisiert. Besonders attraktiv ist das Aufstöbern von nichtreversiblen Marginalisierungen und sind Untersuchungen von Kettenreaktionen, bei denen Exklusionen nicht durch Re-Inklusionen kompensiert werden können, da Mehrfachabhängigkeit von unterschiedlichen Funktionssystemen die Ausschließungsmechanik verstärkt. (241) Wir haben es mit sich gegenseitig verstärkenden, multiplizierenden Exklusionen zu tun, bei denen das Opfer durch alle Auffangraster hindurchfällt, die die Ausgeschlossenen immer weiter ins Abseits drängen, bis sie von nahezu allen Kommunikationsbezügen abgekoppelt sind und nur noch als Körper vorkommen, nur damit beschäftigt, den nächsten Tag zu überstehen. Zwar gibt es keine »prinzipielle Exklusion aus Funktionssystemen […], aber es kommt über [gewisse negative] Interdependenzen doch zu einer mehr oder weniger effektiven Gesamtexklusion aus der Teilnahme an allen Funktionssystemen.« (242) In funktional differenzierten Gesellschaften, die sich ihrem Programm nach als »allinclusive« verstehen, kann der Ausschließungseffekt stärker und gnadenloser sein, als er in segmentär oder stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften je war, weil er geleugnet wird, so dass ein Betroffener sich aus dem Raum der Intersubjektivität ausgesperrt und einer Canetti’schen Meute gegenüber findet. (243) Die Annahme einer durchgängig funktionalen Differenzierung, wie auch die evolutionäre Tendenz zu dieser Form der Ausdifferenzierung muss auch in dieser Hinsicht in Zweifel gezogen und korrigiert werden. An bestimmten Orten entstehen Exklusionszonen, in denen die Bewohner von den Kommunikationsangeboten abgeschnitten sind und das Risiko von Gewalt drastisch erhöht ist. Das Bedürfnis, Räume einzugrenzen, in denen man die Körper kontrollieren kann, nimmt entsprechend zu, was dem Eindruck Nahrung geben kann, wir lebten in einer »Zita-
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dellengesellschaft«. Auch in modernen Gesellschaften ist es nicht einerlei, wo man wohnt, wo man sich aufhält, an welche Grenzen man stößt. Wenn Thomas Mann Balzacs Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft als Inbegriff von Abstraktheit und Gier auf den ersten Seiten des »Mädchens mit den Goldaugen« Respekt zollte und sie schlicht großartig nannte, mag er sich nicht nur auf die ungeschminkte Darstellung von Egoismus und Gier bezogen haben, auch nicht nur auf die Abstraktheit der sozialen Interaktion, sondern auch darauf, dass er zugleich die räumliche Konstellation in den Vordergrund gerückt sieht, in Gestalt des scharf bewachten Hauses der Titelheldin und des Umstands, dass sie sich außerhalb ihres Territoriums auf festgelegten Routen und nur in Begleitung der Zofe bewegt. Dem Selbstbewußtsein des Helden sind in seiner Grandiosität unüberwindliche Grenzen gesetzt. Dabei müssen die Orte und Grenzen, die diese Gesellschaft strukturieren und die Handlungsfreiheit zugleich ermöglichen und limitieren, nicht unbedingt räumlich markiert sein. Unsichtbare und immaterielle Grenzen können wirkungsvoller sein als solche, die sich räumlich manifestieren. Aber es gibt doch eine Konkordanz von Orten und Handlungen und eine evidente Bedeutung von Einschließungen für das, was in den so umgrenzten Räumen geschieht. Der Sinn für die Raum-Konstellationen und ihre soziale Bedeutung ist uns zwar weitgehend abhandengekommen. Wir haben dennoch täglich Umgang mit ihr. Die für Institutionen oder soziale Systeme überlebenswichtige Stabilisierung einer Innen/Außen-Differenz wird durch die Einrichtung spezifischer Gebäude und gewisser Raumorganisationen unterstützt, die die Konzentration bestimmter Funktionen an einem Ort erst möglich machen und zur Stabilisierung eigentlich unwahrscheinlicher Kommunikation beitragen. »Nur innerhalb der Mauern eines Klosters lässt sich gewöhnlicher Lebenssinn zur Unwahrscheinlichkeit asketischer Transzendental-Virtuosität steigern. Nur innerhalb der Wände eines Klassenzimmers lässt sich die Unwahrscheinlichkeit disziplinierter und spezialisierter instruktiver Interaktion stabilisieren.« (244) Selbst, wenn Grenzen räumliche Gestalt besitzen, muss dies nicht notwendig ihre Funktion erst möglich machen. Eine Grenze ist für Georg Simmel keine räumliche Gegebenheit, sondern eine soziale, die räumliche Gestalt annehmen kann, keine »räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziale Tatsache, die sich räumlich formt«. (245) Für Luhmann ist diese räumliche Ausformung nicht erforderlich und in den seltensten Fällen gegeben. Soziale Systeme sind ihm zufolge grundsätzlich nicht räumlich begrenzt, mit Haut oder Membran, die sie nach außen hin abschießen würde. Gesellschaften sind vielmehr Systeme, die im Medium Sinn operieren, sie haben eine »rein interne Form von Grenze«. (246) Die Grenzen reproduzieren sich durch ihre Operationen, anhand von Kommunikationen, die an Kommunikationen anschließen. Da der Begriff Grenze an physisch vorfindbare Gegebenheiten denken lässt, die für seine systemtheoretisch argumentierende Soziologie zu wenig abstrakt ausfallen, hat Luhmann versucht, ihn als wesentlich sinnhaft von dieser Konkretheit zu lösen: »Das naheliegende Bild räumlicher Grenzen leitet die Imagination insofern fehl, als es Punktfür-Punkt-Korrelationen über die Grenzen hinweg suggeriert. Wo das Haus aufhört, beginnt der Garten. Die Grenzen ordnen hier ein Verhältnis der Nähe bzw. Ferne zum anderen, das
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Die Existenz und die Wirksamkeit von Orten wie Grenzen ist, wovon wir ausgegangen sind, nicht unbedingt an deren räumliche Fixierung geknüpft. Es gibt wirkungsvollere Barrieren als Wände, wie zum Beispiel die Geschlossenheit der Familie oder einer sozialen Klasse. Die begrenzte Zugänglichkeit einer Ehe, einer Elite bedarf keiner räumlich-materiellen Symbolisierung, um erfahren zu werden. Ihre Identifizierbarkeit ist nicht durch Mauern, Zäune oder Ketten verbürgt, sondern durch besondere Konstellationen von Ereignissen, Symbolen und Darstellungsweisen, durch habituelle Prüfungen. Luhmann spricht in seiner Theorie, die Institutionen und Personen durch soziale und psychische Systeme ersetzt sieht, von »Sinngrenzen«, die das System begrenzen und die Kommunikation mit der Umwelt regeln, indem sie diese nur als Komplexitätsgefälle registrieren. Sie sind immateriell, darum aber nicht weniger wirksam. Die Kraft solcher »Sinngrenzen« erfährt man, wenn man sich in eine fremde Situation verirrt hat und sich plötzlich fehl am Platz vorkommt. Luhmann gibt ein Beispiel mit kaf kaesken Zügen: »Reinmachefrauen, die zu früh in den Gerichtssaal einziehen, oder Gasthausbesucher, die statt gedeckter Tische Wahlplakate, Kabinen, Listen und offiziöse Minen vorfinden, merken sofort, daß sie sich in ein anderes System verirrt haben, das gewisse Verhaltensweisen ausschließt und andere eröffnet. Sie stören, definieren die Situation als Störung und unterstellen sich damit den Regeln des gestörten Systems. Systemadäquates Verhalten steht ihnen jedoch nicht zur Verfügung. Sie können weder da sein, noch nicht da sein. Kommunikationsversuche zur Entschuldigung würden die Störung nur verlängern. Nicht selten ist dann systematische Flucht die einzige Möglichkeit, dem gestörten System die Reverenz zu erweisen.« (248)
In der Systemtheorie, deren Grenzbegriff von dem der Pragmatisten angeregt ist, kann das Ende der einen Welt der Beginn einer anderen sein, doch können beide Welten einander nicht wahrnehmen und kennen. Die andere Welt ist für diese nur eine Umwelt. Die Bewegung zum Horizont hin ist bestimmbar als abnehmende Sinndichte, als Sinngefälle, sich reduzierende Komplexität. Wie die Leibniz’schen Monaden sind Funktionssysteme füreinander unerkennbar. Sie existieren jedes für sich, aber nicht füreinander. Es ist möglich, dass jenseits des Systems ein anderes System existiert, das die Wirklichkeit des ersten zur bloßen Umwelt erklärt, doch ist das für das erste System, das um sich herum nur komplexitätsreduzierte Umwelt kennt, nicht zugänglich. Der Grenzbegriff der Systemtheorie verleiht wie der des philosophischen Pragmatismus Grenzen die Bedeutung von Rändern. Zu den Rändern einer Welt hin nimmt die Wirklichkeitsdichte ab, und normative oder kognitive Strukturen verlieren ihre Prägnanz und Kraft. Ein solcher Grenzbegriff mag besonders geeignet
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sein zur Beschreibung von zentriertem Gelände und zur Erfassung der Relation von Zentrum und Peripherie. In der Vergangenheit scheinen Grenzen sich in höherem Maße materielle Anschaulichkeit gegeben zu haben als heutzutage. Die Entwicklung scheint von materiellen Grenzen zu immateriellen zu verlaufen und von strikter Abgrenzung zu mehr Offenheit und Durchlässigkeit. Doch gibt es auch die gegenläufige Entwicklung. Wo sich Grenzen zu öffnen scheinen, werden andernorts oder in anderer Gestalt welche geschlossen. Für den Übergang vom Mittelalter zur Moderne gilt: Das an einer Stelle aufgegebene Absperren musste an anderer Stelle erfolgen. Seit Städte keine verschließbaren Mauern mehr haben, um Unliebsames schon am Tor abweisen zu können, gibt es das Einsperren der Unnormalen. Das Einschließen ist in seiner architektonischen Manifestheit an die Stelle des Ausschließens getreten. Das Bild des Narrenschiffes besaß für jene Zeit vor der Kasernierung große Symbolkraft, was wir heute noch ahnen können, »wenn wir bereit sind zuzugeben, dass das, was einst sichtbare Festung der Ordnung war, inzwischen ein Schloss in unserem Bewusstsein geworden ist«, wie Foucault sich ausdrückt. Eben diese Rolle spielen Wasser und Schifffahrt. Eingeschlossen in das Boot, aus dem es kein Entrinnen gibt, ist der Irre dem tausendarmigen Fluss, dem Meer mit tausend Wegen und jener großen Unsicherheit, die außerhalb alles anderen liegt, ausgeliefert. Er ist »Gefangener inmitten der freiesten und offensten aller Straßen, fest angekettet auf der unendlichen Kreuzung.« (249) Das Narrenschiff wird durch Asyl und Gefängnis ersetzt. Der Raum außerhalb der Stadt ist zunächst der Nicht-Ort. An ihn sind die verbannt, die in der Gesellschaft selbst keinen Platz haben. Ihn suchen entsprechend diejenigen auf, die ihre Identität nicht im Kontext der gesellschaftlich angebotenen Rollen und Plätze gewinnen können oder wollen. Die Figuren des (ewigen) Wanderers, des Pilgers, zu einer Zeit des späten Mittelalters auch die Irren. Diese leben gleichsam permanent auf der Schwelle, sind Passagiere par excellence. Die Schwelle ist ihr Gefängnis. Sie sind gleichsam im Außen eingeschlossen. Die Kreuzung, die Schwelle wie das Narrenschiff sind offene Orte jenseits des Verorteten und Umgrenzten, wo die ontologisierende Kraft der Orte und Grenzen geschwächt oder außer Kraft gesetzt ist. Wie die Intermundien der alten Welt und in ihnen die Schiffe, die Schiffsdecks, so sind auch die Überlandstraßen und an ihnen die Tavernen, Badehäuser ausgezeichnete Grenzorte. Sie sind Orte der Begegnung und des Kontakts verschiedenartigster Menschen, die ob ihres Standes, ihrer Schicht- oder Klassenzugehörigkeit sich sonst nie begegnen, geschweige denn miteinander in Kontakt treten würden, vielleicht nicht einmal voneinander wüssten. Und weil solche Kontakte für die Literatur unverzichtbar sind, sind sie privilegierte Schauplätze. Weil hier auch die Ansprüche der »hohen« Kultur und die krude Sinnlichkeit der »niederen« Volkskultur aufeinandertreffen, begegnen sich hier auch verschiedene Literaturgattungen. Das »Decamerone« wie die »Canterbury Tales« oder »Tom Jones« von Henry Fielding, der von Comte und vielen frühen Soziologen geliebt wurde, profitieren von dieser Möglichkeit. Bevorzugt Hafenspelunken und Überlandgasthöfe, aber auch Vorstadtkneipen werden zum Schauplatz der Begegnung sonst räumlich separierter sozialer Klassen und des Hineinragens niederer Literaturgattungen in die höheren. Hier treffen Schelmenroman und Staatsroman zusammen, höfisches
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Theater und derber Volksschwank. Das Wirtshaus ist die Nahtstelle zwischen der Welt der Sesshaften und Etablierten und der Welt der Räuber, Vagabunden, Gaukler, Dirnen und Quacksalber. Hier bleibt unklar, ob Falstaff wirklich so ein Taugenichts und der spätere König ein besserer Charakter ist. Hier entpuppt sich, wie im »Jamaica Inn« von Daphne du Maurier, der Graf selbst als Gauner. An diesem Ort offenbart aber auch mancher Lump seinen guten Kern und heroische Qualitäten. Hier begegnet man dem Snobismus und Hochmut der Scheiternden, wie im »Rotkehlchen« (Marcel Carné, »Kinder des Olymp«). Hier verzechen die professionellen Konspirateure die Streikkasse, wie in Jacques Beckers »Goldhelm«. Das Wirtshaus ist, in der Terminologie Bachtins, ein karnevalesker Ort. Die Romane Dostojewskijs sind voller Grenzorte, Zwischenräume, Lücken. Raskolnikow beispielsweise lebt an einem solchen Ort. »Sein enges Zimmer, der sogenannte ›Sarg‹ (wieder ein Karnevalssymbol) geht direkt auf den Treppenabsatz hinaus. Seine Tür pflegt er, selbst wenn er fortgeht, niemals abzuschließen; der Innenraum, den er bewohnt, ist also von der Außenwelt nicht eigentlich abgegrenzt. In diesem ›Sarg‹ kann man kein biographisches Leben führen. Hier kann man nur Krisen durchleben, letzte Entscheidungen treffen, sterben oder wiedergeboren werden. Auf der Schwelle, in einem Durchgangszimmer, das direkt auf die Treppe hinausgeht, lebt auch die Familie Marmeladow […] Die Schwelle, die Diele, der Korridor, der Treppenabsatz, die Treppe, die Treppenstufen, die zur Treppe hin geöffneten Türen, die Hoftore, die öffentlichen Plätze, die Straßen, die Fassaden, die Spelunken, die Brücken, die Wassergräben: das ist der Raum dieses Romans. Dagegen fehlt fast ganz das Interieur der Salons, Esszimmer, Säle, Arbeitsräume, Schlafzimmer, in denen das biographische Leben abläuft, in denen sich die Ereignisse der Romane von Turgenew, Tolstoj und Gontscharow entwickeln.« (250)
Dostojewskijs Räume sind Krisenräume, in denen aller privater Schutz schwindet und die Zeit stillzustehen scheint. Es handelt sich um Orte, an denen sich Katastrophen ereignen oder anbahnen, Wechsel vollziehen, das Unerwartete und Unerhörte eintritt, wo Grenzen überschritten, Verbote übertreten werden, an denen Anfang und Ende, Geburt und Tod einander begegnen, an denen in allem auch das Gegenteil enthalten scheint. Es sind weniger positiv fixierte, als vielmehr negativ bestimmte Nicht-Orte, Löcher im Raum-Zeit-Kontinuum, Sinn-Lücken, Risse in der Ordnung der Dinge. Als eine Art Lücke mit Wiener Kolorit beschreibt Adorno in seiner kleinen »Naturgeschichte des Theaters« die Theaterloge. In der Theaterszene zu Beginn von »Die Welt der Guermantes« blickt der Erzähler aus dem offenen Halbdämmer des mit mythologischen Figuren drapierten Theatersaals in die Logen des Hochadels hinauf: »In den Logen wohnen die Gespenster. Sie wohnen da seit 1880 oder seit das Ringtheater verbrannte, die haben keine Billets gekauft, sondern besitzen prähistorische Abonnements, vergilbte Adelsbriefe, die weiß Gott wer ihnen übermachte. Als rechte Gespenster sind sie an den Ort gebunden. An keinen anderen Platz können sie sich setzen: hier müssen sie bleiben oder verschwinden. Von allen Lebendigen im Theater sind sie geschieden. Aber es führt eine Tapetentür von ihnen in die Maschinenschluchten hinter der Szene, Manchmal noch geben
A. Or te und Grenzen, Leib und Blick, verkleiner te Modelle sie der großen Koloratursängerin im Entr’act Champagnersoupers, und keiner sieht es. Die wahren Logen sind dunkel.« (251)
In Sigfried Kracauers Bemerkungen zur »Hotelhalle« erscheint diese als ein Grenzort. »Man befindet sich in der Hall vis-à-vis de rien, sie ist eine bloße Lücke«, heißt es da. Die Hotelhalle, einer der Hauptschauplätze des Kriminalromans, dient all denen, »die sich in ihr zu niemandem begeben. Sie ist der Schauplatz derer, die den stetig Gesuchten nicht suchen noch finden, und darum gleichsam im Raume an sich zu Gaste sind, im Raume, der sie umfängt und diesem Umfangen allein zugeeignet ist«. Die in der Hotelhalle »zerstreuten […] sind die schlechthin Beziehungslosen, die in das Vakuum mit der gleichen Notwendigkeit eintropfen, mit der die nach und in der Wirklichkeit Trachtenden sich aus dem Nirgendwo zu ihrer Bestimmung erheben«. (252) Orte können zu ihrem Gegenteil werden, zu Nicht-Orten, zur gespenstischen Repräsentanz des Nichts selbst. Ihre Orthaftigkeit und Materialität ist dann bloßer trügerischer Schein. (253) Materielle und soziale Räume sind eng aufeinander bezogen. Übergänge von einem Raum in einen anderen, seien diese nun durch Wände und Tore gestaltet oder durch Sinngrenzen definiert, haben wie die Übergänge von einem Lebensalter in ein anderes ihr sozialpsychologisches Korrelat oft in Statusübergängen. Sie sind deshalb nicht selten ritualisiert, sei es in Form von Entschuldigungen, Rechtfertigungen, durch das Nennen von Losungen, das Wechseln von Kleidern, das Bedecken des Kopfes, durch rituelle Waschungen oder durch körperliche Signale wie Verbeugungen etc. Die Passage ist kaum jemals nur ein physischer Ortswechsel, sondern meist auch eine soziale Zustandsänderung. In diesen »rites de passage« (van Gennep) verwandelt sich der Eintretende von einem Außenstehenden in einen Dazugehörigen, von einem Ahnungslosen in einen Eingeweihten. Man unterstellt sich mit dem Durchschreiten einer Tür fremden Regeln, respektiert Verfügungsrechte über den Raum, und man wird besonderer Weihen teilhaftig. Man fällt nicht mit der Tür ins Haus. Der Übergang mag vorübergehend sein, auf die Dauer eines Besuchs beschränkt, oder aber ein Entschluss für immer. Man behält sich vor, die Gesellschaft nach eigenem Gutdünken wieder zu verlassen oder überlässt Möglichkeit und Zeitpunkt der Rückkehr gänzlich den anderen, wie z.B. beim Eintritt in ein Kloster. Der Initiant eines Geheimbundes erhält einen anderen oder einen zweiten Namen. (254) In der Sprache der Phänomenologie, die sich in die dünne Luft des Selbstverständlichen, fast Nichtssagenden, Tautologischen vorarbeitet, wird der Vorgang minutiös aufgedröselt: »Betrete ich aber einen Innenraum, so finde ich mich in einer veränderten Situation. Ich bin im mich Umgebenden, zu dem auch dasjenige zählt, was ich in jedem Augenblick der Betrachtung nicht sehe und nicht zu sehen vermag. Der Innenraum fordert als Erlebnis nicht nur ständig eine Ergänzung durch neues Umherblicken von mir, er gewährt sie auch aus der vorgegebenen Erfahrung in der Sekunde des Betretens.« (255)
Der Akt des Eintretens ist eine Festlegung, eine Reduzierung meiner Handlungsmöglichkeiten:
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Sofern das Erlebnis des Eintretens oder des Übergangs architektonisch gestaltet ist, sind in der Gestalt jene Bedeutungen der »rites de passages« gegenwärtig und Anlass zur Dekoration. Das christliche Mittelalter erhöhte die Symbolik der Tür, indem es sie auf Themen wie die Verkündigung, die Heimsuchung oder den Einzug Christi verweisen ließ; für Auf bruch und Ankunft zitierte man das Stadttor Jerusalems oder die Vertreibung aus dem Paradies. Beweis besonderer Macht ist die Fähigkeit, durch geschlossene Türen zu erscheinen oder durch Wände hindurchzugehen wie ein Engel, wie Fantomas oder wie Heurtebise in Cocteaus »Orfée«. In der Kirchentür ist der Sinn der Tür forciert: als geweihte Schwelle zwischen profaner Außenwelt und den geweihten Innenräumen, zwischen der Welt des Bösen, der Gefahren und Versuchungen einerseits und den himmlischen Sphären andererseits. Christus selbst bezeichnete sich als Tür, durch welche die Seele hindurchmüsse. Ein wenig von dem Status einer Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz bleibt jeder Tür erhalten, wie jedem Durchschreiten einer Tür etwas von einem bedeutungsvollen, symbolträchtigen Übergang anhaften bleibt, und sei es nur, dass man, wie Juri Gagarin vor dem Betreten der Sojuskapsel, die Pantoffeln auf der Fußmatte stehen lässt. Ästhetische Ausgestaltungen von Durchgängen, Türlaibungen, Passagen nehmen nicht selten darauf Bezug. Ein bürgerliches Heim, Wohlstand bezeichnen nur für die Gleichen einen Wert, die ihn teilen, und stellen nur für diese ein Verdienst dar. Für die Ausgeschlossenen, Entbehrenden, Entehrten, Unglücklichen, Elenden verwandelt er sich in einen verwunschenen Ort der Trennung. Ein Fluch kann einen Ort des Austauschs in eine Grenze verwandeln. Geld wird zum Symbol der Trennung, wenn es aufhört zu zirkulieren und als Schatz an einem Ort gehortet wird und daher an einem anderen fehlt. Auf dem sich nicht regenden Schatz liegt kein Segen. Er wird mit bösen Mächten assoziiert. Was hier vorhanden ist an Reichtum oder Liebe und Erfüllung, das bedeutet Mangel, Einsamkeit und Frustration dort. Die eingegrenzte Ordnung wird aufgeladen mit normativen Momenten. Das Eingefriedete als das Vertraute, Sichere, Eigene schafft sich sein Außen als das Unheimliche, Fremde, Unsichere, Gefährliche, Schlechte, Ungeordnete, Disparate, wie von außen das Innen als Ort der Verheißung idealisiert und mit dem Gefühl der Unerreichbarkeit verbunden wird. Die Neigung zu manichäischem Verhalten, zu dichotomischen Einteilungen legt jede Grenze nahe. Gaston Bachelard versäumt darum nicht, seinen diesbezüglichen Beobachtungen eine Warnung hinzuzufügen: »Man erhebt die Dialektik des Hier und Dort in den Rang eines Absolutismus. Man verleiht ärmlichen Adverbien der Ortsbestimmung schlecht kontrollierbare ontologische Bedeutungen […] Das Diesseits und Jenseits wiederholen dann dumpf die Dialektik des Drinnen und Draußen.« (257)
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Wie trügerisch das Denken in Innen-Außen-Oppositionen sein kann, lässt sich an Edward Hoppers Bildern demonstrieren. Es gibt immer etwas in ihnen, das auf ein Außen verweist. Häufig sieht man eine Person, die am Fenster stehend nach draußen schaut, zum Auf bruch bereit und zugleich in sich versunken. Figuren schauen mit gesenktem Blick ins Leere, an den anderen vorbei, gleichzeitig nach außen und innen. Man hat sich daran gewöhnt, diese Darstellungen als Belege für Einsamkeit und Heimatlosigkeit des modernen Menschen zu nehmen. Man sieht in ihnen die ›Loneliness‹ und den Heroismus des bindungslosen Individuums. Alle sprechen unisono von Bildern der Entfremdung in der industrialisierten Welt, der Entwurzelung in einer seelenlosen Metropolenwelt, von Opfern einer erkalteten Moderne. Da ist es erhellend, wenn jemand gegen den Strich davon spricht, dass diese Bilder hoffen lassen. Die autonome Immersion muss man nicht als Depression und Entfremdung lesen, sondern man kann sie ebenso gut positiv als Utopie verstehen, als Bild eines modernen Bei-sich-seins im Sich-Projizieren nach draußen. Niemand wartet, niemand erwartet etwas, alles ist offen. Die Stadt erscheint als Meer der Möglichkeiten: Man tritt unerkannt als der auf, der man sein möchte. Von der Figur in »Eleven A.M.« war man bisher übereinstimmend überzeugt, dass es sich um eine unglückliche Frau handeln müsse. Wie erfrischend, von Niklas Maak zu lernen, in ihr eine Frau zu sehen, die auf die Stadt hinunterschaut, weil sie die Freiheit von all dem verspricht, was sie zu Hause hat. Sie präsentiert ein euphorisches Alleinsein. Hoppers Bilder sind solche vom »Glück der Entwurzelung«. (258) Fülle und Überfluss können dazu dienen, den Mangel und die Entbehrungen an einem anderen Ort im Kontrast hervorzuheben, Armut zum Schauspiel zu machen, so dass die Reichen ihren Reichtum zeigen, in demonstrativer Prunkentfaltung, um die Armen zu demütigen. Die Sade’sche Gesellschaft macht Georges Bataille zufolge aus der gegebenen Unzulänglichkeit eine absichtliche Grausamkeit. Reichtum ist notwendig, um die Armut zu inszenieren. (259). Foucault stellt in einem Text über Schleier, Spiegel, Käfig und Verlies – Orten und Medien, die zugleich verbinden und trennen – der sozialen Eintracht das Verlies gegenüber. »Das Verlies ist das Reich des Schurken, es ist das Negativbild des Gesellschaftsvertrages. Jeder ist Gefangener der anderen, deren Verräter und Scherge er sein wird. Das Verlies ist der befestigte, völlig undurchsichtig gewordene (weil unterirdische) und zerfallende Käfig, der für sich ganz undurchsichtig geworden ist, eben weil er ins umhüllende, unglückselige und misstrauende Bewusstsein aufgenommen ist […] Der Käfig trennte säuberlich die Herren von den Untertanen. Das Verlies nähert sie einander in beklommenem Wissen.« (260)
Der Spiegel ist eine Grenze eigener Art. Er bestätigt die Identität des in ihn Blickenden und trennt ihn zugleich von sich. »Der Spiegel hat zwei Wirkungsweisen: eine nahe und eine ferne. Von fern und durch sein Linienspiel kann er überwachen, d.h. dem Blick alles öffnen, ohne selbst Eindrücke aufzunehmen: Er ist somit die parodistische Umkehrung des Bewusstseins. In seiner nahen Wirkungsweise ist sein Blick trügerisch. Der sich Erblickende lässt sich verstohlen in der camera obscura nieder, die der Spiegel verbirgt, [nistet] seine unsichtbare Gegenwart in die Sicht-
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A 16. Orte heben sich aus dem Gelände heraus und geben ihm Gestalt. Dinge zu verorten ist eine fundamentale Ordnungsleistung. Im alteuropäischen Kosmos hatte alles und jeder seinen Ort. Wohin das Akzentuieren führen kann, zeigen Orte, die als Belvedere die umgebende Stadt oder Landschaft dem Betrachter unterwerfen. Es gibt unter ihnen welche mit einer solchen Dominanz, dass man ihrem Anblick kaum entkommen kann. Von Guy de Maupassant wird erzählt, dass er mit Vorliebe im Restaurant des Eiffelturms gegessen habe. Was ihn anzog, war nicht etwa die Qualität der Küche, sondern der Umstand, dass der Turm allgegenwärtig ist. »Das ist der einzige Ort in Paris, wo ich ihn nicht sehen muss.« Roland Barthes lässt seine Gedanken zum Eiffelturm, der zur Zeit seiner Errichtung von den Intellektuellen als Monster wahrgenommen wurde, mit dieser Anekdote beginnen. Ein derart weit ausgreifender Panoramablick über die Stadt war bis dahin nur literarisch beansprucht worden, mit Romanen von Rabelais, Balzac oder Hugo. Dieser Turm, der selbst nichts darstellt und nichts beherbergt, der keinen Nutzen hat als existent zu sein, setzt alles in eine Relation zu sich selbst. Wer ihn besteigt oder, was wahrscheinlicher ist, hinauffährt, dessen Gedanken sind auf dem Weg zur Theorie. Er setzt einen in Distanz zur Welt und zu sich selbst. Der dank seiner erhabene Blick ist nicht der auf geschichtlich gewordene Natur, sondern auf Kultur, und sie präsentiert sich nicht der Betrachtung, sondern empfiehlt sich der dechiffrierenden Lektüre. (262) Mit der Fixierung eines Ortes setzt man auch den Beginn von Geschichte. Architekturgeschichten fragen nach den Ursprüngen der Architektur. Joseph Rykwert betonte hierbei die nachhaltige archetypische Rolle der phantasierten Urhütte, die über Jahrtausende hinweg gültiges Paradigma des Bauens blieb. Jeder Architekt versuche, Adams Urhütte neu zu bauen. Dies gelte zumindest für die Tradition, die sich das Bauen mit Holz zum Vorbild nimmt, wie auch noch das Bauhaus. Diese Hütte dient nicht nur dem Schutz vor Witterung und wilden Tieren, sie besitzt symbolische Notwendigkeit. Joseph Rykwert erhob in seinem Buch »Adam’s House in Paradise« das Prinzip Urhütte zur platonischen Idee der gesamten Architekturgeschichte. (263) Das naturmimetische Moment war über Jahrhunderte hinweg in den Theorien zur Genese der Architektur das dominierende. Einen ironischen oder sarkastischen Kommentar liefert Lars von Trier in seinem »Melancholia« mit der Urhütte, in der die in ihrer Depression allein der Katastrophe gewachsene Kirsten Dunst der Kollision gefasst entgegensieht. Mit einer auffälligen Vorliebe wird die Evolution der architektonischen Formen und Materialien auf vegetabile Urformen zurückgeführt. Die diversen Urhütten des 18. Jahrhunderts sprechen eine deutliche Sprache. Die ägyptischen und die griechischen Säulen dachte man sich aus der Akanthuspflanze und der Palme abgeleitet, das hochstrebende Pfeilerwerk der gotischen Kathedrale wird auf das
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Rankenwerk von Bäumen nordeuropäischer Wälder zurückgehend vorgestellt. Als Goethe die Gotik zur originär deutschen Stilrichtung erklärte, berief er sich auf Tacitus, der Germanien als durchgängig bewaldetes Gebiet beschrieb. Der gotische Spitzbogen habe nachempfunden, wie die Baumkronen im Wald ein hohes Dach bilden. Die Urhütte ist ein Konzept, das bereits auf Vitruv zurückgeht. Unter einem Tugurium wurde in der römischen Antike zunächst eine einfache Hütte in HolzLehm-Konstruktion mit einer Überdachung aus Schilf, Baumrinde oder Grassoden verstanden. Vitruv beschreibt die bei diversen barbarischen Völkern gebräuchlichen Konstruktionen, schlägt dann aber den Bogen und verknüpft diese Hütten mit den Anfängen der Technik, der Architektur und nicht zuletzt der römischen Geschichte, indem er darauf hinweist, dass die einfache Strohhütte auf dem Palatin, die Romulus, dem mythischen Stadtgründer Roms zugeschrieben wurde, eine Konstruktion genau dieser Art gewesen sei. Die von Vitruv beschriebene primitive Hütte gewann als idealisiertes Prinzip des Naturhauses in der Architekturtheorie des 18. Jahrhunderts als Urhütte weitreichende Wirkung, insbesondere bei Marc-Antoine Laugier – sie ist auf dem Frontispiz der 2. Auflage seines 1755 erschienenen Essai sur l’Architecture abgebildet –, und in der Nachfolge etwa bei Francois Blondel und Nicolaus von Thaden. Selbst wo es sich bei den ersten Behausungen um Höhlen handelte, wurden die Gebilde aus Stalakmiten und Stalaktiten im Nachvollzug als steinerne Wälder erlebt. (264) Doch ist die Suche nach den Ursprüngen selbst eine historisch zu verortende Technik und nicht unbedingt gleich mit der Frage des Beginns. So wendet Lacan von seiner Praxis her ein, im Anfang sei nicht der Ursprung, sondern der Platz. Unter sämtlichen Architekturhistorikern hat einzig August Schmarsow eine Herleitung der Architektur aus der Selbstverortung des Menschen im Raum vorgeschlagen. Er bildet eine Ausnahme insofern, als er nicht die Formulierung des Gebäudes als Nachahmung von natürlichen Vorbildern in der Gestalt anorganischer Konstruktion im Auge hatte, sondern den originären Akt des die Natur besiedelnden Menschen. »Wir wollen also nicht mehr«, sagte er 1893 in seiner berühmten Antrittsvorlesung an der Universität Leipzig, »als eine verdunkelte Seite wieder beleuchten, etwas Vergessenes wieder hervorkehren, an eine ganz alte Geschichte erinnern«. (265) Nachdem er die Konstruktion des Gebäudes, »die ganze Wucht der Materie« als von sekundärer Bedeutung abgewertet hat, sucht er der Architektur zu einem neuen – ihrem alten – Selbstverständnis zu verhelfen: als Gegenmodell zur Urhütte und deren symbolbeladener Tektonik sieht er die ersten Versuche, eine räumliche bzw. architektonische Vorstellung in die Wirklichkeit zu setzen, in einfachsten, der Phantasie jedoch als Anhaltspunkt genügenden Zeichen, an einem Ast befestigte Fähnchen, aufgeschichtete Steine, Ritzungen der Baumrinde: »Diese Abgrenzung irgend eines näher übersehbaren Bezirkes geht kaum über die Anordnungen eines Kindes hinaus; aber der Machtspruch der Einbildungskraft richtet Wände auf, wo nur Striche sind, und der Glaube macht selig, so skeptisch und überlegen der Erwachsene auf dies symbolische Verfahren herabsieht. Die Spuren der Fußsohlen im Sande, die schmale Furche mit dem Stecken gezogen, sind schon weitere Schritte zu kontinuierlicher Darstellung der Gränze. Wenn der Wind sie verweht, der Regen sie verwaschen, wird erst zu einer dauerhaften Bezeichnung durch eine Reihe von Feldsteinen, durch eine Hecke oder Hürde geschritten.« (266)
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Den Anfang aller Architektur bildet Schmarsow zufolge die Markierung an einem Ort, den der Mensch dafür bestimmte, den Mittelpunkt seiner Behausung oder einer kollektiven Ansiedlung zu bilden. Schmarsow trifft eine anthropologische Feststellung, indem er auf die fundamentale Bedeutung der Existenz des Menschen im Raum hinweist, der er sich versichern muss, und er erinnert zugleich an die gesellschaftliche Relevanz von Architektur insofern, als diese immer auch Aneignung, In-Besitznahme, Abgrenzung, Einfriedigung, Umschließung und Kodifizierung von Nutzungs- und Eigentumsrechten bedeutet. Erst die Differenzierung des Raums mit Hilfe der Architektur ermöglicht die Aufrichtung und Etablierung kultureller Differenzen wie innen/außen, privat/öffentlich, sakral/profan etc. Schmarsow beharrt auf einem Verständnis von Form in ihrem Vollzug, im Vorgang der Verortung und Grenzziehung selbst, als Prozess der Differenzierung einer anfänglich unspezifischen Fläche. »Mit diesem primordialen Akt wird ein Vorgang, der sich laufend erneut vollziehen muss, rituell und architektonisch vorbildlich vollzogen. Form selbst wird somit als Ergebnis einer strategischen Operation performativ, wird statt Darstellung fertiger Ideen aktive Konstruktion ihres Gehalts. Die Grenze ist als Teilung einer anfänglichen unspezifischen Leere der Welt notwendige Bedingung für Bedeutung überhaupt.« (267) Wir haben es hier mit ›Selbstbegründung‹ im doppelten Wortsinn zu tun: als Verortung und Verankerung des Selbst im Raum und als Beantwortung der Frage nach den Gründen unseres Existierens. Der Mensch will an einem Ort heimisch sein und einen Grund oder die Erlaubnis haben zu existieren. Beide Aspekte der Frage gehören untrennbar zusammen.
Der Mensch, im Gegensatz zum Tier, das in eine feste und unveränderliche Umwelt hineingeboren wird, in einer offenen und veränderbaren Umwelt lebt, auf deren Veränderbarkeit und Veränderung er sogar angewiesen ist, bringt sich selbst erst hervor unter dem Zwang zur Veränderung und Veräußerung in Selbstobjektivierung, indem er seine ihm adäquate Umwelt selbst gestaltet. Das Tier ist in seine partikulare Umwelt eingepasst, es hat nur die seiner Art adäquate Umwelt und kann nur diese wahrnehmen. Der Mensch muss sich seinen Platz im Kosmos und seinen Sinn für ihn erst selbst geben: Er muss sich im doppelten Wortsinn selbst »begründen«. (268) Die aktive Selbstbegründung muss sich in der Natur oder im Kosmos verankern. Der voraussetzungslose Akt der Ortswahl muss, obwohl selbst vollzogen, paradoxerweise für den Menschen aus der Natur herauslesbar sein, um seine bedrohliche Beliebigkeit zu verlieren, als verdanke er sich dem Befolgen einer Vorschrift. Dieser Verwandlung von Kontingenz in Notwendigkeit wird mit Praktiken bewerkstelligt, denen Regeln zugrundeliegen, die dazu dienen, Beliebigkeit einzuschränken. So sind mit dem Akt der Selbstbegründung notwendig augurale Praktiken der Weltbefragung verknüpft, etwa die, aus dem Vogelflug oder aus Steinwürfen Hinweise dafür zu gewinnen, dass man den richtigen Ort gewählt und das Werk den Segen der Götter hat. Auch die Orientierung nach Himmelsrichtungen gehört in dieses Regularium. Der Gründungsakt bleibt angewiesen auf die Mimesis insofern, als die Selbstbegründung als prinzipiell willkürlicher Akt, der auch in anderer Weise und an
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einem anderen Ort möglich gewesen wäre, in seiner Kontingenz im Bewusstsein keinen Bestand haben darf. Er muss entindexikalisiert und ontologisiert werden. Die Ortswahl muss in die Welt hineininterpretiert worden sein, so dass sie aus ihr als die einzig richtige wieder herausgelesen werden kann. In der »Selbstbegründung« wird so der Akt von seinem Ergebnis verschluckt. Im Ort lässt er sich dann der gegebenen Ordnung entnehmen. Die willkürliche Setzung wird Gesetz. Sie vermag dies zu werden, weil die Setzung rituellen Regeln gefolgt ist. So wie laut Girard die Wahl des Sündenbocks willkürlich sein muss, da keine Person ihrer individuellen Eigenschaften wegen die Funktion der Befriedigung erfüllen kann, und so eindeutig dieser der Schuldige ist, sobald er einmal gewählt worden ist, so unbezweifelbar ist in solcher auguralen Ortsbestimmung dieser Ort der einzig richtige. (269) Selbstbegründungsmodi sind Formen der reflexiven Konstitution der natürlichen und sozialen Welt, die möglich und nötig zugleich werden – um es mit den Worten von Karl Marx zu sagen – durch das relative »Zurückweichen der Naturschranke« oder – in den Worten Luhmanns – durch die »Depotenzierung ökologischer Kontingenzen«. Sie setzen deren Internalisierung voraus und ermöglichen die Stabilisierung einer Trennung von Kultur als Besitz und Natur als Umwelt. Die Internalisierung bleibt bei räumlicher Selbstbegründung unmittelbar wieder externalisierbar. So sind Desorientierungen, die ja innerhalb desselben Modus symbolisierbar sein müssen, etwa als Irregeführtwerden durch Omentiere abzuarbeiten. Greif bar ist dies in Märchenmotiven wie dem des Wollknäuels, das den Weg weist (und das auch Freud den Weg wies), oder in der überaus reichhaltigen Labyrinth-Symbolik. Räumliche Formen der Selbstbegründung gehen Praktiken der Rückversicherung von Identität in der Zeit voraus. Zeitliche Selbstbegründung ist stärker an eine Internalisierung gebunden. Identität kann als Kohärenz und Konsistenz des Verhaltens nur über ein hohes Maß an Reflexion gesteuert werden. Dem Sich-Verirren entspricht hier eine Aufweichung der Konsistenz, die als zeitlich begrenzte Lockerung der Verhaltenszwänge etwa in Karnevalsriten kalkulierbar wird. Zusammen mit der Grenzziehung bildet der Akt des Verortens als sinnhafte Besetzung von Raum der Selbstversicherung im kognitiven Sinne dem Einzelnen wie dem Kollektiv Identität und Sicherheit. Was die archaischen Völker als Verankerung im Kosmos begriffen, ist auf lebensweltlicher Ebene, in einer Gesellschaft ohne kompakten räumlichen Sinnhorizont, auch für uns unverzichtbar. Auch wenn diese Verankerung im lebensweltlichen Horizont mit dem Horizont des Ganzen in Widerspruch stehen kann. Dass wir der Sicherheit durch solche Verankerung nach wie vor bedürfen, wird deutlich allein noch bei empfindlichen Einschränkungen dieser Sicherheitsleistung. Der Verlust einer klaren Zuordnung von Tätigkeiten zu Orten und das Verschwimmen der Grenzen lässt Irritation und das Gefühl der Bodenlosigkeit entstehen. »Bist Du sicher, dass es hier war? – Was? – Wo wir warten sollen? – Ach ja.« So reden Wladimir und Estragon in Beckets »Warten auf Godot«. Dass die Architekturtheorie der Neuzeit, bis auf die Ausnahme, die Schmarsow darstellt, des anthropologischen Tatbestands der Verortung so wenig eingedenk war, mag dieselben Gründe haben, aus denen die Sozialwissenschaften seit Beginn ihres Bestehens die räumliche Dimension sozialen Handelns und der sozialen Integration vernachlässigt oder gar ignoriert, ja womöglich verdrängt haben. Histo-
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risch gesehen liegt die Erklärung für die Raumblindheit der Soziologie im Selbstbild der bürgerlichen Gesellschaft. Mit der Überwindung der Feudalgesellschaft dachte man sich auch von der feudalen Gebundenheit menschlicher Verhältnisse an den Raum befreit. Nicht mehr Eigentum desjenigen zu sein, dem der Boden gehört, auf dem man lebt und arbeitet, verhieß die Befreiung auch des Denkens von räumlichen Fixierungen. Dabei ist es evident, dass Orte und Grenzen dem Auf bau und dem Schutz der personalen Identität dienen. Sie begründen eine Geometrie der Entlastung von einem Übermaß an Handlungsmöglichkeiten, sie reduzieren das Überraschungspotential der Welt und fördern die Verankerung der Persönlichkeit in der äußeren Wirklichkeit. Gefahren und rätselhafte Mächte sind halb schon gebannt und neutralisiert, wenn man den Ort bestimmen kann, an dem sie auftreten, und mit jeder Grenzziehung wiederholt man immer auch die ursprüngliche Trennung zwischen Ordnung und Chaos, zwischen meiner Welt und dem Rest der Welt. Lévi-Strauss fand, das Geburtshaus eines berühmten Mannes müsse nicht das sein, wo er tatsächlich geboren wurde, man müsse es dem Besucher nur zeigen können. Das Phänomen der Heiligkeit sieht er nur graduell unterschieden von dieser Auffindbarkeit. »Nichts in unserer Zivilisation«, so schrieb Lévi-Strauss, »erinnert mehr an die Pilgerfahrten, die die australischen Eingeweihten in regelmäßigen Abständen zu den heiligen Stätten unternehmen, als unsere Besichtigungen des Geburtshauses von Goethe oder Victor Hugo, wo die Möbel uns ebenso lebhafte wie willkürliche Gefühle eingeben«. Dabei »ist das Wesentliche nicht, dass das Bett von van Gogh erwiesenermaßen das ist, in dem er geschlafen hat: alles, was der Besucher erwartet, ist, dass man es ihm zeigen kann«. Unter den Orten sind solche, die heilig sind. Und das Heilige existiert nicht ohne den Ort, an dem es sich zeigen kann. »Etwas ist überhaupt erst dadurch heilig, dass es seinen Ort hat.« (270) Umgekehrt werden Krisen häufig als ein Zustand beschrieben, da Grenzen durchlässig werden, Phänomene nicht zuverlässig auffindbar, Dinge und Menschen nicht auf ihrem Platz sind, auf die Heiligkeit eines Ortes kein Verlass mehr ist. Emile Durkheim zufolge besteht das Hauptmerkmal von Religionen nicht etwa darin, dass sie die Verehrung von Göttern und einen Glauben an Übernatürliches verlangen, sondern vielmehr darin, zwischen dem Heiligen und dem Profanen eine Grenze zu ziehen. Er bemerkt, dass das Heilige, entgegen der Natur, die man ihm gemeinhin zuschreibt, nämlich fragil und schutzbedürftig zu sein, tatsächlich in bedrohlicher Weise dazu neigt, sich auszubreiten, so dass man annehmen darf, dass die Menschen früherer Zeiten alles versucht haben, es sich vom Leibe zu halten und die profane Welt gegen es abzuschotten. »In der Tat scheint die heilige Welt, in einer Art Widerspruch, ihrem eigenen Wesen nach geneigt zu sein, sich gerade in diese profane Welt auszudehnen, die sie im übrigen ausschließt: Während sie sie ausschließt, versucht sie doch zugleich, in jene einzudringen, sobald diese sich nähert. Darum ist es nötig, sie voneinander entfernt zu halten und zwischen ihnen gewissermaßen ein Vakuum herzustellen.« (271)
Religiöse Praktiken wie etwa die Gebetsmühlen der Tibetaner oder das Anzünden einer Kerze in den katholischen Kirchen dienen »dazu, der Ausbreitung der heiligen Welt Grenzen zu setzen, Pufferzonen gegen sie aufzubauen«. (272) Ro-
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bert Pfaller verbindet diese Feststellung mit der Johann Huizingas, dass dies auch für andere Kulturformen wie Magie, Sport, kindliches Spiel und Kunst gelte, mit Abgrenzungen zu operieren: »Der Form nach ist es genau dasselbe, ob das Abstecken zu geweihtem Zweck oder zu reinem Spiel geschieht. Die Rennbahn, der Tennisplatz, das aufs Pflaster gezeichnete Feld für das Kinderspiel von Himmel und Hölle und das Schachbrett unterscheiden sich formell nicht vom Tempel oder vom Zauberzirkel.« (273) Die Grenzziehung schaffe die Bedingung für die feierliche Atmosphäre und die gesteigerte Anteilnahme der beteiligten Personen. Den Ursprung aber all dieser Formen, den von Kultur, bilde nicht etwa der religiöse Glauben, sondern das Spiel und dessen »heiliger Ernst«. Der Kult pfropfe sich auf das Spiel auf. (274) Das Spiel sei allerdings immer auf dem Rückzug. Der »Nützlichkeitsbegriff«, das »Wohlfahrtsideal«, der Aufschwung der Wissenschaften und der Technik haben den Menschen dazu gebracht, »die Welt nach dem Muster seiner eigenen Banalität selig zu machen«. (275) »In dem Maße, wie die Kultur sich geistig entfaltet, breiten sich die Gebiete, auf denen der spielhafte Zug nicht oder kaum wahrnehmbar ist, auf Kosten der Gebiete aus, in denen das Spiel freie Bahn hat. Die Kultur als Ganze wird ernster […] Sogar der Kult, der ehemals in der heiligen Handlung einen breiten Raum für spielhaften Ausdruck hatte, scheint an diesem Prozess Anteil zu haben.« (276)
Aber damit ist nicht gesagt, dass das Spiel etwas ist, dem man sich mit weniger Ernst und Leidenschaft widmet, als man es tut, wenn es sich um den Ernst des Lebens handelt. Im Gegenteil.
A 17. Die Rezeption der Verortungen und Grenzziehungen ist gefärbt durch die ideologische Bewertung von Formen unserer gebauten Umwelt. Starke und umschließende, geschlossene Formen waren der Moderne verdächtig und sind seither ideologisch verpönt, obwohl wir auf dergleichen, wie wir mittlerweile wieder offen zugeben dürfen, zumeist positiv reagieren, umso mehr, als wir sie am eigenen Wohnort zunehmend vermissen und in traditionellen Städten Italiens und Frankreichs im Urlaub eigens aufsuchen. Die moderne Avantgarde war obsessiv mit der Öffnung, Perforierung und Immaterialisierung der Wände beschäftigt. Neoromantische literarische Alpträume, die gleichzeitig in Mode waren, bezogen ihre verordnete Beklemmung aus übermäßig abgeschlossenen Räumen, obwohl uns Offenheit nicht weniger, sondern eher stärkeres Unbehagen bereitet. Der grufthaften Hermetik der »Philosophy of the Furniture« mit den karmesinfarbenen Vorhängen, dem Raben »Nevermore« und der tödlichen Identifikation von Geschlecht und Haus im »Untergang des Hauses Usher« haftet darum etwas seltsam Altmodisches an, das uns nicht mehr betrifft. Dasjenige Unbehagen, das von übermäßig fixierten und kartierten Räumen herrührt und ihrer Geschlossenheit zugeschrieben wird, kommt uns, wo es heute beschworen wird, seltsam abgestanden und überholt vor. Beschwörungen dieses Unbehagens, wie man es etwa aus Fritz-Lang-Filmen kennt, die ausnahmslos von Menschen in unausweichlichen Situationen handeln,
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berühren uns kaum mehr, es handelt sich um ein historisches Phänomen. Wir wünschen uns dergleichen eher zurück. Kafkas Unbehagen angesichts des Effektes der Auskugelung der Raum-Sinn-Gelenke dagegen erwischt uns noch heute kalt, womöglich mehr denn je. Da drängt sich die Frage auf: Woher nahm die modernistische Avantgarde die Gewissheit, mit der Auflockerung der Räume auf dem Weg von der kriegerischen Vergangenheit in die friedfertige Zukunft zu sein? Wenn man sich heute die Diskussionen ins Gedächtnis ruft, die nach dem Zweiten Weltkrieg über die Entnazifizierung Deutschlands geführt wurden, wundert man sich, wie man damals so sicher sein konnte, zu wissen, welche Architektur der Demokratie günstig sei und welche nicht. Man verband mit einer heute beinah grotesk wirkenden Überzeugung mit den Entwürfen Le Corbusiers und eines Scharoun unneurotische Liberalität. Die Entwürfe des vulgärmodernistischen »Wiederauf baus« hielt man für die hinreichende Antwort auf die Frage nach den Vorbedingungen der Demokratie und ihrer Stabilisierung in der Psyche und im Verhalten der Bewohner. (277) Wenn wir sehen, mit welchen formalen Eigenschaften man diese ethische und politische Aufgabe von Stadtplanung und Architektur erfüllen wollte – mit Zeilenbau, Orientierung, Licht und Luft, Zurückhaltung der Form, Exorzismus des Ornaments, mäandernden Fußwegen und Straßen, und der strikten Trennung von Auto- und Fußgängerverkehr, in Zonen für Wohnen und Arbeiten – dann kann man sich nur kopfschüttelnd wundern. All dies sind Prinzipien, die aus guten Gründen wieder aufgegeben wurden zugunsten der Rückkehr zu Blockrandbebauung und erhöhter urbaner Verdichtung, zum »shared space«, zu markanter Formgebung und Funktionsmischung. Nicht auszudenken, wie ganz Berlin heute aussähe, wenn es nach dem Willen des zeitweiligen Baudirektors Scharoun gegangen wäre: ein sich über mehr als 50 Quadratkilometer ausdehnendes Hansaviertel. (278) Bei kritischer Beleuchtung wird das CIAM-Dogma der Funktionstrennung und Zonierung, das seinerzeit als ideologiefreies Prinzip aufgefasst wurde, als Mittel zur Öffnung der ideologisch geschlossenen Denkwelt, als neurotische Reaktion auf etwas Verdächtiges erkennbar. Es ist vor allem Le Corbusier, der sich in seinen Äußerungen verrät. Er, der Straßen und Plätze aus seinen Plänen verbannte, der das Landhaus mit freiem Blick auf die Natur für alle und himmelhoch gestapelt vervielfältigen wollte, er hasste in eigenen Worten das »theatralische Gewimmel« der alten Stadt. Der Anblick so vieler Menschen, »Gesichter und Begierden« sollte den Bewohnern seiner »strahlenden Stadt« erspart bleiben. Sie sollten durch die gläserne Wand einer luxuriösen Klosterzelle die in die Stadt hineinkomponierte Landschaft, »Ruhe, Einsamkeit und Licht« genießen können. (279) Dass in seiner optimistisch klingenden Zukunftsvision latente Angst zum Ausdruck kommt, wird deutlicher in der folgenden Passage: »Das Problem liegt darin: Alles ist heute in den Städten durcheinander. Die oben genannten Faktoren, die aufeinanderfolgende Eigenarten des Lebens darstellen, sind im Gegenteil aufeinandergehäuft und untereinander gemengt; das eine kompromittiert das andere, und nichts geht mehr.« Die »städtischen Mischungen« wurden als Chaos empfunden, gegen das man Ordnung setzen müsse. Die städtische Umwelt der vormodernen Stadt ist eine, in der »Planlosigkeit wütete«. Man konfrontiere diese Chaosfurcht
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mit den Beobachtungen der Ordnung und Selbstorganisation auf den Straßen von Lagos von Rem Koolhaas. Als Therapie-Rezeptur sah Le Corbusier einen der Industrie abgeguckten »Willen nach Organisation«. Man solle das, was sich tatsächlich täglich in einer Großstadt vollzieht, rein herausarbeiten und so organisieren, dass die Reibungsverluste vermindert würden und die Einzelteile sich nicht gegenseitig hemmen oder blockieren. Man solle die Leistung der Stadt erhöhen. »Die Stadt wird den Charakter eines im voraus durchdachten Unternehmens annehmen, das den strengen Regeln eines allgemeinen Planes unterworfen ist. Kluge Voraussicht wird ihre Zukunft […] und das Anwachsen der Bevölkerung wird nicht mehr zu diesem unmenschlichen Gedränge führen, das eine der Plagen der großen Städte ist.« »Der tägliche Zyklus der Aktivitäten« in den Stadträumen sollte sich als »Kette von Operationen« vollziehen dürfen, wie das in den modernen Fabriken Nordamerikas zu bewundern war. (280) Die Entmischung und Temporalisierung der Nutzungen nach dem Muster der innerbetrieblichen Organisation galt als Inbegriff von heilender Ordnung. Le Corbusier in seinem Kommentar zur Ville Radieuse: »Die Organisation der kollektiven Funktionen der Stadt wird die individuelle Freiheit bringen. Ein Mensch, diszipliniert in seinen Beziehungen zum Ganzen.« Und an anderer Stelle: »Bei Ford ist alles Zusammenarbeit, Einheitlichkeit der Absichten, Einheitlichkeit des Ziels, Übereinstimmung der Totalität der Gesten und Gedanken.« (281) Das vordergründige Motiv der Leistungssteigerung durch Fordisierung, mit der die Industriellen Michelin, Thoman Bat’a und Henry Ford selbst ihrer Belegschaft den »Krieg gegen Verschwendung und Verlustzeiten« erklärt hatten, wird von Le Corbusier adaptiert, um den Energieverlusten in der »strahlenden Stadt« den Kampf anzusagen, wobei die Unordnung als Arbeitsscheu personalisiert wird: »Die diabolische Tyrannei der Unordnung versäumt keine Möglichkeit zum Handeln; es genügt, dass ihr Gelegenheit geboten wird durch die mißglückte Anordnung von Gebäuden und Zugangswegen, z.B. durch die Unterbrechung zusammenhängender Folgen oder das unangebrachte Vorhandensein von Wegen, Straßen, Plätzen, Alleen etc., die zu nichts Anderem dienen, als zum Vorwand zu werden für Spaziergänge, unnützen Verkehr von Produkten und Materialien.« (282)
Was als Garant für Freiheit und Offenheit proklamiert wird, soll in Wahrheit eine Freiheit einschränken und eine Dynamik sistieren, die in der Stadt ihr Unwesen treiben. Im Unterschied zu Balzac, der in »teilnehmender Beobachtung« schrieb, ist der Blick Le Corbusiers auf die Stadt der aus dem Flugzeug auf dem Weg von einem Vortragsort zum anderen. Aus dieser Distanz ist das Wüten in Ruhe zu beobachten: »Der Mensch ist eine Ameise mit den Gewohnheiten eines präzisen Lebens, einem einheitlichen Verhalten.« (283) Als Schreckensbild der furcht- und ekelerregten Formulierungen zeichnet sich die belebte Straße ab und der Verkehr von Menschen und Waren, der Markt. Was abgewehrt werden muss, das ist die Eigendynamik der Börse. Das Gewimmel der städtischen Straßen wird synonym für das unbeherrschbare Wesen des Marktes, für die Spekulation. Das negative Kontrastbild der modernen Avantgarde sind jene Straßen um die Börse herum, die beherrscht werden von einer »bunten Menge, die den ganzen Tag lang die Nachbarschaft mit ihrem Geschrei scheu macht, ihrem Gebrülle und ihren Streitereien. Der Fußweg ist unpassierbar, […] es herrscht über-
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triebene Aufregung. Sie reden alle auf einmal, schreiend und kreischend wie Hyänen. Das Pandämonium könnte nicht wilder sein.« (284) Die Semantik ist die der Ansteckung. Eine Panik kommt ohne Vorwarnung. Die Vorstellung eines langsamen und vorausschaubaren Wandels muss hier scheitern. In der Masse übertragen sich Emotionen, Idee, Erregungen, Glaubenslehren mit Ansteckungskraft wie Mikroben. (285) Am ideellen Anfang der Zeichnungen Le Corbusiers ebenso wie derer von Hilberseimer steht die Unterdrückung der Frage nach der Emergenz der Masse: Wie kann aus vernunftbegabten Individuen eine irrationale Masse entstehen, wie aus dem Arbeiten und Konsumieren, Kaufen und Verkaufen eine Wirtschaftskrise, und wie lässt sich dem vorbeugen? Gabriel Tarde und Gustave Le Bon zufolge, die noch unter dem Eindruck der terreur lebten und dachten, offenbarte sich die Masse als ein Wesen mit ganz anderen Eigenschaften, als die Elemente besitzen, aus denen sie sich zusammensetzt. Durch Erwartungsübersteigerung wird eine ansteckende Atmosphäre geschaffen, in der sich die Dynamik des Mobs entfalten kann. Die Masse ist anfällig für Suggestion, Gerüchte und Halbwissen, Aberglauben, Spleens und Idées-fixes sowie für spektakuläre Objekte. MacKay sprach von der »madness of crowds«. Mehr noch als Tarde und Le Bon hebt Sidis in seiner Psychologie der Suggestion den selbstreferentiellen Charakter dieses Emergenzereignisses hervor. Was entsteht, steigert sich von selbst. Je mehr der Mob sich durch die Straßen wälzt, desto gefährlicher wird er. »Die Suggestion findet ihren Widerhall von Individuum zu Individuum, gewinnt Stärke und wird so überwältigend, dass sie die Menge in einen Furor der Aktivität treibt, in einen Wahn der Aufregung […] Jede erfolgreiche Suggestion steigert die Emotion des Mobs in Volumen und Intensität […] Der Mob ist wie eine Lawine. je länger sie rollt, desto mehr wächst sie an und desto bedrohlicher und gefährlich wird sie […] Im Mob ist jeder beeinflusst und wird seinerseits beeinflusst […]« (286)
Die Panik angesichts der unbeherrschbaren Masse, die in Le Corbusiers Entwürfen und empfohlenen Maßnahmen unfreiwillig zum Ausdruck kommt, steht der Langeweile gegenüber, die ein allzu entlastetes Dasein mit sich bringt, wie es die Menschen vorführen, die ebendiese Entwurfsskizzen bevölkern. Die Abschließung der Räume zum Zwecke der Effektivitätssteigerung wie zum Schutze der Privatsphäre vor dem Staat und gegen den Mob ist nur solange nicht depressionsanfällig, wie die Teilnahme am Schauspiel der Masse nicht ausgeschlossen wird. Das Publikum tendiert stets dazu, sich in eine reflektorische Masse zu verwandeln, die sich selbst zur spektakulären Attraktion wird und damit inklusionsverstärkend wirkt, ohne dabei die zivilisierte Individualisierung der Massenelemente in Publikumsmitglieder garantieren zu können. »Die Massierung der Kunden, die den Markt, der die Ware zur Ware macht, eigentlich bildet, steigert deren Charme für den Durchschnittskunden.« (287) Wer nicht mitspielen will und sich lieber seinen Phantasien überlässt, wird – wie Beatrice Colomina in ihren Recherchen über Le Corbusier und Eileen Gray nahelegt, – zum obsessiven Spanner. (288) Die Selbstbezüglichkeit, die sich im Spektakulären wie in Paniken steigert und vervollkommnet und von dem einen Zustand in den anderen kippen kann, hat Goethe in seiner »Italienischen Reise« angesichts der Arena von Verona im positiven Sinn beschrieben:
A. Or te und Grenzen, Leib und Blick, verkleiner te Modelle »Als ich eintrat, mehr noch aber, als ich oben auf dem Rande umherging, schien es mir seltsam, etwas Großes und doch eigentlich nichts zu sehen. Auch will es leer nicht gesehen sein, sondern ganz voll von Menschen […] Denn eigentlich ist so ein Amphitheater recht gemacht, dem Volk mit sich selbst zu imponieren, das Volk mit sich selbst zum Besten zu haben. [Wenn nämlich das Volk] sich so beisammen sah, mußte es über sich selbst erstaunen; denn da es sonst nur gewohnt, sich durcheinander laufen zu sehen, sich in einem Gewühle ohne Ordnung und sonderliche Zucht zu finden, so sieht das vielköpfige, vielsinnige, schwankende, hin und her irrende Tier sich zu einem edlen Körper vereinigt, zu einer Einheit bestimmt, in eine Masse verbunden und befestigt, als eine Gestalt, von einem Geiste belebt.«
Goethe erscheint in dieser Urszene die Form der Architektur so sinnreich und kaum anders denkbar, dass er sich vorstellt, sie sei aus dem Bedürfnis und dem sozialen Handeln auf natürliche Weise wie von selbst hervorgegangen. »Wenn irgend etwas Schauwürdiges auf flacher Erde vorgeht und alles zuläuft, suchen die Hintersten auf alle mögliche Weise sich über die Vordersten zu erheben: man tritt auf Bänke, rollt Fässer herbei, fährt mit Wagen heran, legt Bretter hinüber und herüber, besetzt einen benachbarten Hügel, und es bildet sich in der Geschwindigkeit ein Krater. – Kommt das Schauspiel öfter auf derselben Stelle vor, so baut man leichte Gerüste für die, so bezahlen können, und die übrige Masse behilft sich, wie sie mag. Dieses allgemeine Bedürfnis zu befriedigen, ist hier die Aufgabe des Architekten. Er bereitet einen solchen Krater durch Kunst, so einfach als nur möglich, damit dessen Zierrat das Volk selbst werde.«
Die Masse ist von sich selbst gefangen genommen. Sie genießt sich selbst. Die Regellosigkeit der Inklusion ist somit vielleicht gar nicht so regellos, wie sie zuweilen aussieht. Gabriel Tarde wird Goethes Topos von der sich selbst genießenden Masse nahekommen, wenn dieser von der aus der sozialen Normalität emergierenden Masse als sich selbst genießendes Spektakel spricht, und von den »festlichen Liebesmassen«, die sich zweckfrei an sich selbst erfreuen. (289)
A 18. Die Auflösung der Wiederauffindbarkeit und Identifizierbarkeit der Räume, der Erwartbarkeit dessen, was sich in ihnen vollziehen kann, und der Abgrenzung unterschiedlicher Handlungssphären erfahre ich mit zahlreichen bekannten Romanhelden als Verlust von Sicherheit – die bloße Betretbarkeit des Raumes wird zum Ausgeliefertsein – und als Irritation der persönlichen Identität. Je weniger der Raum Handlungen differenziert, desto weniger sichert er Erwartungskonstanz. In Flauberts »Madame Bovary« ist das Landwirtschaftsfest, in dessen Verlauf Emma der Verführung des sentimentalen und skrupellosen Landadeligen Rodolphe erliegt, ein solcher Ort. Flaubert bringt hier viele Stimmen nebeneinander zu Gehör, die Rhetorik der Funktionäre, das Gestammel der Bauern, die Gefühlssprache der sich Verliebenden, und jede dieser Sprachen ist falsch. Das Getümmel des Festes sollte »als Ganzes schreien, man muss gleichzeitig das Gebrüll der Stiere, die Liebesseufzer und die Phrasen der Beamten hören«. Eine an diesem Nicht-Ort ausgesprochene Liebeserklärung verheißt nichts Gutes.
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Das bereits bei Flaubert gestörte Verhältnis von Räumen und Handlungen wird bei Kafka vollends dissonantisch. Die Verwirrung aufgrund des Abhandenkommens dieser fundamentalen Ordnungsleistungen wird in seinem »Prozess« physisch greif bar. Im Gericht auf dem Dachboden gestaltet Kafka die Auflösung der Schutzfunktion der Räume, die durch ihre klare Begrenztheit und ihre Lokalisierung und Auffindbarkeit, vor allem aber durch die eindeutige Zuordnung von Räumen und Funktionen gegeben ist und deren Mangel bei Josef K. allein schon das Gefühl des Angeklagtseins ausgelöst haben könnte. »Der Prozess gegen Josef K. wird mitten im Alltag in Hinterhöfen, Warteräumen usw. an immer anderen, nie zu gewärtigenden Orten verhandelt, in die der Angeklagte sich oft mehr verirrt als begibt. So befindet er sich denn eines Tages auf dem Dachboden. Die Emporen sind voll von Leuten, die dicht gedrängt der Verhandlung folgen; sie haben sich auf eine lange Sitzung vorbereitet; aber da oben ist es nicht leicht auszuhalten; die Decke – die bei Kafka beinah immer niedrig ist – drückt und lastet; so haben sie denn Kissen mitgenommen, um den Kopf dagegen zu stemmen.« (290)
In den bürokratischen Labyrinthen einer Welt aus Kanzleien und Registraturen gewinnt ein beliebiges Zimmer absolute Autonomie. Das Rahmensystem der einzelnen Verfahren wird negativ zitiert zur Darstellung der Unmöglichkeit, jemals zur Entscheidungsinstanz vorzudringen. Gleichzeitig ist das System auch in seinen schäbigsten Repräsentanten gegenwärtig. Das Verfahren, das eigentlich sichern muss, dass der Richter kein Zahnarzt oder Losverkäufer ist, schließt gerade diese Sicherheit aus. Es hat immer schon angefangen. Man kommt immer schon zu spät, und man wird nie mehr erfahren, ob man selbst überhaupt gemeint ist. Mit jeder Frage macht man sich mehr verdächtig und verstrickt man sich tiefer in einen fiktiven und zugleich tödlich realen Schuldzusammenhang. Räume wechseln beliebig ihre Bestimmung. So wird das Zimmer der Pensionsnachbarin Fräulein Bürstner bei Bedarf als Verhandlungsraum benutzt. Wenn das Unbehagen bei Kafka von einem Mangel an räumlicher Definiertheit auszugehen scheint, dann kann auch das Gegenteil, nämlich rigide Strukturierung zur Bedrohung werden. Während das Unbehagen, das aus einem Zuwenig an Fixiertheit resultiert, mit literarischen Mitteln herstellbar ist, scheint das Gegenteil, nämlich die bedrückende, beklemmende Atmosphäre aufgrund eines zu hohen Maßes an funktionaler Fixierung von Räumen eher eine Domäne des Films zu sein. Ein Film von Robert Wise von 1957 »Kein Platz für feine Damen« spielt in einem Nachtclub, der in drei Bereiche unterteilt ist, das Büro, die Küche und den Speisesaal mit der Bühne. Diese drei Bereiche sollen dem Reglement des Etablissements zufolge strikt voneinander getrennt bleiben. Die Handlung bringt es jedoch mit sich, dass gut 130 Mal die Türen geöffnet werden und die Personen nie an ihrem Platz sind, wenn man sie sucht. Dafür platzen sie stets in eine Szene, in der sie nichts zu suchen haben. Der Einzelne hat in die Prinzipien keinen Einblick, nach denen trotz all der umfänglichen Registraturen das Leben immer weiter in seine einzelnen Funktionsbereiche zerfällt, was umso mehr erfahren wird, als sie durch die Form und das Ausmaß der rationalen Organisation zwar miteinander verbunden sind, aber auf eine für den Einzelnen nicht einsehbare Weise, quer zu seinen eigenen Bedürf-
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nissen und Wahrnehmungsmustern, gleichsam hinter seinem Rücken oder durch ihm hindurch. Das Extrem übermäßig fixierter und kartierter Räume, einer zu engen, fatalistischen, jeden freien Willen zur Schimäre machenden und jedes Malheur und jegliches Missverständnis und damit auch jede Überraschung von vorn herein ausschließenden Verknüpfung von Raum und Handlung findet man in Fritz Langs Filmen, die ausnahmslos von Menschen in unausweichlichen Situationen handeln. Die Helden sind nur Funktion einer Handlung, in der sich jeder neue Ausweg als weitere Falle entpuppt, »Sklaven des Bildrahmens« und der durchgeometrisierten Szenerie. Dr. Mabuse wacht mit »1000 Augen« über ein Hotel, aus dessen Zimmern ihm versteckte Kameras Bilder auf sein Schaltpult liefern. Das ganze Gebäude ist auf einen Blick verfügbar, wie auf einem Grundriss. Ordnung stellt sich immer als Ausrichtung auf ein Machtzentrum dar. Räume werden zu Kerkern und Menschen ihre Gefangenen, sobald der kurze Augenblick gefunden ist, da ein Leben außer Kontrolle gerät, dazu verdammt, sich selbst zu zerstören. (291) Die zentrale Einsicht, die Fritz Langs Filme vermitteln, ist die, dass es Systeme gibt. Da gibt es soziale Konglomerate wie die Weltverschwörung des Dr. Mabuse, von der noch James Bond zehrt. Die Bewegung der Eisenbahn in »Human Desire« ist eher die eines fahrenden Gefängnisses denn eines Vehikels der Befreiung. Es gibt überall Spione, in »House by the River« sind es die Spinnen. In der 2. Episode von »Das Brillantenschiff« findet der Protagonist heraus, dass es unter San Francisco eine zweite Stadt gibt, die Kapitale des Verbrechens, in die man nur durch geheime Zugänge gelangt. Mit einem Türöffner in Gestalt eines chinesischen Schriftzeichens bewaffnet geht er in einen Laden, dessen Besitzer ihn zu einer Art Aufzug führt, und das Gefährt rauscht mit ihm in die Tiefe: Kay Hoog betritt das Reich der Unterwelt. Den Extremfall räumlicher Fixierung von Grenzen bildet das Gefängnis als letztes Mittel sozialer Kontrolle und »verordneter Handlungshemmung«. Zum Gefängnis kann auch das eigene Bett werden. Verhängte Langeweile, die Verbindung von Handlungshemmung und destruktiver Reflexion, von der Lepenies in seinem Buch über die Melancholie sprach, ist mit Bezug auf Gontscharow als »OblomovSyndrom« sprichwörtlich geworden. (292) Die Literaturgeschichte ließe sich nacherzählen als ausgespannt und aufgereiht auf einer Achse zwischen den beiden Polen beklemmend rigider Fixierung von Orten an dem einen und verstörend aufgelöster Grenzen an dem anderen Ende. Eine spezifische räumliche Offenheit finden wir in Eichendorffs »Leben eines Taugenichts«. Die Erzählung schwelgt im Fallen aller tatsächlich gegebenen und eingebildeten Grenzen und Schranken und gibt einem erfrischend unbeschwerten Raumgefühl Platz. Jeder einmal erreichte Ort macht sogleich bereit für den nächsten. Strukturen verflüchtigen sich, sofern sie als Hindernisse in Betracht kommen könnten. Der Raum als Begrenzung löst sich auf. Alles ist innen, ein Außen gibt es nicht, ohne dass dieses universale Innen zum Gefängnis würde. Die Überbrückbarkeit von Raum nimmt bei Eichendorff eine Absolutheit an, die sich auch über Entfernungen und Beschwernisse des Reisens hinwegsetzt. Die Reise wird zu einer Reise »an sich«. Eichendorffs Raumgestaltung ist von Armut an gegenständlichen Inhalten und körperlichen Konturen gekennzeichnet. Mit Hilfe von Licht und Klang, Bewegungen und Reflexen, die in den Raum eingehen, ohne
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stationäre Objekte im Raum zu sein, wird jedoch atmosphärisch ein erlebter Raum evoziert, dessen signifikantes Merkmal Weite ist, ohne dass sich seine Grenzen dabei im Unendlichen verlieren. Das Interieur ist im Kontrast der Lebensraum des philiströsen Bürgers, sei es als Wohnzimmer, Schreibstube oder Kontor, während die Empfindungsträger der Geschichten ihre Identität von einem poetischen Unterwegssein her beziehen. Eichendorff gestaltet die Utopie der Jugend, die eigenen Träume im Verlauf des Lebens zu verwirklichen, die noch ungebrochene Entschlossenheit, nicht sich selbst nach der Welt zu richten, sondern diese nach den eigenen Träumen umzubiegen. Kindliche Allmachtsphantasien dienen als Kompass für die Individuation. Er gestaltet die Auflösung des Raumes als Begrenzung, in deren Licht das Fixiertsein an den Raum, etwa bei Stifter, oftmals sein Verhaftetsein an ein übergreifendes Fatum, als schuldhafte Versteinerung erscheint. Eichendorffs Wanderer stehen in deutlichem Unterschied zu Adalbert Stifters Erzählungen, in denen man häufig Wanderern begegnet, die, am Ziel angelangt, sofort die Tür des ihnen angewiesenen Zimmers verschließen, um darauf die durchwanderte Landschaft durch das geöffnete Fenster zu betrachten. So, als könnte man erst geborgen vor der Wirklichkeit in ein Verhältnis zu ihr treten, ohne die Selbständigkeit ihr gegenüber zu verlieren. Die Figur des Sonderlings wird nicht selten durch ein gestörtes Verhältnis zur räumlichen Ordnung der privaten Innenwelt charakterisiert. In einem Roman eines gewissen Hal White »Revolution in Tanner’s Lane« wird eine Frau erwähnt, die es nicht ertragen konnte, wenn irgendetwas nicht an seinem Platz stand, und die keine Ruhe fand, bis sie ein Bild, das schief hing, geradegerückt hatte. Sie wäre, wie es dort heißt, dafür selbst aus dem Grabe wieder auferstanden. Henry Thoreau erklärt in »Walden« seine schrullige generelle Weigerung, sich überhaupt einzurichten: »Auf dem Tisch hatte ich drei Kalksteine, aber ich erschrak bei dem Gedanken, dass sie jeden Tag abgestaubt werden müssten, und angewidert warf ich sie zum Fenster hinaus. Wie hätte ich da also ein Haus voll mit Möbeln haben können?« In der Figur des Sonderlings, den die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts stark ausgeprägt hat, wird das subjektive Empfinden der Sicherheit und Autarkie kontrastiert mit dem objektiven Eindruck des Ein- oder Ausgesperrtseins. (293) Rückzug in Räume des Privaten, denen etwas Abseitiges und Schrulliges, oft Groteskes anhaftet, ist der Preis für Autonomie. Fehlende Kontaktmöglichkeiten führen zum Verlust an Welthaltigkeit. Bei Wilhelm Raabe beobachten zwei Kauze einander durchs Fernglas; das optische Instrument kompensiert den Verlust realer Bewegung im Raum. In seinem »Stopfkuchen« klärt Herr Schaumann, ohne sich von der Stelle zu bewegen, ein Verbrechen auf. Das Motiv taucht wieder auf bei Hitchcock im »Fenster zum Hof«. Theodor Storm schildert häufig vereinsamte Menschen mit besonders starker Bindung an reliquienhafte Objekte des Intérieurs, wie z.B. in »Marthe und ihre Uhr«. Nur noch in der Erinnerung und völlig abgeschieden lebend, ist in ihr jeglicher Wille erloschen, das Leben selbstherrlich zu meistern. Ohne Zukunft vermag sie kaum in der Gegenwart zu leben. Unverheiratet blieb sie auch nach dem Tode ihrer Eltern und Geschwister weiterhin im nun verödeten Elternhaus, eingekapselt in die Welt ihrer wehmütig rückblickenden Phantasie. »Sie borgte Teilchen ihrer
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Seele aus an die alten Möbel in ihrer Kammer, und die alten Möbel erhielten so die Fähigkeit, sich mit ihr zu unterhalten; meistens freilich war diese Unterhaltung eine stumme, aber sie war dafür desto inniger und ohne Missverständnis.« Ihre beredteste Gesellschaft ist eine alte holländische Standuhr, die ihr Vater auf dem Trödelmarkt zu Amsterdam gekauft hatte. Diese Uhr führt ein Eigendasein, und Marthe verkehrt mit ihr wie mit einem lebendigen Zeitgenossen jener verflossenen Zeiten, in denen sie weiterhin lebt. Eine Unterhaltung in einer Erzählung Anton Tschechovs geht über jene seltsame Spezies von Menschen, die Zeit ihres Lebens nie aus ihrem Ort herausgekommen sind und die sich bei der kleinsten Berührung wie Einsiedlerkrebse in ihr Gehäuse zurückziehen, wie in einem Atavismus, in einer »Rückkehr zu der Zeit, als der Vorfahre des Menschen noch kein geselliges Tier war und einsam in seiner Höhle lebte. Das Gespräch kommt auf einen kürzlich verstorbenen Griechischlehrer namens Belnikow: »Er fiel dadurch auf, daß er immer, sogar bei sehr schönem Wetter, mit Galoschen und Regenschirm und unfehlbar in einem warmen wattierten Mantel ausging. Sein Schirm steckte in einem Futteral, die Uhr war in einem Futteral aus grauem Leder, und wenn er sein Federmesser herausnahm, um den Bleistift zu spitzen, so steckte auch das Messer in einem Futteral; auch sein Gesicht schien in einer Hülle zu stecken, weil er es ständig in dem aufgeschlagenen Mantelkragen verbarg. Er trug eine dunkle Brille, eine Strickjacke, die Ohren hatte er mit Watte verstopft, und wenn er sich in eine Droschke setzte, ließ er das Verdeck hochschlagen. Mit einem Wort, dieser Mensch hatte das beständige, unüberwindliche Bestreben, sich mit einer Hülle zu umgeben, sich sozusagen ein Futteral zu schaffen, das ihn isolierte und von äußeren Einflüssen schützte. Die Wirklichkeit beunruhigte und schreckte ihn, hielt ihn in ständiger Aufregung, und um seine Zaghaftigkeit und Abneigung gegen die Gegenwart zu rechtfertigen, lobte er vielleicht immer die Vergangenheit und solche Dinge, die niemals existiert hatten; die alten Sprachen, die er unterrichtete, waren für ihn im Grunde ebenfalls nur Galoschen und Schirme, mit denen er sich vor dem wirklichen Leben schützte.«
Jede Störung, Abweichung von der Regel machte ihn niedergeschlagen. Auch bei sich zu Hause dasselbe: »Schlafrock, Nachtmütze, Fensterläden, Riegel, eine ganze Reihe Verbote, Beschränkungen, und – ach! daß nur ja nichts passiert!« Er hatte »ein Schlafzimmer, klein wie eine Truhe«. Als er gestorben war, und da er nun im Sarge lag, hatte sein Gesicht einen Ausdruck, »als wäre er froh, daß man ihn endlich in ein Futteral gelegt hat, das er nie wieder zu verlassen brauchte. Ja, er hatte sein Ideal erreicht!« Stifter führt Goethes Linie der Selbstwerdung durch Raumgestaltung fort, bei ihm erstarrt sie freilich zum Ritual. Seine Affinität zur Geologie – Erzählungen tragen die Namen von Mineralien – zeugt von dem tiefen Bedürfnis, sich der hierarchischen Struktur des Seins zu versichern. Bei Adalbert Stifter soll die Sicherung der Wahrnehmungsdistanz häufig zugleich schuldhaftes Sich-Abschließen des Subjekts sein. Wo Stifter an einigen seiner Sonderlings-Gestalten eine solche hermetisch abgeriegelte, defizitäre Existenz vorführt, da macht er allerdings zugleich deutlich, dass er eine Verfehlung beschreiben möchte. Stifters Sich-Abschließen gegen die Welt und die anschließende Hinwendung zu ihr stehen zwischen den Selbsttranszendierungen der frühen Romantik und dem Zuhängen des landschaftlichen Prospektes bei Baudelaire oder Poe, das die poetischen Bilder im
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abgedunkelten Innenraum entstehen lässt. Mit einer realistischen Ökonomie des Sehens wehrt Stifter Tendenzen ab, die später die Literatur der Jahrhundertwende als letzte Reserven authentischer Erfahrung mobilisieren wird: Dispersion des Ich und Verselbständigung der Bilder, Auflösung des rational gesteuerten Sehens. Franz Kafka lässt den wirklichkeitsscheuen Sonderling gar zum Maulwurf werden, den seine Grübeleien daran hindern, jemals seinen Bau zu verlassen. Ein System von Vorkehrungen für alle Eventualitäten, an dem er gewissenhaft arbeitet und das täglich perfekter wird, soll vollständige Sicherheit bieten. Doch der Bau als Produkt der Sorge erzeugt immer mehr Sorge, die zunehmend die Handlungsfähigkeit des Tieres lähmt. Die Maßnahmen gegen die Existenzangst gefährden schließlich die Existenz. Finster ist der Bau, weil er eine Sicherheit gewähren soll, die nicht zu erlangen ist. Der Bau ist ein Werk der Verblendung, da die letzten kreatürlichen Gefährdungen nicht ausgeschaltet werden können.
A 19. Außen und Innen stehen auch bei vollkommener Isolierung in einem Wechselverhältnis miteinander. Die Dialektik beider kommt bei Abschließung vielleicht sogar in besonderem Maße zur Geltung. Das Abgetrenntsein der Innenwelt gibt dem Poeten allererst die Möglichkeit, seinen ausschweifenden Träumen nachzugehen. Die Freiheit, die eine Träumerei von einem Anderswo offenlässt, ist umgekehrt Bedingung dafür, dass Geborgenheit nicht in Gefangensein umschlägt. Das Behagen der Geborgenheit wird umso deutlicher empfunden, je unwirtlicher sich das Draußen präsentiert. Das Haus ist umso mehr ein warmes Nest, je kälter der Wind draußen tobt. Viele von Theodor Storms Geschichten leben von dem Kontrast zwischen warmem Ofen und stürmischer Nacht, der das Erzählen gruseliger Geschichten nahelegt und zum besonderen Genuss macht. Baudelaire wünschte dem imaginären Bewohner seiner künstlichen Paradiese »vom Himmel jedes Jahr so viel Schnee, Hagel und Frost wie nur möglich. Er braucht einen kanadischen, einen russischen Winter. Sein Nest wird dadurch wärmer, weicher, liebevoller«. Die Erfahrung des »Behagens in der Geborgenheit« ist so tief in uns verwurzelt, dass sie zu den wichtigsten und aufschlussreichsten Bildern der Traumsymbolik zählt. Das Haus repräsentiert die menschliche Seele und ihr Wohlbefinden überhaupt. Wie C.G. Jung wusste, lernen wir, indem wir uns an Räume erinnern, in uns selbst zu wohnen. Freud wendete die Metapher ins Gegenteil, als er konstatierte, dass zu den tiefsten Kränkungen der Menschheit gehöre, dass wir nicht Herr im Haus unserer selbst sind. (294) Das Innen und Außen bedingen einander wechselseitig. In den Geschichten Theodor Storms geht das Wohlbehagen in der guten warmen Stube einher mit den Schilderungen von winterlichen Stürmen und entsprechenden leidenschaftlichen Konflikten draußen. In Stendhals »Kartause von Parma« ist zu sehen, wie der Turm, in dem der heillos verliebte Protagonist Fabrizio einsitzt, und das Fenster, durch welches er seine Erwählte beobachten kann, zur kristallisierenden Verstärkung der Leidenschaft beitragen. Krespels Haus, das die Maurer in E. T. A. Hoffmanns Erzählung »Rat Krespel« auf Anweisung des Bauherrn tür- und fensterlos errichten sollen, um es erst später mit allen sich wirklich als nötig erweisenden
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Öffnungen zu versehen, spiegelt das serapiontische Prinzip, jene Erzählstrategie, die von den Serapionsbrüdern verfolgt wird. Das Verhältnis von Innen und Außen ist gesellschaftlich definiert und stets instabil. Eine allzu scheue, angsterfüllte oder gewaltsame Ausgrenzung äußerer Wirklichkeit, namentlich die des antagonistischen Wirtschaftens, die Verdünnung des Lebens in seiner inneren Repräsentation macht das Eingegrenzte störanfällig und lässt es sich mit dem undurchdringlichen Äußeren unkontrolliert vermischen. Das Ausgegrenzte ragt dann, mit Freud zu sprechen, als Verdrängtes in die Innenwelt, wo es im Schutze mangelnder Wachsamkeit, in den abgeschirmten Träumen wiederauftaucht und als mythisch Verrätseltes, Dämonisiertes erst recht seine Macht entfaltet. Das Innen bleibt mit dem Außen notwendig in Korrespondenz. Wo diese Korrespondenz geleugnet wird, verschafft sie sich hinterrücks ihr Recht. Sigmund Freuds »Studien zur Hysterie« beschreiben die stickigen Bürgerzimmer angefüllt mit nächtlichen Schrecken. Der Stummfilm projizierte solche Bilder auf die »dämonische Leinwand«: das bleiche Gesicht der Tante über dem Paravent, der Freund, der plötzlich drohend sich emporreckt, der Doppelgänger, der Fremde im Zug, der mit starrem Blick mehrmals das Abteil öffnet. Die Straße vor allem wird für die unteren Schichten zum Arsenal der Wiederkehr des Verdrängten: »In deutschen Filmen wird die Straße vor allem des Nachts mit ihren abrupt tief erscheinenden dunklen Ecken, ihrem aufgleißenden Betrieb, den Lichtnebel ergießenden Straßenlaternen, mit den flammenden Leuchtreklamen, Scheinwerfern von Autos, mit dem von Regen oder Abnutzung glänzend gewordenen Asphalt, den beleuchteten Fenstern geheimnisvoller Häuser, dem Lächeln geschminkter Dirnengesichter zum Schicksal, das ruft und verlockt.« (295)
Die mit Mythen befrachteten Kinostraßen sind vor allem Sümpfe, in denen der Bürger, herausgelockt oder vertrieben aus seinen vier Wänden oder getrieben vor Sehnsucht in der Welt, dem Laster, den Betäubungen des Unbekannten erliegt und versackt. Der Dschungel, in den die Stubenhocker geraten, wenn sie draußen auf der Straße der Sehnsucht in den Untergang treiben, sprießt freilich nicht auf dem Asphalt, sondern bereits in der guten Stube. Die gute Stube, das kleinbürgerliche Wohnzimmer bildet die Bastion des formenden Ich gegen das andrängende Es, das nur mit Mühe gebändigt zu werden vermag, und hat zugleich so viele formale wie atmosphärische Eigenschaften dieses Andrängenden selbst. Das konstante Bezugnehmen-Können auf Orte und die privatisierende und funktionale Ausdifferenzierung von Räumen gehören zu unseren kulturellen Gewohnheiten. Walter Benjamin schildert die nach-revolutionäre Situation in Moskau als ein Leben mit Vorhängen statt Wänden und als psychische Belastung durch erzwungene übermäßige Mobilität, die verlangt, immer wieder alles in Frage zu stellen. »Jeder Gedanke, jeder Tag und jedes Leben liegt hier wie auf dem Tisch eines Laboratoriums. Und als wäre es ein Metall, welchem man einen unbekannten Stoff mit allen Mittel abgewinnen will, muß er bis zur Erschöpfung mit sich experimentieren lassen. Kein Organismus,
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Architektur und Geistesgeschichte keine Organisation kann sich diesem Vorgang entziehen. Die Angestellten werden in den Betrieben, die Ämter in den Gebäuden, die Möbel in den Wohnungen umgruppiert, versetzt und umhergerückt. Neue Zeremonien für die Namengebung, die Eheschließung werden in den Klubs vorgeführt, als wären sie Versuchsanstalten. Verordnungen werden verändert von Tag zu Tag, aber auch Trambahnhaltestellen wandern, Läden werden zu Restaurants und ein paar Wochen später zu Büros. Diese erstaunliche Versuchsanordnung – man nennt sie hier ›Remont‹ – betrifft nicht Moskau allein, sie ist russisch.« (296)
Die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre bildet im bürgerlichen Universum die zentrale Raumstruktur. Die räumlich ausgegrenzte und hoheitlichem Eingriff oder öffentlicher Willkür auch rechtlich entzogene Privatsphäre wurde als der von unmittelbaren pragmatischen Pflichten weitgehend befreite Ort der Ausbildung von Innerlichkeit zum Inbegriff der bürgerlichen Tugenden und zum privilegierten Ort der Praxis individueller Stilisierung. Die historische Genese der bürgerlichen Entourage wurde in Zusammenhang mit der Ausbildung von Territorialstaaten gesehen, die innerhalb ihrer Grenzen Macht zentralisieren und auf der Grundlage eines Gewaltmonopols ihre Großräume befrieden konnten. In dieser Befriedung sah Norbert Elias die Grundbedingung für die Ausbildung verlängerter Handlungsketten, die Ausrichtung der Entscheidungen an langfristigen Gewinnchancen sowie die Sublimierung des Affekthaushaltes in einer Verfeinerung der Sitten und Umgangsformen. (297) Die von den höfischen Kreisen allmählich auf das bürgerliche Milieu abfärbende Affektkultur musste, nachdem die kommunen Riten und Gebräuche die Funktion unmittelbarer Kontrolle und ihre integrative Rolle verloren hatten, zunehmend die soziale Integration steuern. Es bedurfte der Verinnerlichung von Normen, die nun nicht als starre Fixierungen, aber als im Medium der Innerlichkeit mit den subjektiven Bedürfnissen relationierbare Orientierungen wirksam sein mussten. Die prinzipielle Möglichkeit einer bedürfnisgerechten Verinnerlichung von Normen wurde damit zum idealen Maßstab eines repressionsfreien Verhältnisses von Sozialisation und Individuation. Der Innerlichkeit konnte auch die Kraft einer kritischen und antizipatorischen Instanz zuwachsen. Der mit der Ausgrenzung und Autonomisierung verbundene Grad von Distanz erlaubte das bewusste In-Relation-Setzen verschiedener gesellschaftlicher Sphären und fand Ausdruck in der Kultivierung des Wohnens, dessen Subtilität im 19. Jahrhundert kulminiert. Bürgerliche Identitätsbildung und Sozialisation vollziehen sich wesentlich im Medium der eigenen Verfügung über einen abgegrenzten Raum. Der Zustand des eigenen Zimmers, Grad und Stil des Aufgeräumtseins werden entsprechend zum Gradmesser des persönlichen Gestaltungswillens und Spiegel des Charakters. Sehr stark indizieren bei Goethe der Raum und seine Gestaltung die Disponibilität der eigenen Identität und die Möglichkeit der Selbstverwirklichung. Im »Wilhelm Meister« steht der Unordentlichkeit der Räume Mariannes und Philines der ausgeprägte Gestaltungswille Nathaliens gegenüber. In den »Wahlverwandschaften« wird das Zimmer Ottiliens, das sich von dem Amaliens deutlich unterscheidet, zum Vorboten ihres Schicksals. Jean Paul stellt im »Hesperus«, im 8. Hundsposttag, dem »stillen, leeren Zimmer« Klothildens, »wo Ordnung und Einfachheit an die schöne Seele der Besitzerin« erinnerten, mit Blumenzeichnungen von ihrer eigenen Hand, ihrem weißen Schreibzeug und der schönen Landschaft der Öltapete, das »Cabinet d’Histoire
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naturelle« gegenüber, das der Kammerherr Le Baut gerade aufsperrt. »Das Kabinett hatte rare Exemplare und einige Curiosa, ist angefüllt mit Absonderlichkeiten wie dem Blasenstein eines Kindes, dem Modell eines Hebammenstuhls, der verhärteten Vene eines Ministers, amerikanischen Federhosen, einem versteinerten Vogelnest etc.« Sein literarisches Monument erhielt der Topos mit Virginia Woolfes Forderung, »ein Zimmer für sich allein« haben zu müssen. In der romantischen Literatur wird der Aufgeräumtheit der Wohnung, als Merkmal der mediokren und philiströsen Struktur der bürgerlichen Normen, bewusst die genialische Unordnung gegenübergestellt. In den spärlich erleuchteten Rumpelkammern allein findet sich Platz für vergessene Schätze und Geheimnisse und für die Ahnung ganzer Dimensionen des Nicht-Etablierten und Domestizierten. In staubigen Bibliotheken nehmen bei E.T.A. Hoffmann die phantastischen Abenteuer ihren Anfang. (298) Die Struktur der Grenzziehung und deren Geschichte gibt Aufschluss über gesellschaftliche Strukturen und deren Veränderungen. In dem Maße, wie der politische Einfluss des Bürgertums und die politische Selbstverständigung nicht mit der wirtschaftlichen Rolle und dem ökonomischen Gestaltungsanspruch mitwachsen wollten, wie auch die gesellschaftliche Wirklichkeit dem im Schutz der Innerlichkeit errichteten Tugendkanon zuwiderlief und wie die ökonomische Dynamik sich verselbständigte, wurde die Privatsphäre damit belastet, eine parzellierte Scheinwirklichkeit sein zu müssen, in der es möglich war, sich in einer dem eigenen idealisierten Selbstverständnis adäquaten sozialen Wirklichkeit und dinglichen Objektivität zu halten. Die Behauptung des Innenraumes als höherwertiges Sein, als eine Art existentieller Mitte, resultiert historisch aus dem Konflikt einer autonom gewordenen Innerlichkeit mit der rüden Wirklichkeit einer antagonistischen Gesellschaft, deren Entfaltung doch jene Innerlichkeit allererst möglich gemacht hatte. Theodor W. Adorno betont die Raumlosigkeit des Eingegrenzten: »Das Intérieur akzentuiert sich gegen den Horizont […] als objektloses Innen gegen den Raum. Der Raum fällt nicht ins Intérieur. Er ist allein dessen Grenze. An der Grenze des Raums wird das Intérieur polemisch gesetzt als einzig bestimmtes Sein.« (299) Die Kultivierung der Entourage wird zur Chiffre des Weltverlustes. Bezeichnend sei Adorno zufolge Kierkegaards Vergleich der Innerlichkeit mir der Burg: »Im Zeichen der Burg als des uralt Gewesenen wie des Intérieurs als des unmeßbar Fernen, die im Gegenwärtigen und Nächsten ausgeprägt sind, gewinnt Schein seine Macht. Alle Raumgestalten des Intérieurs sind bloße Dekoration; fremd dem Zweck, den sie vorstellen, bar eigenen Gebrauchswertes, erzeugt allein aus der isolierten Wohnung, die wieder von ihrem Nebeneinander erst gebildet wird. Die ›Lampe in Form einer Blume‹, der Traumorient, gruppiert aus dem Lampenschleier über der Krone und dem Schilfteppich; das Zimmer als Schiffskajüte voll kostbar zusammengerafften Zierrats überm Ozean – die vollständige Fata Morgana verfallener Ornamente empfängt ihre Bedeutung nicht durch den Stoff, aus welchem sie gefertigt ist, sondern aus dem Intérieur, das den Trug der Dinge als Stillleben vereint.« (300)
Das Burgtor der Innerlichkeit schirmt den Geist ab gegen die äußere Welt, in der alles den Besitzenden gehört, gleich wie sie den Besitz erlangt haben mögen, gegen eine Welt, die »geknechtet ist unter das Gesetz der Gleichgültigkeit«. Die Innen-
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welt und ihr Idealismus aber bleiben auf die Untätigkeit, die traurige Reflexion beschränkt, auf den bloßen Schein von Dingen und die bloße Vorstellung von Handlungen. Kierkegaard mag seine eigene frühe Jugend vor Augen gehabt haben, als er über die Wurzeln seiner Vorstellungskraft schrieb: »Wenn Johannes zuweilen um die Erlaubnis ausgehen zu dürfen bat, wurde es ihm meistens abgeschlagen; hingegen schlug ihm der Vater als Ersatz zuweilen vor, an seiner Hand auf dem Fußboden auf und ab zu spazieren. Beim ersten Hinsehen war dies ein ärmlicher Ersatz und doch … etwas ganz Anderes war darin verborgen. Der Vorschlag wurde angenommen, und es wurde Johannes ganz überlassen zu bestimmen, wo sie hingehen wollten. Dann gingen sie aus der Einfahrt, zu einem naheliegenden Lustschloss, oder hinaus zum Strande, oder auf und ab in den Straßen, ganz wie Johannes es wollte: denn der Vater vermochte alles. Während sie nun auf dem Fußboden auf und ab gingen, erzählte der Vater alles, was sie sahen: sie grüßten die Vorübergehenden, Wagen lärmten an ihnen vorbei und übertönten des Vaters Stimme, die Früchte der Kuchenfrau waren einladender denn je.« (301)
Das Aussperren der Wirklichkeit als Gefahren bergendes Überraschungspotential schafft Langeweile, die vertrieben werden muss mit Surrogaten der Wirklichkeit. Die artifizielle Wirklichkeit, die als Reflex von Innerlichkeit neu geschaffen wird und an die Stelle der eigentlichen tritt, muss dieser freilich nicht unterlegen sein. Offen für Phantasie und imaginäre Abenteuer, die man sonst wohl eher meiden würde, fügsamer für Macht- und Sinnbedürfnisse hat diese Kunstwirklichkeit der anderen, bloß vorgefundenen auch einiges voraus. Ähnlich dem kleinen Johannes bei Kierkegaard konnte E. T. A. Hoffmanns »Vetter am Eckfenster« die Handlungsmotive und Dialoge, die Geschichten der Menschen, die er von seinem Erker her beobachten konnte, wie ein kleiner Schicksalsgott nach eigenem Gutdünken und Ermessen fingieren und ergänzen und manipulieren – ein ambivalentes Gleichnis für die Existenz und die Arbeit des Schriftstellers. Die Literaturgeschichte ist mit der Geschichte des Interieurs nicht nur deshalb eng verknüpft, weil der eine Pol bürgerlicher Existenz in deren Darstellungen einen breiten Raum einnimmt, sondern auch deshalb, weil die Selbstreflexion literarischer Praxis und Existenz in der Kultivierung des Interieurs immer wieder einen der künstlerischen Produktion ähnlichen Vorgang erblickte. Die Kultivierung des abgeschlossenen Innenraumes nach Maßgabe des subjektiven Geschmacks dient vor allem einer sich von der profanen Alltagswelt abwendenden, eine Eigenwelt konstruierenden und sich hermetisch abschließenden Poesie als Symbol. Der erste »Physiognom des Intérieurs« E. A. Poe beschreibt in einem kleinen, mit »Philosophie des Mobiliars« betitelten Text einen idealen romantischen Raum, in dem ein Rot dominiert, das der verhaltenen Glut im Kamin vergleichbar ist: Dieses Karmesinrot ist die Farbe der Seidenvorhänge, des Teppichs, auf dessen Grund goldene Arabesken hervortreten, der blass-silber gesprenkelten Tapeten und des seidenbezogenen Sofas. Die Perfektion der Einrichtung spiegelt die Perfektion einer Dichtung und deren Unabhängigkeit von den Vorgaben der äußeren Wirklichkeit. Dem zum Kunstwerk stilisierten Interieur traut man zu, die Gefühlswelt des Bewohners und Protagonisten zu spiegeln. Und Balzac stellt in seiner Geschichte vom »Mädchen mit den Goldaugen« angesichts des Boudoirs der eifersüchtig be-
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wachten Pacquita Betrachtungen darüber an, wie man mit Hilfe des Effekts gewisser Farben den Geist der Wollust gefügig macht. Edgar Allen Poe geht einen Schritt weiter, wenn er das Interieur die Konzentration seiner Kunst auf sich selbst repräsentieren lässt. Das Interieur steht hier für eine Dichtung, die nicht äußere Realität abbilden will, sondern nur sich selbst und ihre eigne Perfektion zum Gegenstand hat, als Poesie der Poesie. Die Eingrenzung erfolgte zunächst mit dem Ziel einer Entgrenzung, um eine immer stärker rationalisierte und enger gewordene Welt für die Imagination wieder zu öffnen. Poe schildert das Glück im Verzicht aufs Draußen, im Verschließen der Türen und der bewussten Ausschweifung der Reflexion. Er schildert dieses Glück aber zugleich von Schwermut überschattet und spielt mit den ästhetischen Werten des Grauens und der Angst vor dem Lebendig-Begrabensein, so wie JorisKarl Huysmans in seinem Roman »A Rebours« (Gegen den Strich) seinen Helden in seinen exquisiten Ausstattungsorgien bei extremem Reizentzug beinah verenden ließ. Architektur verkörpert zuweilen in ihrer kruden Form von Mauern und Wänden, Gruften und Verliesen die vereinsamende Werkbesessenheit des Dichters, der für ein immer anspruchsvolleres Publikum nach immer neuen Kicks suchen muss. Das Opium bleibt in den schweren Samtvorhängen haften, ein Knarren der Tür versetzt den Träumer in Angst und Schrecken. »Und das seidig triste Drängen in den purpurnen Behängen/füllt, durchwühlt mich mit Beengen, wie ich’s nie gefühlt vorher.« Der schwarze Todesvogel mit dem raunenden Namen »Nevermore« hat sich auf dem Kopf der Skulptur über dem verschnörkelten Türgesims niedergelassen. Konzentration und Weltverlust, Schöpferkraft und Melancholie, Leben und Tod liegen nah beieinander, sind im »House Usher« – wie auch schon in E. T. A. Hoffmanns »Majorat« – nur durch eine dünne Membran voneinander geschieden. Das Eingeschlossensein komprimiert das Sein, die Handlungsfreiheit einengende Regeln können den Kompressionsdruck noch erhöhen. Leonor Fini erinnert sich an die Faszination, die das Fahren mit der Eisenbahn für sie als Kind besaß. »Was ist enger begrenzt, als ein Eisenbahnabteil, in dem – ganz abgesehen davon, dass man sich darin nicht bewegen kann – fast alles verboten ist. Verboten, sich aus dem Fenster zu lehnen, verboten, die Notbremse zu ziehen, während des Aufenthalts der Züge auf Bahnhöfen den Abort zu benutzen.« Die Abgeschlossenheit des Ortes dient dazu, die Reinheit der Imagination zu schützen und Gefährdungen abzuwehren. Sie kommt, wo sie in der Dichtung selbst thematisch wird, auch der Glaubwürdigkeit und Dichte der imaginierten Realität zugute. Die Abgeschlossenheit wirkt auf die Innenstruktur derer, die sie bewohnen, kristallisierend. Verschworene Brüderschaften, konspirative Gruppen, Freimaurer, Rosencreutzer brauchen nicht nur für ihre Geschäfte, sondern für ihre literarische Existenzberechtigung unzugängliche Gewölbe oder abgelegene Klöster als idealen Treffpunkt. Bei de Sade löst die Abgeschlossenheit des Treffpunktes der Libertins den Raum ihrer Rituale von allen anderen Räumen und konturiert so, jenseits jeglicher Zugänglichkeit den imaginären Ort schlechthin. Das Modell für den Sade’schen Ort ist Silling, das Schloss von Durcet, im tiefsten Schwarzwald, in dem sich die vier Libertins der 120 Tage vier Monate lang mit ihrem Serail einschließen.
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Architektur und Geistesgeschichte »Dieses Schloss ist durch eine Reihe von Hindernissen, wie man sie in manchen Märchen findet, ›hermetisch‹ von der Außenwelt abgeschlossen: ein Dorf von Köhler-Banditen (die niemanden durchlassen), ein steil abfallender Berg, ein schwindelerregender Abgrund, den man nur auf einer Brücke überqueren kann (und die die Libertins, nachdem sie sich eingeschlossen haben, hinter sich zerstören lassen), eine zehn Meter hohe Mauer, ein tiefer Wassergraben, ein Tor, das man nach dem Einzug zumauern lässt, und schließlich entsetzliche Schneemassen.« (302)
Die Vorstellung, völlig unbeobachtet, unbeobachtbar zu sein, ist extrem phantasieanregend: »Man kann sich kaum vorstellen […], was man alles unternimmt, wenn man sich sagen kann; ›Ich bin allein hier, hier bin ich am Ende der Welt, allen Augen entzogen, und keinem lebendigen Wesen wird es möglich sein, bis zu mir zu gelangen; es gibt nun keine Hemmungen, keine Hindernisse mehr‹.« Die Sade’sche Abgeschlossenheit ist also erbarmungslos. Das hat eine doppelte Funktion. Zunächst natürlich die, zu isolieren, die Unzucht vor den Augen der Welt und ihren Bestrafungen zu verbergen; und doch ist die libertine Einsamkeit nicht nur eine praktische Vorsichtsmaßnahme, sie ist eine Qualität der Existenz, »eine Wollust am Sein«. (303) In diesen vollkommen abgeschlossenen Ort ist in einer weiteren Abgrenzung sozusagen im Schoß des absolut sicheren Verstecks wiederum ein geheimer Ort eingelassen, der absolute Unsichtbarkeit garantiert, in das auch die Komplizen und der Leser dem Libertin nicht folgen können. In der Sade’schen Welt, in der es Wirkliches nur als Sprache und als sprachliche Erfindung gibt, ist dies ein von Sprache freier, ein stiller Ort. Es handelt sich dabei um »tiefe Kellergewölbe, Krypten, unterirdische Geschosse, Höhlen im untersten Teil der Schlösser, der Gärten, der Gräben, aus denen man alleine und ohne ein Wort zu sagen wieder emporsteigt. Das Geheimnis ist also letztlich eine Reise ins Innerste der Erde, ein tellurisches Thema«. (304) Auch die gotischen Schauerromane haben als dramaturgisches wie architektonisches Zentrum einen »lieu de repos«, eine Burg, ein Schloss, eine halb verfallene Villa, ein Seitengelass in einer Kirche oder der Ruine einer Abtei. Auch dieser Ort ist nicht als ganzes Symbol, sondern sein eigentlicher Reichtum liegt in den Kellern und Geheimkabinetten, unterirdischen Gängen und Laboratorien. Sie bleiben intakt, während außen und oberirdisch das Gebäude zerfällt und überwuchert wird. Hier geht der mythische Held seinem »verbotenen Wissen« nach. »das Kennzeichen der Utopie ist das Alltägliche. Oder: alles Alltägliche ist utopisch: Stundenplan, Speisezettel, Kleidungsbestimmungen, Mobiliarangaben, Konversations- und Kommunikationsvorschriften.«
Alain Resnais lässt in seinem Film »La vie est un roman« den Grafen Forbeck (dem William Beckford seinen Namen lieh) in seinem Tempel der Glückseligkeit – ein sadistisch verschärfter Club Mediterranée, ein Internat für Erwachsene, ein Hotel mit freiwillig eingegangener Verpflichtung zur Promiskuität – Interessenten sich einem Fourier’schen Experiment aussetzen. (305) Abgeschlossenheit ist der Imagination günstig. Aber auch die bei de Sade wie bei Fourier herrschende Zwanghaftigkeit resultiert aus der Selbstgenügsamkeit, die gegen die Außenwelt wenn nötig mit Gewalt gesichert wird. Die Zugehörigkeit
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zur Gesellschaft kann etwas beängstigend Unentrinnbares annehmen, als plötzlich offenbar werdende Kehrseite der Glückseligkeit oder als deren unbewusste Basis, die durch permanente Aktivität und Promiskuität verdrängt werden muss. Wo der Wunsch des Austritts geäußert wird, wird er von der sektenhaften Gemeinschaft als geistige Verwirrung behandelt, in der Gewissheit, den Abtrünnigen zu seinem Glück zwingen und mit allen Mitteln kurieren zu müssen. Ähnlich sind vielleicht die mönchischen Rituale konzipiert, denn sie suggerieren oder nähren die Phantasie, die Sublimierung sei jederzeit rückgängig zu machen. Man sei der Welt nicht für immer abhandengekommen. (306) Mr. Wemmick, eine Figur aus Charles Dickens’ Roman »Great Expectations« verfügt über eine selbstgebaute Miniaturfestung mit einer aus einem Brett bestehenden Zugbrücke, einem Graben von vier Fuß Breite und zwei Fuß Tiefe, einem durch einen Regenschirm bedeckten Böller, der neun Uhr ankündigt – das einzige, was sein schwerhöriger Vater noch hören kann – und über einen winzigen Teich mit einer salatschüsselgroßen Insel und einem zur Benetzung des Handrückens gerade ausreichend großen Springbrunnen. Der schrullige Kanzleigehilfe, dessen Mund sich wie ein Briefkastenschlitz öffnet und schließt, trennt mit Hilfe dieser genannten Vorrichtungen zwei Momente seines Lebens wie zwei Realitätsbereiche. Als Angestellter eines gewissen Jagger, dessen Büro im Schatten des Galgens steht, bewegt er sich in einer Sphäre von Gewalt und Verbrechen, Betrug und Mitleidslosigkeit. Als Privatmann lebt er nur für seinen bescheidenen Besitz, seinen Vater und die Möglichkeit, hin und wieder Besuch zu empfangen. Er achtet peinlich darauf, das Geschäftsleben von allem Privaten, von Gefühlen und persönlichen Meinungen freizuhalten. Mit Hilfe der Zugbrücke vermag er das private Idyll gegen das Draußen abzuschirmen. Indem er sie hochzieht, nachdem er selbst nach Feierabend oder ein genehmer Besucher sie passiert hat, ist er in der Lage, sein Privatleben von allem Beruflichen und Öffentlichen abzusperren. Dank seines Salat- und Gurkenbeetes könnten, wie er selbst seinem Besucher gegenüber äußert, die Verteidiger der Miniaturfestung sogar eine Belagerung aushalten, wenn dies nötig wäre. Mit dieser Konstruktion rettet Wemmick den Schein einer noch möglichen Privatheit gegenüber gesellschaftlicher Vereinnahmung, freilich um den Preis eines Abbruchs der Kommunikation zwischen den Lebensbereichen und Momenten seiner eigenen Persönlichkeit. Er spürt zwar die Begrenztheit des selbstgewählten Refugiums, doch der Idealismus des Privatmannes Wemmick beruhigt sich damit, dass es bei ihm zu Hause und in seinem Denken, das er außerhalb seiner eigenen vier Wände freilich für sich behält, nicht zugeht wie draußen, wo das Gesetz der Gleichgültigkeit herrscht und nicht nach der Herkunft des Besitzes gefragt wird, noch nach den Gründen für das Verbrechen. Die Verkleinerung betrifft also nicht nur die Größe seines Anwesens, sondern auch seine Weltsicht allgemein, seinen moralischen und ideologischen Horizont. Rettung und Vergeblichkeit des Interieurs sind, aufs Äußerste gespannt, vereinigt in einer Figur Valérys. Sein Mr. Teste, der unschwer als »Herr Kopf« erkennbar ist, lebt im allgemeinsten Interieur, das überhaupt denkbar ist, und zieht gerade dadurch die Aufmerksamkeit des Interieur-Analytikers auf sich. Die totale Mimikry an das gesellschaftlich Allgemeine hat ihn in seiner besonderen Sphäre auf jeden Versuch der sichtbaren Besonderheit verzichten lassen. Gerade durch die-
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ses »Verfahren äußerster Komplexitätsreduktion«, wie man mit Luhmann sagen möchte, vermag er jedoch seine Individualität und Besonderheit für sich zu bewahren, doch eben nur für sich und ohne eine rettenswerte Substanz. Wie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die Entourage zunehmend gegen die äußere Wirklichkeit abschließt, lässt sich an der Rolle verfolgen, die das Interieur in der Malerei jeweils spielt. Die Innenräume eines Pieter de Hooch (1629-1688) oder eines Emanuel Witte (1617-1692) bieten Durchblicke in die angrenzenden Räume auf den Hof und die Straße. Das Interieur steht noch in Verbindung mit der es umgebenden Welt der Stadt und der Natur, mit dem Licht, dem Wind. In der Malerei, die auf sie folgt, schon bei Jan Vermeer, wird der Mensch von der ihn umgebenden Welt mehr und mehr isoliert lokalisiert. Das Interieur wird zu einem versiegelten Innenraum, zu einem »kleinen Universum, das sorgfältig für einen Ausbruch in die Vergangenheit und ins Exotische vorbereitet ist«. (307) Das Fenster ist undurchsichtig oder für den, der hinausschauen möchte, zu hoch angebracht. Die Malerei spiegelt getreu, was sich an den Wohnungen selbst ablesen lässt. Die Auf blähung des Innenraums zum Universum steigert sich in den überfüllten und vortäuschenden Einrichtungen des 19. Jahrhunderts. Die überfüllten Wohnungen der Gründerzeit reden von einer tiefen Angst vor der inneren Leere, wie Dolf Sternberger diagnostizierte. In ihnen dränge sich der Eindruck eines »horror vacui« auf. (308) Der Innenraum wird überladen. »Immer mehr Güter werden an seinen Strand gespült, oder immer mehr Stücke zieht er in sein Vakuum herein.« Die Gegenstände gehen dabei ihres eigenen Charakters verlustig, werden rein subjektiv, wie die Fundstücke, die sich in einem Maleratelier ansammeln. Zuletzt wimmelt die Wohnung tatsächlich ganz wie im Atelier, und vielleicht sogar nach dessen Vorbild, von Stoffen, »Bildern, Staffeleien, Vasen, Waffen, Trophäen, Fellen, ausgestopften Adlern und Pfauen, getrockneten Pflanzen, malerisch verstreuten Geschirren und Büchern.« Sie lassen an vollbeladene Beuteschiffe denken oder an Museen, Wohnungen glichen Kuriositätensammlungen und Naturalienkabinetten. Die Maler behielten einen gewissen Vorsprung. In Makarts rekordverdächtigem Atelier war kaum einer der Stühle frei zum Sitzen. Nach einer Anekdote, die Mario Praz in seiner »Geschichte der Einrichtung« zum Besten gibt, hat der Besucher eines derartig vollgestopften Salons dem Hausherrn mitten ins Gesicht gespuckt. Nach dem Grund für solch ungebührliches Benehmen gefragt, antwortete dieser, dass sonst nirgendwo Platz gewesen sei. (309) Walter Benjamin sah den Grund für die Überladung des Interieurs mit Mobiliar, Dekor und Bedeutung in der Trennung der Wohn- von der Arbeitswelt, in der Entgegensetzung von nüchternem Büro und der allein der Muße und der Zerstreuung dienenden Wohnsphäre. Die trügerische Harmonie der entlasteten Innenwelt und die verdächtige Kostbarkeit der raren Handlungsspuren fügen sich zum Bild des Interieurs als Schauplatz der Detektivgeschichte zusammen. Die Täter der ersten Detektivgeschichten sind ehrbare Bürger, Privatleute, unbescholtene Mitglieder der Gesellschaft, ebendie Bewohner jener hochherrschaftlichen Etagenwohnungen. Die Assoziationen verdichten sich im kriminellen Plot als Vehikel der exakten Beschreibung und Analyse des Interieurs. »Vom Möbelstil der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt die einzig zulängliche Darstellung und Analyse zugleich eine gewisse Art von Kriminalromanen, in deren dynamischem Zentrum der Schrecken der Wohnung steht. Die Anordnung der Möbel ist zugleich der Lage-
A. Or te und Grenzen, Leib und Blick, verkleiner te Modelle plan der tödlichen Fallen, und die Zimmerflucht schreibt dem Opfer die Fluchtbahn vor […] Das bürgerliche Intérieur der sechziger bis neunziger Jahre mit seinen riesigen, von Schnitzereien überquellenden Buffets, den sonnenlosen Ecken, wo die Palme steht, dem Erker, den die Balustrade verschanzt, und den langen Korridoren mit der singenden Gasflamme wird adäquat allein der Leiche zur Behausung. ›Auf diesem Sofa kann die Tante nur ermordet werden‹.« (310)
Théophile Gautier hatte ähnliche Gedanken angesichts eines Malerateliers der Makartzeit: »Da sieht man nur Vorhänge und Portieren, in denen sich die Kunst des Orients ausdrückt, Teppiche aus Smyrna, Kabylien, der Türkei, perlmutteingelegte Tischchen, mit kostbaren Steinen besetzte Waffen, Wasserpfeifen aus Chorasaan, und über all diesen aufgehäuften Kostbarkeiten etwas Tragisches. Dieser Raum könnte als Hintergrund für eine Eifersuchtsszene, für einen Mord dienen. Blut würde auf diesen dunkelroten Teppichen keine Spur hinterlassen.« (311)
Die Üppigkeit des Mobiliars und der orientalisch angehauchte Komfort sind die Lebensform des Spekulanten, bei dem es was zu holen gibt. »Die seelenlose Üppigkeit des Mobiliars wird wahrhafter Komfort erst vor dem Leichnam. Viel interessanter als der landschaftliche Orient in den Kriminalromanen ist jener üppige Orient in den Interieurs: der Perserteppich und die Ottomane, die Ampel und der edle kaukasische Dolch. Hinter den schweren gerafften Kelims feiert der Hausherr seine Orgien mit den Wertpapieren, kann sich als morgenländischer Kaufherr, als fauler Pascha im Khanat des faulen Zaubers fühlen, bis jener Dolch im silbernen Gehänge überm Divan eines schönen Nachmittags seiner Siesta und ihm selber ein Ende macht. Dieser Charakter der bürgerlichen Wohnung, die nach dem namenlosen Mörder zittert, wie eine geile Greisin nach dem Galan, ist von einigen Autoren durchdrungen worden, die als ›Kriminalschriftsteller‹ – vielleicht auch, weil in ihren Schriften sich ein Stück des bürgerlichen Pandämoniums ausprägt – um ihre gerechten Ehren gekommen sind.« (312)
Malerei und Dekor beschworen mit ihrem Orientalismus die »Freiheit der Leidenschaft, der Passion, der Wildheit, des Heldenmuts, auch des Fanatismus und der Grausamkeit, der Eifersucht und der Wollust«. Eigenschaften, die freilich dem Orient selbst, wenn er sie denn überhaupt besaß, ausgetrieben wurden, und die von Anfang an mehr in den Köpfen der Betrachter existierten, wo sie nur einen Namen und eine Lokalisierung brauchten. Mit dem Orient zog die Farbe ins Hausinnere, als Träger der Stimmung. »Die Farbe also, als das Hauptelement und Mittel der ›Stimmung‹, das ist des letzten, aus der Innerlichkeit der Empfindung hervorgezogenen und herstellbar gewordenen Überzugs, kriecht oder schwimmt nun über alle Flächen, Körper, Ecken und Kanten, über Böden, Decken und Wände und duldet keine freie Stelle, keine Unterbrechung, keine Öffnung. Es ist wie ein Zwang, ringsum alles mit Farbe zuzuschließen, vergleichbar dem Zwang, unter dem manche mehr oder weniger viel besitzenden Leute leiden, die des Abends alle Türen und Fenster dicht verschließen und immer noch einmal daraufhin kontrollieren müssen«. (313)
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A 20. Um zu erfassen, dass Grenzen nicht nur und nicht vornehmlich als Verortung arbeiten, um auch auf die Transferbewegungen, auf kleinen oder großen Grenzverkehr abzuheben, bei dem beide Seiten profitieren oder jedenfalls etwas miteinander zu tun haben und sich austauschen, so dass von Interferenzen gesprochen werden kann oder osmotischen Vorgängen, kommt man mit dem den Pragmatisten entlehnten Grenzbegriff nicht weit. Bei einer eher am hermeneutischen Grenzbegriff ausgerichteten Sichtweise dagegen nehmen die Einheiten voneinander Notiz, kommen Übergangsphänomene, wechselseitige Einflüsse, Interferenzen ins Blickfeld. Wo sich das eine System verdünnt, kann es sich mit einem benachbarten überlappen, können beide einander durchdringen. Grenzen zwischen verschiedenen Kulturen werden relevant als Einflusssphären, Austauschmedien, Kommunikationsbereiche. Zwischen Orient und Okzident gab es mehr Interaktion, als die Geschichte wahrhaben will, und zwar in beide Richtungen. Der Transfer über die Grenzen hinaus, ungeachtet der manifesten Anstrengung der Selbstbehauptung kultureller Identitäten, macht aus der Grenze ein produktives Medium, ein Medium der osmotischen Produktion unerwarteter Amalgamierungen, auch oder gerade dann, wenn man die tatsächliche wechselseitige Beeinflussung nicht wahrnehmen will. So blieb das christliche Spanien der Reconquista ignorant gegen den tatsächlichen Einfluss, den der Islam auf die spanische Kultur ausübte, in allen kulturellen Bereichen, von der Wissenschaft über die Mode, den Tanz, die Esskultur, die Sprache bis zu Architektur und Städtebau, und vielleicht hat er gerade deshalb deutliche Spuren hinterlassen. So entstehen in Asturien im 9. und 10. Jahrhundert durch die Verschmelzung einer nordischen, christlichen Kultur und einer tiefgreifend islamisierten mozarabischen Kultur hybride Formen: »[…] Monumente von großer Originalität und Mannigfaltigkeit der Formen. Besonders kennzeichnend ist die Anwendung des westgotischen (hufeisenförmigen) Bogens, der schon von der islamischen Sakral- und Profanarchitektur sowie in Militärbauten oder bei planimetrischen Bauelementen (den Apsiden), bei den Arkaden und den Fassadenöffnungen übernommen worden war – ein stilistisches Kennzeichen, das häufig auch auf andere europäische Monumente übertragen worden ist und Spaniens kulturelle Verbindungen und seine zentrale Bedeutung für den islamischen Mittelmeerraum wie auch für die christlichen Territorien beweist.« (314)
Die labyrinth-hafte Straßenführung arabischer Stadtgründungen, deren Windungen in den privaten Kern des Anwesens hineinführen wie in ein Schneckenhaus, sind vielfach sichtbar in europäischen Städten wie Lissabon. Grenzen sind demnach in Wahrheit keine Linien, sondern Bereiche, in denen einander fremde Elemente durchdringen und vermischen und so Neues hervorbringen. Venedig bildet insgesamt einen Ort des Austauschs zwischen Orient und Okzident. Die Ambivalenz seiner spezifischen, »aufgeweichten« Gotik wiederholt sich auf verschiedenen Ebenen seiner Charakteristik. Die Chiffre für Grenzerfahrung, für das ganz Andere der Phantasie, die für den Europäer der Orient darstellt, färbt auf Venedig ab. Freilich stehen der Erkenntnis einer wechselhaften produktiven Durchdringung ethnozentrische und xenophobe Reflexe entgegen. Das Frem-
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de wird nicht eigentlich an sich und mit eigenem Recht anerkannt, sondern in der Projektion und Übertragung konstruiert. Esward Said prägte hierfür den Terminus »Orientalismus«. (315) So gilt auch für Venedig, was E. Bloch als Dialektik des Orients erkannte: »In der Universalität der abendländischen Ratio gibt es den Trennungsstrich, den der Orient darstellt: der Orient, den man sich als Ursprung denkt, als schwindligen Punkt, an dem das Heimweh und die Versprechen auf Rückkehr entstehen, der Orient, der der kolonisatorischen Vernunft des Abendlandes angeboten wird, der jedoch unendlich unzugänglich bleibt, denn er bleibt stets die Grenze. Er bleibt Nacht des Beginns, worin das Abendland sich gebildet hat, worin es aber auch eine Trennungslinie gezogen hat. Der Orient ist für das Abendland all das, was es selbst nicht ist, obwohl es im Orient das suchen muss, was seine ursprüngliche Wahrheit darstellt.« (316)
Ein Beispiel für eine Interaktion mit wechselseitiger Beeinflussung bildet auch das Verhältnis Europa-Amerika, wobei sich der Diskurs in seiner Relevanz für die Architektur auch in der Literatur vollzieht, von Nikolaus Lenaus Indianer-Romantik bis zu Ferdinand Kürnbergers Amerikamüdigkeit, vom Goethekult eines David Thoreau und vom Oststaaten-Arthuskult bis zu den Satiren und Travestien Mark Twains. Bei allen Grenzkonzepten besteht die Gefahr eines Bias in der Weise, dass man auf Vermittlung und Interaktion als prinzipiell positive Möglichkeit setzt, die durch die Grenzziehung behindert, erschwert oder unterbunden wird. Dass Orte oder Gegenstände im Raum von sich aus bereits das Koexistieren zweier Seiten oder Klassen ausschließen können, wird dabei nicht in Betracht gezogen. Das Ausschließliche, das Sich-Abwendende, das Spaltende der Architektur, Einheit im Innern stiftende und nach außen Zwietracht säende – wie auf dem Lübecker Holstentor geschrieben steht – kommt in dem hermeneutischen Denkmodell in der Regel nicht in den Blick. Erwägungen Pierre Klossowskis zu de Sade und seiner Zeit zeigen, was dabei ausgeblendet wird. Die Akteure der französischen Revolution bestanden aus Durchschnittsmenschen, die bis dahin unterhalb des Niveaus des normalen Menschen gelebt hatten, und der Kategorie von Menschen, die, da sie zu den herrschenden Klassen gehörten, dank ihres höheren Lebensniveaus den höchsten Grad von Aufgeklärtheit entwickeln konnten, den sogenannten Philosophen. Zwei Klassen, die sonst nichts gemein haben, fanden sich am Vorabend der französischen Revolution zusammen, in der Vorbereitungszeit der Revolution, einer »Phase kollektiver Inkubation«, die Intellektuellen mit den proletarischen und kleinbürgerlichen Massen. »Als die ersten Ausschreitungen, zu denen die Massen sich hinreißen ließen, den Eindruck erweckten, das Volk sei nun zu allen möglichen Abenteuern bereit, versetzte dies die libertinen Geister in einen Zustand der Euphorie« und Unvorsichtigkeit. »Die gewagtesten Produkte des individuellen Denkens schienen eine Chance zu haben, in die Praxis umgesetzt zu werden.« Was in dem Zersetzungsprozess der traditionellen Gesellschaft individuell herangereift war, schien nun in einen fruchtbaren Boden gesät werden zu können. Jene Philosophen konnten nicht wissen, dass sie »eine verfaulte Frucht waren, die bereits vom Baum herabgefallen« war. Sobald jene Menschen von den Philosophen die Erlaubnis zum Massaker erhalten hatten, in dem Moment, in dem sie alle
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diese Verbrechen begingen, waren sie auch entschlossen, »sich gegen diese Philosophen zu wenden und sie mit nicht geringer Befriedigung in Stücke zu reißen«. Es zeigte sich: »Der privilegierte Mensch, der durch soziale Umwälzungen den höchsten Bewusstseinsgrad erreicht hat, ist absolut unfähig, die gesellschaftlichen Kräfte von seiner Aufgeklärtheit profitieren zu lassen […] dieser Mensch ist nicht in der Lage, auch nur für einen Augenblick die Individuen der amorphen Masse, obwohl diese reich an Möglichkeiten ist, mit sich in Einklang zu bringen; die moralisch fortgeschrittene Position, die er innehat, scheint er zum Nachteil der revolutionären Masse einzunehmen. Aus der Sicht der Selbsterhaltung hat die Masse recht. Aber die Masse hat unrecht, weil sie selbst aus Individuen besteht […] Je erfolgreicher dieses Individuum ist, umso mehr vereinigt es die diffusen Energien seiner Epoche in sich, und um so gefährlicher ist es für seine Epoche.«
Klossowski vermutet: »Je mehr es diese diffusen Energien in sich vereinigt, um sie in die Waagschale seines eigenen Schicksals zu werfen, desto mehr trägt es zur Befreiung der Epoche bei.« (317) In dieser Lage gibt es zwei mögliche Existenzmodi: De Sade machte die virtuelle Kriminalität seiner Zeitgenossen zu seinem persönlichen Schicksal, er wollte sie im Ausmaß der Kollektivschuld alleine sühnen. Saint-Just und Bonaparte dagegen haben sich gerettet. »Sie haben es verstanden, all das, was die Epoche in ihnen angehäuft hatte, auf ihresgleichen abzuwälzen. Aus der Sicht der Masse waren sie völlig gesunde Menschen; und sie selber wussten, dass die Massen den besten Beweis für die Gesundheit eines Menschen in seiner Entschlossenheit sehen, sie zu opfern. Sade ist aus der Sicht der Massen offensichtlich ein kranker Mann. Der republikanische Staat gibt vor, für das öffentliche Wohl zu sorgen: Aber wenn es auch klar ist, dass er das Gute nicht zur Vorherrschaft bringen kann, so vermutet doch keiner, dass er in seinem Inneren die Keime des Bösen enthält; unter dem Vorwand, das Aufblühen der Keime des Bösen zu verhindern, glaubt das neue gesellschaftliche Regime, das Böse besiegt zu haben, und gerade das bildet eine permanente Bedrohung.« (318)
A nmerkungen 1 | Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen. Frankfurt a.M. 2006, S. 247f. Kafka hat dem Hobbes’schen Wolf eine andere Spielart des Feindseligen und Widerborstigen im Anderen beigesellt. In einer Fragment gebliebenen Erzählung hat der Junggeselle Blumfeld es mit unerziehbaren und unlenkbaren Praktikanten zu tun, die immer paarweise auftreten, wie die ständig auf und ab hüpfenden Celluloidbälle in seinem Zimmer. »Diese Steuerung hin zur Selbststeuerung durch Lernprozesse misslingt gründlich. Die Praktikanten, die wie die Bälle nicht voneinander zu unterscheiden sind, lassen sich nicht erziehen, sie entziehen sich den von Blumfeld gesteuerten Lernprozessen. Dem Druck, der auf sie ausgeübt wird, weichen sie, wie die Bälle, geschickt aus und folgen ihren eigenen Gesetzen. Der Widerstand der Objekte gegen alle Manipulationsversuche steht in Analogie zum Verhalten der Gehilfen, die sich in ihrer Passivität und scheinbaren Schwäche der Führung durch Blumfeld und damit den Anmutungen organisatorischer Steuerung entziehen. Wie die Bälle in ihrer eigenwilligen Bewegung vitale Un-Dinge sind, so sind die Praktikanten darin, dass sie stets als Paar auftreten und nicht
A. Or te und Grenzen, Leib und Blick, verkleiner te Modelle voneinander unterscheidbar sind, entindividualisierte Un-Wesen.« Roland Innerhofer, Fantastik und Möglichkeitssinn, in: Kakanien revisited. Wien 2007. Ein architektonisches Pendant dieses unheimlichen Phänomens notierte Heimito von Doderer: »Das Haus Numero 44 in der Wiener Porzellangasse ist (es steht noch) die eine Hälfte eines Doppelgebäudes, aus zwei ganz gleichen Häusern, die zusammen ein symmetrisches Gebilde ergeben, eine beängstigende Bau-Art. Der Architekt hat denn auch Miserowsky geheißen, oder waren es zwei Brüder Miserowsky? Vielleicht sind sie Zwillinge gewesen.« Heimito von Doderer, Strudelhofstiege, Erster Teil. 2 | Achim Hahn, Gebrauch und Geschmack – Architektonisches Verhalten im Kontext der Lebensführung. Die ›Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht der phänomenologischen Soziologie, in: Joachim Fischer, Heike Delitz (Hg.), Die Architektur der Gesellschaft, a.a.O., S. 85 und S. 87. 3 | Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen, a.a.O., S. 248. 4 | Ebenda, S. 249. 5 | Ebenda, S. 273. 6 | Ebenda. 7 | Ebenda, S. 275. 8 | Vgl. ebenda, S. 278. 9 | Ebenda, S. 257. 10 | Vgl. ebenda, S. 109. 11 | Jürgen Habermas, Anthropologie, in: Fischer-Lexikon, Bd. Philosophie. Frankfurt a.M. 1958, S. 20; Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos. 9. Aufl. Bern 1978 (1928); Arnold Gehlen, Anthropologische Forschung. Frankfurt a.M. 1961; Joachim Fischer, Philosophische Anthropologie – ein wirkungsvoller Denkansatz in der deutschen Soziologie nach 1945, in: Zeitschrift für Soziologie 35/5 (2006), S. 322-347. 12 | Jakob von Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere. Berlin 1909. 13 | Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, eine Kritik des sozialen Radikalismus. Frankfurt a.M. 2002 (1924), S. 60. 14 | Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die Philosophische Anthropologie (3. Aufl.). Berlin 1975 (1928), S. 99ff.; Erich Rothacker, Philosophische Anthropologie. Vorlesung WS 53/54 (2. Aufl.). Bonn 1966 (1964), S. 102; vgl. Heike Delitz, Expressiver Außenhalt, in: Joachim Fischer, Heike Delitz (Hg.), Die Architektur der Gesellschaft, a.a.O., S. 163-194. 15 | Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Berlin 1940 (Textkritische Edition der 1. Aufl.); Arnold Gehlen, Gesamtausgabe Bd. 3. Hg. von Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt a.M. 1993, S. 378ff., S. 422ff. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Hg. von Karl-Siegbert Rehberg. Klostermann 2004, S. 9. 16 | Siehe Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, a.a.O. 17 | Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, a.a.O., S. 67. 18 | Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart 1981, S. 32. 19) Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt. Berlin 2010, S. 101. 20 | Ebenda S. 101. Vgl. Edmund Husserl, Gesammelte Werke (Husserliana XV 232, kritische Edition). Berlin 2008, 42 Bände. 21 | Martin Schwonke, Vom Staatsroman zur Science-fiction. Eine Untersuchung über Geschichte und Funktion der naturwissenschaftlich-technischen Utopie. Stuttgart 1957. 22 | Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt. Berlin 2010, S. 103. 23 | Siehe ebenda, S. 103f. 24 | Siehe ebenda, S. 104.
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Architektur und Geistesgeschichte 25 | Wilhelm Raabe, Hungerpastor VI, S. 201f. 26 | Gaston Bachelard, Die Poetik des Raumes. Frankfurt a.M., S. 203. 27 | Roland Barthes, Der Eiffelturm. München 1970; Leon Daudet, Paris vécu. Paris 1929, Bd. 1, S. 220f. Etienne Cabet, Voyage en Icarie. Paris 1840. Zu Hugo siehe Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Frankfurt a.M. 1969, S. 64, S. 90ff. 28 | Ulrich Conrads (Hg.), Panik Stadt. Braunschweig 1979 (Original Paris 1977), S. 4. 29 | Ebenda, S. 4f. 30 | Siehe Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, a.a.O. 31 | Antony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, Kapitel 2: Bewußtsein, Selbst und soziale Begegnungen. Frankfurt a.M./New York 1997 (1984), S. 91ff. Die scharfe konzeptionelle Trennung von Akteuren einerseits und Gesellschaft, Organisation und Strukturen andererseits beansprucht Giddens durch die Konzeption ihrer wechselseitigen Konstitution aufzuheben. Der Mittelpunkt der Theorie der Strukturation ist die Gleichursprünglichkeit und wechselseitige Bedingtheit, die Rekursivität von Handeln und Struktur. Soziale Praktiken beschreiben die geordneten, regelhaften Aspekte sozialer Aktivitäten, welche über Raum und Zeit stabil sind. Diejenigen sozialen Praktiken mit der größten raum-zeitlichen Ausdehnung in sozialen Systemen werden als Institutionen gekennzeichnet. 32 | Es handelt sich um taktisches Wissen im Sinne Polanyis. Ebenda, S. 11ff. Jens Loenhoff spricht von »implizitem Wissen«, und er hält die Erwartung, dieses müsse sich, um überhaupt Wissen zu sein, explizieren und in die Logik der Theorie überführen lassen, für unangemessen. »Kulturelle Lebensformen werden primär nicht durch reflexive und kontraintuitive Einsichten zusammengehalten, sondern durch ein von implizitem Wissen getragenes praktisches Können.« Die Ausbreitung wissenschaftlicher Monokulturen hat vieles an den Rand gedrängt und allenfalls ausschnitthaft, unter den Stichworten Lebenswelt oder Hintergrundwissen überleben lassen. Jens Loenhoff (Hg.), Implizites Wissen. Epistemologische und handlungstheoretische Perspektiven. Weilerswist 2012. 33 | Markus Dauss, Siegberg Rehberg, Gebaute Raumsymbolik. Die ›Architektur der Gesellschaft‹ aus der Sicht der Institutionenanalyse, in: Joachim Fischer, Heike Delitz (Hg.), Die Architektur der Gesellschaft, a.a.O. 34 | Zu Magie in diesem Verständnis siehe Michael Rothmann, Zeichen und Wunder. Vom symbolischen Weltbild zur ›scientia naturalis‹, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung: Verstetigung kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart. Im Auftrag des SFB 537, Köln u.a. 2001, S. 347-392. 35 | Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, a.a.O., S. 90. Siehe vor allem Irving Goffman, Verhalten in sozialen Situationen. Strukturen und Regeln in der Interaktion im öffentlichen Raum. Gütersloh 1971; Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt a.M. 1971. 36 | Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, a.a.O., S. 82f. 37 | »The activities, whereby members produce and manage settings of organized everyday affairs are identical with members’ procedures for making those settings accountable«. Harold Garfinkel, Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs 1967, S. 1. Vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Reinbek bei Hamburg 1973. 38 | Herman Coenen, Diesseits von subjektivem Sinn und kollektivem Zwang. Übergänge 5. München 1985, S. 294. 39 | Ebenda, S. 294.
A. Or te und Grenzen, Leib und Blick, verkleiner te Modelle 40 | Irving Goffman, Rahmen-Analyse. Frankfurt a.M. 1977. Original: Frame Analysis. New York 1974, zitiert bei Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, a.a.O., S. 75. 41 | Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde. Basel 1939, Frankfurt a.M. 1976. 42 | Siehe Stefan Hirschauer, Die Praxis der Fremdheit und die Minimierung von Anwesenheit. Eine Fahrstuhlfahrt, in: Soziale Welt, Zeitung für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis (1999), S. 221-246; vgl. auch Svenja Haberecht, Verhaltensregeln in Straßenbahnen. Universität Bielefeld WS 2005/2006. Eine Grundregel lautet, »daß miteinander bekannte Personen in einer sozialen Situation einen Grund haben müssen, nicht in Blickkontakt miteinander einzutreten, während einander nicht Bekannte eines Grundes bedürfen, um es zu tun.« Erving Goffman, Verhalten in sozialen Situationen, a.a.O., S. 121. Es gehört zu den Rechten und Pflichten einander Unbekannter, sich weder zu ignorieren noch anzustarren – diesen Spagat des Blickverhaltens zu meistern bezeichnet Goffman als das Praktizieren »höflicher Gleichgültigkeit« (ebenda, S. 85). Was Goffman in seinen Untersuchungen über die »Territorien des Selbst« unter der Kategorie Reservat anführt, lässt sich auf die Räume beziehen, auf welche die Insassen eines Fahrstuhls ebenso wie die Mitfahrenden in der Straßenbahn Ansprüche geltend machen. Ders., Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Frankfurt a.M. 1974. Vgl. auch Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt. Ein Zustand vor aller Theorie. Berlin 2010, S. 78ff.; ders., Beschreibung des Menschen, S. 705. 43 | Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, a.a.O., S. 114f.; S. 128f. Siehe auch Erving Goffman, Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt a.M. 1973, Über Ehrerbietung und Benehmen, S. 54ff.; siehe auch ebenda: Höfliche Gleichgültigkeit Teil III, 6. Kap., S. 84ff. 44 | Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin 1968 (1908); ders., Das Individuum und die Freiheit. Essais. Berlin 1984. Dass Simmel sich mit kulturellen Phänomenen beschäftigte, die ihrer Unscheinbarkeit wegen kaum jemand für wertgehalten hätte, über sie zu philosophieren, mit inoffiziellen Formungen, aus denen gleichwohl ein dauerhafter Zusammenhang zwischen Einzelnen erst entsteht, brachte ihm das Etikett Impressionist unter den Soziologen ein. Hugo von Hofmannsthal rühmte an ihm eine fast beispiellose Kraft, »das Geistige, das Wesenloseste, die geheimsten Bezüge geistigem Sinnen in fassbare Nähe zu bringen«. »Zu seinen bevorzugten Gegenständen gehörte die Geselligkeit, die Spielform der Vergesellschaftung, in der das Taktgefühl, eine eher ästhetische Qualität, in dem Maße an Bedeutung gewinnt, wie der Egoismus als Regulator des sozialen Lebens zurücktritt. Zwischen dem bloß Zweckmäßigen und dem rein Individuellen schwebend, entsteht in Form der Geselligkeit eine ideale soziologische Welt, ein Gesellschaftsspiel.« Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. Frankfurt a.M. 2006 (München 1985). 45 | Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, S. 114f. 46 | Dass bei einer solchen Betrachtungsweise Konflikte weggeblendet werden, wird deutlich, wenn wir lesen, wie Erving Goffman eine Situation schildert, in der die Selbstbehauptung nur als situationelle Selbstsabotage möglich ist, auf die gleichwohl nicht verzichtet werden kann. Es geht um einen in eine geschlossene Anstalt eingewiesenen Mann, der einem Besucher gegenüber verhindern möchte, mit den anderen Insassen gemein gemacht zu werden. Er greift hierzu zu »situationellen Unbotmäßigkeiten«, in denen man allzu leicht die Bestätigung für den Verdacht des Verrücktseins erkennen will. »Die rigiden Binnenstrukturen einer Institution, wie der Schule oder der Ehe, oder einer öffentlichen Anstalt, eines Krankenhauses oder eines Asyls, können Auslöser paradoxer Verhal-
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Architektur und Geistesgeschichte tensweisen sein, die sich bei genauerem Hinsehen als Strategien erkennen lassen, mit der ausweglosen Situation zurechtzukommen.« Erving Goffman hat an Hand derer, die – in einer sarkastischen Formulierung – »der Geisteskrankheit angeklagt sind«, in subtilen Analysen die Proklamationen von Distanz und die Gesten situationeller Verachtung als Mittel für den Einzelnen identifiziert, Distanz zwischen sich und die nicht gebilligte Einrichtung oder Lage, in der er sich befindet, zu bringen, wenn er ihr nicht entfliehen kann. »Wenn jemand seine Distanz zur Zusammenkunft dadurch bekundet, dass er eine Illustrierte durchblättert oder ein Getränk eingießt, obschon er doch dem Redner zuhören sollte, so hält der Verstoß ihn zumindest davon ab, den Raum gänzlich zu verlassen.« Während derlei noch als unhöfliches Betragen registriert und hingenommen werden mag, so wird es gefährlicher, wenn dieser jemand Grimassen schneidet oder sich Kaffee über den Kopf gießt. So konnte Goffman im Hospital einen Patienten dabei beobachten, wie er den Gang entlang ging mit ziemlich gedankenvoller Miene und zwei Pfeifen im Mund; ein anderer verhielt sich auch korrekt, kaute aber Zahnpasta; wieder ein anderer lief mit Seifenschaum auf seinem rasierten Kopf umher; eine Frau ging lächelnd rückwärts und hatte ein adrett gefaltetes Handtuch auf dem Kopf, ein Mann trug einen kleinen Papierball wie ein Monokel vors Auge geklemmt, und einem anderen baumelte eine Strippe aus Zeitungspapier aus der Tasche. Ein Patient nahm graziös Tabak für seine Pfeife entgegen und steckte sich das Angebotene mit einer kunstvollen Geste in den Mund, ein anderer betrat leise die Cafeteria […] [dabei] balancierte er die ganze Zeit ein Brötchen auf seinem Kopf […].« Goffmann beharrt darauf, daß diese Art situationeller Selbst-Sabotage, die zu schnell zum Indiz für Geisteskrankheit wird, einen Faktor in der Gleichung von Selbstverteidigung darstellen kann. »Es scheint so, als ob der Patient zuweilen spüre, daß das Leben auf der Station derart ungerecht und unmenschlich ist, daß die einzige Reaktion, in der noch Selbstachtung steckt, darin besteht, das Leben hier so zu handhaben, als sei es in verachtenswürdiger Weise jenseits von Realität und Ernsthaftigkeit. Das geschieht, so scheint es, indem ein Ich projiziert wird, das entsprechend verrückt und, soweit es den Handelnden betrifft, offensichtlich nicht sein wirkliches Ich ist. Der Patient demonstriert auf diese Weise, zumindest sich selber, daß sein wahres Ich nicht beurteilt werden darf nach dem gegenwärtigen Rahmen und durch diesen auch nicht gebrochen oder verdorben wurde. Aus demselben Blickwinkel teilt er implizit mit, das Verhalten, das ihn in die Anstalt gebracht habe, sei ebenfalls keine gültige Darstellung seines wahren Ich. Kurz, der Patient kann ausgesprochen verrückt handeln auf der Station, um allen normalen Leuten klarzumachen, daß er offensichtlich gesund sei.« Solche Rebellion ist zwar aussichtslos, denn der Betreffende ist weder in der Lage, die anderen zu zwingen, seinen Affront zu akzeptieren, noch sie zu überzeugen, daß andere erklärende Gründe zu akzeptieren seien als die Verrücktheit. Goffmann warnt vor voreiligen Schlüssen. Man müsse »die sauer-verdiente Konzeption in Frage stellen, Anstalts-Insassen seien notwendig kranke Personen. Selbst eine locker definierte soziale Zusammenkunft ist immer noch ein enger Raum; es gibt mehr Türen, die hinaus und hineinführen und mehr psychologisch normale Gründe, sie zu durchschreiten, als jenen träumt, die situationeller Gesellschaft gegenüber immer loyal sind.« Jenes Ich, das sich zum Narren macht, um unter Einsatz der Anerkennung die »Verrücktheit des Ortes« zu demonstrieren, der mitteilt, daß das in der Situation gefangene Ich nicht sein eigentliches Ich ist, lebt gefährlich. Erving Goffman, Verhalten in sozialen Situationen. Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum, Teil V, 14. Kap., Abschnitt 2, S. 205ff. Vgl. hierzu auch Gerrit Confurius, Ichzwang. Berlin 2013. 47 | Niklas Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 2002, S. 107. 48 | Antony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, a.a.O., S. 189ff. 49 | Ebenda, S. 190. 50 | Joachim Fischer und Heike Delitz, Die Architektur der Gesellschaft, a.a.O., S. 174.
A. Or te und Grenzen, Leib und Blick, verkleiner te Modelle 51 | Vgl. Lenelis Kruse, Carl F. Graumann, Sozialpsychologie des Raumes und der Bewegung, in: Kurt Hammerich, Michael Klein (Hg.), Materialien zur Soziologie des Alltags. Opladen 1978. 52 | Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf der Suche nach dem verlorenen Raum: Leben wir in einer atopischen Gesellschaft? Frankfurt a.M. 2005, S. 161ff., S. 193. 53 | Gabi Dolff-Bonekämper, Hiltrud Kier (Hg.), Städtebau und Staatsbau im 20. Jahrhundert. München/Berlin 1996. 54 | Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken. Frankfurt a.M. 1996; vgl. Elisabeth Konau, Raum und soziales Handeln. Göttingen 1977. 55 | Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde, Frankfurt a.M. 1968 (1959). Vierter Teil (Konstruktion): Grundriss einer besseren Welt, Kap. 38. Bauten, die eine bessere Welt abbilden, architektonische Utopien, S. 819ff. 56 | Theodor Adorno, Kierkegaard. Frankfurt a.M. 1974. 57 | Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, a.a.O. 58 | Zu solchen Experimenten und ihren architektonischen Ausprägungen siehe die Colonie, die Kinderstädte im faschistischen Italien: Cities of Childhood. Izanoan Colonie of the 1930s. London 1988. 59 | Sabaudia, Littoria, Pontinia, Aprilia sind in den 30er Jahren im Zusammenhang mit der Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe auf Initiative Mussolinis gegründete Städte. Vgl. die Fotos von Johanna Klein, FAZ. 60 | Bernard Rudofsky, Architecture without architects, a short introduction to non-pedigreed architecture. Albuquerque 1987(1964). Rob Venturi, Komplexität und Widerspruch in der Architektur, Bauwelt Fundamente, Band 50. Wiesbaden 1977, Basel 2007 (Complexity and Contradiction in Architecture, 1966); ders., Denise Scott Brown, Steven Izenour, Lernen von Las Vegas: Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt, Bauwelt Fundamente Band 53. Gütersloh 1979 (Original: Learning from Las Vegas, 1972). 61 | Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. 2. Abhandlung: Schuld, schlechtes Gewissen und Verwandtes. KSA 5, S. 313f. 62 | Bernhard Kleeberg (Hg.), Schlechte Angewohnheiten. Eine Anthologie 1750-1900. Berlin 2012, S. 214. 63 | Ebenda, S. 215. 64 | Ebenda, S. 219. 65 | Ebenda, S. 220f. Zur Wichtigkeit früher religiöser Instruktion: Joseph Priestley, The Danger of Bad Habits. A Sermon (1787), in: Views of Christian Truth, Piety and Morality. Selected from the Writings of Dr. Priestley. Cambridge 1834, S. 28-40. 66 | Ebenda, S. 223. 67 | Viele der russischen Künstler und Architekten jener Zeit wirkten als Lehrende an den Wchutemas. Zu ihnen zählen Alexander Rodtschenko, Warwara Stepanowa, Alexander Wesnin, Ljubow Popowa, Naum Gabo, El Lissitzky, Nikolai Alexandrowitsch Ladowski, Konstantin Melnikow, Pawel Florenski, Moisei Ginsburg, Ilja Scholtowski, Alexei Schtschussew, Wassily Kandinsky, Alexandra Exter, Ilja Golossow, Wiktor Petrow, Alexander Wassiljewitsch Kuprin, Iwan Wassiljewitsch Lamzow, Wiktor Balichin, Gustavs Klucis und Daniel Fridman. Unter den Zeitgenossen sorgten sie europaweit für Aufsehen mit ihren Visionen, mit denen sie nach der Oktoberrevolution einen Beitrag zum Aufbau einer Neuen Welt und zur Erziehung eines Neuen Menschen leisten wollten. Ihre Formerfindungen inspirierten mehrere Architekten-Generationen bis heute. Noch immer ist der Reichtum dieses Kreativitäts-Pools nicht angemessen gewürdigt. Der »Petersburger Dialog« hat Experten aus Russland und Deutschland eingeladen, um das gemeinsame Erbe der Avantgarde und Strategien der Erhaltung und Erschließung
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Architektur und Geistesgeschichte der Moderne in Russland vorzustellen. Die vorliegende ICOMOS-Veröffentlichung dokumentiert die Expertenbeiträge und zieht ein Resümee für deutsch-russische Kooperationsprojekte. 68 | Walter Benjamin rückt die Vorliebe für den Baustoff Glas ein in die Diagnose eines neuen »positiven Barbarentums«. »Glas ist nicht umsonst ein so hartes und glattes Material, an dem sich nichts festsetzt. Auch ein kaltes und Nüchternes. Die Dinge aus Glas haben keine ›Aura‹. Das Glas ist überhaupt der Feind des Geheimnisses. Es ist auch der Feind des Besitzes. Der große Dichter André Gide hat einmal gesagt: Jedes Ding, das ich besitzen will, wird mir undurchsichtig.« Doch Benjamin sieht das Entscheidende nicht in einer möglichen Progagierung von Armut, sondern in der Abwesenheit von Spuren: »Betritt einer das bürgerliche Zimmer der 80er Jahre, so ist bei aller ›Gemütlichkeit‹, die es vielleicht ausstrahlt, der Eindruck ›hier hast du nichts zu suchen‹ der stärkste. Hier hast du nichts zu suchen – denn hier ist kein Fleck, auf dem nicht der Bewohner seine Spur schon hinterlassen hätte: auf den Gesimsen durch Nippessachen, auf dem Polstersessel durch ein Deckchen, auf den Fenstern durch Transparente, vor dem Kamin durch den Ofenschirm.« Wenn Brecht dem Städtebewohner riet: Verwisch die Spuren, dann ist dies in der Glasarchitektur ohnehin gegeben. »Das haben nun Scheerbart mit seinem Glas und das Bauhaus mit seinem Stahl zuwege gebracht: sie haben Räume geschaffen, in denen es schwer ist, Spuren zu hinterlassen.« Walter Benjamin, Illuminationen, 1. Aufl. Frankfurt a.M. 1977, S. 294f. Paul Scheerbart, Glasarchitektur. Berlin 1914. Helmuth Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a.M. 1994 (1884). 69 | Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse. Frankfurt a.M. 1963. 70 | Bettina Greiner, Alan Kramer (Hg.), Welt der Lager. Zur ›Erfolgsgeschichte‹ einer Institution. Hamburg 2014. 71 | Ebenda. 72 | Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a.M. 2002. 73 | Ludger Schwarte, Philosophie der Architektur. München 2009, S. 59; S. 88f. 74 | Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a.M. 2012, S. 230. 75 | Rem Koolhaas, in Gesprächen mit Nikolaus Kuhnert, Philipp Oswalt und Alejandro Zaera Polo, in: arch+ Ausgabe 117, Aachen 1993, S. 30. 76 | Georges Bataille, in: Dictionnaire Critique, unter dem Stichwort ›Architecture‹, veröffentlicht in Documents no. 2, Mai 1929 (Übersetzung von G.C.): Georges Bataille, Architecture, in Oeuvres Complètes, 12 Bde. Paris Gallimard, 1971-88, Band 1, S. 171f. Rainer Maria Kiesow, Henning Schmidgen (Hg.), Kritisches Wörterbuch. Berlin 2005, S. 44f. 77 | Dennis Hollier, Against Architecture. The Writings of George Bataille. Cambridge/MA 1989, S. 46f. 78 | George Bataille gründete 1936 mit wenigen Freunden die »Geheimgesellschaft« Acéphale mit maximal zehn »Adepten«, unter ihnen Pierre Klossowski. Bataille verfasste das Manifest der Gesellschaft »Die heilige Verschwörung«. Bei Lacan trifft Bataille Roger Caillois. Mit Michel Leiris erwägen sie die Gründung einer Studiengesellschaft zur Soziologie des Heiligen. 1937 gründen Bataille, Caillois und Leiris das Collège de Sociologie; beide Gruppen, Acéphale und das Collège, bestehen einige Zeit nebeneinander, und beider Aktivitäten werden maßgeblich von Bataille bestritten. Rita Bischof, Souveränität und Subversion. Georges Batailles, Theorie der Moderne. München 1984. Dies., Tragisches Lachen. Die Geschichte von Acéphale. Berlin 2010. 79 | Jean Starobinski, Der Traum des Architekten, in: Die Erfindung der Freiheit. Frankfurt a.M. 1988.
A. Or te und Grenzen, Leib und Blick, verkleiner te Modelle 80 | Georges Bataille, Dictionnaire Critique, Stichwort Musée, in: Documents, no. 2, Mai 1929, zitiert nach Denis Hollier, Against Architecture. Cambridge, MA 1990. 81 | »Architecture exists only to control and shape the entire social arena. It is constituted by this impulse propelling it to erect itself as the center and to organize all activities around itself.« Denis Hollier, a.a.O. 82 | Denis Hollier, a.a.O., S. 46f., zu Batailles Lexikon-Stichwort ›Labyrinth‹ vgl. Denis Hollier, a.a.O., S. 61. 83 | Denis Hollier, a.a.O. 84 | Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung. Streifzüge eines Unzeitgemäßen. 11. KSA Bd. 6, S. 118f. 85 | Peter Sloterdijk (Hg.), Philosophie Jetzt! Immanuel Kant. München 1998. Er zitiert Immanuel Kant: »Das Erhabene (sublime) ist die Großheit (magnitudo reverenda), dem Umfange oder dem Grade nach, zu dem die Annäherung (um ihm mit seinen Kräften angemessen zu sein) einladend, die Furcht aber, in der Vergleichung mit demselben in seiner eigenen Schätzung zu verschwinden, zugleich abschreckend ist (z.B. der Donner über unserem Haupte, oder ein hohes wildes Gebirge), wobei, wenn man selbst in Sicherheit ist, Sammlung seiner Kräfte, um die Erscheinung zu erfassen, und dabei Besorgnis, ihre Größe nicht erreichen zu können, Verwunderung (ein angenehmes Gefühl durch kontinuierliche Überwindung des Schmerzes) erregt wird.« Im Kunstwerk, das die Kategorie des Erhabenen verdient, soll nichts gezeigt, sondern im Betrachter etwas ausgelöst werden. Durch die Überforderung der Kapazität durch Übergroßes wird der Rezipient auf sich selbst zurückgewiesen. Jean-Francois Lyotard, Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen. München 1994 (Paris 1991). Dass bei Kant die Größe, die das Gefühl des Erhabenen auslöst, sich der Form entzieht, wird von Lyotard mit dem biblischen Bilderverbot in Beziehung gebracht. Vgl. auch Nina Zschocke, Der irritierte Blick: Kunstrezeption und Aufmerksamkeit. München 2006. 86 | Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. München 1973. (Naissance de la clinique: Une archéologie du regard médical. Paris 1963.) 87 | Michel de Certeau, Kunst des Handelns. Berlin 1998. 88 | Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Band 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes./Band 2: Wandlungen der Gesellschaft: Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Basel 1939. Taschenbuchausgabe der Ausgabe von 1969: Frankfurt a.M. 1976. Siehe auch Christoph Ribbat, Im Restaurant – Eine Geschichte aus dem Bauch der Moderne. Berlin 2016; Sherri Cavan, Liquor License. An Ethnography of Bar Behavior. Chicago 1966. 89 | Hans-Peter Duerr, Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Band 1. Nacktheit und Scham. Frankfurt a.M. 1988. Duerr kritisierte, dass Elias mit seiner These vom Zivilisationsprozess als Geschichte fortschreitender Zähmung lediglich einem trügerischen Selbstbild »zivilisierter« Kulturen eine theoretische Formulierung gegeben hat. Pfaller merkte an, dass es auch nötig wäre, das Auftreten dieser Illusion als historische Tatsche zu würdigen, zu fragen: Woher stammt diese Idee der Zivilisierung? Wie kommen einige Kulturen dazu zu glauben, dass sie es zu größerer Triebbeherrschung gebracht hätten als andere? Er verweist auf Octave Mannoni, demzufolge es sich bei diesen Kulturen um Kulturen des Bekenntnisses handeln müsse: die Einbildungen dazu gebrauchen, aus ihnen Selbstachtung zu ziehen. Siehe Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur. Frankfurt a.M. 2002, S. 86f. 90 | Etienne Cabet, Ikarie. Zu Cabet vgl. auch W. Benjamin, Das Passagen-Werk. Aufzeichnungen und Materialien, S. 120.
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Architektur und Geistesgeschichte 91 | Jeremy Bentham, Das Panoptikum. Berlin 2013. (Panopticon, or, The Inspection House, 1787.) Zu Alfred Jarry siehe die Ausstellung »Junggesellenmaschinen«, Malmö Kunsthal, Katalog 1976, S. 203.Vgl. auch das »Fokalgefängnis« in Roland Roussels »Locus Solus«. 92 | Charles Fourier, Aus der Neuen Liebeswelt und Über die Freiheit in der Liebe. Berlin 1977; Vgl. W. Benjamin, Das Passagen-Werk. Aufzeichnungen und Materialien, S. 94f. Siehe auch Roland Barthes, Sade, Fourier, Loyola. Frankfurt a.M. 1974, S. 23. 93 | Rabelais als Freund Delormes (1532-64). Vgl. Hanno Walter Kruft, Geschichte der Architektur-Theorie. München 1985, S. 137f. 94 | »Heute sehen die Häuser vielerorts wie reisefertig drein. Obwohl sie schmucklos sind oder eben deshalb, drückt sich in ihnen Abschied aus. Im Innern sind sie hell und kahl wie Krankenzimmer, im Äußeren wirken sie wie Schachteln auf bewegbaren Stangen, aber auch wie Schiffe. Haben flaches Deck, Bullaugen, Fallreep, Reling, leuchten weiß und südlich, haben als Schiffe Lust zu verschwinden.« Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung. Frankfurt a.M. 1959, Bd. 2, S. 858f. Vgl. Gert Kähler, Architektur als Symbolverfall: Das Dampfermotiv in der Baukunst. Wiesbaden 1981. 95 | Zu Ledoux’ Idealstadt Arc-et-Senans siehe Anthony Vidler, Claude-Nicolas Ledoux. Basel 1988. 96 | Vgl. Reinhard Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a.M. 1973. 97 | Marc-Antoine Laugier, Essay sur l’architecture, Paris 1753. Dt. Übers. Frankfurt a.M./ Leipzig, 1771 (1756). 98 | Zum Logenwesen sowie zum Einfluss des Logenwesens auf die Gestaltung und das Inventar des Englischen Gartens vgl. u.a. A. Vidler, The Writing of the Walls. Princeton 1987; ders., The Architecture of the Lodges, in: Oppositions 5, Sommer 1976, S. 99. 100 | Die Desert de Retz wurde von 1771-1782 von Francois Barbier für den exzentrischen Francois-Racine de Monville entworfen, der auch Bauherr Boullées war. Julien Cendres & Chloé Radiguet: Le Désert de Retz, Paysage Choisi, Édition de l’éclat, Paris 2009. 101 | Vgl. Norbert Miller, Strawberry Hill. Horace Walpole und die Ästhetik der schönen Unregelmäßigkeit. München 1986. Robin Middleton, The Château and Gardens of Mauperthuis. The Formal and the Informal. Dumbarton and Oaks Coloquium, XIII, 1992. 102 | Ludger Schwarte, Philosophie der Architektur. München 2009, S. 224. 103 | Ebenda, S. 225. 104 | Charles Fourier, Aus der Neuen Liebeswelt. Über die Freiheit in der Liebe, ausgewählt und eingeleitet von Daniel Guérin. Berlin 1977. (Le nouveau monde amoureux). Ohne falsche Bescheidenheit schreibt Fourier: »Ein einfacher Handelsangestellter wird die politischen und moralischen Bibliotheken, diese schmählichen Früchte antiker und moderner Gaukelei, der Lächerlichkeit preisgeben. Es ist nicht das erste Mal, daß Gott sich des Einfältigen bedient, um den Hoffärtigen zu demütigen, und daß er den Unbekannten auswählt, um der Welt die wichtigste Botschaft zu bringen.« 105 | Roland Barthes, Sade, Fourier, Loyola, a.a.O.; Pierre Klossowski, Die lebende Münze. Berlin 1998; ders., Sade und Fourier, in: Lektüren zu de Sade. Basel/Frankfurt a.M. 1981; ders., Sade et Fourier, in: Tropique 4-5 (Oktober 1970); ders., Sade mon prochain. Paris 1947. Vgl. Ludger Schwarte, a.a.O., S. 227. 106 | Pierre Joseph Proudhon, Von der Anarchie zur Pornocratie. Zürich 1970. 107 | Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung, oder wie man mit dem Hammer philosophiert. Streifzüge eines Unzeitgemäßen 39. Kritik der Modernität, in: Sämtliche Werke. KSA, Bd. 6. München 1980 (Berlin/New York 1967-1977), S. 141.
A. Or te und Grenzen, Leib und Blick, verkleiner te Modelle 108 | Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller, 4. Hauptstück 218, in: Sämtliche Werke. KSA, Bd. 2. S. 178f. 109 | Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, 1. Teil, Kap. 1, in: Sämtliche Werke. KSA, Bd. 1, S. 880f. 110 | Ebenda, S. 883f. 111 | Ebenda, S. 887. 112 | Edward T. Hall, The hidden dimension. Zur vermeintlichen Irrelevanz des Raumes. Zu den verdrängten räumlichen Aspekten der Soziologie vgl. auch Elisabeth Konau, a.a.O. 113 | Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, in: Th. Petermann (Hg.), Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung. Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden, Band 9. Dresden 1903, S. 185-206. Vgl. Heinz-Jürgen Dahme, Ottheim Rammstedt (Hg.), Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien. Frankfurt a.M. 1984. 114 | Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Drittes Manuskript: Privateigentum und Arbeit. 115 | Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. Berlin 1974, S. 313. 116 | Karl Marx, Friedrich Engels, Werke Bd. 23, Das Kapital, Bd. 1. Dritter Abschnitt, 5. Kap. Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß. Siehe auch Karl Marx, Das Kapital, Bd. II. Zirkulation. Zum Erfolg des Begriffs Infrastruktur vgl. FAZ. Vgl. auch Marshall Berman, All That Is Solid Melts Into Air. The Experience of Modernity. New York 1991 (1982). 117 | Manfredo Tafuri, Kapitalismus und Architektur. Von Corbusiers ›Utopia‹ zur Trabantenstadt. Hamburg 1977. Vgl. auch: ders., Architecture and Utopia. Design and Capitalist Development. Cambridge/MA 1976 (Progetto e Utopia, Bari 1973), S. 7ff. »At first, formal naturalism was used to make convincing the objective necessity of the processes put in motion by the pre-Revolutionary bourgeoisie. A bit later, it was used to consolidate and protect these achievements from any further transformation.« S. 7. »It is, however, important to underline that the deliberate abstraction of Enlightenment theories of the city served only at first to destroy Baroque schemes of city planning and development. At a later date, it served to discourage, rather than condition, the formation of global models of development.« S. 8f. »From the excessive symbolism of Ledoux or Lequeu to the geometric silence of Durand’s formally codified building types, the process followed by Enlightenment architecture is consistent with the new ideological role it had assumed. In order to become part of the structure of the bourgeois city, architecture had to redimension itself, dissolving into the uniformity ensured by preconstituted formal systems.« S. 13. 118 | Jean-Jacques Rousseau, Brief an d’Alembert. Siehe Jean Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen. Frankfurt a.M. 1993; ders., Die Embleme der Vernunft. München 1988. Vgl. ders., Die Erfindung der Freiheit. 1700-1789. Frankfurt a.M. 1988; Henning Ritter, Lévi-Strauss als Leser Rousseaus, in: Wolf Lepenies (Hg.), Orte des Wilden Denkens. Frankfurt a.M. 1970. 119 | Freiheit in konkreter Verantwortung. Der Kreisauer Kreis und die schlesischen Arbeitslager für Arbeiter, Bauern und Studenten, in: Dirk Bockermann et al. (Hg.), Freiheit gestalten. Zum Demokratieverständnis des deutschen Protestantismus 1789-1989, Festschrift für Günter Brakelmann. Göttingen 1996. Vgl. auch Gerrit Confurius, Lob der kleinen Stadt, in: Daidalos 60: Urbane Behausungen. Gütersloh 1998. 120 | Zu Hans Scharoun als Stadtplaner siehe Gerrit Confurius, Versuch eines gesamtdeutschen Neuanfangs: Ordnung zu schaffen in der verzweifelten Unordnung, in: Katalog zur Ausstellung: Architektur der Stadt – Stadt der Architektur. Köln 2000.
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Architektur und Geistesgeschichte 121 | Jörg Barberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt. München 2012, S. 11. 122 | Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, a.a.O., S. 198f., vgl. auch S. 170, S. 193. 123 | Dies zumindest hat die Phänomenologie geleistet, aus der Selbstverständlichkeit ein großes Rätsel zu machen. Siehe Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen, a.a.O., S. 30. 124 | Friedrich Nietzsche, Zarathustra I. Von den Verächtern des Leibes. KSA Bd. 4, S. 39. 125 | Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung. 3. ›Schuld‹, ›Schlechtes Gewissen‹ und Verwandtes. KSA Bd. 5, S. 295. 126 | Ernst Jünger, Über den Schmerz. Kap. 13. Sämtliche Werke in 22 Bänden. Stuttgart 1978. Bd 9. Essays 1. Betrachtungen zur Zeit. Erstdruck 1934 in »Blätter und Steine«. Vgl. Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens. München 1978. Darin vor allem Kap. 5, Die Kategorie des Schmerzes. 127 | Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie. Hamburg 1991 (Frankfurt a.M. 1985), S. 114ff. 128 | Ebenda, S. 45. Siehe auch Friedrich Nietzsche, Nachlass 1882-1884, KSA 10, S. 653f. 129 | Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Juli 1882 - Herbst 1885, KSA Nachlass 1883, KSA Bd. 10, 7, S. 126. 130 | Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, a.a.O., mit unpräziser, paraphrasierender Wiedergabe von Nietzsche-Zitaten in seiner eigenen Übersetzung, S. 45; Friedrich Nietzsche KSA, Nachgelassene Fragmente, Bd. 10, S. 655f. 131 | Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, a.a.O., S. 47. 132 | Ebenda, S. 48. 133 | Ebenda, S. 48. 134 | Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. I. Die Reden Zarathustra’s: Von den Verächtern des Leibes. KSA Bd. 4, S. 40. 135 | Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, a.a.O., S. 48. 136 | Friedrich Nietzsche, Nachgelassenes Fragment von 1885/86, 2 (148), KSA Bd. 12, S. 139f. 137 | Siehe Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 1. Bd., erstes Hauptstück, Von den ersten und letzten Dingen, 33. Der Irrtum über das Leben notwendig. KSA Bd. 2, S. 52f. Siehe auch Menschliches, Allzumenschliches, 1. Bd., erstes Hauptstück, Von den ersten und letzten Dingen, 32. Ungerechtsein notwendig. KSA Bd. 2, S. 51f. 138 | Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884 bis 1885. [Juni-Juli 1885] 38.10. KSA Bd. 11, S. 608f. 139 | Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966. 140 | Zum Frühwerk W. Benjamins vgl. Geret Luhr, Diese unzeitgemäße und undankbare Aufgabe: eine Rettung Benjamins, in: George-Jahrbuch, 2. Jg., Tübingen 1998. 141 | Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen. Frankfurt a.M. 2006, S. 737. Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin 1968 (1908); Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin 1984. Dass Simmel sich mit kulturellen Phänomenen beschäftigte, die ihrer Unscheinbarkeit wegen kaum jemand für wertgehalten hätte, über sie zu philosophieren, mit inoffiziellen Formungen, aus denen gleichwohl ein dauerhafter Zusammenhang zwischen Einzelnen erst entsteht, brachte ihm das Etikett Impressionist unter den Soziologen ein. Hugo von Hofmannsthal rühmte an ihm eine fast beispiellose Kraft, »das Geistige, das Wesenloseste, die geheimsten Bezüge geistigem Sinnen in fassbare Nähe zu bringen«. »Zu seinen bevorzugten Gegenständen gehörte die Geselligkeit, die Spielform der Vergesellschaftung, in der das Taktgefühl, eine eher ästhetische Qualität, in dem Maße an Bedeutung gewinnt, wie der Egoismus als Regulator des sozialen Lebens zurücktritt. Zwischen
A. Or te und Grenzen, Leib und Blick, verkleiner te Modelle dem bloß Zweckmäßigen und dem rein Individuellen schwebend, entsteht in Form der Geselligkeit eine ideale soziologische Welt, ein Gesellschaftsspiel.« Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. München 2006 (1985). Takt ist nicht nur eine zivilisationsgeschichtlich erworbene Annehmlichkeit, sondern erfüllt eine psychosoziale Funktion. Die Auflösung und der Angriff auf die normalen Routinen des Lebens erzeugen ein hohes Maß an Angst. Sie berauben den Menschen seiner anerzogenen Reaktionen, seiner sozialen Quasi-Instinktsicherheit, die mit der Sicherheit der Körperbeherrschung und einem vorhersehbaren Rahmen des gesellschaftlichen Lebens verbunden sind. Ein Aufwallen der Angst drückt sich in regressiven Verhaltensweisen aus. Die Überflutung habitueller Handlungsweisen durch eine Angst, die nicht ausreichend vom grundlegenden Sicherheitssystem absorbiert werden kann, hat ein Gefühl zur Folge, als ob einem der Boden unter den Füßen weggezogen würde. Die Angst vor dieser Angst begründet ein allgemeines Interesse an der Aufrechterhaltung der Formen von Takt und der Respektierung von Zufluchtsorten. Takt ist ein Mechanismus, mit dessen Hilfe Akteure die Verhältnisse von Vertrauen und Seinssicherheit reproduzieren können, in denen sich Spannungen bewältigen lassen, und die als magische Praxis eingesetzt werden, wenn die Sicherheit bedroht scheint. Es besteht eine generalisierte motivationale Bindung an die Integration gewohnheitsmäßiger Praktiken. 142 | Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen. Frankfurt a.M. 2006, S. 704f. 143 | Ebenda, S. 664f., 711f. 144 | »Man erblickt seine eigene Hand auf dem Tisch liegend, und das geht nicht ohne ein philosophisches Erschrecken vor sich. Ich bin die Hand, und bin doch nicht in ihr. Sie ist Ich und Nicht-Ich.« Valéry, Tel Quel I (Oeuvres II 519), zitiert nach Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 678, S. 681f. 145 | Ebenda, S. 665. 146 | Ebenda, S. 661ff. 147 | Kia Vahland in der SZ vom 20.12.2012 über die Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt a.M. 148 | Siehe David P. Jordan, Transforming Paris. The Life and Labors of Baron Haussmann. New York u.a. 1995; Caroline Mathieu, Eugène Haussmann und das Neue Paris, in: Karin Sagner u.a., (Hg.), Die Eroberung der Straße. Von Monet bis Grosz (Ausstellungskatalog, Schirn Kunsthalle Frankfurt). München 2006, S. 82-89; Andrea Frey, Der Stadtraum in der französischen Malerei 1860-1900, Berlin 1999. Vgl. Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in: ders., Gesammelte Werke, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1991, Bd. V/1, S. 524ff. Der Flaneur. Vgl. Walter Benjamins Notizen in: Das Passagenwerk, 2 Bde. Frankfurt a.M. 1982. 149 | »Es wäre falsch, sich durch einige Ausnahmen täuschen zu lassen. Etwa durch jene paar Standbilder, die der Mensch mit dem Baedecker in der Hand suchen geht, wie den Gattamelata oder den Colleone, was eben ein ganz besonderes Verhalten ist; oder durch Gedenktürme, die eine ganze Landschaft versperren; oder durch Denkmäler, die einen Verein bilden, wie die über ganz Deutschland verbreiteten Bismarckdenkmäler. – Solche energischen Denkmäler gibt es; und dann gibt es auch noch solche, die der Ausdruck eines lebendigen Gedankens und Gefühls sind: aber der Beruf der meisten gewöhnlichen Denkmale ist es wohl, ein Gedenken erst zu erzeugen, oder die Aufmerksamkeit zu fesseln und den Gefühlen eine fromme Richtung zu geben, weil man annimmt, dass es dessen einigermaßen bedarf; und diesen ihren Hauptberuf verfehlen Denkmäler immer.« Robert Musil, Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik. Rowohlt, Kleine Schriften. Reinbek bei Hamburg, 1978, S. 506ff. 150 | Ebenda.
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Architektur und Geistesgeschichte 151 | Giorgio Manganelli, Manganelli furioso. Berlin 1965, S. 74. 152 | Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935), in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften Band I, Werkausgabe Band 2 hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1980. 153 | Roland Barthes, Fourier, Sade, Loyola, a.a.O. 154 | Jean Starobinski, Racine und die Poetik des Blickes, in: Theater-Programm der Berliner Schaubühne am Leniner Platz. Frankfurt a.M. 1987, S. 78, S. 91. 155 | Ebenda, S, 79. 156 | Ebenda, S. 79f. 157 | Ebenda. 158 | Ebenda, S. 83. 159 | Ebenda. 160 | Ebenda. 161 | Ebenda, S. 84. 162 | Ebenda, S. 89f. 163 | Alexander Gottlieb Baumgarten, Aesthetica Bd. 1. Frankfurt/Oder 1750, Hildesheim 1970. Ästhetik. Vgl. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1995, S. 13ff. 164 | Heinrich Wölfflin, Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur. Berlin 1999. 165 | Alois Riegl, Stilfragen. Berlin 1893; Das holländische Gruppenporträt, Wien 1902. 166 | Edmund Burke, Enquiry of the Origins of Beauty and Taste. 167 | William Hogarth, The Analysis of Beauty (1753), dt. erstmals 1754, Neuübersetzung Dresden/Basel 1998. 168 | Edmund Burke, Enquiry of the Origins of Beauty and Taste. 169 | Immanuel Kant, Werke in 10 Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, 3. Aufl. Darmstadt 1968, Bd. 8, S. 339. Zitiert bei Klaus Bartels, Über das Technisch-Erhabene, in: Christine Pries (Hg.), Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim 1989, S. 299. 170 | »Das Kantische Subjekt, das Gattungs-Ich, sitzt […] in der ersten Reihe des Naturtheaters, wo die theoretische und die praktische Vernunft ein erhabenes Schauspiel aufführen.« Ebenda, S. 304. Es gibt freilich auch die Kehrseite dieses Optimismus, den Widersinn des schönen Erhabenen. In Goethes »Wahlverwandtschaften« ereilt es die dilettierenden Gartenarchitekten, die auch vor der Einebnung eines Friedhofs nicht haltmachen, als Katastrophe. »Während sie die Natur in einen schönen Landschaftsgarten verwandeln, sendet diese laufend Botschaften, deren Sinn die Adressaten freilich mißverstehen. Die Unfälle, mit denen die Natur ihre Verschönerung kommentiert, werden irrtümlich als positive Botschaften interpretiert, weil sie jeweils glücklich ausgehen, bis die wahre Botschaft endlich ankommt: Im kultivierten See ertrinkt das Kind von Eduard du Charlotte. Die schöne Natur entblößt unvermutet und unerklärlich ihr erhabenes Antlitz.« S. 301. 171 | Vgl. Norbert Miller, Die Archäologie des Traumes. Versuch über Giovanni Battista Piranesi. München 1978, S. 33. 172 | Ebenda, S. 35. 173 | Zu Etienne Boullée und Claude-Nicolas Ledoux vgl. A. Vidler, The Writing of the Walls, a.a.O. 174 | Norbert Miller, Die Archäologie des Traums. Versuch über Giovanni Battista Piranesi. a.a.O., S. 38. 175 | Ebenda, S. 38. »In seiner Abwandlung der scena per angelo stellt er die Spitze des Dreiecks (den Schnittpunkt der schräg laufenden Arkaden- oder Pfeilerreihen) in den Mittel oder Vordergrund. Er läßt so
A. Or te und Grenzen, Leib und Blick, verkleiner te Modelle den Beschauer, im Gegensatz zum Bühnenbild, durch die Seitenräume hindurch in den Hauptraum hineinblicken. Indem er den Schnittpunkt des architektonischen Dreiecks dergestalt nach vorn, auf den Betrachter zu, schiebt, wird dieser gewissermaßen genötigt, in den Seitenraum auszuweichen und gewinnt von da, abgedrängt, keine zureichende Orientierung mehr über das geordnete Ganze der Architektur.« Ebenda, S. 39. Die programmatische Vorliebe für diese Strategie mit dem Effekt der gewalttätigen Aufhebung der Souveränität des Betrachters trennt Piranesi von seinen Lehrmeistern. 176 | Ebenda, S. 39. 177 | Ebenda, S. 42. 178 | Ebenda, S. 42f. 179 | Giambattista Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Übers. v. Erich Auerbach. 2. Aufl. Berlin/New York 2000. (Principj di Scienza Nuova d’intorno alla commune Natura delle Nazioni, Neapel 1744.) »Weil in einem solchen Fall die Natur des menschlichen Geistes es mit sich bringt, daß er der Wirkung seine eigene Natur zuschreibt, ihre Natur aber in einem solchen Zustand wie die von Menschen war, die alle riesige Körperkräfte hatten und schreiend und brüllend ihre äußerst heftigen Leidenschaften kundtaten, so bildeten sie sich ein, der Himmel sei ein großer belebter Körper, den sie unter diesem Gesichtspunkt Jupiter nannten, der ihnen durch das Zischen der Blitze etwas mitteilen wollte; und so begannen sie, die natürliche Neugierde zu empfinden, die die Tochter der Unwissenheit und die Mutter der Wissenschaft ist und die, indem sie den Geist des Menschen aufschließt, das Staunen gebiert.« Mit dieser Erzählung beginnt die moderne Geschichtsphilosophie. Was uns von der Natur immer verschlossen bleiben müsse, das sei für die geschichtliche Welt möglich, nämlich eine Wesenserkenntnis zu gewinnen. Die geschichtliche Welt sei vom Menschen gemacht, und deshalb sei die in den Modifikationen unseres Menschengeistes zu erkennen. »Gott hat die Natur gemacht, die Geschichte aber macht der Mensch.« 180 | Dolf Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert. Hamburg 1938, Frankfurt a.M. 1981. 181 | Zu Georges Bataille siehe Rita Bischof, Souveränität und Subversion. München 1984. Vgl. auch Denis Hollier, Against Architecture, a.a.O. 182 | Vgl. Gerrit Confurius, Schattenpassport, in: Daidalos 48: Sous Terrain. Gütersloh 1993. 183 | Sigfried Giedion, Befreites Wohnen, Zürich 1929. Frankfurt a.M. 1985. 184 | Michel de Certeau, in: Panik Stadt, a.a.O. 185 | Rosalind Krauss hat eine Reihe von grundlegenden Paradoxien der Moderne aufgespürt. The Originality of the Avant-Garde and Other Modernist Myths. Cambridge/MA 1986. 186 | Heike Delitz, Architektursoziologie. Bielefeld 2009, S. 63. 187 | Robert Seyfert, Zum historischen Verhältnis von Lebensphilosophie und Soziologie und das Programm einer Lebenssoziologie, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungsband des 33. Kongresses der DGS in Kassel. Frankfurt a.M. 2008, S. 4687. 188 | André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Frankfurt a.M. 1980, S. 357. 189 | Gilles Deleuze, Felix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, Kap. 12. Berlin 1992 (1980), S. 455. Robert Seyfert, Zum historischen Verhältnis von Lebensphilosophie und Soziologie und das Programm einer Lebenssoziologie, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungsband des 33. Kongresses der DGS in Kassel, Frankfurt a.M. 2008, S. 4684-4694.
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Architektur und Geistesgeschichte 190 | Vgl. Jens S. Dangschat, Symbolische Macht, in: Joachim Fischer, Heike Delitz, Die Architektur der Gesellschaft, a.a.O., S. 335f. 191 | Heike Delitz, Architektursoziologie, a.a.O., S. 116. 192 | Joachim Fischer, Zur Doppelpotenz der Architektursoziologie, in: Joachim Fischer, Heike Delitz, Die Architektur der Gesellschaft, a.a.O., 2009, S. 403. 193 | Erich Rothacker, Die Wirkung des Kunstwerks, in: Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 2 (1952-54). Stuttgart 1954, S. 14f. 194 | Ebenda, S. 10; Heike Delitz, Expressiver Außenhalt. Die ›Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht der Philosophischen Anthropologie, in: Joachim Fischer, Heike Delitz, Die Architektur der Gesellschaft, a.a.O., S. 176. 195 | Ebenda, S. 177ff. 196 | Jens S. Dangschat, Symbolische Macht, in: Joachim Fischer, Heike Delitz, Die Architektur der Gesellschaft, a.a.O., S. 337. 197 | Camillo Sitte, Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Basel 2002. 198 | Cornelius Castoriadis, Technik, in: ders., Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1981, S. 195-220. Vgl. Heike Delitz, Architektursoziologie, a.a.O., S. 83. 199 | Heike Delitz, Architektursoziologie, a.a.O., S. 87. Helmuth Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: ders., Gesammelte Schriften III. Frankfurt a.M. 1981, S. 266f. 200 | Heike Delitz, Architektursoziologie, a.a.O., S. 96. 201 | Ebenda, S. 113. 202 | Hans Blumenberg, Wirklichkeiten, in denen wir leben. Stuttgart 1981, S. 35. 203 | Ebenda, S. 36. 204 | Ebenda, S. 37. 205 | Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 518. 206 | Ebenda, S. 519. 207 | Mark Wigley, University of Columbia Werbefilm. 208 | Marc Augé, Lob des Fahrrads, S. 70. 209 | Ebenda, S. 103. 210 | Stanley Aronowitz, Jonathan Cutler (Hg.), Post Work. London 1998. 211 | Jean Baudrillard, Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. 2. Aufl. Frankfurt/New York 2001 (1968). 212 | Günter Figal, Phänomenologische Überlegungen im Anschluß an Geog Simmel, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 1-2, Hamburg 2015. Georg Simmel, Der Henkel, in: ders- Gesamtausgabe hg von Rüdiger Kramme und Ottheim Rammstedt, Bad. 14. Frankfurt a.M. 1996, S. 280f. 213 | Stefan Laube, Von der Reliquie zum Ding. Heiliger Ort – Wunderkammer – Museum. Berlin 2012. 214 | Bruno Latour, Über technische Vermittlung. Philosophie, Soziologie, Genealogie, in: Werner Rammert (Hg.), Technik und Sozialtheorie. Frankfurt a.M. 1998, S. 31-37. Vgl. Matthias Wieser, Inmitten der Dinge. Zum Verhältnis von sozialen Praktiken und Artefakten, in: Karl H. Hörning und Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld 2004, S. 92ff. 215 | Bruno Latour, Eine Soziologie ohne Objekt? Anmerkungen zur Interobjektivität, in: Berliner Journal für Soziologie 11, 2001, S. 248; vgl. Matthias Wieser, Inmitten der Dinge, a.a.O., S. 96. 216 | Bruno Latour, On Actor-Network-Theory. A Few Clarifications, in: Soziale Welt 47, 1996, S. 373. Siehe auch ders., Über technische Vermittlung, a.a.O., S. 40.
A. Or te und Grenzen, Leib und Blick, verkleiner te Modelle 217 | Karl H. Hörning, Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens. Weilerswist 2001, S. 182; vgl. Matthias Wieser, Inmitten der Dinge, a.a.O., S. 98. 218 | Bruno Latour, Über technische Vermittlung, S. 81. 219 | Bruno Latour, Technology is Society Made Durable, in: John Law (Hg.), A Society of Monsters. Essay on Power, Technology and Domination. London 1991, S. 103-131. 220 | Michel de Certeau, Kunst des Handelns. Berlin 1988; vgl. Matthias Wieser, Inmitten der Dinge, S. 100. 221 | Bruno Latour, Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Berlin 1996, S. 9. Vgl. auch Matthias Wieser, Inmitten der Dinge, S. 100. 222 | Ebenda, S. 10. 223 | Gregory Bateson (Hg.), Ökologie des Geistes. Frankfurt a.M. 1985. 224 | Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, a.a.O., S. 688f. 225 | Joachim Fischer zitiert Dirk Baecker, der wiederum Luhmann referiert: Platon oder die Form der Stadt, in: ders., Wozu Soziologie? Berlin 2004, S. 199f. Joachim Fischer, Zur Doppelpotenz der Architektursoziologie, in: Joachim Fischer, Heike Delitz, Die Architektur der Gesellschaft, S. 405ff. 226 | Alexander Filippov, Der Raum der Systeme und die großen Reiche. Über die Vieldeutigkeit des Raumes in der Soziologie, in: Claudia Honegger, Stefan Hradil, Franz Traxler (Hg.), Grenzenlose Gesellschaft? Opladen 1999, S. 353. 227 | Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M. 1984, S. 12f. Vgl. ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. II. Frankfurt a.M. 1997, S. 806f. 228 | Z.B. die neue Filiale des Louvre in Lens, Region Nord-Pas-de-Calais, von Büro Sanaa Tokyo, stützstrumpffarbene Einbauwände; dasselbe Büro, das 2010 den Pritzker-Preis erhielt, entwarf in ähnlicher Weise bereits das New Museum in New York, das Museum von Kanazawa sowie die Ecole Polytechnique in Lausanne. 229 | Joachim Fischer, Zur Doppelpotenz der Architektursoziologie, in: Joachim Fischer, Heike Delitz (Hg.), Die Architektur der Gesellschaft, a.a.O., S. 407. 230 | Ebenda, S. 409. 231 | Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1995/1997, S. 81. 232 | Joachim Fischer, Zur Doppelpotenz der Architektursoziologie, in: Joachim Fischer, Heike Delitz (Hg.), Die Architektur der Gesellschaft, a.a.O., S. 409. 233 | Ebenda S. 409. 234 | Joseph Hanimann, Vom Schweren. München 1999. 235 | Ebenda. 236 | Jean-Luc Nancy, Das Gewicht eines Denkens. Düsseldorf/Bonn 1995, S. 20ff. 237 | Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a.M. 2012, S. 44ff. 238 | Ebenda, S. 46. 239 | Ebenda, S. 47. 240 | Ebenda, S. 48. 241 | Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 631. 242 | Ebenda. 243 | Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft. Hg. von André Kieserling. Frankfurt a.M. 2000, S. 151, S. 242. Siehe auch Elias Canetti, Masse und Macht. Frankfurt a.M. 1980. 244 | Helmut Willke, Systemtheorie I. Grundlagen. Stuttgart 1996, S. 60. 245 | Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Bd. II. Frankfurt a.M. 1992, S. 697. 246 | Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, a.a.O., S. 76.
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Architektur und Geistesgeschichte 247 | Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, a.a.O., S. 52. Erkenntnistheoretisch geht Systemtheorie davon aus, dass, damit etwas etwas ist, eine Grenze gezogen werden muss, die etwas von allem anderen unterscheidet. 248 | Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren. Neuwied 1969, S. 43. 249 | Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1973, S. 29. 250 | Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie der Lachkultur. München 1969. »Hauptarena karnevalistischer Handlungen und Vorgänge war der öffentliche Platz nebst den an ihn grenzenden Straßen. Freilich ging der Karneval auch in die Häuser hinein, er war im Grunde nur in der Zeit, nicht im Raum beschränkt: Bühne und Rampe sind ihm fremd.« S. 74ff. 251 | Theodor W. Adorno, Naturgeschichte des Theaters, Loge, in: Quasi una fantasia. Musikalische Schriften II. Frankfurt a.M. 1963, S. 102. Fragonards Malerei, schrieben die Bürder Goncourt, sei ein Traum, die »rêverie« eines Mannes, der in seiner Opernloge eingeschlafen ist. 252 | Siegfrid Kracauer, Hotelhalle, in: ders., Das Ornament der Masse. Frankfurt a.M. 1963, S. 157ff. 253 | Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt a.M. 1994 (1992); Michel Foucault, Heterotypien, in: Katalog zur Ausstellung: Das Abenteuer der Ideen, Berlin 1987. 254 | Arnold van Gennep, Übergangsriten. Frankfurt a.M. 2005 (1909). 255 | Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum. Stuttgart, 1963. Insbesondere das Kapitel: Tür und Fenster. 256 | Ebenda. Vgl. auch Georg Simmel, Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Hg. von M. Landmann und M. Susmann. Stuttgart 1957. 257 | Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1975. S. 242ff. 258 | Niklas Maak im Feuilleton der FAZ vom 30.10.12. 259 | Roland Barthes, Der Baum des Verbrechens, in: Das Denken von de Sade. München 1969, S. 47; vgl. auch ders., Sade, Fourier, Loyola. Frankfurt a.M. 1986, S. 30. 260 | Michel Foucault, Schriften zur Literatur. München 1974, S. 59ff. 261 | Ebenda, S. 61f. Wir sind uns kaum dessen bewusst, dass Spiegel zu den Standard-Utensilien als »Ego-Equipment« (Sloterdijk) erst seit kurzer Zeit gehören. Noch vor 200 Jahren waren nur hohe Herrschaften im Besitz dieses Gegenstands. Der überwiegende Teil der Menschen hatte keine Kenntnis von ihrem Äußeren. 262 | Vgl. Alexander Kluy, Der Eiffelturm. Berlin 2014; vgl. Ottmar Ette, Roland Barthes. Landschaften der Theorie. Konstanz 2013. 263 | Joseph Rykwert, On Adam’s House in Paradise: The Idea of the Primitive Hut in Architectural History. 1. Ausgabe. New York 1972; George Dodds, Robert Tavernor, Joseph Rykwert, Body and Building. Essays on the Changing Relation of Body and Architecture. Princeton 2002. 264 | Marc-Antoine Laugier, Essai sur l’Architecture. Das Manifest des Klassizismus. Zürich 1989; Joseph Rykwert, On Adam’s House in Paradise, a.a.O. 265 | August Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung. Leipzig 1894, S. 5. 266 | Ebenda, S. 12. 267 | Frank-Bertholt Raith, Das Alltagsleben der Architektur, in: Daidalos 75: Alltag. Gütersloh 2000. 268 | August Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung, a.a.O., S. 21. 269 | René Girard, Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses. Erkundungen zu Mimesis und Gewalt mit Jean-Michel Oughourlian und Guy Lefort. Freiburg i.Br. 2009 (Original 1978, 1. dt. Übersetzung 1983). 270 | Lévi-Strauss, Das Wilde Denken. Frankfurt a.M. 1973 (1968), S. 21, S. 281.
A. Or te und Grenzen, Leib und Blick, verkleiner te Modelle 271 | Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt a.M. 1994, S. 61ff. (Les formes élémentaires de la vie religieuse. Paris 1912, S. 431.) 272 | Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur. Frankfurt a.M. 2002, S. 80, S. 96. 273 | Johann Huizinga, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Rowohlts deutsche Enzyklopädie, Bd. 21. Reinbek 1956, S. 27. Vgl. Robert Pfaller, a.a.O., Die Illusionen der anderen, a.a.O., S. 96. 274 | Ebenda, S. 25. 275 | Ebenda S. 183. 276 | Ebenda, S. 131. Vgl. Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen, a.a.O., S. 98. 277 | Vgl. Gerrit Confurius, Über die geheime Angst der Modernen, in: Interstices. Journal of Architecture and Related Arts, 2011. 278 | Thorsten Scheer, Josef Paul Kleihues, Paul Kahlfeld (Hg.), Stadt der Architektur der Stadt. Berlin 1900-2000. Berlin 2000. (Katalog zur Ausstellung im Neuen Museum Berlin.) 279 | Le Corbusier, Vers Une Architecture. Paris 1923. Ausblick auf eine Architektur. Gütersloh 1969; vgl. auch: Hans Hildebrandt (Hg.), Kommende Baukunst. Berlin/Leipzig 1926, Braunschweig 1968. 280 | Ders., Charte d’Athènes, CIAM IV 1933, Paris 1943; vgl. auch Urbanisme de CIAM, Charte d’Athènes, Paris 1943. 281 | Le Corbusier, zitiert nach E.R. Ford, The Details of Modern Architecture, Band 2: 19281988. Boston 2003, S. 13. 282 | Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur, a.a.O. 283 | Ebenda. 284 | »[…] motley crowd, who all day long make the neighbourhood hideous with their shoutings, yellings and quarrelings. The sidewalk is impassable […] a boistereous overflow of commotion. They speak all at once, yelling and screaming like hyenas. The pandaemonium cannot be wilder«. Matthew H. Smith, Sunshine and Shadow of New York. New York/Harford 1868, S. 48. Vgl. Urs Stäheli, Spektakuläre Spekulation: Das Populäre der Ökonomie. Frankfurt a.M. 2007. Hier lauert der Dämon aller Dämonen, »the demon of the demons«. Boris Sidi, The Psychology of Suggestion. A Research into the Subconscious Nature of Man and Society. New York 1899, S. 311, zitiert nach Urs Stäheli, S. 197. Ganz ähnlich die Mob-Semantik von Plötzlichkeit und Wahn bei MacKay. Charles MacKay, Extraordinary Popular Delusions, and The Madness of Crowds. New York 1980 (1841/1852). 285 | So Gustave Le Bon, Psychologie der Massen. Stuttgart 1982 (1895), S. 89. Le C orbusier wäre so gesehen auch ein Fall für Klaus Theweleit und seine Thesen von der Geburt des Faschismus aus der Angst vor Schimmel und Ungeziefer, der Furcht vor der »roten Flut« und der Gegenwehr in Form einer Geometisierung der Leiber. Klaus Theweleit, Männerphantasien. Frankfurt a.M. 1977. 286 | »The given suggestion reverberates from individual to individual, gathers strength, and becomes so overwhelming as to drive the crowd into a fury of activity, into a frenzy of excitement […] Each fulfilled suggestion increases the emotion oft he mob in volume and intensity […] every one suggests and is suggested too.« Boris Sidis, The Psychology of Suggestion, a.a.O., S. 303, zitiert nach Urs Stäheli, a.a.O., S. 196. 287 | Walter Benjamin, Charles Baudelaire: Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, Gesammelte Schriften Bd. 1.2, Abhandlungen. Hg. von Rolf Thiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991, S. 539. Baudelaire sagte: »Wer imstande wäre, sich in einer Menschenmenge zu langweilen, ist ein Dummkopf.« Zitiert nach Benjamin, ebenda, S. 561.
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Architektur und Geistesgeschichte 288 | Siehe Beatrice Colomina, Sexuality and Space. Princeton Papers on Architecture, 1966 289 | Gabriel Tarde, L’Opinion et la foule. Paris, 1989 (1898), S. 58. 290 | Walter Benjamin, Beim Bau der Chinesischen Mauer, in: ders., Allegorien kultureller Erfahrung. Ausgewählte Schriften. Leipzig 1984, S. 193. 291 | Vgl. Siegfried Kracauer, From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film, New York/London 1947. Deutsch: Siegfried Kracauer: Schriften. Hg. von Karsten Witte. Frankfurt a.M. 1971-1990. Bd. 2: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. 1979. 292 | Siehe Wolf Lepenies, Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1998. 293 | Hermann Mayer, Der Sonderling in der deutschen Dichtung. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1984. 294 | Sigmund Freud sprach von den drei großen Kränkungen der Menschheit, die ihr zugefügt wurden durch die uns von Kopernikus und Kepler vermittelte Erkenntnis, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, durch die Darwin’sche Erkenntnis, dass der Mensch aus der Tierreihe hervorgegangen ist, und durch die Beobachtung Freuds, dass der größere Teil unseres Seelenlebens sich der Kenntnis und der Herrschaft des Willens entzieht, dass das Ich mithin nicht Herr im eigenen Haus ist. Sigmund Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in: Imago, Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften Bd. V (1917), S. 1-7; ders., 18. Vorlesung: Die Fixierung an das Trauma, das Unbewusste, in: ders., Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 1917. 295 | Zum klaustrophobischen Film der 20er Jahre siehe Lotte H. Eisner, Die dämonische Leinwand, Frankfurt a.M. 1955. Darin vor allem die Anmerkungen zu Friedrich Wilhelm Murnaus »Die freudlose Gasse«. Der Stadt-Land-Gegensatz und der Topos des Großstadtmolochs als Sündenpfuhl waren beliebtes Thema der Massenmedien auch in den USA, u. z. nicht nur die Glanzseite des LuxusKonsums und des Show-B–izz, sondern, zumindest in der Frühzeit des Hollywoodfilms, mehr noch die Schattenseiten der Armut und der Prostitution, wobei zivilisationsskeptisch die moralische Reinheit des Landes gegen die Verdorbenheit der Stadt ausgespielt wurde. In dem Maße, wie man sich dann dessen bewusst wurde, dass die USA zu einer Nation von Städtern geworden waren, trat das Motiv hinter dem des Landes der unbegrenzten Möglichkeiten zurück, zu denen auch gehörte, dass ein gefallenes Mädchen zu einer Familienmutter werden konnte, und dass die abschüssige Bahn der Maitresse auch den Weg zum gesellschaftlichen Triumph ebnen konnte, wie in Josef von Sternheims »Blonde Venus«. Leslie Fishbein, from Sodom to Salvation: The Image of New York City in Films About Fallen Women, 1899-1934, in: New York History, 70. Jg., Heft 2, 1989. 296 | Walter Benjamin, Städtebilder. Frankfurt a.M. 1963. Moskau. Vgl. auch sein Begriff des Porösen am Beispiel Marseilles. 297 | Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, a.a.O. 298 | Gerrit Confurius, Bücher und Bauten, in: Akzente 5, München 1981. 299 | Theodor W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. Frankfurt a.M. 1974 (1962). S. 76ff. 300 | Ebenda. 301 | Ebenda. Zur Dialektik der Privatsphäre siehe auch Marianne Thalmann, die die These vertritt, dass das moderne literarische Bild der Stadt aus dem Künstlerroman hervorgeht. Die Stadt als Ort der Bewährung bereitet die Enttäuschung der in der Isolation ausgebrüteten künstlerischen Träume. Sie wird auf diese Weise zu einem Raum der Entdeckung des eigenen Selbst. Die Form der Stadtdarstellung dient der Reflexion der Erfahrung der Isolierung und Bedeutungslosig-
A. Or te und Grenzen, Leib und Blick, verkleiner te Modelle keit, Verwirrung und Entfremdung. Balzacs »Verlorene Illusionen«, Gottfried Kellers »Der grüne Heinrich« und Hawthornes »The Marble Faun« und Gérard de Nervals »Aurelia« sind Romane der Stadt als Ort der Begegnung mit sich selbst. Marianne Thalmann, Spiegel, Schatten und Dämonen. Darstellungsformen urbaner Lebenswelt im Künstlerroman zwischen 1780 und 1860. Dissertation an der TU Berlin 2004. 302 | Roland Barthes, Der Baum des Verbrechens, in: Das Denken de Sades, a.a.O., S. 40f. 303 | Ebenda. 304 | Ebenda. 305 | Das Projekt scheitert, findet aber eine Fortsetzung in dem Institut Holberg für Kindererziehung. 306 | Siehe Roland Barthes, Wie zusammen leben. Frankfurt a. M. 2007. Einen Anhaltspunkt für sein Ideal eines freien Zusammenlebens findet er auf dem Berg Athos in der Ägäis. Dort hatte sich außerhalb des klösterlichen Lebens mit der Idiorrhythmie eine Form der Einsiedelei entwickelt, die jedem Mönch seinen Rhythmus beließ und ihn dennoch, über ein wöchentliches Treffen etwa, in gemeinsame Strukturen einband. Mit ausreichend Distanz ließe sich vielleicht glücklich zusammenleben. 307 | Gerrit Confurius, Vermeers Blick, in: Am Erker 61, 2011; vgl. auch ders., Das Rätsel der Sphinx. Zu einer Erzählung von E. A. Poe und zum Problem der Thematisierung von Angst, in: Am Erker, 2008. 308 | Dolf Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, a.a.O., S. 166f. 309 | Eine Fundgrube für Anekdotisches bietet Mario Praz, Die Inneneinrichtung von der Antike bis zum Jugendstil. München 1965, S. 205f. 310 | Walter Benjamin, Hochherrschaftliche Zehn-Zimmer-Wohnung, in: Einbahnstraße. Frankfurt a.M. 1969, S. 14. 311 | Théophile Gautier, Etudes philosophiques (Paris et les Parisiens au XIXe siècle). Paris 1856. 312 | Walter Benjamin, Einbahnstraße, a.a.O., S. 14f. 313 | Dolf Sternberger, a.a.O., S. 163. Zum Phänomen des Orientalismus siehe auch Pierre Loti, Photographe. Musée de la Ville de Poitiers et de la Societé des Antiquitaires de l’Ouest. Katalog 1985. 314 | Enrico Guidoni, Die europäische Stadt. Stuttgart 1980. 315 | Edward Saids an Foucaults Diskurskritik geschulte Kritik des »Orientalismus«: Orientalismus. Frankfurt a.M. u.a. 1981, 2009. 316 | Vgl. Ernst Bloch, Venedigs italienische Nacht; Italien und die Porosität, beide in: Verfremdungen II. Frankfurt a.M. 1978 (1964). 317 | Pierre Klossowski, Sade und die Revolution, in: Dennis Hollier (Hg.), Das Collège de Sociologie. Berlin 2012, S. 439ff. 318 | Ebenda.
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B. Die Sprache der Monumente, der Skandal des Ornaments Alles, was unsere Ideen repräsentiert, ist ein Zeichen, und jedes Zeichensystem ist eine Sprache. D estut t de Tracy Worte bezeichnen. Dinge werden bezeichnet. Obschon es Dinge gibt, die manchmal auch bezeichnen. A lciati
B 1. Wenn von Architektur als Sprache die Rede ist, dann muss dies zunächst nicht mehr bedeuten, als dass sich die Bedeutung einer Sache von dieser selbst ablösen kann und dass sie selbst zum Zeichen wird – eine Ablösung und Verselbständigung, die mit Vergesellschaftung notwendig einhergeht. Den Anfang der Architekturgeschichte bildet die Verdopplung des Gegenstands im erinnerbaren, übertragbaren, kommunizierbaren Zeichen. Die Höhle oder der Unterschlupf, der einem Schutz geboten hat, ist zu etwas geworden, das sich wiederfinden oder nachbilden lässt und das mit allen anderen Zeichen eine Beziehung eingegangen ist. Umberto Eco hat im Tonfall Giambattista Vicos die Ursprungslegende der Architektur geliefert: »Versetzen wir uns in die Situation des Menschen der Steinzeit, die in unserem hypothetischen Modell den Anfang der Architekturgeschichte bildet. Noch ›ganz Staunen und Wildheit‹ (nach dem Ausdruck von Vico) flüchtet sich unser Mensch unter dem Druck von Kälte und Regen nach dem Beispiel irgendeines Tieres oder aus einem Impuls, in dem sich Instinkt und Überlegung konfus vermengen, in eine Schlucht, in eine Bergfurche oder in eine Höhle […] Er nimmt die Weite der Wölbung wahr und begreift sie als Grenze zu einem abgeschnittenen Außenraum (mit Wasser und Wind, die er beinhaltet) und als Prinzip des inneren Raumes […] Nachdem sich der Sturm gelegt hat, kann er die Höhle verlassen und sie von außen betrachten: Er wird ihre Eingangshöhlung als ›Loch‹ sehen, ›durch das man hineingehen kann‹, und der Eingang wird in ihm das Bild des Inneren wieder wachrufen […] Er bildet sich eine ›Idee von der Höhle‹, die – wenn auch zu nichts sonst – so doch als Gedächtnisstütze dienen kann, um künftig an sie als Zufluchtsort bei Regen denken zu können; aber auch, um in einer anderen Höhle dieselbe Schutzmöglichkeit wiederzuerkennen, die er in der ersten gefun-
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Architektur und Geistesgeschichte den hatte. Diese Erfahrung einer zweiten Höhle und die Vorstellung von jener ersten Höhle wird nun automatisch durch die Idee der Höhle überhaupt ersetzt. Ein Modell, eine Struktur, etwas real nicht Existierendes, aufgrund dessen er aber einen bestimmten Kontext von Phänomenen als ›Höhle‹ erkennt […] Das ›Prinzip Höhle‹ wird Gegenstand kommunikativer Beziehungen. An diesem Punkt wird die Zeichnung oder die entfernte Vorstellung von einer Höhle schon zur Mitteilung einer möglichen Funktion und bleibt es, auch wenn die Funktion nicht erfüllt wird oder kein Bedürfnis besteht, sie zu erfüllen.« (1)
Als Zeichen erlaubt eine Höhle ihre Wiederauffindbarkeit und die Herstellung eines ähnlichen Wohnraumes aus eigener Kraft. Mit der Ausbildung der Fähigkeit, topographische Gegebenheiten als Architektur anzusehen, als wieder auffindbarer Ort und herstellbare Konstruktion, hat auch Geschichte begonnen. Geschichtsbewusstsein verdankte sich dieser Hypothese zufolge dem Umweg über die Gegenstandswelt und die räumlich-topographischen Gegebenheiten, in die der Mensch sich als sich erinnerungsfähiges und konstruierendes Wesen hineinversetzt. Das Zum-Zeichen-Werden der Dinge und Räume, ihre Verwandlung in Gebrauchsgegenstände, Landschaft, Geographie und Architektur, ihre Geistesgegenwart ist als fundamentaler Akt der Selbstbewusstwerdung des Menschen als soziales Wesen anzusehen, die sich als zeitlich-geschichtlicher Vorgang vollzieht. Mit Gesellschaft kommt automatisch ein Prozess der Semiotisierung in Gang, der sich in der gesprochenen Sprache und ihrer Kodifizierung in Schrift vor allem manifestiert, von deren Sog die Dingwelt miterfasst wird. Was das Spezifikum der Architektur im Unterschied zu anderen Zeichenarten ausmacht, das wird in der Semiotik als die pragmatische oder proxemische Dimension des Zeichens behandelt. Es handelt sich hierbei – gemäß den Einteilungen der Semiotik – um eine Dimension des Zeichengebrauchs, die den Dimensionen der Grammatik, der Syntax und der Semantik vorgelagert ist. Sie impliziert die körperbezogene Proxemik. (2) Architektur wird zu den visuell wahrnehmbaren Künsten oder Gebrauchsdingen gezählt. Die semiotische Charakteristik ist allerdings nicht notwendig an visuelle Wahrnehmung gebunden. Man kann Dinge und Räume auch blind benutzen. Die Zeichenebene der Architektur ist nicht primär die visuelle Erscheinung, sondern das, was mir ihren Gebrauch erlaubt, das Eintreten in einen Raum, das Durchwandern eines Gebäudes, das Stehenbleiben und Mich-Umsehen, das Hinaufgehen in obere Etagen, das Sich-Ausstrecken, ans Fenster treten, sich Anlehnen etc. Das Betrachten ist nur eine der möglichen Weisen ihres Gebrauchs oder ihrer Lektüre. Das architektonische Zeichen liefert mir die Bedeutungen, die mich für ihren individuellen und sozialen Gebrauch disponieren, auch dann, wenn, wie im Fall des ›trompe l’oeuil‹, die Funktion nicht wirklich erfüllbar ist. Mit der Rede von der Architektur als Sprache kann allerdings auch mehr gemeint sein als dieser triviale Umstand. Man ging sogar so weit, Architektur wie die gesprochene und die geschriebene Sprache aufzufassen. Man ließ sich sogar dazu verleiten, die Sprache der Architektur als eine zu werten, die der gesprochenen und der Schriftsprache überlegen sei. Das Wissen, dass dies ein reichlich verwegenes Unterfangen ist, hat die Verfechter dieser Idee nicht davon abgehalten, sie beharrlich zu verfolgen. Die Ausgangslage ist paradox. Sprachlichkeit impliziert Reflektiertheit. In Architektur sind wir aber wesentlich reflexionslos verwickelt. Im Unterschied zu einem Gemälde, dem ich als Betrachter in räumlicher Distanz
B. Die Sprache der Monumente, der Skandal des Ornaments
gegenüberstehe, bin ich von Architektur als einem begehbaren Artefakt immer schon umgeben und in ihre Potenzen und Vorschriften, Anmutungen und Einschnürungen eingebunden. Unser Alltagsleben lässt uns wissen, dass die Konnotierung der Gebrauchsweisen dann am erfolgreichsten ist, wenn ich mir der Konnotiertheit gar nicht bewusst werden muss, um ihn in der richtigen Weise benutzen zu können. Die Fähigkeit des Gebrauchens könnte durch Reflexion sogar gestört oder behindert werden. Die Zeichenhaftigkeit von Gebrauchsdingen und von Architektur kommt mir erst da zum Bewusstsein, wo ich ihrer bedarf, wo sich die richtige Gebrauchsweise nicht von selber versteht, etwa wo ich als Fremder in eine fremde Kultur gerate und mit Gegenständen konfrontiert bin, mit denen ich nicht einfach hantieren kann, die ich nicht adäquat und selbstverständlich zu benutzen weiß, deren Nutzen mir nicht einleuchtet oder die ich falsch benutzen würde, so wie ein eingeborener Indianer etwa eine Kloschüssel für eine Vorrichtung zum Wäschewaschen halten könnte. (3) Es gibt unter den Architekten solche, die Architektur jenseits von Sprache ansiedeln. Sie halten es mit den englischen Sensualisten, die die Ansicht vertraten, jede Kunstgattung wirke auf ihre eigene spezifische Weise, und Architektur sei darin spezifisch, dass sie optisch und über den Tastsinn und vermittelt durch die eigene körperliche Bewegung im Raum erfahrbar sei. Die Architekten Herzog und de Meuron bestehen darauf, dass sich die Qualität und der Sinn eines Gebäudes unmittelbar über die sinnliche Wahrnehmung mitteile. Sie verkennen freilich, dass man nur wahrnimmt, was man weiß, worauf bereits Kant hingewiesen hatte, als er Eigenschaften eines Objekts nicht als Wahrnehmbares begriffen wissen wollte, sondern als Ergebnis unseres Denkens und Wissens. Wenn eine unordentlich gekleidete Person den Frühstückssaal eines Nobelhotels betritt, so das Beispiel, das Bruno Reichlin einst in einem Vortrag vor der Hamburger Architektenkammer verwendete, denkt man zunächst, der gehört nicht hierher, bis man erkennt, dass es sich um Boris Becker handelt und sein Erscheinen an diesem Ort in Ordnung findet. Wahrnehmung generell und auch die von Architektur ist in erster Linie abhängig von zeichenvermittelter Bedeutung. Wir sehen nur, was wir wissen. Wahrnehmung ist immer schon durch das symbolische Universum vermittelt. Unter den Architekten sind auch einige, die bekennen, eigentlich Sprachkünstler zu sein. Sonja Hnilica erinnert daran, dass Adolf Loos geäußert habe, gute Architektur könne auch geschrieben werden. Und Rem Koolhaas hat einmal bekannt, eigentlich Schriftsteller zu sein, und dass er mit Wörtern und Konzepten arbeite, dass das Ganze auf eine Manipulation von Wörtern und Konzepten zurückgehe. Namen, Beschreibungen, Interpretationen, Kommentare sind Adrian Forty zufolge wesentlicher Teil der Architektur, mit ihnen zusammen sei das Bauwerk erst ganz. Solche Sympathiekundgebungen sagen freilich noch nicht viel darüber aus, wie viel Sprachcharakter man der Architektur zumuten oder abverlangen kann. Sich des sprachlichen und zeichenvermittelten Charakters einer Sache bewusst zu sein, bedeutet sprachkritisch zu denken. Sprachkritik bedeutet, dass die Sprache dasjenige Medium des Lebens ist, dem wir uns am wenigsten überlassen können. Man ist sich einig in der Vermutung, dass die Sprache uns bei allem, was wir erfahren, tun und denken, schon im Rücken steht, die Vorwahl für das trifft, was wir selbst zu entscheiden glauben. Sprachkritik beruht auf dem begründeten Verdacht, dass
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unser Bewusstsein präokkupiert sei durch die den Zugang zur Wirklichkeit strukturierenden Funktionen von Sprache. Nun könnte man meinen, dieser Effekt sei bei alltäglichen Verrichtungen zu vernachlässigen. Blumenberg nimmt jedoch an, dass die »Benommenheitswirkung der Sprache sich im Maße der Annäherung an den Bereich der Lebenserfahrung verdichtet«. Mit der Nähe zu den »Realitäten der Selbsterhaltung« wird man annehmen müssen, dass auch die Sprache einen hohen Anpassungsgrad aufweist, jedoch nicht so sehr an die Wirklichkeit als vielmehr an die Bedürfnisse der Selbsterhaltung. »In welcher Sprache sollten wir aber ausdrücken, was in jeder Sprache nur seine Verstellung erfährt? Welche Geschichte sollte uns belehren, wenn die ganze bisherige Geschichte nur dazu beigetragen hat, den Menschen in Irrtum über sich selbst zu versetzen?« (4) Genau dies hatte ja Karl Marx in seiner Vorrede zur »Deutschen Ideologie« behauptet. (5) Andererseits hatte Paul Valéry geschrieben: »Jeder Mensch weiß eine erstaunliche Menge von Dingen, von denen er gar nicht weiß, dass er sie weiß. Alles zu wissen, was wir wissen – diese einfache Forschung erschöpft die Philosophie.« (6) Seines Wissens kann man jedenfalls nie sicher sein, und Sprache lässt uns stets im Unklaren darüber, was sie als unser ureigenstes Empfinden zum Ausdruck bringt und was in ihr als Klischees und Gemeinplätze oder spracheigene Struktureigenschaft zum Tragen kommt. »Nie ist eindeutig zu entscheiden, ob sich in der sprachlichen Formulierung der Gedanke und das tatsächliche Erleben abbildet, oder ob die Sprache mir etwas aufdrängt, dem ich mich aufgrund nachlassender Konzentration nicht entziehen kann. Findet das Subjekt in einem Satz seinen Ort, oder findet es sich an einem falschen Ort, der ihm von der Sprache aufgedrängt wurde? In jeder Sprachfigur steckt etwas von ›verbaler Halluzination‹ oder von Gehirnwäsche.« (7) Aufgrund der Bedeutungs-Ambivalenzen ist man auch nie sicher, ob man unter einer Aussage dasselbe versteht, wie der andere. Die Philosophiegeschichte kennt dennoch Entwürfe eines transparenten Zeichensystems, obwohl immer wieder sprachtheoretisch die Möglichkeit unschärfefreier Klarheit überhaupt bestritten worden ist. Wenn nun Sprache als das identifiziert ist, was uns die Wirklichkeit immer schon entzieht und uns mit dem, was wir wissen oder zu wissen glauben, den reinen Blick verstellt, ja die Vorstellung, es könne einen reinen Blick überhaupt geben, als Illusion erkennbar macht, dann sollte dies wohl von einer Architektursprache in erhöhtem Maße gelten, weil sie die Möglichkeit der hermeneutischen Reflexion nicht bietet und sie als etwas arbeitet, dessen wir uns am wenigsten bewusst sind gerade dann, wenn sie gut arbeitet. Wenn man sich also einig ist in der Vermutung, dass wir uns der Sprache am wenigsten überlassen können, dass Sprache uns bei allem, was wir erfahren, tun und denken, schon im Rücken steht, immer schon für uns entschieden hat, wenn schon gesprochene und geschriebene Sprache durch Unzuverlässigkeit und Aberrationen auffallen, wie viel mehr müsste dies von der Architektur gelten, wenn man sie als Sprache auffassen wollte. Man sollte meinen, dass solche Überlegungen, die sich aufdrängen, einen vor dem Vorhaben zurückschrecken lassen müssten, Architektur als Sprache konzipieren zu wollen. Es gibt zwar Stimmen, für die Sprache gerade vor anderen Zeichensystemen auszeichnet, dass sie etwa im Unterschied zur definierenden Zeichnung Unschärfen erlaube, Doppeldeutigkeiten, Uneigentlichkeit, Präzision und Bedeutungsoffenheit zugleich biete. Wie man aus dem Umstand, dass zwischen
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Zeichen und Bezeichnetem nie völlige Kongruenz besteht, Nutzen ziehen kann, hat Raymond Roussel mit seinen Experimentalromanen demonstriert, in denen aus klangähnlichen aber bedeutungsverschiedenen Wörtern eine völlig imaginäre Welt aufgebaut wird, die Innenwelt der Sprache selbst. In einem Text unter dem Titel »Wie ich einige meiner Bücher geschrieben habe« hat er sein kombinatorisches Schreibverfahren verraten. Foucault sah im Werk Roussels ein Labyrinth von Dualitäten, dessen Mitte möglicherweise leer ist, und mutmaßte, dass das testamentarisch veröffentliche Verfahren nur einen ersten roten Faden bietet. Er sieht unendliche Variationen über die Themen Doppel, Ersatz, Nachahmung, Wiederholung, und mutmaßt, das Verfahren der Kombinatorik sei möglicherweise nur eine aus einem größeren Raum herausgegriffene Figur, in dem das Labyrinth, die unendliche Linie, das Andere, der Verlust, die Metamorphose, der Kreis, die Rückkehr zum Selben, der Triumph des Identischen sich begegnen. (8) Bei den bekannten Ansätzen zur Konzeption einer Architektursprache sann man allerdings stets auf ein Rettungsinstrument vor den Verunklärungs-, Eintrübungs- und Entfremdungstendenzen der Sprache. Am intensivsten verfolgte man dieses Geschäft in der Epoche der Vernunftaufklärung. Bemerkenswerterweise kulminierten ausgerechnet in der Aufklärungszeit die Bemühungen, Architektur wie eine Sprache zu betrachten und einzusetzen, da alles um das Streben nach Transparenz und Eindeutigkeit kreiste. Es mutet verblendet an, von dem Gebauten in seiner Massivität und unmittelbaren Gegebenheit nicht nur in derselben Weise wie von der flüchtigen, ungegenständlichen, sublimierten Sprache zu sprechen, sondern ihr sogar zuzutrauen, dass wir uns mit ihrer Hilfe auf zuverlässigere Weise Klarheit verschaffen könnten als mit jeder anderen Sprache. Dass gerade die Denker der Aufklärungsepoche, die eine gesteigerte Empfindlichkeit für Eintrübungen und Entfremdung kultivierte, in einem Maße, wie nie sonst in der Geistesgeschichte, vom Projekt einer Architektursprache angezogen wurden, ja geradezu von ihr besessen waren und es wie in einem intellektuellen Exzess verfolgten, gibt Rätsel auf. Die gesprochene Sprache war den Aufklärern weniger entfremdungsverdächtig als die geschriebene Schriftsprache. Ähnlich wie die Lautsprache für den Mystiker Jakob Böhme galt sie als der »Bereich der freien, ursprünglichen Äußerung der Kreatur, wogegen das allegorische Schriftbild die Dinge in den exzentrischen Verschränkungen der Bedeutung versklavt«. Und dennoch, ausgerechnet in diesen Zeiten, da man sich der Klarheit und Transparenz verschrieben hatte und sogar der Immaterialität der gesprochenen Sprache den Vorzug vor der materiebehafteten Schrift gab, die man der Manipulation durch Exklusivität, des Priesterbetrugs für verdächtig hielt, erlebte die Rede von der Sprache der Architektur, die ja nur Schriftsprache sein konnte, geradezu eine Inflation. J.B. Say, englischer Ökonom und Philosoph, steht für viele, wenn er in seinem utopischen Roman »Olbie« schwärmte von einer »Sprache der Monumente, die für alle Menschen klar war«. (9) Ausgerechnet in einem Medium, in dem sich der Mensch immer schon bewegt und dies, wie Hegel sagt, »ohne Reflexion und ohne nach dem Ursprung zu fragen«, soll etwas klar werden und allen ohne weiteres verständlich sein, besser als in geschriebenen Texten oder mündlichen Parolen jemals möglich wäre. Sicher spricht die uns umgebende Architektur eine uns vertraute Sprache, indem sie von unseren Gewohnheiten, Bedürfnissen, vielleicht sogar von unseren Wünschen »erzählt«. Doch tut sie das in einer solchen Weise, dass man zunächst
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nicht an eine deutliche Artikulation denken mag, sondern allenfalls an ein Gemurmel, eine Litanei im Hintergrund, die eine Atmosphäre unbezweifelbarer Bekanntheit verbreitet und die aus Tautologien besteht. Und die Aufklärer, die sich mit dem Konzept einer Architektursprache beschäftigten, hatten auch nicht die Befestigung des Gewohnten und Vertrauten im Auge, sondern den radikalen Umbau der Welt in einer auf Vernunft gründenden Weise. Die Attraktivität dieser Idee bleibt unbegreiflich, solange man sie nicht im Zusammenhang sieht mit dem Glauben, in einer großen Aufräumaktion bei Null neu beginnen zu können. Descartes wie Bacon glaubten, man könne die geschichtlich angesammelten Vorurteile mit einem Schlage durchstreichen. Descartes veranschaulichte diese Überzeugung im Bild des Apfelkorbs: Man dürfe nicht die faulen Äpfel aus einem Korb aus diesem selbst heraussuchen, sondern müsse den Korb ausschütten, um dann die gesunden Äpfel zurückzusortieren. (10) Die Aufklärung stemmte sich gegen die Erfahrung, dass Vorurteile hartnäckig weiterleben und wie die Köpfe der Hydra multipliziert nachwachsen, wenn man einen von ihnen abgeschlagen hat. Man suggerierte sich und der Welt, dass mit den Vorurteilen und der Unvernunft fertigzuwerden sei. Diese Selbstüberschätzung macht die Aufklärung aus. »Sie besteht in der Verkennung des Sachverhalts, dass Vorurteile einer Totalität zugehören, Reste einer solchen sind oder eine bilden, wenn auch mit Rationalität durchlöchert«. Und darin, dass diese Totalität inhaltlich nicht begriffen werden kann. (11) Descartes wollte sich nicht einmal die Mühe machen, nach den Ursprüngen und Ursachen, den Affinitäten der Vorurteile zu forschen. Bacon hat immerhin eine Klassifikation nach ihrer Herkunft vorgelegt, mit der er aber auch nicht verhindern konnte, dass es eine bittere Erfahrung des Rationalismus wurde, dass tiefere Vorurteile unerkannt überleben konnten, während man noch dabei war, die vordergründigen zu beseitigen, und dass es Quellen für deren Neuentstehung gab, die sich nicht leicht zum Versiegen bringen ließen. Das »eigentümliche Zurückweichen der Front der Vorurteile mit dem Vordringen ihrer Erforschung und Kritik« halte, so Blumenberg, bis heute an. (12) Diese Kritik wurde bereits von Brentano vorgebracht. Erst die Phänomenologie aber sollte in der Lage sein, Vorurteile in ihrer Funktion zu würdigen. Sie gehören zu den Selbstverständlichkeiten. Sie sind funktionstüchtig, denn die Lebenswelt ist Resultat von Selektion und Anpassung. Die Begriffe Institution, Lebenswelt und Vorurteil sind fast synonym. »Der Begriff der Lebenswelt ist die Anweisung, das Vorurteil als total zu denken, damit zugleich als völlig lebensdienlich und in der Prämodalität der Selbstverständlichkeit erträglich, lebensadäquat funktionierend; es zu denken als durch Selektion in einen Zustand hochgradiger Stabilität, also der Unerfahrbarkeit geschichtlicher Kontingenz.« (13) Diese Bestimmung berücksichtigt, dass das Gemeinte immer einen hohen Grad an Faszination und Attraktivität ausübt. Es ist kein Zufall, dass das Vorurteil und seine funktionale Wertschätzung durch die Phänomenologie mit der geistigen Formation der Romantik in einem Sympathieverhältnis stehen. Schon seit Rousseau hat ein solches Denkgebilde der Übereinstimmung von freilich reduzierten Bedürfnissen mit den Gegebenheiten romantische Verklärung erfahren. Leben in diesem emphatischen Sinne heißt in Welt-Gewissheit leben. Es ist eine Weltgewissheit, die man nicht hat, sondern in
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der man lebt. Stabilität entsteht hier durch Sattheit, Libidosättigung, Unbedürftigkeit, Autarkie. Unser Bewusstsein von Wirklichkeit ist gar nicht im Ganzen korrigierbar, sondern immer nur partiell, durch integrierbare Instanzen. Auf Platons Höhlengleichnis bezogen erweitert die Phänomenologie die Kritik, die jener bereits angebracht hatte, als er geltend machte, dass es keine Folgen hätte, wenn die in unseren Vorstellungen präsente Wirklichkeit nicht die eigentliche Wirklichkeit wäre. Die phänomenologische Wendung des Problems macht den erkenntnistheoretisch konstruierten Betrug der Schatten oder des täuschenden Gottes bedeutungslos. Die Geschichte des Menschen vollzieht sich nicht als Ausstieg aus der Höhle, sondern in beharrlicher Transformation der Lage in der Höhle. Sie muss sich alle vermeintlichen Auswege zum reinen Sein als mythische Sackgassen versagen. Allerdings ist die Lebenswelt, in der wir leben, immer schon suspendiert. Die Totalität ihrer Selbstverständlichkeit hat es nie gegeben, ebenso wenig wie es das philosophische Selbstbewusstsein absoluter Transparenz als das andere Ende der Geschichte je geben wird. Phänomenologie sei, so Blumenberg, dennoch nicht nur noch immer möglich, sondern auch mehr denn je nötig geworden. Denn um die gegebenen Realitäten ist kein Spielraum mehr für die Vorstellung, dass sie auch anders sein könnten. Die große Bedeutung, die Architektur für die Aufklärungsdenker als Kommunikationsmedium annehmen konnte, ist im Zusammenhang mit dem Projekt einer Universalsprache zu sehen, dem sich zahlreiche große Geister verschrieben, unter ihnen Rousseau, Warburton und mit der größten Beharrlichkeit Leibniz. Für Leibniz wurde ausgerechnet die chinesische Schrift zum Vorbild für seine »Charaktere«, mit denen er beanspruchte, eine Sprache zu entwickeln, die Lexikon und Schrift zugleich wäre. Das Fehlen einer derartigen sich selbst erklärenden Universalsprache wurde mitverantwortlich gemacht für die unnatürliche Verzögerung, mit der die Vernunft ihren Siegeszug antrat, obwohl sie doch in der Natur des Menschen angelegt war. Leibniz hatte nicht weniger im Sinn, als im Sinne des Großprojektes der Aufklärung die Sprache zu reinigen von allem Ambivalenten, von Ambiguitäten wie Homonymien, von Ausdrücken mit unentscheidbaren Mehrfachbedeutungen und von solchen, die gleichbedeutend sind, um zu einer Sprache zu gelangen, die alle sprechen und in der alle unter allem dasselbe verstehen könnten. Mit diesem Projekt verkennt man freilich, dass es nötig ist zu erkennen, dass zwei Personen unter demselben nicht dasselbe verstehen müssen, wenn sie glauben, dasselbe zu verstehen. Woher sollen sie es denn auch wissen können? Man arbeitet mit Hypothesen. Politik hat die Aufgabe, das falsche Allgemeine so darzustellen, dass für ausreichend viele Menschen Subjektivierungen verfügbar sind. Doch derlei Einsichten waren den Aufklärern verwehrt oder sie machten sich gegen sie unempfänglich. Das Sprachkonzept der Aufklärung war in seinen naivsten Ausprägungen das einer Rohrpost mit einem Rohrsystem, das durch die Mehrdeutigkeiten der Rhetorik ständig verstopft war, das man versuchen wollte, auszuputzen und freizuhalten. Wenn sich die linguistischen Hygieniker verzweifelt bemühten, die Verstopfungen zu beseitigen oder ihnen vorzubeugen, erkannten reflektiertere Denker, dass es gar keine unrhetorisch reine Natürlichkeit der Sprache gibt und es müßig ist, dafür sorgen zu wollen, dass sie ungehindert strömen kann. Zu diesen sprachbewuss-
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teren Denkern des 18. Jahrhunderts zählt Georg Christoph Lichtenberg, für den die Rede nicht originärer Ausdruck eines unvergleichlichen Selbst sein konnte. Sie erschien ihm stattdessen als Hantieren mit einem begrenzten Inventar von Sprachfiguren, die es immer schon gegeben hat. Philosophie sei daher nicht Erkenntnis einer Welt hinter den Worten, sondern Arbeit an Begriffen und Berichtigung des Sprachgebrauchs. In den Sudelbüchern schlägt er vor, nicht zu sagen »ich denke, sondern es denkt, so wie man sagt: es blitzt«. (14) Dem Aufklärungsdenken waren derlei selbstkritische Reflexionen demnach nicht fremd, in seinen Phantasmen aber wollte es davon nichts wissen. Eine Sprache, in der die Menschen die Dinge so sehen, wie sie tatsächlich sind, und zwar überall auf der Welt, sollte sowohl die Dinge als auch die Menschen vom Bann der Irrtümer produzierenden Idole befreien. Und Architektur sollte nach dem Glauben einiger Zeitgenossen von Leibniz und Descartes diese Kriterien einer Universalsprache erfüllen können, da sie ohne Umwege direkt zu den Augen spreche. Es gab in ihr gar nicht soviel zu bereinigen wie in der Schriftsprache. Man musste lediglich auf die stilistisch-dekorativen Umständlichkeiten verzichten und die Formensprache auf Grundformen reduzieren und diese den jeweils affinen Funktionen zuordnen. Die Reduzierung auf nur sehr wenige Buchstaben oder standardisierte Zeichen, die dann aber, weil sie so reduziert sind, hochkomplexe Kombinatorik ermöglichen, ist eine Errungenschaft auf dem Weg dahin, dass die Gesellschaft sich nur über Bewusstsein mit der Umwelt koppelt. Für Bewusstsein sagte man Vernunft. Die suggestive Folgerung der Aufklärung ist die: je einfacher die Muster, desto geringer die Gefahr von Missverständnissen. Dass Architektur das uns reflexionslos umgebende Medium ist, wie Hegel sagen sollte, sollte diesem Vorhaben gerade zugutekommen. Die Sprache der Monumente konnte in den Augen der Revolutionsarchitekten gerade darum so klar und allgemeinverständlich sein, weil wir zu Architektur keine Distanz haben, weil wir Architektur nicht von einem einzigen Standort aus erfassen können, weil sie uns überragt und einschließt, den Rahmen unseres Gesichtsfeldes sprengt, weil sie massiv und unbeweglich ist. Denn gerade deshalb ergreift sie unsere Sinne mächtiger und nachhaltiger, unmittelbarer und unterschiedsloser als andere Sprachen. Es bleibt uns sozusagen gar nichts anderes übrig, als sie zu verstehen und mit dem Gesagten einverstanden zu sein. Die bizarren Vorstellungen und Entwürfe der »Revolutionsarchitekten« sind nicht skurrile Ausnahmen und exaltierte Ausreißer aus der Kontinuität der im allgemeinen sittsamen Geschichte, sondern sie stehen im geistesgeschichtlichen Kontext der Aufklärung, eines radikalisierten Rationalismus, und – worauf Stephen Toulmin hingewiesen hat – sie sind eine Reaktion auf pathologische Entwicklungen. (15) Descartes war 20 Jahre alt, als der 30-jährige Krieg begann. Er war aktiv beteiligt, und als der Krieg endete, hatte er noch zwei Jahre zu leben. Höchst unwahrscheinlich, dass er nicht betroffen war. Leibniz schrieb in der Zeit unmittelbar nach dem 30-jährigen Krieg, inmitten von Ruinen. Seine Projekte muss man sehen vor dem Hintergrund eines zerstörten Deutschlands. Nachdem etwa 35 % der Bevölkerung hingeschlachtet worden waren, hoffte er, die praktischen Bedingungen für eine Erneuerung des rationalen Gesprächs zwischen den beiden theologischen
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Lagern zu schaffen. Wie konnte ein Mann seiner Bildung und seiner Reputation dieses Problem nicht thematisieren, einen minimalen Konsens als Theorie des zureichenden Grundes für alle Kirchen finden zu müssen? In der Schule wurde uns weisgemacht, die Aufklärung sei so etwas wie der natürliche Fortschritt des Geistes an sich. Man behauptete, das 17. Jahrhundert habe gewaltige Verbesserungen der Arbeitsbedingungen für Wissenschaftler und die Wissenschaft mit sich gebracht, die Menschheit habe sich dank dieser allgemeinen Beruhigung und Hinwendung zur Vernunft entscheidend fortentwickelt. Man sagte uns, um 1600 hätten die meisten europäischen Länder, vor allem die protestantischen Staaten Nordeuropas, ein neues Niveau wirtschaftlicher Blüte und materiellen Wohlstands erreicht. Die Entwicklung des Handels, das Wachstum der Städte und die Erfindung des Buchdrucks habe die Bildung unter den wohlhabenden Leuten so verbreitet, wie es vorher nur unter Priestern gegeben war. Gelehrte Laien lasen und dachten nunmehr selbst nach, erkannten das Recht der Kirche, an ihnen vorbeizuschreiben und zu predigen, nicht mehr an, begannen, alle Lehren auf ihre Überzeugungskraft hin zu prüfen. Die Menschen genossen so viel Freiheit von kirchlicher Bevormundung, dass sie eigenständige Ideen hervorbringen konnten. Denker wandten sich von der Scholastik ab und entwickelten neue Ideen aufgrund ihrer unmittelbaren Erfahrung. Man hatte Mut zur Ablehnung von Tradition und Aberglauben. Die Philosophie befreite sich von der Bevormundung durch die Theologie. Newtons Wissenschaft und Descartes Philosophie verbanden sich zu einer neuen, besseren Welt. Die Annahme, die Errungenschaften in der Philosophie und der Wissenschaft seien Produkte der Prosperität gewesen, ist jedoch nicht haltbar. Die Jahre von 1605-1650 waren alles andere als Jahre der Blüte und Entspannung. Heute rechnet man sie zu den ruhelosesten und wildesten der gesamten europäischen Geschichte. Auch die Annahme, seit 1600 sei das Joch der Religion leichter geworden, trifft nicht zu. Vorher, um die Mitte des 16. Jahrhunderts, war es weit weniger belastend gewesen. Nikolaus Kopernikus hatte trotz seiner radikalen Ideen nicht die Folter der Inquisition zu befürchten. Erst nach dem Konzil von Trient war die Konfrontation zwischen katholischen und protestantischen Erben des Christentums verschärft und von neuer Intoleranz geprägt. Papisten und Ketzer gingen einander an die Gurgel und machten den 30-jährigen Krieg zu einem besonders blutigen und widerlichen Konflikt. Zum Bruch mit dem Mittelalter war es 150 Jahre früher gekommen. Vergleicht man das 17. mit dem 16. Jahrhundert, so muss man eher von Rückschritt sprechen und von Barbarei. Im 17. Jahrhundert war die Prosperitätsentwicklung des 16. Jahrhunderts völlig zum Stillstand gekommen. Ein jeder musste damit rechnen, dass ihm von jemandem, dem die eigene Religion nicht gefiel, die Kehle durchgeschnitten oder das Haus über dem Kopf abgebrannt wurde. Wenn man für die Situation einen Vergleich aus der heutigen Zeit suchen wollte, müsste man an den Libanon der 80er Jahre des 20. oder den Syrienkrieg zu Beginn des 21. Jahrhunderts denken. Um 1600 endete die politische Vorherrschaft Spaniens. Frankreich war religiös gespalten, England trieb auf den Bürgerkrieg zu. In Mitteleuropa zerfleischten sich die deutschen Kleinstaaten gegenseitig. Die Getreideernte ging ab 1615 kontinuierlich zurück, ganze Dörfer wurden verlassen und aufgegeben. Die Landflucht ließ die Städte wachsen. Die Bevölkerung der von Krankheiten heimgesuchten Slums nahm zu.
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Man litt zudem unter den Folgen einer weltweiten Klimaverschlechterung, man sprach von der kleinen Eiszeit. Die Themse fror zu, und auf dem Eis wurden ganze Ochsen gebraten, in Venedigs Lagune konnte man Schlittschuh laufen. Es gab Missernten, totale Ernteausfälle, mehrere Pestepidemien (1630-32 und 16471649). Die Große Pest in England 1665 war nur der krönende Abschluss einer ganzen Serie. 1619-1622 herrschte eine schwere Wirtschaftskrise. Der internationale Handel ging zurück und es gab verbreitete hohe Arbeitslosigkeit, so dass für die Söldnerheere Wallensteins und Gustav Adolfs ein gewaltiges Menschenreservoir zur Verfügung stand, das sich die meiste Zeit freilich durch Plünderungen selbst zu versorgen hatte. Die vereinigten Provinzen der Niederlande bildeten in Mitteleuropa die einzige Ausnahme, nicht zuletzt durch das Horten der geschrumpften Getreidevorräte in der Erwartung steigender Preise. Der theologische Druck auf Wissenschaftler nahm zu, die Gegenreformation war so dogmatisch, wie es Thomas von Aquin nie hätte sein können. Calvinisten und Lutheraner bekämpften einander mit ebensolcher Härte auf protestantischer Seite. Die Zeit der Toleranz mit Autoren wie Erasmus, Rabelais, Shakespeare, Francis Bacon, Montaigne war vorbei. Der Klimawandel wird greif bar beim Vergleich von Montaigne mit Descartes, auf dem Weg vom »Pantagruel« zu »Pilgrim’s Progress«, von Shakespeare zu Racine in Form von Einschränkungen der Interessengebiete und der Verengung der geistigen Horizonte. John Donne hat nach Meinung Toulmins in einem Langgedicht die Wirkung der Verhältnisse beschrieben. Er sah in den damaligen schlechten Wetterverhältnissen, den verstörenden Entdeckungen der Astronomen, den neuen Ideen über die Struktur der Materie, dem Verlust des Untertanen- und Familiensinns, der verbreiteten Vereinzelung des Ichs nicht lauter voneinander unabhängige negative Erscheinungen, sondern er betonte die Verbindung der physikalischen mit den moralischen, psychologischen und mit den politischen Fragen. Ihn besorgte, dass das alles gleichzeitig geschah: der Verfall der Loyalität, das Wachstum der Städte, der Niedergang der bäuerlichen Lebensformen, die wachsende Zahl von »herrenlosen« Menschen, der Narzissmus, dass sich die Menschen für Atome halten und sich entsprechend verhalten. Das Subversive daran ist, dass all diese Phänomene die gesamte anerkannte Kosmopolis untergraben. »‘tis all in pieces, all coherence gone.« In Extremfällen verfiel man auf Zahlenmagie zur Berechnung des Jüngsten Tages. Es war eine umfassende Krise, der Zusammenbruch des allgemeinen Vertrauens in das Weltbild. Die moderne Philosophie ist Produkt dieses Konflikts, der alle Gebiete menschlichen Lebens betraf. Wenn alles gleichzeitig und so gründlich bedroht war, dann musste alles gleichzeitig und gründlich erneuert und untermauert werden. (16) Und wenn die von der Renaissance ererbte Nonchalance im Umgang mit einer Vielfalt von Überzeugungen und die Toleranz gegenüber Ungewissheit diese Katastrophe nicht hatte verhindern können, sondern den Parteien 30 Jahre lang nichts Anderes eingefallen war, als einen anscheinend unbeendbaren Krieg mit zunehmender Brutalität weiterzuführen, dann musste man sie aufgeben und nach einer gemeinsamen Basis für Gewissheit suchen, und sei sie noch so abstrakt und weltlos und rigide. Man hatte für Skepsis gegenüber der Beweisbarkeit in Glaubensfragen keine Geduld und keine Kraft mehr. In dieser Zeit überhitzter Glaubenskriege blieb den Menschen als einziger Ausweg die Suche nach einer Fundierung ihrer zentralen
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Ideen und Wahrheiten auf eine Weise, die gegenüber speziellen religiösen Bindungen und Kontexten unabhängig und so neutral wäre wie Naturwissenschaft. Das Streben nach Gewissheit war kein bloßes philosophisches Programm und ein Fortschritt in der Menschheitsgeschichte als Ergebnis distanzierter geistiger Betrachtung in wohlgenährter Muße, es war vielmehr zeitgebundene Antwort auf eine drastische Notlage, auf den Wahnsinn der Apokalypse, und beispiellose historische Herausforderung. Descartes’ Meditationen und Methoden sind nicht Frucht der Entfaltung reinen Geistes, herangereift unabhängig von den Zeitläufen in einem Elfenbeinturm. Die Dringlichkeit, sich durch Denken aus dem politischen und theologischen Chaos zu befreien und gegen den andrängenden Wahnsinn zu stemmen, kann man sich kaum größer vorstellen. Descartes sah sich gezwungen, Montaignes Leugnung der Möglichkeit von Gewissheit zurückzuweisen. Die Methode, Theorien auf klare und deutliche Begriffe aufzubauen, diente aus heutiger Sicht als Mittel, Probleme der empirischen Wissenschaften zu lösen, aber damals war sie vor allem Quelle von Gewissheit in totaler Verunsicherung. Für ihn stand fest, dass das Buch der Natur in mathematischer Sprache geschrieben sein musste. Die Philosophen des 17. Jahrhundert waren gezwungen, die Ethik, bis dahin Terrain praktischer Weisheit, künftig als Gebiet der theoretischen Analyse nach dem euklidischen Modell zu betrachten, wenn man dem Chaos unterschiedlicher, gnadenlos gegeneinander kämpfender und ungewisser Meinungen entgehen und zusammen mit der Physik und der Logik auf der rationalen Seite stehen wollte. Auch im Recht gab es seit Grotius die Tendenz, immer formalere und theoretischere Ziele zu entwickeln. Die Abwendung von den besonderen konkreten praktischen Seiten der menschlichen Erfahrung ist freilich in der Rechtsprechung glücklicherweise nie ganz möglich, sie bleibt auf den Fall verwiesen. In der Politik gab Thomas Hobbes mit seinem »Leviathan« das Beispiel für einen neuen rationalen Stil. Wenn bis dahin Politik etwas Konkretes war, das eine Stadt oder einen Staat mit seinen spezifischen Problemen betraf, wurde die Theorie nach 1640 abstrakt. Adressat und Einheit der Analyse war nun der einzelne Bürger oder Untertan, das Atom. Das Problem bestand nurmehr in der fragilen und durch nichts gewährleisteten Loyalität des Einzelnen gegenüber dem Staat. In der Theologie hatte die Wende die drastischsten Folgen. Im als finster verschrienen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhundert war sie entspannter und beweglicher als jetzt. Nikolaus Cusanus konnte Ansichten verbreiten, für die Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Kopernikus hatte seiner Phantasie freien Lauf lassen können auf eine Weise, für die Galiliei die Werkzeuge der Inquisition gezeigt wurden und er verbannt wurde. Thomas von Aquin hatte die theologischen Positionen des Augustinus auf eine Weise analysiert, die sie mit Texten von Nichtchristen wie Aristoteles und Cicero in Verbindung brachte. Mit dieser akademischen Freiheit war es nun vorbei. Kirchliche Zensoren auf beiden Seiten begannen das Denken zu überwachen. Das heilige Offizium dehnte seinen Einfluss aus, mit dem Ziel, die Ketzer ein für allemal auszumerzen. Die Lehre erstarrte zu Dogmen, die auch von den Wohlwollendsten nicht mehr diskutiert werden durften. Im frühen 18. Jahrhundert verschärfte sich der Ton gegenüber den Ketzern in einem nie zuvor für möglich gehaltenen Maß. Die unabweisbar gewordene Forderung nach unbezweifelbaren Gewissheiten hatte auch in die Theologie Eingang gefunden und dort den größten Schaden angerichtet. Man war nun weit
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entfernt von der freundlichen Vernünftigkeit der ersten Phase der Moderne, und viele ihrer Errungenschaften wurden rückgängig gemacht. Der Dogmatismus der Religionskriege wurde mit philosophischen Mitteln nur fortgesetzt. »Der Appetit auf Theorie fraß alle Zweige der praktischen Philosophie wie ein Moloch.« (17) Die Verfolgung der Hugenotten in Frankreich hatte ihr Gegenstück in der Gegenverfolgung der katholischen Iren. Wenn die Gesellschaft vorher vertikal geordnet war, dann nunmehr horizontal, dank der Erfindung einer neuen Klassengesellschaft. Man hatte die sozialen Schichten entdeckt. Das umfassende System der Ideen von Descartes und Newton über Natur und Mensch, welches das Gerüst der Moderne bildete, war nicht nur ein wissenschaftliches, sondern auch ein soziales und politisches Modell. Es verlieh der politischen Ordnung des souveränen Nationalstaats göttliche Legitimation. Es erhielt nicht nur wegen der Erklärungskraft für die Planetenbewegungen oder die Gezeiten Zustimmung, sondern eigentlich wegen der Legitimation, die es politisch zu verleihen schien. Von 1700 an waren die Beziehungen im Nationalstaat horizontal definiert, als Über- und Unterordnung aufgrund von Klassenzugehörigkeiten. Die niederen Stände wurden als den besseren Leuten natürlich und gemäß göttlicher Bestimmung untergeordnet angesehen. Jede Klasse hatte ihren Ort in dem System, an dessen Spitze der König stand. Die gesellschaftliche Stabilität hing davon ab, dass jeder wusste, was man von ihm erwartete, dass alle gesellschaftlichen Gruppen ihren Platz kannten und wussten, welche gegenseitigen Verhaltensweisen angebracht und damit rational waren. Dass Ideen neben ihrem ausdrücklichen Tenor auch unterschwellige Aspekte haben, ist eine Einsicht der Wissenssoziologie. Sie erkennt die Rolle des Newtonismus als eine kosmopolitische Rechtfertigung der modernen Gesellschaftsordnung. Eine Behauptung steht dabei im Zentrum: das notwendige Organisationsprinzip der Natur wie der Gesellschaft sei Stabilität. Theodore Rabb bezeichnet das Hauptthema des 17. Jahrhunderts den Kampf um Stabilität. (18) Das planetarische Modell der Gesellschaft war kosmopolitisch. Der philosophische Glaube, die Natur gehorche mathematischen Gesetzen, die ihre Stabilität gewährleiste, war demnach eine gesellschaftliche Idee. Kosmos und Polis ruhten in sich selbst, ihre Stabilität wurde durch ihre gemeinsame Rationalität garantiert. Entsprechend wurden die Nonkonformisten, die einzelne Voraussetzungen in Frage stellten, Zweifel äußerten, nicht etwa wissenschaftlicher Extravaganz geziehen, sondern sie fielen der Verachtung und Schande anheim und man trachtete ihnen nach dem Leben. So ging es La Mettrie, er wurde eines kompromittierenden Lebenswandels beschuldigt, oder Tom Paine, der als politischer Umstürzler angegriffen wurde, oder Joseph Priestley, dessen unverzeihliches Vergehen in der Behauptung bestand, dass die französische Revolution auch etwas Gutes hatte. Der Kampf um den richtigen Glauben hatte sich auf den um die richtige Theorie, das richtige Denken verlagert, das geeignet wäre, Einhelligkeit zu erzielen. In jenem Jahrhundert war man zwanghaft bemüht – mit einem Ausspruch Lockes –, »das Gestrüpp wegzuräumen, das der Erkenntnis im Wege steht«. Man musste nur dafür sorgen, dass keine ideologischen und theologischen Irrtümer die Dinge verunklärten, dann lägen die theoretischen und praktischen Mittel zur Verbesserung des menschlichen Loses bereit. Was wir als Aufklärung preisen, hatte einen hohen Preis, der ihre Reputation in Misskredit bringt. Die drei Träume der Rationalisten, der von der rationalen Metho-
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de, der Einheitswissenschaft und der einer exakten Sprache fließen zu einem zusammen, stellen sich heraus als die drei Seiten eines einzigen Traumes. Alle sollten sie das Wirken der menschlichen Vernunft durch Dekontextualisierung reinigen. Wenn man mit Aufklärung assoziierte, die Menschheit habe sich entschlossen, zur Vernunft zu kommen, dann handelte es sich zugleich um das Gegenteil: einen an Exorzismus gemahnenden Reinigungswahn. Leibniz sah in der Vielfalt der Sprachen und Kulturen eine tiefere Ursache für Krieg und Konflikt und träumte von einer idealen Sprache, die die Menschen eines jeden Landes, einer jeden Kultur und eines jeden Milieus und vor allem einer jeden religiösen Überzeugung lernen und verstehen könnten. In seiner Vision der Universalsprache erblickte er ein Allheilmittel für politische so gut wie für theologische Gebrechen. Er war damit nicht allein, aber wir verbinden dieses Projekt vor allem mit seinem Namen. Schon als Junge dachte er an eine characteristica universalis, ein Zeichensystem, das »alle unsere Gedanken ausdrücken« können würde. Es geht um mehr als um ein vorweggenommenes Esperanto. Diese Universalsprache sollte Einfluss gewinnen dadurch, dass sie die Vorgänge des rationalen Denkens und Wahrnehmens einfing und eine Möglichkeit zum Vergleich und Austausch von Erfahrungen bot, die nicht durch die jeweils bestehende Sprachkonvention verfälscht war. Leibniz brauchte dafür eine Symbolik, die Gedanken ebenso bestimmt und so genau ausdrückt wie die Arithmetik im Bereich der Zahlen oder die analytische Geometrie auf dem Gebiet der Linien. Eine solche Sprache würde auch alle gültigen Argumentationsweisen enthalten und festlegen, so dass Menschen unterschiedlicher Herkunft und Vorbildung miteinander argumentieren könnten, ohne Verwirrung und ohne Fehler befürchten zu müssen. Diese Obsession führte ihn u.a. zur Beschäftigung mit den chinesischen Ideogrammen wie zur Analyse der Wahrnehmungsmethoden des I Ching. (19) Wohlverstanden ist eine der Leibnizschen Universalsprache entsprechende Architektursprache die der Architektur eingeschriebene utopische Perspektive einer zweiten Natur, die ihre Sprache gefunden hätte. Die abenteuerlichen Argumentationen der Aufklärungsdenker zur Propagierung und Verteidigung einer Architektursprache sind in der Geschichte freilich nicht der einzige Versuch dieser Art. Die rationalistische Konzeption steht in einer Reihe unterschiedlicher, aber stets obsessiv verfolgter Auffassungen von der Architektur als Sprache, so dass man versucht sein kann, von diesem Topos als von etwas zu sprechen, das als Eigenschaft der Architektur dieser selbst anhaftet oder in der Natur des menschlichen Denkens liegt, von etwas also, das in einem anthropologischen Sinne unabweisbar ist. Man könnte also ähnlich wie Lévi-Strauss von Strukturen des Geistes, oder wie Cassirer von »symbolischen Formen« sprach, von einer Affinität von Sprache und Architektur füreinander reden. Freilich würde diese Affinität nicht auf Eigenschaften der Architektur und des Denkens beruhen, die beide für den Bezug aufeinander geeignet machten, sondern die Unabweisbarkeit resultierte aus einer Obsessivität, die sich trotz eines Höchstmaßes an Ungeeignetheit entfaltet. Wenn man von einer Sprachlichkeit der Architektur und einer Architektonik der Sprache reden will, dann entspringen diese Neigungen eher einem beiderseitigen Verkennen, das sich mit einer ›amour fou‹ vergleichen ließe. Der kognitive Furor, mit der in allen Epochen Architektur als Sprache gedacht wurde,
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ist heute verraucht, aber Spuren der einstigen Erregung findet man allenthalben auf den Steinen, die uns umgeben. In lockerer Analogie zur verbalen Sprache ist man noch heute geneigt, das Ensemble der Architektur als ein System von Elementen zu begreifen, die nach bestimmten Regeln wie denen einer Grammatik oder eines Lexikons kombiniert oder generiert und wie Sätze zusammensetzbar gedacht werden können. Hierfür bildet Christopher Alexanders »Entwurfsmuster« nicht den einzigen Beleg. Dessen Bemühen, einzelne Aspekte architektonischer Gestaltung auszubuchstabieren und zu einer logisch strukturierten Sprache zusammenzufügen, hat Konkurrenz in einem Projekt, das von der »Viererbande« an der Cornell-University aufgegriffen wurde (20). Und die Lockerungsübungen der Postmoderne unter Anstiftung von Robert Venturi spielen ebenfalls mit der Sprachlichkeit von Architektur und arbeiten mit rhetorischen Versatzstücken. In einem etwas weniger vorsichtigen Sinn meinen einige der Zeitgenossen in architektonischen Formen von besonderer Prägnanz verschiedentlich gar so etwas wie Archetypen zu entdecken, die über sich selbst hinaus auf übermenschliche Zusammenhänge hindeuten, wenn dieses Übermenschliche auch nicht mehr als kosmische Ordnung geglaubt wird. Elementare Formen wie die Pyramide, der Kegel oder die Kugel beziehen aus ihrer kosmologischen Anmutung gleichwohl noch heute eine besondere symbolische Kraft, die Energie einer unabweisbaren Vermutung, den Zwang zur Überinterpretation, mit der Aldo Rossi beispielsweise virtuos zu spielen wusste. Sie wirken wie Stempel oder wie Hieroglyphen. Von ihrer einstigen kosmischen Symbolkraft ist noch heute etwas zu spüren, auch wenn sich die Bedeutungen nicht mehr in einem symbolisch abgeschlossenen Raum bewegen, in einem mythischen und unmittelbar lesbaren Universum ihren Platz haben, weil die Lesbarkeit der Welt als ontologische Unterstellung heute nicht mehr erwartet wird. Zwischen dem Archetypus in einer mythischen Weltordnung und dem neutralen, Funktionen kodierenden Zeichensystem ist jedoch ein weites Feld. Hier erstreckt sich der Raum, in dem sich das Sprachuniversum der Architektur auch heute noch ohne feste Umrisse ausdehnt. Konzepte, die weitergehen als den bloßen Zeichencharakter von Bauwerken und ihren Elementen zu benennen, nutzen allerdings Sprache in einem Sinne, dem die Tendenz zur pathologischen Reaktion auf unzumutbare Bedingungen innewohnt. Als unverdächtige Rationalität verkleidet, ist es in Wahrheit die nackte Not, die sie mitteilen und gegen die sie auf zwanghafte Weise aufgeboten werden. Das Unheimliche dieser Gegenwehr kommt zum Ausdruck in den Visionen eines Fabio Reinhardt oder eines Bruno Reichlin.
B 2. Versuche, Architektur als Sprache zu konzipieren, gab es auch im Hochmittelalter. Wenn von Architektursprache im Mittelalter die Rede ist, verbinden wir damit zuallererst die Kirchenfenster, deren bildhafte Inhalte einer analphabetischen Gemeinde die Bibelgeschichten anschaulich nahebringen sollten. Die Figurenreliefs an Säulenkapitellen und auf den Portalen mittelalterlicher Kirchen waren nicht nur reiner Augenschmaus, sondern wer hinsah, sah auch, was er nicht sehen sollte. In dem verwirrenden Bilderreichtum von Fratzen und Dämonen sollte Sinnlichkeit
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eindeutig als sündig und teuflisch erkennbar sein, um dem Verdacht des heidnischen Bilderdienstes, der Vergötzung zu entgehen. Wenn aus ornamentalem Blattwerk gnomenhafte Gestalten hervorwachsen, kopulierend und urinierend, – die ganze Breughelsche Fülle verdüsterter und verdorbener Phantasie, dann sollte dies der Abschreckung dienen. Man spielte aber wohl auch mit dem möglichen aufreizenden Effekt. Das halb abschreckende, halb lüsterne Schwelgen in Höllenqualen verfehlte in den meisten Fällen wohl auch nicht seine doppelte Wirkung, wie man an der Reaktion des Adlatus in Ecos »Name der Rose« sehen konnte, dem angesichts der zugleich Lust und Schuldgefühle weckenden Wucht der Ornamente die Sinne schwanden. Eigentlich von einer Architektursprache können wir allerdings erst im Zusammenhang mit dem gotischen Kathedralenbau und der Denkbewegung der Scholastik sprechen. Die Architektur der gotischen Kathedrale kommt dem Ideal sehr nahe, welches das späte Mittelalter von der Sprache hatte. Die ans Wunderbare grenzende Leichtigkeit der Tektonik durch die Unterscheidung und Verteilung der Stütz- und Lastkräfte und die feinverzweigte Auflösung der Baumassen in Pfeilern, Streben, Türmen und Fialen, die Rippung der Gewölbe und die Durchbrechung der Flächen durch Fenster und Bogengänge, all das lässt im Gesamteindruck an eine Sublimierung des Materials glauben und lässt das Gegenständliche, mehr, als das der technische Allgemeinverstand für möglich hält, und jedem Gefühl für statische Notwendigkeit mutwillig spottend, ins Immaterielle, Zeichenhafte übergehen. Die Transparenz des durchbrochenen Mauerwerks und die kunstvolle Regie des von oben einfallenden Lichts korrespondieren mit dem Geschmack an Transzendenz. Indem die Baumeister jener Zeit die Materie vergeistigen, machen sie das Unfassbare fasslich, das Überirdische irdisch, das Geistige sinnlich. Wenn sich dieser Eindruck noch heute einstellt, musste er für die Menschen im späten Mittelalter umso sinnfälliger gewesen sein. Der so verarbeitete Stein und der so konstituierte Raum werden zu Zeichen eines anderen Ortes und zum Abbild eines anderen, himmlischen Bauwerks; das steil einfallende und gebrochene Licht wird zum gebündelten und gelenkten göttlichen Licht. Mathematische Grundriss-Spekulationen und die Verbindung der Lichtmetaphysik mit Zahlenmystik unterstützen das zeichenhafte Verständnis von Architektur, deren Botschaft trotz der komplex verschlüsselten und keineswegs einheitlichen Symbolik und trotz für heutige Begriffe überzogener Rationalisierung unmittelbar verständlich sein sollte. Man versuchte, die Architektur wie alle anderen Sprachen zu läutern wie ein Metall, wie die Alchimie es zu klären gedachte, wie eine eigentlich edle Flüssigkeit. Man wollte ihr unvermeidliches und vielschichtiges Bedeuten nicht zum Verstummen, aber doch unter Kontrolle bringen. Sprache sollte durchsichtig sein, um die Wahrheit durchscheinen zu lassen. Alle Eintrübungen durch das Material und die Sinnlichkeit mussten in größtmögliche Transparenz aufgelöst werden. Der spätmittelalterlichen Auffassung vom Universum als semiotischer Prozess korrespondiert die Auffassung des Menschen als Zeichen. Noch William Shakespeare, der über das offizielle wie das obskure Wissen der Epoche gleichermaßen als Stoff verfügte, ermahnte, beim Menschen nicht zu vergessen, »was am mindesten zu bezweifeln: sein gläsern Element«. Allen anderen Sprachen voran sollte die Architektur das Gläsernwerden der Schöpfung im Sinne der Theodizee garantieren.
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Mystische und rationale Erfahrung schließen einander nicht aus. Die Glasfenster sind nicht nur durchlässig für das transzendente Licht, sondern auch Träger für das Wort Gottes. Dem heutigen Besucher gotischer Kathedralen und Kapellen bleiben die von Heinrich Heine apostrophierten »bunten Fenster« meist nur als auratische Diaphanien und metaphysische Stimmungsträger in Erinnerung: das Veilchenblau von Chartres oder das violette Trance-Erlebnis in der Pariser SainteChapelle. Längst ist die unergründliche Mystik mittelalterlicher Glasfenster vom kultivierten Publikum verinnerlicht. Schon vor über einem halben Jahrhundert bezeugte das Prousts Beschreibung des opalisierenden Lichts der Kirche von Balbec. Als man um 1970 das ebenfalls längst literarisierte Blau der Westfenster von Chartres durch eine Reinigung auf klärte, um den vermuteten Originalzustand des 12. Jahrhunderts wiederherzustellen, ging ein Aufschrei der Empörung durch die Pariser Öffentlichkeit. Das mittelalterliche Glasfenster hatte geheimnisvoll zu bleiben und möglichst so schummerig und unleserlich zu sein wie seine heutigen Imitationen, die tatsächlich nichts als Stimmungsdämmer verbreiten. Wie heikel das Thema noch heute ist, bewies der Tumult, als 2006 die Fenster Gerhard Richters für den Kölner Dom dem augenblicklich gespaltenen Publikum vorgestellt wurden. Das von Reformatoren immer wieder erlassene Bilderverbot ist Ausdruck der realisierten Unmöglichkeit, Transparenz grundsätzlich und anhaltend zu erreichen. Immer wieder trüben sich die Folien ein, verwischt sich die Bedeutung, wird Sinn vordergründig und erregt Anstoß. Diese Problematik quälte nicht erst den christlichen, sondern schon den jüdischen Geist. Mohammed verbot alle Bilder, die Schatten werfen und begründete so die kalligraphische Oberflächengestaltung der islamischen Architektur, deren Räumlichkeit durch die alles überziehende Schrift in Fläche verwandelt wird. Das Mauerwerk scheint eher für die Schrift da zu sein als umgekehrt. Exzesse sind nicht erst mit den Buddha-Zerstörungen in Bamian, Afghanistan, der Zertrümmerung der Lehm-Moscheen im Sudan, der assyrischer Statuen im Irak sowie historischer Stäten in Syrien durch Dschihaddisten zu verzeichnen. Der Reformator Andreas Karlstadt, der das alttestamentarische Bilderverbot im Rahmen radikalisierter Bibelauslegung wörtlich verstand, ließ 1521 in Wittenberg alle Heiligenbilder verbrennen, 1566 entbrannte in den Niederlanden ein wahrer Ausrottungsfeldzug gegen kirchliches Inventar – eine Barbarei, die freilich das unvergleichliche Erlebnis nackter, monochromer Kirchenräume ermöglichte, deren Faszination Piet Saenredam ein ganzes Malerleben nicht losließ, was freilich auch finanzielle Gründe gehabt hat, da sich die Kirchen-Porträts gut verkaufen ließen und in zunehmender Zahl eigens in Auftrag gegeben wurden. (21) Einige der trotz Bilderverbots gleichwohl tätigen bildenden Künstler versuchten die Auflagen dadurch zu unterlaufen, dass sie die bildhafte Darstellung der Schrift annäherten und deren Autorität über das Bild selbst zum Thema machten. Auch entstand eine wahre Flut von solchen Bildern, deren Sujet die Vernichtung von Bildern war: Man malte antike Bilderstürme, römische Soldaten, die Tempel besiegter Völker zertrümmern, den Boden mit umgeworfenen Statuen wie mit Leichen bedeckend. Besondere Konjunktur hatte der babylonische Turm, den man auf der einen Seite schon zerfallen sieht, während auf der anderen noch emsig an ihm gebaut wird. Eine beredte und formalisierte Zeichenwelt wird gegen die dramatische Szenerie ausgespielt. Bilder, obwohl von Sensationen strotzend, sollen wie Bücher ge-
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lesen werden, als Texte, welche die sinnenverwirrende Vieldeutigkeit des Bildes durch die eindeutige, pessimistische Botschaft der Schrift zu heilen versprechen. Damals in hohem Ansehen stehende Maler wie der Niederländer van Heemskerk mussten, um dem immer neuen Verdacht der sündhaften Verbildlichung zu entgehen, den Bildinhalt mit immer verschlüsselteren, anspielungsreicheren Mitteln in Rhetorik zu transformieren suchen. (22) Sie nahmen paradoxerweise zu immer weniger lesbaren Codes Zuflucht, um die Lesbarkeit als Waffe gegen das sündige Bild zu retten. In der krisenhaften Epoche der Reformationen und Bilderstürme manifestiert sich besonders deutlich die bleibende Abhängigkeit vom Schriftcharakter der abendländisch-christlichen Kultur, die historische Prägung durch eine Buchreligion und der fortgesetzte Glaube an die Lesbarkeit der Welt und die Widersprüchlichkeit, mit der an diesem Glauben festgehalten wurde. Der Sprachbegriff der Renaissance war der Klarheit und der Sublimierung verpflichtet geblieben, wenngleich sich die Mittel änderten, diese zu erreichen. Die Transparenz löst sich vom Bild des Jenseits und wird standortabhängig, als Raumdurchdringung, als Kunst der Perspektive. Zu den Elementen des mittelalterlichen Sprachkosmos, dem Wort Gottes und der Natur, tritt verstärkt die antike Gelehrsamkeit hinzu, addieren sich die überlieferten, lesbaren Zeugnisse der Weisen des Altertums. »Es gibt keinen Unterschied zwischen jenen sichtbaren Zeichen, die Gott auf der Oberfläche der Erde gesetzt hat, um uns deren innere Geheimnisse erkennen zu lassen, und den lesbaren Worten, die die Bibel oder die Weisen der Antike, die durch ein göttliches Licht erleuchtet worden sind, in ihren Büchern, die die Überlieferung gerettet hat, niedergelegt haben. Die Beziehung zu den Texten ist von gleicher Natur wie die Beziehung zu den Dingen; hier wie da nimmt man Zeichen auf. Aber Gott hat die Natur zur Ausübung unserer Weisheit nur mit zu entziffernden Figuren besät […], während die Menschen der Antike bereits Interpretationen gegeben haben, die wir nur zu sammeln brauchen.«
Bei den Zeichen handelt es sich um einen »Schatz zweiten Grades«, »der zu den Bezeichnungen der Natur zurückverweist, die ihrerseits das Feingold der Dinge selbst bezeichnen«. »Die Wahrheit all dieser Zeichen, ob sie nun die Natur durchqueren oder sich auf Pergament in den Bibliotheken aneinanderreihen, ist überall die gleiche. Sie ist ebenso archaisch wie die Institution Gott.« (23) In diesem erweiterten linguistischen Horizont bedurfte es der sich von der Theologie emanzipierenden Wissenschaft, um die Geheimnisse der Zeichen zu ergründen, die Hermeneutik der Natur und die Weisheit der Überlieferung gleichermaßen zu nutzen. Das im Quattrocento erwachende Interesse am Altertum, das die Aufmerksamkeit der Intellektuellen, vor allem humanistischer Kreise in Italien, auf die klassischen Monumente und Ruinen im eigenen Land und im vorderen Orient lenkte, war nicht zuletzt auch ein Interesse an der Schrift der Alten. Obelisken und Tempelwände fand man mit rätselhaften Schriftzeichen übersät, von denen die klassische Literatur in geheimnisvoller Weise sprach wie von einer heiligen Schrift, die den Ursprüngen, den Weltgeheimnissen, dem Göttlichen selbst noch sehr nahe war.
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Architektur und Geistesgeschichte »Die Ähnlichkeit war die unsichtbare Form dessen, was aus der Tiefe der Welt die Dinge sichtbar machte. Damit aber jene Form ihrerseits bis zum Licht kommt, muss eine sichtbare Gestalt sie aus ihrer tiefen Unsichtbarkeit zerren. Deshalb ist das Gesicht der Welt mit Wappen, Charakteren, Chiffren, dunklen Worten, oder, wie Turner sagte, mit ›Hieroglyphen‹ überdeckt. Der Raum der unmittelbaren Ähnlichkeiten wird zum großen offenen Buch. Es starrt von Schriftzeichen.«
Die sichtbaren Zeichen müssen die unsichtbaren Ähnlichkeiten verkünden. Die Gräser sagen dem neugierigen Arzt, welche Heilkräfte in ihnen wohnen. Und die Sprachen werden vor dem Hintergrund jener ursprünglichen Ähnlichkeiten verstanden. »Was Gott in der Welt niedergelegt hat, sind geschriebene Worte.« Einer verbreiteten Überzeugung nach traute man den Hieroglypen der Ägypter gerade wegen ihrer Dunkelheit zu, dass sie eine die Natur erhellende Urweisheit enthielten, die es zu entschlüsseln galt. Die allegorische Schreibweise schien dafür am besten geeignet. Kunst konnte so das verlorene Band zur Urwahrheit wiederherstellen. (24) Die von antiken Autoren inspirierten Spekulationen über die Natur der Hieroglyphen fanden in einer 1419 wiederaufgetauchten Schrift ihre Bestätigung, den »Hieroglyphica des Horapollon«, die zwischen dem 2. und dem 4. Jahrhundert n. Chr. entstanden sein soll und deren Autor angeblich Ägypter war. Diese Schrift wirkte anregend auf das Studium der Hieroglyphen, mehr noch jedoch ermunterte sie zur Nachahmung der Methode des Schreibens in enigmatischen Bildzeichen mehr oder weniger freier Erfindung. Künstlergelehrte wie Alberti begannen statt mit Buchstaben mit Vorliebe mit Dingbildern, in Bilderrätseln zu schreiben, um der Komplexität ihrer Ideen Ausdruck und Nachdruck zu verleihen. Sie erreichten damit, dass deren Rezeption zur Entzifferung eines Rätsels und deren Kommunikation zu einem exklusiven Sport wurde. Man dachte sich nicht nur die Innendekoration der Paläste, sondern die ganze Stadt als Bilderrätsel. (25) Man schätzte den Rebus seiner von Zeit und Kultur unabhängigen Verständlichkeit wegen: Man vermeide Übersetzungsprobleme und könne sicherstellen, dass man wie die Ägypter noch Jahrtausende nach ihrem Tode, von Menschen, die ihre Sprache nicht mehr beherrschen würden, gelesen werden könne. So schrieb Alberti, dass die Zeichenschrift der Ägypter eine Schrift sei, die stets verständlich bleibe und in der ganzen Welt von gelehrten Männern, denen allein man die ehrwürdigsten Dinge mitteilen dürfe, leicht ausgelegt werden könne. Man sah keinen Widerspruch zwischen dem Argument einer von Zeit und Ort unabhängigen Verständlichkeit und dem Umstand, dass das verschlüsselte Schreiben in Bilderrätseln den Sprachkosmos vollends undurchdringlich machte. Man erreichte eine Wiederbelebung des hermetischen und vor Verständnis schützenden Geheimschriftenwesens mit Ideogrammen, Piktogrammen, Anagrammen, dem Gebrauch von Emblemen, fremdländischen Zeichen, linkszügigem Schreiben, kabbalistischer Zahlenmystik, mit Anleihen bei der antiken Mythologie, mittelalterlicher Pflanzen- und Tiersymbolik, Alchimie usw. Kurioserweise tat man etwas, das schon die alten Ägypter getan hatten und was die Anfangserfolge bei der Entzifferung der Hieroglyphenschrift ins Stocken geraten ließ, bis man endlich von der Vorstellung abließ, damals müsse man stets ernsthaft gewesen sein und eigentlich gesprochen haben, und die Freiheit fand, die überlieferten Schriftfragmente als verrätselte Geheimschriften mit spielerischem Charakter zu identifizieren, als ebendas, was man selber zu tun liebte.
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Die Vermutung, dass in den Hieroglyphen alte Weisheiten auf bewahrt seien, leitet sich vielleicht nur von der Beobachtung her, dass Bilderrätsel wie alles Wunderliche und Befremdende erheblich besser im Gedächtnis bleiben, als das gewohnte und eingängige geschriebene Wort. Es handelt sich auch nicht primär um Frömmigkeit, wenn Alberti von der »natürlichen Theologie« der hieroglyphischen Schrift spricht und wenn auf die Nähe zu göttlichen Ursprüngen hingewiesen wird. Das ästhetische Bekenntnis zum Hieratischen der Form war zunächst einmal der sakralen Interpretation günstig und kam der Selbstsakralisierung der Ausnahmekünstler und ihrer aristokratischen Auftraggeber entgegen. Hinter solchen pragmatischen Argumenten stehen mondäner Stilwille und der Profilierungsdrang des »modernen«, des individualistischen Künstlers, der auf dem Markt konkurrieren und sich interessant machen muss. Es entsprach der gängigen Vorstellung, wenn man annahm, die ägyptischen Priester hätten etwas dem Denken Gottes Entsprechendes schaffen wollen, der das Wissen aller Dinge als die einfache und feste Form der Sache selbst besitzt. Hieroglyphen sind so getreues Abbild der göttlichen Ideen und unentbehrlich für den Menschen bei seinem unzulänglichen Versuch, dem göttlichen Wissen nachzueifern. Begünstigt wurde diese Annahme von einer formalen Vorstellung, der zufolge das Göttliche oder Heilige dunkel und rätselhaft bleiben musste. Die in erfindungsreicher Emblematik nachempfundene Hieroglyphik, die Kunst der Devisen und des Concetto fanden ihren bis heute sichtbaren Niederschlag auf den Fassaden der Kirchen und Paläste, die ebenso wie Wände und Decken, Säulen und Triumphbögen in Fresken integrierte Bilderschriften zieren sollten. Mit der Renaissance war aber eine Entwicklung forciert worden, in deren Verlauf, wie Foucault resümierte, das Sprachuniversum immer vielschichtiger wurde, und die auf ihr Ende hindrängte und eine Umkehr als etwas Unvermeidliches aus sich selbst hervorbringen musste. Das immer engmaschigere Geflecht von aufeinander verweisenden Elementen aus pseudoägyptischer Hieroglyphik, griechischer Mythologie und christlicher Bildersprache, archäologischen Hypothesen, bibelexegetischen Ansätzen und theologischen Spekulationen ist am Ausgang der Renaissance kaum noch zu überblicken. (26) Dennoch will man zunächst noch nicht auf die akkumulierten Errungenschaften verzichten, zumal die Komplexität selbst als Form vor allem Verstehen eigene Aussagekraft gewonnen hatte. Verdunkelung des Inhalts und Suggestion von Inhalt durch Rätselhaftigkeit werden im Barock ästhetisch überaus geschätzt, und die Theologie der Gegenreformation kam dem bereitwillig entgegen und machte sich diese Raffinesse als Aura von Geist und kirchlicher Autorität zunutze. Im Zuge dieser Entwicklung gewinnen künstlerische Äußerungen und Artefakte generell Sprachcharakter, weil nahezu jedes Ding oder Phänomen mit geeigneten Mitteln zum Sprechen gebracht werden kann. Die Assoziation von Inquisition, hochnotpeinlichem Verhör und gewaltsam erzwungenem Geständnis wird dabei gern in Kauf genommen. Die allen möglichen Qualen ausgesetzten Gefangenen in den Folterkellern eines Allessandro Magnasco befördern die Erwartung an Kunst, einen tieferen Sinn auszusagen, zu gestehen oder zu verraten. Jedes Ding wird zu einem anderen, kann zum Schlüssel zu entlegenen Bereichen verborgenen Wissens werden, als dessen Emblem oder Allegorie es verehrungswürdig wird, ob es will oder nicht.
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Wiederholte Versuche, die verwirrende Fülle von Verweisungen und Codes zu systematisieren, haben regelmäßig nicht zur Reduktion des Zeichenvorrates geführt, sondern ihn nur vergrößert und die Unübersichtlichkeit nur verstärkt. Das Projekt, die signifikanten Hinweise von Zeichen auf andere Zeichen lexikalisch zu sammeln, wurde schon deshalb vereitelt, weil man nicht umhinkonnte, dieses Lexikon als Sammlung kosmischer Weisheit zu überschätzen. Unter den Händen eines Giulio Camillo Delminio wird schließlich alles zur Signatur für alles. Damit wird jede Relation umkehrbar, werden alle Verweise austauschbar. Auf der Natur, verstanden als göttliche Schrift, türmen sich – ein wahrhaft babylonisches Bauwerk – Schicht um Schicht wie fossile Ablagerungen zahllose abgeleitete Sprachen, die sich im Laufe der Geschichte angesammelt haben, wie Foucault schrieb. Aus diesem ringsum von undurchdringlichem Chaos umgebenen Sprachkosmos, der sich in seiner Überkomplexität gegen die Welt abschließt, führt kein Weg mehr hinaus. Diese Ausweglosigkeit wurde früh bemerkt, doch lange Zeit zunächst keineswegs bedauert. Da die paradiesische Transparenz einer einstigen Identität von Dingen und Bedeutungen zur Strafe des sündigen und verblendeten Menschen unwiederbringlich dahin ist, fand man, dass sich der Wahrheit am ehesten noch die esoterischen Diskurse annähern könnten. In einer sinnlich nicht überschaubaren und auch gedanklich nicht als Einheit erfassbaren Welt müssen die Einzelteile, die Bruchstücke, in die das Zeichengebäude zerfällt, jedes einzeln und für sich einstehen für die Einheit. Ebenso wie die einzelnen Worte aus dem Text herausstarren, so lösen sich die formalen Elemente der architektonischen Bauform aus ihrem nicht mehr erfassbaren Kontext der Raumstruktur und sprechen den Betrachter direkt an. Die Art und Weise, wie Architektur in einer solchen Lage spricht, mag der ähnlich vorgestellt worden sein, wie Literatur spricht, zumal man sich zur der Charakterisierung ihrer Sprechweise gern der Architektur als Metapher bediente. Die barocke Formensprache sprengt die geschlossene Form, »die sich so vermessen als Griechentempel hatte behaupten wollen«, hatte Benjamin geschrieben. (27) Was Walter Benjamin über die Literatur gesagt hat, dass dem Fragment, dem eines metaphysischen Zusammenhangs verlustig gegangenen Einzelteil, dem Bedeutungsrest des Bruchstücks, vielleicht allein schon durch die Tatsache der Vereinzelung eine besondere Kraft zuwächst, dass es zugleich auch etwas Drohendes erhält, dasselbe mag man auch für die Architektur gelten lassen haben. Denn mehr als barocke Literatur »spricht« barocke Architektur nicht in gemessener und abgeklärter Weise, auch nicht um zu erhellen, sondern eher in der Art der Überwältigung und Gefangennahme, auf maßlose und überschwängliche, auf geschwätzige, unzusammenhängende, zuweilen auch auf verstörende und immer auf ungefragte Weise. Es handelt sich um eine Sprache, die eher auf rhetorische Wucht zählt, als sich auf das verständige Argument zu verlassen, und die mit aller Macht beeindrucken will. »Es ist eine Art von Berauschung, mit der die Barockarchitektur […] den Sinn erfüllt. Eine dumpfe Totalempfindung, man kann das Objekt nicht fassen, formlos möchte man sich hingeben an das Unendliche.« (28) Die Rehabilitierung des in einer langen Wirkungsgeschichte eines verabsolutierten Klassizismus vernachlässigten und unverstanden gebliebenen Barock durch Wölfflin setzt freilich bereits das Verständnis der romantischen Hermeneutik voraus, die den einseitig von Rationalität besetzten Raum für die Dialektik von Vernunft und Irrationalem, Einsicht und Vorurteil erst wieder zurückerobern und
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öffnen hatte müssen. Denn eben hieran hatte die klassizistische Ästhetik Anstoß genommen, an der Redseligkeit, Geschwätzigkeit und Aufdringlichkeit der barocken Form, die sie als »dumpfen Überschwang« und Maßlosigkeit disqualifizierte. Der in allem Formenüberschwang, aller Ausuferung und bei allen Frakturen gleichwohl konsistente Ausdruck lässt sich in den Stilkategorien der »edlen Einfalt und stillen Größe« nicht fassen. Im romantisch geschärften Rückblick wird erkennbar: Der barocke Gestaltungswille ist von dem Erlahmen der einstigen Zuversicht gezeichnet, hinter allen Zeichen stünde eine sich allmählich restituierende Klarheit, in deren Licht die Bedeutungen und die Dinge dereinst wieder kongruent würden. Die Hoffnung macht der Kapitulation vor der Ambivalenz und Vieldeutigkeit Platz. Wo sich Ähnlichkeiten abzeichnen, sind es bloße Chimären. In der Kluft, die sich zwischen Zeichen und Wirklichkeit auftut, nisten sich Zweifel und Angst ein. In ihrer Ambivalenz spiegeln die Bedeutungen die Gegebenheiten in der Natur und in der menschlichen Seele, die sich eindeutiger rationaler und moralischer Verortung und Kategorisierung nicht fügen. Die komplexe geometrische Struktur verschachtelter, ineinander geschobener Räume macht es schwer, ja unmöglich, die Raumform zu identifizieren, das Zentrum zu ermitteln, Fluchtpunkte zu finden. Die Zentralperspektive versagt. Die bequeme Distanz zu den Dingen ist aufgehoben, der Betrachter fühlt sich dem Gegenstand stets zu nahe, um das Gebilde überblicken und als Ganzes erfassen zu können, so dass er sich seines Standorts im Raum nicht sicher ist. Das Bauwerk sprengt stets den Rahmen. Die Architektur wird kunstvoll verkompliziert. Die bewussten Konturen ihrer Sprache werden aufgeweicht, so dass Unterschwelliges, Unbewusstes mitschwingen kann. (29) Den Zweck der Sprache sieht man nicht allein darin, wie es Hegel formulierte, Vorbewusstes restlos in Bewusstes zu überführen, Dunkelheit aufzuhellen, Nichtidentisches in Identität zu überführen, Unmittelbarkeit aufzuheben, Distanz zu schaffen. Was Hegel als Dialektik des namengebenden Bewusstseins entfaltete und als Übergang vom Reich der Bilder ins Reich der Begriffe bezeichnet hat, was wiederum eine Fortsetzung fand in Freuds Bewegung vom Traum zum Erwachen, vom Es zum Ich, wird nicht als einsinniger Vorgang verstanden. Barocke Architektursprache scheint, wo die begrenzte, konturierte Form zur Auflösung neigt, sich gleichsam danach sehnt, sich zu verlieren in ein bewegtes, stoffliches Chaos, diesen Weg zurückgehen zu wollen oder ihn zumindest zu verweben mit dem umgekehrten Weg zur Bildsprache des Traums. Jedoch nicht vordergründig um die Klarheit zu verwirren, sondern um die Möglichkeit einer der Komplexität gewachsenen Interpretation nicht durch voreiliges Drängen auf Klarheit zu verbauen. Die steinernen Gesellen im Hain von Bomarzo säumen den Weg des wachen Bewusstseins zurück zum Reich der Bilder und des Traumes, ohne mit dem schlechten Gewissen zu drohen. Der Waldboden ist mit steinernen Zeichen bedeckt, in denen die Natur selbst von ihren Geheimnissen zu sprechen scheint, vornehmlich von solchen, die christliche Frömmigkeit und rigide Sittsamkeit in die Unterwelt verbannt wissen wollte. Die Figuren muten an wie Verkörperungen des Unbewussten, verdrängter Wünsche und Ängste. Unförmige, überdimensionale, monströse Fabelwesen, Riesen und Nymphen, scheinen der Unterwelt zu entstammen und noch kaum ganz ans Licht gekommen zu sein; zum Teil scheinen sie von etwas festgehalten oder gerade verschlungen zu werden, oder sie suggerieren,
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einmal vor langer Zeit aber nicht vollständig freigelegt worden zu sein, vielleicht auch erst an der Luft erstarrt. »Sie erscheinen als Abbilder unterirdischer Mächte, die, sonst amorph, sich beim Zutagetreten in diesen Formen auskristallisierten. Man vermutet unterhalb ihrer sichtbaren, aber reglosen Partien noch weitere wesentliche, vielleicht noch unerstarrt, lebendig und in Bewegung befindlich. Darum ist jenes Antlitz mit dem aufgerissenen Rachen, durch das man eintreten soll, um darin Platz zu nehmen, so bedrohlich: Weil der übrige Leib noch im Felsen steckt, Inkarnation des Felsens ist.« (30) Aufklärung und Desorientierung, Erklärung und Überwältigung, Ordnung und Überfülle wirken zusammen und greifen ineinander, auf eine Weise freilich, die aus klassizistischer Sicht als unverhältnismäßig empfunden wird, als Wirkung ohne Ursache, als Illusion, als angestrengtes Bemühen, ein Vakuum zu füllen und ein Schweigen zu übertönen, auf das man jedoch durch die allzu deutliche Anstrengung erst aufmerksam wird. Gegen den kommensurablen Sinn wird ein Überfluss an Sinn aufgeboten. Die Anstrengungen, die im Zeichen der Klarheit unternommen werden, drohen selbst den Erfolg zu vereiteln. Dass dies auch eine Qualität sein kann, nämlich die, Uneindeutigkeit und Ungewissheit auszuhalten, ja der Gewissheit nicht zu bedürfen, musste erst wiederentdeckt werden.
B 3. Um eine Geschichte der Konzeptionen von Architektur als Sprache zu rekonstruieren, bietet es sich an, die Art und Weise aufzugreifen, wie Foucault in seiner Archäologie des Wissens eine Aufeinanderfolge von Epistemen konstatiert, innerhalb deren innenraumhafter Totalität die Menschen zu denken gewohnt und gezwungen waren, bis sie in eine andere Episteme hinüberwechselten, ohne dass dieser Wechsel absehbar gewesen wäre. Man befindet sich in Foucaults Ideengeschichte immer in einer epistemologischen Einheit, die in sich abgeschlossen ist und kein Jenseits kennt. Nur im Rückblick lassen sich Vorboten von Absterbungsund Reifungsprozessen ausmachen, die den Wechsel latent vorbereiten. Die Epochen stoßen, so wie in einer zyklischen Zeitvorstellung die Jahre, stumpf aneinander, ohne durch eine lineare Entwicklung verbunden zu sein, wie eine Art von Zeit-Monaden. Das Zeitalter der Rationalität oder der »Klassik«, wie Foucault es nennt, und das in dessen Geschichte das Zentrum bildet, ist plötzlich da. Es ist beherrscht von der Vision der Klarheit einer vollendeten Vernunft im Sinne einer stabilen Ordnung, eines beruhigten Diskurses. Der war bereits in Sicht in dem Maße, wie sich Übersättigung breitmachte, da das Unsagbare allzu beredt und gleichförmig beschworen wurde und allzuviel von seiner Unsagbarkeit die Rede war. Nachdem die barocke Hoffnung einer Kongruenz von Sprache, Bildern und Wirklichkeit als Wiederherstellung einer ursprünglichen Einheit ihre Überzeugungskraft eingebüßt hat und dem frivolen Spiel mit der Ambivalenz und der Vieldeutigkeit der Zeichen gewichen ist, ist es nur noch ein kleiner Schritt, den Dingen die Masken abzuziehen und die Chimären obskurer Ähnlichkeiten als Hirngespinste abzutun. Philosophie, Künste und Wissenschaften arbeiten gemeinsam an einem Reinigungsprozess. Die Sprache wird aus diesem Prozess, der an den Aufklärungsprozess der Alchimisten erinnert und mit diesem auch wohl einiges methodisch und
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nicht nur metaphorisch gemein hat, als neutrales Mittel hervorgehen, als durchsichtiges Medium, frei von Schlacken und Verunreinigungen. Diesem Prozess wird die Sprache und werden mit ihr die Künste ihre klassische Würde wieder verdanken, die ihnen am Ende der Renaissance abhandengekommen war, ein hochgestecktes Ziel, für das auch ein hoher Preis gerechtfertigt schien. Das Aufklärungsdenken entwickelt das Projekt einer allgemeinen Wissenschaft der Ordnung aller Dinge, in welcher der unendlich expandierende Kommentar der Welt der Renaissance endlich abgeschlossen und dessen barocke Ausdehnung endlich gestoppt werden kann. Die Zeichen, bis dahin selbst Teil der Welt, werden nunmehr zu von ihr getrennten, neutralen Mitteln, mit denen das Ordnen der Dinge geschieht. Bis dahin war das Zeichen passiv. Es »wartet schweigend das Kommen desjenigen ab, der es erkennen kann«. Nunmehr wartet das Zeichen nicht mehr stumm auf seinen Sprecher, sondern bildet sich erst im Akt der Erkenntnis. Die Zeichen verlieren ihre rätselhafte Dichte und werden zu einem transparenten Raster. (31) Das Zeichenuniversum wird neu kategorisiert. Man unterscheidet natürliche von willkürlichen Zeichen. Die willkürlichen, durch Übereinkunft gefundenen, von sich aus nichtssagenden Zeichen, werden als höherwertige Form der Sprache betrachtet, die zur vollkommenen Erfassung der Natur besser geeignet seien. Als natürliches ist das Zeichen nur ein den Dingen entnommenes Element und damit partikular und dem Subjekt vorgeschrieben, unbequem, rigide, verstockt. Der Geist kann eines solchen Zeichens nicht recht Herr werden. Der Ehrgeiz geht dahin, alle natürlichen Zeichen durch konventionelle zu ersetzen oder in solche zu überführen. Zum Ideal und Vorbild für Sprache generell reüssiert die rein artifizielle Sprache der Mathematik. Sie ist nach pragmatischen Gesichtspunkten konstruiert, einfach, leicht zu erinnern und auf eine gewünschte Zahl von Elementen anwendbar, teilbar und zusammensetzbar und von starkem Konsens getragen. Sie erfüllt somit die Anforderungen an eine Idealsprache, so wie sie Condillac formulierte. Das Sprachideal der Barockzeit war ein anderes gewesen. Foucault bringt den Unterschied der Sprachauffassungen auf den Begriff: »Das Wesen der Sprache ging wie mit einer stummen Hartnäckigkeit dem, was man in ihr lesen konnte, und den Wörtern voraus, mit denen man sie widerklingen ließ.« Im aufgeklärten Zeitalter aber kehrt sich die Relation um. »Das Wissen hat nicht mehr das alte Wort an den unbekannten Orten, an denen es verborgen sein kann, zu entsanden, sondern muß eine Sprache herstellen, die wohlgestalt ist, d.h. daß sie analysierend und kombinierend, wirklich die Sprache des Rechnens (la langue des calculs) ist.« (32) Die Reorganisation der Sprache als ein arbiträres System geschichtsloser und von sich aus noch nichts bedeutender Zeichen wurde nicht nur der Entwicklung der Wissenschaften förderlich erachtet, sondern hat auch auf die Architekturtheorie abgefärbt. Nach der maßgeblichen Auffassung von Destutt de Tracy ließ sich jede Wissenschaft auf eine eigene Sprache reduzieren. Und der Fortschritt einer jeden Wissenschaft hing erheblich von der Beschaffenheit der ihr zugrundeliegenden Sprache ab. Für Durand sollte dieser Grundsatz nicht nur für die Botanik, die Chemie, die Medizin oder die Geographie gelten, sondern auch für die Architektur. Nicht nur für die bereits etablierten Wissenschaften müsse man eine eigene Sprache finden, sondern für alle Lebensbereiche, sofern man den Wunsch habe, sie vernunftgemäß zu organisieren. So war es Durands Ziel, die Regeln der Architektur auf eine nachprüf bare Basis zu stellen, um sie von Irrtümern, Idolen und
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Verwirrungen durch Religion und Tradition und allerlei unreflektierten Interessen freizuhalten. (33) Durand plädierte zu diesem Zweck für eine rein konventionelle Architektursprache. Er sah den Weg zur Vervollkommnung der Architektur in der gänzlichen Befreiung ihrer Symbolik von allen bloß natürlichen Wurzeln. Er strebte für die Architektur eine Systematik an, für die man die gleiche Sorgfalt walten lassen sollte, wie sie Lavoisier für die Chemie aufgewandt hatte. Die Natur sollte ihm zufolge vollständig analysiert, auseinandergenommen und im System der Nomenklatur als rationale Schöpfung wieder zusammengesetzt werden. Nicht anders habe man mit der Architektur zu verfahren, wenn man mit ihrer Hilfe eine rationale Welt erbauen oder die Vernunft bewohnbar machen wolle. Die Aufwertung der konventionellen, verabredeten Zeichen im Aufklärungsdenken geht einher mit der systematischen und historischen Aufwertung der alphabetischen Schrift, die den hieroglyphischen und symbolisch-bildhaften Schriften moralisch und praktisch überlegen angesehen wird. Sie gilt als der Endpunkt einer Evolution, die mit der Bilderschrift beginnt und nur noch durch die phonetische Notation als höchste Stufe der sprachlichen Vernunft überboten werden kann. Auf diesem Niveau sollte die Architektursprache konzipiert werden. Die Hieroglyphik galt dieser Philosophie zufolge als Medium eines esoterischen Wissens, als Instrument, das einer Priesterkaste dazu diente, die Gelehrsamkeit dem Volk vorzuenthalten und als Monopol und als Grundlage der Macht zu hüten. In ihr sei der eigentliche Zweck von Sprache, nämlich die Kommunikation, ins Gegenteil pervertiert. Von der alphabetischen Schrift dagegen dachte man, dass ihr ein allgemein zugängliches Wissen entsprach, man hielt sie für den Fortschritt offen und der Aufklärung günstig. Rousseau und Warburton dehnten ihren Argwohn sogar auf jegliche Schrift aus, weil ihr stets die Tendenz innewohne, sich von der allgemeinen gesprochenen Sprache abzuspalten. Noch bei Hegel ist die Schrift jene Selbstvergessenheit, jene Entäußerung, das Gegenteil des verinnerlichenden Gedächtnisses, der »Erinnerung«, welche die Geschichte des Geistes eröffnet. In ihren nicht-phonetischen Momenten übt Schrift Verrat am Volk und am Leben. Sie verkörpert das Todesprinzip des Seins. Mit seiner Dialektik von notwendiger Veräußerung, als Voraussetzung dafür, zu sich selbst zu kommen, hat Hegel zwar das Denken als ein Zeichen produzierendes Gedächtnis charakterisiert und damit die Schrift rehabilitiert. Es ist aber nur die Buchstabenschrift, die den idealistischen Kriterien standhält. Die Buchstabenschrift gilt auch ihm als die dem Geist am nächsten verwandte, die vor der Stimme verschwindet und damit die ideelle Innerlichkeit der lautlichen Signifikanten respektiert. Sie ist in diesem Sinn die »Aufhebung« aller anderen Schriften. Rousseaus Überlegungen zur Sprache resultieren aus einem vitalen Interesse an Klarheit. Wie alle auf Utopien der Kommunikation gestellten Projekte des 18. und 19. Jahrhunderts sind sie von dem Wunsch des Aufklärungsdenkens angetrieben, die ganze Welt, Institutionen, Sprache, den Menschen für den spontanen Blick wieder durchsichtig werden zu lassen. Rousseaus Werk ist Zeugnis einer ungeheuren Anstrengung, die leidvolle Erfahrung mit einer Welt der Missgunst, der Zurückweisungen, der Behinderung, der Missverständnisse, der Maskierungen und Verleumdungen theoretisch und literarisch zu bewältigen, bis zu seinem letzten monologischen Werk, das die Bilanz zieht, das die Berührung mit dem Kontinent der Menschen unmöglich ist.
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Rousseau antwortete zunächst auf seine Erfahrungen mit einem Delirium vollkommener Kommunikation, die das Wort meidet: Die glückliche Gemeinschaft von Clarens, deren wunderbare Verständigung er in seinem Briefroman »Die neue Heloise« geschildert hat, begnügt sich bei ihrem empfindsamen Seelenverkehr mit flüchtigen Gesten und tiefen Blicken, denn die Sprache habe die Menschen einander entfremdet und in Maskeraden gebannt, und die Rückkehr in das Paradies der Unmittelbarkeit konnte nur auf dem Vehikel immaterieller, natürlicher Zeichen erfolgen. Worte zirkulieren allzu rasch als störende Fremdkörper in der angestrebten reinen Unmittelbarkeit. Ironischerweise wird das Verlangen nach einer zeichenlosen Kommunikation selbst zur Ursache für neue Missverständnisse. Es werden gerade solche Zeichen jenseits der Sprache sein, heimliche Blicke, verstohlenes Lächeln, die Rousseaus Verschwörungsängsten Nahrung geben. Das Ideal, das hinter die Sprache und ihr Verhängnis zurückführen soll, heißt Transparenz. Rousseau selbst wollte in seinen »Bekenntnissen« durch rückhaltlose Offenheit das Beispiel für solche Durchsichtigkeit eines Menschen geben. »Alle Welt soll in meinem Herzen lesen.« Aber wie soll diese paradiesische Post der gegenseitigen Offenbarungen und Herzensergießungen literarisch möglich sein, in einem Medium, das auf Sprache angewiesen ist, wenn schon gesprochene Worte, erst recht geschriebene wie Furien in den Seelenverkehr der Menschen fahren und ihn verwirren. Schon im Innern der Schrift wartet das Projekt auf sein eigenes Scheitern. Während Rousseau unermüdlich seine Bereitschaft betont, aus der Schrift zu desertieren, um die Menschen in aufrichtigster Liebe zu umarmen, glaubt er von außen nur Feindseligkeit zu erfahren, die ihn wiederum auf die Schrift angewiesen macht, um den Kontakt zur Umwelt zu halten und in letzter Instanz die Gerechtigkeit Gottes anzurufen. Der Satz »Nichts ist mir so unähnlich wie ich selbst« mag diesen unentrinnbaren Widerspruch auf den Punkt bringen. Starobinski hat es unternommen, Rousseaus Werk auf dieses Paradox hin zu entziffern. (34) Die gegenreformatorische Theologie hatte in diesem sich über drei Jahrhunderte erstreckenden Diskurs nicht zurückstehen wollen und eine Hierarchie und Evolution der Sprachen nach Maßgabe ihrer Nähe zum Wort Gottes selbst etabliert. Das Hebräische, das Griechische, Latein und die Nationalsprachen bilden eine Dekadenzleiter, in die sich das zuletzt entdeckte Chinesisch nicht leicht einfügen wollte. Um Hinweise auf den Rang zu bekommen, den das Chinesische in dieser Hierarchie einnehmen könne, wurde eine jesuitische Abordnung entsandt, um in China ein Forschungsinstitut zu gründen und dieser Frage auf den Grund zu gehen. (35) Die Erörterung dieser Frage blieb nicht auf theologische Kreise und nicht auf Sprache als Gegenstand beschränkt. Die einen fanden, während die Griechen streng rationalistisch vorgegangen seien, man bei den Chinesen die Phantasie beteiligt fände. Anderen, wie etwa Superville, fehlte es der chinesischen Sprache ebenso wie ihrer Architektur an Stabilität und Würde. Für wieder andere zeigte sich in der Architektur ebenso wie in anderen Manifestationen der chinesischen Kultur eine Physiognomie, die durch angenehme geschwungene Linienführung gekennzeichnet sei, durch ihre Farbigkeit aber das ästhetische Gefühl verletze. Eine denkwürdige Koinzidenz liegt in dem Umstand, dass, als das Projekt ausgerufen wurde, eine Universalsprache zu entwickeln, die in ihrem Lexikon die Totalität der Welt aufnehmen und zugleich eine Enzyklopädie darstellen sollte, aus-
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gerechnet das Chinesische erneut in den Blick kam. Einer der radikalsten und am weitesten gediehenen Versuche dieser Art, die Leibnizsche »Charakteristik«, war der Entwurf einer Sprache, die aus einfachsten Formen zusammengesetzt sein sollte, welche die Quellen der Dinge sind. Er dachte sie sich als ein System von Zeichen, mit dessen Hilfe alle Objekte und ihre Beziehungen, Gesetze u.a. abgebildet werden sollten, und zwar derart, dass den Dingen bestimmte Zeichen und den Beziehungen zwischen den Dingen bestimmte Beziehungen zwischen diesen Zeichen entsprechen sollten. Diese characteristica universalis sollte die Grundlage einer scientia universalis, einer Universalwissenschaft, sein. Anders als Descartes, Wilkins oder Athanasius Kircher, die ähnliche Systeme entwarfen, sah Leibniz ausgerechnet in der chinesischen Schrift das Modell für eine philosophische, der Geschichte enthobene Sprache, die von mimetischen Ursprüngen frei und ein in höchstem Maße künstliches Gebilde sein sollte. (36) Abgesehen von diesem ihrem chinesischen Abenteuer hat sich die alteuropäische Tradition auf das körperlose Denken fixiert und hielt Schrift für etwas Äußerliches und etwas, das unentbehrlich ist, aber vom Ziel abdriften lässt. Für Derrida ist die philosophische Tradition damit in Widerspruch zu sich selbst geraten, da sie selbst nur als Schrift existieren konnte. Für Luhmann sollte die Hierarchie der psychischen Fähigkeiten mit den reflektierenden Funktionen des Verstandes an der Spitze umgekehrt werden, um der sinnlichen Wahrnehmung den ihr gebührenden Rang zuzuerkennen. Er spricht von der evolutionären Priorität des Wahrnehmens gegenüber dem Denken: »Zunächst muss ein Lebewesen ein Zentralnervensystem ausbilden und die Externalisierung und Konstruktion einer Außenwelt leisten, und erst dann kann es auf Grund von Problemen mit der Außenwelt Selbstreferenz artikulieren.« Wir müssen uns das Erstaunen darüber bewahren, dass man überhaupt etwas ›draußen‹ sehen kann, obwohl man nur ›drinnen‹ sehen kann. »Wenn dies gewährleistet ist, wird auch die Selbstwahrnehmung zu einer Kopie der Form externer Wahrnehmung und wird analog, nämlich wie die Beobachtung eines Gegenstandes prozessiert.« (37) Ganz überwiegend ist das Bewusstsein mit Wahrnehmen beschäftigt. Wir wissen zwar, dass die Außenwelt eine Konstruktion des Gehirns ist und nur durch das Bewusstsein so behandelt wird, als ob sie die Realität da draußen wäre, die wahrgenommene Welt mithin nichts anderes als die Gesamtheit der Eigenleistungen neurophysiologischer Operationen ist, die dies bezeugende Information aber nicht ins Gehirn gelangt, sondern restlos und spurlos weggefiltert wird, um die Welt als Welt erscheinen zu lassen. Das Bewusstsein liefert uns ein Sinnkorrelat der eigenen Operationen. In füreinander unzugänglichen neurophysiologischen und bewussten Operationen wird »gedankenlos« Weltgewissheit erzeugt, »die es sodann ermöglicht, in diese Welt selbsterzeugte Ungewissheiten, Merkwürdigkeiten, Überraschungen einzubauen«. Auch schließt das kontinuierlich mitlaufende Wahrnehmen keineswegs aus, dass das Bewusstsein sich »mit Gedanken möbliert« und mit deren Hilfe beobachtet, was es wahrnimmt. Die Tradition hatte zudem die im Wahrnehmen erzeugten Objekte ontologisiert, indem sie davon ausging, dass die Welt so ist, wie sie sich der Wahrnehmung zeigt, und dann begrifflich erschlossen und auf bereitet werden könne. Konsequenz dieser Welt ist ein Begriff von Kunst, der es ihr erlaubt, Welt in ihren perfekten Idealformen wahrnehmbar zu machen und sie so mit zusätz-
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lichen Informationsqualitäten auszustatten. Kunst kann die Externalisierung der Welt durch das Bewusstsein zwar nicht rückgängig machen, kann aber Formen anbieten, die imaginierte Wahrnehmung einschließen, als »selbstveranlasste Wahrnehmungssimulation«. (38) Luhmann versucht, Klarheit zu schaffen. Wenn unser Bewusstsein Wahrnehmungen unter dem Eindruck der Unmittelbarkeit verarbeitet, dann müssen wir uns darüber klar sein, dass diese Unmittelbarkeit nichts Ursprüngliches ist, sondern ein Eindruck, der aus den hochkomplexen Leistungen des Gehirns resultiert. Wir müssen auch wissen, dass Wahrnehmung stark durch Sprache vorstrukturiert wird. Und man muss ausschließen, was man herkömmlich annahm, Kommunikation könne Wahrnehmung ausdrücken, also die Wahrnehmung anderer zugänglich machen. Kommunikation und Wahrnehmung des monadenhaften Einzelnen sind aber getrennte Vorgänge. Die im Kunstwerk arrangierten Selektionen lassen sich begreifen als Bedingung dafür, dass Wahrnehmbares für Kommunikation verfügbar wird. Da Bewusstseinssysteme füreinander wechselseitig unzugänglich sind, ergibt sich die Frage, wie auf einem solchen Unterbau Kommunikation überhaupt möglich ist. Das eine Individuum kann nicht im andern wahrnehmen oder denken. Da ist schon fraglich, wie man den anderen überhaupt als Anderen erkennt. Da aber jedes System durch operative Schließung eine Außenseite produziert und damit eine Differenz zwischen System und Umwelt, kann auf eine Innenseite geschlossen werden. Dieser Schluss kann zwar nicht auf Wahrheit überprüft werden, wohl aber auf Konsistenz. Weil die operative Schließung des anderen sein Inneres verschließt, bleibt er als Rätsel attraktiv. Deshalb gerät man in die Versuchung, eigene Annahmen in der Kommunikation zu testen. Diese Erfindungen müssen eine hohe Auffälligkeit im Wahrnehmungsfeld besitzen, durch Besonderheiten, die nur als Ausdrucksverhalten erklärlich sind, und durch konventionelle Zeichen, durch Schrift. Mit Luhmann lässt sich das Transparenz-Postulat der Aufklärung auf diese Weise als ein ästhetisches Problem reformulieren und in das der Erhöhung der Kommunikabilität überführen. Genau darauf hatte man es abgesehen. (39) Eine Architektur auf bauend auf elementaren geometrische Formen als eine dem Aufklärungsdenken entsprechende Architektur erfüllt auch die Bedingung der Attraktivität durch Extravaganz. Die Idee eines festen und variierbaren Formbestandes war zwar nicht neu – die Theorie konnte anknüpfen an alte Traditionen in Handwerk und Rhetorik –, neu war allerdings die Lösung der Formen aus ihrem traditionellen Praxis-Kontext zugunsten einer Verwendung als neutrale Zeichen für vorgegebene Zwecke. Der Begriff der Komposition tritt an die Stelle der Ikonologie. Für Durand bedeutet Komposition auch auf dem Gebiet der Architektur fortan nichts anderes als Kombination, Kombinatorik. Der szientifische Ehrgeiz richtete sich auf ein Optimum von Kombinationsmöglichkeiten bei einer möglichst geringen Anzahl axiomatischer Grundformen und Regeln. Angestrebt wurde eine Konzeption der Architektur im Geiste der Methode, der Systematik, um die architektonische Praxis aus ihrer Abhängigkeit von Autorität und tradierten Vorstellungen und den Dialekten der Völker und Regionen zu befreien, die dafür verantwortlich sind, dass die Menschen sich nicht verständigen können, weil sie trotz gleicher Natur verschiedene Sprachen sprechen, und sich so gegenseitig daran hindern, zu den einfachen und ewigen Gesetzen der Natur zurückzufinden.
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Diese Bemühungen verliefen parallel zu der Suche der Linguisten nach den universalen Regeln der Sprache. Durand hat sich denn auch auf diese Parallele berufen. Architektur galt ihm als rationale Formensprache, deren regionale und historische Ausformungen zwar im Einzelnen den Variablen Klima, Sitte und Konvention unterworfen sei, die aber unterhalb dieser oberflächlichen Varianten auf eine Systematik universeller Gesetzmäßigkeiten zurückgeführt werden könne. Die Sprache der Architektur sollte universal sein. Sie sollte nicht kulturell begrenzten Charakter haben, sondern von der ganzen Menschheit, auf der ganzen Welt und auch von späteren Epochen noch verstanden werden können. Sie sollte in ihrer universalen Gültigkeit auf dem Niveau der euklidischen Geometrie und der Newtonschen Physik stehen.
B 4. Die elementaren Formen wollte man mit den historischen Anfängen identifizieren und mit einer fortschrittlichen Architektursprache zugleich zu den reinen Anfängen zurückkehren. Die unhistorisch motivierte Vorliebe für geometrische Grundformen vertrug sich aufs Beste mit der gleichzeitigen Verehrung der wiederentdeckten Formensprache der griechischen und römischen Antike. Zum einen deshalb, weil man in ihr bereits eine Reduktion auf elementare Grundformen und kombinatorische Formensprache vorexerziert sah. Zum andern konnte man die Kanonisierung des Schönen an Hand dieser Vorbilder verknüpfen mit der Wiederbelebung imperialer Größe. In der Architekturtheorie stand das Partikulare trotz des Universalismus der Ideen der Aufklärung noch stärker im Vordergrund, als in der Literatur und der Philosophie, da die Monumente immer auch nationalen Ruhm symbolisierten. In der begierig übernommenen und beflissenen nachgeahmten Antike suchte ein Zeitalter nach sich selbst. Die Aufklärung ist, wenn auch mit Optimismus, ein Auf bruch in eine ungeschützte Welt. Und es ist nur zu verständlich, dass eine Epoche, die vorwärts schaute in eine visionäre Zukunft, ebenso pathetisch zurückblickte, in eine mystische Vergangenheit, dass sie Schritte ins Unbekannte nicht ohne Rückversicherung wagen wollte und in der Vergangenheit Vergewisserung suchte für das Ziel einer Reise, deren Ende abstrakt und sein Erreichen nicht absehbar war. Was ist das Gedächtnis anderes als Rückschau aus Sorge um die Zukunft. (40) Es war nicht nur eine Zeit, die Angelesenes und ungeprüft Wiedergekäutes durch Empirie ersetzt wissen wollte, es war auch eine Zeit der Kriege und Bürgerkriege, der Finanzkrisen und der Revolutionen, und man klammerte sich an die Hoffnung, dass in der Bewegung, in die alles geraten war, letztlich die Vernunft triumphieren und Aberglauben, Ungerechtigkeit, Ignoranz, Unfreiheit besiegen möge, dass die Ideale der Enzyklopädisten einen neuen Weltzustand erzeugen möchten. Die Oberschicht des Absolutismus war fasziniert vom intellektuellen Anspruch der Vernunftdiktatur und überzeugt, diese könnte sich mit dem Glanz ihrer Welt und ihrem Führungsanspruch vertragen. Aber die Verklärung der römischen Tugenden und die Wiederentdeckung der Natur musste diese Lebensordnung zugleich unterhöhlen, da deren Begründung lediglich in der Geschichte lag.
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Die Begeisterung fand zu gegebenem Anlass immer wieder schlichte und affirmative Formulierungen: So wie von den Römern vor allem die Bauwerke zeugen, ohne deren Ruinen, nach den Worten A.G. Kersaints (1791) die Nachrichten über sie dem Bereich der Fabel angehören würden, so sollen Bauwerke für alle Zeiten von dem Sieg der Freiheit und der Vernunft künden. Seinen Entwurf für ein Nationalpalais Frankreichs präsentierte er, indem er schloss: »So hat der Vortragende gedacht, daß das Nationalpalais eines Volkes, welches seine Freiheit auf die ewigen Gesetze des Menschen stützt, aus unzerstörbarem Material errichtet sein müsse, ebenso wie die Vernunft, deren Heiligtum das Bauwerk sein soll.« Spätere Geschlechter sollten sich anhand der Ruinen auch einen Reim auf diese Epoche machen können. So sehr wie das Material dieses Monuments, das man auf den Ruinen der Bastille zu errichten plante, imprägniert sein sollte gegen Abnutzung und Verfall, ebenso haltbar sollte seine Sprache sein. (41) Zur Frage der besonderen sprachlichen Beschaffenheit der Architektur im Vergleich zu anderen Sprachen bediente sich auch Addison eines verbreiteten Argumentationsschemas, wenn er die Zeichensysteme der verschiedenen Künste miteinander verglich. Vor der Literatur und der Malerei gab er der Architektur und der Skulptur den Vorzug, weil man jene nur ansehen, diese aber auch ertasten bzw. gar begehen könne. Die Zeichen der Architektur seien darum natürlicher und universell, damit auch sicherer und zuverlässiger. Für Jean-Baptiste Say (1767-1832) war die Sprache der Architektur bereits deshalb weniger kulturspezifisch, weil sie unmittelbar zu den Augen spreche und derart vorbei an den gesellschaftlichen Institutionen direkt zur Seele des Menschen vordringen könne, die als die natürliche, kulturunspezifische Essenz des Menschen angesehen wurde und als Garant für die mögliche allgemeine Vernünftigkeit des Denkens und Handelns. Marie Joseph de Gérando (1772-1842) bemerkte in seinem Traktat »Des signes et de l’art de penser«: »Die Zeichen der Würde und Majestät beruhen nicht auf Institutionen. Es verdankt sich auch keiner Konvention, daß große und einfache Formen in uns den Eindruck der Besinnung hervorrufen, uns Respekt abnötigen und uns zur Meditation anregen. Sie besitzen unmittelbare Korrespondenzen zu den Strukturen unserer Sinneswahrnehmungen, wodurch sie unsere Einbildungskraft stark beschäftigen.« (42) Denis Diderot gibt im 4. Kapitel seines »Essais sur la peinture«, wo er über die Analogien spricht, die offensichtlich zwischen den Dingen und unseren Gefühlen und Handlungsmotiven bestehen, auch architektonische Beispiele: »Es ist so, daß die Ruinen ein Ort großer Gefahr sind und daß die Gräber eine Art von Zufluchtsort sind; daß das Leben eine Reise, das Grab der Ort der Ruhe ist […] Es wäre widersinnig, den Reisenden an den Gräbern vorbeiziehen und zwischen den Ruinen anhalten zu lassen.« (43) Es finden sich in jener Zeit Feststellungen zuhauf, die angesichts neuer monumentaler Bauwerke von der Erleichterung darüber sprechen, dass bestimmte einfache und eindringliche Formen auf direktem Wege und ohne Ansehen der Kultur und der Zeit Ideen vermitteln, sozusagen auf natürliche Weise. So schreibt Wren über die Maxentiusbasilika: »Keine Sprache, keine Poesie könne den Frieden und was er dem Menschen bedeutet, besser beschreiben, als die Gestalt dieses Tempels sie auf natürliche Weise darstellt, ohne die unverlässliche Zuhilfenahme der immer auch heuchlerischen Allegorie.« (44) In der Frage, wie die Autonomie des Einzelnen mit der Notwendigkeit eines Ganzen vereinbar sei, rekurrierte man auf die Entsprechung zwischen äußeren
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Gegebenheiten und inneren Repräsentanzen. Gefühle und Motive konnten zwar tragisch in Konflikt treten mit rationalen Erwägungen, etwa Mitleid mit der Staatsräson, man neigte aber zu der Ansicht, dass der Konflikt eine Frage mangelnder Genauigkeit und Sorgfalt sei. Constantin François de Chassebœuf, Comte de Volney (1757 – 1820) sprach eine verbreitete Überzeugung aus, wenn er behauptete, dass alle fehlende soziale Übereinstimmung und Zustimmung letztlich eine Frage der Rezeption sei, und dass die Menschen vernünftigen Vorschlägen, Erwägungen, Entscheidungen, Urteilen, Gesetzen, Regeln unweigerlich zustimmen würden, wenn sie nur klar und deutlich sähen, wie die Dinge wirklich liegen. Auch die Bemerkung von Leibniz, der seine Zeitgenossen belehrte, dass sie in der besten aller Welten lebten und dass es nur gelte, die richtige Einstellung, den richtigen, das Ganze umfassenden Blickwinkel zu finden, zielt in diese Richtung. Voltaire, der in seinem »Candide« solche Worte seinem Pangloss in den Mund legt, nahm derlei ironisch aufs Korn. Die Ironie hätte auch die zeitgenössische Architekturtheorie treffen können, der zufolge Architektur helfen sollte, diesen enttäuschungsresistenten Realitäts-Opportunismus zu erlernen, dem nur Traditionen, falsche Autoritäten, Gewohnheiten, Idole, Vorurteile im Wege stünden, die den Blick wie einen Schleier trüben. (45) Bei einem Architekten wie Ledoux, der mit seinen Ideen den Grundzügen des Diskurses entsprach, treten zugleich Widersprüche und Unstimmigkeiten zutage. In seinen Entwürfen verrät sich das Unbewusste der rationalistischen Konzeption. Er arbeitet mit mehreren Sprachschichten. Ihn interessierten zunächst – in Anlehnung an die »architecture parlante«, solche Bauwerke, wie sie bereits bei römischen Triumphzügen verwendet wurden und wie sie anlässlich feierlicher Umzüge und Massenkundgebungen mit der Revolution wieder in Mode gekommen waren, – eine solche Architektur, deren Zweckbestimmung an ihrer Gestalt unmittelbar verständlich ablesbar sein sollte. Durch Vereinfachung und Monumentalisierung sollte das jeweilige Gebäude »sprechender«, auf Anhieb verständlicher, charakteristischer werden. Dabei ging es ihm nicht um einen Zuwachs an Sprachlichkeit. Vielmehr wollte er das ornamentale Geplapper energisch reduziert wissen und durch kräftiges Schweigen grundiert. Das Äußere sollte dem Inhalt klar entsprechen, der Zweck des jeweiligen Gebäudes sollte an seiner Gestalt so direkt ablesbar sein. Die französischen Meister hatten Einfluss auch auf Italiener wie Selva und Pistocchi. Die Wohn- und Landhäuser von Friedrich Gilly, Christian Frederik Hansen, Peter Joseph Krahe oder Peter Speeth sind stereometrische Körper, deren mathematische Gradlinigkeit und nackte Entschiedenheit den klassizistischen Fassadenschmuck deutlich herunterspielen. Christian Ludwig Stieglitz z.B. schrieb 1788, der Baukünstler solle den »Charakter« des Gebäudes beachten, der Kirche ein feierliches, dem Palast ein großartiges, dem Wohnhaus ein gefälliges und dem Gefängnis ein schauderndes Ansehen geben. (46) Ledoux war einen Schritt weiter gegangen, indem er seine Gebäude den »sprechenden Reliquiaren« annäherte, deren Form der Fassung auf den Inhalt der Reliquie schließen lässt. Ledoux versuchte gewissermaßen, aus dem Material des jeweiligen Metiers eine Hieroglyphe zu destillieren und dessen Wesen piktographisch zu fassen. In seiner idealen Industriestadt Arc-et-Senans hat z.B. das Haus des Flurwächters als Fassade die Rundform eines durchschnittenen Baumstammes.
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Ledoux griff bei seiner Formgebung nicht auf das bewährte Fassadenvokabular zurück, er bediente sich nicht der gängigen Architektursprache, sondern sein Prinzip war, durch eine drastische Reduzierung des alltäglichen Wortschwalls, den seiner Überzeugung nach niemand mehr zur Kenntnis nahm, sich und der Architektur wieder Gehör zu verschaffen, durch Rückgriff auf ein simples Alphabet, sozusagen das Kleine ABC von »Kreis, Quadrat und Dreieck«. Ledoux sah sich also nicht genötigt, eine Sprachnot zu beheben, das Lexikon der Architektursprache zu erweitern, um etwas bis dahin Ungesagtem zum Ausdruck zu verhelfen, sondern er tat so, als müsste man, um überhaupt noch etwas Wahres zum Ausdruck bringen zu können, ja um überhaupt vernommen werden, alles Gerede zum Verstummen bringen und mit einem unartikulierten Stammeln, dem elementaren Durchbrechen der Stille ganz neu beginnen. (47) Im Idealfall sollten sämtliche Metiers und Institutionen einer Gesellschaft in der Stadt ihr architektonisches Gegenstück haben, diese sollte zur gebauten Enzyklopädie werden, eine Landschaft der Produktion, eine gebaute und begehbare Naturgeschichte. Diese Bildersprache impliziert ein pädagogisches, aufklärerisches Moment, indem sie den Betrachtern und Bewohnern dieser Stadtlandschaft die Sinnhaftigkeit und Unausweichlichkeit alles Vernünftigen dem Anspruch nach für jedermann verständlich und klar vor Augen führte. (48) Nicolas Ledoux begriff seine Arbeit im Einklang mit den Ideen der Aufklärung. Wenn ihm seine Zeitgenossen aber nicht nur beipflichteten, sondern seine Architektur zur Mode avancierte, dürften noch andere Motive mitgespielt haben. Ledouxs proklamierter Ansicht zufolge sollte das jeweilige Gebäude für jedermann lesbar sein. Darüber hinaus sollte die Grundhaltung der Epoche, der Kult der Vernunft, in ihrer Gestaltung exemplarisch evident werden. Dass sich der Zeitgeschmack einer aristokratischen Geisteselite mit Ledouxs Extravaganz schmückte, hat aber wohl auch Gründe, die jener Programmatik zuwiderlaufen und dürfte mit der Konkurrenz einer Elite um den letzten Schrei zu tun haben. Wenn sich hier der Eindruck von Redundanz einstellt, dann mag das ein beabsichtigter Effekt sein, wobei der Begriff aber hier in einer vom alltäglichen Sprachgebrauch abweichenden Weise zu verstehen ist. Nicht allein geht es darum, Überforderung durch allzu geballte Information zu vermeiden und die Adaption der Gebrauchsanweisung, welche die architektonische Form selbst darstellt, nicht zu gefährden. Es geht auch darum, den Bewohnern und Benutzern der Bauten und Raumstrukturen das Denken zu erleichtern, ihnen vorzuschreiben, was sie zu denken haben. Wir haben es mit einem Redundanz-Begriff zu tun, wie ihn Emile Benveniste in seiner Sprachanalyse verwendete, indem er nicht von der aktiven, deiktischen Rede ausgeht, die »ich« sagt, sondern von der Fähigkeit zur passiven Rede. Die Unterscheidung von passiver und aktiver Rede hatte dieser an dem seiner Meinung nach entscheidenden Unterschied zwischen Mensch und Tier erläutert. Tiere, z.B. Bienen, können ›Informationen‹ wie der Mensch kommunizieren. Kommunikation ist also nicht etwas rein Menschliches. Bienen, die den Standort (beispielsweise einer Wiese) signalisiert bekommen haben, können ihn jedoch nicht weitergeben, bevor sie nicht selbst am fraglichen Ort waren. Die passive Rede ist ihnen fremd. Im Unterschied zu den Bienen können Menschen einmal Gehörtes weitergeben, ohne direkten Kontakt mit dem Inhalt der Aussage gehabt zu haben. Als Mensch gibt man sogar überwiegend ›Gehörtes‹ weiter, was Heidegger mit
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seiner Kritik am Gerede des »man« für die Ursache des allgemeinen seinsvergessenen Durchwurstelns hielt. (49) Eine ›Pragmatik‹, die im Sinne Deleuzes und Guattaris auf Benvenistes Sprachanalyse zurückgriffe, würde die Möglichkeit von Redundanz nicht innerhalb des Sprechens ansiedeln, sondern schon vorher, im Beschneiden des Aktualisierungsvorgangs. Damit wird Sprachkritik zu einer politischen Analyse, die nach der Restriktion von Sprache vor dem Sprechen fragt. »Der Befehl ist an sich eine Redundanz der Handlung und der Aussage. Zeitungen, Nachrichten gehen mit Redundanz vor, da sie uns sagen, was man denken, festhalten und erwarten ›muss‹.« Deleuze und Guattari machen nebenbei darauf aufmerksam, dass die Fähigkeit, das Gerede des »man« kommunikativ zu ermöglichen, vergleichbar sei mit der Leistung des Schizophrenen, der ›Stimmen hört‹. Er hört weniger konkrete Einzelsprecher, als dass er Möglichkeiten von Diskursinseln belauscht: »Das Gerede ist die Möglichkeit, alles zu verstehen ohne vorgängige Zueignung der Sache.« (50) Etienne Boullées Architekturentwürfe traten in einer in ähnlichem Sinne redundanten Weise mit dem Anspruch auf, eine deutlich vernehmbare Sprache zu sprechen, eine allzu beredt gewordene und sich in selbstgefälliges und nichtiges Geplänkel verlierende Architektur wieder gewichtig sprechen zu machen, um ein Einvernehmen zu erzielen. Sprache der Architektur meint hier nicht die verständigen, tautologischen Abstraktionen einer angeblich im Kern bereits vernünftigen Welt, sondern eher die donnernde Stimme eines Demagogen, der das chaotische Stimmengewirr übertönt, um die Erinnerung an die schicksalhaften Mächte in einer sinnleer gewordenen Welt heraufzubeschwören, die Erinnerung an die expressive und offenbarende Stimme, mit der die Architektur, wie man meinte, einst gesprochen hatte. Allein schon die alles bisher überbietenden Dimensionen zielen auf einen überwältigenden Eindruck ab. (51) Boullée sah für seine Monumentalarchitektur und den intendierten »ganz großen Eindruck«, der unmittelbar die Seele erfüllen sollte, das Vorbild in der barocken Kolossalarchitektur, vor deren Exemplaren es, wie Goethe sich ausdrückte, »dem schwachen Geschmäckler ewig schwindlig wird«. Mit seinen megalomanischen Bauwerken suchte Boullée die Erhabenheit barocker Architektur, die selbst mit antiker Größe konkurrieren wollte, mit dem Blick auf ebenjene heroisierte Antike noch zu überbieten. Sie zielen auf Berauschung und Einschüchterung des Betrachters ab und scheuen keine Übertreibung, um die Distanz aufzuheben und dem Betrachter angesichts der sich vor ihm auftürmenden Steingebirge den Atem zu nehmen. Die abstrakte und auf Elementarformen reduzierte Geometrie entbehrt jeglichen Bezugs auf das menschliche Maß, degradiert das Individuum zur Nebensache, ja zu einem kaum wahrnehmbaren Nichts, darin den politischen Ideen der altorientalischen Despotien weit ähnlicher als den griechischen oder römischen Republiken, die den Aufklärern und Revolutionären als Maßstab dienten. Regelmäßige Körper galten auch ihm als besonders geeignet, dem Menschen eine klare Vorstellung von einer Sache zu geben. Boullée schreibt: »Warum lässt sich die Gestalt der regelmäßigen Körper erfassen? Weil ihre Formen einfach, ihre Flächen regelmäßig sind und diese sich wiederholen. Wie stark die Erscheinung eines Gegenstandes auf uns wirkt, hängt von seiner klaren Erfassbarkeit ab; was nun die regelmäßigen Körper für uns besonders hervorhebt, ist die Tatsache, dass ihre Regelmäßigkeit und
B. Die Sprache der Monumente, der Skandal des Ornaments Symmetrie Inbegriff der Ordnung sind und dass in der Ordnung wiederum die Klarheit selbst liegt […] Die Regelmäßigkeit begründet die Schönheit eines Gegenstandes, die Symmetrie eine Ordnung. […] Die Symmetrie gefällt, sagt ein großer Mann (nämlich Montesquieu), denn sie verkörpert die Klarheit; und der Geist, der ohne Unterlass zu begreifen versucht, überschaut und erfaßt ohne Mühe alles Symmetrische. Ich füge hinzu, sie gefällt, weil sie das Abbild der Ordnung und Vollkommenheit ist.« (52)
Diese Argumentation läuft auf eine Tautologie hinaus: etwas ist klar, weil es klar ist. Seine zweite Maxime betrifft die Dimensionen. »Das Bild des Großen gefällt uns in jeder Hinsicht, denn unser Wesen, immer bestrebt, sein Lebensgefühl zu steigern, möchte das ganze Universum umfangen.« Von Ledoux ist der Ausspruch überliefert, der Baumeister sei der Rivale Gottes. Und an den Werken Gottes lässt sich nicht zweifeln. Etienne-Louis Boullèe wurde zu einem der bedeutendsten Architektur-Lehrer des späten 18. Jahrhunderts und übte immense Wirkung auf studierende Zeitgenossen aus, die in der jungen Republik eine Rolle spielen sollten, wie auf nachfolgende Generationen, obwohl er von seinen Entwürfen lediglich einige repräsentative private Stadtpalais für eine illustre Klientel aus Adel und Hochfinanz realisieren konnte, trotz oder wegen der Regel- und Schrankenlosigkeit seiner Visionen. Als Mitglied der königlichen Architekturakademie war er jahrelang für das Wettbewerbsprogramm des begehrten Rompreises verantwortlich, Instrument der Auslese und stilbildende Institution zugleich. Er teilte seinen Hang zu einfachen geometrischen Formen mit den anderen »Revolutionsarchitekten«, er unterschied sich allerdings von den Bußpredigern der Antike, die die frivolen Extravaganzen des Rokokos mit der reinen Lehre austreiben wollten, ebenso wie von den braven Vertretern eines zeittypischen Elementarismus. Er missbilligte alles, was ihm in die Sackgasse einer unkreativen, sich archäologisch gebärdenden Antikennachahmung zu münden schien. Den traditionellen Kanon der Säulenordnungen lehnte er als öden Formalismus ab. Die Begeisterung über die wiederentdeckten antiken Monumente konnte er nicht teilen, er sah in ihnen nur Eintönigkeit und Banalität. Vitruv war für ihn keine unanfechtbare Autorität. Er sah ihn ihm einen peniblen Techniker, in ein rigides Regelwerk verstrickt. Er selber bekannte sich zu einer Architektur als künstlerischer, nicht als wissenschaftlicher Disziplin. Ganz zu sich selbst kommt er erst, als er sich als Frühpensionär der Baukunst ohne Bauzwang widmen kann. Die Entwürfe für öffentliche Bauaufgaben, denen kein staatlicher Auftrag zugrunde liegt, denen er sich zwischen 1781 und 1792 widmet, sind als Idealplanungen in einem Traktat für eine spätere Veröffentlichung bestimmt, der zu seinen Lebzeiten nicht mehr erscheint. Seine schriftlichen Kommentare zeigen ihn mit den aktuellen Strömungen der Philosophie bestens vertraut. Mit Burke strebt er nach dem ›sublime and beautiful‹, das in seinen Augen durch endlos erscheinende Kolonnaden und außergewöhnliche Dimensionen versinnbildlicht werden könne. Die »Metropole«, der Entwurf einer gewaltigen Kathedrale, sollte »das eindrucksvollste und größte Bild unter allen existierenden Dingen vermitteln; sie sollte, wenn dies möglich wäre, wie das Universum selbst erscheinen«. Mit dem Sensualismus und den Theorien des Erhabenen verbindet ihn sein Begriff des ›caractère‹. Schlanke, überlegte Proportionen, eine gewisse Schwerelosigkeit und ein abwechslungsreiches Spiel von Licht und Schatten charakterisieren
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für ihn beispielsweise den Herbst. Dieselben Merkmale möchte er in der Fest- und Theaterarchitektur berücksichtigt sehen. Kahle Oberflächen, lichtabsorbierende dunkle Körper und eine traurige Stimmung sind ihm Kennzeichen des Winters. Aus diesem Gedanken entwickelt er das Bild der versunkenen Architektur, der ›architecture ensevelie‹. Mit ihren niedrigen und gedrückten Proportionen soll sie in Grabmalen zum Ausdruck kommen. Das Musterbeispiel ist der Entwurf für den Justizpalast. Die blockhafte Baumasse lastet auf einem Sockel, in dem das Gefängnis untergebracht ist. In seiner Beschreibung betont Boullée, dass er auf diese Weise »das eindrucksvollste Bild des vom Gewicht der Justiz erdrückten Lasters vor Augen habe führen« wollen. Allen Ernstes propagiert er die Kugel als nicht nur mögliches, sondern als vornehmstes Thema der Architektur, bietet sie doch dem Auge eine weiche, fließende Umrisslinie und die »Schönheit der durch nichts unterbrochenen Oberfläche«. Während Boullée und Ledoux den ganzen Apparat des Klassizismus auf boten, um dessen abstraktes Formenrepertoire zum Sprechen zu bringen, setzte Lequeu – der Dritte im Bunde der »Revolutionsarchitekten« – seine Gebäude aus nichtarchitektonischen Elementen zusammen, die sich in keinem Architektur-Lexikon finden. Er bediente sich natürlicher und produzierter Elemente, die direkten, wörtlichen Bezug zum Thema der Komposition hatten. Der Kuhstall in Gestalt einer Kuh ist die simple Replik seines Inhalts, ohne jegliche architektonische Erfindung. Wenn man Architektur hier als Abbild von etwas verstehen will, dann ist sie die genaue Kopie des Originals, wenn nicht das Original selbst. Lequeus Gebäude sind nicht aus Säulen, Sockeln, Wasserspeiern, Fenstern gemacht, sondern aus den Dingen des Lebens. Sein Entwurf für eine Taverne verwendet Weinflaschen als Wasserspeier und Weinfässer als Abschluss jeder nicht rustizierten Säule. Suppenschüsseln, Salatteller und Weingläser rahmen die Fenster. Die Kuppel des Hühnerstalls hat die Krümmung eines Hühnereis. Diese Bildersprache zwingt nicht die Architektur, von sich selbst zu sprechen, vielmehr macht sie aus der Architektur eine Schrift zur Offenbarung ihrer Zweckbestimmung. Lequeu geht mit der Zerlegung des Gewohnten und der Erfindung von Neuem weiter als die Utopisten und Libertins seiner Zeit. De Sade und Fourier krempelten die Institutionen um, ließen aber die Architektur, wie sie war. Allein bei Lequeu finden wir eine wahrhaft utopische Architektur, eine authentische Neuschöpfung gemäß den Maximen der Aufklärung. Ausschweifung und Libertinage erfordern, wie Diderot bemerkte, ein aggressives Temperament. Die Zerlegung der Formen und die Neukombination von Elementen ist vergleichbar der Art, wie Archimboldo seine Porträts komponierte. In seiner Analyse dieser Porträts hat Roland Barthes die spezielle Technik herausgearbeitet, die seinen Kompositionen zugrunde liegt. (53) Die Köpfe sind aus Elementen zusammengesetzt, die zu dem jeweiligen Metier des Dargestellten gehören. Zum Beispiel sind Nahrungsmittel zu dem Gesicht wie in einem Puzzle so zusammengefügt, daß sie nicht die Küche, sondern die Teile eines Gesichts repräsentieren. So macht Archimboldo aus der Malerei eine Sprache. Es ist eine Sprache der Metaphern, der Tropen: eine Muschel steht für ein Ohr, eine Fischschule für Wasser, Feuer wird metonymisch ein brennender Kopf, die Früchte des Frühlings stehen allusivisch für Frühling. Ein Fisch, der das eine Mal für Mund steht, ein anderes Mal für Nase, arbeitet als Antaclases. Alle diese Vertretungen, Ersetzungen schaffen eine
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Enzyklopädie von Dingen, die andere Dinge repräsentieren. Sie erinnert an die didaktische Repräsentation von Dingen in Kinderbüchern. (54) Neben der mit dem Ehrentitel »Revolutionsarchitekten« belegten Trias aus Boullée, Ledoux und Lequeux gab es eine Vielzahl von Architekten, die die Aufklärungsideen auch in die Provinz trugen. Auch ihre Entwürfe sollten nicht nur dem alltäglichen Gebrauch dienen, sondern zugleich der Selbstversicherung der Möglichkeit neuer geistiger Ordnungen. Man leugnete alle Ähnlichkeiten mit der überfeinerten feudalistischen Architektur des Rokoko und brüskierte schroff die Konventionen. Bevorzugte Themen waren Riesenhallen, Ruhmestempel, Mausoleen, Grabbauten, Gefängnisse, Gerichtsgebäude, Zollhäuser, Stadttore. Selbst wo man sich zivilen Aufgaben zuwandte wie Wohnhäusern oder Gartenpavillons, kam meist etwas heraus, das eher an Strafanstalten denken ließ, als an Orte der Freude und Erholung. Der Rückgang auf Elementarformen wie Pyramide, Trapez, Quader und Halbkugel erweist sich im Rückblick als expressive experimentelle Durchgangsphase auf dem Weg zu einem domestizierten, praktikablen Klassizismus. (55) Die ›architecture parlante‹ der Revolutionsarchitekten musste aber gerade in ihrer Exaltiertheit zu ihrer Zeit einen unwiderstehlichen philosophischen Charme besessen haben. Daran, dass zeitgleich mit der sprechenden Architektur eines Ledoux und den monumentalen Steingebirgen Boullées die Ingenieurkunst mit Brücken und grazilen Hochbauten zu triumphieren begann und die Bemühungen um eine ›architecture parlante‹ nicht verdrängen konnten, lässt sich ermessen, wie sehr seinerzeit die Verknüpfung der geometrischen Grundformen mit Vernunft als selbstevidenter Sprache einem Denk-Bedürfnis oder Denkzwang entsprochen haben muss. (56) Die Architektur der Aufklärung sucht im Großen das Absolute, in dem Sinne wohl, wie Hegel die altägyptischen Pyramiden »absolute Architektur« nannte, die uns »ebenso wegen des bloß Phantastischen als wegen des Ungeheuren und Massenhaften in Verwunderung und Staunen setzt«. Die gemeinten Megalithe waren abgesehen von ihrer hinderlichen Größe oft von endlosen Galerien unzugänglicher Räume durchzogen. Sie waren offensichtlich nicht für die Menschen errichtet, noch dazu geschaffen, einem Zweck auf ökonomische Weise zu dienen. Diese Entwürfe verlassen sich nicht auf die unweigerliche aber freiwillige Zustimmung dessen, der lediglich geruhen müsse, genau hinzusehen, sondern drängen sich dem Betrachter auf. Sie konnten zum Vorbild werden für die Erwartung, den Betrachter mittels des architektonischen Eindrucks in seiner Borniertheit und Befangenheit in Vorurteilen zu erschüttern und ihn wie einen Schlafenden wachzurütteln, ihm Furcht einzujagen und ihm keinen Ausweg zu lassen. Ein solchen Anspruch mit Architektur zu verknüpfen war freilich riskant. Die Erhabenheit konnte leicht als Hochmut und Großsprecherei denunziert werden. Die »Revolutionsarchitekten« waren auch dieser Attitüde und auch ebendieses Risikos wegen in Mode. Die vornehme Gesellschaft riss sich um Entwürfe und Modelle aus ihrer Hand. Der arrogante Gestus, zu dem sie sich verleiten ließen, machte es den Kritikern leicht, in dem Pathos eine hohle Geste zu sehen. Im Falle Ledouxs, der es nicht mit der Zeichnung auf geduldigem Papier bewenden lassen musste, blieb nicht aus, dass man sich über ihn lustig machte. Der halbrunde Torbogen des von ihm entworfenen Palais Thélusson erschien einer prominenten Zeitgenossin als ein »großes Maul, das sich öffnet, um nichts zu sagen«. (57)
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Die Verbalinjurie blieb auf der Höhe des Diskurses. Sie verkennt aber die Schwierigkeit einer Verknüpfung aufklärerischen Gedankengutes mit der Umorientierung von einer normativen auf eine wirkungsbezogene Ästhetik. Bis dahin war es stets nach dem Vorbild Vitruvs um einen Kanon von Proportionen im Sinne von Angemessenheit und im Hinblick auf die Bauaufgabe gegangen. Bereits Blondel wich von seinem starren Raster architektonischer Charaktertypen ab, wenn er neben der »geheimnisvollen«, der »kühnen«, der »flachen« oder der »überfrachteten« auch von »schrecklicher« Architektur sprach und dabei stärker an die Wirkung dachte als an die Definition eines Ausdruckscharakters. Boullée bricht vollends mit der objektbezogenen Architekturtheorie. Sein Satz »Die Kunst, in der Architektur Bilder zu entwerfen, leitet sich aus der Wirkung der Körper ab« ist exemplarisch für das Pathos, mit dem die Architektur als »sinnliches Werkzeug« entdeckt wird. Sie soll Gefühle hervorrufen und zugleich der räumliche Ausdruck von Moral sein. Auch Ledouxs Experimente für ein verbindliches Programm einer ›architecture parlante‹ sind aller Exaltiertheit zum Trotz keine isolierten Unikate, sondern im Kontext einer neuen Wirkungsästhetik zu würdigen. Um eine Sprache der Architektur zu entwickeln, die dem natürlichen Recht der Vernunft machtvoll und triumphal, wie es der Vernunft angemessen wäre, zum Durchbruch verhelfen sollte, war es nicht damit getan, dass sie selbst rationalen Prinzipien gehorchte, sondern sie musste jedermann wirksam überreden, verführen, mit welchen Mitteln auch immer, zur Vernunft zu kommen, endlich Vernunft anzunehmen. Die Sprache der Architektur durfte nicht dem von Platon geforderten Ernst der begründenden und Rechenschaft ablegenden Philosophie nachgebildet sein, sondern eher der sophistischen Auffassung eines Georgias von Leontinoi von der Rede als einer »seelenbekehrenden Gewalt«. (58) Niemand komme aus Vernunft zur Vernunft, wie ein Zeitgenosse mit sichtlichem Gefallen an der Paradoxie zu bedenken gab. Es wäre ja anders auch nicht zu erklären, warum die Vernunft, obwohl sie die Natur des Menschen war, so viel Zeit brauchte, sich durchzusetzen.
B 5. Die romantische Gegenbewegung wird gemeinhin als etwas gewertet, das gegen die Aufklärungsdoktrin und den Modernisierungsfuror gerichtet war. Der Zug zur Abstraktion und zur Konventionalisierung der Zeichenwelt hatte freilich von Anbeginn das Gegenteil im Gepäck. Gegen die Auffassung, die Klarheit ungetrübter transparenter Zeichen ließe sich synthetisch produzieren, wurde schon zu Beginn eingewendet, dass man sich damit nur von jeglichem Bedeutungsgehalt und jeder Sinnhaftigkeit entferne. So kam es, dass ein gewisser Antoine Saint-Valery Seheult gegen die offizielle Meinung die Ansicht vertrat, die Architektur habe ihren tieferen Bedeutungsgehalt in der Geschichte erworben. Ihre großen Geheimnisse und ihre Poesie seien von der Barbarei der ahistorischen Verstandeskultur verschüttet worden. (59) Viollet-le-Duc brauchte diese Auffassung nur dahingehend zu präzisieren, dass der Anschluss an das Mittelalter, auf das der Blick verstellt sei, der Schlüssel für den Fortschritt der Kunst und der Menschheit darstelle. Dank der architektonischen Form spreche sie weiterhin verständlich, während sie in klassizistischer Nacktheit stumm und fremd verharre. (60)
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Die Ambition, Architektursprache als neutrales Transportmittel zu konzipieren, rief die Gegenreaktion herauf, an einem Sprachverständnis festzuhalten, demzufolge Bedeutungen in den Formen selber akkumuliert seien. Das im Aufklärungsdenken positiv interpretierte Vorhaben einer zunehmenden Instrumentalisierung der Zeichen für vorgegebene Zwecke schärfte das Bewusstsein für genuine Sprachqualitäten. Neben der Informationsübermittlung und durch den diesem Zweck geltenden Einsatz der Sprache verdeckt, teilt Sprache immer schon etwas mit, das in ihr selbst enthalten, auf bewahrt ist. Was für die einen den Gebrauchswert der Sprache als Mitteilungsmedium beeinträchtigt, stellt für die anderen einen Schatz an Erfahrungen dar. Ein Verständnis der Zeichen als neutrale Übertragungsmittel kann dieser Auffassung nach nicht zu einer Befreiung der Sprache für den menschlichen Gebrauch beitragen, sondern nur dazu führen, den letzten Rest an Bedeutung, der in der Sprache noch enthalten ist, zu tilgen und der Vergessenheit anheim zu geben und so letztlich Sprachgebrauch überhaupt zu verunmöglichen. Wenn die Sprache flach wird, dann liegt es darin, dass man auf die sprachimmanenten Bedeutungen zu hören verlernt hat. Die romantische Kritik an phantasietötender, knöcherner Rationalität findet sich in aufklärerisch gedachter Satire bereits vorweggenommen. Bei Jonathan Swift meinen die Linguisten Balnibaris, dass zu viel Sprechen nur schade. Man kürzt daher die Gespräche ab, indem man unwichtige da nicht reale Dinge wie Namen, Verben, Beiworte fortlässt. Man merzt alles aus, was Spontanität ausdrückt und reduziert die Sprache auf das Spiegelbild einer Welt der toten Gegenstände, einer Sachwelt, einer verdinglichten, atomisierten Welt, in der alle Dinge für sich stehen, ohne einen Sinn herzugeben. Am Ende kommt der konsequente balnibarische Rationalist dahin, ganz auf den Gebrauch des Wortes zu verzichten und mit einer Ladung von Gegenständen spazieren zu gehen, die ihm als Gesprächsinstrumente dienen sollen, indem er nur noch auf die jeweiligen Dinge zeigt. Eine ähnliche Konsequenz wird bei Goethe in seinem »Triumph der Empfindsamkeit« den wunderlichen Prinzen Oronaro zum Gespött machen, weil dieser die sonderbare Angewohnheit besitzt, in unzähligen Kisten und Schachteln stets eine komplette künstliche »Reise-Natur« mit sich herumtragen zu lassen. In der Metaphorik und bei den Referenzen der romantischen Kritik am gewaltsamen und willkürlichen Auseinanderreißen von Rationalem und Irrationalem dominierte der thematische Bezug auf das Mittelalter als Schatzkammer all der verlorenen und vergessenen Reichtümer, die dem »kalten Verstandesgebrauch der Sprachzeichen« entgegenzusetzen wären. Die gesamte romantische Sehnsuchtslandschaft wird überstrahlt von der gotischen Kathedrale. In ihr gibt sich der Wille und die Fähigkeit des poetischen Gemüts, die unwirtliche Außenwelt der harmonischen Innerlichkeit unterzuordnen, das mächtigste Symbol. Sie bildet die Mitte in dem Rettungsversuch einer sinnhaften Welt und in dem ästhetischen Programm einer Reorganisation alles Wirklichen in einem geschlossenen und harmonischen Bau. Sie fungiert hierbei aber nicht nur als literarisches Bild, sondern die wiederentdeckte gotische Architektur selbst wies dem Romantiker den Weg zurück in eine Zeit vor dem Sündenfall der Aufklärung, der Demütigung der Dinge und der Verknechtung der Zeichen. Goethe ließ in seinen »Wahlverwandtschaften« eine Kapelle, die ihres gotischen Zierrats mittlerweile beraubt worden war, im ursprünglichen Zustand wie-
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der herrichten, als ein »Denkmal voriger Zeiten«. In der restaurierten Kapelle ist es den »Besuchern zumute, als wäre die alte Zeit nie vergangen, als würden die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen«. Auch Hegel verehrte zu jener Zeit in der Gotik das Wahre, Ursprüngliche, Würdevolle und legitimierte über Goethes Einfluss hinaus neugotische Architekturkonzepte. (61) Der romantische Rekurs auf Geschichte als Reservoir vergessener Bedeutungen und verlorenen Sinns geht einher mit einer Wiederentdeckung der vegetabilen Natur als Vorbild menschlicher Artefakte. Die Kunst- und Sprachauffassung der Klassik hatte gerade auf die Unabhängigkeit der Architektur von natürlichen Vorbildern hingewiesen, als einen Umstand, der diese vor anderen Künsten privilegiere. Der Mangel, weniger als Malerei Natur nachahmen zu können, hatte, in Autonomie umgedeutet, den besonderen Rang der Architektur unter den Künsten mitbegründet und den Kult der geometrischen Grundformen begünstigt. Architektur brachte demnach nicht den äußeren Schein der Natur zur Nachahmung, sondern nur ihre eigenen allgegenwärtigen Gesetze, ihre wahre Natur, die mit der Vernunft als der wahren Natur des Menschen korrespondierend gedacht war. In der Romantik wurden nun im Gegenteil die unmittelbar naturmimetischen Möglichkeiten der Architektur gesucht und betont, etwa wenn sie als »Petrifikation« oder »Kristallisation« beschrieben wurde. Die erstaunlichsten Hypothesen entwickelte man über das Wesen und den Ursprung der gotischen Sakralarchitektur. In zahlreichen Ursprungstheorien wird die Kathedrale als eine in Stein umgesetzte Nachbildung von Baumalleen aufgefasst, als steinerner Wald. (62) Das tragende Motiv solcher Hypothesen ist die Suche nach Bildungsprinzipien, die einer Entwicklung der Architektur zur Beliebigkeit, zur »Charakterlosigkeit« und Ausdruckslosigkeit Einhalt gebieten könnten. In den abenteuerlichen Beweisführungen eines mimetischen Bezugs gotischer Architektur auf Naturformen, Pflanzenwuchs, den Raumeindruck von Laubdächern oder solche Konstruktionsprinzipien, die sich durch Verwendung natürlichen Baumaterials vermeintlich zwangsläufig ergeben, wird die Natur zum Garanten für jenen bedrohten Charakter der Baukunst erklärt. Alles Berechenbare, Geometrisch-Mathematische, alles bloß schematisch Reproduzierbare und ohne Einfühlung Nachplapperbare mochte man der Architektur ausgetrieben wissen. Der Stein sei selbst ein viel zu indifferentes Material, als dass er von sich aus beliebiger Gestaltung Grenzen setzen könnte. Erst seine Unterwerfung unter Vorbilder der belebten Natur vermochte ihm Bestimmtheit zu verleihen. Das Unbehagen an der Klassik schärfte den Blick für die Qualitäten dessen, was man in ihrem Namen überwunden zu haben glaubte. Entsprechend versuchte man das Alphabet der Architektur, das die Aufklärer oder Klassiker durch Reduktion auf einen Bestand elementarer geometrischer Grundformen konstruierten, nun durch die Rückführung auf lebendige Ursprünge zu gewinnen. Man versuchte, an die Stelle der geometrischen Grundformen naturmimetische Anfänge zu setzen. Wie man gemeinsame Sprachwurzeln unterschiedlicher Nationalsprachen suchte und in der Botanik die Urpflanze, so tauchte auch in der Architekturtheorie die »Urhütte« auf, die in Laugiers »Essais sur l’architecture« von 1755 bereits eine bedeutende Rolle spielt, später auch in Goethes Hymnus »Von deutscher Baukunst«, und noch Gottfried Semper 1877 wird sie zum Ausgangspunkt seiner Betrachtungen über die Architektur machen. (63) Ähnlich wie Herders Ursprache, Goethes Urpflanze und noch Darwins Urzelle bildet die Urhütte ein von nackter Notwendigkeit und den natürlichen Mitteln und
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Stoffen geprägtes Gebilde, dessen Formulierung durch alle späteren Exemplare hindurch scheint. »So wie die Sprachwurzeln ihre Geltung immer behaupten und bei allen späteren Umgestaltungen und Erweiterungen der Begriffe, die sich an sie knüpfen, der Grundform nach wieder hervortreten, wie es unmöglich ist, für einen neuen Begriff zugleich ein ganz neues Wort zu erfinden, ohne den ersten Zweck zu verfehlen, nämlich verstanden zu werden, ebenso wenig darf man diese ältesten Typen und Wurzeln der Kunstsymbolik für andere verwerfen und unberücksichtigt lassen.« (64)
So schrieb Gottfried Semper. Nicht mehr im Ziel, sondern im Ursprung finden Sprache und Architektur zusammen. In einem latent immer gegenwärtig bleibenden mythischen Grund bleibt Schrift an den Stein gebunden. Dem zu Tode erschrockenen Belsazar, der buchstäblich mit dem Feuer spielte, erschien sie als Flammenschrift an der Palastmauer. An diesem Ort und von diesem Material strömt den Schriftzeichen die Kraft apokalyptischer Prophezeiungen zu. Vom Stein gewinnt sie die Dignität der Devisen und das Geheimnis der Orakel, die Unverrückbarkeit und Intransigenz der Gebote, des Gesetzes, das »geschrieben steht«, die ewige Dauer von Grabinschriften. Frühgeschichtliche Monumente erscheinen Rosenstock-Huessy wie eine Beschriftung der Oberfläche der Erde, sozusagen eine Tätowierung ihres Leibes, eine Giganten- oder Götterschrift. (65) In der steinernen Schrift nimmt der Mensch sich zurück, um etwas vormenschlichen oder übermenschlichen Ursprungs Platz zu machen. Er legt sie nicht nieder, um sich selbst mitzuteilen, sondern um von etwas vorgängig Übermächtigem oder zumindest von etwas die spezifische Äußerung Übersteigendem zu künden. Könnte man von einer Aussage sprechen, fragt Foucault, »wenn eine Oberfläche nicht ihre Zeichen trüge, wenn sie nicht in einem sinnlich erfassbaren Element inkorporiert wäre und – wäre dies auch nur für einige Augenblicke – in einer Erinnerung oder einem Raum eine Spur hinterlassen hätte?« (66) Die Materialität der Aussage ist konstitutiv für die Aussage selbst, weil eine Aussage »einer Substanz, eines Trägers, eines Orts und eines Datums« bedarf. Sobald sich diese situativen Indizes ändern, wechselt auch die Aussage ihre Identität. Wenn Lévi-Strauss befand, alles Heilige habe seinen Ort, etwas werde überhaupt erst dadurch heilig, dass es sich auffinden ließe, berührte er vielleicht dasselbe Problem, wobei er ganz strukturalistisch fortfuhr, Beethovens Geburtshaus könnte jedes beliebige Haus gewesen sein, Hauptsache, man könne es dem Fremden zeigen. (67) »Wie soll man durch diese vielfältigen Vorkommnisse, durch diese Wiederholungen, diese Transkriptionen hindurch die Identität der Aussage feststellen?«, fragt Foucault. Dabei unterscheidet er zwischen Aussage und Äußerung. Die Äußerung ist ein einmaliges, nicht wiederholbares Ereignis, das seine Besonderheit hat, »die festgelegt und datiert ist und die man nicht reduzieren kann«. Die Aussage dagegen kann nicht auf das »reine Ereignis der Äußerung zurückgeführt werden, denn trotz ihrer Materialität kann sie wiederholt werden«. Hieraus leitet Foucault die Aufgabe ab, zu klären, durch welche Regelungen wiederholbarer Materialität die Aussage charakterisiert wird. Materiatur des Zeichens und Wiederholbarkeit der Aussage sind auch zusammengedacht, wenn Derrida fragt: »Könnte eine performative Äußerung gelingen, wenn ihre Formulierung nicht eine kodierte oder iterierbare Aussage wiederholen
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würde, mit anderen Worten: wenn die Formel, die ich ausspreche, um eine Sitzung zu eröffnen, ein Schiff oder eine Ehe vom Stapel laufen zu lassen, nicht als einem iterierbaren Muster konform identifizierbar wäre, wenn sie also nicht in gewisser Weise als ›Zitat‹ identifiziert werden könnte?« (68) Und geht nicht Judith Butler von derselben Prämisse aus, wenn sie behauptet, dass jede Anwendung eines Gesetzes, etwa im Rahmen einer Gerichtsverhandlung, »ausnahmslos« auf der Macht des Zitats beruhe – »es ist die Macht dieses Zitats, die der performativen Äußerung ihre bindende oder verleihende Kraft gibt«. (69) Eine Aussage, die rituell zelebriert wird, gewinnt performative Kraft, wie der Satz, den ein Priester bei der Trauung spricht, der nicht nur feststellt, dass zwei Menschen Mann und Frau sind, sondern macht, dass sie dies kraft seines Ausspruchs werden. Der Sprechakt-Charakter der Aussage und seine Beziehung zur Materiatur des Zeichens und die Wiederholbarkeit der Aussage, diese drei Momente bilden ein Thema, das in seiner Relevanz für Architektur kaum im Ansatz untersucht und längst nicht ausgeschöpft wurde. Romantische Sprachauffassung könnte trotzig dazu verleiten, doch an eine direkte Relation von Zeichen und Dingen zu glauben. Man muss sich aber gegenwärtig halten, wie die strukturalistische Linguistik seit Ferdinand de Saussure Sprache begreift. Sie behauptet einen logischen Vorrang des Ganzen gegenüber den Teilen und versucht, einen internen Zusammenhang von Phänomenen als Struktur zu fassen. Strukturen organisieren formal und inhaltsleer die Wirklichkeit, sie sind gegenüber den einzelnen strukturierten Elementen und konkreten Subjekten unabhängig. Die Struktur bedingt die Funktionalität der Teile nur im Verbund einer Ganzheit. Untersuchungsobjekte werden nicht für sich genommen betrachtet, da jedes einzelne Objekt überhaupt nur innerhalb eines Gesamtzusammenhangs individuierbar und betrachtbar ist und als seiend in Frage kommt. Im Fokus steht daher die Struktur, die den Objektstatus erst ermöglicht. Ein Objekt wird nicht durch Ursachenbeziehungen, nicht durch ideengeschichtliche oder andere Kontinuitäten, sondern durch seine kontextuelle Struktur erklärt, insbesondere durch Gegensatzbegriffe, die einen bestimmten Typ von Objekten bestimmbar machen und dessen Realität überhaupt erst begründen. Ein Wort etwa existiert nicht als ein Zeichen, das etwas bedeutet, sondern durch gegensätzliche Beziehungen zu anderen Elementen der Sprache; anstelle einzelner Äußerungen muss daher immer die Struktur der Sprache insgesamt untersucht werden. Entsprechend ergibt sich das Verständnis eines Objekts erst durch den Vergleich mit anderen Objekten und durch die Betrachtung seiner Stellung innerhalb ihrer Beziehungen zueinander. Die strukturalistische Methode begreift ihre Objekte nicht als an sich seiend, sondern als Wesenheiten, die kraft ihrer Einordnung in Strukturen überhaupt erst als Objekte existieren. Das Besondere auch am Lacanschen Begriff von der symbolischen Ordnung ist die Autonomisierung der Signifikantenwelt. Worte, Buchstaben, Phoneme bilden innerhalb eines symbolischen Systems (z.B. einer Sprache) aufeinander bezogen eine Welt für sich, die vorgängig nichts damit zu tun hat, was diese Elemente im Einzelnen darstellen. Lacan kann somit davon sprechen, »dass das Signifizierte unaufhörlich unter dem Signifikanten gleitet«, da ein Signifikant jeweils verschiedene Vorstellungen von Dingen untergeschoben bekommen haben kann. (70)
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Dieses Gleiten der Signifikate unter dem Signifikanten hat eine Vielstimmigkeit der Signifikate zur Folge. Feste Bezüge herrschen nur mehr innerhalb des Systems der Signifikanten. Nicht so sehr in den Signifikanten liegt ein Wert, sondern in den Differenzen, die sie aufspannen. Es kann also im Grunde nur von der »Signifikantenkette« gesprochen werden. Und jede Signifikantenkette (jeder Satz, jedes Wort) erhält somit eine vielfache Bedeutung, indem bei deren Anstimmen alle möglichen Signifikate »mitschwingen«. (71) Poesie und Kunst machen sich die prinzipielle Mehrstimmigkeit von Signifikantenketten zunutze. Die einzelnen Signifikanten haben keinen Wert für sich und bestimmen sich schon gar nicht durch das, was sie bezeichnen oder untergeschoben bekommen haben, sondern sie erhalten ihren jeweiligen Wert durch ein differentielles Verhältnis zu anderen Signifikanten. Ein Buchstabe hat nur Sinn innerhalb eines Alphabets, eines Systems anderer Buchstaben, ein Laut nur als phonematische Opposition zu anderen Lauten, ›Papa‹ besteht in konstitutiver Differenz zu ›Mama‹ usw. Wenn Zeichen nicht mehr direkt auf Gegenstände verweisen, sondern nur auf andere Zeichen, und diese ihre Bedeutung auf Grund der Stelle gewinnen, die sie innerhalb des Zeichensystems einnehmen, die Bindung zwischen Zeichen und Gegenstand nicht nur gelockert, sondern durchtrennt ist, und die Beziehung von Bedeutungen auf Realität erst vom gesamten System wiederhergestellt wird, ist es unvermeidlich, dass einzelnen Zeichen kein eindeutig bestimmter Realitätsbereich zuzuordnen ist. Positiv ausgedrückt dient die Existenz solcher freischwebenden Zeichen dazu, um für im System nicht vorgesehene Bedeutungen einzuspringen und Unschärfen einzuräumen und zu kompensieren. Sie sind für Fälle reserviert, in denen dem Nichtbedeutenden Bedeutung zugewiesen werden muss. Dies scheint auch für die Architektursprache zuzutreffen. Der Essay R. Barthes über den Eiffelturm legt den Gedanken jedenfalls nahe. Dieses als Vorhaben von vielen abgelehnte und vor seiner Fertigstellung mit Sorge betrachtete, seitdem aber aus dem Stadtbild von Paris und aus der Welt überhaupt nicht mehr wegzudenkende Monstrum existiert ohne jede Notwendigkeit, ohne Sinn und Zweck, allein aufgrund der Gewohnheit und seiner Unübersehbarkeit. Barthes behauptet nun, dass wir nicht nur nicht wissen, wozu es da ist, sondern dass wir dies auch gar nicht wissen wollen. Nicht den Turm, sondern die Frage nach seinem Nutzen halten wir für fehl am Platz. Die Bedeutung des Eiffelturms sei es gerade, dass er keine habe und dadurch jeder beliebigen Deutung offenstehe. Seine Bedeutung ist, Sprachphänomen par excellence zu sein. Da er beiden Zeichen-Geschlechtern zugleich angehöre, Signifikat und Signifikant ist, würde er in einem »Ballett der Höflichkeit« Panorama-Aussicht bieten und zugleich von jedem Ort sichtbar sein. (72) Die von de Saussure eingeführte differentielle Sprachauffassung birgt das Problem der Beliebigkeit. Etwas muss es geben, das die Signifikantenkette, unter der die Bedeutungen dahingleiten, verankert. Um Beliebigkeit der Zeichenbedeutung auszuschließen, die Sinn verunmöglichen würde, bedarf es der Anknüpfungspunkte zwischen beiden Welten, der der Zeichen und jener der Dinge. Die metonymische Kettenbildung muss an einem signifikanten Punkt unterbrochen werden, und der metaphorischen Substitution muss Einhalt geboten werden, so dass die erhaltene Kette mit einem Signifikat (einer Vorstellung von einer Sache) verbunden werden kann. Diesen Punkt der signifikanten Kette, an dem gestoppt wird, nennt Lacan den »Stepppunkt« (point de capiton). Als Beispiel für solche Fixierungen nennt er
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Architektur und Geistesgeschichte
die Mythen. Sie bieten Gewissheit. (73) Man könnte sagen, dass der Eiffelturm das Symbolsystem festnagelt.
B 6. Der romantischen Auffassung von Sprache im Allgemeinen hat Victor Hugo am Beispiel der Architektursprache im Besonderen ein literarisches Denkmal gesetzt. Dass es sich um ein literarisches Denkmal handelt, ist bereits Kern der Sache selbst, denn für Hugo ist mit der Gotik die Architekturgeschichte als Architekturgeschichte abgeschlossen und in Sprachgeschichte übergegangen, ohne dass jene die erstere je erreichen könnte. So wird sein Roman »Notre Dame de Paris« zur melancholischen Apotheose der gotischen Kathedrale. Während er einerseits das Gebäude zum eigentlichen Hauptakteur des Romans erhebt, so muss er doch die Erbschaft jener »steinernen Bücher« dem Buchdruck anvertrauen, da die Sprache der Monumente untergegangen, jene Bauwerke unwiderruflich verstummt seien. »Dieses [das Buch nämlich] wird jenes [nämlich das steinerne Buch] töten.« In der Geschichte der Architektur als Sprache, wie Hugo sie entwirft, beginnend mit Buchstaben, und sich über Silben zu Wörtern, Sätzen und ganzen Büchern entwickelnd, klingt die aufklärerische Sprachentwicklung von der Hieroglyphen- zur Buchstabenschrift ebenso an, wie romantische Ursprungstheorien: »Wenn das Gedächtnis der ersten Völker sich überlastet fühlte, wenn das Gepäck der Erinnerungen so schwer und unübersichtlich wurde, daß das nackte, flüchtige Wort in Gefahr war, unterwegs das beste davon zu verlieren, so verewigte man die Überlieferung auf die sichtbarste, dauerhafteste, natürlichste Art. Man setzte ihr steinerne Denkmäler. – Die ersten solchen Denkmäler waren rohe Felsblöcke, die das Eisen nicht berührt hatte, wie Moses sagt. Jede Schrift ist zuerst nur Alphabet, und so ist es der Baukunst auch gegangen. Man richtete einen Stein auf, und er war ein Buchstabe. Jeder Buchstabe war ein Sinnbild, und auf jedem Sinnbild ruhte eine Gruppe von Ideen wie ein Kapitell auf einer Säule. So haben es die ersten Völker auf der ganzen Erde gehalten […] Später bildete man Worte. Man setzte Stein auf Stein und verknüpfte die granitenen Silben. Der Dolmen und der Kromlech der alten Kelten, der etruskische Tumulus, der hebräische Galgal sind Worte. Manche von ihnen, besonders der Tumulus, sind Eigennamen. Wo man viele Steine und weites Land hatte, schrieb man einen Satz. Der ungeheure Steinhaufen von Karnak ist schon ein ganzes Satzgefüge. Endlich schrieb man Bücher.« (74) »Die Überlieferungen selbst hatten Symbole hervorgebracht, unter denen sie verschwanden, wie der Baumstamm unter dem Laubwerk.« Diese Symbole wurden immer verwickelter. »Kaum, daß die ursprüngliche Überlieferung sich noch in den rohen Blöcken aussprach, die gleich ihr kunstlos und nackt auf dem Erdboden ruhten. Das Symbol brauchte Bauwerke zu seiner Entfaltung, und so entwickelte sich die Baukunst Hand in Hand mit dem menschlichen Denken. Sie wurde eine tausendköpfige, tausendarmige Riesin und gab den schwankenden Symbolen eine ewige, sichtbare, greifbare Gestalt.« »Die schöpferische Idee, die den Gebäuden zugrunde lag, prägte sich auch in ihrer Form aus. Der Salomonische Tempel zum Beispiel war nicht nur der Einband des heiligen Buches, er war das heilige Buch selbst. Jede seiner konzentrischen Hallen war für die Priester das
B. Die Sprache der Monumente, der Skandal des Ornaments sichtbar gewordene ›Wort‹ […] So war die Idee im Gebäude eingeschlossen, aber die Hülle trug ihr Bild wie der Sarg der Mumie das Bild des Menschen, den er umschließt. […] So waren die Bauwerke in den ersten sechstausend Jahren der Geschichte, vom allerersten indischen Götzentempel an bis hinauf zum Kölner Dom, die großen Schriftzüge der Menschheit, und das in des Wortes vollster Bedeutung; denn nicht nur die religiösen Symbole sind darin ausgedrückt, sondern jeder menschliche Gedanke hat in diesem Riesenbuch seine Seite und sein Denkmal.«
Der entscheidende Sprung in dieser Evolution der Architektur und ihrer Sprache ist für Hugo der Übergang von der Theokratie, die noch in der Romanik ihren Ausdruck und ihr Medium fand, zur Demokratie. In der düsteren romanischen Kathedrale, die er als »die Schwester der theokratischen Bauten Ägyptens und Indiens« bezeichnet, ist die ganze Gedankenwelt jener Zeit zur Form geworden. »Man spürt überall die unumschränkte Macht, die undurchdringliche Einheit« des Papsttums und der Kaste. Die Kreuzzüge jedoch, die eine volkstümliche Bewegung waren, welchen Zweck sie auch immer hatten, brachten den Spitzbogen und weckten den Geist der Freiheit. »Selbst der Dom, dieses einst so dogmatische Gebäude, gehörte jetzt dem Bürger, der Gemeinde, der Freiheit. Er entwuchs dem Priester und verfiel dem Künstler. Der formte ihn auf seine Art; verschwunden waren Mysterium, Mythus und Gesetz; Phantasie und Laune herrschten.« Die Freiheit der Baukunst ging unvorstellbar weit. »Die Freiheit, seine Gedanken in Stein zu äußern, war damals ein Vorrecht, das der Pressefreiheit durchaus zu vergleichen ist […] Manchmal hatte ein Portal, eine Fassade, ja eine ganze Kirche eine symbolische Bedeutung, die zum Kultus in keiner Beziehung stand oder der Kirche sogar feindlich war.« Es gab in diesem Sinne oppositionelle Gebäude und aufrührerische Seiten. »Es war die einzige Art der Gedankenfreiheit, die es damals gab, und so haben sich die Anschauungen jener Zeit auch nur in den Büchern frei geäußert, die man Gebäude nennt. Wären sie so unvorsichtig genug gewesen, in Manuskriptform zu erscheinen, so hätte ihnen das Schicksal geblüht, auf öffentlichem Platz von Henkershand verbrannt zu werden. Da es nur den einen Weg gab, sich frei und offen auszusprechen, so drängte alles nach dieser Richtung […] Wer damals zum Dichter geboren wurde, der flüchtete sich zur Baukunst. Das im Volke verstreute Genie hatte nur diese eine Möglichkeit, die Fesseln des Feudalismus zu sprengen. Seine Iliaden formten sich zu Domen […] Sogar die arme Dichtkunst, die darauf beharrte, in Manuskripten ihr Leben zu fristen, mußte sich, wenn sie etwas bedeuten wollte, in Form von Hymnen dem Rahmen des Gebäudes anbequemen.«
Während nun einerseits der menschliche Erfindungsgeist ein neues Mittel erfand, seinen Gedanken Dauer zu verleihen, das widerstandsfähiger und leichter zu handhaben war als die Architektur, wurde die Baukunst andererseits immer matter und farbloser. »Das gedruckte Buch wurde zum zerstörenden Wurm, der sie aussaugte und verzehrte. Sie entblößte und entblätterte sich, wurde zusehends magerer, dürftiger und nichtiger, wurde inhaltlos und ließ sogar die Erinnerung an die Kunst früherer Zeiten fallen.« Überall stoßen wir auf Zeichen der Schwindsucht. »Die architektonische Form der Häuser verlor sich mehr und mehr, […] und wie das Knochengerüst eines abgemagerten Kranken trat das geometrische Schema immer schärfer zutage. Die schönen Linien der Kunst wichen den kalten, un-
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erbittlichen Linien der Geometrie.« Schließlich »waren nur noch Haut und Knochen übrig: die Baukunst lag in jämmerlichem Todeskampf«. Hugo macht deutlich, was sich unter dem Kampf begriff der Romantik, als Gegenbewegungsimpuls zum »marche vers l’abstraction« der Aufklärung an Argumenten und Ideen angestaut hatte. Mit dieser Umwertung ging auch eine Neubewertung der Epochen einher. Während die Auf klärung die Renaissance als eine »Revolution des menschlichen Geistes« feierte, die »das Gesicht der Epoche veränderte« (d’Alembert), veranlasste die Romantiker gerade deren Vernunftbestimmtheit zu einer Umkehrung des Werturteils. Friedrich Schlegel vermochte in der Renaissance kaum mehr als eine Totgeburt zu erkennen. Da hier kein »neues Leben von innen entflammte«, empfahl er den Rückgang auf die angeblich lebendigeren Glaubenskräfte des Mittelalters. Auch in Nietzsches Augen hatte es die Renaissance lediglich zu einer »opernhaften Imitation« der griechischen Kultur gebracht. Die Renaissancekünstler seien über einen »idyllischen Glauben« und ein »fantastisch läppisches Getändel« nicht hinausgekommen, hätten bestenfalls eine bemühte »Wiederbringung«, aber keine leibhaftige Wiederbelebung zustande gebracht. (75) Gerade noch hatte man die leere Flächigkeit und edle Einfalt des Klassischen verherrlicht, da sollte nun das bis dahin als hässlich geltende und als Beleidigung des Auges verpönte Barbarische der Gotik die Idee der Architektur am reinsten verkörpern. Die Klage über den Charakterverlust in einer Welt toten Materials und abstrakt gewordener Techniken ging mit einer zunehmenden Sensibilität für das Schwierige der Gotik einher. Dabei gab es zwischen den einzelnen Professionen keineswegs Synchronizität. Die Architekten interessierten sich noch für die gotischen Kathedralen wie für einen Leichnam, den sie sezieren und dessen Anatomie sie erforschen konnten, und zeigten Bewunderung für das »Antike« der großen, einheitlichen Innenräume, während die Schriftsteller bereits eine Romantisierung des Mittelalters betrieben. Nicht die Architekten, die als Klassiker zu Archäologen geworden waren, sondern die Dichter, die Sprachkünstler, waren es, die den lange verkannten Wunderwerken der Gotik zu neuer Anerkennung verhalfen. Im Studium der Symbolik erkannten sie die große Kunst des Mittelalters, eine Gestalt oder ein Bild als Zeichen oder Ausdruck für einen anderen Gegenstand zu verwenden, und in dieser Idee die Seele der Kathedralen. »Wohl wissend, daß alles hienieden sinnbildlich ist, daß die sichtbaren Dinge und Wesen […] nur sichtbare Abbilder des unsichtbaren sind, machte die Kunst des Mittelalters es sich zur Aufgabe, Gefühle und Gedanken durch die körperlich vermannigfachten Gestalten von Stein und Glas auszudrücken und schuf sich zu ihrem Gebrauche ein eigenes Alphabet.« Dank dieser Erkenntnis und der Entdeckung des Sprachcharakters der gotischen Architektur konnten Dichter wie Hugo und Huysmans sich rühmen, dass sich ihnen, im Unterschied zu den Architekten, die nur den Leichnam fanden, das Wesen, die Seele der Kathedralen offenbart habe. Wenn Huysmans die Zeichen auf den Kathedralen durch seine Lektüre zu animieren versuchte, dann tat er dies erfüllt vom Ekel vor einer Menschheit, die noch die grandiosen Ruinen der alten Kirchen mit ihren »Anzüglichkeiten« besudelte. Er träumte von dem »schrecklichen Gott der Schöpfungsgeschichte«, von dem »bleichen, ans Kreuz Genagelten von Golgotha«, der allein die Kraft und die Macht hat, der »frohgemuten und unangefochtenen Herrschaft der Bourgeoisie und der Ansteckungskraft ihrer Dummheit« endlich ein Ende zu machen. Er lenkte die
B. Die Sprache der Monumente, der Skandal des Ornaments
Aufmerksamkeit auf die Figuren, die sich nicht den Normen der klerikalen Orthodoxie fügen und ein okkultes, satanistisches Eigenleben führen. (76) Die Rede von der Poesie der Kathedralen findet starken Anklang, trifft aber auch auf Kritik. Der Metapher der »Versteinerung« bedienen sich beide Seiten, worauf Rancière hinweist. Die Schwärmerei für Gedichte in der toten Sprache der Steine ist für Sartre eine für »Worte aus Stein, die von Statuenlippen fallen«. Wenn er im Namen der revolutionären Perspektive eines Engagements beklagt, dass bei Flaubert und Mallarmé die menschliche Sprache dem Prestige einer versteinerten Sprache der Poesie geopfert werde, bedient er sich desselben Topos, den die Traditionalisten gegen Hugo vorgebracht hatten, wenn sie ihm vorwarfen, dass er mit seiner Literatur nichts mehr zu beweisen versucht, dass er sich einer Literatur verschrieben habe, die »nicht mehr das Instrument einer fruchtbaren Idee ist, sondern sich von den Anliegen isoliert, die sie verteidigen muss, […] um eine Kunst zu werden, die unabhängig ist von allem, was auszudrücken ist, eine eigene Macht ganz besonderer Art, die ihr Ziel, ihr Leben und ihren Ruhm nurmehr in sich sucht«. (77) Für den Apologeten verhält es sich so: »In diesem so eigentümlichen, so monströsen Werk sind der Mensch und der Stein verschmolzen und bilden nur noch einen einzigen Körper. Der Mensch unter den Spitzbogen ist nicht mehr als das Moos auf der Mauer oder die Flechte auf der Eiche. Unter der Feder von Herrn Hugo wird der Stein lebendig und scheint allen menschlichen Leidenschaften zu gehorchen.« (78) Der Kritiker spricht dagegen von seiner Enttäuschung, dass die Materie tot geblieben und umgekehrt der Mensch versteinert worden sei. Für die einen hat Hugo den Stein belebt, die anderen sehen die Figuren und ihre Interaktionen aller Lebendigkeit beraubt. Rancière erblickt in dieser Debatte den Ausdruck für die Heraufkunft eines neuen Verständnisses von Poesie. Bis dahin reklamierte diese Kunst einen Primat der Bedeutungen über ihren materiellen Teil, als Schicklichkeit der Wörter. Die monströse Erfindung Hugos versinnbildlicht den Untergang des Systems, in dem die Dichtung eine gut gebaute Fabel war, die uns handelnde Menschen zeigte, die ihr Verhalten in schönen Reden zum Ausdruck brachten, die ihrem Stand angemessen waren, den Gegebenheiten der Tat und dem Vergnügen der Menschen mit Geschmack. Der Skandal liegt in der Umkehrung der Hierarchie von Körper und Seele, in der Störung des Verhältnisses zwischen der materiellen Macht der Wörter und der intellektuellen Macht der Ideen. Eine ganze poetische Kosmologie wird umgeworfen. »Die repräsentative Dichtung bestand aus Geschichten, die den Regeln der Verkettung folgten, aus Charakteren, die den Prinzipien der Wahrscheinlichkeit gehorchten, und aus Reden, die den Prinzipien der Schicklichkeit unterworfen waren. Die neue Dichtung […] besteht aus Sätzen und Bildern, die für sich stehen als Manifestationen der Poetizität, die ein unmittelbares Ausdrucksverhältnis der Dichtung für sich in Anspruch nehmen, das dem ähnelt, das sie zwischen dem Schnitzwerk auf einem Kapitell, der architektonischen Einheit der Kathedrale und dem vereinigenden Prinzip des göttlichen und kollektiven Glaubens aufstellt.« (79) Wir wohnen einem Kampf zweier möglicher Poetiken bei. Die Metapher der Versteinerung ist mehr als nur eine Metapher. Die Kathedrale fungiert als dichterisches Modell. Wenn das Werk eine Kathedrale ist, dann weil sie das Monument einer Kunst ist, die nicht vom mimetischen Prinzip regiert wird. Wie die Kathedra-
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le ist dieser Roman mit nichts außer ihm selbst vergleichbar. Er errichtet mit dem Material der Wörter ein Monument, von dem man nur die Weite der Proportionen und die Fülle der Figuren zu beurteilen hat, das Werk als Verwirklichung einer besonderen Schöpferkraft. Es ist, als hätte dies nur Hugo schreiben können, als hätte er »unbekannte Buchstaben einer ursprünglichen Sprache verwendet und als läge die Kombination […] allein in seiner Macht«. Diese Kathedrale aus Wörtern ist Signatur eines Individuums als solches. Doch indem sie die individuelle Macht eines Genies ausdrückt, ähnelt sie dem, was die anonyme Macht der Schöpfer der Steinkathedrale ausdrückt, der einzige Geist einer gemeinsamen Seele. »Das entfesselte Genie des Schöpfers erkennt sich als dem anonymen Geist ähnlich, der das kollektive Gedicht, das kollektive Gebet der Kathedrale erbaut hat.« »Die Kathedrale ist Steindichtung, Identität des Werkes eines Architekten mit dem Glauben des Volkes […] Macht der Fleischwerdung des Wortes […] Sprache aller Sprachen.« (80) »An der Stelle des profanen Redners, der den versammelten Männern eine Ansprache hält, steht der Erbauer des Steingedichts, das besser als er die Macht der vom Wort bewohnten Gemeinschaft ausdrückt. Die redegewandte Sprache ist nunmehr die stille Sprache dessen, was nicht in der Sprache der Wörter spricht oder was die Wörter nicht als Instrumente einer Überzeugungs- oder Verführungsrede sprechen läßt, sondern als Symbole der Macht des Wortes, der Macht, durch die das Wort Fleisch wird.« Ein Paradigma für den Gebrauch der Sprache hat sich an die Stelle eines anderen gesetzt. Die neue Gebrauchsweise zeigt sich beispielhaft in der Prosa der gattungslosen Gattung des Romans. (81) Dass Dichtung im romantisch-modernen Sinne durch ihre Poetizität definiert wird, verbindet sie mit einer Ursprünglichkeit der Sprache. August Schlegel sprach vom »Gedicht des gesamten Menschengeschlechts«. Das verdankten die Romantiker nicht zuletzt der Geschichtsphilosophie Giambattista Vicos. Sein Ausgangspunkt der Fiktion ist die Weise, wie der noch stumme Mensch die Welt begreift, nach seinem Ebenbild, dabei die Sprache wie den Mythos erfindend. »Weil in einem solchen Fall die Natur des menschlichen Geistes es mit sich bringt, daß er der Wirkung seine eigene Natur zuschreibt, ihre Natur aber in einem solchen Zustand wie die von Menschen war, die alle riesige Körperkräfte hatten und schreiend und brüllend ihre äußerst heftigen Leidenschaften kundtaten, so bildeten sie sich ein, der Himmel sei ein großer belebter Körper, den sie unter diesem Gesichtspunkt Jupiter nannten, der ihnen durch das Zischen der Blitze etwas mitteilen wollte; und so begannen sie, die natürliche Neugierde zu empfinden, die die Tochter der Unwissenheit und die Mutter der Wissenschaft ist und die, indem sie den Geist des Menschen aufschließt, das Staunen gebiert.« (82) Der Mensch sieht den Himmel und erkennt darin einen Jupiter, der wie er eine Gestensprache spricht, der seinen Willen durch die Zeichen des Donners und der Blitze ausspricht und sprechakttheoriegemäß zugleich ausführt. Die Gesten sind die Fiktionen, die der Mensch sich von den Dingen macht, die falsch sind, wenn man sie als Repräsentationen des Seins nimmt, die aber wahr darin sind, wie sie die Stellung des Menschen unter den Dingen ausdrücken. Die Rhetorik ist Mythologie, und die Mythologie ist Anthropologie. Die Erzählung ist die gemeinsame Geburt der Sprache und des Denkens. Aus dieser ersten Sprache entstehen die Bilder und Ähnlichkeiten, die Tropen der Dichtung, die der Dichter nicht erfinden kann, welche die notwendige Ausdrucksweise aller Völker gewesen sein muss. Die Dichtung ist die Weise, in welcher der Mensch seine Macht des Denkens und der Sym-
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bolisierung offenbart und zugleich seine Ohnmacht verkennt, wie die Vorsehung der Götter ihm erlaubt, Bewusstsein von sich selbst zu erlangen. Im Gegensatz zu den Behauptungen der Gelehrten, die von Trägern einer verborgenen Weisheit schwärmen, die in den ägyptischen Hieroglyphen versteckt sei, muss man sagen, die Dichtung ist nur eine Kindheitssprache einer Menschheit, die von Taubheit und Stummheit zur artikulierten Sprache findet: eine Sprache, die weniger durch das spricht, was sie sagt, als durch das, was sie nicht sagt, durch die Macht, die sich durch sie ausdrückt. »Der lächerliche Irrtum ist nur zu bewundern, dass die Leute meinen – sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigentümliche der Sprache, dass sie sich bloß um sich selbst kümmert, weiß keiner.« (83) Vico schildert den Übergang vom Tiersein zum Menschsein, den von Natur zu Kultur. Er erfolgt nicht direkt, als ein Schritt, über den man sich, einmal Mensch geworden, in Form einer kontinuierlichen Entwicklung rückblickend Rechenschaft ablegen könnte. Es muss etwas zwischen beide treten, das dann verschwunden sein muss. Ohne die gewaltsame Geste der Synthesis der transzendentalen Einbildungskraft gäbe es keine Phänomene. Sie erschafft den Hintergrund, vor dem sie sich abhebt, die präontologische chora, die regellose Unordnung der Noch-nichtWelt. Die Einbildungskraft ist gewaltsam in Gestalt des Bombardements unserer Sinne und der Kraft, mit der sie sich selbst in Vergessenheit bringt, so dass das Eingebildete im Daseienden erscheint und der Akt der Einbildung in der objektiven Erscheinungswelt aufgeht. Alles ist mit einem Schlag auf einmal da, als Big-Bang. Žižek spricht vom »verschwindenden Vermittler« zwischen Tier und Mensch. Dieser Vermittler ist die wahnsinnige Geste des radikalen Zurückweichens vor der Realität, die so den Raum für ihre symbolische Rekonstitution eröffnet. In Hegels Worten: »Was ich denke, das Ergebnis meines Denkens, ist objektiv wahr«. Was zeitlich vor dieser Wahrheit liegt und räumlich hinter der Identität von Denken und Sein, gibt es nicht real, es lässt sich nur imaginieren, als etwas, das Hegel die »Nacht der Welt« nennt. (84) Matthew Carey hatte 1795 im Anschluss an antike Periodisierungen nach dem goldenen, silbernen und eisernen den Anbruch des papierenen Zeitalters angekündigt. Er meinte damit in Hugos Sinn die Dichtung. Er hätte aber auch das entwickelte Geldwesen meinen können. Im Februar 1797 erfolgte ein Ansturm auf die Bank von England, da Kriegsgerüchte im Gefolge der Französischen Revolution eine Invasion befürchten ließen und die Bürger dazu veranlasste, ihre Vermögen sichern zu wollen. Als daraufhin die Deckungsreserve dahinschmolz, ordnete Premier Pitt die Einstellung des Goldumtauschs und den Druck kleiner Pfundnoten an. Das Papiergeld wurde vorläufig nur noch gewechselt, aber nicht mehr gegen Edelmetall eingelöst. Pitt handelte sich den satirischen Ehrentitel eines umgekehrten Augustus ein. Jener habe ein Rom aus Ziegeln angetroffen und eines aus Marmor hinterlassen, dieser hingegen eine Nation des Goldes in eine aus Papier verwandelt. Pünktlich mit der Auflösung der Goldeinlösepflicht setzte auch eine neue literarische Ära ein, mit dem Erscheinen von William Wordsworth‹ »Prelude« und Samuel Coleridges »Kubla Khan«. Mit dem Tode von John Keats, Shelley und Lord Byron endete die reine Papiergeldperiode. Die Romantik setzte ganz auf Buchdruck und Zeitungswesen, auf Reproduktionstechniken. Wie die Papiergeldwirtschaft löst sich romantische Ästhetik von der Vorstellung, Zeichen und Bezeichnetes müssten in einem festen Zusammenhang stehen, um etwas zu bedeuten. Mitte des 18. Jahrhunderts hatte man noch
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lesen können: Lyrik, die sich nicht in den Realwert guter Prosa übersetzen lasse, sei ohne Goldgehalt. Wordsworth hatte dagegen eingewandt, die Poesie symbolisiere nicht tatsächliche Empfindungen, sondern bringe die Emotionen, die sie beschreibt, erst hervor. Coleridge und Poe zufolge entsteht große Dichtung ohne Arbeit und Anstrengung. Das Genie bereichert den Leser mit einem Schlag. Satiriker wie Thomas L. Peacock parodierten die Romantiker als Betrüger, die aus nicht vorhandenen Gefühlen Zeilengeld münzten. Allein darum würden die Gedichte immer länger. Wie die Bank von England versuche die romantische Dichtung immer mehr Papier in Umlauf zu bringen. Mit der Inflation von Geist und Gefühl mache die Dichtung ihren Wert auch immer mehr abhängig von der öffentlichen Meinung. Die romantische Ästhetik mache die Gesellschaft mit bedrucktem Papier als einer eigenständigen, sich selbst genügenden Währung und Realität vertraut. (85) Politisch war die Entwertung gewollt. An die Stelle des auf Sachvermögen, vornehmlich Grundbesitz gegründeten Besitzbürgertums sollte die Vergesellschaftung durch rasch zirkulierende Noten treten. Man versprach sich davon nicht nur Beschäftigungseffekte. Weil Geld nicht mehr in der archaischen Form des Schatzes gehortet werden konnte, seien die Halter auf ökonomischen Dauerkontakt untereinander angewiesen. Gesellschaftlicher Zusammenhalt sollte nicht mehr auf Unabhängigkeit durch Besitz gründen, sondern aus gegenseitigem Vertrauen erwachsen. Die »imagined community« der Geldverwender sollte die neue Deckungsgrundlage bilden. Substanz wurde durch Stimmigkeit ersetzt. Dass sich Romantiker der Natur und der Landschaft und im romantischen Geist argumentierende Politiker der Physiokratie verschrieben, lässt sich als provozierter Gegenimpuls, als Erschrecken vor den Konsequenzen des eigenen Denkens interpretieren. Es war auch das Erschrecken über die unabsehbaren Folgen des Versuchs, mit der Revolution tabula rasa zu machen, wovor nicht nur Edmund Burke warnte, indem er sich auf universelle Prinzipien berief und die »legitimierende Kraft der Geschichte« beschwor. Wenn de Maistre und de Bonald den Diskurs der Gegenrevolution eröffneten, wollten sie nicht die Uhrzeiger zurückdrehen. De Maistre berief sich nicht auf die historische Vergangenheit, sondern auf die Theodizee mit dem Grunddogma des Sündenfalls, die sich mit einem quietistischen Vorsehungsglauben verbinden. »Wenn die Vorsehung etwas auslöscht, tut sie dies, um zu schreiben«. Dieser Vorsehungsglaube muss als Kritik am Voluntarismus der Revolutionäre und der Nationalversammlung gelten, die sich auf einen auf ursprüngliche Weise gesetzgebenden »Gemeinwillen« stützten. »Die Wissenschaft, einen Staat zu bilden, ihn zu erneuern, ihn zu reformieren, ist nicht a priori zu erlernen«, hatte Burke geschrieben. Auch der abstrakte Begriff der Gleichheit war für de Maistre sinnlos. Gemeinschaft und Staat waren für die konservativen nicht etwas, das sich durch Verträge und Konventionen schaffen ließ. Sie verkannten freilich, dass durch die Idee der Gleichheit die Dynamik des sozialen Wetteifers in Bewegung gesetzt wurde. Die romantische Gegenwelt der Poesie wurde nicht nur im Ornat eines goldenen Mittelalters vorgestellt, sondern sie wird auch entdeckt in den Lumpen einer großstädtischen Unterwelt mit ihren antibourgeoisen Verschwörungen und Geheimnissen. Hugo hat auch »Les Misérables« geschrieben. Eugène Sues Pariser Myste-
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rien, Baudelaires beschädigte Allegorien, Poes Spukgeschichten umkreisen eine Vorstellungswelt, die eine Gesellschaft aus einander fremd bleibenden, in sich verschlossenen Individuen hervorbrachte. Sie kultivieren eine Poesie der Amoralität und Indifferenz und der Magie des großstädtischen Raumes, der mehr trennt als verbindet, der mehr von Abwesenheit zeugt als von Nähe. Die Anstrengungen, der Sprache Bedeutung zu entlocken, ihr durch Dunkelheit Sinn abzutrotzen und Transzendenz zurückgewinnen, antworten auf eine vom technischen Zugriff, Zweckbestimmungen und ökonomischen Zwängen beherrschte Welt der industriellen Revolution, in der die Zeichen unter dem Zwang der Eindeutigkeit und der reibungslosen Informationsübermittlung stehen. Die Trennung des Künstlers vom Bürger vollzieht sich in sprachlichen Reinigungsritualen und vermöge einer exklusiven Komplizenschaft mit den Zeichen und den Dingen selbst, wobei die Instrumentalisierungen durch Verdunkelung und verrätselnde Maskierung konterkariert oder unterlaufen werden. Einer gängigen Bewertung der Romantik zufolge griffen die Romantiker nach Hieroglyphen, um in einer Sprache zu sprechen, die nicht mit Trivialität aufzubrechen sein würde. Dass man ihnen Entartung, Amoralität und Stillosigkeit vorwarf, war die Folge davon, dass man dem irritierten Bürger die gewohnte Informationssprache entzog.
B 7. Die Romantiker konnten bei der Formulierung ihres Sprachbegriffs auf barocke Traditionen zurückgreifen und an einen von der Mystik inspirierten Sprachbegriff anschließen. Jacob Böhme im 17. Jahrhundert und Johann Georg Hamann im ausgehenden 18. Jahrhundert hatten das Wesen der Mystik bereits als Selbstreflexion der Sprache aufgefasst. Das Göttliche an Gottes Wort lag demnach nicht in Gott, sondern in der Sprache selbst. Bei Böhme und Hamann ist zwar eine religiöse Erfahrung gemeint, die im Begriff der Offenbarung ihr Zentrum hat, in der romantischen Interpretation aber wird Offenbarung nunmehr als Reflex der Erfahrung begriffen, dass sich im Gesagten eine selbst nicht formulierbare Kraft zeige, dass im Ausgesprochenen etwas Unausgesprochenes mitschwinge. Während die christliche Mystik die Offenbarung für das Göttliche reklamieren wollte, bedeutet Offenbarung in der romantischen Poetik eines Novalis oder eines Schlegel, dass sich etwas Unaussprechliches melde oder manifestiere. Entsakralisiert und ihres »religiösen Selbstmissverständnisses« entkleidet, konnte die Sprachmystik sich erst ganz entfalten. So aufgefasst ist Sprache nicht Vehikel zur Informationsübermittlung, sondern Medium der Manifestation eines Geistigen. Die Form ist bereits Inhalt. Die Magie der Sprache beruht auf dem Paradox einer Unmittelbarkeit der Mitteilung, einer Sprache der Sprache, einer selbstreflexiv werdenden Sprache, in der sich das geistige Wesen eines Ausdrucks offenbart. (86) Die frühen Romantiker, die die Hamann’sche Sprachmagie rezipierten, haben sich dabei nicht auf Fragen der Poesie beschränkt, sondern mit Blick auf Sprache insgesamt betont, »daß, da die Poesie ursprünglich in der Sprache daheim ist, diese nie so gänzlich depoetisiert werden kann, daß sich nicht überall in ihr eine Menge zerstreute poetische Elemente finden sollten, auch bei dem willkürlichsten und kältesten Verstandesgebrauch der Sprachzeichen, wieviel mehr im gemeinen Leben, in der […] Sprache des Umgangs« (87).
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Alles ist Sprache, und vermöge jener poetischen Potenzen aller Zeichen sind alle Sprachen ineinander übersetzbar. Der Unterschied zwischen ihnen liege lediglich im Grad der »Potenzierung« oder »Romantisierung« (Novalis): Menschen, Blumen, Steine werden ineinander übersetzbar. »Mannigfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehen: Figuren, die zu jener großen Chiffrenschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Kristallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben aus Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her und sonderbare Konjunkturen des Zufalls erlebt.« (Novalis, Die Lehrlinge von Sais) Rettung sei allein zu erhoffen, wenn wir von der Sprache also einen nicht-prädikativen Gebrauch machen. Das geistige Wesen, das sich in einem Gegenstand offenbart, teilt sich hinter dem Rücken der Kommunizierenden und auf der Rückseite der signifikativen Funktion der Sprache mit. Die Dinge kommunizieren mit der Form selbst. Walter Benjamin schloss mit einer eigenen Sprachtheorie eng an die Romantik an. Er bestand auf einer »intensiven Totalität« einer vorinstrumentellen Sprache. »Die Einsicht in die Bereiche des Ähnlichen ist von grundlegender Bedeutung für die Erhellung großer Bezirke des okkulten Wissens. Zu gewinnen ist aber solche Einsicht weniger im Aufweis angetroffener Ähnlichkeiten als durch die Wiedergabe von Prozessen, die solche Ähnlichkeiten erzeugen.« Die für diese Prozesse konstitutiven Kräfte in den Kreaturen und Dingen der Schöpfung nennt er »mimetisches Vermögen«. Während auf phylogenetisch früher Stufe der gesamte Lebenskreis von magischen Korrespondenzen durchwaltet vorgestellt werden muss, können wir heute kaum noch ahnen, in welchem Umfang und in welcher Form mimetische Verhältnisse bestanden. Sicher ist, dass wir die Fähigkeit verloren haben, die es unseren Vorfahren ermöglichte, von einer Ähnlichkeit zu sprechen, die zwischen einer Sternenkonstellation und einem Menschen oder einem Ereignis besteht. Wir müssen aber annehmen, »daß Vorgänge am Himmel von früher Lebenden, und zwar sowohl durch Kollektiva als durch Einzelne, nachahmbar waren«. »Was nie geschrieben wurde, lesen. Dies Lesen ist das älteste: das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen. Später kamen Vermittlungsglieder eines neuen Lesens, Runen und Hieroglyphen in Gebrauch. Die Annahme liegt nahe, daß sie die Stationen wurden, über welche jene mimetische Begabung, die einst das Fundament der okkulten Praxis gewesen ist, in Schrift und Sprache ihren Eingang fand. Dergestalt wäre die Sprache die höchste Stufe des mimetischen Verhaltens und das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit: ein Medium, in welches ohne Rest die früheren Kräfte mimetischer Hervorbringung und Auffassung hineingewandert sind, bis sie soweit gelangten, die der Magie zu liquidieren.« (89)
Die Voraussetzungen in unserem Leben und in unserer Wahrnehmung, die die mimetische Erfahrung in jener kultischen und wissenschaftlichen Gestalt möglich machten, sind vergangen. Darum ist Benjamin zufolge aber das mimetische Vermögen nicht gänzlich abgestorben, sondern lediglich maskiert, es existiert ver-
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borgen dort, wo man es am wenigsten vermutet. Die Formcharaktere mimetischer Erfahrung seien gar nicht an ihre kultisch-fetischisierenden Inhalte gebunden, sondern Momente alltäglicher, profaner Sprache. Das mimetische Vermögen sei in die »unsinnlichen Ähnlichkeiten« der Sprache eingewandert. Zur Erläuterung nennt er »die neueste Graphologie«, die gelehrt habe, »in den Handschriften Bilder oder Vexierbilder zu erkennen, die das Unbewußte des Schreibers darinnen verstecken«, und die barocke Allegorie. Die Allegorie nämlich vermag auch da Trauer zum Ausdruck zu bringen, wo sie ein Sinnbild der Freude sein will. Das unmimetische, gewaltsame Verhältnis der synthetisierenden Form zu ihren Inhalten, das eine abstrakte, die Sinnlichkeit mortifizierende Herrschaft gegenüber Dingen wie Personen markiert, sei die »Exposition der Geschichte als Leidensgeschichte«, als »Trauerspiel«. (90) So, wie sich Hugo das Wesen von Notre-Dame offenbarte und wie man im Innern einer gotischen Kathedrale, wenn sich im gleißenden, von oben einfallenden Licht die umgebende Materie aufzulösen scheint, einen anschaulichen Begriff der Transzendenz gewinnen konnte, der besser als jede Argumentation es vermochte, von der Existenz einer jenseitigen, höheren Wirklichkeit zeugte, so kalkulierte die romantische Poetik den Assoziationshorizont, den ein Klang oder eine Buchstabenkombination, ein Name auszulösen vermochte wie ein Tastendruck. Dabei verschiebt sich der Akzent von der Realität des Geschauten auf das Bewusstsein des Schauenden, von der naiven Unterstellung der Substanz eines Jenseits zur reflektierten Betroffenheit eines Subjekts, von der Offenbarung auf das Angesprochensein. Walter Benjamin hat sich wie kein anderer um die Explikation der romantischen Sprachauffassung und ihrer Modernität verdient gemacht, um jenes physiognomische Element der Sprache, jenes inhaltstranszendente Sprechen, jenen nicht-prädikativen Prozess von Darstellen und Verstehen, jene Ansätze zu einer nicht-instrumentellen Semantik, und deren Anwendung mehrfach und geduldig demonstriert. So identifizierte er als die unmittelbare Aussage, die verborgene Sprachfigur der Dichtung Baudelaires die moderne Großstadt, als Physiognomie der barocken Allegorie die Trauer. Bei ihm finden sich auch viele Hinweise auf Analogien oder Beziehungen zwischen Sprache und Dingwelt und Architektur, wenn er etwa von der magisch-physiognomischen »Innenarchitektur« der Sprache, die als raumgewordene Vergangenheit das Gewordensein der Sprache festhält oder von der »objektiven Hieroglyphe der Sache« redet, einer Schriftstruktur, in der auch die Signatur einer Epoche, das kollektive Unbewusste sichtbar wird. Als Schrift verstanden verspricht etwas, sein Geheimnis preiszugeben, das mit dem herkömmlichen Begriffsinventar nicht einzufangen ist, wie eine nicht mehr begreif bare Totalität, eine nicht mehr vertraute vergangene Wirklichkeit, die nur noch in Bruchstücken existiert, die jedoch in ihnen als Hieroglyphen zur Evidenz gelangen könne. So wollte er im 19. Jahrhundert wie in einem Buch lesen, war doch Paris, die »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« ohnehin eine Bücherstadt. Seine »Liebeserklärung« der Dichter an die »Hauptstadt der Welt« leitet er mit den Worten ein: »Unter allen Städten ist keine, die sich inniger mit dem Buche verband als Paris.« Diese Stadt habe sich »unauslöschlich ins Schrifttum eingezeichnet«, und in ihr wirke ein Geist, »der den Büchern verwandt ist«. (91) Benjamin huldigt dieser innigen Verbindung, denn seine Archäologie der Moderne stützt sich auf die in Büchern und Zeitschriften konservierten Texte, die
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über das jüngst Vergangene Zeugnis ablegen, und in denen die Wirklichkeit zur Lesbarkeit gelangt. Seinen Ursprung hat sie daher in der »unübersehbaren Menge tausendgestaltiger Bücher«, die »einzig der Erforschung dieses winzigen Fleckens Erde gewidmet« sind. So wird ihm die Stadt selbst zu einem großen »Bibliothekssaal, der von der Seine durchströmt wird«. In der »Einbahnstraße« verweist das Buch immer wieder auf einen anderen Schauplatz, die Straße. Den wie Häuser und Geschäfte einer großstädtischen Ladenstraße aneinandergereihten Denkbildern sind Schilder wie Reklametafeln zugeordnet. Die Schrift steht im Begriff, außerhalb des Buches ihren zeitgemäßen Ort zu finden. »Die Schrift, die im gedruckten Buch ein Asyl gefunden hatte, wo sie ihr autonomes Dasein führte, wird unerbittlich von Reklamen auf die Straße hinausgezerrt und den brutalen Heteronomien des wirtschaftlichen Chaos unterstellt. Das ist der strenge Schulgang ihrer neuen Form […] Und ehe der Zeitgenosse dazu kommt, ein Buch aufzuschlagen, ist über seine Augen ein so dichtes Gestöber von wandelbaren, farbigen, streitenden Lettern niedergegangen, dass die Chancen seines Eindringens in die archaische Stille des Buches gering geworden sind. Heuschreckenschwärme von Schrift, die heute schon die Sonne des vermeinten Geistes den Großstädtern verfinstern, werden dichter mit jedem folgenden Jahre werden.«
Die Philosophie soll deshalb aus der Stille des Buches auf die Straße gehen, allerdings ohne deren Sog zu verfallen. (92) Scott und Venturi werden später dabei weniger Vorbehalte haben. In all dem macht Walter Benjamin spielerischen Gebrauch vom alten Topos von der »Lesbarkeit der Welt«. (93) Ihn interessierte auch der Schriftcharakter der Allegorie als theologisch verwurzelter Ausdruck der Welt nach dem »Sündenfall des Sprachgeistes«, der Entfernung vom paradiesischen Ursprung aller Bedeutung und der Abhängigkeit von einem undurchsichtigen Allgemeinen, einem abwesend Anwesenden. Benjamin nahm auch Bezug auf das kritische Moment einer mystischen »Theologie der Grammatik«, indem er dem Topos der »Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache« eine eigene Lesart hinzufügte, bei der sich in der Verzauberung der Zeichen die Verknechtung der Dinge spiegelt: »Nach dem Sündenfall, der in der Mittelbarmachung der Sprache den Grund zu ihrer Vielheit gelegt hatte, konnte es bis zur Sprachverwirrung nur noch ein Schritt sein. Da die Menschen die Reinheit des Namens verletzt hatten, brauchte nur noch die Abkehr von jenem Anschauen der Dinge, in dem deren Sprache dem Menschen eingeht, sich zu vollziehen, um die gemeinsamen Grundlagen des schon erschütterten Sprachgeistes den Menschen zu rauben. Zeichen müssen sich verwirren, wo sich die Dinge verwickeln. Zur Verknechtung der Sprache im Geschwätz tritt die Verknechtung der Dinge in der Narretei fast als deren unausbleibliche Folge. In dieser Abkehr von den Dingen, die die Verknechtung war, entstand der Plan des Turmbaus und die Verwirrung mit ihm.« (94)
Positives Gegenbild ist die zwanglose Einheit von Dingen und Zeichen in einer Sprache der Dinge selbst, wie sie vor dem Auftreten des Menschen und spätestens vor dem Sündenfall des technisch-rationalen Zugriffs auf Natur bestanden haben mag, die Idee einer vormenschlichen Kommunikation. Benjamin erneuerte in seinem von jüdischer Sprachmystik inspirierten Aufsatz »Über Sprache überhaupt
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und über die Sprache des Menschen« den Glauben an eine solche ursprüngliche Sprache der Dinge. Mit einer fast religiösen Verehrung des Erkennenden für das Erkannte schreibt er: »Es gibt kein Geschehen oder Ding, weder in der belebten noch in der unbelebten Natur, das nicht in gewisser Weise an der Sprache teilhätte, denn es ist jedem wesentlich, seinen geistigen Inhalt mitzuteilen.« (95) Der Impetus dieses Aufsatzes findet sich ähnlich auch in Adornos Utopie der Nützlichkeit, wie auch in Marcuses Schätzung der Fourier’schen Utopie als Projekt der Verwandlung des Produktionsprozesses in einen Schöpfungsprozess oder in Blochs Rede von den »Marxismen der Dinge«.
B 8. In den Horizont der Idee einer Sprache, die in Selbstverweigerung gegenüber der geschwätzigen Alltagswelt besteht, gehört die Suche nach Orten, die noch nicht zu Allgemeinplätzen wurden und somit noch nicht entweiht sind, ebenso wie die Suche nach vom prosaischen Gebrauch verschonter oder noch nicht gänzlich abgenutzter oder korrumpierter Ausdrücke oder die Erfindung ganz neuer Wörter. Die Dichter der Neuromantik wie Hofmannsthal, Rilke oder der George-Kreis hatten keinen geringeren Anspruch, als das Geheimnis der Dinge, ihr Inkommensurables zur Sprache zu bringen. Sie versuchten, sich des Unerwarteten zu bemächtigten, wie des »Neuschnees, in welchem noch keine Intentionen ihre Spur hinterlassen haben«. Ihre momentanen Verzückungen, plötzlichen Jenseitsempfindungen, Epiphanien werden James Joyce oder John Cowper Powys später mit ihnen teilen. Diese Sehnsucht nach einer Sprache, die in der Lage wäre, die Dinge zu beschreiben, als würde man sie zum ersten Mal sehen, schwingt auch mit, wenn Adorno von der »Mimesis des Begriffs« spricht oder beschreibt, was ihm als Utopie der Erkenntnis vorschwebt: Die Entäußerung des Begriffs an die Sache statt an die Kategorie, die sie subsumiert, so dass »das Objekt unter dem verweilenden Blick des Gedankens selber zu reden anfängt«. Auch eine andere Formulierung kommt dieser Sprachauffassung nahe: Das »Lückenlose, Gefügte, in sich Ruhende der Kunstwerke ist Nachbild des Schweigens, aus welchem allein Natur redet«. (96) Der in der Philosophie und in der Poesie kultivierte meditative Begriff des Dings und einer reinen Sprache der Dinge fand eine künstlerische Fortsetzung auch in der Architektur. Die Wertschätzung der stummen, allesbesagenden Gegenstände wird erneuert durch eine Welle fernöstlichen Einflusses, die nach der Chinoiserie des 18. Jahrhunderts und der Todesbereitschaft des 19. Jahrhunderts von Japan ausgeht, vor allem von der japanischen Innenarchitektur und der Gartenkunst. Wo der Faszination eines heiligen Gartens nach japanischem Vorbild, als Wüste mit einigen wenigen, auf der geharkten Sandfläche verteilten Steinen gehuldigt wird, als geformte Leere und existentieller Trost, korrespondieren solchen Kulten literarische Trends. Die von Karl Krauss verfochtene These einer ausschließlichen Identität von humaner Gesellschaft und sauberer Sprache steht diesem Kult ebenso nahe wie die aller Lautheit und dekorativer Geschwätzigkeit gegenüber idiosynkratische Architektur eines Adolf Loos. Der weitere literarische Kontext dieses Kultes reicht von Schopenhauers entnervtem Schrei nach Ruhe über Rilkes Enthaltung gegenüber dem »Unsäglichen« bis zur Sprachkrise, die Hofmannsthal in der Rollenprosa seines Lord-Chandos-Briefes zum Ausdruck brachte. (97)
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Hofmannsthal beschrieb an anderer Stelle jene seltenen »guten Augenblicke«, in denen die Gegenstände seiner Umgebung ein »rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen«. Es sind die »stummen und manchmal unbelebten Kreaturen«, deren »von niemand beachtetes Daliegen oder –lehnen«, deren stumme Wesenheit zur Quelle jenes »rätselhaften Entzückens« werden können, und die in unbenennbarer Weise, die er freilich mit höchster Eloquenz zu charakterisieren verstand, zum Gefäß einer Offenbarung werden. Es ist auch das individuell Besondere, das im Gegensatz zum schlechten Allgemeinen unaussprechlich ist. In der Einmaligkeit eines unersetzbaren Gegenstands spiegelt sich die Besonderheit des Individuums und seines Erlebens. Dieser zuweilen etwas betuliche Reinheitskult leistete kunstgewerblicher Trivialisierung Vorschub, weshalb manch einer auf sie als weihevolles Getue empfindlich reagierte. So mokierte sich Adorno über das falsche Pathos, die Geheimniskrämerei der sakralen Zirkel und die Sakralisierung künstlerischer Technik zur Gabe Eingeweihter und stellte das Bemühen, wertvolle Dinge der gleichförmigen Mechanik des bürgerlichen Lebens zu entrücken, als snobistische Pose bloß. Die Rede von »Kulturwerten« erinnerte ihn insgesamt wieder nur an die Sprache des Gütertausches: »Noch in der Begeisterung über fremde Hochkulturen zittert die über das seltene Stück nach, in das man Geld investieren kann« und das vom Auf und Ab der Konjunkturschwankungen unabhängige Sekurität bietet. So erweist sich als Grundform des dem Alltag und der »Geschwätzigkeit« enthobenen fetischisierten Dings das Wertgesetz selbst. (98) Der positive Sinn dieser Sprachaskese sollte nicht verwechselt werden mit Rührung, der es die Sprache verschlagen hat, nicht mit Innerlichkeit, der die Worte fehlen, schon gar nicht mit bloß absichtlichem Verschweigen oder anrüchigem Verheimlichen. Eher durfte es verstanden werden als verständliche Verstocktheit, als stummer Protest gegen Lügenhaftigkeit und die Komödie der Eitelkeiten, als Verstummen angesichts vieler nichtssagender Reden und ihres Verschwimmens zum Geräusch, als Rückseite der Dauer-Rede, Innewerden ihrer Brüchigkeit als Defizit einer Epoche, als Lücke, als Warten und vielleicht als Vorbote einer geschichtlichen Erneuerung. Zu oft aber wurde sie – auch in der Architektur des 20. Jahrhunderts – als Moral beansprucht, als Anstand, vornehme Diskretion. Vornehme Enthaltung gegenüber dem Banalen und Trivialen, und eben auch als »Jargon der Eigentlichkeit« (Adorno). Sie trat auf mit dem Verweis auf die Sprache der stummen Dinge, auf die Versteinerungen und Fossilien bei Adalbert Stifter. Schweigen durfte auch gewertet werden als Sprache ohnmächtigen Widerstands oder als Durchlöcherung der Rede, Perforierung, als Stocken des Redeflusses, als Pause, in der sich das Unbewusste melden kann, die stumme Sprache des inwendig Unterdrückten, als uneigentliche Rede – »under what is said, another thing is being said«. Rainer Maria Rilke nimmt in einer tagebuchartigen Notiz an seine anspruchsvolle Geliebte über seinen Florenz-Besuch im Frühjahr 1898 auf Architektur Bezug: »Ich kann nur schweigen und schauen.« Nichts mehr verharrt ihm in der leutseligen Pose des »Beschreibe mich!« »Stumme Gebäude« säumen seine Wege, er glaubt, das »schwere Schweigsamsein« ihrer mächtigen Rustika-Fronten zu verspüren. Das Bewusstsein von der allgemeinen Fragwürdigkeit des Wortes war dem Fin-de-siècle-Symbolismus nicht fremd. Man wusste freilich auch recht gut, wie
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man sein »Schweigen« pathetisch in Szene setzen musste, um bei den Damen der feineren Gesellschaft interessant zu wirken. Das Schweigen birgt als Unterlassung freilich Risiken. Es nährt die Furcht, es könnte die Mächte der Unterwelt mobilisieren, sie zum Auftauchen ermutigen. Es evoziert das Grauen, das einen befällt, wenn man es nicht bespricht. Mit solchen Assoziationen spielte die »analoge Architektur«, die von Bruno Reichlin, Fabio Reinhart, Miroslav Sik und anderen auf Aldo Rossis Spuren eine Weile für Aufsehen sorgte.
B 9. Allenthalben beobachten wir die fortgesetzte Verwandlung der Objektwelt in eine Zeichenwelt. Sie ist der Grund für das anhaltende Interesse an Semiotik. Die Zeichenhaftigkeit steht nicht mehr nur für die intellektuelle Möglichkeit, die Welt zu erkennen, sie ist nicht mehr nur der Name dafür, dass die Welt den Sinnen kommensurabel ist, der Verweisungscharakter der Dinge ist mittlerweile selbst Realität geworden. Karl Marx hatte von einer Semiotisierung der Wirklichkeit gesprochen, wenn er die kapitalistische Gesellschaft als eine solche charakterisierte, in welcher der Reichtum der »ungeheuren Warenansammlung« zur dinglichen Hülle der Beziehungen der Individuen zueinander geworden ist, wobei sich in dieser verkehrten Welt die versachlichten Beziehungen der Individuen hinter dem gesellschaftlichen Beziehungen der Sachen verbergen. Doch schien ihm als Folge dieser Verhexung jene vordergründige Scheinwelt der Bedeutungen von dem eigentlichen Sein noch ablösbar und unterscheidbar. Henri Lefebvre zufolge leben wir mittlerweile jedoch in einer Gesellschaft, welche auch die Zeichen, die die Dinge vertreten oder zum Kauf anpreisen, und die Bilder vom Leben vor dieses selbst stellt, so dass sich das Sein in einer endlosen Perspektive von Zeichen, die selbst nur auf Zeichen verweisen, verflüchtigt. Die Dinge und die Beziehungen verschwimmen in einer Zeichen- und Bilderflut, die in einer expandierenden Medienindustrie und als Konsumentendaten vermarktet werden und so selbst zum eigentlich relevanten Sein werden. (99) Die Möglichkeit kritischer Distanz zum »Betrieb« schwindet mit der Einebnung der Realitätsebenen. Ideologie-Kritik basierte auf der Unterscheidbarkeit von Sein und Schein, Wesen und Erscheinung. Einerseits immaterialisiert, ideologisiert sich der Produktionsprozess: Mythen, Bilder, Symbole, formalisiert, zeichentheoretisch zusammengefasst, geben dem Produktionsprozess Anweisungen. Das Sein wird tendenziell vom Bewusstsein kybernetisch und zeichen-systematisch durchsetzt. Andererseits wird dem Bewusstsein seine Unabhängigkeit geraubt: ihm wird mehr und mehr Gebrauchswert abverlangt und die Disziplinierung und Formalisierung des qualitativen Begriffs zum Zweck quantifizierbarer Zeichen. Heute ist nicht mehr nur die Sache entfremdet, sondern auch der Blick auf die Sache, nicht nur die Wirklichkeit, sondern auch das Bild von der Wirklichkeit. Es werden nicht mehr nur subjektive Illusionen über die Wirklichkeit gehegt, sondern auch über die Subjektivität selbst. Das in die Produkte selber produktiv eingedrungene Bewusstsein führt zu einer Verdopplung und Intransparenz der Ideologie und zur Aushöhlung der Ideologiekritik. Die »geistige Arbeit«, die »Arbeit am Be-
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griff« des bürgerlichen Intellektuellen gehört für Krahl wie für Lefebvre damit der Vergangenheit an. (100) Für die tradierten philosophischen Begriffe ist die Differenz und Widersprüchlichkeit von Vernunft und Wirklichkeit konstitutiv. Deren spekulative Versöhnung im Unendlichen bei Hegel ist geknüpft an eine klare Differenz von beiden. Lefebvre fordert angesichts der verhexten Situation, Marxens »epiphilosophische« Kritik an der Philosophie durch eine »Metaphilosophie« zu ersetzen. Dieser Terminus bezeichnet eine Kritik, die sich nicht der tradierten Begriffe bedient, deren Gegenstand vielmehr das Alltägliche ist. Sie stellt sich die Frage nach den mannigfachen empirischen Formen der Entfremdung, wie sie in ästhetischen oder psychologischen Ausdrucksformen anzutreffen sind, auf die nicht nur in kritischer Distanz zu blicken wäre, sondern deren positive und produktive Seite es zu entdecken gelte. (101) Der Begriff der Alltäglichkeit ist eng angelehnt an den phänomenologischen Begriff der ›Lebenswelt‹. Dieser meinte jedoch die Erfahrungswelt als ein Ganzes, als eine sinnhafte Einheit, als deren Ordnungszentrum sich das Subjekt selbst weiß. Diese Ganzheit war gegen Trennungen der objektiven Wirklichkeit gesetzt. Lefebvre grenzt seinen Begriff hiervon ab: »Das Alltagsleben ist nicht länger äußerliche Einheit aller gesellschaftlichen Bereiche, es ist nurmehr Objekt gesellschaftlicher Verwaltung, die jetzt diese äußerliche Einheit organisiert.« »Das Alltägliche in der modernen Welt hat aufgehört, ›Subjekt‹ (reich an möglicher Subjektivität) zu sein, um ›Objekt‹ (Objekt der gesellschaftlichen Organisation) zu werden. Als Objekt der Reflexion hat es sich – weit davon entfernt, zu verschwinden (was möglich gewesen wäre, wenn die revolutionäre Bewegung gesiegt hätte) – im Gegenteil verfestigt, sich befestigt.« (102) »Der Begriff des Alltagslebens bezeichnet den Bereich, in dem und durch den sich die traditionellen Erfahrungs- und Bewußtseinsformen bilden. Seine Demontage und reale Reduktion führt zur Notwendigkeit, die Bildung der Subjektivität der Erfahrungsformen nicht länger der Naturwüchsigkeit der Tradition zu überlassen, sondern vielmehr gesellschaftlich zu produzieren. Dieser Tatbestand kommt in dem Wort ›Bewusstseinsindustrie‹ zur Geltung. Die gesellschaftliche Produktion von Bewusstsein und Erfahrungen besteht nun in weiten Stücken darin, das in seiner alten Funktionsweise als äußerliche Einheit aller Lebens- und Produktionsbereiche nicht mehr existierende Alltagsleben so zu rekonstruieren, als ob es weiterhin existent und relevant wäre. Das industriell produzierte Bewusstsein betrachtet die Gesellschaft in ihr nicht mehr zukommenden, nicht existenten, vergangenen Formen, die wir mit dem Begriff des Alltagsbewußtseins zusammenfassen.« (103)
Der produzierte Schein ist betörend, dieser ideologische Schaum ist allerdings nicht lückenlos und homogen. Er belässt gleichsam einen Hohlraum für unglückliches Bewusstsein, das sich wie in Hegels »Phänomenologie« in Bewusstsein des Unglücks verwandeln kann, eine Luftblase, von der sich Empörung nähren kann. Mit dieser Energie ausgestattet können die vorfindlichen Formen der Entfremdung, der Neurosen und Deformationen, zu sich selbst befreit werden und ihr kritisches und kreatives Potential entfalten. Henri Lefebvre, der mit seiner Theorie der spontanen Empörung die Philosophie des Pariser Mai mitvorbereitet hatte, sprach an anderer Stelle von einer »Rhetorik der Objekte«, in welcher der theologische Topos der Welt als Text überlebt, eines Textes, in dem Sprache und Gegenstände ununterscheidbar vermischt sind.
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In »Die Revolution der Städte« wird der Text der Städte als etwas Unsichtbares, Verstelltes beschrieben, verstellt durch die Ideologie des Urbanismus, die gespeist wird aus ländlichen und industriellen Mythen, überholten Deutungsmustern, deren geschwundene Treffsicherheit nicht bemerkt wird. (104) Für die Lektüre der Stadt bedarf es einer Methode, die Lefebvre »black box« nennt: Man muss aus dem, was gewesen ist, extrapolieren, wo wir uns heute befinden, die Stadt lesen als etwas, das noch keinen Ort im Denken hat, als etwas im strengen Sinn »Utopisches«. Wir leben in einer anderen Gesellschaft, als wir denken. So wie sich die industrielle Gesellschaft lange Zeit in Begriffen der feudal-agrarischen und städtisch-zünftischen Gesellschaft und des Handelskapitals begriffen hat und wir sie erst heute in den ihr angemessen Kategorien begreifen, so betrachten wir heute eine noch unerkannte aber bereits bestehende Gesellschaftsformation mit den Begriffen der vorangegangenen Industriegesellschaft, obwohl diese faktisch nur noch als untergeordnete Formation im Rahmen einer anderen existiert. Von der Gesellschaft, in der wir leben, haben wir aktuell jeweils keinen adäquaten Begriff. Wir hinken mit unseren Begriffen der Entwicklung immer eine Formation hinterher. Wir denken noch in den Begriffen der Industriegesellschaft, aber wir leben schon geraume Zeit in etwas anderem, das wir noch nicht kennen, für das wir noch keine Begriffe besitzen, das wir aber tagtäglich unbewusst herstellen. Jede Gesellschaft denkt sich in den Mustern der vorhergegangenen Formation. Etwas drängt über sich hinaus, ohne dass man wissen kann wohin. Zuweilen scheint es, dass wir sogar verblendet sein müssen, gewissermaßen verliebt ins Symptom, damit sich die Entwicklung überhaupt vollzieht. Lefebvre zeichnet ein Bild der gegenwärtigen Stadt als etwas, das im Begriff ist, sich vom bloßen Ort und Schauplatz einer Produktionsweise zu etwas zu entwickeln, das seine eigene Produktionsweise ist, als die sie sich selbst hervorgebracht hat. Die Stadt ist ihre eigene Produktionsweise, in der das Produzieren endlich zu sich selbst kommt. Erst heute sind wir fähig, die Herrschaftsmechanismen der industriellen Vergesellschaftung zu begreifen, indem sie in ihrer Projektion auf den Boden lesbar werden. Die industrielle Epoche zeichnete sich dadurch aus, dass sie alles, was sie berührte, trennte, alle Bindungen zerriss und die »homogene Ordnung« an die Macht brachte, die darauf beruht, Konflikte durch Analyse und räumliche Absonderung zu lösen. Die homogene Raumordnung war Ergebnis der Überwindung einer der Zentren bildenden ländlichen Gesellschaftsform eigentümlichen Produktion von Ungleichheit. Die ortlose Homogenität der Moderne barg die Gefahr einer Sprengung der urbanen Klammer und der Absonderung. Eine weniger abstrakte Gleichheit bildet sich ab in einem nicht mehr homogenen Raum. Orte sind nicht mehr nur durch die Entfernungen unterschieden. Im Unterschied zur Produktivität der Landwirtschaft, die nach den Gegebenheiten der Natur produziert, und jener der Industrie, die sich die Natur unterwirft, wäre nunmehr die spezifische Produktivität der Stadt zu identifizieren, die darin besteht, dass sie alles Getrennte zusammenführt. Die Produktionsweise der Stadt gründet sich in ihrer Besonderheit auf den Umstand, dass die Menschen, Güter und Ideen in ihr zusammentreffen, einander kreuzen, sich versammeln und miteinander kommunizieren, Netzwerke bilden und etablieren und Mechanismen des Verbindens und Trennens ausbilden, dabei sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede produktiv nutzbar machen und Neues hervorbringen.
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Die Stadt wird produktiv durch die Vereinigung alles Produzierten. Sie schafft nichts selbst, aber indem sie alles Geschaffene zueinander in Beziehung setzt, schafft sie es erst eigentlich. Sie konstruiert das soziale Beziehungsgefüge, indem sie alles Unterschiedene zusammenführt, was ihr deshalb gelingt, weil sie selbst allen Unterschieden gegenüber gleichgültig macht, was reine Form ist. Differenzen sind der Sinn der Stadt, nicht Trennungen. Die Zeichen der Stadt sind die der Versammlung. Als Ort des Aufeinanderprallens von Gegensätzen ist sie Ort dialektischen Denkens, Ort der Austragung von Konflikten, Ort des Kampfes zwischen Natur und Kultur, Eros und Logos, Ort der Begierden. Die Stadt verbindet räumliche Restriktionen mit sozialer Entgrenzung. Verstädterung bedeutet die virtuelle Annullierung der Entfernungen in Zeit und Raum und damit Aufhebung der Isolation der Menschen. Der eigentlich städtische Raum wäre nicht homogen, sondern der »differentielle« Raum, in dem alles zum räumlichen Nebeneinander werden kann. Die Stadt ist sich ihrer gegenwärtigen Qualitäten noch nicht bewusst. Die Stadt träumt sich aber als dieses Medium des Zusammenfassens. Die Stadt enthält als noch nicht entzifferter Text den Keim einer Gleichheit unter den Menschen wie unter den Orten, die sich als Entfaltung der Verschiedenheit erweist, und einer Ordnung, die sich im Vertrauen darauf einstellt, dass gerade die Entfaltung der Vielfalt Ordnung konstituiert. (105) Damit dieses bereits vorhandene Neue auch in unseren Köpfen existieren kann, müssen wir es ergreifen, müssen wir von dem »Recht auf Stadt« Gebrauch machen. Auch für Michel de Certeau birgt die Idee der Lesbarkeit der Stadt einige Tücken. Der Text der Stadt wird auf illusionäre Weise lesbar für den, der nicht in seinen Entstehungsprozess verwickelt ist, der etwa von der Plattform eines Wolkenkratzers herab, aus dem Flugzeug oder am Reißbrett des Planers, über den Dingen steht und auf sie herabblicken kann oder auf sie zeigt, mit dem Gestus Le Corbusiers oder mit der Pose des Ayn-Rand-Heroen. Der Wunsch, die Stadt als Ganzes, als Einheit zu erfassen, schafft die Fiktion seiner Lesbarkeit, doch sie ist erkauft durch eine zu große Entfernung vom Geschehen. Von einem Text der Stadt könne man sinnvoll nur sprechen, wenn man damit meint, dass diejenigen, die in der Stadt leben, gemeinsam an einem Text schreiben, indem sie die Stadt bevölkern. Es ist ein Text, den sie selbst niemals lesen können. »Die Gespinste dieser sich vorwärts bewegenden, sich kreuzenden Schriften setzen sich zu einer vielfältigen Geschichte zusammen, die keinen Autor und keinen Beobachter hat.« (106)
B 10. Roland Barthes hat sich mit der erstaunlichen und merkwürdig haltbaren Attraktivität bestimmter Phänomene beschäftigt, die über die transitorische Existenz einer Modeerscheinung hinaus geradezu mythische Bedeutung erlangen, wie einzelne Filmstars, wie Greta Garbo, Idole der Popmusik oder Automodelle wie die Déesse oder der »Ente« genannte Volks-Kleinwagen von Citroen. (107) Er analysierte deren Wirkung als Folge einer Art von Bewusstseinstrübung. In seiner Theorie der »Alltagsmythen« erläutert er, wie die Zeichen, die sich auf Realität beziehen, von einer zweiten Zeichenebene überlagert werden, die sich nur noch auf Zeichen bezieht. So repräsentiert beispielsweise die Landesfahne, vor der salutiert wird wie vor einer Person, und die Ehrerbietung verlangt, nicht mehr die betreffende Nation, sondern
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bedeutet selbst geforderte Landestreue, weshalb mangelnde Ehrerbietung gegenüber der Fahne ähnlich scharf geahndet wird wie Landesverrat. Roland Barthes hat diese überlagernde Bedeutungsebene, weil sie die darunterliegende vergessen macht, als mythisch bezeichnet. Ein »semiologisches System« besteht für Barthes aus drei verschiedenen Ebenen, dem Bedeutenden oder dem Signifikanten, dem Bedeuteten oder dem Signifikat und dem Zeichen, »das die assoziative Gesamtheit der ersten beiden Termini ist.« (108) Barthes erläutert diese Dreistelligkeit am Beispiel der Rose: »Man denke an einen Rosenstrauß: ich lasse ihn meine Leidenschaft bedeuten. Gibt es hier nicht doch nur ein Bedeutendes und ein Bedeutetes, die Rose und meine Leidenschaft? Nicht einmal das, in Wahrheit gibt es hier nur die ›verleidenschaftlichten‹ Rosen. Aber im Bereich der Analyse gibt es sehr wohl drei Begriffe, denn diese mit Leidenschaft besetzten Rosen lassen sich durchaus und zu Recht in Rosen und Leidenschaft zerlegen. Die einen ebenso wie die andere existierten, bevor sie sich verbanden und dieses dritte Objekt, das Zeichen, bildeten. Sowenig ich im Bereich des Erlebens die Rosen von der Botschaft trennen kann, die sie tragen, so wenig kann ich im Bereich der Analyse die Rosen als Bedeutende den Rosen als Zeichen gleichsetzen: das Bedeutende ist leer, das Zeichen ist erfüllt, es ist ein Sinn.« (109) Der Mythos besteht aus einer Verkettung von semiologischen Systemen. Er beinhaltet das Zeichen eines semiologischen Systems, es fungiert als Bedeutendes aber im zweiten System. So lautet die zentrale Definition in »Mythen des Alltags«: »Im Mythos findet man das […] dreidimensionale Schema wieder: das Bedeutende, das Bedeutete und das Zeichen. Aber der Mythos ist insofern ein besonderes System, als er auf einer semiologischen Kette auf baut, die bereits vor ihm existiert; er ist ein sekundäres semiologisches System. Was im ersten System Zeichen ist (das heißt assoziatives Ganzes eines Begriffs und eines Bildes), ist einfaches Bedeutendes im zweiten. […] Ob es sich um eigentliches oder um bildliches Schreiben handelt, der Mythos erblickt darin eine Ganzheit von Zeichen, ein globales Zeichen, den Endterminus einer ersten semiologischen Kette. Und gerade dieser Endterminus wird zum ersten oder Teilterminus des vergrößerten Systems, das er errichtet. Alles vollzieht sich so, als ob der Mythos das formale System der ersten Bedeutung um eine Raste verstellte.« (110) Für den Mythos ist unerheblich, ob seine Aussage schriftlich, fotografisch, künstlerisch, in der Form einer Pflanze oder eines Ritus oder in der materiellen Form eines Gebäudes zum Ausdruck gebracht wird: »Man muß hier daran erinnern, dass die Materialien der mythischen Aussage (Sprache, Photographie, Gemälde, Plakat, Ritus, Objekt usw.), so verschieden sie auch zunächst sein mögen, sich auf die reine Funktion des Bedeutens reduzieren, sobald der Mythos sie erfaßt. Der Mythos sieht in ihnen ein und denselben Rohstoff. Ihre Einheit besteht darin, dass sie alle auf den einfachen Status einer Ausdrucksweise zurückgeführt sind.« (111) In »Die Sprache der Mode« exemplifiziert und erweitert Barthes mit Rekurs auf Louis Hjelmslev seine Diagnose durch die Einführung des Begriffs der Konnotationssprache. Diese Konnotationssprache ist eine Metasprache: »Ein Zeichen des ersten Systems (ein schwarzes Kleid, das einen festlichen Anlass bedeutet) wird zum Signifikanten des zweiten Systems, dessen Signifikat die Modeideologie oder Moderhetorik bildet.« (112) Den als ein Gewinn an Klarheit notwendig missverstandenen Verlust an Klarheit durch die Reifizierung der Bilder und Bedeutungen, diesen Rückfall des
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aufgeklärten Bewusstseins auf mythische Stufen hat Barthes auch an einem architektonischen Beispiel demonstriert, am Typus des »baskischen Hauses«, der in französischen Städten eine Zeitlang in Mode war: Ein Haus in der Provinz der Basken ist wie alle anderen dort und schon vor mir da. »Es ist ein komplexes Produkt, das seine Determinierungen im Bereich seiner sehr umfangreichen Geschichte hat. Es ruft mich nicht.« Es lässt sich einordnen, betrifft mich nicht. »Wenn ich mich jedoch in Paris befinde und am Ende der Rue Gambetta oder der Rue Jean Jaurès ein hübsches weißes Chalet mit roten Ziegeln, braunem Holzwerk, asymmetrischen Dachflächen und einer mit Flechtwerk bedeckten Fassade erblicke, so kommt es mir vor, als ob eine gebieterische Aufforderung an mich gerichtet würde, dieses Objekt ein BaskenChalet zu nennen; ja, noch mehr, in ihm das Wesen der ›Baskität‹ zu sehen. Hier manifestiert sich der Begriff mit seinem ganzen Willen zur Besitzergreifung: er kommt zu mir, um mich zu zwingen, den Block der Intentionen zu erkennen, die es motivieren, infolge derer es hier hingesetzt wurde – als Signal einer individuellen Geschichte, als ein vertrauliches Geständnis und eine Mitwisserschaft. Die Besitzer des Chalets richten einen regelrechten Anruf an mich. Und um kategorischer zu wirken, ist er zu jedem Verzicht bereit: alles, was in einer technologischen Ordnung das Baskenhaus rechtfertigte: die Scheune, die Außentreppe, der Taubenschlag usw., ist verschwunden; geblieben ist nur noch ein kurzes, unüberhörbares Signal. Die direkte Anrede ist so offen, dass es mir scheint, als sei dieses Chalet auf der Stelle für mich geschaffen worden wie ein magisches Objekt, das vor mir auftaucht ohne jede Spur der Geschichte, die es hervorgebracht hat.« (113)
Der Mythos, wie Barthes ihn versteht, spricht von den Dingen in »gereinigter« Form: »Er reinigt sie nur einfach, er macht sie unschuldig, er begründet sie als Natur und Ewigkeit, er gibt ihnen eine Klarheit, die nicht die der Erklärung ist, sondern die der Feststellung […] Indem er von der Geschichte zur Natur übergeht, bewerkstelligt der Mythos eine Einsparung. Er schafft die Komplexität der menschlichen Handlungen ab und leiht ihnen die Einfachheit der Essenzen, er unterdrückt jede Dialektik, jedes Vordringen über das unmittelbar Sichtbare hinaus, er organisiert eine Welt ohne Widersprüche, weil ohne Tiefe, eine in der Evidenz ausgebreitete Welt, er begründet eine glückliche Klarheit.« (114)
B 11. Robert Venturi und Denise Scott-Brown schrieben: »Die Formen der modernen Architektur sind auf Kosten ihrer symbolischen Bedeutung geschaffen wurden, die sich von der Assoziation ableiteten […] Die frühen modernen Architekten verachteten das Prinzip der Erinnerung des ›Symbolismus‹ […], lehnten Eklektizismus und das gewollt Stilvolle […] in ihrer beinahe ausschließlich auf der Technik beruhenden Architektur ab.« (115) Ein zeitgemäßer Symbolismus müsse sich vor allem die Symbolsysteme des Alltags, der Trivialität, des Kommerzes zunutze machen, die »das symbolische Ambiente der wuchernden Stadt darstellen«. Die Polemik richtet sich gegen den Dünkel der Modernisten gegenüber allen kommerziellen Ausdrucksformen, ihren Widerwillen gegen die Phantasie des Merkantilen, ihre manierierte Aversion gegen das Gewöhnliche, gegen lokale Dialekte, gegen die Alltagssprache. In Opposition zur heroischen Attitüde und zu den industriellen Vorurteilen der
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Modernen feiern Venturi und seine Kollegen die populistische Vorstellungswelt des Schon-Dagewesenen, die überall erhältlichen Symbole der Marktwelt. Ihre Symbolvorräte sind Las Vegas, die Ausfallstraßen, Disneyland, in ihren Augen Meisterwerke der Massenpsychologie. »Walt Disney gibt uns, was die Leute wirklich wollen: Fußgänger-Maß und Straßenlandschaften, altmodisch und doch neu und vollständig geplant, auf sanfte Weise durch höchstentwickelte Technik erschlossen, sauberer und sicherer als die Städte, in denen Menschen wie du und ich wirklich wohnen.« (116) Die längst fällige Wiederentdeckung der Architektur als Volkskunst könne die hohe Kultur »aufnahmefähiger machen für aktuelle Bedürfnisse und Probleme.« Ähnlich wie Tom Wolfe, der den Snobismus des »Silberprinzen« Walter Gropius, den kostspieligen Materialkult Mies van der Rohes und den formalen Minimalismus der leeren »Glasschachteln« lächerlich machte, hat Venturi sich über die mönchischen Reinheitsrituale der Avantgarde lustig gemacht und dazu angestiftet, die Architektur wie ein Schneewittchen aus ihrer gläsernen Starrheit mit Trivialität zu erlösen. Auf den blutleeren Ästhetizismus der Avantgarde antwortet er mit einer schamlosen Lust am Eklektizismus, am Unreinen, an Mischformen, am Widersprüchlichen, am Vulgären und Grotesken, mit einem fröhlichen Bekenntnis zum Karnevalesken, zu einer »unordentlichen Vitalität«. Angesichts der Sterilität, welche die Moderne in den Städten hinterlassen habe, fordert er die Architekten zu postmoderner Lebensnähe und Lebendigkeit auf. (117) Kritiker dieser »Trivialitätsapostel« wenden ein, dass die Warenästhetik ohnehin überall Einzug gehalten habe, und dass es im Zeitalter der sprechenden Kühlschränke und der singenden Schokoladenplätzchen vielmehr darauf ankäme, dieser Symbolflut entgegenzutreten. Es gälte, Bollwerke der Schlichtheit und Authentizität zu errichten, um sich nicht überschwemmen zu lassen, anstatt die Flutwelle noch zu vergrößern. Das Plädoyer für die Trivialität wird diagnostiziert mit den Mitteln der Psychoanalyse als pathologische Abwehrleistung, als Identifikation mit dem übermächtigen Angreifer. Die Arbeiten und Entwürfe Aldo Rossis besitzen in ihrer ostentativen Kargheit, ihrer Attitüde der Unnahbarkeit sowie ihrer zur Formelhaftigkeit gesteigerten Reduzierung des Vokabulars im Unterschied zu Venturi die Aura des Frühen, Ursprungsnahen, Mythischen. (118) Die ständige Wiederholung bestimmter Leitmotive und die Anleihen beim neorealistischen Film tauchen seine Räume in die Atmosphäre einer traumhaften, quasimythischen Unwirklichkeit, verleihen ihnen etwas von der metaphysischen Malerei eines di Chirico. Die geometrische Einsilbigkeit trägt tiefgründige Archaik in die selbstvergessene, unkonzentrierte Zeichenwelt der Gegenwart. Der radikale Verzicht auf verspieltes Ornament und die zuweilen brutal anmutende Reduzierung auf krude Materialität verrät den festen Willen, die Gegenstandswelt der sie korrumpierenden Trivialisierung zu entziehen, ja die finstere Entschlossenheit, sich dem Getöse einer sich selbst vergötzenden Konsumwelt zu widersetzen, der babylonischen Sprachverwirrung falscher Bedürfnisse und falscher Begriffe brüsk den Rücken zu kehren. Das zu einem lästigen Dauergeräusch verkommene aufdringliche Geschwätz der Konsumgesellschaft versucht Rossi, wie mit einem Paukenschlag, zum Verstummen zu bringen.
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Architektursprache tritt hier nicht beredt auf. Eher handelt es sich um das Paradox einer Sprache des Schweigens. Durch das Verstummen, die abrupte Unterbrechung des Geredes soll der Architektur Gehör verschafft werden. Die Rhetorik dieses Schweigens zeigt Züge vornehmer Diskretion ebenso wie autistischer Verstocktheit. Sie ist Ausdruck eines streitbaren Moralismus und eines kalkulierten Spiels mit dem Schock, den der Sprachentzug auszulösen vermag, weil Gefahr vom Unterbewussten droht, die fortgeredet werden will. Mit dieser Haltung streitet der Architekt gegen die Entwertung seiner Erfindungen, wie ein Angehöriger einer machtlos gewordenen Aristokratie, einer aussterbenden Priesterkaste das Medium, dessen Monopol sie einst innehatte, für die Nachkommen unbrauchbar zu machen versucht. Er beschwört ein Reich, so unzugänglich, so menschenleer wie eine Unterwelt, eine Sprache, so selbstbezogen und hermetisch wie eine Urschrift, die nicht der menschlichen Kommunikation diente, sondern eher der altägyptischen ähnelt, die eine minutiöse Topographie des Totenreiches in einer Sprache festhielt, die niemand verstehen durfte. Und vielleicht ist auch etwas Morbidität nötig, um vereinnahmende Interpretationen abzuwehren und vielleicht auch ein wenig »Ingrimm«, wie Benjamin von Baudelaire sagte, um in diese Welt einzubrechen, ihre harmonisch erscheinenden und festgefügten Gebilde in Trümmer zu legen. Die Aura der Architekturmodelle und Zeichnungen Aldo Rossis, die dann doch nicht so grimmig sind, eher an das Märchen von der Messingstadt oder an di Chirico erinnernd, das Anmutige dieser Spielzeugwelt in ihrer mit vergilbten Kindheitsfotos wetteifernden Melancholie, stehen teilweise in krassem Missverhältnis zur Schäbigkeit der ausgeführten Entwürfe. Die realisierten Bauten sind demonstrativ antigraziös und materieverhaftet. Mit der Kultivierung der kruden Materialität der Dinge, der Stofflichkeit stechen sie deutlich gegen die Banalität des Verständlichen, Geläufigen, Gewohnten ab, was das Arkadenzitat von Gallatarese illustrieren mag. Wie der neorealistische Film einst den Optimismus des propagandistisch aufgeregten faschistischen Italien unterlief, so verweigert die Architektur Rossis, ähnlich dem Widerstandspathos eines Pier Paolo Pasolini, dem verordneten Optimismus der Konsumgesellschaft seine Komplizenschaft und den Gehorsam. Man denkt an Viscontis »Ossessione«: Der Tauschwert als Währung der geschlechtlichen Beziehungen durchdringt unerbittlich diese Liebesgeschichte; die Straße wird mit den sie säumenden Häusern zum vorbestimmten Schicksalsweg der Protagonisten, beinah mythisch ausweglos. Dabei geraten die Assoziationen merkwürdig durcheinander: die Bildkürzel von Fabrik, Gefängnis, Umkleidekabinen werden indifferent gegen die jeweilige Gebäudefunktion eingesetzt und auch stereotyp verwendet. (119) Mit dem Ziel, die Beliebigkeit der modernen Gestaltung in Richtung auf das Schicksalhafte, Nicht-Wählbare, wie es in der »wahren Liebe« in anerkannter Weise zur Geltung kommt, zu durchbrechen, hat Aldo Rossi den Versuch unternommen, in der Zeichenproduktion der Gegenwart so etwas wie Archetypen aufzuspüren und sie für Architektur nutzbar zu machen. Er fand dergleichen in gelungenen Gebrauchsdingen wie der allgegenwärtigen italienischen Kaffeemaschine ebenso wie in fossilen Ablagerungen der Architekturgeschichte, in den Straßen der Peripherie, in den Sozialbauten Mailands und den römischen Borgate, in den Mietshäusern an der Peripherie Roms, die in Pasolinis tragischen Filmen eine so große Rolle spielen, in den Backsteinschloten aufgegebener Fabriken.
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Das Symbol wird, von allen lästigen Begründungsansprüchen eines Diskurses »befreit«, zu etwas Pseudo-Archaischem. Die Faszinationskraft und Affektivität wird erhöht auf Kosten von funktionaler Intelligibilität. Redundanz wird nicht durchbrochen durch Reduzierung, sondern durch Steigerung der Redundanz selbst. Mit den architektonischen Archetypen entzog Rossi der Architektur die flottierenden Signifikanten, den total flow der analogen Zeichen und Metaphern, und setzte der Polysemie eine Strategie der Autonomisierung der Architektur entgegen. Michael Hays sprach von Rossis Strategie der »resistance through autonomy«. (120) Die Kehrseite oder der Nebeneffekt der Resemantisierung der Architektur war, dass sie sich für die außerarchitektonischen Zeichen-Praktiken, für Pop-Art und Populärkultur öffnete. So wurde denn der Versuch einer Überwindung der als Krise empfundenen Eindimensionalität der Kisten-Moderne und des Wiederaufbau-Funktionalismus selbst wiederum als Krisensymptom empfunden, weil die Öffnung für die Populärkultur als Angriff auf den autonomen Status der Architektur gewertet wurde. Eine der pointiertesten Reaktionen darauf waren neben Aldo Rossis typologischem Ansatz Oswald Mathias Ungers morphologische Methode. Beiden, Ungers wie Rossi, ging es darum, die Unterwanderung der Architektur mit populärkulturellen Elementen abzuwehren, durch den Rückbezug auf architekturimmanente Werte. Zwar hat sich nach dem furiosen Auftakt Rossis reformatorischer Impetus schnell verbraucht und sorgte die Produktion nur noch für die Repetition von Wiedererkennungsmerkmalen durch eine Heerschar von Angestellten, doch bleibt der Ansatz als das extreme Gegenteil zu Venturis Bekenntnis zur Trivialität in Geltung. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der Architekturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass so gegensätzliche Positionen wie die Aldo Rossis und die Robert Venturis gleichzeitig eingenommen werden und unter dem Etikett »Postmoderne« nebeneinander existieren konnten. Bei aller Gegensätzlichkeit haben die populistische und die aristokratische Position das gemeinsame Ziel, der Architektur eine verloren gegangene symbolische Kraft zurückzuerobern. Der gemeinsame Feind ist das Nichtssagende und Beliebige. Beliebigkeit ist allerdings, worauf Wolfgang Pehnt aufmerksam machte, auch ein unvermeidbarer Effekt der Entwicklung der Architektur und des Diskurses zu einem Vortrags- und Marketing-Medium. »Die Zeiten, da die Prophezeiung des Archidiakons Meister Claude, das Buch werde die Architektur töten, verstörend wirken konnte«, sind seiner Ansicht nach vorbei. Von Verstörung könne heute keine Rede mehr sein. Das Bauen und Entwerfen sei zu einem Medium geworden, das mit dem gebauten Stein, dem gegossenen Beton, dem gewalzten Stahl nur noch am Rande zu schaffen habe. Es hat sich nicht durch das Buch verdrängen lassen, sondern hat in einem Akt der Mimikry Züge des Gegenspielers angenommen und ist selbst zur vervielfältigten Lektüre geworden. Publikationen, Kolloquien, Vortragszyklen haben die Architektur zu einem transportablen Medium gemacht. Der Villa im entlegenen Tessiner Tal begegnet man auf den Projektionswänden der Vortragssäle ebenso wie den jüngsten Kreationen in den Vororten von Tokio oder Los Angeles. Das imaginäre Museum unserer Tage enthält Bauten so gut wie Bilder. Durch die Loslösung des Bauwerks von seinem konkreten Ort, von seinen Produktionsbedingungen, seinen sozialen Pflichten und seinem kulturellen Umfeld kam die Rotation der Stile erst richtig auf Trab. (121)
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B 12. Mit der Linguistik und Semiotik formierte sich in den sechziger und siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ein neues kulturelles Kräftefeld, das schnell zur Grundlagenwissenschaft der Architekturtheorie avancierte. Mit dem linguistic turn, so wie er 1967 von Richard Rorty ausgerufen worden war, begann der Aufstieg der Architekturtheorie als Zeichen-Wissenschaft. Die Semiotik und die Kommunikationswissenschaften wurden zu Basiswissenschaften der Architekturtheorie und lösten die vordem neo-marxistischen Kulturtheorien ab. So unterschiedlich argumentierende Architekten und Theoretiker wie Robert Venturi, Charles Jencks, James Stirling, Heinrich Klotz oder Peter Eisenman gründeten ihre theoretischen Reflexionen übereinstimmend in der Semiotik. Selbst Manfredo Tafuris neo-marxistische Architekturkritik war stark vom russischen und tschechischen Strukturalismus, von Viktor Šklovskij und Yuri Tynjanov, Roman Jakobson oder Jan Mukarovský beeinflusst. Mit der semiotisch-strukturalistischen Methode lag nicht nur ein Instrument zur kritischen Analyse der Architektur vor, sondern sie verhieß auch die Überwindung jener Leere, die durch die Ablehnung der Ikonographie im Allgemeinen und des Ornaments im Besonderen in der frühen Moderne entstanden war. (122) Seit den sechziger Jahren verstand sich die Architekturtheorie wesentlich als ein Projekt der semiotischen Rekonzeptualisierung der Architektur. Ihr Konzept des flottierenden Signifikanten, also eines permanenten, unabschließbaren Zeichenprozesses, galt dem Versuch, mit den ideologischen Verhärtungen der Nachkriegsmoderne zu brechen. Wie in Venturis und Eisenmans rhetorischen Ansätzen gleichermaßen deutlich wurde, konnte das nur bedeuten, die Architektur der Vieldeutigkeit und Polysemie zu öffnen, was weit über Charles Jencks Konzept der Doppelkodierung hinausging. Ressourcen für eine Autonomisierung sieht Peter Eisenman auch im besonderen semiotischen Status der Architektur, wie er 1993 in einem Gespräch mit Jacques Derrida explizierte. Der Unterschied zwischen einem sprachlichen und einem architektonischen Zeichen bestehe darin, so Eisenman, dass die Säule zunächst und in erster Linie als Säule und nicht als Zeichen wahrgenommen werde. »Die Säule ist kein willkürliches Zeichen«, sondern etwas, das in seiner konkreten Materialität eine konkrete Funktion besitze. Die Idee des »Unmotiviertwerdens des Zeichens«, also die Idee des flottierenden Signifikanten, welche zur Schrift gehöre, lasse sich daher in der Architektur nur schwer nachweisen. Da architektonische Gebilde in erster Linie reale Baukörper sind und ihre semiotischen Bedeutungen an diese Realia gebunden sind, verweist das architektonische Zeichen immer zuerst auf sich und erst in zweiter Linie auf ein Abwesendes. (123) Aber gerade darauf hatte in den achtziger Jahren der Dekonstruktivismus von Jacques Derrida abgezielt. Ihm zufolge war jede eindeutige Festlegung der Bedeutung eines architektonischen Elements nichts anderes als der durchsichtige Versuch, ein ontologisch verfestigtes, »transzendentales Signifikat« bestimmen zu wollen. Für Derrida verbarg sich dahinter ein zwanghaftes Bemühen, die frei flottierende Interpretationsbewegung der Zeichen zu unterbrechen und die Architektur auf eine ontologische Eindeutigkeit zu fixieren. Der Dekonstruktivismus setzte an diesem Eigenverständnis der Architektur als ontologisch eindeutig bestimmte, kulturelle Praxis an, doch nicht im Sinne der Bestätigung, sondern mit dem Ziel
B. Die Sprache der Monumente, der Skandal des Ornaments
der Subversion. Ende der achtziger Jahre wurde die subversive Unterwanderung des angemaßten ontologischen Status der Architektur geradezu zum Gradmesser für die Etablierung des Dekonstruktivismus als alles umfassende Kulturtheorie. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts führten die neuen Technologien und gesellschaftlichen Umwälzungen zu einer »gewaltigen Erschütterung des Tradierten – einer Erschütterung der Tradition, die die Kehrseite der gegenwärtigen Krise und Erneuerung der Menschheit ist«, schrieb bereits Walter Benjamin im Hinblick auf die künstlerische Avantgarde der Moderne und ihr damals neuestes Bildmedium, den Film. Einem ähnlichen Begründungszusammenhang entsprang nun auch das Bedürfnis nach Theoriebildung in der Architektur. In der Tat führte mit Verspätung der produktivistische Paradigmenwechsel der Moderne, also die Wende zur Maschinenproduktion, zur Serialisierung, Standardisierung und Typisierung, zur Lösung der Architektur aus ihrer Traditionsgebundenheit und zur generellen Erschütterung des tradierten Selbstverständnisses der Disziplin, obwohl die Architektur – trotz unentwegter Bemühungen des Bauhauses unter Gropius – nie den Industrialisierungsgrad etwa des Automobilbaus erreichte. Sigfried Giedeon hat mit »Mechanization takes command« das Programm verfasst. Er verwendete Abbildungen von Möbeln, deren Haupteigenschaft die Kombinierbarkeit und Verwandelbarkeit ist: Aus einem Sessel kann ein Sofa, und aus einem Sofa ein Klavier werden. Er versammelt Erfindungen, die zum größten Teil nie in Serie gingen, aber das Prinzip der Serialität veranschaulichen. Heute, mit fortgeschrittener Liquidisierung der Grenzen zwischen Objekt- und Bilderwelt im Kontext des iconic turn, wird die Solidität der Architektur, das, was bisher als kulturelle Konstante der Architektur betrachtet wurde – ihre ontologische Eindeutigkeit als materiellste und damit konkreteste aller kulturellen Praktiken –, erneut und auf noch radikalere Weise in Frage gestellt. Die Frage stellt sich neu, was die Architektur denn eigentlich sei, mehr Objekt oder mehr Bild, mehr Realität oder mehr Fiktion, mehr materielles Sein oder mehr flüchtiger Schein. Tafuri forderte für die Architektur einen kritischen Bilddiskurs. Er hatte dabei eine semiotische Erweiterung und Fortschreibung des Marxismus im Sinn. Nicht zufällig ist daher die wiederholte Referenz auf die malerische Tradition der europäischen Kulturgeschichte, auf die Maler Carracci, Caravaggio, Michelangelo und Giulio Romano. (124) Von der Suche nach dem »kritischen Wert des Bildes« versprach er sich Schutz gegen die unabsehbaren negativen Folgen der Semiotisierung. Jedes Nachdenken über die Architekturtheorie im digitalen Medienzeitalter hat von der Verschiebung der kulturellen Dominante von der modernistischen Objektproduktion zur postindustriellen Bilderkonsumtion auszugehen. Mit dem total flow der Bilder sind wir mit neuen Formen der Gegenstandslosigkeit konfrontiert, die sich keineswegs auf die Welt der digitalen Bilder beschränken lassen. Das Ausmaß des Eingriffs in die Architekturwelt wird sichtbar, wo nach K. Michael Hays über soziale Ordnungen heute nicht mehr nachgedacht werden kann ohne ein theoretisches Konzept der Medien als Technologie und Kommunikation. Das bedeutet, dass die Architektur heute auf ihrem ureigensten und privilegiertesten Feld in Frage gestellt ist, nämlich – nach Henri Lefebvre – auf dem der Produktion des Raumes als zentraler Instanz für die menschlichen Sozialisierungsprozesse. Gegen die Prädominanz der Materialität, der Körperdiskurse und der Performativität und auch gegen die Ontologisierungsversuche der Architektur drängt sich rückblickend die Frage ins
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Bewusstsein, ob denn nicht seit Vitruv die Architekturpraxis immer auch Bildpraxis und Architekturtheorie nicht immer auch Bildtheorie gewesen sei. Eine Rekonzeptualisierung der Architektur hätte heute konzeptuell tiefer anzusetzen. Die Auflösung der hergebrachten Territorialisierungen mit der Möglichkeit der willkürlichen Resynthetisierung der Elemente hatte Barthes bereits an Charles Fouriers »Neuer Liebesordnung« beobachten können. Barthes zitiert von Fourier die folgenden Sätze: »Als nächtliches Mobiliar wäre diese Zusammenstellung aus unseren lebenden und so verschiedenfarbigen Monden schon beachtlich. Phoebus wäre daneben was er ist, ein blasses Gespenst, eine Totenlampe, ein Schweizer Käse. Man muß schon den schlechten Geschmack der Zivilisierten haben, um diese blasse Mumie zu bestaunen.« Die Aufzählungen, sein verbales Delirieren, seine Wortschöpfungen und Komposita und Wortverknüpfungen, etwa die ›Kostüme der Müdigkeit‹, sie haben »immer eine Pointe, eine Verdrehung, einen Bruch ins Unpassende«. »Der aufzählende Cumulus ist bei Fourier ebenso ruckhaft wie die Kopf bewegung bei einem Tier, einem Vogel, einem Kind, das ›etwas anderes‹ gehört hat.« (125) Wenn er die Fische und Wassertiere aufzählt, die nach den Transformationen übrigbleiben werden, Weißling, Makrele, Scholle, Schildkröte und die Serie schließt mit: »kurz alle Tiere, die den Taucher nicht anfallen«, dann sehen wir plötzlich, in einem surrealistischen Mechanismus, die Makrele, wie sie den Taucher angreift. Wenn die Zivilisationen im Namen des Konkreten vorgehen, um den Verrückten Lektionen zu erteilen, dann führt uns hier das Konkrete an den Rand des Verrücktseins. Wenn in einem Paragrammatismus zwei Wortklassen ineinander verflochten werden, die sich eigentlich ausschließen, etwa bei den »kleinen Pasteten, die auf dem Konzil von Babylon angenommen wurden«, dann nicht um die Hierarchie zu annullieren, sondern zu desorientieren – »eine plötzliche Ansteckung stört die Institution der Sprache«. Wenn er Objekten einen demonstrativen Rang verleiht, dann handelt es sich häufig um niedrige Objekte. Ist nicht die Aufreihung und Auftürmung von Bauwerken, Details, Fluchten, Sichtschneisen in der Architektur eine Sprache, die der Fouriers vergleichbar ist? Die artifiziellen Listen und Kategorisierungen Fouriers führen zurück zum Ursprung der Sprache als Ursprung aller Kultur. Der Übergang vom vormenschlich-vorkulturellen Dasein zur Existenz innerhalb des soziosymbolischen Universums erfolgte nicht als Kontinuum oder graduelle Steigerung, nicht direkt, als ein Schritt, über den man sich in Form einer kontinuierlichen Entwicklung Rechenschaft ablegen könnte, sondern als gewaltsamer Vorgriff auf etwas ganz Anderes, in dessen Licht in der Folge sämtliche Dinge und Wesen erscheinen und die Welt neu entsteht: als ein Big Bang.
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B 13. Von Sprache wird in der Vernunftaufklärung erwartet, dass sie von allen Gedanken die fortschrittlichsten am liebsten weiterträgt. Ihr wird unterstellt, dass sie selbst eine Neigung zur Vernunft habe. Einer der mächtigsten Diskurse der Architekturgeschichte, die Ornament-Kritik, attestiert der Symbolwelt als eine Art Laster eine gegenaufklärerische Neigung, die Tatsachen zu verschleiern, die Wirklichkeit verzerrt wiederzugeben und – weit entfernt davon, der Kommunikation und der Intersubjektivität zu dienen – alles daranzusetzen, in der Welt Zwietracht zu säen und den Verstand zu benebeln. Sigfried Giedion polemisierte in seiner Propaganda der Moderne gegen das Ornament und charakterisierte das 19. Jahrhundert durch die Hervorbringung neuer Konstruktionsmöglichkeiten und zugleich durch die Neigung, alle Neuschöpfungen mit historisierenden Masken zu umkleiden. »Man schuf neue Konstruktionsmöglichkeiten, aber man hatte gleichsam Angst vor ihnen, man erdrückte sie haltlos in Steinkulissen.« Die vorige Generation hatte in seinen Augen Angst vor ihren eigenen Möglichkeiten. (126) Der Einfluss der Architektur auf das soziale Leben und die Einstellungen der Menschen macht sich in dieser Bewertung auf negative Weise geltend, indem sie Ungleichheit fördert und festigt und die Möglichkeit, diesen Missstand zu erkennen, verhindert. Die architektonische Formensprache, so weit sie ornamental ist, dient der Blockierung des Fortschritts. Zwar gibt es hinter dem schönen Schein eine andere Sprache der rationalen Sachgemäßheit, doch kommt sie kulturell nicht zum Zuge. So wie Karl Marx die kapitalistische Wirtschaftsweise als ein retardierendes Moment der gesellschaftlichen Produktivität ansah, sah Veblen überall Momente, die der angeblich im Zuge der Demokratisierung fortschreitenden Egalisierung entgegenliefen, Anzeichen eines inmitten der großen Industrie gespensterhaft überlebenden Feudalismus. Er sah im Ornament Rückstände der Feudalgesellschaft inmitten der nicht vollständig verwirklichten Demokratie. Etwas in der Kultur sorgt dafür, dass der Feudalismus in der Maske der Demokratie weiterlebt, ohne dass es jemand bemerkt. Dieses Etwas ist das Ornament. Es ist also nicht nur Ausdruck des Betrugs, es schützt auch den Betrug gegen seine Entdeckung. Vermittels des Ornaments wird das Offensichtliche unsichtbar gemacht. Das Ornament ist nicht nur ein Ärgernis wegen der nicht durch Nützlichkeit zu rechtfertigenden Materialverschwendung. Es ist so gesehen die ästhetische Erlaubnis für die Ausbeutung der Armen durch die Reichen, für Betrug im großen Stil und darüber hinaus Freibrief für die Reichen, mit ihrem auf Kosten anderer erworbenen Reichtum ebendiese anderen zu brüskieren, sie ihrer Dummheit wegen, sich ausbeuten und arm halten zu lassen, auch noch zu verhöhnen, auf den Arm nehmen zu lassen. Die prunkvolle Ausstattung einer Villa demonstriert die Frechheit des Eigentümers, sich mit seiner geraubten Beute vor den Opfern zu brüsten. Es handelt sich um eine Provokation, die nicht erwidert wird und die so die hämische Schadenfreude des Siegers noch steigert um den Genuss der freiwilligen Unterwerfung, der Schwächlichkeit und peinlichen Selbsterniedrigung der Unterlegenen. Der ausgestellte Reichtum verweist in frivoler Offenheit auf die Veruntreuungen, Räubereien, die seine Akkumulation ermöglichten. Er verschafft
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nicht nur Bequemlichkeit und Genuss, sondern erlaubt auch, die Räubereien unbegrenzt fortzusetzen. In dieser Zuspitzung hat das von Thorstein Veblen aufs Korn genommene Syndrom Züge des Universums des Marquis de Sade, in welchem der Reichtum den Libertins ermöglicht, das Schauspiel der Ohnmacht derer, die beraubt wurden, in Szene zu setzen und sich daran zu ergötzen. Was bei Sade Lust verursacht, ist nie nur um der Lust willen da, sondern weil es das Schauspiel der Armut in Szene setzt. Der Umstand, dass es Arme gibt, weil es Reiche gibt, ist für Veblen der Skandal. Die Provokation de Sades liegt darin, dass die Reichen sich benehmen, als müsse es sie geben, damit es Arme gibt. »Die Sade’sche Gesellschaft sagt nicht: es muss Arme geben, damit es Reiche gibt. Sie sagt im Gegenteil: Es muss Reiche geben, damit es Arme gibt. Reichtum ist notwendig, um das Unglück zu inszenieren.« (127) Das Ornament in dieser Zuspitzung ist nicht nur Ausdruck von Ungerechtigkeit, sondern von Infamie, nicht nur Zynismus, sondern zugleich Grausamkeit. Die merkwürdige Stabilität des Verhältnisses von Ungleichheit, wie sie sich im Ornament als der symbolischen Schnittstelle manifestiert, beschäftigte auch andere. Für Oswald Spengler ist diese Reziprozität durch die Ängstlichkeit und die Beeindruckbarkeit des Schwächeren gesichert. Er folgte hierin Friedrich Nietzsche, der bereits über das reziproke Funktionieren von Herrschaft und ihrer Symbolik gespottet hatte. Herrschaft entsprach für ihn dem verachtungswerten Bedürfnis der Schwachen nach Unterdrückung. Ihm erschienen selbst Menschlichkeit, Fürsorge und Gerechtigkeit, Moral insgesamt als Schwindel, den sich die Schwachen zum Schutz vor den Starken ausgedacht hätten, um ihre eigene Feigheit und Erbärmlichkeit nicht erkennen zu müssen. Moral sei stets Sklavenmoral. Die Kenntnis der Herrschenden von diesen Dingen, ihr Herrschaftswissen wäre ihre perverse Kenntnis der Psychologie der Beherrschten. (128) Veblens Thema war der Missbrauch architektonischer Gestaltung zu dem Zweck, Gegensätze als Harmonie erscheinen zu lassen. Ihm waren nicht erst die historisierenden Fassaden des 19. Jahrhunderts Betrug, sondern schon die Herrschaftsarchitektur der Renaissance. Ja, selbst die antiken Tempel schienen ihm darauf angelegt zu beeindrucken, zu benebeln, einzuschüchtern, zu verwirren, zu entfremden, zu betrügen. Nicht nur haben die »Metropolen des 19. Jahrhunderts […] die Säulen des attischen Tempels, die gotischen Kathedralen und die trotzigen Paläste der italienischen Stadtstaaten im Namen grenzenlosen Disponierens über die Menschengeschichte trugvoll versammelt«, für Veblen sind die »echten« Tempel, Kathedralen, Paläste schon so falsch wie ihre Imitationen. (129) Er erklärte nicht den Kitsch aus der Kunst, sondern alle Kunst aus dem Kitsch. Veblen ging damit Egon Friedell voran, der meinte, die Götter der Griechen seien von Anfang an von Offenbach gewesen. Das Ornament ist nicht nur unerkannter Ausdruck der Retardierung und des Betrugs, sondern zugleich auch Instrument zum Zwecke der Absicherung des Betrugs gegen seine Entdeckung. Es verwandelt den Skandal in Normalität. Kunsthandwerk wird so zum Komplizen des sozialen Verbrechens. Veblen liefert den theoretischen Rahmen für Adolf Loos’ berühmte Parole vom Ornament als Verbrechen, die in diesem Kontext gar nicht mehr so gesucht anmutet. Veblen trieb die Frage um, wie es zu dem widersinnigen Phänomen kommen konnte, dass der im demonstrativen Konsum verschwendete Reichtum, obwohl der
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doch denen, denen er vorenthalten bleibt, in verachtender Weise deren Benachteiligung vor Augen führt, das allgemeine soziale Ansehen der Reichen erhöht. Die Erklärung könne nicht nur in den bizarren Regeln der Kreditwürdigkeit liegen, denen zufolge Verschwendung nicht als Warnung fungiert, dass die Zahlungsfähigkeit gefährdet sein möchte. Statt die Ausgaben für den überdimensionierten Swimmingpool vom Vermögen abzuziehen, das für die Rückzahlung der Kredite verfügbar bleibt, wird er als Indiz für die sagenhafte Dimension und die Unerschöpflichkeit des Reichtums des Kunden gelesen. Während man meinen sollte, dass er für den Kreditnehmer ratsam sei, seinen Mercedes hinter der Ecke zu parken, fungiert tatsächlich ostentativer Konsum als Prestigegewinn und Vertrauenssymbol. Dass diese Perversion noch heute funktioniert, beweist der Erfolg Donald Trumps als Immobilienspekulant und Wahlkämpfer. Der Protestant aus einer aus Schweden eingewanderten Familie sah sich mit dem Paradox konfrontiert, dass sich die nordamerikanische Gesellschaft, was die Produktion und die Produktivkräfte, die technischen Möglichkeiten und die wirtschaftliche Potenz angeht, in der weltweit besten Lage befand, soziale Ungerechtigkeit zu überwinden, und doch von diesem zum Greifen nahen Ziel weiter entfernt war denn je. Der Überbau zeigte die merkwürdigsten Rückständigkeiten, so als befände man sich im tiefsten Mittelalter. (130) Die vermeintlich zivilisierte Gesellschaft bot Veblens Säureblick ein Bild fortgesetzter Barbarei. Kulturelle Erscheinungsformen dienten noch immer wie in primitivsten Stammeskulturen dazu, eigenen Reichtum anderen gegenüber protzig zu demonstrieren, ihn vor den Augen anderer in potlatch-artigen Riten zu vernichten, statt ihn der Allgemeinheit zugutekommen zu lassen. Statt des nutzbringenden Einsatzes der Fähigkeiten und Ressourcen zum Wohle aller und statt der nach demokratischen Prinzipien geregelten Verteilung der Früchte der Arbeit sah er überall himmelschreiende Ungleichheit und heillos dumme, unproduktive Verschwendung. Kriegerische Tugenden der Feudalzeit seien nicht etwa verschwunden, stellte er fest, sie haben lediglich eine andere Sphäre der symbolischen Bewährung gefunden, wo sie umso besser überleben konnten: im »demonstrativen Konsum« (conspicuous consumption). Sinnlose und ruinöse Tapferkeit im Kampf oder auf der Jagd sei keineswegs lächerlich geworden, sondern durch die im Geldmachen ersetzt, auf die im Anhäufen von Schätzen übergegangen. Schmuckgewohnheiten dienten noch immer dazu, zu demonstrieren, dass man selbst nicht arbeiten und sich nützlich machen musste. Das Mittelalter war nicht vergangen, es hatte sich nur ein neues Kleid gegeben. Die Industriekapitäne und Bankiers seien die Feudalherren und Barone der neuen Zeit. Nun folgerte Veblen hieraus nicht etwa resignativ die Unveränderlichkeit der beklagenswerten menschlichen Natur. Statt vor der Unverbesserlichkeit des Menschen zu kapitulieren, diagnostizierte er eine kurierbare Verhaltensstörung. Die angeprangerten Atavismen betrafen seiner Ansicht nach nicht den Kern der Gesellschaft, die Formen asozialer Aneignung und verschwenderischer Selbstdarstellung und Abgrenzung legten sich lediglich wie eine Kruste über das gesellschaftliche Leben, seine Vitalität erstickend wie Goldbronze auf der Haut. Gelänge es, diese Kruste als solche sichtbar zu machen und abzukratzen, träten die Möglichkeiten der Menschheit ans Licht und ließen sich wie selbstverständlich zur Entfaltung bringen. Als diese Kruste identifizierte er das Ornament.
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Utilitarist durch und durch glaubte Veblen, dass die Grundzüge des menschlichen Wesens bereits auf der Naturstufe biologisch selegiert und fixiert worden seien, sie stünden evolutiv nicht mehr zur Debatte. Für Veblen war der Mensch von Geburt an mit der Fähigkeit zu ökonomischem Handeln ausgestattet, sozusagen mit einem Instinkt für die Zweckmäßigkeit. Jener Instinkt sei lediglich institutionell fehlgeleitet, so dass er nur in der denaturierten Form der Neigung zum Triumphieren und im pekuniären ruinösen Wettbewerb erscheine. Die Mixtur räuberischer Institutionen verzerre den sozialen ökonomischen Instinkt zu einer asozialen Attitüde. Adorno ging Veblens kulturelle Genetik dann doch etwas zu weit. Er unterstellte Veblen, zur Verteidigung seines Ideals der Gleichheit und Ökonomie der Mittel so weit zu gehen zu behaupten, der Mensch habe bereits im Paradies im Schweiße seines Angesichts arbeiten müssen und wollen. (131) Veblen fand, die von ihm diagnostizierte Fehlleistung sei nur oberflächlicher Natur, das Motiv war allerdings darum freilich nicht weniger stark. Anstatt dass die wenigen Reichen von der überwältigenden Überzahl der Kleinen Leute isoliert und lächerlich gemacht würden, finden jene Industriekapitäne, Großgrundbesitzer, Zeitungszaren und Ölmagnaten, die Morgans, Vanderbilts und Rothschilds, die ihre sagenhaften Reichtümer und die aberwitzige Vergeudung ihrer Mittel schamlos zur Schau stellen, ihre zahllosen Nachahmer unter den Kleinaktionären und Spekulanten bis hinunter zu den Kleinbürgern und Proletariern. Statt zu protestieren, spenden sie Beifall. Sie alle wollen nicht zurückstehen, jene Rückständigkeit der Kultur mit zu verkörpern, und sei es nur mit lächerlich geringem Anteil am Luxus. Sie alle zeigen sich blind gegen den Zusammenhang, der sich Veblen auf Schritt und tritt auftat. Eine Bevölkerungsgruppe gibt es jedoch, die fähig scheint, diese Deformation zu durchschauen und den Rest der Welt von ihrer Selbsttäuschung zu kurieren. Der arbeitenden Bevölkerung unterstellte Veblen ein ausreichendes Maß an Unbestechlichkeit und Skepsis auf Grund eines gesunden Menschenverstands, so dass sie nur aufgeklärt werden müsse. Und in den Technikern und Ingenieuren, Vertretern jener anderen Intelligenz – gemäß der zwei Kulturen-Theorie – sah er die wahren Vorbilder und Lehrer der arbeitenden Masse. Nicht umsonst spielten sie die Rolle des Geschichtssubjekts in technokratischen Utopiemodellen: Männer mit praktischer Intelligenz, mit Sinn für das pragmatisch Richtige und einer stabilen Aversion gegen das bloß Opportune oder gerade Modische, mit einem moralisch einwandfreien gesunden Menschenverstand. Ihren nüchternen Verstand gebrauchten sie nicht in erster Linie zum finanziellen Eigennutz, sondern im Dienst der Gemeinschaft und für die Zukunft der Menschheit. Der Ingenieur wird, durch literarische Beispiele unterstützt, zum neuen Helden, der sich durch Gradlinigkeit, Verlässlichkeit und Aufrichtigkeit auszeichnet. Die idealen Ingenieure als Heroen des neuen Zeitalters treten die literarische Nachfolge der Marineoffiziere und Matrosen an, wie sie bei Joseph Conrad ihre Apotheose erlebten. Der Ingenieur ist ein Mann, der arbeitet, obwohl er Gentleman ist, ja ihn macht die Arbeit zum Gentleman, er wird durch seine Arbeit geadelt. Er bildet das Gegenbild zum dekadenten, verrotteten geisteswissenschaftlich verspielten, weltfremden oder zynischen Intellektuellen. Im Unterschied zu den platonischen Utopien der Alten Welt, in denen der Philosoph König war, also in der Regel einer aus der Klasse der Reichen, auf jeden Fall aber ein Müßiggänger, sollte in der neuen Ära, die Veblen die »nachdarwinistische« nannte (Jahreszahl A.D. = after Darwin) der In-
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genieur das Leitbild sein, er war der maschinenfreundliche, weniger gelehrt-parasitäre »Philosophenkönig« der Zukunft. Er ist als der »Self-made-man« die positive Figur, die für jedermann zur Identifikation bereitsteht und den größten Konsens auf sich vereinigen konnte, der Held der populistischen Bewegung des Mittelwestens, wie sie von Thomas Paine oder Thomas Jefferson geprägt und verkörpert wurde. Er hat einen Werdegang, in dem sich die kleinen Leute mit ihren Nöten wie mit ihrem flinken, patenten Verstand gespiegelt finden. Bei ihnen finden sich auch bereits die Motive einer Sozialtheorie vorgezeichnet, der zufolge die Gesellschaft durch Geld und Macht durch einige wenige korrumpiert und hintergangen und betrogen werde. Vor dem finsteren Hintergrund der »conspicuous consumption« vermag der kompetente Ingenieur moralisch zu leuchten. Von der Elite der Finanzaristokratie als ungebildeter Hinterweltler belächelt, repräsentiert er den einfachen, aber gleichwohl klar denkenden und nicht drum herum redenden Mann des Volkes, der ohne Rücksichten und ohne die Bewusstseinseintrübungen durch Abhängigkeiten wahrnehmen und denken kann, da er niemandem etwas zu verdanken hat, da er sich alles selbst erarbeitet hat, mit eigener Hände Arbeit, da er etwas aus sich gemacht, da er sich selbst gemacht hat. (132) Das positive Gegenbild zu der sich am Ornament auskristallisierenden verkehrten Welt ist die ornamentlose, unmaskierte Zweckmäßigkeit der Artefakte als Inbegriff der unablässigen, gemeinschaftlichen Bemühungen um die nützliche, allen zugutekommende ökonomische Verwertung der Ressourcen. Die Gegenwelt wird verkörpert durch solche Gebrauchsgegenstände, die in ihren klaren Formen ihren Zweck und ihren Nutzen ausweisen können und deren Nützlichkeit den Aufwand an Material und Arbeit rechtfertigt. Mit einem so gearteten Interesse an den Dingen und ihrer Gestaltung sei man mit den Interessen der Gemeinschaft solidarisch. Das demonstrative Ornament hingegen schränke den allgemeinen Gebrauchswert eines Gegenstandes ein, zugunsten des exklusiven Privilegs Einzelner, die ihn dazu benutzen, vor den Augen anderer zu prahlen, und ihn lieber zerstören und wegwerfen würden, als ihn mit anderen zu teilen. Da es sich um gesellschaftlichen Reichtum handelt, der im Sinne eines Naturrechts der Produzenten allen gehört, müsste, wenn die Gesellschaft nicht insgesamt verblendet wäre, dessen Vergeudung als ein Verbrechen erkannt und genauso strafrechtlich verfolgt werden wie Diebstahl und Landesverrat, wie Sabotage. Das Land werde genau besehen von einigen wenigen wie von einer Räuberbande terrorisiert. Zum Verrücktwerden, dass dies niemandem bewusst wird. Die organisierte Kriminalität erscheint als Normalität. Obwohl Nordamerika allen evolutionstheoretischen Prognosen zufolge die besten Chancen hatte, eine Gesellschaft der Gleichheit und der gerechten Verteilung der erwirtschafteten Reichtümer auszubilden, musste Veblen doch gerade hier das Übel am ausgeprägtesten vorfinden. Ein anderer Self-made-man, Mark Twain, teilte Veblens auf Comte und Spencer fußende Einstellung und fand sich in der Welt der Literatur in einer vergleichbaren Situation wie der Soziologe Veblen. Wenn Goethe geseufzt hatte, Amerika habe es besser ohne verfallene Schlösser und könne bewahrt bleiben vor Ritter-, Räuber- und Gespenster-Geschichten, dann sollte er sich irren. Die Ritterromane Walter Scotts ebenso wie die »gotischen« Romane Horace Walpoles, sein schwülstiges »Castle of Otranto« insbesondere, oder
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der skandalöse »Mönch« von Lewis und vor allem die psychologische Ausstattung des Gespensterschlosses mit den Raffinessen der Empfindsamkeit durch Ann Radcliffe hatten in Amerika einen derartigen Erfolg, dass man dem Beispiel folgte und eigene Schauergeschichten produzierte, selbst jede Menge »Aventürenblech« produzierte, wie Fontane sich ausdrückte. (133) Die Verbreitung der europäischen Schauergeschichte in Amerika war aber offensichtlich nicht auf das Vorhandensein mittelalterlicher Burgruinen und verfallener Spukschlösser angewiesen. Deren Fehlen hinderte den amerikanischen Roman nicht daran, in seinen verbreitetsten Exemplaren schauerlich sein zu wollen. Die Idee des ursprünglich guten Menschen und das Faktum der Ursünde prallten ständig aufeinander. Für dieses ortlose Schuldgefühl gab es keine Sprache und keine Bilder innerhalb der Utopie. So »warteten in den Vereinigten Staaten gewisse Schuldgefühle darauf, gotisch eingekleidet zu werden.« Man konnte gar nicht anders, als hierfür auf das europäische Bildinventar des »Unheimlichen« zurückzugreifen. (134) Bei der Übertragung der literarischen Gotik auf amerikanische Verhältnisse stellte der Mangel an verfallenen Abteien und Burgverliesen wie das Fehlen einer feudalen oder monastischen Vergangenheit lediglich ein technisches Problem dar, das sich als nicht unüberwindlich erwies. Charles Brockden Brown, dessen erste Adaption der europäischen Schauergeschichte bereits 1798 erschien, hat unterschiedliche Strategien ausprobiert. Im »Wieland« verlegt er die sozialen und landschaftlichen Gegebenheiten in die Psyche der Personen hinein. Der Verführer, der alle irdischen und übernatürlichen Mittel auf bietet, um Clara von ihrem Geliebten zu trennen, trägt entfernt aristokratische Züge. In »Edgar Huntley« sind die Ritter und satanischen Grafen durch Indianer ersetzt, die im Unterschied zu ihren europäischen Äquivalenten, die unaufhörlich redeten und überredeten, in absoluter Stummheit dahinbrüten. Sie sind bedrohlich durch ihre Unansprechbarkeit und Unzugänglichkeit, ja ihre bloße Anwesenheit, ihre »gigantischen Formen«, ihren »riesigen Gliedmaßen« und ihren phantastischen und furchterregenden Aufputz, sozusagen als lebendig gewordene Ritterburgen. Brockden Brown, der erste Berufsschriftsteller Amerikas, der von dieser Tätigkeit gut leben konnte, widmete 1798 ein Exemplar seines »Wieland« dem Präsidenten Thomas Jefferson, in der Hoffnung auf Anerkennung. Jefferson freilich hegte eine tiefe Abneigung gegen jede Art von Obskurantismus, und jegliche Grübelei und Spekulation über das Böse im Menschen war ihm verhasst. Er fühlte sich geradezu verpflichtet, mit Gespenstern und Schattenwesen aufzuräumen und für ein Leben in einer sonnenhellen, neoklassischen Welt zu kämpfen. Selbst deistisch eingestellt und von den Lastern und Albträumen des Calvinismus verschont geblieben, arbeitete er daran, den jungen Staat nach den Idealen des Aufklärungszeitalters zu formen. Der Erbauer des palladianischen Monticello wollte den amerikanischen Mythos in der neurömischen Tradition des 18. Jahrhunderts verankern. Wenn er also überhaupt Zeit fand, den Roman zu lesen, dann wird er ihn verabscheut haben. Er reagierte nicht. Autoren wie Herman Melville oder Nathaniel Hawthorne vermieden die direkte Bezugnahme auf europäische Schauerromantik, seine vulgäre Szenerie und die etwas künstlich wirkende Apparatur. Sie prägten gleichwohl mit einer eigenen Schauerlichkeit die amerikanische Literatur auf nachhaltigere Weise als jene Literatur des bemüht Grotesk-Schauerlichen in einem Land, das von sich selbst das
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Bild des Lichts und der Lebensbejahung kultivierte, wenn auch zahlenmäßig ihre Auflagen hinter denen der obskuren Ritterromantik weit zurückstanden. Die Romane und Erzählungen von Mark Twain, Herman Melville und Nathaniel Hawthorne, dieser drei Großen der amerikanischen Literatur, überragen die epigonale Schauerromantik deutlich, aber sie ließen auf sich warten, und auch ihr Erfolg ließ auf sich warten, im Falle Melvilles, von einem Anfangserfolg abgesehen, bis lange nach seinem Tod. Die Romane von Brockden Brown oder Alfred Tennyson erfreuten sich, vor allem gelesen in den gebildeten Kreisen der Geld-Aristokratie, weit größerer Beliebtheit und dies zu Lebzeiten ihrer Autoren. Der damalige Lieblingsschriftsteller der Oststaaten-Ladys, der die Damen mit Geschichten von König Arthus und den Rittern der Tafelrunde unterhielt, war Sir Thomas Malory. Die drei durften sich als Hofpoeten der alteingesessenen Oststaatenfamilien fühlen, die sich gegenüber den Neureichen und Parvenüs des Mittelwestens gewissermaßen als Adel dünkten, trafen sie doch vor allem den Geschmack der älteren Damen, die sich in ihren altertümelnden Villen am Hudson River die teure Langeweile mit Ritter-Geschichten vertrieben. (135) Mit dieser aufgewärmten Ritterromantik vertrug sich eine ebenfalls an europäischen Vorbildern orientierte Reformliteratur. Der Freundeskreis um Ralph Waldo Emerson in der Kleinstadt Concord bei Boston wurde zur Keimzelle eines Kultes des einfachen Lebens in der Natur. Der Common Sense machte sich lustig: Der Geist Goethes schwebe über Massachusetts. Goethes amerikanischer Seufzer hat ihn nicht davor bewahrt, selbst zum Spukgespenst zu werden. Emersons »Überseele« hat mehr noch als mit Goethe mit Nietzsches Übermenschen zu tun, der in Amerika an Unheimlichkeit verlor, weil die Bürger sich nicht mehr wie Zwerge auf den Schultern von Riesen fühlten, sondern auf Augenhöhe mit den Heroen der alten Welt. Georges Sorel entdeckte Nietzsches Übermenschen in der Gestalt der »zu allen Arbeiten geschickten Yankees«, die die USA zu »außerordentlicher Größe« geführt hätten. Nietzsche selbst hat sich zu dieser Wahlverwandtschaft bekannt und bemerkt, manchmal habe er den Eindruck, er und Emerson redeten »mit Einem Munde«. Im Hinblick auf dieses transatlantische Bündnis sprach man sogar von Emerson als von »Nietzsche the American way«. Das Hochtrabende zog freilich den Spott auf sich. Amos Bronson Alcott, der sich für den amerikanischen Pestalozzi hielt, musste es sich gefallen lassen, dass man ihm nachsagte, er könne sich nach intensiver Lektüre deutscher Autoren kaum noch verständlich ausdrücken. Die deutsche Sprache war bei Mark Twain synonym für Umständlichkeit und Unverständlichkeit. Der Begriff »transzendental« wurde bald zum Synonym für »nicht ganz richtig im Kopf«. Dass es in Amerika keine Ritterburgen gegeben habe, ist außerdem nicht ganz korrekt. Man hat dieses Versäumnis eilig nachgeholt. Die Schauerromantik färbte auf die Architektur ab, so dass viele der Gebäude, in denen sie goutiert wurde, denen, die in ihr geschildert wurden, erstaunlich ähnelten. Die Landsitze der Familien, deren weibliche Mitglieder jener Ritterromantik frönten, waren der historisierenden Mode zufolge selbst die reale Fortsetzung der imaginären Kulissen jener Romane. Mit den waffenstarrenden bretonischen Trutzburgen in Twains Roman könnten also durchaus die ornamentüberwucherten Villen der Oststaatenbarone gemeint sein, zunächst entlang des Hudson River, später auch an der Nordküste von Long Island, wo sie sich zwischen Manhasset und Huntington wie Perlen auf einer
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Schnur aneinanderreihen. In den schlossähnlichen Villen der Pelz- und Immobilienhändler, Öl- und Eisenbahnmagnaten Johann Jakob Astor, William Vanderbilt, F. W. Woolworth, John D. Rockefeller oder J. P. Morgan, wo diese wie Duodezfürsten residierten, fiel die imaginäre Identifikation mit Feudalherren leicht, und das Volk mag in ihnen durchaus edle Ritter gesehen haben. Die Architekten der Villen am Hudson River oder in Newport arbeiteten im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganz in diesem Geist der europäischen Kultur und der Ritterromantik. Angezogen vom milden Klima und von der idealen Lage am Atlantischen Ozean begannen Amerikas reichste Familien am Hudson prunkvolle Sommerresidenzen zu errichten, die sie in gespielter Bescheidenheit »Cottages« nannten. Sie traten damit in die Fußstapfen der holländischen Manor-houses, die von Pelzhändlern im frühen 18. Jahrhundert errichtet worden waren, von wo aus diese das umliegende Land im feudalen Sinne regierten, obwohl es sich nicht um gebürtige Aristokraten handelte. Obwohl die nachrückenden Engländer und die Enteignungen für die Finanzierung der Kriege gegen das Mutterland diese Feudalherrschaft beendeten, kann man doch von einer gewissen Kontinuität sprechen, wenn die Industrie-Barone sich ein Jahrhundert später ebenfalls als Feudalherren gerierten. Als Vorbilder für ihre »Lustschlösschen« dienten ihnen jene majestätischen Paläste, die sie auf ihren Reisen in die Alte Welt gesehen hatten, mit einem durch die Arthus-Romane bereits geschulten und zugleich verkitschten Blick. Architekten wurden engagiert, um Imitationen französischer Renaissance-Schlösser und viktorianischer Neugotik zu bauen, jene »weißen Elefanten«, wie Henry James sie spöttisch nannte. Nachdem viele der Besitzungen durch Land-Verkäufe verkleinert und von Wohnungsbau bedrängt wurden, verlegten die Superreichen ihre Landsitze an die Atlantikküste. Newport, auf halbem Weg zwischen New York und Boston im kleinen Bundesstaat Rhode Island, »ist das Sinnbild eines Lebens, das jeglicher Verpflichtung entkommen ist in eine Atmosphäre vollendeten Müßiggangs«. Im »Rosecliff« wurde F. Scott Fitzgeralds Roman »The Great Gatsby« mit Robert Redford und Mia Farrow verfilmt. Hier versammelten sich Louis Armstrong, Bing Crosby und Frank Sinatra zu Grace Kellys Filmtrauung in »High Society«. (136) Und hier trafen sich 1953 Amerikas obere Zehntausend auf der »Hammersmith Farm«, als John F. Kennedy Jacqueline Bouvier heiratete. Ein berühmtes Beispiel für die historisierende Architektur ist »The Breakers«, Nachbau eines italienischen Palazzo aus dem Cinquecento. Im Auftrag von Cornelius Vanderbilt II. errichtete Richard Morris Hunt dieses 70 Räume große »Cottage« von 1885 an in nur zwei Jahren. Richard Morris Hunt, erster Schüler der Ecole des Beaux-Arts befand freimütig: Erfinden heiße kopieren können. In Paris arbeitete er mit an Entwürfen für die Wiedervereinigung von Louvre und Tuilerien. Er machte Entwürfe für den Pavillon der Bibliothek am Place du Palais-Royal. Zurück in den USA baute er ab 1855 zahlreiche Häuser in New York und Newport. Der Sockel der Freiheitsstatue stammt von ihm. Sein Werk wird als Versuch verstanden, französische Lösungen in den kulturellen Kontext Amerikas zu übertragen. Vor allem aber entwarf er Paläste für Millionäre. Er war dafür bekannt, in vielen Reprisen virtuos jeweils einen Stil zu adaptieren, etwa den eines »Chateau de la Loire«. Newports ältestes Juwel ist das von William S. Westmore 1877 erbaute »Chateau-sur-Mer«. Nachdem Edward Julius Berwind, Sohn armer deutscher Einwanderer, zum König des Kohlegeschäfts aufgestiegen war, ließ er sich hier 1899 ein vor-
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nehmes und geschmackvolles Anwesen von Philadelphias Stararchitekten Horace Trumbauer bauen, in Anlehnung an das französische Chateau d’Asnières, das er »The Elms« nannte. Für E.A. Poe’s Erzählung »The Domaine of Arnheim« könnte eine dieser Villen Pate gestanden haben. (137) Über Henry James wird kolportiert, sein einschneidendstes und letztlich für seine Schriftstellerkarriere entscheidendes Erlebnis sei auf einer Bildungsreise mit den Eltern durch Europa der Anblick einer Schlossruine in den Schweizer Alpen gewesen. Er sah Dinge, die er bis dahin nur aus Büchern kannte. In jener Ruine hatte er, in Kombination mit einer hübschen Feldarbeiterin, eine sublime Synthese Europas erlebt. Mark Twain, auf den man in diesen pseudoaristokratischen Kreisen herabsah, und der diese Zurücksetzung schlecht verschmerzen konnte, schleuderte den arroganten Möchtegern-Adligen mit seinem eigenen Arthus-Roman seinen etwas verbissenen Spott entgegen. Seine subversive Strategie, die er in dieser Persiflage entwickelt, ist die Umkehrung der von seinen Gegnern aufgestellten Werturteile. Die sich in ihrem Bildungsdünkel für überlegen halten, erweisen sich als die eigentlichen Trottel, während diejenigen, die als Tölpel verlacht werden, ihre tatsächliche Überlegenheit offenbaren dürfen. Der angeblich barbarische, »wilde« Westen wird zur Wiege der Zukunft. Die sich mit europäischem Bildungsballast brüstenden Oststaatler sind die eigentlichen Barbaren. In Abwandlung des mittelalterlichen und schauerromantischen Musters der abenteuerlichen Reise des Helden, der, auf sich allein gestellt, einen geheimnisumwitterten, schwer zugänglichen Ort suchen, eine Festung in einem fernen Land erobern muss, gerät der Yankee Hank Morgan unversehens unter die Ritter. Nach einem Unfall, bei dem ihm etwas auf den Kopf gefallen sein muss, findet sich der Ingenieur aus dem Mittelwesten, als er erwacht, buchstäblich auf einen Schlag um ca. 1300 Jahre zurückversetzt. Auf seine verwunderte Frage, wo er sich denn um Himmels Willen befinde, antwortet man ihm mit der größten Selbstverständlichkeit: »In Camelot«. In »Ein Yankee am Hofe König Arthus« ist das Ritterroman-Schema auf den Kopf gestellt. Der Held Hank Morgan scheint unter lauter Chevaliers-errants und Gralssuchern der einzige zu sein, der keine Abenteuer zu bestehen sucht. Twain hat nicht eine Satire auf das Mittelalter im Sinn. Hank ist vielmehr mitten in Amerika auf ein Stück Mittelalter gestoßen. Seine Mitmenschen sind nicht seine Zeitgenossen. Der Schlag auf den Kopf hat ihn scheinbar verwirrt, in Wahrheit aber ihm die Augen geöffnet für die bereits bestehenden Ungleichzeitigkeiten der amerikanischen Gesellschaft. Hank sieht die Gegenwart Amerikas zur Kenntlichkeit verzerrt. Aristokratische Attitüde und literarische Arthus-Mode zeigen sich als Narreteien. Mit dem Zauberer Merlin ist Mallory gemeint, den Twain sich schon im Vorwort vornimmt, indem er ihn einen leicht senilen, pathologisch nostalgischen Fremdenführer darstellen lässt, der von den alten Zeiten so anschaulich erzählt, als lebte er selbst in ihnen, »und wie unaussprechlich alt und verblichen, wie vertrocknet und vermodert er dabei aussah.« Während man die Ungleichzeitigkeiten inmitten der amerikanischen Zivilisation gewöhnlich als harmlose Rückstände in einer fast klaren Flüssigkeit veranschaulicht, als cultural lag, dreht Twain diese Relation um. Das Phänomen des cultural lag verdeutlicht er an der Art, wie die technischen Errungenschaften als
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Fremdkörper in den Kontext der kulturellen Traditionen eingelagert sind. Hank macht sich daran, inmitten der barbarischen Ritterwelt »kleine Kinderstuben der Zivilisation aufzumachen«, Fabriken anzusiedeln und den Bergbau auf wissenschaftliche Grundlagen zu stellen: »Ohne dass dieses barbarische Land einen Verdacht hegte, entwickelte sich direkt vor seiner Nase die Zivilisation des 19. Jahrhunderts zu voller Blüte. Sie blieb zwar vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen, aber sie existierte als gigantische und unanfechtbare Tatsache – und man würde noch von ihr hören, wenn ich lange genug lebte und Glück hatte.« Veblens Diagnose der erstickenden Überkrustung wird humoristisch dahin gewendet, dass sich unbemerkt unter der Oberfläche oder hinter der Maske der Normalität das wahrhaft Normale unter der Initiative eines Verrückten entwickelt. Hank wird nicht müde, ausgesuchte Leute zu trainieren und für seine »Menschenfabrik« fit zu machen. Bauern und Knappen werden zu Fernmeldemechanikern; ruhmreiche Ritter mit ihren bunten Bändern lässt er Seifenreklame reiten oder für Öfen werben. Man brauchte dazu nur die Rüstungen durch Ofenrohre zu ersetzen – diese sahen ohnehin schon so ritterburgenhaft aus – und die Heraldik der Brustpanzer und Schilde als Reklame zu interpretieren. Manch einer der Spezialisten »bot den lächerlichsten Anblick, den man sich vorstellen kann. Einer meiner hinterhältigsten Pläne zur Ausrottung des Rittertums bestand nämlich darin, es grotesk und lächerlich zu machen.« Die Gesellschaft von Camelot enthält »ein wenig Bodensatz, ein paar Rückstände in Gestalt von König und niederem Adel […] der faul, unproduktiv und hauptsächlich in der Kunst der Verschwendung und Zerstörung geübt war; in jeder vernünftig eingerichteten Welt wären sie ohne Nutzen und Wert gewesen«. In solchen Passagen kommen Phänomene und Vorgänge zur Sprache, die Thorstein Veblen als den rituellen Schauwert der gnadenlosen Konkurrenz analysierte. Twains Beschreibungen der Gesellschaft von Camelot ähneln auffällig denen der »leisure class« in Veblens Essay, bis in die Formulierungen hinein. In seinen Augen waren die Villen der neuen Raubritter Menetekel des verschwenderisch demonstrativen Konsums, ebenso wie jene öffentlichen Gebäude, deren historisierend ornamentale Fassaden Bezüge vortäuschten, die nicht selten im eklatanten Gegensatz zu dem standen, was sie tatsächlich beherbergten, etwa wenn sich hinter einer neugotischen Prunkfassade das Elend kahler Gefängniszellen verbarg, in einem Märchenschloss banale Bürokratie, in einer Raubritterburg ein Kinderheim. Twain vertrat in seinen Romanen und Erzählungen das, was Tom Paine und Thomas Jefferson in der Politik verkörperten, die Haltung des »debunking«, des Sich-nicht-so-leicht-beeindrucken-Lassens. Vor allem sein Huck Finn verkörpert die sympathische Seite dieses Ideals. Der Roman beginnt schon mal damit, dass der Junge sich seinen vom Delirium tremens halb verrückten Vater mit der Pistole vom Leibe halten muss. Auch die beständige Rede von der Erbschuld des Menschengeschlechts, für die die amerikanische Seele so merkwürdig empfänglich war, und sogar die ausdrückliche Androhung ewiger Verdammnis von Seiten der Kirche konnten ihn nicht wirklich erschüttern. Er lebte, als ob die Unschuld das Erbe und Geburtsrecht des Menschen wäre und glaubte, dass an der Verdammnis nicht so viel dran sei, wie von ihr hergemacht werde. Aufgefordert, den entlaufenen Sklaven seinem rechtmäßigen Eigentümer und Peiniger zurückzubringen oder zur Hölle zu fahren, konnte sein Kommentar kein anderer sein als: »Schön,
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dann fahr ich eben zur Hölle.« (138) Die zuweilen mit dem Debunking verbundene Bedeutung von Unbelehrbarkeit und Unsensibilität macht Twain dabei vergessen. In Europa formierte sich in Architektenkreisen eine Elite, die sich an den Denkund Verhaltensidealen orientierte, die man im angelsächsischen Raum, vor allem in den USA verkörpert sah. Um den Bogen zu Europa und zu Adolf Loos zu schlagen, der diese angelsächsisch affizierte Elite wortreich in der Öffentlichkeit vertrat, mag die Erwähnung einer noch unbekannteren Erzählung Mark Twains geeignet sein, die in Österreich spielt. In der »phantastischen Erzählung« »Der geheimnisvolle Fremde« verlegte Twain, wie um Loos entgegenzukommen, den Schauplatz nach Österreich und in das Jahr 1590, um genau zu sein, in den Winter des Jahres 1590. Er beginnt mit den folgenden Sätzen: »Österreich war weit aus der Welt und schlief. Das Mittelalter herrschte noch in Österreich und schien für ewig dort bleiben zu wollen. Manche behaupten sogar, das Land sei um viele Jahrhunderte rückständig, nach seinem geistigen und seelischen Pulsschlag befände sich Österreich noch im ›Zeitalter des Glaubens‹. Damit wollten sie Anerkennung, keine Verachtung ausdrücken.«
Diese Einleitung wie die dann folgende Beschreibung eines Syndroms bestehend aus Duellkultur, Ritterromantik und Kunstgewerbe, hat auffällige Ähnlichkeit mit den Invektiven von Adolf Loos, als habe Twain Loos als Stichwortgeber gedient. Nun darf man nicht davon ausgehen, dass Twain und Loos voneinander Notiz genommen hätten, wenngleich das zeitlich sehr wohl möglich gewesen wäre. Veblens Buch wurde ein Jahr nach Loos’ ersten Essays veröffentlicht. Nicht ganz unwahrscheinlich ist aber, dass beide Herbert Spencer gelesen oder von ihm gehört haben könnten. Bei Veblen darf man davon ausgehen, und Loos dürfte dessen Schriften oder Hauptmotive zumindest aus sekundären Quellen gekannt haben. Der Grundgedanke Spencers ist eine Einteilung der menschlichen Evolution in drei Epochen, das Zeitalter des Glaubens, das des Militärs und das der Wissenschaft mit der er sich an Saint-Simon und Auguste Comte anlehnte. Für Adolf Loos bestand kein Zweifel, dass die Menschen in Österreich auf der untersten Stufe der Evolution lebten. Die einfachen Leute dieses Landes wurden zur Verehrung der Kirche und der heiligen Jungfrau angehalten. Darüber hinaus gehendes Wissen wurde nicht verlangt, ja nicht einmal gutgeheißen. »Wissen frommte dem einfachen Manne nicht«, heißt es bei Twain. Man glaubte an Hexen und Zauberer und hörte am liebsten Gespenstergeschichten. Sigmund Freud, der entdeckt hatte, dass unter der zivilisierten Oberfläche selbst die angesehensten Bürger und Honoratioren mit unerfüllten infantilen Wünschen kämpften, hätte dieser Charakterisierung wohl zugestimmt, hatte er doch mit seiner Behauptung kindlicher Sexualität einen Skandal ausgelöst und sich in der Wiener Gesellschaft isoliert. Der strategische Ausgangspunkt für Adolf Loos, die anschauliche Folie seiner Kulturkritik war das architektonische Ensemble der Wiener Ringstraße. Diese Architektur war ihm das Symbol der Rückschrittlichkeit des K.u.K.-Staates. Wenn Loos an Stelle von Ludwig Baumann das Österreich-Ungarische Kriegsministerium am Stubenring gebaut hätte, ohne den opulenten neobarocken Stilballast, hätte er dadurch nicht den Krieg verhindert und wohl nicht einmal dazu beigetragen, den militärisch-industriellen Komplex rationaler oder transparenter zu ma-
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chen. Man darf gleichwohl annehmen, dass die Häuser-Fassaden mit den verbalen Fassaden zusammen sehr wohl Einfluss auf die Wirklichkeit hatten, zumindest in dem Sinne, dass sie einen integralen Bestandteil des Wahnsystems bildeten, das zum Krieg und zur Selbstvernichtung zwangsläufig hintrieb. Der Wortnebel konnte wie der Fassadenschwulst die Konturen der Realität verschwimmen lassen. Die jungen Soldaten ließen sich in den Krieg schicken mit romantischen Vorstellungen und patriotischen Liedern mittelalterlichen Rittertums auf dem Rücken ihrer Pferde. Die Fassaden der Ringstraße bildeten den passenden Hintergrund für diese tragische Szene, bei der sie sich als die zukünftigen Sieger wähnten, während sie doch dazu verdammt waren, zu Hunderttausenden in Maschinengewehrfeuer und an Giftgas elend zu krepieren. Die Fassaden fügten sich in die Totalität heroischer Rhetorik und ideologischer Verblendung. Worum es Loos ging, so meinte er, das zeige sich am deutlichsten gerade am kleinen Unterschied. So distanzierte er sich gerade von denen, die ihm am nächsten kamen. So wurden in seinen Pamphleten ausgerechnet die fortschrittlichen Wiener Werkstätten als ein Hort der Rückständigkeit denunziert. Er genoss die Verballhornung als »Wiener Weiberkunstgewerbe« oder »Wiener Weh«. Er warf den Werkstätten ornamentalen Missbrauch des Gebrauchsgegenstandes vor. Und resignativ stellte er fest: »Das Ornament im Dienste der Frau […] entspricht im Grunde dem des Wilden, es hat erotische Bedeutung.« Das in diesem Sinne negative Erotische aber werde die im Namen von Sachlichkeit und Wirtschaftlichkeit fortschreitende Moderne mit der Gleichstellung der Frau zusammen mit der »Wirkung von Samt und Seide, Blumen und Bändern, Federn und Farben zum Verschwinden bringen«. (139) Karl Kraus stand Adolf Loos bei. Wie dieser im Ornament das Verbrechen sah, so sah er selbst im Schnörkel-Unwesen der Wiener Journaille das institutionalisierte Lügengeflecht der Epoche und – dank einer Engführung von Sprechen und Handeln – seine mörderischen Konsequenzen. Mit deutlichem Verweis auf Loos schrieb er in der »Fackel« 1909: »Die Phrase ist das Ornament des Geistes«. »Der Verschweinung des praktischen Lebens durch das Ornament, wie sie der gute Amerikaner Adolf Loos nachweist, entspricht die Durchsetzung des Journalismus mit Geistelementen.« Wie Adolf Loos ausgerechnet die fortschrittlichen Wiener Werkstätten aufs Korn nahm, so zielte Karl Kraus mit seiner Polemik nicht etwa auf das antisemitischen Hetzblatt des später von Adolf Hitler verehrten Georg von Schönerer, sondern auf eine der qualitativ besten Zeitungen im damaligen Europa, die ›Neue Freie Presse‹ mit ihrem einflussreichen Feuilleton. Karl Kraus hat dieses Blatt und dieses Feuilleton in nahezu jeder Ausgabe seiner eigenen Zeitschrift »Die Fackel« als Inbegriff der »sprachverludernden Journaille« attackiert. Man focht in Wien an breiter Front. Lakonisch und ohne Umschweife sollte die Sprache der Dichter sein. Auch die Musik war einbezogen: Der Kampf wider die selbstzweckhaften instrumentalen Formeln, die üppigen Klangunterfütterungen gehörte zum Credo der Schönberg-Schule. Kunst soll nicht schmücken, sondern wahr sein. Das Ornament wird zur zentralen Metapher für aufdringliche Gefühlsduselei und anachronistische Weisen der Perzeption. Alban Berg ja, Gustav Mahler nein. (140) Walter Benjamin in Berlin und Paris sah das gelassener. Ihm erschien das Ornament als Kinderkrankheit, Folge mangelnder Übung und Kenntnis im Umgang
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z.B. mit Stahl. Man musste darin nicht gleich ein Symptom oder gar ein Verbrechen sehen: »Es ist, als wagten die Menschen und die ›Künstler‹ insbesondere nicht ganz, sich zu diesem neuen Material mit allen seinen Möglichkeiten zu bekennen. Während wir unsere heutigen Stahlmöbel blank und sauber als das hinstellen, was sie sind, quälte man vor hundert Jahren sich ab, Eisenmöbeln, die man damals schon herstellte, durch raffinierten Anstrich das Aussehen zu geben, als seien sie aus den kostbarsten Hölzern gefertigt. Damals begann man seine Ehre darein zu setzen, Gläser gleich Porzellan, Goldschmuck gleich Lederriemen, Eisentische von Rohrgeflecht und ähnliches zustande zu bringen.«
Dass Loos’ Kritik so heftig war und so starke Beachtung fand, mag mit dem abrupten Auftritt der modernen industriellen Zivilisation und einer neuen Bourgeoisie in einem Land zusammenhängen, das inmitten eines sich modernisierenden Europa beherrscht war von der Unfehlbarkeit des Papstes, von der Doktrin der göttlichen Privilegien des Kaisers und der ungebrochenen Vormacht der Aristokratie und des Militärs. Was Loos beschäftigte, war die fehlende Synchronizität. »Das tempo der kulturellen entwicklung leidet unter den nachzüglern. Ich lebe vielleicht im jahre 1908, mein nachbar dagegen lebt um 1900 und der dort im jahre 1880. Es ist ein unglück für einen staat, wenn sich die kultur seiner einwohner auf einen so großen zeitraum verteilt. Der kaiser bauer lebt im 12. Jahrhundert. Und im jubiläumsfestzuge gingen völkerschaften mit, die selbst während der völkerwanderungen als rückständig empfunden worden wären. Glücklich das land, das nicht solche nachzügler und marodeure hat. Glückliches Amerika!« (141)
Dort wähnte er den ›cultural lag‹ aufgehoben, während Veblen ihn doch gerade dort beklagte, und zwar gerade deshalb, weil seine mögliche Aufhebung in der Tat so nahelag, dass man dies eigentlich unumgänglich finden musste. Wenn Loos gelegentlich die Perspektive Veblens übernimmt, wie mit der Bemerkung in seiner Artikelserie für die Freie Presse: »Der Indianer in uns aber muß überwunden werden«, dann wird das wohl versehentlich oder intuitiv geschehen sein. (142)
B 14. Das Wiener Klima war günstig für kühne Verknüpfungen von Entlegenem, des Kleinsten mit dem Größten. Freud gelangte von einem Versprecher zur Traumdeutung, Wittgenstein von alltagssprachlichen Wendungen zur Erklärung, Philosophie müsse generell Sprachtheorie sein. Adolf Loos gelangte vom Schnitt der Damenmode oder der Gestalt eines Salzstreuers umstandslos zur Architektur und von da zur Evolution. Das Hegelsche Erbe, dass jede Einzelheit in Relation gesetzt werden könne zum Ganzen, zum Zeitgeist, findet hier seine pamphlethafte Zuspitzung. Die Brüskierung ist die Lieblingsbeschäftigung des Dandys. Die Attacken gegen das Ornament beweisen einen Minimalismus des Witzes, der charakteristisch für den Dandy ist, wie Hazlitt in einem Essay über Beau Brummel anmerkte. (143) Der Friseur war das Vorbild aller modernen Dandys. Seinen Bon-mots ist
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eigen, dass sie auf der Verwandlung nebensächlichster Kleinigkeiten in wichtigste Dinge gründen. Dandyismus ist die Kunst, etwas aus nichts zu machen, (»the exaggeration of the irrelevant«). Seine Technik, einen Krawattenknoten zu binden, wurde von manchen Zeitgenossen mit den Exerzitien eines Zen-Meisters verglichen. Dandyistische Attitüden passen in das Jahrhundert der Aufrichtigkeit, der Authentizität, wie es Lionell Trilling titulierte. Diese Tugenden gehen dem Dandy über alles. Zugleich muss alles, was er tut, spielerisch leicht erscheinen. Balzac wollte als Dandy gelten, aber jeder wusste, er arbeitete zu viel. Der Dandy ist der Systematiker des schöpferischen Zufalls. Dickens, der Dandys verachtete und ihresgleichen u.a. in der Figur des Tanzlehrers Mr. Turveydrop karikierte, wurde seinerseits von ihnen verspottet, denn er war ausgesprochen geckenhaft gekleidet. Baudelaire rechtfertigte seinen Dandy-Immoralismus als Übergangsphänomen: »Wenn die Demokratie noch nicht allmächtig ist und die Aristokratie noch nicht gänzlich abgewirtschaftet hat«, dann sei er »das letzte Aufleuchten des Heroismus in den Zeiten des Verfalls«. Zum letzten Mal setzt der Dandy durch seinen gesteigerten Individualismus Maßstäbe, von denen er weiß und insgeheim sogar hofft, dass sie in den folgenden Zeiten der Konformität nicht mehr befolgt werden können. Balzacs Henri de Marsay vermag noch sympathisch und mit Würde alle großen Leidenschaften zu artikulieren, während Proust mit seinem traurigen Baron le Charlus nur noch zeigen kann, wie die Selbstinszenierung an Glaubwürdigkeit verliert. In seinem Kult der Kälte pflegt der Dandy intellektuelle Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit und die virtuose Arroganz gegen jede angemaßte Macht und Konvention. Er bewahrt sich seine Souveränität selbst im donquijotesken Rückzug gegen wachsende Vereinnahmung. Baudelaire porträtierte den Dandy in »Le peintre et la vie moderne« als einen Helden, ja als Heiligen, der sich in Askese übt. Er korrigierte die Annahme, dass Dandyismus im wesentlichen exzessiver Lebensstil sei, Exaltiertheit und Übertreibung, Eleganz als Selbstzweck. Für ihn war der Dandyismus vor allem etwas Intellektuelles. Der Dandy war der Vorreiter einer geistigen Revolution. Er wurde Vorbild für alle, die sich in der Periode zwischen dem Niedergang der Aristokratie und dem Sieg der Demokratie zurechtfinden mussten. Er war der natürliche Bewohner der modernen Großstadt, dieses neuen, unerprobten, unwirtlichen, für viele unbewohnbar erscheinenden Lebensraumes, weil er in der Lage war, sich unbemerkt mit der Menge zu bewegen und sich dennoch als Beobachter und Nutznießer getrennt von ihr zu verhalten, wie Poes »Mann der Menge« und seine Detektivfiguren. (144) Die tägliche Arbeit für die Toilette, der extreme Aufwand für die extreme Einfachheit der Kleidung, waren für Baudelaire die Exerzitien eines weltlichen Ordens, durchaus vergleichbar mit der asketischen Disziplin der Mönche, der Selbstkasteiung durch die Klosterregel. Baudelaire war weit davon entfernt, in ihnen bloß den Ausdruck von Rigidität oder übertriebener Eitelkeit zu erblicken. In seinen Augen dienten sie dazu, die Seele zu wappnen für den Kampf gegen alles Unwichtige, Kleine, Banale, die Bagatellen und Zerstreuungen des modernen Lebens, nicht zuletzt gegen die eigene Eitelkeit und Trägheit. Adolf Loos wollte zweifellos Dandy sein. Und wie seine gepriesenen englischen Vorbilder versuchte auch er, mit dem geläufigen Vorurteil aufzuräumen, es handle sich dabei um einen eitlen, effeminierten Gecken, einen verweichlichten Nichtsnutz, der sich kleidet wie ein Papagei, wie etwa der monomanische Chillingworth
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in Hawthornes »Der scharlachrote Buchstabe«. In Wahrheit diene die Stilisierung und peinliche Kontrolle der äußeren Erscheinung dem Dandy dazu, sich von der Kleidung aller anderen zu unterscheiden und darin als Vorbild zu präsentieren. Jener Beau Brummel hatte gegen 1800 begonnen, die männliche Kleidung durch sein unermüdliches Vorbild nachhaltig zu reformieren. Mit seinen vereinfachenden Neuerungen legte er die Grundlagen für den modernen, noch heute beinahe universal verbindlichen Straßenanzug. Er erfand den gut geschneiderten, schnörkellosen, dunklen Anzug mit weißem Hemdsärmel, der sich dank seiner Zweckdienlichkeit durchsetzte und den man heute überall von der Stange kaufen kann. Die ersten, die diese funktionale Kleidung übernahmen, Diderot, Jefferson, Joseph Priestly, waren Männer, die durch ihr eigenes Vorbild dieser Kleidung Renommée verschafften und sie zum Symbol für das Republikanische werden ließen. Besonders breites Echo fand Brummels Kleider-Reform in England bei den gemäßigten Whigs, die durch betonte Anspruchslosigkeit ihrer Kleidung ihre Gesinnung im Unterschied zu den radikalen Royalisten öffentlich kundtun wollten. Barbey d’Aurevilliers, der wie Baudelaire Beau Brummels Vorbild mit seiner Selbststilisierung folgte, beschrieb 1844 den Dandy als Produkt einer Gesellschaft, in der das Individuum mit dem Problem konfrontiert sei, Balance zu halten zwischen der von der Gesellschaft geforderten Konformität und dem eigenen Bedürfnis, der Langeweile zu entrinnen, die aus jener Konformität resultiere. Die einen rebellieren gegen die sozialen Institutionen, indem sie ihre Normen verletzen, andere pflegen die Abweichung und kultivieren ihre Exzentrizität, manche werden verrückt. Der Dandy beachtet die Regeln, aber er tut dies nur, um sie im Schutze dieser augenscheinlichen Konformität zu unterlaufen. Letztlich vermag er sich an der Gesellschaft zu rächen und über die Normen wie ein Musterschüler zu triumphieren. Das Subversive des Dandys liegt so gerade in seiner intelligenten und eleganten Anpassung. (145) Adolf Loos war bekannt dafür, bei englischen Schneidern arbeiten zu lassen. Sein Schreibstil war auf Knappheit und Polemik aus. Seine frühen Essays über Kleidung und Design, die er 1898 für die »Neue Freie Presse« geschrieben hat und die in dem 1907 erschienenen Buch mit dem dandyhaften Titel »Ornament und Verbrechen« versammelt sind, lassen sich geradezu als Programmtexte des Dandyismus lesen. In seinem Text über »Herrenmode« beantwortet er die Frage, was es heißt, »gut angezogen« und damit »korrekt gekleidet« zu sein. »Die Menschen, die versuchen herauszufinden, was es mit der Mode auf sich hat, benutzen Wörter wie schön, schick, elegant, schmuck, fesch. Sie ist nichts von alledem. Es geht darum, so angezogen zu sein, daß man am wenigsten Aufmerksamkeit erregt […] Ein Seidenhut auf dem Eis erregt Aufsehen. Daraus folgt, daß unter solchen Umständen ein seidener Hut nicht modern ist. Alles, was in guter Gesellschaft auffällt, ist vulgär.« (146)
Loos hatte solche Einsichten nicht seiner unmittelbaren Umgebung zu verdanken. Er bezog seine Maßstäbe wie seine Anzüge aus London, für ihn das Zentrum der Zivilisation. Der von ihm verehrte Angelsachse fürchte nicht ständig um seine Individualität, er lebe nicht beständig in der Furcht, etwas könnte seiner Würde und Dignität Abbruch tun. Er sei aktiv und mit einem einzigen Anzugtyp perfekt gekleidet für jede Gelegenheit, ob zu Pferde, beim Bergsteigen, beim Radfahren oder
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im Büro. Die praktische Angemessenheit der Kleidung war in Loos’ Augen das Kriterium, welches in allen Lebensbereichen an die Stelle der Schönheit treten müsse. Loos fand in London Standards für alles, für Kleidung, Architektur, Innenarchitektur, selbst für Lebensmittel. Als besonders dandyistisch galten Roastbeef, gekochter Kohl, rohe Tomaten. Wenn es nach ihm ginge, sollten auch Frauen Männerkleider tragen, nach dem Vorbild der Damen des englischen Landadels, wie er sie aus »Country Life« kannte, mit denen man auch reiten und Fahrrad fahren konnte. Die Kleiderregeln waren die Basis seiner Architektur-Theorie. Der Architekt habe wie der Schneider nichts zu erfinden. Kultur sei, wie man an der Kleidung erkennen könne, etwas, das in einer Gesellschaft vorhanden, ihr inhärent ist, etwas, dem man nur zu entsprechen brauche. Dabei solle man sich möglichst an das Fortgeschrittene halten, wie es der Sanitärhandwerker auch tut. Eigentlich täten das alle, mit Ausnahme der Architekten und Designer. In einer fortgeschrittenen Gesellschaft wie der englischen, in der jedermann beschäftigt und in der Zeit Geld ist, tragen die Menschen Schuhe, auf denen sie laufen können, ohne hohe Hacken, ohne dekorative Perforation, ohne Überlänge, keine Reitstiefel mit Sporen. Und die Hersteller von Schuhen verschwendeten ihrerseits nicht ihre Zeit und das Material für derlei Spielereien. Österreich mit seinen Tirolern, dem ungarischen Bauerntum, mit StammesLederhosen und der Festkostümierung der Husaren, mit der Galauniformierung mit Degen und Reitstiefeln etc. war noch abgesperrt von den Segnungen der Zivilisation. England und Amerika gaben die Richtung vor. Die Entwicklung verlief von den tätowierten, stinkenden Primitiven zum hygienebewussten, wohlriechenden englischen Dandy in schlichtem, dunklem Anzug, mit schwarzen, regenfesten Schuhen, sauberem weißem Hemd, mit Fahrrad und einem ornamentlosen Haus. »Je niedriger die Kultur, desto stärker das Ornament«. »Der Papua und der Kriminelle verzieren ihre Haut. Indianer dekorieren ihre Boote und ihre Ruder mit Ornamenten. Aber das Fahrrad und die Dampfmaschine sind frei von Ornamenten. Fortgeschrittene Zivilisationen eliminieren das Ornament von ihren Objekten.« Loos unterschied – darin ganz spencerisch – drei Kulturstufen. Die niedrigste ist die der primitiven Stammeskulturen. Die mittlere, zweite Stufe ist die der feudalen Gesellschaften mit ihrer rigiden Hierarchie sozialer Kasten. Die dritte und höchste Stufe ist die der modernen Zivilisationen, in denen soziale Gleichheit und Uniformität vorherrschen. Sie war in den angelsächsischen Ländern am weitesten gediehen. Nationen wie Österreich oder Japan befanden sich zwischen der ersten und der dritten Evolutions-Stufe, weil in ihnen sich das feudale Kastensystem noch hielt, sie aber unter Veränderungsdruck geraten waren, durchsetzt mit Relikten der ersten. Relikte der eigentlich schon überwundenen Stufen halten sich wie die Unsitte, dass Frauen sich aufputzen, um ihren Männern zu gefallen. Ein retardierendes Moment ist ihm auch das Fortleben von Rangabzeichen, Orden, Goldborten und Litzen der Soldaten, Kellner und Diener, auf den Roben und den Kasacks der Minister, Monarchen, Richter und Priester. Die Schneider in Österreich waren aufgefordert, die Statussymbole ihrer noblen Kundschaft vor Missbrauch, vor den Imitationen durch Büroangestellte, die alle aussehen wollten wie ein Graf, zu schützen. Sie konnten dies, indem sie den öffentlichen Verkauf ihrer Kreationen durch die Produktion von Unikaten zu unerschwinglichen Preisen verhinderten und die Nachahmung durch die Kreation
B. Die Sprache der Monumente, der Skandal des Ornaments
immer neuer Formen, immer neuer Unbequemlichkeiten erschwerten. So versuchte eine erbliche Aristokratie ihre Kreise gegen das Eindringen von unten abzusperren. Durch ihre Status-Verschwörung behinderte sie die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung auf breiter Basis und hielt den nationalen Wohlstand auf niedrigem Niveau. Das Ornament wurde so zum Instrument der Sicherung von Privilegien, zur Kontrolle der Untergebenen und zur Hemmung der Evolution. In den angelsächsischen Ländern waren Loos zufolge die Barrieren der AufwandsDistinktion – der »sumptuary distinction« bei Veblen – ebenso niedergerissen worden, wie die Unterordnung der Frauen unter die Männer abgeschafft war. Die Frau war eines Manns Freund, Partner und Kamerad in einer auf Gleichheit ausgerichteten Gesellschaft. Eine gewisse Ironie lag freilich darin, dass Veblen dieselbe Kritik, die Loos an Österreich übte, indem er sein Land an Amerika maß, an Amerika selbst formulierte. Loos hatte zweifellos von Amerika ein idealisiertes Bild. Er unterstellte bei seinen Vergleichen ein durchweg fortgeschrittenes Amerika. Die USA erschienen ihm, noch mehr als England, als ein Spencer’sches Utopia. Veblen war bezüglich einer solchen Eigendynamik der Evolution skeptischer. Er musste einräumen, dass, aller Evolution zum Trotz, die feudalen Allüren nicht absterben wollten und dass der Verbreitung friedfertiger, nicht auf Wettbewerb gezüchteter Eigenschaften der ostentative Konsum reicher Müßiggänger selbst in Amerika noch immer im Wege stand, und er forderte die Politik auf, der Vernunft nachzuhelfen, statt die Unvernunft zu begünstigen. Er war darin eher Parteigänger Auguste Comtes, der freilich auch schon über das Ausbleiben der die Evolution fördernden Politik verzweifelt war. Während Spencer für Adolph Loos als mögliches Vorbild in Frage kommt, gilt der Bezug auf Lombroso als gesichert. Wenn Loos das Ornament mit dem Verbrechen in Beziehung brachte, muss man annehmen, dass er sich damit in erster Linie auf die Schriften des Physiognomen und Kriminalpsychologen Cesare Lombrosos bezog. (147) Für jenen war die Neigung zur Kriminalität nicht in erster Linie sozial, sondern genetisch bedingt. Sie wurde erklärt als ein individueller Rückfall oder ein Zurückgebliebensein hinter die bereits erreichte Stufe menschlicher Entwicklungsgeschichte, wie sie etwa von Häckel konzipiert war. Lombroso beschrieb in seiner 1870 erschienenen Schrift den Kriminellen als ein »atavistisches Wesen«. Seine Neigung zu einem exzessiven Leben bringe ihn in die Nähe zum Affen. Loos dürfte bei Lombroso Bestätigung für seine Behauptung gefunden haben, dass der Gebrauch des Ornaments Hand in Hand gehe mit Wildheit, sexuellem Exzess und vor allem mit kriegerischer Blutrünstigkeit. Dass das kriminologische Interesse an Tätowierungen in angelsächsischen Ländern vergleichsweise gering ist, könnte man darauf zurückführen, dass man bei der Strafverfolgung auf den Tatsachenbeweis im Einzelfall vertraute, während die Behörden auf dem europäischen Kontinent das Geständnis favorisierten, das Bekennen der Wahrheit durch den Mund des Delinquenten. Bei der Strafverfolgung interessierte man sich auf dem Kontinent also weniger für das Verbrechen als für den Verbrecher, der als sozialer und seelischer Typus isoliert werden sollte. Man hoffte, diesen Typus anhand äußerer Merkmale zu erkennen, vom Äußeren auf seine Gedankenwelt und sein Verhalten, das bisherige wie das zukünftige, Rückschlüsse zu ziehen. Man ging davon aus, dass Tätowierungen eine stumme, aber
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entschlüsselbare Sprache sprechen. Die Tätowierung als Weiterleben einer prähistorischen Bilderschrift bildete ein wichtiges Glied in Lombrosos Beweiskette bei der Aufklärung von Verbrechen. (148) Dieser räumte allerdings ein rein ästhetisches oder subkulturelles Motiv ein, da es vorkam, dass man Tätowierungen auch bei Personen vorfand, die nicht zu den üblichen Verdächtigen zählten. Er wollte diese allerdings nicht völlig von Schuld entlasten, da er ihnen unterstellte, das Registrierungswesen womöglich absichtlich durcheinanderbringen zu wollen. Lombrosos Kriminalistik ist der deutschen Physiognomik verpflichtet und basiert wie Spencers Übertragung der Darwin’schen Evolutionstheorie auf einer fragwürdigen Übertragung biologischer Befunde auf den Bereich der Sozialpsychologie. Wenn Loos schreibt: »Das Ornament selbst verübt ein Verbrechen, indem es die Gesundheit des Menschen verdirbt und die nationale Wirtschaft und kulturelle Entwicklung vernichtet«, dann ist das zu verstehen vor dem Hintergrund des unmittelbar bevorstehenden Ersten Weltkrieges. Loos war von Anfang an von der Niederlage Österreichs überzeugt. Die Niederlage schien ihm für alle jene Nationen unausweichlich, die sich dem ökonomischen Fortschritt verschlossen, um eine militärische Klassenstruktur aufrechtzuerhalten. Bei ihrem verheerenden Missbrauch von Arbeitskraft und materiellen Ressourcen würden sie in der Konkurrenz mit den fortgeschrittenen Nationen auf Dauer auch in Friedenszeiten nicht bestehen können. Der Krieg konnte den unausweichlichen Prozess nicht aufhalten, sondern musste ihn im Gegenteil beschleunigen. Loos’ eigener fatalistischer Beitrag zum Kriegseintritt Österreichs bestand denn auch darin, für sich eine eigene Uniform im amerikanischen Stil zu entwerfen. Ihm ging es aber nicht darum, auf welcher Seite man kämpfte. Seinetwegen hätte es den Krieg gar nicht zu geben brauchen. Er hatte den Traum einer schmerzlosen Entwicklung der Menschheit zu demokratischer Einfachheit. Er vertraute darauf, dass der noble Stil des Dandy, der ironischerweise zuerst von den anglophilen Jungaristokraten Wiens aufgegriffen wurde, sich allmählich universal verbreiten und die soziale Evolution befördern möge. Auch mit seinen architektonischen Vorbildern hoffte er, den Prozess zu befördern. Dass Architektur in dieser Zeit zu einem Brennpunkt für die öffentliche Artikulation ideologischer Auseinandersetzungen wurde, war nicht zuletzt das Verdienst von Adolf Loos. Es kam ihm aber nicht so weit zugute, dass man allgemein anerkannt hätte, dass sein Haus am Michaelerplatz ein wohlüberlegtes Echo auf die Michaeler-Kirche darstellt. Zu sehr war man von der vermeintlich skandalösen Missachtung der guten ästhetischen Sitten geblendet. Das Gebäude verkörperte für die Öffentlichkeit die Armseligkeit bloßer Zweckmäßigkeit. Darin lag der Skandal. Im georgianischen London hätten solche Fenster, wie sie das Haus dem Michaelerplatz zuwendet, wohl kaum einen Kommentar hervorgelockt. Loos verstand das Gebäude, wie Karl Krauss sich ausdrückte, als eine Predigt in Stein: »So muss in Zukunft gebaut werden. Nicht nur das: So muss gelebt werden!« Karl Kraus kommentierte: »Er hat ihnen dort einen Gedanken hingebaut. Der Gedanke hieß: Zweckmäßigkeit ist kultureller Fortschritt.« An diesem Ort artikulierte sich, wie in einem Brennglas konzentriert und überhitzt, der Konflikt zwischen Aristokratie und jüdischem Bürgertum. Mit seinem Understatement traf er auf aggressives Hinterweltlertum.
B. Die Sprache der Monumente, der Skandal des Ornaments
Während für Veblen sich das Übel in Nordamerika zuspitzte, hatte Loos in den USA das gelobte Land der Zivilisation erblickt. Warum er sich täuschen sollte, lernen wir bei Alexis de Tocqueville. Dieser war einer der ersten, die die Demokratie nicht nur als Regierungsform ansahen, sondern als gesellschaftliche Realität. In Amerika hatte der Franzose diese große Unbekannte an einem Ort untersuchen wollen, wo sie sich ohne Hemmnisse entwickelt hatte. In seinen Erinnerungen beschrieb er mit unverhohlenem Abscheu den heraufziehenden »Geist der Mittelklasse«. Er sah die zukünftige Massengesellschaft als Trias von Egalität, Totalität und Mediokrität. Schon in seinem Buch über die junge amerikanische Demokratie sah er die Herrschaft der übelriechenden Egalité mit einiger Skepsis heraufkommen. »In einer Demokratie fehlt jene Gesellschaftsschicht, die über genügend Muße verfügt, Geschmack und ein feines Gespür für die Kunst herauszubilden. Ohne sie entsteht Kunst nur, um die Bedürfnisse des Marktes zu befriedigen, der von Selbstzweifeln regiert wird, von Selbstüberhebung und Ignoranz sowie von seiner Eigenheit, auf jeden Tand hereinzufallen und sich dafür zu begeistern. […] Ihr werdet euren Präsidenten folgen, Anführer eines Mobs, der täglich von einer perfiden Presse belehrt wird, die ihre Leser so selbstbewusst und dumm macht, daß die einzigen Bücher in ihren Regalen Handbücher sein werden, daß sie Theater nur als ein knallbuntes Spektakel kennen, nur solche Gemälde, die angefertigt wurden, die vulgären Vorlieben von Bankiers zu befriedigen, von Menschen ohne Moral, halb Bürger, halb Verbrecher.« (149)
Der Franzose erkannte, dass die Demokratie nicht nur geeignet ist, Ungleichheit abzuschaffen, sie erweist sich zugleich als Ursache einer neuen Ungleichheit. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass eine die Gleichheit vergötternde Gesellschaft einen schier grenzenlosen Bedarf an Verschiedenheit entwickelt, damit die Gleichheit nicht als Unterdrückung des Individuums erscheint. Auch die Eintönigkeit der Existenz der an das Erwerbsleben Geketteten fordert Kompensation. Die Künste müssen darum bizarr sein, abwechslungsreich, ungenau, überladen. In der Welt der Gleichheit sind die Dinge nicht das, was sie zu sein scheinen. Besonderen Eindruck hinterließen ihm die klassizistischen, mit Säulen verzierten Fassaden, die schlichten Holzhäusern vorgeblendet sind. Die Säule ist hier nicht bloßes ornamentales Beiwerk, der Schmuck hat Funktion. Das Ornament ist praktisch geworden, weil es hilft, verschiedenartigste Formen ästhetisch unter einen Hut zu bringen und Monotonie und Verschiedenheit zu versöhnen. Das Ornament ist hier kein Überhang einer Vergangenheit in einer an Funktionalität orientierten Gesellschaft, Verkörperung eines Prinzips, dem ohne Not noch immer Opfer gebracht werden. Es ist auch nicht Symbol der Ungerechtigkeit und Ungleichheit, sondern Folge der Gleichheit selbst und funktionales Element der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Demokratie schafft das Ornament nicht ab, sie verwandelt es lediglich und bringt es selbst hervor, da sie auf es angewiesen ist. Sie ersetzt die Bevorzugung des Alten vor dem Neuen durch die Bevorzugung des Unechten vor dem Echten. Im traditionellen Handwerk des Ancien Régime, einer Gesellschaft der Privilegien, hatte Qualität über die ökonomische Bedeutung hinaus aus ästhetischen Gründen absoluten Vorrang. »Im aristokratischen Zeitalter ist das Handwerk bemüht, möglichst gut und nicht möglichst schnell oder billig zu arbeiten.« Die Handwerker arbeiteten für wenige Kunden, die sehr schwer zufriedenzustellen
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waren. Der Lohn für ihre Arbeit hing von der Vollkommenheit ab. Der Geschmack der Aristokraten wurde in der Demokratie auch bei einfachen Leuten verbindlich. Nach Auflösung der Feudalgesellschaft und der Zunftbande ist jeder nur noch daran interessiert, so viel wie möglich zu verdienen, um so viel wie möglich konsumieren zu können. Der Verbraucher ist ein ganz anderer Typus von Kunde. Entsprechend der sozialen Mobilität ist er Aufsteiger oder Absteiger, und meistens besteht eine Kluft zwischen Bedürfnissen und den Möglichkeiten ihrer Befriedigung sowie zwischen den finanziellen Mitteln und der intellektuellen Urteilskraft. Den Wünschen der neuen Verbraucher versuchen die Handwerker nachzukommen, indem sie auf Kosten der Qualität einen größeren Kreis von Abnehmern zu entsprechend niedrigeren Preisen zu versorgen trachten. Es gibt den Konsumenten, der, anstatt zu verzichten, lieber eine Qualitätseinbuße hinnimmt, auf der einen Seite, und auf der anderen den Handwerker, der lieber zu geringerem Preis und dafür an mehr Abnehmer verkauft. »So drängt die Demokratie den menschlichen Geist nicht nur zu den nützlichen Künsten hin, sie veranlasst die Handwerker, sehr rasch viele unvollkommene Dinge herzustellen, und den Verbraucher, sich mit diesen Dingen zu begnügen.« Das Ergebnis dieses wechselseitigen Abstimmungs- und Erziehungsprozesses ist eine »geschickte Mittelmäßigkeit, die selbst abwägt und die, obwohl sie über das gesteckte Ziel hinausgehen könnte, nur das erreichte Ziel anstrebt«. Der bei Veblen technokratisch und damit ideell begründete Sieg des Nützlichen über das traditionell Schöne ist bei Tocqueville das Resultat der demokratischen Staatsform. »Der Sinn für das Nützliche trägt im Herzen der Menschen demokratischer Völker den Sieg über die Liebe zum Schönen davon«, resümiert er und fügt hinzu: »Als nur die Reichen Uhren besaßen, waren diese fast alle ausgezeichnet. Jetzt stellt man nur noch mittelmäßige her, aber alle besitzen welche.« (150) An die Stelle unzweifelhafter Qualität tritt aber nicht nur der potentiell allen zugutekommende Nutzen, sondern auch die Notwendigkeit, den Produkten den Anschein von Qualität zu geben, die sie nicht haben. Im Zeichen dieser »Heuchelei des Luxus« griff man zu Ersatzstoffen. So entsteht eine demokratische Scheinwelt, die in viel größerem Maßstab als zuvor genau das hervorbringt, was man der alten Welt vorgeworfen hatte: Illusionen und Täuschungen. Veblen sah überall Momente, die der fortschreitenden Egalisierung entgegenliefen, Anzeichen eines inmitten der großen Industrie gespensterhaft überlebenden Feudalismus. Er sah im Ornament Rückstände der Feudalgesellschaft inmitten der nicht vollständig verwirklichten Demokratie, während Tocqueville dieselben Phänomene als Folge der demokratisch durchgesetzten Gleichheit selbst erkannte. Wie Tocqueville das Ornament als etwas kennzeichnet, das in der modernen Gesellschaft nicht überwunden und obsolet geworden ist, sondern mehr denn je gebraucht wird und eine handfeste funktionale Bedeutung, seine Nützlichkeit erst zugewiesen bekommt, so könnte man auch die Ornamentkritik als etwas erkennen, das eine Funktion zu erfüllen hatte. Die Unverhältnismäßigkeit der Kritik und die Inbrunst und Starrsinnigkeit, mit der das Ornament verteufelt und verfolgt wurde, als gelte es, das Böse selbst auszumerzen, als ginge es um eine Teufelsaustreibung, spricht nur scheinbar gegen diese Behauptung. Die Funktionalität könnte gerade in dem obsessiven Charakter und in der Unangemessenheit der Argumentation liegen.
B. Die Sprache der Monumente, der Skandal des Ornaments
Gemäß der Logik des spleens könnte man sagen: Sie dient als Schutzschild gegen eine überkomplexe Wirklichkeit. Sie bietet Passepartouts für schwierige Zusammenhänge, deren Komplexität der Einzelne nicht mehr zu durchschauen fähig ist, gefärbt von der trotzigen Abwehr der drängenden Einsicht des Ungenügens. Wir haben es bei der Ornamentkritik mit einer fixen Idee zu tun, mit Aberglauben. Sie ist somit ein Fall für die Religionssoziologie. Fixe Ideen verfehlen die Wahrheit angemessener Analyse, doch garantieren sie eine kalkulierbare Größe im Sinne der Steuerbarkeit. Es ist daher nicht von ungefähr, daß sich die neue Wissenschaft der Soziologie zuerst als Religionsphilosophie profilierte und universitär etablierte. Die Religionssoziologie steht von ihrem Anfang an – um die Jahrhundertwende von den säkular gestimmten Gründervätern der positiven Soziologie Emile Durkheim, Georg Simmel, Max Weber inauguriert – im Zeichen einer Verlustanzeige integrativer und orientierender Funktionen. Angesichts der Auflösungserscheinungen traditioneller Gesellschaften im Zuge der Industrialisierung und Vermassung, der Auflösung der Familie und der gemeinschaftsstiftenden Institutionen Kirche und Zunftwesen, suchte man nach funktionalen Äquivalenten. Eine Kritik, die sich auf das Unechte von Ersatzformen kaprizierte, verfehlte die eigentliche Problematik der Integration des Einzelnen und der drohenden Anomie. Der Vorwurf der Vorurteilshaftigkeit von Religion verfange nicht, so Durkheim. Nicht die Wahrheitsfrage sei relevant, sondern die Frage nach der möglichen Funktion des »Falschen«. Die Zahl der nicht-funktionalen Elemente der materiellen Produktion und Umwelt nehme mit gesellschaftlichem Fortschritt eben nicht ab, sondern zu. Je differenzierter nämlich die Gesellschaft werde, desto mehr bedürfe sie aus Orientierungsgründen »fixer Ideen«. Glaube erschien so nicht mehr, wie noch bei Spencer, als defizientes Stadium von Erkenntnis, sondern als Medium sozialer Normalität. Bereits Auguste Comte behandelte, wie die gegenrevolutionären Schriftsteller nach 1789 de Maistre, Barrès und Maurras, Religion und Gesellschaft auch im Zeichen ihrer prekären Stabilisierung. Soziologie als neues Wissen von den Bedingungen solcher Stabilität sollte die geschwächte Integrationskraft kirchlichen Glaubens wenn schon nicht restaurieren, so doch ersetzen. Von der Parole »Soziologie statt Religion« zum Phantasma »Soziologie als Religion« war es im Kontext soziologischen Denkens im Zeichen des Fortschritts nicht weit. Comtes Erwartung, dereinst werde man seine Soziallehren in Notre-Dame zu Paris predigen, legt beredtes Zeugnis solcher überzogenen aber verständlichen Erwartungen ab. Es gehe nicht schlicht um die Abschaffung der Religion, sondern um ihre Überführung in funktional äquivalente Ideen. Um diese Notwendigkeit erkennen zu können, galt es, ein Verständnis von Religion zu gewinnen, das jenseits metaphysischer Fragen deren Funktion würdigt, im Sinne eines pragmatisch verstandenen, instrumentellen Aberglaubens. Adorno äußerte in seinem Aufsatz über Veblen Verständnis für den Gedanken des psychisch-kognitiven Angewiesenseins der Individuen in komplexen, fragmentierten, unanschaulichen Verhältnissen auf Verkürzungen des Sachverhalts, die die Komplexität nicht einzufangen vermögen, dafür aber sinnlich erfahrbar, einleuchtend sind, auf »fixe Ideen« im ambivalenten Sinne. (151) Am Beispiel von Veblens »Theorie der feinen Leute« attestierte er der Kritik am Ornament den Charakter einer solchen unvermeidlichen fixen Idee. Sie sei damit selbst Teil der Psychopathologie, die die Kritik dem Ornament ankreide. Ornament wie Orna-
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mentkritik werden so beide zu Symptomen derselben Krankheit, die in Wahrheit eine Gesundheit ist, weil die Mitglieder einer Gesellschaft, damit diese gesund sein kann, krank sein müssen. Ein aktuelles Beispiel für die Funktionsweise der ›idée fixe‹, die Comtes Projekt ebenso wie Loos’ Verbrechensverdacht auf den neuesten massenmedialen Stand bringt, liefert Don DeLillo in seinem Roman »Die Namen«. Magie und Atavismus lauern am Ausgang der Moderne, eine Wiederkehr des längst Vergangenen, die sich Strukturen schafft, wo keine zu erkennen sind, die sich Ordnungen erfindet, wo alles in Auflösung scheint, die Zusammenhänge spinnt, wo man sie vermisst. Das Denken sei noch immer »wildes Denken«. »Die Namen« nennt sich eine bizarre Sekte, die nach dem Muster eines Sprachcodes Ritualmorde begeht. Ortsnamen und Initialen sind der Schlüssel für scheinbar motivlose Verbrechen. Das Alphabet schafft Ordnung, die tödlichen Initialen bieten Halt im Strudel der Veränderungen. Ein semiotischer Wunderglaube stiftet Sinn. Wie in den primitiven Sprachsystemen stimmen Zeichen und Sache wieder überein. »Es gibt eine Welt in der Welt.« In unserem Angewiesensein auf Erklärungen, deren sinnliche Erfahrbarkeit und Anschaulichkeit mehr zählt als ihre komplexitätsadäquate intellektuelle Höhe, Wahrscheinlichkeit mehr gilt als Wahrhaftigkeit, Lesbarkeit mehr als Analyse, befinden wir uns mit dem Common-sense und mit allen gesellschaftlich relevanten Entscheidungen nach wie vor auf der Evolutionsstufe des Aberglaubens, so dass von Evolution zu reden naiv erscheint und die Vorstellung, der Geschichte die Evolution vorzurechnen, geradezu grotesk anmutet. Was sich geändert hat, ist lediglich die Beschaffenheit der Welt, die uns in ihrer Undurchdringlichkeit auf derartige Komplexitätsreduktionen angewiesen sein macht. Was einst Natur war, ist heute Technik, Konstruiertes, das zur zweiten Natur geworden ist. Was sich geändert hat, ist die Natur der Natur. Auguste Comtes Utopie, die auch eine Prophezeiung war, hat sich erfüllt. Die Wirklichkeit ist zum Resultat der Entscheidungen und Manipulationen positiver Wissenschaften geworden. Sie ist reflexiv geworden. Das heißt aber eben nicht, dass wir nun wüssten, wo wir früher nur geglaubt haben. Wir sind nicht etwa durch Wissen gegen Aberglauben gefeit, sondern auf eine nunmehr wissenschaftlich begründbare, vernünftige Weise auf Aberglauben angewiesen. Als wir noch glaubten, konnten wir davon träumen, dereinst zu wissen. Wir konnten Glauben als bloßen Aberglauben betrachten und damit als etwas Vorläufiges, Vorübergehendes, Überwindbares und zur Überwindung auf die Aufklärung setzen. Nun sind wir dank der fortgesetzten Aufklärung vom Wissen wie von einer zweiten Natur umzingelt, die den Aberglauben nicht abgeschafft, sondern ihn nur noch unentbehrlicher und noch unüberwindbarer gemacht hat. Das Ornament als Verbrechen ist positiv geworden. Religion ist ein Produkt der Aufklärung. Der Dandy ist kein Überbleibsel aus aristokratischen Zeiten, er ist ein Produkt der Moderne. Bei Stendhal gehört er der Welt von ›Schwarz‹ an. »Der Dandy kommt aus England, wo das metaphysische Begehren stärker entwickelt ist als in Frankreich. Ganz in schwarz gekleidet erinnert er in nichts mehr an die eleganten Männer des Ancien Régime, die sich nicht fürchteten, sich zu verwundern, zu bewundern, zu begehren und sogar schallend zu lachen.« (152) Kennzeichnend für ihn ist eine Manieriertheit von gleichgültiger Kälte, die das Begehren entfachen soll. Es ist eine Kälte, die unablässig den anderen wiederholt: Ich genüge mir selbst,
B. Die Sprache der Monumente, der Skandal des Ornaments
ich brauche niemanden. »Er will, dass die anderen das Begehren kopieren, das er selbst angeblich für sich empfindet. Er führt seine Indifferenz in der Öffentlichkeit spazieren […] er universalisiert, er industrialisiert seine Askese um des Begehrens willen.« (153) René Girard betont, dass dieser neue Aristokrat alles, nur nicht aristokratisch im alten Sinne des Edelseins sei. Nichts sei weniger aristokratisch als dieses Unterfangen. Es verrate die bourgeoise Seele des Dandys. »Er wäre gern der Kapitalist des Begehrens.« (154) Der satanischste unter Dostojewskijs Dandys ist Stawrogin in den »Dämonen« oder in »Die bösen Geister« nach einer neueren Titelgebung. Man weiß nicht, ob er zu begehren aufgehört hat, weil die anderen ihn begehren, oder ob die anderen ihn begehren, weil er zu begehren aufgehört hat. Diesem Teufelskreis kann er nicht mehr entrinnen. Er befindet sich jenseits aller Begehren. Sämtliche Figuren des Romans sind seine Sklaven. Aber Dostojewskij zeigt auch, wohin dieses indifferente Selbstbegehren führt. Er besitzt alle Gaben. »Er muss nicht einmal die Hand hinhalten, um zu empfangen. Alle Männer wie Frauen liegen ihm zu Füßen und liefern sich ihm aus.« (155) Aber das macht ihn nicht glücklich. Er verfällt dabei der Trägheit des Herzens (acedia), »ist bald auf die grässlichsten Launen reduziert und begeht schließlich Selbstmord«. (156) Eine bessere Identifikationsfigur wäre Fürst Myschkin in dem »Idioten«. Er bietet weder dem Stolz noch der Schmach eine Angriffsfläche. Er bietet den ihn umgebenden Figuren nie die Stütze ihrer Eitelkeit, und in seiner Umgebung stolpern alle unaufhörlich. Er lässt sich von den Begehren der anderen nie anstecken. Er lässt zu, dass andere sich in ihren eigenen Lügen verrennen. Die normalen Leute schwanken ihm gegenüber zwischen widersprüchlichen Urteilen. Sie fragen sich, ob er ein Schwachkopf sei oder ein gewiefter Taktiker. Man denkt an den Meinungstumult, den Loos eulenspiegelhaft maieutisch mit seinem Haus am Michaelerplatz ausgelöst hat. Das Bedürfnis, sich von anderen zu unterscheiden, scheint zwar originär ein aristokratisches zu sein, aber tatsächlich versucht der Aristokrat sich zu unterscheiden erst in dem Moment, da er aufgehört hat, verschieden zu sein. Damit wird aus dem leichtsinnigen Grandseigneur der konstitutionellen Monarchie der griesgrämige Edelmann der Restauration, der sogar gelernt hat, früh aufzustehen und Ersparnisse anzulegen. Man tut so, als sei dies die Rückkehr zu den alten Tugenden. Tatsächlich aber zeigt sich in diesen »verdrießlichen Weisheiten« die Verbürgerlichung. Die Aristokratie will den anderen beweisen, dass sie ihre Privilegien »verdient« und hört damit auf, sich in selbstverständlicher Legitimation zu sonnen. Durch den bürgerlichen Blick mediatisiert, kopiert der Adel das Bürgertum, ohne dessen innezuwerden. Die Revolution habe, so Stendhal, der Demokratie die Sitten des calvinistischen Genf gegeben. Aus Hass auf das Bürgertum verbürgerlicht der Adel. Symmetrisch hierzu will der Bürger den Edelmann kopieren. Es handelt sich um Theater wechselseitiger Nachahmung. Der Talleyrand zugeschriebene Ausspruch, den Bertolucci seinem Film »Prima della Revoluzione« als Motto voranstellte, bringt dies zum Ausdruck: »Wer die Zeit vor der Revolution nicht erlebt hat, der kennt nicht die Süße des Lebens.« (157) Die Karikatur dieses Theaters bietet der Baron Nerwinde in Stendhals »Lamiel«. Sohn eines Generals im Kaiserreich, kopiert er angestrengt ein synthetisches Konzentrat, eine Mixtur aus dem schlauen Fuchs des Ancien Régime und dem englischen Dandy. Er ruiniert sich bewusst und planmäßig und führt präzise
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Buch darüber. All das tut er Stendhal zufolge, um vergessen zu machen, dass er der Enkel eines Hutmachers aus der Provinz ist. (158) Parallele Feststellungen finden sich bei Tocqueville, der etwa in »Der alte Staat und die Revolution« auf das Paradox hinweist, dass die Aristokratie gerade in Absetzung vom Bürgertum verbürgerlicht, alle Tugenden übernimmt, derer sich gleichzeitig das Bürgertum zu entledigen sucht. (159) So bringt die antidemokratischste Klasse die Sittlichkeit am besten zum Ausdruck, die man von einer Demokratie erwarten kann. So bietet sich das Bild einer Aristokratie, die sich paradoxerweise aus Hass auf die Demokratie demokratisiert, wie Girard das Phänomen zuspitzte. Mit Stendhal gesprochen ist die fröhliche Eitelkeit den Metamorphosen der traurigen Eitelkeit gewichen. Bei Girard hat das Motiv die Form eines Dreiecks. Der Wert des konsumierten Objekts hängt nach Veblen ausschließlich vom Begehren des Anderen ab. Allein das Begehren des Anderen vermag das Begehren zu erzeugen. Der Andere wird immer faszinierender, je näher er dem Ich rückt. Bei David Riesman und Vance Packard findet sich eine ähnliche Diagnose: Immer dominiert der Andere. Doch dieser Andere ist nicht mehr der Unterdrücker aus einer höheren Klasse, wie man fälschlich annahm, sondern der Nachbar auf demselben Stockwerk, der Klassenkamerad oder der Rivale im Berufsleben oder im Kampf um eine Geliebte. (160) Das Spiel der »internen Vermittlung« besteht nach Girard darin, seine Gefühle zu verbergen. Die größte Geschicklichkeit in diesem Spiel wird immer dasjenige Subjekt an den Tag legen, das am wenigsten empfindet, niemals der authentisch leidenschaftliche Akteur. Der Kampf zwischen Herr und Knecht erfordert angelsächsisches Phlegma – Eigenschaften, die sich letztlich auf Empfindungslosigkeit zurückführen lassen, die der Dandy in eiserner Disziplin kultiviert. (161)
B 15. In den letzten Jahrzehnten erleben wir eine Neuauflage der sozialgeschichtlichen Situation, die einst die Ornamentkritik auf den Plan gerufen hatte. Man spricht offen von einer Refeudalisierung der Ökonomie. (162) Damit ist etwas Ähnliches gemeint wie das, was man Finanzaristokratie nannte, vertreten durch die Rothschilds, Reveltskes, Hottinguers, die zum Teil tatsächlich geadelt wurden, aber auch ohnedies als Unternehmer privilegiert waren, dynastisch organisiert und keinem Gemeinwesen verpflichtet, im Zweifel nicht einmal mehr der Nation verbunden. Heute gibt es eine ständisch privilegierte Managerkaste, die sich einem demonstrativen Luxuskonsum hingibt und alle sozialen und nationalen Bindungen durchbricht. Die dynastische Weitergabe von Privilegien behindert erneut die offene Verteilung von Lebenschancen. Die sich abschottende Elite profitiert von lobbymäßig verschafften Begünstigungen, schickt die Kinder auf Privatschulen, etabliert ein eigenes Gesundheitssystem und Verkehrswesen. All das führt zur Verringerung der Durchlässigkeit der Klassen für Karrieren und zur Aushöhlung des Leistungsprinzips, das nur noch eine Worthülse für die Rückzugsgefechte einer absteigenden Mittelschicht ist. Bezüglich der sozialen Auswirkungen dieses Phänomens spricht Jean Ziegler vom Verrat demokratischer Prinzipien und vom Verkauf der Grundrechte an transkontinentale Privatgesellschaften. Colin Crouch nennt dasselbe Phänomen »Post-
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demokratie«. (163) Das Einkommen der ganz Reichen hat sich in den letzten drei Jahrzehnten verdoppelt und verdreifacht, während das der arbeitenden Mehrheit bestenfalls gleich blieb, durch erhöhte Lebenskosten und geschrumpfte soziale Absicherung faktisch gesunken ist, und die Zahl der Armen kontinuierlich steigen lässt. Das Vermögen der Reichen entspricht – wer hätte das gedacht – ziemlich genau der Höhe der Staatsschulden, was als Indiz dafür gesehen wird, dass es sich um beiseite geschafftes Vermögen handelt. Das Geld, das dem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft zufolge zurück in den Produktionskreislauf fließen sollte, wird abgezweigt und zu einem immer größeren Anteil in sinnlose ostentative Luxusgüter gesteckt, weil sinnvolle Anlagen in der nötigen Anzahl nicht zu haben sind. Die Flucht in Immobilien machen das Wohnen in den Großstädten für Normalbürger zunehmend unerschwinglich. Das Argument der Rechten gegen sozialdemokratische Ansprüche, der Staat könne nur ausgeben, was er einnimmt, wird faktisch immer unverhohlener widerlegt, wenn es um die steuerlichen Begünstigungen der Reichen und die Deckung der Spekulationsrisiken der Vermögenden durch Steuergelder sowie die Reparatur der Schäden geht, die Banken angerichtet haben. Man argumentiert, was über die verteilbaren Steuereinnahmen an Sozialleistungen hinausgehe, sei kommunistische, gleichmacherische Umverteilung von ehrlich verdientem Geld. Tatsächlich wäre es ein fälliger Ausgleich der ständigen legal-kriminellen Umverteilung des allgemein erwirtschafteten Geldes von unten nach oben, so dass sich der Reichtum bei einigen wenigen Prozent konzentriert, während der Rest der Bevölkerung immer weniger besitzt. (164) Das Endziel des Prozesses, sofern nicht interveniert wird, ist bereits absehbar: 1 % teilt sich 90 % des Vermögens, die übrigen 99 % teilen sich die übrigen 10 %. Das Leistungsprinzip, auf das sich die Reichen berufen, hat sich als hilfloser Glaube einer enttäuschten absinkenden Mittelschicht entpuppt. Angemessene Entlohnung ist zum Privileg geworden. All das ist das Resultat der Ausbildung einer neuen Aristokratie, die das Leben ihrer Untertanen verprasst. Als paradoxe Folge kapitalistischer Entwicklung entsteht ein moderner Kapitalismus nicht nur ohne, sondern gegen die Bürgerlichkeit. Diese antibürgerliche Qualität kommt zum Ausdruck in Architektur und Innenarchitektur der neuen Oberschicht, in den immer zahlreicher werdenden gated communities und die den öffentlichen Raum der Stadtzentren ersetzenden Shopping-Malls. Der demonstrative und sich zugleich abschottende statusbewusste Luxus stellt sich nicht mehr dar im Ornament, sondern im gehobenen Minimalismus. (165) Zur arroganten Attitüde dieses Stilbewusstseins passt die Sottise, dass das Florenz der Medici höchste Kunst hervorgebracht hat, während die lupenreine plebiszitäre Demokratie der Schweiz nur regelmäßig tickende Uhren hervorgebracht habe. Als Banker allerdings stehen die Schweizer den Florentinern in nichts nach. Im Zuge der Konsolidierung einer neuen Manager-Aristokratie erhält der dem Ornament entgegengehaltene moderne Gegenfetisch der weißen Wand neue Konjunktur, vielleicht als das architektonische Pendant der demonstrativ weißen Weste. Die weiße Wand war bereits die entscheidende Formerfindung der Moderne. »Bereit die Welt zu erobern, bemerkte die neue Architektur, dass sie eine Uniform besaß, an der Freund und Feind zu unterscheiden war. Es war eine Uniform, die klar zeigte, dass ihr Träger als einer der Gang betrachtet werden wollte. Mehr als zwanzig, für einige Kritiker
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Architektur und Geistesgeschichte sogar mehr als dreißig Jahre lang, bedeutete die Verteidigung der modernen Architektur zugleich die Verteidigung der weißen Wand, genauso wie des Funktionalismus. Es gibt heute noch einige, die ein Gebäude nur als funktional erachten, wenn es die weiße Uniform trägt. Le Corbusier hatte zwar schon in den frühen Dreißigern seine Kleidung angepasst und modische oder konservative Elemente eingearbeitet, die jedoch vom Rest der Gang nie akzeptiert wurden.« (166)
Die Nachfolger Le Corbusiers fuhren fort, die weiße Kleidung des Meisters zu tragen. Rainer Banham hatte bemängelt, dass Le Corbusiers Jünger es nicht geschafft hätten, sich aus der »Jugenduniform der weißen Wände« zu befreien, obwohl ihr Meister diese schon lange abgelegt hatte. Der Grund liege darin, so Mark Wigley, dass diese gerade die Ablehnung der Mode zugunsten der Funktion symbolisierte. Schließlich ist die Antimode der Look, der am schwierigsten abzulegen ist. Denn die Antimode abzulegen bedeutet, sie nur als einen Look unter vielen anderen zu entlarven. Eigentlich hat sie den Anspruch, den obsessiven Wechsel der Looks zu beenden. Sie hat den Anspruch, als stabile Fläche hinter der Parade flüchtiger Moden aufzutauchen. Sie will die neutrale oder neutralisierende Grundfläche sein, auf der ein Gebäude sich selbst und andere auf ungewollte Modeinfektionen überprüfen kann. Diese Infektionen würden auf der sauberen Oberfläche als »ornamentale Makel«, wie Le Corbusier sie in Anspielung auf Hautverunreinigungen nannte, erkannt und deutlich sichtbar. So entlarvt müsste man sie nur noch isolieren und entfernen oder so eindämmen, dass sie nicht den Rest der Oberfläche infizieren oder, noch schlimmer, bis zur Knochen-Struktur darunter durchdringen und diese anstecken könnten. »Die weiße Wand ist der Look der Antimode, einerseits als Anblick, als Erscheinung der Tabula rasa, die jeden Exzess beendet hat. Anderseits als überwachender Blick, der alle Flächen aktiv nach möglichen Invasionen durch die Mode abtastet. Die weiße Wand ist zugleich Kamera und Monitor, eine reaktive Oberfläche und ein Sensor. Diesen Antimode-Look konnte der moderne Architekt nur schwer aufgeben, noch schwerer allerdings der Kritiker, dessen Arbeit ausschließlich in der Überwachung besteht.« (167) Auch Le Corbusier selbst, ebenso sehr Kritiker wie Architekt, gab sie ja nicht einfach auf. »Vielmehr begann er sie wie ein Sicherheitssystem in seinen Projekten zu installieren, indem er bestimmte, strategisch bedeutsame Flächen weiß einfärbte.« (168) Die weißen Wände seiner Kollegin Eileen Gray allerdings konnte er nicht unberührt stehen lassen. Beatrice Colomina stellte anheim, seine Bemalungen als sexualpathologisch-zwanghaft zu bewerten, so dass man an den Spruch denken muss »Narrenhände beschmieren Haus und Wände«. Die Hausherrin soll sich fortan in ihrem besudelten Haus nicht mehr aufgehalten haben. Wer von beiden pathologischer reagierte, sei dahingestellt.
A nmerkungen 1 | Umberto Eco, Einführung in die Semiotik. München 1972; ders., Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen. München 1987, S. 296f.; Giambattista Vico, La Scienza Nuova. Dt. Die Neue Wissenschaft. Reinbek 1966. Eco begreift die Architektur als besondere Herausforderung der Semiotik, weil die Objekte der Architektur scheinbar nichts mitteilen, sondern funktionieren.
B. Die Sprache der Monumente, der Skandal des Ornaments 2 | Umberto Eco verweist auf Roland Barthes, der gesagt hat, dass »von dem Moment an, wo es Gesellschaft gibt, sich jeder Gebrauch in das Zeichen dieses Gebrauchs verwandelt«. Roland Barthes, Eléments de sémiologie, in: Oeuvres complètes, vol 1, edité par Eric Marty, S. 1465-1522, S. 1487f. 1. Ausgabe 1964. 3 | Eine Treppe teilt mir ihre mögliche Funktion mit, unabhängig davon, welcher Kultur ich entstamme. Mit der Kloschüssel verhält es sich anders. Dass sich die Architektur wie die Gebrauchsgenstände auf vorhandene Codifizierungsprozesse stützt, wird in diesem Beispiel deutlich, das Eco gibt. Außerhalb des existierenden Codes bin ich auf eine Gebrauchsanweisung angewiesen. Information muss auf Redundanzstreifen aufsitzen. Umberto Eco, a.a.O., S. 310ff. 4 | Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen. Frankfurt a.M. 2006, S. 531. 5 | Karl Marx, Vorrede zur Deutschen Ideologie. Brüssel 1846. »Die Menschen haben sich bisher stets falsche Vorstellungen über sich selbst gemacht, von dem, was sie sind oder sein sollen.« 6 | Paul Valéry, Mauvaises Pensées. Zitiert nach Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen, a.a.O., S. 532f. 7 | Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt a.M. 1984 (Original 1977), S. 19. 8 | Michel Foucault, Raymond Roussel. Frankfurt a.M. 1989. 9 | Jean-Baptiste Say, Olbie ou Essai sur les moyens de réformer les moeurs d’une nation. Paris 1800. 10 | Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt. Berlin 2010, S. 122f. 11 | Ebenda, S. 123. 12 | Ebenda. 13 | Ebenda, S. 124. 14 | Georg Christoph Lichtenberg, zitiert nach Stingelin: »Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs.« Martin Stingelin, Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik (Rhetorik) und historischer Kritik (Genealogie). München 1996. 15 | Siehe Stephen Toulmin, Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne. Frankfurt a.M. 1994, S. 39. 16 | Ebenda, S. 142. 17 | Ebenda, S. 142u. 18 | Ebenda, S. 82. Theodore Rabb bezeichnet als das Hauptthema des 17. Jahrhunderts den Kampf um Stabilität. The Struggle for Stability in Early Modern Europe. Oxford 1975; siehe auch ders., The Thirty Years’ War: Problems of Motive, Extent, and Effect. Boston 1964. Thomas Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a.M. 1967, 1976; ders., Die Entstehung des Neuen: Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt a.M. 1978. 19 | Stephen Toulmin, Kosmopolis, a.a.O., S. 165-173. 20 | Christopher Alexander, Notes On The Synthesis Of Form. New York 1970; ders. (Hg.), A Pattern Language. Towns, Buildings, Construction. New York 1977; Christopher Alexander: Eine Muster-Sprache. Städte, Gebäude, Konstruktion. Hg. von Hermann Czech. Wien 1995. 21 | Zu Piet Saenredam siehe: Helmut R. Leppien, Karsten Müller, Holländische Kirchenbilder. Hamburg 1995; Swetlana Alpers, Seing and Believing, in: Art & Antiques, April 1984. 22 | Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 2002; Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte. Berlin 2002.
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Architektur und Geistesgeschichte 23 | Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M. 1971 (Orig. Les Mots et les Choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris 1966), S. 65. 24 | Vgl. ebenda, S. 66ff. Vgl. auch Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt a.M. 1972, das Kapitel Allegorie und Trauerspiel, S. 174ff. Zur Legendenform der Wissenschaft siehe Foucault, a.a.O., S. 71ff. Es geht um Auslegungen von Auslegungen. Über Bücher werden mehr Bücher geschrieben als über andere Dinge. Don Quichote markiert den Wandel. Er ist der Irre, der sich in den Analogien verfangen und entfremdet hat. 25 | C. J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Basel 1860. 26 | Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, a.a.O., S. 82ff. 27 | Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a.M. 1970 (1963), S. 212. 28 | Ebenda S. 234, vgl. auch ebenda S. 198. Benjamin spricht da von den Barockdichtern wie von den Adepten der Alchimisten: »Was da in Trümmern abgeschlagen liegt, das hochbedeutende Fragment, das Bruchstück; es ist die edelste Materie der barocken Schöpfung […] Was die Antike hinterlassen hat, sind ihnen Stück für Stück die Elemente, aus welchen sich das Ganze mischt. Nein: baut. Denn die vollendete Vision von diesem Neuen war: Ruine.« Und auf S. 197: »Allegorien sind im Reiche der Gedanken, was Ruinen im Reiche der Dinge.« 29 | Zur Barockarchitektur siehe H. Wölfflin, Renaissance und Barock. München 1888; ders., Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur (1886), in: Kleine Schriften. Darmstadt 1946. 30 | Zu Bomarzo siehe u.a.: [ungenannter Verfasser], Il Bosco Sacro, in: FMR April. Mailand 1983. 31 | Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, a.a.O., S. 96f. 32 | Ebenda, S. 97 und S. 115. 33 | Destutt de Tracy, Éléments d’idéologie, Paris 1801-15. Stuttgart-Bad Cannstatt 1977; Ulrich Lorenz, Das Projekt der Ideologie. Studien zur Konzeption einer »Ersten Philosophie« bei Destutt de Tracy. Stuttgart u.a. 1994; Jean-Nicolaus-Louis Durand, Abriß der Vorlesungen über Baukunst, 2 Bände. Karlsruhe/Freiburg 1831; Vgl. Anthony Vidler, The Writing On the Wall, Princeton 1987. 34 | Jean Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen. München 1988. 35 | Dem Italiener Filippo Grimaldi und den von Ludwig XIV. beauftragten französischen Jesuitenpatres Joachim Bouvet, Jean de Fontebay, Pierre Jartoux, Claude de Visdelou folgten weitere Missionare, die sich in China über hundert Jahre u.a. durch Respektierung der lokalen Gewohnheiten, Achtung und Ansehen erwerben konnten, bis der Papst 1704 die konfuzianischen Riten per Dekret verbot, was der chinesische Kaiser K’ang-hsi als Einmischung in innere Angelegenheiten erboste und mit der Ausweisung der ausländischen Missionare beantwortete. Indem sie chinesische Personennamen und Ereignisse mit christlichen Inhalten füllten und die klassischen Schriften Chinas als Zeugnisse der natürlichen Religion interpretierten, die von alttestamentarischen Patriarchen nach China gebracht worden sein mussten, hatten sie auf ein dringendes Bedürfnis mit einer These reagiert, die kontrovers aufgenommen wurde. Als nämlich bekannt geworden war, welch hohes, in seiner Literatur bezeugte Alter die chinesischen Kultur hatte, sie demnach in Zeiten zurückzureichen musste, die noch vor der Sintflut lagen – obwohl doch alle Menschen von Noah und seinen Söhnen abstammten – fragte man sich, ob jene Berichte gefälscht waren, oder ob man am Fundament des christlichen Abendlandes zweifeln musste. Es galt zu klären, welcher Art die chinesische Sprache war, ob man in ihr die erste Menschheitssprache sehen musste. Leibniz hatte mit seinem kosmopolitischen Ziel, eine wissenschaftliche Weltzivilisation mit Hilfe einer allgemeinen Wissenschaft, einer
B. Die Sprache der Monumente, der Skandal des Ornaments universalen Sprache und einer gemeinsamen Geschichte der Menschheit voranzubringen, ein anderes Interesse an der chinesischen Schrift. 36 | Details über das Hauptstück seines Projekts einer ›scientia generalis‹, die universale Charakteristik, an der Leibniz sein Leben lang arbeitete, finden sich in der Korrespondenz mit dem Bischof von Avranche Daniel Huet in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts. 37 | Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1995, S. 13ff. 38 | Ebenda, S. 15f. 39 | Zu diesem Komplex siehe ebenda, das 1. Kapitel: Wahrnehmung und Kommunikation. Zur Reproduktion von Formen, S. 13ff. 40 | So fragt Heinz von Foerster: Was ist Gedächtnis, dass es Rückschau und Vorschau ermöglicht?, in: Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke. Frankfurt a.M. 1993, S. 299-336. 41 | Armand-Guy-Simon de Coetnempren, Comte de Kersaint, genannt Armand de Kersaint (1742-1793), französischer Seemann und Politiker. 42 | Zu Jean-Baptiste Say und Marie Joseph de Gérando siehe Hanno-Walter Kruft, Geschichte der Architektur-Theorie. München 1985. 43 | Diderot, Essais sur la peinture. Paris 1795. 44 | Eine detaillierte Übersicht über Christopher Wrens Schriften, die in der Wren-Society aufbewahrt werden, und seine Pläne und Bauwerke bei Johannes Dobai, Die Kunstliteratur des Klassizismus und der Romantik in England, 2 Bände. Bern 1975. Siehe auch H.-W. Kruft, a.a.O. 45 | De Volney, Die Ruinen oder Betrachtungen über die Umwälzungen der Reiche (1791). »Wi e viele nützliche Lehren, rührende oder erschütternde Betrachtungen bietet ihr dem Geiste dar, der in euch zu lesen weiß. Als die ganze unterjochte Erde vor den Tyrannen schwieg, riefet ihr schon die Wahrheiten aus, die sie verabscheuen, und legtet, indem ihr Fürstenstaub mit Sklavenstaub vermengtet, Zeugnis ab für den heiligen Lehrsatz der Gleichheit. In eurem Schatten sah ich, ein einsamer Verehrer der Freiheit, ihren Genius mir erscheinen, nicht wie ihn der unsinnige Pöbel sich vorstellt mit Brandfackel und Dolch, sondern in der erhabenen Gestalt der Gerechtigkeit mit der heiligen Wage in den Händen, auf der die Thaten der Sterblichen an den Pforten der Ewigkeit gewogen werden. – O Gräber! welche Kraft wohnt in euch ! Ihr schreckt die Tyrannen, ihr vergiftet durch geheime Angst ihre schuldbefleckten Genüsse. Sie fliehen euren unbestechlichen Anblick, und fern von euch tragen die Feigen den Stolz ihrer Paläste. Ihr straft den mächtigen Unterdrücker, ihr raubt dem habsüchtigen Erpresser das Gold und rächt den Schwachen, den er geplündert hat. Ihr gebt einen Ausgleich für die Entbehrungen des Armen, indem ihr den prunkenden Reichen mit quälender Sorge erfüllt, ihr tröstet den Unglücklichen, indem ihr ihm eine letzte Freistatt bietet, ihr verleiht endlich der Seele das richtige Ebenmaß von Kraft und Empfindsamkeit, das die Weisheit, die Wissenschaft des Lebens, ausmacht.« 46 | Vgl. die Ausstellung im DAM, Frankfurt a.M. 1990. 47 | Anthony Vidler: Claude-Nicolas Ledoux. Basel 1988. Der architekturtheoretische Diskurs, in dem Ledoux’ Arbeiten zu verorten sind, wurde vor allem in den Schriften von Francois Blondel und Claude Perrault ausgetragen, den Charles-Etienne Briseux wieder aufgriff. Siehe H.W. Kruft, a.a.O., S. 162ff. 48 | Von dem auf vier Bände angelegten Werk L’Architecture considerée sous le rapport de l’art, des moeurs et de la législation wurde nur der erste Band veröffentlicht. Er enthält vor allem die Beschreibung der Chaux genannten idealen Stadt bei Arc-et-Senans. Anthony Vidler, Claude-Nicolas Ledoux, a.a.O. Claude-Nicolas Ledoux starb 1806. 49 | Siehe Emile Benveniste, Letzte Vorlesungen. Wien 2013. 50 | Gilles Deleuze und Felix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt a.M. 1976. 51 | Etienne Boullée, Architektur. Abhandlung über d. Kunst. Zürich/München 1987.
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Architektur und Geistesgeschichte 52 | Claude Nicolas Ledoux, a.a.O. Siehe Vogt und Antony Vidler, The Writing of the Walls, a.a.O. 53 | Roland Barthes, Archimboldo, in: FMR. Mailand 1978. 54 | Walter Benjamin, Neuester Orbis Pictus oder die Welt in Bildern für fromme Kinder. Frankfurt a.M. 1972. 55 | Siehe die Ausstellung »Revolutionsarchitektur« in der Neuen Pinakothek in München im April 1990. 56 | Adolf Max Vogt, Revolutionsarchitektur. Köln 1974. Vgl. Antony Vidler, The Writing of the Walls, a.a.O., 2. Teil: Symbolic Architecture. 57 | Zum Palais Thélusson siehe Michel Gallet, Claude-Nicolas Ledoux. Leben und Werk des französischen Revolutionsarchitekten. Stuttgart 1983. Michel Gallet, Ledoux et Paris. Commission du vieux Paris. Paris 1979. 58 | Zu Georgias von Leontinoi, Meister der Redekunst und Lehrer der Rhetorik. Namensgeber für das »Georgias« betitelte in Dialogform verfasste Werk Platons, in dem der Rhetoriker mit seinem Lehrer Sokrates und zwei Athenern diskutiert. 59 | Antoine Saint-Valery Seheult, Le génie et les grands secrets de l’architecture historique. Paris 1813. 60 | Zu Eugène Viollet-le-Duc: Werner Oechslin (Hg.), Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc. Internationales Kolloquium. Zürich 2010, Berlin 2010. 61 | Vgl. Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, in: Illuminationen. Frankfurt a.M. 1977 (1955), S. 63ff. 62 | Jan Pieper, Steinerne Bäume und künstliches Astwerk. Die gotischen Theorien des James Hall (1761-1832), in: Bauwelt 10/1982, S. 328-333. Nachgedruckt in: Rainer Graefe, Zur Geschichte des Konstruierens. Stuttgart 1989. 63 | Marc-Antoine Laugier, Essais sur l’architecture. Paris 1753. Deutsch: Versuch über die Bau-Kunst. Frankfurt a.M. 1756. Aktuelle deutsche Ausgabe: Das Manifest des Klassizismus. Zürich 1989. 64 | Gottfried Semper, in: Kunsttheorie und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts in Deutschland II. Architektur. Stuttgart 1985. Vgl. Werner Oechslin, Stilhülse und Kern. Zürich/ Berlin 1994. 65 | Eugen Rosenstock-Huessy, Soziologie, 2 Bände. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1956/58. Neuedition: Im Kreuz der Wirklichkeit, 3 Bände. Mössingen 2009. 66 | Michel Foucault, Schriften zur Literatur. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1979. 67 | Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken. Frankfurt a.M. 1973 (1962), S. 281. 68 | Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M. 2000. 69 | Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin 1998. (Excitable speech. London 1997.) 70 | Lacan, Das Seminar Buch 1. Weinheim und Berlin 1990, 284f. 71 | Lacan, Das Seminar Buch 2. Weinheim und Berlin 1991, S. 27. 72 | Roland Barthes, Der Eiffelturm. Berlin 2015. (La Tour Eiffel. Paris 1964.) 73 | Vgl. Peter Widmer, Subversion des Begehrens. Jacques Lacans zweite Revolution der Psychoanalyse. Frankfurt a.M. 1990, Wien 2012. 74 | Victor Hugo, Notre-Dame. Zu Victor Hugos Architektur-Literatur-Theorie vgl. Neil Levine, The book and the building: Hugo’s theory of architecture and Labrouste’s Bibliothèque SteGeneviève, in: Robin Middleton (Hg.), The Beaux-Arts and nineteenth century French architecture. Cambridge/MA 1982. 75 | Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Berlin 1980, Bd. 1, Kap. 1-6.
B. Die Sprache der Monumente, der Skandal des Ornaments 76 | Bevor Huysmans im Trappistenkloster Notre-Dame d’Isny zum katholischen Glauben fand, war er durch eine Liaison mit der Okkultistin Henriette Maillard und der Bekanntschaft mit dem Sektenchef Boullan, einem ehemaligen Abbé, in den Bannkreis des Ex-Abbé van Haeke geraten, der für seine satanischen Praktiken berüchtigt war. Literarischen Niederschlag fand diese Erfahrung in dem 1891 erschienen Roman »Là-Bas« (Tief unten). Der Autor beanspruchte, »die Aufmerksamkeit wieder auf die Schliche des Bösen« zu lenken und dazu beizutragen, »den hassenswerten Praktiken der Magie den Boden zu entziehen, indem es sie enthüllte«. In der Tat ergriff »Là-Bas« entschieden Partei für die Kirche und gegen Satan. Bloy allerdings hielt das Buch dennoch für satanisch. Während seiner fast achtjährigen Zurückgezogenheit als Laienbruder in der Benediktiner-Abtei von Ligug erschienen in kurzer Folge seine Romane »En Route« (Unterwegs, 1895), »La Cathédrale« (Die Kathedrale, 1898), »L’Oblat« (19O3), »Les Foules de Lourdes« (1906) und die »Esquisse biographique de Don Bosco« (1902). Der »große Ekelerzeuger und Sammler aller nur denkbaren menschlichen Greuel, Qualen und Abscheulichkeiten« war, so Paul Valéry, von einem »Catholique imaginaire« zu einem frommen Mystiker geworden, auch wenn er immer noch in allen Dingen dieser Welt Schweinereien, Hexenwerk und Schändlichkeiten witterte und überall Larven und Dämonen sah. 77 | Jacques Rancière, Die stumme Sprache. Essay über die Widersprüche der Literatur. Zürich 2010, S. 24. So die Argumentation von Barney d’Aurevilliers oder Léon Bloy. 78 | Gustave La Planche, zitiert bei Rancière, ebenda, S. 25. 79 | Rancière, ebenda, S. 36. 80 | Ebenda, S. 41f. 81 | Huysmans stellte sich angesichts der behaupteten Volkstümlichkeit der Kathedralenkunst die erwartbare Frage, ob denn diese hermetische Sprache der skulpturalen Ornamentik der Fassaden, Türme und Portale auch vom Volke verstanden wurde. Er nennt Namen, die bezeugen, dass die Geistlichkeit des Mittelalters das Volk die Symbole lehrte. Etwa das Werk des Pseudo-Melito, des Bischofs von Sarde, das den Schlüssel zu den von der Kirche angewandten Allegorien enthält, sei volkstümlich und allbekannt gewesen. Zudem hatten die Kirchenväter schon auf dem Konzil zu Nicäa 787 erklärt, dass die Kompositionen der Bilder nicht der initiative der Künstler überlassen werden dürfe, diese hatten sich an die Regeln der Symbolik zu halten. Neben dieser offiziellen Symbolik gab es allerdings noch eine geheime, verschleierte, die von der Wissenschaft stammte, die man die »verdammte« nannte, die Alchimie. Joris Karl Huysmans, Geheimnisse der Gotik. München 1991, S. 15. 82 | Giovanni Battista Vico, Principj di Scienza Nuova d’intorno alla commune Natura delle Nazioni. Neapel 1744. Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Hamburg 1990. August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über Ästhetik I. Paderborn 1989, S. 388. 83 | Novalis, Monolog, in: Novalis, Schriften, Bd. II. Das philosophische Werk 1. Stuttgart 1981, S. 672. Vgl. Jacques Rancière, Die stumme Sprache. Zürich 2010, S. 47ff. 84 | Slavoj Žižek, Die Tücke des Subjekts. Frankfurt a.M. 2001, S. 50ff. 85 | Kevin Barry, Paper Money and English Romanticism, in: Times Literary Supplement 21, Februar 1997. 86 | Programm der auf Sprachmagie setzenden Poetik von Novalis: »Gedichte, bloß wohlklingend und voll schöner Worte, aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang – höchstens einzelne Strophen verständlich – wie Bruchstücke aus den verschiedensten Dingen […] Die Natur ist daher rein poetisch, und so die Stube eines Zauberers, eines Physikers, eine Kinderstube, eine Polter- und Vorratskammer.« Novalis, Schriften Band 2, 1.c. – »Der Poet braucht die Dinge und Worte wie Tasten, und die ganze Poesie beruht auf tätiger Ideenassoziation, auf selbsttätiger, absichtlicher, idealischer Zufallproduktion. (Zufällige freie Katenation, Kasuistik – Fatum.
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Architektur und Geistesgeschichte Kasuation.) (Spiel).« Band 3, S. 451, vgl. auch Kap. 23. Zu Novalis siehe auch Winfried Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie. Frankfurt a.M. 1980. 87 | Walter Benjamin, Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Angelus Novus. Frankfurt a.M. 1966. 88 | Novalis, Die Lehrlinge zu Sais, Kapitel 1. Der Lehrling, in: ders. Gedichte. Die Lehrlinge zu Sais. S. 61. Stuttgart 1997. 89 | Walter Benjamin, Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, a.a.O. 90 | Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt a.M. 2000 (1928). 91 | Marlene Stoessel, Aura. Das vergessene Menschliche. München 1983; vgl. Josef Fürnkäs, Surrealismus als Erkenntnis: Walter Benjamin, Weimarer Einbahnstraße und Pariser Passagen. Stuttgart 1988, S. 201f. 92 | Zu Walter Benjamins Denkbildern und seiner Metaphorik vgl. Josef Fürnkäs, Surrealismus als Erkenntnis, a.a.O., darin: Exkurs: Schrift-, Buch- und Bibliotheksmetaphorik, S. 203ff; Das Ende des Buches oder die Schrift als Straße, S. 223ff. 93 | Zu diesem Topos siehe vor allem Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M. 1981. 94 | Walter Benjamin, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, a.a.O. 95 | Ebenda. Vgl. Winfried Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, a.a.O. Vgl. Karl Marx zur Sprache, Pariser Manuskripte. Reinbek 1969, S. 179: »Die einzig verständliche Sprache, die wir zueinander reden, sind unsere Gegenstände in ihrer Beziehung aufeinander. Eine menschliche Sprache verständen wir nicht, und sie bliebe effektlos; sie würde von der einen Seite als Bitte, als Flehen und darum als eine Demütigung gewusst, empfunden und daher mit Scham, mit dem Gefühl der Wegwerfung vorgebacht, von der anderen Seite als Unverschämtheit oder Wahnwitz aufgenommen und zurückgewiesen werden. So sehr sind wir wechselseitig dem menschlichen Wesen entfremdet, dass die unmittelbare Sprache dieses Wesens und als eine Verletzung der menschlichen Würde, dagegen die entfremdete Sprache der sachlichen Werte als die gerechtfertigte, selbstvertrauende und sichselbstanerkennende menschliche Würde erscheint.« 96 | Theodor W. Adorno, George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel, in: Prismen, Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1969 (1955), S. 104f. 97 | Hugo von Hofmannsthal, Brief des Lord Chandos an Francis Bacon, in: Der Tag. Berlin, Nr. 489, 18. Oktober. 1902. Sämtliche Werke XXXI. Frankfurt a.M. 1991. 98 | Theodor W. Adorno, George und Hofmannsthal, a.a.O., S. 232-282. 99 | »Es war ausgemacht, dass die revolutionäre Handlung die ökonomische Basis und den politischen Überbau angreifen und dass der Rest dann folgen würde; Ideologien, diverse Institutionen, mit einem Wort: Kultur.« Henri Lefebvre, Das Alltagsleben in der Modernen Welt. Frankfurt a.M. 1972 (1968). 100 | Ebenda. Vgl. die Exzerpthefte von Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution. Frankfurt a.M. 1971. 101 | Henri Lefebvre, Metaphilosophie. Prolegomena. Frankfurt a.M. 1975. 102 | Henri Lefebvre, Das Alltagsleben in der Modernen Welt, Frankfurt a.M. 1972 (1968), S. 88. 103 | Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution. Siehe Henri Lefebvre, Kritik des Alltagslebens, Bd. 1. München 1974; Agnes Heller, Das Alltagsleben. Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion. Hg. von Hans Jonas. Frankfurt a.M. 1978. 104 | Henri Lefebvre, Die Revolution der Städte. München 1972.
B. Die Sprache der Monumente, der Skandal des Ornaments 105 | Ebenda. Vgl. auch David Harvey, Rebellische Städte. Berlin 2013. 106 | Michel de Certeau, in: Panik Stadt. Berlin/Braunschweig 1979 (1977). 107 | Roland Barthes, Mythen des Alltags. Frankfurt a.M. 1964 (1957). 108 | Ebenda, S. 90. 109 | Ebenda, S. 90f. 110 | Ebenda, S. 92f. 111 | Ebenda, S. 93. Vgl. die Analyse des Eiffelturms: Roland Barthes, Der Eiffelturm, a.a.O. 112 | Roland Barthes, Die Sprache der Mode. Frankfurt a.M. 1985, S. 24. Anhand des Reklamebildes untersuchte Barthes später in »Rhetorik des Bildes« drei Ebenen von Botschaften: »eine linguistische Nachricht, eine kodierte ikonische (symbolische) und eine nicht kodierte ikonische (buchstäbliche)«. 113 | Roland Barthes, Mythen des Alltags. Frankfurt a.M. 1970, S. 106f. 114 | Ebenda, S. 131. 115 | Robert Venturi und Denise Scott-Brown, Learning from Las Vegas. Cambridge/MA 1977. 116 | Ebenda. 117 | Tom Wolfe, Mit dem Bauhaus leben. Die Diktatur des Rechtecks. Königstein/Ts. 1981. 118 | Aldo Rossi, L’Architettura della Città. Mailand 1978; ders., Wissenschaftliche Selbstbiographie. Bern/Berlin 1988; vgl. Gerrit Confurius, Suche nach dem Nicht-Beliebigen, in: Archithese 4/1987. 119 | Aldo Rossi, Bauten und Projekte 1981-1991. Hg. von Morris Adjimi. Zürich/München 1991. 120 | K. Michael Hays, Architecture’s Desire. Reading the Late Avant-Garde. Cambridge/MA 2010. 121 | Wolfgang Pehnt, Über eine Architekturdiskussion in Düsseldorf, FAZ 4. November 1983. 122 | Arbeiten wie die von Alfred Lorenzer gewinnen dadurch neue Aktualität: Kritik des psychoanalytischen Symbolbegriffs. Frankfurt a.M. 1970. 123 | Peter Eisenman, Jacques Derrida, Architektur Schreiben. Ein Gespräch zwischen Peter Eisenman und Jacques Derrida (1993), in: Peter Eisenman, Aura und Exzeß. Zur Überwindung der Metaphysik der Architektur. Hg. von Ulrich Schwarz. Wien 1995, S. 295-306. 124 | Manfredo Tafuri, Architecture and Utopia. Design and Capitalist Development. Cambridge/MA 1976; ders., The Sphere and the Labyrinth. Avant-Gardes and Architecture from Piranesi to the 1970’s. Cambridge/MA 1987; Interpreting the Renaissance: Princes, Cities, Architects. New Haven/Cambridge/MA 2006. 125 | Charles Fourier, Die Neue Liebesordnung. Siehe Roland Barthes, Sade, Fourier, Loyola. Frankfurt a.M. 1986 (1974), S. 89-138, S. 129. 126 | Sigfried Giedion, Bauen in Frankreich, Bauen in Eisen, Bauen in Eisenbeton. Berlin 2000 (Original: München 1928), S. 1f.; Henry Russel Hitchcock, Die Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts. München 1994. 127 | Roland Barthes, Sade, Fourier, Loyola, a.a.O., S. 30. Wie weit Verschwendung gehen kann, hat Tom Wolfe in seinem neuen Roman »A Man in Full« illustriert: Für ihn war der Inbegriff von überschießendem Luxus ein Privatjet gewesen. Die Anschaffungskosten, der Unterhalt, die Lizenzen, das Personal. Wie jeder normale Mensch hält Tom Wolfe die Dollarmillionen, zu denen sich all das summiert, für Verschwendung erster Ordnung. Bis er von Freunden auf eine Plantage in Georgia mitgenommen wurde. Herzstück waren Bereiche unberührter Wildnis, die der Wachteljagd vorbehalten waren. Alles in allem kostete die einzelne Wachtel, die hier verspeist wurde, 4.787 Dollar.
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Architektur und Geistesgeschichte 128 | Vgl. Nietzsches Ausführungen zur Sklavenmoral in »Jenseits von Gut und Böse« und in »Genealogie der Moral«. Siehe Deleuze, Nietzsche und die Philosophie. Vom Ressentiment zum schlechten Gewissen. Hamburg 1985. 129 | Theodor W. Adorno, Veblens Angriff auf die Kultur. Frankfurt a.M. 1969 (1955), S. 89. 130 | William Ogburn prägte den Begriff des ›cultural lag‹. William R. Ogburn, Social Change with Respect to Culture and Original Nature. New York 1922. 131 | Theodor W. Adorno, Veblens Angriff auf die Kultur, a.a.O., S. 107. 132 | Als der exemplarische amerikanische Selfmademan des 18. Jahrhunderts gilt Benjamin Franklin. Max Weber sah in ihm das Ideal des kreditwürdigen Ehrenmannes verkörpert: In seinen Äußerungen sei der Geist des Kapitalismus von aller direkten Beziehung zum Religiösen und insofern voraussetzungslos losgelöst. Moralische Vorhaltung könne für ihn ausschließlich utilitaristisch begründet sein. Auch Egon Friedell, der im 18. Jahrhundert den Typus des modernen Engländers, dem unter der Woche das Hauptbuch die Bibel sei, bereits fix und fertig ausgebildet sieht, bezeichnet Franklin als die konzentrierteste Verkörperung dieses Typus. Seine Karriere begann er früh in der Druckerei seines Bruders James, indem er mit 16 Jahren im Lokalblatt seines Bruders kleinere Artikel unter dem Pseudonym Mrs. Silence Dogood veröffentlichte. Ende 1724 veröffentlichte er in London mit eigenen Drucklettern eine philosophische Abhandlung mit dem Titel »A Dissertation on Liberty and Necessity, Pleasure and Pain«. Seine Entdeckungen machte er mittels des Denkschemas der doppelten Buchführung. Die Unterscheidung von Plus- und Minus-Pol revolutionierte die Auffassung von Elektrizität. 133 | Tom Wolfe sollte den Zweifel an der historischen Begünstigung Amerikas wiederholen. Er glaubte feststellen zu müssen, dass Amerika nicht aufhöre, an einem Kolonialkomplex zu leiden. Das Motto der Intellektuellen war: »›In Europa machen sie’s besser‹, und so versuchte jeder, nach Europa zu gelangen, um zu lernen, wie man ein europäischer Künstler wird.« Tom Wolfe, Mit dem Bauhaus leben, a.a.O., S. 14. 134 | Leslie A. Fiedler, Liebe, Sexualität und Tod: Amerika und die Frau. Berlin 1987. 135 | Im »Ulysses« gibt es eine Parodie – einen Text mit zwei parallelen Bedeutungsebenen, die wechselseitig Schlüssel füreinander sind – in der Joyce sich damit amüsiert, uns eine Sardinendose im Stil von Sir Thomas Malory zu beschreiben. Das wirkt wie ein mittelalterlicher Roman, der von wunderbaren Abenteuern kühner Ritter berichtet, die sich im Büchsenformat duellieren, in Wahrheit handelt es sich jedoch nur um Leopold Blooms Phantasie. 136 | »The Great Gatsby« von F. Scott Fitzgerald handelt von einem Mann, der allein kraft seiner Phantasie und kraft der Möglichkeiten, welche die Zeit der explodierenden Börse und der unschätzbaren Reichtümer, die während der Prohibition im Alkoholschmuggel zu holen waren und die er zu nutzen wusste, sich ein Schloss baut und dann davon träumt, dort mit jener Frau ein respektables Leben zu führen, die einst versprochen hatte, auf ihn zu warten, und die doch nicht wartete, und die er, in dem Glauben, die Vergangenheit lasse sich zurückholen, immer noch zu seinem Glück zu brauchen meint. Er handelt von der obsessiven Liebe dieses Emporkömmlings zu Daisy, die er nicht einmal wirklich zu mögen scheint, da er vor allem einer Phantasie nachhängt, die mit dieser Frau nicht viel zu tun hat. Er handelt von seiner Energie, von der Kraft seines Begehrens, die ihn sein Vermögen bilden ließ, und mit der er seine Daisy anschaut, und mit der er sein Traumschloss auf Long Island gebaut hat, wenn auch auf der falschen Seite der Bucht, in Great Neck nämlich, an der Nordküste von Long Island, gegenüber von Sands Point, in den 20er Jahren der noblere Wohnort. Die Neureichen suchten hier den amerikanischen Traum zu verwirklichen, der denen auf der anderen Seite in die Wiege gelegt worden war. Auch der Ich-Erzähler Nick Carraway hatte dort ein bescheidenes Häuschen gekauft, Jay Gatsby war sein Nachbar. Immer wieder erlebt er die rauschenden Partys in dessen weit größerem Haus, bis er eines Tages eingeladen wird.
B. Die Sprache der Monumente, der Skandal des Ornaments 137 | Zu den Oststaatenvillen siehe John Zukowsky, Robbe Pierce Stimson, Hudson River Villas. New York 1985. Vgl. die Ausstellung im Hotel de Sully in Paris 1989, Katalog. Vgl. auch Tom Wolfe, Bauhaus, a.a.O. Zum Roman-Schauplatz werden jene Villen auch in Edith Wartons »The Age of Innocence«. 138 | Wenn Mark Twains junge Helden sich durch Aufgewecktheit und »debunking« auszeichnen, durch die Fähigkeit nämlich, sich nicht so leicht beeindrucken zu lassen, alles erst einmal tiefer zu hängen, dann sind bei Lacan umgekehrt gerade jene, die von sich glauben, sich kein X für ein U vormachen zu lassen, die Betrogenen, betrogen um die Fähigkeit, sich in Übertragungsneurosen hineinziehen zu lassen und so Zugang zu ihrem Unbewussten zu erhalten, mithin zu sich selbst. Die sich irren sind bei Lacan nicht diejenigen, über die man lacht, die Trottel, die man betrügen kann – sondern die sich für die ganz Schlauen halten. Fußend auf Freuds »Pathologie des Alltagslebens« äußerte Lacan die Überzeugung, dass »jede erfolglose Handlung erfolgreich ist, um nicht zu sagen, sich zum Guten wendend, was allein der Beharrlichkeit und Ausdauer zu verdanken ist«. In einem späten Seminar verallgemeinerte er die psychoanalytische Entdeckung der »Wahrheit, die aus Missverstehen hervorgeht« so, als wollte er behaupten, dass »das Subjekt von Natur aus irrt […] Diskurs-Strukturen alleine geben ihm seine Anlegeplätze und Vertäuungen und Referenzpunkte, Zeichen helfen ihm, zu identifizieren und dienen der Orientierung; wenn es sie abwehrt, zurückweist, abwehrt, vergißt oder sie verliert, ist es verdammt, aufs Neue zu irren«. Wegen der Entfremdung, der sprechende Wesen unterworfen werden, weil sie, um zu überleben, in Sprache existieren müssen, »muß man sich selbst von Zeichen nehmen lassen und der Gelackmeierte eines Diskurses werden […] von Fiktionen, die in Diskursen organisiert sind.« Für Lacan muss das Individuum, mit »männlichem Wissen als unverbesserlichem Irrtum, sich selbst erlauben, betrogen zu werden von diesen Zeichen, um eine Chance zu haben, mitten in ihnen seine Peilungen zu machen; er muss sich selbst platzieren und behaupten im Kielwasser eines Diskurses […] der Betrogene eines Diskurses werden […] einer der ›Non-dupes errent‹.« Jacques Lacan, Les non-dupes errent. Séminaire oral du mardi 13 novembre 1973. Die nicht düpiert werden wollen, sind verdammt, ewig umherirren zu müssen, sie sind die ewigen Wanderer. Der Begriff ist homophon mit »Les noms du Père«. Siehe auch: Dany Nobus and Malcolm Quinn, Knowing Nothing, Staying Stupid: Elements for a Psychoanalytic Epistemology. New York 2005. 139 | Adolf Loos, Damenmode, in: Die Schriften 1897 bis 1900. Wien 2004, S. 207ff. Vgl. auch: ders., Ornament und Verbrechen. Wien 2000. 140 | Vgl. Stephen Toulmin, The Genealogy of Consciousness, in: Paul F. Secord (Hg.), Explaining Human Behaviour. Beverly Hills 1982. 141 | Adolf Loos, Ornament und Verbrechen (1908), in: Trotzdem. 1900-1930. Hg. von Adolf Opel. Wien 1988 (1931). Loos ereiferte sich über die nachträgliche Arbeit des Verzierens und Ornamentierens, das »Annageln« von Zementguss an die glatte Fassade, ebenso wie über Möbelschnitzereien, an denen man sich »Beulen« holt oder die man sich »in den Rücken sitzt«. Das Verlangen nach dieser Art von »Kunst am Gebrauchsgegenstand«, mit dem sich eine Oberschicht durch den Prestigegewinn der überflüssigen Arbeit eine Stellung verschafft, betrachtete er als »unsozialen Sadismus«. Er stößt sich an Beispielen von Gebrauchsgegenständen, die durch die Verzierung eigentlich für den Gebrauch ungeeignet geworden sind und nur in die Vitrine gestellt werden können oder durch ihren modischen Charakter bald durch neue ersetzt werden müssen. Sein Ressentiment gegen die »Tapetenzeichner« teilte Loos mit Muthesius, der gegen die Entwerfer von Sofakissen wetterte. Hermann Muthesius, Die moderne Bewegung, in: Spemanns Goldenes Buch der Kunst. Berlin/Stuttgart 1901, Nr. 1065. Vgl. Nike Wagner, Geist und Geschlecht.
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Architektur und Geistesgeschichte Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne. Frankfurt a.M. 1982. Zu Loos siehe vor allem Burkhardt Rukschcio und Roland Schachel, Adolf Loos. Leben und Werk. Salzburg/Wien 1982; Friedrich Kurrent, Adolf Loos. Katalog zur Ausstellung Museum Villa Stuck. München 1982. 142 | Adolf Loos in »Das Luxusfuhrwerk« (1898), in: Die Schriften 1897 bis 1900, a.a.O., S. 127. Dort sprach er von der Entwicklung der Menschheit und überständigen Degenerationserscheinungen. Den Gedanken greift er in »Damenmode« wieder auf, ein Jahr vor der Veröffentlichung von Veblens »Theorie der feinen Leute«. 143 | William Hazlitt, Brummelliana, in: New Writings of William Hazlitt. New York 2007 (Essay über Beau Brummel); siehe ––auch Jan Kelly, Beau Brummel: The Ultimate Dandy. London 2005. 144 | Zu Charles Baudelaire vgl. Jean-Paul Sartre, Baudelaire. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Schriften zur Literatur, Bd. 2. Reinbek 1978 (1963). 145 | Barbey d’Aurevilliers, Du Dandyisme et de Georges Brummel. Caen 1845. 146 | Adolf Loos, Die Herrenmode 1898, in: Die Schriften 1897 bis 1900, a.a.O., S. 83. 147 | Cesare Lombroso, L’uomo delinquente. In rapporto all’antropologia, alla giurisprudenza ed alle discipline carcerarie. Turin 1876. (Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung. Hamburg 1887.) Vgl. Klaus Hofweber, Die Sexualtheorie des Cesare Lombroso. Univ.-Diss., München 1969; Giorgio Colombo: La scienza infelice. Il Museo di antropologia criminale di Cesare Lombroso. Turin 2000. 148 | Vgl. Jane Caplan, Speaking Scars: The Tattoo in Popular Practice and Medico-Legal Debate in Nineteenth-Century Europe, in: History Workshop Journal, Heft 44, Herbst 1997. Der Lombroso-Einfluss wird da deutlich, wo Loos Ornamentieren gleichgesetzt mit dem Beschmieren von Toilettenwänden. 149 | Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. Stuttgart 1959. (De la démocratie en Amérique. Paris 1835/1840.) 150 | Ebenda. 151 | »Die conspicuous consumption wird zur fixen Idee. Um den Widerspruch zwischen dieser und dem Scharfsinn von Veblens gesellschaftlichen Analysen zu verstehen, ist von der Erkenntnisfunktion des spleen selber Rechenschaft zu geben. Gleich dem Bild des friedlichen Urzustands ist der spleen bei Veblen – und nicht bloß bei ihm – eine Zufluchtsstätte der Möglichkeit. Der Betrachter, der vom spleen sich leiten läßt, macht den Versuch, die übermächtige Negativität der Gesellschaft seiner eignen Erfahrung kommensurabel zu machen. Undurchdringlichkeit und Fremdheit des Ganzen sollen gleichsam mit den Organen ergriffen werden, während sie gerade es ist, die dem Zugriff unmittelbarer und lebendiger Erfahrung sich entzieht. Die fixe Idee ersetzt den abstrakten Allgemeinbegriff, indem sie bestimmte und begrenzte Erfahrung verhärtet und patzig festhält. Der spleen möchte die Unevidenz einer bloß vermittelten und abgeleiteten Erkenntnis des Allernächsten, nämlich des realen Leidens, korrigieren. Aber dieses Leiden entspringt im umfassenden Unwesen und kann darum nur abstrakt und ›vermittelt‹ zur Erkenntnis erhoben werden. Dagegen rebelliert der spleen. Er entwirft gleichsam Schemata des Gesprächs mit Herrn Kannitverstan. Sie versagen, weil die gesellschaftliche Entfremdung eben darin besteht, daß sie die Gegenstände der Erkenntnis den Umkreis der unmittelbaren Erfahrung entrückt.« Theodor W. Adorno, Veblens Angriff auf die Kultur, in: Prismen, a.a.O., S. 104f. Siehe auch ders., Meinung, Wahn, Gesellschaft, in: ders., Eingriffe. Frankfurt a.M. 1966. 152 | René Girard, Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. Münster 2012, S. 167. 153 | Ebenda, S. 168. 154 | Ebenda.
B. Die Sprache der Monumente, der Skandal des Ornaments 155 | Ebenda, S. 168f. 156 | Ebenda, S. 169. 157 | Ebenda, S. 131. 158 | Ebenda, S. 128f. 159 | Alexis de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution. München 1978; ders., Über die Demokratie in Amerika, a.a.O. Vgl. René Girard, a.a.O., S. 129. 160 | René Girard, a.a.O., S. 226. 161 | Vgl. ebenda, S. 284. 162 | Sighard Neckel, Westend. Neue Zeitschr.f. Sozialforschung 1/11. 163 | Colin Crouch, Postdemokratie. Frankfurt a.M. 2008. (Post-Democracy. Oxford 2004). 164 | Lucian Bebchuk hat dafür seine »Fat Cat Theory«: Lucian A. Bebchuk und Jesse M. Fried, Pay Without Performance: The Unfulfilled Promise of Executive Compensation. Cambridge/ MA 2004. 165 | Der König des Minimalismus John Pawson über seinen Beruf: »The minimum could be defined as the perfection that an artefact achieves when it is no longer possible to improve it by subtraction. This is the quality that an object has when every component, every detail and every junction has been reduced or condensed to the essentials. It is the result of the omission of the inessentials. The idea of simplicity is a recurring ideal shared by many cultures – all of them looking for a way of life free from the dead weight of an excess of possessions. From Japanese concepts of Zen, to Thoreau’s quest for simplicity, minimal living has always offered a sense of liberation, a chance to be in touch with the essence of existence, rather than distracted by the trivial.« – »Clearly simplicity has dimensions to it that go beyond the purely aesthetic: it can be seen as the reflection of some innate, inner quality or the pursuit of philosophical or literary insight in to the nature of harmony reason, and truth. Simplicity has a moral dimension, implying selflessness and unworldliness. The cult of simplicity has been advocated by almost every kind of religious and spiritual sect, from the Quakers to the Buddhists, and represented by them, whatever their other beliefs, as a virtue that can purify the spirit, and can offer adherents a sense of inner tranquility.« Aus: John Pawson, Minimum. London 1996. 166 | Mark Wigley, White Walls, Designer Dresses. The Fashioning of Modern Architecture. Cambridge/MA 1995. 167 | Ebenda. 168 | Ebenda; siehe auch das Kapitel zur Farbe Weiß in Herman Melvilles »Moby Dick«.
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C. Mitte und Peripherie Das ganze Universum umgibt den Menschen, wie der Kreis den Punkt. Paracelsus , Astronomica magna Il était une fois … L’univers était un Tout et avait un centre. Il n’y a plus ni Tout ni centre. Mais on parle toujours d’Univers … Paul Valéry
C 1. Eine der disparaten Raumfigurationen, die sich trotz behaupteter homogener funktionaler Differenzierung geltend machen, ist die Figur der Mitte. Der urbanistische Plan entfaltet seine größte ordnende, einigende und subsumierende Kraft in der Form des ausstrahlenden Zentrums. Die zentrierte Form besitzt auch in Herrschaftssystemen derartige Überzeugungskraft, dass ihre Mitte unbemerkt frei bleiben kann, ohne ihre Stabilität zu gefährden. Das Zentrum scheint für den Menschen immer ein Ort besonderer Attraktivität gewesen zu sein: Es erscheint uns als Moment einer von der Geschichte nicht tangierbaren Ontologie. Die Phänomenologie rettet diese ontologische Grundannahme in die Gegenwart herüber, indem sie die Permanenz dieser Topoi auf den Leib als Zentrum der Verankerung in der Welt zurückführt. Dieser Verankerung entspricht eine zentrierte Raumvorstellung mit einer »höheren Seinsgewissheit« (Heidegger) im Mittelpunkt, die sich trotz der Pluralität aller möglichen Standorte nicht abschwächt. Die Privilegierung der Mitte scheint Teil der anthropologischen Grundausstattung zu sein. Einer verbreiteten und wahrscheinlich in jeder Weltregion in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte manifesten Überzeugung gemäß beansprucht jedes Volk, selbst den Mittelpunkt der Welt zu bewohnen, so dass die paradoxe Situation zahlreicher Weltmittelpunkte entsteht, die jeder für sich Absolutheit beanspruchen. Dass prinzipiell jeder Punkt auf der Welt Mittelpunkt sein kann, tut dieser Sinnkonstruktion keinen Abbruch. Die Zentrierung ist eine uns so sehr vertraute Eigenschaft unseres Denkvermögens, dass wir uns über ihren Idealisierungscharakter keine Rechenschaft geben zu müssen glauben. Ebenso selbstverständlich ist uns die Entindexikalisierung unserer Wahrnehmungen, es fällt uns sogar schwer, uns diesen Vorgang bewusst zu machen, es sind nur die deiktischen Ausdrücke (ich, hier, jetzt), die uns an diesen Umstand erinnern könnten.
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Architektur und Geistesgeschichte
Der antike Theoriebegriff, die selbstbewusste Mimesis, band Wahrheit an die Entäußerung an den Kosmos, an seine der kontingenten Veränderlichkeit der menschlichen Praxis entrückte ontologische Stetigkeit zurück: Er war »archäologisch« konzipiert. Der selbstbehauptete Überlebenswille fällt mit seiner Anschmiegung an das Andere, das Nicht-Identische zusammen. Der Mimesis verpflichtet ist auch die Theodizee, das Vertrauen des Menschen darauf, dass es Sinn und Zweck der Schöpfung sei, dass die Welt für ihn gemacht sei und dass er aus ihrer Lektüre einen Zugang zur Absicht der göttlichen Schöpfung gewinnen könne. Ihr entspricht ein im Idealfall geozentrisches Weltbild, in dem der Mensch als Adressat der Schöpfung die komfortable Mitte bewohnt. Die theologische Anthropozentrik wurde noch für Kopernikus Anstoß und metaphysisches Axiom für die durch empirische Beobachtung für notwendig erachteten Reformen der Astronomie. Die Rettungsabsicht ist ihm allerdings von seinen Zeitgenossen als Gegenteil, nämlich als Erschütterungsversuch der Theodizee und theologischer Anthropozentrik ausgelegt worden. Die Kirche wertete seine Reform als Versuch der Erniedrigung des Menschen bezüglich seiner Stellung im Kosmos und die Leugnung der Grundannahmen der Theodizee. In der Figur des zentrierten Kreises reflektiert sich auf der archaischen Stufe der Evolution die ökologische Situation eines an der Peripherie ringsum unerforschten Terrains. Die sich im Unendlichen verlierenden und zugleich das Ende der Welt markierenden Gebirge, Wälder, Sümpfe oder Ozeane, Sand- oder Eiswüsten werden gleichwohl nicht als Vakuum vorgestellt, sondern vielmehr voller Gefahren und Verlockungen. Wo die normative Ordnung ausfranst und die ästhetische Kohärenz der Kultur nachgibt, ist Platz für Fabelwesen und Chimären. Und diese Region macht aus jedem einen Helden, der die nötige Unternehmungslust und Vermessenheit für eine Expedition in das Unbekannte auf bringt. Gefährlich sind solche Abenteuer auch deshalb, weil der Grenzgänger die eigene moralische Integrität aufs Spiel setzt und gegen mächtige Verbote und Tabus verstoßen muss. Die Ränder der Welt lehren das Fürchten. Sie schlucken alle Spuren von Mensch und Geschichte. Sie entfalten ihre Wirkung durch extreme klimatische Bedingungen und pathologische Erscheinungen wie Ermüdung, Taumel, optische Täuschungen, Fata Morgana. Jene Regionen beschwören eine Mythologie herauf, die, soweit schriftliche Überlieferung zurückreicht, von Irrfahrt und Verderben erzählt und von der Angst, sich zu verlieren, ins Nichts zu stürzen. Das Chaos wird als Gegenbild des zentrierten Kosmos oft als Labyrinth dargestellt und künstlich nachgebildet. Während im logozentrischen Weltbild nur die als Helden gefeiert werden, die wie Dädalus und Theseus dem Labyrinth entronnen sind, bleibt Asterion, der das Labyrinth selbst bewohnt, unerwähnt. Jorge Luis Borges hat das Versäumte in seiner Erzählung »Das Haus des Asterion« nachgeholt, in der er dessen Ende wie das von äußeren Umständen bestimmte Ende eines Traumes beschrieb. Derselben Ontologie zufolge, der die Mitte ihre besondere Dignität verdankt, besitzen die Gegenstände der Außenwelt keinen selbständigen inneren Wert. Sie gewinnen ihn erst als ausgezeichnete Gegenstände, die an einer übergreifenden Wirklichkeit teilhaben. Der Stein ist erst als heiliger Stein »von Sein gesättigt« (M. Eliade). Form gewinnt ihre Evidenz als Mimesis eines Vorbildes. Wirklich ist dem mimetischen Erkenntnismodell zufolge etwas erst dann, wenn es nicht oder nicht nur es selbst ist.
C. Mitte und Peripherie
Durch Zentrierung wird etwas auf den göttlichen Kosmos projizierbar. Als zentrierte nährt eine Form die Annahme der Übereinstimmung, als wären Vorbild und Abbilder auf einer Achse angeordnet wie Fleischstücke auf einem Spieß. Das Zentrierte und so auf einer Seins-Achse Angeordnete erhält durch die Rotation Kreisform. So wurde die Stadt Jerusalem in den Zeiten der Kreuzzüge ungeachtet tatsächlicher Zerklüftung als kreisrund beschrieben. An den Abbildungen lässt sich die Realität dieses Ideals ablesen, die Kraft dieses »Vorstellungszwangs«, deren Wurzeln in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte liegen mögen und der »infolge unbekannter seelischer Rhythmen das Denken immer wieder in seinen Bann zog«. (1) Die Struktur der Zentrierung benötigt zu ihrer Charakterisierung auch den Gegenpol, der kein Pol ist, die ausfasernde Peripherie. Zur Peripherie hin, an den Rändern nimmt die Wirklichkeitsdichte ab, lässt die ordnende Kraft nach, zerfransen die Strukturen, wird die Form machtloser gegen das andrängende Chaos, das sie nicht länger erfolgreich in Schach zu halten vermag. Dort grenzt das zentrierte Gelände an die unerforschten Gebiete, die Wüsten und Ozeane, die von Ungeheuern und Fabelwesen bewohnt werden und wo das Grauen lauert. Die Opposition ist dabei nicht starr gedacht, sondern lässt auch den Transfer zu. Das Chaos ist das Noch-nicht-Geordnete. Zwischen beiden Seiten der Dichotomie kann also die mediatisierende Kategorie des noch unbekannten oder noch zu erobernden und zu erforschenden »jungfräulichen« Terrains treten. Damit betreten wir die Zeitdimension. Auch sie gehorcht der Mimesis, der zufolge menschliche Handlungen keinen übergeordneten Wert besitzen, keine Erkenntniswürdigkeit, die allein aus der mit ihnen verbundenen Anstrengung resultieren könnte. Diese gewinnen Taten erst dadurch, dass sie einen ursprünglichen Akt, ein mythisches Beispiel wiederholen. Was ein Mensch tut, ist nur darum bedeutsam, weil es schon getan wurde. Das Ereignis hat sich schon vor langer Zeit abgespielt, nur die Formulierung verspätet sich. Was kein exemplarisches Vorbild besitzt, nicht Wiederholung ist, ist »des Sinnes entblößt«. Im Mittelpunkt haben die Welt und die Zeit ihren gemeinsamen Ursprung. Der Nabel der Welt vereinigt Kosmologie und Kosmogonie. Eine Stadtgründung ist eine Zentrierung, da jeder Schaffensakt eine Wiederholung des ursprünglichen Schöpfungsaktes ist, die nur von einem göttlichen Mittelpunkt aus gedacht werden kann. Die Vermutung, dass wir, obgleich wir diesen Erkenntnismodus evolutionär hinter uns gelassen und durch einen ersetzt haben, der uns erlaubt, uns als Tätige zu erkennen, indem wir uns im Gegebenen als Techniker bestätigt sehen, jener alten Metaphysik noch immer verhaftet sind, mag der Umstand bestätigen, dass wir uns mit Freud das Unbewusste als etwas denken, das unser Verhalten und Denken steuert, obwohl es in der allerfrühesten Kindheit formatiert wurde. Seinem Konzept zufolge wiederholt der Analysand in der Interaktion mit dem Analytiker etwas, das bereits in der Interaktion mit Mutter und Vater geschehen ist, um es erst jetzt wirklich geschehen sein zu lassen. Die Besetzung der Mitte als die Antwort auf die Frage nach der Stellung im Kosmos ergibt sich aus der Notwendigkeit für das Gattungswesen Mensch, sich in der Welt selbst begründen zu müssen, seinen Platz im Kosmos legitimiert zu wissen. Diese Selbstbegründung darf als kontingenter Akt im Bewusstsein keinen Bestand haben, muss in die Welt hineingedacht und aus ihr wieder herausgelesen werden.
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Architektur und Geistesgeschichte
In der »Selbstbegründung« wird der Akt von seinem Ergebnis verschluckt. In der Figur der Mitte lässt sie sich als Eigenschaft des Kosmos in der Natur ablesen, ohne eine Spur unseres eigenen Tuns. Auf archaischer Stufe ist die Vorstellung des Kosmos durch direkte Extrapolation der Siedlungsstruktur gewonnen. Der Mittelpunkt der Dorfanlage ist von den Grenzen der Siedlung ebenso wie von den Rändern der Welt am weitesten entfernt und gilt darum als der sicherste Ort, der für die Oberhäupter, Heiligtümer und Schätze reserviert wird. Die Grenzen des Dorfes, jenseits derer die Wildnis beginnt, spiegeln die Grenzen der Welt, die vom Chaos umgeben sind, und umgekehrt, weil noch ein einfaches Weltbildschema die Ebenen von individueller Lebenswelt, Gesellschaftsordnung und Kosmos zu integrieren und in ein-unddemselben Raumhorizont abzubilden vermag. Ränder der Ordnung und Grenzen zwischen Vertrautem und Unbekanntem wiederholen sich analog innerhalb der Sozialordnung und des Siedlungsterritoriums. Den Grenzverkehr zwischen profanem Alltagsleben und heiligen Bezirken regeln Übergangsriten, in denen chimärische Masken und zoomorphe Formen zum Einsatz kommen, die auf die augenscheinliche Diskontinuität der individuellen Körper keine Rücksicht nehmen müssen. Die Natur wird zerlegt und in phantastischer Kombinatorik neu zusammengesetzt, so dass den Menschen Hörner, Rüssel und Federn wachsen können. Archaische und frühe Hochkulturen versuchen, die Stabilität des sozialen Seins durch dessen Befestigung im Zentrum des Raumes zu erreichen, also im buchstäblichen Sinne zu begründen. Stabilisierung im Raum bedeutet auf der elementaren Entwicklungsstufe, dass jede Wohnstätte im Weltmittelpunkt verankert sein muss. In arktischen Regionen Nordamerikas und Asiens existieren in den Praktiken einst nomadisierender Stämme noch Spuren einer solchen elementaren Entwicklungsstufe. Der Mittelpfosten des Zeltes korreliert der Weltachse, die, als Weltenbaum oder Weltsäule vorgestellt, wie die altsächsische Irminsul, die Erde im Kosmos verankert. Öffnungen im Dach oder an der Spitze des Zeltkegels geben den Blick frei auf den Polarstern als Weltnagel, an dem der Gipfel eines hohen Berges befestigt ist. Auf einer komplexeren Stufe muss nur noch das die Einheit repräsentierende Moment, die Hauptstadt, der Tempel, der heilige Bezirk im Weltzentrum gründen. Altorientalische Stufenpyramiden wie der mesopotamische Zikkurat sind ein künstliches Abbild des Kosmos, dessen Himmelsregionen als Stockwerke veranschaulicht sind. Wo ganze Städte als Weltberg angelegt wurden, wie im alten Iran, sorgten Höhenvorschriften für den Hausbau für die Wahrung der gestuften Silhouette. Während die Weltberge mit ihren Gipfeln symbolisch an den Himmel grenzen, dienen ihre mächtigen Fundamente zugleich dazu, das Tor zur Unterwelt zu verschließen. Relikte jener Selbstzentrierung finden wir etwa in manchen Städten entlang und nördlich der französischen Atlantikküste. Besonders markierte, ins Pflaster eingelassene Grundsteine oder wie kleine Stufenpyramiden geformte Steinsäulen in der Mitte des Marktplatzes, die sogenannten »Perrons«, kann man als späte Erbschaft megalithischer Steinkulte betrachten, wenngleich sie das Privileg eigener Rechtsprechung als Grundlage relativer politischer Autonomie der jeweiligen Stadt im Mittelalter symbolisierten, das für die im 12. Jahrhundert aufstrebenden Städte von besonderer Wichtigkeit war.
C. Mitte und Peripherie
Auch die Symbolik des »high cross« in angelsächsischen Gründungen, das den vom König garantierten Frieden an diesem Ort und auf den vier Straßen veranschaulicht, die hier zusammentreffen, weist auf das kosmische Gebirge zurück, das in grauer Vorzeit die Welt zentrierte, indem es die Siedlung in der Welt befestigte. Für die städtebauliche Verwendung der christlichen Kreuzsymbolik konnte man bereits vorhandene Strukturen aktivieren. Die von der Kreuzzugsbegeisterung genährte Planungsmode fiel in Europa auf den vielleicht noch fruchtbaren Boden germanisch-keltischer Steinkulte. Die christliche Bedeutung wurde den keltischen Kreuzanlagen aufgepfropft und so zugleich in der Geschichte verankert als etwas, das immer schon galt. (2) Der Vertretung der Wohnstätte durch das die Kultur repräsentierende Heiligtum im mythologisch ermittelten Zentrum folgt auf einem nächsten Abstraktionsniveau die Repräsentation von Bestimmtheit und Unbestimmbarkeit durch die Figur des zentrierten Kreises von der Symbolisierung der allein seienden Wahrheit durch die Kugel bei Parmenides bis zur mittelalterlichen Deutung Gottes als eine Kugel, deren Zentrum überall und deren Peripherie nirgends sei. (3) Die Zentrierung ist als unmittelbar räumlich vergegenwärtigbare Struktur der Selbstbegründung nicht nur an die Geltung der archaischen Mimesis geknüpft, sondern auch an die Kompaktheit eines einzigen Welthorizonts. In modernen Gesellschaften ist jene Einheit gesprengt und in die unterschiedlichen Horizonte des Universums, des Kosmos, der Gesellschaft und der Lebenswelt zerfallen, die nicht mehr kongruent aufeinander abbildbar sind, sondern sich widersprüchlich zueinander verhalten. Dem subjektlosen und fremdbestimmten Lebensraum wird der zentrierte »Wohnraum« gegenübergestellt, ohne den der Mensch für den Phänomenologen ein verstreutes und den Zufällen preisgegebenes Wesen wäre. Erst in der komplexen modernen Gesellschaft mit ausdifferenzierten Horizonten ist es möglich geworden, dass Gesamtstruktur und kognitive Grundstruktur in Widerspruch zueinander geraten. Gesellschaftsstruktur und subjektive Sinngebung können nur als einander widersprechend gedachte eine Einheit bilden. Im partikularen und weltlosen neuzeitlichen »Wohnraum« überlebt ein durch Zentrierung und Kreisform bestimmtes Weltbild, auch wenn es wissenschaftlich obsolet geworden ist. In ihm bewohnen wir eine konkrete Totalität, deren lebendiger Mittelpunkt wir selbst sind. Um den eigenen Leib als Zentrum der subjektiven Realitätskonstruktion und Werkzeug der Verankerung in der Welt herum legt sich nach wie vor die Welt in konzentrischen Kreisen, deren Wahrscheinlichkeit und Dicke nach außen hin abnimmt. Die subjektive Besetzung des Raumes mit Sinn und Geschichte überlagert seine objektiven Strukturen mit einem Netz aus Bedeutungen, in dessen Zentrum wir uns selbst befinden und dessen fragiles Gewebe die Welt für uns erst wirklich und bewohnbar macht. Die belletristische Literatur ist reich an Zeugnissen für diesen Umstand. Der Schauplatz der Kindheit des Proust’schen Erzählers Combray ist wie das Dorf bei Lévi-Strauss eine Welt, in der für die Bewohner, die »Eingeborenen«, die Vorstellungen mit der Struktur identisch sind. Dass beide objektiv auseinanderfallen, erfahren wir nur durch die Art des Erzählens. Es handelt sich bei der Blindheit der Bewohner nicht um einen Informationsmangel, sondern um die Folge einer Gewissheit. (4) Das Zentrum bildet die Großtante in ihrem Zimmer. In den Augen des Kindes ist das Zimmer der Tante Léonie das »Allerheiligste im Haus der Fa-
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milie. Neben dem Bett ein Tisch mit einer Flasche Vichy-Célestins, Medikamenten und Meßbüchern – eine Art Altar, wo […] die Hohepriesterin von Combrai Gottesdienst hält«. Die Welt rings umher erscheint kreisrund, die Personen agieren auf ihr in konzentrischen Kreisen um dieses Zentrum. »Die Tante scheint untätig, doch sie verwandelt das heterogene Gemenge; sie transformiert es in ›Materie von Combray‹; sie macht daraus eine reichhaltige und wohlschmeckende Nahrung, die aufgenommen werden kann. Sie identifiziert die Passanten und die anonymen Hunde. Sie reduziert das Unbekannte auf Bekanntes. Dank ihrer ist Combray im Besitz aller Erkenntnis und Wahrheit. Combray, das ›ein Rest der Stadtmauer aus dem Mittelalter hier und da mit einer vollkommen kreisrunden Linie umgab wie auf einem spätgotischen Bild‹, ist eine vollkommene Scheibe, und Tante Léonie, unbeweglich in ihrem Bett, ist der Mittelpunkt dieser Scheibe. Die Tante nimmt nicht an den Aktivitäten der Familie teil, aber sie verleiht ihnen ihren Sinn. Ihr Alltagstrott läßt sich wie die Scheibe harmonisch drehen. Die Familie drängt sich um die Tante wie die Häuser des Dorfes um die Kirche.« (5)
Was den Gesetzen dieser Welt widerspricht, was diese Einheit bedroht, wird verspottet, lächerlich und verächtlich gemacht. Auch der Salon der Madame Verdurin besitzt eine solche Kreisstruktur. »Dieselbe zirkuläre Sicht, derselbe innere Zusammenhalt, von einem System ritueller Gesten und Worte sanktioniert. Der Salon ist nicht bloß ein Ort, wo man sich trifft, sondern eine besondere Art zu sehen, zu fühlen, zu urteilen.« (6) Auch seine Zentriertheit besitzt eine eliminatorische Funktion. Die Parallele drängt sich auf, denn in beiden Welten ist es Swann, der die Grenze sichtbar macht, indem er der Ausgestoßene ist, jemand, der als nicht assimilierbar gilt. Wenn sich die Großtante in Combray mit harmlosen Sarkasmen begnügt, ist die Exkommunikation aus dem Pariser Salon eine ernste Sache: die Türen werden ihm krachend vor der Nase zugeschlagen. Am Ende sieht er sich verstoßen. Beide Welten haben ihre Religion. In Combray, im Quasi-Feudalreich der bürgerlichen Kindheit, ist es die der Schutz verheißenden mittelalterlich-frommen Bilder, im Salon herrschen Inquisition und Hexenjagd. Swann gilt dort nicht nur als verschroben und unmöglich, sondern als Ketzergeist. Die Vereinigungsriten sind hier wie dort getarnte Ausschließungsriten. (7) Die Zentrierung ist auffallend häufig verknüpft mit einer Quadrierung des Geländes. Die Mitte wird ermittelt als Schnittpunkt sich kreuzender Achsen. Ausstrahlende Strukturen haben die Form eines Kreuzes. Besonders auffällig im europäischen Norden etwa stößt man auf die lange wirksame Vorstellung einer viergeteilten Erdoberfläche, die sich in dem Verlauf von Provinzgrenzen und im Siedlungsschema wiederholt. Die Fülle der anführbaren Belege wird von der Kulturanthropologie gewertet als Beweis einer tief verwurzelten Neigung nicht nur keltischer und germanischer Völker, ihre Verhältnisse im Viererrhythmus zu ordnen, und als Indiz für die Richtigkeit der Vermutung, dass man sich das Ganze in archaischer Zeit offenbar nicht anders denn als viergeteilt vorstellen konnte. (8) So blieb noch in der altrömischen Stadtbaukunst trotz zunehmender Pragmatisierung der Riten und der allmählichen Abnutzung ihres Nimbus die Überzeugung erhalten, dass die Form der Gründungszeremonien auf eine alte Kosmologie zurückgehe und dass es sich bei den einander kreuzenden Achsen von cardo und
C. Mitte und Peripherie
decumanus um eine origo celestis handle. Der cardo sei das Duplikat der Weltachse, die ihren nördlichen Drehpunkt im Polarstern habe und den die Natur hinter den Großen Bären über Erde und Meer setzte, wie Vitruv schreibt, den decumanus könne man zur Tag-und Nachtgleiche als Ost-Westlinie einvisieren, wie Plinius ergänzt. Das Nützliche verklärt sich mit einem Schimmer aus der göttlichen Sphäre, bis in die Neuzeit der Kartographie mit Längen- und Breitengraden hinein. Durch die Differenzierung des Raumes als elementarste Form der Aufklärung wird der Raum als bewohnbar und sicher dargestellt. Die kognitive Raumstruktur entsteht durch die Zertrümmerung einer undifferenzierten Homogenität nach dem Prinzip des binären Codes, dem zufolge man sinnlich wahrnehmbare Unterscheidungen treffen kann, die alle aufeinander abbildbar sind, wie die zwischen Mitte und Rand, vorn und hinten, rechts und links. Durch die Übertragung des Körperschemas auf das Gesichtsfeld als potentiellem Betätigungsfeld werden jene Dichotomien relevant als Unterscheidungen zwischen unserem Standort und der Umgebung, zwischen dem Raum, der vor uns liegt und in den wir auf brechen, und dem, der bereits hinter uns liegt, und zwischen dem, was rechts von uns liegt und dem wir begegnen können, und dem, was uns von links bedroht. So ließe sich die Vierteilung aus den Richtungsachsen unseres aktiven Selbstverständnisses erklären, das freilich nicht als bewusstes Motiv wirksam war, sondern in der Projektion auf den Kosmos aus diesem als Handlungsanleitung herausgelesen werden konnte.
C 2. Die Zentrierung ist architektonisch in dem umfassenden Sinne einer Identität von Eigenschaften unseres Denkvermögens mit Eigenschaften der objektiven Gegebenheiten verwoben, die sich uns zu allen Zeiten aufdrängt, so dass sie für eine anthropologische Konstante gehalten werden darf. Wenn sie auch nicht mehr im Weltbild und im wissenschaftlichem Wissen repräsentiert ist, ist sie doch durch Erschütterungsexperimente noch immer ermittelbar. Ein Text von J. L. Borges hält die entsprechende Verunsicherung bereit. Er referiert eine imaginäre Taxonomie des Aufklärers Wilkens, die jener als ein Fundstück, nämlich als eine alte »chinesische Enzyklopädie« ausgegeben hatte, und in der sich die Tiere wie folgt gruppieren: »a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie tolle gebären, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen. – Bei dem Erstaunen über diese Taxonomie erreicht man mit einem Sprung, was in dieser Aufzählung uns als der exotische Zauber eines anderen Denkens bezeichnet wird – die Grenze unseres Denkens: die schiere Unmöglichkeit, das zu denken.« (9)
Man könnte an pathologische Phänomene der Sprachzerstörung oder der Aphasie denken, die verstörende Erfahrung, dass das Gemeinsame der Bedeutungen verloren gegangen ist. Doch die Gedanken Foucaults und von Borges gehen in eine andere Richtung. »Diese Verdrehung der Klassifizierung, die uns daran hindert, sie zu denken, und dieses Tableau ohne kohärenten Raum erhalten von Borges als
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mythische Heimat eine präzise Region, deren Name allein für das Abendland eine große Reserve an Träumen und Utopien bildet. China ist doch in unserem Traum gerade der privilegierte Ort des Raums.« (10) Diese Mythisierung hängt zusammen mit dem historischen Faktum der »Bildung von Großreichen, die die Möglichkeit haben, sich selbst als Zentrum der Welt zu begreifen und alles andere zu peripherisieren. So hielt sich China bis weit in das 19. Jahrhundert hinein für das einzige ›Reich unter dem Himmel‹ und nicht etwa für eine Kultur, geschweige denn einen Staat unter anderen. »Die Mehrheit der Bewohner solcher Großreiche wußte wahrscheinlich nicht, daß sie in einem Reich leben (wie wir uns das an Hand von Landkarten vorstellen können) […] und die Angehörigen der bürokratischen Eliten dürften sich kaum dafür interessiert haben, was in den Köpfen der einfachen Leute vor sich ging.« »Zur Form des Reiches gehört daher das Fehlen jeglicher Grenzen. An ihrer Stelle findet man Horizonte, die das Erreichbare bestimmen und mit ihm variieren.« Grenzen kommen, wenn überhaupt, für jene Eliten nur in Betracht als vorübergehende Einschränkungen ihres faktischen Einflussbereiches. Der vorläufig letzte Fall eines solchen Reiches dürfte die Sowjetunion gewesen sein. (11) China bezeichnet den Raum in seiner absoluten Erscheinungsform. Die Unergründlichkeit dieses Umstands findet in der Bezeichnung »Reich der Mitte« ihren Widerhall. Franz Kafka hat dieser traum- und alptraumhaften Räumlichkeit mehrfach beklemmende literarische Gestalt verliehen. In seiner negativen Mystik erweist sich das eigene Leben vom Ende her als etwas, das bereits vor Beginn aller Zeit geschrieben stand und nur für diesen einen Menschen geschrieben ist. Die Tür, die einen Ausweg geboten hätte, war nur für ihn gemacht, stand sein ganzes Leben nur für ihn bereit, ohne dass er Gelegenheit gehabt hätte, das zu erkennen. Die Gelegenheit ist keine, da sie mit seinem Tod zusammenfällt. Einige seiner Erzählungen des Nicht-Ankommen-Könnens tragen »chinesisches« Kolorit, ohne dass dies explizit werden müsste. Die Menge ist groß, ihre Wohnstätten nehmen kein Ende, nach dem Palast mit den Türhütern kommen die Höfe, nach den Höfen der nächste Palast und die nächsten Türhüter, wieder Treppen und Höfe und wieder ein Palast und so weiter, durch Jahrtausende. Die Zeit ist nur Epiphänomen der Ausdehnung. Michel Foucault, der die Reihe Wilkens-Borges fortsetzte, kommentiert: »Für unser imaginäres System ist die chinesische Kultur die metikuloseste, die am meisten hierarchisierte, die taubste gegenüber den Ereignissen der Zeit, am meisten dem reinen Ablauf der Ausdehnungen verhaftet. Wir denken an sie als eine Zivilisation von Deichen und Barrieren unter dem ewigen Gesicht des Himmels. Wir sehen China ausgebreitet und auf die ganze Oberfläche eines mit Mauern umgebenen Kontinents geheftet. Sogar seine Schrift reproduziert den flüchtigen Flug der Stimme nicht in horizontalen Linien. Sie richtet das unbewegliche und doch erkennbare Bild der Dinge selbst in Säulen auf. Infolgedessen führen die von Borges zitierte chinesische Enzyklopädie und die Taxonomie, die sie vorschlägt, zu einem raumlosen Denken, zu obdachlosen Wörtern und Kategorien, die aber im Grunde auf einem heiligen Raum ruhen, der völlig mit komplexen Figuren, verflochtenen Wegen, seltenen Plätzen, geheimnisvollen Passagen und unvorhergesehenen Kommunikationen überladen ist. So gäbe es am anderen Ende der von uns bewohnten Welt eine Kultur, die völlig der Aufteilung der Ausdehnung geweiht ist, die aber die Ausbreitung der Lebewesen in keinem
C. Mitte und Peripherie der Räume verteilte, in denen wir die Möglichkeit haben zu benennen, zu sprechen und zu denken.« (12)
Der metaphysische Einspruch gegen die Homogenisierung der Oberfläche ist leicht zu provozieren. Nicht erst bei der Wohnungssuche erfahren wir mit Macht, dass nicht alle Orte gleich wert sind. Es ist nicht gleichgültig, wo wir eine Wohnung suchen und finden, auch wenn die modernen Utopien uns dies als Möglichkeit weismachen wollten. Die Erfahrung, dass wir nicht jede Wohnung haben können, ist eine der größten Kränkungen der Gegenwart. Schnösel in der Gestalt von Maklern und Hauseigentümern und die Preise sagen uns, wo wir nicht erwünscht sind, und weisen uns unsere Plätze an oder uns gänzlich ab. Zudem gehört es zur Tragik der Moderne, dass wir, wo immer wir sind, den Verdacht haben, anderswo wären wir eher am richtigen Ort. »Indem das Zentrum einer Struktur die Kohärenz des Systems orientiert und organisiert, erlaubt es das Spiel der Elemente im Innern der Formtotalität. Und noch heute stellt eine Struktur, der ein Zentrum fehlt, das Undenkbare selbst dar.« (13) Es ist dieser Umstand, der zu einer ontologischen Begründung verleitet. Gegen das ontologische Verständnis dieses unbezweifelbaren Umstands wendet nun Derrida ein, dass das Zentrum keine Gegebenheit sei, sondern das Ergebnis eines Aktes, der vergessen worden ist. Das Zentrum oder die Zentrierung begreift er als Geste, die der Struktur auf einen Punkt der Präsenz, auf einen festen Punkt beziehen soll. Sie verdankt sich einer Bemühung, die Welt ins Gleichgewicht zu bringen und zu orientieren. Jene Geste solle vor allem dafür Sorge tragen, dasjenige in Grenzen zu halten, was Derrida vorschlägt, »das Spiel der Struktur« zu nennen. Sie soll das Spiel der Elemente im Innern der Formtotalität erlauben und dem Spiel, das es eröffnet und ermöglicht, auch eine Grenze setzen. Als Zentrum ist dieser Punkt derjenige, an dem die Substitution der terminologischen Elemente nicht mehr möglich ist. Ein Zentrum oder eine zentrierte Struktur ist in dekonstruktivistischer Perspektive eine Bewegung, die festgestellt ist, festgenagelt könnte man sagen. Derrida behauptet, dass der klassische Begriff der Struktur das Zentrum nur widersprüchlich fassen könne, als etwas, was ihr immanent sei und was sie zugleich von außen beherrsche, was ihr vorgegeben sei, ihr metaphysisch vorangehe und ihr doch erst zugefügt werde. Aus der Sicht des Dekonstruktivisten wird die Zentrierung zu etwas, was nur als widersprüchliches Moment der Geschichte der Sinngebungsaktivitäten erfassbar ist. Mit dieser Aktivität sind wir in eine Geschichte verstrickt, deren Ursprung stets neu belebt werden muss und deren Ende immer wieder in der Gestalt der Präsenz antizipiert wird. Das Zentrum wird erkennbar als ein Moment in einer Reihe einander ablösender und ersetzender Zentren, mit verschiedenen Formen und Namen. Die Geschichte der Metaphysik wäre die Geschichte dieser Metaphern und Metonymien. In dem geschichtlichen Moment, da man das Zentrum zu wiederholen, nachzuahmen, herzustellen versucht, wird man sich dessen bewusst, dass es nichts bezeichnet, was ihm vorangegangen wäre. Man muss erkennen, dass das Zentrum nicht in der Gestalt eines Vorgegebenen gedacht werden kann, dass es keinen natürlichen Ort hat, sondern dass es immer erst hergestellt werden muss, dass es eine Funktion ist, »eine Art von Nicht-Ort, in dem sich ein unendlicher Austausch von Zeichen abspielt«. (14)
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Goethe hatte sich auf zwei Weisen dem Topos der Mitte angenähert. Im einen Fall nutzte er den Umstand, dass der Mittelpunkt unter Einbeziehung der Zeitdimension Zielort zahlreicher mythischer wie literarischer Reisen ist. Er verstand sein Vorhaben, nach Rom zu reisen, als Entschluss, »einen langen einsamen Weg zu machen und den Mittelpunkt zu suchen«, zu dem ihn »ein unwiderstehliches Bedürfnis hinzog«. In seinem ersten Brief nach Hause entschuldigt er sich für seinen heimlichen, fluchtartigen Auf bruch und die »gleichsam unterirdische Reise hierher«. »Kaum wagte ich mir selbst zu sagen, wohin ich ging, selbst unterwegs fürchtete ich mich noch […] Ja, ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt. Nun bin ich hier und ruhig und, wie es scheint, auf mein ganzes Leben beruhigt.« Goethe maß dieser Reise eine »zentrale« Bedeutung zu. Der Hauptstadt der Welt kann diese überschwängliche Mitteilung nur angemessen sein. Da bekanntlich alle Wege nach Rom führen, klingt es wie eine standardisierte Huldigung an diesen Ort, wenn Goethe ihm den Eindruck erhöhter Sinnhaftigkeit und subjektiver Selbstgewissheit und ein Gefühl der Ruhe und des Angekommenseins verdankt. Diese Stadt Rom hält für den Reisenden das Gefühl bereit, wie nach einer Zeit der Prüfung und der Lehrjahre nunmehr für einen neuen Zustand ausgebildet zu sein, die Gewissheit, dass sich eine Lücke zwischen äußeren Umständen und inneren Disponierungen, zwischen der Realität und der Art zu empfinden und zu denken, endlich schließt. So konnte diese Stadt im Leben Goethes »Epoche« machen: als Abschluss einer auch symbolischen Reise, auf der sich gleichsam unterirdisch, d.h. ohne volles Bewusstsein des eigenen Mangels, aber doch wie magisch von einem undeutlichen Ziel angezogen, Individualisierung durch Entwicklung vollzog. Das erhebende architektonische Ensemble Roms bildet so etwas wie die Einlösung einer langewährenden Vorbereitung, ähnlich der des Gustav in Jean Pauls »Unsichtbarer Loge«, auch wenn der Alltag der Metropole und das architektonische Durcheinander das Ideal faktisch schnell zunichte machen. (15) Die Romreise hat eine Parallele zur kunstreich arrangierten Lossprechungsszene, in der die Erziehung Wilhelm Meisters durch die Gesellschaft vom Turm gipfelte, deren Mitglieder als Lehrer seinen Lebensweg unsichtbar begleitet und gelenkt haben. Die Monumente aus verschiedenen Zeiten umstehen den Reisenden wie der Initiant von den Vätern vom Turm und den in den Bücherschränken auf bewahrten Schriftrollen, in denen der lenkende Turm die Erziehungslektionen und den Bildungsweg protokolliert hat, umgeben war. Wie in dieser Schlüsselszene der Lehrling zum Subjekt einer Individualität geworden ist, zum Autor seiner eigenen Biographie, und der verborgene aber alles wahrnehmende, auf ihn gerichtete Blick sich umkehrte in den selbstbewussten, die Realität perspektivisch durchdringenden Blick des Subjekts, so stellt diese Stadt den Angekommenen in die Mitte der Welt. Und alles bisher nur Angelesene und Gedachte findet man nun fühlbar und erklärt vor Augen. Die scheinbar harmlos private Rechtfertigung der Verheimlichung der Abreise nach Italien, aus Furcht, es könnte etwas dazwischenkommen, variiert auch das Unterirdische und Unwiderstehliche des Initiationsritus, dem sich Wilhelm Meister unterzog. Ähnlich dem Nimbus der Geheimloge verheißt dieser einmalige Ort dem Reisenden, eines gesteigerten Selbstgefühls und eines höheren Reifegrades teilhaftig zu werden. Wie sich das Individuum im klassischen Bildungsroman in die Mitte gestellt sieht, so findet es sich auch hier objektiv und subjektiv als Mittelpunkt.
C. Mitte und Peripherie
Die literarische Konstruktion der Gesellschaft vom Turm erinnert nicht zufällig, was die Betonung des Verhältnisses von Mitte und Peripherie angeht, an eine architektonische, diejenige nämlich, die Jeremy Bentham 1791 im Modell der Nationalversammlung in Paris vorstellte. In der philanthropischen Absicht, unmittelbare Gewaltausübung im Strafvollzug unnötig zu machen und die Disziplin auch in Arbeitshäusern, Spitälern und Schulen zu gewährleisten, entwickelte der Philosoph und Ökonom einen monumentalen Kreisbau mit radialer Anordnung der Räume und einem turmartigen Beobachtungsposten in der Mitte für den »Inspektor«, über den Burke sagte, der Wirt säße wie eine Spinne in ihrem Netz aus steinernen Spinngeweben. Und Foucault, der Benthams Idee eines »Panopticon« für exemplarisch hielt, weil es eine Epoche der Verallgemeinerung und des Unsichtbarwerdens von umfassenden Disziplinierungsmaßnahmen einleitete, hat ihm eine zentrale und weitreichende Bedeutung zugeschrieben. Für ihn ist diese Anlage eine experimentelle Anordnung zur Installierung des verdinglichenden Blicks, dessen strukturbildende Kraft für die Gesellschaft und die Wissenschaft sich hier modellhaft manifestiere. Benthams Erfindung markiert für ihn den Sieg der reglementierenden Vernunft, die sich den sozialen Organismus unterwirft. Der Blick des Inspektors »ist der Blick des vernünftigen Subjekts, das alle bloß intuitiven Verbindungen mit seiner Umwelt verloren, alle Brücken intersubjektiver Verständigung abgerissen hat, und dem in seiner monadologischen Vereinsamung andere Subjekte nur mehr in der Stellung von Objekten teilnahmsloser Beobachtung zugänglich sind«. (16) Auf den ersten Blick erscheint Benthams Erfindung als das Gegenteil von Goethes literarischem Motiv. Foucaults Beschreibung des Panopticons lässt unter dem Aspekt der Theaterhaftigkeit aber auch die Vergleichbarkeit mit Wilhelm Meisters Initiation erahnen: »Vor dem Gegenlicht lassen sich vom Turm aus die kleinen Gefangenensilhouetten in den Zellen des Ringes genau ausnehmen. Jeder Käfig ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar.« (17) Die Lossprechungsszene ist der Höhepunkt einer Inszenierung, die in dem absichtsvollen Arrangement einer Theateraufführung ihren Zweck erfüllt. In Benthams Theater sind die Rollen der Aufführung das Ergebnis äußerer Machtausübung und kleinlicher Überwachungsprozeduren. Die Akteure sind individualisiert nur insofern, als sie voneinander isoliert sind. Sie sind als bloße Körper in ihrer Vielzahl dem alles wahrnehmbaren Blick eines Einzelnen unterworfen. Darstellen können sie immer nur sich selbst. Sie würden nicht bemerken, wenn der Beobachtungsposten in der Mitte nicht besetzt wäre. »Das Panopticon ist eine Maschine zur Scheidung des Paares Sehen/Gesehenwerden: Im Außenring wird man vollständig gesehen, ohne jemals zu sehen; im Zentralraum sieht man alles, ohne jemals gesehen zu werden.« Bei Goethe handelt es sich bei dem Theater um die Genese des Subjekts, in dessen Perspektive scheinbar alle Trennungen überwunden und alle Entfremdung aufgehoben sind. Inszenierungen von Macht und Ohnmacht bedienen sich derselben Raumkonstellation. Wie Foucault und Lacan darlegten, muss das Subjekt allerdings selbst als eine Form der Unterwerfung (sujeter) angesehen werden.
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Wenn der naturwissenschaftliche Kosmos auch längst dezentriert ist, die Lebenswelt beharrt auf der Zentriertheit. Wenn wir auch längst wissen, dass die Erde nicht im Mittelpunkt steht, sondern um die Sonne kreist, so lassen wir diese doch sprachlich nach wie vor am Horizont aufsteigen und untergehen. Die hartnäckig verteidigten Vorurteile sind nicht nur sinnentleerte Relikte oder entlarvbare Irrtümer. Die phänomenologische »Lebenswelt« ist eine durch ihre Funktionstüchtigkeit definierte Welt. »Als menschliche Lebenswelt ist sie zugleich an ihrer Peripherie immer schon undeutlich konturiert, leicht unbeständig, sozusagen ausgefranst zwischen ihrer konstanten Selbstverständlichkeit und den Invasionen von Unbekanntem – also dessen, was der Fall ist, aber nicht selbstverständlich war. Dieses an der Peripherie auftretende Unbekannte wird ständig aufgefangen durch Aktionen der Bewältigung: durch Namensgebung, durch metaphorische Eingliederung, schließlich durch begriffliche Subordination und Klassifizierung. Emotional ist dieser Rand der Lebenswelt besetzt mit Vorgängen des Befremdens, des Erschreckens, des Entsetzens, der Furcht. In den stärkeren Fällen gibt dies Anlaß zur Bildung des Numinosen, des Schreckens vor Mächten, die hinter dem Unbekannten stehen oder in ihm stecken.« (18)
Was den Horizont der Lebenswelt umgibt, ihn transzendiert, was hinter ihm liegt, ist das, was als ständige Möglichkeit ihrer Unfestigkeit präsent ist. Aber die Integrationsinstrumente sind leistungsfähig. Der Mensch hat immer versucht, den Vormarsch des Unbekannten frühzeitig zu erkennen und zu zerschlagen. Magie und Mythos sind solche Versuche, die Stoßrichtung des Vordringens umzukehren: sich der Gewalten zu bemächtigen und zu versichern, die hinter dem Unbekannten stehen, sie zu zersplittern, in einem Vorgang der Gewaltenteilung zu entmächtigen, indem man sie in ihrer eigenen Zone in Rivalitäten und Machtkämpfe verwickelt sein lässt. Angst als Korrelat der Lebenswelt wird depotenziert, umgearbeitet in bestimmte Instanzen mit partiellen Zuständigkeiten und Fähigkeiten, die sich durch Opfer und Gebete oder Tanz und Gesang erweichen und beschwören lassen und daran gehindert werden können, nach Belieben mit den im Innern der Lebenswelt Lebenden zu verfahren. Auch Gebrauchsgegenstände und Architektur zählen zu den Instrumenten dieser Depotenzierung. Der mythische Grenzverkehr wird mit Metaphorik geleistet. Die Metapher kommt zur Anwendung bei der Erklärung von Ursprüngen sowie bei Phänomen des Schreckens. Hermann Usener stellte, ähnlich wie schon Giambattista Vico, an den Anfang dieses Prozesses die Urform der »Augenblicksgötter«, angesichts derer die Ausrufe des Staunens und Schreckens identisch sind mit punktueller Namensgebung. »Wird der Ausruf zum Namen, so verlangt er wiedererkennbare Identität.« (19) Der Blitz, der die panische Furcht auslöst, wird zum Augenblicksgott, aber nicht der Blitz ist der Gott, sondern Gott ist in seinen Handlungen so unerwartet und tödlich wie der Blitz.
C. Mitte und Peripherie
C 3. Im Unterschied zur Struktur der Zentrierung kann von der Peripherie in angemessener Weise vielleicht nur in Form diskontinuierlicher, disparater Momente gesprochen werden. Die Geschichte der Mitte ist darum um periphere Situationen zu ergänzen. Während die offizielle Geschichtsschreibung wie die politische Geographie den zentrierten Raum proklamierte und die Avantgarde des Modernismus mit großmaßstäblichem Zugriff einen homogenen, randlosen Raum imaginierte, kann man sich in anti- und postmoderner Perspektive der Vielzahl der Beispiele kaum erwehren, die bereits in der Vergangenheit die subversive Potenz der Peripherie in evolutiven Prozessen und im Denken belegen. Europa entwickelte sich von der Peripherie her, die ersten Zentren entstehen in der Nähe zu den Meeren, die Europa umringen. Die neue Welt entsteht in den Poren, »in den Intermundien« der alten, wie Karl Marx sich ausdrückte. (20) Alle Begriffe für den Rand bleiben dennoch pejorativ. Stets wird vom Zentrum her geblickt und gemessen. Die Sprache erlaubt kaum, dieser Polarität und Hierarchie zu entrinnen. Für eine positive Besetzung der Peripherie fehlen die Begriffe. Peripherie definiert sich, mit wie viel Trotz auch immer, in Abhängigkeit vom Zentrum. Der Rand ist scheinbar nicht ohne Mitte zu denken. In der Mitte ist mehr Wirklichkeit. An den Rändern franst die Ordnung aus, wird die normative Realität dünn, werden die Institutionen schwach. Die metaphysische Bedeutung und die ontologische Anziehungskraft der Mitte scheinen unwiderlegbar, behaupten sich als unabweisbarer Verdacht. Die Mitte kann der Ort der Selbstsetzung und Selbstbestimmung sein, der Rand dagegen ist schicksalhaft und Ort dessen, was einem bestimmt ist und dem man ausgeliefert ist. Die Mitte bleibt immer das eigentliche Ziel. Das Abwandern an die Peripherie bedeutet zumeist Suche nach kleinen neuen Mitten. Zugleich eröffnet die Peripherie die Möglichkeit des ungewohnten Blicks auf die Dinge und die Verhältnisse. Der Soziologe, nach dem Idealbild Karl Mannheims als freischwebende Intelligenz gedacht, vermag die Verhältnisse deshalb am besten zu analysieren, weil er abseits steht. Döblins Biberkopf in »Berlin Alexanderplatz« bewegt sich ständig an der Peripherie und betrachtet und erlebt die Welt vom Rand her. Seine persönliche Erfahrung taugt gerade deshalb zur Kritik an den Verhältnissen. Obwohl er selbst nichts begreift oder gerade weil er von einem Desaster ins nächste taumelt, verhilft er dem Leser zur Erkenntnis. Der moderne Mensch erkennt sich am ehesten wieder im »Eckensteherischen« (Nietzsche) und Randständigen. Die Peripherie ist ein literarischer Ort auch dank ihrer mythischen Qualitäten. Dort blüht das Archaische auf, nicht eigentlich aus Schlappheit, sondern vielleicht sogar als die höchste Entwicklung der modernen Stadt selbst. Hier findet man die wildesten Formen des Handels und des Verbrechens. Die Intellektuellen fühlen sich von diesen Dingen angezogen, leben sie doch selbst in mehrfacher Hinsicht an der Peripherie. Von hier aus betreiben sie ihre Umwertung der Werte. Die literarische Produktivität der Peripherie beruht auch auf ihrer Eigenschaft als karnevalesker Ort im Sinne Bachtins. Dort sind die Festplätze für das jährliche Volksfest, die Zigeunerhochzeit, hier kampiert das fahrende Volk. Die Peripherie war und ist der Ort, die Leute auf andere Gedanken zu bringen. Hier stand die
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Vauxhall, hier schlägt der Zirkus sein Zelt auf, wenn er in der Stadt gastiert. Dies prägt die Architekturformen. Das Zelt ist eine genuine Form der Peripherie. Die Literatur adelt die Peripherie als espace vécu, als räumliches Pendant zur gelebten Zeit, zum ekstatischen Augenblick, zur Plötzlichkeit. Die Surrealisten haben auf ihren Spaziergängen diesbezüglich Pionierarbeit geleistet. Für sie erlaubten die Streifzüge an der Peripherie die Durchleuchtung der bürgerlichen Fassaden wie mit Röntgenblick. Für den, der – wie Lyotard – die Zeichen zu lesen vermag, verrät die Peripherie, was uns bevorsteht: die Ränder sind die Zentren von morgen. Peter Handke unternahm seinen »Versuch über den geglückten Tag« am Rand von Paris. Gianni Celati sammelt in seinen »Erzählungen aus der Ebene« – gemeint ist das Po-Delta – Geschichten über die Orientierung in den Vorstädten: die Chancen der Menschen, einander zu begegnen und ihr Glück zu finden, die notwendigen Umwege, den kleinen engen Horizont ihrer Bewohner, die um den »Lebensnachweis« bemüht sind, oder nach ihrer Vorbestimmung suchen, oder nach den Zeremonien, die das Leben zusammenhalten. Fernando Pessoa erzählt über seine Vorliebe und die seiner Gestalten für die hässlichen outskirts seiner Stadt. Diese und nicht das Zentrum dienen als Treffpunkt seiner männlichen Protagonisten mit ihren Geliebten. Wenn man sich der Stadt von außen nähert, etwa auf dem Weg durch die Poco do Bifo oder die Avenida Infante Don Enrique, dann erfährt man das wahre Lissabon. In seinem unablässigen Bemühen, Stereotypen zu vermeiden, war es ihm auch eine Ehrensache, räumliche Gemeinplätze zu meiden, wie Antonio Tabucchi über Pessoa sagt. Er weigerte sich, an der Kultivierung einer konformistischen Ästhetik teilzunehmen, und die Ästhetik der Peripherie kann niemals domestiziert sein. Emanuel Boves Peripherie-Erzählungen schildern die Auflösung der Gemeinschaft und der Identität in Ratlosigkeit und Verhaltenheit. Sein Porträt der Vorstadt »Bécon-les-Bruyères« ist in allem bloß die klägliche Kopie einer richtigen Stadt, »vergleichbar den Angestellten, die während der Ferien Direktorsstelle vertreten«. »Wie vor einem Menschen, von dem einem gesagt worden ist, er sei komisch, und mit welchem man unversehens allein bleibt und ernsthaft reden muß, nachdem der Freund, der einen einander vorgestellt hat, gegangen ist, so wird man bei der Ankunft in Bécon-les-Bruyères von jener Empfindung ergriffen, die darin besteht, daß die Dinge, von dem Augenblick an, da sie zu Tatsächlichkeiten werden, aufhören, amüsant zu sein.« Man scheint sich an der Peripherie an alles zu gewöhnen, an Verwahrlosung, auch an Gewalt, mag sogar eigene bisher unbekannte Neigungen entdecken, wie der Protagonist in Georges Simenons Roman »Der Umzug«, dessen Leben sadomasochistische Phantasien ruinieren, in die er sich aufgrund der Schreie aus der Nachbarwohnung verliert, denen er Nacht für Nacht wie besessen lauscht. Sämtliche Simenon-Romane handeln vom Leben an der Peripherie. Im Film spielt die Peripherie seit den Fünfziger Jahren eine dominante Rolle. Michelangelo Antonioni, Schilderer der Befindlichkeit der italienischen Oberschicht, zeigt in »Le Amiche« (1955) den Untergrund von Überdruss und Langeweile, der unter der Oberfläche rationalisierten Wohllebens herrscht. In »Il Grido« (1957) sieht man Aldo, Arbeiter in einer Zuckerfabrik, wie er von seiner Frau ohne Vorwarnung verlassen wird und nun ziellos auf den schlammigen Straßen des PoDeltas umherirrt, seine Tochter Rosina bei sich. Vergeblich versucht er, Arbeit zu
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finden und ein neues Leben mit einer anderen Frau zu beginnen. Bei allen Erlebnissen verfolgt ihn jedoch stets die Erinnerung an Irma. Schließlich kehrt er in das Dorf zurück, dort findet er sie, glücklich mit einem anderen Kind. Noch einmal steigt Aldo auf den Turm der Zuckerfabrik, wo er einstmals arbeitete. Vor den Augen Irmas, die auf die Nachricht seines Besuchs herbeigeeilt ist, lässt er sich hinabfallen. Die Streiflichter vom Elend dieser Gegend erweisen, dass hier ein Leben der erfüllten Hoffnungen kaum denkbar ist. Der Turm wird zum in den »Colonie« (Kinderheime der Faschisten) variierten Typus. In »Il deserto rosso« (1964) ist Antonioni in seiner scharfen und unbarmherzigen Analyse der gestörten menschlichen Beziehungen noch einen Schritt weitergegangen. Die Handlung spielt in einem Industrievorort Ravennas, nahe am Meer gelegen, in einer Landschaft, die von monumentalen technischen Zweckbauten bestimmt wird, von den Türmen und vom Rohrgewirr einer Raffinerie, von Zementsilos, rauchenden Schornsteinen und Hafenanlagen, durch die Wiesen fahrende Ozeanriesen. Antonioni stellt diese ganze Welt aus der Perspektive seiner Protagonistin Giuliana dar, die mit krankhaft geschärfter Sensibilität auf den latenten Terror einer technisierten und in den Proportionen verzerrten Umgebung reagiert. Seit einem Autounfall (der vielleicht ein Selbstmordversuch war), wird sie von plötzlichen Angstzuständen geschüttelt. Ihr Mann, ein Radaringenieur, steht ihr mit Indifferenz gegenüber, auch die flüchtige Liebesbegegnung mit einem Kollegen ihres Mannes, der eine Fabrik in Patagonien etablieren soll, bringt keine entscheidende Änderung. Durch den Einsatz der Farbe suggeriert Antonioni einen Zusammenhang zwischen der psychischen Verfassung seiner Heldin und ihrer vergifteten Umwelt. Von der Peripherie gehen in Jean-Pierre Melvilles Gangsterfilmen alle Geschichten aus. Hier werden die Coups geplant, in den Garagen, in denen Nummernschilder ausgewechselt werden, Diebesgut von Hehlern taxiert wird, die Gruppe zusammenkommt, um den Verräter zu bestrafen. Für Godard erscheint von der Peripherie her gesehen alles zusammenhanglos. Was macht die Peripherie für die Filmregisseure so interessant? Möglicherweise ist es etwas, was Manuel de Solà-Morales die Abwesenheit von allem nennt, was den Ort im klassischen Sinn ausmacht: nicht, dass die Gebäude selbst indifferent, unentschieden, formlos erschienen, sondern die Relation zwischen ihnen, ihnen fehlt der Zusammenhang. Solà-Morales spricht vom Konzept der »interessanten Distanz«, von der positiven Separierung von Objekten, wie in der suprematistischen Malerei oder in Giorgio Morandis Stilleben. Die leere Distanz zwischen den Dingen, wie sie auch Kracauer in der Hotel-Lobby als notorisches Film-Motiv antraf, ist das positive Gegenbild zu der vereinheitlichenden Konsistenz der kompakten klassischen Stadt, ein »gotisches« Modell der Stadt, regiert weniger von oben oder von einem Zentrum aus als durch das Gesetz des Abstands. Es handelt sich um Landschaften, in denen alle Aktivitäten und Resultate, auch das Bauen, schwächer sind als der Raum, in dem sie stattfinden. Der Raum selbst ist so stark, weil weder »Differenz« noch »Wiederholung« im Sinne von Deleuze ihn okkupiert haben. Deleuze selbst spricht von Repetition ohne Konzept und fragt nach der Möglichkeit einer Differenz ohne Repetition. Die Lücke, die Leere zwischen den unverbundenen Objekten, das ist die Grunderfahrung der Moderne, und die ist hier am gründlichsten zu gewinnen. Die Peripherie ist arm an Vergangenheit, sie existiert ohne die Reichtümer der Geschichte, sie ist nicht angereichert
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mit Vergangenheit und legt nahe, dies positiv zu wenden: Die Peripherie ist ein offenes Feld für Gedanken an die Zukunft. Sie nimmt der Zivilisation die Kohärenz und öffnet sie für Überraschungen. Dies bleibt freilich angesichts der Empirie ein Euphemismus. Die Peripherie sammelt alles, was an den Rand gedrängt wird, was marginalisiert wird. Sie wird zum imaginären Museum des Ausgesonderten. Stadtverwaltungen haben immer bestimmte Vorstellungen davon, welche Grundstücke sie für Schwererziehbare, Zigeuner, Sinti und Roma, Flüchtlinge oder Asylanten zur Verfügung stellen wollen. Müllverbrennungsanlagen stehen niemals im Zentrum. Am Rand mögen sie sich, wie die von Hundertwasser in Wien oder Raffinerien und andere hinausverlagerte Großanlagen auch als Kathedralen gerieren. Monumente sind sie jedoch allenfalls für die Vorbeifahrenden. Überhöhung zu autonomer Architektur ist nur deshalb möglich, weil die Stadt fern ist und nichts in der Nähe, an das man sich gestalterisch anlehnen müsste und woran man gemessen werden könnte. Derartige Monumente werden geschätzt, weil man sich sonst in der ganzen Gegend auf nichts Markantes beziehen könnte. Freistehend werden sie auch als Orientierungshilfen auf Ausfallstraßen genutzt wie Leuchttürme. Die Peripherie ist abgebrochene Stadt. Sie besteht aus halb fertig gewordenen Häuserzeilen, ungeschlossenen Blöcken, aus zur Hälfte schon wieder Abgerissenem. Plötzlich hat das nötige Geld gefehlt. Oder der Prototyp kam nicht an. Man denke an all die abstoßend hässlichen, gespenstischen Satellitenstädte Europas, etwa an die Pariser Banlieues oder die Borgate außerhalb des apokalyptischen Autobahnrings um Rom, in die sich kein Tourist wagt. Die Ausbreitung dieser Stadt begann gelenkt, in nur eine Richtung, nach Süden und Südwesten, und mit den nötigen Infrastrukturen ausgestattet (Straßen, Eisenbahnen, Kanalisation). In den letzten Jahrzehnten aber wuchs die Stadt ungeregelt, wurde die Campagna zubetoniert, ohne adäquate Erschließung. Viele Bauten wurden illegal hochgezogen und nachträglich legalisiert. Die alten städtischen Eliten hatten sich konsolidiert. Die Spekulation um Bauland, die billige Anlage neuer Wohnviertel wurden zu einem dauerhaften und immensen Geschäft. Die römischen Borgate, das ist abusives Bauen, das sind oft nur Kasernen, nicht selten selbst ohne Wasser und Kanalisation, oft sogar in Naturschutzgebieten. Pasolini fand hier seine Helden und seine Hoffnungen auf den Widerstand gegen den Konsumismus. Ende der 40er Jahre in Rom gelandet, wo er sich an der Peripherie niederließ, erlebte er das rasante und spekulative Wachstum der Metropole. In seinen dort angesiedelten Geschichten sind die Hierarchien auf den Kopf gestellt. Seine Texte und Filme liefern aus der Froschperspektive einen bitteren Kommentar zum Fortschritt. Wie sein eigenes Schicksal ist vieles vermasselt, wie Fabrizio de Andrè singt, eine »storia sbagliata«. Offiziell suchte man auf die mit der Bevölkerungsexplosion verbundenen Probleme mit einer Planungsdebatte zu reagieren, die 1962 mit einer Planfestsetzung abgeschlossen wurde. Trotz vieler Rückschläge hielt sich Optimismus für den Piano Regulatore Generale, der den Plan aus dem Jahre 1931 ablöste. In den Borgate wohnten seit den 20er Jahren Scharen von Menschen, die, vom Glanz der Hauptstadt angezogen, ihre Heimat auf dem Land, meist im Süden, verlassen hatten, oder die durch die Sanierungsmaßnahmen und Mietensteigerungen in der Innenstadt obdachlos geworden waren. Die Borgate entstanden als unkontrollierte Barackenansammlungen im Selbstbau oder als offizielle Satellitensiedlungen des faschisti-
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schen Regimes und nachfolgender Regierungen, mit sehr niedrigem Standard und weitgehend ohne Infrastruktur. Für die Bevölkerung war es schwierig, Arbeit zu finden, weil die neuen Stadtteile an der Peripherie selbst keine Arbeitsplätze boten und Rom als Verwaltungsstadt kaum über Industrie verfügte. Viele lebten so notgedrungen an der Grenze zur Legalität. Mamma Roma etwa, die Hauptfigur des gleichnamigen Films von 1962, die leidlich erfolgreiche Hure vom Lande, will in das Kleinbürgertum aufsteigen. Ihr Wille konkretisiert sich im Umzug vom Vorkriegs-Wohnblock in Casalbertone in eine Eigentumswohnung in den neu erstellten INA-Casa-Bauten. Sie organisiert sich einen Marktstand an der Porta Portese. Alle Anstrengungen zur Integration ihres herumlungernden Sohnes misslingen. Ein Diebstahl bringt ihn ins Gefängnis, wo er ans Bett gefesselt stirbt. »Gegenüber von unserem Haus hat ein alter Mann gewohnt, ein reicher Sack, der hat nicht mehr gewusst, was er mit seinem Geld anfangen soll […] Weißt du, wie er seine Millionen gemacht hat? In der Faschistenzeit, weißt du, da hat Mussolini zu ihm gesagt: ›Bau mir ein Stadtviertel fürs Volk!‹, das war dann Pietrarancio! Und der Typ stellt das erste Haus hin, ganz toll, phantastische Mauern und mit Klos, also in den Klos, da hast du kochen können, so toll war’n die gebaut […] Mussolini sieht sich das an und sagt: ›Bravo, genau so hab ich mir das vorgestellt!‹ Und wie dann der Duce weg war, hat dieser Hurensohn bloß die Klos gebaut, und die Häuser hat er weggelassen.«
In »Accatone« lebt der Held eine kleine, aber großmäulige Zuhälterexistenz im Südosten der Stadt, in Pigneto und Giordani, das sind zwei Borgate, die zum Teil noch aus der Vorkriegszeit stammen. Das Stadtzentrum erscheint als Ort der Faszination. »Von einem der Vororte bis ins Zentrum war es in etwa eine Reise wie heute von Rom nach München. Bei dem Zurücklegen von Wegen wird durch harte Schnitte der Nachvollzug eines Stadtplanes verunmöglicht. Auf diese Weise liefert Pasolini eine filmische Analogie zur Stadtwahrnehmung ihrer Bewohner.« (21) Volker Kapp beschreibt »den umgekehrten Blick« Pasolinis auf Zentrum und Peripherie. Den Bewohnern der Peripherie Roms ist die »bürgerliche Ordnung des Zentrums« kein Vorbild, »denn die wahre Identität«, so Pasolini, »erhält diese Gesellschaftsgruppe in den Borgate, dem sie prägenden Lebensraum an der Peripherie von Rom«. Die Peripherie besitzt ihre eigene, regressiv-archaische Zivilisation, die für Pasolini etwas höchst Lebendiges ist und mit deren Darstellung er nicht nur eine bisher unbekannte Seite von Rom, sondern ein typisches Phänomen heutiger Großstädte in den Blick rücken wollte, das im Selbstbild der Moderne keinen Ort hat. (22) Michael Glasmeier empfiehlt Architekten und Stadtplanern, »die mit ihrem Bauen und Planen die Mitte ins Zentrum stellen«, die Lektüre eines »alkoholisierten Monologes«: »Die Reise nach Petuschki« des Russen Wenedikt Jerofejew, »einer einzigen, geschlossenen Form der Absage an das Zentrum«. »Denn das Zentrum wächst sich immer mehr zu einer Fiktion aus, und der Begriff Metropole ist hybrides Wunschdenken. Man könnte die Stadtmitte mit ihren Kirchen, Museen, historischen Gebäuden für Administration und selbstreferentielles Beamtentum als den leeren Ort schlechthin begreifen, der im Tages- und Nachtrhythmus künstlich aufgeblasen und entleert wird.« (23)
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Die Peripherie, das sind auch verlassene Orte, Häfen, Industrieanlagen, Stadtbrachen, die freien Handlungsraum suggerieren. Der Boden ist noch nicht erneut zugewiesen, scheint noch nicht besetzt, noch nicht verteilt. Der Zustand des Provisorischen, Transitorischen provoziert auch in innerstädtischen Brachen Umwidmungsphantasien. Am ausgeprägtesten sind solche Phänomene innerstädtischer Versteppung in den USA, in Detroit, in der Bronx, selbst in Teilen Manhattans. Die Peripherie ist hier auch die ruinierte Stadt. Es handelt sich um Zonen, deren Entgiftung zu teuer würde. Es wird immer mehr solche aufgegebenen Zonen geben, wo niemand mehr bauen kann. Dort werden sich die Underdogs herumtreiben, wie sie es bereits in den Science-Fiction-Filmen tun. Entwertete Areale können plötzlich wieder aufgewertet werden durch ›urban gardening‹ in Detroit oder die Transformierung einer stillgelegten Stadtbahn in einen Park und Ausflugscafé, Kindergärten etc. durch das Büro Diller & Scofidio. Die Peripherie, das sind auch Gartenstädte. Der Gedanke, der ihnen zugrunde lag, ist allerdings kaum je konsequent verwirklicht worden. Die realisierten Beispiele waren zumeist spekulative Unternehmungen. Andererseits gibt es spontane Aktionen, die später als Gartenstädte stilisiert wurden, die aber den ästhetischen und urbanistischen Ansprüchen nicht genügen. Diese Spontansiedlungen standen in einer langen Tradition des Antiurbanismus, eines vorstädtischen Pastoralismus. Dazu kam das Argument der Volksgesundheit, speziell in England auch das Motiv der Agrarismus, d.h. das Streben nach einem eigenem Stück Land, da Landbesitz in England in den Händen weniger konzentriert ist. (24) Der ideologische Nährboden für die Verbreitung dieser Idee war das Motiv, sich ein altes Recht wiederzuholen, das im Grunde von Natur aus jeder habe. In früheren Zeiten, in manchen Gegenden bis in das 19. Jahrhundert hinein, war es in Europa und in der neuen Welt weitgehend akzeptiert, dass jemand, der auf einem Land siedelt, das offensichtlich niemand nutzt, auf Brachland also, und dem es gelingt, zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang ein Gebäude zu errichten und ein Feuer anzuzünden, ohne dass die staatlichen Autoritäten eingeschritten wären, bleiben darf, dass er nicht legal enteignet werden kann. Schon unter Elisabeth I. wurde zur Eindämmung dieses Wildwuchses ein spezifisches Gesetz gegen das Errichten von »Cottages« erlassen. Dagegen revoltierte wiederum das »Diggers Movement« in den Midlands. Einen Aufschwung nahmen die Squatter noch einmal zwischen 1890 und 1919 sowie von 1930 bis 1939. Die Downgradings oder das »Down-market«, waren Manifestationen des extravaganten Traumes, Land zu besitzen zum Wohnen und zur Erholung und selbstversorgender Farmer zu sein, am Rande des Landes, das T. S. Eliot das »land of lobelias and tennis flannels« nannte. Die 20er und 30er Jahre sahen das »outward sprawl« von Städten und Großstädten, hektarweise Land konsumierend, und eine große Zahl von Bauernhöfen wurden an Städter verkauft. Die frühesten Beispiele solcher home-ownerships verdankten sich einer anhaltenden Wohnungsknappheit, die viele dazu bewegte, die Sache selber in die Hand zu nehmen. Zahllose Armee-Hütten und anderes ausgedientes Kriegsmaterial wurden zu Shanties verarbeitet. Heimgekehrte Armeesoldaten nach 1918, selbst angesehene Familien, lebten in Hütten, von denen einige länger bestanden als erwartet. Viele Bauern waren gezwungen, ihr Land zu verkaufen, das Generationen in Familienbesitz gewesen war, »für’n Appel und’n Ei«, weil die Söhne umgekommen waren. In den 4 Jahren zwischen 1910 und 1922 »wechselte England seinen
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Besitzer«, wie es einer der Squatter ausdrückte. Eine derartige Umverteilung von Landbesitz hatte es nicht mehr gegeben seit der Säkularisation der Klöster im 16. Jahrhundert. Zu der auf dem Land lebenden Bevölkerung kamen periodisch die hinzu, die mit dem Auto jedes Wochenende dort Ferien machten. Die Motorisierung schuf eine liquide Wochenend-Population, die sich über das ganze Land verteilte. Das hatte Folgen in Form von Tankstellen, Snackbars, Straßenbau, Hotels etc. Es war viel die Rede von Freiheit und Individualismus, auch vom »joining the property bandwaggon«. Die Bewegungen trugen ihren Teil bei zur Schaffung des Ideals der »property owning democracy«. Einerseits unterlag das Bauen keinerlei Restriktionen, andererseits waren die Plotlanders, weil die Gemeinden sich in der Regel weigerten, die Infrastruktur bereit zu stellen, auf eigene Initiative angewiesen. Die Eigenmächtigkeit rief die Kritik der Preservationists an der Zerstörung der Landschaft auf den Plan. Keine Ecke sei mehr heilig. Es gründeten sich voluntary bodies, die Land aufkauften, um es vor wilder Bebauung zu schützen. »Der Garten von England wird zum Hinterhof«. Zu den Kritikern der Squatter-Bewegung zählten etwa George Orwell und Priestly. Was für die einen Arkadien, war für die anderen ein Alptraum. (25) Die Gartenstadt-Idee war weniger ein aus der Vernunft geborenes Konzept, als die panische Reaktion auf eine von unten entstandene Selbsthilfe-Bewegung. Ebenezer Howard erklärte 1904, als Antwort auf die Tiraden über das überbevölkerte London seit 1891, dass das 20. Jahrhundert bekannt werde als die Epoche der Rückkehr aufs Land. Sein Vorschlag war ein Ring von Gartenstädten rund um London, separiert durch einen Green-Belt. Nur ein kleiner Teil des tatsächlichen großen Exodus kam diesem Ideal nahe. Die Bewegung hatte eher den Charakter des »Suburb spreading beyond suburb«. Nichtsdestoweniger machten sich spekulierende Entwickler ebenso wie die Plotland-Entrepreneurs die Rhetorik der GartenstadtBewegung zunutze. Der extreme Wohnungsmangel nach dem Bombenkrieg und das herabgesetzte Heiratsalter begünstigten die wilde Bebauung. Niemand wusste 1950 genau, wie viele Menschen in der »sprawling wilderness« rund um die Städte lebten. »Es war ein eigenartiger, zurückgezogener, zerzauster und planloser Ort, oder besser ein Nicht-Ort – eine Art ungeplantes Shanty-Arkadien 1972.« Die verwendeten Materialien und die Rhetorik der Bautypen waren fast überall gleich. (26) Der Mythos des Stadtrandes, als leerer, unbesetzter Raum, als reine Gegenwart, ohne Geschichte, erhielt zwischen den beiden Weltkriegen und nach dem Zweiten Weltkrieg und dann noch einmal angesichts der Atomkriegsdrohung des kalten Krieges neue Anziehungskraft. In Suburbia glaubte man die Werte wiederzufinden, mit denen man aufgewachsen war, ohne die Kontamination mit Spuren von Geschichte, die die Erinnerung an die Depression und den Krieg, an alles Verdrängte wachrufen könnten. Bezüglich der Idealisierungen ist freilich Skepsis angebracht. Der Stadtrand ist entgegen der romantischen Behauptung immer schon verschachert, bevor er besiedelt werden kann. Das Umland wird nach bestimmten Präjudizien früher oder später Objekt der Spekulation, zum Schlachtfeld der Immobilienhaie. Drastische Beispiele bieten immer wieder die Spekulationen über die mögliche Lage eines zukünftigen Großflughafens. Favelas werden ungeachtet der Grundstücksnutzung
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über Generationen enteignet und abgerissen, wenn etwa eine Olympiade dies erforderlich zu machen scheint. In den USA findet man das Squatten in Verbindung mit bestimmten Instrumenten der Mobilität als Befreiung aus dem Befestigten, Wohnwagen, Auto, Motorrad, auch in Verbindung mit dem Unterwegssein (On the Road) der BeatnikBewegung. Ohne solche Vehikel der Mobilität ist es vielerorts kaum möglich zu existieren. Zu Fuß geht hier nichts. Unübersehbar ist die Squatter-Bewegung heute beispielsweise in Istanbul oder in Mexiko City im Gefolge der von der Landbevölkerung ausgehenden Revolten oder in den Favelas der rasant wachsenden Metropolen der sogenannten dritten Welt sowie in den sogenannten Schwellenländern. Verteidiger der Squatter machen geltend, dass sie häufig immerhin »die Pioneer-Siedler der mückenverseuchten Sümpfe, der Überflutungswiesen, der Bergrutsch-Abhänge, der Abfallberge, der chemischen Altlasten, der Gleisanschlüsse und Wüstenränder [seien] […] solche Grundstücke sind die Nischen der Armen in der Ökologie der Stadt, und sehr arme Leute haben wenig Chancen, nicht mit dem Desaster zu leben.« (27) Die Favelas müssen toleriert werden, weil man keine besseren Lösungen hat. An der Peripherie wächst das Volk der neuen Nomaden heran, die Oswald Spengler die »neuen Fellachen« nannte. Damit sind nicht nur die Millionen von Menschen gemeint, die aufgrund von Bürgerkriegen oder Hungersnöten auf der Flucht oder auf der Suche nach auskömmlicher Arbeit unterwegs sind, sondern auch das zivilisationsgeschichtliche Phänomen der Unbehaustheit, die Unfähigkeit zu wohnen im existenziellen lukácsschen Sinne. Hierzu gehört auch das Gefühl, dass es immer dort besser ist, wo man gerade nicht ist. Baudelaire nannte es die »Krankheit des Domizils«. (28) Das Auto hat einen durch kein Argument einschränkbaren Stellenwert. Immer breiter werdende Straßen, Verkehrsschilder, Zäune, Supermärkte mit riesigen Parkplätzen, Tankstellen dominieren unangefochten das Bild. Die Verbindung von Wohnen und Automobil, das ambulante, kampierende Wohnen, macht den Rand über alle Schichten hinweg zur Lebensform. Stadtrandgebiete trumpfen auf mit reichlichem Platzangebot, damit dass man das Auto vor der Tür parken, reparieren und waschen kann. Am Stadtrand ist man flexibel, erfinderisch und geschäftstüchtig. Wenn man an der Peripherie wohnt, kann man Dinge unterbringen, die in der Innenstadt keinen Platz haben, etwa defekte Gebrauchsgegenstände, von denen man sich dennoch nicht trennen möchte. Man kann das alte Auto im Garten stehen lassen und sich für irgendwann vornehmen, es auszuschlachten. Man kann den Wohnwagen abstellen, Hühner halten, das defekte schadhafte Ziegeldach selbst mit Eternit aus dem Baumarkt flicken, kann Ersatzteile horten.
C 4. Freilich ist der Rand von heute nicht mehr derjenige in den Bildern der Impressionisten oder in Jean-Gabin-Filmen wie »La belle Équipe«. Sie besteht nicht mehr aus Landgasthäusern, Sommerfrischen, Ausflugslokalen mit Musette, sondern aus »Kaffeemühlen« mit Carports und wildwuchernden Siedlungen, die Freiflächen sind mit Autowracks und anderem Schrott vollgestellt. Niemand fühlt sich zuständig dafür, was in den Zwischenräumen geschieht. Der Zug an die Periphe-
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rie und der Traum vom eigenen Haus »im Grünen« ist erkauft mit den Nachteilen mangelnder Infrastruktur und längerer Fahrzeiten und kippt nicht selten um in den Alptraum der Ehehölle. Man klagt über schlechte Anbindung, wenige und weit entfernte Läden, den Mangel an Kneipen und Restaurants, die weiten und hoffnungslos verstopften Wege zum Arbeitsplatz, mangelnde Gesundheitsfürsorge, das Fehlen von Schulen und Kindergärten, öffentlichen Verkehrsmitteln. Die oft stundenlangen täglichen Reisen zwischen Wohnort und Arbeitsplatz bringen einem immer wieder ins Bewusstsein, dass die Abschiebung der Armen an den Stadtrand und in die Banlieues bei aller Romantisierung eine schäbige Praxis und das Symptom eines ungelösten Problems ist. An den Rändern der Städte herrscht Wildwuchs, ein Gürtel, durch den man sich hindurchfressen muss, der vielfach unter dem Ekel-Titel »Sprawl« thematisiert worden ist. Die Stadt hat hier ihre Fasson verloren und wuchert haltlos, mit unvernünftiger Platzverschwendung, ästhetisch unbefriedigend im Einzelnen und was den Zusammenhang betrifft, ohne dass ästhetische Ansprüche gänzlich fehlen würden. Es ist vielmehr so, dass sich der schlechte Geschmack, der unausgebildete ästhetische Sinn der »Masse« hier ungehemmter durchsetzen und behaupten kann. Die Regeln des schlechten Geschmacks sind nicht lockerer, sondern unerbittlicher. Man versuche einmal, einem Peripheriebewohner Vorschriften machen zu wollen, ihm zu sagen, wann ein Fenster schön ist und wann ein Carport eine Beleidigung des Auges, wann eine Stereoanlage zu laut oder das Bellen eines Hundes störend und nerventötend. Hier wird man aus jeder Einfahrt angeblafft. Hier herrscht auch nicht die Freiheit individueller Gestaltung, sondern die Dogmatik des vermeintlich Praktischen und Preiswerten. Der fehlenden Bereitschaft, sich Vorschriften zu fügen, steht die große Bereitschaft gegenüber, sich Vorgaben machen zu lassen, die keineswegs als Tyrannei empfunden werden, etwa durch das begrenzte Angebot der Baumärkte, deren ästhetische Armut zur Norm erhoben wird. Vorgaben vom Denkmalschutz oder von Architekten dagegen würde man hier nicht akzeptieren. An der Peripherie der Stadt tritt der Umstand deutlicher in Erscheinung, dass wir es heute mit vielen kurzlebigen Dingen zu tun haben. Die Resträume füllen sich mit Baumaterial und alten Kühlschränken, mit all dem, was für die Vernichtung bestimmt ist, schon bald nachdem es gekauft wurde. Die periphere Lebenswelt wird überschwemmt mit Objekten und Bildern des Wegwerf konsums (used and thrown away). Hier zeigt sich, womit die Gesellschaft oder deren Institutionen nicht fertig werden. Hier manifestiert sich etwa, dass nicht genügend Wohnungen gebaut werden, dass es nicht genug Arbeit gibt, dass gewisse Bevölkerungsteile nicht integriert werden. Hier findet man zugleich unkonventionelle Lösungen für das Verkehrsproblem, hier existieren (wieder oder noch) archaische Umgangsformen, urwüchsiger Tauschhandel. Hier bilden sich unerwartete Koalitionen. Hier wird Abfall wiederverwendet. Im Extremfall werden die Müllhalden selbst zum Wohnort und Arbeitsplatz. (29) Wo die Peripherie anfängt, scheint eine subjektive Entscheidung zu sein. Für die einen ist z.B. der Wiener Naschmarkt schon Peripherie, für die anderen beginnt sie erst jenseits des Gürtels. Jeder sagt, wenn er seine Wohnung verlassen will: Ich gehe in die Stadt, auch wenn die Wohnung nahe am Zentrum liegt. Man nimmt die eigene Wohnung vom Stadtraum aus wahr. Sie ist stets eine Art Peripherie. Trotz
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vielfältiger Verortungen der Peripherie bleibt die Frage, ob Peripherie überhaupt ein Ort ist oder nicht vielmehr, wie Marc Augé nahelegt, ein Nicht-Ort. (30) Der Autobahnring um Paris, die Périphérique, ist linear, aber nicht im Sinn einer Achse, sondern im Sinn einer Trennlinie zwischen einem Innen und einem Außen. Wie bei der Küstenlinie, die das Land vom Meer trennt, handelt es sich nicht eigentlich um eine Linie, sondern um ein Gebiet mit Ausdehnung, einen Strand oder ein Watt, das immer breiter wird oder das im Zuge der Verlandung immer weiter hinauswandert, oder mit ansteigendem Meeresspiegel schrumpft. Die Peripherie ist auch ein Zeitphänomen und ein Phänomen des Austauschs. Peripherie ist nicht eine fest umrissene Sache, sondern ein zeitweiliger Zustand. Bestimmte Funktionen werden nach draußen verlagert, wenn innen der verfügbare Platz mit der Zeit knapp wird und die Arbeitskraft zu teuer. Sie wird von der Stadt eingeholt und wandert wieder und wieder ein Stück weiter nach draußen: Flughäfen, Häfen, Docks, Schlachthöfe, Friedhöfe, Großmärkte, »Hypermarchés« werden, immer weiter nach außen verschoben. Ränder bleiben nicht Ränder. Sie verdichten sich zu innerstädtischen Bereichen. Der Rand ist in Bewegung, in Schüben wie die Häutungen bestimmter Tiergattungen. Peripherie entwickelt sich nicht. Wenn sie sich entwickelt, ist sie schon nicht mehr Peripherie. Städte, die im Innern noch über Leerflächen, über voids verfügen, wie Berlin, haben gegenüber solchen, die sich nur noch ausdehnen können, wie etwa Zürich, den Vorteil der Nachverdichtung. Leerflächen wie das Tempelhofer Feld sind allerdings nicht ohne weiteres bebaubar, weil innerstädtische Freiflächen zu Freiheitssymbolen aufgeladen werden und Bebauungsvorhaben prinzipiell den Protest von Bürgerinitiativen provozieren. Die Peripherie liegt nicht immer am Stadtrand. Sie kann auch ins Innere der Stadt wandern. Das Hansaviertel in Berlin wie auch die Gegend östlich des Alexanderplatzes sind dank ihrer Anlage und ihrer Architektur auf je ihre Weise Peripherie im Stadtinnern. Ein Erkennungsmerkmal ist die Unmöglichkeit, die Distanzen zwischen Bauten, Läden und infrastrukturellen Einrichtungen zu Fuß zurückzulegen. Wer hier kein Auto hat, bekommt die Herabsetzung zu spüren. Auch innerhalb der Stadt ist die Teilhabe an ihrem Gegenteil möglich, z.B. rund um das Tacheles in Berlin. Hier herrscht künstliche Verwilderung. Der Krieg und die Baupolitik der DDR haben in vielen Städten, so etwa in Halberstadt oder Zerbst, aber auch in Teilen Ost-Berlins dafür gesorgt, dass die Peripherie ins Zentrum schwappt, und manche meinen, dass man dies vorsätzlich hat geschehen lassen, um bürgerliche Kultur zu ersticken oder ihr die urbane Luft zu entziehen. Peripherie ist auch Zukunft, deren Wert noch nicht realisierbar ist. Der Stadtrand wurde zuerst von den Malern entdeckt: Turner, Van Gogh, Seurat, als Klein-Arkadien, und später von den Photographen, zunächst als Idyll, später als Wasteland. Zentrum und Peripherie sind einander als Gegensätze gegenübergestellt. Was Peripherie ist, kann nicht Zentrum sein. Alles, was nicht ins Zentrum gehört, wird an die Peripherie verbannt. Man unterstellt ein hierarchisches Gefälle von der Mitte zum Rand hin. Dabei ist die Peripherie das, was das Zentrum selbst produziert. Die moderne Stadt bringt an ihren Rändern eine Zone der Verwilderung selbst hervor, von der sie sich dann bedroht fühlt und aufs Zentrum zurückzieht. Nicht alles kann in der Struktur der kompakten Stadt untergebracht werden. Beim Einordnen bleibt immer ein Rest liegen und außen vor. Die Peripherie lässt
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sich daher verstehen als der unvollendete Teil der Stadt. Aber auch als die mahnende Verkörperung der Aufgabe, eine andere Ordnung zu finden, die es erlaubt, das Liegengebliebene zu integrieren. Peripherie ist dann nur die inadäquate Bezeichnung von etwas, das der Integration noch harrt und dessen Definition alles andere in eine Bewegung der Uminterpretation mitreißen könnte. Peripherie ist Krise. Peripherie ist der Ort des Austauschs zwischen der Stadt als System reduzierter Komplexität mit dem Rest der Welt als dessen Umwelt. Die Peripherie bildet die Grenze zwischen dem Bedeutsamen und dem Bedeutungslosen, zwischen begrenzter und unbegrenzter Bedeutung, ein Grenzland, weder dicht noch stabil, eine Membran. Diese Offenheit verbindet den Raum der Peripherie mit dem Raum des Denkens, etwa im Begriff des Horizonts, wie ihn Koschorke verstanden hat. (31) Die Peripherie ist ein eminent historisches Phänomen, ohne Geschichte. Sie existiert jeweils als ein Zustand in einer Serie von Metamorphosen. Im Mittelalter war, was vor den Toren bleiben musste, das, was ausgegrenzt wurde und was auch bei der Verlagerung der Grenze draußen blieb. Was nicht ins Bild passte, wurde auf diese Weise unsichtbar gemacht. Es gibt die Peripherie erst, seit die klare Umgrenzung der Stadt ihre Differenzierungskraft eingebüßt hat und man in disziplinarischer Hinsicht von der Ausgrenzung zur Einsperrung, Kasernierung und Asylierung der störenden Elemente übergegangen ist. Peripherie entsteht mit dem politischen Autonomieverlust der Stadt, mit ihrer Auflösung im Flächenstaat im Verein mit der Industrialisierung als Ursache für explosives Bevölkerungswachstum. Versuche, der daraus resultierenden unkontrollierten Ausdehnung und Verlagerung mit Stadtplanung gegenzusteuern, kann man nur bis Mitte des 20. Jahrhunderts als erfolgreich bezeichnen, sie bleiben zunehmend hinter der Wirklichkeit zurück. Die Urbanistik des 19. Jahrhunderts ist berühmt für Stadterweiterungsprojekte als Versuche, den neuen Entwicklungen im Zuge der Industrialisierung so Form zu geben, dass sie in der Stadt Platz finden oder Stadt sie durch kontrollierte Ausdehnung einholt. Die alte Villeggiatura, die Parkanlagen um das Chateaux konnten, wenn sich später die Stadt ölfleckartig ausbreitete, mit ihren Strukturierungen eine gute Grundlage für die städtebauliche Planung bieten. Beispiele sind etwa Turin, Palermo, in gewisser Weise auch Karlsruhe. Im 20. Jahrhundert ist die neue Stadt eine solche, die sich – wie bei Giraudoux (am Rande des Geschehens der Abfassung der Charta von Athen) mit blendend weißen Zähnen, mit weißem Gebiss ins Land frisst. Die Stadtrandsiedlungen der 20er Jahre, z.B. die Siemensstadt in Berlin, sollte statt eines unansehnlichen Randes eine vorzeigbare Kante sein. Der Moloch produziert von sich aus nur Ränder, »Pygmäenkultur«, »Verhüttelung«. Geordnete Stadterweiterungen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Wien und Berlin, Berlages Amsterdam, sind als politisch gewollte Gegensteuerung bis heute vorbildlich und unerreicht. Die Stadt gehorcht heute nicht mehr dem alten Prinzip der Zentralität. Für den offenen Raum ist aber noch keine Gestalt und keine Konzeption gefunden. Sie ist daher an ihren Rändern voll von Zentrumsversuchen, von Kümmerformen der traditionellen Stadtauffassung und von missglückten Rettungsversuchen sowie von verunglückten Versuchen der Überwindung, ein Experimentierfeld abgelegter Formulierungsmodi mit Kernen noch unbegriffener möglicher Neuordnungen.
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Die Stadt kämpft gegen sich selbst, wenn sie gegen ihre Ränder kämpft. Das, womit sie sich nicht identifizieren will, worin sie sich nicht wiedererkennen will und kann, das ist sie selbst. Wer etwas über die Gesellschaft erfahren will, der muss sich an ihren Rändern umsehen. Der Nomaden, die sich tangential zur Stadt bewegen, sind viele. Die Bücher Bruce Chatwins, Reiseerzählungen von hybriden Kulturen und deren vergänglichen Spuren, verraten das Erstaunen darüber, wie in allen Ecken der Welt der Fluss von Gütern, Menschen und Informationen unvorhergesehene Situationen hervorbringen kann. In den Favelas beispielsweise findet man die intelligente Wiederverwendung von ausrangiertem Material, Wellblech, Verpackungsmaterial, Plastik. Die verfremdende Materialverwendung ist nicht willkürlich oder unspezifisch. Für bestimmte Aufgaben wird bestimmtes Material verwendet. Was kann man lernen von der geheimnisvollen Kenntnis dieser Bastler, dieser aus Mangel erfahrenen Bricoleurs? Solche Erkundungen sind nicht Sache der Planer. Unter Architektur- und Stadthistorikern dominiert die Auffassung, das hilflose Wuchern der Städte könne nicht unter Kontrolle gebracht werden, solange es nicht in eine zeitgenössische Umformulierung des alten Begriffs der Stadterweiterung umgedeutet werden kann. In allen weichen Strategien des Umgangs mit dem Rand manifestiere sich lediglich eine Abwehrreaktion, die hilflose und blinde Identifikation mit dem Angreifer. (32) Die großen Shopping- und Recreation-Centers wie der Quincy Market in Boston, South Street Seaport in New York, der innere Hafen von Baltimore, sie alle sind Versuche, durch Restrukturierung den Geist der traditionellen Stadt wiederzubeleben in einer Gesellschaft und in einer Kultur, in der diese Stadt gar nicht mehr repräsentiert ist. Detroit hat seine Industrie verloren und sucht nach Neuorientierung im Urban Gardening. Versuche der Schaffung von Konsum-Vierteln mit hohem Identifikationswert an Orten, die durch die De-Industrialisierung in eine Krise stürzten, findet Michael Sorkin mit dem Begriff »Park« treffend benannt. Er bezeichnet diese Räume auch als »techno-pastoral«. (33) Inzwischen haben die europäischen Städte begonnen, dem amerikanischen Modell zu folgen: Covent Garden in London, Les Halles in Paris, die Umgestaltung des Ruhrgebietes seit der Bauausstellung Emscher-Park, roof-farming in Berlin. Die offenkundige Insuffizienz solcher Projekte zeigt, dass die Idee einer Rekonstruktion der alten Stadt nicht mehr auf vorhandene Bedürfnisse rechnen kann. Immer häufiger müssen sie den Bedarf propagandistisch erst wecken. Für die Bebauung des Hafengebietes von Amsterdam wie auch der Wilhelmina-Pier in Rotterdam, als Teil des Stadterneuerungsgebietes Kop van Zuid und der Neubebauung des nach der Verlagerung des Containerhafens freigewordenen alten Hafengebiets gilt dies in besonderem Maße. Hier reicht eine Zulassungs-Planologie nicht aus. Es bedarf der stimulierenden Vision für die gesamte Stadt. Der Plan muss heutzutage auch verkauft werden: er muss »potenties schepen« (Koolhaas). Privatinvestoren müssen mehr Verantwortung eingeräumt bekommen für die öffentlich zugänglichen Räume und deren Gestalt. Es bedarf des Stadt-Marketings in einer Situation scharfer Konkurrenz. Architekten und Planer haben erkennen müssen, dass die Idee, die Stadtentwicklung insgesamt und großmaßstäblich steuern zu können, heute eine Illusion ist. Man muss sogar hinnehmen, dass selbst unsere Instrumente, die Stadt zu beschreiben, versagen. Den Optimismus des CIAM, eine Allianz zwischen politischer und ökonomischer Macht und der Architektur für möglich zu halten, kann
C. Mitte und Peripherie
heute niemand mehr teilen. Schon zu seiner Zeit war die Zonierung weniger geboren aus Vernunft als vielmehr naive Reaktion auf die Forderung des Kapitals, die Industrie und die Arbeiter aus der Stadt zu drängen. Entwürfe Bakemas für den Amsterdamer Hafen wirken heute inhuman. In einer dezentralen und sich ständig verändernden verstädterten Region ist zentrale Planung nicht mehr möglich. Planung muss sich auf Fragmente und punktuelle Interventionen beschränken und kann nur noch unter Einbeziehung partikularer Interessen und darum immer auch mit Zugeständnissen und Abstrichen geschehen. In Zeiten, da sich die Planungshoheit mehr und mehr zurückzieht, entsteht ein großer Bedarf an Zusammenhang, räumlich wie institutionell. Dieser Zusammenhang muss nun von begrenzten Projekten aus insinuiert und beschworen werden. Er lässt sich nicht mehr anstreben als ausstrahlender Totalitätsanspruch, sondern allenfalls als Artikulation der Relation zwischen Ganzem und Teil, sowie zwischen bestehendem Bauensemble und offener Zukunft. Die Zeiten, da ein Architekt wie Baron Haussmann sich mit dem Herrscher verbünden kann, wie es im Absolutismus möglich war, sind Geschichte. Die letzten Episoden planungsgünstiger politischer Bedingungen hat es zuletzt noch in den sozialdemokratischen Stadtgemeinden Wiens und Berlins, im kommunistischen Russland, im faschistischen Italien und im nationalsozialistischen Deutschland und unter den von den Linken dominierten Republiken Lateinamerikas gegeben. Heute spricht man von der »Unausweichlichkeit der Spezifität von Städten«, als Resultat eher von Katastrophen, Zerfall und gescheiterten Interventionen als von vorsätzlicher Planung. Jede Stadt sei durch spezifische Rahmenbedingungen in ihr eigenes, unausweichliches Muster gezwungen – Muster, die sich durch das Altern noch akzentuieren. Insofern gehe es Städten ähnlich wie Menschen: Während sich Marotten oder eine schiefe Nase mit der Zeit im Sinne des Charakters verstärkten, würden Siedlungen geprägt durch ihre Misserfolge, durch den Zerfall, man könnte sagen: durch den Einfall der Realität. Architektur und Planer sehen sich, ungeachtet des Vorwurfs gegen sie, sie würden die Welt mit überall gleicher Globalarchitektur überziehen, zunehmend der Beschränkung ihrer Wirkungsmöglichkeiten gegenüber. Jacques Herzog und Pierre de Meuron kommen zu dem Schluss: »Es gibt keine Stadttheorien; es gibt nur Städte«. Überall machen sich die Kräfte bemerkbar, die Zentren auf Kosten des Landes urbanisieren und die Metropolen explodieren lassen. (34) Regionen, in denen die Peripherie-Bedingung herrscht, sind gekennzeichnet durch schlechte Lesbarkeit, durch Vagheit. Strukturierende Prinzipien sind nicht erkennbar, Grenzen bleiben undeutlich, Übergänge sind oft trüb, dauerhafte Bilder fehlen. Es ist, als ob der Blick nicht präzise werden kann, als ob per definitionem unscharfe Bilder entstehen, wann immer man versucht, sich eine bestimmte Situation ins Gedächtnis zu rufen: Ist es nun die dritte oder die vierte Straße rechts? Man weiß nicht, ob der Mangel an Artikulation auf einem Zuviel von Demselben beruht, oder auf zu großer Vielfalt. Die Peripherie mangelt es an einem kohärenten System, das als Kontext dienen könnte. Die Peripherie bietet Entlastung von all dem, was G. Simmel in »Die Großstädte und das Geistesleben« als großstädtisch feierte, ohne dass dabei all das, was der großstädtischen Schockabwehr und Blasiertheit zum Opfer fiel, wiedergewonnen würde: Es bleiben Muffigkeit, Sich-gehen-Lassen, Sich-Unbeobachtet-Fühlen,
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Unhöflichkeit, das Gefühl, endlich Herr im eigenen Reich zu sein, Frustrationen ausleben zu können. Jeder dreht sich nur um sich selbst, ohne dabei aber Spaß zu haben und zu leuchten. Missmut herrscht vor. Alle fühlen sich gleich stark gestört. Die Straße mit den lauten Autos und Motorrädern ist weithin zu hören, und der Nachbar mit seiner Stereoanlage und seinen Grillpartys und kläffenden Kötern ist viel zu nah. In den Vororten sieht man kaum Menschen. Selbst die auf der Straße spielenden Kinder, die es früher gab, sind verschwunden. Das öffentliche Leben ist wie weggeblasen, »wie bei einer Feuerwehrübung«, wie Rem Koolhaas spottete. Gebäude mancher Architekten scheinen die fehlenden Menschen im öffentlichen Raum vertreten zu wollen. Die Mürrischkeit und schlechte Erziehung kommen bei ihnen stellvertretend zum Ausdruck in der Verwendung von Spiegelglas-Vorhangfassaden, die die Stahl-Betongerippe notdürftig verkleiden. Die einzelnen Bürokästen nehmen untereinander keinen Kontakt auf, sind autistisch, benehmen sich rüde und rüpelhaft. Charakteristisch für die moderne Wegwerfgesellschaft ist die absichtsvolle Nicht-Formgebung. An den Rändern der modernen Stadt, sprießen Fragmente ohne innere Beziehung zur bestehenden Organisation, anders als die Rampen und Schleifen der krummlinigen Autobahnen. Die isoliert stehenden Gebäude allein mit Wohn-Funktion – die suburbane Norm, typisch für die Peripherie moderner Städte – werden nur hier und da verdrängt von hybriden Gebäuden mit verschiedenen Programmen. (35) Die Kombination vieler Funktionen wie in Le Corbusiers »Unité d’Habitation« in Marseille hat sich nicht bewährt. Das gegenwärtige Problem der Peripherie resultiert auch aus den diversen Rezepturen, die man sich für sie ausdachte. Die unterschiedlichen vermeintlichen Lösungen der jüngeren Vergangenheit sind heute selbst das Problem. Wenn man die ausgedehnte Stadt, die Peripherie beschreiben will, dann hat man es immer sowohl mit Wildwuchs als auch mit einer Geschichte der Reparaturmodelle und Heilungsversuche zu tun. Das Ergebnis ist ein Flickenteppich oder eine »Patchworkdecke« von Fragment gebliebenen Planungsentwürfen, wie Jan Neutelings sagt. Dies beschreibt Thomas Pynchon in »Crying of Lot 49« mit seiner ironischen Metapher der »Stadt als printed circuit«: »Anstelle einer traditionellen lesbaren Stadt war San Narciso, wie viele andere Orte in Kalifornien weniger eine identifizierbare Stadt als eine Gruppe von Konzepten: census tracts, Viertel für spezielle Zwecke und Shopping-Kerne […], alles überlagert mit Zubringern zu ihrer eigenen Autobahn.«
C 5. Eine neue Welle des urbanistischen Diskurses stellt traditionelle Modelle generell in Frage. Anstatt nostalgisch das Ideal der Piazza in die Peripherie zu übertragen, es ihr implantieren zu wollen, wird gefordert, sich den neuen Orten des öffentlichen Austauschs zu widmen, die die metropolitane Mobilität nun einmal hervorbringt, den Flugplätzen, Bahnhöfen, Shopping-malls. An den interessantesten Beispielen könne man sehen, wie man dort beginnt, komplexe Morphologien zu artikulieren. Die zentrale Frage wäre: Wie werden aus Nicht-Orten Orte? Wie bildet man Knoten, die nicht nur Verkehrsknoten sind? Was sind Kreuzungen, Netze, Vernetzungen, Geflechte, Fokussierungen, Nahtstellen ohne die alte Spinne im
C. Mitte und Peripherie
Zentrum. Was wäre ein möglicher rhizomatischer Gegenentwurf zur Zentralität, wenn nicht die Interaktion aller Elemente untereinander, nach dem Muster des World-wide-web und unter Einbeziehung der Bevölkerung. Aus der Erkenntnis der weitgehenden Wirkungslosigkeit von Stadt- und Regionalplanung und deren Konzepten im Umgang mit der Peripherie muss es nach dieser neuen Sichtweise zunächst darum gehen, die im Zuge jahrzehntelanger Entwicklung zwischen den alten Kernen entstandenen Strukturen als gegeben anzuerkennen, hinschauen zu lernen. Aufgrund der oben beschriebenen ungebremsten Suburbanisierungsprozesse machen diese Strukturen quantitativ mittlerweile ca. 70 % der bebauten Fläche der Stadtregionen aus. Sie stellen den Ort höchster Dynamik und das zentrale Lebensfeld der Mehrzahl der Bewohner der Stadtregion dar. Allein aus dieser Macht des Faktischen erscheint ein Festhalten am Status Quo innenorientierter städtebaulicher Leitbilder nicht länger haltbar, wenn auch die Begriffe für das neu Entstandene fehlen. Eine naheliegende Reaktion auf die Peripherie wäre, ihre spezifischen formalen Qualitäten aufzugreifen, Ton abzunehmen, wie man im Schauspieler-Milieu sagt. Das alte Kriterium für Stadt war: sie muss malbar sein. Die visuelle Qualität der Peripherie lässt sich eher einfangen im Film. Jean Nouvel lieferte zu Beginn seiner Karriere eine Foto-Sequenz aus dem fahrenden Auto als Wettbewerbsbeitrag, um die Jury daran zu gewöhnen, die Dinge mit anderen Augen zu sehen. Schon Le Corbusiers Entwurf für ein Empfangs-Monument für Paris, mit dem Kopf eines gewissen Paul Vaillant-Couturier, einem Buch und der berühmten offenen Hand, war konzipiert als etwas, das man aus dem Auto wahrnimmt. Man sollte sich mit dem Urteil zurückhalten und zunächst lernen, vorurteilslos, unvoreingenommen zu beschreiben, was man an der Peripherie vorfindet, um dann vielleicht dahin zu kommen, dass sich hier besser als im Zentrum zeigt, was Stadt und Architektur für uns heute ausmachen und wer wir sind, in was für einer Gesellschaft wir leben. Diesen Appell richteten bereits Anfang der 70er Jahre Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour an die Architektenschaft. Gegenstand ihres bahnbrechenden Buches ist der Highway, hier »Strip« genannt, an dem sich in Las Vegas seit den fünfziger Jahren die wichtigen Casinos und Hotels aufreihen. Die Autoren finden hier die »Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt«. Sie forschen nach »Techniken des Umgangs mit den neu entstandenen Formen« und »besseren graphischen Mitteln zur Darstellung der Stadtgestalt des Streu-Typus und des Geschäftsstrips«. (36) Motiviert ist die Suche durch eine massive Kritik an der Architektur der Moderne und ihrer »Eindimensionalität«. Sie kritisieren den »Tabula-Rasa-Blick der Moderne«, der jeglichen Kontextbezug vermissen lasse, und die Verblendung des Modernismus, der im Namen von Idealen am Bedarf vorbeiplane. Sie nennen das, was hinter dem Rücken der Architekten entstanden ist, den neuen urbanen Typus der »Geschäftsstadt«: eine autoorientierte, entsprechend lineare Ansammlung von kommerziell genutzten Bauten, die den amerikanischen »Strip« ausmachen, dessen Gesicht nicht von der Architektur der einzelnen Gebäude mit einer selbsterklärenden Form (wie es der reinen Lehre der Moderne entspräche), sondern von Zeichen und Symbolen geprägt wird, die den funktionalen Volumen der Geschäftsbauten appliziert worden sind. Zur Umschreibung dieses Architekturtypus prägten Venturi, Scott Brown und Izenour den Begriff des »dekorierten Schuppens«.
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Angesichts der Ahnungslosigkeit und Realitäts-Abgehobenheit der modernistischen Theorien gelte es zunächst von dem zu lernen, »was uns umgibt«, und sich eines vorschnellen »Urteils über das Gesehene zu enthalten«. (37) Die Autoren werten die Zeichenobsession der Werbebranche und der Warenanbieter als gesunde Gegenreaktion auf den Säuberungswahn der Moderne, die sich von ihrer ikonographischen Tradition abschnitt, wobei jedes Zeichen als bloßes »Anhängsel« oder Ornament denunziert wurde. Besondere Schelte erfahren die emigrierten Verfechter der architektonischen Moderne. Der »Strip« entzieht sich dem klassischen Verständnis von Stadtform und Stadtraum: Öffentlicher Raum zeige sich hier »weder umschlossen noch klassisch ausgewogen noch durch herrische Attitüden rhythmisiert«, es handele sich auch nicht um den von vielen propagierten »fließenden Raum der Moderne«. (38) Für die Autoren zeichnet sich vielmehr im »Strip« eine nach den Merkmalen des Autoverkehrs organisierte neue räumliche Ordnung ab. Diese bestehe »aus den räumlichen Manifestationen einer begrenzten Zahl von Aktivitäten, die […] von den technologischen Gegebenheiten der Fortbewegung, der Kommunikation von Nachrichten und dem ökonomischen Wert der Grundstücke mitbestimmt worden sind«. (39) Angesichts der Eigenschaften der amerikanischen Stadtlandschaft, – »grobschlächtige Architektur, […] hohe Geschwindigkeit, […] riesige Räume und komplexe Nutzungsformen« – sei eine Orientierung im Raum ohne weithin sichtbare Zeichen gar nicht möglich. (40) Das urbane Ergebnis dieser Entwicklung ist der »Sprawl«, der außerhalb der alten Stadtgrenzen wächst, um sich der »Beaufsichtigung« zu entziehen, von ihm gelte es zu lernen, um ihm mit »neuen Konzepten und Theorien« begegnen zu können. Venturi, Scott Brown und Izenour plädierten dafür, den dynamischen Raum der amerikanischen Stadtlandschaft und die hier angewandten dominanten Methoden »kommerzieller Verführung« und die »Skyline der Reklamezeichen« zunächst hinzunehmen, um sich Zeit zu geben, sie schließlich für das Ziel einer »kulturellen Bereicherung« und eine »Aufwertung kommerziellen Zwecken dienender Architektur« entlang der Highways akzeptieren zu lernen. Mit Studenten entwickelten die Autoren, von den Wahrnehmungsstudien Lynchs deutlich beeinflusst, »dynamische Karten«, die das Zeichensystem und damit die Bildhierarchien dieses Raumes zu dekodieren suchten. Grundlage der Kartierungen ist die Perspektive in der Bewegung, zum einen die eines Fußgängers, der sich durch eine der Hauptstraßen von Las Vegas, die Freemontstreet, in Richtung Bahnhof bewegt, vor allem aber der Blick aus dem fahrenden Auto auf dem damals noch relativ neuen »Strip« mit den Billboards der Kasinos und Hotels, den »dekorierten Schuppen« in Richtung Flughafen. Erst durch die rasche Bewegung fügen sich die im Plan separierten Einzelteile zu einem Gesamtbild. Auch in der Fassadengestaltung erkennen Venturi, Scott Brown und Izenour eine eindeutige Ausrichtung auf diese Perspektive: Aufwändig dekoriert zeigten sich nur die Front- und besonders die rechte Seitenfassade, während die anderen Fassaden weitgehend schmucklos blieben. Größe und Form der applizierten Zeichen entscheiden über die Wahrnehmung, während die eigentliche Architektur in den Hintergrund gerät. Venturi, Scott Brown und Izenour sehen in dieser Ordnung eine Erfüllung der »Broadacre-City«-Vision von Frank Lloyd Wright, materialisiert in einer flächig organisierten, vom Auto erschlossenen Stadtlandschaft mit für den Blick des Autofahrers komponierten Einzelbaukörpern.
C. Mitte und Peripherie
Die am Beispiel von Las Vegas exemplifizierte amerikanische Stadtlandschaft wirkt für Venturi, Scott Brown und Izenour als räumliches Kommunikationssystem. In direktem Bezug zu »The View from the Road« von Appleyard, Lynch und Meyer bewerten sie die sinnliche Erfahrung während der Autofahrt als »eine Folge von Bildern vor den Augen eines eingeschlossenen, etwas ängstlichen und teilweise unaufmerksamen Publikums, dessen Sicht selektiv und auf einen engen Ausschnitt der Bewegung begrenzt ist«. Dieser Wahrnehmung entspräche »eine Architektur beziehungsreicher Anspielungen«, die zu klare und konkrete Definitionen gerade vermeiden wolle, um vielschichtige Konnotationen zuzulassen. (41) Das Buch wurde seiner massiven Kritik an der Moderne wegen freilich eher im Zusammenhang mit anderen Polemiken wie etwa Tom Wolfes »From Bauhaus to Our House« von 1981 rezipiert, denn als operationalisierbarer Analyseansatz für die Beschreibung einer neuen städtischen Realität. Die von der Werbung inspirierte »Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt«, geprägt vom »dekorierten Schuppen« und damit von applizierten Zeichen, Schildern und Billboards, hat sich zudem als eine vorübergehende Erscheinung in der Genese der amerikanischen Stadtlandschaft erwiesen. Gerade Las Vegas hat sich in den letzten 20 Jahren einer weiteren massiven Metamorphose unterzogen. Erneut stellvertretend für einen breiten Trend in der Entwicklung der »Architektur der Geschäftsstadt« wurde die Bedeutung des applizierten Zeichens zurückgedrängt zugunsten einer symbolischen Architektur, die in ihrer gesamten Erscheinung als Werbeträger und Zeichen auftritt, allerdings nicht im Sinne der »klassischen« Moderne, in der die Form für Inhalt steht, sondern im Sinne freier Assoziation beliebiger, vermeintlich Aufsehen erregender Bilder. Die großen neuen Themenhotels am Strip wie das »Venetian«, das »Paris Paris« oder das »Bellagio« erscheinen damit als gebaute Bildwelten, die gänzlich für sich sprechen und kaum weiterer applizierter Zeichen bedürfen, ein Trend, den große Hotels, Shoppingmalls und zunehmend auch Büro- und Wohnkomplexe weltweit nachvollziehen. Rem Koolhaas sang ein ironisches Loblied der »generischen«, tendenziell überall gleich aussehenden Architektur der Peripherie, die den letzten Ausweg (last exit) aus der dogmatischen Erstarrung und Musealisierung der Innenstädte biete. Dieses Kunststück brachte es zur Bedeutung eines Schlüsseltextes im urbanistischen Diskurs. Sein in »S, M, L, XL« publizierter Text wurde der Prototyp einer ganzen Reihe ähnlicher Publikationen. (42) 1996 erschien er unter der Überschrift »Die Stadt ohne Eigenschaften« in deutscher Übersetzung in der Zeitschrift ›Arch+‹ und setzte auch im deutschen Sprachraum eine gewichtige Position in der Diskussion um den suburbanen Raum. Koolhaas stellt die generische Stadt der historischen »Europäischen Stadt« mit ihren »eigenartigen« Qualitäten schroff gegenüber. In dem, was er »the generic city« nennt, erhält die Dynamik der Moderne jenseits von bloßer Konstatierung von Defiziten die Chance, sich auf ganz direkte Weise räumlich auszudrücken: Ohne auf den Widerstand einer historisch beladenen Umgebung mit einer starken Morphologie zu treffen, können Transformationsprozesse sich ungehindert durchsetzen, ohne jemals einen stabilen Endzustand zu erreichen. Eine periphere Bedingung (conditio periferii) ist ein Zustand, in dem das Labile die Überhand hat: Die Möglichkeit der Veränderung – im positiven wie im negativen Sinn – steht permanent auf der Tagesordnung.
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Die Provokation liegt darin, dass Koolhaas die Ununterscheidbarkeit keinesfalls als negativ, sondern als emanzipatorisches Moment beschreibt: Die »Stadt ohne Eigenschaften« hat sich für ihn aus dem »Würgegriff des Zentrums, der Zwangsjacke der Identität« befreit (43). Für Koolhaas steht das Primat der »Eigenschaft« bzw. der »Identität« in der städtebaulichen Diskussion der letzten drei Jahrzehnte, die ganz auf das Bild der Europäischen Stadt fixiert war, für eine konservative, die wahren Gegebenheiten der modernen Stadtlandschaft ignorierende Werthaltung, die nicht unwesentlich für die in der Pose erstarrte Innenstadt und den »vernachlässigten Zustand« der Peripherie verantwortlich sei: »Die letzten Zuckungen, die vom erschöpften Zentrum ausgehen, verhindern, dass man die Peripherie als kritische Masse begreift. Das Zentrum ist per definitionem nicht nur zu klein, um die ihm zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen, es ist auch nicht mehr das wirkliche Zentrum, sondern eine pompöse, kurz vor der Implosion stehende Schimäre; trotzdem verweigert seine trügerische Präsenz der übrigen Stadt die Daseinsberechtigung.«
Koolhaas preist die Vorzüge der generischen Stadt, deren »Gelassenheit […] durch die Evakuierung der öffentlichen Sphäre« erreicht würde: »Die urbane Fläche berücksichtigt nur noch notwendige Bewegung, in erster Linie das Auto; Schnellstraßen sind eine den Boulevards und Plätzen überlegene Version des offenen Raumes. Die große Originalität der eigenschaftslosen Stadt besteht darin, dass sie einfach auf alles Funktionslose verzichtet, […] um die Asphaltdecke des Idealismus mit den Presslufthämmern des Realismus aufzubrechen und alles zu akzeptieren, das dann aus dem Boden sprießt.« (44)
Koolhaas vielbeachteter Aufsatz zeichnet ein nicht gerade anheimelndes Bild der neuen Stadt, die sich an das historische Zentrum als Peripherie anlagert. Sie wird bestimmt von kurzsichtigen Zweckerwägungen und repetitiven Formen. Der Text hat viele Leser erschrocken, weil er ein unnachsichtig realistisches Bild der Entwicklung wiedergibt, wie man sie sich noch nicht zu sehen erlaubt hatte. Jedermann stöhnt darüber, dass alle stadtartigen Agglomerationen etwa um die Flughäfen herum einander gleichen, dass immer mehr Orte ununterscheidbar werden. Dies sei jedoch ein Umstand, so Koolhaas, mit dem wir bereits zu leben gelernt haben und an dem wir nicht alles schlecht finden, sonst gäbe es diese Art von Stadt nicht. Koolhaas macht den naheliegenden Schritt, das allseits Beklagte zu umarmen, es als gegeben zu akzeptieren und nach den Vorzügen der »generic city« zu fragen, die sie wohl oder übel haben muss, und nach den Gründen zu fragen, die zu ihr geführt haben. Damit wird dieser Text, wie Peter Sloterdijk vergnügt rühmte, zu einem der seltenen großen Texte, die in der Geistesgeschichte eine Interpunktion hinterlassen. Er zähle zur seltenen Spezies von Texten, die so etwas wie eine Nullpunktsituation für die eigene Disziplin markieren. Das habe einst Gabriel Tarde mit seinem Buch über den Nachahmungstrieb um 1900 in Paris getan. Alles was die Soziologie im 19. Jahrhundert gesagt hatte, wurde gleichsam auf Null zurückgestellt, indem Tarde feststellte, dass wir nur zwei Momente benötigen, die Innovation und die Imitationskette, und die ganze Systematik der Sozialwissenschaft nur aus diesen beiden Elementen zu bestehen bräuchte. Die Mathematiker Russel und Whitehead haben
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in Anknüpfung an Frege eine analytische Begriffsschrift entwickelt, die für die ganze Welt der Sprache eine Nullpunktsituation dargestellt habe, indem man die natürliche Rede in logische Notation übersetzbar machte. In Nullpunktsituationen, so Sloterdijk, kann man nicht stehenbleiben, sie öffnen Wege, die unweigerlich beschritten werden. Der Dadaismus war eine Nullpunktsituation im Hinblick auf das gesamte heroistische klassizistische Dekorum der alteuropäischen Kultur. Die Dadaisten haben im Café »Club Voltaire« die Kulturuhr auf Null zurückgestellt, das ganze Seriositätssystem der alteuropäischen Kultur einfach gekündigt. Oder man denke an das Schwarze Quadrat von Malewitsch, ein Versuch, die Kunstgeschichte auf Null zu stellen, indem man den Hintergrund, auf dem alle Bilder gemalt werden, als solchen sich emanzipieren lässt. Man komme auf eine überschaubare Reihe von Nullpunkt-Texten. (45) Koolhaas habe mit seinem Text gezeigt, dass die Architektur erst sehr spät dazu gekommen ist, ihre echte Nullpunktfähigkeit zu entwickeln. Wir nahmen eine Zeit lang an, so Sloterdijk, Rob Venturi habe es bereits geschafft mit »Learning von Las Vegas«, aber das war voreilig. Dieser Text sei noch viel zu inhaltsfixiert gewesen. Erst Koolhaas habe etwas erreicht, was man mit Tardes Entdeckung vergleichen kann. Er hat die gesamte Diskussion über die Stadt von ihrem historischen Ballast befreit, hat das Thema vollkommen enthistorisiert und entlokalisiert und hat – kantianisch gesprochen – so etwas wie eine »Kritik der reinen Agglomeration« geliefert. »Da ist ein Mensch, und dann noch ein Mensch, und dann sind da noch mehr Menschen, und die sind dann da, und sie sind eine Weile da, und dann sind sie wieder weg. Das ist die Essenz der Stadt.« Sie wird radikal aus molekularen Formen bestehend neu gedacht. Die Peripherie erzeugt einen positiven Verdacht. Es gibt ein Geheimnis der Peripherie, die Ahnung, dass dort Qualitäten verborgen liegen, die man noch nicht klar erkennen, benennen und würdigen kann: Lernen von und an der Peripherie, könnte die aktuelle Parole heißen, nachdem Venturis postmoderner Aufruf »Lernen von Las Vegas« verhallt ist. Die Peripherie repräsentiert das Moderne par excellence, wenn man sie versteht als erste Verkörperung der Erfahrung des Werdens, des Auf-die-Zukunft-Gerichtetseins. Die gemischten Gefühle – Wunsch nach Veränderung und Furcht vor der Eigendynamik der Veränderungsprozesse in ihrer bürokratisierten anonymen Form – lässt die Experimente zugleich progressiv und antimodern sein. Man könnte Deleuze paraphrasierend auch sagen, die Peripherie sei das Tier-Werden der Stadt.
C 6. Das Haus, die Wohnung werden häufig unter dem Thema des Inseldaseins begriffen. Inselleben erweckt die Vorstellung eines Gegensatzes von drinnen und draußen und vermittelt das Gefühl ständiger Gegenwart, als würde es wie Circe die Menschen in Tiere verwandeln. Während sich draußen alles bewegt, fließt, vergänglich ist, schrumpft hier Zeit zur Gegenwart zusammen. Der Insulaner kann sein Inselleben als Geborgenheit und Ordnung empfinden. Aber auch als Aussperrung, als Unglück, am falschen Ort zu sein. Je nachdem, wie der Inselbewohner seine Insel als ambivalenten Ort eindeutig macht, ähnelt sie entweder mehr Brendans Perdita oder der Insel des Dr. Moreau.
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Die Insel betont das Privileg, in der Herrschaft über den Raum souverän zu sein, wenngleich sie auch seit Robinson Crusoe ein Topos der Isolation und des Gestrandetseins ist. Dass Abgeschlossenheit und Imagination einander bedingen, ist auch an der Rolle der Insel für literarische Erfindung abzulesen, die sich von der klassischen Fixierung an den »locus amoenus«, in dessen Idyll sich das höfische Leben idealisierend spiegelte, ablöste und zu einer Geographie der menschlichen Seele wandelte. Die Einsicht, dass der Entwurf poetischer Traum- wie Schreckenswelten aus dem Alltag des Schreibenden selbst resultiert, dem Problem der Relationierung unterschiedlicher Welten, bestimmt seit der Romantik die Topographie der literarischen Inseln. (46) Als eine solche der Sammlung und einer alle Ablenkung abwehrenden Einschließung dienende und zugleich der Welt und der Zeit entrückende Inselsituation beschrieb Roland Barthes das Kino: »Es gibt eine Kino-Situation, und diese Situation ist prä-hypnotisch. Im Sinne einer echten Metonymie wird das Nachtschwarz des Kinos präfiguriert von der dämmernden Träumerei […], die diesem Schwarz vorangeht und von Straße zu Straße, von Plakat zu Plakat das Subjekt dahin führt, sich schließlich abgrundtief zu versenken in einem dunklen, anonymen, indifferenten Kubus, wo dies Fest der Affekte stattfindet, das Film heißt.«
Dieses Schwarz ist auch die Farbe einer diffusen Erotik: Die dichte Ansammlung von Menschen bei gleichzeitiger Abwesenheit der Welt des »Mondänen«, im Unterschied zum Theatersaal, das Erschlaffen der Körperhaltungen, das Sich-Hinfläzen, die Lässigkeit, die die moderne Erotik stärker definiert, machen das Kino zum Ort der Ungebundenheit. »In eben diesem städtischen Schwarz ist die Freiheit des Körpers am Werk; diese unsichtbare Arbeit aller möglichen Affekte nimmt ihren Ausgang von einem echten kinematographischen Kokon; der Filmzuschauer könnte die Devise der Seidenraupe zu der seinen machen: inclusum labor illustrat: Weil ich eingeschlossen bin, arbeite und erstrahle ich in all meinem Begehren […] Man vergegenwärtige sich die konträre Erfahrung: beim Fernsehen, das ebenfalls Filme vorführt, keinerlei Faszination: Hier ist das Schwarz gelöscht, die Anonymität verdrängt; der Raum ist familiär artikuliert (durch die Möbel, die gewohnten Dinge), dressiert die Erotik – sagen wir lieber, um die Unbeschwertheit, die Unvollkommenheit spürbar zu machen: Die Erotisierung des Ortes ist ausgeschlossen: Durch das Fernsehen sind wir zur Familie verdammt, deren Hausgerät es geworden ist, so wie es einst der Herd war, umrahmt vom Kochgeschirr.« (47)
Es ist so, »als gehörten die Leute, die aus dem Haus gehen, und sich in einem Raum versammeln, wo dann das Licht ausgeht und alle auf die Leinwand mit Riesengesichtern und enormen Lippen starren, zu einer vergangenen Kultur« oder einer okkulten Sekte, wie die von Neros Häschern verfolgten Christen, die in die Katakomben flüchteten. Tatsächlich scheinen die Kulte des Kinos auf dem Rückzug zu sein und sich durch das Internet in einem vom Privaten auf geschwätzige und alles ans Licht ziehenden Weise durchsetzten öffentlichen Raum zu verlieren. Aber auch das beharrliche Surfen ermöglicht ein Sich-Verlieren. Die Abgeschlossenheit ist keineswegs der Erstickungstod der Phantasie, im Gegenteil ist sie – wie am eindrucksvollsten wohl de Sades Bücher belegen – eine
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besonders ergiebige Quelle und experimentelle Bedingung der Phantastik. Als literarischer Topos ist der abgeschlossene Ort derjenige dämmriger Träumerei und diffuser Erotik. Eingeschlossensein und Abschirmung gegen die Außenwelt lassen die Insassen Affekte ausbrüten und das Begehren in überschießenden Imaginationen erstrahlen. »Nachdem die Libertins erst einmal eingeschlossen sind, geben sie mit ihren Gehilfen und Lustobjekten eine vollständige Gesellschaft ab mit einem Wirtschaftssystem, einer Moral, einer Sprache und einer nach Stundenplan, Arbeiten und Fasten gegliederten Zeit. Hier wie auch anderswo macht die Abgeschlossenheit das System, d.h. die Imagination erst möglich.« (48) Die Geheimnisse auf E. A. Poes Insel »Tsalal«, die Zeichen, Höhlen und Abgründe, verweisen auf menschliche Abgründe, Sehnsüchte des menschlichen Innern. Das Geheimnis kann dadurch entstehen, dass der abgeschlossene Inselraum mit seinen scharfen Rändern in seinem Innern zu etwas Abgründigem und Unergründlichen werden kann. Es kann so mit ferner und imaginärer Vergangenheit und mit den Tiefen der menschlichen Seele kommunizieren. Jules Verne versucht in der »Reise zum Mittelpunkt der Erde« beständig die Klaustrophobie zu neutralisieren, welche die Protagonisten heimzusuchen droht, indem er das Erdinnere als natürliche Architektur beschreibt: »Aber das Gewölbe hält; der große Weltbaumeister hat gutes Material dafür verwendet. Und nie hätte der Mensch ihm eine solche Tragfähigkeit zu geben vermocht. Wie schwach sind die Brückenbogen und die Bogen der Kathedralen im Vergleich zu dieser Grotte mit dem Durchmesser von drei Meilen, in der ein Meer und seine Stürme sich entfalten können.« (49) Obgleich die Räume als Werk Gottes bezeichnet werden, erscheint der Abstieg in das Erdinnere wie ein Besuch in einem Pavillon der Weltausstellung. Edward Bullwer-Lytton imaginiert in »Das kommende Geschlecht« eine Gegen-Menschheit in einem technisch-jugendstilhaft eingerichteten Erd-Hohlraum. Auch er, in dessen Zukunftsvisionen die Bewohner des unter der erkaltenden Sonne ersterbenden Planeten unter die Erde gehen, imaginierte die Unterwelt in auffälliger Ähnlichkeit mit den Glaspalästen und Passagen des 19. Jahrhunderts: »Welch ein Wunder, und welches Entzücken! Man war gefasst auf eine Gruft und schlägt die Augen auf in so strahlenden und nimmer endenden Kunstgalerien, als man sie nur denken kann, in Salons, schöner als die von Versailles.« (50) Von einer unterirdischen Zivilisation handelt auch Gabriel Tardes utopischer Entwurf, das »Fragment d’histoire future«. Die Idee dazu stammte von einem Naturwissenschaftler, wofür sich Tarde bei seinen Lesern entschuldigte. Er war im Tagebuch der Gebrüder Goncourt auf sie gestoßen. Nach einem 150 Jahre dauernden Krieg herrscht endlich Frieden. Krankheiten sind ausgerottet, das Altgriechische ist Universalsprache geworden. Nur wenige Arbeiter verbringen täglich drei Stunden in riesigen Phalanstères. Die Wissenschaft hat die Religion ersetzt. Eine apoplexie solaire, die fortschreitende Abkühlung der Sonne, wird die Menschheit dem entropischen Kältetod ausliefern. Die rettende Idee hat Miltiades, der erfolgreich den Neotroglodytismus als Ausweg propagiert, so dass die übrig gebliebene Menschheit beschließt, unter der Erde weiterzuleben. Das Desaster erscheint nun als Glück, da es ein soziologisches Experiment möglich macht: herauszufinden, was aus dem Menschen wird, wenn er, von der Natur befreit, nur sich selbst ausgeliefert ist.
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Die Leitwissenschaft in diesem Staatswesen ist die Soziologie. Das liegt nahe, wird doch die Gesellschaft Tarde zufolge nicht durch einen Austausch von Dienstleistungen zusammengehalten, sondern durch ein System von Nachahmungen. Die Menschen bilden ihre Individualität aus, indem sie einander nachäffen. Dies wird deutlich nach Überwindung der alten Dichotomien von Produzenten und Konsumenten, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, wenn die Individuen nur noch die reinen Sozialbeziehungen entwickeln können, die »humanité toute humaine«. Vorformen finden sich noch in den Salons der Dichter und den Ateliers bildender Künstler, und gemäß einer Spencer’schen Segregation entwickeln sich Städte von Musikern und Bildhauern, Mathematikern, Naturforschern und Psychologen. Nur den ungeselligen Philosophen und Soziologen gelingt es nicht, Städte zu bilden. Die Soziologie Emile Durkheims hat sich erübrigt, die Gabriel Tardes hat überlebt. (51) Bei Walter Benjamin erweisen sich die Pariser Passagen als Urbild all dieser Zukunftsvisionen, die so zu einer absolut gewordenen Innenwelt werden, zu einem Jenseits in jeder Hinsicht. Das Eintauchen in eine der Pariser Passagen kam einem Verlassen der Welt gleich: »Vor dem Eingang der Passage ein Briefkasten: eine letzte Gelegenheit, der Welt, die man verlässt, ein Zeichen zu geben.« (52). Bei Sartre in den »Eingeschlossenen« oder bei Genet im »Balkon«, dem Bordell als totalsten Ort bürgerlicher Frustration, in Bunuels »Würgeengel« oder in Cocteaus »Orfée« werden die Grenzen des Systems absolut. Etwas von diesem Bann der Grenze prägt die existentialistische Subkultur der 50er Jahre insgesamt. Die verrauchten, von Jazzmusik erfüllten Kellerlokale und das schwarze Outfit gehören zur Inszenierung der autochtonen Subkultur, die weder mit der bürgerlichen Spießergesellschaft noch mit der älteren Generation etwas zu tun haben will. (53) Das mit der Aufklärung und der bürgerlichen Emanzipation verknüpfte Versprechen einer Befreiung von den Restriktionen und Fixierungen des Raumes wird in der Literatur notorisch angezweifelt. Den Ort, an den das Schicksal einen Menschen gestellt hat, zu verlassen, markiert den Beginn der Katastrophe. Nathaniel Hawthorne sah sich zeitlebens als Gefangener in seinem Zimmer. Wenn er im Laufe seines Schriftstellerlebens Tausende von täglichen Eindrücken notierte, dann tat er dies, nach Borges Meinung, »um sich selber ein reales Dasein zu beweisen, um sich auf irgendeine Art von dem Irrealitäts- und Gespenstergefühl zu befreien, das ihn heimzusuchen pflegte«. Eine seine seltsamsten Erzählungen handelt von einem Manne namens »Wakefield«, der eines Tages seine Frau ohne jeden ersichtlichen Grund verließ und sich eine Straßenecke von seinem Haus entfernt einmietete, wo er zwanzig Jahre lang verborgen lebte, in denen er beinah jeden Tag an seinem Haus vorbeiging, bis er eines Tages zurückkam und sein bisheriges Leben fortsetzte, ganz so, als wäre er nur für ein paar Stunden fort gewesen. Aber da war er bereits tot, und bald darauf sollte er tatsächlich sterben. Die Großstadt London diente dazu, diesen Mann zu verstecken, so dass er sein Doppelleben so lange unentdeckt führen konnte. Sie hat auch diese erbärmliche Sonderbarkeit hervorgebracht, diesen Kontrast zwischen der bodenlosen Mittelmäßigkeit des Helden und der Größe seines Verderbens. Luigi Pirandello erzählt eine ähnliche Geschichte von einem Mann, der seine Identität wechseln, der seinen Platz verlassen wollte, um als ein anderer weiterzuleben. Als er jedoch eines Tages in seine alte Existenz zurückkehren möchte, belehrt
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ihn sein Nachfolger in der Bibliothek, wo er einst gearbeitet hatte, »daß es unmöglich ist, außerhalb des Gesetzes und außerhalb der uns eigenen glücklichen oder unglücklichen Verhältnisse zu leben, durch die wir […] erst das sind, was wir sind«. Hawthorne hat das Schicksal, das möglicherweise jenen droht, die ihren Ort verlassen, die ihre Grenzen überschreiten, mit einer sachlichen Härte beschrieben, die durch die Belanglosigkeit des Handelns und die Bedeutungslosigkeit der Person noch gesteigert wird. Im Zentrum von London, von niemandem sonst bemerkt, hat sich die Welt aus den Angeln gehoben. Ohne gestorben zu sein, hat ein Mann auf seinen Platz in der Welt und auf seine Rechte unter den Lebenden verzichtet, und das nicht einmal in der Aussicht auf ein anderes, glanzvolleres, abenteuerlicheres Leben. Hawthornes Schlussworte sind: »In der anscheinenden Unordnung unserer geheimnisvollen Welt ist jeder Mensch mit so ausgesuchter Strenge einem System eingepasst – und die Systeme ineinander und alle ins Ganze – dass der einzelne, wenn er auch nur einen Augenblick von seiner Bahn abweicht, sich dem furchtbaren Zufall aussetzt, seinen Ort für immer zu verlieren. Er setzt sich dem Zufall aus, der Paria des Universums zu werden – wie Wakefield.«
Die Erzählung handelt auch von der Unwiderruflichkeit, die Entscheidungen annehmen können, seien sie auch noch beiläufig und ohne bestimmte Absicht getroffen worden, durch eine unscheinbare Handlung, ohne dass man es selbst recht bemerkt hätte. Hawthorne berichtet in seinen Aufzeichnungen über eine lange Zeit in seinem Leben, die er mit dem Schreiben phantastischer Geschichten zubrachte. Wenn es dunkel wurde, verließ er das Haus und ging spazieren. Über diese »heimliche Lebensweise«, die er zwölf Jahre lang beibehielt, schrieb er: »Ich habe mich eingeschlossen, ohne es im Geringsten beabsichtigt zu haben, ohne den geringsten Argwohn, daß mir dies zustoßen würde. Ich habe mich in einen Häftling verwandelt, habe mich in ein Verlies gesperrt, und jetzt weiß ich schon nicht mehr, wo der Schlüssel ist, und selbst wenn die Tür offen stünde, hätte ich fast Angst davor hinauszugehen.« Patricia Highsmith beobachtet ihre Geschöpfe, wie sie ein paar Zentimeter neben sich treten, wie in einem verwackelten Foto, und sich dadurch in fatale Mechanismen verstricken, und sie erlaubt niemandem, sich aus ihnen wieder zu befreien. Je mehr sich eine ihrer Kreaturen loszustrampeln versucht, desto tiefer versinkt sie im Schlammasel. Unzählige Male wird dieses Motiv vor allem in der amerikanischen Novellistik variiert, und auch in einigen jüngeren amerikanischen Filmen taucht es auf. In dem Film »Something Wild« (Gefährliche Freundin) von Jonathan Demme entfernt eine Zufallsbekanntschaft einen biederen Angestellten und Familienvater auf einer »Abkürzung« auf dem Weg ins Büro meilenweit von seinem bisherigen Leben. Verlässt ein braver Mann nur wenige Schritte weit sein Revier, so die Moral, drohen ihm faszinierende Gefahren im Großstadtdschungel, die den Horizont erweitern können, sich wie bei Martin Scorsese allerdings zur existentiellen Krise ausweiten können. In Highsmiths »Strangers on the Train« (Der Fremde im Zug), verfilmt von Hitchcock, ist der Zug der Ort des Zufalls, der fatale Konsequenzen haben wird. In diesem Universum, das von einem genius malignus regiert wird, genügt ein sich zufällig ereignender Vorfall, um einen ganz gewöhnlichen Menschen in einen Alptraum zu stürzen. (54) Žižek, der sich eindringlich mit den Filmen Hitchcocks
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beschäftigt hat, analysiert die Form der schlechten Begegnung als Verbindung zwischen einem Element und einem leeren Platz, einer Leere, die wie eine Falle auf das Subjekt wartet. In »North by Northwest« ist der Name George Kaplan, der Name eines nichtexistierenden Agenten – ein leerer Signifikant –, die Falle, die sich über Roger O. Thornhill schließt. Er muss diesen leeren Raum ausfüllen. In »Strangers on the Train« ist der leere Platz durch den Kontrakt vorgegeben, in den Guy als Vertragspartner von Bruno eintritt. Der Vertrag lautet: du musst das für mich tun, was ich für dich tue. Die Fatalität ergibt sich hier dadurch, dass Bruno nicht in der Lage ist, Gesagtes nicht wörtlich zu nehmen, und ein ›Ja‹ als ein ›Nein‹ zu verstehen, was noch dadurch gesteigert wird, dass andere hierzu sehr wohl in der Lage sind und sich an ihre Begegnung nicht erinnern und so als Entlastungszeugen ausfallen. Diesen Plot variiert auch Simenons »Das blaue Zimmer«. Die Surrealisten rebellierten gegen jede Verteufelung und Verächtlichmachung des Ausbruchsverlangens. Sie reagierten überempfindlich auf jede Form von Erstarrung und Bindung, sie kultivierten diese Empfindlichkeit und sannen kühn und ohne Furcht vor dem Skandal und ohne diese leidigen Schuldgefühle auf deren Erschütterung. Aragon beschwört in seinem »Paysan de Paris« die Geographie der Lust, die Entschädigung verheißt für all die Entbehrungen, die wir im Namen der Zivilisation auf uns nehmen, und all den Verdruss, der aus dem resultiert, was man uns gelehrt hat. Dass bisher niemand daran gedacht hat, sich die Grenzen vom Schauder, die Orte von der Liebkosung und das Vaterland von der Wollust bestimmen zu lassen, das habe den Menschen davon dispensiert und daran gehindert, persönliche Erfahrungen zu machen. Man habe verlernt, die Zweideutigkeit der Orte wahrzunehmen und auszunutzen, etwa der Frisiersalons oder der öffentlichen Bäder. Die Grenzen des Möglichen und Erlaubten werden von den Einzelnen zumeist noch enger gezogen als objektiv nötig wäre, und die Bereitschaft, sich Orte und Handlungen wie Vorschriften vorgeben zu lassen, sei verdächtig groß. Die Kulturkritik der Surrealisten argumentiert mit dem Recht und der Pflicht des Individuums seinem Genius gegenüber, frei und glücklich zu sein, seinem Begehren die Treue zu halten, und sei es auch auf Kosten anderer. Doch nicht die bornierte Rücksichtslosigkeit oder Vergewaltigung ist in der surrealistischen Literatur gemeint, sondern der Schock, der Prozesse der Selbstreflexion in Gang setzt. Die surrealistische Tat besteht in der demonstrativen Übertretung, in der Empörung gegen nicht hinnehmbare Beschränkungen. Leben ist da, wo sich angesichts von Kontrollmechanismen und Denkverboten, rigoroser Selbstdisziplin und selbstverstümmelnder Verinnerlichung von Normen die Lust am Verstoß regt. Im Akt der Übertretung zeigt sich das vitale Bedürfnis des Menschen, seine Souveränität zu erproben, und offenbaren sich hinter den idealisierenden Normen die wahren Strukturen und Grenzen. Nietzsche könnte die Stichworte für dieses Programm geliefert haben, wenn er feststellte, dass Erfahrung generell der Übertretung bedürfe, zumindest das philosophische Wissen werde nicht auf dem Boden schematischer Erfahrung gewonnen. »Es ist dem Menschen im Tiefsten wesentlich, dass er sich selbst eine Begrenzung setzt, aber mit Freiheit, d.h. so, dass er diese Begrenzung auch wieder aufheben, sich außerhalb ihrer stellen kann.« Für die Surrealisten stand fest: Zu wenige nur machen von dieser Freiheit Gebrauch. So schrieb Aragon in seinem »Der Bauer von Paris«:
C. Mitte und Peripherie »Wie gern sich der Mensch doch an den Türschwellen der Phantasie aufhält! Dieser Gefangene möchte noch so gern ausbrechen, an der Schwelle der Möglichkeiten zögert er, er fürchtet, diesen Weg schon zu kennen, der ja doch nur in seinen Kerker zurückführt. Man hat ihn den Mechanismus der Gedankenverkettung gelehrt, und der Unglückliche hat geglaubt, seine Gedanken wären angekettet.«
Für Georges Bataille ist die stärkste Macht die, die Menschen träge und folgsam macht, die Räume und Orte eindeutig und Grenzen objektiv und unüberwindlich erscheinen lässt, die Arbeit, die in Kombination mit Wissen und Technik zwischen den Elementen der produzierten und der messbaren Welt Identitätsbeziehungen herstellt. Bataille, der hierin das theoretische Erbe des Surrealismus antrat, definierte deren Programm als das unablässige Trachten danach, einen solchen Subjektivismus zu überwinden, der die Wirklichkeit mit seiner »reifizierenden Gewalt« überzieht und die Welt der Objekte erstarren lässt und in ihrer Gesamtheit unter dem Aspekt der Nützlichkeit, der technischen Verfügbarkeit und der ökonomischen Verwertbarkeit betrachtet. Erst eine mit Hilfe des Unbewussten als eine Art Wünschelrute entgrenzte Subjektivität fände zu ihrer eigentlichen Souveränität. Da ist freilich nicht die Souveränität gemeint, die – nach der Definition Carl Schmitts – das Subjekt bezeichnet, bei dem im politischen Ernstfall die Entscheidung liegt, die Souveränität der Ausnahme, welche die Masse an den Einen delegiert, der zum Führer ermächtigt wird, die Souveränität der politischen Verfügungsgewalt, sondern eine, die nicht an das Bedürfnis nach Autorität und Ordnung gebunden ist. »Souverän ist die menschliche Aspiration nach einem Wunderbaren, das den Gesetzen der Subordination entzogen ist; souverän ist die Negation der Bedingungen, an die die menschliche Existenz normalerweise gebunden ist; souverän ist mit einem Wort der Augenblick, in dem das von Knechtschaft gezeichnete Leben seine Fesseln abschüttelt und in einen Bereich eintritt, der durch die Gegenwart des Göttlichen hinreichend bezeichnet wird. Es ist dies die Sphäre, in der das Unmögliche plötzlich wirklich wird […] Die Gegenwart des Souveränen wird dadurch markiert, daß sie eine plötzliche Umkehrung des gewöhnlichen Laufs der Dinge suggeriert. Die Gesetze, die normalerweise gelten, werden außer Kraft gesetzt, sobald ein souveränes Element gegeben ist. Der Akt der Transgression, des Überschreitens der Gesetze, des bewußten rituellen Verletzens von Tabus, ermöglicht den Eintritt in die Sphäre, die der archaischen Menschheit als sakral erschien.« (56)
Souveränität in ihrer archaischen Bedeutung ist nicht Macht, sondern eher das Gegenteil: sie lässt sich nicht anstreben und nicht erwerben, die Gunst des Augenblicks entscheidet über die Wahl. Es geht nicht um Akkumulation von Macht im Zentrum, sondern eher um eine der Logik des Potlatch entsprechende Würde des Schenkenden, die sich um das vergrößert, was er verliert, im Idealfall in einem Maße, das den beschämten Rivalen in der Ohnmacht lässt und ihm die Schuld aufbürdet, das Geschenk zu erwidern. Jene Ränder und Lücken, die die Surrealisten wegen ihrer verlockenden Zweideutigkeit und verdünnten Normativität auskundschafteten, sind freilich auch Einfallstore des Schreckens. Konventionen, Tabus, Interaktionsregeln, Zweckrationalität und Fortschrittsoptimismus haben eine rituelle Funktion, um die Oberfläche
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der gesellschaftlichen Realität an diesen Einfallstoren zu bewachen. Und doch, mit den Worten Adornos: »Nur Denken, das […] seine Funktionslosigkeit und Ohnmacht sich eingesteht, erhascht vielleicht einen Blick in eine Ordnung des Möglichen, Nichtseienden, wo die Menschen und Dinge an ihrem rechten Ort wären.« (57) »Die Stadt ist nur scheinbar gleichförmig. Sogar ihr Name nimmt verschiedenen Klang in den verschiedenen Teilen an. Nirgends, es sei denn in Träumen, ist noch ursprünglicher das Phänomen der Grenze zu erfahren als in Städten. Sie kennen heißt jene Linien, die längs der Eisenbahnüberführungen, quer durch Häuser, innerhalb des Parks, am Ufer des Flusses entlang als Grenzscheiden verlaufen, wissen; heißt diese Grenzen wie auch die Enklaven der verschiedenen Gebiete kennen. Als Schwelle zieht die Grenze über die Straßen; ein neuer Rayon fängt an wie ein Schritt ins Leere; als sei man auf eine tiefe Stufe getreten, die man nicht sah.« (58).
C 7. Die Situationisten sprachen ähnlich wie die Surrealisten von einer städtischen Topographie der Leidenschaften und von den unterschiedlichen Stimmungen der Stadtviertel, die sie in »psychogeographischen« Karten festhielten. Ihnen werden die offiziellen Einteilungen und Institutionen Teile eines Entfremdungszusammenhangs, der dem Menschen nur eine Illusion der Freiheit lasse, den eines umfassenden und alles einbeziehenden »Spektakels«. Gegen die Trennung des Lebens in Arbeit und Freizeit und das Zerhacken der Lebenswirklichkeit in die unterschiedlichen Funktionen und deren Neuzusammensetzung nach äußerlichen Gesichtspunkten setzen die Situationisten die freie Konstruktion aller Ereignisse des Lebens in Form von »Situationen«. In dieser utopischen Perspektive werden die Stadt und die Architektur zur Infrastruktur eines befreiten Alltagslebens. Philosophie und Theorie sollen nicht länger »anwendungslos« bleiben, sondern eine Praxis »experimenteller Formen eines revolutionären Spiels« fundieren. Eine der empfohlenen Strategien, um sich von der Herrschaft des Gewohnten zu befreien, ist das détournement, was so viel heißt wie Umleitung, Umkehrung, auch im Sinne des Stehlens oder Entwendens, des kreativen Plünderns, Aus-demKontext-Reißens und Zweckentfremdens vorhandenen kulturellen Materials. »Alle Elemente, egal woher genommen, können Gegenstand neuer Zusammenhänge werden«, so Debord und Wolman in ihrer »Gebrauchsanweisung für die Zweckentfremdung«. In einigen Texten stellt man sich die urbanistische Umsetzung des ›détournement‹ als die präzise Rekonstruktion eines Teils einer Stadt in einer anderen Stadt vor. Beiläufig erwähnt Khatib in seiner psychogeographischen Beschreibung der Pariser Hallen das Vorhaben, durch eine »spielerische Rückführung« in Privateigentum befindlicher Gebäude in Allgemeinbesitz eine Folge von Situationen zu konstruieren. Eine andere Technik ist das Umherschweifen, la dérive, das Guy Debord definierte als »eiliges Durchqueren abwechslungsreicher Umgebungen«, Alltagspraxis und Datenerfassungmethode zugleich. Viele der Anregungen, die in den psychogeographischen Berichten zu lesen sind, wie bestimmte Räume umfunktioniert,
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zur Inszenierung einer Situation dienstbar gemacht werden können, wurden während einer ›dérive‹ entwickelt. Die vielfältigen Experimente zur Erfahrung der unterschiedlichen atmosphärischen Umgebungsqualitäten und der damit einhergehenden unterschiedlichen Selbsterfahrung lassen Orte als vorläufig und Grenzen als zu überwindende spürbar werden und Räume in immer wieder anderem Licht erscheinen. Architektur hat Teil an der Selbstentfremdung, der zufolge die Menschen zwar ihre Geschichte selber machen, doch dies nicht mit Bewusstsein und als Subjekte tun. Geschichte ist das, wozu Gedanken, Handlungen und Bewegungen zu sinnhaften Sequenzen zusammengebunden werden. Die Situationisten hatten solche verfestigten Sequenzen im Auge, als sie begannen, Strategien zu ihrer Durchbrechung zu ersinnen und mit diesen zu experimentieren. Korrekturen an der Marxschen Kapitalismus-Analyse sollten den Veränderungen des Kapitalismus Rechnung tragen. Für Guy Debord bestand der fundamentale Unterschied zum frühen Kapitalismus darin, dass alles, was einst unmittelbar gelebt wurde, sich in eine Repräsentation entfernte. Die Wirklichkeit und das Leben sind zu Bildern geworden. Diese Bilder haben als Ergebnis den Charakter der Realität angenommen und die Macht des Faktischen gewonnen. Sie sind die Motoren eines hypnotischen Verhaltens. Das Ziel der Revolte müsse sein, sich von der Identifikation mit der Umwelt und den Verhaltens-Codes der kapitalistischen Gesellschaft zu befreien. Es galt, permanente Kritik nicht nur zu üben, sondern zu leben. Man wollte nicht ein Spektakel der Verweigerung schaffen, sondern sich des Spektakels insgesamt verweigern. In Auslegung von Debords Analysen betonte Lefebvre, dass der Raum kein leerer Behälter sei, der seinem Inhalt gegenüber gleichgültig ist, dass er auch nicht mit den in ihm befindlichen Gegenständen gleichsetzen werden darf, sondern dass er selbst Agens und Ausdruck gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse ist. Lefebvre entwickelt analog zu Marx‹ Analyse der Warenproduktion eine Theorie der Produktion von Raum. Raum besitzt für ihn nicht nur den gleichen Status innerhalb der Produktionsweisen wie Kapital oder Arbeit, eine Erforschung von Raum beinhaltet auch eine Ausweitung und Aktualisierung des marxschen Projekts. »Wenn Raum ein Produkt ist, muss von unserem Wissen von Raum erwartet werden, dass es den Prozess der Produktion wiedergibt und erklärt. Der Gegenstand des Interesses muss sich somit von den Dingen im Raum auf die tatsächliche Produktion des Raumes verlagern. Aber schon diese Formulierung erfordert umfassende zusätzliche Erklärungen. Beides, die im Raum vorhandenen partiellen Produkte, also die Waren, und der Diskurs über Raum können fortan nicht mehr leisten, als Hinweise auf und Zeugnisse für diesen produktiven Prozess zu liefern, ein Prozess, der signifizierende Prozesse subsumiert, ohne aber auf sie reduzierbar zu sein. Es kann nicht mehr länger von Bedeutung sein, den Raum hiervon oder den Raum davon zu untersuchen: Vielmehr geht es um Raum in seiner Totalität oder in seinem globalen Aspekt. Raum darf nicht nur einer analytischen Forschung unterworfen werden (denn diese Vorgehensweise neigt dazu, lediglich eine unendliche Reihe von Fragmenten und Querschnitten hervorzubringen, die dem eigentlichen analytischen Projekt untergeordnet sind), sondern er muss auch durch und innerhalb eines theoretischen Verständnisses hervorgebracht werden.« (59)
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Aus der unbegriffenen »Verstädterung« könnte die Stadt als »Produktionsweise des Städtischen« hervorgehen, indem sie sich als solche begreift. Um den Weg hierfür freizumachen, war es zunächst nötig, die fatalen Verkettungen von Denkschemata, Handlungsmustern und Raumstrukturen aufzubrechen und zu unterlaufen. Womit die Situationistische Internationale (SI) sich seit ihrem Gründungsdokument im Kern beschäftigt, das ist der Antagonismus zwischen neu zu entwickelnden Formen des Begehrens und der retardierenden Wirkung einer oppressiven ökonomischen Struktur, die der Nutzung dieser affektiven Ressourcen in manipulativer und ausbeuterischer Weise als allumfassendes »Spektakel« zuvorkommt. Hier, in der als »eine aus der Ästhetik, den Gefühlen und Lebensweisen zusammengesetzte Gesamtheit, die Reaktion einer Epoche auf das alltägliche Leben« verstandenen Arena der Kultur, zog die SI ihre Schlachtlinien. Überall müsse das Unglück zurückgeschlagen werden. Die Revolution lasse sich nicht erschöpfend in der Frage erfassen, welche Produktionsstufe die Schwerindustrie jetzt erreicht hat und wer sie beherrschen wird. »Zusammen mit der Ausbeutung des Menschen müssen die Leidenschaften, die Kompensationen und die Gewohnheiten sterben, die Produkte der Ausbeutung sind. Es müssen neue, in Zusammenhang mit den heutigen Möglichkeiten stehende Begierden definiert werden. Schon heute im heftigsten Gefecht zwischen der gegenwärtigen Gesellschaft und den Kräften, die sie zerstören werden, müssen die ersten Bausteine für eine höhere Umgebungskonstruktion und neue Verhaltensbedingungen gefunden werden […]«. »Es muß jetzt eine organisierte kollektive Arbeit begonnen werden, die eine einheitliche Anwendung aller Mittel zur Umwälzung des alltäglichen Lebens anstrebt. […] Wir müssen neue Stimmungen konstruieren, die zugleich Produkt und Werkzeug neuer Verhaltensweisen sind. Dafür müssen anfangs die heute vorhandenen alltäglichen Verhaltensweisen und die Kulturformen empirisch angewandt werden, indem man ihnen jeden eigenen Wert aberkennt.« (60)
Neue Formen des Begehrens sind wiederum aufs engste an neue Alltagsräume gebunden. Die Architektur solcher »höheren« Umgebungen, die sowohl zu neuen Begierden und Verhaltensweisen hinführen als auch deren Ergebnis sind, muss freilich erst noch erfunden werden. Am Beginn dieses Bauprojekts als Kern der utopischen Vision steht die detaillierte Erforschung der komplexen Lebenspraxis hinsichtlich des Verhältnisses von Raum und Begehren. Das Laboratorium für diese Forschung ist nichts anderes als die gegenwärtige Stadt, soweit sie vom modernistischen Umbau verschont geblieben ist. Es könne keinen besseren Ort für diese Exerzitien geben. Hauptangriffsfläche der Kritik war der architektonische und urbanistische Funktionalismus, demzufolge Inbegriff von Ordnung die Entmischung der Nutzungen nach dem Muster der innerbetrieblichen Organisation darstellte. Die Funktionalisten wollten das, was sich täglich in einer Großstadt vollzieht, rein herausarbeiten, ohne die Schlacken vorindustrieller Sentimentalität, und es so organisieren, dass die Reibungsverluste vermindert würden und die Elemente sich nicht gegenseitig hemmen oder blockieren. Man wollte die Leistung der Stadt als Maschine erhöhen und dachte, mit solcher Lakonie zugleich dem Wohlergehen des Individuums zu dienen und Schönheit in die Welt zurückzubringen. »Der tägliche Zyklus der Aktivitäten« in den Stadträumen sollte sich als »Kette von Operationen«
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vollziehen dürfen, wie das in den modernen Fabriken Nordamerikas zu bewundern war. Die Situationisten wandten sich gegen etwas, das Le Corbusier beispielsweise als eine Art Dr. Frankenstein als notwendige »Desolidarisierung« der Elemente der Stadt und ihrer Neuzusammensetzung nach Maßgabe ihrer funktionalen Bedeutung propagierte. Als »Funktion« war die Aktivität auch des Individuums als Teil eines gesellschaftlichen Ganzen begriffen. Architektur und Gesellschaft waren im Begriff der Funktion als eine Einheit denkbar. Die Funktions-Ideologie trat mit aggressiver Polemik auf. »Die diabolische Tyrannei der Unordnung versäumt keine Möglichkeit zum Handeln; es genügt, daß ihr Gelegenheit geboten wird durch die mißglückte Anordnung von Gebäuden und Zugangswegen, z.B. durch die Unterbrechung zusammenhängender Folgen oder das unangebrachte Vorhandensein von Wegen, Straßen, Plätzen, Alleen etc., die zu nichts anderem dienen, als zum Vorwand zu werden für Spaziergänge, unnützen Verkehr von Produkten und Materialien […]« Beim Blick aus dem Flugzeug werde es einem klar: »Der Mensch ist eine Ameise mit den Gewohnheiten eines präzisen Lebens, einem einheitlichen Verhalten«. (61)
Aber gerade darauf bestanden die Situationisten, auf unnützen Spaziergängen, und sie zogen den heißen Blick auf Augenhöhe mit den Passanten dem kalten aus dem Flugzeug vor. Was sie propagierten, das ließ sich freilich nicht leicht vermitteln. Die Stadt-Maschine und die Taylorisierung des Sich-Bewegens im Raum sind bereits im Spektakel aufgehoben und unsichtbar gemacht, zu etwas geworden, das die Stadtbenutzer verinnerlicht und habitualisiert haben. Sie betreiben damit ihre Selbstaussperrung aus dem, was Stadt der Idee nach sein könnte. Die Frage, wie man die Stadt bewohnen kann, ist gleichbedeutend mit der Frage, wie man es schafft, sich nicht am unmerklich entfremdenden Spektakel zu beteiligen, und die Orte aufzusuchen, wo nichts geschieht, wo die Stadt schweigt. Damit ist der Situationismus auch eine Theorie und Praxis der Peripherie. Die Situationisten nähern sich der Stadt von ihren Rändern her. Vom Rand her gesehen und entworfen ist auch das Konzept der quartiersspezifischen Atmosphären. Debord propagiert das »eilige Durchqueren abwechslungsreicher Umgebungen«. (62) Er forderte dazu auf, eine »Topographie der Leidenschaften und Stimmungen einer Stadt« in »psychogeographischen Karten« festzuhalten. Stets auf der Lauer nach dem unvorhersehbaren Ereignis meinte man, den funktionalen Urbanismus und seine Verhaltenssyndrome mit dem Konzept des Herumstreunens unterlaufen und unschädlich machen zu können. Auf ihren Ausflügen und Wanderungen verwandelten die Situationisten die Stadt in ein aufgeschlagenes Buch, indem sie nachts auf Hausmauern Inschriften anbrachten wie: »niemals arbeiten«. Die Erwerbsarbeit verband sich mit den alltäglichen Weisen, den Raum zu bewohnen und ihn zu durchqueren, zu Gewohnheitssequenzen, die sich zu psychogeographischen Mustern verfestigen. Am besten durchquerte man eine Stadt mit falschem Stadtplan: Man machte es sich beispielsweise zur Aufgabe, sich in Paris mit einem Plan von London zurechtzufinden. Nicht der möglichst reibungslose Verlauf einer Ortsveränderung in einer auf die Funktion der Infrastruktur reduzierten Stadt war das Ziel, sondern sich zu verlaufen, nicht Effektivität, sondern Desorientierung.
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Die Bemühungen der Situationisten, zu einem neuen Verständnis vom sozialen Raum der Stadt zu gelangen, kreisten nicht um einzelne Bautypen, sondern ihnen lag eine holistische Konstruktion von Situationen zugrunde, die sie als »unitären Urbanismus« bezeichneten. »Unser Hauptgedanke ist der einer Konstruktion von Situationen – d.h. der konkreten Konstruktion kurzfristiger Lebensumgebungen und ihrer Umgestaltung in eine höhere Qualität der Leidenschaft. Wir müssen eine geordnete Intervention in die komplizierten Faktoren zweier großer, sich ständig gegenseitig beeinflussender Komponenten durchführen: die materielle Ausstattung des Lebens und Verhaltensweisen, die diese Ausstattung hervorbringt und durch sie erschüttert wird.« (63)
Statt von Bauten sprach man lieber von »Situationsumgebungen«. Der »unitäre Urbanismus« wird nicht als eine Doktrin verstanden, sondern zu allererst als eine umfassende gelebte Urbanismuskritik, der die Stadt »ein Experimentierfeld für den sozialen Raum der zukünftigen Städte« wird. Die Situationisten verwarfen das klassische Modell des individuellen Künstlers und des autonomen Kunstwerks, samt der architektonischen Analogien, und hoben nachdrücklich hervor, die grundlegendste Einheit des »unitären Urbanismus« sei nicht das Haus, sondern »der architektonische Komplex, der aus der Zusammenfassung aller Faktoren besteht, die eine Stimmung oder eine Folge aufeinanderstoßender Stimmungen im Maßstab der konstruierten Situation hervorrufen.« Jedem künftigen Gebäude müsse eine gründliche Untersuchung der Beziehung zwischen Räumen und Empfindungen, zwischen Form und Stimmung vorangehen. (64) Der »unitäre Urbanismus« ist in der Tat nichts weniger als das politisierte, kollektive Gesamtkunstwerk: »Die integrale Kunst, von der so viel gesprochen wurde, konnte nur auf der Ebene des Urbanismus verwirklicht werden. Sie kann allerdings keiner der traditionellen Definitionen der Ästhetik mehr entsprechen.« (65) »Diese neue Vision von Zeit und Raum, die die theoretische Grundlage der zukünftigen Konstruktionen sein wird, ist noch nicht reif und wird es nie ganz sein, bevor die Verhaltensweisen nicht in diesem Zweck vorbehaltenen Städten ausprobiert worden sind. Dort sollten, außer den zu einem Minimum an Komfort und Sicherheit unbedingt notwendigen Einrichtungen, auch Gebäude mit einer großen beschwörenden und beeinflussenden Kraft sowie symbolische Bauwerke, die die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Begierden, Kräfte und Ereignisse darstellen, systematisch versammelt sein. Eine rationale Erweiterung der alten religiösen Systeme, der alten Märchen und besonders der Psychoanalyse auf die Architektur wird mit jedem Tag dringender, in dem Maße, wie die Gründe für die Leidenschaft mehr und mehr verschwinden. Jeder wird sozusagen seine persönliche ›Kathedrale‹ bewohnen. […] Es wird Räume geben, die einen besser träumen lassen als Drogen, und Häuser, in denen man nur lieben kann. Andere werden die Reisenden unüberwindlich anlocken […] Die Viertel dieser Stadt könnten den verschiedenen katalogisierten Gefühlen entsprechen, die man im gewöhnlichen Leben zufällig antrifft. Ein seltsames, ein glückliches – ganz besonders dem Wohnen zugedachtes –, ein edles und tragisches (für die braven Kinder), ein historisches (Museum, Schulen), ein nützliches (Krankenhaus, Lagerräume für Werkzeuge), ein finsteres Viertel usw…« (66)
C. Mitte und Peripherie
Chtcheglov forderte eine neue Architektur, der es möglich ist, die vorherrschenden Zeit- und Raumkonzeptionen zu transformieren, eine Architektur, die sowohl Wissen vermittelt als auch Handlungsmöglichkeiten bietet, eine modifizierbare, formbare Architektur, die sich je nach den Wünschen ihrer Bewohner teilweise und sogar vollständig wandelt: Die Bewohner dieses Reichs werden hauptsächlich, wie Chtcheglov erklärte, mit einem ständigen Umherschweifen (»dérive«) beschäftigt sein, das zu einer schonungslosen, gründlichen und taumelhaften Umweltentfremdung führt. Die Situationisten entsprachen dieser Forderung nach einer eingehenden Untersuchung der Beziehungen zwischen Raum, Zeit und den Leidenschaften in Form einer affektiven Stadtvermessung, die sie als »Psychogeographie« bezeichneten. Wenn Psychogeographie als »die Erforschung der genauen Gesetze und exakten Wirkungen des geographischen Milieus, […] das, bewußt eingerichtet oder nicht, direkt auf das emotionale Verhalten des Individuums einwirkt«, definiert wird, dann ist ihre wichtigste Datenerfassungsmethode die des Umherschweifens – die Identifizierung, Lokalisierung, Abgrenzung von »unités d’ambiance« und ihren Ein- und Ausgängen, ihren Barrieren, die Entdeckung »psychogeographischer Drehscheiben« usw. Eine spielerische und eine konstruktive, analytische Dimension des Denkens und Handelns werden miteinander kombiniert. (67) Debord wollte dem möglichen Eindruck entgegentreten, dass es sich bei den situationistischen Praktiken um einen Kult des Zufalls handle. Er legte in seiner »Theorie des Umherschweifens« großen Nachdruck darauf, dass bei der von der umherschweifenden Person erwarteten rückhaltlosen Hingabe an die »Anregungen des Geländes und [die] ihm entsprechenden Begegnungen […] der Anteil des Zufälligen weniger ausschlaggebend [ist], als man es im allgemeinen glaubt«, da diese Komponente durch gewisse psychogeographische Kenntnisse über die zu durchschweifenden Zonen (die Beschränkungen und Möglichkeiten des Viertels) aufgewogen wird: »Das objektive, leidenschaftliche Gebiet, auf dem sich das Umherschweifen bewegt, muß zugleich entsprechend seinem eigenen Determinismus und seinen Beziehungen zur sozialen Morphologie definiert werden.« (68) Walter Benjamin bezog sich auf dieses Moment der Schulung, wenn er seine »Berliner Kindheit« mit den Worten einleitete: »Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. Da müssen Straßennamen zu dem Fremden so sprechen wie das Knacken trockner Reiser und kleine Straßen im Stadtinnern ihm die Tageszeiten so deutlich wie eine Bergmulde widerspiegeln. Diese Kunst habe ich spät erlernt; sie hat den Traum erfüllt, von dem die ersten Spuren Labyrinthe auf den Löschblättern meiner Hefte waren.« (69) Debord zufolge könne man zwar allein umherschweifen, doch »am fruchtbarsten« seien mehrere Kleingruppen »von je zwei bis drei gleichermaßen bewußten Personen« (höchstens jedoch vier bis fünf), »wobei der Vergleich der Eindrücke dieser verschiedenen Gruppen es ermöglichen sollte, objektive Schlüsse zu ziehen«. Die »durchschnittliche Dauer des Umherschweifens« wird grob als »der Tag als Zeitspanne zwischen zwei Schlafperioden« definiert. Es soll jedoch vorgekommen sein, dass Einzelne länger unterwegs waren und womöglich bis heute nicht zurückgekehrt sind. Mit Ausnahme »andauernden Regenwetters«, das »das Umherschweifen quasi absolut verhindert«, sind klimatische Bedingungen irrelevant. Ebenso vage ist der »Spielraum« des Umherschweifens definiert; er wird
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maximal nur durch die Grenzen der Stadt und ihrer Vororte bestimmt und hängt nicht zuletzt davon ab, ob das Umherschweifen »die Erforschung eines Geländes oder verwirrende emotionale Ergebnisse bezweckt«. Um das »persönliche Gefühl des Sich-Fremd-Fühlens« zu erzeugen, sind Taxis vorzuziehen. Private Autos sind ungeeignet. Man kann den Fahrer eines Taxis etwa anweisen, »zwanzig Minuten nach Westen« zu fahren. Geht es einem vorrangig um die »Erforschung eines psychogeographischen Urbanismus«, bewegt man sich besser ausschließlich zu Fuß fort. Die minimale räumliche Ausdehnung einer psychogeographischen Einheit kann ein Stadtviertel, eine Insel oder, »äußerste Grenze«, auch ein einziger Gebäudekomplex bilden. Debord führt das »statische Umherschweifen« auf der »Gare Lazare« an, wobei der Bahnhof einen ganzen Tag lang nicht verlassen werden darf. (70) Sowohl die Lettristen als auch die Situationisten forderten eine neue, radikale Kartographie und produzierten zahlreiche graphische und textliche Artefakte, die an die Stelle traditioneller Landkarten und Stadtpläne treten sollten, Rundsichtdarstellungen, Luftfotografien und soziologische Diagramme, um affektive Vektoren im Verhältnis zum bebauten Raum ausfindig und darstellbar zu machen. Die neue Vermessungsmethode, die sich strukturell als Dokumentation einer gelebten Erfahrung versteht, ist eine eher subjektiv-narrative als eine objektiv-empirische Methode: »Der plötzliche Stimmungswechsel auf einer Straße in einer Entfernung von nur wenigen Metern; die offensichtliche Aufteilung einer Stadt in einzelne, scharf unterscheidbare psychische Klimazonen; die Richtung des stärksten Gefälles (ohne Bezug auf den Höhenunterschied), dem alle Spaziergänger ohne bestimmtes Ziel folgen müssen; der anziehende oder abstoßende Charakter bestimmter Orte — all dies wird scheinbar nicht beachtet, jedenfalls wird es nie als abhängig von den Ursachen betrachtet, die man durch eine tiefgreifende Analyse aufdecken und sich zunutze machen kann. Zwar wissen die Leute, daß es trübsinnige und angenehme Stadtviertel gibt. Sie bilden sich aber gewöhnlich fast ohne jegliche weitere Unterscheidungen ein, daß die eleganten Straßen ein Gefühl der Zufriedenheit vermitteln, während die ärmlichen deprimierend wirken. In Wirklichkeit aber hat die Vielfalt der Kombinationsmöglichkeiten von Stimmungen — analog zur Auflösung der chemisch reinen Körper in die unendliche Zahl von Gemischen — ebenso differenzierte und komplizierte Gefühle zur Folge wie diejenigen, die jede andere Art von Spektakel auslösen kann. Schon die kleinste entmystifizierte Forschung macht sichtbar, daß zwischen den Einflüssen der verschiedenen Ausstattungen innerhalb einer Stadt eine Unterscheidung, sei sie qualitativ oder quantitativ, nicht von einer Epoche oder einem Baustil aus formuliert werden kann und noch weniger von den Wohnbedingungen aus.« (71)
Zu den bekanntesten visuellen Aufzeichnungen solcher »entmystifizierten« psychogeographischen Erkundungen gehören Guy Debords »Illustration der These der psychogeographischen Drehscheiben« mit dem Titel »The Naked City« (Die nackte Stadt) und sein »Psychogeographischer Führer durch Paris«, beide aus dem Jahr 1957, sowie Ralph Rumneys ebenfalls 1957 entstandener Bericht über eine »dérive« durch Venedig in Form einer Fotocollage. (72) Die psychogeographischen Forschungen »über die Anordnung der Bestandteile des urbanistischen Rahmens und in enger Verbindung mit den von ihnen hervorgerufenen Empfindungen« gingen in deskriptive Textprotokolle ein, die die Peripherien der beobachteten af-
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fektiven Zonen sorgfältig nachzeichnen. In einer 1955 erschienenen Ausgabe von »Les lèvres nues« findet sich zum Beispiel ein Text von Jacques Fillon mit dem Titel »Déscription raisonnée de Paris. Itinéraire pour une nouvelle agence de voyages« (Reiseführer für ein neues Reisebüro), worin verschiedene Streifzüge von der Place Contrescarpe aus nacherzählt sind, einem Arbeiterviertel am linken Seineufer, das später zu einem der wichtigsten Tummelplätze der Gruppe werden sollte. (73) Obwohl sich die Aufzeichnungen des Umherschweifens für gewöhnlich um Nüchternheit bemühten, geben sie dennoch Einblicke in das lyrische Wesen des erforschten Gebiets. Ein Beispiel ist die folgende Passage aus einer weiteren psychogeographischen Studie über den »Kontinent« Contrescarpe, wie das Viertel von den Situationisten liebevoll genannt wurde, deren ganze Bedeutung erst mehr als zwanzig Jahre später, im praktizierten revolutionären Urbanismus des Mai ‘68 zutage treten sollte: »Die Anziehungskraft des Kontinents scheint offenbar in einer bestimmten Tauglichkeit für Spiel und Vergessen zu liegen. Die bloße Konstruktion von drei oder vier angemessenen architektonischen Komplexen an verschiedenen ausgewählten Stellen in Kombination mit der Absperrung zweier oder dreier Straßen durch andere Gebäude würde zweifellos genügen, dieses Viertel zu einem unwiderlegbaren Beispiel für einen neuen Urbanismus zu machen.« (74) Auch andere psychogeographische Berichte gaben praktische Vorschläge für die Transformation oder Umstrukturierung der erkundeten Zonen. In dem spielerisch gehaltenen Text »Rationale Verschönerungen für die Stadt Paris« schlägt die SI zum Beispiel vor, öffentliche Parkanlagen und das U-Bahn-System mit einer nur schwachen Beleuchtung die ganze Nacht hindurch offenzuhalten, um psychogeographische Eigenschaften hervortreten zu lassen, Straßenleuchten mit Schaltern auszustatten, so dass die Passanten damit spielen können, Friedhöfe und Museen zu zerstören (und die Kunstwerke auf Kneipen und Cafés zu verteilen) und »durch eine gewisse Anordnung von Feuertreppen und nötigenfalls die Anlage von Durchgängen die Dächer von Paris Spaziergängern zugänglich zu machen«. (75) Abdelhafid Khatibs »Versuch einer psychogeographischen Beschreibung der Pariser Hallen«, einem weiteren beliebten nächtlichen Treffpunkt, schließt mit einer Polemik gegen den Vorschlag, die Markthallen an den Stadtrand zu verlegen, da »eine auf eine neue Gesellschaft hinzielende Lösung [es gebiete,] diesen Raum im Zentrum von Paris für die Manifestationen eines befreiten kollektiven Lebens zu erhalten.« Sein Vorschlag zur Güte empfiehlt, aus den Hallen »einen Rummelplatz zur spielerischen Erziehung von Arbeitern« zu machen und dazu »die jetzigen Gebäude durch autonome Reihen kleiner situationistischer Baukomplexe zu ersetzen«. (76) Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die erste größere Ausstellung des Werks der Situationistischen Internationale 1989 im 1977 eröffneten, von Richard Rogers und Renzo Piano entworfenen Centre Pompidou veranstaltet wurde, einem im Schatten der unsinnigerweise zerstörten Hallen errichteten Bauwerk, das aufgrund der extremen Flexibilität seiner Räume gemeinhin als Bewahrer des metabolistischen Erbes betrachtet und von manchen als Plagiat des ›Fun Palace‹ von Cedric Prise angesehen wird. Das repräsentativste Beispiel für die »Bauspiele« und beweglichen, situativen urbanen Räume, die Khatib als situationistische Alternativen zum Urbanismus anführt, ist vielleicht der Vorschlag, »stets wechselnde Labyrinthe« anzulegen. Nur zwei Jahre später wäre eine Variante dieses Vorschlags beinahe Realität geworden.
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1960 bekam die SI die Erlaubnis, die Räume 36 und 37 des Amsterdamer Stedelijk Museum in ein gewaltiges Innenraumlabyrinth mit künstlichem Regen, Wind und Nebel, einer Reihe vorweg aufgezeichneter akustischer Kulissen und einem aus Elementen von Pinot-Gallizios »industrieller« Malerei zusammengesetzten Tunnel umzuwandeln. Parallel zu dieser Mikro-Erkundungszone sollte die MakroZone draußen von zwei Teams mit jeweils drei Situationisten erkundet werden, die per Funk untereinander und mit dem »Direktor« der Aktion in Verbindung stehen sollten, dessen Aufgabe es war, die Erkundung der Topographie von Amsterdam zu koordinieren und die Auskünfte der Kundschafter zu katalogisieren. Da genau diese Verbindung zwischen der inneren und der äußeren Dérive-Zone für die Konzeption des Experiments von entscheidender Bedeutung war, wurde das ganze Projekt in letzter Minute abgesagt, als der Museumsdirektor gewisse Einschränkungen verlangte und damit »unakzeptable« Bedingungen stellte. (77) Am Ende und als Resultat der strategischen Experimente sollte veritable Architektur und eine neue Art von Stadt entstehen. Die »Konstruktion einer Situation« – definiert als »Auf bau einer vorübergehenden Mikroumgebung und eines Satzes von Ereignissen für einen einzigen Augenblick im Leben einiger Personen« – sollte »von der Konstruktion einer allgemeinen, relativ beständigen Umgebung im unitären Urbanismus nicht getrennt werden«. Eine »konstruierte Situation« ist, wie in den letzten Thesen der »Amsterdamer Erklärung« von 1958 formuliert wird, somit »ein Mittel, sich dem unitären Urbanismus zu nähern, und dieser bildet die unerlässliche Grundlage für die Entwicklung der Konstruktion von Situationen gleichzeitig als Ausdruck von Spiel und Ernst in einer freieren Gesellschaft.« (78) »Eines Tages werden wir für das Umherschweifen gemachte Städte konstruieren.« (79) Doch wie sollte man sich eine Architektur und eine Stadt vorstellen, die der dérive und dem détournement günstig sind? Wie ließen sich städtische Umgebungen speziell für die Praxis des Umherschweifens bauen? Die Ideen reichen von bescheidenen Vorschlägen für bestimmte Örtlichkeiten wie etwa den »Standort für ein Haus für situationistische Zwecke« auf einem verlassenen Inselstreifen in der Mitte der Seine bis zu grandiosen Visionen ganzer situationistischer Städte, wenngleich auch immer wieder deutlich wurde, dass die Stadt Paris in ihrer überkommenen Gestalt den Raum bot, den die Situationisten schätzten und brauchten. Bei ihren Versuchen, die Lehren der Psychogeographie in ein konkretes Architekturprogramm umzusetzen, verfolgte die SI zwei unterschiedliche Ziele. Das erste, aus dem Versuch der Vermeidung jeglicher urbanen Festlegung entstanden, ist die Vision der sich in ständiger zeitlicher und materieller Transformation befindenden Stadt, eine Art nomadischer Metabolismus, der in gewisser Hinsicht das »Walking City«-Projekt variiert, das 1963 von Ron Herron und Brian Harrey von der Gruppe Archigram präsentiert wurde. Von der weitgehend ungeprüften Annahme ausgehend, eine in ihrer Gesamtheit als ein gewaltiger Strömungs- oder Verlagerungsprozess konzipierte Stadt werde die ideale Umgebung für die ›dérive‹ ergeben, stellte sich die SI eine flexible, einem ständigen aktiven Konstruktionsund Zerfallsprozess unterworfene Metropolis vor: »So könnte man die Ausnutzung der klimatischen Verhältnisse ins Auge fassen, in denen sich schon zwei große Architekturzivilisationen entwickelt haben – in Kambodscha und im Südosten Mexikos –, um bewegliche Städte im Urwald zu bauen. In einer solchen Stadt könnten
C. Mitte und Peripherie die neuen Viertel immer weiter in den nach Bedarf erschlossenen Westen gebaut werden, während man gleichgroße Gebiete im Osten der Verwilderung durch die überwuchernde tropische Pflanzenwelt preisgeben würde, die selbst die Zonen eines stufenweisen Übergangs von der modernen Stadt zur wilden Natur schaffen würde. Diese durch den Wald wandernde Stadt würde außer der unvergleichlichen, sich hinter ihr bildenden Zone zum Umherschweifen und einer Verbindung mit der Natur, kühner als die der Entwürfe Frank Lloyd Wrights, noch den Vorteil einer Inszenierung des Vergehens der Zeit in einem sozialen Raum anbieten, der sich ständig schöpferisch erneuern muss.« (80)
Während die meisten der Chtcheglovschen Visionen ein – wenn auch nachwirkendes – Gedankenexperiment blieben, nahmen andere eine Form an, die man als eine Art »spielerischen Megastrukturalismus« bezeichnen könnte, einer Richtung folgend, die erst einige Jahre später von dem niederländischen Architekten Nicholas Habraken ausformuliert wurde – den Reyner Banham als den »tolerantesten« Theoretiker des Megastrukturalismus bezeichnete. Ihm schwebte eine Megastruktur vor, die mit gewaltigen Trägerstrukturen den Menschen den Rahmen zur Verfügung stellen würde, innerhalb dessen sie ihre eigenen Umgebungen erschaffen könnten. Vorerst wagte man erste Schritte in Richtung neuartiger Mega-Räume mit offenen Infra-Strukturen für extensive, kreative nomadische Lebensformen. (81) Die in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren entwickelten neuen Bautechnologien ließen den Konflikt zwischen solider Gestaltung und Spontaneität, zwischen dem Großen und dem Kleinen, dem Dauerhaften und dem Vergänglichen, Struktur und Fluidität lösbar erscheinen. Begeistert zitiert Debord 1955 die Beschreibung eines neuen Gebäudes in New York, dessen modulare Bauweise – mit Hilfe beweglicher Zwischenwände konnte ein Apartment immer wieder dramatisch umgestaltet werden – ihm als erstes Anzeichen einer kommenden Verbreitung der Innenraum-dérive anmutete. Debord schrieb in einem ironischen Rückblick von 1974, anfangs habe man nur eine der unbegrenzten Entfaltung neuer Leidenschaften angemessene Umgebung im Sinn gehabt. »Doch das zu realisieren, war natürlich nicht einfach, und so sahen wir uns gezwungen, sehr viel mehr zu machen. Und während des ganzen Verlaufs der Ereignisse mußten verschiedene Teilprojekte aufgegeben werden, und reichlich viele unserer ausgezeichneten Kapazitäten kamen nicht zum Einsatz, was freilich – in weit größerem und weit traurigerem Maße – für Hunderte von Millionen unserer Zeitgenossen gilt.« (82) Eine der ersten Aufgaben des Kollektivs war die Überprüfung und Neudefinition des Begriffs ›Architekt‹, der »nicht mehr nur der Erbauer von Formen sein wird, sondern vielmehr der Erbauer vollständiger Stimmungen. […] Alle Architektur wird somit an einer ausgedehnteren und allumfassenderen Aktivität teilhaben, und letzten Endes wird die Architektur wie die anderen zeitgenössischen Künste zugunsten dieser unitären Aktivität verschwinden.« (83) Auch wenn die Situationisten einfach keine Zeit hatten zu bauen, weil sie sich die Veränderung der Welt und nicht nur bloß der Stadtlandschaft vorgenommen hatten, so gab es doch einen frühen, wenn auch »offiziell« schnell wieder aufgegebenen Versuch, die technischen, strukturellen und sozio-politischen Konturen einer künftigen situationistischen Stadtumgebung auszuarbeiten: das Projekt »New Babylon« des Niederländers Constant Nieuwenhuys. Als ersten Schritt auf dem Wege, an dessen Ende die Realisierung des Programms des unitären Urba-
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nismus stehen sollte, gründete Constant gemeinsam mit den Architekten Alberts, Armando und Har Oudejans 1959 in Amsterdam das »Bureau d’Urbanisme Unitaire«. Das Kollektiv arbeitete daran, das Umherschweifen und die Psychogeographie in ein Forschungsprogramm umzusetzen, mit dem erklärten Ziel, zu realisierbaren Bauten zu gelangen. (84) In einem programmatischen, illustrierten Aufsatz mit dem Titel »Eine andere Stadt für ein anderes Leben« stellt Constant sein Projekt für ein »Neues Babylon« in den Kontext einer Krise des urbanen Raums. (85) In den großen Wohnungsbauprojekten sieht er »Friedhöfe aus Stahlbeton«, die Straßen sind zu Autobahnen ausgeartet, die Freizeit ist »durch den Touristenverkehr kommerzialisiert und entstellt«, soziale Beziehungen sind fast unmöglich geworden, und vor allem gibt es praktisch keine spielerische Aktivität mehr. »Was Not tut, ist eine Architektur, die auf die neuen, durch die zunehmende Befreiung des Menschen von der Arbeit durch die moderne Technologie erreichten Lebensbedingungen reagiert: der neue homo ludens wird nicht mehr an eine Arbeitsstätte gebunden sein, sondern frei umherschweifen und seine Umgebung in einem unablässig gelebten künstlerischen Spiel hervorbringen und umgestalten können.« (86) Eine postindustrielle Kultur müsse den Weg zum Nomadismus weisen, den Weg, den Constant bereits 1956 in seinem Modell für ein permanentes, veränderliches Zigeunerlager im piemontesischen Alba eingeschlagen hatte. Constant verwahrt sich gegen die grüne Stadt mit gewaltigen, durch Grünflächen voneinander getrennten Zeilenbauten und isolierten Wolkenkratzern, die sozialen Begegnungen entgegenstehen, und beharrt stattdessen auf der äußersten Dichte einer »überdachten Stadt«. Das Layout von Straßen und Gebäuden ist einer kontinuierlichen, vom Boden losgelösten Raumkonstruktion gewichen, die sowohl Gruppen von Wohnungen als auch öffentliche Räume umfasst auf eine Weise, die »Bestimmungsänderungen je nach den Bedürfnissen des Augenblicks erlaubt.« (87) Koolhaas wird in seinem Plädoyer für die Congestion City mit Referenz auf die Walled City von Hongkong Kow-Loon, auch diese Idee hochgradiger Verdichtung wieder aufgreifen. Constants High-Tech-Megastruktur war als ein Netzwerk miteinander verbundener »Sektoren« konzipiert, das theoretisch die ganze Erdoberfläche bedecken konnte. Jeder einzelne dieser Sektoren, von denen einer, die »gelbe Zone«, im Juni 1960 in der vierten Ausgabe des SI-Journals vorgestellt wurde, stellt ein gigantisches Raumtragwerk dar, dessen diagonale Streben und Zugelemente Banham zufolge den bahnbrechenden Konstruktionsinnovationen des vom französischen Ingenieur René Sarger erbauten französischen Pavillons auf der Brüsseler Weltausstellung von 1958 verpflichtet sind. (88) New Babylon ist konzipiert als »eine kontinuierliche Tragpfeilerkonstruktion oder als ein ausgedehntes System verschiedenartiger Konstruktionen […], in denen Wohnungs- und Vergnügungsräume usw. wie auch solche für Produktion und Distribution eingehängt werden; der Boden bleibt frei für Verkehr und öffentliche Versammlungen«. Diese Struktur sollte mit Hilfe neuester »extrem leichter und isolierender Baumaterialien« zu einer ausgedehnten Stadt aus mehreren Schichten werden, bei der »die Baufläche 100 % und die freie Fläche 200 % (Parterre und Terrassen) ausmachen – im Unterschied zu dem üblichen Verhältnis 80 % : 20 % in den herkömmlichen Städten«. (89)
C. Mitte und Peripherie
Die über Treppen und Fahrstühle erreichbaren Freiluftterrassen sollten die ganze Stadt überspannen und als »Sportanlagen und Landeplätze für Flugzeuge und Hubschrauber sowie als Parkanlagen« verwendet werden. Die energetische Steuerung der einzelnen, in aneinandergrenzende und miteinander in Verbindung stehende Räume unterteilten Stockwerke würde »eine unbegrenzte Variation der Umgebungen« ermöglichen und damit, so Constant, das Umherschweifen fördern. Regelmäßig sollten »die Umgebungen mit Hilfe aller verfügbaren technischen Mittel durch Gruppen von schöpferischen Spezialisten – also Berufssituationisten – modifiziert« werden. Der gesamte »Verkehr im funktionellen Sinne« sollte auf eine unterirdische oder eine erhöhte Ebene verbannt werden zugunsten einer großen Zahl verschiedenster frei durchquerbarer Räume. »Die Eliminierung des Funktionalen, die Variabilität des Raums für spielerische Aktionen aller Art, die Verfügbarkeit von professionellen Bautechnikern für die Realisierung räumlicher Umgestaltungen – dies alles und vor allem das Ziel der Maximierung des Vergnügens, dem das New-Babylon-Projekt ganz ausdrücklich verpflichtet war, erinnert in hohem Maße an den ›Fun Palace‹, der 1964 von Cedric Price für Joan Littlewood ausgearbeitet wurde.« (90) Im ›Fun Palace‹ sollten nicht nur die internen Trennwände, sondern auch die Dach- und Fußbodenelemente beweglich sein, und die Lebensdauer der Tragkonstruktion insgesamt war ausdrücklich auf maximal zehn Jahre begrenzt. Anders als die japanischen Metabolisten, die ihre Strukturen mit einer Mindestlebensdauer einer Generation konzipierten, hatte Constant wie Price für die Mikrostrukturen innerhalb seiner Mega-Trägerstrukturen Vergänglichkeit vorgesehen. Gedacht war an ein Zeitmaß von etwa einem Tag oder der Dauer eines Spiels. Der ›Fun Palace‹ wurde zwar nicht realisiert, doch die Entwicklung des Projekts war in allen Details bereits so weit fortgeschritten, dass in technischer Hinsicht einer Realisierung nichts mehr im Wege stand. Dieser Umstand schien Constants Überzeugung zu bestätigen, dass eine ähnliche situationistische Megastruktur nicht nur philosophisch dringend erwünscht, sondern unter entsprechenden politischen Bedingungen tatsächlich realisierbar war. Man darf das Centre Pompidou wohl als die Form ansehen, in welcher der Fun Palace schließlich gesellschaftlich und politisch möglich war. Während sich der SI mehrheitlich in den folgenden Jahren zugunsten einer rigorosen Analyse und Kritik der realen Widersprüche des zeitgenössischen Urbanismus entschlossen von der »Schimäre« einer situationistischen Architektur abwandte, beharrte Constant, der im Sommer 1960 aus der SI austrat, nachdem seine Mitarbeiter schon einige Monate zuvor ausgeschlossen worden waren, auf der Realisierbarkeit und setzte auf die Fortführung seines Forschungsprojekts in Brüssel. Das Direktorium allerdings befand, man sei noch nicht so weit, ans Bauen denken zu können. Zunächst gehe es darum, die Funktion, die Struktur und die Auswirkungen der zeitgenössischen Stadtplanung zu analysieren. Unter der Überschrift »Nichtsein des Urbanismus und Nichtsein des Spektakels« ist sinngemäß zu lesen: Der Urbanismus existiert nicht: Er ist nur eine ›Ideologie‹ im Sinne von Karl Marx. Die Architektur existiert wirklich, wie Coca-Cola: Sie ist ein in Ideologie gekleidetes, aber wirkliches Produkt, das auf falsche Weise ein verfälschtes Bedürfnis befriedigt. Der Urbanismus kann dagegen mit einer Reklameauslage für CocaCola verglichen werden: reine spektakuläre Ideologie, oder, wie Raoul Vaneigem es an anderer Stelle formuliert: »Wohnen ist das ›Trink Coca-Cola!‹ des Urbanis-
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mus – die Notwendigkeit des Trinkens wird durch die, Coca-Cola zu trinken, ersetzt.« (91) »In den neuen Städten konstruiert diese Gesellschaft das Terrain, das sie exakt repräsentiert, das die Bedingungen zusammenbringt, die ihrem richtigen Funktionieren am zuträglichsten sind und die gleichzeitig ihr Grundprinzip der Entfremdung und der Gewalt in den Raum, in die klare Sprache der Organisation des täglichen Lebens überträgt. Genau in diesem Raum werden sich deshalb die neuesten Aspekte ihrer Krise mit der größten Klarheit manifestieren.« (92) Man verweist auf Brasilia als perfektes Beispiel für die funktionelle Architektur als Materialisierung einer bürokratischen Weltanschauung in ihren verbrecherischen Wirkungen. Was die Situationisten dem Urbanismus vorwerfen, ist sein, wie sie es nennen, »erpresserisches Geschwätz von der Nützlichkeit«: So wie das Fernsehen sich legitimiert, indem es auf das Informations- und Unterhaltungsbedürfnis pocht, so schließt der kapitalistische Urbanismus Kritik aus, indem er das Schutzbedürfnis im Munde führt. Sowohl die Information/Unterhaltung als auch die Wohneinrichtungen werden jedoch nicht für, sondern gegen die Menschen gemacht: »Die ganze Städteplanung ist nur ein Betätigungsfeld für die Werbung und Propaganda einer Gesellschaft, d.h. die Organisation der Teilnahme an einer Sache, an der man unmöglich teilnehmen kann.« Der Verkehr ist »die Organisation der Isolation aller und insofern das Hauptproblem der modernen Städte«. Die Mobilität des Privatautos absorbiert die Energien, die zuvor für Begegnungen zur Verfügung standen, »denn in Wirklichkeit wohnt man nicht in einem Stadtviertel, sondern in der Macht. Man wohnt in der Hierarchie«. (93) Die Kritik des Urbanismus wird dabei als eine Vorbereitung auf die urbane Rebellion begriffen. Psychogeographie ist zu verstehen als eine Erkundungsstrategie der Gegen-Hegemonie, eine kartographische Erfassung von Angriffspositionen und -möglichkeiten, ähnlich dem Brettspiel, das Debord als eine Übung in Strategie und Dialektik entwickelte. (94) Das in der psychogeographischen Studie »Continent Contrescarpe« erkundete Terrain am linken Seineufer wird im Mai ‘68 besetzt. Im Licht dieser Tatsache liest sich die bereits erwähnte Passage aus der psychogeographischen Studie des »Kontinents« rückblickend wie ein Leitfaden für die Errichtung von Barrikaden: »Die bloße Konstruktion von drei oder vier angemessenen architektonischen Komplexen an verschiedenen ausgewählten Stellen in Kombination mit der Absperrung zweier oder dreier Straßen durch andere Gebäude würde zweifellos genügen, dieses Viertel zu einem unwiderlegbaren Beispiel für einen neuen Urbanismus zu machen.« (95) Die Aufstände vom Mai ‘68 feierte man als eine kollektive, spontane, spielerische »Zweckentfremdung« von Räumen und eine zumindest zeitweise Befreiung der Begierden von der Ökonomie des Spektakels, wenn nicht gar als das paradigmatische Beispiel für die »konstruierte Situation«, wie sie in der allerersten Ausgabe der Zeitschrift der SI definiert wurde: »durch die kollektive Organisation einer einheitlichen Umgebung und des Spiels von Ereignissen als konkret und mit voller Absicht konstruiertes Momentum des Lebens«. (96) Wie anders sollte man die Fotografien von Straßenschlachten und Barrikaden deuten, die in den späteren Ausgaben des SI-Journals immer wieder auftauchen, vor allem die mit dem Titel »das entpflasterte Paris«, die eine Straße zeigen, deren Pflastersteine herausgerissen sind, die »zweckentfremdet« wurde, um den berühmten »Strand« darunter offenzulegen, denn als Illustration einer situationistischen Widerstandsarchitektur? (97) Der sowjetische Film über die Pariser
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Kommune, der wie Constants Projekt den Titel »Das neue Babylon« trägt, wurde 1929 zwischen den Barrikaden auf der Straße vor einem Kaufhaus gedreht, das den Namen »Novyi Vavilon« trägt. (98) Zur Selbstverortung bezog man sich auch auf Fourier: »Die Topographie der Fourierschen Phalanstères zeichnet einen ursprünglichen Ort, der im großen und ganzen dem der Paläste, Klöster, Landsitze und Wohnkomplexe entspricht, an dem die Organisation des Gebäudes und die Organisation der Baufläche eins sind, so daß […] Architektur und Urbanismus einander auf heben zugunsten einer allgemeinen Wissenschaft vom menschlichen Ort, dessen erstes Kennzeichen nicht mehr Schutz ist, sondern Zirkulation: Der Phalanstère ist ein abgeschlossener Ort, in dessen Innern man zirkuliert«, und er ist ein Raum, in dem Objekte und Bedürfnisse zirkulieren, um sich zu finden. (99) Jedes Verlangen findet ein SubjektObjekt. Es geht nicht darum, die Partner zu vermehren, sondern die Verletzung durch Verweigerung abzuschaffen. Freiheit ist niemals Gegenteil der Ordnung, sie ist die Ordnung. Fourier fordert eine integrale Befreiung der Marotten, Manien, Vorlieben, Idiosynkrasien. Es gibt keinen Normalismus.
C 8. Nicht zufällig schlägt Rem Koolhaas immer wieder den gedanklichen Bogen zurück zu Constant. Bereits am Anfang seiner professionellen Lauf bahn als Architekt steht sein Interesse für die Situationisten. Für die »Haagse Post« befragte er Constant zu seiner Großraum-Installation »New Babylon«, die ihn über die Landesgrenzen hinaus bekannt gemacht hatte. Man wusste vor allem in Holland von seiner auf Stelzen stehenden, geschichtete Stadtlandschaft, die den mobilen Bürger emanzipieren und gewandelten Lebensbedürfnissen gerecht werden sollte. Koolhaas bekannte, »New Babylon«, das Experiment aus dem Labor der Situationistischen Internationale, habe ihn in seiner späteren Architektenlauf bahn stark beeinflusst, da Constants Werk der Architektur neue Dimensionen eröffnet habe, neue Dimensionen weniger technischer als soziologischer Natur. (100) Constant ist denn auch maßgeblicher Stichwortgeber für die jungen japanischen Architekten, die sich als Revolutionäre sahen und sich folgerichtig – nach dem griechischen ›metabolé‹ für Veränderung – Metabolisten nannten und Technologie-Euphorie mit sozialtechnologischem Engagement im Medium architektonischer Fantasie verbanden. Die Metabolisten glaubten noch an die totale Machbarkeit der Welt. Ihre sozial-technologischen Vorstellungen publizierten sie erstmals in dem Manifest »Metabolism 1960«. Im selben Jahr stellten sie ihre Ideen auf der World Design Conference in Tokio zur Diskussion. Die jungen Avantgardisten verlangten für das dicht bebaute und erdbebengefährdete Japan ganz neue städtebauliche Lösungen. Kiyonori Kikutabe wollte die »Desaster Prevention City« auf sechs Meter hohen Pfeilern errichten, um die Bewohner des meeresnahen Kyoto ein vor möglichen Naturkatastrophen geschütztes Habitat zu bieten. Im Katalog zu seiner Ausstellung mit dem Titel »Project Japan« schrieb Koolhaas, trotz vieler Rückschläge seien die Metabolisten damals noch von grenzenlosem und unerschütterlichem Fortschrittsglauben beseelt gewesen, der den heutigen Planern und Architekten abhandengekommen sei.
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Architektur und Geistesgeschichte »Architekten und Beamte arbeiteten zusammen, um gemeinsam think tanks, Forschungsprojekte, Baumaßnahmen und visionäre Vorstellungen zu entwickeln. Regierungsvertreter Shimokobe und die Metabolisten waren von der Mission beseelt, ein dezentralisiertes Japan zu schaffen, ebenso ein Tokio, das sich von seinen Begrenzungen befreit. […] Nach der Expo 1970, nach der Ölkrise 1973, nach den Deregulierungen der neoliberalen Wirtschaftspolitik in den achtziger Jahren waren der Kooperationsgeist und der grenzenlose Ehrgeiz allmählich verflogen. […] Im ›Project Japan‹ sammelte sich die Nachkriegseuphorie, die sich daran machte, eine gesamte Nation neu zu gestalten. Dieses Projekt ist vorbei, seitdem der freie Markt entstand.« (101)
Ihren Optimismus bezüglich der Gestaltbarkeit der Welt haben wir verloren. Stattdessen seien wir »umgeben von Pessimismus«. Der Pessimismus gedeihe auf den maroden Grundlagen von Investorenarchitektur und marktkonformem Urbanismus. Die Abhängigkeit von finanzkräftigen Developern sei der Sargnagel für jede avantgardistische Architektur. Im Klima dieser politischen Nostalgie rücken die in der kommunistischen Ära entstandenen brutalistischen Großbauten Osteuropas und Lateinamerika wieder in den Fokus, als Räume für kollektives Leben. Wenn Rem Koolhaas sich von dem Marktmodell westlicher Architektur verabschiedete, darin ein Symptom für das Enden der westlichen Vorherrschaft erkennend, und nunmehr nach China blickte und im asiatischen Osten die Morgendämmerung einer sich verjüngenden Architektur ausgemacht haben wollte, dann begab er sich, wie Michael Mönninger raunte, möglicherweise zugleich in ein Fahrwasser, das schon jene Architekten ansog, die in den 30er Jahren in den gesellschaftsgestaltenden Ambitionen faschistischer Diktaturen einen guten Nährboden für architektonische Produktivität erblickten, wobei man sich freilich ebenso hüten soll, Koolhaas eine Affinität zu Diktaturen zu unterstellen, wie man sich hüten muss, die Entwürfe eines Le Corbusier für das von Mussolini auch kulturpolitisch regierte Italien voreilig in Bausch und Bogen als ideologisch verwerflich zu diskriminieren. (102) Mit dem Wiederentdecken des Raumes und dem Anmahnen der politischen Relevanz von Architektur bewegt man sich naturgemäß in einem ideologischen Spannungsfeld. Wenn gegenwärtig die Wirtschaft nicht nur in den europäischen Ländern lahmt, dann geht einerseits die private Investitionsbereitschaft zurück, andererseits könnte im Rahmen einer Konjunktur Keynseianischer wirtschaftspolitischer Modelle der Staat als Auftraggeber infrastruktureller und kultureller Projekte zurückkehren. Auch gelangt das Kulturelle wieder in den Blick: als etwas, das zwar mit Ökonomie verknüpft ist, aber nicht planbar und von Personen getragen ist, die nicht über große Vermögen verfügen müssen, wie man am Boom Berlins sehen kann, dessen Image von Habenichtsen vorbereitet worden ist, wie das bei Gentrifizierungsprozessen stets der Fall ist. Erst kommen die Künstler, dann die Spekulanten.
C. Mitte und Peripherie
C 9. Die Kellerkneipe wurde für die Jugendlichen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur zum beliebtesten Aufenthaltsort, sondern zum Fixpunkt der Identität, zum Symbol eines Lebensstils. Die Mode war, wie es sich für Moden gehört, von Paris ausgegangen. Man nannte das junge Volk dort »Existenzialisten«. Diesen Namen trugen zunächst nur Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Albert Camus. Sie erkoren bestimmte Straßencafés und Bars zu ihren Treffpunkten. Wenn sich das zu weit herumgesprochen hatte, zogen sie weiter. Die Tageszeitungen kommentierten das Leben in den Cafés und Nachtclubs der literarischen ›Rive Gauche‹ und bezeichneten bald alle, die dort herumhingen, als Existenzialisten. Dies gehörte zu dem enormen Erfolg, den die drei am allerwenigsten erwartet hatten. Die Beauvoir hatte dafür freilich eine Erklärung: »Nachdem Frankreich eine zweitrangige Staatsmacht geworden war, rechtfertigte es sich selbst durch die exportorientierte Glorifizierung seiner eigenen Produkte: Mode und Literatur.« (103) Sartre dagegen bot eine Interpretation, die auch die Kleinbürger einbezog: Der Existenzialismus half dem Franzosen trotz der Niederlage, an seinem Anspruch, Geschichte und Moral zu versöhnen, festzuhalten, »sich dem Entsetzlichen und Absurden zu stellen und dennoch menschliche Würde zu bewahren«. Für das sonderbare Verhalten der Jugend hatte er eine andere Erklärung: »Sie wollten leben, da sie fünf Jahre lang geglaubt hatten, sterben zu müssen. Als Jugendliche waren sie von der Niederlage betäubt worden: Sie waren niedergeschlagen, daß sie niemanden mehr respektieren konnten, weder ihre Väter noch die beste Armee der Welt, die sich getrollt hatte, ohne zu kämpfen. Die Besten hatten sich der Partei ergeben, die ihnen alles wiedergegeben hatte: eine Familie, eine Ordensregel, einen friedlichen Chauvinismus und ein Ansehen. Kurz nach dem Krieg geriet die Jugend außer sich vor Stolz und Demut; sie fand ihr Vergnügen in einem leidenschaftlichen Gehorsam […] Sie kniff die Zukunft, bis sie blutete, um sie zum Singen zu bringen […] Andere Jugendliche befreiten sich in Tanzkellern sacht von dem Druck, der auf ihnen lastete: sie tanzten, sie liebten, sie besuchten einander, und bei umschichtigen Potlatch-Orgien warfen sie Möbel ihrer Eltern aus den Fenstern […] Natürlich waren sie ohne Hoffnung. Die Hoffnungslosigkeit war Mode. Sie bezog sich auf alles außer auf das harte Vergnügen, ohne Hoffnung zu sein.« (104)
Genauso ungezwungen, wie die Teenager in die Unterwelt der Kellerkneipen hinabstiegen und wieder emporkamen, geht Jean Marais als Orpheus durch Spiegel hindurch ins Jenseits und kehrt er aus diesem, in das ihn der Tod bereits befördert hatte, wieder zurück. Jean Cocteau verhalf dem uralten Dichter-Mythos zu neuer Wahrheit zu einer Zeit, da man die Essenz des Lebens in einem mit Zigarettenqualm geschwängerten und von Bebop-Klängen erfüllten Souterrain zu finden glaubte. Cocteaus »Orphée« hat nicht die Liebesgeschichte zwischen Orpheus und Euridike zum Gegenstand, sondern die zwischen Orpheus und dem hier weiblichen Tod, Verkörperung des geheimnisvollen und verführerischen, verlockenden Jenseits. Der Dichter muss mehrere Tode sterben, um leben zu können, und der Tod vernichtet sich selbst, um aus Liebe zu Orpheus diesem Unsterblichkeit zu verleihen. Den Satelliten des Jenseits, Orpheus ganz persönlichen Tod, verkörperte Maria Casarès. Die Jenseits-Sequenzen des Films wurden auf dem Gelände einer
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ehemaligen französischen Militärakademie in St. Cyr nahe Versailles gedreht, die deutsche Bomben zerstört hatten. Dieses vom Krieg geschaffene Niemandsland zwischen Leben und Tod wurde »die Zone«, die für die Lebenden hinter den Spiegeln lag. Der Tod wurde im Rolls-Royce chauffiert. Die Eskorte bestand aus zwei Motorradfahrern mit Sturzhelm, dunklen Brillen, Stulpenhandschuhen und schwarzen Lederjacken, das Röhren ihrer Motoren war modern und furchterregend. Sie waren die Herolde des unerbittlich herannahenden Todes. Die Schwärme von Teenage-Existenzialisten, Proto-Beatniks, die 1949 die Cafés und Keller von St. Germain-des-Prés bevölkerten, machten nach der Aufführung dieses Films Cocteau zu einem der ihren. Dazu trug bei, dass Juliette Greco, auf der Höhe ihres Ruhmes als Sängerin, Idol und Muse von St. Germain-des-Prés, im Abspann genannt wurde, mit einigen anderen aus der Bande, als die Anführerin von Orpheus Feinden. Fjodor Dostojewskij präsentiert »Aufzeichnungen aus dem Kellerloch«, aus einer Unterwelt, die man nicht aufsucht, um dort das Leben oder die Unsterblichkeit zu finden, sondern die man, um zu leben, mit aller Macht verlassen möchte, die aber wie die Unterwelt Cocteaus genuin literarischer Natur ist und den Ort markiert, an dem sich der Schriftsteller dank seiner Tätigkeit selber sieht. Was uns diese Welt aufschließt, ist die genaue und unbestechlich kühle Beschreibung psychischer Vorgänge, dieser abenteuerlichen Mischung aus Seele und Vernunft, Gefühlen und Gedanken. Was den Autor zu dieser kalten Präzision befähigt, ist eine außerordentliche Beobachtungsgabe, verquickt mit Selbstbeobachtung, in einer Art schonungslosen Selbstmitleids. Als Leser können wir dieses Untergeschoß der Literatur, an dem zahllose Schriftsteller mitgebaut haben, betreten und wieder verlassen, ganz nach Belieben. Für den Protagonisten jedoch besitzt es die Eigenschaft, ihn gefangen zu nehmen, ihn einzuschließen, zu isolieren, gewissermaßen bei lebendigem Leibe zu begraben. Bevölkert wird dieses Souterrain von Verlorenen, Randfiguren, die dem Typus entsprechen, den Nietzsche mit Blick auf Dostojewskij unter dem Titel »Der Verbrecher und was ihm verwandt ist« beschrieb: »Naturen, denen, aus irgendeinem Grunde, die öffentliche Zustimmung fehlt, die wissen, dass sie nicht als wohltätig, als nützlich empfunden werden […], sondern ausgestoßen, unwürdig, verunreinigend. Alle solche Naturen haben die Farbe des Unterirdischen auf Gedanken und Handlungen; an ihnen wird jegliches bleicher als an solchen, auf deren Dasein das Tageslicht ruht.« (105) Der Held der »Aufzeichnungen« ist ein mittlerer Beamter, ein Kollegienassessor, der freiwillig seinen Abschied genommen hat, um über sich selbst und den Sinn des Lebens zu reflektieren. Er hasst und verachtet seine Kollegen und fürchtet sie doch zugleich und erhebt sie über sich. Seine krankhafte Angst, lächerlich zu sein, lässt ihn sklavisch jegliche Routine in allen Äußerlichkeiten vergöttern. Er selbst quält sich mit grenzenlosen Ansprüchen an sich selbst, während alle anderen ihm stumpfsinnig vorkommen und einander zu gleichen scheinen wie die Hammel einer Herde. Er fühlt sich »wie jeder anständige Mensch unserer Zeit« als Sklave und Feigling. »Ich bin Einer, und sie sind Alle, dachte ich und – begann zu grübeln.« »Ich trieb mein Unwesen verstohlen, nachts, heimlich, ängstlich, schmutzig, mit einer Scham, die mich selbst in den ekelhaftesten Minuten nicht verließ, ja sogar gerade in sol-
C. Mitte und Peripherie chen Minuten zu einem Fluch wurde. Schon damals trug ich das Kellerloch in meiner Seele. Ich fürchtete mich bis zum Entsetzen, dass man mich vielleicht irgendwie sehen, mir begegnen, mich erkennen könnte. Ich suchte die dunkelsten Gegenden auf.«
In der »Grabesluft« seiner Zurückgezogenheit keimt jedoch das Bedürfnis, wahrgenommen zu werden, und als er eines Nachts sieht, wie jemand nach einer Prügelei durch das Fenster einer Kneipe hinausbefördert wird, verspürt er den dringenden Wunsch, das möge ihm selbst auch zustoßen. Als er sich in derselben Kneipe einem Offizier in den Weg stellt, wird er von diesem jedoch einfach nur vollständig übersehen. Von ihm beachtet zu werden, und sei es in der Form, Prügel zu beziehen, wird zur fixen Idee. Dostojewskij beschreibt denselben neuen Menschen, von dem Tschernyschewskij in seinem Buch »Was tun?« voller Zuversicht fabuliert, und kommt durch genaues Hinsehen zu einem ganz anderen Ergebnis. Jener ging davon aus, dass die sozialen Vorgänge wissenschaftlich errechenbar, die Menschen ohne Einschränkung umerziehbar seien, die Selbstbestimmung eines jeden notwendig zum Gemeinwohl führen müsse. Sein strahlender Held hatte die stolze Devise, niemals vor jemandem zurückzuweichen. Für Dostojewskij sind die Probleme mit der Selbstbestimmung nicht gelöst, sondern mit ihr fangen sie erst an. Die für moralisches Handeln unabdingbare Voraussetzung sittlicher Autonomie des Individuums schließt die Tragik des Irrtums und des Scheiterns, die Unberechenbarkeit, die Potenz zur Vernichtung des anderen wie zur Selbstzerstörung und die Möglichkeit des Untergangs ein. Je entwickelter das Selbstbewusstsein und damit die Erkenntnis vom Guten und Bösen, desto stärker die Scham über die Verfehlung des Ziels, die Reue, das Bedürfnis nach Strafe, das Bedürfnis des Menschen im Kellerloch, »sich zu zerfleischen, zu foltern«, so lange, »bis die Verbitterung sich schließlich in irgendeine schmähliche, verfluchte Süße verwandelte«. Dostojewskijs Antiheld verbringt Monate damit, sich eine Situation auszumalen, in der er beim Promenieren auf der Sonnenseite des Newskij-Prospekts nicht wie üblich sich verbittert und erniedrigt zwischen den Fußgängern hindurchschlängeln, sondern dieses eine Mal nicht ausweichen würde: »Wie aber, dachte ich, wie wäre es, wenn ich ihm begegnete und […] nicht auswiche? Absichtlich nicht auswiche, und wenn ich ihn auch anstoßen sollte; wie wäre das? Dieser kühne Gedanke bemächtigte sich meiner derart, daß ich überhaupt keine Ruhe mehr finden konnte. Ich träumte ununterbrochen davon.« Es wird zur Lebensaufgabe, das Leben und die Gewohnheiten jenes Generals zu erforschen, sich respektable Kleider zu beschaffen, sich dafür einen Vorschuss zu erbetteln und Geld zu leihen. Eines Tages, nachdem er das Vorhaben fast schon wieder aufgegeben hatte, kommt endlich die Gelegenheit, und im letzten Moment wieder Mut fassend, lässt er sich anrempeln: »Wir stießen gehörig Schulter an Schulter! Keinen Zentimeter war ich ausgewichen und ging, mit ihm auf gleichem Fuß stehend, an ihm vorbei! Er blickte sich nicht einmal um und tat, als ob er überhaupt nichts bemerkt hätte: aber er tat nur so, davon bin ich überzeugt.« Der Boulevard ist der Schauplatz täglicher Erniedrigungen, und der Ausgangspunkt des Rückzugs in den Winkel, wo man sich alles schon vorher ausmalen und zurechtlegen kann, wie in einem Buch, aber zugleich auch der Ort, an dem der Kleine Mann sein Recht auf die Stadt geltend machen kann. Dort liegt die Möglich-
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keit, den Teufelskreis der Self-fulfilling-Prophecy, der handlungshemmenden Reflexion so durchbrechen. Die Revolution ändert nichts an der Notwendigkeit, dieses Recht zu ertrotzen, von einem ordentlichen Zusammenstoß zu phantasieren. Dostojewskijs Ein-Mann-Straßen-Demonstration, der groteske Show-down auf dem Newskij-Prospekt wird zur Urszene der russischen Literatur, die immer wieder abgewandelt wird. In Ossip Mandelstams Erzählung »Die ägyptische Briefmarke« heißt der Kleine Mann der Zeit nach der Revolution, der neue moderne Mensch, Parnok, ebenfalls in Petersburg zu Hause. Er hat es nicht mehr nur mit einem General zu tun, sondern mit einer ganzen Menschenmenge. In Andrej Bielys »Petersburg« hat sich die Welt aus Dingen und allen anderen Menschen zu einem Mechanismus verdichtet und verselbständigt, der »falsch zu ticken« begonnen hat. Die anderen nehmen dieses bedrohliche Ticken nicht wahr. Sie wissen auch nichts davon, dass Petersburg die »vierte Dimension [ist,] die auf keinem Stadtplan und auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Ein Mann aus der Provinz, den man nicht informiert hat, sieht nur den sichtbaren Apparat, er hat keinen Schatten-Pass«. Die Urszene spielt hier im Innern einer Kutsche, in der Senator Ableukjov durch vier Wände von der Masse abgeschirmt ist, deren Anblick ihn ekelt, und in der er sich in Träumen von freien Boulevards und der harmonischen Schlichtheit rechtwinkligen Straßenrasters ergehen und sich Lichtjahre von hier entfernt wähnen kann. Abruptes Bremsen allerdings und der Blick eines Raznochinet durchs Wagenfenster versetzen ihn in Todesangst. (106) Auch bei Baudelaire begegnet der Poet dem »Kleinen Mann«, der ihn anrempelt. Der »Mann auf der Straße« hatte nicht erwartet, den Poeten hier zu treffen. Dieser erwidert, wie sehr er sich vor Pferden und Fahrzeugen fürchte. »Ich überquerte gerade den Boulevard in großer Eile, inmitten eines sich bewegenden Chaos, und sah den Tod von allen Seiten auf mich zu galoppieren.« Er habe sich mit einem Satz, einer abrupten Bewegung retten müssen. Dabei sei ihm die Aureole vom Kopf gerutscht und in den Dreck gefallen (Perte d’auréole). Aber er dachte sich: besser, als sich die Knochen brechen. Hier in dieser ausgesprochen schlechten Gegend könne er außerdem incognito herumlaufen und Dinge tun, die er sich sonst nicht erlauben würde. Die schockartigen Bewegungen, die mouvements brusques waren ärgerlich, hatten aber auch etwas für sich, als Quelle kreativer Kraft. Rousseau schildert in seinen Spaziergängen eine ähnliche Begebenheit. Und auch Le Corbusier beschreibt in »L’Urbanisme« ein derartiges Erlebnis auf den Champs Elysées an einem Spätsommerabend 1924. Er ist auf einen friedlichen Abendspaziergang ausgegangen und findet sich durch den Verkehr von dem Boulevard vertrieben. Tschernyschewskijs Menschen der Zukunft sollten in riesigen Gemeinschaftspalästen leben, die ausschließlich aus Metall und Glas bestehen würden. Als Vorbild wird Paxtons Glaspalast genannt, für die Weltausstellung in London errichtet, abgebaut und andernorts wiederaufgebaut und nach kurzer Zeit durch ein mysteriöses Feuer vernichtet. Während der reale Glaspalast eher Gegenstand der Zivilisationskritik und des Spotts war, erglänzte er als literarischer Topos umso strahlender. In Vera Pawlownas »Viertem Traum« in »Was tun?« entwirft Tschernyschewskij mit ausdrücklichem Hinweis auf den Glaspalast die Vision einer enturbanisierten Moderne, wie sie von Ebenezer Howard bis Le Corbusiers strahlender Stadt, seit den 20er Jahren bis heute durch die Architekturgeschichte geistert,
C. Mitte und Peripherie
und der sich die Wirklichkeit wie aus Versehen in geradezu unheimlicher Weise hier und da bereits angeglichen hat. Die Menschheit der Zukunft lebt ausschließlich in Glaspalästen. Diese »enormen Gebäude stehen zwei oder drei Meilen voneinander entfernt, als handle es sich um zahllose Figuren auf einem Schachbrett«, so weit das Auge reicht. Sie sind getrennt durch hektargroße »Felder und Wiesen, Gärten und Wälder«. Städte gibt es wohl noch, aber in begrenzter Zahl und reduziertem Maßstab. Es gibt auch nur noch wenige Menschen, die in Städten leben möchten. Die meisten besuchen sie nur gelegentlich, zum Vergnügen, zur Abwechslung. Sie sind zu Museen der Rückständigkeit geworden, zur Touristenattraktion. (107) Statt der erträumten Glaspaläste findet man die Zeilenbauten in Beton einerseits und die Hauptquartiere der Großkonzerne auf der grünen Wiese, in einem lieblichen Valley auch die Malls, jene geschlossenen suburbanen Kunstwelten, in denen der ewige Sommer herrscht, von dem Vera Pawlowna träumte. (108)
C 10. Insofern als das soziale Leben nicht von der Repräsentation zu trennen ist, ist es in räumlicher Hinsicht von politischen Strategien durchsetzt. Sobald es Gesellschaft gibt, gibt es auch Inszenierung und Konfrontation, in Gestalt eines Systems von Plätzen, wobei ein Platz ein Ort ist, von dem aus man spricht, den man selbst durchsetzen will, und etwas, was man den anderen zuweist, ein System von Äußerungskalkülen, wie Roland Barthes betont. (109) Man lebt zusammen oder trifft sich, um zu repräsentieren. Man kann nur existieren, indem man sich an einem bestimmten Ort Ansehen verschafft. In einem Mietshaus möchte jeder als respektable Figur angesehen sein. Dieses Motiv eint die Bewohner, auch wenn sie nur aufgrund von Zufällen (des Vermögens oder Einkommens und der Klassenzugehörigkeit) jeweils eine Gruppe bilden. Gemäß der jeweiligen Gruppenzugehörigkeit sind einige Orte wichtiger und besser als andere. Die Homöostase einer Gruppe, die ohne äußerliches Ziel, ohne kämpferischen Impetus, nur zu ihrem eigenen Vergnügen existiert, also Geselligkeit als Selbstzweck zelebriert, ist nur in der Utopie möglich. Wo die Grenzen solcher Zweckgemeinschaften liegen, machen Hochhaus-Wohnkomplexe deutlich, die, wie der Torre David in Caracas, im Verfall begriffen sind, bevor sie fertig gestellt wurden, wie in der Novelle »Highrise« von Ballard, die kürzlich verfilmt wurde, oder in der biblischen Geschichte vom babylonischen Turm. Eine engere Bindung im Unterschied zur lockeren Gruppierung einer Mietshausgemeinschaft ist in einem Sanatorium gegeben. Der »Zauberberg« zeigt das Faszinierende an der Kleingruppe oder Bande, die diesen Ort bewohnt, zusammengeführt durch das Merkmal der Krankheit. Sie zeichnet sich aus durch Selbstgenügsamkeit, Selbstzufriedenheit, Fülle, Autarkie. Der Roman vermittelt die Ahnung einer schwindelerregenden Leere in der Fülle der Gruppe und lässt den Sog spürbar werden, der den einen ewig bleiben und den anderen überstürzt fliehen lässt. Es gibt Kranke, die im Sanatoriumsleben restlos aufgehen. Den christlichen Eremiten nacheifernd sieht sich Kapitän Nemo in seinem elektrizitätsgestützten Hochmut auf niemanden angewiesen. Robinson Crusoe
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geht vom Naturzustand aus und wird erst mit der domestizierten Ziege wirklich zum Menschen. Er durchläuft dann alle Stufen der Kultur. Die Absonderung von der Welt geschieht durch Erhebung des Standorts zu einem bedeutungsvollen Ort (Anachorese). Der Anachoret bekennt sich zum Rückzug von der Welt, wird Bewohner einer Hütte oder Zelle. Seine Strategie ist Verknappung der Kontakte mit der Welt. Sei es, weil er vor dem Staat, dem Fiskus, dem Militärdienst flieht, sei es aus Gründen religiöser Inbrunst. Er ist sorgsam auf seine Unabhängigkeit bedacht, um nicht erpressbar zu sein. Die Absonderung ist Anfechtungen ausgesetzt, die einen in die Lage bringen können, die Absonderung zu bereuen. Die Abschottung gegen den Feind wird ins neurotische Extrem getrieben, wo sie in die selbstauferlegte Unfähigkeit umschlägt, das Haus zu verlassen. Akedia bezeichnet den Gefühlszustand des Mönchs, der der Askese überdrüssig wird, der den Glauben verliert, dem das innere Interesse verloren geht. Er leidet unter Mutlosigkeit, Lustlosigkeit, Niedergeschlagenheit, Traurigkeit, Langeweile. Das spirituelle Leben erscheint plötzlich unnötig beschwerlich und nutzlos. Das Ideal verliert seine Anziehungskraft. Er fühlt Überdruss oder Beklommenheit des Herzens. Der Zustand des Unbeteiligtseins, des Desinteresses, der Nachlässigkeit geht über in die Neigung, aufzugeben. Das bedeutet, das besetzte Objekt verloren geben, des Objekts verlustig gehen. Es ist ein Erlöschen des Begehrens und also des Subjekts. Ich bin Objekt und Subjekt des Verlustes gleichermaßen, daher das Gefühl der Ausweglosigkeit, in einer Falle zu stecken. (110) Als Schwundzustand ist dieses Gefühl der Aphanisis in der Definition von Ernest Jones verwandt, dem Zustand der Begehrenslosigkeit, der Angst vor dem Nichtbegehren, dem Fading bei Žižek. Man kann nicht mehr nur für eine bestimmte Person keine Lust mehr empfinden, sondern fürchtet, der Fähigkeit zum Lustempfinden überhaupt verlustig gegangen zu sein. Hans Castorp ist nach Jahren im Sanatorium am toten Punkt angelangt, die Krankheit ist ihm gleichgültig geworden. Statt sich in Weisheit aufzulösen, hinterlässt die Leidenschaft nach der Ermüdung einen Schmutzfleck. Dieser Trübsinn ist Trauer um die Besetzung, nicht um das besetzte Objekt. Man behält den ganzen Schmerz, ohne ihn noch dramatisieren zu können. Mit dem äußeren Zusammenhang geht auch der innere verloren. Wir sind Nietzsche zufolge nur eine Folge von Zuständen, die diskontinuierlich sind in Bezug auf den Code der Alltagszeichen, worüber uns die Festigkeit der Sprache täuscht. Soweit wir von diesem Code abhängen, begreifen wir uns als Kontinuität. Bewusst zu sein heißt, die Festigkeit der Sprache zu gebrauchen. Woher können wir wissen, wer wir sind, wenn wir schweigen? Andererseits bedeutet dies: Wenn wir den Diskurs als ein falsches Kontinuum erkennen und die Zugeständnisse, die wir der Sprache schulden, verweigern, müssen wir die Festigkeit der Sprache zerbrechen und können wir vor unserer fundamentalen Diskontinuität nicht mehr die Augen verschließen. (111) Im Kloster gibt es die Anordnung von Zimmergruppen um ein leeres Zentrum. Man hat keine Schlafsäle, sondern Zellen. Sie sind der Ort des Kampfes mit dem Dämon, beruhigendes und beruhigtes Innen. Ein starkes Emanzipationsmotiv liegt in dem unzumutbaren Umstand, kein eigenes Zimmer zu haben, »a room of one’s own« (Virginia Woolf). Das eigene Zimmer bildet die Initiationsschwelle für Jugendliche. In der Familie wie in Einrichtungen tobt der Kampf um die Freiheit in Gestalt eines Zimmers, das sich der Überwachung entzieht. Das Zimmer begrün-
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det den Widerstand gegen das Herdentum, ist Ort eines Willens zur Macht. Das Christentum führt Transparenz als ein Instrument der Macht ins Feld: der liebe Gott sieht alles. Wie gut ging es einem da mit den antiken Göttern, die man gegeneinander ausspielen konnte wie die Eltern. Transparenz ist jedoch nie absolut. Der Tyrannei der Sichtbarkeit widersteht das Märchenmotiv des verbotenen Zimmers. Das eigene Zimmer muss nicht luxuriös sein. Das Zimmer des Abbé Faujas in »Die Eroberung von Plassans« von Emile Zola ist absolut nüchtern, es gibt keine Dekoration, keinen persönlichen Gegenstand, nichts liegt herum, kein Papier auf dem Tisch, kein Bild hängt an der Wand, es gibt nur nackte Wand. Das Zimmer ist seine eigene Struktur. Ähnlich wird das Zimmer von Mr. Teste beschrieben. Er lebte in einem eigenschaftslosen Intérieur, heißt es bei Valéry. Man denke auch an die Cabernet von Le Corbusier, mit der topologischen Konstellation funktionaler Orte: Bett, Arbeitstisch, Stuhl. Le Corbusier beanspruchte für sich selbst nur eine Blockhütte mit Bett und Klapptisch. Das Zimmer der Tante Leonie in Prousts Recherche, von wo aus sie absolutistisch regiert, ist reduziert auf ein Bett und den Tisch neben dem Fenster, ihr absolutes Privatgebiet. König Philipp II. regierte sein Weltreich von einem Zimmer im klosterhaften Escorial in Valladolid. Das eigene Zimmer ist ein maßloses Paradox, das Einzigartige als Struktur. Alle diese Zimmer bildeten jeweils die lebensweltliche Mitte eines Weltreiches.
C 11. Das Automobil und das Einfamilienhaus sind eine unheilige Allianz eingegangen. Dass als einzige durchgängige Konstante städtebaulicher Entwicklung seit Mitte des 19. Jahrhunderts, allem Wandel der Leitbilder zum Trotz, das fortgesetzte und scheinbar unaufhaltsame Wachstum der Städte in Form eines Ausuferns in ihr Umland auszumachen ist, hat viele verkannte Gründe. Einer und wahrscheinlich der wichtigste ist die Ausrichtung der Politik an Eigenheim und Auto als Instrumente, das Wohnen an die Peripherie zu verlagern und die Mittel- und Unterschichten an Eigentum zu binden. »Die Suburbanisierung des Wohnens, zumal im Einfamilienhaus, spielt seit Beginn der Industrialisierung eine zentrale Rolle bei den Überlegungen zur Befriedung einer von umfassenden gesellschaftlichen Konflikten und wirtschaftlichen Verwerfungen gezeichneten entstehenden Arbeits- und Industriegesellschaft. Diese Tendenz lässt sich als kontinuierliche Geschichte von den frühen gartenstädtischen Arbeitersiedlungen über die Gedanken Henry Fords zum Wohnungsbau bis zu den suburbanen Einfamilienhaussiedlungen des 20. Jahrhunderts verfolgen. Automobil und suburbanes Eigenheim stehen, in den USA schon seit den 30er Jahren, weniger später auch in Südamerika, in Deutschland und den meisten Ländern Europas nach dem zweiten Weltkrieg, im Mittelpunkt politisch massiv geförderter gesellschaftlicher Normvorstellungen und volkswirtschaftlicher Strategien. Staatliche Investitions- und Förderprogramme zur (Wohn-)Eigentumsbildung und Mobilitätssteigerung bilden eine der zentralen Konstanten der meisten westlichen Demokratien. Sie stehen im Mittelpunkt einer vielschichtigen und in den Grundfesten der westlichen Demokratien fest verankerten staatlichen Förderpolitik.« (112)
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Die Bundesrepublik Deutschland folgte den USA, die schon seit dem »New Deal« unter der Ägide von Präsident Roosevelt, seit den dreißiger Jahren, nach dieser Maxime verfuhren. Die Möglichkeit des Zugangs breiter Bevölkerungsschichten zu Automobil und Eigenheim waren offiziell zum »goal of government policy« erklärt worden. Nach der großen wirtschaftlichen Depression in Folge des »schwarzen Freitags« werden, den Prinzipien Keynes folgend, umfangreiche staatliche Investitionsprogramme aufgelegt, »die, zusammengenommen, in einer Politik mündeten, die Suburb-Entwicklung zu fördern«. Der »National Housing Act« und der »Federal Housing Authority« von 1934 garantierten die Vergabe niedrig verzinster Darlehen für den Bau suburbaner Einfamilienhäuser. Zusammen mit aggressiven Werbemaßnahmen »kam das einer Industrialisierung des Eigenheimbaus gleich«. Dieses Programm sollte auch Arbeitern den Erwerb eines eigenen Hauses im Peripherie-Gürtel ermöglicht, der sich um die Städte legte. Durch eine soziologische Untersuchung berühmt geworden ist das Beispiel Levittown in der Peripherie von New York. (113) Gleichzeitig wird mit dem »Federal Highway Act« von 1944 und 1956 der individuelle Autoverkehr, der den Umzug an die Peripherie oft erst ermöglicht, bei gleichzeitiger Vernachlässigung des Bahnverkehrs, gezielt gefördert: Pendler konnten nun »binnen kürzester Zeit von ihren suburbanen Wohnorten in die Innenstadt zum Arbeitsplatz gelangen«. (114) Angesichts der umfassenden Zerstörungen des Krieges, aber auch der gesellschaftlichen Verwerfungen Deutschlands in der Weimarer Republik gewann die Wohnungspolitik auch in der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland hohe politische Bedeutung. »Der massiven staatlichen Förderung des Mietwohnungsbaus und – mit wachsendem Gewicht – des selbst genutzten Wohneigentums kann man erhebliche Bedeutung für die politische Kultur und politische Stabilität jener Republik zuschreiben.« (115) Die Streuung von Wohneigentum und die Verwandlung der Lohnabhängigen in Eigentümer auch anderer Vermögenswerte wird bis heute als zuverlässigste Strategie angesehen, Einverständnis mit dem System herzustellen. Der Suburbanisierungsprozess in der Bundesrepublik wurde damit von Beginn an durch Wirtschafts-, Verkehrs- und Wohnungspolitik auf allen Ebenen des föderativen Systems mitbestimmt. Flankierende Wirkung hat die Verkehrs- und Infrastrukturpolitik, indem diese den Ausbau des Straßen- und Schienennetzes forcierte, bei deutlichem Vorrang für den motorisierten Individualverkehr, in Kombination mit Pendlerpauschalen. Die Förderung des Eigenheimbaus und der Automobilindustrie tragen zur Steigerung des Wohlstands bei, bilden aber zugleich die Hauptursachen für die heutigen städtebaulichen Probleme. »Das Wachstum der Siedlungsflächen ist keine nebensächliche Randerscheinung der Entwicklung unserer Wirtschaft, sondern ist […] eng verflochten mit zentralen Vorgängen dieses Wachstums selbst.« (116) Diese gesellschaftlichen Zielvorstellungen, Grundprinzipien der Wirtschaftspolitik und einer entsprechend ausgerichteten nationalen Förderpolitik sind es, was die zur Korrektur entworfenen urbanen Planungsprogramme um den erhofften Erfolg bringt. Solange die Planung Konzentration und Verdichtung der Siedlungstätigkeit propagiert, ohne die Zusammenhänge der Suburbanisierung mit den politischen und wirtschaftlichen Normen zu berücksichtigen, ohne die
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Fetischisierung von Eigenheim und Automobil als Problem ernst zu nehmen und aufzugeben, bleibt sie zum Scheitern verurteilt. »Die Regionalplanung propagiert bis heute die Verdichtung des Wohnungsbaus an den Haltepunkten des öffentlichen Nahverkehrs. Wohnungs- und Verkehrspolitik ermöglichen und unterstützen derweil vor allem durch steuerliche Subventionen immer weiter die nach Art einer ›Wanderdüne‹ ins Umland ausgreifende Suburbanisierung. So eilt die Wirklichkeit einer Siedlungsentwicklung in die Fläche dem fortwährend verfolgten Ziel räumlicher Planung nach Konzentration an den Orten höchster Erreichbarkeit immer schon voraus.« (117)
Frank Lloyd Wrights »Broadacre City« wurde zum stillen Idealbild politisch massiv geförderter gesellschaftlichen Leitvorstellungen. In der Beschreibung heißt es: »Das wahre Zentrum […] in der Demokratie Usonias, ist das einzelne usonische Haus.« Auch in Deutschland wäre die spezifische neue Urbanität als eine zu begreifen, die sich einer auf das einzelne Haus zentrierten Politik mitverdankt, der Idee einer Lebenswelt, die »sich jede Familie […] aus in zumutbarer Autofahrzeit erreichbaren Zielen konstruiert«. (118) Zudem ist das Planungsdenken nach wie vor auf das Grundmuster der Zentrierung und der Dominanz der Zentren über das Umland fixiert, teilweise trotz gegenteiliger Beteuerungen. Die auf das Einfamilien-Eigenheim und das Auto geeichte Sozial- und Wirtschaftspolitik und die Privilegierung des Zentrums mit dem Gefälle zur Peripherie bilden gewissermaßen das hartnäckige Unbewusste allen Planungsdenkens. Dass diese fixe Idee Sprengstoff birgt, ist spätestens mit der Finanzkrise offenbar geworden, die durch Subprime-Hypotheken ausgelöst wurde.
A nmerkungen 1 | Werner Müller, Die heilige Stadt. Roma quadrata, himmlisches Jerusalem und die Mythe vom Weltnabel. Stuttgart 1961. Zu den Fehllektüren der kopernikanischen Reform siehe Hans Blumenberg, Die kopernikanische Wende. Frankfurt a.M. 1965. 2 | Enrico Guidoni, Die europäische Stadt. Eine baugeschichtliche Studie über ihre Entstehung im Mittelalter. Stuttgart 1980. 3 | Siehe Georges Poulet, Metamorphosen des Kreises in der Dichtung. Frankfurt a.M./Berlin/ Wien 1985. 4 | René Girard, Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. Wien/Berlin 2012, S. 197ff. 5 | Ebenda, S. 201f. Was dem inneren Frieden dient, ist wahr. Die Inschrift des Lübecker Holstentors »concordia domis foris pax« ist ein Dokument dieser Einsicht. »Foris pax« bedeutet die Lizenz zu Schwert und Feuer zur »Befriedung« der Unterworfenen. Mit dieser »Grundverlogenheit« (Scheler) braucht man nicht mehr zu lügen. 6 | René Girard, a.a.O., S. 202. 7 | Ebenda, S. 231. 8 | Gerrit Confurius, In der Mitte der Welt, in: Unter dem Pflaster liegt der Strand, Bd. 11, Frankfurt a.M. 1982. Festschrift zum 75. Geburtstag des Kulturanthropologen Werner Müller. 9 | Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M. 1971, S. 17. 10 | Ebenda, S. 21.
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Architektur und Geistesgeschichte 11 | Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Kap. V: Zentrum und Peripherie. Frankfurt a.M. 1997, Bd. II, S. 669ff. 12 | Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, a.a.O., S. 21. 13 | Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M. 1972, S. 422. 14 | Ebenda, S. 424. 15 | Jean Pauls Roman »Die unsichtbare Loge« erzählt die Geschichte eines Mannes, der auf der Einhaltung gewisser Regeln besteht. Der Obristforstmeister von Knör will seine Tochter Ernestine nur einem Manne zur Frau geben, der das junge Mädchen zuvor auf dem Schachbrett besiegt hat. Der 37-jährige Rittmeister von Falkenberg, eigentlich ein sehr schlechter Schachspieler, vollbringt das Kunststück. Das Glück des Paares wird durch eine weitere Restriktion getrübt. Falkenbergs Schwiegermutter hat bestimmt, das erste Kind solle von einem jungen Herrnhuter, dem Genius, volle acht Lebensjahre unter der Erde erzogen und verborgen werden. So geschieht es mit Gustav, dem Helden dieser Biographie, nachdem Ernestine das Kind im Falkenbergischen Rittersitz Auenthal zur Welt gebracht hat. Der kleine Junge wird in einer alten ausgemauerten Höhlung im Schlossgarten »gegen die Schönheiten der Natur und die Verzerrungen der Menschen zugleich« abgehärtet. Nach der achtjährigen Erziehung »unter der Erdrinde« wird Gustav aus dem »moralischen Treibhaus« entlassen und steht fortan unter der Obhut der besorgten oberirdischen Eltern. Bald darauf verirrt sich der Junge im Wald. Er überlebt dieses Abenteuer, Gustav wird von der wohlhabenden Frau Luise von Röper gefunden und den aufatmenden Eltern wohlbehalten übergeben. Frau von Röper hatte sich im Walde zunächst sehr verwundert. Sah doch der aufgefundene Knabe ihrem teuren, verlorenen Sohn Guido täuschend ähnlich. Für die Ähnlichkeit findet sich rasch eine Erklärung. Gustavs Vater, der Rittmeister, hat noch einen Sohn. Den hatte er unehelich, sechzehn Jahre vor seiner Ehe, mit Luise gezeugt, die damals seine Geliebte war, und sich aus dem Staube gemacht. 16 | Hilmar Kallweit, Szenerien der Individualisierung (Goethe, Bentham), in: Poetik und Hermeneutik XIII. München 1988, S. 384ff. 17 | Jeremy Bentham, Das Panoptikum. Berlin 2013 (Panopticon, or The Inspection House, 1787); John Bender, Imagining the Penitentiary. Fiction and the Architecture of Mind in Eighteenth-Century England. Chicago 1987. Vgl. Michel Foucault zu Jeremy Benthams Panopticon in: ders., Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1975, 2008. 18 | Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt. Berlin 2010, S. 135. 19 | Hermann Usener, zitiert bei Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, a.a.O., S. 135f. 20 | Karl Marx hatte geschrieben, das Charakteristikum des Wucherkapitals sei es, dass es die Ausbeutungsweise des modernen Kapitals besitzt, ohne seine Produktionsweise zu besitzen. »Die Wucherklasse lebt in den Poren der Produktion, wie die Götter in den Intermundien der Welt bei Epikur.« Marx, Kapital, Bd. 3., 2, MEW Berlin 1962ff., S. 137, S. 149. Fernand Braudel hat den Topos abgewandelt in: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. Frankfurt a.M. 1994, 1998. Vgl. Michel Mollat du Jourdin: Europa und das Meer. München 1993. 21 | Paulo Boccacci verfasste drei Bücher über den räuberischen Kapitalismus und die groteske Korruption beim Bau der römischen Peripherien. In den 80er Jahren lebten eine erhebliche Anzahl der Borgatari in Baracken und unter den Bögen der Aquädukte, in Verschlägen unter Brücken. Bürgermeister Petroselli, Initiator des »Piano Zona 22«, ließ die Baracken abreißen und versprach menschenwürdige Behausungen, die – wie die Tor Bella Monaca – heute selber zunehmend verfallen und als die am übelsten beleumundeten Slums gelten. 22 | Volker Kapp, Moderne Großstadt und archaische Welt, in: Zibaldone 10; ders., Der Umgekehrte Blick. Zentrum und Peripherie bei Pasolini, in: Daidalos 46: An der Peripherie. Gütersloh 1993, S. 58.
C. Mitte und Peripherie 23 | Michael Glasmeier, Periphere Gedanken für Peripheristen, in: Daidalos 46: An der Peripherie. Gütersloh 1993, S. 88. Einen eigenständigen Blick auf die Peripherie fordert Dietmar Steiner in seinem Beitrag für Architektur und Städtebau ein. Ansätze für eine verstärkte »Beachtung der Alltagskultur« und ein entsprechendes »Aufbrechen der historischen Schale« erkennt er in den siebziger Jahren vor allem in der »konsumistischen Alltagsreflexion der ›grey school‹ und Robert Venturis«. Dietmar Steiner konstatiert, dass das, »was als Peripherie bezeichnet wird, längst schon die alltägliche Lebenswirklichkeit der Mehrzahl der Europäer« sei. Vor diesem Hintergrund könne jede Rückkehr zur alten Urbanität, wie sie die dominanten Leitbilder forderten, nur eine »formale und auch soziale Repression der Festschreibung eines unaustauschbaren Ortes sein.« Dem stellt Steiner die Peripherie als Möglichkeitsort gegenüber: »[…] Peripher sind deshalb alle Orte der Alltäglichkeit, alle Orte, die nicht einer urbanen Aufmerksamkeit und Verschönerung unterliegen. Peripher ist immer der Zustand dazwischen, zwischen den alten ›Zentren‹ und den neuen ›Inseln‹. Peripher ist der Raum, der Nicht-Ort ist, der in Bewegung bleibt, frei und widersprüchlich und wild – ganz einfach ›schön‹«. Dietmar Steiner, in: Daidalos 50: An der Peripherie. Gütersloh 1993, S. 86. Dieser Überzeugung einer Ubiquität des Peripheren folgt Walter Prigge in dem von ihm herausgegebenen Sammelband: Walter Prigge (Hg.), Peripherie ist überall. Frankfurt a.M. 1998. Eine Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie wird angesichts der Realität der Stadtlandschaft für obsolet erklärt. 24 | Zur Geschichte der Squatter vgl. Dennis Hardy und Colin Ward, Arcadia for all. The legacy of a makeshift landscape. London/New York 1984. Siehe vor allem das 1. Kapitel Property and Freedom: World of shanties, to the authorities these plots were a nightmare, but to the plotlanders they were Arcadia. Is this form of self-help and private property a route to freedom? What should be the balance between public control and private initiative? 25 | Ebenda, S. 38f. 26 | Ebenda, S. 220. 27 | Mike Davis, Planet of Slums. London/New York 2006. Für Slavoj Žižek verkörpern die Slum-Siedler die Gegen-Klasse zu der anderen jüngst aufgetauchten sogenannten »symbolischen Klasse«, bestehend aus Managern, Journalisten und PR-Leuten, Akademikern, Künstlern, Galeristen, Kuratoren etc., deren Mitglieder ebenfalls entwurzelt sind und die sich selbst als universal wahrnimmt. Ein New Yorker Akademiker habe mehr gemein mit einem slowenischen Akademiker als mit den Schwarzen in Harlem eine halbe Meile von seinem Campus entfernt. Ist dies die neue Achse des Klassenkampfs, oder ist die »symbolische Klasse« in sich gespalten, so dass man auf die Koalition zwischen den Slum-Siedlern und dem »progressiven« Teil der symbolischen Klasse wetten kann? Die neuen Formen des sozialen Bewusstseins, die sich in den Slum-Kollektiven entwickeln, könnten in seinen Augen die Zukunft und die neue Hoffnung auf eine freie Welt sein. Vgl. als kritische Stellungnahme auch Janice Elaine Perlman’s Favela-Studie: The Myth of Marginality. Urban Poverty and Politics in Rio de Janeiro. Berkeley 1976. 28 | Georges Teyssot, Die Krankheit des Domizils. Wiesbaden 1989. 29 | Vgl. Gerrit Confurius, Sentimentale Reise durch den Münchner Norden, in: Stadtbauwelt 91 (1986); ders., Die wilden Jahre, in: Klaus Novy und Felix Zwoch (Hg.), Nachdenken über Städtebau. Braunschweig/Wiesbaden 1991. 30 | Marc Augé, Nicht-Orte. München 2012; Michel Foucault, Andere Räume, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1990, S. 34-46. 31 | Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts. Frankfurt a.M. 1990.
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Architektur und Geistesgeschichte 32 | Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen 1992, S. 42, S. 49. 33 | Michael Sorkin (Hg.), Variations on a Theme Park. New York 1992. 34 | Roger Diener et al. (Hg.), The Inevitable Specificity of Cities. Zürich 2015. 35 | Vgl. Peter Blake, God’s own Junkyard. The planned Deterioration of America’s Landscape. New York/Chicago/San Francisco 1979 (1964). 36 | Robert Venturi, Denise Scott Brown, Steven Izenour, Learning from Las Vegas. Princeton 1997, S. 8f. (Deutsch: Lernen von Las Vegas. Gütersloh 2003.) 37 | Ebenda, S. 12. 38 | Ebenda, S. 91. 39 | Ebenda, S. 93. 40 | Ebenda, S. 101 und S. 91. 41 | Ebenda, S. 19. 42 | Rem Koolhaas, Generic City, in: ders., Bruce Mau, S, M, L, XL. New York 1995. 43 | Ebenda, S. 18. 44 | Ebenda, S. 22-23. 45 | Peter Sloterdijk, im Gespräch mit Rem Koolhaas. Galerie Aedes, Berlin, 29.11.2011. 46 | Marianne Thalmann, Topographie literarischer Inseln, in: Sprache im technischen Zeitalter; Anna E. Wilkens, Patrick Ramponi, Helge Wendt (Hg.), Inseln und Archipele. Kulturelle Figuren des Insularen zwischen Isolation und Entgrenzung. Bielefeld 2011. 47 | Roland Barthes, Beim Verlassen des Kinos, in: Karin Kersten, Caroline Neubaur (Hg.), Grand Guignol. Berlin 1976. 48 | Roland Barthes, Der Baum des Verbrechens, in: Das Denken von de Sade. München 1969, S. 41. 49 | Siehe Michel Butor, Das Goldene Zeitalter und der Höchste Punkt in einigen Werken von Jules Verne, in: ders., Kreuzfahrten durch die moderne Literatur. Frankfurt a.M. 1984. 50 | Bei Bullwer-Lytton stürzt der Ich-Erzähler bei Bergbauarbeiten durch einen Spalt ins Innere der Erde, das in technisch modernster Weise ausgestaltet ist. In der klassenlosen Idealgesellschaft der Vril-ya verrichten Maschinen die landwirtschaftliche Arbeit, die Bürger halten sich Automaten als Diener. Beleuchtet wird der Erdinnenraum von einer Energie namens Vril, die lebensspendend und auch lebensvernichtend eingesetzt werden kann. 51 | Vgl. Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. Frankfurt a.M. 2006 (München 1985), S. 61ff. 52 | Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, 1982C,2a,6. Gesammelte Schriften, Bd. 5,1-2. Frankfurt a.M.. 53 | Gerrit Confurius, Schatten-Passport, in: Daidalos 48: Sous Terrain, Bielefeld 1993. 54 | Slavoj Žižek, Was Sie schon immer über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten. Frankfurt a.M. 2002, S. 40f. 55 | »Je ne crois pas qu’on ait jamais enseigné cette géographie du plaisir qui serait dans la vie un singulier appoint contre l’ennui. Personne ne s’est occupé d’assigner ses limites au frisson, ses domaines à la caresse, sa patrie à la volupté.« Louis Aragon, Le Paysan de Paris. Paris 1987, S. 57. 56 | Rita Bischof, Souveränität und Subversion. München 1984, S. 12. 57 | Theodor W. Adorno, Eingriffe. Frankfurt a.M. 1963, S. 26. 58 | Walter Benjamin, Das Passagenwerk, a.a.O., C3,3. 59 | Henri Lefebvre, The Production of Space. Oxford 1991, S. 36f. Vgl. ders., Die Revolution der Städte. München 1972.
C. Mitte und Peripherie 60 | Guy-Ernest Debord, Rapport sur la construction des situations, in: Gérard Berreby, Documents relatifs à la fondation de l’Internationale Situationiste. Paris 1985, S. 610; Rapport über die Konstruktion von Situationen, in: Roberto Ohrt (Hg.), Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten. Hamburg 1995, S. 29, S. 37f., S. 615. Siehe auch Guy-Ernest Debord, Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1986. Austellung Situationistes – Situationists, kuratiert von Xavier Costa und Libero Andreotti im Museu d’Art Contemporani de Barcelona. Katalog Barcelona 1996; Textbeilage zur selben Ausstellung: Theory of the Dérive and other situationist writings on the city. Die ergiebigste Quelle für die Erforschung eines situationistischen Urbanismus ist wohl der 1953 veröffentlichte Essay »Formular für einen neuen Urbanismus« von Gilles Ivain — das Pseudonym, das Ivan Chtcheglov als Autor benutzte. Vgl. Thomas Y. Levin, Geopolitik des Winterschlafs. Zum Urbanismus der Situationisten, in: Jörg Huber, Martin Heller (Hg.), Konturen des Unentschiedenen. Interventionen 6. Basel/Frankfurt a.M. 1997; Roberto Ohrt, Der Beginn einer Epoche; Situationistische Internationale 1958-1969, Gesammelte Ausgaben des Organs der S.I. in zwei Bänden, Hamburg 1976 (Bd. 1; S.I. Nr. 1-7) und 1977 (Bd. 2; S.I. Nr. 8-12). 61 | Le Corbusier, Charte d’Athènes. CIAM IV 1933. Paris 1942; vgl. Urbanisme de CIAM, Charte d’Athènes. Paris 1943. 62 | Guy-Ernest Debord und Gil G. Wolman, Mode d’emploi du détournement, in: Les lèvres nues 8 (Mai 1956), S. 2; deutsch: Gebrauchsanweisung für die Zweckentfremdung, in: Roberto Ohrt, Der Beginn einer Epoche, a.a.O., S. 25. 63 | Der Begriff »unitärer Urbanismus« 1956 taucht erstmals auf einem von italienischen Situationisten in Turin verteilten Flugblatt auf mit dem Titel Manifestate a favore dell’Urbanesimo Unitario. Vgl. L’urbanisme unitaire à la fin des années 50, in: IS 3 (Dezember 1959), S. 11; deutsch: Der unitäre Urbanismus am Ende der fünfziger Jahre, in: S.I., Bd. 1, S. 87. 64 | Gilles Ivain, Formulaire pour un urbanisme nouveau, in: IS 1 (Juni 1958), S. 15-20; nachgedruckt in Internationale Situationniste 1958-69, Amsterdam 1972, Paris 1975, sowie in Gérard Berreby, Documents, S. 259-261. Deutsche Übersetzung: Formular für einen neuen Urbanismus in: Roberto Ohrt, Der Beginn einer Epoche, a.a.O., S. 52-56. 65 | Guy-Ernest Debord, Rapport sur la construction des situations, in: Gérard Berreby, Documents, a.a.O., S. 616; Rapport über die Konstruktion von Situationen, a.a.O., S. 39, S. 40, S. 616. 66 | Ebenda, S. 18-19; Formular für einen neuen Urbanismus. In: Roberto Ohrt, Der Beginn einer Epoche, a.a.O., S. 55. Angesichts Ivains positiver Beschwörung der Kathedrale – für die militanteren Lettristen wie für Debord ein rotes Tuch – überrascht es kaum, dass er zu den ersten gehörte, die 1954 wegen »Mythomanie, interpretatorischem Delirium, Mangel an revolutionärem Bewußtsein« aus der LI ausgeschlossen wurden. In dem 1955 veröffentlichten »Projekt zur rationalen Verschönerungen für die Stadt Paris« verlangt Debord die vollständige Zerstörung aller religiösen Bauwerke welcher Konfession auch immer, und Gil J. Wolman schlägt vor, sie als Kinderspielplätze zu verwenden, sobald sie von allen religiösen Spuren bereinigt sein würden. Jacques Fillon will sie dagegen durch eine Akzentuierung ihrer vorhandenen Atmosphäre in Spukhäuser verwandeln. Projets d’embellissements rationnels de la ville de Paris, in: Potlatch 23 (13. Oktober 1955); Gérard Berreby, Documents, a.a.O., S. 67, S. 227. Guy-Ernest Debord, Introduction à une critique de la géographie urbaine, in: Les lèvres nues 6 (September 1955). Deutsche Übersetzung: Einführung in eine Kritik der städtischen Geographie, in: Roberto Ohrt, Der Beginn einer Epoche, S. 17. 68 | Guy-Ernest Debord, Théorie de la dérive, in: Les lèvres nues 9 (November 1956), S. 6-10; Gérard Berreby, Documents, a.a.O., S. 312-313. Deutsche Übersetzung: Theorie des Umherschweifens, in: Roberto Ohrt, Der Beginn einer Epoche, a.a.O., S. 64, S. 69. Gilles Ivain, For-
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Architektur und Geistesgeschichte mulaire pour un urbanisme nouveau, in: IS 1 (Juni 1958), S. 15-20; nachgedruckt in Internationale Situationniste 1958-69, a.a.O. Deutsche Übersetzung: Formular für einen neuen Urbanismus, in: Roberto Ohrt, Der Beginn einer Epoche, S. 52-56. 69 | Walter Benjamin, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, a.a.O., S. 9. 70 | Guy-Ernest Debord, Théorie de la dérive, a.a.O., S. 313; Theorie des Umherschweifens, a.a.O., S. 65. 71 | Guy-Ernest Debord, Introduction à une critique de la géographie urbaine, in: Les lèvres nues 6 (September 1955). Deutsch: Einführung in eine Kritik der städtischen Geographie, in: Roberto Ohrt, Der Beginn einer Epoche, a.a.O., S. 18f. 72 | Guy-Ernest Debord, Die nackte Stadt (1957). Debords großformatiger (60 x 74 cm) Guide psychogéographique de Paris, Kopenhagen 1957, ist stark verkleinert reproduziert in: Stan Allen, Kyong Park (Hg.), Sites & Stations: Provisional Utopias/Lusitania #7. New York 1996, S. 192. Rumneys »Psychogeography of Venice« ist nachgedruckt in Iwona Blazwick (Hg.), An endless adventure… an endless passion… an endless banquet: A Situationist Scrapbook. London 1989, S. 45-49. 73 | Jacques Fillon, Déscription raisonnée de Paris (Itinéraire pour une nouvelle agence de voyages), in: Les lèvres nues 7 (Dezember 1955), S. 39; nachgedruckt als Faksimile (Paris 1978). Das Manifest »dérive« verfasste Fillon mit Debord unter dem Titel »Résumé 1954« (Potlatch 14, November 1954). Deutsche Übersetzung unter dem Titel »Neue Spiele!« in Ulrich Conrads (Hg.), Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Braunschweig/Wiesbaden 1981, S. 174. 74 | Position du Continent Contrescarpe (Monographie établie par le Groupe de Recherche psychogéographique de l’Internationale lettriste) [Position des Kontinents Contrescarpe (Eine von der psychogeographischen Forschungsgruppe der lettristischen Internationale verfasste Monographie)], in: Les lèvres nues 9 (November 1956), S. 38-40; nachgedruckt in: Gérard Berreby, Documents, a.a.O., S. 324-326; Zitat: S. 326. 75 | Guy-Ernest Debord et al., Projets d’embellissements rationnels, a.a.O., S. 227. 76 | Abdelhafid Khatib, Essai de description psychogéographique des Halles, in: IS 2 (Dezember 1958), S. 17; Versuch einer psychogeographischen Beschreibung der Pariser Hallen, in: S.I., Bd. 1, S. 56f. Da Khatibs »Forschungsarbeit« sich »im wesentlichen mit der nächtlichen Hallenstimmung« beschäftigte und seit September 1958 eine Polizeivorschrift »den Nordafrikanern nach 21.30h die Straße [verbot]«, führten seine psychogeographischen Streifzüge wiederholt zu seiner Verhaftung, weshalb er das Projekt aufgeben musste. 77 | Siehe: Die Welt als Labyrinth, in: IS 4 (Juni 1960), S. 5-7. 78 | Guy-Ernest Debord und Constant, La déclaration d’Amsterdam, in: IS 2 (Dezember 1958), S. 32; deutsch: Die Amsterdamer Erklärung, in: S.I., Bd. 1, S. 72. 79 | Guy-Ernest Debord, Théorie de la dérive, in: Berreby, Documents, S. 316; In der deutschen Übersetzung unter dem Titel »Theorie des Umherschweifens« in Der Beginn einer Epoche fehlt diese Passage. 80 | L’urbanisme unitaire à la fin des années 50, in: IS 3 (Dezember 1959), S. 12; Der unitäre Urbanismus am Ende der fünfziger Jahre, in: S.I., Bd. 1, S. 89. 81 | Reyner Banham, Megastructure: Urban Futures of the Recent Past. London 1976, S. 9. Zu Habrakens theoretischer Position siehe dessen Studie De dragers en de mensen, ins Englische übersetzt unter dem Titel Supports: An Alternative to Mass Housing. New York 1972. 82 | Guy-Ernest Debord, De l’architecture sauvage (1972), in: Le Jardin d’Albisola. Turin 1974; nachgedruckt in: Textes rares: 1957-1970, Paris 1981, S. 47-48; englisch: On Wild Architecture, in: On the Passage of a Few People Through a Rather Brief Moment in Time: Situationist International 1957-1972. Cambridge/MA 1989, S. 174-175.
C. Mitte und Peripherie 83 | Constant, Rapport inaugural de la conférence de Munich, in: IS 3 (Dezember 1959), S. 26-27. Siehe auch A. Alberts, Armando, Constant, Har Oudejans, Première proclamation de la section hollandaise de l’I.S., in: IS 3 (Dezember 1959), S. 29-30. 84 | Die Pläne und die aus Perspex und Metall gefertigten Modelle für New Babylon wurden zuerst Anfang 1960 in der Galerie van de Loo in Essen präsentiert. Der Katalog zu dieser Ausstellung, Konstruktionen und Modelle, enthielt Essays von Constant und Debord. Die erste »vollständige« Ausstellung der »imaginären Stadtlandschaften« wurde Ende 1964 im Museum Haus Lange in Krefeld gezeigt, Katalogtitel New Babylon: Imaginäre Stadtlandschaften. Zu Constant siehe Mark Wigley, Constant’s New Babylon. The Hyper-Architecture of Desire. Rotterdam 1998. Nachdem Constant Ende 1960 das Amsterdamer Büro des SI verlassen musste, wurden seine Forschungen mit Attila Kotányi in Brüssel weitergeführt. 85 | Constant, Une autre ville pour une autre vie, in: IS 3 (Dezember 1959), S. 37-40; Eine andere Stadt für ein anderes Leben, in: Roberto Ohrt, Der Beginn einer Epoche, a.a.O., S. 80-82. 86 | So Constant in einem 1960 vor der ICA gehaltenen und später veröffentlichten Vortrag: Constant, New Babylon: An Urbanism of the Future, in: Architectural Design 34/6, Juni 1964, S. 304-305. 87 | Constant, Une autre ville pour une autre vie, in: IS 3 (Dezember 1959), S. 38; Eine andere Stadt für ein anderes Leben, in: Roberto Ohrt, Der Beginn einer Epoche, a.a.O., S. 81. 88 | Constant, Description de la zone jaune, in: IS 4 (Juni 1960), S. 23-26; Beschreibung der gelben Zone, in: S.I., Bd. 1, S. 139-141. Reyner Banham, Megastructure, a.a.O., S. 59. 89 | Constant, Une autre ville pour une autre vie, in: IS 3 (Dezember 1959), S. 39; Eine andere Stadt für ein anderes Leben, in: Roberto Ohrt, Der Beginn einer Epoche, a.a.O., S. 82. 90 | Reyner Banham, Megastructure, a.a.O., S. 83, S. 88. 91 | Attila Kotányi und Raoul Vaneigem, Programme élémentaire du bureau d’urbanisme unitaire, in: IS 6 (August 1961), S. 16; Elementarprogramm des Büros für einen unitären Urbanismus, in: Roberto Ohrt, Der Beginn einer Epoche, a.a.O., S. 95. Raoul Vaneigem, Commentaires contre l’urbanisme, in: IS 6 (August 1961), S. 34; Anmerkungen gegen den Urbanismus, in: S.I., Bd. 1, S. 241. 92 | [ungenannter Verfasser], Critique de l’urbanisme, in: IS 6 (August 1961). 93 | Kotányi und Vaneigem, Programme élémentaire du bureau d’urbanisme unitaire, in: IS 6 (August 1961), S. 16; Elementarprogramm des Büros für einen unitären Urbanismus, in: Roberto Ohrt, Der Beginn einer Epoche, a.a.O., S. 17 und S. 96. 94 | Ein detaillierter Bericht über einen Verlauf von Debords Kriegspiel [sic!], einem auf Clausewitz‹ Kriegstheorie beruhenden Spiel, ist als »Le jeu de la guerre« erhältlich (Paris 1987). 95 | Position du Continent Contrescarpe (siehe Anm. 22), a.a.O., S. 326. 96 | [ungenannter Verfasser], Définitions, in: IS 1 (Juni 1958), S. 13; Definitionen, in: Roberto Ohrt, Der Beginn einer Epoche, a.a.O., S. 51. 97 | IS 7 (April 1962), S. 15, und IS 12 (September 1969), S. 9, S. 27, S. 34, S. 42. Siehe auch Roberto Ohrt, Der Beginn einer Epoche, a.a.O., S. 291. 98 | Leonid Trauberg und Grigori Kosinzew, Novyi Vavilon (Das neue Babylon), UdSSR 1929. Drehbuch nach einer Idee von P. Bliakin. Der Film wurde mit Mitgliedern der »Fabrik des exzentrischen Schauspielers« (FEKS) gespielt und inszeniert, einer 1922 gegründeten avantgardistischen Künstlervereinigung, die neue Wege in der darstellenden Kunst suchte und die als Theatertruppe begonnen hatte. Sie wollten weg von dem Naturalismus und der Einfühlungsästhetik der bürgerlichen Kunst und sie durch einen »dadaistischen Konstruktivismus« ablösen. Sie orientierten sich an der Straßenkunst, ihre filmische Vorliebe galt Griffith und Chaplin. »Gestern: Salons, Verbeugungen, Barone. Heute: Zeitungsverkäufergeschrei, Skandale, Poli-
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Architektur und Geistesgeschichte zeiknüppel, Lärm, Schrei, Scharren, Zeitrhythmus«, heißt es im »Manifest des exzentrischen Schauspielers« von Grigori Kosinzew und Leonid Trauberg. Der damals 19-jährige Dmitri Schostakowitsch, auch Mitglied der FEKS, schrieb die Musik. Er hatte zu Beginn seiner Laufbahn in russischen Kinos Filme am Klavier begleitet. »Das neue Babylon« heißt das Großkaufhaus in Paris, in dem Louise als Verkäuferin angestellt ist. Sie engagiert sich bei der Commune, die Jean, ein unpolitischer junger Mann vom Lande, als Soldat in der von der französischen Regierung kontrollierten Armee zu bekämpfen hat. Beide sind in einander verliebt, obwohl sie auf verschiedenen Seiten stehen. Ihre Liebe aber findet in der Zeit der politischen Wirren keinen Ort. Am Ende des Films erhält Jean den Auftrag, ein Grab für Louise zu schaufeln, die von einem Standgericht zum Tode verurteilt wurde. 99 | Roland Barthes, Sade, Fourier, Loyola. Frankfurt a.M. 1974, S. 129f. Zu Constant siehe auch Mark Wigley, Constant’s New Babylon – the Hyper-architecture of Desire. Rotterdam 1998. 100 | Rem Koolhaas, Hans Ulrich Obrist, Project Japan. Metabolism Talks. Interviews. Köln 2011. 101 | Ebenda. 102 | Ebenda. 103 | Herbert R. Lottman, Nachkrieg in Saint-Germain. Szenen aus einem literarischen Wespennest, in: Du, die Zeitschrift der Kultur 52/6 (1992): Wiederbegegnung mit Albert Camus, S. 22. Vgl. Gerrit Confurius, Schatten-Passport, a.a.O. 104 | Jean-Paul Sartre, Vorwort zu Paul Nizan, Aden. Die Wachhunde. Zwei Pamphlete. Reinbek 1969. (Aden Arabie. Paris 1931.) 105 | Nietzsche, Götzen-Dämmerung. Streifzüge eines Unzeitgemäßen. 45: Der Verbrecher und was ihm verwandt ist, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 6. München 1980 (Berlin/New York 1967-1977), S. 146ff. 106 | Im 17. Jahrhundert wurden niedere Ränge bei Hof und in der Verwaltung so genannt. Im 18. Jahrhundert bezeichnete man so Angehörige der Schicht, die sich aufgrund des steigenden Bedarfs an ausgebildeten Menschen im Zuge der Entwicklung des Kapitalismus bildete. Es handelt sich um Personen, die ihr Herkunftsmilieu verlassen hatten und sich durch höhere Bildung auszeichneten, Anwälte, Kaufleute, Kleinbürger, niedere Beamte. Seit den 1840er Jahren hatten sie einen großen Einfluss auf das kulturelle Leben und die gesellschaftliche Entwicklung. Sie stellten im 19. Jahrhundert einen Großteil der russischen Intelligenzia. Lenin bezeichnete sie als Vertreter des »bürgerlich-demokratischen Stadiums« im russischen Freiheitskampf, als Übergangsphänomen, das er »Raznochintsy-Stadium« nannte. 107 | Der für die Weltausstellung in London 1851 erbaute Kristallpalast war für den Sozialisten Tschernyschewskij das architektonische Sinnbild einer idealen Gesellschaft der Zukunft. Dostojewskij ahnt im selben Gebäude das Grauen einer zeitlos pulsierenden Maschinerie voraus. Auf den Gesichtern der Besuchermassen sieht er keinen Funken des aufrührerischen Geistes mehr. In diesem modernen Babylon bezahlt die Menschheit ihre Hybris mit dumpfer Zufriedenheit und freiwilliger Knechtschaft. »Baal herrscht und verlangt nicht einmal Unterwerfung, denn er ist ihrer auch so schon sicher.« Wenn Dostojewskij als Dandy in seinem lichtlosen Kellerloch der Moderne die Stirn zu bieten sucht, indem er sich in vorsätzlichen Wahnsinn stürzt, mit sadistischer Bosheit und verletzender Hässlichkeit und ruinöser Selbstsabotage, ist er nicht sicher, nicht auch damit noch ›part of the game‹ zu sein. Vgl. Wolfgang Lange, Kristallpalast oder Kellerloch, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 40/1 (1986). In Roberto Calassos »Der Untergang von Kasch« gewinnt die von Dostojewskij erahnte Zukunft Gestalt als »die finstere Menge der fieberhaften Autodidakten«, die sich aus der Hegellektüre die theoretischen Sprengsätze des willkürlichen Terrors basteln. Die Spione und Geheim-
C. Mitte und Peripherie agenten des 20. Jahrhunderts erscheinen als Früchte einer Saat, die der Mann im Kellerloch gesät hat, der »die Metaphysik ausplündert«. Deutschland als das Land, in dem die russischen Terroristen ihre Universitätsstudien absolvierten, ist auch das Land des »Einzigen und seines Eigentums«. Max Stirner ist bei Calasso Zentrum eines negativen Bildungsromans, gewidmet dem von einem geistigen Lumpenprolerat geträumten »Wahn des Übergangs zum Handeln«. 108 | Zur Lektüre in diesem Kontext sei auch empfohlen: Marshall Berman, All That Is Solid Melts into Air. The Experience of Modernity. New York 1982. 6. Auflage 1991, vor allem Kap. IV: Petersburg: The Modernism of Underdevelopment. 109 | Roland Barthes, Wie zusammenleben? Frankfurt a.M. 2014, S. 99. 110 | Ebenda, S. 115. 111 | Ein Beispiel für dieses Problem könnte Balzac in »Das unbekannte Meisterwerk« gegeben haben. Der alte Maler Frenhofer arbeitet seit Jahren an einem Porträt seiner einstigen Geliebten Catherine Lascault, die den Beinamen »die schöne Nörglerin« oder »Querulantin« trägt. Was er hervorbringt, ist jedoch nichts als ein Chaos dick aufgetragener Farbschichten. Nur an einer Stelle wird unter ihnen ein außerordentlich lebensecht wirkender Fuß sichtbar. 112 | Lars Bölling, Das Bild der Zwischenstadt. Dekodierung und Inszenierung »räumlicher Identität« als Potenzial zur Qualifizierung der verstädterten Landschaft. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doktor-Ingenieur an der Fakultät Architektur der BauhausUniversität Weimar. Weimar 2007. Zwischen Mitte der fünfziger Jahre und Anfang der achtziger Jahre wurden in Deutschland jährlich zwischen 150.000 und 200.000 Eigenheime gebaut. Ende der neunziger Jahre entfällt auf »die suburbanen Räume, das ›Umland der großen Städte‹« in Westdeutschland, je nach Abgrenzung, »ein Anteil von 30 % bis 50 % der Gesamtbevölkerung.« Der Anstieg der Wohnfläche pro Einwohner von 15 m² im Jahr 1950 auf fast 40 m² Ende der neunziger Jahre (alte Bundesländer) verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Suburbanisierung und wachsendem Wohlstand. Die relativen Ausgaben für Wohnen und Mobilität nahmen dagegen im gleichen Zeitraum um das zwei- bis dreifache zu. Der jährliche Realkonsum für Wohnen und Mobilität hat sich seit den 50er Jahren um das 7- bis 10-fache erhöht. Während sich 1954 in der Bundesrepublik 1000 Einwohner 79 PKW teilten, verfügt heute statistisch jeder zweite Bundesbürger über einen PKW (ca. 500 PKW je 1000 Einwohner). 113 | Robert Fishman, Space, Time and Sprawl, in: Maggie Toy (Hg.), Architectural Design: The Periphery. Profile No. 108. London 1994, S. 46f. 114 | Harald Bodenschatz und Barbara Schönig, Smart Growth – New Urbanism – Liveable Communities. Programm und Praxis der Anti-Sprawl-Bewegung in den USA. Wuppertal 2004, S. 22. 115 | Clemens Zimmermann, Wohnungspolitik – Eigenheime für alle?, in: Tilman Harlander (Hg.), Villa und Eigenheim. Suburbaner Städtebau in Deutschland. Stuttgart/München 2001, S. 330. Die Wohneigentumspolitik in der frühen Bundesrepublik beruht auf zwei Säulen; einerseits der direkten Objektförderung (Darlehen, Zuschüsse, Bausparförderung) oder der Subjektförderung (z.B. Wohnbeihilfen), andererseits auf indirekter Förderung durch Steuervergünstigungen und Regelungen zum Verhältnis von Mieter und Vermieter. Die größte Bedeutung für die Eigentumsförderung haben dabei traditionell die Steuervergünstigungen, bezogen vor allem auf ein fest verankertes Bausparsystem und Kilometer- bzw. Entfernungspauschalen für Berufspendler. »Die Vorstellungen in der Union und in den ihr nahestehenden Kreisen der Bau- und Wohnungswirtschaft gingen davon aus, dass nur eine Verknüpfung von Wohnungsbau- und Vermögenspolitik die wohnungspolitische Selbsthilfe breiter Bevölkerungskreise massiv fördern und ›Kollektivismus‹ verhindern könne. Das Eigenheim erschien als geeignetes Mittel, dem
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Architektur und Geistesgeschichte Ziel einer auf Eigentum beruhenden Gesellschaftsordnung rasch näher zu kommen.« Clemens Zimmermann, Wohnungspolitik – Eigenheime für alle?, in: Tilman Harlander, Villa und Eigenheim, S. 333ff. 116 | Ulrich Pfeiffer/Jürgen Aring, Stadtentwicklung bei zunehmender Bodenknappheit. Vorschläge für ein besseres Steuerungssystem. Stuttgart 1993, S. 23. 117 | Johann Jessen, Suburbanisierung – Wohnen in verstädterter Landschaft, in: Tilman Harlander (Hg.), Villa und Eigenheim, a.a.O., S. 318ff. 118 | Robert Kaltenbrunner, Lebenswelt »Peripherie«. Über die Rolle des Wohnungsbaus in der neuen Stadtentwicklung, in: Informationen zur Raumentwicklung 7/8 (1998), S. 485; Manfredo Tafuri. Die Krise der Linearität, in: Arch+ 105/106 1990, S. 98; Pierre Frankhauser, Fraktales Stadtwachstum, in: Arch+ 109-110 (1991), S. 84; Tom Sieverts, Zwischenstadt: Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land. Wiesbaden 1997, S. 15.
D. Permanenz und Gedächtnis, Demiurg und Bastler Solche, die viele geistige Wandlungen durchmachen, behalten einige Ansichten und Gewohnheiten früherer Zustände bei, welche dann wie ein Stück unerklärlichen Altertums und grauen Mauerwerks in ihr neues Denken und Handeln hineinragen: oft zur Zierde der ganzen Gegend. F riedrich N ietzsche
D 1. Kunsthistoriker denken, wie Rosalind Krauss spottete, wie Scholastiker. Sie denken in Typologien, in Revisionen. Sie sehen die Welt mit den Augen alter Männer, betrachten sie mit jenem starr rückwärts gewandten Blick, der nach bewährten sicheren Trittsteinen in Gestalt von Präzedenzfällen sucht, nach Leitern, auf denen man langsam und mühsam bis zur Gegenwart emporklettern kann. In eine Gegenwart, die allein schon dadurch gefestigt erscheint, dass man sie als längst angekündigt und vorausgesagt begreift. (1) Unter Architekturgeschichte versteht man dank der Ausrichtung an der noch heute maßgebenden historistischen Kunstwissenschaft des 19. Jahrhunderts entsprechend gemeinhin die Liste bedeutender Baumeister, die nach ihren Lebensdaten chronologisch geordnet aufgeführt werden, und die Aneinanderreihung von Bauwerken nach dem Datum ihrer Fertigstellung, grob gerastert durch Stilepochen, wobei das jeweils Neueste das, was diese Führungsrolle bislang innehatte, ablöst. Die Anordnung der Architekten und ihrer Werke und der Stilrichtungen, die in Übereinstimmung mit jener der bildenden Kunst steht und auch in den Museen die Regel ist, bildet die Architekturgeschichte in der Form eines imaginären Museums ab, in dem suggeriert wird, dass die Stadt mit jedem Stilwechsel, in jeder Epoche komplett neu errichtet wird, obwohl jedermann weiß, dass dies nicht so ist. Martin Heidegger sagte, die Sammlungen hätten den ausgestellten Werken »ihre Welt« entzogen, ihnen aber auch eine neue Welt erschlossen, die des Vergleichs. Valéry hingegen irritierte im Museum das »organisierte Durcheinander«, die »kalte Konfusion« der nach Schulen und Zeiten und damit nach äußerlichen Merkmalen organisierten Werke. Die Akkumulation disparater Einzelstücke mache jedes Museum zum »Haus der Zusammenhanglosigkeit«. Als die antiquarische Praxis als Musealisierung und Historisierung ihren Anfang nahm, hatte man wie Win-
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kelmann die Vorstellung, auf der Basis der noch erhaltenen Reste des Altertums ein historisches Lehrgebäude zu errichten, wobei das Zukunftsversprechen des Vergangenen eine verbindliche Herausforderung für die Lebenden bilden sollte. Die Summe des Gebauten als Archiv zu bewahren und zugänglich zu halten, wurde nicht nur für Architekten von unschätzbarem Wert erachtet. Dass uns im architektonischen Ensemble der Stadt die Architektur auf ganz andere Weise vor Augen tritt als im Archiv, war man dabei fähig auszublenden. Es handelt sich dabei nicht nur um das Ersetzen der Logik durch ein anderes Ordnungskriterium, sondern um das Verkennen des geschichtlichen Wesens der Architektur. Das Substrat des chronologischen Archivs existiert nicht in der Wirklichkeit. Städte werden nicht in jeder Epoche neu errichtet. Neu erstellte Gebäude oder frisch umgesetzte Planungen bilden stets nur einen geringen Teil der Bausubstanz. Der weitaus größere Teil besteht aus Bauwerken und Infrastrukturen, die von früheren Generationen erstellt und aus vergangenen Epochen übernommen und nach Bedarf den veränderten Bedürfnissen angepasst wurden oder auch ohne Anpassung einfach abweichend von ihrer ursprünglichen Bestimmung weiterbenutzt werden und auf diese Weise ein Ensemble bilden. (2) Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem, was an den Technischen Hochschulen gelehrt wird und für die Architekten den Stand der Technik oder »state of the art« repräsentiert, und der Realität. Während das Entwerfen mit Computertechnologie und neuester Software erfolgt und die Elektrifizierung und Elektronisierung der Bauten propagiert wird, belehrt ein Blick aus dem Fenster des technisch avanciertesten Hochhauses einen darüber, dass das Gros des Gebauten ringsherum ganz anders aussieht. (3) Angesichts der mehr oder weniger schlüssigen Anpassungen alter Bausubstanz an geänderte Nutzungsansprüche mag man zuweilen die mangelnde Funktionalität der Resultate beklagen, häufiger jedoch wird man jedoch den Eindruck bestätigt finden, dass die Sperrigkeit, mit der die Substanz die Benutzung nicht ohne Widerstand erlaubt oder sogar erschwert, nicht nur als unvermeidlich hingenommen, sondern als nicht planbarer ästhetischer Reiz begrüßt wird. Wenn ein Gebrauchsgegenstand – und Bauwerke wie Infrastrukturen sind als solche zu betrachten, als die langlebigsten unter ihnen – abweichend vom einstigen Gebrauch, zu dessen spezifischer Eignung er einmal entworfen und angefertigt wurde, benutzt wird, geraten Zwecke und Mittel in ein Verhältnis zueinander, das nicht mehr von der Maxime bestimmt ist, bei der Erfüllung der Zweckdienlichkeit möglichst wenig Reibung und Energieverlust in Kauf zu nehmen, sondern von der Bereitschaft, in einer Sperrigkeit oder Dysfunktionalität einen Wertzuwachs zu erkennen und zu begrüßen. Wo das materielle Substrat der Welt der Gebrauchsgegenstände nicht nahtlos in ihrer aktuellen Funktion aufgeht, ist man bereit oder hat man gelernt, dies als unverhofften ästhetischen Mehrwert zu schätzen. Die verbreitete Beliebtheit von Altbauwohnungen ist hierfür ausreichender Beleg. Nun wird man zur Produktion eines Werkstücks einer neuen Drehbank kaum eine alte vorziehen, und auch ein altes Auto kann nur bedingt mit einem neuen konkurrieren. Wer eines fährt oder in der Garage stehen hat, hat es auf diesen Wettstreit nicht abgesehen. Einen Spielraum für die Entscheidung über die Produktionsmittel nach ästhetischen Kriterien gibt es nur in Bereichen, die von den harten Sachzwängen und technischen Ansprüchen der Produktion partiell entlastet sind.
D. Permanenz und Gedächtnis, Demiurg und Bastler
Beim Erwerb von Gebrauchsgegenständen für den Haushalt ist diese Entlastung zuweilen gegeben, wenn auch erschwert durch den Umstand, dass heute nicht mehr repariert wird und bei der Produktion Reparierbarkeit nicht mehr vorgesehen ist. Bei Einrichtungsgegenständen, Schmuckstücken und bei Gebäuden bietet ein erweiterter Begriff von Funktionalität kreativen Spielraum für die Ausbildung eines ästhetischen Sinnes für jene Differenz, die sich zwischen Nutzungsanspruch und gestaltetem Material, zwischen Intention und faktischer Verwendung auftut. Wenn die Brauchbarkeit eines Gebäudes, einer Wohnung nicht unbedingt in dem Maße zu maximieren ist, wie dieser Gebrauchsgegenstand dem Kriterium der Funktionalität genügt, wenn der Maßstab Funktionalität bei genauerer Betrachtung selbst unklar bleibt und immer wieder der Modifizierung bedurfte, dann gerät freilich der auf Effektivität geeichte und am technischem Fortschritt orientierte Architektur-Diskurs ins Wanken. Ausgehend von den Erfahrungswerten der Umnutzungen und des ästhetischen Mehrwerts der Zweckentfremdung können wir festhalten: Die Qualität von Architektur lässt sich nicht einfach daran messen, wie weit es gelang, die einer Zeit und ihren Erfordernissen oder Vorlieben entsprechenden baulichen Strukturen bereitzustellen, sondern sie verdankt sich einem nicht intentional gesteuerten Prozess der wechselseitigen und nicht vollständig nötigen Anpassung von Bedürfnissen und baulichen Gegebenheiten. Das Subjekt der Umnutzung konstituiert sich nicht nur als eines, das die stofflichen Bedingungen seinen Bedürfnissen und Gewohnheiten unterordnet, sondern auch als eines, das sich selbst den Gegebenheiten unterwirft, um in ihnen unverhoffte Angebote zu entdecken. Man könnte von einem Subjekt ohne Eigenschaften sprechen, das bereit ist, sich überraschen zu lassen. Würde man die Datierung des jeweils Neuen als leitende Ordnungsstrategie von Geschichte aufgeben, könnte man ins Auge fassen, dass wir es mit einer durch Adaption und Adaptierbarkeit gewonnenen Geschichtlichkeit zu tun haben, für die wir kaum Begriffe haben. Zu sehr sind wir verwachsen mit den Ideen des Fortschritts, den geschichtsphilosophischen Finalisierungen und Idealisierungen des Geschichtsverlaufs als zivilisatorische Evolution und Prozess der Emanzipation und zunehmender Rationalität und mit der Verabsolutierung des jeweils Neuesten, als dass wir die positiven Qualitäten gegenläufiger Prozesse erkennen und begrifflich würdigen könnten. Dafür, dass die Entwicklung nicht homogen verläuft, sondern durchzogen von rückwärtsverlaufenden Adern und kreisenden Schleifenbewegungen, ist man terminologisch nicht gerüstet. Der gewissermaßen begriffslose Begriff des Ganzen, den wir mit dem Ensemble der stilistisch heterogenen baulichen Strukturen verbinden, und die Art von Geschichtlichkeit, die von Architektur selber konstituiert wird, wären allererst konzeptuell einzuholen, um theoretisch auf die Höhe dessen zu gelangen, was wir gewohnt sind und als Qualität des Erlebens gutheißen und in unserem Handeln faktisch realisieren. Wir würden die Architektur in ihrer Geschichtlichkeit als einen Raum ansehen, dessen Grenzen zwar umrissen sind, der jedoch von innen her unterminiert und gerade dadurch bereichert wird. Wir bräuchten Abweichungen nicht als Verunreinigungen zu betrachten, sondern könnten gerade in den Brüchen und Unstimmigkeiten lesen lernen und uns als Subjekte gewürdigt sehen. Die Stadt versammelt Bausubstanz aus vielen Epochen, deren Konzeption mit ganz unterschiedlichen und teilweise einander ausschließenden Vorstellungen ver-
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knüpft waren, die in dem Ensemble der vorhandenen Substanz aber einander trotz ihrer einst beanspruchten Unvereinbarkeit tolerieren oder in ihrer Inkommensurabilität zugunsten einer allgemeinen Brauchbarkeit gewissermaßen ermüdet sind und von der eigenen Willensschwäche profitieren. Monumentale Bauwerke, die durch die Jahrhunderte hindurch durch Um- und Anbauten und Modernisierungen immer wieder verändert wurden, haben ihre historische Identität eingetauscht gegen eine Identität des Nichtidentischen. Erinnerung wird nicht nur bewahrt, indem die Bedeutungen der alten Artefakte wachgehalten werden, sondern auch und vor allem dadurch, dass die einstigen Bedeutungen vergessen werden und die Artefakte diese überdauern, wobei sie aus dem Fokus der Aufmerksamkeit geraten sind, aber jederzeit erforscht werden können. Im alltäglichen Erleben empfinden wir das, was in der Theorie als Inkonsistenzen registriert wird, keineswegs als solche. An den Kathedralen zeigt sich in besonderer Deutlichkeit die Ambivalenz von Gedächtnis und Vergesslichkeit, die Gleichzeitigkeit der Fähigkeit, Geschichtliches zu bewahren mit der Fähigkeit, Erinnerung zu absorbieren, wie sie dem urbanen Ensemble insgesamt eigen ist. An ihnen wird besonders deutlich, dass wir die vermeintlich störende Verunreinigung ganz und gar nicht als Mangel oder Denkschwierigkeit empfinden. Als Gebäude, deren Errichtung ganze Epochen in Anspruch genommen hat, so dass Generationen an ihren Baustellen vorübergezogen sind, lassen sie notwendig stilistische Einheitlichkeit und formale Übereinstimmung zwischen ihren Elementen vermissen, ohne dass wir sie vermissen würden. Das Portal muss nicht unbedingt mit dem Mauerwerk, die Säulenordnung nicht mit den Gewölben, und das Westwerk muss nicht unbedingt mit den Seitenschiffen übereinstimmen. Die heterogenen Teile bilden für unser Auge gleichwohl ein Ganzes, sogar den Inbegriff eines Ganzen, und das umso mehr, je konsequenter man die Unstimmigkeiten sichtbar bleiben ließ und die Brüche nicht zu kitten und die Risse nicht zu verkleistern versucht hat. Versuche der Vereinheitlichung und Reinigung erleben wir selten als Segen, sondern zumeist als gewaltsamen und uns intellektuell und sinnlich unterfordernden und darum verstimmenden Eingriff zum Schaden der Gesamterscheinung. Das Haus des Mannes ohne Eigenschaften wird im zweiten Kapitel des Romans als eine solche komplexe Akkumulation beschrieben: »Das war ein teilweise noch erhalten gebliebener Garten aus dem achtzehnten oder gar aus dem siebzehnten Jahrhundert, und wenn man an seinem schmiedeeisernen Gitter vorbeikam, so erblickte man zwischen Bäumen, auf sorgfältig geschorenem Rasen etwas wie ein kurzflügeliges Schlößchen, ein Jagd- oder Liebesschlößchen vergangener Zeiten. Genau gesagt, seine Traggewölbe waren aus dem siebzehnten Jahrhundert, der Park und der Oberstock trugen das Ansehen des achtzehnten Jahrhunderts, die Fassade war im neunzehnten Jahrhundert erneuert und etwas verdorben worden, das Ganze hatte also einen etwas verwackelten Sinn, so wie übereinander fotografierte Bilder; aber es war so, daß man unfehlbar stehen blieb und ›Ah!‹ sagte. Und wenn das Weiße, Niedliche, Schöne seine Fenster geöffnet hatte, blickte man in die vornehme Stille der Bücherwände einer Gelehrtenwohnung. Diese Wohnung und dieses Haus gehörten dem Mann ohne Eigenschaften.«
D. Permanenz und Gedächtnis, Demiurg und Bastler
Was man über dieses Haus und die Kathedrale sagen kann, gilt auch und erst recht für die ganze Stadt, in der viele Epochen ihre Spuren hinterlassen haben, ohne dass sie für uns darum den Charakter der Ganzheit einbüßen würde. Im Gegenteil erwarten wir von einer Stadt eine solche diachrone Heterogenität, und wir zögern, einer Agglomeration, die diese vermissen lässt, weil sie insgesamt auf einen Schlag errichtet wurde, das Attribut Stadt zuzuerkennen. Wir neigen dazu, uns vorläufig damit zurückzuhalten. Entsprechende Schwierigkeiten hatte man mit der großflächig und auf einen Schlag erfolgten Neubebauung des Potsdamer Platzes, bis die Prothese einigermaßen mit dem Rest des städtischen Organismus verwachsen war und Patina angesetzt hatte. Architekturstile folgen in der Wirklichkeit nicht so fein ordentlich aufeinander, wie das in den Geschichtsbüchern suggeriert wird. Robert Musil stellt in Kapitel 11 dem chronologischen Prinzip der wissenschaftlichen Paradigmen die eigene Zeitlichkeit der Lebenswelt gegenüber, wobei die Verrücktheit auf der Seite der Wissenschaften zu finden ist. »Der Mann war noch nicht auf der Welt, der zu seinen Gläubigen hätte sagen können: Stehlt, mordet, treibt Unzucht – unsere Lehre ist so stark, daß sie aus der Jauche eurer Sünden schäumend helle Bergwässer macht; aber in der Wissenschaft kommt es alle paar Jahre vor, daß etwas, das bis dahin als Fehler galt, plötzlich alle Anschauungen umkehrt oder daß ein unscheinbarer und verachteter Gedanke zum Herrscher über ein neues Gedankenreich wird, und solche Vorkommnisse sind dort nicht bloß Umstürze, sondern führen wie eine Himmelsleiter in die Höhe. Es geht in der Wissenschaft so stark und unbekümmert und herrlich zu wie in einem Märchen.«
In der Architektur löst das Neue das Vorherige nicht ab. Jede Epoche tritt mit ihren Formvorstellungen in Auseinandersetzung mit einem vorhandenen Chaos, das wiederum die Summe vorangegangener disparater Formentwürfe ist. Wie die Glieder der Kathedrale gleichen die Elemente der Stadt und der Architektur insgesamt, mit Wohlwollen betrachtet, einer Gesellschaft toleranter Individuen, die, was ihre Herkunft und Religion und ihr Alter angeht, einander nichts nachtragen. Wie wir, nach einer Beobachtung Balzacs, die urbane Gesellschaft akzeptieren und genießen, indem wir mit beliebig vielen anderen in partiellen Kontakt treten, ohne jeweils wissen zu müssen, mit welchen Motiven und Biographien wir es zu tun haben, so treten die Gebäude einer Stadt in Kontakt miteinander ohne Ansehen ihrer Herkunft und der ihnen zugrundeliegenden Intention. Häufig handelt es sich bei jenem Sammelsurium des Akkumulierten um die Summe nicht einmal kompletter Realisierungen von Konzeptionen, sondern auf der Hälfte steckengebliebener Projekte und fragmentierter Überreste aufgegebener Konzepte, an denen nach Maßgabe eines anderen Konzeptes weitergebaut wurde, um das Resultat diverser Abstriche, die man am ursprünglich kühneren Entwurf vornehmen musste. Berlin ist für diese fortgesetzten Halbheiten das beste Beispiel. Man mag dabei von einer Verräumlichung von Geschichte sprechen, die eine Indifferenz gegenüber der Epochenzugehörigkeit und Datierbarkeit erzeugt. Architektur verwandelt zeitliches Nacheinander in räumliches Nebeneinander, das sich aber von jenem des »imaginären Museums«, von dem André Malraux und Tardieu sprachen, grundsätzlich unterscheidet. Von diesem sich im Raum schläfrig ausbreitenden Sammelsurium von Ungleichzeitigem und intentional Unvereinbarem
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wird Geschichte im Verstande der offiziellen Lehrmeinung aufgesaugt wie Tinte von einem Löschblatt, und wird das Gedächtnis im Sinne einer Chronologie des jeweils Aktuellen eher betäubt als wachgehalten. Die Art von Geschichtlichkeit, die in dieser Betäubung oder Ermüdung zur Geltung kommt, ist uns zwar vertraut, doch ist sie das, ohne dass man sich jemals um die theoretische Einholung und Verbalisierung dieses Vertrautseins bemüht hätte. Die von Raumgestaltungen provozierte Verhaltensbereitschaft überdauert am »präzisen Außenhalt« der Architektur. (4) Der auf barocke Verhaltensformen abgestimmte Raum, der auch heute seine »Sollsuggestion« behält, der zufolge wir uns dort kaum unbefangen bewegen werden, verweist darauf, dass wir im Gebauten mit den »Hinterlassenschaften früherer Generationen« konfrontiert sind. (5) Die Begegnung mit der Vergangenheit erfolgt vor allem durch die räumlichen Gegebenheiten, Städte, Plätze, Häuser, wie auch durch Geräte und Gebrauchsgegenstände, die uns wie eine »stumme und unbewegliche Gesellschaft« umgeben, auch noch, wenn deren Erfinder und Produzenten längst gestorben sind. (6) »Institutionen sind nicht einfach nur Gedankengebilde; sie müssen auf die Erde gebracht werden, ganz mit Stofflichem beschwert, menschlichem Stoff und unbelebtem Stoff, mit Lebewesen aus Fleisch und Blut, mit Bauwerken, Häusern, Plätzen, dem Gewicht des Raums. All diese Dinge gehören dazu. Es sind Gestaltungen im Raum, die man beschreiben kann, zeichnen, messen und wägen, deren Teile man zählen, deren Ausrichtung, deren Veränderung anerkennen, deren Vergrößerung, deren Verkleinerung man sehen kann. In genau diesem Sinne besitzen dann alle Einrichtungen des sozialen Lebens auch materielle Formen.« (7)
Diese materiellen Gegebenheiten bilden eine Art Anker, der Halt verleiht. Halbwachs zitiert dabei Comtes Auffassung, dass die materiellen Formen des sozialen Lebens dem kollektiven Leben eine gewisse Regelmäßigkeit verleihen und ein Gefühl der Ruhe, als Gegengewicht zur Unrast der Menschen und der Veränderlichkeit seiner Verhältnisse. Aufgrund der physischen Trägheit der Dinge drängt sich den sozialen Gruppen der Eindruck einer stabilen Ordnung ihrer Lebenswelt auf. Die »Unempfindlichkeit der Steine«, »Unbeweglichkeit der Dinge« und die »Permanenz des Raumes« (Halbwachs) können selbst einer in Unruhe lebenden Bevölkerung eine gewisse Stabilität vorgaukeln. Der Grad der Veränderung wird an den Steinen und Dingen nicht sichtbar. Soziale Veränderungen werden nicht unmittelbar in räumliche Strukturen übersetzt. Diese können mit dem Tempo der sozialen Veränderungen nicht mithalten und können diese nicht direkt spiegeln. Ihre Funktion besteht weniger im Abbilden, als in ihrem Widerstand, den sie dank ihres Beharrungsvermögens dem menschlichen Willen entgegensetzen und ihm gerade damit Kraft geben. Ebendieser stabilisierende Widerstand ist es auch, was dem Abriss von Gebäuden den Effekt der Zerstörung von Gedächtnis und Identität verleiht. »Als man die Herren und Nonnen von Port Royal zerstreute, war damit nichts getan, solange man nicht die Gebäude der Abtei dem Erdboden gleichgemacht hatte und nicht diejenigen dahingeschieden waren, die sie in Erinnerung behielten.« (8)
D. Permanenz und Gedächtnis, Demiurg und Bastler
Erst wenn das Gebäude, in dem die Betreffenden gewohnt haben, nicht mehr existiert, ist der Zusammenhalt der Gruppe zerstört. Die Architektur stützt nicht nur, sondern begründet das kollektive Gedächtnis. »So gibt es kein kollektives Gedächtnis, das sich nicht innerhalb eines räumlichen Rahmens bewegt. Der Raum indessen ist eine Realität, die andauert: unsere Eindrücke jagen einander, nichts bleibt in unserem Geist haften, und es wäre unverständlich, daß wir die Vergangenheit wiedererfassen können, wenn sie nicht tatsächlich durch das materielle Milieu auf bewahrt würde, das uns umgibt.« (9) Architektur ist nicht nur integraler Bestandteil der »Selbstverständlichkeitsstrukturen« unserer Alltagswelt, sie hat auch wesentlichen Anteil an ihrer Entstehung und Erhaltung. Sie macht uns die uns umgebende Gegenstandswelt zur Innenwelt. Sie trägt dazu bei, die Konstruiertheit sozialer Strukturen vergessen zu machen, so dass wir nicht nur sie selbst, sondern mit ihr auch alles übrige sozial Konstituierte und damit Kontingente, das auch ganz anders möglich wäre, wie selbstverständlich empfinden, als könnte es gar nicht anders sein. Sie macht alles, was uns umgibt, was zur Ausstattung des Alltags gehört, zur zweiten Natur. Dinge, wiederkehrende Umstände, Begebenheiten, alles, was einem vertrauten Muster gehorcht. Was ungewohnt oder überraschend ist, wird in die Wirklichkeit eingebaut, wie ein Einbauschrank in eine Wohnung. Wir brauchen die Architektur bei unseren Bemühungen, die Welt, in die wir geworfen sind, zu bewohnen, sie zu einer bewohnbaren zu machen, uns in ihr wiederzufinden. Alles muss in den Alltag münden, d.h. alles muss sich an der Erzeugung dieser Selbstverständlichkeit beteiligen, der Abdichtung des Konstrukts gegen die Erkenntnis, dass es sich um ein bloßes Konstrukt handelt. Umgekehrt gerät bei baulichen Veränderungen oder gar Abriss unsere vertraute Lebenswelt ins Wanken. Wir wüssten nicht zu sagen, wie das abgerissene Gebäude ausgesehen hat, sind aber erschüttert, weil es zu uns gehörte, weil es uns gehörte. Der Veteran der Soziologie Auguste Comte bemerkte, »dass das geistige Gleichgewicht sich zum großen Teil und in erster Linie aus der Tatsache ergibt, dass die materiellen Gegenstände, mit denen wir täglich in Berührung kommen, sich nicht oder nur wenig wandeln und uns ein Bild der Permanenz und der Beständigkeit darbieten. Sie kommen einer schweigsamen und unbeweglichen, an unserer Unrast und unseren Stimmungswechseln unbeteiligten Gesellschaft gleich, die uns den Eindruck von Ruhe und Ordnung gibt«. (10) Und er fährt fort: »Es trifft zu, daß mehr als nur eine psychische Störung von einer Art Unterbrechung der Verbindung unseres Denkens zu den Gegenständen begleitet wird, von der Unfähigkeit, die vertrauten Dinge wiederzuerkennen – so daß wir innerhalb eines fremden, bewegten Milieus verloren sind und uns jeglicher Anhaltspunkt fehlt. Selbst außerhalb solcher psychischer Krisen durchleben wir, auch wenn irgendein Ereignis uns nötigt, uns in eine neue materielle Umgebung zu begeben, bevor wir uns ihr angepaßt haben, eine Periode der Unsicherheit, so als hätten wir unsere gesamte Persönlichkeit hinter uns gelassen: so untrennbar von unserem Ich sind die gewohnten Bilder der äußeren Welt.« (11)
Wo Altes vernichtet wird, wo einzelne Gebäude abgerissen oder gar ganze Stadtteile planiert werden, vielleicht auch erst, wenn das Alte durch Neues ersetzt wird, kommt dies der mörderischen Dezimierung jener »unbeweglichen Gesellschaft« gleich, von der Comte sprach. Jeder Eingriff bedeutet stets auch einen gewaltsamen
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Angriff auf Vertrautes und eine Erschütterung der Identität. Bestehende Architektur ist kaum wegzudenken, und sie verschwindet nicht, ohne anderes mit ins Wanken zu bringen.
D 2. Die Anerkennung dieser friedlichen Koexistenz heterogener Elemente des architektonischen Ensembles lässt den Architekten bezüglich seines Selbstverständnisses in gebrochenem Licht erscheinen: nämlich nicht als Schöpfer neuer und konsistenter Welten, als Demiurgen, als den er sich so gern gespiegelt sieht, sondern als jemanden, der sich ohnmächtig, aber darum nicht betrübt, in das Sammelsurium hineingeworfen sieht, welches das Ensemble des Vorhandenen bildet, in das beim besten Willen keine einheitliche Ordnung zu bringen ist. Stilistische Eigenheiten schwanken unentschieden zwischen dem Interesse an einem System formaler Beziehungen, das sie in einen plausiblen Zusammenhang einbindet, und der Befangenheit, die sie als Fragmente ausdrücken. Der Architekt entspricht damit weniger dem Ideal des Ingenieurs, als es der Bedeutungshorizont des Begriffs »Architekt« erwarten lässt. Der Architekt, mehr noch als der Pilot oder der Schiffskapitän, gilt als Inbegriff des professionellen Menschen. Er ist bekannt dafür zu wissen, was er will und über die geeigneten Mittel zu verfügen. Der technische Charakter der Architektur macht diese zur bevorzugten Symbolheimat des Gattungssubjekts. Das hohe Ansehen verdankt der Architekt als Ingenieur letztlich den Ausstrahlungen der Philosophischen Anthropologie. Diese hat es in der Regel mit dem zu tun, was den Menschen vor allen anderen Lebewesen in der Natur auszeichnet. Und die moderne Anthropologie legt besonderen Wert auf die Feststellung, dass das, was die menschliche Gattung über die gesamte Tierwelt erhebt, nicht mehr nur eine Klausel der Schöpfung ist, sondern der Umstand, dass sich der Mensch durch seine Objektivationen, seine Erzeugnisse seine Welt selbst schafft, sich selbst zum Urheber der Schöpfung macht. Darin befindet er sich im offensichtlichen Gegensatz zum Tier, das mit seiner invarianten Grundausstattung in eine fest installierte Umwelt hineingeboren wird. Das Tier ist in seine spezifische Umwelt eingepasst. Es hat nur diese eine, seiner Art angemessene Umwelt. Der Mensch aber vermag sich die Umwelt, die ihm gemäß erscheint, selbst zu erschaffen. Karl Marx brachte dies auf folgende Formel: »Zwar produziert auch das Tier. Es baut sich ein Nest, Wohnungen, wie die Biene, Biber, Ameise etc. Allein es produziert nur, was es unmittelbar für sich oder sein Junges bedarf; es produziert einseitig, während der Mensch universell produziert; es produziert nur unter der Herrschaft des unmittelbaren physischen Bedürfnisses, während der Mensch selbst frei vom physischen Bedürfnis produziert und erst wahrhaft produziert in der Freiheit von demselben; es produziert nur sich selbst, während der Mensch die ganze Natur reproduziert; sein Produkt gehört unmittelbar zu seinem physischen Leib, während der Mensch frei seinem Produkt gegenübertritt. Das Tier formiert nur nach dem Maß und dem Bedürfnis der Spezies, der es angehört, während der Mensch nach dem Maß jeder Spezies zu produzieren weiß und überall das inhärente Maß dem Gegenstand anzulegen weiß; der Mensch formiert daher auch nach
D. Permanenz und Gedächtnis, Demiurg und Bastler den Gesetzen der Schönheit. Eben in der Bearbeitung der gegenständlichen Welt bewährt sich der Mensch daher erst wirklich als ein Gattungswesen.« (12)
Und an anderer Stelle mit deutlicher architektonischem Bezug sagt er: »Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister, Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war.« (13)
Karl Marx formulierte dies im Anschluss an Hegel, für den die Technik im Sinne der bürgerlichen Subjektivität Ausdruck und Inbegriff poietischen Könnens darstellt. Damit ist die ästhetische Grunderfahrung benannt, dass der Mensch sein allgemeines Bedürfnis, in der Welt heimisch zu sein, durch das künstlerische Hervorbringen befriedigen kann, indem er der Außenwelt ihre Unwirtlichkeit nimmt und sie zu seinem eignen Wert macht. »Der Mensch tut dies, um als freies Subjekt auch der Außenwelt ihre spröde Fremdheit zu nehmen und in der Gestalt der Dinge nur eine äußere Realität seiner selbst zu genießen«. Und an anderer Stelle in der Ästhetik heißt es: »Das allgemeine Gesetz […] besteht darin, daß der Mensch in der Umgebung der Welt müsse heimisch und zu Hause sein, daß die Individualität in der Natur und in allen äußeren Verhältnissen müsse eingewohnt und dadurch frei erscheinen«. (14) Die Charakterisierung des Alleinstellungsmerkmals des Menschen in der Schöpfung insgesamt nach dem Bild des Architekten geht bis in die Antike zurück. Wenn Aristoteles den Beruf des Philosophen gegen Angriffe verteidigen wollte, bediente er sich des »architéktòn«, und das ist dem Namen und der Definition nach derjenige, der Theorien hat und sie nicht nur in der Praxis anwendet, der die Ursachen der Dinge kennt, also nicht nur mit ihnen hantiert, der nicht nur eine Handlung ausführt, sondern diese Handlung selbst plant und auch reflektiert, und der gerade deshalb unentbehrlich ist. Der Architekt wird so zur Schlüsselfigur für die Selbstvergewisserung des gestalterisch tätigen Menschen, erst recht in der Aufklärung und in der Moderne. Die Vorliebe für Metaphern aus der Sphäre der Architektur verdankt sich nicht nur der Anschaulichkeit, sondern auch dem Umstand, dass in der Theologie vieles, was die Philosophie der Neuzeit beschäftigt, bereits vorgedacht ist. Nach der Verdrängung der antiken Philosophie durch das christliche Gedankengut wäre die Architektur-Metaphorik wohl nicht so leicht erneut in die Welt gekommen, hätte sie nicht den langen und prominenten Vorlauf in der Theologie gehabt. Die architekturaffinen Bilder der modernen philosophischen Anthropologie sind in ihr bereits vorgeprägt. Wie die Anthropologie das bereits von der Religion eingeführte Prinzip des Schöpferischen oder der Poiesis fortführen kann, so ist ihr Substrat, der selbstbewusst tätige Mensch, Nachfolger eines als Schöpfer, gewissermaßen als Architekt vorgestellten Schöpfer-Gottes. (15) Der Rede vom naturgemäß schöpferischen Menschen ist die vom göttlichen Baumeister vorangegangen, ja musste ihr vorangehen.
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Um die moderne Karriere der Technik als oberste philosophische und erkenntnistheoretische Kategorie auf den Weg zu bringen, bedurfte es der Vorbereitung im Rahmen theologischer Reflexion und traditioneller Erkenntnistheorie. Die Authentizität menschlicher Eigenleistung musste zunächst als Attribut des Göttlichen selbst entdeckt und akzeptiert worden sein, bevor es zulässig empfunden werden konnte, sie als Naturmerkmal des Menschen zu erkennen. Es bedurfte dazu der Uminterpretation des platonischen Gottes, der nur die Ideen nachzubilden und zur Anschauung zu bringen brauchte, in den, der nicht Gott genannt zu werden verdiente, wenn er nicht die Welt selbst zu bewegen und zu errichten vermocht hätte. In seiner neuen Konzeption als Demiurg oder Weltenschöpfer stellte man sich Gott vor als Architekt, der das Universum nach einem geometrischen Modell errichtet oder mit dem Zirkel in der Hand die Proportionen des Universums aufzeichnet. Der platonische Demiurg ist freilich eine zutiefst inkonsequente Konstruktion, wie Hans Blumenberg anmerkt. Er musste es sein, damit er zum Veranlasser technischer Anstrengungen werden konnte, mit dem Ziel, die Natur nicht nur zu kopieren, sondern zu ergänzen und zu verbessern. »Entweder sind die Ideen in ihrem Kosmos voll und absolut befriedigend, dann ist jede Abbildung oder Verdopplung eine Verschlechterung, ein Nicht-Erreichen des Standards und damit unverantwortlich, oder die Ideen sind eben in sich selbst unzureichend, auf Ergänzung und Vollstreckung drängend, dann genügt ein treuer Nachbildner nicht, sondern es ist ein Korrektor erforderlich, einer, der über das hinausgeht, was Gott geliefert hat, und sich nicht schuldig macht an der Weitergabe von Insuffizientem. Es war aber ganz undenkbar, Kritik an Gott zu üben, ein Verschulden Gottes gegenüber seiner Schöpfung festzustellen, das wäre die schlimmste Form von Majestätsbeleidigung.« (16)
Dem antiken Menschen war zugesichert worden, Teil eines Kosmos zu sein. Mit dem Schöpfungsgedanken aber wurde der Welt angeboten, aus einer Handlung und aus einem Willen hervorgegangen zu sein. Der Mensch durfte sich fortan fragen, warum um Himmels willen das Ergebnis nicht zufriedenstellend ist. Die Gnosis reagierte, indem sie den Heilsgott von dem Schöpfergott trennt und den Demiurgen als ein unbefragbares tyrannisches Prinzip einführt, von dem Versöhnung mit dem Geworfensein in die Welt gar nicht zu erwarten war. Die Bösartigkeit des Demiurgen ist das Pendant zur Eschatologie. Der Untergang der Welt könnte keine Heilsbedeutung haben, wenn sie nicht schlecht geraten wäre. (17) Der Umbau Gottes vom Heilsbringer zum Inbegriff der Ideen und zum Weltenschöpfer, bevor er dann abermals mutierte zum apokalyptischen Schmerzensmann, bereitet trotz aller Widersprüche den Wechsel von der Mimesis zur Technik als modernes erkenntnistheoretisches Paradigma vor. Erkenntnis war bis dahin von einer vorher arrangierten Erkennbarkeit der Dinge abhängig gewesen. Gott gewährleistete selbst die Intelligibilität der Dinge, da er unmöglich wollen konnte, daß die Schöpfung ihrem Adressaten verborgen blieb. Die Menschen mussten also in der Natur wie in einem offenen Buch lesen und staunen können. Erkenntnis wurde nach dem Modell der Mimesis begriffen, als Nachahmung, war passiver Nachvollzug eher als eigenständige Leistung, Archäologie eher als Neubau. Nunmehr wird das Erkennen an das menschliche Handeln geknüpft. Erkenntnis ist nicht mehr vorgängig und metaphysisch garantiert, sondern durch die Überwindung der Realität in ihrer Widerständigkeit begründet. Was der Mensch hervor-
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bringt und verändert, kann er auch erkennen. Die Welt wird zum materialisierten Ausdruck der menschlichen Fähigkeit zum verändernden Eingriff und seines Zwangs zur Selbstobjektivierung. Die Schöpfung ist fortan nicht mehr auf symbolische Vermittlung angewiesen, weil die Realität in ihrer Struktur der Struktur des Erkennens selbst entspricht. Subjektivität erfährt sich dementsprechend nicht mehr als Adressat einer Schöpfung und in der Lektüre ihrer Selbstoffenbarung, sondern in der Transformation des Vorgefundenen, im Erfolg der Veränderung und am Widerstand der Materie. Neuer Ort der Selbstreflexion des Menschen als privilegiertes Gattungswesen ist der technische Eingriff und die Vergegenständlichung der auf die Bedürfnisse der Subjekte bezogenen Zwecke. (18) Technik und der Architekt sind damit zum Signum subjektiver Selbstbestimmung, zum Modell moderner Erkenntnistheorie und zum Symbol für die Authentizität menschlicher Gestaltungskräfte geworden. Die Schlüsselfigur philosophischer Reflexion ist mit dem empirischen Individuum, das zufällig den Beruf des Architekten ergriffen hat, natürlich nicht identisch. Der Architekt in jenem überhöhten symbolischen Sinne ist eine Abstraktion, wie das Kantische Transzendentalsubjekt. Dem gattungsmäßigen Begriff des selbstmächtigen Subjekts kommt allerdings ein solches Individuum in der sozialen Wirklichkeit am nächsten, das sich durch eine Tätigkeit auszeichnet, die sich nicht im bloßen Nachvollzug erschöpft, sondern schöpferisch, erfinderisch und konstruktiv ist. Descartes, in dessen Erkenntnistheorie diese schon im Mittelalter sich abzeichnende Entwicklung gipfelt, war nicht zufällig Philosoph und Architekt in einer Person, und er hat aus der Verknüpfung beider Metiers Nutzen gezogen. Für den Architekten im idealen Sinn kommt alles, wie er denkt, weil er kann, was er will. Er ist technisch immer auf der Höhe seiner Intuitionen. Die Welt repräsentiert sich ihm als ein Arsenal verfügbaren Materials und als gut ausgerüstetes Laboratorium. Sie vermag ihn nicht mehr als abgeschlossene und vollkommene Einheit zu beglücken und beeindrucken, sondern interessiert ihn als etwas zu Bearbeitendes, als verbesserungsbedürftig, unter dem Gesichtspunkt der Veränderbarkeit. Aus der Erde als dem Tempel zur Ehre Gottes wird unter seinem Blick eine gigantische Baustelle. Newton begriff das Weltgebäude nicht mehr als ein statisches Bauwerk, sondern als eine perfekt arbeitende Maschine. In Le Corbusiers Rede von der Stadt und dem Haus als Maschine schwingt diese Denktradition mit, deren Wurzeln bis ins Mittelalter zurückreichen. Der Architekt sonnt sich in den Abstrahlungen der metaphysischen Figur des demiurgischen Schöpfergottes. Dieser Sonnenplatz wurde von der modernen Avantgarde noch einmal neu reklamiert. Freilich stellen Baustellen auch immer eine Drohung dar. Rem Koolhaas definierte moderne Architektur als etwas, das dem Impetus gehorcht, »der Welt Bauwerke aufzuoktroyieren, um die sie nie gebeten hat und die vorher bloß als vage Gedankengebilde in den Köpfen ihrer Schöpfer existiert haben«. Dies geschieht als ein traumatisches Erlebnis. Der Architekt muss sich wie ein einsamer Schauspieler fühlen, »der ein völlig anderes Stück aufführt als die übrigen Schauspieler, die mit ihm auf der Bühne stehen«. »Die moderne Architektur will etwas aufführen, ohne ein Teil der geplanten Inszenierung zu sein.« Sie beharrt dabei auf einer moralischen Überweltlichkeit, für die es einer rhetorischen Rechtfertigung bedarf, die sie Koolhaas zufolge in der Bibel vorgeprägt findet, in der Legende von Noah.
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»Was Noah gefehlt hat, ist Stahlbeton. Was der modernen Architektur fehlt, ist eine Sintflut.« (19) »Die moderne Architektur wird immer präsentiert als eine in letzter Minute auftauchende Rettungsmöglichkeit, als nachdrückliche Aufforderung, sich die paranoische These zu eigen zu machen, wonach eine Katastrophe jenen unvernünftigen Teil der Menschheit vernichten werde, der sich an alte Formen des Wohnens und des städtischen Zusammenlebens klammert.« (20) »Während die anderen törichterweise so tun, als sei alles in Ordnung, bauen wir unsere Archen, damit die Menschheit die kommende Flut überleben kann […]« Der moderne Architekt ist jemand, der in Zeiten der Gefahr zur Stelle sein muss, auch an Orten, wo sich sonst keiner hin traut.
Wie in der Soziologie werden im Denkstil der Architektenprofession krisenhafte Erscheinungen der Gegenwart auf Fehlentwicklungen zurückgeführt, die man – so die allgemeine Überzeugung – korrigieren könne. »Es muss also gleichsam eine gute Gesellschaft hinter der Gesellschaft geben, auf die man Strukturen und Effekte des Industriekapitalismus zurückdirigieren kann. An einem an sich lebensfähigen System ist etwas schlimm geraten, oder, ins Normative gewendet: die für die Fortsetzung geordneter Gesellschaft notwendigen Normen werden missachtet. Die Gesellschaft ist ein System hinter den Problemen, die zur Krise geführt haben, aber gelöst werden können. Mit dieser Voraussetzung zweier Ebenen eignet sich der Krisenbegriff zur Selbstbeschreibung einer Gesellschaft, die sich in einer Übergangsphase befindet und den Zusammenhang von Strukturen und Folgen noch nicht voll begreifen kann.« (21)
Le Corbusier, als sich ihm Architektur als der Hebel offenbarte, an dem man ansetzen muss, um die großen Gesellschaftsprobleme zu lösen, ist es, als wenn Gott ihn persönlich, seinen auserwählten Sohn, beauftragt hätte, seine missratene Schöpfung geradezubiegen und so die teleologische Unterstellung zu retten. Zum Architekten, mehr noch als zum Dirigenten und zum Kapitän gehört eine gute Portion Größenwahn. Der Enthusiasmus und Hochmut der Modernen ist verflogen. Gegenwärtig wird die Gottgleichheit des Architekten angefochten von der Figur des Bastlers. Im alten Ägypten zum Gott erhoben, im Mittelalter der dienende Werkmeister, mal als »Titan der Erde« (Ledoux) gefeiert, mal als »Schwachkopf« (Flaubert) geschmäht, steht »der Architekt […] im Spagat zwischen Alleskönner und sich aller Disziplinen bedienender Dilettant«. (22)
D 3. Besser als in der Figur des Ingenieurs findet sich der Mensch als Inkarnation moderner Anthropologie gegenwärtig gespiegelt in der des Bastlers. Wir kennen diesen vor allem als als Verkleinerer, als Schöpfer von ›modèles réduits‹. Talentierte und ausreichend leidenschaftliche Bastler finden wir vor allem in den Reihen solcher Berufstätiger, die für ihre seelische Balance einen Ausgleich zum harten und unmenschlichen oder langweiligen und eintönigen Berufsleben brauchen, unter kleinen Angestellten oder Beamten wie Wutz aus Auenthal, sowie unter Rentnern und Kriegsveteranen wie Onkel Toby.
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Dieser literarische Sonderling, der seine Zeit am liebsten inmitten maßstabsgetreu angelegter Modelle schlachterprobter europäischer Festungsanlagen verbringt, die er mit Hilfe seines treuen Dieners nachgebaut hat und wo er die eingebildeten Attacken ganzer Armeen abwehrt, erwehrt sich damit zugleich der Attacken einer lustigen Witwe. Laurence Sternes »Tristram Shandy« versteht sich als dichterische Illustration zu Lockes Gesetz der Ideenassoziation und zu Humes Lehre vom individuellen Bewusstseinskasten, – beides Vorstellungen vom Menschen als Gefangener seiner privaten und inneren Welt, die keinerlei vorgängige Verbindung mit der Natur hat, und selbst höchst exzentrische Anschauungen, die des Autors und dieses Romans würdig sind. Die Figuren Sternes betrachten die Welt im Assoziationshorizont dessen, was sie am liebsten tun. Das Steckenpferd oder »hobby-horse« ist eine Objektivierung dieser Bewusstseinslage. Von ihrem Steckenpferd aus beurteilen und (miss-)verstehen die Personen ihre Mitmenschen und deren Steckenpferde wie von Natur aus. Onkel Tobys Hobby ist, obwohl oder weil die Teilnahme an einer bedeutenden Schlacht ihn ein Bein kostete, die Kriegskunst, insbesondere die Befestigungstechnik, wie sie von Vauban und Simon Stevin bis an die Grenze des Absurden verfeinert worden war. Mit seinem Steckenpferd reitet er in jeder freien Minute mörderische Attacken auf seine verkleinerten Modelle. In seinem Hobby vollständig befangen, liefert es ihm auch in der übrigen Zeit die Metaphern und Vergleiche, Denkmuster und Begriffe für alles, was ihm im Leben begegnet. Auch Onkel Toby ist Meister oder Opfer und Gefangener einer Verkleinerung nicht nur seiner privaten Welt, sondern der Welt insgesamt. (23) Nach dem Erfolg seines »Tristram Shandy« bürgerte sich im 18. Jahrhundert der Begriff »hobby-horse« für eine leidenschaftlich betriebene Liebhaberei ein, für etwas, das man vorher mit La Bruyère als »curiosité« bezeichnet hatte. Für La Bruyère war diese ein Ärgernis, das auf dem Irrtum beruht, das Individuum könne sich durch eine eigentümliche Liebhaberei von allen anderen unterscheiden und damit seine Freiheit begründen, während es sich doch tatsächlich Moden unterwerfe und sich in seinen Interessen verfange und letztlich sogar seinen Interessen zuwider lebe, indem er seine Lebenszeit und sein gesamtes Vermögen einem Spleen opfere. Als abschreckendes Beispiel führte La Bruyère einen Hauseigentümer an, der dieses so prächtig ausstattet, dass es unbewohnbar wird und nur noch als Schauobjekt für Touristen dienen kann, während der Hausherr den Rest seines Lebens in der Dachkammer verbringen muss. Dieses Aperçu wurde übrigens eine satirische Formel der konservativen Kritik an der Moderne, in Zukunft nur noch die Dachkammer zu bauen und das Haus zu vergessen. (24) Auf dem Gipfel der Klassik trifft das aus dem Bannkreis der Aufklärung und ihrer Vernunft-Religion sensualistisch ausbrechende Individuum scharfe und panische Kritik. La Bruyère, der bereits den Anfängen der Auswüchse wehren wollte, hat mit seiner obsessiven Sammlung von Beispielen für bizarre Leidenschaften freilich selbst zur Expansion der Auswüchse beigetragen. Seine Porträtserie legt nahe, dass der Arten der bizarren Liebhabereien unzählige seien und daß, mag das Individuum noch so sehr Gefangener seiner Leidenschaften sein, die Eigenwelt, die es produziert, im poetischen Sinne unausschöpf bar ist. Die beginnende Freisetzung des von den hehren Idealen der Vernunftaufklärung unterdrückten »kleinen Subjekts«, unserer empirischen »Kleinheit«, die La
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Bruyère noch mit Befremden und Abwehr registrierte, findet bei Laurence Sterne ungebrochene Sympathie. Wo der Moralist seinen kritischen Ton anschlug, bittet Sterne um Nachsicht und verführt er zur Identifikation mit liebenswerten Schrullen. Wo der Rationalist die Welt der Handlungen und Gedanken in vernünftige und Narreteien aufteilt, findet Sterne wechselweise das eine im anderen. Wo jener den hybriden Stolz des kleinen Subjekts ins unfreiwillig Komische zieht, das wider alle Vernunft seine eigene kleine Welt mit Seele, Kult und Religion ausstaffiert, um sich wie Gott selbst am siebten Schöpfungstag zu fühlen, da reklamiert Sterne das Recht auf eine individuelle Eigenwelt, mit der sich eine bisher gebundene Subjektivität gegen rigorose Disziplinierung zur Wehr setzen kann, und mag sie noch so sonderbar und lächerlich erscheinen. (24) Jean Pauls Schulmeister Wutz schmeichelt sich selbst, zwei Wege zum Glücklichsein zu kennen: Entweder versucht man sich so weit über das Gewölke des Lebens zu erheben, dass man die ganze äußere Welt mit ihren Wolfsgruben, Beinhäusern und Gewitterableitern von Weitem unter seinen Füßen nur wie ein eingeschrumpftes Kindergärtlein liegen sieht, oder man bemüht sich, in eben diesem Gärtlein sich »in eine Furche einzunisten, dass, wenn man aus seinem warmen Lerchenneste heraussieht, man ebenfalls keine Wolfsgruben, Beinhäuser und Stangen, sondern nur Ähren erblickt, deren jede für den Nestvogel ein Baum und ein Sonnen- und Regenschirm ist« . Auch Quintus Fixlein ist ein fröhlicher Liliputaner, für den ein Blumenbeet einen Wald darstellt und der eine Leiter an ein abzuerntendes Zwergbäumchen lehnt. Darin mochte Jean Paul nicht schlicht die Dürftigkeit bürgerlichen Daseins ausgedrückt sehen, sondern vielmehr einen unheroisch-bürgerlichen Lebens- und Genusswillen, der in seinem Ernst und seiner Würde dem Heroischen und Genialen des Ausnahmemenschen gleichwertig sei. Jean Pauls Ironie steht in der Tradition der Idylle: Bezeichnung einer Kleinform, die – nach dem Muster von Theokrit und Vergil – im 18. Jahrhundert wiederbelebt und abgewandelt wurde zu Gemälden »stiller Ruhe und sanftem ungestörtem Glück«, wie Geßner sie nannte, selbst ein Meister dieser Form, in der ein bescheiden kleiner Weltausschnitt zur höchsten Form gebracht werden sollte. Theokrit prägte den Begriff des Idylls mit dem Diminutiv von eidos. Solche Bildchen schickte man den Freunden von der Peripherie der Villegiattura ins städtische Zentrum, mit Schaf, Hirte und Sonnuntergang. In der italienischen Renaissance liegt ein zweiter Anfang der idyllischen, pastoralen Kommunikation. Kritiker witterten darin die unlautere Absicht der Unsichtbarmachung der Wirklichkeit. Der Vorwurf der unzulässig übermäßigen Komplexitätsreduktion wiederholt sich angesichts der gedanklichen Idyllen, die Theoretiker des sich auskristallisierenden Marktes im 18. Jahrhundert erfunden haben, etwa das Konzept des Marktvertrauens, des Vertrauens darauf, dass sich hinter dem Rücken der das Privatinteresse konsequent verfolgenden Egoisten das Allgemeinwohl von selber herstellt: wenn jeder an sich selbst denke, sei an alle gedacht. Theorien, die in der Nachfolge der Idee der Vorsehung und der Theodizee stehen, und die kapitalistische Zukunft planbar denken als Vorsehung unter Providenz. Die Wirtschaft ist der einzige Bereich, der den Weisen noch kennt. Den gibt es sonst nirgendwo mehr. Die Ökonomie hat einen idyllischen Berufsstand bis heute bewahrt. Die idyllische Verkleinerung fühlt sich besonders heimisch auf dem Felde der Architektur. Auch hier findet sie Verteidiger und Verurteilung. Die Darstellung
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seliger Simplizität verfiel dem Verdikt der »kraftlosen Schönheit« durch Hegel, der sie mit beißendem Spott als Realitätsflucht disqualifizierte, als Ausdruck einer Geistesart, die sich vor den Forderungen des Daseins in eine Idealwelt flüchtet, statt, sich entäußernd an das Fremde, Wirklichkeit zu durchdringen und zu begreifen. Jean Paul machte sich freilich anheischig, jene Form in eine moderne und durchaus realitätstaugliche Erzählform zu verwandeln. Die Fähigkeit, mit großen Plänen und Passionen diesen in einer Art von genialem Wahnsinn zu folgen und so die Notdurft und die Fallen des Daseins gewissermaßen zu überfliegen, ist Ausnahmemenschen vorbehalten. Ihr Prinzip kann nicht für den gelten, der die Frondienste des täglichen Daseins abzuleisten hat. Ihm bleibt nur der eindeutig unheroische Weg der seligen Vergrößerung des Geringsten, der Reigen der »mikroskopischen Belustigungen«. Der Dichter soll Jean Paul zufolge daher die Menschen nicht mit Heroen langweilen, deren Beispiel unerreichbar bleibt, sondern sie den Kunstgriff lehren, noch aus dem bescheidensten Material des Daseins ästhetische und moralische Genugtuung zu ziehen. Jean Paul hält sich zugute, damit nicht Beschränkungen des Geistes zu entschuldigen, vielmehr mute er dem Menschen nicht weniger zu, als für das Erhabene nicht zu schwach und zugleich für das Geringfügige nicht zu stolz zu sein. Im Unterschied zu Hegels scharfer Trennung zwischen prosaischer und poetischer Welt wollte Jean Paul graduelle Abstufungen der Möglichkeit zulassen, dem prosaischen bürgerlichen Leben mehr oder weniger Poesie zu verleihen oder abzutrotzen. Man müsse dem prosaischen bürgerlichen Leben einen künstlerischen Geschmack abgewinnen, indem man es poetisch zu genießen lerne. Sein Kunstgriff war die Verfremdung des Bürgers zum Sonderling, der gerade als kauziger Außenseiter menschlich und anrührend wirkt. Der Unangepasste, der gerade in seinen Schrullen sein eigenes Leben zu leben imstande ist, verdeutlicht dem am Heroischen orientierten Bürger dessen Entfremdung vom Ideal des Menschlichen. Er unterliegt freilich dabei dem Verdacht einer die Realität flüchtenden Innerlichkeit. (25) Aus der Perspektive Jean Pauls sind auch Salomon Geßners um 1756 erschienene poetische Stillleben einer anderen Interpretation zugänglich, als der durch Hegel und durch Goethe, der sie ebenso vernichtend rezensierte, nämlich nicht nur als Ausdruck intellektueller und schöpferischer Insuffizienz, sondern als poetische Beschwörung der Chimäre einer den bürgerlichen Idealen tatsächlich entsprechenden Welt, in der statt der Macht- und Besitzgier, der Antagonismen und der Konkurrenz nur brüderliche Liebe waltet. Geßners Miniaturen fordern trotzig auf, das Unwahrscheinliche dennoch zu denken. Doch die Skeptiker wissen: Wenn sich der Kleinbürger Francois Guizots Maxime »Enrichissez-vous« ebenfalls zu eigen machte, in dem Projekt eines egalitären Kleinbürgertums mit als einem als Palast empfundenen kleinen Einfamilienhaus samt Gartenzaun, bliebe der Reiche, zumal der Neureiche, doch immer der andere. Das Geld gerät eben immer in die falschen Hände. Marx hatte denn auch für diese solipsistischen Lösungen nur Hohn übrig, ebenso wie für die Experimente der utopischen Sozialisten, die er als »Duodezausgaben des neuen Jerusalem« verspottete. Doch der frühsozialistische Denkimpuls hat sich bis heute nicht verbraucht. Was Saint-Simon einst behauptete, mag man auch heute noch für zutreffend halten: Würde die gesamte politische Elite mitsamt ihren Beratern und Anwälten ab-
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geschafft, ginge es Frankreich kein bisschen schlechter. Gäbe es dagegen keine Erfinder, Ingenieure und Denker mehr, würde das Land, wie jedes andere auch, in einen Abgrund stürzen. Die politischen Skandale der Berlusconis und Janukowitschs und Temers provozieren auch heute die Perspektive einer von Parasiten befreite, aber auf moderat praktische Vernunft gestellten Gesellschaft, irgendwo zwischen dem Ideal gleichgestellter Kleineigentümer und der fast gänzlichen Abschaffung des Privateigentums. In der geographischen Wirklichkeit sind dem Auftreten jener Sonderlinge keine Grenzen gesetzt, wenngleich es deutliche lokale Schwerpunkte gibt. Wir begegnen ihnen eher in Klein- als in Großstädten, eher an Stadträndern als in den Zentren. Manche Landschaften zeichnen sich durch deren Häufung aus und scheinen der Qualität ihrer Arbeit günstig zu sein. Einige englische Grafschaften, einige niederländische Provinzen und einige Gegenden Deutschlands scheinen die architektonische Bastelleidenschaft überdurchschnittlich zu nähren. Führend sind einige Départements in Südfrankreich, in denen weitaus die meisten und die bemerkenswertesten Exemplare verkleinerter Modelle zu besichtigen sind. Der »ideale Palast« des Briefträgers Cheval ist weltberühmt und eine touristische Sehenswürdigkeit ersten Ranges. Und er ist nur ein »Palast« unter vielen, die sämtlich Verehrung verdienen und auch genießen. Das war nicht immer so. Man kann sich angesichts dieser höchst merkwürdigen Bauwerke sehr gut vorstellen, dass sie, bevor sie berühmt wurden, in erster Linie Zielscheiben allgemeinen Spotts gewesen sind. Monsieur Cheval hat 26 Jahre lang an seinem »idealen Palast« gezimmert. Man kann mühelos nachvollziehen, dass seine Nachbarn in Hauterive, im Département Drôme, die ja von ihm die Post erhielten, ihm bei seinem allabendlichen und allsonntäglichen Treiben amüsiert und kopfschüttelnd und bisweilen auch etwas besorgt zugeschaut haben, manchmal wohl auch aufgebracht über fortgesetzte Ruhestörung, und wie umgekehrt das Gerede bewirkt hat, dass sich der Briefträger nur noch tiefer in die Arbeit verbohrte. Die Bastler sind Sonderlinge in einer Welt von Spießern. (26) Man steht noch heute ein wenig fassungslos vor der Konsequenz, mit der hier etwas ganz und gar Entbehrliches, etwas Nichtiges verfolgt wird, ja dass es ein ganzes Leben ausfüllen kann, sich zur Berufung, zum Lebenswerk auswachsen kann, das unsagbar viel Kraft kostet und dem alle erdenklichen Opfer gebracht werden. Andererseits kann man sich bei anderen offiziell hehren Zielen und angeblich Notwendigem fragen, ob denn sie den Einsatz eher rechtfertigen. Man denke an Peter Eisenmans Ciudad da Cultura de Galicia oder die zahllosen verrottenden Stadien ehemaliger Meisterschaften. Außerdem kann man nicht umhin, in den Basteleien, zumindest in den extravaganten Exemplaren, ein Konzept, eine Idee verwirklicht zu finden und einen ausgeprägten Gestaltungswillen am Werk zu sehen, der den meisten seriösen Produkten, mögen sie auch so nützlich und unentbehrlich erscheinen, abgeht. Man mag freilich zögern, den Basteleien künstlerischen Rang zuzumessen. Doch sie verführen dazu, die Kriterien für eine solche Zumessung großzügig auszulegen und die Grenze zwischen Kunst und Kitsch nicht als unüberwindliche Barriere zu verstehen. Lévi-Strauss, dem an dieser Unterscheidung ohnehin nichts liegt, spricht denn auch von der akademischen Miniaturmalerei eines Clouet und von Streichholzkathedralen, von Buddelschiffen und dem »Palais idéal« in einem Atemzug.
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Um die Intelligibilität der Verkleinerung vor dem Kitschverdacht der unzulässigen Verharmlosung zu bewahren, nimmt Lévi-Strauss Bezug auf eine Figur in Charles Dickens’ »Great Expectations«: »Mr. Wemmick und die »zweifellos durch Beobachtung inspirierte Architektur seines Vorstadtschlosses […] mit seiner Miniatur-Zugbrücke, seiner Kanone, die neu Uhr ankündigt, und seinem Salat- und Gurkenbeet, dank dessen der Verteidiger eine Belagerung aushalten könnte, wenn es nötig wäre«. (27) Zu seiner Miniaturfestung gehören eine aus einem Brett bestehenden Zugbrücke, ein Graben von vier Fuß Breite und zwei Fuß Tiefe, ein durch einen Regenschirm bedeckter Böller, um die Zeit bekanntzugeben – das einzige, was sein schwerhöriger Vater noch hören kann – und ein winziger Teich mit einer salatschüsselgroßen Insel und einem zur Benetzung des Handrückens gerade ausreichend großen Springbrunnen. Der schrullige Kanzleigehilfe, dessen Mund sich wie ein Briefkastenschlitz öffnet und schließt, trennt mit Hilfe dieser genannten Vorrichtungen zwei Momente seines Lebens wie zwei Realitätsbereiche. Als Angestellter eines gewissen Jagger, dessen Büro im Schatten des Galgens steht, bewegt er sich in einer Sphäre von Gewalt und Verbrechen, Betrug und Mitleidslosigkeit. Als Privatmann lebt er nur für seinen bescheidenen Besitz, seinen Vater und die Möglichkeit, hin und wieder Besuch zu empfangen. Er achtet peinlich darauf, das Geschäftsleben von allem Privaten, von Gefühlen und persönlichen Meinungen freizuhalten. Mit Hilfe der Zugbrücke vermag er andererseits das private Idyll gegen das Draußen abzuschirmen. Indem er sie hochzieht, nachdem er selbst nach Feierabend oder ein genehmer Besucher sie passiert hat, ist er in der Lage, sein Privatleben von allem Beruflichen und Öffentlichen abzusperren, ja selbst eine Belagerung zu überstehen. Mit dieser Konstruktion rettet Wemmick den Schein einer noch möglichen Privatheit gegenüber gesellschaftlicher Vereinnahmung, freilich um den Preis eines Abbruchs der Kommunikation zwischen den Lebensbereichen und Momenten seiner eigenen Persönlichkeit. Er spürt zwar die Begrenztheit des selbst gewählten Refugiums, doch der Idealismus des Privatmannes Wemmick beruhigt sich damit, dass es bei ihm zu Hause und in seinem Denken, das er außerhalb seiner eigenen vier Wände freilich für sich behält, nicht zugeht wie draußen, wo das Gesetz der Gleichgültigkeit herrscht und nicht nach der Herkunft des Besitzes gefragt wird, noch nach den Gründen für das Verbrechen. Die Verkleinerung betrifft also nicht nur die Größe seines Anwesens, sondern auch seine Weltsicht allgemein, seinen moralischen und ideologischen Horizont. Aus diesem Geruch der übermäßigen, neurotischen Vereinfachung jedoch will Claude Lévi-Strauss den Bastler gerade herausholen. Ihm sei Dank wurde dem Bastler, »der mit seinen Händen werkelt und dabei Mittel verwendet, die im Vergleich zu denen des Fachmanns abwegig sind«, eine exquisite Rehabilitierung zuteil, als Nebeneffekt seines Bemühens, dem »wilden Denken« fälschlich sogenannter »primitiver« Völker in kognitiver Hinsicht Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Um das tatsächliche intellektuelle Niveau der sogenannten Wilden zu würdigen, verglich er deren Mythen-Produktion mit den modernen Wissenschaften, durchaus nicht zum Nachteil für die ersteren. Um deren Unterschied zu charakterisieren, beschrieb er die Mythen als eine Art intellektueller Bastelei. Die Eigenart des mythischen Denkens bestünde nämlich darin, »sich mit Hilfe von Mitteln aus-
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zudrücken, deren Zusammensetzung merkwürdig ist und die, obwohl vielumfassend, begrenzt bleiben; dennoch muss es sich ihrer bedienen, an welches Problem es auch immer herangeht, denn es hat nichts anderes zur Hand«. (28) Vergegenwärtigen wir uns die Arbeitsweise im Detail: »Der Bastler ist in der Lage, eine große Anzahl verschiedenartiger Arbeiten auszuführen; doch im Unterschied zum Ingenieur macht er seine Arbeiten nicht davon abhängig, ob ihm die Rohstoffe oder Werkzeuge erreichbar sind, sie je nach Projekt geplant und beschafft werden müssen: die Welt seiner Mittel ist begrenzt, und die Regel seines Spiels besteht immer darin, jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist, auszukommen, d.h. mit einer stets begrenzten Auswahl an Werkzeugen und Materialien, die überdies noch heterogen sind, weil ihre Zusammensetzung in keinem Zusammenhang zu dem augenblicklichen Projekt steht, wie überhaupt zu keinem besonderen Projekt, sondern das zufällige Ergebnis aller sich bietenden Gelegenheiten ist, den Vorrat zu erneuern oder zu bereichern oder ihn mit den Überbleibseln von früheren Konstruktionen oder Destruktionen zu versorgen. Die Mittel des Bastlers sind also nicht im Hinblick auf ein Projekt bestimmbar […] Sie lassen sich nur durch ihren Werkzeugcharakter bestimmen – anders ausgedrückt und um in der Sprache des Bastlers zu sprechen: weil die Elemente nach dem Prinzip ›das kann man immer noch brauchen‹ gesammelt und aufgehoben werden.« (29) »Sehen wir ihm beim Arbeiten zu: Von seinem Vorhaben angespornt, ist sein erster praktischer Schritt retrospektiv: er muß auf eine bereits konstituierte Gesamtheit von Werkzeugen und Materialien zurückgreifen; eine Bestandsaufnahme machen oder eine schon vorhandene umarbeiten; schließlich und vor allem muß er mit dieser Gesamtheit in eine Art Dialog treten, um die möglichen Antworten zu ermitteln, die sie auf das gestellte Problem zu geben vermag. Alle diese heterogenen Gegenstände, die seinen Schatz bilden, befragt er, um herauszubekommen, was jeder von ihnen ›bedeuten‹ könnte. So trägt er dazu bei, ein Ganzes zu bestimmen, das es zu verwirklichen gilt, das sich aber am Ende von der Gesamtheit seiner Werkzeuge nur durch die innere Disposition der Teile unterscheiden wird. Ein Eichenblock kann als Stütze dienen, der Unzulänglichkeit einer Fichtenbohle abzuhelfen; oder auch als Sockel, was die Möglichkeit böte, die Maserung und die Politur des alten Holzes zur Geltung zu bringen. Im einen Fall wäre seine Form ausschlaggebend, im anderen sein Aussehen. Aber diese Möglichkeiten bleiben immer durch die besondere Geschichte eines jeden Stücks begrenzt und durch das, was an Vorbestimmtem in ihm steckt, das auf den ursprünglichen Gebrauch zurückverweist, für den es geplant war, oder auch durch die Anpassungen, die es im Verlauf vielfältiger Verwendungen durchgemacht hat. Wie die konstitutiven Einheiten des Mythos, dessen Kombinationsmöglichkeiten durch die Tatsache begrenzt sind, daß sie einer Sprache entnommen sind, in der sie schon einen Sinn besitzen, der die Manövrierfreiheit einschränkt, sind auch die Elemente, die der Bastler sammelt und verwendet, bereits ›von vornherein eingeschränkt‹. Andererseits hängt die Entscheidung von der Möglichkeit ab, ein anderes Element in die frei gewordene Funktion einzusetzen, so daß jede Wahl eine vollständige Neuorganisierung der Struktur nach sich zieht, die weder der andeutungsweise vorgestellten noch irgendeiner anderen, die ihr hätte vorgezogen werden können, jemals entsprechen wird.« (30)
Der Architekt als Planer und Ingenieur hätte im Bastler einen würdigen Konkurrenten. In dem, was man Ende des 20. Jahrhunderts zeitgenössische Kunst nannte, kann man eine Tendenz ausmachen, den Architekten als Paradigma des Künstlers,
D. Permanenz und Gedächtnis, Demiurg und Bastler
wie er von Valéry am Beispiel Cézannes proklamiert worden war, nicht mehr so ernst zu nehmen. Der Schwächeanfall des Architekten als Reflexionsfigur begünstigt einen Rückfall auf die Mimesis, nicht ohne ihr Geraune: mit Abfallorakel und Dämonenglauben und einer Goldsuche, die sich als Filz- und Margarine-Alchimie verkleidet hat. Über Kunst wird gesprochen, als könnte sie nicht mehr sein, als das Aufnehmen der von der Natur selbst nicht realisierten Möglichkeiten, das Aufklauben des von ihr Liegengelassenen. Die Kunst konnte die Natur nicht ersetzen, sondern konnte bestenfalls für sie »einspringen«, so dass Aristoteles sagen konnte: Wer ein Haus baut, tut nur genau das, was die Natur tun würde, wenn sie Häuser sozusagen »wachsen« ließe. Das zweckrationale Handeln insgesamt wäre ein Traum, ein Mythos, eine nachträgliche Zurechtlegung aus der Position nicht eingestehbarer Hilflosigkeit und Ohnmacht gegenüber den Verhältnissen und ihrer Widrigkeit. Es käme darauf an, diesen Zustand nicht länger zu beklagen, sondern sich in ihm einzurichten und ihn als Glück zu genießen. Hans Blumenberg sah in den 80er Jahren des inzwischen vergangenen Jahrhunderts generell Anzeichen dafür, »daß die Phase der gewalttätigen Selbstbetonung des Konstruktiven und Authentischen«, des »Werkes« und der »Arbeit«, nur Übergang war. Die Überwindung der »Nachahmung der Natur« könnte in den Gewinn einer »Vorahnung der Natur« einmünden. Während der Mensch ganz dem hingegeben scheint, sich in der »metaphysischen Tätigkeit« der Kunst seiner originären Potenz zu vergewissern, stellt sich unvermutet im Geschaffenen eine Ahnung des Immer-schon-Daseienden ein, »als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei«. Blumenberg führt als Beleg und zur Veranschaulichung die Malerei Paul Klees an, die bei aller Architektonik doch nicht die Konstrukte von Menschenhand meint, sondern ältere, tiefer liegende, vorfindbare Strukturen. »[An dessen Werk zeige sich], wie im Spielraum des frei Geschaffenen sich unvermutet Strukturen kristallisieren, in denen sich das Uralte, Immer-Gewesene eines Urgrundes der Natur in neuer Überzeugungskraft zu erkennen gibt. So sind Klees Namengebungen nicht die üblichen Verlegenheiten der Abstrakten, an Assoziationen im Vertrauten zu appellieren, sondern sie sind Akte eines bestürzten Wiedererkennens, in dem sich schließlich ankündigen mag, daß nur eine einzige und vorgefundene Welt die Seinsmöglichkeiten gültig realisiert und daß der Weg in die Unendlichkeit des Möglichen nur die Ausflucht aus der Unfreiheit der Mimesis war.«
Eine derartige Einsicht müsse übrigens kein Beweis der Vergeblichkeit allen menschlichen Bemühens sein. »Es ist ein entscheidender Unterschied, ob wir das Gegebene als das Unausweichliche hinzunehmen haben oder ob wir es als den Kern von Evidenz im Spielraum der unendlichen Möglichkeiten wiederfinden und in freier Einwilligung anerkennen können.« (31) Einen vergleichbaren Impetus finden wir etwa in Peter Handkes »inniger Ironie«, mit der er den Weg »Über die Dörfer« dem auf den Schnellstraßen vorzieht, als Heimkehr zu unserem alten Erbe. Man denke auch an William Carlos Williams’ Parole: »Keine Ideen als in den Dingen« oder an das poetische Programm von Francis Ponge, »im Namen der Dinge« zu schreiben und zu handeln.
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Die naheliegende künstlerische Entsprechung ist sicherlich die Collage. Wie bei ihrer Herstellung schwankt auch bei der Betrachtung das Interesse ständig zwischen dem System an Beziehungen, das die einzelnen Teile verbindet, und der Befangenheit, die jedes Fragment weiterhin ausdrückt. Ihre Methode hat im Bereich der Architektur den Vorteil, dass man mit ihr die Dinge spielerisch benutzen und auf Ideen rekurrieren kann, ohne ihnen ideologisch verfallen zu sein, ohne an sie zu glauben. Sie erlaubt dem Architekten sogar, Utopien zu verfolgen, ohne sie in ihrer Gesamtheit akzeptieren zu müssen, wie ein Bild mit Retuschen. Berlin könnte als eine solche Collage aufgefasst werden, aus historischen Zitaten und unähnlichen Konstruktionen, Mikrokosmen bildend, in denen sich die unlösbaren Widersprüche des sie umgebenden Makrokosmos spiegeln. Die Collage erlaubt Ideen, Ideale, Utopien nicht aus Überzeugung oder bekenntnishaft zu teilen, sondern, ähnlich wie im Verfahren oder in der Haltung der Ironie, als eine Art Komplizenschaft mit den Einbildungen der anderen. Die Collage legt den Gedanken nahe, dass wir zumeist mit Einbildungen zu tun haben, die ohne Eigentümer auskommen. Wenn wir den Naiven oder Wilden unterstellen, an ihre Totemtiere wie an Götter zu glauben oder Kindern den Glauben an den Weihnachtsmann zugestehen, wenn wir abergläubischen Praktiken frönen, Horoskope lesen, dann handelt es sich um Illusionen, zu denen wir uns nie bekennen würden. Wenn allgemein der Trend zu Überzeugungen und Bekenntnissen geht, kann man in collagehaften Arbeiten eine gegenläufige Tendenz begrüßen. (32) Einem aufklärerisch-positivistischen Anspruch auf Instrumentalisierbarkeit alles Vorfindlichen und der Beherrschbarkeit der Natur opponiert dabei eine romantische Auffassung, der zufolge ein solcher zweckrationaler Zugriff alle Wesenheiten auf bloße Substrate des Zugriffs reduziert und somit verkennen muss. Die Romantik tritt dieser verblendeten Einstellung mit dem Postulat einer demütigen Aufmerksamkeit entgegen und mit einem Weltbild, in dem die Natur insgesamt das menschliche Selbstbewusstsein, die Figur des Fichte’schen Ich in sich aufgenommen und universalisiert hat. Novalis hat in diesem Sinne von dem prinzipiell selbstreflexiven Charakter des gesamten Erdendaseins gesprochen, vermöge dessen alles mit allem zusammenhängt. Er geht von einem Sich-selbst-Denken nicht als theoretische Forderung an einen über bloßes Alltagsbewusstsein hinaus fähigen analytischen Geist aus, sondern unterstellt es als natürliches Phänomen, ähnlich der Elektrizität. In den weitergehenden und tiefergreifenden Reflexionen des Menschen entfaltet sich lediglich das bereits angelegte Reflexionspotential des Wirklichen, gemäß einer immanenten Teleologie zur höchsten Klarheit in einem gottgleichen Absoluten. Wenn alles selbstbewusst ist, verliert sich auch die Differenz von Bewusstem und Unbewusstem zu einem nur graduellen Unterschied. Im Denken denkt sich immer nur das Denken. Alle Erkenntnis ist Selbsterkenntnis als Erkennender. Wie Schlegel behauptete Novalis die Bedingtheit aller Objekterkenntnis in einer Selbsterkenntnis des Objekts. Für Novalis ist sogar »die Wahrnehmbarkeit eine Aufmerksamkeit«. »Ein Stoff muß sich selbst behandeln, um behandelt zu sein.« Diese Erkenntnistheorie kennt keine Trennung von Subjekt und Objekt. Alles ist Subjekt und Objekt zugleich. Im Akt des »Potenzierens« oder »Romantisierens« ist jede Substanz in jede andere verwandelbar, jedes Reflexivitätsniveau in ein anderes überführbar. In der Steigerung der immanenten Reflexivität durch den Erkennenden strahlen die erkannten Naturdinge ihre Selbsterkenntnis auf andere Wesen ab.
D. Permanenz und Gedächtnis, Demiurg und Bastler
Selbst das naturwissenschaftliche Experiment besteht in einer Evokation des Selbstbewusstseins des Beobachteten. »Ob das Experiment gelingt, hängt davon ab, wieweit der Experimentator imstande ist, durch Steigerung des eigenen Bewusstseins, durch magische Beobachtung, wie man sagen darf, sich dem Gegenstand zu nähern und ihn endlich in sich einzubeziehen.« Natur »offenbart sich umso vollkommener durch ihn, je harmonischer seine Konstitution mit ihr ist«. (33). Ähnlich sagte Goethe: »Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.« Und Novalis philosophiert, »daß jede Substanz seine engeren Rapports mit sich selbst habe, wie das Eisen im Magnetism«. Dem Experiment liegt keine Frage von außen an den Gegenstand zugrunde, sondern es fasst nur die aufkeimende Selbsterkenntnis des Gegenstands ins Auge. »Simultan jeder Erkenntnis eines Gegenstands ist das eigentliche Werden dieses Gegenstands selbst. Denn die Erkenntnis ist […] ein Prozeß, der das zu Erkennende erst zu dem, als das es erkannt wird, macht.« (34) Subjekt und Objekt des Erkenntnisprozesses sind nicht trennbar, ebenso wenig wie das Faktische von der Theorie. Gebaute Architektur ist stets auch Architekturtheorie. Man kann in diesem romantischen Sinne Le Corbusiers Konzept der »promenade architecturale« verstehen, wie auch Adolf Loos’ »Raumplan«, weil hier das Konstituieren der Architektur durch denjenigen, der im Gebäude körperlich präsent ist und sich durch es hindurchbewegt, gebaut ist. Schlegel hatte diesen Reflexionsbegriff stärker auf die Kunst bezogen und auf die Kunstkritik, die entsprechend höher bewertet wurde, nämlich als Selbstreflexion der Kunst, die bereits Selbstreflexion des Denkens, des Menschen und der Natur ist. Kunstkritik ist Kunst der Kunst, Poesie der Poesie, Denken des Denkens, »ist selbst Natur und Leben, aber sie ist die Natur der Natur, das Leben des Lebens, der Mensch im Menschen«. (35) Kunst wäre bestimmte Selbstreflexion der Natur und demnach »beinah schon Kritik«. Die Welt ist einerseits als Objekt zweckrationalen Zugriffs nicht angemessen begriffen, anderseits hat sie die Struktur des sich der Welt denkend bemächtigenden Ichs selbst in sich aufgenommen und ist wie eine Verlängerung des Ich gedacht. Im ideengeschichtlichen Rückblick ist der Bastler also in guter Gesellschaft. Ihm wird aber auch eine Zukunft bescheinigt. Nach der Einschätzung Derridas hätte Lévi-Strauss mit der Bastelei das eigentlich längst fällige und auf der Hand liegende Paradigma eines post-subjektivistischen poietischen Diskurses gefunden. Als Ethnologe und Mythentheoretiker sei er dazu prädestiniert gewesen, weil er sich in seiner Praxis immer schon in die Heteronomie des Vorfindlichen verstrickt sehe. »Nennt man Bastelei die Notwendigkeit, seine Begriffe dem Text einer mehr oder weniger kohärenten oder zerfallenen Überlieferung entlehnen zu müssen, dann muß man zugeben, daß jeder Diskurs Bastelei ist. Der Ingenieur, dem Lévi-Strauss den Bastler entgegensetzt, müßte dann seinerseits die Totalität seiner Sprache, Syntax und Lexik konstruieren. In diesem Sinn ist der Ingenieur ein Mythos: ein Subjekt, das der absolute Ursprung seines eigenen Diskurses wäre […] Ein derartiges Subjekt, welches das Ganze seines Diskurses ›aus einem Stück‹ erzeugte, wäre der Schöpfer des Wortes, das Wort selbst. Die Vorstellung eines Ingenieurs, der mit jeder Bastelei gebrochen hätte, ist daher eine theologische Vorstellung;
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Architektur und Geistesgeschichte da Lévi-Strauss uns an anderer Stelle mitteilt, daß die Bastelei mythopoetisch sei, kann man ganz sicher sein, daß der Ingenieur ein vom Bastler erzeugter Mythos ist.« (36)
Den Bastler hatte es also bloß geträumt, der Ingenieur zu sein, den selbst träumte, das ruhmreiche Erbe des göttlichen Architekten anzutreten und dabei wie nebenbei den Erlösungstraum der Natur selbst zu verwirklichen. Oder ist der Bastler selbst eine Figur aus einem Traum, aber aus wessen Traum, dem des Ingenieurs oder der Natur? In Abwandlung eines Satzes von Schopenhauer wäre das, was die Geschichte der Technik erzählt, »in der Tat nur der lange, schwere und verworrene Traum der Menschheit«. Es könnte ihm gehen wie einst Tschuang Tse, der erwachte, nachdem er geträumt hatte, er sei ein Schmetterling und sich fragte: »Wie kann ich wissen, daß ich kein Schmetterling bin, der jetzt träumt, er sei ein Mensch?« (Lacans »chinesisches Paradoxon«) Dass die jeweils gegenwärtige Bausubstanz zum überwiegenden Teil aus früheren Zeiten übernommen wurde, muss aus dem Blickwinkel des Architekten, gemessen am Selbstbild dieses Berufsstandes, als Handicap und Zumutung erscheinen. Die beanspruchte Freiheit, nach Maßgabe der Erfordernisse, des Bedarfs, der Zweckdienlichkeit Wohnungen und die Infrastruktur einer Lebensgemeinschaft bereitzustellen, in materieller Hinsicht mit dafür zu sorgen, dass eine Stadt ihre Aufgaben erfüllen kann, wird dadurch auf demütigende Weise eingeschränkt, dass Strukturen, die bereits vorhanden sind und sich anderen Erfordernissen verdanken, übernommen werden müssen und bei Stadterweiterungen die bestmöglichen Vorstrukturierungen bieten und bei Behausungen von den Bewohnern teilweise dem ganz Neuen vorgezogen werden. Selbst die Ingenieure, die sich auf ihr Zeitgemäß-Sein so viel einbilden, verraten jene unvernünftige Gleichzeitigkeit an ihrem Habitus, wie Musil im »Mann ohne Eigenschaften« in Kapitel 10 beschreibt: »Es ist schwer zu sagen, warum Ingenieure nicht ganz so sind, wie es dem entsprechen würde, was sie beanspruchen. Warum tragen sie beispielsweise so oft eine Uhrkette, die in einseitigem, steilem Bogen von der Westentasche zu einem hochgelegenen Knopf führt, oder lassen sie über dem Bauch eine Hebung und zwei Senkungen bilden, als befände sie sich in einem Gedicht? Warum gefällt es ihnen, Busennadeln mit Hirschzähnen oder kleinen Hufeisen in ihre Halsbinden zu stecken? Warum sind ihre Anzüge so konstruiert wie die Anfänge des Automobils? Warum endlich sprechen sie selten von etwas anderem als ihrem Beruf; und wenn sie es doch tun, warum haben sie dann eine besondere, steife, beziehungslose, äußere Art zu sprechen, die nach innen nicht tiefer als bis zum Kehldeckel reicht? Bei weitem gilt das natürlich nicht von allen, aber es gilt von vielen, und die, welche Ulrich kennen lernte, als er zum ersten Mal den Dienst in einem Fabrikbüro antrat, waren so, und die, die er beim zweiten Mal kennen lernte, waren auch so. Sie zeigten sich als Männer, die mit ihren Reißbrettern fest verbunden waren, ihren Beruf liebten und in ihm eine bewundernswerte Tüchtigkeit besaßen; aber den Vorschlag, die Kühnheit ihrer Gedanken statt auf ihre Maschinen auf sich selbst anzuwenden, würden sie ähnlich empfunden haben wie die Zumutung, von einem Hammer den widernatürlichen Gebrauch eines Mörders zu machen.«
Was als Inkonsequenz erscheint und wie eine narzisstische Kränkung aussieht und was so erscheint, als sei man peinlich hilflos Zwängen unterworfen, muss
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nicht notwendig als Handicap angesehen werden. Zwänge sind nicht unbedingt etwas, wovon es sich zu befreien gilt, sie können auch als Stimulus der Erfindungsgabe begriffen werden, und dies wird in der Praxis häufig auch so verstanden. Vorgaben und Restriktionen in der Form oder im Materialgebrauch scheinen nur auf den ersten Blick den Spielraum für die Kreativität des Architekten einzuschränken. Man kann den Sachverhalt aber auch so betrachten, dass die Wahlfreiheit aus sämtlichen Möglichkeiten dazu verleitet, sich an Konventionen zu halten und dasselbe zu tun, was alle anderen auch tun würden. Paradoxerweise kann gerade die uneingeschränkte Freiheit im Bereich der kreativen Arbeit zu Redundanz führen. Umgekehrt können Einschränkungen zu nie gesehenen Resultaten stimulieren, weil die Vorgaben dem Architekten den Weg zu den Konventionen versperren, indem sie ihn von der Idealvorstellung der voraussetzungslosen Erfindung entlasten. Gerade wenn dem Architekten das Problem des Beginnens abgenommen wird, können sich im zweiten Schritt unverhoffte Möglichkeiten einstellen, auf die er sonst nie gekommen wäre. Im Unterschied zu der Art und Weise, in der Konventionen und Traditionen Wahlmöglichkeiten einschränken und zu Variationen vorgegebener Muster einladen, vermögen Restriktionen die Phantasie anzuregen und die Reflexion des eigenen Tuns zu unterstützen, wofür das niederländische Büro MVRDV immer wieder überraschende Belege liefert. Diesen durch unsere Begriffe verstellten Sachverhalt machen Verfahren deutlich, derer sich vor allem Komponisten immer schon bedienen. Hier sei nur auf die Zwölftontechnik verwiesen und auf die Kanons und Fugen, mittels derer sich Arnold Schönberg in Verbindung mit selbst auferlegten Regeln ein im Voraus nicht erkennbares Potenzial an Einfällen erschloss. Hat man sich durch die nicht frei verfügbaren Vorgaben ein Stück leiten lassen, tauchen Wahlmöglichkeiten auf, die man auf direktem Wege nicht hätte entdecken und intentional nicht hätte ansteuern können. Adornos negatives Urteil steht für den verbreiteten Vorbehalt gegenüber solchen Techniken. Sie gehören aber bereits im Barockzeitalter zur kompositorischen Routine und dienen dem Zweck, sich selber zu überraschen. (37) Derselbe Mann ohne Eigenschaften sieht sich in Kapitel 5 in die Lage versetzt, sein Besitztum nach Belieben neu herrichten zu müssen. »Von der stilreinen Rekonstruktion bis zur vollkommenen Rücksichtslosigkeit standen ihm dafür alle Grundsätze zur Verfügung, und ebenso boten sich seinem Geist alle Stile, von den Assyrern bis zum Kubismus an. Was sollte er wählen?« Er scheint hierüber nicht glücklich zu sein. Nachdem er alles Mögliche in Erwägung gezogen hatte, war er endlich auf dem Punkt, zu dem es ihn hingezogen hatte. »Sein Vater würde es ungefähr so ausgedrückt haben: Wen man tun ließe, was er wolle, der könnte sich bald vor Verwirrung den Kopf einrennen. Oder auch so: Wer sich erfüllen kann, was er mag, weiß bald nicht mehr, was er wünschen soll. Ulrich wiederholte sich das mit großem Genuß. Diese Altvordernweisheit kam ihm als ein außerordentlich neuer Gedanke vor. Es muß der Mensch in seinen Möglichkeiten, Plänen und Gefühlen zuerst durch Vorurteile, Überlieferungen, Schwierigkeiten und Beschränkungen jeder Art eingeengt werden wie ein Narr in seiner Zwangsjacke, und erst dann hat, was er hervorzubringen vermag, vielleicht Wert, Gewachsenheit und Bestand; – es ist in der Tat kaum abzusehen, was dieser Gedanke bedeutet! Nun, der Mann ohne Eigenschaften, der in seine Heimat zurückgekehrt war, tat auch den zweiten Schritt, um sich von außen, durch die Lebensumstände bilden zu lassen, er überließ an diesem Punkt seiner Überlegungen
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Architektur und Geistesgeschichte die Einrichtung seines Hauses einfach dem Genie seiner Lieferanten, in der sicheren Überzeugung, daß sie für Überlieferung, Vorurteile und Beschränktheit schon sorgen würden. Er selbst frischte nur die alten Linien auf, die von früher da waren, die dunklen Hirschgeweihe unter den weißen Wölbungen der kleinen Halle oder die steife Decke des Salons, und tat im übrigen alles hinzu, was ihm zweckhaft und bequem vorkam.«
D 4. Marcel Proust bemängelte, dass die späteren Nutzer alter Gebäude hoher Qualität diese gar nicht mehr zu erkennen und zu würdigen vermöchten. Er empfand die Umnutzung etwa eines Adelspalais als Hotel im modernen Sinne als Sakrileg und die herrenlos gewordene und ihrer eigenen Epoche entrissene Pracht als verschwendet und wie Perlen vor die Säue geworfen angesichts eines drohend heraufziehenden Banausentums. Er musste freilich einräumen, dass er seine melancholischen Reflexionen und seinen eigenen Bildungsbegriff gerade solcher Zweckentfremdung und solchem Missbrauch verdankte, indem er sich dazu reflexiv in Kontrast setzte. Wenn Marcel Proust davon redet, dass von den alten »Hôtels de villes« »ein Überschuss an Luxus übriggeblieben [war], der in einem modernen Hotel nicht recht nutzbar zu machen war und der nun, jedes praktischen Sinnes bar, in seiner Zwecklosigkeit ein Eigenleben führte«, dann spricht er von seiner Trauer über die verlorene Zeit, zugleich aber ungewollt von einer ästhetischen Qualität, die gerade in der Unangemessenheit liegt und für deren Wahrnehmung er selbst das erste Beispiel gibt. (38) Ebendieses Eigenleben in der Zwecklosigkeit schenkt demjenigen einen ganz besonderen Genuss, der, und sei es aufgrund einer Neigung, sich in Abgrenzung zu dem zu definieren, was allgemein als Dekadenz verachtet wird, diese Qualität zu erkennen vermag, auch gerade wenn er sich darin einsam und unverstanden weiß. Zu dem ästhetischen Mehrwert dessen, was in der Umnutzung dem Benutzer durch Dysfunktionalität geschenkt wird, tritt dann noch der Genuss hinzu, zu den wenigen Auserwählten zu gehören, die diesen Mehrwert überhaupt wahrnehmen und schätzen können, ohne freilich diesen Genuss mit anderen teilen zu können, es sei denn mit dem fiktiven Lesepublikum, das man mit rhetorischen Mitteln auf seine Seite zieht. Marcel Proust spricht in seiner Kulturkritik damit einen Aspekt der Moderne an, den Alexis de Tocqueville in seiner komplexen Abhandlung über die moderne Demokratie zum Thema gemacht hatte. Prousts Fähigkeit, die Verlusterfahrung überhaupt machen zu können, ist nicht etwas durch die moderne Demokratie Bedrohtes oder Vernichtetes, sondern sie verdankt sich allererst dieser Entwicklung. Die Wertschätzung des ästhetischen Mehrwerts eines für den modernen Konsumenten nutzlos gewordenen Luxus, der dem Bewohner einer aus früheren Epochen stammenden und in mancher Hinsicht zum Resultat von Umnutzungen gewordenen Gebrauchsgegenstandes oder Gebäudes zufällt, wird erst möglich in der Moderne. Der Gedanke, dass ein Bauwerk nicht notwendig defizitär sein muss, wenn es der aktuellen Zwecksetzung nicht originär entspringt oder nicht in ihr aufgeht, wird denkbar als Effekt von Demokratisierungsprozessen und in vollem Umfang erst möglich nach der Durchsetzung der funktionalistischen Doktrin. Erst das Dogma macht die Unbestimmtheit als Abweichung bemerkbar und schafft
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Platz für den Gedanken, dass die Differenz zwischen geplanter Nützlichkeit und gegebenem materiellem und formalem Angebot nicht als Handicap beklagt werden muss, sondern als etwas geschätzt werden kann, dank dessen ein Gebäude in funktionaler wie ästhetischer Hinsicht sogar gewinnen kann. Dass sich ein Mehrwert ergibt, der gar nicht intendierbar ist, den man nur wie im Märchen gegen den eigenen Willen unverdient geschenkt bekommen kann, widerspricht dem Dogma funktionalistischer Perfektion, setzt es als Kontrastfolie jedoch voraus. Aus der Wahrnehmung der Differenz von Funktion und Gestalt, für die man gerade dank des funktionalistischen Anspruchs, diese zum Verschwinden zu bringen, sensibilisiert ist, ergibt sich die Frage, welcher Fähigkeiten es auf Seiten des Architekten bedarf, um den unverhofften ästhetischen Mehrwert als Resultat eines Divergierens von Intention und tatsächlicher Nutzung, wenn er schon nicht planbar ist, doch nicht zu verfehlen und sich nicht zu verbauen, sondern zu ermöglichen oder zumindest zu begünstigen. Sich jeglicher Fixierungen zu enthalten, die unvorhersehbaren möglichen späteren Veränderungen dereinst im Wege stehen könnten, erscheint aus der Sicht des Funktionalisten als eine mögliche und naheliegende Option. Hat man sich jedoch die genuin geschichtliche Natur der Architektur erst einmal vor Augen geführt, wird deutlich, dass Architektur eben nicht eigenschaftslos oder unbestimmt sein und sich nicht jeglicher fixierender Artikulation enthalten darf, um jeweils aktuelle Nutzungsanforderungen mit Gewinn zu überdauern und zu transzendieren. Im Gegenteil muss sie sich gerade der aktuellen Nutzungsorientierung definitiv hingegeben haben. Wenn sie eines Tages womöglich anders oder entgegen ihrer jetzigen Bestimmung genutzt werden sollte, beschert gerade die aktuell entschlossene Bestimmtheit den späteren Nutzern jenen wunderbaren, unkalkulierbaren Mehrwert. Die Bestimmtheit, mit der sie sich einmal artikulierte, bestimmt auch später und in verändertem Kontext von Bedürfnissen, Handlungsformen und Denkmustern in der Umnutzbarkeit die Qualität. So gibt es womöglich gar keine Regel, auf welche Weise der Architekt unvorhersehbaren späteren Veränderungen und Umnutzungsgelegenheiten eines Bauwerks dereinst am besten das Feld bereitet haben wird, außer der, die aktuelle Aufgabe ernst zu nehmen und sein Bestes zu versuchen. Der besagte ästhetische Mehrwert kann sich stets nur im Nachhinein und im Rückblick erweisen und nicht im Voraus bestimmen lassen. Er ist wie ein Lohn, den man nicht verdienen, wohl aber verscherzen kann. Neue architektonischen Exemplare werden nicht einfach zu dem bereits vorhandenen Ensemble der Bauwerke addiert, die Interventionen der Architekten fügen dem Vorhandenen nicht einfach etwas hinzu, sondern durch Hinzufügen und Wegnehmen verändert sich stets das Ganze, und die Elemente des architektonischen Gesamtensembles beeinflussen aufgrund ihres bloßen Vorhandenseins den Charakter des jeweils neu Hinzutretenden ihrerseits. Im Allgemeinen lässt Architektur alle Veränderungen ihres Gebrauchs und alle Operationen an ihrem Körper willig über sich ergehen. Freilich offenbart sie gerade dank solcher Geduldigkeit, Unempfindlichkeit und Robustheit immer neue Eigenheiten oder Charakterzüge, Potenziale und Talente, die latent bereits vorhanden gewesen sein mochten, aber bisher noch nicht zu erkennen waren, die durch die Veränderung allererst zutage getreten und zur Entfaltung gekommen sind. Dass sie bereits angelegt gewesen sein mussten, stellt man immer erst im Nachhinein fest.
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Moderate und durch Lebensformen motivierte Veränderungen im Ensemble des Gebauten gefährden oder beeinträchtigen nicht den Eindruck der Stabilität der gebauten Umwelt, so dass für die Menschen der Eindruck der Synchronizität aller Elemente einer Kultur gewahrt bleibt. So nehmen wir das, was sich der Veränderung verdankt und was Metamorphosen durchläuft, als das Gleichbleibende und Unveränderliche wahr. Der Eindruck der Kontinuität verdankt sich gerade ihren Brechungen und ihrem Schillern. Es geschieht freilich, dass die Eingriffe als Geschmacklosigkeit oder Maßstabsverletzungen das Maß an Integrierbarkeit übertreten. Alle baulichen Veränderungen, in Form von Applikationen und Reduktionen, Extensionen und Fragmentierungen sowie alle Umnutzungen und Wandlungen der Gebrauchsweisen produzieren überhaupt erst den Eindruck, alles bleibe auf verlässliche Weise beim Alten. Dieses Sicherheitsgefühl kommt ganz ohne Reflexion aus, es weist Reflexion geradezu von sich ab. Reflexion wird erst induziert, wenn jener Eindruck des Gleichbleibenden in der Veränderung und Heterogenität dadurch gestört wird, dass man gewaltsam versucht, eine historische Epoche einzufrieren, indem man etwa die historische Reinheit eines Gebäudes oder eines Ensembles bewahren zu müssen meint und es so zum Fremdkörper in dem Prozess der Anpassung macht, der in die Gegenwart hereinragt, was in zu »Altstadt« erklärten historischen Zentren zuweilen der Fall ist, oder indem man Monumente oder sentimental besetzte Gebäude oder Ensembles aufgrund vermeintlicher Sachzwänge gänzlich verschwinden lässt und so eine Lücke ins Kontinuum reißt, oder indem man »Verunreinigungen« zugunsten eines vermeintlichen Originalzustands beseitigt, wie das auf besonders spektakuläre Weise in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts auf Mussolinis Geheiß in Rom geschah. Vom Abriss vertrauter Bausubstanz geht eine Irritation aus, über deren Natur man sich nicht leicht klar zu werden vermag. Die Irritation wird nicht als etwas registriert, das von einer Störung der Kontinuität in der unmerklichen Veränderung ausgeht, sondern als etwas, was gegen das Bedürfnis nach Beibehaltung des Gegebenen verstößt, das durch den Verstoß allererst geweckt wird. Tatsächlich bilden der Totalabriss wie die klinische Konservierung nur zwei Seiten desselben Problems, nämlich der Unterbrechung des geschichtlichen Kontinuums der unauffälligen Anpassungen und Umnutzungen bei maximaler Lebensdauer. In der belletristischen Literatur wird die Kontinuität lebensgeschichtlicher Erinnerung darum gern durch Architektur symbolisiert, traumatische Einbrüche entsprechend durch das Verschwinden erinnerungsbeladender Bauwerke veranschaulicht. Am Ende des Romans »Alte Nester« von Wilhelm Raabe wird der für die Schicksale und die Verbindungen der handelnden Personen zentrale Ort unkenntlich gemacht. »Dschinnistan« nennt Wilhelm Raabe das Geisterreich, in dem der Romanheld Just Everstein zu Hause und Herrscher ist. Er gilt den Erwachsenen als zurückgeblieben. Seine vermeintliche Dumpfheit ist aber nur die schwerfällige Außenseite seiner mühsamen Selbstentdeckung. Hinter diesem Träumer und vermeintlich tumben Toren steckt ein unabhängiger Geist. Der Steinhof, in dem Just aufwächst, und das nahe Schloss Werden, wo die Jugendlichen spielten, fallen einem Spekulanten zum Opfer und werden versteigert. Das alte Schloss wird abgerissen, die Steine werden zum Bau einer Brücke verwendet. Der anscheinend
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unaufhaltsame Fortschritt hat seinen Preis, der nur nicht ins Gewicht fällt, weil er je individuell bezahlt wird. (39) Das Problem darf aber darum nicht an die Psychologie verwiesen werden. Dass der Umstand, dass ein lebensgeschichtlich zentrales Gebäude dem sogenannten Fortschritt zum Opfer fällt, als Bedrohung und Anschlag auf die persönliche Integrität wahrgenommen wird, ist vor allem ein soziologisch relevantes Phänomen. Dank ihrer Anpassungsfähigkeit als besonders langlebiger Gebrauchsgegenstand wird Architektur mit der Zeit zum Eigentum jedes der mit und in ihr Lebenden, zu einem Eigentum, das in seiner Beständigkeit in besonderen Maße affektiv besetzt ist und mit der Stabilität und Integrität der Person insgesamt wie eine Art zweiter oder dritter Haut unlösbar verknüpft ist. (40) Es handelt sich freilich um ein Eigentum, das weder gesetzlich geschützt noch rechtlich einklagbar ist und auf das wir, wenn es uns streitig gemacht oder genommen wird, ein Recht nur in unserem Innern behaupten können und erst im Scheitern überhaupt wahrnehmen. Wenn im Pariser Mai 1968 ein »Recht auf Stadt« ausgerufen wurde, dann ist gerade dieses uneinklagbare Eigentum gemeint, für das darum besondere Regeln gelten müssten, gegen die durch die Behandlung von Wohnraum und Stadtraum als profitorientiertes Kapital und in der Unterordnung des Außenraums unter die Erfordernisse des Autoverkehrs in krimineller Weise verstoßen wird. »Es ist ein Privileg der Einwohner von Paris, den Métro-Plan als Gedächtnishilfe benutzen zu können, als Auslöser von Erinnerungen, als Taschenspiegel, der Vergangenes einfängt und für einen Augenblick wieder aufblitzen läßt. Manchmal genügt der Zufall einer bestimmten Route, und plötzlich entdeckt der Reisende, dass seine innere Geologie sich in gewissen Punkten mit der unterirdischen Geologie der Hauptstadt deckt.« (41)
Dies schrieb Marc Augé im Anschluss an Maurice Halbwachs über die Pariser Métro. Wie die Linien einer Hand kreuzen und verästeln sich die Linien der Métro und verquicken sich mit den Jahren unentwirrbar mit der Lebensgeschichte ihrer Benutzer. Die Entdeckung solcher Konnotationen sind Glückserlebnisse. Um die stabilisierende Kraft der Architektur zu erfahren, muss man sie nicht bewusst wahrgenommen haben. Gerade wenn sie die Aufmerksamkeit nicht erregt, kann ihre Wirkung am größten sein. Ja, ihre Wirkung beruht gerade auf ihrer NichtWahrnehmung. Dass uns ein Gebäude oder Ensemble, eine Straße, ein Viertel vertraut sind, rührt nicht daher, dass wir diese eigens wahrgenommen hätten und ihre Gestalt detailliert rekapitulieren könnten. Wir müssen nach dem Verschwinden eines Gebäudes nicht einmal sagen können, was da gestanden hat, um den Verlust als identitätsbedrohend zu empfinden. Gerade weil etwas uns vertraut ist, verzichten wir auf die Fähigkeit, es im Detail zu kennen, wie Robert Musil in seiner bereits erwähnten Glosse über Denkmäler ausführte. (42) Ein Geschichtsbewusstsein, das der emotionalen Bedeutung von Architektur und ihrem Bestand gerecht würde, wäre frei von der Gewalttätigkeit eines solchen, das mit den Daten von Regentschaften und Kriegen über die Menschen und Völker hinwegfegt, mit den jeweils Siegreichen ist und die Erfolglosen isoliert oder mit dem jeweils Neuesten an dem tatsächlichen Erleben der Menschen vorbeigeht. Selbst wenn das Bedürfnis nach Beständigkeit und die Verletzbarkeit durch Veränderung intellektuell nicht besser sein mögen als ein liebgewonnenes Vorurteil, so kann uns Architektur doch darüber belehren, dass Vorurteile lebenswichtig sind
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und dass wir ihrer bedürfen, um uns in der Welt heimisch zu fühlen, um sie bewohnen zu können. Es war von Beginn an ein Anliegen der Soziologie, den Gegensatz zwischen Fortschrittsgläubigkeit und Nostalgie zu versachlichen. Man muss sich vergegenwärtigen, dass Comte seine Soziologie aufgrund seiner unmittelbaren Erfahrung der Terreur der französischen Revolution als eines brutalen Fortschritts-Experiments konzipierte und dass Maurice Halbwachs auf dessen Spuren seine eigene Theorie des kollektiven Gedächtnisses unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs und seiner traumatischen Verheerungen entwickelte. Wenn heute Vorurteile vor allem mit Rassismus und religiösem Wahn assoziiert werden, soll man sich hüten, bei der Verurteilung das Kind mit dem Bade auszuschütten.
D 5. Neben der auf Personen und Schlüsselereignisse in chronologischer Weise fixierten Geschichtsschreibung existiert offenbar in unserem emotionalen Erleben und unserem Alltagswissen eine andere Geschichte, eine, der man begrifflich näherkommt, wenn man den zentralen analytischen Begriff für Geschichtlichkeit nicht im Neuen und im sich Verändernden, sondern im Gleichbleibenden sieht, das deshalb gleich bleibt, weil es sich auf moderate Weise verändert und Zurückbleibendes integriert. Für diese Einsicht steht eine Historikerschule, die als Kernbegriff geschichtlichen Bewusstseins den Begriff der ›Permanenz‹ zum Diskurs beigesteuert hat. Obwohl dieser Begriff vor allem im Bezug auf Institutionen und Lebensformen eingeführt wurde, lässt er sich ohne weiteres auf Architektur und Infrastruktur übertragen, ja in einer solchen Übertragung offenbart er erst seine ganze Komplexität und Tragfähigkeit, und er profitiert von der Anschauung in diesem Bereich, wenngleich er dort auch leichter zu Missverständnissen verleitet. Die Fortdauer von Strukturen über Epochenschwellen und soziale Katastrophen hinweg spielt in der Geschichte der Institutionen eine dominante Rolle in den historischen Untersuchungen von Henri Pirenne. Im Gegensatz zu Edward Gibbon, der die römische Antike im 5. Jahrhundert enden ließ, behauptete Pirenne die Fortdauer der römischen Zivilisation über das politische Ende des Römischen Reiches hinaus, da die einfallenden Barbaren keineswegs deren Zerstörung im Sinn gehabt hätten, sondern den römischen Way-of-Life adaptierten. Die Spätantike zeichnete sich durch Kontinuität aus, auch was die materielle Kultur anging, insbesondere die Siedlungsmuster. Der Zusammenbruch geschah erst mit der Okkupation im Verlauf der arabischen Expansion in Nordafrika, Syrien, Spanien und Portugal im 8. Jahrhundert. Erst die arabische Besetzung brachte den Fernhandel zum Erliegen und ließ die Regionen auf reine Agrarwirtschaft auf Subsistenz-Niveau regredieren. Dies machte wiederum die Entstehung einer neuen Macht möglich, das Frankenreich. Die einzigen Ansiedlungen nicht rein landwirtschaftlicher Natur waren die kirchlichen, militärischen und die Verwaltungs-Zentren, die der herrschenden Feudalkaste als Befestigungen dienten: Bischofssitze, Abteien und die gelegentlichen Königs-Pfalzen des peripathetischen Palatins. Als der Fernhandel im späten 10. und 11. Jahrhundert wieder in Gang kam, zog es Händler und Handwerker in die bestehenden Zentren, wo sie Vororte bildeten, in denen sich Handel und Manufakturen konzentrierten. Dies war eine neue Be-
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völkerung, die an der Peripherie der etablierten Ordnung entstand, die selbst statisch und inert blieb, und es kam die Zeit, dass das neue Bürgertum aus Kaufleuten und Handwerkern stark genug war, feudale Abhängigkeiten anzuschüttteln oder sich von den feudalen Vorrechten und Obligationen freizukaufen. Die Anführer dieser neuen Bürger bildeten das städtische Patriziat des Mittelalters. Von Marcel Poète wird gesagt, er habe, als er an der ›École des Hautes Études Urbaines‹ lehrte, die Philosophie Henri Bergsons in die Stadtforschung getragen, Bergsons Ideen der Zeitlichkeit und Dauer, der durée. Bergsonianischer Urbanismus bedeutet demnach auch »kreative Evolution«. Pierre Lavedan war Direkor des ›Institut d’Urbanisme de Paris‹ und Gründer der Zeitschrift »La Vie Urbaine«. Er griff die Thesen Pirennes und Poètes auf, indem er sie stadtgeographisch interpretierte. (43) Ihm zufolge stellen architektonische Strukturen über Zeiten des Niedergangs, der Krisen und des Wandels hinweg so etwas wie Anknüpfungspunkte, Anschlussstellen der Weiterentwicklung dar. Bereits Pirenne hatte geschrieben: »Aus dem Gemäuer des Alten entwickeln sich die neuen Städte des Mittelalters, sobald vom 10. Jahrhundert an ein neuer wirtschaftlicher Aufstieg beginnt.« Eine besondere Bedeutung gewann Pirennes Kategorie naturgemäß für die Untersuchung der Epochenschwellen. Das Phänomen, dass die römischen Stadtgründungen nach einer Phase des Niedergangs und des zeitweise drastischen Bevölkerungsrückgangs bei ihrer Neubebauung und Wiederbesiedlung im Hochmittelalter ihre alte Struktur beibehielten, dass die Häuser weitgehend entlang desselben Straßenrasters erbaut wurden, das die Römer angelegt hatten, und dieses bis in die Gegenwart sichtbar bleibt, legt die Orientierung an dem Konzept der Permanenz nahe, ja erfordert sie geradezu. Man würde sich freilich, um dies noch einmal klarzustellen, über den fraglichen Sachverhalt täuschen, wenn man Permanenz substanziell verstünde, derart, dass es die Unveränderlichkeit baulicher Substanz wäre, was die Dauer und Kontinuität begründet. Dass es die Straßen und der Verlauf der Grundfesten monumentaler Gebäude sind, die in der nachfolgenden Epoche wiederverwendet werden, könnte zu diesem Missverständnis verleiten. Es geht aber nicht um das Einfrieren von Bausubstanz, sondern um die Anpassung und Anpassungsfähigkeit materieller Strukturen über lange Zeiträume hinweg, in denen diese durch Veränderung, Umnutzung und Überbauungen selbst auf gewisse Weise ihr scheinbares Obsoletwerden oder Moratorien überdauern, in denen sie verlassen und dem Zerfall preisgegeben waren. Die Etablierung einer Konzeption von Architekturgeschichte als Prozess der Umnutzungen und Zweckentfremdungen stößt auf zähe Hindernisse. Dabei gibt es selbst in der am Neuen orientierten Geschichtsschreibung Beobachtungen, die eine solche alternative Konzeption nahelegen. Aus ihnen werden allerdings die falschen Schlüsse gezogen. So wird allgemein nicht geleugnet, dass Architektur der langlebigste Gebrauchsgegenstand sei. Man konzediert auch, dass Bauweisen und die Wahl der Materialien im Unterschied zu anderen Bereichen technischer Fertigkeiten über lange Zeiträume gleichbleiben und einem langsameren Wandel unterliegen als die Lebensformen. Diese Beobachtung machte schon Goethe bei Gelegenheit seiner Italienreise:
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John Ruskin forderte, sich dieses Umstands bewusst zu werden und aus ihm praktische Konsequenzen zu ziehen. Ähnlich wie Goethe sah er in der Architektur ein Beharrungsvermögen am Werk, das uns nicht nur erlaube, uns der Vergangenheit zu bedienen, sondern dies von uns geradezu zu tun verlange. Seiner Überzeugung nach baue der Architekt für die Ewigkeit und mit der entsprechenden Verantwortung. Er sah dabei das Formenrepertoire, auf das man zurückgreifen müsse, insbesondere in einer spezifischen Epoche vorgeprägt: Die Romanik und mehr noch die Gotik hatten nach seiner Auffassung die ewigen Formen für alle Zeit bereitgestellt, auf die man immer wieder zurückkomme und auch zurückkommen solle, denn sie seien die Urformen der Würde, die alle kurzlebigen Moden und Verschleißproduktionen überdauerten. Viollet-le-Duc machte sich diese Empfehlung zur Maxime. Die Verknüpfung von baugeschichtsphilosophischer Logik und zeitgemäßer Technik ermöglichte es ihm, Architektur als einen evolutionären Prozess aufzufassen, dessen Prinzipien konstant bleiben, auch wenn sich ihre materielle Verkörperung ändern muss. So musste an die Stelle des Steins als tragendes Element das Eisen treten. Die Gotik ist durch die Einführung des Eisens aber nicht überholt, sondern das neue Material ermöglicht allererst die Realisierung ihrer Träume und lässt sie erst ganz zu sich selber kommen, so dass man sagen könnte: an die Stelle des Steins als vorläufiger Notbehelf durfte endlich das Eisen treten. Angesichts revolutionierter Technik und der statischen Möglichkeiten von Eisenkonstruktionen sah er gerade in der Gotik, verstanden als Konstruktionsprinzip, das geschichtsübergreifende Paradigma und proklamierte sie für das beginnende Industriezeitalter als zukunftsweisenden Stil. Die Kathedralen haben mit ihrer gewagten Statik und den Zug- und Gegenzug-Balancen das Eisen gewissermaßen im Stein vorweggenommen. Technische Errungenschaften sind demnach nicht notwendig der Tod stilistischer Traditionen, vielmehr vermögen sie ihnen zuweilen erst zur wahren Blüte zu verhelfen, und gerade überkommene Bauformen können technischen Neuerungen zu ihrer Entfaltung adäquaten Raum geben. Vor allem Viollet-le-Duc nahm die spezifische Zeitlichkeit der Architektur zum Ausgangspunkt für eine Konzeption der Vereinbarkeit historischen Formenrepertoires und moderner Technik. Dieser von Ruskin und Viollet-le-Duc betonte Aspekt der Kontinuität ist freilich noch nicht geeignet, den Blick auf eine alternative Konzeption der Architekturgeschichte freizugeben. Im Gegenteil verdeckt er die Einsicht in die Komplexität des Verhältnisses von Bauformen und Lebensformen im Laufe der Zeit und stärkt die Auffassung von der besonderen Qualität des jeweils Neuen, dem gegenüber sich
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das Ältere überlebt habe, indem er den Lobgesang auf die Formenwelt der Gotik mit der Behauptung verknüpft, das Neue sei das Alte. Dass sich der fragliche Sachverhalt nur als Paradox formulieren lässt, zeigt, wie sehr unsere Sprache dem offiziellen Modell von Historizität und Fortschritt verpflichtet ist und wie sehr die Mechanismen, die uns den Blick auf die eigentliche Geschichtlichkeit von Architektur verstellen, integraler Bestandteil unserer Sprachregelungen sind, denen wir kaum entkommen können.
D 6. Die Tatsache, dass ein gewisser Teil der Architektur die geschichtlichen Ereignisse überdauert hat, verdankt sich in den meisten Fällen nicht der Intention, sie zu konservieren, sondern ironischerweise ihrer respektlosen Zweckentfremdung. Wo Architektur mit Vorsatz für die Nachwelt konserviert wurde, hat man sie in einer Phase ihrer Lebenszeit eingefroren, die nach der veränderlichen Maßgabe der jeweilig herrschenden Ideologie vermeintlich als die eigentlich originale galt, und hat ihr das Leben genommen. Abgesehen von der Unsicherheit bei der Datierung und Identifizierung des Originals, war der Entscheidung zur Konservierung, die das Gebäude aus dem Nutzungskreislauf herausheben sollte, eine oftmals abenteuerliche Geschichte der Umnutzungen und Umbauten bereits vorausgegangen, so dass es gewissermaßen mehrere konkurrierende Originalzustände gab, je nach dem, wie weit man in der Geschichte zurückgehen und auf welchen vermeintlichen Urzustand man die Umbaugeschichte zurückführen wollte. Dass ein Bauwerk die eingeschränkte Daseinsberechtigung als historisches Monument heute haben kann, verdankt sich in der Regel einer willkürlichen Verabsolutierung eines der vielen historischen Zustände. Aber dass es überhaupt noch existiert, ist einer oftmals langen Karriere »banausischer« aber im Effekt lebenserhaltender Eingriffe zu verdanken. Ohne Umnutzungen, und mögen sie auch noch so respektloser Art gewesen sein, gemäß drastisch veränderter politischer Verhältnisse oder in Folge katastrophaler Ereignisse oder traumatisierender sozialer Entwicklungen, wären die meisten Gebäude, die heute unter Denkmalschutz stehen, längst nicht mehr vorhanden. Etliches, was den Untergang des Römischen Reiches überdauert hat, tat dies nur aufgrund »vandalisierender« Umnutzungen. Kaum etwas von dem, was vor der französischen Revolution und vor Napoleon gebaut worden war, wäre ohne entstellende Umnutzung und Zweckentfremdung erhalten geblieben, sondern unrettbar verloren. Überlegungen, die auf dieser Einsicht gründen, haben seit einiger Zeit ihren Niederschlag auch in der Denkmalpflege gefunden, die lange Zeit auf den vermeintlichen Originalzustand wahnhaft fixiert war, ohne jemals mit Bestimmtheit sagen zu können, wo er zu datieren wäre und ob dieser denn überhaupt je existierte, ohne dies als Problem zu empfinden, da die Originalfiktion von dem idealisierenden Selbstverständnis der jeweiligen Gegenwart abhing – jede Gegenwart erfindet ihre Geschichte und Ursprünge neu –, auch wenn es die Erfüllung der gesetzlichen Verankerung der Schutzwürdigkeit auf diese umfassende und historisch tolerante Weise nach wie vor schwer hat. Nur vereinzelt hat man erkannt, dass die vermeintlich störenden, trivialisierenden Umbauten ebenfalls dokumentiert zu werden verdienen, da sie nicht nur einen besonderen ästhetischen Reiz darstellen,
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sondern die Identität eines Gebäudes oder Baukomplexes überhaupt erst begründen. So hat man mittlerweile in einigen Fällen in Gestalt von an römische Monumente angelehnten Wohn- oder Zweckbauten, etwa in den Bögen einer Arena, die Umnutzungsgeschichte selbst für erhaltens- und erinnerungswürdig befunden. Erst zögerlich entdeckt man neben den vereinzelten Sehenswürdigkeiten auch die gerade in der Umnutzung sich zeigende historische Vielschichtigkeit ganzer Städte. Erst in Ansätzen ist man in der Lage, die Verluste zu ermessen, die durch Monumentalisierung entstanden sind, und sich den Schaden einzugestehen, den man in der Geschichte des Denkmalschutzes mit der einsinnigen Konservierung des historischen Bestandes diesem Erbe zugefügt hat. Durch das Schützen ist möglicherweise mehr verloren gegangen als durch das Zweckentfremden. Mit der puristischen Konservierung des antiken Erbes unter Mussolini etwa hat die Stadt Rom ein ungeheures Reservoir an mittelalterlichen Umnutzungen als architektonische Verlaufsform und Zeugnis eines historischen Modus der Erhaltung unwiederbringlich verloren zugunsten und im Namen einer bis zur Hohlheit und Lächerlichkeit heroisierten und neurotisch gereinigten Antike. Die Stadt Rom ist freilich trotz aller Verluste nach wie vor als Hort einer komplexer gedachten Architekturgeschichte beispiellos. In Rom wohnt man in Ruinen wie in Palästen. Der Weg zum Büro führt täglich durch Jahrtausende. Das Älteste ist immer das Neueste. Rom bietet der sozialen wie der politischen Gegenwart einen Boden, auf dem sich materielle Substanz und ästhetische Zeichen seit uralten Zeiten angehäuft haben, ohne dass in den Überlagerungen so vieler Schichten die urbane Logik jemals verloren gegangen wäre. Der Republik schadet es nicht, dass ihre Verwaltung in Gebäuden untergebracht ist, in deren Form und Anlage noch die des altrömischen Staates mit imperialen Allüren erkennbar ist. Im Gegenteil zehrt man seit Jahrhunderten von diesem architektonischen Vermächtnis, das mittlerweile Spuren aller möglichen Regierungsformen aufweist. Und für den Einzelnen trägt dieses Sammelsurium, das alles andere als unstrukturiert ist, zu dem seltenen schlichten Glücksgefühl des Historikers bei, von dem Jacob Burckhardt sagte, dass es ihn in Rom an manchen Orten von selbst überkomme. Rom bietet das beste Beispiel für die Möglichkeit, mit und in dem Überkommenen zu wohnen, die Ablagerungen der Geschichte nicht wegzuräumen oder auch nur wegzudenken, sondern sie wie ein »Kapital« zu nutzen. In einem emphatischen Sinne ist Rom daher zurecht Symbol für Stadt überhaupt geworden. Zwar wurde zu allen Zeiten, im Barock wie im 19. Jahrhundert und erst recht im Faschismus das antike Rom als Ausweis nationaler Größe von den Lebenden in Anspruch genommen. Heute jedoch bietet die Stadt Rom wie keine andere Metropole Anlass und Anschauungsmaterial dafür, die Geschichte der Architektur als eine Geschichte der Umnutzungen und der Wellen kreativer Ignoranz zu schreiben. Den paradigmatisch geschichtlichen Charakter in diesem Sinne, von dem Burkhardt sprach, als er Rom mit der Seele verglich, verdankt Rom eben nicht den vorsätzlichen Anstrengungen, die Identität antiker Monumente aus der Geschichte herauszuschälen. Im Gegenteil ist ein erheblicher Teil seiner Architektur durch sie einem Prozess entzogen worden, dessen positiver Charakter eben erst entdeckt
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wird, der freilich von den Bewohnern im Sinne des oben skizzierten adelnden »Eigentums« immer schon geschätzt wurde. Freud muss diesen verkannten Charakter im Sinn gehabt haben, als er seinen Leser zu der »phantastischen Annahme«, einlud, Rom sei ein psychisches Wesen, in dem neben der jüngsten Entwicklungsphase alle früheren weiter bestehen bleiben. Zu dieser Annahme gibt diese Stadt mit ihrer eigenen »Art der Erhaltung des Vergangenen« ausreichend Anlass, da in ihr die »Überreste des alten Rom als Einsprengungen in das Gewirr einer Großstadt aus den letzten Jahrhunderten seit der Renaissance erscheinen« und »manches Alte« wohl noch »im Boden der Stadt oder unter ihren modernen Bauwerken begraben« liegt. (44) Freud verwendete das Bild der Wachstafel, das vor ihm bereits Diderot verwendet hatte, zur Veranschaulichung seiner Überzeugung, dass Erinnerungen zwar mit der Zeit verblassen und absinken, aber nichts verloren sei und alles auf bewahrt bleibe. Freud machte sich Gedanken über die Verbesserung dieses Instruments. Er geht von dem Bedürfnis aus, Geschehenes und Gedachtes zu bewahren, auch wenn es verdrängt und überschrieben werden muss. »Wenn ich meinem Gedächtnis misstraue — der Neurotiker tut dies bekanntlich in auffälligem Ausmaße, aber auch der Normale hat allen Grund dazu —, so kann ich dessen Funktion ergänzen und versichern, indem ich mir eine schriftliche Aufzeichnung mache. Die Fläche, welche diese Aufzeichnung bewahrt, die Schreibtafel oder das Blatt Papier, ist dann gleichsam ein materialisiertes Stück des Erinnerungsapparates, den ich sonst unsichtbar in mir trage. Wenn ich mir nur den Ort merke, an dem die so fixierte ›Erinnerung‹ untergebracht ist, so kann ich sie jederzeit nach Belieben ›reproduzieren‹.« (45)
Im Vergleich zu anderen Hilfsapparaten, welche wir zur Verbesserung oder Verstärkung unserer Sinnesfunktionen erfunden haben – alle sind so gebaut wie das Sinnesorgan selbst oder Teile desselben (Brille, photographische Kamera, Hörrohr usw.) – fällt die Hilfsvorrichtung für unser Gedächtnis besonders mangelhaft aus. »Ich kann erstens eine Schreibfläche wählen, welche die ihr anvertraute Notiz unbestimmt lange unversehrt bewahrt, also ein Blatt Papier, das ich mit Tinte beschreibe. Ich erhalte dann eine ›dauerhafte Erinnerungsspur‹. Der Nachteil dieses Verfahrens besteht darin, daß die Aufnahmefähigkeit der Schreibfläche sich bald erschöpft. Das Blatt ist vollgeschrieben, hat keinen Raum für neue Aufzeichnungen, und ich sehe mich genötigt, ein anderes, noch unbeschriebenes Blatt in Verwendung zu nehmen. Auch kann der Vorzug dieses Verfahrens, das eine ›Dauerspur‹ liefert, seinen Wert für mich verlieren, nämlich wenn mein Interesse an der Notiz nach einiger Zeit erloschen ist und ich sie nicht mehr ›im Gedächtnis behalten‹ will. Das andere Verfahren ist von beiden Mängeln frei. Wenn ich zum Beispiel mit Kreide auf eine Schiefertafel schreibe, so habe ich eine Aufnahmsfläche, die unbegrenzt lange aufnahmsfähig bleibt und deren Aufzeichnungen ich zerstören kann, sobald sie mich nicht mehr interessieren, ohne die Schreibfläche selbst verwerfen zu müssen. Der Nachteil ist hier, dass ich eine Dauerspur nicht erhalten kann. Will ich neue Notizen auf die Tafel bringen, so muss ich die, mit denen sie bereits bedeckt ist, wegwischen. Unbegrenzte Aufnahmefähigkeit und Erhaltung von Dauerspuren scheinen sich also für die Vorrichtungen, mit denen wir unser Gedächtnis substituieren, auszuschließen, es muss entweder die aufnehmende Fläche erneut oder die Aufzeichnung vernichtet werden.«
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Unser seelischer Apparat dagegen vermag beides: in unbegrenzter Weise aufnahmefähig für immer neue Wahrnehmungen zu sein und doch dauerhafte Erinnerungsspuren von ihnen zu sichern. Diese ungewöhnliche Fähigkeit führt Freud auf die Leistung zweier verschiedener Systeme zurück, das Wachbewusstsein, das die Wahrnehmungen aufnimmt, aber keine dauerhaften Spuren davon bewahrt, so dass es sich bei jeder neuen Wahrnehmung wie ein unbeschriebenes Blatt verhält, und das dahinter gelegene Erinnerungssystem, das Dauerspuren aufzeichnet, ohne sie aktuell zu präsentieren. (Traumdeutung 1900) Das Wunderblock genannte Gerät verspricht nun auch beides zu leisten. Seine Konstruktion weist eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit dem von Freud angenommenen Bau unseres Wahrnehmungsapparats auf. »Beim Wunderblock verschwindet die Schrift jedes Mal, wenn der innige Kontakt zwischen dem den Reiz empfangenden Papier und der den Eindruck bewahrenden Wachstafel aufgehoben wird.« Freud vergleicht dieses Verhalten des Unbewussten mit einem Tier, das »der Außenwelt Fühler entgegenstrecken würde, die rasch zurückgezogen werden, nachdem sie deren Erregungen verkostet haben«, und spricht von der »periodisch eintretenden Unerregbarkeit des Wahrnehmungssystems«. »Hier trifft regelmäßig zu, was sich beim archäologischen Objekt nur in glücklichen Ausnahmefällen ereignet hat wie in Pompeji und mit dem Grab des Tutankamun. Alles Wesentliche ist erhalten, selbst was vollkommen vergessen scheint, ist noch irgendwie und irgendwo vorhanden« und kann vermöge einer Übertragungsneurose wieder hervorgeholt werden. (46) Vorher schon hatte Freud den Unterschied zwischen Bewusstem und Unbewusstem anhand der in seinem Zimmer aufgestellten Antiquitäten so erklärt: »Es sind eigentlich nur Grabfunde, die Verschüttung habe für sie die Erhaltung bedeutet, Pompeji gehe erst jetzt zugrunde, seitdem es aufgedeckt ist.« (47)
Da liegt die phantastische Vorstellung nicht so fern, alles Frühere sei auch materiell noch vorhanden. Die Engelsburg würde dann auf ihren Zinnen noch die Statuen tragen, die sie bis zur Gotenbelagerung schmückten. Ein-und-derselbe Boden trüge die Kirche Maria sopra Minerva und den Minerva-Tempel, über dem sie erbaut worden ist. Kuno Raeber versuchte in ebendieser Weise gegen die Furie des Verschwindens anzuschreiben. In seinem Roman »Sacco di Roma« drängen sich auf der Engelsbrücke antike Trauerzüge, Büßerprozessionen und brandschatzende Horden gleichzeitig. Raffael, der selbst schon historische Figuren mit der Mode des Tages und mit Zügen von Zeitgenossen ausstattete, erscheint seelenruhig als Fotograf inmitten von Feuer und Rauch. Der nietzscheanische Gedanke eines zivilisierenden Vandalismus kommt in besonderem Maße zu seinem Recht, wenn wir uns eben jener von Pirenne konstatierten Zwischenzeit zuwenden. Zur Zeit der Völkerwanderungen präsentierte sich die Hauptstadt des Imperiums innerhalb ihrer von Mauern markierten Stadtgrenzen als Territorium eines kleinen Staatswesens, dessen eigene innerstädtische Landwirtschaft der geschrumpften Bevölkerung weitgehend zum Lebensunterhalt ausreichen musste. Viele der antiken Großbauten waren aufgegeben, bis auf jene, die sich militärisch nutzen ließen, wie das Hadrians-Mausoleum, das von Totila in eine Festung zum Schutz und zur Kontrolle der wichtigsten Tiberbrücke umgebaut wurde, die spätere Engelsburg.
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Als sich die Städte allmählich wiederbevölkerten, bezog man die ungenutzten, wegen ihrer Solidität jedoch nicht vollständig ruinös gewordenen römischen Monumente in die Nutzungsüberlegungen mit ein. Das Spektrum reicht von aufwendigen Umbauplänen von Architekten im Auftrag von Fürsten und Päpsten bis zu der verbreiteten volkstümlichen Praxis, durch Einziehen von Decken und Trennwänden Ruinen bewohnbar zu machen – nicht viel anders, als dies seit einiger Zeit in Havanna geschieht – und durch Anlehnung an ein Monument Baumaterial für Außenwände einzusparen. Wo dabei Säulen, Kapitelle, Friese, Stürze, Bögen und Gewölbefragmente in einem anderen Maßstab und in einen fremden semantischen Kontext integriert wurden, entwickelte sich ein so phantastischer Formenreichtum, dass man tief bedauern muss, dass nur wenige Exemplare dieser Operetten-Architektur erhalten geblieben sind. Während uns einige durch die Zeichnungen Reisender wenigstens für den optischen Genuss bewahrt blieben, etwa in den Skizzenbüchern eines Ferdinand Gregorovius oder des reisenden Goethe, ist das meiste unwiederbringlich verloren und vergessen. (48) Ein spektakuläres Beispiel nicht realisierter Umnutzungspläne in Rom, das als solches in die Geschichte eingegangen ist, ist das Vorhaben des Papstes Sixtus V., das römische Kolosseum in eine Fabrik zu verwandeln. Das einst von Kaiser Vespasian erbaute Theater, das im 17. Jahrhundert am entvölkerten Rand der Stadt lag, sollte nach dem Willen des ehrgeizigen Papstes als Leinweberei und Wollspinnerei Nutzen bringen. In seinem Erdgeschoss sollten die Werkstätten, in den oberen Geschossen die Handwerkerwohnungen untergebracht werden. Wäre dieses Projekt verwirklicht worden, wäre das Kolosseum heute vielleicht die Ruine eines Arbeiterwohnquartiers oder Denkmal einer der ersten rationellen Fabrikationsstätten überhaupt. Der Hofarchitekt des Papstes Fontana notierte bedauernd: Der Papst »hatte bereits die Erde ringsum abtragen und die Straße, die von der Torre dei Conti zum Kolosseum führt, planieren lassen […] Sechzig Pferdekarren und hundert Arbeiter waren dazu eingesetzt, und wenn der Papst auch nur ein Jahr länger gelebt hätte, wäre aus dem Kolosseum ein Wohnbau geworden«. (49) Von jenem Carlo Fontana sind auch Alternativ-Entwürfe erhalten, das Theater in ein religiöses Forum zu verwandeln. Die Zentralbaukirche hätte sich in einem der Brennpunkte der Ellipse befunden, die das Theater beschreibt. Dieses Projekt hätte an Kühnheit und Größe die erstaunlichsten Raumschöpfungen Bramantes und Borrominis übertroffen. Viele Metropolen des Reiches teilten das Schicksal Roms. Im Schutze der pax romana zu Zentren von Handel und Gewerbe aufgeblüht, sahen sie sich nach dem Zerfall der Zentralmacht und dem wirtschaftlichen Niedergang auf die elementare Funktion der Fluchtburg reduziert, gerade in der Lage, einige der zahlreichen Belagerungen durchzuhalten, oder in Stützpunkte für Raubzüge verwandelt. Überall galt das Prinzip, die Verteidigung auf die Mitte zu konzentrieren und sich auf die tatsächlich bewohnte Fläche zu beschränken. Kaum in der Lage, Neubauten zu errichten oder die Erhaltung einer bestehenden Stadtmauer zu finanzieren, suchte man bestehende Infrastruktur zu verwenden. Charakteristisch für jene Zeit ist die Umnutzung städtischer Gebäude, die einst für öffentliche Schauspiele dienten, für die listige Verbindung des Entzugs der politischen Bürgerbeteiligung mit Volksvergnügungen, sowie für solche, die der Administration der politischen Elite dienten. Zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert
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wurden in vielen Städten Zirkusarenen und Amphitheater entweder in den Verteidigungsring einbezogen, wie bei den Mauern des Theoderich in Verona, oder zu Festungen umgebaut. In Nîmes wurde das Amphitheater im 6. Jahrhundert von einer Anzahl von Ritterclans besetzt, die vier Geschlechter-Türme darin errichteten und den Bau in eine Festungsstadt verwandelten, indem sie dessen Raum unter die nun ansässigen Familien aufteilten. Diese Burg beherbergte eine Kernstadt mit ca. zweitausend Einwohnern und zwei Kirchen und war durch vier bewehrte Tore zugänglich. Diese für die Beziehungen zwischen antikem und mittelalterlichem Städtebau höchst aufschlussreiche Anlage ist erst von Ludwig VIII., dem »Sieger über die Albigenser«, den man treffender den Urheber des Genozids an ihnen nennen würde (1223-1226), beseitigt worden. Das wieder entkernte Theater dient seit einiger Zeit u.a. als Stierkampfarena, wobei dieses Ritual mittlerweile schlecht angesehen ist. Einer ähnlichen Umnutzung begegnete man in Arles, wo die Sarazenen nach der Eroberung der Stadt im Jahre 730 das Amphitheater in eine Burg verwandelten, indem sie über den vier Haupteingängen vier Türme errichteten, die trotz konservierenden Rückbaus noch heute sichtbar sind. Die Mauern des ehemaligen Kaiserpalastes, den sich Diokletian hatte errichten lassen, wurden zu den Stadtmauern von Spalato (Spoleto), dem quadratischen Stadtkern des heutigen Split, dessen kreuzförmig gegliedertes Straßenraster den Fundamenten und dem Wegenetz des einstigen Diokletians-Palastes folgt. (50) Als sich die Städte im 11. und 12. Jahrhundert langsam wieder bevölkerten, bezog man auch die nicht schon umgenutzten, aber wegen ihrer Solidität nicht gänzlich zerfallenen Monumente erneut in die Bauprozesse ein, und sei es nur dergestalt, dass sich der Straßenverlauf nach ihnen richtete, wie etwa in Florenz, wo sich im Straßenbild der Grundriss des einstigen Theaters abzeichnet. Das antike Straßenraster blieb fast überall erhalten. Man baute entlang derselben Infrastruktur-Linien, die schon den Römern zur Vermessung gedient hatten. In Lucca kann man in den Mauerbögen einer ehemaligen Arena speisen oder Handwerkerdienste in Anspruch nehmen. Ein ästhetisch besonders reizvolles Beispiel aus Lucca dürfte die Liste der malerischen Umnutzungen krönen. Von Ludovico di Borbone oder Louis Bourbon wurde ein Umbauprojekt in Auftrag gegeben, demzufolge das damals verbaute und bewohnte Theateroval entkernt und in einen Marktplatz mit Läden und Werkstätten verwandelt werden sollte. Nach den Entwürfen des Architekten Lorenzo Nottolini wurde 1838 tatsächlich die innere mittelalterliche Bebauung abgerissen und das Theateroval als regelmäßige Platzanlage geöffnet. Die vermauerten Bögen der einstigen Theateraußenmauern wurden einzeln vermietet, im Parterre als Läden und Werkstätten, in den oberen Stockwerken als Wohnungen. Dieses Stadium der Umnutzungen blieb bis heute erhalten. Lediglich hat man in der Zwischenzeit die Wohnhäuser teilweise und unregelmäßig aufgestockt. (51) Die zeitweise Bebauung im Innern des Ovals ist zwar beseitigt, aber die Füllung des Theaterskeletts hat sich bewährt. Dass diese Wohnanlage erhalten blieb und heute als Vorzeigeprojekt gilt und zur Touristen-Attraktion avancierte, gibt den Vertretern alternativer Konzepte eines historisch abgeklärten Denkmalschutzes Auftrieb, wie sie seit einiger Zeit erörtert werden, die den oft zahlreichen Bau-, Erweiterungs- und Umbauphasen
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Rechnung tragen, wobei die Bezeichnung »Zweckentfremdung« ihren diskriminierenden Charakter verliert. Die großen Systeme internationaler Beziehungen waren mit der Auflösung des Imperiums zusammengebrochen. An ihre Stelle waren zahllose lokale Einheiten getreten, die Städte, ihrer Bedeutung als Wirtschaftszentren beraubt, schrumpften, dienten lediglich als Verwaltungszentren ländlichen Grundbesitzes. Große Teile fielen vorübergehend brach. Wenn sich Jahrhunderte später dieselben Städte wiederbevölkerten und ihre einstige Ausdehnung wieder erreichten, wieder Leben in die Ruinen einziehen konnte, dann aus anderen Motiven, als aus denen der Kontinuität. Von der Mentalität bis zur Wirtschaft, von der Familie bis zu den ethischen Komponenten der Gesellschaft scheint sich im hohen Mittelalter alles verändert zu haben. Die mittelalterlichen Bürgerstädte hatten abgesehen von juristischen Prinzipien institutionell wenig gemeinsam mit den antiken Städten, in deren Mauern und auf deren Fundamenten sie größtenteils entstanden. Die Stadt entwickelte sich aus dem Auflösungsprozess des imperialen Staates, dessen Zentralgewalt von zahlreichen dezentralisierten Mächten abgelöst wurde. In manchen Gebieten erlangten mittelalterliche Städte sogar völlige politische und militärische Unabhängigkeit – eine Entwicklung, die im Italien der Renaissance in einer schier unglaublichen Vielzahl von Stadtstaaten gipfelte. Das neue Leben konnte mit veränderten Institutionen in den alten architektonischen Strukturen Platz finden und auf ihnen auf bauen. Was von der Antike an materiellen Strukturen erhalten geblieben war, wurde allerdings anders, z.T. im Gegensatz zur ursprünglichen Bestimmung benutzt. Aber als »Anknüpfungspunkt« für die Neuentwicklung scheinen die alten architektonischen Strukturen nicht nur naheliegend, sondern auch in hohem Maße geeignet gewesen zu sein. Und eben dieses Phänomen und seine offenkundige Gesetzmäßigkeit waren Poètes wichtigste Entdeckung: Dass Städte sich beständig denselben Achsen entlang entwickeln, ihre Straßenzüge beibehalten und dass der Sinn und die Richtung ihres Wachstums nicht von gegenwärtigen, sondern von früheren, oft lange zurückliegenden Voraussetzungen bestimmt werden. »Manchmal sind diese Voraussetzungen selbst ebenso langlebig, manchmal entfallen sie, und nur die Form, die sichtbaren Zeichen, der Standort überdauern.« (52) Es gibt andere Regionen und Epochen, in denen die Umnutzung Konjunktur hatte und diese dafür sorgte, dass sich architektonische Strukturen vermöge ihrer Zweckentfremdung oder Entweihung erhalten haben. Die Ausdehnung des osmanischen Reiches in Europa und die Reconquista auf der iberischen Halbinsel bieten zahlreiche Beispiele. Die Abspaltung der anglikanischen Kirche führte zur Auflösung ebenso vieler Kirchen und Klöster wie die Reformation in den Niederlanden. Ein Gotteshaus in Amsterdam ist deshalb erhalten geblieben, weil es 1584 als Börse benutzt wurde. Das Enteignen von kirchlichem Besitz und von Klöstern führte nicht notwendig zur Zerstörung, sondern meist zu zeitweiliger Zweckentfremdung. Das Kloster St. Blasien im Südschwarzwald wurde nach der Säkularisation 1806 zum Abriss bestimmt, dann aber als Pistolenfabrik genutzt. Später war dort eine Spinnerei untergebracht. Die französische Revolution und das aufgeklärte napoleonische Regime bieten eine Menge solcher Beispiele. Kirche und Kloster auf dem Mont-St.-Michel wurden in ein Gefängnis verwandelt, für die Aufständischen der Vendée und diejenigen frondierenden Aristokraten,
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die man bei dem Fluchtversuch nach England abfangen konnte. Alle diese heute hochgeschätzten und denkmalgeschützten Monumente verdanken ihr Überleben Umnutzungen, die nach denkmalschützerischen Maßstäben skandalös genannt werden müssten. Den größeren Teil der durch Umnutzung erhalten gebliebenen materiellen Strukturen im Bereich des Städtebaus aber bilden die Elemente der Infrastruktur, die den Wiederauf bau der nach dem Untergang des antiken Rom entvölkerten Städte prägen. Straßen folgen dem im römischen Gründungsraster der kreuzförmig angeordneten cardo und decumanus angelegten Netzwerk aus Straßen und Plätzen, das von der christlichen Kreuzsymbolik adapiert und überschrieben wurde, oder dem Verlauf der Grundmauern römischer Amphitheater. Die Chance zum radikalen Neuanfang hat es in der Geschichte oft gegeben. Effektiv genutzt wurde sie allerdings nur in äußerst wenigen Fällen. Schon in früheren Zeiten wurde immer wieder einmal die Idee laut, den maroden, wunden Stadtkörper nicht nur an einzelnen Stellen zu heilen, sondern ihn ganz neu zu erschaffen, doch selbst bei außerordentlich »günstigen« Gelegenheiten – wie nach dem verheerenden Brand von London – war das Alte in seiner Beharrungskraft zumeist stärker geblieben als alle Projekte, welche die überkommenen Strukturen ignorieren wollten. Einen radikalen Neuanfang gab es erst im 20. Jahrhundert, als nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland und Holland zahlreiche Großstädte dem Erdboden nahezu gleichgemacht worden waren. Man denke an Rotterdam, wo außer zwei Steinhäusern die gesamte Stadt abgebrannt war, oder an Hannover, auch an Teile Hamburgs oder Berlins, vor allem Ostberlins, wo nicht alles dem Erdboden gleichgemacht war, dafür aber manches nachträglich mutwillig unreparierbar gemacht wurde. Dass man sich in Ostberlin und anderen Städten der DDR über im Kataster dokumentierte Grundstücksgrenzen hinwegsetzen konnte, lag allerdings an der ideologischen Kurzsichtigkeit oder Ewigkeitsfixierung des kommunistischen Regimes. Und vielerorts sind inzwischen die Neustrukturierungen, mit denen man sich über die alten Kataster hinweggesetzt hat, zugunsten kleinteiliger Parzellierung und Blockrandbebauung rückgängig gemacht worden. Das Gesetz der Permanenz war wohl in der Geschichte nie so stark geschwächt worden wie in den Nachkriegsjahren in Deutschland, als Stadtplaner und Architekten gemäß ihrem modernistischen Selbstverständnis die Kriegszerstörungen als willkommene Gelegenheit ansahen, die Städte endlich insgesamt auf in ihren Augen vernünftige und menschenwürdige Weise und das hieß primär »autogerecht« und großzügig belichtet und belüftet neu zu gestalten. (53) Derartige Eingriffe sind heute aus stadtplanerischen Gründen allgemein umstritten. Und die Bautätigkeit im wiedervereinigten Berlin lässt Pirennes These noch nachträglich zu ihrem Recht kommen. An das Ausmaß der Autogerechtigkeit, wie es in den USA und in lateinamerikanischen Ländern anzutreffen ist, reichte der deutsche Autowahn glücklicherweise nur punktuell heran. Ein frühes Beispiel der Erneuerung bildet der Wiederauf bau Lissabons nach dem Erdbeben durch den Marquis Pombal, wo an der Stelle der irregulären Straßenführung der verwinkelten Altstadt ein streng rektanguläres Raster gewählt wurde. Unter den Projekten radikaler Neuordnung spielt sicherlich das Paris des Baron Haussmann eine herausragende Rolle insofern, als es den kompletten Abriss des kleinteilig bebauten und strukturierten mittelalterlichen Stadtteils mit sich
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brachte. Das römische Schema von cardo und decumanus allerdings blieb auch in dieser Stadt über alle Zeiten hinweg gewahrt und scheint auch im heutigen Pariser Stadtplan durch. (54) Wenn es auf dem Erdball Städte gibt, deren Geschichte in einem solchen Ausmaß von Abriss- und Erneuerungsfieber in Permanenz gepackt waren, dann wären hier wohl New York, Rotterdam, Hannover oder Hamburg zu nennen und an erster Stelle wohl Städte in modernen China. Mehrmals in der Baugeschichte gab es wie gesagt erfolgversprechende Ambitionen, die Macht der Permanenz des Straßenverlaufs zu brechen, die jedoch nicht genutzt wurde. Nach dem großen Brand Londons im Jahre von 1666 gab es nicht wenige, die einen totalen Abriss der betroffenen Viertel befürworteten. Nach Begutachtung des Schadens – 13.700 Häuser und 87 Kirchen waren zerstört –, legte Wren einen Plan vor, dessen rationale Regelhaftigkeit und Großzügigkeit die beinah wüste Fläche als Chance radikaler Erneuerung zu nutzen aufforderte. Doch konnte sich sein Konzept nicht durchsetzen. Im Unterschied zu Paris, wo Haussmann von höchster Ebene freie Hand für seine Neubaupläne bekam, entschied man sich in London in parlamentarischer Abstimmung schließlich mit knapper Mehrheit gegen den radikalen Neubau. So blieb der alte Straßenverlauf bindend. Der den Whigs nahestehende Stuart-König war schon vor der Brandkatastrophe für radikales Abreißen alter Gebäude und mittelalterlicher Viertel gewesen, und er betrachtete es als Ausdruck der Dummheit der einfachen Leute, dass sie z.B. die London Bridge, in seinen Augen ein Ausbund an Hässlichkeit, zum Symbol der Stadtrestaurierung erheben konnten, »so schön wie der Tempel Salomos«, während sie Palladio ablehnten, weil er »Papist« sei. Er machte sich auch über die alberne Mode lustig, inmitten der Großstadt ein ländliches Milieu pflegen zu wollen. »Auf der Höhe der Zeit« zu sein, war für eine Avantgarde von Architekten in jener Zeit ein charakteristischer Slogan, lange bevor in Frankreich diese Idee aufkam. In einem Theaterstück, das – wie damals keine Seltenheit –, die öffentliche Debatte über Architektur und Städtebau auch auf die Bühne trug, fordert einer der parodierten Gentlemen: »Nieder mit allem Feudalen und Altehrwürdigen und Altmodischen um euch herum; macht aus dem Tower ein Pantheon, aus dem Savoy ein neues Adelphi, und sag Adieu zu allen Zeitaltern außer deinem eigenen!« Dem Stück war der Erfolg sicher, es gab zu viele Stimmen, die gegen die »palladianische Langeweile« optierten. Man fand jenseits des gebildeten Theaterpublikums allgemein eben doch mehr Geschmack an der Komplexität des »Gewachsenen«, am »Organischen«, dem Nebeneinander der verschiedenen Epochen und den unterschiedlichen Altersstufen der Gebäudeensembles, und sei es auch aus Gründen mangelnder Bildung und schlechten Geschmacks. (55) So konnte das Trägheitsgesetz der Permanenz es verhindern, dass die radikalen Klassizisten das Mittelalter vollständig beseitigten, um für alle Ewigkeit ein palladianisches London zu errichten, das dann die radikalen Neogotiker wiederum vollständig hätten abreißen können zugunsten eines nachempfundenen Pseudomittelalters und so fort, bis in alle Ewigkeit. Dass sich Pläne nicht in der beabsichtigten Konsequenz durchsetzen, scheint wie eine List der Geschichte häufig das Schlimmste zu verhindern und taugt dazu, als Gesetzmäßigkeit gewürdigt zu werden. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass Städte wesentlich inhomogen sind und gerade darum als Einheit erlebt werden.
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D 7. Das Paradox der Zweckentfremdung als Konservierung gibt sich eine weitere Form, bei der fraglich ist, ob das Prinzip der Permanenz und Kontinuität in der Veränderung hier seine Grenze findet, oder ob es lediglich romantisch zuspitzt wird und gesteigert ist. Ideologisch besonders besetzte und politisch exponierte Gebäude wie das Kloster von Cluny, das als Inbegriff gefährlichen klerikalen Machtwillens galt, fielen ganz oder teilweise dem Vandalismus des Revolutionszeitalters zum Opfer. »Am 3. Frimaire des Jahres II (das ist der 23. November 1793)«, so kündet eine Inschrift, »bestimmt der Gemeinderat von Charlieu die Vernichtung religiöser Symbole«. Die Köpfe der Figuren werden zertrümmert, Kultobjekte und Mobiliar verbrannt. Diese Zerstörung blieb kein Einzelfall. Zahlreiche Kirchen und Klöster fielen den revolutionären Bilderstürmen zum Opfer. Manchmal allerdings konnten bei solchen Autodafés besonnene Zeitgenossen zur Stelle sein, wie der Karlsruher Bürger Friedrich Weinbrenner, der am 30. Brumaire die Straßburger Kommune davon abbringen konnte, die Innenarchitektur des Münsters zum Zweck der Umwandlung des Gebäudes in einen Tempel der Natur zu zerstören. (56) In zahlreichen Fällen freilich war die Entfernung der Einbauten nicht nur in Kauf genommener Vandalismus, sondern politisch gewollt und durch keine noch so kühne Intervention einzelner Bürger zu verhindern. Dass von der Klosteranlage Cluny etwas übrig blieb, verdanken wir der Zweckentfremdung einiger der für unbedeutend gehaltenen Nebengebäude als Pferdeställe und Warenlager. Was allerdings das Mobiliar und die Ausstattung der Gebäude betrifft, so ist manches deshalb erhalten geblieben, weil sich, aufgeschreckt durch diese in aller Öffentlichkeit stattfindende Vernichtungswut, Kauf-Interessenten für die anfallenden Überreste fanden, deren Gebote den Staatskämmerern willkommen waren. Zunehmend große Mengen der Kultobjekte und Inneneinrichtungselemente wurden als Antiquitäten gekauft oder ersteigert und gelangten so in den Kreislauf des Kunst- und Kunstgewerbemarktes, dessen Karriere hier seinen Anfang nahm. Die Klosteranlage von Cluny diente während der Revolutionsjahre nicht nur als Steinbruch und Gipsfabrik, sie wurde auch mit Kunstverstand und subtilem Geschäftssinn geplündert. Diese Zeit wurde zur Geburtsstunde eines neuen und seitdem florierenden Erwerbszweiges, des Antiquitätenhandels. Man konnte das vermehrte Auftreten von Kaufleuten beobachten, die den »ganzen Plunder« aufkauften, wiederum in billig erworbenen Kirchen und Klöstern lagerten, und als »Altertum« weiter veräußerten. Die gesamte Inneneinrichtung von Cluny wurde von einem »marchand de biens« aus Macon zum Schleuderpreis erworben und stückweise mit sensationellem Gewinn weiterverkauft. Nicht alle Aufkäufer waren ausschließlich von geschäftlichen Interessen und der Aussicht auf Gewinn geleitet, wenngleich die Gewinnerwartung wohl das leitende Motiv gewesen sein dürfte. Geschäftssinn paarte sich nicht selten mit der Liebe zu den schönen Dingen und einem den Händler schmückenden Sinn für die Rarität. Unter den Käufern waren Maler und später Fotografen. Es traten von der Vergangenheit gänzlich unvernünftig faszinierte Einzelgänger auf, die ihr Vermögen für ihre Leidenschaft auf brauchten, Artefakte des Mittelalters zu sammeln, um sie zu besitzen, oder verstaatlichten Kirchenbesitz erwarben, um verkannte
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Kunstschätze vor der Vernichtung und zusammenhängende Intérieurs vor der Zerstückelung zu bewahren. Diese Sammlungen bilden nicht selten den Grundstock heute bedeutender staatlicher Museen. (57) In einem aufgelassenen Kloster eröffnete der Maler Alexandre Lenoir sein »Musée des Monuments Français«. Er sammelte vor allem Grabdenkmäler und scheute sich nicht, unter die intakten Anlagen andere, aus verschiedenen Teilen und Epochen malerisch zusammengesetzte oder gar von ihm selbst frei entworfene zu mischen wie den neugotischen Baldachin für Abaelard und Héloise, der 1817 auf den neuen Friedhof Père Lachaise verbracht wurde und dort Schule gemacht hat. Als Ludwig XVIII. das Museum auflöste und die Gräber seiner bourgeoisen Ahnen teilweise nach St. Denis zurückbringen ließ, erwarb der Staat die übrigen Bestände dieses ob seiner »Stimmung« oft gemalten Schatzhauses für den Louvre. Stimmungsvoll in höchstem Maß war auch die Sammlung, welche du Sommerard im ehemaligen Palais der Äbte von Cluny in Paris installierte. Mit Möbeln, Plastiken, Wandteppichen, Kirchenkunst, Waffen und Uniformen rekonstruierte er »historische« Räume, welche der zeitgleichen Troubadour-Malerei und den bald aufkommenden phantastischen Bühnenbildern für historische Opern Anregungen gaben. Aus diesem genialen Trödelladen ging später das »Musée de Cluny« hervor. Mit heutigen Maßstäben stilistischer Reinheit und wissenschaftlicher Genauigkeit bei der Datierung und Zuordnung darf man diese frühen Sammlungen freilich nicht beurteilen, um ihren Wert zu ermessen. Immerhin ist ihnen zu verdanken, dass Frankreich von seinem Reichtum an mittelalterlichen Bauwerken und Kunstschätzen Kenntnis zu nehmen begann. Das Interesse gipfelte in dem 1830 geschaffenen Denkmalschutzgesetz. Es bildet die verspätete staatliche Antwort auf jene Laien-Initiativen, in deren Geist auch Victor Hugos Pamphlet »Wider die Demolierer« entstand wie auch sein Roman »Notre-Dame de Paris«, der seinem Autor den Spitznamen »Hugoth« einbrachte. Die von Nodier, Taylor und Caileux in 21 Bänden herausgegebenen »Voyages pittoresques et romantiques de l’Ancienne France« hoben mit ihren zahlreichen Lithographien die über die Provinzen verstreuten Monumente eindrucksvoll ins Bewusstsein, und der aufkommende Eisenbahntourismus tat ein übriges. Auch die Erfindung der Photographie, die nicht lange auf sich warten ließ, und die sich bald formierenden Photo- oder Heliographenclubs, die penibel das vom Verfall Gezeichnete und vom Abriss Bedrohte archivierten, trugen dazu bei. Und während sich das Bürgertum »gotisch« einrichtete, kamen auch die ersten Restaurierungen in Gang, die Eugène Viollet-le-Duc bald auf eine technisch-wissenschaftliche Grundlage stellte, fasste er doch die Gotik nicht nur als Dokument, sondern als zukunftsweisenden Ingenieurstil auf. Der Geschäftssinn für den gewinnbringenden Handel mit den Trümmern der revolutionären Zerstörungswut war es, der Laienarchäologie und sentimentalen Sammeleifer provozierte. Die Verachtung und Dämonisierung klerikaler Utensilien und Dekoration aus Unkenntnis und Borniertheit bilden die Auslöser eines epidemisch um sich greifenden Geschichtsfiebers, das zunehmend kenntnisreich werden sollte und Freude an der kategorialen Ordnung und Stilbewusstsein generierte. Archivalische Redlichkeit und wissenschaftliche Exaktheit sind erst die spätere Folge wilder Sammelwut. Am Anfang steht die Fetischisierung. Den Sammlern galt dasselbe architektonische Fragment als Inbegriff des Kultivierten, das den
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revolutionären Bilderstürmern für die Dekadenz und inhumane Verrottetheit der Feudalordnung insgesamt stand. Verallgemeinernd kann man durchaus sagen, dass Kunstgeschichte, Denkmalschutz, Historismus, Museen und Baustile sich weniger adäquaten Denkleistungen und Entscheidungen aufgrund sachlicher Erwägungen verdanken, als vielmehr einer vom Vandalismus der Bilderstürmerei provozierten Gegenwut. Sie sind Resultat gegenläufiger, irrationaler, affektiver, paradoxer Prozesse, Effekte einer Ironie der Geschichte. Speziell das Interesse am Mittelalter, das später eine so zentrale Rolle für ein neues Nationalbewusstsein spielen sollte, sowohl in Frankreich als auch in Deutschland und England, erwachte nicht als wissenschaftlich disziplinierte Bestandsaufnahme des Vorhandenen, das so als bedrohter Schatz gewürdigt worden wäre, sondern vielmehr als ein laienhaftes Erstaunen über die sonderbaren, bizarren und kuriosen Formen, die jene Epoche in solcher Fülle und Vielfalt hervorgebracht hat, und als fetischhafte Verehrung auch des Bruchstücks durch besessene Sammler und gewiefte Trödler, aufgrund der Zerschlagung der baulichen, ikonographischen und ideologischen Kontexte, in die jene Bruchstücke eingebunden gewesen waren. Die Beachtung setzt ihre Verachtung voraus. Der gebildete Bürger lernte erst im zweiten Schritt, dass dieses Sonderbare, Kauzige nicht launischen Anwandlungen oder der Hitze eines Fiebertraumes entsprungen war, sondern das Ergebnis strenger Lektüre der antiken Überlieferungen und im festen Glauben geschaffen, uralte Traditionen getreu zu wahren, so dass die Gotik sich im Lichte der geschäftigen Antiquitätenhändler selbst gewissermaßen für einen Klassizismus hätte halten können. Die Anschauung handwerklicher Tradition anhand des als Antiquität gesammelten Bruchstücks konnte dann sogar zur Grundlage für eine Auffassung von Baugeschichte werden, die derjenigen opponierte, die durch die Verbreitung an Ort und Stelle nachgeprüfter antiker Säulenordnungen, wie sie durch die Erfindung des Buchdrucks möglich geworden war, zur Basis hatte. »Man hatte das Gefühl, dass die Vorstellungen, die mittelalterliche Künstler […] von der Geschichte der antiken und der christlichen Ära hatten und die sich durch eben so große Genauigkeit wie Redlichkeit der Gesinnung auszeichneten, nicht aus Büchern stammten, sondern aus einer uralten, aber unmittelbaren, ununterbrochenen, durch mündliche Weitergabe bis zur Unkenntlichkeit entstellten, jedoch lebendigen Überlieferung.« (58)
Die Gegenüberstellung von Überlieferung handwerklicher Künste und Buchkultur wird Victor Hugo zur Buch-Idee. Die oben zitierte Äußerung ist jedoch von Marcel Proust und steht im Kontext seiner Konzeption der Erinnerungsarbeit, mit der er sich gegen die Übermacht einer Zeit stemmte, in der Geschichte in der Vergangenheit verschwindet, in der das Überlieferte ohne orientierende Funktion ist, ohne konkrete Dichte. Er konnte freilich diesen kritischen Blick nur gewinnen dank der durch Ignoranz freigewordenen Auslöserkraft architektonischer Bruchstücke oder Ruinen für biographische Reflexion. Er wollte Menschen beschreiben, die in der Zeitdimension ganz ohne Grenzen leben und wie Riesen weit zurück in vergangene Jahre greifen, sich gleichzeitig mit unterschiedlichen Epochen beschäftigen können, zwischen denen sich gewaltige Zeiträume auftun. In diesem imaginären Raum-Zeit-Kontinuum, wenn es sich auch auf die Zukunft erstreckt hätte, träfen Prousts Idealgestalten wohl auch den Romanhelden
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Robert Musils an, der sich den Traum eines imaginären Hauses gestattete: eine »stille und vornehme Gelehrtenwohnung«, ein »Schlößchen vergangener Zeiten«, dessen »Traggewölbe« aus dem 17. Jahrhundert und dessen »Oberstock« aus dem 18. Jahrhundert stammt, mit einer »erneuerten und etwas verdorbenen Fassade aus dem 19. Jahrhundert«. Einige Germanisten haben dieses Haus als Metapher des Romans selbst gelesen, vielleicht auch eingedenk dessen, was Goethe »Selbsteinrichtung« als Gespräch mit den Dingen nannte, demzufolge einer, der im Arbeiten wohnt, sowohl Gestalter als auch Resonanzkörper seines in der Arbeit bestehenden »Wohnraums« ist. Marcel Proust wählte die unsichtbare Überfülltheit der Gegenwart mit Vergangenem, die unerkannte Präsenz des Vergessenen zur Aufgabe seines Schreibens, im Medium der »Dauer« – der Bergson’schen Kategorie zur Rettung von Kontinuität und Identität –, in der sich das Ich überhaupt erst konstituieren könne. Was gemeinhin als Erinnern gilt, schien ihm dem Vergessen näher, und sein ungewolltes Eingedenken galt umgekehrt gerade dem, was in den Notwendigkeiten des alltäglichen Lebens untergeht. Seine wahre Erinnerung setzt das Vergessen voraus, sie entsteht unwillkürlich, aus den »Ornamenten des Vergessens«. Sein Roman ist ein Werk, das »den Teppich des gelebten Daseins, wie Vergessen ihn uns gewoben hat«, zum Erinnerungsbuch des Lebens umarbeitet, wie Georges Poulet über Proust schrieb. Die Collage der aus Wiederverwendetem und Neuem zusammengesetzten Architektur kann als Symbol für ein solches Werk gelten. Wo sich die Vergangenheit unerwartet in die Gegenwart einmischt, vermag sie den Maßstab des Gefüges zu irritieren. Man ist gezwungen, einen neuen Standpunkt zu suchen, entfernt von dem gewohnten. Wenn der befriedigende Gesichtspunkt gefunden ist, ordnet sich alles »in einem Nebeneinander, wie eine Bildergalerie aus hundert Niederländern hinter Glas oder ein von oben bis unten erleuchtetes Haus […] Die Dinge reihen sich nebeneinander auf, als ob sie unter demselben Glas in einer Vitrine lägen«. (59) Derart lokalisiert präsentieren sich die Episoden des Romans räumlich, da sie »gleich einer Reihe von Gläsern mit Konfitüren in den Zauberschränken unserer Kindheit, eine Reihe von abgeschlossenen Gefäßen in den Höhlen des Geistes darstellen«. Dieses Romanwerk vermittelt schließlich den Genuss einer Dauer, frei von dem Zwang, der das Bewusstsein auf eine kurze Gegenwart reduziert, deren Zeitraum nicht linear und unumkehrbar fortschreitet und gnadenlos auf den Tod zusteuert, sondern diesen ausgesperrt oder in der eigenen Form symbolisch vorweggenommen hat, und der in jede beliebige Richtung begehbar ist wie eine Stadt, in der Vergangenheiten und Gegenwart zu einer immerwährenden Dauer zusammengefügt sind.
D 8. Einen eigenen Sonderfall stellen die Relikte der römischen Kolonisierung und des frühen Mittelalters in Groß-Britannien dar. Eine genuin romantische Auffassung von Geschichtlichkeit fand dort ihre paradigmatische Ausprägung. Die Besonderheit der Rezeption überkommener Architektur im angelsächsischen Kulturbereich gründet in dem eigenartigen Verlauf geschichtlicher Vorgänge. Während fast über-
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all auf dem Kontinent die römischen Stadtgründungen den Schrumpfungsprozess in der Regel als wenn auch stark entvölkerte aber weiterhin bewohnte überdauerten und durch die mittelalterliche Überbauung nach einem Prozess der Schrumpfung eine neue Blüte erfuhren, deren materielle Strukturen auf diese Weise also gewahrt blieben, stellt eine spätmittelalterliche Anknüpfung an das römische Städtewesen in England eine äußerst seltene Ausnahme dar. Der überwiegende Teil der städtischen Zentren, der castra und der militärischen Infrastruktur, wurde nach dem Abzug der Römer und dem Untergang des Römischen Reiches aufgegeben und war dem Verfall preisgegeben. (60) Die Orte blieben lange genug aufgegeben, dass die bauliche Substanz, wenn überhaupt, nur in ruinösem Zustand, oft von der Natur zurückerobert, fortexistierte. In diesem Umstand liegt die beispiellose Distanz begründet, welche die Angelsachsen gegenüber den Resten antiker Städte gewannen. Dadurch wurde es möglich, sie gewissermaßen von außen, mit einem romantischen Blick als etwas »Malerisches« zu betrachten. Dass der Bruch mit der Geschichte hier so gravierend erfolgte, mag auch der Grund dafür sein, dass England auch in späteren Zeiten sich als Heimat eines kontemplativen Verhältnisses zur architektonischen Vergangenheit erweisen konnte. Ruinen waren nicht angesehen als etwas, das sich bewohnbar machen lässt, sondern als melancholisches Bild. So nimmt es nicht wunder, dass die Veduten Piranesis ausgerechnet von englischen Poeten des 18. Jahrhunderts wiederentdeckt wurden. Da auf die römische Besetzung andere Eroberungen in mehreren Wellen folgten und die einst blühenden Städte lange keine Gelegenheit bekamen, sich zu erholen, verfielen sie so stark, dass ein Wiederinbesitznehmen unmöglich erschien. Als verfallene aber blieben sie erhalten als das, was sie einst waren, blieben sie in der Zeit stehen und entfernten sich unaufhörlich in eine imaginäre Vergangenheit. Als Ruinen einer mittlerweile unbegreiflich fernen, schon mythisch gewordenen Zeit, die durch die Rückkehr Englands in den skandinavisch-germanischen Kulturbereich nur noch ferner erschien, vermochten sie die Phantasie auf besondere Weise zu erregen. Die ältesten Fragmente angelsächsischer Poesie kreisen um die Ruinen römischer Gründungen und beschwören deren märchenhafte Pracht im Wechsel mit der Klage über den wohl endgültigen Verlust der lebensfrohen Vielfalt urbaner Kultur. Die heftige Ruinenleidenschaft, die sich im 18. und 19. Jahrhundert der Engländer bemächtigte, war, obwohl sie sich nun auf gotische Sakralarchitektur und Burgen richtete, hier möglicherweise bereits als nationale Eigenschaft vorgeprägt worden. Die begehrten Objekte dieser Leidenschaft entstanden, als König Heinrich VIII. sich von der römisch-katholischen Kirche trennte und die Klöster in seinem Land auflöste, so dass England bald mit verlassenen und verfallenden Kirchen und Abteien übersät war, die enorm auf die bereits für Ruinen sensibilisierte Imagination einwirkten. Nach Romanen von Walter Scott und Horace Walpole, Gedichten von William Wordsworth und den Aquarellen von Thomas Girtin oder John Sell Cotman hat dann vor allem William Turner die Atmosphäre der Frühromantik erfasst. Nach seiner Darstellung der Tintern Abbey in einem waldigen Tal von Wales wurde diese Klosterruine zum Symbol der Melancholie und zum Pilgerziel der Empfindsamen. Die Poesie aus den Tagen, da Sachsen, Norweger und Normannen um das Inselreich kämpften, das im Innern zudem durch Familienzwiste zerrissen war, bot den Dichtern den tiefen historischen Hintergrund, vor dem nun eher die skandinavisch-sächsische Welt glorifiziert und romantisiert wurde, die durch
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die erneute Einbindung Englands in den lateineuropäischen Kulturkreis durch Heinrich den Eroberer verloren gegangen war. Auch Rom wurde trotz seiner geringen Anfälligkeit für diesen Geschichtsmodus, der auf Distanz zu den Objekten beruht, auf komplexe Weise von ihm erfasst. Im 18. Jahrhundert konnte seine Architektur zum Spiegel einer zutiefst melancholischen Selbstreflexion werden, deren Kultivierung von England ausging, doch einen langen Vorlauf hat. Auslöser war die Lückenhaftigkeit und Vergeblichkeit der Adaptionen des Überkommenden von nachwachsenden Generationen im Vergleich zu dem, was einst die »Alten Römer« zu erschaffen fähig gewesen waren. Nicht ein Erlahmen der Aneignungsvitalität, die normalerweise in Umnutzungen zum Ausdruck kommt, war der Grund für diese Reflexionsneigung, sondern ein kokettes Verzagen angesichts der übermenschlichen Größe, die einem in den Zeugnissen der römischen Antike übermächtig gegenübertrat, oder genauer: der Entschluss, sich selbst in der Attitüde des Verzagenden über den Normaleuropäer erhaben zu dünken. Dem Barockmenschen bot Rom den Anblick eines der imposantesten Ruinenfelder Europas, gerade weil sich die Päpste anschickten, fieberhaft an einem neuen Rom zu bauen. Noch im späten 17. Jahrhundert zählte die Stadt knapp ein Sechstel der Einwohner, die es zur römischen Kaiserzeit besessen hatte, und auch im späten 18. Jahrhundert hatte sich dies kaum geändert. Wie aus Giambattista Nollis Stadtplan von 1748 ersichtlich wird, waren zu seiner Zeit große Teile des einstigen Stadtgebietes noch immer unbebaut, lagen brach oder wurden landwirtschaftlich genutzt. Reste antiker Gebäude wurden nach wie vor als Steinbruch geplündert. »Die antiken Riesentrümmer der Titus-Thermen, der Curia Hostilia, der Bäder des Caracalla ragten wie versteinerte Fabelwesen aus Wäldern und dichtem Gestrüpp auf.« (61) Man sollte meinen, der Vergleich habe den Bewohnern des päpstlichen Rom zur Schande gereichen müssen, und das Zurückbleiben hinter dem antiken Rom wäre Grund zur Scham gewesen. Gemessen an den Dimensionen der antiken Ruinen, die in die barocke Gegenwart eindrucksvoll hereinragten, musste selbst der imperiale und absolute Anspruch der Kirche beschämend zurückbleiben. Dies scheint aber nicht der Fall gewesen zu sein. Norbert Miller legt vielmehr den Gedanken nahe, dass sich das neu erwachende Selbstbewusstsein der Römer mit dem Verzagtsein als eine Art Adel schmückte. Das barocke Selbstgefühl war von der Idee getragen, mit Roms einstiger Größe wettzueifern und gab sich gerade deswegen den Anschein, gefangen zu sein in einem fatalistischen Vergeblichkeitsgefühl, getragen von dem Zweifel daran, dass es jemals gelingen könne, aus dem Schatten einer übermächtigen Vergangenheit herauszutreten. Das Scheitern wurde umgedeutet zum Ruhmesblatt, in der relativen Zwergenhaftigkeit fühlte man sich der restlichen Welt heroisch überlegen. Die barocke Schauarchitektur besetzte zwar bereits zahlreiche Plätze einer heiligen Topographie, und nicht wenige antike Straßenzüge waren wiederbebaut, zwischen ihnen jedoch und am Rande der neuen Stadt, wenn auch noch innerhalb der antiken Mauern, »kontrastierte die Neubebauung krass mit der melancholischen Wildnis einer aus dem Mittelalter stammenden und sich weiterfristenden Altstadt aus armseligen Katen, finsteren und von Unrat starrenden Gassen und Winkeln, in denen sich eine zerlumpte Unterschicht in einem hoffnungslosen Nichtstun auf dem Existenzminimum zu erhalten suchte. Und die Paläste der klerikalen Aristo-
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kratie erhoben sich aus ungepflasterten Zwischenräumen, die Straßen oder Plätze zu nennen erst nur in Einzelfällen passend schien«. (62) Solche Beschreibungen, und es gibt ähnliche von Gregorovius und Carl Jakob Burckhardt, die zu der Annahme verleiten, der römische Barockmensch habe an einem zur Depression tendierenden Minderwertigkeitsgefühl gelitten haben müssen, täuschen. In Wahrheit sprechen sie von der paradoxen Reflexion einer urbanen Realität im Gefühl der Vergeblichkeit als Beweis der eigenen Grandiosität. Immerhin konkurrierte man mit einem Geschlecht von Giganten. Es war ein Scheitern auf höchstem Niveau. Die widersprüchliche Realität des damaligen Rom, als Symbol der Vergänglichkeit und des unbezähmbaren Willens nach Unsterblichkeit zugleich, entspricht in besonderem Maße dem Zeitgeist der barocken Ästhetik, wie auch Walter Benjamin betonte. Die Ruine verlangt die Einsicht in die Vergänglichkeit alles Irdischen, sie ist zugleich aber Zeugin des Wunders, dass etwas den Naturgewalten und dem Ätzen der Zeit standgehalten hat. Diese Diskrepanz ist für die Barockästhetik nicht weniger konstitutiv, als der Wille zur alles Bisherige übertrumpfenden Erneuerung. Die Ruine ist selbst Vision der Vollendung. Was die Antike hinterlassen hat, das sind die Elemente, aus denen sich das Neue erbaut, ohne sie zu einem Ganzen vereinen zu können. Das Ganze ist nun das, was sich nicht zum Ganzen fügen will. Das malerische Ruinenfeld ist Thema der Kunst und Symbol des Selbstgefühls. Es ist ihr eigen, »ohne strenge Vorstellung eines Ziels Bruchstücke ganz unausgesetzt zu häufen«. »Was da in Trümmern abgeschlagen liegt, das hochbedeutende Fragment, das Bruchstück: es ist die edelste Materie der barocken Schöpfung.« Was Walter Benjamin unter Verwendung architektonischer Metaphorik über die barocke Dichtkunst schrieb, das gilt mehr noch für die Architektur, der die Poetik ihre Metaphorik nicht zufällig entlehnte. (63) Piranesi vor allem war es, der diese widersprüchliche Erfahrungswirklichkeit attraktiv in die Zeichnung umzusetzen verstand, und der wohl am getreuesten das Bild überliefert hat, das Rom als Hauptstadt des Barock zu jener Zeit von sich selbst besaß. Der Eindruck der Fremdheit der Ruinen in einer Welt, die unübersehbar eine Nummer kleiner geworden war, wurde durch Piranesi, der mit Nolli an der Kartographierung und dem Vergleich mit den früheren Stadtplänen zusammengearbeitet hatte, durch den übertreibenden Kontrast zwischen Steingebirgen und winzigen Menschen, die sich in ihnen verlieren, noch verstärkt. In den Zeichnungen Piranesis, die sich vordergründig als Veduten ausgeben, findet man das ganze Arsenal der Eindrucksmanipulation. Die scheinbar harmlos inventarisierende Darstellung dient in Wahrheit einem komplexen Gedankenspiel, wie Norbert Miller plausibel macht. Indem Piranesi »rätselhafte Denkmäler unbekannter Größe und Schuld« in die gegenwärtige Welt hereinragen lässt, muss die Welt insgesamt als fremde Welt erscheinen. Er liefert Anschauungsunterricht für ein Phänomen, das unter dem Namen des Sublimen oder Erhabenen den ästhetischen Diskurs zu bestimmen begann. Man darf davon ausgehen, dass Piranesi die »Untersuchung« des jungen Edmund Burke gelesen hatte, dessen Name damals so bekannt war, wie heute der Sigmund Freuds. Mit seiner radikalisierten Adaption der Burke’schen Definition des Erhabenen verweigert Piranesi dem Betrachter der Monumente den distanzierten Überblick. Ganz im Sinne Burkes denkt Piranesi, wie Norbert Miller schrieb,
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»bei seinen Rekonstruktionen in enigmatischen Räumen, deren architektonische Verhältnisse ebenso wie die wahrnehmbaren Details in sich konstruktiv logisch geordnet erscheinen und so den Eindruck ausmessbarer Räumlichkeit erwecken, deren Zusammenhang aber und damit auch die Möglichkeit eindeutiger perspektivischer Aussagen aufgehoben sind«. (64) Der erhabene Eindruck wird durch die scharfen Hell-Dunkel-Kontraste noch verstärkt. Ein virtuos gehandhabtes Darstellungsmittel ist die Übertreibung der Perspektive zu einem Prinzip, das die Bildbegrenzung sprengt und die Unterstellung des synthetisierenden Betrachters zur Illusion werden lässt. Das Ergebnis ist »die Architektur des Erhabenen als gebautes Paradox, dessen Unvergleichlichkeit darin besteht, nach den vertrauten Gesetzen nicht entwirrbar zu sein«. Die einheitliche Wahrnehmung erweist sich ohne sicheren Orientierungspunkt als trügerisch. (65) Die Architektur schiebt sich so nahe an den Betrachter heran, dass sich das Ganze dem assimilierenden Blick nicht erschließen will. Alles steht in einer bedrohlichen, fast schmerzhaften Nähe, und man hat das Gefühl, dass es nicht eigentlich vor einem steht, sondern man sich mitten darin befindet und in Begriff ist, sich darin zu verlieren. Das Denkkonzept des Erhabenen entzündet sich mit Vorliebe an Architektur und bedient sich dieser zur Veranschaulichung. Das Erhabene der Bauten macht uns als Betrachter klein und macht, dass wir uns als Spätlinge fühlen, in eine Welt hineingeworfen, die für eine andere Art von Menschen erbaut wurde. Piranesi überhöhte die Ruinen Roms zu den Überresten eines verstorbenen Riesen-Geschlechts. Die Zeitgenossen irren in ihnen umher wie Ameisen in einer endlosen Innenwelt einer zum universalen Gefängnis überhöhten Architektur aus Gewölben voller kranähnlicher Vorrichtungen mit Ketten und Tauen, die in vergrößertem Maßstab an die Ausstattung der Kerker der Inquisition erinnern, wie sie bei Allessandro Magnasco in Szene gesetzt werden. (66) Die Darstellung altrömischer Monumente als Ikonen eines paradoxen Selbstverständnisses entspricht den ästhetischen Überlegungen eines Edmund Burke. Dieser hatte in seiner »Inquiry« 1757 für das Erhabene (the sublime) zwar nur Naturbeispiele gegeben, er sprach von der unwegsamen Wildnis (the hollowing wilderness), der aufgewühlten See (tempestuous sea) oder von der melancholischen Grotte (melancholy grot) voller unentdeckter Schätze und gab Vorstellungen von Landschaftsräumen voll Düsterkeit und Schwermut. (67) Die Zeitgenossen jedoch wussten sehr wohl, dass es um das Know-how für die artifizielle Reproduktion des erhabenen Eindrucks ging, und in den Erörterungen der Veröffentlichung wurde entsprechend vornehmlich die Beziehung des Begriffs auf den Bereich der Künste diskutiert. Juvedale Price fand zwar, dass es die menschlichen Kräfte überfordern müsse, etwas Erhabenes zu erschaffen, doch war dies nur ein kokettes Lippenbekenntnis. (68) Ebendiesen Eindruck nämlich würden die architektonischen Wunderwerke der Vergangenheit machen, dass sie die menschlichen Kräfte übersteigen und insofern wie Natur seien, in naturhafte Distanz und Unerreichbarkeit entrückt. Und insofern wurden sie zum Vorbild und Maßstab des Bauens, das sich mit Vergeblichkeit brüsten konnte. Man fand den Begriff zunächst anschaulich in Verbindung mit gotische Ruinen und anwendbar auf die gotische Kathedrale, auf die gotische Architektur insgesamt, die für den Melancholie-Kult jener Zeit von größter Bedeutung war. Später wollte man auch antike Monumente einbeziehen, die römischen Tempelruinen,
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die ägyptischen Pyramiden. Die Erlebnisqualität der Unerreichbarkeit wurde unter der Hand zur Strategie und Maxime der Gestaltung. Unausgesprochen suchte man sich durch eine Analyse der Eigenschaften des dem Menschen Unerreichbaren die Mittel anzueignen, es dennoch herzustellen oder als Hergestelltes vorzustellen, und sei es in gigantischem Maßstab und mit sadomasochistischem Grusel, um so mit den Zeugnissen eines untergegangenen, verdammten Riesengeschlechtes in Kontakt zu treten. Tatsächlich war dies ja die Ambition der Päpste und ihrer Baumeister, sich dem Menschenunmöglichen zu stellen, wobei Vergeblichkeit keineswegs als Schmach erschien, sondern den ästhetischen Genuss erhöhte, indem es diesen um die Reflexion der Kühnheit an der Schwelle zur Vergeblichkeit und der Hybris bereicherte. Man darf Piranesi, der nicht zufällig in England eine zweite und seine eigentliche Rezeption erfuhr, die seinen Ruhm in der Nachwelt begründete, als kongenialen bildlichen Veranschaulicher des überaus komplexen Denkmusters erblicken, das Burke programmatisch vorbereitet hatte.
D 9. Dass die Architektur dank ihrer Erhaltungs- oder Umnutzungsmaßnahmen scheinbar nahezu unverändert in der Zeit fortbesteht, die Lebensumstände sich aber gravierend geändert haben, etwa die Familie zerbrochen, Angehörige verstorben sind, Reichtum bitterer Armut gewichen ist, das als ewig proklamierte Regime untergegangen ist, das macht Architektur zum Reflexionsort ganz anderer Art. Dabei spielt es keine Rolle, ob dies auf der Ebene untergegangener Imperien geschieht oder im Gedenken an die eigene Kindheit, wie es bei Peter Szondi heißt: »Daß die Stadt noch da ist, jene Zeit [der Kindheit nämlich] aber unwiederbringlich dahin: diese Paradoxie verschärft nicht nur den Schmerz, sondern schärft auch den Blick. So verschwindet die Vertrautheit mit den Straßen und Häusern, die noch immer uns umgeben mögen; wir sehen sie mit dem zweifach fremden Blick: mit dem Blick des Kindes, das wir nicht mehr sind, und mit dem Blick des Kindes, dem die Stadt noch nicht vertraut war.« (69)
Bei Walter Benjamin sucht der Blick des Erwachsenen sich nicht wie bei Proust mit dem des Kindes sehnsüchtig zu verschmelzen; die Aufmerksamkeit des Erwachsenen richtet sich auf Augenblicke, in denen sich dem Kind zum ersten Mal die Zukunft des Erwachsenen ankündigte, und die dem Erwachsenen schockhaft zur Erinnerung kommen, »wie ein vergessener Muff in unserem Zimmer«. Der Schock besteht in der Diskrepanz zwischen dem, wie man sich als Kind das Erwachsensein vorstellte, den Verheißungen des Erwachsenwerdens, und dem, wie es dann tatsächlich verlaufen und geworden ist. Derartigen Schockerlebnissen ist Walter Benjamin auf seinen Wanderungen durch Berlin ständig auf der Spur, Erlebnissen, die das Kind nicht vergessen konnte, bis sie der Erwachsene würde entschlüsseln können, der dann feststellen musste, dass es nun zu spät war. In solchen poetischen Erlebnissen hat eine bessere Zukunft überwintert, als die, die tatsächlich eingetreten ist, ist ein Versprechen auf bewahrt, das die Gegenwart einzulösen schuldig geblieben ist und das gerade darum wachgehalten zu werden verdient.
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Um solcher melancholischer Erlebnisse aber teilhaftig zu werden, bedarf es einer Kunst, die nicht jedermann beherrscht und die gerade nicht im Beherrschen einer Fähigkeit besteht, aber auch nicht bloß Unbeholfenheit zur Voraussetzung hat, nämlich der Kunst des Sich-Verirrens. Die »Berliner Kindheit« beginnt mit den situationistisch gestimmten Sätzen: »Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. Da müssen Straßennamen zu dem Irrenden so sprechen wie das Knacken trockener Reiser und kleine Straßen im Stadtinnern ihm die Tageszeiten so deutlich wie eine Bergmulde widerspiegeln. Diese Kunst habe ich spät erlernt; sie hat den Traum erfüllt, von dem die ersten Spuren Labyrinthe auf den Löschblättern meiner Hefte waren.« (70)
Wenn diese Erinnerung für den Einzelnen auch mit dem bitteren Gefühl der Verspätung verbunden sein mag, so kann sie doch generell die prophetische Kraft, die einer vergangenen Zukunft galt, für die gegenwärtige Zukunft erneuern. Benjamin erwartet von Erinnerung, wenn sie nicht von außen erzwungen und somit dem Vergessen gleichzusetzen sei, die Arbeit, im Vergangenen verlorene, prophetische Bilder für Zukünftiges auszugraben, »die Bilder nämlich, welche, losgebrochen aus allen früheren Zusammenhängen, als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht – wie Torsi in der Galerie des Sammlers – stehen«. Die verlorene, und dennoch noch immer ausstehende Zukunft hört in der Erinnerung nicht auf, so fremd zu sein, wie sie dem Kind war, dem sie als ein fremdes Außen bevorstand, in jenen »schwelligen Stunden«, da es sich in versteckten Winkeln aufhielt und an den Schwellen seines häuslichen Bereichs, da es wartete oder zu früh oder zu spät kam. Wenn die Versprechen auf Zukunft, die die Gemeinschaft bereithält, vom Einzelnen nicht mehr geglaubt werden können, erscheint Zukunft als Fremdes, Bedrohliches. Das Flüchtige der schockhaften Erinnerungen enthält somit das Gleichbleibende, Ewige. Bezug nehmend auf die Dichtungen Baudelaires hat Walter Benjamin die Idee eines eigenen profanen Totenkults entwickelt, der auf dem Gedanken einer Schattenwelt der Vorgeschichte beruht, die glauben macht, dass nichts, was einmal gebildet ist, und sei es auch zerstört worden, wirklich vergessen und verloren ist. »Alles, was wir einmal erlebt, gesehen, durchgestanden haben, wird für immer in den Speichern und Kellern der Seele auf bahrt, wie in einem sicheren feuerfesten Safe, aus dem die Zeit nichts entwenden kann.« In diesem Archiv sind die Ereignisse der Kindheit mindestens genauso wichtig wie die der Gegenwart. Es gibt nichts Zweitrangiges. Alles wird gleich wichtig. Einen reflexionsträchtigen Ort nach dem Denkmodell Walter Benjamins bildet das Paris des Fin-de-siècle. Paris stand im Zeichen eines verlorenen Krieges, und für viele Intellektuelle lag Frankreich im Sterben. Renan riet, es nicht in seinem Todeskampf zu stören, es lediglich zu betrachten, war doch die Stadt in ihrer Agonie schöner denn je. Doch an die Stelle des erwarteten Untergangs trat der Beginn der »Belle Epoque«. Die Dritte Republik brachte einen ungeahnten Aufschwung in Wirtschaft und Technik, in der Literatur und in den Künsten. Bis dahin war Paris im Charme des Althergebrachten und in beinah ländlicher Ruhe befangen geblieben. Diese selige Ruhe war nun bedroht. Innerhalb weniger Jahre sollte sich die
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Stadt in ihrem Aussehen und ihrem Wesen so radikal verändern wie niemals zuvor. Sie dehnte sich, dem rasanten Bevölkerungswachstum entsprechend, um das Vielfache aus. Wo eben noch zwischen Windmühlen Kühe weideten, schossen nun Häuser in die Höhe, wurden Fabriken errichtet, Straßen gebaut, Eisenbahntrassen gelegt. Der von Pferden gezogene Omnibus verschwand ebenso von der Bildfläche wie die Straßenverkäufer, deren vielfältige Rufe vom Dröhnen des Massenverkehrs übertönt wurden. Die Stadt verschlang ehemalige Ausflugsziele, Dörfer, Orte der Sommerfrische. Die Treidelpfade an der Seine waren mit der Dampfmaschine unnötig geworden. Enge Gassen wichen prachtvollen Boulevards. Das wiedergefundene nationale Selbstbewusstsein äußerte sich in einer euphorischen, aufgeregten Hinwendung zum Neuen, Zukunftsweisenden. Die einschneidenden architektonischen Veränderungen, die den Produktivitätsaufschwung unweigerlich begleiteten, riefen aber auch Einzelgänger und Gruppen von Individuen auf den Plan, deren Augenmerk primär auf das gerichtet war, was den Neuerungen zum Opfer zu fallen drohte. Die absehbare Zerstörung erheblicher Teile des alten, mittelalterlichen Paris durch großzügige Verkehrsplanungen und Stadtverschönerungskonzepte als Fortführung barocken Embellissements brachte dessen Schönheit erst so recht zu Bewusstsein und förderte die Sensibilität für sie. Die Aussicht, dass ganze Straßenzüge, ja ganze Viertel unwiederbringlich zerstört werden könnten und die Trauer um bereits dem Abriss unausweichlich preisgegebene Gebäude und Stadtviertel schärften die Sinne für das Pittoreske als etwas, das man vielleicht zum letzten Male zu sehen bekäme. Gavarni, Monier und Daumier zeichneten und lithographierten ihre Bewohner, Typen, die wenig später mitsamt ihren Häusern und Straßen aus dem Stadtbild verschwanden. Charles Meryon radierte Stadtansichten und Gebäude, deren Abbruch im Rahmen der Haussmann’schen Operationen beschlossen war. (71) Ihnen geistesverwandt war Eugène Atget, der sich »photographe archéologique« nannte. Auf seinen photographischen Streifzügen umkreiste er Notre-Dame, die beiden Seine-Inseln, durchstreifte er das Marais, die Gegend um das Pantheon, das Quartier Latin und den noblen Faubourg Saint-Germain – Viertel also, die bald schon nicht wiederzuerkennen sein sollten. Obwohl hier die Bausubstanz gewahrt blieb und in Teilen sogar sorgfältig restauriert wurde oder gerade deshalb, weil sie nämlich aufgefrischt, gereinigt, repariert und von den zahlreichen Ladenschildern und Anbauten befreit worden ist, gehörten sie nun einer anderen Welt an. Das alte Paris ist zwar nicht komplett untergegangen, das steinerne Gesicht ist jedoch nicht mehr dasselbe wie vorher. Es ist grimassenhaft verjüngt, von den Spuren des Alterns gereinigt, alterslos und gedächtnislos gemacht. Es hat seine exemplarische Aussagekraft eingebüßt, sein wahres Alter und seine Unschuld verloren. Diesen schwer erklärbaren Vorgang hat Atget kommen sehen und akribisch dokumentiert, was der Raserei zum Opfer fiel. (72) Atget war hierzu prädestiniert, da er in einem Geschichtsgefühl des Besiegten befangen war, dem alles Neue suspekt ist, so dass er für alles, worauf die moderne Weltstadt stolz war, die Boulevards, die synthetischen Parkanlagen sowie alle Zeichen der Mechanisierung, Industrialisierung und Elektrifizierung, die Bahnhöfe, den Autoverkehr, nur Verachtung übrighatte. All dies Auftrumpfende kommt in seinen Bildern nicht vor. Auch für die elegante, mondäne Welt, die das neue Paris bevölkerte, hatte er keinen Blick. Sein Herz schlug für die kleinen Leute,
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die Straßenhändler und alle, die an die Abbruchränder gedrängt wurden, einschließlich der hergebrachten Formen öffentlicher Unterhaltung. Seine »Sehenswürdigkeiten« fand er in der Gestalt des alten Paris, seinen Fassaden, Gesimsen, Friesen, Chorgestühlen, Schmiedeeisengittern, Treppengeländern, Türklopfern, Kaminsimsen. Seine Photographien schildern uns – ähnlich wie R. M. Rilke in den »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« – das steinerne Paris als einen seelischen Wohnraum, als Heimat romantischer Trauer um das Sichtbare als bereits unwiederbringlich Verlorenes. Geschichte als Abfolge schnurrt zusammen zu einem Antiquitätenladen, von der Gegenwart getrennt durch den Dualismus von Vorher und Nachher. Atget war ein Einzelgänger, der sich um Moden nicht kümmerte und sie nur als Verwüstungspotenz registrierte. Und doch war die Zeit der Modernisierung für sein Vorhaben günstig. Denn das aus dem Zweiten Kaiserreich hervorgegangene neue Paris begann sich, kaum hatte es Gestalt angenommen, schon wieder nach dem alten, dem verschwindenden zu sehnen, dessen verbliebene Reste man durch Touristen-Führungen und Publikationen bekannt machte, das zu schützen man Kommissionen ins Leben rief, das man in Details wiederherzustellen und von dem man zu leben begann. Seine Motive wurden ihm von Architekten, Illustratoren, Malern als Muster abgekauft, die sie sammelten oder, wie Maurice Utrillo, nach ihnen arbeiteten. So wurde der Sonderling Atget ironischerweise zum Initiator einer Mode, wenngleich sich bei genauerem Hinsehen seine Sujets und seine Darstellung auf eine für die Anhänger jener Mode unbegreifliche und doch grundsätzliche Weise von deren Fetischen unterscheiden. Auf Atgets häufig in den frühen Morgenstunden aufgenommenen Bildern glaubt man eine verlassene Stadt zu sehen, in Schauplätze ehemaligen Lebens einzudringen, in eine Art Pompeji, gerade so, als sei die Stadt in dem Augenblick, da diese Aufnahmen entstanden, bereits nur noch Erinnerung, eine sauber aufgeräumte Kulisse vor dem Abbruch und von ihren Bewohnern schon aufgegeben, während man sich doch in der Stadt der Weltausstellung befand, auf dem Höhepunkt der Belle Epoque, und in einer Hauptstadt, die damals bereits drei Millionen Einwohner zählte und täglich mehr Besucher anlockte. Walter Benjamins Phantasie entzündete sich bei Betrachtung dieser Fotografien an eben diesem Eindruck, in einer verlassenen, von ihren Bewohnern aufgegebenen Stadt unterwegs zu sein, und das zum Zeitpunkt ihrer größten Vitalität. Die Stadt erschien ihm dort wie eine abgenutzte aber aufgeräumte Wohnung, die noch keinen neuen Mieter gefunden hat und die durch eine tröstliche Entfremdung den Träumen Raum gibt. Atget war für ihn der Außenseiter par excellence, ein asozialer Spaziergänger, der »einer schwer verständlichen, verfemten Tätigkeit nachging«, der beobachtete wie ein anonymer Vertreter des Staates, der das Abzureißende penibel und kaltblütig auflistet, wie »ein in Räuberzivil verkleideter Polizist«. Die abgebildeten Gegenstände wurden ihm zu Indizien einer Verschwörung, die Straßen und Hausflure zu Tatorten eines Verbrechens, das demnächst begangen würde. Vom Abbruch bedrohte oder dem fortgesetzten Erneuerungsprozess noch entzogene Viertel waren auch für die Surrealisten und deren Sympathisanten die Gefilde für endlose Spaziergänge, deren reflexiven Ertrag sie literarisch verarbeiteten. Vor allem die Pariser Passagen besaßen eine magische Anziehungskraft.
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Architektur und Geistesgeschichte »Zwar ist ihr ursprüngliches Leben aus ihnen schon gewichen, doch verdienen sie es immerhin, als Asyle für mehrere moderne Mythen betrachtet zu werden; denn erst heute, da die Spitzhacke sie bedroht, sind sie faktisch geweihte Stätten eines Kults der Vergänglichkeit geworden, gespenstische Kulissen für verruchte Vergnügen und Gewerbe, die gestern ganz undenkbar waren und von denen morgen schon keiner mehr weiß.« (Louis Aragon, Pariser Landleben, Le Paysan de Paris)
Wegen der »hochfliegenden Ambitionen eines gewissen Polizeipräfekten, den Plan von Paris neu zuzuschneiden«, wurde deren Erhaltung bis auf wenige Exemplare unmöglich. Dass einige von ihnen überlebt haben, ist nur einer gewissen Inkonsequenz zu verdanken. Auch die schäbige Welt der Vororte, der Banlieue, vor den Toren, Markthallen und Schlachthäusern, sowie die märchenhaft künstliche Welt auf den Schuttbergen der Haussmann’schen Abrisswut, den »Buttes Chaumont«, werden zur Kulisse einer Heroisierung des Asozialen und Nutzlosen als Orte eines kollektiven Unbewussten. Charles Baudelaire wird das Unterlegene, Zerfallende, zum Verschwinden Verurteilte zur »wunderbaren Allegorie« einer lebensmüden, aber an Gedanken und Träumen reichen Seele, die erst im Verfall sich selbst erkennt, und einer Reflexion, die sich an der Diskrepanz zwischen Bleibendem und Vergehendem entzündet, die Benjamin an eine Klage Walters von der Vogelweide erinnert: »Paris verändert sich! Nichts aber hat in meiner Schwermut sich bewegt! Neue Paläste, Gerüste, Steinblöcke, alte Vorstädte, alles wird mir zur Allegorie, und meine liebsten Erinnerungen lasten schwerer als Felsen.« (73) Walter Benjamin vermutete, dass die zahlreichen Phantasien vom Untergang von Paris ein Symptom dafür seien, dass die Technik nicht rezipiert worden sei. Aus ihnen spreche das dumpfe Bewusstsein, dass mit den großen Städten die Mittel heranwuchsen, sie dem Erdboden gleichzumachen. (74) Die Passage ist etwas, was die Stadt von sich weiß, ohne es wissen zu dürfen. Hier stellt die Stadt ihren eigenen Untergang aus, noch ehe er real eingetreten ist. An dieser Stätte sammelt Aragons »Bauer von Paris« die Indizien für die bevorstehende Katastrophe. »Tödliche Verzauberung, Gefangensein zwischen rostendem Eisen, schmutzigem Glas und trüben Spiegeln, stummes Warten auf das baldige Verschwinden« kündigen den Sieg des Anorganischen über das Lebendige an. (75) Die Passage ist insofern ein der Reflexion günstiger Ort, als sie die Situation des vereinzelten Individuums in der modernen Großstadt spiegelt, in der das unvermeidlich wache Bewusstsein, um die verletzliche Psyche zu schützen, diese in Isolation und Apathie gefangen hält. Die Passage symbolisiert den isolierenden Zwang zur Weltflucht, der Erfahrung und Selbstreflexion im emphatischen Sinn unmöglich werden lässt, da diese auf Offenheit, Verbindung, Zusammenhang und Vertrautheit zwischen Innen und Außen, Psyche und Welt, Selbst und den anderen gründen müssten. Die Passage gleicht deshalb in den Augen Benjamins der fensterlosen Monade ohne Außenseite, als reines Innen. Aragon erscheinen die Passagen als Menschen-Aquarien. Baudelaires Gedichte setzen an die Stelle der menschlichen Gemeinschaft die Erinnerung des in der Masse einsamen Dichters. Dessen Erinnerung sucht Solidarität allenfalls bei den Entrechteten und Untergehenden und mit der Dingwelt. Die sonderbaren Gegenstände in den Auslagen der Passagen zeigen ihm ihren Platz im Unbewussten.
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Charles Baudelaire durchstreifte Paris als Fremder. Die Stadt wird ihm nach Auffassung Benjamins Gegenstand seiner Dichtung in ähnlichem Sinne, wie barocke Dichtung ihren Gegenstand konstituierte. In deren Allegorie formieren sich die Dinge aus der Distanz der Reflexion betrachtet und neu angeordnet zu SinnBildern der Existenz, etwa des Inhalts, dass alles Streben und Trachten letztlich vergeblich sei, dass keine Liebe unter den Menschen sei, dass Schönheit nur betrüge. Im Lebendigen erscheint das Morbide, im Geschminkten das Kranke, in der Schönheit das Verderben, im Glück die Unsicherheit. Gelöst aus den Selbstverständlichkeiten und Routinen des reflexionsfeindlichen Alltagslebens wird Architektur allegorisch, zum Sinnbild der Vergeblichkeit. Eben erst Erbautes erscheint bereits als Ruine. »Das ›antike Antlitz der Stadt‹ Paris enthüllt Baudelaire die Monumente der modernen Produktivkräfte als Mahnmale der Vergänglichkeit, auf denen er als Allegoriker die Buchstaben eines Memento mori entziffert. Die Pariser Dingwelt verwandelt er zu Ruinen in der Schattenregion seines Totenkultes, um deren realer Zerstörung zuvorzukommen. ›Ich habe mehr Erinnerungen, als wenn ich tausend Jahre alt wäre‹.« (76)
Die Melancholie ist aber vielleicht nicht das entscheidende an dieser Verräumlichung der Zeit durch Architektur. Die Distanz rückt das moderne Leben nicht in die Nähe einer bestimmten vergangenen Epoche, sondern versetzt es in eine unbestimmt entfernte Vorzeit, als der Mensch die Erde noch nicht betreten hatte. Baudelaires Paris erscheint, ähnlich der Welt in den Bildern von Max Ernst, wie eine versunkene Stadt, mehr unterseeisch als unterirdisch. Der ambivalente Charakter der Passage, halb Straße und halb Haus, halb Außen- und halb Innenraum, mochte dieser morbiden Idyllik, dieser »ekstatischen Wahrnehmung«, diesem »pompejanischen Blick« besonders günstig gewesen sein. (77) »Immer zitiert gerade die Moderne die Urgeschichte«. Es geht dabei nicht eigentlich um Geschichtsbewusstsein, sondern um Kontingenz-Erfahrung. Walter Benjamin sprach davon, »auf dem Asphalt zu botanisieren«. »Konstruktion unter vollständiger Eliminierung von Theorie« so resümierte er sein eigenes Darstellungsideal. Was Goethe in seinen Morphologischen Schriften versucht hatte, das war auch die Praxis der Surrealisten. Die Wertschätzung der Urphänomene ist der ausschlaggebende Beweggrund der surrealistischen Parodie. Doch nicht um dem Ursprung zu finden, sondern die Kontingenzerfahrung zu genießen, die in der modernen Welt immer schwerer zu erlangen und immer kostbarer geworden ist. Schon Goethe glaubte, wie sein später Bewunderer Max Ernst, mit den Urphänomenen den Schlüssel gefunden zu haben, mit dem man »Pflanzen ins Unendliche erfinden« könne, Pflanzen, die, »wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben«.
D 10. Architekten, die zur Wiederherstellung eines vom Verfall gezeichneten Gebäudes beauftragt werden, tun gewöhnlich dies: alles, was nicht in einem Zustand ist, der einem Neubau entsprochen hätte, auswechseln und erneuern. So verfuhr einst Gi-
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ambattista Meduna, der von der Serenissima mit der Renovierung der Fondaço dei Turchi am Canale Grande beauftragt worden war. Das Ergebnis hat mit der einstigen Gestalt nicht allzuviel zu tun. Es war John Ruskin, der zur selben Zeit, Mitte des 19. Jahrhunderts, sich darum verdient machte, eine andere Vorgehensweise zu propagieren. Zunächst mit seiner Ansicht allein auf weiter Flur, ist es dann doch dem weitreichenden Einfluss seiner Schriften zu verdanken, dass manch eine Fassade nicht »modernisiert« wurde. Ein Aristokrat, Alvise Piero Zorzi, sprach denn auch schon vielen Zeitgenossen aus der Seele, wenn er in einer Streitschrift von 1877 unter Berufung auf Ruskin das Lob der »göttlichen Patina der Jahrhunderte« sang, wobei er von seiner Stadt im Ganzen sprach. (78) »Ruskin hatte ganze Generationen Wert und Würde des Alterns in der Architektur respektieren gelehrt, das er als eine Form des Lebens verstand, nicht als eine Vorform des Todes. Explizit spricht er nur von einzelnen Gebäuden, aber in deren Summe entsteht zusätzlich ein höchst komplexes, die Gefährdung einbeziehendes Bild von der Stadt im Ganzen.« (79)
Nicht erst in seinen »Stones of Venice«, sondern bereits in den »Seven Lamps of Architecture« hatte Ruskin in den Altersspuren von Gebäuden einen eigenen Wert erkannt. Zu einer Zeit, da Venedig von den Auswirkungen der andrängenden Zivilisation, des gesellschaftlichen Zerfalls und des wirtschaftlichen und politischen Niedergangs gezeichnet war sowie von den Zerstörungen, die der gescheiterte Aufstand gegen die Österreicher hinterlassen hatte, wurde es frei für die ästhetische Betrachtung. Es waren die Besucher, die diesen Blick kultivierten und artikulierten. Ruskin führt – gleich nach Lord Byron, der 1816, nach dem Abzug der Franzosen, nach Venedig kam und hier zwei der Gesänge seines Versepos »Child Harold’s Pilgrimage« publizierte – eine lange bis heute andauernde Reihe von Besuchern der Stadt an, die das neue Venedig und alles, was seine politischen Repräsentanten sich einfallen ließen, um mit der Zeit zu gehen, ignorierten und es mit der alternden Substanz hielten. »Parallel zur Modernisierung Venedigs entstand ein Venedig-Bild, das der alltäglichen Wirklichkeit der Stadt eine virtuelle literarische entgegenstellte, die bald die mächtigere werden sollte und auch auf das tatsächliche Geschehen in der Stadt zurückzuwirken begann«, indem sich die Relation von realem Vorbild und Abbild umkehrte in der Weise, dass man dem Abbild gleichen wollte. (80) Die Verse zu Beginn des 4. Buches waren Venedig gewidmet. Das Traumbild, das durch die Venedig-Literatur geformt und etabliert wurde, verwob sich so sehr mit den Erwartungen seiner Besucher, dass die Wahrnehmung der Stadt durch Erfahrung kaum noch modifiziert werden konnte. Das geschriebene und imaginierte Venedig hat eine derartige Festigkeit erlangt, dass es an die Stelle des wirklichen Venedig treten konnte und dieses zwingen kann, sich an dem Traumbild messen zu lassen oder übersehen und geleugnet zu werden, wenn es diesem nicht entspricht, auch wenn es in mancher Hinsicht mittlerweile das Gegenteil des realen Venedig ausmacht. So ist man im literarischen Venedig nicht bestrebt, sich zurechtzufinden, sondern sich zu verirren, nicht sich zu finden, sondern sich zu verlieren, das Sehen nicht zu erlernen, sondern es zu verlernen. (81) Architektur ist unserem gewohnten Verständnis nach Objekt der geschichtlichen Betrachtung. Dank der historischen Betrachtung wird sie erst zu etwas Geschichtlichem. Dabei wird verkannt, dass Architektur von sich aus geschichtlicher Natur
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ist, dank der sie uns allererst instand setzt, etwas unter historischem Blickwinkel zu betrachten. Architektur begründet ihrerseits selber Geschichtlichkeit des Denkens und Reflektierens, deren Wesen dann allerdings von dem eingebürgerten Begriff von Geschichte abweicht. Wenn man die Geschichtlichkeit von Architektur zu ergründen sucht, die einem Bauwerk, einem Gebäudeelement oder einem urbanen Ensemble »von Haus aus« zu eigen ist, bewegt man sich außerhalb dessen, was man als Architektur-Geschichte zu kennen meint und was man unter Geschichtlichkeit von Architektur zu verstehen gewohnt ist. Die vorigen Abschnitte waren gedacht, für diese genuine Geschichtlichkeit von Architektur empfänglich zu machen. Architektur und Geschichte gehen in ihnen eine Verbindung ein, in welcher Subjekt und Objekt, Bewusstsein und Selbstvergessenheit, Erinnern und Vergessen unauflösbar ineinander verschränkt sind, und die Zeit nicht nur in einer Richtung verläuft. Es wäre zu fragen, ob es in der Geistesgeschichte theoretische Konzepte gibt, die einer solchen Auffassung von Architektur-Geschichte entgegenkommen und die bisher für dieses Thema lediglich ungenutzt blieben. Nietzsches Sprachkritik mag bei der Bewältigung einer solchen Aufgabe gelegen kommen, wenn wir sein Problem mit der Linguistik in Analogie zu unserem Problem mit der Geschichtsschreibung verstehen. Nietzsche brach mit einer Tradition der Sprachkritik, der zufolge zwischen der Bezeichnung und dem Gegenstand eine Eintrübung eingetreten sei oder eine Entfremdung stattgefunden habe. Verständigung beruhe auf eingespielten Fehlleistungen, die gerade deshalb zur Kommunikation taugen, weil sie nicht an die Realität erinnern. Sprachliche Ausdrücke ermöglichen Kommunikation gerade durch ihre Entfernung von ihren Ursprüngen, in ihrer Bedeutungsentleerung. Nur unter dieser Voraussetzung, dass das ursprünglich Erlebte umgangssprachlich zur intersubjektiven Gültigkeit sprachlicher Konvention gerinnt, lebt der Mensch einigermaßen sicher. Die Verhärtungen und Entleerungen der Symbole, ihre Lügenhaftigkeit sind der Kommunikation nicht im Wege, sondern werden vielmehr notwendige Voraussetzung für das menschliche Zusammenleben und zwischenmenschliche Verständigung, für soziale Institutionen, für innere Ruhe und äußere Sicherheit. (82) Wenn wir Nietzsches Sprachtheorie auf Architektur und ihr geschichtliches Potenzial übertragen, wie es bei ihm selbst gelegentlich anklingt, dann beruht der ästhetische Mehrwert aufgrund des historischen Überhangs eines Gebäudes oder eines architektonischen Ensembles ebenso wie Verständigung in der jeweils aktuell gesprochenen Sprache auf dem Vergessen der ursprünglich intendierten Bedeutung. Architektur bildet analog das Medium, in dem Individuen vermittels des Gebrauchs von Gegenständen und Räumen kommunizieren können, weil sie die ursprünglichen Intentionen, die zu ihrer Erfindung führten, nicht kennen und ihrer nicht achten müssen. Kommunikation wird dadurch erst möglich, dass die Herkunft der Artefakte, d.h. ihre ursprüngliche funktionale Bestimmung vergessen worden ist. Die Vergesslichkeit und Indifferenz der Architektur trägt demnach dazu bei, dass die Menschen ein friedliches Auskommen miteinander finden. Nietzsches Sprachkritik basiert auf seiner bemerkenswerten Auffassung von Moral als Resultat von Abnutzung. Jede Moral sei einmal aus Sitten und Gebräuchen hervorgegangen, aus Macht- und Nützlichkeitserwägungen, und die Werte und Urteilskriterien haben sich im Laufe der Zeit oft erheblich geändert, nicht selten sogar ins Gegenteil verkehrt. Die Liebe zur Gewohnheit und Trägheit sowie
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ein Verlangen nach Dauer und Verlässlichkeit lassen in bestimmten historischen und sozialen Situationen in die Welt gesetzte Wertvorstellungen erstarren, so dass sie zur kontinuierlichen Angleichung an das sich verändernde Leben nicht mehr fähig sind. So werden sie wie »die menschlichen Züge und Gebärden« schließlich zu etwas, das einer »vielfach überschriebenen Handschrift« gleicht, zu deren Entzifferung es eines geübten Auges bedarf. Ein anderer philosophischer Topos, der die behaupteten Eigenschaften der Architektur bestätigen könnte, ist das Aufpfropfungs-Konzept aus dem Metaphernbereich des Gartenbaus von Charles Sanders Peirce. Der Pfropf wird normalerweise als Parasit betrachtet, der von der Vorleistung des Wirtsbaumes unverdient profitiert. Die Metapher des Parasiten impliziert ein klares Abhängigkeitsverhältnis: der Parasit lebt nicht nur »auf« der Wirtspflanze, sondern er ist notwendigerweise auf sie angewiesen – ohne sie könnte er nicht überleben – umgekehrt kann die Wirtspflanze jedoch sehr gut ohne den Parasiten auskommen. Darüber hinaus evoziert der Begriff des Parasitären die Assoziation einer wilden Wucherung, welche die Kräfte der Wirtspflanze schwächt. Dieser negativen Bewertung widerspricht Derrida mit seinem Begriff der Aufpfropfung als kontrollierte Form »zusätzlichen Wachstums«: als eine hoch artifizielle Form der Veredelung, bei der sich die Wachstumskräfte der Wirtspflanze und des Pfropfreises zu beider Gewinn vereinigen. Am Beispiel der hermetischen Gedichte Celans, die Welt nicht erschließen sondern in denen sie sich entzieht, erläuterte Derrida seine Vorstellung. Seine Antwort auf die Antwortverweigerung des Textes besteht darin, seinen Gehalt mit immer neuen und anderen Deutungen zum Wuchern zu bringen. Übertragen auf Architekturgeschichte würde die positive Wertung des jeweils Neuen im Vergleich zum unproduktiven, ausgelaugten Überkommenen der Idee einer wechselseitigen Befruchtung und damit einer unhierarchischen Austauschbarkeit von Subjekt und Objekt des geschichtlichen Bewusstseins weichen müssen. (83)
D 11. Akte räumlicher Selbstbegründung gehen zwar solchen in der Zeit voran, doch sind Raum- und Zeitdimension von Anfang an ineinander verwoben. Das Bewusstsein von Zeit und Geschichte bleibt zunächst stärker an den Raum gebunden. Vergangene Zeit wurde als ein Raum vorgestellt, in dem sich die vergangenen Taten und die Ahnen versammeln, so dass die Lebenden und ihre Gegenwart ständig in Gefahr sind, von den Toten in die Enge getrieben oder an den Rand gedrängt zu werden, wie es auch in Marx Rede vom »Alp vergangener Geschlechter« anklang. In den philosophischen Labyrinthen, die Jorge Luis Borges mit seinen Texten baute, findet sich ein Anknüpfungspunkt zum Verständnis der Frühzeit der Menschheitsgeschichte. Borges spielt dort mit einem beliebten Motiv der Abenteuerliteratur, das sich die Symbolik der Pyramiden und unsere Empfänglichkeit für sie zunutze macht. Altertumsforscher und Grabräuber glauben, zu Adressaten uralter Flüche zu werden, die einst möglicherweise als magische Schutzvorkehrungen dienten, weil ihnen in einem Anfall von Schwäche angesichts der Erhabenheit der Grabarchitektur ihre Tat selbst frevelhaft erscheint. Borges, der nicht nur eine »Geschichte der Ewigkeit« geschrieben hat, sondern auch eine »Widerlegung der
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Zeit« verfasste, hat in einer Erzählung, die den Titel »Die Kammer der Standbilder« trägt, dieses Motiv in die sagenumwobene, in gewissem Sinn auch vorgeschichtliche oder aus der Geschichte aussteigende Zeit der islamischen Blütezeit in Spanien umgesiedelt. Die Orte werden in jenem endlosen Zeithorizont, den Grabarchitektur eröffnet, ohnehin nahezu austauschbar. Die ägyptischen Pyramiden sind jedoch der prominenteste Schauplatz für die Abenteuer einer unheimlichen Präsenz des Vergangenen und das gespenstische Nachleben der Toten. Man konnte als Leser den Schauder verspüren, der die verwegensten Grabschänder und den besessensten Wissenschaftler beschleichen mochte, wenn dieser nicht davor zurückschreckte, die Geheimnisse längst untergegangener Kulturen zu lüften. Mysteriöse, nicht selten durch Konkurrenten inszenierte Unfälle, die die Ausgräber das Leben kosteten, werden in Zusammenhang gebracht mit einem vor fünf Jahrtausenden ausgesprochenen Fluch, der nun, nachdem unendlich viel Zeit vergangen ist, in einer aufs Äußerste gedehnten, einsilbigen Kommunikation seinen Adressaten findet. Dass das Graböffnen gefährlich ist und dass den Grabforschern oder -räubern das Unheimliche ihres Unternehmens bewusst sein muss, wird plausibel angesichts der Gewaltsamkeit, die mit der Ausgrabung einhergeht und der aggressiven Lust, die sie symbolisiert. Versiegelte Räume werden aufgebrochen und entweiht, unberührte Objekte werden der ewigen Ruhe entrissen und profaniert. Die Erde wird aufgewühlt, durchbohrt, verwundet. Die Erregung ist begreiflicherweise vermischt mit der Angst, für diese Beschädigung bestraft zu werden. In einem Roman von Théophile Gautier, im »Roman der Mumie«, verliebt sich der englische Gentleman-Archäologe Lord Evendale, der in einer Totenstadt der Pharaonen ein noch unberührtes und nicht ausgeraubtes Grab zu entdecken hofft, in die mumifizierte Tochter des Hohepriesters Petamounoph. Tahoser, so heißt die Schöne, bei deren Anblick der empfindsame Lord sein Herz verliert, lebte vor 3500 Jahren. In einem Tagtraum sieht der Archäologe »die siegreichen Pharaonen mit ihren Kriegern […] Priestern und Volk in langen Reihen durch die Säulenhallen zu den Königsgräbern einherziehen«, als wäre er selbst mitten unter ihnen. Der englische Kollege Geoffrey Bibbi hat es ausgesprochen, was der Lord gefühlt haben mochte: »Jeder Archäologe weiß in seinem Herzen, warum er gräbt. Er gräbt, damit die Toten wieder leben möchten.« Eine melancholisch-verträumte Bemerkung Schliemanns geht in dieselbe Richtung: in Griechenland seien »die Mädchen so schön wie Pyramiden«. Ein weiteres Beispiel für eine ägyptische Erfahrung liefert eine Erzählung von Jensen, auf die Sigmund Freud sich an exponierter Stelle bezieht. Der Held der »Gradiva« ist ein exzessiv Liebender. Er halluziniert, was andere sich lediglich vor Augen führen würden. Die antike Gradiva, die Gestalt derer, die er, ohne es zu wissen, liebt, wird als reale Person wahrgenommen: eben das ist sein Wahn. Die reale Person, in der der Held die antike Gestalt vor sich zu haben vermeint, »fügt sich anfangs diesem Wahn, um ihn sanft daraus zu wecken; sie macht sich ihn ein Stück weit zu eigen, begnügt sich damit, die Rolle der Gradiva zu spielen, die Illusion nicht plötzlich aufzuheben und den Träumer nicht brüsk aufzustören, unmerklich Mythos und Realität einander anzunähern, wodurch das Liebeserlebnis etwa dieselbe Funktion übernimmt wie eine analytische Kur«. (84) Architektur wird zum ambivalenten Symbol der Ewigkeit, das wiederum selbst seine Geschichte hat, wie Borges im mutwillig paradoxen Titel eines seiner enig-
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matischen Gedanken-Kurztexte betont. Der Ausgangspunkt seiner Reflexionsübung, die ägyptischen Pyramiden, scheinen nicht nur wie die Allegorien der Zeit enthoben, ihrem Zugriff entgangen, sondern auf die Zeit selbst zurückzuwirken und diese zu entmachten. »Jeder fürchtet die Zeit. Aber die Zeit fürchtet die Pyramiden.« Angesichts der altorientalischen Nekropolen oder auch nur auf Grund der Berichte über sie hat romantische Gemüter der Gedanke fasziniert, die Menschheit habe ursprünglich nicht für die Lebenden, sondern für die Toten gebaut, so dass alle Architektur aus dem Totenkult entstanden wäre. Noch Adolf Loos wollte seine profanen Nutz-Bauten nicht als Architektur bezeichnet wissen, da dieser Name Grabmonumenten vorbehalten bleiben solle. (85) Die Todesbeherrschtheit des architektonischen Kunstwerks ist ein Leitmotiv ästhetischer Reflexion. Bei Theodor W. Adorno werden die ägyptischen Monumente Symbol für das Hybride der Anstrengung, das Vergängliche in die Dauer zu bannen, das irgendwie jedem Kunstwerk innewohne und das Kunst allem Aufklärungsstreben zum Trotz dem Mythos hörig bleiben lasse. »Das ist das Ägyptische an einem jeden [Kunstwerk]. Indem die Werke das Vergängliche – Leben – zur Dauer verhalten, vorm Tod erretten wollen, töten sie es […] träfe ein Blick von einem anderen Stern die Kunst, so wäre ihm wohl alle ägyptisch.« (86) Zuweilen ist auch vom »Medusenblick« der Kunst die Rede, die ja, in einer Art Umkehrung des Pygmalion-Mythos, den lebendigen Augenblick festhält und als Kunstwerk erstarren lässt. André Bazin drängte sich angesichts der technischen Prozeduren des Photographen in seiner Dunkelkammer der Gedanke auf, dass der Urbeginn aller Kunst mit der Mumifizierung zusammenhinge, die in der ägyptischen Religion eine so große Rolle spielte. Sie, »die ausschließlich gegen den Tod gerichtet war, machte das Überleben abhängig von der materiellen Unvergänglichkeit des Körpers. Sie befriedigte damit ein fundamentales Bedürfnis der menschlichen Psyche: Schutz gegen den Ablauf der Zeit. Der Tod ist nichts anderes als ein Sieg der Zeit über das Leben. Die fleischliche Gestalt des Menschen künstlich zu erhalten, hieß ihn aus dem Strom der Zeit herausreißen, ihn an das Leben fesseln.« (87) Die Fotografie wäre die Fortführung der ägyptischen Mumifizierungskunst, wie jene auf eigentümliche Weise mit der Architektur in Verbindung stehend. In den geheimen Grabkammern, über deren Lage im Innern der Pyramiden keine Pläne bewahrt werden durften und die durch ein fehlleitendes Gänge-Labyrinth zusätzlich geschützt waren, von der Luft abgeschlossen, blieb der mumifizierte Tote auf eine der Vergänglichkeit spottende Weise präsent. Der architektonische Aufwand wurde ja nicht getrieben, um den Tod zu verkörpern, sondern war gegen den Tod gerichtet, sollte ihn wie die Zeit abwehren, aufhalten, einschüchtern, neutralisieren. Ebendiese paradoxe Mimikry ist es, die in das Symbol eingeht, zu dem die Pyramiden der Nachwelt wurden. Die ägyptischen Pyramiden, die als erratische Blöcke rätselhaft in die Gegenwart hereinragen, diese Giganten ohne Sinn, die wir, um sie zu erfassen, um ihnen einen Kontext zu verleihen, um sie wahrscheinlich werden zu lassen, selbst mit maßlosem Sinn erfüllen müssen – Napoleons buchhalterischer Berechnung zufolge könnte man mit sämtlichen Steinen der Gizeh-Pyramiden eine Mauer von drei Metern Höhe und 30 Zentimetern Dicke um Frankreich errichten – sind auf besondere Weise Symbole der Dauer. Dass sie seit Jahrtausenden der Vergänglich-
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keit trotzen und in ihrer Gestalt jeglicher Labilität vorbeugen, suggeriert eine anschauliche Vorstellbarkeit von Ewigkeit. Sie sind gewissermaßen tiefergelegt. Ihr niedriger Schwerpunkt liegt im allen Zeitläuften entrückten Mittelpunkt der Erde. Sie ragen aus der Wüste wie Inseln aus dem Meer der Geschichte. Sie setzen die gewohnte Zeitdimension außer Kraft. Sie belehren uns über die Täuschungen der Zeit. Als seien sie nicht auf Vergänglichkeit gegründet, wie alles Menschenwerk, sondern etwas wie Natur wohne auch der Geschichte selbst inne. Ein Reflex dieser romantischen Extravaganz findet sich noch in der systematischen Kunstphilosophie Hegels, der zufolge Architektur auf der untersten Stufe einer Hierarchie der Künste angeordnet ist, die im Triumph des Geistigen über die Materie gipfelt und innerhalb einer auf die Aufhebung alles Materiellen im Geistigen zusteuernden Geschichtsphilosophie am Ursprung steht. Auf dieser untersten Stufe scheinen Natur und die geschichtliche Entwicklung des menschlichen Geistes einander noch untrennbar zu durchdringen und der Geist dem Materiellen verhaftet. Wie in der Sphinx, in deren Gestalt sich der menschliche Geist aus der rätselhaften, unbewussten Natur gerade erst herauszuarbeiten und seiner gerade erst bewusst zu werden beginnt, indem der Mensch in sie eine Rätselfrage hineinprojiziert, die er zu lösen hat, so kommt auch in Architektur der »Drang nach selbstbewusster Geistigkeit« in einer Weise zum Ausdruck, in welcher der Geist noch in der Form und im Material gefangen bleibt, in der sich die Geistigkeit vorerst »nur in dem ihr Verwandten anschaut und in dem ihr ebenso Fremden zum Bewusstsein bringt«. (88) In Architektur hat das Geistige sich noch nicht über den Stoff als verfügbares Material erhoben, sondern bleibt in das Stoffliche gebannt, sich selbst noch ein Rätsel. Hegel hätte den heiligen Hain (Bosco Sacro) von Bomarzo vor Augen gehabt haben können, in dem steinerne Giganten monströse Tiergestalten und Gebäude halb aus dem Boden ragen, wie an der Luft erstarrt, und halb noch im Felsen steckend. (89) Die derart als Vorgeschichte und Urgrund einer idealistischen Geistesgeschichte begriffene Architektur soll weniger Geschichte symbolisieren, als diese vielmehr abwehren und neutralisieren. Die aufwendige Abwehr der Zeit aber forderte Raum. Das Tote machte sich im Leben breit, auf Kosten des Lebendigen. Dass das Vergängliche bewahrt wird, musste damit bezahlt werden, dass Vergangenheit nicht vergehen konnte. Da die Verstorbenen nicht verschwinden und Zeitgenossen bleiben, nehmen sie den Lebenden den Platz weg, sehen sie ihnen ständig über die Schulter, sind ständige ungebetene Gäste. Eine Kultur, die derart für das Überdauern ihrer Zeugnisse sorgte wie die ägyptische, ist auch eine Kultur der Übermacht der Toten über die Lebenden. Das Ägyptische symbolisiert geradezu alptraumhaft die Herrschaft der Toten über das Leben, der Vergangenheit über die Gegenwart und die ewige Unentrinnbarkeit uralter Prophezeiungen und Flüche. Der Totenkult erfüllte seine Funktion, die Kontinuität der Gattung oder die Legitimierung einer Herrschaft durch Begründung in der Vorzeit zu sichern, zu einem hohen Preis. Vor den frühen Hochkulturen, deren Existenz so außerordentliche Monumente wie die Pyramiden in Ewigkeit bezeugen, fast so, als würde sich gerade darin ihr eigentlicher Zweck erfüllen, verliert sich die Menschheitsgeschichte im Dunkel einer Zeit, die kaum architektonischen Spuren hinterlassen hat, ausgenommen die
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aufgerichteten Steine, die Dolmen oder Menhire, die seit der sogenannten Steinzeit, fast über die gesamte Erdoberfläche verteilt, diese wie eine Tätowierung zieren. Sie nähren den Traum einer goldenen Zeit der geschichtsentrückten Ruhe der menschlichen Existenz in sich selbst, einer geschichtlichen Unschuld der Zeit. Erst mit dem Anbruch der Geschichte, verstanden als lineare Abfolge von Ereignissen – Regentschaften, Kriegen, Naturkatastrophen –, habe die eigentliche Geschichte der Menschheit begonnen. Mircea Eliade hat in »Der Mythos der ewigen Wiederkehr« indessen darauf aufmerksam zu machen versucht, dass Geschichtslosigkeit nicht als paradiesischer Zustand vor aller Aktivität zu verstehen sei, dass sie nicht passiv erfahren wurde, nicht nur Abwesenheit von Geschichte, sondern immer schon das Ergebnis kultureller Anstrengung gewesen sei. (90) Die archaischen Völker wurden ebenso wenig wie wir von Geschichte verschont. Sie besaßen jedoch im Unterschied zu uns die Kraft, sich gegen sie zu wehren. Sie verfügten über erfolgreiche Praktiken der Abwehr von Geschichte, wie etwa diejenigen, die dazu dienten, die abgelaufene Zeit periodisch zu vernichten und die Welt jedes Mal neu zu schaffen, die Kosmologie zu reaktualisieren. Diesen Erneuerungsriten verdankten sie es, dass sie die Zeit ohne deren »ätzende Tätigkeit« erleben konnten. Wenn die Funktion jener megalithischen Steinmale auch unbekannt ist und jeder Deutungsversuch Hypothese bleiben muss, so steht doch deren kultische Bedeutung im weitesten Sinne außer Frage. Der Stein, das Material, aus dem die Ewigkeit gemacht war, blieb astronomischen, rechtlichen, herrschaftlichen und religiösen Zwecken vorbehalten. Die Bereitschaft, dem Stein magische und transzendentale Qualitäten zuzusprechen, mündete bei den Ägyptern in die Institution des von den Pharaonen eifersüchtig gehüteten Stein-Monopols. Und es ist anzunehmen, dass auch die Menhire als Observatorien nicht nur als Machtinstrument von Priesterkönigen, die mit ihrer Hilfe etwa eine Sonnenfinsternis vorherberechnen konnten, sondern im Kontext der Techniken eine Rolle spielten, die Eliade zufolge der Vernichtung von Zeit dienten. Diese Techniken sind an eine zyklische Zeitvorstellung gebunden. Nach dem Vorbild der natürlichen Prozesse von Reifen und Vergehen, Frühling und Herbst und deren ewiger Wiederholung läuft die Zeit immer wieder in sich selbst zurück, so dass Anfang und Ende einander begegnen. Diese Technik bindet das Neue an das Immerwiederkehrende. Sie hat den Vorteil, das Aggressive der Zeit zu bändigen. Sie birgt allerdings auch ihre Tücken. Der Übergang von einem Zeitzyklus zum nächsten, wie der Abschluss des einen Jahres und der Beginn des neuen, stellt als Lücke ein Problem dar, dessen Gefahren durch zusätzliche Übergangsriten abgeschwächt werden müssen. Nicht auszudenken, wenn das abgelaufene Jahr nicht verschwinden wollte. Es musste vertrieben oder getötet werden. Die Nichtzeiten an den verräumlichten Nahtstellen zwischen zwei Jahren werden gefürchtet als Einbruchstellen des Chaos, das durch zeitlich begrenzt erlaubte, geordnete Unordnung in Riten der »verkehrten Welt« gebannt werden musste, die im Karneval fortleben. Die Symbolik dieser Zeitlücken korrespondiert mit der Raumsymbolik des Sich-Verirrens und des Labyrinths, die selbst wiederum mit Todessymbolik verknüpft ist. (91) Die linear fortschreitende Zeit hat in unserem Bewusstsein die zyklische Zeit offiziell abgelöst und die Strategien der Zeitentwertung ihrer Wirkung beraubt. Das neue historische Prinzip kündigt sich in Übergangsmythen an, die mit dem
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Auftritt dynastisch gefestigter Imperien als oppositionelle Prophetien einhergehen. Doch ist das Alte noch nicht besiegt. Die Johannes-Apokalypse und die gesamte alttestamentarische Bilderwelt sind durchsetzt mit Symbolen für das Hereinreichen einer vorgeschichtlichen Welt des Stillstands in die Geschichte als Abfolge wechselnder Herrscher oder Eroberer. Das populärste Symbol der Vergeblichkeit und Vermessenheit menschlicher Anstrengung, der Turmbau zu Babel, ist nur eines der hervorragenden Bildschöpfungen zur furchterregenden Veranschaulichung der Bedrohung des Geschichtlichen als neuer Errungenschaft von der sozusagen viel älteren Ewigkeit. Im Traum des Sehers Daniel z.B. wird eine aus verschiedenen Materialien zusammengesetzte Kolossalstatue von einem ohne menschliches Zutun ausgelösten Stein zertrümmert. Die unterschiedlichen Materialien stehen für aufeinanderfolgende Weltreiche, die ihrer Geschichtlichkeit zum Trotz alle auf einmal zertrümmert werden. Die Apokalypse erscheint im Bild des Einbruchs einer Zeitlosigkeit, vor deren Strafgericht allmählich Aufgebautes mit einem Schlag zerfällt, historisches Nacheinander zum nichtigen Nebeneinander schrumpft. Zeit ist noch in Gefahr, zurückzusinken in den Boden der Zeitlosigkeit. In der Geschichte der Imperien setzt jedes neue Reich den Untergang des vorhergehenden voraus. Um die Weltherrschaft besteht absolute Rivalität. Sie ist nur ganz zu haben oder gar nicht. Die Geschichtsschreibung der Sieger duldet kein Vorher, das nicht auf den eigenen Sieg bereits hindeutete. Genealogien müssen, um die gegenwärtige Herrschaft in der Geschichte zu verankern, und mag sie auch noch so jung sein und wie die Insignien und der Titel usurpiert, eine eigene Vorgeschichte konstruieren. Das Neue darf sich nicht als radikal anderes gerieren, wenn es als das immer schon Dagewesene zu erscheinen beansprucht. Vielmehr muss es die in der mythischen Wiederholung angelegte Dignität des Bewährten nutzen und die Kühnheit der Usurpation als Forcierung des Vertrauten auszugeben versuchen. So hat man bei der Herstellung einer bedarfsgerechten Vergangenheit mit Adoptionen gearbeitet, die das Alte in das Neue aufnehmen, um das Neue als Konsequenz des Alten erscheinen zu lassen. Das Neue ist lediglich der Triumph der rechtmäßigen Herrschaft, die endlich wieder in ihr altes Recht eingesetzt worden ist. Die neue Herrschaft macht die vergangene, wie in der Legende von Robin Hood, zur usurpierten, durch Irrtum und Verrat angemaßten Herrschaft. Die schottische Romantik, der Mary-Stuart-Mythos, vor allem die Romane Walter Scotts, machen von diesem Denkmuster reichlichen Gebrauch, indem sie den Sieg der legitimen Herrschaft, auch ohne die Erfüllung abzuwarten, vorwegnehmen. Diese geschichtlichen Strategien bergen freilich auch Gefahren. Um eine neue Zeit zu begründen, muss sie immer schon gedauert haben. Die notwendige Begründung versieht den Versuch des Neuanfangs stets mit dem Gegenteil. (92) Seit die geschichtliche, linear fortschreitende Zeit unser Bewusstsein bestimmt, dient jene symbolische Qualität des Steines und der Architektur der Veranschaulichung von Stillstand, Regression, Erstarrung und stellt ein reichhaltiges Reservoir für Träume und Alpträume dar, eine einzige Rumpelkammer, eine Asservatenkammer, einen Steinbruch der Imagination. Für die bevorzugte Verwendung petrifikatorischer Metaphern für den Stillstand der Zeit und seine beunruhigende, identitätsbedrohende Kraft findet man Beispiele in den apokalyptischen Texten der Bibel wie auch in imaginären Reisebeschreibungen des frühen Mittelalters.
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Der Bericht vom vermauerten Meer, als Symbol geronnener und die Gegenwart lähmender Vorzeit im Reisebericht des Mönches Brendan hat einen Vorgänger in der Johannes-Apokalypse und einen Nachfolger in E.A. Poes »Abenteuern des E.G. Pym«, wo von der »bleiernen See« und von »koagulierendem Meer« die Rede ist, »wo das Wasser ein wenig langsamer floss, es war dicklich wie eine Infusion von Gummi arabicum in gewöhnlichem Wasser«. Auch in anderen Erzählungen Poes, die von der Durchlässigkeit der Gegenwart für die Vergangenheit und die Vorzeit handeln, der Anfälligkeit der Zeit für das Mythische, von der Präsenz des Toten im Lebendigen, bezieht er sich auf mittelalterliche und archaische Topoi. Die Orte dieser »ägyptischen« Geschichten von der Schuld des nichtgelebten Lebens, sind zumeist europäische Schlösser, verwunschene Villen, die auf diesem Weg mit den altägyptischen Pyramiden in unterirdischer Verbindung stehen. Die berühmteste, »Der Untergang des Hauses Usher« hat eine Vorläuferin in E.T.A. Hoffmanns »Majorat«.
D 12. Die Paläste, Städte und Tempel der Sieger wurden in früheren Zeiten schon mal auf den Trümmern der Besiegten errichtet, so dass die Archäologen wie in Troja mehrere übereinander gelagerte Städte freilegen konnten. Doch wird die besiegte Kultur nicht grundsätzlich ausgerottet, sondern lebt zuweilen in der siegreichen fort und erweist sich nicht selten sogar auf lange Sicht als das bestimmende Element. (93) Ludwig von Harnack sah in der Papstkirche die Fortsetzung des römischen Imperiums mit religiösen Mitteln. Die katholische Kirche rettete so das von den Barbaren eroberte Rom als kulturelle Welthauptstadt vor dem Untergang. Gleichgültig, ob man das Dogma der Unfehlbarkeit akzeptiert oder nicht, Rom ist doch dank des Papsttums Stein gewordener Inbegriff von Universalgeschichte. Die katholische Kirche hat damit eine Herausforderung angenommen, der die Besucher aus protestantischer Provinzialität nicht immer gewachsen waren. Rom war für sie das ganz Andere. Worin sie theologisch recht gehabt haben mochten, war weltgeschichtlich nicht so entscheidend. Die Protestanten erfahren Rom als narzisstische Kränkung. Sie fühlen, eine Chance zur Einübung in historischen Realismus verpasst zu haben. Gregorovius haut in dieselbe Kerbe: »Rom ist ein Weltknoten. Er lässt sich durch protestantische Kritik nicht auffasern.« Die Avantgarde der Moderne phantasierte, nicht nur ein älteres Regime abzulösen, sondern in ein alles Vorherige negierendes Verhältnis zur Geschichte zu treten, ihre Leistungen auf einem totalen Neubeginn zu errichten. Der eigentliche Impetus der Moderne wird seit ihren Anfängen im 17. Jahrhundert gemeinhin in der heroischen Tat gesehen, das Gesellschaftsleben ebenso wie die Wissenschaften vom Ballast der Geschichte befreit zu haben. Mit einer Formulierung John Lockes galt es, das Gestrüpp beiseite zu räumen, dass einem beim Denken im Wege war. Das Projekt zielte vor allem darauf, von den Optionen und Umständlichkeiten der Vergangenheit zu entlasten und vom »Alp der vergangenen Geschlechter« zu erlösen, wie Karl Marx diesen Topos pointierend zitierte. Die Geschichte macht Schluss mit sich selbst und ermöglicht so einen unschuldigen Neuanfang. Darin wird ein genuin geschichtlicher Ansatz in dem Sinne gesehen, dass die Handlungsspielräume
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in Gegenwart und Zukunft nicht mehr von der räumlich sich ausdehnenden, die Geschichte als Raum füllenden Vergangenheit eingeengt, erdrückt und erstickt werden. (94) In dem Befreiungsschlag macht sich freilich selbst ein verräumlichendes Geschichtsbild geltend. Die Moderne war von der Hoffnung beseelt, die überfüllten und unübersichtlichen Archive endlich sich selbst überlassen zu können und sich mit Sondierungsarbeiten nicht länger aufhalten zu müssen. Man versprach sich davon, den Verstand nicht länger von den in jenen Archiven hausenden Gespenstern angreifen lassen zu müssen. Es wurde allerdings auch der Verdacht geäußert, das Unbewusste gebe es möglicherweise erst, seitdem man die Vergangenheit zu entmachten versuchte. Weil die Zeit auch heute nicht ausreicht, die vielen Eindrücke abzuarbeiten, verkeilen sie sich wie Eisschollen, schieben sich über- und untereinander, werden schließlich unverarbeitet nach unten gedrückt und bilden dort, indem sie sich mit latent weiterhin existierendem Archaischem vermischen, das Magazin der Alpträume. Frühere Jahrhunderte benötigten keine Psychologie des Unbewussten. Die Propagandisten der Moderne, wenn sie empfahlen, die Vergangenheit zu verwerfen, tabula rasa zu machen, bei Null ganz neu anzufangen, um das Richtige tun zu können, bleiben ironischerweise selbst einem archaischen Geschichtsbild eigentümlich verhaftet. Wenn man forderte, Altes müsse stets Neuem Platz machen, statt alte Irrtümer mit uns herumzuschleppen wie Antiquitäten, man solle die Aufgaben mit den jetzigen Mitteln lösen, Gegenwart solle nicht mit Althergebrachtem überfrachtet bleiben, der Weg in die Zukunft nicht durch Überkommenes blockiert werden, dann wird Vergangenheit zur Rumpelkammer, von der man sich räumlich entfernen könne, wird Zeit zu einem Raum, in dem sich mit der Zeit zu viel Gerümpel angesammelt hat, so dass es Zeit wird, auszumisten. Was vergangen ist, füllt einen Raum, der Neuem den Platz nimmt, sich ereignen zu können, anstatt Vergangenheit als etwas zu denken, was von jeder neuen Gegenwart her geschaffen und mit Zukunftsperspektiven verknüpft wird, etwas das vermöge neuer Fragen als Repertoire möglicher Antworten reaktualisiert werden kann und nur in dieser virtuellen Form existiert, als Folge eines Abrufens. In jenen Überlegungen der Moderne kommt eine Auffassung zum Ausdruck, die Geschichte nicht eigentlich als Zeitdimension der Existenz begreift, sondern sie verräumlicht, als handle es sich bei Geschichte um eine wachsende Menge von Gegenständen auf begrenztem und allmählich immer knapper werdendem Raum, der eines nicht mehr fernen Tages vollgestellt und als Parkplatz verbraucht wäre, so dass für die Gegenwart und die Zukunft kein Platz mehr übrig bliebe, wenn man dem nicht rechtzeitig radikal Einhalt geböte, um wieder Platz zu schaffen. Es ist die Architektur und das urbane Ensemble, was zu dieser Vorstellung verführt. Damit ist die Moderne auf dem Stand des Ahnenkults stehen geblieben, der mit dem Problem zu schaffen hatte, wie die verehrten Ahnen so neutralisiert werden, dass sie nicht ungefragt zurückkehren und den Lebenden den Platz streitig machen. Allerdings ist man dem Nachdrängen hilfloser ausgeliefert. Die Nachricht, dass die Anzahl der lebenden Menschen die derer, die jemals gelebt haben, übersteige, bringt erneut die nur verdrängte Räumlichkeit der Zeit ins Spiel. (84) Die Frage nach dem Nutzen der Geschichte, wie sie Nietzsche einst angesichts der Auswüchse des Historismus stellte, wird heute in anderer Weise beantwortet als in der Moderne. Man hat gelernt einzuräumen, wie Luhmann sich ausdrückt, dass
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auf bewahrte Geschichte als bereits reduzierte Komplexität von Wert sein könnte, als Fundus bereits bewährter Selektionen, als »Orientierungskapital« für noch unbekannte Fragen, jenseits der erwartbaren Probleme genetischer VariabilitätsKnappheit, denen die Gen-Datenbank vorbeugen soll. »Erinnerte Geschichte ist das vielleicht wichtigste, zumindest jedoch ein unentbehrliches Mittel der Reduktion von Komplexität. Vergangenes hat keine anderen Möglichkeiten mehr. Es ist schon reduzierte Komplexität und kann eben deshalb nicht ganz der Vergangenheit überlassen bleiben, sondern muss als erinnerte Geschichte gegenwärtig gehalten werden, um als Entscheidungsdirektive und Entscheidungshilfe die Zukunft zu vereinfachen.« (96)
Eine solche abgeklärte Position beweist ihren Wert besonders angesichts der voreiligen Befunde, die von einem Ende der Geschichte ausgehen. Frederic Jamesons Theorie der unheimlichen Verräumlichung der Geschichte findet eine Fortsetzung im »Empire« von Antonio Negri und Michael Hardt. Die Autoren entwerfen darin das Szenario eines weltumspannenden Reiches, in dem ewige Gegenwart herrscht. Im Unterschied zum Imperialismus des 19. Jahrhunderts, als einzelne Nationalstaaten ihre Territorien in Konkurrenz zueinander ausdehnten, stellen sie das Empire als eine neue Weltordnung dar, welche »die Geschichte vollständig suspendiert und dadurch die bestehende Lage der Dinge für die Ewigkeit festschreibt«. Sie sprechen von einer »geglätteten Welt«, sowie davon, dass das Empire den Raum in seiner Totalität vollständig umfasse und keine territorialen Grenzziehungen kenne. In ihren Worten: »Das Empire stellt […] seine Herrschaft nicht als vergängliches Moment im Verlauf der Geschichte dar, sondern als Regime ohne zeitliche Begrenzung und in diesem Sinn außerhalb von oder am Ende der Geschichte.« Und: »Aus der Perspektive des Empire ist alles so, wie es immer sein wird und wie es immer schon sein sollte.« (97) Einige der Kunstprojekte und Architektur-Entwürfe jüngeren Datums ließen sich im Lichte dieser Verstopfung der Geschichtsperspektive in einer Raum gewordenen Zeit interpretieren. Der Loop, der stetig wiederkehrende Ablauf, der in sich selbst zurücklaufende Weg, ist charakteristisch für die Struktur zahlreicher Videoinstallationen der 1990er Jahre. Das Möbius-Band, das trotz ewiger Schleife dennoch eine Fortbewegung auf noch unbegangenem Weg suggeriert, ist auch ein beliebter Ausgangspunkt architektonischer Entwurfskonzeptionen, etwa der des »Möbius House« von UN Studio (Ben van Berkel und Caroline Bos) (1998), des Yokohama International Port Terminal von ›Foreign Office Architects‹ (2002) sowie des Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart ebenfalls von UN Studio (2006). Peter Eisenman zeigte Interesse am Möbiusband im nicht realisierten Projekt für das Max-Reinhardt-Haus in Berlin (1992). (98) Eisenmans bereits in den 1960er Jahren aufgegriffene Adornitische Idee, dass die Geschichte nach dem Holocaust an ihr Ende gekommen sei und architektonischer Fortschritt im klassisch modernistischen Sinne nicht mehr möglich sei, wird ab den 1990er Jahren mit dem ahistorischen Zeitmodell der Globalisierung überlagert, das tragische Modell von einem zynischen überschrieben. Tatsächlich ziehen sich Begriffe wie das »Winden« (twisting) und »Verzerren« (distortion) und »Verweben« (interweaving) wie rote Fäden durch Eisenmans aufgedonnerte Rhetorik. (88)
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Ist es eine Architektur, die im Käfig der puren Räumlichkeit gefangen ist, und die sich, wie ein gefangenes Raubtier, fortwährend hin und her bewegen muss? Ist es gar ein Ringen der Architektur mit sich selber, wie es Manfredo Tafuri in seinem 1973 erschienenen, 1975 ins Englische übersetzten Buch »Architektur und Utopie« mit Bezug auf Piranesi beschrieb? (89) Luhmann fragte grundsätzlich, wie sich Vernunftaufklärung verträgt mit Geschichte, wenn sie sich doch einst gegen diese durchsetzen musste. »Jene Epoche, der wir Begriff und Programm der Aufklärung verdanken, hatte sich bewußt von der Geschichte losgesagt. Sie wollte sie der Vergangenheit überlassen, sie als erledigt betrachten. Im ausdrücklichen Zurückweisen der Geschichte und im Neubeginnenwollen, aber auch in den übrigen Denkvoraussetzungen aufklärerischen Strebens meldet sich ein geschichtsfreier Rationalismus zu Wort: Freiheit heißt Freiheit von den Fesseln der Vergangenheit, von zu engen Räumen und Gassen und ihren zahllosen, unvernünftig verwinkelten Besonderheiten. Gleichheit heißt Einebnen der Unterschiede, die ›nur‹ geschichtlich und nicht in Natur und Vernunft begründet sind.« (99)
Wenn die ideale Gesellschaft nicht mehr nur eine Sache des Vorstellens ist, sondern der alltäglichen systematischen Praxis, kann man nicht übersehen, »daß der Aufbau von Systemen Zeit kostet und daß in Systemstrukturen Geschichte gegenwärtig ist und immer neu als Handlungsgrundlage aktiviert wird […] Wer Traditionen verwirft, muß Konsens herstellen […] Um die Geschichte abstoßen zu können, mußte die Vernunftaufklärung eine intersubjektiv gültige Vernunftmetaphysik postulieren und das Problem der Komplexität dorthin verlagern. Dort ließ es sich aber nicht halten, geschweige denn bewältigen«. (100) Man kann nicht umhin, den Menschen und seine soziale Welt aus den geschichtlichen und elementaren Prozessen zu erkennen zu versuchen, die aufgebaut haben, was gegenwärtig besteht. Auch wenn man nur evolutionistisch die Gegenwart als Resultat des Wettkampfs von Problemlösungen auffasst, bei dem die vorteilhaften sich durchsetzen, so dass erklärbar wird, wie im Laufe der Geschichte Unwahrscheinliches wahrscheinlich geworden ist. Der Auf bau komplexer Systeme kostet Zeit und wird so zur Geschichte, die in Systemstrukturen vorausgesetzt ist, ohne jedes Mal erneut geleistet werden zu müssen. Gelungene Systembildungen – der Auf bau von Statushierarchien, die Ablösung des politischen Vertrauens von Verwandtschaftsbeziehungen, die funktionale Differenzierung der Sozialsysteme, die Stabilisierung des Geldwesens und des positiven Rechts, die Freigabe der Liebe als Ehegrund oder die Institutionalisierung des Machtwechsels – das alles sind zivilisatorische Errungenschaften, die sich von den elementaren Prozessen, die zu ihrer Einführung nötig waren, ablösen lassen und sich durch ihre Vorteilhaftigkeit selbst stabilisieren.« (101) »Die geschichtsfeindliche Attitüde der Vernunftaufklärung, die auf den Ursprung zurückgehen und dann alles aus der Vernunft neu konstruieren wollte«, konnte nicht beibehalten werden. »Sie war Ausdruck eines unbekümmerten Übergehens der Weltkomplexität, jenes Verkennens der inhärenten Schranken aller Aufklärung, die Komplexität nicht nur erfassen, sondern auch reduzieren muß.« Geschichte ist für die Soziologie Entlastung von Komplexität. Dieses Entlastungsverhältnis muss allerdings bewusst werden.
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Architektur und Geistesgeschichte »Evidenzen, Selbstverständlichkeiten mit latenten Funktionen, verwandeln sich dadurch in mit dem System übernommene Problemlösungen, deren funktionale Interdependenzen sich prinzipiell durchschauen lassen. Eine funktionale Durchsichtigkeit der Systeme auch in den Sinnablagerungen, die jeweils als Struktur und nicht als Problem verwendet werden, ist wesentlicher Bestandteil eines Programms soziologischer Aufklärung. Nur auf diese Weise läßt sich ein Fortschritt anstreben, der der vollen Komplexität eines Systems gerecht wird dadurch, daß er gegebene Zustände in all ihren Funktionen ersetzt.« (102)
D 13. Architektur ist dank ihrer Affinität zur Erinnerung bereits in der Antike als Vehikel der Gedächtniskunst geschätzt worden. Man weiß, dass Redner in der Antike mnemotechnische Tricks kannten, Merkhilfen oder Eselsbrücken bildeten, Reime, Merksätze, wie sie zum Lernen lateinischer Grammatikregeln bis heute im Schulunterricht in Gebrauch sind. Nicht zufällig bediente man sich zum Memorieren mit Vorliebe räumlicher Gebilde, bei komplexen und längeren Texten ganzer Gebäude mit Zimmerfluchten, in denen die zu erinnernden Worte und Themen abgestellt und bei einem erneuten virtuellen Durchgang wieder aufgesucht und aufgenommen werden können. Architektur ist der Inbegriff der Fähigkeit, Zeitliches in Räumliches zu verwandeln, die zeitliche Abfolge von Ereignissen als Sich-Verteilen und Ausbreiten im Raum vorzustellen, und wieder in zeitlichen Ablauf zurück zu verwandeln. Die Story, wie ein gewisser Simonides angeblich die Gedächtniskunst erfand, schildert Cicero in seinem Rhetoriklehrbuch »De oratore«, einer der drei Hauptquellen für die antike Mnemotechnik: »Bei einem Festmahl, das von einem thessalischen Edlen namens Skopas veranstaltet wurde, trug Simonides zu Ehren seines Gastgebers ein lyrisches Gedicht vor, das auch einen Abschnitt zum Ruhm von Kastor und Pollux enthielt. Der den ihm nicht gleichgestellten gegenüber sparsame Skopas teilte dem Dichter mit, er werde ihm nur die Hälfte der für das Loblied vereinbarten Summe zahlen, den Rest solle er sich von den Zwillingsgöttern geben lassen, denen er das halbe Gedicht gewidmet habe. Wenig später wurde dem Simonides die Nachricht gebracht, draußen warteten zwei junge Männer, die ihn sprechen wollten. Er verließ das Festmahl, konnte aber draußen niemanden sehen. Während seiner Abwesenheit stürzte das Dach des Festsaals ein und begrub Skopas und seine Gäste unter seinen Trümmern. Die Leichen waren so zermalmt, daß die Verwandten, die sie zur Bestattung abholen wollten, sie nicht identifizieren konnten. Da sich aber Simonides daran erinnerte, wie sie bei Tisch gesessen hatten, konnte er den Angehörigen zeigen, welcher jeweils ihr Toter war. Die unsichtbaren Besucher, Kastor und Pollux, hatten für ihren Anteil an dem Loblied freigebig gezahlt, indem sie Simonides unmittelbar vor dem Einsturz vom Festmahl entfernt hatten.« (103)
Nietzsche wird für vieles als Vorläufer oder Vorreiter in Anspruch genommen. Was Valéry noch als Häresie bezeichnete und als Ende aller Zeiten, den »Somatismus«, »Anbetung, Kult der Lebensmaschine« verachtete, das ist heute freilich offizielle Ideologie geworden, in der beständigen Rede vom Körpergefühl, der Körpersprache. Nun wird Nietzsche zum apokryphen Vorläufer einer Denkmode reklamiert. Auch das besondere anthropologische Interesse für die Bedeutung des Körpers in
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früheren Kulturen, an Tätowierungen, Verstümmelungen, für an Körperfunktionen gebundene Rituale hat er gewissermaßen wider Willen vorweggenommen, indem er die Erinnerung an die Strafe, den Schmerz und die Einritzungen knüpfte. »›Wie macht man dem Menschen-Thiere ein Gedächtniss? Wie prägt man diesem theils stumpfen, theils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaften Vergesslichkeit Etwas so ein, dass es gegenwärtig bleibt?‹ […] Dies uralte Problem ist, wie man denken kann, nicht gerade mit zarten Antworten und Mitteln gelöst worden; vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik. ›Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss‹ – das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden. Man möchte selbst sagen, dass es überall, wo es jetzt noch auf Erden Feierlichkeit, Ernst, Geheimniss, düstere Farben im Leben von Mensch und Volk giebt, Etwas von der Schrecklichkeit nachwirkt, mit der ehemals überall auf Erden versprochen, verpfändet, gelobt worden ist: die Vergangenheit, die längste tiefste härteste Vergangenheit, haucht uns an und quillt in uns herauf, wenn wir ›ernst‹ werden. Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfänder (wohin die Erstlingsopfer gehören), die widerlichsten Verstümmelungen (zum Beispiel die Castrationen), die grausamsten Ritualformen aller religiösen Culte (und alle Religionen sind auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten) – alles Das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonik errieth.« (104)
Dieser Topos hat auch eine alptraumhafte Seite. Das Eingravieren wie die Gedächtniskunst beruhen auf demselben Vorstellungsvermögen wie Freuds Zaubertafel, auf der alles, was wir je erlebt und gedacht haben, auf bewahrt bleibt. Dass alles, was uns je begegnete oder auf uns einstürzt, in uns auf bewahrt bleiben muss, uns bis ans Lebensende verfolgt, weckt alptraumhafte Vorstellungen. Wir müssen Nietzsche zufolge auch zu einem Vergessen fähig sein, dass nicht nur Betäuben oder Wahnsinn ist, sondern zur Körper-Hygiene gehört wie das Waschen. »Vergeßlichkeit ist […] ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen«, dem es zuzuschreiben ist, das, was nur von uns erlebt, erfahren, in uns hineingenommen wird, uns im Zustande der seelischen Verdauung ebenso wenig ins Bewusstsein tritt wie der ganze Prozess der leiblichen Ernährung. (105) »Die Türen und Fenster des Bewußtseins zeitweilig schließen; von dem Lärm und Kampf, mit dem unsere Unterwelt von dienstbaren Organen für und gegeneinander arbeitet, unbehelligt bleiben; ein wenig Stille, ein wenig tabula rasa des Bewußtseins, damit wieder Platz wird für Neues, vor allem für die vornehmeren Funktionen und Funktionäre, für Regieren, Voraussehn, Vorausbestimmen […] – das ist der Nutzen der, wie gesagt, aktiven Vergeßlichkeit, einer Thürwärterin gleichsam, einer Aufrechterhalterin der seelischen Ordnung, der Ruhe, der Etiquette: womit sofort abzusehen ist, inwiefern es kein Glück, keine Heiterkeit, keine Hoffnung, keinen Stolz, keine Gegenwart geben könnte ohne Vergeßlichkeit.« (106)
Der Mensch, dem dieser Hemmungsapparat beschädigt wird, der wird mit nichts fertig. Dieses notwendig vergessliche Tier hat sich nun ein Gedächtnisvermögen angezüchtet, mit Hilfe dessen »für gewisse Fälle die Vergesslichkeit ausgehängt wird«. Im besten Fall handelt es sich dabei nicht um ein passives Nicht-wieder-los-
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werden-Können, sondern um einen Beweis des Verantwortungsbewusstseins und des Gewissens. In einer Zeit, da das Erinnern kultureller Imperativ geworden ist, ist das Nachdenken über den Nutzen des Vergessens verdächtig. Zu oft ging es mit dem Versuch der politischen Instrumentalisierung des Vergessens einher. Vergessen aber, das nicht auf Verdrängen hinausläuft, ist notwendiger Teil jeglichen Nachdenkens über das Erinnern, das ohne die Wechselwirkung mit dem Vergessen nicht verstehbar ist. Goethes Faust ist eine moderne Gestalt auch insofern, als sie das Vergessen gutheißt und praktiziert, um Raum und Kraft für neue Gedanken und Taten zu schaffen. Übermäßiges und zu lange dauerndes Trauern wurde bereits in der antiken Polis verboten und geahndet, und es bedroht den Frieden heute vielleicht nicht weniger als damals. Für Bergson beruht ähnlich wie für Nietzsche der Aufbau begrifflichen Wissens auf dem Vergessen der emotional besetzten Erinnerungsbilder. Erst wenn das Motiv abgekühlt ist, wird Kommunikation über das jeweilige Phänomen oder den betreffenden Sachverhalt möglich. Kafka wollte mit seinem Schreiben das Gegenteil erreichen und die zur bloßen Spur erkalteten Erinnerungsbilder im Schreiben neu erhitzen, oder sie gar vor dem Erkalten durch Schreiben bewahren. Zur Veranschaulichung des Gedächtnisses als Zusammenwirken von Erinnern und Vergessen konkurriert Architektur mit den Verdauungsorganen. Auch der Magen besitzt eine lange Geschichte als Metapher für das Gedächtnis. Gern wird das Sich-Merken und Sich-Erinnern als Einverleiben und Verdauen, schließlich Vergessen als Ausscheiden begriffen. (107) Erste Spuren finden sich wiederum bei Quintilian, in dessen Rhetorik, und zwar im Zusammenhang mit der Metapher des Wiederkäuens von Gedächtnisinhalten zu ihrer besseren Einprägung. Die mittelalterlichen Mönche bezeichneten das Lesen als eine Art magischer Praxis des »Schriftessens«. Der Text wird nicht einfach gespeichert, sondern durch Abschreiben wiedergekäut und so allmählich verdaut. Nur so kann er dem Leser Nutzen bringen wie andere Nahrung auch. Das Bild wird dann ins Volkstümliche abgedrängt. Rabelais unersättlicher »Gargantua« stellt eine reichhaltige Quelle hierfür dar. Bei Nietzsche kehrt das Bild wieder. »So wir nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir nicht ins Himmelreich. Wir sollten ihnen nämlich eins ablernen: das Wiederkäuen.« So heißt es in der Lehre von der ewigen Wiederkehr, wo Nietzsche die Vorstellung des ewig sich drehenden Gedächtnisses entwickelt, des Kreislaufs einer endlichen und an ihrem Ende in sich zurückkehrenden Reihe von Kombinationen. Die Welt lebt von sich selber: Ihre Ausscheidungen sind ihre Nahrung. Die physiologische Körpermetaphorik dient auch als Gegenentwurf zum unerbittlichen Gedächtnis der Mnemotechnik, das aus dieser Sicht als Blähung und Verstopfung erscheint. Die mit jener verbundene Vorstellung, dass nichts vom Vergangenen verloren gehe, alles ewig wiederkehre, erzeugt zwangsläufig die Gegenvorstellung eines harmlosen, gut verdauenden Gedächtnisses, dem die Fähigkeit zum Vergessen nicht völlig abhandengekommen ist. (108)
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A nmerkungen 1 | Rosalind Krauss, Das optische Unbewusste der modernen Malerei. (The Optical Unconscious. Cambridge/MA 1993.) 2 | Gerrit Confurius, Die Geschichte der Architektur ist eine Geschichte der Umnutzung, in: Werk und Zeit, 3/4 (1983). 3 | Lecture von Bart Lootsma, Electrification takes command. University of Innsbruck 2016 4 | Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur: Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Frankfurt a.M. 2004, S. 26f. 5 | Vgl. Durkheim, Der Selbstmord. Frankfurt a.M. 1990 (1897). 6 | Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1991 (La mémoire collective, 1939). 7 | Maurice Halbwachs, Soziale Morphologie. Ausgewählte Schriften. Konstanz 2002, S. 17. 8 | Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, a.a.O., S. 129. 9 | Ebenda, S. 142. 10 | Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis,a.a.O., S. 127. Das materielle Substrat des kollektiven Gedächtnisses muss nicht vorgefunden sein, es kann auch eigens hergestellt worden sein. In der »Topographie légendaire des Evangiles et des Terres Saintes« geht Halbwachs davon aus, dass kaum authentische Spuren von Jesu Leben erhalten sind. Als mit der konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert nach Christi eine Zeit heraufzog und eine Gruppe entstand, die dieser Vergangenheit und dieser Erinnerungsspuren so dringend bedurfte, dass es sie erfinden musste, hat man den Raum entsprechend besetzt. Die heilige Topographie Jerusalems und Galiläas ist in hohem Maße geprägt von den Sinnbedürfnissen der Ostertheologie. Es geht um ein Kollektiv, das sich auf eine bestimmte Erinnerung festlegt und diese Erinnerung topographisch fixiert. 11 | Ebenda. Siehe auch Auguste Comte, Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug. Stuttgart 1974. (»Cours de philosophie positive.«) 12 | Karl Marx, Pariser Manuskripte, in: Texte zu Methode und Praxis II, Reinbek 1966, S. 56f. 13 | Ebenda. Vgl. auch Jürgen Habermas, Philosophische Anthropologie (1958), in: Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze. Frankfurt a.M. 1977. 14 | Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Bd. 1. Die Idee des Kunstschönen oder das Ideal, Bestimmtheit des Ideals, III. Die äußerliche Bestimmtheit des Ideals, 2 (1835-1838). Werke in 20 Bänden, Bd. 13. Frankfurt a.M. 1986. 15 | Pico della Mirandola spricht vom »Gottvater, dem höchsten Baumeister, der dieses irdische Haus der Gottheit, das wir jetzt sehen, diesen Tempel des Erhabensten, nach den Gesetzen einer verborgenen Weisheit errichtet hat.« Über die Würde des Menschen. Zürich 1988, S. 7ff. Auch Leibniz spricht von Gott als Architekt des Kosmos, den die Menschen bei der Verschönerung der Erdoberfläche nachahmen. Auf diese Weise erzeugen die Geister in der Materie wunderbare Ordnungen. Gottfried W. Leibniz, … Philosophische Schriften. Vgl. hierzu Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft Bd. 2. Technik, S. 520. 16 | Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen. Frankfurt a.M. 2006, S. 652f. 17 | Ebenda. 18 | Die Veränderung hat K. Marx im Bild des Überwundenen ausgedrückt, als er im »Kapital« von der Industrie als dem »aufgeschlagenen Buch der menschlichen Wesenskräfte« sprach, a.a.O., S. 80f. 19 | Rem Koolhaas, Delirious New York. A Retroactive Manifesto for Manhattan. Oxford 1997 (1978). Dt. Delirious New York. Ein retroaktives Manifest für Manhattan. Berlin 2006, S. 266. 20 | Ebenda, S. 264.
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Architektur und Geistesgeschichte 21 | Niklas Luhmann, Am Ende der kritischen Soziologie, in: Zeitschrift für Soziologie 20/2 (1991), S. 147-152. 22 | Für Winfried Nerdinger selbst soll der Satz Leon Battista Albertis noch heute gelten: »Einen hohen Geist, unermüdlichen Fleiß, höchste Gelehrsamkeit und größte Erfahrung muß jeder besitzen und vor allem eine ernste und gründliche Urteilskraft und Einsicht haben, der es wagt, sich Architekt zu nennen.« Winfried Nerdinger, Ausstellung in der Pinakothek der Moderne in München: Der Architekt, Katalog. München 2012. Rem Koolhaas zeigt sich in einem Interview zurückhaltender: »You are in a position to change the world in some way. It’s kind of a bizarre profession. Even if you are a kind of normal person, which I think to some extent I am, and even if you know about modesty, which I also do, it would be almost a deficiency if you aren’t in some ways confident or convinced to change things in a positive direction. So you have to develop that ambition, and at the same time be able to relativize that ambition. So it’s a complex mixture.« Public debate Rem Koolhaas – Peter Sloterdijk. 29. November 2011. ANCB, Aedes Campus, Berlin, in Cooperation with the Dutch Embassy. 23 | Denis de Rougemont, Die Künste der Liebe und des Krieges, in: Das Collège de Sociologie 1937-1939. Hg. von Denis Hollier. Berlin 2012 (1979), S. 369-373. 24 | Zu La Bruyère siehe Hans Robert Jauss, Vom Plurale Tantum der Charaktere zum Singulare Tantum des Individuums, in: Poetik und Hermeneutik XIII. München 1988, S. 256. 25 | Herman Meyer, Der Sonderling in der deutschen Dichtung. Berlin 1984. Zum Begriff der Innerlichkeit u.a. in Bezug auf Jean Paul, vgl. Peter Sprengel, Innerlichkeit. Jean Paul oder das Leiden an der Gesellschaft. München 1977. 26 | Vgl. Jacques Lacarrière, Les inspirées au bord de la route. Hg. von Jacques Verroust. Paris 1978. Die Situationisten reklamierten das Palais des Facteur Cheval als paradigmatisches Beispiel für die vom ›détournement‹ bestimmte Konzeption der situationistischen Architektur. Das in in Hauterives im Département Drômes befindliche Bauwerk war das Ziel häufiger Wallfahrten der Gruppe. In einem verspielten Text von Debord mit Abbildungen von psychogeographischer Aussagekraft aus verschiedensten Disziplinen ist das einzige angeführte Beispiel für psychogeographische Architektur ebendieses phantastische Bauwerk. 27 | Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken. Frankfurt a.M. 1968/1973 (1962), S. 30. 28 | Ebenda, S. 29. 29 | Ebenda, S 30. 30 | Ebenda, S. 31f. 31 | Hans Blumenberg, Wirklichkeiten, in denen wir leben. Stuttgart 1981. 32 | Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur. Frankfurt a.M. 2002. 33 | »Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es. – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch diese Verknüpfung logarythmisiert – es bekommt einen geläufigen Ausdruck. Romantische Philosophie. Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung.« Novalis, Fragmente und Studien 1797-1798, in: HKA II, 545, Nr. 105. 34 | Walter Benjamin, Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Frankfurt a.M. 1991 (1920). Kapitel 3, 1. Teil, Reflexion und Setzung bei Fichte, S. 60.
D. Permanenz und Gedächtnis, Demiurg und Bastler Vgl. Jürgen Daiber, Experimentalphysik des Geistes: Novalis und das romantische Experiment. Göttingen 2001. 35 | Friedrich Schlegel, Jugendschriften 1794-1802. Wien 1882. 36 | Der Ingenieur als Mythos des Bastlers: Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M. 1976 (1972), S. 431ff. 37 | Adorno spricht von der Möglichkeit, dass der Künstler von seinen Gebilden überrascht werde. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M. 1970. Zum Begriff des Experiments siehe S. 63f., S. 329. Vgl. die Ausstellung im Hamburger Bahnhof im Sommer 2015: Black Mountain. Ein interdisziplinäres Experiment 1933-1957. Berlin, Hamburger Bahnhof 5.6.-27.9.2015. 38 | Marcel Proust, zitiert nach Michel Butor, Répertoire V. München 1965. 39 | Just wandert nach Amerika aus und lernt die Not des Daseins kennen. »Ein blöderer Hanstoffel als ich ist wohl selten aus seinem Traumwinkel und von der Ofenbank an die freie Luft hinausbefördert worden.« 40 | Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, a.a.O., 4. Kapitel, S. 127. Siehe auch Auguste Comte, Die Soziologie, a.a.O. 41 | Marc Augé, Ein Ethnologe in der Métro. Frankfurt a.M. 1997. 42 | Robert Musil, Denkmale, in: ders., Prosa und Stücke, Werke in 2 Bänden. Reinbek 1978. 43 | Henri Pirenne, Les villes et les institutions urbaines, 2 Bände. Paris/Brüssel 1939; Marcel Poète, Introduction à L’Urbanisme. L’Evolution des villes – la leçon de l’Antiquitité. Paris 1967; Pierre Lavedan, Histoire de l’Urbanisme. Renaissance et Temps moderne. Paris 1959; ders., Géographies des Villes. Paris 1959; ders., Jeanne Huguenney, L’Urbanisme au MoyenAge. Genf/Paris 1974. 44 | Was würde, so fragte Freud, ein »mit den vollkommensten historischen und topographischen Kenntnissen ausgestatteter Besucher- in der ewigen Stadt von deren Entwicklung zwischen der Roma quadrata bis zur modernen Metropole noch wahrnehmen? Mauerfragmente, Tempel, Ruinen, die er aufgrund seines großen Wissens in seinem Geist zu den ursprünglichen Bau- und Kunstwerken restituieren könnte. Sein Prinzip, »dass im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann«, illustriert Freud nun mit der »phantastischen Annahme, Rom sei nicht eine menschliche Wohnstätte, sondern ein psychisches Wesen von ähnlich langer und reichhaltiger Vergangenheit, in dem also nichts, was einmal zustande gekommen war, untergegangen ist«. Dieses psychische Wesen würde also das ganze historische und moderne Rom in der Vielfalt der Baustile der durchlaufenen Epochen gleichzeitig verkörpern und wahrnehmen. »Es ist sogar eine hervorragende Besonderheit unbewusster Vorgänge, dass sie unzerstörbar bleiben. Im Unbewussten ist nichts zu Ende zu bringen, ist nichts vergangen oder vergessen.« Sigmund Freud, Traumdeutung, Berlin 1989 (1900), S. 550. Die Archäologie wird zur Metapher für die Arbeit des Analytikers, der durch die Schichten der bewussten Erinnerungen wie durch eine Verschüttung hindurch zu den Tiefenschichten des Unbewussten durchstößt, in dem die verdrängten Erinnerungsbilder der frühen Kindheit und der menschlichen Phylogenese sich in unberührter Ganzheit erhalten haben. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Kapitel 1. (1930), in: Sigmund Freud, Studienausgabe, Bd. XI. Frankfurt a.M. 1974. 45 | Freud verwendete den Vergleich mit der Wachstafel bereits in der »Traumdeutung«. Später in »Jenseits des Lustprinzips« hatte er einige Bemerkung hinzugefügt. Das Thema wird in der »Notiz über den ›Wunderblock‹« ausführlich abgehandelt in: Gesammelte Werke Bd. 13. Berlin 1940, S. 387-91. Erstveröffentlichung: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 10/1 (1924), S. 1-5. 46 | Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, a.a.O.
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Architektur und Geistesgeschichte 47 | Sigmund Freud, Die Konstruktionen der Analyse (1937), in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 13/4 (1937), S. 459ff.; Kleine Schriften I, Kapitel 36. 48 | Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter. 1859-1872. München 1988. 49 | Carlo Fontana, zitiert nach Aldo Rossi, L’Architettura della Città. Padova 1978. 50 | Siehe zu zahlreichen Beispielen Enrico Guidoni, Die europäische Stadt. Stuttgart 1980. Was sich in Rom während des Mittelalters vollzog, findet gegenwärtig in Detroit statt. Die einstige Welthauptstadt des Automobilbaus, kürzlich wegen Bankrotts unter Zwangsverwaltung gestellt, hat zwischen 1950 und 2010 fast zwei Drittel ihrer Bevölkerung verloren. Ein Konzept »Detroit Future City« sieht vor, dass die Stadt auf das Umfeld ihrer Hauptverkehrswege schrumpfen soll. Der Wandel zu einem Netz von Stadtinseln ist bereits in Gang. Stadt-Flächen der Natur zurückzugeben war auch vor dem »Mauerfall« für die Zukunft Berlins diskutiert worden, um auf den damaligen Bevölkerungsschwund Westberlins zu reagieren. Das Konzept, das Philip Oswald und Maria Ungers mit Rem Koolhaas erarbeiteten, hieß »Berlin, das grüne Stadtarchipel«. 51 | Zu Nottolini vgl. die ihm gewidmete Ausgabe von Casabella; siehe auch Aldo Rossi, L’Architettura della Città, a.a.O., Tavola 19. 52 | Aldo Rossi bezieht sich dort ausführlich auf Marcel Poète. 53 | Deutsche Architekten begrüßten in der Nachkriegszeit in großer Zahl die Kriegszerstörungen, da sie die Chance böten, nach modernen Maßstäben, vor allem in »autogerechter« Weise, die Städte neu zu planen. Der amerikanische Stadtsoziologe Lewis Mumford hat damals gesagt, die Kriegszerstörungen seien noch »nicht weit genug gegangen«, man müsse »überlegt und rationell das zufällige Werk der Bomben fortsetzen«. Mit solchen Ideen für einen radikalen Stadtumbau setzte sich eine Ausstellung in Hamburg auseinander: »Die erwartete Katastrophe – Luftkrieg und Städtebau in Europa, 1940-1945«, kuratiert von Jörn Düwel, Professor für Architektur an der Hafen-City-Universität in Hamburg. 54 | Die Nord-Süd-Achse der ehemaligen Lutetia, der cardo, wird durch die lange Rue St. Denis gebildet, der decumanus durch die Rue Soufflot. 55 | Vgl. Johanns Dobai, Die Kunstliteratur des Klassizismus und der Romantik in England. Bern 1974-1984. 56 | Hans-Joachim Verspohl ist einer der Autoren, die sich mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben, in Beiträgen in: Kritische Berichte. Mitteilungsorgan des Ulmer Vereins für Kunst- und Kulturwissenschaften. Gießen 1986. 57 | Günther Metken, Spurensicherung. Eine Revision. Texte 1977-1995. Dresden/Berlin 1996; vgl. Alexander Demandt, Vandalismus: Gewalt gegen Kultur. Berlin 1997. 58 | Georges Poulet, Marcel Proust. Zeit und Raum. Frankfurt a.M. 1966. 59 | Georges Poulet, Marcel Proust: A la recherche du temps perdu, in: Walter Pabst (Hg.), Der moderne französische Roman. Interpretationen. Berlin 1968, S. 120-133. 60 | Vgl. hierzu Enrico Guidoni, Die europäische Stadt, a.a.O. 61 | Norbert Miller, Archäologie des Traums. Versuch über Giovanni Battista Piranesi. München 1978, S. 106f. Giambattista Nollis detaillierter und reich dekorierter Stadtplan von Rom aus dem Jahr 1748, ausgestellt im Januar 2005 in der Bibliotheca Hertziana in Rom, die auch das Panorama von Giuseppe Vasi von 1765 zeigte, vermittelt ein detailreiches Bild von Rom unter den Pontifikaten der Päpste Clemens XII. Corsini, Benedikt XIV. Lambertini und Clemens XIII. Rezzonico. 62 | Ferdinand Gregorovius, Geschiche der Stadt Rom, a.a.O.; vgl. auch Jacob Christoph Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Basel 1860.
D. Permanenz und Gedächtnis, Demiurg und Bastler 63 | Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt a.M. 1972; Norbert Miller, Archäologie des Traums, a.a.O. 64 | Norbert Miller, Archäologie des Traums, a.a.O.: Die entgrenzte Barockbühne, S. 42. 65 | Ebenda, S. 42f. 66 | Zu dem Topos der Ruinen Roms als Zeugen eines verstorbenen Riesen-Geschlechts vgl. auch Burtons Rede von den Zwergen auf den Schultern von Riesen: »Ein Zwerg, der auf den Schultern eines Riesen steht, kann weiter sehen als der Riese selbst.« Zu der schwer zurückzuverfolgenden Herkunft dieses geflügelten Wortes siehe: Robert K. Merton, Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit. Frankfurt a.M. 1980 (1965). »Wir sind zu spät geboren«, klagt Adonhiram, der Held von Gérard de Nervals »Voyage en Orient«. 67 | Edmund Burke, Philosophical Inquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757). 68 | Juvedale Price, An Essay on the Picturesque, as Compared with the Sublime and Beautiful, and, on the Use of Studying Pictures, for the Purpose of Improving Real Landscape. London 1794. Zu Juvedale Price und zu Addison vgl. Anthony Vidler, The Writing on the Wall. Princeton 1987. 69 | Peter Szondi, Benjamins Städtebilder, in: Schriften II. Frankfurt a.M. 2011, S. 296. 70 | Walter Benjamin, Tiergarten. Berliner K12 72 | Berenice Abbott, Eugène Atget. Prag 1963. Ausstellungen: Eugène Atget – Paris um 1900. Fotomuseum Winterthur März-Mai 2008; Retrospektive, Musée Carnavalet in Paris, vom 25. April bis 29. Juli 2012. 73 | Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Frankfurt a.M. 1974; ders., Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. Baudelaire oder die Straßen von Paris, in: Illuminationen. Ausgewählte Schriften I. Frankfurt a.M. 1977. Walter Benjamin notiert sich Baudelaires Zeilen aus einem Epitaph: »Au recueil des oeuvres de Meryon: Le vieux Paris n’est plus. La forme d’une ville/Change plus vite, hélas! que le coeur d’un mortel.« Das Passagen-Werk C7a,1. Gesammelte Schriften, Bd. 5,1-2. Frankfurt a.M. 1982 74 | Walter Benjamin, Das Pssagen-Werk, C7a,4. a.a.O. Varianten dieses Topos beispielsweise die von Léon Daudet, Paris vécu I, Rive droite. Paris 1930; Auch Oswald Spengler hat sich in seinem »Untergang des Abendlandes« dieses Topos bedient. 75 | Josef Fürnkäs, Surrealismus als Erkenntnis. Walter Benjamin: Weimarer Einbahnstraße und Pariser Passagen. Stuttgart 1988, S. 68ff. Zur Formenvielfalt und literarischen Mythologie der Passagen siehe: Jonas Geist, Passagen: ein Bautyp des 19. Jahrhunderts. Dissertation TU Berlin. Berlin 1969. 76 | Walter Benjamin, Charles Baudelaire, a.a.O. 77 | Walter Benjamin las in den architektonischen Formen den kollektiven Traum als uneingelöstes Zukunftsversprechen der Vergangenheit, den einer klassenlosen Gesellschaft und menschlicher Beziehungen jenseits des Warencharakters. Raumbilder sind auch für Kracauer Chiffren für die Träume der Gesellschaft. Cassirers Begriff der »symbolischen Form« bemüht sich zu sehr um Neutralität, als dass er diese Dimension einfangen könnte. Unter einer symbolischen Form soll Cassirer zufolge jene Energie verstanden werden, durch welche »ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.« Ernst Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. 8. Aufl. Darmstadt 1994, S. 169-200, insbesondere S. 175.
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Architektur und Geistesgeschichte 78 | Norbert Huse, Venedig. Von der Kunst, eine Stadt im Wasser zu bauen. München 2005, S. 179. 79 | Ebenda, S. 165. 80 | Ebenda. 81 | Vgl. Gerrit Confurius, Venedigs zweites Gesicht, in: Am Erker 55 (2008). 82 | Bei Nietzsche ist es nicht eine Verunreinigung der Sprache, was uns die Realität entfremdet, sondern das Wesen der Sprache selbst. Er eröffnet einen eigentümlich radikalen Zugang zum Phänomen der Entfremdung. Verständigung begreift er als eine durch externe Nervenreize ausgelöste, nur »auf dem Rücken der Dinge« spielende Fiktion, deren Erfolg über die Institutionalisierung entscheidet, und deren Verfestigung die Verpflichtung auferlegt, »nach einer festen Konvention zu lügen«. Verständigung beruht auf eingespielten Fehlleistungen, die gerade deshalb zur Kommunikation taugen, weil sie nicht an die Realität erinnern, weil durch Abstraktion, Entfärbung, Abkühlung kaum noch Spuren der anthropomorphen und metaphorischen Ursprünge der Begriffsbildung vorhanden sind. Sprachliche Ausdrücke ermöglichen Kommunikation gerade durch ihre Entfernung von ihren Ursprüngen, in ihrer Bedeutungsentleerung. »[Wahrheit ist für ihn] ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken […] Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.« Allerdings lebt der Mensch nur unter dieser Voraussetzung, dass das ursprünglich Erlebte umgangssprachlich zur intersubjektiven Gültigkeit sprachlicher Konvention geronnen ist, einigermaßen sicher. Die Verhärtungen und Entleerungen der Symbole, ihre Lügenhaftigkeit sind der Kommunikation nicht im Wege, sondern vielmehr notwendige Voraussetzung für menschliches Zusammenleben und zwischenmenschliche Verständigung, für soziale Institutionen, für innere Ruhe und äußere Sicherheit. Nietzsche konfrontiert die »Lüge« des individualitätsvergessenen Begriffs mit der individualisierenden Metapher: »Nur durch das Vergessen jener primitiven Metaphernwelt, nur durch das Hart- und Starrwerden einer ursprünglich, in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse, nur durch den unbesiegbaren Glauben, diese Sonne, dieses Fenster, dieser Tisch sei eine Wahrheit an sich, kurz nur dadurch, daß der Mensch sich als Subjekt, u.z. als künstlerisch schaffendes Subjekt, vergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Konsequenz: wenn er einen Augenblick nur aus den Gefängniswänden dieses Glaubens herauskönnte, so wäre es sofort mit seinem ›Selbstbewusstsein‹ vorbei.« Nietzsches Metaphern-Apologie darf nicht romantisch gelesen werden. Jene Produktivität aktualisiert nicht ein verschüttetes Wissen, sondern ist Manifestation eines Triebes: »Jener Trieb zur Metaphernbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde, ist dadurch, dass aus seinen verflüchtigten Erzeugnissen, den Begriffen, eine reguläre und starre neue Welt als eine Zwingburg für ihn gebaut wird, in Wahrheit nicht bezwungen und kaum gebändigt. Er sucht sich ein neues Bereich seines Wirkens und ein anderes Flußbett und findet es im Mythus und überhaupt in der Kunst. Fortwährend verwirrt er die Rubriken und Zellen der Begriffe dadurch, daß er neue Übertragungen, Metaphern, Metonymien hinstellt, fortwährend zeigt er die Begierde, die vorhandene Welt des wachen Menschen so bunt unregelmäßig, folgenlos unzusammenhängend, reizvoll und ewig neu zu gestalten, wie es die Welt des Traumes ist.« Friedrich
D. Permanenz und Gedächtnis, Demiurg und Bastler Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, 1. Teil, Kapitel 1, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA). Berlin 1980, Bd. 1, S. 887. 83 | Jacques Derrida, Hans-Georg Gadamer, Der ununterbrochene Dialog. Hg. von Martin Gessmann. Frankfurt a.M. 2004; Uwe Wirth, Original und Kopie im Spannungsfeld von Iteration und Aufpfropfung, in: Gisela Fehrmann, Erika Linz, Eckhard Schumacher, Brigitte Weingart (Hg.), Originalkopie. Praktiken des Sekundären. Köln 2004. 84 | Vgl. Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt a.M. 2004. 85 | »Nur ein ganz kleiner Teil der Architektur gehört der Kunst an: Das Grabmal und das Denkmal. Alles andere, alles, was einem Zweck dient, ist aus dem Reiche der Kunst auszuschließen. […] Das Haus hat allen zu gefallen. Zum Unterschiede vom Kunstwerk, das niemandem zu gefallen hat. Das Kunstwerk ist eine Privatangelegenheit des Künstlers. Das Haus ist es nicht.« Ornament und Verbrechen (1908), in: Trotzdem – 1900-1930. Hg. von Adolf Opel. Wien 1982 (Innsbruck 1931), S. 78. »Wenn wir im Walde einen Hügel finden, sechs Schuh lang und drei Schuh breit, mit der Schaufel pyramidenförmig aufgerichtet, dann werden wir ernst, und es sagt etwas in uns: Hier liegt jemand begraben. Das ist Architektur.« Adolf Loos, Architektur (1910), in: Trotzdem – 19001930, a.a.O. Siehe Vehuda Safran (Hg.), Adolf Loos: Our Contemporary. New York 2012. 86 | Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M. 1970, S. 200, 209. 87 | André Bazin, Le cinéma et les autres arts. Paris 1959. Robert Fischer (Hg.) und André Bazin, Was ist Film? Berlin 2004. 88 | G.W.F. Hegel, Ästhetik. Hamburg 1955. 2. Teil, 1. Kapitel: Die unbewußte Symbolik. 89 | Zum Heiligen Hain von Bomarzo siehe Horst Bredekamp und Wolfram Janzer, Vicino Orsini und der Heilige Wald von Bomarzo. Ein Fürst als Künstler und Anarchist. Worms 1985, 1991. 90 | Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt a.M. 1984. 91 | Zu Karnevalsriten siehe James George Frazer, The Golden Bough. New York/London 1894. Dt. Der Goldene Zweig. Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker. Leipzig 1928; Köln 1968; Frankfurt a.M. 1977; Reinbek 1989. 92 | Zur Geschichte der Geschichte siehe Jörg Baberowski: Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault. München 2005; Peter Burke, Die Geschichte der ›Annales‹. Die Entstehung der neuen Geschichtsschreibung. Berlin 2004. Zur Aufeinanderfolge der Reiche siehe Eugen Moritz Friedrich Rosenstock-Hüessy, Soziologie. Stuttgart/Berlin/ Köln/Mainz 1956/58; (Neuedition) Im Kreuz der Wirklichkeit. Mössingen 2009. 93 | Visser’t Hooft plädieren für einen undogmatischen Synkretismus-Begriff. Ihnen zufolge liegt jenseits jeglicher Orthodoxie und dekadenztheoretischen Reinheitsvorstellung Synkretismus erst dann vor, wenn Gesellschaften aus einer anderen religiösen Welt entnommene Ideen und Praktiken adaptieren und in die eigene Religion integrieren. Bei der Herrschaft von oben werden fremde Traditionselemente in einen herrschenden religiös-kulturellen Bezugsrahmen aufgenommen. Bei der Herrschaft von unten erlangt das Aufgenommene bestimmende Macht, die das bisherige religiöse Selbstverständnis in zentralen Teilen einer Änderung unterwirft. Vgl. Roland Gschlössl, Im Schmelztiegel der Religionen. Göttertausch bei Kelten, Römern und Germanen. Mainz 2006; Mariano Delgado, Christentum und indianische Religionen. Zwischen Synkretismus und Inkulturation, in: ders., Guido Vergauwen (Hg.), Interkulturalität. Begegnung und Wandel in den Religionen. Stuttgart 2009, S. 317-330; Otto Marti, Aufbruch des Abendlandes: Völker und untergegangene Reiche im Europa der Urzeit. Zürich 1973. 94 | Zum Topos der Ahnen, die den Lebenden den Platz wegnehmen, siehe: Klaus Hock, Einführung in die Religionswissenschaft. Darmstadt 2006. Die Marx-Stelle findet sich in: »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«. Karl Marx/Friedrich Engels, Werke. Berlin 1972,
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Architektur und Geistesgeschichte Band 8, S. 115-123. »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen.« 95 | Diese Behauptung wird angezweifelt. Trotz des starken Bevölkerungswachstums sei die Zahl der Toten nach wie vor weit größer als die der Lebenden. Nach den Berechnungen des Bevölkerungsforschers Herwig Birg (Universität Bielefeld) von 1990 wurden bisher 81 Milliarden Menschen geboren. Davon leben rund 6 Milliarden, 75 Milliarden sind gestorben. Von den Toten entfallen 40 Milliarden auf die Zeit nach Christi Geburt und 35 Milliarden auf die vielen Jahrtausende davor. 96 | Vgl. Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung. Köln-Opladen 1970, S. 82ff. 97 | Francis Fukuyama, The End of History. New York 1992; Lutz Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? Reinbek 1989. Jean-Francois Lytotard sprach in einer berühmten Rede vom Ende der großen Erzählungen. Frederic Jamesons Theorie der Verräumlichung der Geschichte: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism. Durham 1991; Michael Hardt und Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt a.M. 2002, S. 11, S. 13. (Original: Empire. Cambridge/MA 2000). 98 | Ben van Berkel und Caroline Bos, UN-Studio, Möbiushaus, in der Nähe von Naarden, in Auftrag gegeben von einem Ehepaar, bei dem beide Partner zu Hause arbeiten. Arbeit und Wohnen, Büro und Privatraum verschmelzen in einer endlosen Schleife miteinander, freilich ohne die Ununterscheidbarkeit von innen und außen simulieren zu können. 88 | Peter Eisenman, Diagram Diaries. New York 1999, S. 328-239. 89 | Manfredo Tafuri, Architecture and Utopia, Design and Capitalist Development. Cambridge/MA 1976, S. 15. (Progetto e Utopia. Bari 1973.) (Meine Übersetzung aus dem Englischen.) 99 | Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, a.a.O., S. 82. 100 | Ebenda, S. 83. 101 | Ebenda, S. 84. 102 | Ebenda, S. 85. 103 | Hinweise darauf finden sich u.a. bei Quintilian, Plinius und in der »Parischen Chronik«, einer Marmortafel von etwa 264 vor Christus, die im siebzehnten Jahrhundert auf Paros gefunden wurde und die legendären Daten von Entdeckungen oder Erfindungen, wie die der Flöte, der Einführung des Getreides oder der Veröffentlichung von Orpheus Dichtungen, sowie bedeutende Feste und die dabei verliehenen Preise verzeichnet. In der Loci-Technik wird für jeden Begriff ein eigener Platz reserviert. Die fixe Struktur, die es ermöglicht, bei der Wiedergabe die genaue Reihenfolge einzuhalten, kann ein wohlbekannter Weg sein, aber auch ein Raum, ein realer oder auch einer, den man eigens geschaffen hat, wobei dies in größtmöglicher Detailgenauigkeit geschehen muss. Auf die geistig vorbereiteten Plätze oder in die Zimmer kann man das zu Merkende in Form lebendiger Bilder ablegen. Besonders ökonomisch ist es, wenn man mehrere Dinge zuerst zu einem Assoziationsbild verknüpft und dann erst gedanklich ablegt. So wird Platz gespart, und man erinnert sich noch leichter. Man kann den Weg oder die einzelnen Zimmer mehrmals benutzen. Siehe Frances A. Yates, The Art of Memory. Chicago 1966; vgl. Gerrit Confurius, Die Innenarchitektur der Gedächtniskunst, in: Daidalos 58: Memoria. Gütersloh 1995.
D. Permanenz und Gedächtnis, Demiurg und Bastler 104 | Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 2. Abhandlung, 3. KSA, a.a.O., Bd. 5, S. 295. 105 | Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. 2. Abhandlung, 1. KSA, a.a.O., Bd. 5, GM II, S. 291f. 106 | Friedrich Nietzsche, ebenda. Vgl. Günter Butzer, Pacman und seine Freunde. Szenen aus der Geschichte der Grammatophagie, in: Deutsche Vierteljahresschrift, 72, Sonderheft »Medien des Gedächtnisses« (1998). 107 | »So wir nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir nicht in das Himmelreich. Wir sollten ihnen nämlich Eins ablernen: das Wiederkäuen. – Und wahrlich, wenn der Mensch auch die ganze Welt gewönne und lernte das Eine nicht, das Wiederkäuen: was hülfe es! Er würde nicht seine Trübsal los.« Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra? Ein Buch für Alle und Keinen. Der freiwillige Bettler, in: KSA, a.a.O., Bd. 4, S. 334. Vgl. Gary Smith, Hinderk M. Emrich (Hg.), Vom Nutzen des Vergessens. Berlin 1996. Nietzsche übt Kritik an Wissen »im Übermaß ohne Hunger, ja wider das Bedürfnis« mit einer Reminiszenz an den bösen Wolf: »Der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln, wie es im Märchen heisst. Durch dieses Rumpeln verräth sich die eigenste Eigenschaft dieses modernen Menschen: der merkwürdige Gegensatz eines Inneren, dem kein Aeusseres, eines Aeusseren, dem kein Inneres entspricht, ein Gegensatz, den die alten Völker nicht kennen.« Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen II. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben 4, in: KSA, a.a.O., Bd. 1, S. 272. 108 | Die ausführlichste Behandlung der »ewigen Wiederkunft« findet sich in Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Der Genesende, in: KSA, a.a.O., Bd. 4, S. 270-277. Siehe auch Pierre Klossowski, Nietzsche und der Circulus vitiosus deus. München 1986 (1969).
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Der Architekt Cäsar Pinnau (1906 –1988) ist bis heute heftig umstritten: War er ein wichtiger Vertreter nationalsozialistischer Architektur? Hat sich seine Haltung in sein Wirken nach 1945 übertragen? Oder fühlte er sich zeitlebens dem überhistorischen Klassizismus verpflichtet? Eduard Führ untersucht, wie die Identität eines Architekten entworfen wird – durch selektive Zusammenstellung seiner Werke und durch unscharfe Datierungen, durch Konstruktion einer Biografie und durch Publikationen. Die Studie zeigt, wie Pinnau selbst in seinen Werken für Staat, Unternehmen und Eliten Identitäten gestaltet, und diskutiert, wie die Ansätze einer Analyse Pinnaus zu kontroversen Identitätsbestimmungen der Disziplin Architektur genutzt werden. »Dieses Buch über den Hamburger Architekten Cäsar Pinnau (1906 –1988) ist eine längst überfällige ›Entdekorierung‹ vom Architektennimbus und von glorifizierenden Werkverzeichnissen am konkreten Beispiel.« André Deschan, http://derarchitektbda.de, 27.01.2017
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