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German Pages 200 Year 2023
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Architektur in Zeiten der Krise
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Edition Angewandte Buchreihe der Universität für angewandte Kunst Wien Herausgegeben von Gerald Bast, Rektor
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Susanne Stacher
Architektur in Zeiten der Krise Aktuelle und historische Strategien für die Gestaltung „neuer Welten”
Birkhäuser Basel
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Impressum Library of Congress Control Number: 2023936682
Susanne Stacher Doktor der Philosophie, Habilitation im Fachbereich Architektur und Städtebau, Professorin an der École nationale supérieure d’architecture
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de Versailles
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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von der Universität für angewandte Kunst Wien und mit Unterstützung der École nationale
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supérieure d’architecture de Versailles und ihres Forschungslabors LéaV
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Mit Gastbeiträgen von: Paolo Amaldi, CH-Genf, und Philippe Potié,
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F-Nizza
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Content & Production Editor für den Verlag: Katharina Holas, A-Wien
tungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.
Übersetzung aus dem Französischen: Caroline Gutberlet, D-Berlin Lektorat: Claudia Mazanek, A-Wien
ISSN 1866-248X
Layout, Gestaltung und Satz: Katharina Erich, A-Wien
ISBN 978-3-0356-2772-5
Covergestaltung: Floyd E. Schulze, Birkhäuser Verlag, D-Berlin
e-ISBN (PDF) 978-3-0356-2775-6
Litho Buchkern: Katharina Erich und Elmar Bertsch, A-Wien
Französische Print-ISBN 978-3-0356-2774-9
Litho Cover: Pixelstorm Litho & Digital Imaging, A-Wien
Die französische Originalausgabe erscheint zeitgleich 2023 unter dem
Druck: Holzhausen, die Buchmarke der Gerin Druck GmbH,
Titel: Architecture en temps de crise. Stratégies actuelles et historiques pour la conception de „mondes nouveaux“
A-Wolkersdorf Papier: Nautilus Classic 90 g/m , holzfrei Bilderdruck matt 135 g/m 2
2
Schriften: Kern: Avenir, MetaPlus, Nami Com; Cover: Arial und Times
© 2023 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel Im Westfeld 8, 4055 Basel, Schweiz Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston 987654321
www.birkhauser.com
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Inhalt
2 Zurück zur Ländlichkeit Streben nach Entschleunigung ...................................
62
• Ebenzer Howard: Die Gartenstadt als Vorbild der Vorwort ....................................................................
6
Theoretische Rahmung
..............................
9
Krisen ........................................................................
10
modernen Agrarstadt ..................................................
66
• Adolf Loos und Margarete Schütte-Lihotzky: Haus mit einer Mauer und Selbstversorgergarten, 1920 .............. • Hannes Meyer: Siedlung Freidorf, Muttenz, 1919–1924 • Welche Entwürfe, welche Ästhetiken angesichts der 12
Psychologie der Krise ................................................
13
83
3 Schaffen durch Zerstören Beschleunigung als Mittel zum Zweck ......................
98
• Marinetti und Sant’Elia: Die Manifeste des Futurismus
• Pierre-Henri Castel: Apokalypse, Angst und Schrecken – wie gelingt eine Wiederverzauberung der Welt? ........
13
• Sigmund Freud: Todestrieb und Sublimierung ...........
14
1909/1914 ..................................................................
101
• Le Corbusier: Plan Voisin de Paris, 1925 ...................... 106 • Gordon Matta-Clark: Anarchitektur und Conical
• Hartmut Rosa: Beschleunigung und Resonanz, eine neue Weltbeziehung ...........................................
73
• Bruno Taut: Die Stadtkrone und die Hufeisensiedlung, 1920/1933 ..................................................................
Krise? ..........................................................................
69
17
Intersect, 1975 ............................................................ 117 • Bjarke Ingels Group (BIG): Masterplanet, ab 2020 ....... 125
Ästhetik ....................................................................
18
Nutzungen und Rituale .............................................
19
Krise, Katastrophe, Zusammenbruch, Kollaps ............
20
4 Wiederverzauberung der Welt Aufhebung der Zeit durch einen Sprung in die Zukunft 134 • Paul Otlet und Le Corbusier: Weltmuseum und Museum mit unbegrenztem Wachstum, 1928/1939 ..................... 136 • Cedric Price und Joan Littlewood: Fun Palace, 1961–1965 .................................................................. 148
Zeit ...........................................................................
22
• Fortschritt ...................................................................
22
• Archigram, David Greene: Rokplug und Logplug, 1969
• Beschleunigung ..........................................................
24
• Ryūe Nishizawa und Rei Naito: Teshima Art Museum,
• Subjektive Zeit ............................................................
26
Vier Figuren ..............................................................
28
157
2010 ............................................................................. 162
Ein Fazit mit Aussicht
................................... 168
Andere Zeiten, andere Räume – Paolo Amaldi ............... 177
Architektur in Zeiten der Krise
...............
33
Angesichts eines „Endes aller Zeiten“ – Philippe Potié .. 181
Sprung rückwärts in Raum und Zeit ..........................
34
Anhang
1 Archaismus • J.-N.-L. Durand und J.-T. Thibault: Tempel für die
................................................................ 183
Abbildungsverzeichnis ..................................................
184
Gleichheit, 1793 ..........................................................
40
Bibliografie .................................................................... 187
• Bernard Rudofsky: Architektur ohne Architekten, 1964
46
Index ............................................................................. 193
• Hans Hollein: Absolute Architektur, 1962 ...................
50
Dank ............................................................................... 199
• Junya Ishigami: House & Restaurant, Yamaguchi, 2019
55
Biografie der Autorin ..................................................... 200
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Vorwort Was nun folgt, ist Spekulation, oft weitausholende Spekulation, die ein jeder nach seiner besonderen Einstellung würdigen oder vernachlässigen wird. Im weiteren ein Versuch zur konsequenten Ausbeutung einer Idee, aus Neugierde, wohin dies führen wird. Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips (1920)
Giorgio de Chirico, Die Eroberung des Philosophen, 1913/1914, Öl auf Leinwand Die Zeit auf der Uhr, die einen frühen Nachmittag anzeigt, passt nicht zur düsteren Stimmung des Gemäldes, dessen lange Schatten von einem wesentlich späteren Zeitpunkt künden. Diese Diskrepanz wirkt beunruhigend, denn man verliert die zeitliche Orientierung. Die glänzende Kanone im Vordergrund, vor der zwei metallisch wirkende, wie Kanonenkugeln anmutende Artischocken liegen, sowie die Abwesenheit von Menschen und die mutmaßlich vollkommene Stille verstärken dieses Krisengefühl. Nur die Technik – zudem verkörpert durch die fahrende Eisenbahn – scheint wie von selbst in Bewegung zu sein, als Sinnbild eines Fortschritts, der bedrohliche Züge angenommen hat. Der Titel „Die Eroberung des Philosophen“ verweist auf diesen Kipppunkt, wo die Technik an die Stelle des reflexiven Denkens tritt.
6
Vorwort
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Verschiedene Positionen aus Wissenschaft und Philosophie
Meine Hypothese lautet, dass historische Krisen, die eine
zu den aktuellen Krisen geben uns ein Werkzeug an die Hand,
Störung der linearen Zeit und des Strebens nach Fortschritt
um die Vorstellungen von Fortschritt, Wachstum, Natur und
(der seit der Moderne als kontinuierliche Dynamik begriffen
Gesellschaft zu hinterfragen, die in Architekturprojekten
wird) hervorrufen, gleichzeitig auch immer zu ontologischen
jüngeren Datums zum Tragen kommen. Die ästhetischen Ent-
Krisen führen, in denen unsere Beziehung zur Welt infrage
scheidungen und Entwurfsstrategien dieser Projekte werden
gestellt wird. In diesen Momenten des Umbruchs werden
denen aus anderen Krisenzeiten, die sich im Laufe der
Fortschritt, Kultur und Gesellschaft in ihren Grundlagen und
Geschichte ereignet haben, gegenübergestellt. Krisen sind
ihrem Wesen hinterfragt. Wenn Krisen menschliches Handeln
Kippmomente, in denen die Zeit gleichsam stehen bleibt, sich
radikal infrage stellen, sind die Haltungen, die Architekt:innen
die Erwartungen an die Zukunft verändern und sich neue
in solchen destabilisierenden Momenten einnehmen, als
Perspektiven auftun.
psychische Mechanismen anzusehen, die aus deren inneren
Wir werden die Gegenwart hinterfragen, indem wir die Archi-
Krisen resultieren. Das zwingt sie, Stellung zu beziehen und
tekturgeschichte neu auslegen. Dabei werden wir uns vielmehr
durch die eigenen Entwürfe neue Weltbeziehungen zu schaffen.
auf die Brüche konzentrieren und eine Deutung durch das
Historische Krisen fungieren als Auslöser und wecken starke
Prisma der Krise unterbreiten, statt die heroischen Ereignisse,
Emotionen, die uns zum Nachdenken und Handeln bewegen:
die großen Erfindungen und den technischen Fortschritt zu
Wir projizieren uns in sie hinein und stützen uns auf sie, um
beleuchten und einem Narrativ zu folgen, dem eine vermeint-
Projekte zu entwerfen, die die Welt grundsätzlich hinterfragen
liche historische Linearität zugrunde liegt.
und somit ihrerseits die Welt in eine Krise stürzen. Da sie eine
Denn ist es nicht so, dass gerade in Momenten tiefgreifender
Gegenströmung hervorbringen, üben architektonische Entwürfe
Veränderungen, die stets mit einer starken Beschleunigung
eine Rückwirkung auf die Gesellschaft aus. Insofern können
einhergehen, unter dem Vorzeichen der Dringlichkeit bedeu-
sie nicht nur als „Ausdruck“ der Krisen betrachtet werden,
tende Projekte entstehen, die eine neue Weltbeziehung zu
denen sie eine dinghafte Gestalt verleihen, sondern auch als
skizzieren vermögen? Dass die Ausarbeitung solcher Projekte
„Agierende“, die auf ihre Weise an der Transformation
letztlich das einzige Mittel ist, um in unsicheren und angstbe-
von Gesellschaft mitwirken. Somit können wir Krisen durch
setzten Zeiten weiterzukommen? Aber wie kann aus der Angst
diese Architekturen verstehen, und das ist genau der Blick-
heraus ein Schaffensdrang entstehen?
winkel, aus dem heraus ich meine Erkundungen unternehmen
Wenn ich heute im Kontext der Krisen, die unsere gegenwär-
werde. Welche Art von Projekten entwickeln Architekt:innen,
tige Gesellschaft auf globaler Ebene erschüttern und bedro-
welcher Strategien und Mittel bedienen sie sich, was ist ihr
hen, die Architekturgeschichte durch das Prisma der Krise zu
Instrumentarium?
beleuchten versuche, dann in dem Bemühen, uns aus dem
Momente des Stillstands eröffnen ein fiktionales Feld; das
lähmenden Schrecken zu lösen und zum Nachdenken und
Unerwartete, Schwebende, Unbekannte entfacht ein kreatives
Handeln anzuregen.
Potenzial, das von dem Drang getragen ist, die Welt zu verändern: Architekt:innen bemühen sich, die Gesellschaft umzu-
Zusammenhänge zwischen Krise, Zeit und Ästhetik
wandeln, das Stadt-Land-Verhältnis zu überdenken, sich
Wo große historische Umbrüche eine neue ästhetische
andere Städte und Wohnformen vorzustellen, die Architektur
Dynamik – begriffen als Ausdruck einer kulturellen Renais-
und ihre Materialität zu erneuern, aber auch, eine innovative
sance – hervorbringen, werden bestimmte Muster und
Ästhetik zu schaffen, um eine Dynamik des Neubeginns in
Konstanten erkennbar, die der Bildung einer kollektiven Vor-
Gang zu setzen. Welchen Blick auf die Welt schlagen sie vor?
stellungswelt zugrunde liegen. Diese Umbrüche infolge von
Gemäß welcher Ästhetik (im Sinne einer sinnlichen Erfahrung)
Wirtschafts-, Finanz-, Staats-, Gesellschafts- oder Gesund-
und zu welchen Zwecken?
heitskrisen sowie von Kriegen oder Umweltkatastrophen
Die Vorstellung vom „Ende der Zeiten“ fordert uns auf, über
schlagen sich insbesondere in der Architektur nieder, die
unsere Beziehung zur Welt nachzudenken. Krisen bewirken
wie andere künstlerische Praktiken als Vorreiterin das Bild
einen Bruch, eine klare Zäsur zwischen dem Davor und dem
einer „neuen Welt“ über die Trümmer der „alten“ breitet.
Danach. Sie unterbrechen die Dynamiken, die bis dahin die Vorwort
7
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Welt bestimmten, und haben ihre eigene Zeitlichkeit. In der
Die Mechanismen dieser räumlich-zeitlichen Eingriffe, die
kurzen Spanne des Kippmoments laufen die Geschehnisse
verschiedene Möglichkeiten des Reagierens, Projizierens und
verdichtet, wie in Zeitlupe ab. Angesichts von Krisen, so meine
Handelns erahnen lassen, werden anhand unterschiedlicher
Hypothese, müssen Architekt:innen Strategien entwickeln, um
Beispiele aufgezeigt. Dabei stütze ich mich im Wesentlichen
ihre eigene Raum-Zeit zu erschaffen, und sich dem Chaos
auf die Projekte und Schriften der jeweiligen Architekt:innen
entziehen, indem sie eine „neue Welt“ kreieren. Was genau
sowie auf Interviews, die mit ihnen geführt wurden. Maßgeblich
ist die Triebfeder für ihre Projekte? Welche Rolle nehmen
für die Auswahl der Schriften und Projekte, die längst nicht
Architekt:innen in den großen Krisenmomenten ein? Auf
erschöpfend ist, sind die jeweils bestimmenden Merkmale der
welche Art wirken sie an der Formulierung neuer Werte mit?
vier Figuren. Ausgehend von den Ästhetiken und Narrativen der präsen-
Vier Figuren von zeitverändernden Handlungsmodi
tierten Architekten, die in krisenbedingten Kippmomenten
Ich schlage vor, die Reaktionsweisen von Architekt:innen ange-
entstanden sind, richtet sich das Augenmerk auf ihre Gefühls-
sichts von Krisenzeiten entsprechend ihrer Handhabung von
welt und ihre Anliegen, auf ihr Verhältnis zu Fortschritt und
Raum und Zeit zu differenzieren. Diese Kategorien der Kon-
Technik sowie darauf, wie sie an der Formulierung neuer
traktion und Dilatation der Raum-Zeit sind mit spezifischen
Werte mitgewirkt haben. Besonderes Interesse gilt dabei
Handlungsmodi verbunden, die immer mit einem bestimmten
ihrem Handeln auf der Raum-Zeit-Ebene, dem Ausgangspunkt
psychologischen Zustand einhergehen: Nehmen die Archi-
einer Ästhetik, in der Fiktion und Ritual eine wesentliche Rolle
tekt:innen das eine Mal einen Kurswechsel vor und versetzen
spielen. Die ausgewählten Architekten sind namhafte Vertreter
sich in die Raum-Zeit einer vergangenen Epoche, so versuchen
der Baukunst, und ihre Projekte und Schriften sind allgemein
sie ein andermal die bestehenden Dynamiken zu verlangsamen
bekannt; mein Beitrag wird die Analyse und Deutung ihrer
oder zu beschleunigen, oder aber sie versuchen den disruptiven
Projekte durch das Prisma der Krise sein, verbunden mit der
Prozess der Krise anzuhalten, um sich in eine ferne Zukunft
Frage nach ihrem Instrumentarium und ihrer Handhabung von
zu projizieren.
Zeit. Die ausgewählten Beispiele stammen im Wesentlichen
Um die Handlungsweisen mit der Handhabung von Zeit zu
aus dem 20. und 21. Jahrhundert; einige sind älteren Datums,
verbinden, habe ich – als Darstellungen einer bestimmten
um zu verdeutlichen, wie bestimmte Phänomene und Hand-
Dynamik, als mentales Bild, Konzept oder Handlung in greif-
lungsmodi über einen längeren Zeitraum fortbestehen. Die
barer Form – vier „Figuren“ ausgemacht, die auf einem
Auswahl der Beispiele ist eine dezidiert internationale, um die
Eingriff in die Zeit beruhen. Diese Figuren, die in der gegen-
Unterschiedlichkeit der politischen, sozialen und kulturellen
wärtigen Welt (wieder) auftauchen, sind als psychischer und
Kontexte aufzuzeigen. Die internationale Dimension erlaubt
politischer Ausdruck des Schaffens in Krisenzeiten anzusehen.
außerdem, die Architektur in den Kontext einer immer stärker
Handlungsmodi und Positionierungen verdichten sich zu einer
vernetzten Welt zu stellen (was in Krisen- und Kriegszeiten
ästhetischen Haltung und bieten Narrative für eine Neugestal-
wesentlich sichtbarer wird). Die historische Einbindung gegen-
tung der Gesellschaftsräume. Die vier Möglichkeiten, in die
wärtiger Projekte lässt sie greifbar werden, ermöglicht einen
Zeit einzugreifen, sind:
Vergleich der Narrative, Anliegen und Instrumente sowie eine Auslotung ihres Aktionspotenzials angesichts künftiger Klima-,
Archaismus: Sprung rückwärts in Raum und Zeit
Gesundheits-, Wirtschafts- und Gesellschaftskrisen.
Zurück zur Ländlichkeit: Streben nach Entschleunigung
Der erste Teil dieser Publikation liefert das theoretische Instru-
Schaffen durch Zerstören: Beschleunigung als Mittel zum
mentarium für die eigentliche Architekturanalyse im zweiten
Zweck
Teil, dessen Gliederung den vier „Figuren“ des Handelns und
Wiederverzauberung der Welt: Aufhebung der Zeit durch
der Handhabung von Zeit und Raum folgt.
einen Sprung in die Zukunft
8
Vorwort
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Theoretische Rahmung Denn was ist schließlich der Mensch in der Natur? Ein Nichts im Vergleich mit dem Unendlichen, ein All im Vergleich mit dem Nichts, ein Mittelding zwischen nichts und allem, unendlich weit davon entfernt, die Extreme zu erfassen; […] Er ist gleichermaßen unfähig, das Nichts zu sehen, dem er entrissen wurde, und das Unendliche, das ihn verschlingt. […] Das ist unser wahrer Zustand. Das macht uns unfähig, etwas entweder sicher zu wissen oder es überhaupt nicht zu kennen. Wir treiben auf einer weiten Mitte, immer unsicher und schwankend, von einem Ende zum anderen gestoßen; jeglicher Grenzpunkt, an den wir uns klammern und festhalten wollten, gerät ins Wanken und entschlüpft uns, und wenn wir ihn verfolgen, entzieht er sich unserem Zugriff, er entgleitet uns und wendet sich zu ewiger Flucht; nichts steht für uns still. […] Wir brennen vor Verlangen, einen festen Halt und eine letzte, beständige Grundlage zu finden, um darauf einen Turm zu errichten, der sich bis zum Unendlichen erheben soll, aber unser ganzes Fundament kracht auseinander, und die Erde tut sich bis in die Tiefen auf.1
Blaise Pascal, Gedanken (1670)
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Krisen
tiefgreifenden Wandel, die in utopischen oder dystopischen Szenarien Gestalt annehmen.
10
Fast täglich verkünden die Medien Krisen und sagen größere
Ein anderes Phänomen, von dem wir insbesondere während
Katastrophen voraus. Auf der einen Seite haben wir den Klima-
der Lockdowns zur Eindämmung der Pandemie betroffen
notstand und die Umweltkrise, die sich zu einer immensen
waren, ist der Eindruck, dass die Zeit stillsteht. „Wenn alles
Katastrophe auszuweiten drohen, wenn die Auswirkungen des
stillsteht, kann alles infrage gestellt, umgelenkt, ausgewählt,
Menschen auf den Planeten nicht drastisch eingeschränkt
gesichtet, endgültig unterbrochen oder, im Gegenteil, be-
werden, auf der anderen Seite eine Verschärfung der Ungleich-
schleunigt werden“, stellt der französische Soziologe und
heiten, die seit den 1980er Jahren zu einer wachsenden Ver-
Philosoph Bruno Latour fest, der diesen Stillstand der Zeit als
elendung der ärmsten sozialen Schichten führt. Es sind Protest-
Chance für eine mögliche Neuorientierung ansieht.2 Ein
bewegungen entstanden, deren Akteur:innen Straßen und
günstiger Zeitpunkt also, um sich auf das Wesentliche zu
Verkehrskreisel blockieren sowie Plätze, Einkaufszentren und
konzentrieren und sich eine andere Welt für die Zukunft aus-
im Bau befindliche Flughäfen besetzen. Umweltschützer:innen,
zumalen. Denn wie Latour mahnt: „Tatsächlich ist die Gesund-
Klimaaktivist:innen, Gelbwesten, Gewerkschaftler:innen, Protest-
heitskrise eingebettet in etwas, das keine – stets vorüber-
nomad:innen und viele andere versuchen sich symbolischer
gehende – Krise ist, sondern ein dauerhafter und unumkehr-
Orte zu bemächtigen, um ihren Unmut gegenüber der weltweit
barer ökologischer Wandel. Während wir bei Ersterer gute
herrschenden Dynamik zum Ausdruck zu bringen.
Chancen haben, glimpflich davonzukommen, stehen bei
Während ich diese Zeilen schreibe – im Rückblick am Ende
Letzterem die Chancen gleich null.“3
meiner Recherche –, sind zwei große Krisen hinzugekommen:
Angesichts des ökologischen Notstands, der keine Krise ist,
zuerst die Pandemie, besonders verheerend und grenzenlos,
„sondern ein dauerhafter und unumkehrbarer Wandel“, denken
und dann der Krieg in der Ukraine, eine wahre menschliche,
Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen sowie
ethische und geopolitische Katastrophe, die zudem die ökolo-
Politiker:innen, Philosoph:innen, Architekt:innen und Städte-
gische, wirtschaftliche und soziale Krise auf globaler Ebene
planer:innen über neue Modelle nach, in denen der Mensch
drastisch verschärft und deren volles Ausmaß wir noch nicht
einen geringeren Einfluss auf die Natur haben sollte. Der öko-
abschätzen können. Zahlreiche Publikationen haben sich bereits
logische Notstand hängt unmittelbar mit der Geopolitik und
mit der weltweiten Interdependenz in Krisenfällen beschäftigt,
dem Wirtschafts- und Finanzsystem zusammen, die wiederum
insbesondere wenn es zur Überlagerung mehrerer Krisen
andere, nämlich soziale Krisen auslösen können. Wie For-
kommt. Doch erst wenn wir plötzlich direkt betroffen sind, wer-
scher:innen warnen, könnte das Zusammenfallen unterschied-
den wir uns kollektiv bewusst, wie stark diese Interdependenz
licher Krisen eine globale Katastrophe auslösen, die die
der Ströme von Energie, Nahrungsmitteln, Technologieproduk-
Überlebensfähigkeit auf unserem Planeten gefährdet.
ten usw. in einer globalisierten Welt ist. Diese bedeutenden
Nach der Finanzkrise von 2008 prognostizierte Jacques Attali
Krisen zeigen uns, dass wir vor nichts in Sicherheit sind (für
eine recht düstere Zukunft;4 Thomas Piketty hingegen sieht in
diejenigen, die noch glaubten, es zu sein), und machen die po-
der Krise nicht nur eine Bedrohung, sondern auch eine Dynamik
litische, wirtschaftliche, soziale, ökologische und gesundheitliche
der Beschleunigung und des Fortschritts, die bedeutende
Zerbrechlichkeit unserer vollends vernetzten Welt deutlich.
Veränderungen und Verbesserungen in der Menschheits-
Das rasante globale Grassieren des Coronavirus und die
geschichte herbeiführen könnte. In seinem Buch Kapital und
Energiekrise in Europa infolge des Krieges in der Ukraine
Ideologie 5 unterstreicht der Ökonom die Notwendigkeit, eine
haben in hohem Maße unser Bewusstsein dafür geschärft,
auf mehr Gleichberechtigung aufgebaute Gesellschaft nach
dass wir uns in einer Krise befinden. Wir wurden schlagartig
sozialdemokratischem Vorbild zu schaffen, in der die
mit den negativen Auswirkungen der Globalisierung und mit
Umverteilung von Vermögen absoluten Vorrang haben muss
der Anfälligkeit unserer Lebensräume konfrontiert. Die Logik
(etwa durch progressive Vermögenssteuern), um einer Ver-
des Fortschritts und des unbegrenzten Wachstums wird mehr
schärfung der Armut entgegenzuwirken. Zur Verhinderung
denn je infrage gestellt, und es entstehen Träume von einem
einer unumkehrbaren ökologischen Katastrophe plädiert er
Theoretische Rahmung
Anmerkungen Seite 30 xx
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 11
für eine weltweite Regulierung der CO2-Emissionen (wovon
Dieses Wiederaufleben apokalyptischer Themen ist mehr als
vor allem die reichen Länder betroffen wären) mit dem Ziel,
ein Symptom“, schreibt Michaël Fœssel.11 Für den Philosophen
die Luftverschmutzung und die Zerstörung der Ozonschicht zu
ist das Ende der Welt bereits eingetreten, weil das menschliche
reduzieren.
Subjekt durch den Verlust seiner Handlungsmöglichkeiten
Bei dem jetzigen Tempo könnte die Gleichzeitigkeit von Krisen,
nicht mehr von der Welt bewohnt ist: „Der Triumph der Technik
gepaart mit der Verschärfung bzw. Beschleunigung mehrerer
über das Handeln, des Kapitals über die Arbeit, des Bedürf-
Indikatoren (etwa das Versiegen von Energieressourcen, der
nisses über das Verlangen sind alles Phänomene, die erklären,
rasante Anstieg der Weltbevölkerung, klimabedingte Migra-
warum wir es so eilig haben, eine Welt, die wir bereits verloren
tionsbewegungen, soziale und ökonomische Ungleichheiten
haben, zu Ende gehen zu sehen.“12 Er verortet diesen Verlust
oder Finanzkrisen) zum Zusammenbruch der Gesellschafts-
in der Moderne und der „Auflösung der traditionellen Hierar-
systeme führen, wie die Analysen zahlreicher internationaler
chien, was ein neues Unbehagen hervorgerufen hat, nämlich
Forscher:innen nahelegen. Angesichts der Verschärfung der
,nach dem Ende der Welt‘ leben zu müssen“.13 Insofern sei
verschiedenen Krisen auf globaler Ebene in den letzten Jahren
„die Tatsache, dass das Ende der Welt bereits eingetreten ist,
ist eine neue Wissenschaft namens Kollapsologie entstanden,
[…] eine gute Nachricht, die uns vor die Alternative stellt, das
die einen intuitiven Ansatz verfolgt; denn das Erstellen von
Leben zu verewigen oder einen Raum für das Mögliche einzu-
Prognosen auf der Grundlage komplexer Daten könne keine
richten“, denn „am dringendsten ist nicht, die kommende
rein wissenschaftliche Forschung ohne spekulative Dimension
Apokalypse zu verhindern, sondern sich die Welt wieder anzu-
sein, so Pablo Servigne und Raphaël Stevens, die Exponenten
eignen“.14 In seinem Nachwort zur Neuauflage 2019 thematisiert
dieser Strömung in Frankreich. In ihrem ersten Buch für ein
Fœssel „die katastrophale Beschleunigung des Klimawandels“15
breites Publikum mit dem Titel Comment tout peut s’effondrer,6
und stellt die Frage „Was macht das Reale zu einer wirklichen
das ein Bestseller wurde,7 stellen sie folgende von einem apo-
Welt?“16 in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Angesichts
kalyptischen Unterton begleitete rhetorische Frage: „Können
der durch den Klimawandel stark verschärften sozialen Ungleich-
das Zusammentreffen und die Verstetigung von ,Krisen‘ unsere
heit, wenn nur die Reichsten ihr Überleben durch Abschottung
Zivilisation wirklich in einen unumkehrbaren Strudel hinein-
sichern können, drängt sich die Frage auf, was eigentlich eine
ziehen?“ Sie lenken das Augenmerk auf die Verbindungen
bewohnenswerte und rettungswürdige Welt wäre. So lädt
zwischen den verschiedenen Krisen, um uns vor der Gefahr zu
Fœssels Buch in diesen unsicheren Zeiten zum Handeln, zur
warnen, die ihr Zusammenfallen für die Gesellschaft bedeuten
Neugestaltung der Welt ein.
könnte. Sie versuchen uns damit klarzumachen, dass wir auf
Während die einen aus einer politischen und gesellschaftlichen
den Zusammenbruch, auf „das Ende der Welt“ zusteuern,
Perspektive heraus das Handeln in den Vordergrund stellen,
allerdings nicht ohne Szenarien einer Wiederverzauberung
konzentrieren sich die anderen darauf, wie die ökologische
der Welt zu entwerfen, die ein anderes Bild der Zukunft
Apokalypse vermieden werden kann. Doch unabhängig vom
zeichnen, um die Leserschaft nicht in eine nihilistische De-
Blickwinkel betrifft die Frage der Unumkehrbarkeit alle Men-
pression zu stürzen.10 So sprechen sie sich für den Aufbau
schen und alle Bereiche. Wissenschaftliche Erkenntnisse
einer resilienteren Gesellschaft aus, die auf der Bildung autono-
vermischen sich mit Emotionen. Mehr oder weniger gewagte
mer, vernetzter Kollektive beruht und demzufolge in ländlichen
Vorhersagen im Zusammenhang mit der Frage „Wann geht
Gegenden angesiedelt ist. Die durch Covid -19 ausgelöste
die Welt unter?“ erhitzen die Gemüter, ohne eine Antwort zu
Gesundheitskrise hat diese Bewegung aufs Land noch verstärkt,
geben, denn niemand kann die Zukunft vorhersagen. Dann
nicht nur als Zufluchtsort für Städter:innen, sondern auch als
wird versucht, sich in eine ungewisse Zukunft zu projizieren.
Ort, der für die Erzeugung lebenswichtiger Güter von entschei-
Um sich der Angst vor dem „Ende der Welt“ zu entziehen,
dender Bedeutung ist.
entwickeln die einen Theorien, Strategien und diverse Szenarien
„Unsere Epoche ist, so sagt man, eine der Katastrophen. Ange-
„anderer Gesellschaften“, die resilienter, egalitärer und nach-
sichts von Gesundheits- und Umweltkrisen oder der atomaren
haltiger sind. Die anderen nehmen eine nihilistische Haltung
Bedrohung ist der Fortschrittsglaube der Angst gewichen.
ein, sehen zu, wie die Welt zugrunde geht, und genießen die
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9
Anmerkungen Seite 30
Krisen
11
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letzten Augenblicke, die ihr noch bleiben. Die Dynamik des
Im aktuellen Kontext die Krise in den Mittelpunkt der Forschung
Kippmoments fördert die Entstehung dystopischer und utopi-
zu stellen, eröffnet die Möglichkeit, die Korrelation zwischen
scher Szenarien der Vor- oder Nach-Katastrophen-Zeit, die die
dem Niedergang eines Systems und der Entstehung eines
Umrisse einer neuen Gesellschaft skizzieren. Dieser fiktionale
neuen Paradigmas sowohl in ästhetischer als auch in sozialer
Prozess führt uns zurück zu unserem Forschungsgegenstand:
Hinsicht zu analysieren. Die Suche nach einer neuen Welt findet
Architektur, Kunst und Ästhetik im weiteren Sinne, begriffen
oft ihren ersten Ausdruck in der Architektur: Sie öffnet imaginäre
als geteilte Erfahrung des Wahrnehmbaren (siehe Abschnitt
Räume und schafft neue Weisen, die Welt zu bewohnen (und
„Ästhetik“).
damit auch des In-der-Welt-seins im Heidegger’schen Sinne). So lassen sich die Umwälzungen unserer Gesellschaften in den
Welche Entwürfe, welche Ästhetiken angesichts der Krise?
Bauwerken ablesen, die den Kern, den Status Nascendi uto-
Durch ihr Ausmaß beeinflussen die verschiedenen Krisen unserer
mitgewirkt?
Epoche und die apokalyptischen Erzählungen auch die Archi-
Die französische Philosophin Agnès Gayraud definiert „Kultur“
tektur. Welche Rolle können Kunst und Architektur in einem
in Anlehnung an Theodor W. Adorno als „die Art und Weise,
Schlüsselmoment spielen, wenn die bis dato gültigen Systeme
wie eine Gesellschaft sich selbst darstellt, und die Gesamtheit
kollabieren? Können sie eine neue Weltbeziehung aufbauen?
der sedimentierten Formen, die diese Darstellungen ihrer
Welche Aufgabe kann die Architektur haben, wenn sie zum
selbst veranschaulichen“.20 Die Kultur ist Ausdruck der politi-
Medium einer Untergangsvision oder, im Gegenteil, zu einer
schen, philosophischen und künstlerischen Ideen einer Gesell-
Schöpfungsvision für eine neue Gesellschaft wird? Dies führt
schaft. Sie stellt, so Gayrauds Formulierung, „eine Art Kruste
uns zur Frage der Ästhetik und der Form.
über der Welt“ dar, entstanden durch die Geschichte, durch
Für den Mathematiker und Wegbereiter der sogenannten
Reden, Geschwätz und Repräsentationen; eine ziemlich dünne
Katastrophentheorie (1972) René Thom bezeichnete der
Kruste, und „dann kommen die Kritiker und kratzen, versuchen
Begriff „Katastrophe“ den Ort, an dem eine Funktion plötzlich
das Sedimentierte aufzulösen, bringen zutage, dass sich unter
ihre Form ändert. Er versuchte die unvermittelten Formvari-
dem Offenkundigen Widersprüche verbergen“.21 Das post-
anten, die zum Auftreten von Diskontinuitäten führen, mit
metaphysische kritische Denken (das seit Kant den Versuch
einzukalkulieren, um ein dynamisches Modell zu entwickeln,
der Philosophie, die Existenz Gottes beweisen zu wollen,
das eine Morphologie hervorbringen kann.18 Er stellte eine
anprangert) bezieht sich auf das Offensichtliche, insbesondere
Verbindung zwischen Singularitäten und der Entstehung von
auf die Kultur, und versucht die Sedimentschichten freizulegen.
Formen her. Eine „Katastrophe“ war für ihn also eine Ände-
Versuchen wir also, an dieser Kruste zu kratzen und die ver-
rung der Form, die zum Auftreten einer Diskontinuität führt.19
schiedenen Kulturkrisen unserer Gesellschaft zu analysieren,
Die Verbindung zwischen Diskontinuität, Bruch und Entste-
indem wir in den Kosmos der Architektur und der urbanen
hung einer Form, welche auf einem dynamischen System
Visionen eintauchen.
gründet, ist besonders interessant, wenn man diese Annahme
Wie funktioniert ästhetisches Handeln und wie eignet es sich
auf die Architektur-produktion anwendet. Denn wie Kunst
die Welt an? Welche tieferen Motive stecken dahinter? Um
und Literatur hat Architektur Teil am fiktionalen Prozess (sei
Antworten auf diese Fragen zu finden, werde ich in dieser
er nun utopisch oder dystopisch) durch ihr Vermögen, andere
theoretischen Rahmung fünf Themenbereiche entfalten: zu-
Lebensweisen in anderen Räumen zu skizzieren.
nächst die Psychologie der Krise, um ästhetisches Handeln
Die Frage der Form gehört in den Bereich der Ästhetik.
aus psychologischer Sicht zu verstehen; dann die Ästhetik, um
Welche Ästhetik ist heranzuziehen, wenn alles kippt?
genauer zu bestimmen, was dieser Begriff umfasst; ferner die
Welche Funktion hat der ersonnene Entwurf und wie
Nutzungen und Rituale, um die physische Dimension zu
kann dieser umgesetzt werden? Wie ist sein Modus Ope-
erfassen, die ihrerseits eine bestimmte Ästhetik hervorbringt;
randi zur Überwindung der Krise?
des weiteren die Zeit als wesentlichen Faktor für die fiktionalen
17
12
Theoretische Rahmung
pischer Ideen verkörpern. Wie haben Architekt:innen in Kippmomenten an der Formulierung neuer kultureller Werte
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Eingriffe seitens der Architekt:innen; und schließlich den
um die Welt zu retten, wenn man um die Unausweichlichkeit
Begriff des Fortschritts, um die Zielsetzungen der Entwürfe
ihrer Zerstörung weiß?“23
besser fassen zu können.
In seiner Antwort beschäftigt sich Castel mit dem Moment, der dem Weltende vorausgeht: Wie wird der Mensch reagieren?
Psychologie der Krise
Er ordnet die Vorstellung vom Weltende in den historischen Kontext ein und stellt fest, dass es seit jeher apokalyptische Erzählungen gegeben hat; „neu aber ist, dass es nicht eine
Für ein besseres Verständnis des ästhetischen Prozesses wird
Katastrophe ist, sondern die Katastrophe. Günther Anders
die für Krisenzeiten typische Gefühlslage untersucht, nämlich
nannte das eine Apokalypse ohne Reich, ohne Heil“, erläutert
die Angst. Wie können wir mit unserem Schaffen darauf rea-
er. „Diese Vorstellung gab es vor dem Atomkrieg der 1960er
gieren und uns aus dem Stillstand befreien? Wie vermögen
Jahre nicht. Die Klima- und Umweltkatastrophe bedroht die
wir kraft des ästhetischen Prozesses unsere angstvolle Weltbe-
Existenz der Menschheit und der Welt.“ Im Gegensatz zu vielen
ziehung zu überwinden?
anderen verzichtet Castel darauf, die Alarmglocken zu läuten,
Für den dänischen Philosophen Søren Kierkegaard ist Angst
um die Menschen zu mobilisieren, damit sich die gegenwärtige
etwas zutiefst Menschliches; es ist der Schwindel des freien
Lage verbessert (so wie dies beispielsweise Bruno Latour in
Individuums angesichts seiner Möglichkeiten und wider-
seinem Buch Où atterrir? getan hat).24 Er geht von der fatalis-
sprüchlichen Entscheidungen: „Wäre der Mensch ein Tier
tischen Feststellung aus: „Die Apokalypse ist unvermeidlich,
oder ein Engel, würde er sich nicht ängstigen können. Da er
sie wird kommen, in Wirklichkeit hat sie schon begonnen. Wir
eine Synthesis ist, vermag er sich zu ängstigen. Und je tiefer
sind die Menschen vom Ende. Es geht nicht mehr darum, wie
er sich ängstigt, desto größer ist der Mensch.“ In Krisensi-
sie aufgehalten werden kann, sondern darum, wie wir mit ihr
tuationen verstärkt sich die Angst umso mehr. Forscher:innen,
leben können.“25
insbesondere Philosoph:innen und Psycholog:innen, versuchen
Castel befasst sich mit unserem Verhalten in der Endphase
dann die Möglichkeiten der Reaktion des Menschen auf die
der Menschheit und kommt zu dem Schluss, dass wir eben
Krise und deren Reichweite zu ergründen und zu bewerten.
keine Angst vor dem Ende der Welt haben müssen, da dieses
22
so sicher sei wie für den Einzelnen die Gegebenheit des Todes.
Pierre-Henri Castel: Apokalypse, Angst und Schrecken – wie gelingt eine Wiederverzauberung der Welt?
Dies bedeutet jedoch nicht, dass es keine Angst gibt. Angst und Obsession sind Castel zufolge „die Kollateralschäden der aufkommenden Figur des verantwortlichen Individuums“.26 Unser psychologischer Zustand angesichts des Weltendes
Ein Beispiel aus jüngerer Vergangenheit: Am 31. Dezember 2018
(das er in einer fernen Zukunft ansiedelt) wird zur Kernfrage,
war Pierre-Henri Castel, Philosoph, Psychoanalytiker und For-
da er die kollektive Bewusstwerdung konditioniert. „Wie kann
schungsdirektor am CNRS, in der Radiosendung L’Invité(e)
die lähmende Angst in einen kollektiven Rettungsimpuls um-
des Matins von France Culture zu Gast. Guillaume Erner, der
gewandelt werden?“, fragt Castel in seinem Buch Le Mal qui
Moderator der Sendung mit dem Titel „Zusammenbruch:
vient. Essai hâtif sur la fin des temps, das philosophische und
2019 oder das Ende der Zeiten?“, eröffnete das Gespräch mit
psychologische Ansätze verbindet.27 „Lange Zeit hat man es
folgender Frage: „Angesichts der Litanei von Klimakatastrophen
mit der Angst versucht“, doch „die Heuristik der Angst ist in-
und alarmierenden Prognosen, aber auch der zunehmenden
effektiv, denn Angst kann zu Übersprungshandlungen führen;
Aufmerksamkeit für Kollaps-Theorien scheint die Vorstellung
aber sie lähmt auch und die daraus folgenden Effekte der
vom nahenden Ende sich in den Köpfen festgesetzt zu haben.
Resignation sind weit verbreitet. Deshalb habe ich vorge-
Aber was geschieht, wenn man diese Annahme ernst nimmt?
schlagen, es mit dem Schrecken zu versuchen. Am Ende wird
Was wird aus dem menschlichen Handeln und der Moral,
die Angst so groß sein, dass wir aufwachen“, spekuliert
wenn es kein Morgen mehr gibt? Wie soll man mit dem
Castel in der Hoffnung, den Lauf der Dinge doch noch ändern
Ende der Welt leben? Warum sollte man weiterhin handeln,
zu können.28 Was die Reaktion der Menschen nach dieser
Anmerkungen Seite 30
Psychologie der Krise: Pierre-Henri Castel
13
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Bewusstwerdung betrifft, bleibt er allerdings skeptisch:
Zerstören“ auf diesen Aspekt zurückkommen, der uns einen
„Es ist nicht sicher, dass es in Richtung des kollektiven Interesses
Schlüssel zum Verständnis des „Zerstörungstriebs“ liefern
geht, wenn sie [die Bewusstwerdung] keine Überlebensstra-
könnte.
tegien nährt, sondern furchtbare, gewalttätige Handlungen ent-
Castels Position mag fatalistisch erscheinen – er versucht
fesselt.“ Castel nennt diesen Zustand (in Anlehnung an Freuds
nämlich nicht, den Gang der Welt zu verändern, indem er uns
Theorie des Destruktionstriebs) „die Herrschaft des Bösen“.
auffordert, gegen jedwede Handlung zu kämpfen, die die In-
Dieses Szenario geht von der Annahme aus, dass menschliches
teressen des Gemeinwohls unterläuft –, hätte er nicht gleich
Handeln in Chaossituationen nicht notwendigerweise auf das
zu Beginn seines Buches angekündigt, dass er einen spekula-
Gute ausgerichtet ist: „Wenn es drängt, steht man dann
tiven Ansatz verfolgt und sich dabei auf den Leitsatz von
aufseiten der Opfer oder aufseiten der Henker?“, fragt er und
Freud bezieht: „Was nun folgt, ist Spekulation […], ein Versuch
stellt sich die Reaktion des letzten Überlebenden vor, der
zur konsequenten Ausbeutung einer Idee, aus Neugierde,
vielleicht eine „unheimliche, besondere Freude an den Trüm-
wohin dies führen wird.“35 Damit setzt er eine Reflexion in
mern und Gemetzeln“ empfindet.30 Die Möglichkeit, dass das
Gang, in der der Zusammenbruch, den er in einer fernen
Böse entfesselt wird, sei in den postapokalyptischen Holly-
Zukunft ansiedelt, in den Bereich der Fiktion gerückt wird.
wood-Drehbüchern sehr wohl vorhanden, komme aber im
Die unterbreitete apokalyptische Erzählung ist eine Spekula-
Katastrophen-Diskurs nicht vor, warnt er. „Das schließt das
tion, anhand derer er die Umrisse einer fiktiven Welt erkunden
Gute nicht aus, aber das Gute wird Klauen und Zähne haben,
kann. Durch seinen fiktionalen Ansatz lädt Castel uns ein, nicht
es wird bis zum Schluss seinen Willen zur Aufrechterhaltung
in Nihilismus zu verfallen, sondern eine Wiederverzauberung
der Gerechtigkeit bewahren und dafür ziemlich brutale Mittel
der Welt anzustreben.
einsetzen.“
Eine solche Haltung als Reaktion auf Krisensituationen ist
29
31
Castel bezieht in seiner weiteren Argumentation den Faktor
weit verbreitet, auch in der Architektur. Dies wird anhand
Zeit mit ein, da „das Ende der Welt nicht sofort kommen
einiger Beispiele im Kapitel „Wiederverzauberung der Welt“
wird“. Wenn die Panik nachlässt, muss man das Leben über-
veranschaulicht.
denken und sich mit dem Gedanken an den Untergang anfreunden: „Wenn sich unser Schicksal in den nächsten Jahrhunderten entscheidet, was wird dann aus unserer Moral, wenn nur noch wenig Zeit bleibt, um glücklich zu sein? Ist es wirklich so schlimm, dem Ende der Welt nahe zu sein, und wie können
Von Sigmund Freud erfahren wir, dass das ästhetische Handeln
wir uns einen glänzenden Abgang verschaffen?“ Als Moral
auf dem Todestrieb beruhen kann. Er entwickelte dieses Konzept
schlägt Castel daher die Freude vor: „Es steht uns nicht mehr
nach dem Ersten Weltkrieg als einem Ereignis beispielloser
viel Zeit zur Verfügung, um glücklich zu sein. So präsentiert
menschlicher Vernichtung. Im Jahr 1915, mitten im Krieg, ver-
sich das Morgen oder Übermorgen als die einzige Gelegen-
öffentlichte der Vater der Psychoanalyse einen Text, in dem er
heit, die uns bleibt, um zu verwirklichen, was uns am Herzen
die komplexen Beziehungen zwischen Krieg und Tod analysierte.
liegt.“
Dieser Text, der sogleich auch ins Französische übersetzt
32
14
Sigmund Freud: Todestrieb und Sublimierung
33
Damit thematisiert Castel sowohl die unheimliche Lust an
wurde, lässt seine tiefe Skepsis gegenüber der Idee des Fort-
der Zerstörung als auch das Sehnen nach einer Wieder-
schritts der Menschheit erkennen, da der Krieg die Illusion
verzauberung der Welt. Die Frage der Wahrnehmung und
zerstört hat, dass die kulturellen Errungenschaften unerschüt-
des psychologischen Zustands angesichts des Zusammen-
terlich seien; auf schonungslose Weise hat er die primitiven
bruchs steht im Zentrum seiner Erkundungen: „Es war ein
Triebmotive offengelegt:
Weg, die Idee des Todestriebs bei Freud aufzugreifen, was mir
„Von dem Wirbel dieser Kriegszeit gepackt, […] werden wir
erlaubt, die eigentliche Bedeutung der Zivilisation und des
selbst irre an der Bedeutung der Eindrücke, die sich uns
Anteils an Zerstörung, der in ihrem Aufbau steckt, zur Spra-
aufdrängen, und an dem Werte der Urteile, die wir bilden.
che zu bringen.“34 Ich werde im Kapitel „Schaffen durch
Es will uns scheinen, als hätte noch niemals ein Ereignis so
Theoretische Rahmung
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viel kostbares Gemeingut der Menschheit zerstört, so viele
dieses Phänomen als „ewige Wiederkehr des Gleichen“41
der klarsten Intelligenzen verwirrt, so gründlich das Hohe
und stellte die Hypothese auf, „daß es im Seelenleben einen
erniedrigt. Selbst die Wissenschaft hat ihre leidenschaftslose
Wiederholungszwang gibt, der sich über das Lustprinzip
Unparteilichkeit verloren; ihre aufs tiefste erbitterten Diener
hinaussetzt“.42 Freud war der Ansicht, dass Lustprinzip und
suchen ihr Waffen zu entnehmen, um einen Beitrag zur
Destruktionstrieb paradoxerweise keinen Widerspruch dar-
Bekämpfung des Feindes zu leisten. Der Anthropologe
stellen, da die Selbstzerstörung eine Möglichkeit ist, innere
muß den Gegner für minderwertig und degeneriert erklären,
Spannungen abzubauen, und das Streben nach Lust manchmal
der Psychiater die Diagnose seiner Geistes- oder Seelen-
nichts anderes ist als das Ende eines Schmerzes. Seiner These
störung verkünden. Aber wahrscheinlich empfinden wir das
zufolge würde das niedrigste Spannungsniveau (das das
Böse dieser Zeit unmäßig stark und haben kein Recht, es
Lustprinzip erreichen will) letztlich dem Ruhezustand des
mit dem Bösen anderer Zeiten zu vergleichen, die wir nicht
Leblosen entsprechen. So kommt er zu dem Schluss, dass
erlebt haben.
das Lustprinzip im Dienste des Destruktionstriebs steht:
Der einzelne, der nicht selbst ein Kämpfer und somit ein
„Wiederholungszwang und direkte lustvolle Triebbefriedi-
Partikelchen der riesigen Kriegsmaschinerie geworden ist,
gung scheinen sich dabei zu intimer Gemeinsamkeit zu
fühlt sich in seiner Orientierung verwirrt und in seiner
verschränken.“43
Leistungsfähigkeit gehemmt.“
In Das Unbehagen in der Kultur (1930) unterscheidet Freud
36
Daraufhin stellt sich Freud die Frage, welche Triebe uns dazu
zwischen der trennenden Tendenz des Todestriebs (auch
bewegen, den Tod eines anderen Menschen herbeizuwün-
Thanatos), der die lebende Substanz auflösen, vernichten,
schen: Wir anerkennen „den Tod für Fremde und Feinde und
in ihren „uranfänglichen, anorganischen Zustand“ zurück-
verhängen ihn über sie ebenso bereitwillig und unbedenklich
führen will, und der bindenden Tendenz des Lebenstriebs,
wie der Urmensch“. Der Unterschied zu diesem bestehe darin,
„die lebende Substanz zu erhalten und zu immer größeren
dass „unser Unbewußtes […] die Tötung nicht aus[führt], es
Einheiten zusammenzufassen“44 (auch É, der mitunter die
denkt und wünscht sie bloß. […] So sind wir auch selbst, wenn
Triebe zur Selbsterhaltung und die Sexualtriebe umfasst, seine
man uns nach unseren unbewußten Wunschregungen beurteilt,
Energie ist die Libido 45). Eros und Thanatos wirken gleichzeitig
wie die Urmenschen eine Rotte von Mördern.“37 Freud setzt
und kämpfen unaufhörlich gegeneinander an, was Leben
diesen Wunsch in den Kontext der Aufklärung, die von der
hervorbringt. Diese beiden Triebe, die dem Wiederholungs-
Idee des menschlichen Fortschritts getragen wird:
zwang unterliegen, zielen zunächst auf das Subjekt selbst und
„Es ist ein Glück, daß alle diese Wünsche nicht die Kraft
richten sich dann, um die Selbstzerstörung zu vermeiden, auf
besitzen, die ihnen die Menschen in Urzeiten noch zutrau-
ein anderes Objekt in Form von Liebe oder Zerstörung.
ten; in dem Kreuzfeuer der gegenseitigen Verwünschun-
Freuds These46 wurde von seinen Zeitgenossen, insbesondere
gen wäre die Menschheit längst zugrunde gegangen, die
von den Marxisten Wilhelm Reich und Otto Fenichel, heftig
besten und weisesten der Männer darunter wie die schöns-
angefochten, denn mit einer solchen Theorie könnten Krieg
ten und holdesten der Frauen.“38
und Völkermord sowie soziale und wirtschaftliche Ausbeutung legitimiert und unwiderruflich sein, da sie als biologisches
Destruktionstrieb, Todestrieb
Phänomen verstanden würden.
Nach dem Krieg entwickelte Freud in Jenseits des Lustprinzips 39
Interessant am Destruktionstrieb ist die Tatsache, dass er in
(1920) das Konzept von Destruktionstrieb oder Todestrieb. Er
seiner verwüstenden Dynamik versucht, das niedrigste
beobachtete einen Wiederholungszwang bei Kriegsneurotikern,
Spannungsniveau zu erreichen, um Erleichterung herbei-
bei denen traumatische Ereignisse starke Spannungen erzeug-
zuführen. Um schneller zum „Nullpunkt“ der Spannung
ten und immer wieder im Traum auftauchten. Der Patient sei
zu gelangen, strebt man nach einer Beschleunigung
„genötigt, das Verdrängte als gegenwärtiges Erlebnis zu
aller Dinge und der Zeit. In diesem Moment kann das
wiederholen, anstatt es, wie der Arzt es lieber sähe, als ein
Über-Ich mit dem Destruktionstrieb interagieren, um
Stück der Vergangenheit zu erinnern“.40 Freud charakterisierte
die Energie in ein produktiveres Feld umzulenken, was
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Psychologie der Krise: Sigmund Freud
15
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als „Sublimierung“ bezeichnet wird und uns zum Gegen-
Triebverzicht als Grundlage von Kultur
stand dieser Studie zurückführt: zu Architektur und Kunst.
Freuds Definition von Kultur ist eng mit den Trieben verbunden. Er sieht in der Kultur ein Mittel für den Menschen, sich von
16
Sublimierung durch Kunst und deren Verhältnis zur Zeit
seiner eigenen Natur und seiner natürlichen Umgebung zu
Nach Freuds Auffassung kann der Destruktionstrieb über den
entfernen: Das Wort „Kultur“ bezeichnet „die ganze Summe
Umweg der Sublimierung in schöpferische Tätigkeit umgewan-
der Leistungen und Einrichtungen […], in denen sich unser
delt werden. Bei diesem Umwandlungsprozess wird die Trieb-
Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt“, wobei sie
energie in Bereiche umgelenkt, die gesellschaftlich wertge-
zwei Zwecken dient: „dem Schutz des Menschen gegen die
schätzt werden, insbesondere den der Kunst, den die soziale
Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen unter-
Gruppe und das Über-Ich gutheißen. Dank dieser doppelten
einander“.47 Kultur beruht auf Verzicht, wie in Unbehagen in
Dynamik, die vom Todestrieb ausgeht, der auf Vernichtung aus
der Kultur dargelegt wird: Es ist „unmöglich zu übersehen,
ist, und dessen Sublimierung, die darin besteht, beispielsweise
in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist,
durch die Kunst neue Perspektiven zu eröffnen, kann das (indi-
wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung,
viduelle oder kollektive) Trauma der Zerstörung überwunden
Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur
werden. Dieser Aspekt wird im Kapitel „Erschaffung durch
Voraussetzung hat“.48 Für den Begründer der Psychoanalyse
Zerstören“ erörtert.
ist das Gewissen „die Folge des Triebverzichts“.49
Im Prozess der Sublimierung, bei dem die Urtriebe in schöpfe-
Die Kultur wäre also kein aktives und bewusstes Konstrukt,
rische Sphären gehoben werden, wird das Zeitempfinden zu
sondern ein „Prozess, der über die Menschheit abläuft“,50 ein
einem wichtigen Werkzeug. Die Kunst ermöglicht es, die Zeit-
unbewusster Prozess im Dienste des Eros, der versucht, die
wahrnehmung zu verändern oder sogar aufzuheben, wie das
vom Lebenstrieb angetriebenen Menschen zu größeren Ein-
Beispiel der Musik zeigt. Man denke an das Magnificat der
heiten zu vereinen.51 Dieser zivilisatorische Prozess steht im
Dante-Symphonie von Franz Liszt: Wenn wir das Decrescendo
Gegensatz zum natürlichen Aggressionstrieb, der Ausdruck
der Stimmen des Kinderchors hören, das sich allmählich ent-
des nach außen gerichteten Todestriebs ist. Der Aggressions-
fernt, halten wir den Atem an. Die Violinen vibrieren weiter in
trieb wird jedoch nicht einfach unterdrückt, sondern auch zum
hohen Lagen und verharren in einem erhabenen Schwebezu-
Aufbau der Kultur verwendet (durch Sublimierung). Die Kultur
stand. Dann wird es still. Wir spüren, wie sich die Spannung
steht also im Zentrum des Kampfes zwischen Eros und Thanatos,
auflöst, einen Augenblick lang hatten wir das Gefühl, dass die
dem Lebens- und dem Todestrieb.
Zeit stillsteht.
Dies ist ein für unsere Forschung einsatzfähiges Konzept,
In der Architektur kann die Zeit durch eine anachronistische
denn wenn wir die Ästhetik in das Zentrum des permanenten
Ästhetik, eine starke Raumatmosphäre oder einen spezifischen
Konflikts zwischen den Trieben stellen, können wir daraus
künstlerischen Akt aufgehoben sein, sodass eine neue Weltbe-
stichhaltige Interpretationen für die Analyse der in Krisenzeiten
ziehung entsteht, welche die Raumwahrnehmung verändert.
geschaffenen Ästhetik ableiten: In diesen Momenten starker
Die Aufhebung der Raum-Zeit lässt etwas anderes entstehen.
Beschleunigung radikalisiert sich alles, erst recht der Kampf
Schöpferisches Handeln kann als ein fiktionaler Vorgang ange-
zwischen Eros und Thanatos. Dieser psychoanalytische Ansatz
sehen werden, der eine eigene Zeitlichkeit und Räumlichkeit
eröffnet eine neue Perspektive für die Interpretation von
begründet und die Konstruktion eines Anderswo ermöglicht.
Architekturprojekten, die in Zeiten der Instabilität entworfen
In Krisenzeiten, nach einem Krieg oder einer Katastrophe, ver-
wurden, insbesondere wenn sie mit der umfassenderen Frage
mögen Kunst, Architektur und Ästhetik (im weitesten Sinne)
nach der Wirkung der Ästhetik auf die Gesellschaft im Allge-
den Destruktionstrieb zu sublimieren und ihn auf höhere Ziele
meinen in Verbindung gebracht werden.
auszurichten, um mit dem Lebenstrieb eine Gesellschaft wieder-
Zusammenfassend lässt sich bei der Untersuchung der mögli-
aufzubauen, die eine größere Resonanz, einen höheren Zivili-
chen Verbindungen zwischen den psychologischen Reaktionen
sationsgrad und einen stärkeren Zusammenhalt aufweist, eben
und den Zeitmodi die Hypothese aufstellen, dass der Vorgang
das, was Freud „Kultur“ nennt.
der Verdrängung in zwei Phasen verläuft. Die erste besteht
Theoretische Rahmung
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zunächst in einer Aufhebung der Zeit, um sich aus dem Hier
Fähigkeit, uns von der Welt „ergreifen“, berühren und verän-
und Jetzt zu lösen, die zweite in einem Zeitsprung nach vorn,
dern zu lassen. Rosa zufolge mangelt es in unserer modernen
um eine neue Zukunft zu eröffnen, wobei der Lebenstrieb die
Gesellschaft an Resonanz, da die Beschleunigung der Zeit
treibende Kraft ist (Kap. 4 „Wiederverzauberung der Welt“).
unsere Weltbeziehung auf individueller und kollektiver Ebene
Der Zeitmodus des Todestriebs hingegen besteht in einer
tiefgreifend verändert hat.
Beschleunigung, um den Untergang voranzutreiben, gefolgt
Rosa analysiert unsere Weltbeziehung anhand unterschied-
von einem Akt der Sublimierung, der die Zeit aufhebt und ein
lichster Formen, angefangen bei unseren körperlichen Grund-
neues Feld der Möglichkeiten eröffnet (Kap. 3 „Schaffen
erfahrungen (Atmung, Ernährung, Empfindungen) über unsere
durch Zerstören“). Das ästhetische Handeln hängt also vom
affektiven Beziehungen bis hin zu den ausgefeiltesten kogni-
jeweiligen Zeitmodus und vom jeweiligen psychologischen
tiven Konzepten. Er legt drei Resonanz-Kategorien fest: die
Zustand ab.
Beziehungen zu anderen Menschen in den Bereichen Freundschaft, Liebe und Politik („horizontale Resonanzachsen“), die
Hartmut Rosa: Beschleunigung und Resonanz, eine neue Weltbeziehung
Beziehungen zur Materie, zu Artefakten und Dingen in den
Die Frage der Kultur und der Aufhebung der Zeit ist auch
in den Bereichen Natur, Religion, Kunst und Geschichte („ver-
Gegenstand der Überlegungen von Hartmut Rosa. In der
tikale Resonanzachsen“) – mit anderen Worten alles, was nach
Nachfolge Adornos befasst sich der deutsche Soziologe mit
Gayraud die „Kruste über der Welt“ oder „Kultur“ ausmacht.
der Situation des Einzelnen angesichts von Krisen, die durch
Dieses Konzept ist für die Erforschung der Strategien und
die von ihm sogenannte Beschleunigung der Zeit in unseren
Sprache der Architektur interessant, weil es die Gesamtheit
modernen Gesellschaften ausgelöst werden. Er entwickelt
unseres In-der-Welt-seins einschließt, das hier durch das
eine „soziale Kritik der Zeit“ und analysiert zu diesem Zweck
Prisma der Ästhetik ergründet werden soll.
Bereichen Arbeit, Bildung und Sport („diagonale Resonanzachsen“) und die Beziehungen zu Ideen und einem Absoluten
die Transformationen, die sozialen Umbrüche, das Werden des Individuums und dessen Weltbeziehung. Rosa zufolge ist
Ästhetik und die Kraft der Kunst
die bedeutendste Erfahrung der Moderne die der „Beschleu-
Nach Rosa ist die Ästhetik integraler Bestandteil der
nigung“ – „alles wird immer schneller“ –, was zu einer grundle-
Resonanz:
genden Krise unserer Gesellschaft führt. „Wenn Beschleunigung
„Die Kunst ist – fast gleichzeitig mit der und in ganz
das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung“, um
ähnlicher Weise wie die Natur – zur vielleicht wichtigsten
der gegenwärtigen Hektik entgegenzuwirken, so seine Hypo-
und nach und nach alle Alltagsbereiche durchdringenden
these. Unter „Resonanz“ versteht er „eine spezifische Form
Resonanzsphäre der Moderne geworden. […] Die Kunst
des Eintretens in eine Beziehung zur Welt, die auf wesentlichen
berührt und bewegt den modernen Menschen als Rezipien-
Dingen beruht. […] Dafür muss man sich mit der Welt verbun-
ten im Innersten seiner Seele wie nichts anderes – und sie
den fühlen. […] Man muss die Erfahrung gemacht haben, die
gebietet ihm als Produzenten, das heißt als Künstler oder
Welt zu berühren.“ Diese Betrachtung vom Standpunkt des
Kunstschaffendem, indem sie ihre eigene Gesetzmäßigkeit
Einzelnen, die fast schon eine mystische Dimension aufweist,
gegen alle instrumentelle, politische oder ökonomische
ergänzt Rosa um eine Betrachtung vom Standpunkt der Gesell-
Vernunft geltend zu machen vermag.“54
52
53
schaft, da die menschliche Lebensqualität auch ein institutionel-
Ähnlich wie das Religiöse in früheren Gesellschaften durch-
les und kulturelles Problem ist. Er versucht mit der Vorstellung
dringt die Kraft der Kunst „die (spät-)moderne Subjektivität
zu brechen, dass allein materielle, symbolische und psychische
in allen Poren […]. Ästhetische Resonanzfähigkeit ist auf
Ressourcen uns zu unserem Glück verhelfen, und betont, dass
diese Weise als kollektiv verbindliche Forderung an die gesell-
wir auch in der Lage sein müssen, zu handeln. Die Resonanz,
schaftliche Stelle religiöser Resonanzfähigkeit getreten.“55
das heißt unsere sinnliche, bewusste Verbindung zur Welt,
Ich komme später im Abschnitt Zeit auf dieses Phänomen
stärkt unser Handlungsvermögen und im Gegenzug unsere
zurück, denn tatsächlich stellt die Ersetzung der Religion
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Psychologie der Krise: Hartmut Rosa
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durch die Kunst in unseren Gesellschaften, die einem
von Hartmut Rosa ist die Rolle der Kunst: Sie ermöglicht es
Krisengefühl ausgesetzt sind, einen wichtigen Analyse-
uns, über die Erfahrung der Resonanz hinauszugehen, uns aus
punkt dar.
dem Hier und Jetzt zu lösen und mögliche Weltbeziehungen
Zum besseren Verständnis dessen, wie der ästhetische Prozess
auszuloten. Indem sie neue Möglichkeiten ersinnt, vermag die
funktioniert, sollten wir uns Nietzsche zuwenden. Christoph
Kunst raumzeitliche Fiktionen zu schaffen. In Momenten starker
Menke hat den Doppelcharakter der Kunst, den Nietzsche in
Beschleunigung oder in Krisensituationen, wenn die Orientie-
Die Geburt der Tragödie thematisiert, treffend zusammenge-
rungspunkte verschwimmen, hat Kunst die Aufgabe, andere
fasst: „Kunst gibt es nur, wo Rausch und Bewusstheit, Spiel
Beziehungen zur Gegenwart auszuloten, um eine Form der
der Kräfte und Bilden von Formen zusammen und gegenein-
Resonanz wiederzufinden. Welche Ästhetik kann in solchen
ander wirken. […] Der Künstler ist in sich geteilt; er ist ent-
Situationen entstehen? Was bedeutet „Ästhetik“ eigentlich,
zweit in selbstbewußtes Vermögen und rauschhaft entfesselte
zumal in Zusammenhängen, in denen eine neue Weltbeziehung
Kraft.“ Diese Dissonanz der Kunst ist für Rosa integraler
aufgebaut werden muss?
56
Bestandteil des Konzepts der Resonanz (nicht zu verwechseln mit der Konsonanz, die, wie er ausdrücklich klarstellt, harmonisierend wirkt) und bezieht das Publikum mit ein:
Ästhetik
„Tatsächlich bilden ,Kunsttempel‘ die paradigmatischen, kultischen Räume der modernen Gesellschaft für ritualisierte
Der deutsche Philosoph Gernot Böhme, der sich auf Baum-
Resonanzerfahrungen: In den Museen, Theatern und
garten (Schüler von Winckelmann) stützt, erinnert daran, dass
Konzertsälen, aber auch in den Kinos und an vergleichbaren
unter „Ästhetik“ nicht in erster Linie das Schöne zu verstehen
Orten suchen und finden moderne Menschen immer wieder
ist, sondern die Fähigkeit der Sinne, wahrzunehmen: Die
aufs Neue Momente der transformativen Erschütterung und
Aisthesis (griechischer Terminus für Wahrnehmung) hat zum
Verflüssigung ihres Selbst- und Weltverhältnisses, des
Ziel, auf den Ursprung der philosophischen Ästhetik zurückzu-
Berührt-, Bewegt- und Ergriffenwerdens.“57
führen, die zunächst als Theorie sinnlicher Erkenntnis entworfen
Die Empfindungen, die uns die Künste bescheren, führen uns
wurde.61 Diese Definition ist für uns von Interesse, da sie es
zum Kern der Ästhetik. Sie ist ein holistisches Konzept für
uns ermöglicht, Architekturprojekte nicht anhand der Form
Rosa, der Schönheit als Resonanz betrachtet, die „die Möglich-
(Regeln der Raumkomposition, Proportionen, Harmonie usw.),
keit einer gelingenden Beziehung zur Welt und damit reales
sondern anhand der sinnlichen Erfahrung in all ihren Dimen-
Glück“ bietet.58 Die Kunst steht im Mittelpunkt des nostalgi-
sionen zu analysieren. Jacques Rancière geht noch einen
schen Strebens nach Resonanz:
Schritt weiter und fügt die Frage des Denkens, der Identifika-
„Wie ich […] zu zeigen versucht habe, besteht die Spezifität
tion und des Teilens des Sinnlichen hinzu, bis hin zur politischen
der Kunst nun aber darin, dass sie über die Erfahrung reiner
Dimension. Für den französischen Philosophen ist Ästhetik
Resonanz hinaus die gesamte Bandbreite der (zu einem
„weder eine allgemeine Kunsttheorie noch eine Theorie, die
historischen Zeitpunkt kulturell) möglichen Weltbeziehungen
die Kunst durch ihre Wirkungen auf die Sinne definiert, sondern
nachzubilden und zum Ausdruck zu bringen und damit
eine spezifische Ordnung des Identifizierens und Denkens von
fühlbar zu machen vermag.“
Kunst. Ästhetik ist eine Weise, in der sich Tätigkeitsformen,
59
Das treibt moderne Menschen in die Museen, Kinos, Theater
die Modi, in denen diese sichtbar werden, und die Arten, wie
und Konzertsäle, da sie dort unterschiedliche Arten und Formen
sich die Beziehungen zwischen beiden denken lässt, artikulie-
der Weltbeziehung ausprobieren können, die es ihnen ermög-
ren, was eine bestimmte Vorstellung von der Wirksamkeit des
lichen, die eigene zu kanalisieren, zu modifizieren oder anzu-
Denkens impliziert.“62 Für Rancière ist „die ästhetische Denk-
passen: „Ästhetische Resonanz wird so zu einem Experimen-
weise erheblich mehr als ein Gedanke zur Kunst. Sie ist eine
tierfeld für die Anverwandlung unterschiedlicher Muster der
Idee des Denkens, die an die Idee einer Aufteilung [im Sinne
Weltbeziehung.“
des Teilens innerhalb einer Gesellschaft] des Sinnlichen
60
Für das hiesige Thema besonders interessant an diesem Ansatz
18
Theoretische Rahmung
gebunden ist.“63 Er interessiert sich insbesondere für die
Anmerkungen Seite 31
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 19
Beziehung zwischen Ästhetik und Politik, wobei für ihn die
„Reale muss fiktionalisiert werden, um gedacht zu werden“.68
Künste nicht nur als solche, sondern auch als „Formen
Die Fiktion macht die Realität sinnlich erfahrbar und ver-
der Einschreibung des Sinns der Gemeinschaft wahrgenom-
ständlich.
men und gedacht werden können. Diese Formen legen
Dies sind also die drei möglichen Ansätze zur Analyse der
fest, wie Werke oder künstlerische Aufführungen ,Politik
Funktionsweise ästhetischen Handelns: Der erste betrifft den
machen‘.“64
durch ein Werk hervorgerufenen Schwebezustand, der zweite
Ästhetik wird hier in dieser weiten Dimension verstanden, die
die Veränderung der Zeit oder zumindest ihrer Wahrnehmung
auch gesellschaftliche Aspekte umfasst. Die politische Ebene
und der dritte der dem künstlerischen Prozess innewohnende
der Ästhetik (und wie sie auf die Gemeinschaft einwirkt) wird
fiktionale Modus. Bei der Analyse der Beispiele werden wir
anhand zahlreicher architektonischer Beispiele analysiert,
auf diese drei Ansätze zurückkommen, insbesondere auf
die im zweiten Teil (insbesondere in Kapitel 2) vorgestellt wer-
die Frage der Zeit, die ich für einen Schlüsselfaktor des ästhe-
den, jedoch nicht, ohne vorher die Schlüsselfrage zu erörtern:
tischen Handelns halte, da dieses, insbesondere in Krisen-
Wie funktioniert ästhetisches Handeln und wie eignet es sich
zeiten, die Zeit aufheben kann, um raumzeitliche Fiktionen zu
die Welt an?
eröffnen, aus denen eine andere Weltbeziehung erwächst.
Rancière schlägt drei Kriterien für die Analyse vor. Einer der wichtigsten Faktoren ist die Zeit, da Kunst auf die Zeitwahrnehmung einwirken kann: „Der ästhetische Zustand ist reine
Nutzungen und Rituale
Suspendierung, ein Augenblick, in dem die Form als solche wahrgenommen wird. Es ist der Augenblick, in dem eine be-
Doch wie wird eine neue Vision von Gesellschaft entworfen?
sondere Menschheit [humanité spécifique] gebildet wird.“
Welche Vorstellungswelt, welche Rituale liegen ihr zugrunde?
65
Dieser Schwebezustand, dieser kurze Stillstand der Zeit, ist
Ästhetik, so meine Hypothese, geht stets mit spezifischen
ein Moment, in dem die Dinge zerfallen und auf andere Weise
Ritualen einher, die mehr als bloße „Nutzung“ sind. Während
wieder neu zusammengesetzt werden, wobei auch eine andere
die Nutzung eine Praxis ist, die mit einer bestimmten Verwen-
Vorstellung von Gesellschaft entstehen kann.
dungsweise und Funktion verbunden ist, bezeichnet ein Ritual
Der zweite Faktor ist die Fähigkeit der Kunst, die Wahrnehmung
die Gesamtheit der Regeln und Gewohnheiten einer bestimm-
von Raum und Zeit zu verändern. Sie kann die „Ordnungen
ten Gruppe, die von einer spezifischen Idee, Lebensauffassung,
der Geschichtlichkeit [régimes d’historicité]“ (um den von
Ideologie, einem Glauben oder einer kulturellen Tradition
François Hartog geprägten Begriff zu verwenden), das heißt
getragen werden. Es ist die „Gesamtheit der Handlungen,
die Artikulation der drei Zeitkategorien (Vergangenheit, Gegen-
Worte und Gegenstände, die sehr genau kodifiziert […] und
wart und Zukunft) gegeneinander ausspielen, ihre eigenen Zeit-
auf spezifische Lebenslagen zugeschnitten sind“.69
lichkeiten entwickeln und ihre eigenen Revolutionen erfinden,
Im Gegensatz zur simplen Nutzung, die im architektonischen
denn „die Zeitlichkeit des ästhetischen Regimes der Künste
Kontext relativ leicht zu verstehen und zu bestimmen ist
[besteht] gerade aus dem Nebeneinander von heterogenen
(durch das „Raumprogramm“, das die Nutzung der Räume
Zeitlichkeiten“, wie Rancière hervorhebt. Das ästhetische
festlegt und üblicherweise vom Bauherrn vorgegeben wird),
Regime der Künste „widmet sich der Erfindung neuer Lebens-
ist ein Ritual aufgrund der ihm zugrunde liegenden Vorstel-
formen, in dem es ausgeht von einer Vorstellung dessen, was
lungswelt (Lebensauffassung, Ideologie, Glaube, Tradition)
66
die Kunst gewesen ist und was sie hätte sein können“. Es
viel schwerer zu entschlüsseln. Diese Vorstellungen sind auch
ist also ein interpretierender und zugleich spekulativer Blick
Vektoren einer neuen Ästhetik, die nicht nur die Gebäude-
auf die Geschichte, der sowohl die Gegenwart als auch die
form und -hülle definiert, sondern auch die räumliche Kom-
Erwartung der Zukunft reflektiert.
position, die das Programm anordnet. Durch die Anordnung
Ein dritter wichtiger Faktor, der der Kunst eigen ist, ist die
der Räume bestimmt sie die Art und Weise der Nutzung (wie
Fiktion. Man muss, so Rancière, Geschichte denken, indem
man sich bewegt, wie man sitzt usw.), und in diesen Räumen
man das Reale durch Fiktionen interpretiert, denn das
finden die Alltagsrituale statt.70
67
Anmerkungen Seite 31
Nutzungen und Rituale
19
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 20
Architekturbücher beschreiben und analysieren meist Formen
sondern auch den ihr zugrunde liegenden Nutzungen, Ritualen
und Nutzungen, beschäftigen sich aber weitaus seltener mit
und Ideen, da sie in ihrer Gesamtheit Ausdruck und kritische
der Frage der Rituale. Rituale haben eine Funktionsweise, die
Hinterfragung eines bestimmten In-der-Welt-seins sind.
man in Anlehnung an Nietzsche als dionysisch bezeichnen
Welche Rituale und Nutzungen, welche Formen von Ästhetik
könnte (im Gegensatz zum Apollinischen, das sich mehr auf
(im weitesten Sinne) entstehen also in Krisenzeiten, um eine
die Form bezieht).
neue Beziehung zur Welt und zur Zeit aufzubauen? Bevor
In Die Geburt der Tragödie (1872)
71
unterscheidet Nietzsche
diese Fragen im Architektur-Teil beantwortet werden können,
zwischen der apollinischen und der dionysischen Kunst und
gilt es zunächst die Bedeutung des Begriffs „Krise“ und seine
stellt sie einander gegenüber. Die apollinische Kunst beruht
Beziehung zur Zeit zu klären.
auf der Erfahrung des Auges: bildende Kunst, Traumwelten, das Schöne. Die dionysische Kunst hingegen beruht auf der körperlichen Erfahrung von Musik, Tanz, Rhythmus, Festen und Rauschzuständen sowie auf der Versöhnung des Menschen mit der Natur und auf der Freiheit: Mit Dionysos
Krise, Katastrophe, Zusammenbruch, Kollaps
befreit sich der Mensch von den herkömmlichen Ständen
20
und sozialen Kategorien und vereint sich in Bacchus-Chören.
Es stellt sich die Frage, ab welchem Zeitpunkt davon ausge-
Auf diese Weise wird „der Mensch […] Mitglied einer höheren
gangen werden kann, dass wir uns „in einer Krise“ befinden.
idealen Gemeinsamkeit“, einer „Weltenharmonie“.72 Diese
Da ständig Krisen auftreten, sie sich bisweilen sogar überlappen
zwei gegensätzlichen und sich ergänzenden Prinzipien finden
und mehr oder weniger verheerende Auswirkungen für Mensch
sich in der griechischen Tragödie wieder. Warum nicht auch in
und Umwelt haben, könnte man annehmen, dass wir uns ge-
der Architektur, die Ritual und Form miteinander verbindet?
wissermaßen immer in einer Krise befinden. Allerdings gibt es
Ein Ritual ist unter anderem eine kollektive Weise, Räume zu
Abstufungen: Je nach Schwere der Krise können ihre Folgen
erleben und zu durchqueren. Rituale zeichnen sich durch
mehr oder weniger destabilisierend sein und sehr unterschiedli-
Wiederholung und ständige Wiederkehr aus und werden
che Reaktionen auslösen, auch abhängig von den Erfahrungen
davon bestimmt; sie haben etwas Mechanisches und Auto-
und Erlebnissen des Einzelnen.
matisches an sich. Rituale gehorchen dem dionysischen
Schauen wir uns nun die etymologischen Bedeutungen der
Prinzip und versetzen uns in eine Art Schwebezustand, der
Begriffe „Krise“, „Katastrophe“, „Zusammenbruch“ und „Kol-
sich unserem Zugriff entzieht, ja unkontrollierbar ist – wir
laps“ an, denen eine Dynamik des Umbruchs innewohnt, die
werden gegen unseren Willen hineingezogen. Ein Ritual ist
von einer starken Beschleunigung der Zeit in Gang gesetzt wird.
eine kollektive kulturelle Handlung, die mit dem kollektiven
Das seit dem 16. Jahrhundert im deutschen Sprachraum vor-
Unbewussten verbunden ist. Rituale beinhalten auch eine
erst als medizinischer Begriff bezeugte Wort „Krise“ ist aus
zwanghafte Dimension, wie Freud in seiner Beschreibung
dem griechischen krisis („Unterscheidungsvorgang oder -ver-
der Zwangsvorstellungen von Menschen mit Kriegstraumata
mögen“73) entlehnt und leitet sich vom Verb krínein = trennen,
dargelegt hat; sie helfen dann, die Dämonen auszutreiben
unterscheiden ab. Für Seneca waren Krisen die „Konflikte
und das Trauma zu überwinden.
der Natur“.74 In französischen Wörterbüchern tauchte der
Wir sind in der Lage, die Gestaltungen der Moderne zu be-
Begriff im Mittelalter in der Bedeutung von „Angriff“ auf und
schreiben und rationale Diskurse zu begreifen, aber wir tun uns
wurde zum Beispiel im Zusammenhang mit dem „Erscheinen
unendlich schwer, Rituale zu entziffern und zu beschreiben, ob-
einer schweren Krankheit“ verwendet. In Momenten der In-
wohl diese für das Verständnis bestimmter Architekturprojekte
stabilität deutet die etymologische Bedeutung des Wortes auf
von entscheidender Bedeutung sind. Denn Rituale geben
einen Umbruch mit darauffolgender Lösung hin, legt aber
Auskunft über kulturelle Phänomene – manchmal viel besser
auch die Idee einer „Entscheidung“ nahe: Es ist der Vorgang
als die Form (und die Beschreibung) des Bauwerks selbst. Aus
oder das Vermögen, zu unterscheiden und zu entscheiden.
diesem Grund gilt mein Interesse nicht nur der Architektur,
Die Krise markiert einen Bruch und teilt die Zeit in ein Davor
Theoretische Rahmung
Anmerkungen Seite 31
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 21
und ein Danach. Sie ist ein Moment intensiver Beschleunigung
Das Ende der Zeiten
bis hin zu einem Wendepunkt, an dem die Dinge sich ent-
Die Zeit in der Schwebe gleicht einem Stillstehen der Zeit,
scheiden. Es ist wichtig zu beachten, dass krisis sowohl eine
einem Ende der Zeiten, und das führt uns zur Frage der
Störung des gewohnten Ablaufs als auch ein trennender
„Apokalypse“. Nach der griechischen Etymologie bedeutet
Vorgang ist, der eine Entscheidung oder eine Lösung impliziert.
Apokalypse eigentlich „Enthüllung“ oder, religiös konnotiert,
Kommt es dank einer Krise zur Auflösung einer schwierigen
„Offenbarung“ mit Bezug auf das Weltende. Das Wort ist
Situation? In diesem Fall wäre die Krise als eine Gelegenheit
dem griechischen apokálypsis („das Enthüllen“) entlehnt
anzusehen, die genutzt werden kann, um die Dinge zum
und setzt sich aus dem Verb kalýptein („verhüllen, bedecken“)
Besseren zu verändern.
und dem Präfix apó („von – weg“) zusammen. Die Apoka-
Während die Krise ein Kippmoment beinhaltet mit der Mög-
lypse ist also buchstäblich „das ent-verhüllte Ding“ und im
lichkeit eines Auswegs, implizieren die Begriffe Katastrophe,
weiteren Sinne „das den Menschen Enthüllte“, „das Entfernen
Zusammenbruch und Kollaps eine abrupte Abwärtsbewe-
des Schleiers, der das Ding verbarg“.78
gung. Das Wort „Katastrophe“ wurde um 1600 aus grie-
Die Apokalypse bedeutet nicht das Ende der Welt, sondern
chisch katastrophé („Umkehr, Wendung“) entlehnt und setzt
das Ende einer Welt. Sie bietet die Möglichkeit einer neuen
sich aus der Vorsilbe katá („abwärts“) und dem Substantiv
Welt, die als eine bessere (und anderweitige) erhofft wird,
strophé („das Drehen, Wenden, Wendung“) zusammen;75
die der Offenbarung. Die Vorstellung vom Ende der Zeiten
sie ist also buchstäblich eine „Wendung der Lage mit einem
beruht meistens auf einer religiösen Weltanschauung,
Absturz“ und bezeichnet ein plötzlich eintretendes Ereignis,
nämlich die der göttlichen Bestrafung aufgrund des Fehl-
das den Lauf der Dinge tiefgreifend verändert und Vernichtung,
verhaltens der Menschheit. Im Christentum wird vor dem
Verderben und Tod bringt. Das französische Wort „effondre-
Jüngsten Gericht die Entscheidung darüber gefällt, wer in
ment“ für „Zusammenbruch“ wurde aus dem Vulgärlateinischen
den Himmel kommt und wer in die Hölle. In der biblischen
exfundatus („von Grund auf umstürzen“ ) entlehnt und leitet
Apokalypse, die „Offenbarung des Johannes“ genannt wird,
sich von fundus („Grund, Boden“) ab: Es bedeutet „auf
hebt der Engel „mit der Stimme von sieben Donnern“ seine
Grund stoßen“ (im landwirtschaftlichen Kontext), „eindrücken,
rechte Hand zum Himmel empor und schwört:
brechen, zusammenbrechen lassen“. Das im angelsächsischen
„Es soll hinfort keine Zeit mehr sein“79 – eine Vorstellung, die
Raum verwendete Wort „Kollaps“ ist von spätlateinisch col-
zur Zeit der Aufklärung kritisch aufgegriffen wurde, insbesondere
lapsus („Zusammenbruch“) entlehnt und leitet sich von lapsus
von Immanuel Kant. Dies wird weiter unten im Abschnitt
(labi = „gleiten, straucheln“) und prolapsus („hingleiten, aus-
„Das Ende aller Dinge“: Der kritische Blick von Immanuel
gleiten und fallen, abgleiten“) ab.
Kant vertieft.
76
77
Die Begriffe Katastrophe, Zusammenbruch und Kollaps
Die Vorstellung vom Ende der Zeiten hat seit jeher als
bezeichnen also einen Wendepunkt mit einem Sturz in die
Drohkulisse gedient, um gegen Verhaltensweisen vorzugehen,
Tiefe, ein Umkippen ohne Halt, während die Krise ein Schwe-
von denen behauptet wurde, sie würden dem guten Fortgang
bezustand, ein die Stabilität bedrohendes Ereignis ist; sie
der Gesellschaft zuwiderlaufen. Die historische Zeit bleibt
stellt einen bestehenden Zustand infrage und lässt ihn kippen.
vor dem apokalyptischen Abgrund abrupt stehen. Weltende-
Die Dimension des Schwebezustands bei der Krise eröffnet
Vorstellungen können eine lähmende Wirkung haben oder
die Möglichkeit einer Lösung und vielleicht einer Neujustie-
eine Flucht in Frömmigkeit und Mystizismus bewirken, er-
rung; sie kann als Auslöser wahrgenommen werden. Eine
möglichen aber auch eine radikale Infragestellung unseres
Katastrophe hingegen bedeutet eine umfassende, radikale
individuellen wie kollektiven In-der-Welt-seins. Heute be-
Umgestaltung und erfordert eine Rückbesinnung auf die
steht die Herausforderung gerade darin, dass wir angesichts
wesentlichen Dinge. Krisen und Katastrophen sind disruptive
der bedrohlichen Krisen eine reflektierte und zugleich krea-
Momente, mit denen starke Dynamiken der Beschleuni-
tive Haltung einnehmen, die uns handlungsfähig macht.
gung einhergehen. In diesen Momenten des Bruchs steht die Zeit, die der Beschleunigung unterlag, plötzlich still.
Anmerkungen Seite 31
Krise, Katastrophe, Zusammenbruch, Kollaps
21
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 22
Zeit
Fortschritt
Die Vorstellung vom Ende der Zeiten ist zugleich eine Einladung,
Diese Veränderungen eröffneten einen neuen Horizont, der
noch einmal ganz neu über unsere Beziehung zur Welt und
als Fortschritt auf einen Begriff gebracht wurde. An die Stelle
zur Zeit nachzudenken. Die Zeitwahrnehmung, unser Verhältnis
der Endlichkeit der Welt trat eine neue Finalität, die einer
zu Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft haben sich im
möglichen Progression.86 Erstreckten sich die Erwartungen im
Laufe der Geschichte enorm verwandelt, daher verdient die
Mittelalter auf das religiöse Jenseits, so war der Fortschritts-
Frage nach dem Fortschritt in diesem Verhältnis ein besonderes
gedanke, der in der Renaissance aufkam, weltlich. 1588 verlieh
Augenmerk.
Montaigne dem Fortschritt die Bedeutung einer stufenweisen
In Vergangene Zukunft (1989) entwickelt der deutsche His-
Transformation zum Besseren87 durch Moral (Tugend88) und
toriker Reinhart Koselleck die These, dass sich die Beziehung
Wissen (die Neugier, zu lernen). 1697 postulierte Leibniz die
zur Zeit seit der Renaissance tiefgreifend verändert hat. „So-
allgemeingültige Wahrheit „progressus est in infinitum per-
lange man sich im letzten Zeitalter glaubte, konnte das wirk-
fectionis“89: Die Vollkommenheit der Welt ist nur als ein dauer-
lich Neue der Zeit nur der Jüngste Tag sein, der aller
hafter Optimierungsprozess denkbar. Die Vollkommenheit als
80
bisherigen Zeit ein Ende setzte“, stellt er fest und zitiert
Finalität „diente seitdem einer irdischen Daseinsverbesserung,
Nicolaus von Cues, einen deutschen Denker aus dem späten
die es erlaubte, die Lehre von den letzten Dingen durch das
Mittelalter: „Et ob hoc santi saepe hoc tempus novissimum
Wagnis einer offenen Zukunft zu überholen“.90 Es fand ein
et finem saeculorum nominant“82 („Und deshalb nennen die
Perspektivwechsel statt, der trotz einer ungewissen Zukunft
Heiligen dieses Zeitalter häufig das letzte und das Ende aller
auf Weiter- und Fortentwicklung ausgerichtet war. Koselleck
Zeiten“). Zu jener Zeit waren die „Erwartungen, die über alle
zufolge ist „Fortschritt“ der „erste genuin geschichtliche
bisherige Erfahrung hinauswiesen, […] nicht auf diese Welt
Begriff, der die zeitliche Differenz zwischen Erfahrung und
bezogen. Sie richteten sich auf das sogenannte Jenseits,
Erwartung“ berücksichtigte.91 Das optimistische Jahrhundert
apokalyptisch angereichert auf das Ende dieser Welt insge-
der Aufklärung glaubte an eine Zukunft, die besser sein würde
samt.“ Dagegen konnten auch alle Enttäuschungen nichts
als die Vergangenheit. Rousseau zog die Vervollkommnungs-
ausrichten, die sich breitmachten, wenn sich wieder einmal
fähigkeit des Menschen in Betracht und ordnete sie in den
herausstellte, dass eine Prophezeiung vom Ende dieser Welt
Lauf der Geschichte ein. Von nun an konnte die Geschichte
nicht eingetroffen war; sofort wurde die Prophezeiung wieder
allen Auseinandersetzungen und Rückschlägen zum Trotz als
aufgegriffen und von einer Generation zur nächsten durch
ein dauerhafter Prozess der zunehmenden Vervollkommnung
eine neue apokalyptische Voraussage vom Weltende abge-
verstanden werden, der vom Handeln der Menschen und der
löst. Die iterative Struktur apokalyptischer Erwartung „immu-
Gesellschaften abhängt.
81
83
nisierte“ die diesseitigen Erfahrungen, sodass es unmöglich
22
war, den mit dem Jenseits verbundenen Erwartungshorizont
„Das Ende aller Dinge“: Der kritische Blick von Kant
zu überwinden.84
Die Französische Revolution eröffnete einen neuen Erwartungs-
Mit der Entdeckung und Erkundung der Neuen Welt, dem
horizont. Sie wurde als ein radikaler Bruch im Zeitkontinuum
Ausbruch der Religionskriege, den Entdeckungen der Wissen-
wahrgenommen. Wie viele andere Denker der Aufklärung be-
schaften und der Kopernikanischen Revolution kam eine neue
fürwortete auch Kant die Französische Revolution und sah die
Zeitwahrnehmung auf: „Erst nachdem die christliche Ender-
Ideen der Aufklärung in ihr verkörpert und konkret umgesetzt.
wartung ihre stete Gegenwärtigkeit verlor, konnte eine Zeit
In seinen Augen markierte sie einen entscheidenden Schritt auf
erschlossen werden, die unbegrenzt und für das Neue offen
dem Weg zur Emanzipation des Menschen.92 Sogar nach dem
wurde. Ging es bislang um die Frage, ob das Weltende allenfalls
Thermidor behauptete er, dass „die Untaten der Jakobiner
früher als vorgesehen oder erwartet eintreffen würde, so ver-
nichts im Vergleich zu denen der Tyrannen der Vergangen-
schoben allmählich die Berechnungen den Jüngsten Tag in
heit“ seien.93 1794 entgegnete Kant in einem Text mit dem
immer weitere Ferne, bis er gar nicht mehr zur Debatte stand.“85
Titel Das Ende aller Dinge all denen, die aus Entsetzen über
Theoretische Rahmung
Anmerkungen Seite 31 und 32
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 23
den Terror „das Ende der Welt“ verkündeten, dass es sich
Auf diese grundlegende Frage bietet er zwei Antworten – es
dabei lediglich um das Ende einer Welt handelte.
ist der Endzweck menschlichen Daseins und die Angst, die-
In seiner Reflexion über das Ende der Zeiten fragt Kant, warum
sen niemals erfüllen zu können:
die Menschen einer apokalyptischen Vorstellungswelt bedür-
„Der Grund des ersteren scheint darin zu liegen, weil die
fen, worin diese besteht und was sie aus philosophischer Sicht
Vernunft ihnen sagt, daß die Dauer der Welt nur sofern
bedeutet. Im Rückgriff auf die Ankündigung des Engels, der
einen Werth hat, als die vernünftigen Wesen in ihr dem
seine rechte Hand zum Himmel emporhebt und schwört: „Es
Endzweck ihres Daseins gemäß sind, wenn dieser aber
soll hinfort keine Zeit mehr sein“,94 zeigt der Philosoph die
nicht erreicht werden sollte, die Schöpfung selbst ihnen
Unmöglichkeit eines Stillstands der Zeit auf und kommt zu
zwecklos zu sein scheint: wie ein Schauspiel, das gar keinen
dem Schluss: „Wenn man nicht annimmt, daß dieser Engel
Ausgang hat und keine vernünftige Absicht zu erkennen
,mit seiner Stimme von sieben Donnern‘ (V. 3) habe Unsinn
gibt. Das letztere gründet sich auf der Meinung von der
schreien wollen, so muß er damit gemeint haben, daß hinfort
verderbten Beschaffenheit des menschlichen Geschlechts,
keine Veränderung sein soll.“95 Das absolute Ende ist mit voll-
die bis zur Hoffnungslosigkeit groß sei; welchem ein Ende
kommener Erstarrung verbunden und bar aller Ideen und
und zwar ein schreckliches Ende zu machen, die einzige der
Überlegungen, da ohne Zeit kein Wandel denkbar ist. Das
höchsten Weisheit und Gerechtigkeit (dem größten Theil
Ende aller Dinge würde also das Ende eines kontinuierlichen
der Menschen nach) anständige Maßregel sei.“99
Wandels (in Verbindung mit einem unaufhörlichen Denkprozess)
Das erste Argument handelt vom Sinn des Daseins, das
bedeuten, der für Kant gleichbedeutend ist mit Fortschritt.
zweite von der furchtsamen Moralität angesichts der Sünde.
Aber da ein Ende der Zeit unmöglich ist, muss es sich dabei
Der Mensch fürchtet sich davor, das Endziel seines Daseins
vielmehr, wie er feststellt, in der Vorstellungswelt um einen
nicht zu erreichen, da er seinem Ideal nicht gerecht wird; und
„Übergang der Zeit zur Ewigkeit“ handeln: In dem Moment,
wenn er zugrunde gehen muss, so soll auch alles andere mit
in dem das Ende aller Dinge keine „objektive Realität“ mehr
ihm zugrunde gehen! Er stellt sich in den Mittelpunkt der
ist (die an eine physische Realität gebunden ist), sondern der
Welt, die ohne ihn keine Daseinsberechtigung hätte. Die
Einbildungskraft entspringt, „stoßen wir auf das Ende aller
Ursachen für das „Ende mit Schrecken“ können Kant zufolge
Dinge als Zeitwesen und als Gegenstände möglicher Erfah-
unterschiedlicher Natur sein:
rung“. Dieses Ende ist aber zugleich „der Anfang einer Fort-
„Daher sind auch die Vorzeichen des jüngsten Tages (denn
dauer eben dieser übersinnlicher, folglich nicht unter Zeit-
wo läßt es eine durch große Erwartungen erregte Einbil-
bedingungen stehender Wesen“,96 die keineswegs reell,
dungskraft wohl an Zeichen und Wundern fehlen?) alle von
sondern nur moralischer Natur sein können, da sie sich den
der schrecklichen Art. Einige sehen sie in der überhand-
Sinnen entziehen: Sie sind jenseits des sinnlich Wahrnehm-
nehmenden Ungerechtigkeit, Unterdrückung der Armen
baren und der Erfahrung und damit auch außerhalb der Zeit.
durch übermüthige Schwelgerei der Reichen und dem
Die geistige Darstellung vom „Ende aller Dinge“ ist lediglich
allgemeinen Verlust von Treu und Glauben; oder in den an
eine Figur des Übersinnlichen, eine spekulative Idee der an-
allen Erdenden sich entzündenden blutigen Kriegen etc.:
gehaltenen Zeit. Für Kant bedeutet die apokalyptische Vor-
mit einem Worte, an dem moralischen Verfall und der
stellungswelt das Ende der sinnlich wahrnehmbaren Welt,
schnellen Zunahme aller Laster samt den sie begleitenden
97
die sich jeder Kritik entzieht: Es ist die übersinnliche Welt, die
Übeln, dergleichen, wie sie wähnen, die vorige Zeit nie sah.
Wohnstatt Gottes, das Reich vom Ende – das Imaginäre vom
Andre dagegen in ungewöhnlichen Naturveränderungen,
Ende der Zeiten.
an den Erdbeben, Stürmen und Überschwemmungen, oder
Kant fragt sodann nach dem Sinn und Zweck des apokalypti-
Kometen und Luftzeichen.“100
schen Denkens: „Warum erwarten aber die Menschen
Der Gedanke, dass die Zeit plötzlich stillstehen könnte, dass
überhaupt ein Ende der Welt? Und, wenn dieses ihnen
der sterbende Mensch aus der Zeit fällt und in die Ewigkeit
auch eingeräumt wird, warum eben ein Ende mit Schrecken
eingeht, löst einen furchtbar-erhabenen Schauer aus:
(für den größten Theil des menschlichen Geschlechts)?“98
Anmerkungen Seite 32
„Dieser Gedanke hat etwas Grausendes in sich: weil er
Zeit: Fortschritt
23
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:25 Seite 24
gleichsam an den Rand eines Abgrunds führt, aus welchem
der „heroische Glaube an die Tugend“.105 Der Verteidiger der
für den, der darin versinkt, keine Wiederkehr möglich ist […];
Vernunft ist sich bewusst, dass die Funktion des Fortschreitens
und doch auch etwas Anziehendes: denn man kann nicht
nicht unmittelbar durch Erfahrung einzulösen ist. Dennoch ist
aufhören, sein zurückgeschrecktes Auge immer wiederum
er überzeugt, dass neue Erfahrungen, wie die der Französischen
darauf zu wenden […]. Er ist furchtbar-erhaben: zum Theil
Revolution, sich in Zukunft summieren würden, sodass „die
wegen seiner Dunkelheit, in der die Einbildungskraft
Belehrung durch öftere Erfahrung ein dauerhaftes Fortschreiten
mächtiger als beim hellen Licht zu wirken pflegt.“
zum Besseren absichern könne“.106 Darauf bedacht, die mora-
101
Dieses Phänomen ist universell, weil es, wie der Philosoph der
lische Entwicklung zu beschleunigen, versuchte Kant in seiner
Aufklärung feststellt, „unter allen vernünftelnden Völkern, zu
Schrift Zum ewigen Frieden (1795) sich der kommenden
allen Zeiten, auf eine oder andre Art eingekleidet, angetroffen
Weltfriedensorganisation zu vergewissern, „weil die Zeiten,
wird“.102 Allerdings weist Kant angesichts der apokalyptischen
in denen gleiche Fortschritte geschehen, hoffentlich immer
Vorstellungswelt dem Menschen die Verantwortung für seine
kürzer werden“.107
Taten zu: „In der That fühlen nicht ohne Ursache die Menschen die Last ihrer Existenz, ob sie gleich selbst die Ursache derselben sind.“
103
Beschleunigung
Ein grundlegender Gedanke, höchst
aktuell in unserer Zeit, die wegen der verheerenden Auswir-
Die Vorstellung von der Beschleunigung des Fortschritts (und
kungen menschlichen Handelns auf der Erde Anthropozän
der Zeit) breitete sich ab dem Ende des 18. Jahrhunderts aus.
genannt wird, was uns zur Frage des Fortschritts zurückführt.
Begeistert stellte 1784 der deutsche Philosoph und Naturwissenschaftler Ludwig Büchner fest, dass „der Rückschritt nur
24
Diskrepanz zwischen technischem und moralischem
örtlich und zeitlich, der Fortschritt aber dauernd und allgemein
Fortschritt
ist“.108 Er fand es gar nicht mehr erstaunlich, „wenn heutzutage
Fortschritt, verstanden als aktive Umgestaltung der Welt, um-
der Fortschritt eines Jahrhunderts dem von Jahrtausenden in
fasst den technischen und den moralischen Fortschritt. Wie
früherer Zeit gleichkommt“,109 da jeder – oder fast jeder – Tag
Kant betont, gibt es eine Diskrepanz zwischen der schnellen
Neues hervorbringt. Seit der Neuzeit wird Zeit nicht mehr als
Entwicklung des menschlichen Fortschritts und der langsamen
homogen vorgestellt, sondern als kontinuierliches Fließen,
Entwicklung unserer Moralität – und er setzt fort:
das einer stetigen Beschleunigung unterliegt, so Reinhart
„Natürlicherweise eilt in den Fortschritten des menschlichen
Kosellek, der feststellt, dass die historischen Prozesse nun
Geschlechts die Cultur der Talente, der Geschicklichkeit
eine eigene, von den Jahrhunderten unabhängige Zeitstruktur
und des Geschmacks (mit ihrer Folge, der Üppigkeit) der
erlangten. „Eigentlich hat jedes veränderliche Ding das Maß
Entwicklung der Moralität vor; und dieser Zustand ist
seiner Zeit in sich“, schrieb Johann Gottfried Herder 1799 in
gerade der lästigste und gefährlichste für Sittlichkeit sowohl
seiner Metakritik von Kants Werk, „keine zwei Dinge der Welt
als physisches Wohl: weil die Bedürfnisse viel stärker
haben dasselbe Maß der Zeit. […] Es gibt also (man kann es
anwachsen, als die Mittel, sie zu befriedigen. Aber die
eigentlich und kühn sagen) im Universum zu einer Zeit unzähl-
sittliche Anlage der Menschheit, die […] ihr immer nachhinkt,
bar viele Zeiten.“110
wird sie, die in ihrem eilfertigen Lauf sich selbst verfängt
Die Zeitwahrnehmung veränderte sich noch grundlegender
und oft stolpert, (wie man unter einem weisen Weltregierer-
im 19. Jahrhundert mit der Beschleunigung der Industrialisie-
wohl hoffen darf) dereinst überholen […].“
rung. Fortschritt wurde nun vorrangig mit technischen Innova-
104
Doch trotz der Diskrepanz zwischen dem schnellen menschli-
tionen assoziiert. Die Erfindung der Eisenbahn beispielsweise
chen Fortschritt und dem langsamen Fortschritt unserer
ermöglichte eine erhöhte Geschwindigkeit und ließ reale
Moralität bleibt Kant hinsichtlich der menschlichen Entwicklung
Entfernungen entsprechend geringer erscheinen. Wie
optimistisch – im Gegensatz zu einigen seiner Zeitgenossen,
Alphonse de Lamartine, ein prominenter Zeitzeuge des
für die die Versuchung der Apokalypse seltsamerweise verlo-
19. Jahrhunderts, unterstrich: „Der schnelle Lauf der Zeit ersetzt
ckender erscheint, um diese Diskrepanz zu überwinden, als
den zwischenliegenden Abstand.“111 Außerdem überschlugen
Theoretische Rahmung
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sich die politischen Ereignisse seit der Revolution mit einer
Verschiedenheiten der Interessen, die wir mit ihnen ver-
noch nie dagewesenen Geschwindigkeit. Die Tatsache, dass
knüpfen.“117 Auf diese Weise relativierte Lévi-Strauss die
Lamartine seit 1790 unter acht verschiedenen Herrschafts-
Geschichtlichkeit der Kulturen und die damit möglicherweise
systemen und unter zehn Regierungen gelebt hatte, veran-
verknüpfte Vorstellung von Fortschrittlichkeit. Im Jahr 2003
lasste ihn 1851 zu der Bemerkung: „Es gibt keine Geschichten
prägte der französische Historiker François Hartog den Begriff
der Zeitgenossen mehr. Die kaum verflossenen Tage scheinen
„régimes d’historicité“ und entwickelte ein neues Geschichts-
schon tief in den Schatten der Vergangenheit versenkt.“
konzept, wonach eine „Zeitkrise“ eintritt, wenn der Bezug zur
112
Seitdem hat sich dieses Phänomen immer weiter beschleunigt
Geschichte verloren geht und die Gegenwart zur alleinigen
und verstärkt. Mit jeder Generation – oder noch viel schneller –
zeitlichen Dimension wird, ohne Verbindung zur Vergangenheit
vollzieht sich ein radikaler Bruch mit dem Vorangegangenen.
oder zur Zukunft. Dieses Konzept des „Präsentismus“, das
Doch wie steht es bei diesem rasanten Lauf um den Fortschritt?
heißt der omnipräsenten Gegenwart, dient ihm als Werkzeug zur kritischen Analyse unserer heutigen Welt.118 Wenn die
Unterschiedliche Geschwindigkeiten des Fortschritts
Gegenwart die alleinige zeitliche Dimension ist, dann befindet
Im Zuge des 19. Jahrhunderts kam man zu der Ansicht, dass
sich auch der Fortschrittsbegriff in einer grundlegenden Krise.
es unterschiedliche Geschwindigkeiten des Fortschritts gebe: Seit der Entdeckung der Neuen Welt und ihrer einheimischen
Zweifel am Fortschrittsgedanken
Kulturen wurde Geschichte als eine Abfolge paralleler Ereig-
Die Diskrepanz zwischen den vorauseilenden „Fortschritten
nisse aufgefasst, was dazu berechtigte, dass man verschiedene
des menschlichen Geschlechts“ und der hinterherhinkenden
Orte, verschiedene Epochen und verschiedene menschliche
„Entwicklung der Moralität“119, die Kant vorwegnahm, hat
Gesellschaften miteinander verglich und hierarchisierte.113
letztendlich gewaltige Ausmaße angenommen: Erstere haben
So reflektierte der deutsche Philosoph und Dichter Friedrich
sich derart beschleunigt, dass sie Letztere schließlich über-
Schlegel 1795 über Geschichte sowie Raum und Zeit:
rollten, ja zunichtemachten. Kriege, die mit immer destrukti-
„Das eigentliche Problem der Geschichte ist die Ungleichheit
veren Waffen geführt werden, Umweltverschmutzung durch
der Fortschritte in den verschiedenen Bestandteilen der
Industrialisierung, Müll aus technischen Erfindungen usw.
gesamten menschlichen Bildung, besonders die große
bedrohen die Welt als Ganzes, angefangen mit der menschli-
Divergenz in dem Grade der intellektuellen und der
chen Spezies. Moral und Vernunft können potenziell einen
moralischen Bildung.“
Kurswechsel herbeiführen, allerdings macht ihre Langsamkeit,
114
Ein solches Urteil ist heutzutage nicht mehr rezipierbar, ent-
wie schon Kant feststellte, angesichts der Schnelligkeit des
sprach aber bis zur Dekolonisierung der vorherrschenden
technischen Fortschritts Handeln nahezu unmöglich. Unauf-
Meinung. Im 19. Jahrhundert unterschied Hegel noch zwischen
haltsam hat der technische Fortschritt, wie Goethes Zauber-
Gesellschaften mit und ohne Geschichte, ein Ansatz, den
lehrling, eine Eigendynamik entwickelt, sodass wir heute
Claude Lévi-Strauss zu Beginn der postkolonialen Phase hinter-
aufgehört haben, an den „Fortschritt“ zu glauben oder zumin-
fragte und diskreditierte. Ausgehend von der Tatsache, dass
dest auf ihn zu vertrauen.
der Gegensatz zwischen zwei Kulturen sich „zunächst aus einer
In einem Essay hat sich der französische Philosoph Raphaël
unterschiedlichen Scharfeinstellung zu ergeben“ scheint,
Enthoven mit dem Fortschrittsgedanken in unserer heutigen
führte der französische Ethnologe 1952 den Begriff der
Gesellschaft und den Endzeitvorstellungen beschäftigt. Dabei
„allgemeinen Relativitätstheorie“ ein (in Anlehnung an Einsteins
ordnet er die gegenwärtigen apokalyptischen Verkündungen
wissenschaftliche Zeit-Theorie).116 In seiner Kritik der ethno-
in den historischen Kontext ein und kommt insbesondere auf
zentrischen Perspektive kam er zu dem Schluss: „Die Geschicht-
Kants Text Das Ende aller Dinge zu sprechen. Wie er betont,
lichkeit oder, besser noch, der Ereignisreichtum einer Kultur
habe man solche Voraussagen schon immer für zwecklos gehal-
oder eines kulturellen Prozesses, ist also eine Funktion, nicht
ten: „All diesen vorauseilenden Ankündigungen ist gemeinsam,
ihrer objektiven Eigenschaften, sondern des Standorts, an
dass sie den moralischen Verfall bezeugen und folglich ‚alle
dem wir uns ihnen gegenüber befinden, und der Zahl und
von der schrecklichen Art‘ sind.“120 Enthoven kritisiert die
115
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Zeit: Beschleunigung
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heutigen Verkünder des „Weltendes“, die er dem Lager der
anderen Visionen mit ihrem starken Erneuerungsimpetus,
Konterrevolutionäre zuordnet:
denn sie eröffnen neue Denkfelder für eine auf andere Weise
„Die Millenaristen, die die Metapher vom Ende der Welt
„mögliche“ Welt. Sie begründen eine neue Ethik, die ihrer-
wörtlich nehmen, die Konterrevolutionäre von heute, die
seits eine neue Ästhetik hervorbringt, womit wir wieder bei
glauben, sie würden durch ihren Kampf gegen die Globali-
unserem Thema wären, der Architektur. Wie lässt sich die Ver-
sierung retten, was noch zu retten ist, und alle, die sich ein-
knüpfung von Architektur und Zeit präziser denken? Wie kann
bilden (weil es sie im Grunde beruhigt), die letzten Augen-
Zeit wahrgenommen und begriffen werden, und wie ist ihr
blicke eines noch menschlichen Zeitalters zu erleben und
Verhältnis zum Raum?
für die die Wendung ,alles hat ein Ende‘ nur ein anderer Ausdruck ist für ,alles geht verloren‘, erinnert die Lektüre
Subjektive Zeit
von Kant daran, dass der Nihilismus eine narzisstische Lei-
26
denschaft ist und dass es, solange jede Epoche Propheten
Kant zufolge sind Raum und Zeit keine Eigenschaften, die an
hervorbringt, die diese als Haufen Asche betrachten, nichts
Gegenständen haften, sondern Anschauungsformen: „Die Zeit
Neues unter der Sonne geben wird.“
ist kein diskursiver, oder, wie man ihn nennt, allgemeiner Be-
121
So kann man (radikal vereinfacht) sagen, dass es angesichts
griff, sondern eine reine Form der sinnlichen Anschauung.“122
von Krisen zwei Arten von Narrativen gibt, die jeweils ein an-
Er erläutert dies am Beispiel der Erfahrung, die wir beim
deres Ziel verfolgen. Während das apokalyptische Narrativ
Betrachten einer schönen Blumenwiese machen: „Ihre Ästhetik
das Augenmerk auf das Weltende richtet und dabei vor allem
soll uns aber lehren, daß Zeit und Raum bloß reine Formen
Angst schürt, versucht das andere Narrativ, die Welt mit einer
der sinnlichen Anschauung sind, daß sie außer diesen keine
neuen Vision von Gesellschaft und Politik zu „flicken“, so bei-
objektiven Bestimmungen der Dinge seyn können, und sie
spielsweise bei Thomas Piketty, der mit seinem Reformwillen
haben doch im Grunde nichts weiteres gezeigt, als daß wir
in die Nachfolge Kants gerückt werden kann.
eine Rezeptivität der äußeren und inneren Sinne haben.“123
Zur Erinnerung, Kant schrieb seinen Text, weil er die Reformen
Kant kommt zu dem Schluss: „Die Zeit ist eine notwendige
begrüßte, die sich die Französische Revolution auf die Fahnen
Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt. Man
geschrieben hatte, wobei „das Ende aller Dinge“ sich auf den
kann in Ansehung der Erscheinungen überhaupt die Zeit selbst
apokalyptischen „Hang“ der Konterrevolutionäre bezog, die
nicht aufheben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus
der Philosoph der Aufklärung ironisch kritisierte. In unserem
der Zeit wegnehmen kann.“124
heutigen Kontext bezieht sich „das Ende aller Dinge“ jedoch
Betrachten wir die Zeit also nicht als „objektive Zeit“, die in
nicht mehr auf eine sich vollziehende soziale Revolution, wie
messbare Einheiten unterteilt ist (die Zeit der Uhren), sondern
zu Kants Zeiten, sondern im Gegenteil auf ein Fehlen von Auf-
als subjektive Zeit, die wir wahrnehmen und erleben. Wie der
lehnung gegen die aktuelle Dynamik, die eine große ökologi-
französische Anthropologe Éric Chauvier treffend am Beispiel
sche und soziale Krise auszulösen droht. So sollte „das Ende
einer urbanen Peripherie dargelegt hat, ist Zeit lediglich das
aller Dinge“ heute ein Appell sein, sich gegen die Umweltzer-
flüchtige Wahrnehmen einer Empfindung, derer wir uns erst
störung und die soziale Ungerechtigkeit zu erheben.
bewusst werden, wenn die Zeit wie aufgehoben erscheint:
Es gilt also, zwischen diesen beiden Arten von Narrativen klar
„Ähnlich wie beim Erwachen aus einem bösen Traum wurde
zu unterscheiden. Während sich die einen auf die Frage des
uns klar, […], dass unsere Zeit im Takt des dahinfließenden
Zusammenbruchs beschränken, ohne Aussicht auf eine kultu-
Autoverkehrs verstrich […]. Gewiss, wir hatten Anhalts-
relle Renaissance, zeigen die anderen in konstruktiver Weise
punkte chronologischer Art, sie waren jedoch nur die
Perspektiven für die Schaffung einer besseren Gesellschaft
illusorische Oberfläche unserer Existenz. Viel tiefergehend
auf. Die nihilistischen Visionen treten nicht für eine Sache, für
wird unsere Zeit auf fast unbewusste Weise durch den Lärm
ein gerechteres und zukunftsfähiges Modell ein, sie sind nicht
der Autos zu den Stoßzeiten und die vollkommene Stille
konstruktiv, sondern fatalistisch, und der Kategorie der reli-
dazwischen, die sich über unsere Straße wie über eine
giösen Apokalypse zuzurechnen. Uns interessieren hier die
Beerdigung legt, getaktet.“125
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Anders als bei den Schwankungen des Alltagslebens, die fast
Gottheit personifiziert, die sich schnellfüßig fortbewegt und
neutral und kaum wahrnehmbar sind, verändert sich die Zeit-
mit spitzen Fingern eine Waage hält, die aus dem Gleichge-
wahrnehmung in Krisenzeiten deutlich: Die Zeit beschleunigt,
wicht geraten ist, als würde sie vom Sog der Geschwindigkeit
intensiviert und verdichtet sich. Die Ereignisse überstürzen
mitgerissen. Wenn Kairos vorbeirauscht, muss man ihn im
sich, jede neue Nachricht wird mit Spannung erwartet. Haben
richtigen Moment an den Haaren packen. Die Figur steht für
wir uns schließlich an die Situation gewöhnt, dehnt sich die
die Gelegenheit, die eine Situation wenden kann, wobei sie
Zeit und scheint unendlich; die Wochentage gehen nahtlos
über deren endgültigen Ausgang bestimmt (Leben oder Tod,
ineinander über, alles wirkt „zeitlos“ und die Zukunft erscheint
Sieg oder Niederlage); sie weist also auf die Bedingung für
als ein ferner Horizont (wie unsere jüngste Erfahrung mit den
den Erfolg einer Handlung. Kairos ist eine immaterielle zeitli-
Lockdowns gezeigt hat). Wenn es keine Zukunft mehr gibt,
che Dimension, die nicht mit Uhren gemessen wird, sondern
gibt es auch keine Gegenwart mehr. Das Warten macht die
mit dem Empfinden. Kairos unterscheidet sich damit von
gegenwärtige Zeit zunichte und sie treibt dahin.
chronos (dargestellt als bärtiger Greis), der die physikalische,
126
Krisen sensibilisieren unsere Zeitwahrnehmung, da sie einen
lineare, empirische Zeit verkörpert und den Wandel in der
Bruch im Zeitkontinuum bewirken. Sie ermöglichen eine Ver-
Welt bekundet, der sich in Vergangenheit, Gegenwart und
räumlichung der Welt, die dann ausgehend von den Bruch-
Zukunft gliedert. Während Chronos das Fließen der Zeit
stellen in spezifische Zeiteinheiten unterteilt wird. So strukturiert
repräsentiert, verleiht Kairos dem Augenblick Tiefe und
die Abfolge von Krisen die Welt und rhythmisiert die Zeit.
bewirkt eine andere Wahrnehmung der Welt, der Ereignisse,
Unser Krisenbewusstsein und unsere Krisenerfahrung impli-
der Dinge und des Einzelnen von sich selbst (eine Vorstellung,
zieren eine bestimmte Repräsentation der Zeit. Die Reaktionen
die in der Phänomenologie und insbesondere bei Martin
der Architekt:innen auf Krisen, die im zweiten Teil dieses Buches
Heidegger eine wichtige Bedeutung erlangt hat). In der
untersucht werden, zeugen ja gerade davon, wie sie die Zeit
Ästhetik ist Kairos „der für die Verwirklichung eines Werkes
im Verlauf einer Krise wahrnehmen; als Ausweg versuchen sie,
sich darbietende günstige Augenblick“.128
in die Zeit einzugreifen, indem sie „Gegenzeiten“ und „Gegen-
In seinem Buch Chronos – L’Occident aux prises avec le
räume“ entwerfen. In Phasen der Krise nutzen sie die Gunst
Temps zeigt François Hartog eine intrinsische Verflechtung
der Stunde, um die unerträglich gewordene gegenwärtige
zwischen Chronos, Kairos und Krisis auf. Kairos als Bezeichnung
Zeit zu verändern und „Gegenwelten“ zu erschaffen.
für einen entscheidenden Augenblick in einer unerwarteten Situation impliziert wie Krisis „einen Schnitt, einen Bruch im
Kairos, menschliches Handeln „zur rechten Zeit“
Raum-Zeit-Kontinuum“.129 Monique Trédé-Boulmer zufolge
In der griechischen Kultur gab es einen Zeitbegriff für das
verweist der Begriff Kairos „auf die Entstehung eines Diskonti-
Handeln in entscheidenden Momenten: kairos. Während der
nuums in einem Kontinuum, auf ein Durchstoßen der Zeit im
Kairos zu Homers Zeiten noch „einen neuralgischen Ort im
Raum“.130 In der Etymologie von Kairos und Krisis findet man
Körper, einen kritischen Punkt“ bezeichnete, änderte sich die
laut Hartog „den Akt des Schneidens, der sich in einer Art
Bedeutung des Begriffs mit dem Aufkommen der Geisteswis-
Kontraktion der Zeit äußert, in der Entstehung eines Davor
senschaften (Medizin, Politik, Rhetorik) im Griechenland des
und eines Danach“.131
5. Jahrhunderts v. Chr. und bezeichnete nun die günstige Ge-
Er veranschaulicht dies am Beispiel der Krankheit, die ein
legenheit. Es war die Epoche, in der die Griechen „versuchten,
„Krisendenken“ ist, da der Arzt mit seiner Prognose die
eine Kunst der Vorhersage und der Prognose zu entwickeln,
„kritischen Tage“ und ihre regelmäßige Wiederkehr erkennen
und in der Beherrschung des Kairos den Schlüssel zum Erfolg
muss. Unter dem scheinbaren Chaos der Krankheit ist eine
sahen“.
127
Seither ist Kairos die Zeit der günstigen Gelegenheit,
Ordnung verborgen, die das geübte Auge des Arztes aus-
die einmalig ist und nie wiederkehren wird. Dieser Begriff um-
machen muss: „eine zeitliche Ordnung. Erst dieses Vorgehen
fasst zwei Dimensionen, eine zeitliche und die des menschlichen
macht ihn handlungsfähig, indem er die ,günstigen Augenblicke‘
Handelns, das wirksam sein und „zur rechten Zeit“ erfolgen
(kairoi) für seinen Eingriff nutzt.“132
muss. In der Mythologie wurde Kairos als kleine geflügelte
Von besonderem Interesse ist hier also die Tatsache, dass die
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Zeit: Subjektive Zeit
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Handlung des „(Ab-)Schneidens“ etymologisch gesehen sowohl
Vier Figuren
der Krise als auch der Zeit innewohnt, insbesondere dem Kairos – wenn es darum geht, den günstigen Augenblick zu
Im Anschluss an diese Einleitung, die das theoretische Rüst-
ergreifen, in dem die Gefahr besteht, dass eine Situation kippt.
zeug für die Untersuchung der Fallbeispiele zur Verfügung
Welche Form ästhetischen und zeitlichen Handelns kann in
stellt, sollen die vier Figuren kurz in Erinnerung gerufen
der Architektur entstehen, um eine neue Weltbeziehung zu
werden, die mit unterschiedlichen zeitlichen Strategien und
skizzieren, eine Situation zu wenden? Wie kann die Zeit zum
den ihnen entsprechenden Handlungsmodi angesichts von
Instrument für ein Architekturprojekt werden? Betrachten wir
Krisen verbunden sind.
also menschliches Handeln und insbesondere das ästhetische Handeln der Architekt:innen in einer raumzeitlichen Dimension.
Figur 1. Angestrebt wird ein Sprung in Raum und Zeit in eine genügend weit zurückliegende Vergangenheit oder in einen
Tempus und Templum – Zerteilung von Raum und Zeit
urtümlichen „Naturzustand“ durch Rückbesinnung auf die
Die Zeit kann man nicht denken, man kann sie nur erfahren,
Arché (den Anfang oder das Urprinzip der Welt) und den
betonte Kant. Um ihrer Herr zu werden, zerteilen wir sie in
Archetypus (die Urform), um eine neue Zukunft zu eröffnen. Es
messbare und fassbare Einheiten und legen Epochen fest,
handelt sich um eine erneuernde Rückkehr zu früheren Zeiten.
etablieren Ordnungssysteme der Geschichtlichkeit.
> Kapitel 1: Archaismus: Sprung rückwärts in Raum und Zeit
Das lateinische Wort tempus für „Zeit“ bedeutet „Zeitabschnitt“, also eine Epoche, und leitet sich vom indoeuropäi-
Figur 2. Angestrebt wird eine Entschleunigung, eine Verlang-
schen tem („schneiden“) ab; auf Griechisch bedeutet auch
samung der Zeit durch die Abkehr vom herrschenden Fort-
temno „abschneiden“. Interessanterweise haben tempus und
schrittsgedanken, entweder gezwungenermaßen oder
templum etymologisch die gleiche Wurzel; diese bezeichnet,
aufgrund einer antizipierenden Entscheidung, um sich in einer
Catherine Malabou zufolge, eine bestimmte Art und Weise,
neuen Gesellschaftsform zu verankern, die agrarisch geprägt
„einen Raum und eine Zeitspanne in einem Sakralisierungs-
ist und auf kooperativen Modellen beruht, wo alles erst zu
vorgang von der natürlichen Welt zu trennen“;
133
das erste
erschaffen ist, meist von einem selbst.
templum war die Zerteilung des Himmels und des Bodens in
> Kapitel 2: Zurück zur Ländlichkeit: Streben nach
Abschnitte durch die Auguren. Tempus und templum entspre-
Entschleunigung
chen einer „Teilung, deren Grenzen mithilfe eines Stabes oder Zepters gezogen werden“.134 Zerteilen ist also ein künstlicher
Figur 3. Angestrebt wird eine Beschleunigung der Zeit,
Akt. So, wie das Zerteilen der Zeit uns ermöglicht, sie zu er-
um so schnell wie möglich den Untergang herbeizuführen, an
fassen, zu gliedern und vorstellbar zu machen, damit wir uns
den Nullpunkt zu gelangen, an dem alles neu beginnen kann,
orientieren können, so ermöglicht die Architektur, den Raum
nachdem Tabula rasa gemacht wurde. Der Handlungsmodus
zu strukturieren, indem sie ihn von der Welt abgrenzt und
wird vom Destruktionstrieb und dessen Sublimierung
abtrennt. In dieser Hinsicht können Architekturprojekte durch-
bestimmt, um eine neue Welt entwerfen zu können.
aus als eine Art „Tempel“ betrachtet werden, die sich des
> Kapitel 3: Schaffen durch Zerstören: Beschleunigung als
Raums bemächtigen, indem sie ihn zerteilen, um Parallelwelten
Mittel zum Zweck
zu erschaffen. – Und welches Verhältnis zur Zeit stellen sie
28
dabei her?
Figur 4. Angestrebt wird eine Aufhebung der gegenwärtigen
Um den Modus Operandi der „Zerteilung“ des Raums (und
Zeit, um sich in eine andere Zukunft zu projizieren, die fröhlich
der Welt) von Architekturprojekten zu verstehen, wird zunächst
und hoffnungsvoll sein soll. Verdrängung und Lebenstrieb
eine Zeiteinteilung („unsere eigene Uhr“) vorgeschlagen. Dafür
sind die treibenden Kräfte dieser Haltung, die eine neue, ver-
werden temporale Orientierungspunkte (verbunden mit be-
zauberte Welt zu entwerfen sucht.
stimmten Handlungsmodi) für jene Zäsurmomente konstruiert,
> Kapitel 4: Wiederverzauberung der Welt: Aufhebung der
die entstehen, wenn das Zeitkontinuum „in eine Krise gerät“.
Zeit durch einen Sprung in die Zukunft
Theoretische Rahmung
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Archaismus Sprung rückwärts in Raum und Zeit
Wiederverzauberung der Welt Aufhebung der Zeit durch einen Sprung in die Zukunft
Zurück zur Ländlichkeit Streben nach Entschleunigung
Schaffen durch Zerstören Beschleunigung als Mittel zum Zweck
Vier Figuren
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Anmerkungen 1 Blaise Pascal, Gedanken, a. d. Französ. v. Ulrich Kunzmann, Berlin 2012, 16 und 19 (Original: „Impossible de trouver une assiette ferme“, Manuskript erstellt zwischen 1656 und 1662, veröffentlicht in: Pensées, Paris 1670). 2 Bruno Latour, „Imaginer les gestes-barrières contre le retour à la production d’avant-crise“, in: AOC, 30.03.2020: https://aoc.media/opi nion/2020/03/29/imaginer-les-gestes-barrie res-contre-le-retour-a-la-production-davant crise/ (zuletzt aufgerufen am 14.11.2022). 3 Ebd. 4 Jacques Attali, Sept leçons de vie. Survivre aux crises, Paris 2010. 5 Thomas Piketty, Capital et idéologie, Paris 2019; dt. Ausgabe: Kapital und Ideologie, a. d. Französ. von André Hansen, Enrico Heinemann, Stefan Lorenzer, Ursel Schäfer und Nastasja S. Dressler, München 2020. Siehe vor allem den Vierten Teil „Neues Nachdenken über die Dimensionen des politischen Konflikts“, der eine egalitäre Gesellschaft skizziert (aber auch den Dritten Teil, der eine vergleichende Analyse von Gesellschaftsstrukturen im internationalen Kontext bietet). 6 Pablo Servigne, Raphaël Stevens, Comment tout peut s’effondrer, Paris 2015. 7 45 000 verkaufte Exemplare. 8 Servigne et al. 2015, 20. 9 Ebd., 15. 10 Siehe Pablo Servigne, Raphaël Stevens, Gauthier Chapelle, Une autre fin du monde est possible, Paris 2018, ihr zweites Buch, in dem sie den Begriff „Kollapsosophie“ prägen und das im Gegensatz zum ersten Buch eher philosophische Gedanken als eine wissenschaftliche Erklärung von Tatsachen enthält. Um uns auf eine ungewisse Zukunft vorzubereiten, die von einem unfreiwilligen Zurückschrauben unserer Lebensverhältnisse bestimmt sein wird, empfehlen die Autoren, zu antizipieren und nicht passiv darauf zu warten, bis „es passiert“, bis „es über uns hereinbricht“, zu einem Zeitpunkt, an dem es schon „zu spät“ sein wird. 11 Michaël Fœssel, Après la fin du monde. Critique de la raison apocalyptique, Paris 2012, Umschlagtext.
30
12 Ebd. 13 Ebd., siehe auch Michaël Fœssel, Nach dem Ende der Welt. Kritik der apokalyptischen Vernunft, a. d. Französ. von Brita Pohl, Wien/Berlin 2019, 23: „Die Hauptwirkung des Weltverlusts verortet sich jedoch anderswo als in der ,Erfahrungsarmut‘, die auf den Triumph von Technik und Kapital folgte. Angesichts des Risikos der Apokalypse ist die Versuchung groß, die Politik auf Maßnahmen zur Bewahrung des Lebens zu reduzieren.“ 14 Ebd. 15 Nachwort in: Fœssel 2012, 291. 16 Ebd., 305. 17 Denis Delbecq, „René Thom au point de non-retour“, in: Libération, Sciences, 31.10.2002: https://www.liberation.fr/sci ences/2002/10/31/rene-thom-au-point-denon-retour_420173 (zuletzt aufgerufen am 15.11.2022). 18 Siehe René Thom, Stabilité structurelle et morphogenèse (1972), Paris 1977. 19 Delbecq 2002. 20 Agnes Gayraud in einer Radiosendung von France Culture, Reihe „69, année philosophique“, Folge 2/4: „Adorno, mort d’un antimoderne“, 1.10. 2019: https://www.radio france.fr/franceculture/podcasts/les-cheminsde-la-philosophie/adorno-mort-d-un-antimoderne-5117463 (zuletzt aufgerufen am 3.1. 2023). „Adornos Denken dreht sich um die Frage der Kultur, die für ihn eine Ansammlung von Schlichtungsversuchen und Täuschungsmanövern ist. Das im Kern seiner Kulturkritik enthaltene Rätsel besteht in der Tatsache, dass man sich bewusst wird, dass Kultur eben dieses Sammelsurium von Täuschungen ist, und sich die Frage stellt: Warum fallen wir gerne darauf herein? Kultur ist die Art und Weise, wie eine Gesellschaft sich selbst darstellt, und die Gesamtheit der sedimentierten Formen, die diese Darstellungen ihrer selbst veranschaulichen, eine Art Kruste über der Welt, eine Schicht, die abzukratzen wäre, unter der aber nichts ist.“ 21 Ebd.: „[…] was sich eben zeigt, ist die Kultur: die Verrußung der Welt und der Dinge durch die Geschichte, durch Reden, Geschwätz und Repräsentationen […].“ 22 Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst („Begrebet Angest“, 1844), in: Gesammelte
Werke, Bd. 7, 11/12, Regensburg 1952, 161. 23 Pierre-Henri Castel, Effondrement: 2019 ou la fin des temps?, Radiosendung von France Culture: L’Invité(e) des Matins, Moderator: Guillaume Erner, 31.12.2018: https://www. radiofrance.fr/franceculture/podcasts/linvite-e-des-matins/effondrement-2019-ou-lafin-des-temps-2355938 (zuletzt aufgerufen am 3.1.2023). 24 Bruno Latour, Où atterrir? Comment s’orienter en politique, Paris 2017; deutsch: Das terrestrische Manifest, a. d. Französ. von Bernd Schwibs, Berlin 2018. 25 Castel 2019. 26 Frédéric Manzani, Le Mal qui vient, in: Philosophie Magazine, 31.8. 2018: https://www.philomag.com/les-livres/lessaidu-mois/le-mal-qui-vient-36181 (zuletzt aufgerufen am 16.11. 2022). 27 Pierre-Henri Castel, Le Mal qui vient. Essai hâtif sur la fin des temps, Paris 2018, 20. 28 Castel 2019. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Pierre-Henri Castel, Pollution, inondations, contaminations: comment vivre avec la peur?, Radiosendung von France Culture: L’Invité(e) des Matins, Moderator: Guillaume Erner, 28.10.2019: https://www.franceculture.fr/emis sions/linvite-des-matins/pollution-inondationscontaminations-comment-vivre-avec-la-peur (zuletzt aufgerufen am 3.1. 2023). 34 Ebd. 35 Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips (1920), in: Gesammelte Werke XIII, Frankfurt a. M. 1940, 4– 69, hier 23. 36 Sigmund Freud, „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ (1915), in: Ders., Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 2009, 133 – 161, hier Kap. I „Die Enttäuschung des Krieges“, 135. 37 Ebd., Kap. II „Unser Verhältnis zum Tode“, 158. 38 Ebd., 158. 39 Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips (1920), in: Gesammelte Werke XIII, Frankfurt a. M. 1940, 4– 69, hier 23. 40 Ebd., Kap. III, 16 (Hervorh. im Original). 41 Ebd., 21.
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42 Ebd. 43 Ebd., 22. 44 Freud, Das Unbehagen in der Kultur 2009, Kap. VI, 82. 45 Der Lebenstrieb äußert sich im Narzissmus und in der Objektliebe. 46 Insbesondere „Jenseits des Lustprinzips“ (1920). 47 Freud 2009, Kap. III, 55f. 48 Ebd., 63. 49 Ebd., Kap. VII, 91. 50 Ebd., Kap. III, 62: „Die Kulturentwicklung erscheint uns als ein eigenartiger Prozeß, der über die Menschheit abläuft, an dem uns manches wie vertraut anmutet.“ 51 Ebd., Kap. VI, 85: „Wir fügen hinzu, sie sei ein Prozeß im Dienste des Eros, der vereinzelte menschliche Individuen, später Familien, dann Stämme, Völker, Nationen zu einer großen Einheit, der Menschheit, zusammenfassen wolle.“ 52 Hartmut Rosa, Quelles relations aux autres dans la société moderne?, Radiosendung von France Culture, 26.9.2018: https://www.franceculture.fr/emissions/la-grande-table-2eme-par tie/quelles-relations-aux-autres-dans-la-so ciete-moderne (zuletzt aufgerufen am 3.1.2023). 53 Ebd. 54 Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2019 (hier 6. Aufl., 2022), 472f. 55 Ebd., 473. 56 Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, 37 (zit. nach Rosa 2022, ebd., 478; Hervorh. im Original). 57 Rosa 2022, 479. 58 Ebd., 482 (Hervorh. im Original). 59 Ebd., 483. 60 Ebd. 61 Siehe Gernot Böhme, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001: https://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/ object/display/bsb00043538_00009.html? contextSort=sortKey%2Cdescending&con textRows=10&context=sinnlicher&zoom=1.00 (zuletzt aufgerufen am 17.11.2022). 62 Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, hg. von Maria Muhle, a. d. Französ.
Anmerkungen zu Seite 15 – 22
von Maria Muhle sowie Susanne Leeb und Jürgen Link, 2., durchgesehene Aufl., Berlin 2008, 23 (https://www.geisteswissenschaften. fuberlin.de/v/interart/media/dokumente/ober seminar/ranciere_aufteilung_des_sinnlichen. pdf). 63 Ebd., 69 (Hervorh. im Original). 64 Ebd., 28. 65 Ebd., 40f. 66 Ebd., 43. 67 Ebd., 43 (Hervorh. im Original). 68 Ebd., 61 (Korrektur der Übersetzung „Das Reale muss zur Dichtung werden, damit es gedacht werden kann.“ durch die Autorin). 69 Definition im Larousse: https://www.la rousse.fr/dictionnaires/francais/rituel/69584 (zuletzt aufgerufen am 10.1. 2023). 70 Zum Beispiel: Jeden Morgen um 7 Uhr steht Herr X auf, betrachtet die Straße aus dem Fenster und weckt seine Frau erst, nachdem er seinen Kaffee getrunken hat. 71 Nietzsche schrieb dieses Werk während des Deutsch-Französischen Krieges von 1870 bis 1871, in dem er als freiwilliger Sanitäter diente, bis er an Diphtherie erkrankte. Danach zog er sich in die Schweizer Berge zurück, um über die griechische Tragödie zu sinnieren. 72 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Schriften, „Die Geburt des tragischen Gedankens“ (1870), in: Ders., Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, Bd. 1, München, Berlin, New York 1980, 582f. 73 Stichwort „crisis“, in: Bailly, Wörterbuch Griechisch–Französisch (1894), Paris 1935, 1137, Sp. I–II. 74 Stichwort „crisis“, in: Gaffiot, Wörterbuch Lateinisch–Französisch, Paris 1934, 443. 75 Definitionen von „Katastrophe“ und „Strophe“, in: Duden, Bd. 7: Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, Mannheim u. a. 2001. 76 Stichwort „exfundatus“, in: Gaffiot, S. 624, Sp. I. 77 Stichwort „prolabor“, in: Gaffiot, S. 1251, Sp. III. 78 Stichwort „apocalypse“, in: Bailly 1934, S. 226, Sp. II. 79 Die Bibel (Lutherbibel 2017), Offenbarung 10,6. 80 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Berlin 1989 (12. Aufl. 2022). 81 Ebd., 315.
82 Nicolaus von Cues, in: ebd., 315 (zit. nach Karl Borinski, Die Wiedergeburtsidee in den neueren Zeiten, München 1919, 112. 83 Koselleck 1989, 361. 84 Ebd., 362. 85 Ebd., 315. 86 Ebd., 362. 87 Stichwort „progrès“, in: Dictionnaire étymologique CNRTL des CNRS (Centre national de la recherche scientifique): „1588 ,stufenweise Transformation zum Besseren‘ (Montaigne, Essais, II, 12, éd. P. Villey et V.-L. Saulnier, p. 497: le progrez de ses estudes)“: https://www.cnrtl.fr/etymologie/progrès (zuletzt aufgerufen am 21.11. 2022). Diese Definition von Fortschritt des CNRS basiert auf der Interpretation eines Essays von Montaigne, der im Zusammenhang mit Sextius hervorhebt, dass man durch den Erwerb von Wissen, insbesondere durch das Studium der Philosophie, den Tod vermeiden kann: „Krates seinerseits sagte, die Liebe werde wenn nicht durch die Zeit, so durch Hunger geheilt; für den aber, dem beides nicht gefiele, wiederum durch den Strick. Jener Sextius, von dem Seneca und Plutarch mit so großer Hochachtung sprechen, stürzte sich derart eifrig ins Studium der Philosophie, daß er alle andren Dinge aufgab; als er jedoch merkte, wie er hiermit zu langsam vorankam und in Verzug geriet, beschloß er, sich ins Meer zu stürzen: Da ihm das Wissen unerreichbar blieb, wählte er den Tod.“ (Montaigne, Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt a. M. 1998, 247). 88 Montaigne, ebd., 218: „Das Unterscheidungsmerkmal der Wahrheit unseres Glaubens aber müßte unsre Tugend sein, wie Tugend das himmlischste, freilich auch am schwersten zu erlangende Unterscheidungsmerkmal und würdigste Werk der Wahrheit überhaupt ist.“ 89 Gottfried Wilhelm Leibniz, De rerum originatione radicali (1697), in: Opera philosophica, Berlin 1840, 150 (zit. nach Koselleck 1989, 362). 90 Koselleck 1989, 362. 91 Ebd., 366. 92 Siehe Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795), in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin/Leipzig 1912, 341–386.
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93 Chris Harman, Une histoire populaire de l’humanité, Paris 2011, 336. 94 Die Bibel (Lutherbibel 2017), Offenbarung 10,6. 95 Immanuel Kant, Das Ende aller Dinge (1794), in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, 325–339, hier 333. 96 Ebd., 328. 97 Vgl. Fœssel 2019: Das Ende der Zeit versetzt die sinnlich wahrnehmbare Welt in einen Schwebezustand und bedeutet das Ende der sinnhaften Dinge. 98 Kant 1912, 330. 99 Ebd., 330f. 100 Ebd. 101 Ebd., 327. 102 Ebd. 103 Ebd., 332. 104 Ebd. 105 Ebd. 106 Koselleck 1989, 365. Hier bezieht er sich auf Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Kant’s gesammelte Schriften, 1. Abt. Werke, Bd. 7, Berlin 1907, § 4 und 7, 88 (Hervorh. bei Koselleck). 107 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795), Stuttgart 1984, 56. 108 Ludwig Büchner, Der Fortschritt in Natur und Geschichte im Lichte der Darwin’schen Theorie, Stuttgart 1884, 30 (zit. nach Koselleck 1989, 368). 109 Ebd., 34 (zit. nach Koselleck 1989, 368). 110 Johann Gottfried Herder, Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft (1799), Berlin 1955, 68 (zit. nach Koselleck 1989, 323). 111 Alphonse de Lamartine, Geschichte der Restauration, Bd. 1 (1853), a. d. Französ. von Theodor Roth, Stuttgart 1851, 5. 112 Ebd., 5. 113 Vgl. Koselleck 1989, 322. 114 Friedrich Schlegel, Condorcets „Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain“ (1795), in: Ders., Kritische Schriften, München 1964, 236 (zit. nach Koselleck 1989, 363). 115 Claude Lévi-Strauss, Rasse und Geschichte (Race et histoire, 1952), a. d. Französ. von Traugott König, Frankfurt a. M. 1972, 37. 116 Ebd., 38. 117 Ebd., 36 (Hervorh. im Original). 118 Vgl. François Hartog, Régimes d’historicité:
32
Présentisme et expériences du temps (2003), Paris 2012. 119 Kant 1912, 332. 120 Vgl. Raphaël Enthoven, L’Apocalypse en 1794, in: Philosophie magazine, Nr. 66, Februar 2013, 24 (Hervorh. im Original). 121 Ebd. 122 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft 1 (Erste Fassung 1781) (= Werkausgabe Bd. III, hg. von Wilhelm Weischedel), Frankfurt a. M. 1992, Kap. „Der transzendentalen Ästhetik“, Zweiter Abschnitt: „Von der Zeit“, § 4, 79. 123 Immanuel Kant, Kritische Briefe an Herrn Immanuel Kant, über seine Kritik der reinen Vernunft, Göttingen 1790, 202. 124 Kant 1992, 78. 125 Éric Chauvier, Contre Télérama, Paris 2011. 126 Vgl. Stéphane Audoin-Rouzeau, Il y a un imaginaire de fin de guerre qui, avec la crise du Covid -19, n’arrivera jamais, Radiosendung von France Culture, 15. 4.2020: https://www.franceculture.fr/emissions/linvitedes-matins/stephane-audoin-rouzeau-est-lin vite-des-matins (zuletzt aufgerufen am 10.1.2023). 127 Monique Trédé-Boulmer, Kairos. L’à-propos et l’occasion, Paris 1992, Umschlagtext. 128 Patrice Guillamaud, L’essence du kairos, in: Revue des Études Anciennes, Vol. 90, Nr. 3– 4, 1988, 359– 371, hier 359. 129 François Hartog, Chronos – L’Occident aux prises avec le Temps, Paris 2020, 22f. 130 Trédé-Boulmer 1992, 54. 131 Hartog 2020, 25. – Stichwort „καιρός“, in: Pierre Chantraine, Dictionnaire étymologique de la langue grecque, Paris 1968, S. 480, Sp. I– II. Chantraine weist auf die zweifelhafte Etymologie des Wortes hin und bezieht sich auf die Forschungen des deutschen Philologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: „Wilamowitz hebt den Begriff des entscheidenden Augenblicks, der eine Grenze markiert, hervor und erwähnt in diesem Zusammenhang κείρω, ‚abschneiden‘. Hermès 15, 1880, p. 506 sqq.“ 132 Ebd., 26. 133 Catherine Malabou, Le temps. Notions Philosophiques, Paris 1996, 7f. 134 Ebd.
Anmerkungen zu Seite 22 – 28
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Architektur in Zeiten der Krise Architektur ist kultisch, sie ist Mal, Symbol, Zeichen, Expression. […] Architektur ist Konditionierung eines psychologischen Zustandes. Hans Hollein, Alles ist Architektur, 1967
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Charles de Wailly, Projekt für die Umgestaltung des Panthéons in eine Pyramide, Paris, um 1797, Perspektive, Feder und Tinte, lavierte Tinte mit Spuren von Graphit auf Papier, auf Karton montiert
1Archaismus Sprung rückwärts in Raum und Zeit Zeit: ein Sprung in Raum und Zeit, um einen Kurswechsel zu vollziehen Psychologie: Rückkehr zum Archetypus unter Bezugnahme auf eine frühere Kultur Modus Operandi: Reduzierung der Materialien, Verwendung von Urformen
Der Modus Operandi der Ästhetik, wie sie in der theoretischen
der Zeit und der Sprache“; bei diesem Vorgang dient die
Rahmung dargelegt wurde, vollzieht sich im nun folgenden
Apokalypse mit dem Bild der Wüste oder des Gartens „der
Kapitel in einem Sprung in Raum und Zeit. Die Rückbesinnung
Entstehung einer neuen Zeitlichkeit, die das Archaische zum
auf eine Epoche, die weit genug zurückliegt, um Abstand zur
Hauptmodus der Erfassung und Identifikation mit der Zeit
Jetztzeit zu gewinnen und somit eine andere Weltbeziehung
erhebt“.3 Wie zeigt sich diese „Rückkehr“ in der Architektur,
aufzubauen, erfolgt durch einen beabsichtigten Kurswechsel.
und inwiefern trägt sie dazu bei, eine neue Zukunft zu denken?
Es ist eine idealisierte „Rückkehr zu den Wurzeln“, eine Projek-
Wie können eine neue Formensprache und eine neue Ästhetik
tion in eine frühere Epoche, deren Ästhetik wiederverwendet
erschaffen werden, wenn Architekt:innen aus der Vergangenheit
wird, um ein neues politisches, kulturelles und gesellschaftliches
schöpfen? Auf welche Vorbilder stützen sie sich dabei, und wie
Ideal zu konstruieren. In diesem Kapitel geht es um die Neu-
kann dadurch die gegenwärtige Zeit initialisiert werden?
erfindung einer Sprache, eines Vokabulars, eines kulturellen Codes, die ein neues Zeitalter einläuten, indem sie aus dem
Archetypus
Urprinzip der Welt – arché – schöpfen. Unter Bezugnahme
In ihrer raumzeitlichen Dynamik rekurriert die Ästhetik auf
auf die griechischen Philosophen definierte Hannah Arendt
den Archetypus (von griech. archétypon „zuerst geprägt;
die Arché als „einen Anfang, der selbst nicht anfängt, eine
Urbild“),4 der in der Philosophie ein ideales (allgemeines)
dauernde Quelle des Entstehens“.1 Aus dieser Urquelle des
Modell ist, von dem ausgehend die Form, der Stoff und
potenziellen Werdens schöpfen Architekt:innen und Künst-
der Zweck eines Themas, das gleichsam zu einer Serie
ler:innen ihre Schaffenskraft. Chris Younès nennt sie eine
gehört, konstituiert werden. Bei den Empirikern ist der
sprudelnde „source-ressource“, Quelle und Ressource in
Archetypus eine „Grundempfindung, die psychologisch als
einem. Philippe Potié geht auf den Zeitfaktor ein und beschreibt
Ausgangspunkt dient, um ein Bild zu konstruieren“.5
den „Archaismus“ treffend als „einen Ort der Initialisierung
Gemäß der Theorie der Analytischen Psychologie von C. G. Jung
2
Anmerkungen Seite 60
Sprung rückwärts in Raum und Zeit
35
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sind „Archetypen die instinktiven Formen mentaler Reprä-
Inhalt transportieren. Der beste Träger ist zu diesem Zweck
sentation“, die der menschlichen Erfahrung a priori zugrunde
auch der einfachste:
6
liegen, indem sie die Denk- und Vorstellungsmuster konditio-
„In Mythen, Legenden und allen anderen elaborierten
nieren. Es sind also leere Vorformen, die das Instinkt- und
mythologischen Stoffen gelangt man an die Grundstrukturen
Geistesleben organisieren und mentale Bilder (Gedanken,
der menschlichen Psyche nur durch eine sie bedeckende
Fantasien, Träume usw.) nach ihren je eigenen Dynamiken
Schicht mit Kulturelementen. Märchen hingegen enthalten
strukturieren. C. G. Jung sah in den Mythen einen Zugangs-
weitaus weniger spezifisches, bewusstes Kulturmaterial
weg zu den kulturellen Archetypen. In einem Brief an Sigmund
und spiegeln deshalb die Grundstrukturen der Psyche
Freud (der als Antwort auf Jungs Theorie der unzähligen Arche-
klarer wider.“10
typen den Begriff der „Urphantasien“ prägte, die lediglich das
Die „Schicht mit Kulturelementen“ stört C. G. Jung bei der
intrauterine Leben, die „Urszene“ bzw. den elterlichen Koitus,
Entzifferung der Grundstrukturen der menschlichen Psyche,
die Verführung und die Kastration umfassen) pochte Jung auf
da sie diese überlagert und verkompliziert, während Märchen
7
seine Kulturtheorie: „Das Letzte der Neurose und der Psychose
sich aufgrund ihrer offenkundigen Schlichtheit wesentlich
werden wir ohne Mythologie und Kulturgeschichte nicht lösen.“
besser dafür eignen.
Von besonderem Interesse ist hier die Verbindung zwischen
Gilt das auch für die Architekturformen? Diese Analyse soll
Archetypus (als Repräsentationsform), Psychologie und Kultur-
uns als Schlüssel zum Verständnis der Werke dienen: Die
8
36
geschichte, geht es doch darum, die Entstehung eines Werkes
Archetypen, auf denen sich ein Werk stützen kann, sind –
mit archetypischen Zügen in einem Kontext des Umbruchs zu
samt all der darin enthaltenen Symbolik – umso leichter zu
verstehen, wenn Kultur, Gesellschaft und Umwelt in eine Krise
erkennen, je reduzierter und schlichter die Formensprache
geraten, die eine ontologische und im Grunde genommen
ist. Tatsächlich greifen Werke, die entstehen, wenn gesell-
auch eine psychologische ist. Welche Träume lassen sich durch
schaftliche Werte in eine Krise geraten, häufig auf Archetypen
den Rückgriff auf den Archetypus einer früheren Kultur herbei-
zurück, so jedenfalls meine Hypothese, um an eine ideali-
rufen? Welche Symbolik transportiert er?
sierte frühere Kultur anzuknüpfen. Auf diese Weise wird die
Kehren wir zu C. G. Jung zurück, um mehr darüber zu erfahren.
Gegenwart in der Schwebe gehalten und erfährt eine
Seiner Theorie zufolge neigt die menschliche Psyche überall
Erneuerung durch die Vergangenheit. Der Archetypus dient
dazu, auf ein und dieselbe a priori vorgegebene Repräsenta-
dann dazu, die symbolischen Kategorien zu reaktivieren, die
tionsform zurückzugreifen, und wird vom Universalthema
Kulturen Struktur verleihen, und sich Letztere (wieder) anzu-
strukturiert, das sie in sich birgt. Dieses Thema, das allen
eignen, indem die bis dahin gültigen Werte durch andere er-
menschlichen Kulturen und allen geschichtlichen Epochen,
setzt werden. Durch einen solchen raumzeitlichen Eingriff
trotz der Unterschiede in der symbolischen Darstellung,
lassen sich die ontologischen Werte einer Gesellschaft verän-
gemeinsam ist, generiert das kollektive Unbewusste. Die
dern. Der Archetypus dient als Werkzeug für eine Kultur-
Archetypen treten in Mythen und Träumen zutage und bilden
und Gesellschaftskritik, indem er aus Mythen, Symboliken
symbolische Kategorien, die Kulturen Struktur verleihen. In
und a priori vorgegebenen Repräsentationsformen schöpft.
einer offenkundigen Schlichtheit verbinden sie ein Symbol
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Archetypen starr sind,
mit einer Emotion.
im Gegenteil, wie C. G. Jung bemerkt: Die „archetypischen
„Die Archetypen werden [in den Märchen] in ihrer
Formen [sind] nicht bloss statische Muster […], sondern dyna-
einfachsten, schlichtesten und prägnantesten Form
mische Faktoren, die sich ebenso spontan wie die Instinkte
dargestellt. In dieser reinen Form liefern uns die arche-
in Impulsen äussern.“11
typischen Bilder die besten Schlüssel zum Verständnis der
Dieser Aspekt verleiht ihnen etwas Lebendiges, sodass sie
Prozesse, die in der Kollektivpsyche ablaufen.“
jederzeit reaktiviert und unbegrenzt wiederverwendet
9
An dem Archetypus-Begriff von C. G. Jung ist besonders
werden können. Die Besonderheit des Archetypus ist
interessant, dass das Wesentliche auf ein Bild oder eine
gerade seine Zeitlosigkeit: Er ist immer da und ist schon
Form reduziert wird, die einen symbolischen und kulturellen
immer dagewesen, er ist außerhalb der Zeit.
Archaismus
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Welche Archetypen wurden wann in der Geschichte und
Gesellschaft aufzubauen. Hier transportiert die Ästhetik auf ko-
zu welchem Zweck bemüht?
difizierte Weise eine politische und gesellschaftliche Bot-
Die raumzeitlichen Rückbesinnungsvorgänge setzen Dynami-
schaft. Die Verwendung antiker Archetypen bietet die
ken in Gang, die der bis dahin vorherrschenden Ästhetik zu-
Möglichkeit, eine zuvor unmögliche, neue Form der Resonanz
widerlaufen. Davon zeugen die nach Platons Vorbild abge-
einzuführen, kraft derer die Bürger:innen in einer humanisti-
haltenen Gastmahle in der Renaissance, die durch Rückgriff
schen Gesellschaft nun „die Welt berühren“ können.12 Im
auf die Antike einen Kontrapunkt zur damaligen politischen
Mittelalter wurden die „vertikalen Resonanzachsen“ (nach
Lage setzten, die von endlosen Kriegen und Lagerkämpfen
Hartmut Rosa die Beziehungen zu Ideen und einem
geprägt war. Dante, der selbst im Exil lebte, beschreibt dies
Absoluten in den Bereichen Natur, Religion, Kunst und
anschaulich in seiner Reise durch die Hölle, an deren Rand er,
Geschichte) weitestgehend von der Religion vereinnahmt.
geführt von dem Dichter Vergil Sokrates, Platon, Euklid und viele andere griechische Philosophen antrifft. Das Streben nach Erneuerung unter Rückbesinnung auf eine frühere Epoche wie die Antike findet seinen Ausdruck in Botticellis Gemälde Die Geburt der Venus, in dem die Liebesgöttin mit einer magischen, gleichsam schwebenden Zartheit ein neues Zeitalter ankündigt. Botticellis Gemälde revolutionierte die mittelalterliche Malerei ebenso wie die Darstellung der Idealstadt, mit der die Perspektive in die Malerei eingeführt wurde. Der Rückgriff auf antike Quellen ermöglicht es, das Pendel auf null einzustellen.
Sandro Botticelli, Die Geburt der Venus, um 1484/1485, Tempera auf Leinwand
Die Rolle der Ästhetik besteht nun darin, diesem neuen intellektuellen Impuls, der die philo-
In der Renaissance weiteten sie sich auf die Bereiche der
sophische und politische Reflexion der Bürger:innen anregt,
Kunst, Architektur und Philosophie aus. Die neue Greifbarkeit
Gestalt zu verleihen. Ein Impuls, der in der zerbrechlichen
der Welt, in der der Mensch nun denken und handeln konnte,
Frische der Venus ebenso wiederzufinden ist wie in der römisch
spiegelt sich in Bildern wider, die den „neuen Wind“ (den
inspirierten Rotunde, die in einem dynamischen Raum zu
Zephir buchstäblich verkörpert) zum Ausdruck bringen. Der
schweben scheint und gleichsam der Zeit enthoben das Zentrum
Lebenstrieb bricht sich Bahn und vertreibt die Finsternis
einer menschenleeren Stadt bildet, die im Werden begriffen ist
der überkommenen Epoche.
und erst noch gebaut werden muss. In einem solchen Moment
Seit der Renaissance ist der fiktionale Modus der Verankerung
der Aufhebung der Zeit lässt die Ästhetik die Archetypen
in einer früheren Epoche ein wiederkehrendes Phänomen in
einer weit zurückliegenden Epoche aufleben, um die Menschen
krisenbedingten Kippmomenten, auch wenn die Ästhetik und
zu berühren, indem sie ihnen (wie Zephir der Venus) eine be-
die symbolische Dimension je nach Epoche variieren können.
lebende Regung einhaucht, die sie dazu antreibt, eine bessere
Anmerkungen Seite 60
Sprung rückwärts in Raum und Zeit
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Luciano Laurana (vormals zugeschrieben), Idealstadt, um 1480/1490, Öl auf Holztafel
„Initialisierung“ der Sprache
der unter der Schreckensherrschaft seinen Höhepunkt erreichte, durch ein neues Kultur- und Symbolprogramm subli-
Nehmen wir als Beispiel die Französische Revolution. Sie
miert (in höhere Sphären erhoben) wurde. Zu diesem Zweck
markierte das „Ende einer Welt“, wie Kant es formulierte,
wurde im Jahr II der Republik (22. September 1793 bis
indem sie eine neue Regierungsform einführte, die auf den
21. September 1794) ein Wettbewerb ausgelobt, dessen
Werten der Aufklärung beruhte. Welche Ästhetik entstand in
ehrgeiziges Programm die Schaffung von Revolutionszeremo-
diesem radikalen Übergangsstadium vom Absolutismus zur
nien und -festen sowie neuer Institutionen und Denkmäler für
Volkssouveränität, als sogar die Zeitrechnung auf null gestellt
die Republik vorsah, um die alten zu ersetzen. Dieser Wende-
wurde (der neue Kalender begann mit der Gründung der
punkt war mit der Rückkehr archaischer Formen verbunden.
Republik im September 1792 mit dem Jahr I), und wie vermit-
Das zeigt unter anderem der Entwurf von Charles de Wailly,
telte sie die neuen Werte? Auf welche Epoche, welche Kultur,
der 1797 im Rahmen einer Ausschreibung für die Sicherung
welche Mythen und Riten stützte sie sich?
der Kuppel des Panthéon vorschlug, eine Pyramide in die
Nach der massiven Zerstörung königlicher und kirchlicher
ehemalige Kirche einzufügen, um sie dem Zeitgeschmack an-
Denkmäler ergab sich die zwingende Notwendigkeit, neue
zupassen und ihr die fehlende statische Stabilität zu verleihen.
Symbole für die aufstrebende Republik einzuführen. Aus
Ägyptische Formen waren auch in den Entwürfen für den
psychoanalytischer Sicht ließe sich die Hypothese aufstellen,
Wettbewerb des Jahres II stark vertreten. Zu den zahlreichen
dass der Destruktionstrieb (zusammen mit dem Todestrieb),
Vorhaben zählte auch ein republikanisches Denkmal als Ersatz für das Reiterstandbild Ludwig XIV. auf der Place des Victoires. Den Zuschlag bekam der Architekt Sobre für seinen von Elefanten gestützten Obelisken, der mit nach dem Vorbild ägyptischer Hieroglyphen flach eingravierten Allegorien verziert war und von einer Freiheitsstatue gekrönt wurde.13 Durch das Aufgreifen des ägyptischen Stils erhielt der Zeitfaktor eine wichtige Bedeutung, da man sich auf diese Weise in eine frühere Epoche zurückversetzen konnte. Dieses ästhetische Vorgehen ging mit einem politischen Programm einher: Jene Intellektuellen, die meinten, dass Frankreich dem ägyptischen Volk die Aufklärung nahebringen und es von den Mamelucken befreien sollte, betrachteten Ägypten nun als „Wiege der westlichen Zivilisation“. Diese Art von Verankerung an einem fernen Ort und in einer fernen Epoche funktioniert
Architekten Legrand und Molinos, Entwurf für einen Nationalzirkus auf der Place des Invalides in Paris, 1791
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Archaismus
wie ein Archetypus im Sinne C. G. Jungs und eröffnet die
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Möglichkeit, eine Gesellschaft von Grund auf neu aufzubauen.
Republik und die Nationalfeiertage im Winter mit staatsbürger-
Bei einem so radikalen Umsturz, der nicht nur die Politik und
lichen und kämpferischen Liedern zu feiern“.15 Die alten Kultur-
die Staatsführung tangiert, sondern auch Ethik und Moral,
denkmäler sollten neuen Symbolen und Ritualen weichen, die
Religion und Ontologie, spielen Rituale eine wesentliche
zur Konsolidierung der jungen Republik beitragen konnten.
Rolle: Die emotionale Funktion der Kirche wurde von säkularen
Solche Umdeutungen von Ritualen, wozu auch gehörte, dass
Festen abgelöst, die auf die neuen Ideale von Freiheit,
Opernarien durch Revolutionslieder ersetzt wurden, scheinen
Gleichheit und Gerechtigkeit (sporadisch anstelle der Brüder-
bei der „Sublimierung“16 der Politik der Schreckensherrschaft
lichkeit) ausgerichtet waren. Zahlreiche Bauvorhaben sollten
eine wesentliche Rolle gespielt zu haben, dadurch dass der
die republikanischen Feste in Szene setzen, und so entwarfen
Destruktionstrieb mit dem Festritual (nach dionysischem
die Architekten riesige Arenen, um ihnen einen geeigneten
Muster) auf ein höheres Ziel umgelenkt wurde.
Rahmen zu bieten.
Hatte das Programm der neuen Bauvorhaben bis 1792 im
So sah eine Verordnung vom 5 floréal an II (24. April 1794)
Wesentlichen die Republik und die Freiheit zum Gegenstand
den Umbau der Oper der Königlichen Musikakademie (ein
(wie zahlreiche Vorschläge für die Nationalversammlung und
wichtiges Symbol der Kultur des Ancien Régime), die damals
die Place de la Bastille belegen), verlagerte sich mit dem Er-
am Boulevard Saint Martin untergebracht war, in eine über-
starken des linken Flügels innerhalb der Revolutionsbewegung
dachte Arena vor, „die dazu bestimmt ist, die Triumphe der
sein Schwerpunkt immer mehr in Richtung republikanische
14
Tugend und Gleichheit.17 In dieser Dynamik spielte der Politiker und Kupferstecher Sergent-Marceau, der als Abgeordneter im Nationalkonvent in der Fraktion der Montagnards saß und Mitglied des Überwachungsausschusses war,18 eine wichtige Rolle. Der glühende Revolutionär war in die Massaker vom September 1792 verwickelt.19 Seine Unterschrift steht unter einem Rundschreiben, in dem er diese Taten rechtfertigt (was man ihm später zum Vorwurf machte): „[…] Die Pariser Kommune beeilt sich, ihre Brüder in allen Departements darüber in Kenntnis zu setzen, dass ein Teil der in ihren Gefängnissen festgesetzten wilden Verschwörer vom Volk getötet worden ist. […] Zweifellos wird die ganze Nation […] sich schon bald dieses für das Wohl der Allgemeinheit so notwendigen Mittels bedienen.“20 Im Oktober 1792 wurde Sergent-Marceau zum stellvertretenden Leiter der „Kommission zur Erhaltung der künstlerischen Denkmäler“ nominiert, deren Aufgabe es war, die von den revolutionären Tumulten bedrohten Meisterwerke in Museen zu verwahren und die historischen Baudenkmäler vor Vandalismus zu schützen. In dieser Funktion schlug er am 7. Oktober 1793 vor,21 man möge „den Konvent bitten, dass ein Tempel für die Gleichheit und einer für die Freiheit errichtet werde und dass die Bildprogramme zugleich als ornamentaler Schmuck für diese beiden […] dienen. Ich weise darauf hin, dass es nur recht ist, wenn die Nation, die dafür zahlt, sich auch daran erfreuen kann. […] Das wird ein neues Schauspiel sein, für das Universum, Architekt Sobre, Entwurf eines Denkmals für die Place des Victoires in Paris mit Hieroglyphen und Elefanten, Wettbewerbsentwurf, 1793
Anmerkungen Seite 60
erschreckend für die Despoten, interessant für alle Völker.“22
„Initialisierung“ der Sprache
39
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 40
Leo von Klenze nach Jean-Nicolas-Louis Durand und Jean-Thomas Thibault, Temple à l’Égalité, 1793, Perspektive und Grundriss
J.-N.-L. Durand und J.-T. Thibault: Tempel für die Gleichheit, 1793
entspricht allerdings keiner klassischen Bauordnung und
Jean-Nicolas-Louis Durand und Jean-Thomas Thibault, die
Konventionen überall gleich, was dem gesamten Bau einen
zuvor im Atelier von Étienne-Louis Boullée gearbeitet hatten,
schablonenhaften, normierten Charakter verleiht. Der Unter-
gewannen den ersten Preis des Wettbewerbs für den Tempel
bau ist nicht weniger seltsam, bestehen doch die beiden
für die Gleichheit mit ihrem Entwurf für ein neoklassizistisches
Seitenteile nicht aus Stufen, wie bei griechisch-römischen
Bauwerk, das weit über die Funktion eines Tempels hinausging
Tempeln üblich, sondern aus dicken Mauern, die an den
und ein regelrechtes Heiligtum sein sollte, das der Republik
Enden ein Quadrat bilden, auf dem (rechts) eine Allegorie
geweiht war.23 Das Bauwerk hat die Form eines Peripteros,
der Gerechtigkeit und (links) eine Allegorie der Gleichheit
weist mehrere Kuriositäten auf: Bei den sechs Frontsäulen ist die Zwischenweite entgegen den stets nuancierten klassischen
eingraviert sind. Auch die Säulen sind ungewöhnlich, denn sie haben keinen runden, sondern einen quadratischen Querschnitt.24 All diese architektonischen Mittel spiegeln die neue „revolutionäre Ordnung“ des Tempels wider, der moderne, kubische und abstrakte Merkmale aufweist. Seine ägyptische Anmutung verdankt er einerseits den Kapitellen mit den Frauenköpfen, für die zweifellos der Tempel von Dendera in Ägypten Pate stand,25 und andererseits den Mauern zu beiden Seiten, die wie die Vorderpfoten der Sphinx von Gizeh nach vorn ragen. Auf dem Giebel sind Allegorien der Freiheit und der Gleichheit abgebildet, zwischen denen die Inschrift „Sie sind unzertrennlich“ prangt. Unter dem Fries ist zu lesen: „Die Tugenden sind die festesten Säulen der Gleichheit.“26 Diese Tugenden werden auf den Säulen genannt: Staatsbürgerliche Gesinnung, Mut, Eintracht, Arbeit, Sparsamkeit, Weisheit. Die Botschaft der Inschriften, die an das staatsbürgerliche Jean-Nicolas-Louis Durand, „Combinaisons horisontales, de Colonnes, de Pilastres, de Murs, de Portes et de Croisées“, 1802, Tafel 2, aus: Précis des leçons d’architecture données à l’École Polytechnique 40
Archaismus
und moralische Verhalten der Republikaner appellieren, wird
Anmerkungen Seite 60
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symbolisch durch die Frauenköpfe (mit griechischem statt
des leçons d’architecture données à l’école polytechnique
ägyptischem Kopfschmuck) unterstrichen, die wie zahllose
(1802) eine erschöpfende Methode zur Durchführung eines
Über-Ichs von oben auf sie herabschauen.
Bauprojektes und zur Gebäudeanalyse. Das Neun-Felder-Haus,
Durand und Thibault waren die einzigen der am Wettbewerb
bei dem die Gebäudeteile in drei verschiedenen Kombinationen
für den Tempel für die Gleichheit teilnehmenden Architekten,
„zu einem Ganzen zusammengefügt“ werden,29 ist ein leuchten-
die über das eigentliche Denkmal hinaus ein Revolutionsmu-
des Beispiel dafür. In gewisser Weise kehrt dieses dreidimensio-
seum im Tempelinneren vorschlugen. Ein Bildprogramm, das
nale Spiel, das als zweite Tafel im zweiten Teil des Bandes mit
sich an die Zeichnungen von Jacques-Louis David anlehnt,
der Überschrift „Horizontale Kombinationen von Säulen,
veranschaulicht die wichtigsten Ereignisse der Revolution:
Stützen, Wänden, Türen und Fenstern“ abgebildet ist, zu den
den Sturm auf die Bastille, den Ballhausschwur, eine Szene
geometrischen Wurzeln der Architektur zurück und reiht sich
des Nationalkonvents sowie mehrere Kampfszenen. Eine
in die Tradition von Vitruvs De architectura ein.
raumgreifende Statue der Glückseligkeit der Allgemeinheit
Die Reduzierung der Architektur auf ein Vokabular der wirksa-
füllt die Mitte des Museums aus.27 Auf zwei Seitenaltären
men und nützlichen Typisierungen unterlag einer Dynamik,
steht geschrieben: „Natur, Vernunft, Menschlichkeit und
die derjenigen von Boullées fantastischen Entwürfen entgegen-
Gerechtigkeit sind das Fundament der Gesellschaftsordnung“.
gesetzt war, die von der Kraft des Erhabenen getragen eine
Mit dem großen Glasdach, durch das Tageslicht einfällt,
kosmische Stimmung verbreiten, wie die Entwürfe eines
taucht dieser Museumstempel der Moral die Gemälde und
Kenotaphs für Isaac Newton (1784) und der Königlichen Biblio-
Symbole der Republik in weißliches Licht.
thek (1786) belegen. Die postrevolutionäre stilistische Reduktion
Den klassischen Tempel auf eine streng geometrische, schab-
spiegelt nicht nur die Entstehung einer neuen bürgerlichen
lonenhafte Gestaltung zu reduzieren, kündigte einen Paradig-
(weniger wohlhabenden) Kundschaft wider, sondern auch den
menwechsel an: Nicht mehr das Schöne bestimmt die Ästhetik mit ihrem fragilen Gleichgewicht der Wahrnehmung, auch nicht das Erhabene eines Boullée, das starke Emotionen auslöst, sondern das Reduzierte und radikal Schlichte, das mit Rationalisierung und Kostenersparnis am Bau einhergeht.28 So hat dieser Revolutionstempel die Aufgabe, gleichsam den Destruktionstrieb zu sublimieren, indem er diesen in höchste Kunst umwandelt, die die Architekten mit einem moralischen und staatsbürgerlichen Erziehungsprogramm verbinden. Als a priori vorgegebene Repräsentationsform dient der Archetypus des Tempels nach ägyptischem Vorbild als Ausgangspunkt für die psychologische Konstruktion eines kollektiven Imaginären. Im Unterschied zur Architektur von Claude-Nicolas Ledoux, bei der alles – von der Bauform bis zum Ornament – eine „sprechende“ Symbolik transportiert, und im Gegensatz zur Architektur von Étienne-Louis Boullée, die das Register des Erhabenen bedient, reduziert Jean-Nicolas-Louis Durand, der radikal mit seinem Lehrer bricht, die Architektur auf Typisierun-
Jacques-Louis David, Der Schwur der Horatier, 1784, Öl auf Leinwand
gen, auf ein fast stummes Vokabular, wobei schon von außen, ohne jedes Geheimnis, sich das Innere eines Bauwerks erahnen
Durchbruch des Fortschrittsgedankens, der mit der einsetzenden
lässt. Das Tempelprojekt wurde nie realisiert.
Industrialisierung rasch konkrete Formen annahm. Die Form- und
Drei Jahre nach dem Staatsstreich von Napoleon Bonaparte
Kostenreduktion erfolgte durch eine drastische Simplifizierung, die
entwickelte Durand im ersten Band seiner Vorlesungen Précis
die Architektur auf ein Grundvokabular des Bauens reduzierte.
Anmerkungen Seite 60
Durand und Thibault: Tempel für die Gleichheit
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STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 42
Damit war die „lustvolle Spannung“, verglichen mit der erha-
Sturz Robespierres) bis 1799 währte. Der nach dieser Regierung
benen Architektur eines Boullée, am Nullpunkt angelangt.
benannte Directoire-Stil, der nüchterner in seiner Ornamentik
Ein solcher Zustand der Spannungslosigkeit wird gemäß
als der Louis-XVI-Stil und schlichter als der Empire-Stil war,
Freuds Lustprinzip angestrebt, um die Spannungen abzubauen,
spiegelt den Umbruch wider, der durch die Französische Re-
die der Kampf gegen den Destruktionstrieb erzeugt. Könnte
volution herbeigeführt wurde. In dieser Phase der „Initialisie-
man also in dieser Ästhetik mit ihrer zur Schau gestellten
rung“30 der Zeit machte sich in der Kunst wie in der Architektur
Schlichtheit und Banalität des Vokabulars eine Art willentliche
eine Vorliebe für Elementarformen und die Antike als Erkun-
Entspannung nach den revolutionären Spannungen sehen?
dungsfeld geltend. Im ausgehenden 18. Jahrhundert sei, so
Als wäre eine „emotionale Entspannung“ nötig, um sich auf
Robert Rosenblum,31 eine Rückbesinnung auf den simplifizierten
die Erwartung einer Zukunft zu konzentrieren, die sich am
antiken (dorischen) Stil und, nachdem Napoleon Kaiser gewor-
Beginn der Industrialisierung auf den technischen Fortschritt
den war, eine imperiale Theatralik zu beobachten, die in der
ausrichtet? Dieses Zurücksetzen auf null des stilistischen Aus-
Architektur an eine aufgeladene Ästhetik anknüpfte. Der Arc de
drucks und der Architektursprache zeugt von einer radikalen
Triomphe du Carrousel, den Napoleon nach dem Italienfeldzug
Umgestaltung der Gesellschaft.
und der Gründung der Cisalpinischen Republik (1806) in Paris errichten ließ, weist bereits einen neobarocken Stil auf.
Directoire-Stil und Ägypten: Reduktion und Rückkehr zu den Wurzeln
Zur Zeit der Revolution versuchte die Kunst die Zeit aufzuheben und durch einen Sprung rückwärts einen Kurswechsel vorzunehmen: Durch den Verweis auf eine andere Zeitlichkeit
Ein Blick auf Kunst und Mobiliar soll nun helfen, diese Fragen
und Räumlichkeit markierte sie einen Bruch mit der Geschichte.
auf einer anderen Ebene zu beleuchten, wobei ich mich auf
Die turbulente Komposition des berühmten Historiengemäldes
die Zeit des Direktoriums beschränke, das von 1795 (dem
Die Sabinerinnen (1799), das Jacques-Louis David im Gefängnis entwarf und nach seiner Freilassung unter dem Direktorium malte, spiegelt die Turbulenzen seiner Epoche wider – im Gegensatz zu seinem 1784, also noch vor der Revolution, entstandenen Bild Der Schwur der Horatier, das durch eine rationale, strenge, stoische Komposition die Zeit anzuhalten suchte und die republikanischen Werte des antiken Rom durch die Motivwahl des Schwurs hochhielt, der für die Anhänger der Aufklärung ein vorausweisendes Symbol der Hoffnung darstellte.32 Diderot unterstrich die Sogwirkung des Gemäldes durch die Stille, Einsamkeit, Abkapselung und Versunkenheit der Figuren, die sich verhalten, als gäbe es keine Zuschauer. Dadurch wird die dramatische Intensität der Malerei bis
Jacques-Louis David, Die Sabinerinnen, 1799, Öl auf Leinwand
42
Archaismus
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zum Äußersten gesteigert – Michael Fried fasst dies unter
sich die Kleider von Frauen, dem Ideal der Antike entsprechend,
den Begriff der „Anti-Theatralik“. (Diese Form des antithea-
in schlichte weiße Tuniken. Davon zeugt ein anderes Bild von
tralischen Rationalismus findet sich auch bei Durand wieder.)
Jacques-Louis David, Madame Recamier, wo die Porträtierte
Als die Malerei nach der Revolution wieder theatralisch
auf einer Liege aus Holz im etruskischen Stil einen Archetypus
wurde, brauchte sie neue Kunstgriffe, insbesondere durch
evoziert, der aus einer anderen Raum-Zeit stammt.
das Spiel mit der Perspektive, um den Eindruck zu erwecken,
Juliette Récamier war mit einem wohlhabenden Bankier
es gäbe niemanden außer den Figuren im Bild, mit denen die
verheiratet und führte einen Salon in ihrem Pariser Stadtpalais,
Betrachter:innen sich identifizieren sollten.
das sie vom Architekten Louis-Martin Berthault nach antikem
In seinem Bild Die Sabinerinnen unterbreitet David eine Per-
Vorbild ausstatten ließ. Das völlig unübliche Interieur machte
spektive mit zwei Fluchtpunkten und lässt dadurch die weibli-
Furore und prägte die Mode, denn es suggeriert die bewusste
che Hauptfigur Hersilia, die mit einer weit ausholenden,
Lossagung von einer Kultur, die als inadäquat für die neue
dramatischen Geste die Römer von den Sabinern trennt, wie
revolutionäre Gesellschaft angesehen wurde. Für die neue
vergrößert heraustreten, wobei ihre nicht mittige Anordnung
Ästhetik bediente man sich in der griechisch-römischen,
die Dynamik der Darstellung noch verstärkt und dem Wunsch
etruskischen und ägyptischen Kunst, um ausgehend vom
nach Frieden Nachdruck verleiht. Zu dieser Zeit entwickelte
Archetypus der „Wiege der Kulturen“ eine Gesellschaft
David seinen Stil weiter und holte sich, in Abkehr von Raffael,
wiederauferstehen zu lassen, die auf anderen Paradigmen
33
Anregungen bei Perugino und anderen Präraffaeliten, um
beruhte. Diese leere Vorform des Archetypus, die das
eine Rückkehr zum „reinen Griechentum“ für sich zu bean-
Instinkt- und Geistesleben organisiert und die mentalen
spruchen: „Ich habe mich an etwas ganz Neues herange-
Bilder strukturiert, fungiert hier als Generator des Imaginären,
wagt, […] ich will die Kunst wieder an die Prinzipien heranführen,
der dieser neu zu erschaffenden Welt, die auch einer neuen
die bei den Griechen befolgt wurden“;36 er schritt voran,
Sprache bedarf, Gestalt zu verleihen vermag.
34
35
indem er in der Zeit zurückging (wobei er nach Meinung seiner Schüler und Mitarbeiter, die sich selbst als „Primitive“ bezeichneten, zu wenig archaisch war 37). David traf eine kühne und sehr umstrittene Entscheidung: die männlichen Helden in einer archaischen Weise nackt darzustellen;38 Hersilia dagegen ist mit einer weißen Tunika bekleidet und zu ihren Füßen kniet eine Frau mit halb entblößten Brüsten. Das Bild, das der Maler in einem gesonderten Raum des Louvre ausstellte und für das er Eintritt kassierte, zog eine Vielzahl von Besuchern an. Außer bei den großen Themen der Geschichte und der Mythologie fand diese Ästhetik auch im Alltag ihren Niederschlag. So verwandelten Jacques-Louis David, Madame Récamier, 1800, Öl auf Leinwand Anmerkungen Seite 60 und 61
Directoire-Stil und Ägypten
43
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nach kunstvollen Details begierigen Kundschaft hatte eine Schließung zahlreicher Kunsttischlereien zur Folge. Die durch den Übergang zur republikanischen Regierungsform ausgelöste Krise der kunsthandwerklichen Produktion sowie Sparzwänge führten zu einer Simplifizierung des Stils. Zusammenfassend ist zu beobachten, dass die neue Ästhetik mit Bedacht das „Ende einer Welt“ durch eine Jean-Léon Gérôme, Bonaparte vor der Sphinx, 1867/1868, Öl auf Leinwand
selbstbewusste Schlichtheit des Dekors zum Ausdruck
Einer solchen „Initialisierung“ der historischen Zeit war auch
bringt, indem sie sich aller Symbolik der Epoche des Absolu-
das französische Mobiliar unterworfen. Nach dem Ägyptenfeld-
tismus entledigt. Die neuartigen politischen Werte werden
zug (1798–1801) wurden Stühle im ägyptischen oder griechisch-
durch eine Wiederbelebung der Mythen und Rituale der
römischen Stil mit ausgefallenen Verzierungen und einer
Antike vermittelt, sowohl der Alltags- wie der Festrituale:
speziellen Farbgebung in den Grundfarben entworfen, die von
Man saß nicht mehr gerade, wie es die Etikette verlangt
einem weit zurückliegenden Archaismus geprägt waren.
hatte, sondern streckte sich auf einer Récamiere im etruski-
Der Blick zurück lässt die Zeit stillstehen. Dies legt zumindest
schen Stil aus; in den eigens errichteten Volksarenen feierte
Stuhl im ägyptischen Directoire-Stil, 1799/1800, Mahagoni
44
Archaismus
ein berühmter Satz nahe,
man die Republik und stimmte Kampflieder an (ähnlich wie
der Napoleon zugeschrie-
in den Arenen der Römer, nur eben ohne Gladiatoren). Ob
ben wird: „Von der Spitze
Bauwerke, Mobiliar, Festbauten oder Bekleidung, sie alle
dieser Pyramiden schauen
boten einen geeigneten Rahmen für die Inszenierung der
vierzig Jahrhunderte auf
jungen Republik, in der das Leben für alle deutlich sichtbar
39
euch herab.“ Aus dieser
eine andere Form annahm, die mit den neuen politischen
fernen Perspektive lässt sich
und gesellschaftlichen Gegebenheiten konform ging. Die
die Zeit „initialisieren“ bzw.
Ästhetik diente diesen Zielen und schuf die zum Aufbau der
zurück auf null setzen, um
neuen Welt notwendigen Orte und Symbole. Auch hier ging
eine neue Ästhetik entste-
es darum, eine bestimmte Form der Resonanz zu begründen,
hen zu lassen, die der
in die sich jeder Bürger, jede Bürgerin als aktives Mitglied der
„neuen Welt“ entspricht.
Gesellschaft einbezogen fühlte. Hartmut Rosas Konzept
Die neue Sachlichkeit hatte
aufgreifend: Die horizontalen Resonanzachsen (von Gesell-
nicht nur eine symbolische
schaft und Politik) wurden durch die vertikalen Resonanzach-
und politische Bedeutung,
sen verstärkt (Kunst, die Feierlichkeiten oder die Tempel für
sondern auch wirtschaftliche
die Freiheit und Glückseligkeit der Allgemeinheit, deren
Gründe, denn die Ereignisse
Funktion die der Religion verdrängte). Diese Orte, Rituale
rund um die Revolution und
und Objekte waren aber nicht nur eine symbolische Verkör-
das plötzliche Verschwinden
perung der Revolution, sie verliehen ihr auch eine physische
einer wohlhabenden und
und architektonische Gestalt, die wiederum einen adäquaten
Anmerkungen Seite 61
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Handlungsrahmen bot. Denn Partizipation und Handeln sind
des „neuen Menschen“, der sich dieser unmenschlichen
Schlüsselfaktoren für das Entstehen des Gefühls der Reso-
Bedingungen entledigt hat, zeichnete sich durch eine tiefe
nanz, insbesondere wenn es gilt, den Todes- und Destruktions-
(oft romantische) Naturverbundenheit aus, durch Bewegungs-
trieb zu kanalisieren, indem er durch Kunst, neue Feierlichkeiten
freiheit und eine Kleiderreform (ohne Korsett), durch gesunde
und Tempel „sublimiert“ wird, den Grundsteinen für die
Ernährung (damals kamen die ersten Theorien des Vegetarismus
Konstruktion des Imaginären einer anderen Gesellschaft.
westlicher Prägung auf), Sport und Ausdruckstanz (als Reaktion
Zurück zur Natur: Lebensreformbewegung und „Initialisierung“ von Körper, Seele und Geist auf dem Monte Verità Die Frage der gesellschaftlichen Resonanz stellte sich in anderer Form erneut gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der Beschleunigung des Industrialisierungsprozesses, der die Lebensbedingungen immer unmenschlicher machte: Die Luftverschmutzung und die dadurch verursachten Krankheiten, die Ausbeutung der Arbeiter:innen und die ungebremste Spekulation führten zu einer schweren sozialen Krise. Die exponentielle Dynamik löste eine harsche Kapitalismus-Kritik aus und zahlreiche Gegenmodelle
Johann Adam Meisenbach, Tanzkreis des Choreografen Rudolf von Laban auf dem Monte Verità, um 1914
entstanden. Die einen sahen in der damals von Karl Marx entwickelten kommunistischen Wirt-
auf das den Körper einer gewaltsamen Dressur unterziehende
schaftstheorie, die anderen in der Anarchie einen möglichen
Ballett) sowie die Emanzipation der Frauen. Die Lebensrefor-
Ausweg, und wieder andere suchten Zuflucht in neuen religiösen
mer lehnten die Großstädte ab und träumten von einer
oder mystischen Strömungen. Verschiedenste Reformbewe-
Rückkehr zu einem idealisierten Naturzustand. Sie strebten
gungen entstanden in dem Bestreben, die Lebensbedingungen
eine grundlegende Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen,
zu verbessern und die Welt grundlegend zu verändern. Nicht
Konventionen und Lebensweisen an, um zur „wahren Natur
nur der Landbesitz und die Ausbeutung der Arbeitskraft
des Menschen“ zurückzufinden.
wurden grundsätzlich infrage gestellt, sondern auch die in-
Als Madame Récamier die Haltung und die Kleidung der
dustrielle Produktion als solche. Das Handwerk und vor allem
Antike übernahm, ging es ihr im Wesentlichen darum,
das Kunsthandwerk wurden als Gegenmodell gepriesen, und
durch einen Stilwechsel symbolisch eine neue Ära einzuläuten.
man suchte auch ein anderes Verhältnis zur Natur zu etablieren,
Ende des 19. Jahrhunderts waren die Beweggründe weitaus
deren Ausbeutung einige Theoretiker mit der des Menschen
ernster und die Maßnahmen, die in dieser Krisenzeit ergrif-
verglichen40 (siehe Kap. „Zurück zur Ländlichkeit“). Das Ideal
fen wurden, viel radikaler – alternative Wirtschaftsmodelle,
Anmerkungen Seite 61
Zurück zur Natur
45
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„Lebensreform“ und ganzheitliche Ästhetik –, wobei sie sich
„Tänzer ist immer jener neue Mensch, der seine Bewußtheit
auf vorindustrielle oder noch weiter zurückliegende Epochen
nicht einseitig aus den Brutalitäten des Denkens, des Gefühls
bezogen, um den ersehnten Neubeginn herbeizuführen.
oder des Wollens schöpft. Es ist jener Mensch, der klaren
Wie die folgenden Beispiele zeigen, kann der Sprung in
Verstand, tiefes Empfinden und starkes Wollen zu einem
Raum und Zeit auch durch eine „Rückkehr zu einem ursprüng-
harmonisch ausgeglichenen und in den Wechselbeziehungen
lichen Naturzustand“ erfolgen, indem das Idealmodell nicht
seiner Teile dennoch beweglichen Ganzen bewußt zu
mehr in einer anderen Kulturepoche gesucht wird (wie bei
verweben trachtet.“42
den bisherigen Beispielen), sondern in einem Urzustand der
Hier klingen die Worte Nietzsches nach, der im Tanz die
Menschheit, der aller „Kultur“ oder „Zivilisation“ vorausgeht.
Möglichkeit einer Vereinigung des Menschen mit der Natur
Diese stark idealisierte, wunschtraumhafte Rückkehr zu einem
sah, wie sie im Bild des tanzenden Philosophen zum Aus-
„Urzustand“ erfolgt über eine Wiederbelebung der Naturele-
druck kommt. Der Ausdruckstanz machte sich sein ekstatisches
mente, Rohmaterialien und Urformen, die heute angesichts
dionysisches Prinzip zu eigen und setzte es in die Tat um, ins-
der Umweltkrise wieder an Aktualität gewinnt. Aber wie
besondere auf dem Monte Verità, wo bei Festritualen der
kommt dies in der Ästhetik zum Ausdruck? Mit welchen Mitteln
Sonnenzyklus im Rhythmus der Trommeln mit Tänzen, Texten
und Ritualen lässt sich diese Wiederbelebung umsetzen
und Chorgesängen gefeiert wurde. 1917, auf dem „Con-
(oder inszenieren) und wie ist der Körper bei diesem „Zurück
gresso Anazionale“, dauerten diese Rituale sieben Tage lang
zur Natur“ involviert?
an, um die Verzweiflung über den anhaltenden Krieg in
Die Wichtigkeit der Rolle des Körpers wird am Beispiel der
einem zutiefst archetypischen Akt zu ertränken, aber auch in
lebensreformerischen Kolonie Monte Verità veranschaulicht,
der leisen Hoffnung auf die mögliche Wiedergeburt eines
einer utopischen Kommune, die sich am Beginn des 20. Jahr-
neuen Menschen, der mehr im Einklang mit der Umwelt und
hunderts von den „verheerenden Auswirkungen“ (wie es da-
mit sich selbst lebt.
mals hieß) der Industriegesellschaft abwandte und auf die
Dieses Streben nach einem Leben im Einklang mit der Natur,
Naturelemente zurückbesann, um die „innere Natur“ des
einschließlich der Natur des Körpers und der inneren Natur
Menschen wiederzuentdecken. Ihr Streben nach Erneuerung
des Menschen, setzte Ende des 19. Jahrhunderts mit der von
drückte sich insbesondere in einer drastischen Beschränkung
England inspirierten Lebensreformbewegung43 als Reaktion
auf das Allerwesentlichste aus, angefangen beim Körper.
auf die von der Industriegesellschaft verursachten Leiden ein;
Die Feldarbeit verrichteten die Mitglieder der Kolonie nackt,
dass es sich auch in der Zwischenkriegszeit und nach dem
um die Haut der Sonne auszusetzen; sie stellten alles selbst
Zweiten Weltkrieg fortsetzte, zeigt das Beispiel von Bernard
her, sowohl die (rein vegetarische) Nahrung als auch die
Rudofsky, einem leidenschaftlichen „Kultur“- Kritiker, dessen
Kleidung. Die Holzhütten waren sehr rudimentär, aber mit
Streben nach Wiederverwurzelung in einer anderen Raum-
großen Terrassen ausgestattet, um die Bewohner:innen zum
Zeit-Dimension wiederzufinden ist.
Leben im Freien zu animieren, wo sich auch die Duschen und Wannen befanden. Rudolf von Laban, der 1913 auf dem Monte Verità seine „Schule für Kunst“ gründete (eine Art Tanzschule mit Sommerkursen, die er bis 1918 leitete),
46
Bernard Rudofsky: Architektur ohne Architekten, 1964
unterrichtete die uneingeschränkte Bewegung des Körpers,
Bernard Rudofsky formulierte als Reaktion auf die Strömung
der sich frei von allen gesellschaftlichen Konventionen von
der Moderne eine harsche Gesellschaftskritik und fasste den
seinen Gefühlen leiten lässt.41 Er ereiferte sich für einen
Begriff der Architektur in seiner ganzen kulturellen Dimension.
natürlicheren Ausdruck im Tanz, den er in der Osmose von
Heute gilt er als einer der Wegbereiter der ökologischen
Mensch und Natur suchte und der sich in Ritualen und
Architektur, zu seinen Lebzeiten jedoch machte er prinzipielle
Tänzen mit kultischer und archaischer Dimension zeigt.
Einwände gegen den Funktionalismus geltend und steckte
Der Tanz, so Laban, involviere Körper, Geist und Seele glei-
dafür viel Kritik ein. Auf welche Vorbilder stützte er sich bei
chermaßen, die sich in ihm harmonisch verbinden sollten:
der Formulierung einer neuen Ästhetik, die „natürlicher“ und
Archaismus
Anmerkungen Seite 61
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„näher am Menschen“ sein sollte? Auf welche Raum-Zeit bezog er sich? Welche Botschaft, welche Symbolik wollte er vermitteln? Doch zunächst sollen die Ereignisse beleuchtet werden, die der Auslöser für diese zutiefst ontologische Kulturkrise waren. Der 1905 in Mähren in eine jüdische Familie geborene Visionär österreichischer Herkunft verließ Europa in den 1930er Jahren, als sich der Antisemitismus massiv verschärft hatte, und ließ sich in Brasilien nieder, wo er zwei Villen baute. 1941 ging er in die USA. Er kuratierte eine Ausstellung im MoMA und erhielt 1947 die amerikanische Staatsbürgerschaft. Als die Nazis immer mehr an Macht gewannen, und auch während des Zweiten Welt-
Bernard Rudofsky, „Bewegliche Architektur in Vietnam“, aus: Architektur ohne Architekten
kriegs, bemühte er sich, eine Form kultureller Resonanz jenseits des Atlantiks zu etablieren. Von der westlichen Kultur zutiefst
„Psychoanalyse des Kleides“, des Körpers und der
enttäuscht, die zu ihrer eigenen Vernichtung geführt hatte, wandte
Lebensweisen
er sich den Archetypen aus fernen Kulturen zu, die in der inter-
In seinem Text „Now I lay me down to eat. Notes and Foot-
nationalen Architektur kaum Beachtung fanden.
notes on the Lost Art of Living“ mit Texten, den das italienische
Rudofsky stellte sich dem Funktionalismus entgegen und
Architekturmagazin Domus in den 1930er Jahren veröffent-
richtete sein Augenmerk auf weltweite lokale Bauweisen, die
lichte, erläutert Rudofsky seine Kritik der Moderne: „Keine
ohne Architekten entstehen – ein Thema, das ihn spätestens
neue Bauweise, eine neue Lebensweise tut not.“45 Der Band
seit seiner Dissertation über die primitive Betonbauweise auf
zeigt historische und kulturelle Alternativen zu den bestehenden
den südlichen Kykladen, die er 1931 der TU Wien vorgelegt
Einrichtungen des Alltagslebens (zum Essen, Schlafen, Sitzen
hatte, faszinierte. In ähnlicher Weise hinterfragte er Beklei-
oder für die Körperwäsche) auf, will aber „weder gefährliche
dungsmoden, Alltagsrituale und Nutzungen, um sie besser
Irrlehren verbreiten, noch unser angeborenes Recht aushöhlen,
an die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen anpassen zu
die schlechtesten Entscheidungen zu treffen. Vielmehr veran-
können. Seine Gesellschaftskritik bezog sich zunächst auf das
schaulicht er anhand beliebiger Beispiele, dass das Leben
Alltagsleben und insbesondere den Platz des Körpers darin.
weniger langweilig sein kann als das, was wir daraus machen“,
Rudofsky ging es darum, die Absurdität bestimmter Nutzungen,
so Rudofskys sarkastische Erklärung im Vorwort.46
Bekleidungen und Konventionen aufzuzeigen, die einem
Rudofsky strebte eine radikale Kulturreform – angefangen mit
Schönheitsideal gehorchten, das in seinen Augen wert- und
der Befreiung des Körpers von den Modezwängen – wie auch
sinnlos geworden war. Er entwarf alternative Bekleidung, die
deren Umsetzung in die Praxis an. So folgte er 1944 mit sei-
er für natürlicher hielt, und stützte sich dabei auf Archetypen
ner Frau Berta einer Einladung des Black Montain College,
anderer Kulturen. Die orientalische Lebenskunst regte ihn
einer experimentellen freien Universität, die 1933 in North
besonders an, doch zu seinem Bedauern sei sie nicht importiert
Carolina gegründet worden war. Dort leitete das Paar Work-
worden, obwohl unsere gesamte Kultur, angefangen beim
shops zur Herstellung von Sandalen als ergonomische Alter-
Alphabet über die Wissenschaft, Religion und Philosophie bis
native zu Schuhen, die aus ästhetischen Gründen die natürliche
hin zur Ethik und Ästhetik, von ausländischen Vorbildern
Form der Füße unwiederbringlich entstellen.
übernommen wurde:
Rudofsky war der festen Überzeugung, dass die moderne
„Seltsamerweise hatten diese Importe keinen oder wenig
Gesellschaft – und insbesondere die Bereiche Bekleidung und
Einfluss auf unsere Denkweise; statt nach weltlicher Weisheit
Architektur – sich von den Bedürfnissen und der Sinnlichkeit
zu streben, sehen wir in der Mechanisierung die Antwort
des Menschen entfernt habe. Er stellte mehrere Male im
auf unsere Gebete und lassen uns von Industrie und Handel
MoMA in New York aus, nachdem er den Wettbewerb „Or-
unsere Wünsche und Geschmäcker diktieren.“44
ganic Design“ gewonnen hatte. In einer großen Ausstellung
Anmerkungen Seite 61
Bernard Rudofsky: Architektur ohne Architekten
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Stammbaum“ zeigten, die er als „einheimisch, anonym, spontan, bodenständig oder ländlich“ bezeichnet haben wollte.49 Bauweisen aus der ganzen Welt also, die allesamt bestechend sind durch die Klugheit, mit der die im jeweiligen natürlichen Umfeld verfügbaren Materialien genutzt werden. Diese anonymen Bauten, die seit undenklichen Zeiten in rauen Umgebungen fortbestehen oder nach denselben Prinzipien immer wieder neu errichtet werden – Prinzipien, die einen intelligenten Umgang mit dem Klima und dem spezifischen Kontext aufweisen –, stellte Rudofsky zeitgenössischen Bauten herausfordernd gegenüber: „Von der Architektur, bevor sie zur Kunst des Fachmannes wurde, gibt es viel zu lernen. Die unverbildeten Baumeister Bernard Rudofsky, symmetrischer Schuh und Fuß, Gipsabgüsse, die die Deformation der Füße durch das Tragen spitzer Schuhe demonstrieren, aus: Are Clothes Modern? 47
in Raum und Zeit […] zeigen ein bewundernswertes Talent, Bauten in die natürliche Umgebung einzugliedern. Anstatt die Natur zu ,erobern‘, wie wir es tun, begrüßen sie die Wechselhaftigkeit des Klimas und die Herausforderung der
mit dem Titel Are Clothes Modern?, die 1944/1945 gezeigt
Topographie.“50
wurde, postulierte er, dass unsere Kleidung nutzlos und auf-
Das Publikum wurde ohne jede textliche Erläuterung mit
grund ihrer hochgradigen Künstlichkeit sogar schädlich
diesen Fotos konfrontiert, die die indigenen Bautraditionen
für den menschlichen Körper sei. Das Magazin New Yorker
in den Mittelpunkt stellten. Ethik und Fortschritt wurden somit
nannte seine Vorgehensweise „Psychoanalyse des Kleides“,
grundlegend infrage gestellt. Anders als in unserer Kultur
da Rudofsky mit derselben Akribie die Bekleidungsbräuche
würden namenlose Baumeister höchst selten das Allgemein-
und die je damit verbundene Körperbeziehung unter die
wohl dem Streben nach Profit und Fortschritt unterordnen,
Lupe nehmen würde. Rudofsky stellte das Korsett und den
stellte Rudofsky im Begleitkatalog kritisch fest und zitierte
westlichen Schuh als Folterinstrumente dar: „Der ultimative
den Kulturhistoriker Johan Huizinga: „Die Annahme, daß
Triumph der heutigen Bekleidung ist der symmetrische
jede Neuentdeckung oder Verfeinerung bestehender Um-
Schuh, zu unserem größten Bedauern sind wir unfähig, einen
stände Aussicht auf höhere Werte oder größeres Glück ver-
symmetrischen Fuß auszubilden. Mit unendlicher Geduld ver-
spricht, ist ein äußerst naiver Gedanke … Es ist nicht im
suchen wir unser Leben lang unsere Füße umzuformen, um
geringsten widersinnig zu sagen, daß eine Kultur an wirklichem
einem Ideal zu genügen, das die Schuhhersteller als ,Leisten‘
und greifbarem Fortschritt scheitern kann.“51 Rudofsky machte
[Ideal] vorgegeben haben. Wäre der menschliche Fuß so
keinen Hehl aus seiner Enttäuschung darüber, dass die funk-
geformt wie der Schuh, der heute für ihn entworfen wird,
tionalistische Architektur im großen Maßstab verbreitet würde
befände sich der große Zeh in der Mitte.“ Seine Aussagen
und die Bürger so träge seien, dass sie am Ende „Chaos und
veranschaulichte Rudofsky mit Fußabgüssen, die zeigen, dass
Hässlichkeit“ hinnähmen:
48
der Fuß tatsächlich die durch den Schuh vorgegebene Form
„Nachdem wir von den Pflichten und Privilegien der Leute,
annimmt und damit pathologisch entstellt wird.
die in älteren Zivilisationen leben, nichts wissen und da wir Chaos und Häßlichkeit als unser vorherbestimmtes Schicksal
48
Architektur ohne Architekten, 1964/1965
betrachten, neutralisieren wir alle etwaigen Zweifel über
Im Anschluss an die Ausstellungen Behind the Picture Window
die Eingriffe der Architektur in unser Leben mit lahmen
und The Kimono Mind präsentierte Rudofsky 1964/1965 in der
Beteuerungen, die an niemand bestimmten gerichtet sind.“52
Ausstellung Architecture Without Architects 200 großforma-
Die Ausstellungen von Rudofsky stießen auf heftige Kritik,
tige Schwarz-Weiß-Fotografien, die eine „Architektur ohne
stellten sie doch die vorherrschende Lehre des Funktionalismus,
Archaismus
Anmerkungen Seite 61
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 49
galt ihm als Vorbild weiser Schlichtheit und als Gegenmodell zur westlichen Kultur. „Philosophie und Know-how der anonymen Baumeister“ galten ihm als die „größte unangezapfte Quelle architektonischer Anregung für den industriellen Menschen […]. Die Lehre, die daraus gewonnen werden kann, reicht weit über ökonomische und ästhetische Erwägungen hinaus, da sie das viel härtere und immer schwieriger werdende Problem berührt: wie man lebt und leben läßt, wie man Frieden hält mit seinen Nachbarn, im engeren wie auch im weiteren Sinn.“53 Der Kurswechsel, den Rudofsky durch seinen Rekurs auf eine andere Raum-Zeit vollzog, führte zur Entstehung einer neuen Ästhetik, die auf einer radikalen Reduktion gründete. Das Plakat der Bernardo-Sandale veranschaulicht dies: Hinter dem Frauenfuß, der die neue Ledersandale trägt, steht ein steinerner Fuß, der eine römische Sandale trägt und zweifellos zu einer antiken Statue gehörte. Die Botschaft ist klar: Die Menschen der Antike zeichneten sich durch einen klugen Umgang mit der Physiognomie aus, der im Lauf der Jahrhunderte verloren ging. Was „funktionell“ ist, kann nur der Körper selbst vorgeben und keine Schönheitslehre, die den Körper zu formen versucht, indem sie ihn entstellt. Und was für den Bernard Rudofsky, Bernardo, Plakat, 1944
Körper gilt, gilt auch für die Architektur. Die ontologische Krise, ausgelöst durch die Krise der Moderne
die damals noch hoch im Kurs war, radikal infrage. Zur Erin-
und die Erschütterung des Fortschrittsgedankens durch die
nerung: 1932, dreißig Jahre zuvor, hatten Philip Johnson und
Ausbreitung des Faschismus, schlug sich bei Rudofsky in
Henry-Russell Hitchcock in eben diesen Hallen des MoMA
einer „Ästhetik des Natürlichen und Ursprünglichen“ nieder,
mit ihrer Ausstellung Modern Architecture. International
die als Kulturideal einer neuen Zukunft dargelegt wurde.
Exhibition die Ideen der Moderne bzw den „International
In seinem Schaffen drückte sich das Streben nach Resonanz
Style“ weithin bekannt gemacht.
in einem Willen zur holistischen Umgestaltung der Welt aus,
Rudofsky nahm damals schon eine Gegenposition ein und
mit dem Ziel, ihren Bewohner:innen einen würdigeren Lebens-
knüpfte mit seiner Kulturkritik an die Anliegen der Lebensre-
raum zu bieten und so die Krise einer Kultur zu überwinden,
formbewegung an. Angesichts des Zusammenbruchs der
die nichts anderes vermocht hatte, als sich selbst zu zerstören.
deutschen Kultur infolge des Aufstiegs des Nationalsozialismus
Seit Beginn der Umweltbewegung als Antwort auf die ökolo-
verschärfte sich seine Kritik jedoch deutlich. Die Vorstellung
gische Krise gelten seine Ausstellungen als die gelungensten
vom geradlinigen, stetigen Fortschritt, auf der die Moderne
in der Geschichte des New Yorker Museums – und Rudofsky
beruhte, verlor sich in der schrecklichen menschlichen Katastro-
erhielt Lehraufträge an der Yale University in den USA, an
phe des Zweiten Weltkriegs. Von einer tiefen Verzweiflung
der Universität Waseda in Tokio und an der Königlichen
gepackt, holte Rudofsky sich Anregungen bei den Archetypen
Akademie in Kopenhagen. Angesichts der gegenwärtigen
ferner Kulturen, damit eine neue Kultur entstehen konnte,
Situation, in der wir uns dringend auf weltweiter Ebene mit
die auf einer natürlicheren Lebensweise gründete und deren
lokalen und ökologisch angepassten Bauweisen beschäftigen
Bauweisen besser an die Nutzungen angepasst waren und im
müssen, um den CO2-Fußabdruck zu verringern, dient sein
Einklang mit der Natur standen. Die Architektur ohne Architekten
Werk als Inspirationsquelle für eine andere Art des Bauens.
Anmerkungen Seite 61
Bernard Rudofsky: Architektur ohne Architekten
49
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Hans Hollein, Überbauung Wien, 1960, Fotomontage
Hans Hollein: Absolute Architektur, 1962
durch die Alliierten im Jahr 1955, als Österreich als „Opfer
Auch das Schaffen von Hans Hollein zeichnet sich durch eine
nismus war vorherrschend, der Antisemitismus ungebrochen,
Rückkehr zum Archaischen aus, allerdings in einer anderen
die Vergangenheit tabu. Bleiernes Schweigen machte sich
Form. Hollein, der wie Rudofsky Österreicher war, aber eine
breit und sollte das intellektuelle und künstlerische Klima
Generation jünger, berief sich auf eine Raum-Zeit, die weit
noch lange beeinträchtigen. Hinzu kam die eisige Stimmung
entfernt genug war, um sich aus einer als erdrückend, statisch
des Kalten Krieges, die durch die Nähe Wiens zum Eisernen
und festgefahren empfundenen Gegenwart zu lösen, indem
Vorhang, der den kommunistischen Block von der kapitalisti-
er sich auf die Archetypen des kollektiven Unbewussten
schen Welt trennte, noch verschärft wurde; alles wirkte erstarrt,
stützte. Sein Ansatz resultierte aus einer tiefen Krise der Iden-
reglos und stumm.
des Nationalsozialismus“ anerkannt wurde. Damit war stillschweigend Kontinuität gewahrt. Die Angst vor dem Kommu-
tität, Kultur und Politik und lässt sich mit dem damaligen politischen Kontext erklären.
Ontologische Krise
Nach der Befreiung Österreichs im Frühjahr 1945 und während
Junge Architekten wie Hans Hollein (1934 –2014), die nach
der zehn Jahre Besatzung durch die Siegermächte wurde die
dem Krieg in Österreich studiert hatten, wussten nur allzu
Stadt Wien, die bis 1955 in vier Besatzungszonen geteilt
gut, dass Frank Lloyd Wrights puritanischer Leitspruch „Truth
war, zu einem zentralen Schauplatz des Kalten Krieges, wo
against the World“56 (Wahrheit gegen die Welt), der noch sehr optimistisch war, was die Moral des Menschen betrifft,
Großbritannien, Frankreich, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion ihre jeweilige Ideologie durchsetzen wollten.
seine Bedeutung vollends verloren hatte. Wie Hannah Arendt
Doch die dringlichste Aufgabe, der sich die Alliierten
1951 schrieb, war „die ganze Struktur der westlichen Kultur
(jeweils im eigenen Sektor) stellen mussten, bestand darin,
mit all den dazugehörigen Überzeugungen, Traditionen,
den Menschen Nahrung und ein Dach über dem Kopf zu
Urteilsmaßstäben über unseren Köpfen niedergestürzt“.57
geben. Daher starteten sie umfassende Bauprogramme für
Dieses Verdikt lässt sich insbesondere auf den modernen
günstigen Wohnraum und es entstanden zunächst Reihen-
Geschichtsbegriff übertragen, dem der Gedanke zugrunde
häuser aus Fertigteilen,55 dann zeilenförmige Wohnriegel und
liegt, den Fortschritt als einen kontinuierlichen und nicht en-
standardisierte, immer höhere Mehrgeschosswohnbauten.
denden Prozess zu begreifen. Tatsächlich schien die Zeit
Die Architektur des Wiederaufbaus war Ausdruck eines
damals stillzustehen. In ihrem Werk Zwischen Vergangenheit
rationalen Funktionalismus, der, aus der Not geboren, den
und Zukunft führte Arendt den Begriff der „Lücke“ ein, die
Grundbedürfnissen entsprach.
zwischen Vergangenheit und Zukunft besteht, einer „sonderba-
Anders als in Deutschland endete die politische Umerziehung
ren Zwischenperiode […], die sich manchmal in die historische
54
50
Archaismus
Anmerkungen Seite 61
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Zeit hineinschiebt, wenn […], den Handelnden und Zeugen,
Elendsviertel, d. h. der wild wuchernden Architektur, zu
den Lebenden selber, ein Intervall in der Zeit zu Bewußtsein
verbessern und als Ausgangsbasis zu nehmen, aber nicht
kommt, welches ganz von Dingen bestimmt ist, die nicht
die funktionelle Architektur.
mehr sind, und von solchen, die noch nicht sind.“ Dieser
Die funktionelle Architektur hat sich als Irrweg erwiesen“.60
58
Schwebezustand ohne Vergangenheit und Zukunft war eine
Auch Hundertwasser plädierte dafür, dass der Bewohner mit
Zeit der Ungewissheit, des Zweifels und der Verunsicherung,
den „vier Wände[n], in denen er wohnt“, interagieren können
die insbesondere die jüngere Generation in eine ontologische
muss. In diesem Postulat klingt der Resonanzgedanke von
Krise stürzte.
Hartmut Rosa an, der die Bedeutung der Möglichkeit zu han-
In der von Orientierungslosigkeit geprägten Nachkriegszeit
deln unterstreicht, um mit der Vorstellung aufzuräumen, dass
ist eine Rückbesinnung auf Archetypen und eine Suche nach
allein materielle, symbolische und psychische Ressourcen uns
Resonanz zu beobachten. Was die jungen Wiener Architekten
zu unserem Glück verhelfen. Durch seinen Resonanzbegriff
und Künstler damals jedoch verband, war ihr Rebellionswille –
erweitert sich unser Handlungsvermögen, nicht nur, um uns
Rebellion gegen ein verknöchertes Establishment, gegen einen
von der Welt „berühren“61 zu lassen (passive Haltung), sondern
festgefahrenen Kunstmarkt und gegen den Funktionalismus
auch, um sie zu verändern.
der Nachkriegsarchitektur, der ihnen genauso starr und un-
Hans Hollein und Walter Pichler fanden Hundertwassers
menschlich erschien. Ein kleiner Kreis von Künstler:innen und
Ansatz zu „weich“ und bezogen eine gegensätzliche Position.
Architekt:innen opponierte gegen die „Alleinherrschaft des
Sie waren der Ansicht, dass nur eine Rückkehr zu den
trivialen Funktionalismus“. Unter ihnen kämpften Markus
Archetypen zu einer echten Erneuerung führen könne. Von
Prachensky und Arnulf Rainer dafür, „die Architektur ernst zu
einer inneren Krise erfasst, versuchten sie die Gegenwart
nehmen“ und „die verspielte Leichtigkeit der Bauhausära
„aufzuheben“, indem sie an frühere Epochen anknüpften,
endlich zu überwinden. Die Architektur als Kunst hat mit
die so weit zurücklagen, dass man Abstand gewinnen und
Funktion nichts zu tun“, verkündeten sie in ihrem Manifest
sich in ein Anderswo projizieren konnte. So tauchten sie
Architektur mit Händen (1958) und deuteten auf die Notwen-
in das Archaische und in ursprüngliche Rituale ein und eröff-
digkeit hin, dass jeder Mensch bauen können sollte:
neten gleichzeitig eine Perspektive auf die Zukunft, eine
„Funktionelle Architektur ist angewandte Kunst. Jeder
andere Zukunft.
Mensch soll seine eigene Architektur machen, soll seine Hände dazu benützen, seine Architektur zu formen, zu
Die Initiationsreise von Hans Hollein
kleben, zu graben, zu kratzen, zu klammern, zu schüren, zu
Nachdem Hans Hollein sein Studium an der Wiener Akademie
scherren und zu beißen aus Federn, Bäumen, Gras, Papier,
der bildenden Künste (1953 –1956) bei Clemens Holzmeister
Erde und Heu.“
beendet hatte, beschloss er das Weite zu suchen und ging in
59
In seinem berühmten Verschimmelungsmanifest gegen den
die USA, einem Land mit besonderer Anziehungskraft, um
Rationalismus in der Architektur (1958) rebellierte Friedensreich
weiter zu studieren und den Grad eines „Master of Archi-
Hundertwasser gegen die funktionellen Wohnungen, die den
tecture“ zu erwerben. Er durchquerte das riesige Land mit
tatsächlichen Bedürfnissen der Bewohner:innen nicht gerecht
dem Auto, von New York bis zur Westküste, um das Gefühl
würden:
der Unermesslichkeit, das Weiträumigkeit bereitet, am eige-
„Es muß endlich aufhören, daß Menschen ihr Quartier
nen Leib zu spüren – eine radikale und zweifellos befreiende
beziehen wie die Hendeln und die Kaninchen ihren Stall. […]
Erfahrung nach dem Trübsinn der Heimat, den er wohlweis-
Die materielle Unbewohnbarkeit der Elendsviertel ist der
lich hinter sich gelassen hatte. Die unendlichen Weiten be-
moralischen Unbewohnbarkeit der funktionellen, nützlichen
rührten ihn zutiefst, genauso wie die Eingriffe der Menschen,
Architektur vorzuziehen. In den sogenannten Elendsvierteln
die der Landschaft mit ihrer Architektur und Technik ihren
kann nur der Körper des Menschen zugrundegehen, doch
Stempel aufgedrückt hatten. Aus demselben Grund begeisterte
in der angeblich für den Menschen geplanten Architektur
sich Hollein für die Reisen ins All und die menschlichen Spuren,
geht seine Seele zugrunde. Daher ist das Prinzip der
die in der Unendlichkeit des Kosmos hinterlassen werden, da
Anmerkungen Seite 61
Hans Hollein: Absolute Architektur
51
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 52
dies unser Weltbild radikal veränderte. Aber ebenso fasziniert
„Architektur ist eine geistige Ordnung, verwirklicht durch
war er von den uralten Siedlungen der Pueblo-Indianer, die
Bauen.
er auf seiner Initiationsreise entdeckte. In seinen Schriften
[…] Es manifestiert sich nicht zuerst im Aufstellen schützender
spricht er von der Verbindung zwischen „oben und unten“,
Dächer, sondern in der Errichtung sakraler Gebilde, in der
zwischen Wohn- und Kultstätten: ein archaischer Topos, der
Markierung von Brennpunkten menschlicher Aktivitäten –
seinen Architekturbegriff entscheidend prägte. Die Stärke
Beginn der Stadt.
seiner frühen Arbeiten beruht darauf, dass er die kultische
Alles Bauen ist kultisch.
Dimension der archaischen Rituale auf Alltagssituationen
Architektur – Ausdruck des Menschen selbst – Fleisch und
der heutigen Welt anwandte und damit an Gefühle appel-
Geist zugleich.
lierte, die ins Unbewusste verdrängt wurden, und an kultu-
Architektur ist elementar, sinnlich, primitiv, brutal,
relle Archetypen im Sinne C. G. Jungs.
schrecklich, gewaltig, herrschend. Sie ist aber auch Verkörperung subtilster Emotionen,
Überwindung des Todestriebs durch Archetypus,
sensitive Aufzeichnung feinster Erregungen, Materialisation
Ritual und Kult
des Spirituellen.“63
Zurück in Wien schloss sich Hollein dem Kreis der Architek-
Der Text erschien 1963 im Katalog zur Ausstellung Hollein/
t:innen und Künstler:innen der Wiener Avantgarde an. Seine
Pichler: Architektur in der Wiener Galerie nächst St. Stephan,
Rebellion betraf jedoch etwas anderes, denn seine Suche
wo Hans Hollein und Walter Pichler „Stadt-Skulpturen“ in
nach dem ursprünglichen Wesen der Dinge war weit entfernt
Zeichnungen und Fotomontagen als Manifest gegen den
von der Idee eines harmonischen Konsenses, der auf der
Funktionalismus präsentierten: Riesige monolithische Fels-
Emanzipation der Bürger durch einen Partizipationsprozess
blöcke, die den Felsformationen aus dem Neolithikum ähneln,
beruht. „Architektur ist nicht Befriedigung der Bedürfnisse
thronen über den Dächern von Städten wie Manhattan, Wien
der Mittelmäßigen, ist nicht Umgebung für kleinliches Glück
oder Salzburg. Diese unheimlichen Felsmassen führen jedwe-
der Massen“, schrieb er scharfzüngig in seinem Manifest Ab-
den Funktionalismus ad absurdum und fügen die Architektur
solute Architektur (1962). Ihm ging es um die grundlegende
in die elementarsten Gegebenheiten ein:
62
archaische Dimension von Architektur:
„Die Gestalt eines Bauwerkes entwickelt sich nicht aus den materiellen Bedingungen eines Zwecks. Ein Bauwerk soll
Hans Hollein, Werk und Verhalten, Leben und Tod, Podium mit Totenbahre und Mumie, Biennale von Venedig, 1972
52
Archaismus
Anmerkungen Seite 61
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 53
nicht seine Benutzungsart zeigen, ist nicht Expression von
Im Ausstellungskatalog von 1963 legte Hollein seine Inspira-
Struktur und Konstruktion, ist nicht Umhüllung oder Zuflucht.
tionsquellen anhand von Fotografien offen, die durch ihre
Ein Bauwerk ist es selbst.
Anordnung auf einer Doppelseite in einen Dialog treten (wie
Architektur ist zwecklos.
in Le Corbusiers Ausblick auf eine Architektur, 1922): linker-
Was wir bauen, wird seine Verwendung finden.
hand eine Weltraumrakete, riesige Maschinen, ein Eisenerz-
Form folgt nicht Funktion. […].“64
waggon, ein Rennwagen, eine Kriegsruine und ein NS-Flakturm
Die „Schockbilder“ veranschaulichen Holleins semantischen
in Wien, rechterhand Aztekenpyramiden, eine Raketenab-
und kommunikativen Architektur-Ansatz, der aus dem Archai-
schussrampe, ein Atompilz, ein Kriegsschiff und das Eingangs-
schen schöpft. Ihre Botschaft ist ambivalent: Hollein kritisierte
tor eines Tempels in Zentralamerika. In der Mitte ist zu lesen:
nicht nur die Unveränderlichkeit der Städte, sondern auch die
„Architektur, Ausdruck der Kraft und des Geistes einer
seinerzeit überaus modische urbane Mega-Struktur, indem er
Epoche, einer Idee. Die Architektur ist aus den Händen der
sie als unheimliches Gebilde erscheinen ließ. Damit reaktivierte
Architekten genommen worden.
er eine Dimension der Architektur, die in der Ära des Funktio-
Architekten haben nichts mit den großen Bauwerken
nalismus marginalisiert (ja tabuisiert) wurde: die emotionalen
unserer Zeit zu tun. Die Architektur von Heute gibt es noch
und psychologischen Aspekte, die sich mit Mythen und Ri-
nicht.“67
tualen, Sakralem und Kultischem verbinden. „Architektur ist
Dieses „Psychogramm“ lässt die drei Grundpfeiler des Vor-
kultisch, sie ist Mal, Symbol, Zeichen, Expression. […] Archi-
stellungsgebäudes von Hollein klar erkennbar werden: die
tektur ist Konditionierung eines psychologischen Zustandes“,
Kriegsruinen der Gegenwart, die Archetypen uralter Kulturen
schrieb er in seinem Manifest Alles ist Architektur (1967)
der Vergangenheit und die Technologie der Zukunft. Dies sind
65
und brachte damit eine seit Semper, Wagner und Freud ver-
die Werkzeuge, die er zu nutzen gedenkt, um eine „Architektur
drängte fundamentale Stärke der Architektur ans Licht. Der
von heute“ zu entwickeln, die „es noch nicht [gibt]“. Mit dieser
technische Fortschritt, so Hollein, würde eine ungeahnte
Aussage holt er zum Rundumschlag gegen die Architektur
Freiheit mit sich bringen, da er die Architektur von ihren
seiner Zeit aus. Das gibt ihm die Möglichkeit, die Architektur
primären Funktionen befreit; daher könne sie sich in Zukunft
in all ihren Dimensionen – die emotionalen, symbolischen
„intensiv mit Raumqualitäten und der Befriedigung psycholo-
und rituellen miteingeschlossen – radikal neu zu denken.
gischer und physiologischer Bedürfnisse beschäftigen“.66
Die Wahl von Archetypus und Urempfinden als Stützen und
Hans Hollein, Werk und Verhalten, Leben und Tod, Rennwagen und kultisches Badezimmer Anmerkungen Seite 61
Hans Hollein: Absolute Architektur
53
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 54
Ausgangspunkt eines neuen Vorstellungsgebäudes ist, so
Stuhl auf einem Floß. In seiner eisigen Nacktheit lässt er an
meine These, Holleins Versuch, alles nach 1945 in Österreich
Hygiene und Sauberkeit denken, vor allem aber wird hier der
Verdrängte psychologisch zu überwinden. Da diese Verdrän-
Gegenstand „Stuhl“ und seine Beziehung zum Körper grund-
gung der psychologischen Konstruktion einer neuen Gesell-
legend hinterfragt. Er lädt zum Hinsetzen ein, um die Toten-
schaftsvision im Weg steht, beruft sich Hollein auf den
bahre zu betrachten und über Leben und Tod nachzudenken.
originären Archetypus, um einen radikalen Kurswechsel her-
Das Nebeneinander dieser beiden Kultobjekte appelliert an
beizuführen und durch Konfrontation mit dem Tod die Mög-
das Archaische in uns und konfrontiert uns mit grundsätzlichen
lichkeit wiederzueröffnen, eine neue Welt aufzubauen, in der
Fragen: unser In-der-Welt-sein, das Vergehen der Zeit, die
Emotionen endlich einen Platz haben.
Vergänglichkeit des Lebens, Tod. Die arché des Übergangs-
Seinen psychologischen Ansatz veranschaulicht eine Installa-
ritus, der in dem eisigen Stuhl vergegenständlicht ist, lässt
tion, die 1972 auf der Biennale in Venedig gezeigt wurde.
uns in der Zeit zurückgehen und tief in unser kollektives
Die Arbeit mit dem Titel Werk und Verhalten, Leben und Tod
Unbewusstes eintauchen.
besteht aus einem Podium auf Stelzen über dem Wasser, auf
Im Innern des österreichischen Pavillons präsentierte Hollein
dem eine Totenbahre steht, die geschützt wird von einem
ein seltsam anmutendes Badezimmer. Alle Gegenstände
schlichten Zeltdach mit vier Bäumchen als Stützen. Auf der
(Duschwanne, Becken, Stuhl, Liege, Tisch, Stele) waren per-
Totenbahre liegt eine in dickes Tuch gewickelte Mumie. In
fekt geometrisch angeordnet und rundum weiß gefliest, wie
der Nähe des Podiums thront ein rundum gefliester weißer
der Stuhl im Außenbereich. Auf diese Weise verwandelten
Hans Hollein, Doppelseite aus: Hollein/Pichler: Architektur, Ausst.-Kat. Galerie nächst St. Stephan, Wien, 1963
54
Archaismus
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sich diese Alltagsgegenstände in Kultobjekte. Durch die
Dieses Beispiel aus dem Frühwerk von Hans Hollein zeigt
Duschwanne ging ein roter Riss, so rot wie das Blut der Opfer-
uns, wie die Architektur Krisen aufgreifen kann, um sie besser
gaben, das die Steine der aztekischen Pyramiden befleckt,
zu überwinden, indem sie sich Archetypen zunutze macht.
wie Hollein in einem Interview erklärte. Der Boden des Beckens
Im Unterschied zu Markus Prachensky, Arnulf Rainer oder
gegenüber war ebenfalls rot. Durch einen schmalen Durch-
Friedensreich Hundertwasser, die eine Resonanz schaffen
gang von 60 cm Breite gelangte man vom „Badezimmer“
wollten, indem sie die Bewohner:innen in den Bauprozess
über einen Holzsteg direkt zur Totenbahre. Neben dem Pavillon
einbezogen, konfrontierte Hollein sie mit den tief vergrabenen
stand ein seltsam anmutendes Objekt, das ein bisschen wie
Schichten ihrer Psyche.
ein Rennwagen aussah, aber die Form einer Totenbahre
Durch gleichzeitige Bezugnahme auf Archetypen, Kriegsruinen
hatte; außerdem war es mit Fahrradrädern ausgestattet und
und futuristische Hochtechnologie stellte Hollein zwei diame-
auf dem Fahrgestell lag eine Duschwanne, ein Alltagsgegen-
tral entgegengesetzte Raum-Zeiten her, die es ihm erlaubten,
stand. Das Fahrzeug, bei dem nichts zusammenzupassen
sich von der Gegenwart zu befreien. In ästhetischer Hinsicht
scheint, verfremdet die Beziehung zwischen Form und Nutzen,
bestand sein Modus Operandi darin, Urzustände der
indem etwas per definitionem Statisches dynamisiert wird.
Menschheit (Leben und Tod – Eros und Thanatos) wiederauf-
Auf diese Weise stellt die Installation unsere Beziehung zur
leben zu lassen, um sich die Welt, die in seiner Wahrneh-
Welt grundlegend infrage.
mung jegliche emotionale Dimension abwehrte, neu anzuverwandeln. Diese Welt, die Hollein mitten im Kalten
Übergangsritus
Krieg wieder lebendig machen wollte, drehte sich nicht um
In Holleins Kunstinstallation wird der ewig wiederkehrende
funktionale und quantitative Probleme des Wiederaufbaus,
Todestrieb, den Freud theoretisiert hat, auf eine Weise subli-
sondern um grundlegende Fragen der Wahrnehmung, ange-
miert, die die verdrängten Kriegserinnerungen (Hollein hatte
fangen mit der des Körpers. Sein Schaffen beinhaltet eine
in seiner Kindheit den Krieg erlebt) zu überwinden ermöglicht,
psychische Dimension, in der Emotionen und Triebe eine
nämlich durch die Auseinandersetzung mit dem Tod als Quelle
zentrale Rolle spielen – getreu der freudianischen Tradition,
des Traumas in einer anderen Raum-Zeit.
die die Wiener Kunst- und Architekturszene stark prägte. Die
Die kultische Installation ist trotz der Anwesenheit der Toten-
außerordentliche Kraft seiner Werke liegt in der Thematisierung
bahre allerdings kaum als Bestattungsritual zu deuten, sondern
des Ringens zwischen Eros und Thanatos, was eine Spannung
eher als Übergangsritus, der eine Veränderung des Status in-
erzeugt, die Freud zufolge „die ganze Buntheit der Lebens-
nerhalb einer Gesellschaft markiert (wie er in alten Kulturen
erscheinungen“ ergibt 69 – und uns ermöglicht, uns wieder
zu finden ist), denn hier geht es nicht darum, sich von einem
lebendig zu fühlen.
Verstorbenen zu verabschieden, sondern darum, die Zeit aufzuheben, um das Gewohnte neu zu ordnen, wofür der Übergangsritus unter anderem steht. Aus psychologischer Sicht besteht ein Übergangsritus, Madlen Sell zufolge, aus drei Etappen: Krise (das Individuum wird von
Junya Ishigami: House & Restaurant, Yamaguchi, 2019
seinem früheren Leben abgeschnitten, was einem symbolischen
Der Archaismus hält auch heute wieder Einzug in die Archi-
Tod gleichkommt),68 Ende (das Individuum wird abgesondert
tektur, wenngleich in anderer Form und aus anderen Gründen
– in einen Schwebezustand versetzt –, was einer symbolischen
als in den 1960er Jahren. Die durch den Klimawandel und die
Schwangerschaft gleichkommt), Wiedergeburt (das Indivi-
globale ökologische Krise vermehrt auftretenden Umweltka-
duum wird mit einem neuen Status wieder in die Gesellschaft
tastrophen haben die Beziehung zwischen Architektur und
eingeführt – was einer symbolischen Wiedergeburt gleich-
Umwelt verändert. Die Natur wird nicht mehr durch die Archi-
kommt). Übergangsriten bieten die Möglichkeit, den Todes-
tektur des Menschen „geordnet“ und „veredelt“, wie man
trieb zu überwinden, indem sie dem Bestattungskult entlehnte
noch im Protokoll des fünften CIAM-Kongresses 1937 in Paris
Archetypen verwenden, um neue Horizonte zu eröffnen.
lesen kann, das Le Corbusier im Zusammenhang mit der
Anmerkungen Seite 61
Junya Ishigami: House & Restaurant, Yamaguchi
55
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 56
einen Kurswechsel vorgenommen: Sie stellt die westlichen Modelle zunehmend infrage und besinnt sich verstärkt auf die Grundelemente der eigenen Kultur. Die Natur, die in der japanischen Kultur seit jeher einen besonderen Stellenwert hat, vor allem im Shintoismus, der davon ausgeht, dass alle Dinge beseelt sind (die vielen Götter können Tiere, Pflanzen und sogar menschliche Wesen sein), wird in ihrer ganzen Verletzlichkeit neu überdacht. Die jüngste japanische Architektur zeugt von dieser Neuausrichtung, bei der von Anfang an die Natur im Mittelpunkt des Entwurfsprozesses steht. In diesem Streben nach Wiederanknüpfung an die Naturelemente spielt das Archaische eine zentrale Rolle und bestimmt nicht nur die Auswahl der zumeist roh belassenen Baumaterialien (Erde, Stein, Beton), sondern auch die Gestaltung, die Bauweise und letztlich auch die Nutzung. Wie funktioniert der Modus Operandi der Ästhetik vor dem Hintergrund der ökologischen Krise, die auch eine ontologische ist, und wie skizziert er eine neue Weltbeziehung? Die Architektur von Junya Ishigami bringt die besondere Verbindung von Archaismus und Natur zum Ausdruck. Der junge
Junya Ishigami, Projekt für acht Ferienhäuser in Dali (China), Modell, Ausstellung Freeing Architecture, Fondation Cartier, Paris, 2018
Architekt bezieht die Umwelt als wesentlichen Bestandteil in seine Projekte ein. Er vertritt einen ganzheitlichen, animistisch
56
Planung eines Skiresorts verfasste: „Der Ordner greift mit
geprägten Ansatz: Statt für eine Person zu bauen, will er alle
seiner humanistischen Lehre ein, die sich auf alle Techniken
Bewohner:innen, ja alle Lebewesen auf Erden, einschließlich
stützt. Er bringt Licht in das Dickicht, erfasst klarsichtig, misst,
der Tiere und der Naturelemente, mitdenken. Sein kritischer
richtet und ordnet. In die Entwürfe und Taten kehrt Ordnung
Ansatz zielt auf die Befreiung der Architektur von vorgefass-
ein. […] der Standort wird durch die Architektur veredelt.“
ten Ideen, Stilen und Praktiken, kurzum von der kulturellen
70
Seit der Zeit, als Le Corbusier den Architekten als ein Werk-
Dimension, zugunsten einer umfassenden Erneuerung ihrer
zeug betrachtete, das die Natur ordnet, um sie in den Dienst
Prinzipien: „so, als würden wir Gebäude in einer Welt bauen,
des Menschen zu stellen, ist uns bewusst geworden, dass
die keinen Begriff von Architektur hat“.71 Die Nutzung wird
diese Unterwerfung zu unumkehrbaren Problemen geführt
ebenso infrage gestellt wie die Architektur selbst. Die „neuen
hat, die uns inzwischen vollends überfordern. Der Optimismus
Rollen und Bedingungen der Architektur“72 kommen unter
der Moderne, der auf dem Glauben an den Fortschritt
anderem in einem neuartigen Archaismus zum Tragen, bei
und die Segnungen der Technik basierte, ist dem Zweifel
dem die Natur die Bauform und die Nutzungsweisen der
und dem Schrecken vor den verheerenden Folgen für die
Bewohner:innen bestimmt.
Umwelt gewichen.
Dieser Ansatz spiegelt sich beispielsweise in einem Bauprojekt
Dieser Paradigmenwechsel zeigt sich auch in der Ästhetik.
in Dali im Südwesten Chinas wider, bei dem Ishigami zum
Dass der neue Bautrend, dem ein anderes Naturverhältnis
Schutz der Natur die zu erbauenden acht Ferienhäuser rund
zugrunde liegt, ausgerechnet aus Japan kommt, ist nicht von
um die für die Region typischen großen Felsblöcke anordnete.
ungefähr. Schwer getroffen durch die Atombomben von
Statt mit einem „sauberen“ Bauplatz zu beginnen, wie dies
Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945 sowie durch immer
Architekt:innen üblicherweise tun, baute er die Zimmer sehr
stärker werdende Tsunamis, die 2011 die atomare Katastrophe
sorgfältig um die Felsen herum, die er auf diese Weise in den
von Fukushima verursachten, hat die japanische Architektur
Ferienkomplex integrierte. Dieser wird von einem 300 Meter
Archaismus
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langen, hauchdünnen Dach überspannt, das stellenweise
neoarchaische Höhlenraum, der gänzlich aus Beton-Stalaktiten
Öffnungen hat, damit Licht und Luft ins Innere gelangen können.
mit der Textur und Farbe von Erde besteht, in die Urzeit
Die Felsblöcke werden zu tragenden Elementen; Innen- und
zurück, als der Mensch das Gleichgewicht der Erde noch
Außenbereich verschmelzen organisch miteinander und bilden
nicht bedrohte.
eine seltsame Felslandschaft, eine Art inneres Naturschutzge-
Angesichts dieser zeitgenössischen Architektur, die das Ar-
biet. Ishigamis Naturschutzbestreben schlägt sich in einer
chaische heraufbeschwört und starke psychische wie physische
architektonischen und ästhetischen Strategie nieder, die eine
Erlebnisse bereitet, scheint die Ästhetik-Definition von
eigene Form des Archaismus hervorbringt, in der sich der
Jacques Rancière mehr denn je zutreffend zu sein: „Der
Mensch gleichsam neu definiert, indem er sich mit Leib und
ästhetische Zustand ist reine Suspendierung, ein Augenblick,
Seele zwischen den Felsformationen niederlässt, die seine
in dem die Form als solche wahrgenommen wird.“76
Wege, Bewegungen, Alltagsrituale und die Art und Weise,
Durch den Kurswechsel, den die genannten Architekturen
den Raum zu bewohnen, bestimmen.
mit ihrer Rückkehr zu den grundlegenden Archetypen (die
Für das Projekt House & Restaurant eines japanischen Chef-
Höhle, die Felslandschaft) vollziehen, kann ein neues psycho-
kochs in Yamaguchi entwickelte Ishigami ein Konzept, das
logisches Bild für eine Gesellschaft entstehen, die sich ihres
ebenso archaische Züge trägt, diesmal allerdings ins Erdreich
Einflusses auf die Natur im Zeitalter des Anthropozäns
verlagert wurde. Er traf die radikale Entscheidung, „Löcher in
allmählich bewusst wird. Diese Projekte hebeln die Wahrneh-
den Boden zu graben, sie mit Beton zu füllen und anschließend
mung von Raum und Zeit aus und schaffen die Möglichkeit,
Höhlen um die Pfeiler herum auszugraben“.74 Die Erde des
(zumindest vorübergehend) in eine Welt zu entfliehen, die
73
Geländes wurde als Schalung für die Betonstruktur verwendet, die einer Höhlenlandschaft ähnelt. Das sei wie bei archäologischen Ausgrabungen, wo man im Voraus nicht wissen könne, was einen erwartet, so Ishigami, welche Art von Räumen sich aus dem Erdreich herausformen, obwohl im Vorfeld alles modelliert wurde.75 Die Bagger, die zunächst Hohlräume aushoben, die mit großen Mengen Beton ausgefüllt wurden, und die danach die Erde rundherum ausgruben – als ob sie das riesige Skelett eines seltsamen urgeschichtlichen Tieres freilegen wollten –, sind Teil eines modernen Bauverfahrens, das allerdings an uralte Bauweisen erinnert, als der Mensch Löcher ins Erdreich grub, um Schutz zu finden. So projiziert uns dieser
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Junya Ishigami, House & Restaurant, Yamaguchi, Japan, 2019, Fotograf: Yashiro Photo Office
Junya Ishigami: House & Restaurant, Yamaguchi
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zum Träumen einlädt. Mythen und Träume, die Werkzeuge der auf Archetypen gründenden Psychologie von C. G. Jung,
Der raumzeitliche Modus Operandi des Archaismus
verdichten sich in einer Architektur, die sich nicht nur von ihnen anregen lässt, sondern durch ihre Raumgestaltung, Ma-
Die in diesem Kapitel vorgestellten Beispiele zeigen verschie-
terialität und spezifische Beziehung zur natürlichen Umgebung
dene ästhetische Handlungsmodi auf, die durch politische,
selbst zur Schaffung von Mythen und Träumen beiträgt. Der
soziale oder klimatische Umwälzungen ausgelöst wurden.
Archetypus beschränkt die Form, die zum Träger eines sym-
Ihnen allen gemeinsam ist eine radikale Simplifizierung, die
bolischen und kulturellen Gehalts wird, auf das Wesentliche.
durch eine Rückbesinnung auf Archetypen früherer Epochen
Die daraus resultierende Symbolik verweist auf eine fragile,
erreicht wird. Mit diesem Sprung in Raum und Zeit kann der
bedrohte Natur, so, als hätte die Architektur ihr letztes Denk-
Lauf der Dinge angehalten und es kann mit der (zeitlichen)
mal bereits errichtet. Dank dieser raumzeitlichen Erfahrungen
Realität gebrochen werden, wodurch ein neuer Rahmen ge-
wird der Mensch sich seines In-der-Welt-seins und seiner
schaffen wird, in dem alles möglich zu sein scheint: Eine
Beziehung zur Umwelt stärker bewusst. Damit entsteht eine
ferne Vergangenheit wird Gegenwart; eine andere Kultur
Form der Resonanz, die die Erde als Ganzes umfasst, von der
etabliert sich und tritt an Stelle der unsrigen. Es ist ein grund-
die Menschheit nur einen kleinen Teil ausmacht.
sätzliches Infragestellen einer Kultur, die mit der Gegenwart und mit der Vision einer lebbaren Zukunft nicht mehr vereinbar ist. Der Archetypus wird herbeizitiert, um durch eine Rückkehr zu den Wurzeln eine grundlegend andere Zukunft zu eröffnen.
Junya Ishigami, House & Restaurant, Yamaguchi, Japan, 2019, Fotograf: Yashiro Photo Office
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Archaismus
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Diese raumzeitlichen Modi Operandi setzen Gegenströmungen
die Beziehungen zu anderen Menschen (Gesellschaft), zur
in Gang, indem sie sich auf Archetypen aus früheren Kulturen
Materie (Dinge) und zu Ideen und einem Absoluten in den
stützen, die als „Wiege der Kultur“ wahrgenommen werden,
Bereichen Natur, Religion, Kunst und Geschichte (Kultur)
wie die ägyptischen Ornamente aus der Zeit nach der Fran-
umfassen, unser Handlungsvermögen nicht zu vergessen.
zösischen Revolution gezeigt haben, die den Bruch mit der
In allen hier vorgestellten Beispielen haben die Architekten
Kultur des Ancien Régime markierten. Die neuen politischen
eine Resonanz mit einer krisengeschüttelten Welt herzustel-
Werte wurden über reaktivierte Archetypen vermittelt, so bei
len versucht. In ihrer ontologischen Suche nach Resonanz,
dem von Durand entworfenen, ägyptisch inspirierten Tempel
die unser In-der-Welt-sein bestimmt, versetzte sie der Rekurs
für die Freiheit, der als Ausgangspunkt für die Konstruktion
auf Archetypen in die Lage, wesentliche Fragen aufzuwerfen,
eines neuen kollektiven Imaginären dienen sollte.
um eine Zukunft aufzubauen. In solchen Momenten der
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm sich Bernard Rudofsky
Suspendierung muss sogar die Gegenwart erst erschaffen
die „Initialisierung“ der Kultur vor, indem er genau an der
werden, wie Holleins klare Aussage verdeutlicht: „Die Archi-
Stelle auf einen radikalen Neuanfang setzte, wo es die westliche
tektur von Heute gibt es noch nicht.“ Der Archetypus als
Kultur, die ihren eigenen barbarischen Zusammenbruch her-
leere Vorform öffnet dann einen imaginären Raum des Nach-
beigeführt hatte, nicht gab. Die wahre Kultur wäre demnach
denkens über eine andere Weltbeziehung: Er hält die Gegen-
eine Kultur, die von dem, was gemeinhin unter „Fortschritt“
wart in der Schwebe, sodass sich durch die Bezugnahme auf
verstanden wird, unberührt geblieben ist.
eine ausreichend weit zurückliegende Epoche eine neue
Hans Hollein stellte die Uhren auf null, indem auch er an
Zukunft abzeichnen kann.
uralte, in der westlichen Kultur verloren gegangene Rituale anknüpfte und sich dabei auf Archetypen stützte – als eine Art obligatorischer Übergangsritus der Läuterung, ohne den es keine neue Zukunft geben kann, fernab vom Funktionalismus des Wiederaufbaus und des Krieges. Junya Ishigami wiederum reaktiviert eine betont physische, haptische und perzeptive originäre Beziehung zur Natur im Urzustand, um das Überleben zu sichern, nun aber nicht mehr das des Menschen (wie bisher in der Geschichte), sondern der Natur. Auf diese Weise „sakralisiert“ er die Natur, bevor sie unter dem Expansionsdruck des Menschen vollends verschwindet. Alle genannten Architekten verwendeten einen spezifischen Wirkmechanismus, um über den Umweg des Archetypus eine neue Ästhetik zu schaffen, die eine kulturelle Gegenströmung in Gang setzte: Durand formulierte ein schablonenartiges abstraktes und „akulturelles“ Vokabular; Rudofsky demontierte die Kultur, indem er alle Errungenschaften verwarf, die der menschlichen Natur zuwiderlaufen, Hollein stellte sie durch Archetypen infrage und Ishigami durch die Gegenüberstellung mit einem neuen, originären Naturzustand. Man könnte diese Projekte als unterschiedliche Formen des Widerstands gegen eine Welt betrachten, mit der keinerlei Resonanz herzustellen ist. Hier sei nochmals an die von Hartmut Rosa definierten drei Resonanzachsen erinnert, die
Der raumzeitliche Modus Operandi des Archaismus
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Anmerkungen 1 Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, Bd. 1: Das Denken, München 1979, 135. 2 Chris Younès, Entre transpassabilité et transpossibilité, l’archaïque en architecture, in: Stéphane Bonzani (Hg.), L’archaïque et ses possibles: architecture et philosophie, Genf 2020, 321–325, hier 321. 3 Philippe Potié, L’archaïque et le contemporain, in: Bonzani 2020, 167–171, hier 169. 4 Stichwort „Archetypus“ in: Duden. Das große Fremdwörterbuch, Mannheim 2007. 5 Stichwort „archétype“, 2. Bedeutung, in: TLFi, Le Trésor de la Langue Française informatisé: http://stella.atilf.fr/ (zuletzt am 11.5. 2023). 6 Brief von C. G. Jung an J. C. Vernon vom 18. Juni 1957, in: C. G. Jung, Letters, Bd. 2: 1951–1961, ausgewählt und hg. von Gerhard Adler, Princeton 1976, 372f. 7 Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Dritter Teil, Leipzig/Wien 1917, 23. Vorlesung: Allgemeine Neurosenlehre, 430f.: https://archive.org/details/freud1917-vorlesungen-c-neurosen/page/430/mod e/2up?q=phantasien. 8 Brief von C. G. Jung an Sigmund Freud vom 25. Dezember 1909, in: C. G. Jung, Briefe, 3 Bde., hg. v. Aniela Jaffé in Zusammenarbeit mit Gerhard Adler, a. d. Engl. und Französ. übers. von Aniela Jaffé, Olten/Freiburg i. Br. 1990, Bd. 1: 1906 –1945, 34. 9 Marie-Louise Von Franz [Schülerin von C. G. Jung], L’interprétation des contes de fées, Paris 2003, 23. 10 Ebd. 11 C. G. Jung, Der Archetyp in der Traumsymbolik, in: Ders. et al. (Hg.), Der Mensch und seine Symbole, a. d. Engl. übers. von Klaus Thiele-Dohrmann, Olten 1968, 67–82, hier 70. 12 Hartmut Rosa, Quelles relations aux autres dans la société moderne?, Radiosendung von France Culture, 26.9.2018: https://www.franceculture.fr/emissions/la-grande-table-2emepartie/quelles-relations-aux-autres-dans-lasociete-moderne. 13 Nachdem das neue Regime nach dem Sturz Robespierres das Ruder in der Hand
60
hatte, tauchte die Freiheitsstatue zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Wettbewerbs nicht mehr auf. 14 Nach dem Brand der Opéra im Palais Royal am 8. Juni 1781 zog die Königliche Schauspieltruppe in ein eigens für sie von Nicolas Lenoir errichtetes neues Opernhaus am Boulevard Saint-Martin. 15 Vgl. Werner Szambien, Les projets de l’an II. Concours d’architecture de la période révolutionnaire, Paris 1986, 65f. 16 Im Freud’schen Sinne die Ausrichtung des Destruktionstriebes über den Umweg der Kunst und anderer gesellschaftlich anerkannter Mittel auf ein höheres Ziel hin. 17 Szambien 1986, 84f. 18 Artikel „SERGENT (Antoine-François)“, in: Biographie universelle ancienne et moderne, Bd. 39, Paris/Leipzig 1854, 96– 99, hier 98. 19 Bei diesem Massaker wurden in mehreren Wellen – in einem Kontext der Panik vor einer österreichisch-preußischen Invasion – gefangen gesetzte Royalisten und Kleriker ohne Gerichtsverfahren hingerichtet. Es gab Hunderte von Toten. Zu ihnen zählte auch die Prinzessin de Lamballe, vgl. Louis Mortimer Ternaux, Histoire de la Terreur: 1792 –1794, Bd. 3, Paris 1868, 316. 20 Ebd., 308. 21 Vgl. Szambien 1986, 65ff. 22 Henri Lapauze, Procès-verbaux de la commune générale des arts …, Paris 1903, 143. Zu Sergent-Marceau siehe: N. Parfait, Notice sur A.F. Sergent, graveur en taille, député de Paris à la Convention Nationale, Chartres 1848, 38. 23 Vgl. Werner Szambien, J-N-L Durand, 1760–1834, de l’imitation à la norme, Paris 1984, 45f., Abb. S. 239f. 24 Ebd., 268: Durand übernahm diesen quadratischen Querschnitt auch in seinem Landhaus in Thiais (1825) für eine der Säulen der Gartenfassade und begründete seine Wahl mit der Kostenersparnis: „In Privatgebäuden der untersten Klasse verbindet sich der Aufwand notgedrungen mit den billigsten Materialien, das heißt mit den anfälligsten […]. Aus diesem Grund wird man die Stützen sehr kurz machen, um ihre Festigkeit zu erhöhen; und aus demselben Grund wird man sie
vielleicht quadratisch machen, statt ihnen eine runde Form zu geben.“ 25 Ebd., 46. Dieser Tempel war schon vor Napoleons Ägyptenfeldzug wohlbekannt, wie ein Aquarell von Louis-Amable Crapelet aus dem Jahr 1754 belegt, das im Louvre hängt. 26 Ebd., 239. In der späteren Fassung von Charles Coudray wurden sie durch Ruhmesdarstellungen und die Inschrift „Félicité publique“ („Glückseligkeit der Allgemeinheit“) sowie unterhalb des Frieses durch die Inschrift „Die Tugenden sind die festesten Säulen der Glückseligkeit der Allgemeinheit“ ersetzt. 27 Ebd., 46. 28 Die Reduktion bestimmt von nun an die architektonische Gestaltung, und zwar in einer noch reduzierteren Weise als im Neoklassizismus, der im Europa der Aufklärung aufkam und in Frankreich in den letzten 20 Jahren der Regentschaft Ludwig XV. bereits in Mode war, wie die École militaire (1751– 56), der Palais de Compiègne (ab 1751 wiederaufgebaut), die Kirche Sainte-Geneviève (1764 –90) und zahlreiche andere Bauten in Paris belegen. 29 J.N.L. Durand, Précis des leçons d’architecture données à l’école polytechnique, Bd. 1, Paris 1802, 2. Teil, 87. 30 Vgl. Potié, in: Bonzani 2020, 169. 31 Robert Rosenblum, L’Art au XVIIIe siècle. Transformations et mutations, Saint-Pierre-deSalerne 1989. 32 Vgl. ebd., 60 –77, 133–137. 33 Michael Fried, La place du spectateur. Esthétique et origines de la peinture moderne, Paris 1990, 18f. 34 Vgl. Rosenblum 1989, 134f. 35 Simon Lee, David, Paris 2002, 202. 36 Zit. nach: Étienne-Jean Delécluze, Louis David, son école et son temps: souvenirs d’Étienne-Jean Delécluze, Paris 1855, 61. Das Zitat stammt aus dem Erläuterungstext zur Ausstellung von Jacques-Louis David mit dem Titel De la nudité de mes héros und geht wie folgt weiter: „Als ich die Horatier und Brutus malte, stand ich noch unter römischem Einfluss. Aber, meine Herren, ohne die Griechen wären die Römer in Kunstdingen nur Barbaren gewesen. Also müssen wir zu den Quellen zurück, und das ist es, was ich im Moment
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versuche zu tun.“ (ebd., 61) 37 Vgl. Rosenblum 1989, 134f. 38 David rechtfertigte diese Entscheidung in seinem Text „De la nudité de mes héros“, vgl. Delécluze 1855. 39 Pierre Larousse, Fleurs historiques des dames et des gens du monde clef des allusions aux faits et aux mots célèbres que l’on rencontre fréquemment dans les ouvrages des écrivains français, Paris 1862, 589. 40 Siehe Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (1940), in: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1980, Kap. XI, 699. 41 Susanne Stacher, Sublime Visionen. Architektur in den Alpen, Basel 2018, Kap. 3, 84 – 90, 94–98. 42 Rudolf von Laban, Die Welt des Tänzers, fünf Gedankenreigen, Stuttgart 1920, 3. 43 Stacher 2018, Kap. 3, 80 – 91. 44 Bernard Rudofsky, Now I lay me down to eat. Notes and Footnotes on the Lost Art of Living, Garden City (New York) 1980, 12. 45 Ebd., 5; den italienischen Satz „Non ci vuole un nuovo modo di construire, ci vuole un nuovo modo di vivere“ übersetzte Rudofsky selbst ins Deutsche im Zusammenhang mit seiner Ausstellung Sparta/Sybaris, Österreichisches Museum für angewandte Kunst, Wien 1987; Ausst.-Kat. Wien 1987, sowie ins Amerikanische: „What we need is not new technologies, but a new way of living“. 46 Rudofsky 1980, 12. 47 Von links nach rechts: Gipsabguss des entstellten Fußes eines Erwachsenen, der sich der Schuhform angepasst hat; Leisten aus Holz; zeitgenössischer Schuh; Gipsmodell eines fiktiven symmetrischen Fußes, der der Vorstellung menschlicher Anatomie eines Schuhherstellers entspricht. 48 Bernard Rudofsky, Are Clothes Modern? An essay on contemporary apparel, Chicago 1947, 74. Das Begleitbuch zur Ausstellung im MoMA kann über folgende Adresse heruntergeladen werden: https://www.moma.org/docu ments/moma_catalogue_3159_300063439.pdf; die Aufnahmen der Ausstellung finden sich hier: https://www.moma.org/calendar/exhibitions/3 159 (beide zuletzt aufgerufen am 7.12.2022).
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49 Bernard Rudofsky, Architektur ohne Architekten. Eine Einführung in die anonyme Architektur, a. d. Engl. von Regina Haslinger und Berta Rudofsky, Salzburg/Wien 1993, Vorwort, o. S. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Ebd. (Hervorh. im Original). 54 Großbritannien, Frankreich, die USA und die UdSSR betrieben eine je eigene Kulturpolitik, die als Vehikel für ihre jeweilige Ideologie diente. Der Wettstreit der Systeme wurde auch auf dem Feld der Architektur (und ihrer medialen Propagierung) ausgetragen, die zum wichtigen Instrument eines „Erziehungsprogramms“ für eine neue Gesellschaftsordnung wurde. Vgl. https://www.azw.at/de/termin/ kalter-krieg-und-architektur/ (zuletzt am 8.12.2022). 55 Die Entwürfe stammten insbesondere von Roland Rainer und Carl Auböck. 56 Frank Lloyd Wright, in: Donald W. Hoppen, The seven ages of Frank Lloyd Wright: a new appraisal, Santa Barbara 1993, 46. 57 Hannah Arendt, Abschließende Bemerkungen zur ersten Ausgabe von The Origins of Totalitarianism (1951), a. d. Amerikan. übers. von Ursula Ludz, in: Dies. und Eric Voegelin, Disput über den Totalitarismus. Texte und Briefe, Göttingen 2015, 15–30, hier 22. 58 Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hg. von Ursula Ludz, 5. Aufl., München 2020, 13. 59 Markus Prachensky, Arnulf Rainer, Architektur mit den Händen (1958), in: Günther Feuerstein (Hg.), Visionäre Architektur. Wien 1958/1988, Berlin 1988, 47. 60 Friedensreich Hundertwasser, Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur, 1958/1959/1964, in: ebd., 47f., hier 47. 61 So die Wortwahl von Hartmut Rosa in: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2019. 62 Walter Pichler, Hans Hollein, Absolute Architektur, 1962, in: Feuerstein 1988, 58f., hier 58. Das Manifest bestand aus zwei Teilen, von denen der erste von Hans Hollein verfasst wurde und der zweite aus der Feder Walter
Pichlers stammt. (Hollein fährt fort: „Architektur wird gemacht von denen, die auf der höchsten Stufe der Kultur und Zivilisation, an der Spitze der Entwicklung ihrer Epoche stehen. Architektur ist eine Angelegenheit der Eliten.“) 63 Ebd. 64 Ebd., 59. 65 Hans Hollein, Alles ist Architektur, 1967, in: Feuerstein 1988, 236f., hier 236. 66 Ebd. 67 Hans Hollein, in: Katalog zur Ausstellung Hollein/Pichler: Architektur in der Galerie nächst St. Stephan, Wien, Mai 1963, o. S. 68 Vgl. Madlen Sell, La dation du nom et autres rites de passage chez les Seereer Siin du Sénégal, in: Le Journal des Psychologues, Nr. 320, 2014, 74–77. 69 Sigmund Freud, Abriss der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1965, 12. 70 Le Corbusier 1939, in: Le Corbusier (Zeichnungen), François de Pierrefeu (Text), La Maison des hommes, Paris 1942, Kap. VII, 193 (auch in: L’Architecture d’aujourd’hui, Bd. 36, Nr. 126, Juni/Juli 1966, 11). 71 Junya Ishigami im Flyer zur Ausstellung Freeing Architecture, 30. März bis 9. September 2018, Fondation Cartier, Paris. 72 Ebd. 73 Junya Ishigami, Vortrag „Masterclass“ an der Pariser École spéciale anlässlich der Ausstellung Freeing Architecture in der Fondation Cartier, 12. April 2018, https://fb.watch/i7DMM_ hIhz/: „Der Kunde wollte eine Räumlichkeit, die sich wie ein alter Weinkeller anfühlt, aber ich wollte keine Imitation. Also habe ich mir überlegt, dass man sie direkt ins Erdreich verlagern muss, damit es sich wirklich archaisch anfühlt.“ 74 Ebd. 75 Ebd. Modellierung anhand eines großformatigen Modells, das anschließend gescannt wurde, um die Baupläne zu erstellen. 76 Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, hg. von Maria Muhle, a. d. Französ. übers. von Maria Muhle sowie Susanne Leeb und Jürgen Link, 2., durchgesehene Aufl., Berlin 2008, 40f.
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Emil Krause, Hugo Mayer (nach einem Masterplan von Adolf Loos), Siedlung Rosenhügel, Siedlerarbeit, 1921, Fotograf: Josef Derbolav Machovsky
2 Zurück zur Ländlichkeit Streben nach Entschleunigung Zeit: Entschleunigung Psychologie: Rückgriff auf gesellschaftliche Archetypen; kollektive Rückbesinnung und Mitgefühl Modus Operandi: Reduktion und Sublimierung durch Ästhetik
Das Phänomen der „Rückkehr zur Ländlichkeit“ geht mit
einher, entweder umständehalber nach einer Katastrophe oder
Entschleunigung und mit substanziellen Einschränkungen der
einem Krieg oder aufgrund einer proaktiven Willensentschei-
Lebensweise einher, die von einer urbanen zu einer agrarischen
dung, die einen Verzicht impliziert. Solche Momente der Ein-
übergeht. Die Idee der Entschleunigung als Antwort auf die
schränkung sind mit einem starken ästhetischen Streben und
Dynamik des Fortschritts und dessen Folgen, die wir immer
einem fundamentalen Bedürfnis nach Verschönerung des neuen
weniger im Griff haben, bringt die Hoffnung auf eine Verlang-
„Naturzustands“ verknüpft, um darin über die Befriedigung
samung des Beschleunigungsprozesses mit sich, der exponen-
der mit dem bloßen Überleben verbundenen Bedürfnisse hinaus
tielle Ausmaße angenommen hat. Als Gegenentwurf zum
eine wahrnehmbare intellektuelle Entfaltung zu finden, die eine
chaotischen Wachstum der Industriestädte, verursacht durch
Transzendierung des vom üblichen Kulturmodell weit entfernten
die Dynamik des Kapitalismus und der Bodenspekulation,
Urzustands ermöglicht. Wie kann die Ästhetik neue Narrative
verbindet sich die „Rückkehr“ zu einer zumeist auf Autarkie
der „Rückkehr zur Ländlichkeit“ erschaffen? Und welche Archi-
und Selbstversorgung beruhenden neuen Form der Agrar-
tekturformen nimmt sie an, um der Dynamik der schnell wach-
gesellschaft in der Regel mit der Vision einer Gesellschaft,
senden Städte standzuhalten?
die nach genossenschaftlichem Vorbild umgestaltet wird
Der psychologische Modus besteht in einem „kollektiven Mit-
und nach Autonomie strebt. Kollektives Handeln spielt
gefühl“ (getragen vom Lebenstrieb) und in einer utopischen
dabei eine Schlüsselrolle und hat eine starke politische
Vision für die Gesamtheit einer sozialen Klasse (dann spricht
Dimension mit dem Ziel, gemeinschaftlich eine Gesellschaft
man von „Solidarität“) oder, in kleinerem Maßstab, für den
aufzubauen, die sich durch eine größere Solidarität und
begrenzten Mitgliederkreis einer Mikrogesellschaft, die ein
Resonanz auszeichnet.
paralleles Experimentum Mundi lebt. Die entschleunigte „Rück-
Diese Gegendynamik geht mit drastischen Einschränkungen
besinnung“ auf eine vorindustrielle Gesellschaftsform nimmt
(der Lebensweise, der Kultur, der verfügbaren Materialien usw.)
mitunter nostalgische, romantische und sogar mystizistische
Streben nach Entschleunigung
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Züge an, wenn sie nicht in ein gewagtes Abenteuer abdriftet.
Berührung kommt) die bestehende Diskrepanz zwischen der
In jedem Fall knüpft sie an gesellschaftliche Archetypen an, die
Schnelligkeit des technischen Fortschritts und der Langsamkeit
tief im kollektiven Unbewussten vergraben sind. Das Imaginäre
der menschlichen Moral entgegen: „Aber die sittliche Anlage
beruht hier auf einem anderen Verhältnis zur produktiven Natur
der Menschheit, die […] ihr immer nachhinkt, wird sie, die in
(natürlicher, näher am Menschen, mit einem anderen Produk-
ihrem eilfertigen Lauf sich selbst verfängt und oft stolpert, (wie
tionsmaßstab) sowie auf der Neugestaltung einer „maßvolleren“
man unter einem weisen Weltregierer wohl hoffen darf) der-
Gesellschaft, das heißt mit reduziertem Konsum und auf die
einst überholen.“3 Vor dem Hintergrund der Aufklärung war
Befriedigung der Grundbedürfnisse ausgerichtet, allerdings
Kant der Überzeugung, dass im rasanten Wettlauf zwischen
angereichert mit neuen Kulturelementen und gesellschaftlichen
Moral und Fortschritt, der Konsum und Überfluss einschließt,
Werten, kraft derer die Einschränkungen und das damit zwangs-
am Ende die Moral siegen würde. Doch er hat sich geirrt. Im
läufig entstehende Gefühl von Verlust ertragen und überwunden
Zuge der zunehmenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert,
werden können. Bleibt die Frage, wie es bei diesem Modus
der Ausbreitung des Kapitalismus (mit seinen zyklischen
Operandi der Entschleunigung gelingt, neue Werte einzuführen,
Schwankungen, die dem Prozess der „schöpferischen Zerstö-
mit anderen Worten, auf welche ästhetische Ressourcen zu-
rung“ im Sinne Joseph Schumpeters innewohnen: Prosperität,
rückgegriffen wird, um mit den Einschränkungen und deren
Rezession, Depression, Erholung; siehe Kap. 3) und der immer
Sublimierung umzugehen.
gierigeren Bodenspekulation (1873 platzte die Spekulations-
Die „Rückkehr zur Ländlichkeit“ ist in der Geschichte ein wieder-
blase und löste wegen ihres Ausmaßes und ihrer internationa-
kehrendes Phänomen. Die Vision eines „Weltendes“ in Verbin-
len Tragweite die erste Große Depression aus) blieb ein
dung mit der Idee einer heilsamen „Rückkehr aufs Land“, wie
Großteil der Bevölkerung vom Fortschritt ausgeschlossen. Die
sie heute von den Vertretern der Kollapsologie propagiert wird
Industrialisierung verwandelte die Städte in überbevölkerte
(die Covid-19-Krise hat den Trend zur Stadtflucht noch beschleu-
und entsprechend ungesunde Metropolen und setzte die Ar-
nigt), erinnert an die Lebensreformbewegungen, die im ausge-
beiterklasse menschenunwürdigen Lebensbedingungen aus.
henden 19. Jahrhundert in England und im deutschsprachigen
Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich die Hoffnung, die man
Raum aufkamen. Auf welchen Ideen basierte ihr Streben nach
in den technischen Fortschritt gesetzt hatte, infolge seiner ver-
Erneuerung und wie wurden diese in der Architektur umge-
heerenden Auswirkungen teilweise zerschlagen. Der Fort-
setzt? Wie verpflichteten sie zum Handeln? Im Folgenden wird
schritt hatte den Wettlauf gegen die Moral gewonnen.
die Bewegung der „Rückkehr zur Ländlichkeit“ – als Antwort auf Grundbedürfnisse und zugleich utopische Projektion einer
Walter Benjamin und der Engel der Geschichte
besseren Welt – anhand einiger Beispiele aus dem frühen
Im Zusammenhang mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus
20. Jahrhundert nachgezeichnet, auch um den Bogen zum
in Deutschland und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs
heutigen Trend der Stadtflucht zu spannen, der von der Angst
kritisierte Walter Benjamin, der in Berlin in eine assimilierte
vor dem Klimawandel und vom Willen nach Entschleunigung
jüdische Familie geboren wurde und ab 1933 in Frankreich im
getragen wird.
Exil lebte, den Fortschritt. Er verglich ihn mit einem unkontrollierbaren Sturm, der den „Engel der Geschichte“ in die Zukunft
Anzweiflung des „Fortschritts“
treibt, obwohl sich dieser der Vergangenheit zuwenden will,
In diesem Kapitel wird der derzeit zunehmend in der Kritik
um deren Trümmer wieder aufzurichten. Benjamin ließ sich
stehende Begriff des Fortschritts als ein „Prozeß andauernder
dafür von einem Bild von Paul Klee inspirieren, das er in den
und zunehmender Vervollkommnung […], der […] von den
frühen 1920er Jahren erworben hatte:
Menschen selber zu planen und zu vollstrecken sei“, diskutiert.
„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein
Wie in der Einleitung dargelegt, hielt schon Kant dem Leib-
Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im
niz’schen Postulat „progressus est in infinitum perfectionis“2
Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine
und der Idee Rousseaus von der Vervollkommnungsfähigkeit
Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine
des Menschen (insbesondere, wenn er mit der Natur in
Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß
1
64
Zurück zur Ländlichkeit
Anmerkungen Seite 95
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so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zuge-
Sozialdemokratie, für den
wendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns
die Natur „gratis da ist“7
erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die
und ganz im Dienst des
unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor
Menschen steht. Entgegen
die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten
dieser positivistischen
wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein
Weltanschauung folgte
Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln
Benjamin eher dem Ansatz
verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht
von Joseph Fourier, der
mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam
die Frage der Natur mit
in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der
der Idee einer sinnvollen
Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir
gesellschaftlichen Arbeit
den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
verband;8 die Ausbeutung
4
Demnach bewahren die Trümmerhaufen, die der Fortgang des
der Natur sollte den kol-
Fortschritts verursacht hat, in sich eine Erinnerung, die den
lektiven (und nicht dem
katastrophalen Lauf der Geschichte aufhalten kann. Der Engel
spekulativen) Interessen
will die Zeit verlangsamen, um innezuhalten und die Trümmer
untergeordnet werden.
wieder aufzurichten, doch vergeblich. Diese Kritik des Fort-
Diese Vorstellung, die sowohl die Natur als auch eine für die
schritts versucht aus der Dynamik der Beschleunigung
Gesellschaft als Ganzes sinnvolle Arbeit umfasst, war bereits in
auszubrechen, die die Menschheit in eine grauenvolle Zukunft
der englischen Reformbewegung des späten 19. Jahrhunderts
treibt. Dieser Text ist einer von vielen, die Walter Benjamin
weit verbreitet; diese stellte sich gegen die unbegrenzte Dyna-
auf seiner Flucht Hannah Arendt anvertraute, nachdem er
mik des Industrialisierungsprozesses, der drastische Auswir-
als Deutscher in Südfrankreich in ein Internierungslager
kungen auf die Städte und die ländlichen Gebiete hatte.
gesteckt worden war. In seiner Verzweiflung nahm er sich
Der Fortschritt, der für gewöhnlich mit dieser Dynamik in Ver-
wenig später, im September 1940, als er in Portbou, nahe
bindung gebracht wird, ist ein ins Unendliche strebender
der französischen Grenze festsaß, das Leben. Arendt ver-
Vektor. Doch weil die Moral nicht mehr einem Fortschritt
schickte Benjamins Manuskripte nach New York, wo sie 1942
entsprach, der sich schrittweise von jeglicher Moral losgesagt
veröffentlicht wurden.
hatte und nur noch der eigenen Bahn des „immer mehr“
Angesichts des Aufstiegs des Faschismus reflektierte Benjamin
folgte, mussten der Begriff des Fortschritts neu definiert und
über Geschichte und Zeit und stellte die Vorstellung vom linea-
neue Formen der Stabilität gefunden werden – ausgehend von
ren Verlauf des Fortschritts infrage:
der Natur, einschließlich der des Menschen. Wie und auf wel-
Paul Klee, Angelus Novus, 1920, aquarellierte Zeichnung aus Tusche u. Ölkreide auf vergilbter Radierung eines Luther-Porträts aus dem 19. Jh.
„Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschenge-
cher Grundlage sollte eine Gemeinschaft geschaffen werden,
schlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres
die sich wieder mit der Natur verband? Im englisch- und
eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs
deutschsprachigen Raum des späten 19. und frühen 20. Jahr-
nicht abzulösen. Die Kritik an der Vorstellung dieses
hunderts stand die Natur im Vordergrund der Erneuerungs-
Fortgangs muß die Grundlage der Kritik an der Vorstellung
bestrebungen, die von dem Wunsch nach Versöhnung des
des Fortschritts überhaupt bilden.“5
Menschen mit seiner Umwelt getragen waren und ihren Aus-
Benjamins Zweifel am linearen Verlauf des Fortschritts schloss
druck in der Idealvorstellung der „Town-Country“ bzw.
die Ausbeutung der Natur mit ein. Gemäß seiner marxistischen
Gartenstadt fanden. Diese wurde nicht als Gegensatz zwischen
Auffassung sollte die „Arbeit, wie sie nunmehr verstanden
Stadt und Land begriffen, sondern als Idealstadt, die sich das
wird“, nicht „auf die Ausbeutung der Natur“ hinauslaufen,
Ländliche zu eigen machte und zur Natur zurückkehrte. Für
„welche man mit naiver Genugtuung der Ausbeutung des Pro-
diese Bewegung, die auf einem starken kollektiven Mitgefühl
letariats gegenüber stellt“, schreibt er und bezieht sich dabei
beruhte, mussten angemessene urbane und architektonische
auf Josef Dietzgen, einen wichtigen Akteur der deutschen
Formen gefunden werden. Es entstanden ganzheitliche
6
Anmerkungen Seite 95
Streben nach Entschleunigung
65
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Modelle, die einen regelrechten „Kosmos“ schufen, in dem wieder eine Resonanz zwischen Mensch und Umwelt erzeugt und der Aufbau einer genossenschaftlich organisierten Gesell-
Ebenzer Howard: Die Gartenstadt als Vorbild der modernen Agrarstadt
schaft möglich wurde, die auf gemeinschaftlichem Handeln
Als Ausgangspunkt dient uns die von Ebenezer Howard (1850–
beruhte. Welche Form haben diese Gesellschaftsmodelle ange-
1928) ersonnene „Gartenstadt“, da sie in der Folgezeit Mo-
nommen? Mit welchen Mitteln lässt sich ein kollektiver Geist
dellcharakter für zahlreiche Stadtentwicklungsvorhaben hatte.
bilden?
Heute verbinden wir mit diesem Begriff meist eine einfache Wohnform und vernachlässigen die Philosophie, die dem Kon-
Die in diesem Kapitel vorgestellten Beispiele enthalten Refle-
zept der Gartenstadt innewohnt, obwohl sie in gesellschaftli-
xionen über das Wesen und die Ausrichtung des Fortschritts.
cher Hinsicht revolutionär war – und doch ist angesichts der
Dabei geht es auch um den Status der Natur (als Freizeitraum
heutigen Krisen wieder ein wachsendes Interesse daran festzu-
und als produktive Natur) angesichts des ungebremsten
stellen. Als Reaktion auf die verheerenden Auswirkungen der
Wachstums der Industriestädte. Die Projekte übermitteln eine
Industriellen Revolution – die katastrophalen hygienischen Zu-
Kritik der Undifferenziertheit des urbanen Raums, die von der
stände in den rußgeschwärzten, überbevölkerten Städten und
rein spekulativen Dynamik des Kapitals gesteuert wird; sie unter-
das Elend der Arbeiter – stellte Howard im Londoner Kontext
breiten differenzierte, durch „starke Formen“9 gegliederte
des späten 19. Jahrhunderts weitreichende Überlegungen zum
Lebensräume, die für die Allgemeinheit bestimmt sind. Diese
Verhältnis von Stadt und Land an. Er wollte die laufende Spe-
beruhen auf einer grundlegenden Fragestellung: Wie findet man
kulationsdynamik bremsen, indem er ein alternatives Gemein-
eine Form, die der Formlosigkeit der modernen Stadt, die
schaftsmodell im ländlichen Raum vorschlug.
gemeinschaftliche Räume ausmerzt, entgegenwirkt? Wie kann
Die Gartenstadt – nachgerade ein Modell sozialer Durchmi-
man ein Gegenmodell entwerfen, das makrokosmisch und
schung – soll wie ein Magnet sowohl die Stadt- als auch die
stark genug ist, um gegen die bestehenden Dynamiken
Landbevölkerung anziehen. Um diese Idee zu veranschaulichen,
standzuhalten, und das gleichzeitig vielfältige mikrokosmische
entwarf Howard ein Diagramm mit drei Magneten, die Stadt,
Erfahrungen zulässt, die das Entstehen einer anderen Welt-
Land und die von ihm sogenannte „Town-Country“ mit ihren
beziehung konkret ermöglichen?
Vorzügen und Schattenseiten darstellen. Dem krassen Ungleichgewicht zwischen Stadt und Land setzte er das Idealmodell der „Stadt in der Landschaft“10 entgegen, die idealerweise die
Ebenezer Howard, aus: Tomorrow – A peaceful Path to Real Reform, 1898, „Die drei Magneten“ 66
Zurück zur Ländlichkeit
„Social Cities“, Vernetzung der Gartenstadt
„Garden-City“, Diagramm der Gartenstadt und des umgebenden Agrarlandes
Anmerkungen Seite 95
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besten Eigenschaften von Stadt und Land vereinen sollte:
ihrerseits an das Fernbahnnetz angeschlossen ist. Es ist ein re-
„Schönheit der Natur. Soziale Chancen. Leicht zugängliche
gelrechter Mikrokosmos, der nach eigenen Regeln funktioniert
Felder und Parks. Niedrige Mieten. Hohe Löhne. Niedrige
und dennoch mit der Außenwelt verbunden ist.
Steuern. Viel zu tun. Niedrige Preise. Ohne Schwitzsystem. Platz für Unternehmertum. Kapitalfluss. Reine Luft und reines
Ein politisches Modell
Wasser. Gute Kanalisation. Helle Häuser & Gärten. Kein
Howard legte besonderes Augenmerk darauf, wie die Verwal-
Rauch. Keine Slums. Freiheit. Zusammenarbeit.“
tung des Bodens als Gemeingut gestaltet sein sollte, um die
11
Howard schlug mit seiner Gartenstadt eine Kompromiss-
Spekulation zu bekämpfen. Er folgte einer politischen Vision,
lösung vor, um die Nachteile der Lebensweisen in der Stadt
die auf eine Reform des Bodenrechts sowie eine Stärkung der
und auf dem Land zu beheben. Dafür übertrug er die guten
Macht der Kommunen und des Staates im Zuge der Urbanisie-
Eigenschaften der Stadt auf das Land und umgekehrt. Auf
rung setzte. Er erwog sogar, die Banken in eine soziale Rich-
diese Weise führte er die Stadt gleichsam zum Naturzustand
tung zu reformieren: Sie sollten die Gewinne an die Stadtkasse
zurück und erhob das Land zum Kulturzustand, indem er die
ausschütten und durch die Stadtverwaltung kontrolliert wer-
herkömmliche urbane Logik vollständig umkrempelte. So
den.12 Diese Vision ist in das Zeitgeschehen eingebettet. Zur
wurde die ländliche Langeweile mit Kultur und Bildung sowie
Erinnerung: Marx hatte 1867 Das Kapital veröffentlicht, also
einer neuen Gesellschaftsordnung überwunden, in der jeder
31 Jahre vor dem Erscheinen von Howards Gartenstadt-Projekt.
Einzelne am kollektiven Leben teilnahm.
In Bezug auf den Kommunismus nahm Howard eine ambiva-
Die ideale Raumordnung basiert hier auf einem Prinzip von
lente Haltung ein: „Gewiß ist er ein vorzügliches Prinzip, und
Ringen mit einer Gartenanlage im Zentrum, um die sich das
bis zum gewissen Grad sind wir alle Kommunisten, selbst die,
Rathaus, die Kultureinrichtungen und das Krankenhaus grup-
die bei dem bloßen Gedanken schaudern, so genannt zu wer-
pieren; daran schließt ein großer „Zentralpark“ an. Rund um
den. Wir alle glauben an kommunistische Straßen, Parks, Biblio-
diesen Park läuft eine verglaste Galerie als Einkaufszentrum,
theken usw. Aber darum dürfen wir doch den Individualismus
der „Kristallpalast“. Um sie herum erstreckt sich ein Wohnviertel,
nicht unterschätzen.“13 Er verteidigt auch die Notwendigkeit
das durch Avenuen untergliedert ist; an der breitesten und
des Wettbewerbs, um das menschliche Handeln anzuspornen,
prächtigsten Avenue, die als kreisförmiger Park angelegt ist,
insbesondere hinsichtlich der Art und Weise, wie das Land zu
stehen die Schulen. Am Außenring befinden sich die Fabri-
bewirtschaften sei, da die Produktivität der Kommune eine
ken, deren Grundstücke direkt an der Ringbahn liegen, die
gute Bodenrente einbringt, die für ihr Funktionieren unerlässlich ist. Allerdings sollte der freie Wettbewerb nicht zu einem System der Ausbeutung führen; die Unternehmen seien „natürlich an das allgemeine Landesgesetz sowie an die Vorschriften gebunden, die für Werkstätten bestimmte Raumverhältnisse und gesundheitliche Bedingungen vorsehen“14. Ziel ist es, die Qualität der Produkte und die Produktion in einer gerechteren und sozial verträglicheren Weise zu verbessern. Um die Fehler des Kapitalismus zu korrigieren, soll Howard zufolge der Markt reguliert werden, damit es nicht zu Überproduktion und Handelsverlusten kommt. So sollten die Ladengeschäfte im „Kristallpalast“ der Aufsicht durch die Gemeinde unterliegen, die einen Numerus clausus festlegt, um sie vor der Konkurrenz zu schützen, gleichzeitig aber auch die Konsumenten, die, sollten sie mit den Produkten oder Preisen unzufrieden sein, fordern können, dass ein anderes Fachgeschäft dersel-
„Ward and Centre Garden-City“, Ausschnitt des Planes der Gartenstadt
Anmerkungen Seite 95
ben Branche die Genehmigung erhält, sich in der Gartenstadt
Ebenezer Howard: Die Gartenstadt
67
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 68
niederzulassen. Dieses Regulierungsprinzip oder „Prinzip der
ausbilden und, da alsdann alle zu Mitarbeitern heraufrückten,
lokalen Option“, wie Howard es nennt, sollte in einem ersten
würde der Unterschied zwischen Herren und Untergebenen
Schritt „beispielsweise auf Bäckereien und Waschanstalten
langsam verwischt werden“.21 Howards Fortschrittsbegriff
wohl angewendet werden können“, bevor es verallgemeinert
beruht auf der Idee einer gerechteren Gesellschaft, die sich
wird. So würde die Gartenstadt bessere Bedingungen bieten
selbst verwaltet und versorgt, ohne sich abzukapseln, ganz im
als die existierenden Städte. Das Idealmodell von Howard
Gegenteil.
kann weder als „absolut kommunistische[s]“ noch als „sozialis-
Für die konkrete Umsetzung übertrug Howard seine Überlegun-
tisches Experiment“ angesehen werden,16 vielmehr ist es eine
gen zunächst auf den Maßstab der Gartenstadt, erwog aber
originelle Mischung aus unterschiedlichen Aspekten des Ge-
auch ein landesweites Wachstumsmodell zu einem späteren
meinwesens und individuellen Interessen, aus sozialer Regulie-
Zeitpunkt.22 Er ging davon aus, dass die Gartenstadt aufgrund
rung und individueller Freiheit, die dem Prinzip des freien
ihrer vielen Vorzüge so viele Menschen anziehen würde, dass
15
Wettbewerbs unterliegt.
sie vergrößert werden müsste, allerdings nicht durch die
Anregungen dafür holte sich Howard in der politischen Theorie
Bebauung des umliegenden Ackerlandes, da dieses für die
von Thomas Spence (1750–1814), einem radikalen Demokraten,
Ernährung der Stadt unerlässlich ist sondern durch noch mehr
der Ende des 18. Jahrhunderts nach einem Konflikt um Gemein-
Gartenstädte. Diese müssten weit genug voneinander entfernt,
deeigentum in Newcastle eine Agrarreform formulierte, die
jedoch über Bahnverbindungen in wenigen Minuten zu erreichen
auf der Vergesellschaftung von Grundbesitz und der Bildung
sein und ein Netz aus kleineren Gartenstädten bilden, die
autonomer Pfarrgemeinden gründete, in denen nur eine ein-
um große Pole herum angeordnet wären wie Satelliten, die um
zige Steuer zu zahlen wäre, nämlich die Grundrente, die „jeder
Planeten kreisen.
an die Gemeinde abführt und die der Größe, Güte und den
Die Gartenstadt unterläuft die Dynamik der Beschleunigung,
sonstigen Vorzügen seines Grundstücks entspricht“.17 Damit
die mit dem Industrialisierungsprozess einhergeht, und entwi-
würden die Infrastruktur und die öffentlichen Gebäude sowie
ckelt ihre eigene Wachstumsdynamik, da die industrielle Pro-
die Verwaltung und die Armenhilfe finanziert. Howard interes-
duktion zwecks Verbesserung ihrer Umsetzbarkeit und Ausbau-
sierte sich auch für die frühen Schriften seines Zeitgenossen
fähigkeit Teil ihres Systems ist, allerdings anderen Prinzipien und
Herbert Spencer (1820 –1903), der, bevor er sich den Liberalen
gesellschaftlichen Regeln gehorcht. Howard ging es darum, die
anschloss, für die Agrarreform von Thomas Spence warb und
kapitalistische Dynamik der Industrie zu „entschleunigen“ und
für das „Gesetz der allgemeinen gleichen Freiheit“ eintrat.
sie auf eine andere Bahn des Fortschritts zu lenken, die statt
Im Unterschied zu diesen Modellen schwebte Howard jedoch
auf der linearen Wirtschaft auf einer Kreislaufwirtschaft beruht.
nicht die Enteignung der Eigentümer im ganzen Land vor, viel-
Die Gartenstadt versucht, ihre „Uhr“ zu verlangsamen und sich
mehr schlug er vor, „das erforderliche Land, auf dem das System
dem Beschleunigungsprozess zu entziehen, indem sie ihre
in kleinem Maßstab durchgeführt wird, anzukaufen“19 und die
eigenen Zeitlichkeiten und Funktionsregeln – gewissermaßen
Maßnahme des Landerwerbs in einem zweiten Schritt auszu-
eine parallele Raumzeit – erschafft.
weiten; er ersetzte die Pfarrgemeinde durch die Stadtgemeinde
Mit wirtschaftlichen, finanziellen, sozialen und ökologischen
als alleinigem Grundeigentümer, die vollkommen eigenständig
Argumenten entwarf Howard ein ganzheitliches Modell, mit
über die zu tätigenden Investitionen entscheiden sollte. Sein
dem er das ausufernde Wachstum der Städte seiner Epoche
Modell beruhte also auf einer Art sozialistischem Kommunita-
infrage stellte. Um die „Rückkehr zur Ländlichkeit“ zu versinn-
rismus liberaler Prägung mit der Gemeinde und dem Staat als
bildlichen, bediente er sich des Kreises als vollendete Form,
Garanten einer sozialen Marktwirtschaft.
die gegen die Formlosigkeit der Industriestadt und die Zersie-
Howard schlug vor, die Produktions- und Verkaufsstrukturen zu
delung ankämpft. Mit dieser starken geometrischen Form
reformieren, indem er ein genossenschaftliches System ein-
konnte er ein gesellschaftliches Gegenmodell entwerfen, das
führte, bei dem die Arbeiter und die Angestellten der Geschäfte
der Expansionsdynamik der Stadt trotzt. Wie eine Festung
am Gewinn beteiligt und somit ermutigt würden, ihr Bestes zu
widersetzt sich die Gartenstadt dem Druck der Bodenspekula-
geben. Dies könnte sich „allmählich zu einem ständigen Brauch
tion und entwickelt im Innern eine Heterotopie mit eigener
18
20
68
Zurück zur Ländlichkeit
Anmerkungen Seite 95
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Raum-, Zeit- und Gesellschaftsordnung. Die Kreisform der Gar-
Deutschland drei sehr unterschiedliche architektonische Vor-
tenstadt stellt ein Ideal dar, dessen Raumordnung an verschie-
schläge vor, die auf den jeweiligen politischen, sozialen und
dene Situationen angepasst werden kann. Es handelt sich also
ökonomischen Kontext reagierten. Was für andere Bereiche
mehr um ein Raumschema, welches einem Gesellschaftskon-
gilt, gilt auch für die Architektur: Es gibt nicht die eine Antwort
zept Gestalt verleiht, als um eine starre Stadtform.
auf eine Krise, es gibt keine universelle Wunderlösung für alle
Das utopische Modell nahm einige Jahre später, 1903, in
Probleme. Die Gartenstadt von Howard mag als Idealmodell
Letchworth konkrete Gestalt an, und Howard zählte zu den
erscheinen, doch mit ihrem enormen Flächenbedarf blieb sie
ersten Bewohnern der Gartenstadt. Sein Konzept war so
weitestgehend utopisch. Interessant ist festzustellen, dass ihre
erfolgreich, dass 1919 eine zweite Gartenstadt in Welwyn ge-
Gesellschaftsordnung, die auf genossenschaftlichen und
baut wurde (beide gehören heute zum Londoner Stadtgebiet),
demokratischen Prinzipien basiert, gerade in Zeiten akuter
und viele weitere in ganz Europa folgten.
Krisen und dringenden Handlungsbedarfs aufgegriffen wurde,
Mit ihrem ganzheitlichen Ansatz lässt die Gartenstadt an das
wenn eine Bottom-up-Umorganisation mehr denn je für den
Resonanz-Konzept von Hartmut Rosa denken: Die Möglichkeit
Aufbau einer neuen Gesellschaft geeignet erscheint.
zu handeln wird hier zu einem Kernelement, und jeder Einzelne findet in dieser Gesellschaft seinen Platz und seine Rolle. Ein derartiges gesellschaftliches, politisches und ästhetisches Stadtmodell ist Ausdruck der Suche nach Resonanz in einer Gesellschaft, die sich in einer Krise befindet: Wohnform, Arbeit,
Adolf Loos und Margarete Schütte-Lihotzky: Haus mit einer Mauer und Selbstversorgergarten, 1920
Landwirtschaft, Freizeit und Kultur bilden ein ausgewogenes Ganzes und streben auf dasselbe Ideal zu.
Unter dem Gesichtspunkt der radikalen Flächenreduzierung
Angetrieben von seinem sozialen und ökologischen Engage-
des Modells von Howard ist an erster Stelle Adolf Loos (1870–
ment, gründete Howard sein Stadtmodell auf unterschiedlichen,
1933) zu nennen. Loos setzte sich, wie so manche andere sei-
ja sogar widersprüchlichen politischen Theorien. Genau das
ner Zeitgenossen, nach dem Ersten Weltkrieg für den Bau von
macht aber vermutlich die Stärke seines Modells aus: dessen
Gartenstädten für Arbeiter ein, in einer Zeit, in der die Armut
Vermögen, sich über Doktrinen hinwegzusetzen. Der Beweis
so groß war, dass die Ärmsten (insbesondere Kriegsheimkehrer)
dafür sind die vielen Gartenstädte, die in mehreren Ländern
die Wälder um Wien auf chaotische Weise abzuholzen began-
auf Betreiben von Akteuren unterschiedlicher politischer Cou-
nen, um behelfsmäßige Behausungen zu bauen und Nutzgärten
leur – Kommunisten, Sozialisten, Liberale – entstanden. Diese
anzulegen. Da Österreich nicht nur den Krieg verloren hatte,
Offenheit ist zugleich auch eine Schwäche, wenn mit der Zeit
sondern auch einen Großteil des Staatsterritoriums abtreten
die gemeinschaftliche und politische Dimension verblasst oder
musste, war das Elend hier noch größer als in anderen euro-
ganz verschwindet und schließlich die ursprüngliche Garten-
päischen Ländern. Loos sympathisierte mit den Demonstratio-
stadt (die auf einem Genossenschaftssystem beruhte) zu einer
nen der „Siedlerbewegung“ – die Mittellosesten kämpften für
Art Paradies auf Erden für Privateigentum wird, wo jeder
die Überlassung landwirtschaftlich nutzbarer Baugrundstücke –
Einzelne sein eigenes, säuberlich von anderen getrenntes
und beschloss, sich bei der Gemeinde Wien für sie einzusetzen,
Zuhause triumphierend feiert.
die ein neues Amt namens Siedlungsamt eingerichtet hatte mit der Aufgabe, die anarchisch daherkommende Bottom-up-
Im Anschluss an diese Darlegung des theoretischen Modells
Bewegung in ordentliche Bahnen zu lenken. Man wollte den
soll nun aufgezeigt werden, wie Howards Gartenstadt nach
Grüngürtel der Stadt bewahren, der als Lunge Wiens erachtet
dem Ersten Weltkrieg in der wirtschaftlich und sozial schwieri-
wurde, und einer Revolution (wie in Russland) zuvorkommen –
gen Nachkriegssituation in drei deutschsprachigen Ländern
eine Maßnahme mit einer stark politischen, sozialen und öko-
umgesetzt wurde. Obwohl sie sich auf dasselbe Modell berie-
logischen Dimension. Schon bald bekam Loos Verstärkung von
fen,alegten Adolf Loos und Margarete Schütte-Lihotzky in
der jungen Architektin Margarete Lihotzky (1897–2000; später
Österreich, Hannes Meyer in der Schweiz und Bruno Taut in
Schütte-Lihotzky, sie entwickelte die sogenannte Frankfurter
Anmerkungen Seite 95
Adolf Loos und Margarete Schütte-Lihotzky: Haus mit einer Mauer
69
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Küche in den 1920er Jahren). Auch Ernst Egli, Josef Frank,
zuzuteilen – und nur ihnen. Das war letztlich ein hochpolitischer
Emil Krause, Hugo Mayer und viele andere Architekten setzten
Akt und unter den Kommunisten nicht unumstritten, da für sie
sich für den Bau neuer Arbeitersiedlungen mit Selbstversorger-
die Revolution in erster Linie ein Instrument war, um die Ge-
gärten ein. Nun galt es, für dieses Bauprogramm die Modalitä-
sellschaft zu verändern, und nicht, um sie über Wasser zu halten.
ten der notwendigen Flächenreduzierung des Howard-Modells
Wie Friedrich Engels in seinem 1872 veröffentlichten Text Zur
zu entwickeln.
Wohnungsfrage schreibt, bot die Verbindung von Haus und
Loos erkannte sofort, dass das Haus nicht das Wichtigste war,
Garten der arbeitenden Klasse die „Grundlage einer materiell
sondern der Garten, weil er die Leute ernährte und überdies
erträglichen und stellenweise behaglichen Lage“, aber auch
ihren Destruktionstrieb zu kanalisieren vermochte. Er war der
„ihrer geistigen und politischen Nullität“.25 Die herrschende
Überzeugung, dass der Garten das psychische Gleichgewicht
Klasse träume mithin von Arbeitern, die ein Häuschen besitzen,
des Arbeiters wiederherstellen konnte, der nur Fabrikarbeit
denn „die Verbindung von Landbau und Industrie, der Besitz
und Arbeitsteilung kannte und keinen Ort hatte, um sich „ab-
von Haus und Garten und Feld, die Sicherheit der Wohnung,
zureagieren“. Doch um innerlich ausgeglichen zu sein, muss
das wird heute, unter der Herrschaft der großen Industrie,
man aufbauen und zerstören können: „Gärtnerische Arbeit ist
nicht nur die ärgste Fessel für den Arbeiter, sondern das größte
die unbedingt notwendige zerstörende Ergänzung für jeden
Unglück für die ganze Arbeiterklasse“.26 Loos sah die Dinge
aufbauenden Arbeiter. Ohne diese verkommt er geistig und
freilich anders, zumal im Fall von Wien nicht die Industriellen
körperlich.“ Gartenarbeit kann somit Vergnügen bereiten, da
die Siedlungen bauten und die Arbeiter damit in eine gewisse
sie den Destruktionstrieb befriedigt, wenn man der Erde ihre
Abhängigkeit brachten, vielmehr die Arbeiter selbst mit ihrer
Früchte entreißt, um sich zu ernähren. Deshalb plädierte Loos
eigenen Arbeitskraft. Das war ein emanzipatorischer Akt. In dem
dafür, dass das Recht auf einen Garten ausschließlich den Arbei-
ihm eigenen Tonfall (immer ein bisschen flapsig, aber von
tern vorbehalten blieb, ihnen würde nämlich der Ausgleich vor-
Ernsthaftigkeit getragen) konstatierte er: „Ich bin Kommunist.
enthalten, da die Fabrikarbeit eine rein aufbauende Arbeit sei:
Der Unterschied zwischen mir und einem Bolschewiken ist nur
„Wer revolutionen vermeiden will, wie ich, wer evolutionist
der, dass ich alle Menschen zu Aristokraten, er alle Menschen
ist, soll ständig daran denken: der besitz eines gartens beim
zu Proleten machen will.“27
einzelnen muß aufreizend wirken, und wer da nicht schritt
Die Entwürfe, die Loos für die Arbeitersiedlung zeichnete,
hält, ist für jede kommende revolution oder jeden krieg
muten wie Gartenbaupläne an, wo jeder Quadratmeter der
verantwortlich.“
Gartenarbeit geweiht ist, während Freizeitaktivitäten nur in Ge-
23
24
In einer Zeit extremer sozialer Instabilität und Armut plädierte
meinschaftsgärten erlaubt sind. Um eine maximale Produktivität
Loos dafür, den Ärmsten der Armen ein Haus und einen Garten
zu gewährleisten, wurde die Kontrolle der Bewirtschaftung der
Siedlerfrauenarbeit, 1921 (links), Kleintierhof, 1924 (rechts), Fotograf: Josef Derbolav Machovsky. Die 543 Reihenhäuser der Siedlung Rosenhügel, Wien 12, entstanden nach Entwürfen von Emil Krause und Hugo Mayer gemäß dem Masterplan von Adolf Loos
70
Zurück zur Ländlichkeit
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Gärten durch die Genossenschaftsverwaltung ausgeübt. Bevor einem Siedler das Recht gewährt wurde, ein Haus zu bauen, musste er erst beweisen, dass er in der Lage war, sich richtig um seinen Garten zu kümmern; wenn nicht, war schlimmstenfalls ein Ausschluss aus der Genossenschaft die Folge.28 Der Garten musste nämlich mit drei Ernten das Überleben der Bewohnerschaft sichern, und die Plätze waren begehrt. Optimierung und Reduktion „Jede Siedlung geht vom Garten aus. Der Garten ist das Primäre, die Wohnung ist das Sekundäre“, lautete das Credo von Loos,29 der auch hier, in Korrelation zu den sozialen Gegebenheiten, eine strikte Reduktion auf das Wesentliche unterbreitete. Wie Margarete Schütte-Lihotzky in ihren Lebenserinnerungen bezeugt: „Nicht selten hausten acht oder neun Menschen in einem Zimmer, und ich fand kaum ein Kind, das nicht mit ein oder zwei Geschwistern in einem Bett schlafen musste.“30 Ihren Überlegungen zur Funktionalität des Lebensraums der Arbeiter entsprechend, entwarf sie zusammen mit Loos ein hochfunktionelles Haus mit einem einzigen beheizbaren Raum, der als Wohnküche diente und dessen Mittelpunkt der offene Kamin bildete: „[…] es ist wieder die freude an der zerstörung,
Adolf Loos, „Selbst-Versorger“: Schema für die Erschließung von Kleinsiedlungen, 1918. Entwicklungsplan für eine Siedlung mit vier verschiedenen Haustypen unterschiedlicher Größe, einem gemeinschaftlich bewirtschafteten Garten mit Fischteich, Viehfarm und Gemeinschaftskompost, einer Gemeindeweide und einem Sportplatz
die [ihn] dazu lockt, sich zum kamin zu setzen und zuzusehen, wie ein stück holz nach dem anderen verbrennt.“31 Daran angeschlossen war ein kleiner Nebenraum, den Loos und Schütte-Lihotzky „Spülküche“ nannten, wo Gemüse geschält, Geschirr gespült, Wäsche gewaschen wurde und die Bewohner:innen sich waschen konnten. Um das Ganze zu optimieren, entwarf Margarete Schütte-Lihotzky ein multifunktionales Becken aus Beton, das als Spül- und Waschbecken und als Badewanne diente, mit einem klappbaren Holzbrett, das als Arbeitsfläche und als Waschbrett genutzt werden konnte. Die Spülküche führte direkt auf eine kleine Außenterrasse, sodass man auch im Freien arbeiten konnte. In einer (idealerweise unterirdischen) Vorratskammer konnte Gemüse gelagert werden. Zum Haus gehörten ein Hühnerhof, ein Schuppen, ein Abort (Trockentoiletten) und ein Gemüsegarten mit einem Kompost, „denn die abfallstoffe des ganzen hauses samt den menschlichen fäkalien sind notwendig für die bodenbereitung“, wie Loos erläuterte.32 Der Schlafraum in der oberen Etage konnte in zwei oder drei Abteile unterteilt werden, um die Eltern von den Kindern sowie die Mädchen von den Jungen zu trennen. Er hatte wohlweislich eine niedrige Decke und einen schlichten Holzlatten-Fußboden,
Adolf Loos, Plan einer Ecktype, 1918
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Adolf Loos und Margarete Schütte-Lihotzky: Haus mit einer Mauer
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„Haus mit einer Mauer“ Adolf Loos und Margarete Schütte-Lihotzky entwickelten verschiedene Haustypen für ebenes oder abschüssiges Gelände, mit oder ohne Keller; sie entwarfen eine „Standardtype“ und eine „Ecktype“ mit Nord-Süd- und Ost-West-Ausrichtung. Für wenig Geld konnten die Arbeiter bei der Genossenschaft die Hauspläne mit Bauanleitungen für die Türen, Fenster und Dachanschlüsse erwerben. Für den Bau dieser Arbeiterhäuser entwarf Loos ein Selbstbau-System, „das keine andere Kunstfertigkeit verlangt als die, einen Nagel eintreiben zu können“.35 Seiner patentierten Bauart „Haus mit einer Mauer“ liegt die Idee zugrunde, das Tragsystem umzukehren: Nicht mehr die Fassaden übernehmen die tragende Funktion, sondern die Seitenwände. Werden die Häuser in Reihe gebaut, muss ein Hausbauer nur noch eine tragende Seitenwand errichten, da die andere vom Nachbarn gebaut wird. Die beiden Fassaden auf der Straßen- und Gartenseite sind nichttragend ausgebildet (daher ohne Fundament) und können aus einer doppelten Holzverkleidung bestehen, die wegen des Hohlraums zwischen den zwei Lagen eine minimale Isolierung durch die Luftschicht gewährleistet (wie beim amerikanischen Haus jener Zeit). Anschließend werden die Öffnungen ausgeschnitten und die Fenster und Türen eingesetzt; deren Rahmen dienen ebenfalls als Träger für die Latten der Holzverkleidung, die die Bewohner:innen selbst festnageln. Die Bauanleitung für die Häuser ist einfach und auf das Wesentliche beschränkt.
Adolf Loos, Bauart „Haus mit einer Mauer“, 1921
Die Häuser werden nicht mit staatlichen Mitteln finanziert, sonum die Bau- und Heizkosten niedrig zu halten, denn die Ritzen
dern mit den Ersparnissen, die der Betreffende durch den
zwischen den Latten begünstigten das Aufsteigen der warmen
Verkauf der Erzeugnisse aus dem eigenen Garten erzielt. Der
Luft. Außerdem: „Die heizung der oberen räume wird so be-
Staat trägt allerdings mit dem „Nucleus eines Hauses“ bei,36
werkstelligt, daß knapp vor dem schlafengehen die türen ins
der entsprechend den Gewinnen aus dem Wochenverkauf
obere stockwerk geöffnet werden und die wärme jetzt in diese
sukzessive um Bauelemente ergänzt wird, bis das Haus fertig-
räume hineinzieht, was ja in jeder mietwohnung vor dem
gestellt ist. Den „Nucleus eines Hauses“ erhalten die Arbeiter
schlafengehen gemacht wird.“ Damit die Besitzer nicht auf
nicht gegen Geld (das sie nicht haben), sondern gegen
den Gedanken kamen, einen Raum unterzuvermieten, optierte
3 000 Arbeitsstunden, die sie in den Bau der Gemeinschafts-
Loos statt für das angelsächsische Modell mit einem Zimmer-
bereiche der Genossenschaftssiedlung einbringen.
zugang vom Eingang aus für ein Betreten des Hauses über das
Für die Siedlung Friedensstadt, die auf einem bewaldeten Ge-
Wohnzimmer, wie in bürgerlichen Häusern üblich: „Wenn aber
lände gebaut wurde, das 1918 Kriegsversehrte besetzt hatten,
ein mieter durch den gemeinschaftlichen wohnraum gehen
entwarf Loos ein „Gesellschaftshaus“ mit großzügigen Außen-
müßte, ist die entscheidung über eine vermietung für den be-
bereichen, die um einen Teich angeordnet waren, sowie einem
sitzer nicht zweifelhaft. Er will keinen fremden in seinem zimmer
Wasserturm und einer Schule in der Nähe. 1921 eröffnete die
haben“, argumentierte er in seinem sozialreformerischen Elan.
Sozialreformerin Eugenie Schwarzwald im Gesellschaftshaus
33
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eine karitative „Gemeinschafts- und Ausspeisungsküche“, die
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Zurück zur Ländlichkeit
Anmerkungen Seite 96
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Bedürftige mit Essen versorgte. Vor allem Frauen und Kinder
angriffen verschont geblieben, sondern dank seiner Neutralität
wirkten am Bau der Arbeitersiedlungen mit. In einer Reportage
und seines Bankenwesens auch ökonomisch weniger in Mitleiden-
über das Wien der Nachkriegszeit beschrieb die amerikanische
schaft gezogen worden. Dazu kam, dass das Genossenschafts-
Schriftstellerin Solita Solano voller Verwunderung das große
wesen hier weit entwickelt war und bessere Lebensbedingungen
Ausmaß der Bautätigkeit, die deshalb nur gemeinschaftlich er-
für die Bevölkerung bot. Auch Meyers Gartenstadt beruhte auf
folgen konnte: „Deswegen arbeiten Tausende von Frauen und
dem Prinzip der Agrargenossenschaft. Wie Adolf Loos ließ sich
Kinder unermüdlich auf den Baustellen verschiedener Siedlun-
der junge Architekt von Howards Idealen leiten, formulierte sie
gen am Stadtrand von Wien und verdienen sich so ihr zukünfti-
jedoch anders. Er verfasste eine Art poetisches Manifest für
ges Zuhause: Sie brennen Ziegelsteine, graben Fundamente
die Siedlungsgenossenschaften, die bessere Lebensbedingun-
aus, sieben Sand durch und rühren Mörtel an. Samstags und
gen für die Bevölkerung, die sich somit gesellschaftlich, wirt-
sonntags kommen die Männer dazu und arbeiten vom Mor-
schaftlich und politisch selbst organisieren kann, gewährleisten.
gengrauen bis zum Einbruch der Dunkelheit.“ So wurden
Meyer war zutiefst überzeugt, dass diese Form der Emanzipa-
zwischen 1920 und 1923 an die 3000 Häuser in rund 40 Arbei-
tion in Krisenzeiten eine Notwendigkeit sei.
tersiedlungen gebaut, bevor die Gemeinde die Errichtung von
Worin bestand Entschleunigung für ihn, und was verstand er
Arbeiterwohnungen in Form mehrstöckiger „Stadtinseln“ vor-
unter „Fortschritt“? Meyer war entschlossen, die Dynamik des
schrieb, den berühmten Wahrzeichen des „Roten Wien“.
Kapitalismus, die auf Gewinn und Bodenspekulation ausge-
Zusammenfassend kann man sagen, dass die kollektive Arbeit
richtet ist, einzudämmen, denn in seinen Augen konnte es
des Selbstbaus, die vereinfachte Haus-Bauweise, die Optimie-
keine Form des Fortschritts im Kapitalismus geben. Aus diesem
rung des Lebensraums und des Gartens die vier Hauptmerkmale
Grund wollte er eine neue Gesellschaft aufbauen, die auf ge-
der Wiener Arbeiter-„Gartenstädte“ sind. Diese sind weitaus
nossenschaftlichen Prinzipien basierte. Sein Manifest, seine
minimalistischer als die von Hannes Meyer in der Schweiz oder
Bauten und Bildungsprojekte für den Genossenschaftsverband
die von Bruno Taut in Deutschland, die damals über viel mehr
begründeten eine Ästhetik, die auf der Idee des Teilens als einer
Mittel verfügten. Angesichts der sozialen Notlage entwickelten
vor allem kollektiven und politischen Erfahrung beruht. Für ihn
Loos und Schütte-Lihotzky ein Wohnmodell, das angemessen
ist in diesem Teilen alles inbegriffen: die soziale Erfahrung, die
auf die Krise reagierte. Indem sie sich dem herkömmlichen
„Aufteilung des Sinnlichen“ (um die Formulierung von Rancière
bürgerlichen Haustyp ihrer Zeit widersetzten, der von der
aufzugreifen) als ästhetische und räumliche Erfahrung, bis hin
wirtschaftlichen Realität und den wahren Bedürfnissen der
zur Bauweise, in der die Idee des Kollektivs sich in der Standar-
Arbeiterschaft sehr weit entfernt war, versuchten sie eine
disierung, die einen „einheitlichen Geist der Siedler“38 schafft,
37
neue Kulturform und ein neues Fortschrittsverständnis einzuführen, die stark von der angelsächsischen Moderne inspiriert waren. Den Blick in die Zukunft gerichtet, plädierten sie – wie Benjamins Engel – für ein Innehalten in der Gegenwart, um auf den Trümmern der Vergangenheit eine „neue Welt“ aus dem Nichts oder dem Fast-Nichts aufzubauen.
Hannes Meyer: Siedlung Freidorf, Muttenz, 1919 – 1924 Die Gartenstadt „Siedlung Freidorf“ am Stadtrand von Basel wurde vom Schweizer Architekten Hannes Meyer (1884–1954) unter den schwierigen Bedingungen der Nachkriegszeit entworfen, wobei die Lage in der Schweiz weniger besorgniserregend war als anderswo, denn das Land war nicht nur von Bomben-
Anmerkungen Seite 96
Hannes Meyer, Postkarte „Herzliche Glückwünsche aus dem Freidorf“
Hannes Meyer: Siedlung Freidorf
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gewonnene Kapital in gemeinnützige Wohnprojekte zu investieren, um die Lebensbedingungen der Arbeiter zu verbessern. Ein Leben voller Engagement So wird im Jahr 1919 der damals 30-jährige Hannes Meyer vom Vorstand des Genossenschaftsverbands VSK Bernhard Jäggi (1869–1944) beauftragt, im Basler Vorort Muttenz eine agrargenossenschaftliche Gartenstadt zu bauen. Bei dem Wettbewerb hatte Meyer und nicht sein erfahrener älterer Siedlung Freidorf, Karneval
Kollege Hans Bernoulli39 den Zuschlag erhalten, auch wegen
74
manifestiert. Wie setzte Meyer sein Programm der Reduktion
seiner Begeisterung für die Genossenschaftsbewegung, die für
und Standardisierung ins Werk? Wie weit wollte er dabei
ein derartiges Projekt von entscheidender Bedeutung war.
gehen? Welcher Platz blieb dem Einzelnen im kollektiven und
Meyer, ein gelernter Maurer und Zeichner, hatte während seiner
standardisierten Kosmos von Freidorf? Wie hoffte Meyer die
Lehrjahre im Büro von Emil Schaudt in Berlin gearbeitet und
Menschen dort zu „gemeinschaftlichem Handeln“ anzuregen?
dort an der Planung der Gartenstadt Falkenberg mitgewirkt.
Und welche Rolle spielte die Ästhetik in diesem Bestreben?
Er lernte Adolf Damaschke kennen, den Mitinitiator des
Wie das österreichische Siedlungsprojekt von Adolf Loos und
Deutschen Bundes für Bodenreform (gegr. 1898), und begeis-
Margarete Schütte-Lihotzky entstand auch das von Hannes
terte sich für diese Bewegung, welche die damalige auf Groß-
Meyer im Kontext einer schweren Wirtschaftskrise, die die Schweiz
grundbesitz beruhende Landverteilung infrage stellte. Der
während des Ersten Weltkriegs erlebte und unter der vor allem
Bund praktizierte eine „Bodenreform“ nach genossenschaftli-
die Arbeiterschaft zu leiden hatte. Hunger, Armut und schlechte
chem Vorbild und orientierte sich dabei an Howards Garten-
Arbeitsbedingungen führten im November 1918 landesweit zu
stadt-Modell. Die Mieten sollten die Kosten decken, ohne
einem Generalstreik, an dem sich 250 000 Menschen beteilig-
Gewinne abzuwerfen, um jedwede Spekulation zu vermeiden.
ten und der von der Armee gewaltsam beendet wurde. Diese
Damit wurden für die Bewohnerschaft lebenslang niedrige
Ereignisse drohten den sozialen Frieden zu gefährden. Es muss-
Mieten garantiert. Das System basierte auf dem Genossen-
ten Lösungen her, um die Lebensbedingungen der Arbeiter zu
schaftsprinzip, das alle Bewohner:innen sowohl im Hinblick auf
verbessern, insbesondere was Ernährung und Wohnraum be-
das Grundeigentum als auch im Hinblick auf die Verwaltung
traf. Im Krieg hatte der Verband Schweizerischer Konsumverein
und Instandhaltung der Gebäude einbezog. Meyer kam auch
(VSK), in dem damals rund 12 000 Konsumvereine zusammen-
mit der Freiland-Bewegung in Berührung (deren Wegbereiter
geschlossen waren, die ihre eigenen Geschäfte betrieben
der Ökonom Henry George und später der Sozialreformer
(Vorläufer der Coop), aufgrund gestiegener Mitgliederzahlen
Silvio Gesell waren), die eine friedliche Enteignung der Groß-
(die Produkte waren für Mitglieder viel billiger) seine Umsätze
grundbesitzer zugunsten der Allgemeinheit befürwortete. Ihr Für-
verdreifachen können. Nach dem Generalstreik zwang
sprecher in der Schweiz war Friedrich Schär, der eine Professur in
eine neue Steuergesetzgebung den Verband dazu, das
Berlin innehatte und von 1892 bis 1903 dem VSK vorstand.40
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Anmerkungen Seite 96
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Unter dem Einfluss der Theorien der Reformbewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts in den deutschsprachigen Ländern entstand und ihrerseits von englischen Vorbildern (dem Arts and Crafts Movement und der Garden-City von Howard) angeregt wurde, ging Meyer für ein Jahr nach England, um die Gartenstädte, deren Sozialstruktur und insbesondere die Genossenschaftsbewegungen zu studieren. Er interessierte sich auch für das Theater und Aufführungspraktiken. 1913 gründete er sein eigenes Büro in Basel, doch wegen seiner Einberufung konnte er diese Tätigkeit nicht fortsetzen. Ab 1916 arbeitete Meyer im Atelier Metzendorfs in München an drei Gartenstädten mit (Margarethenhöhe, Hüttenau, Breitenborn), danach entwarf er im Rahmen seiner Tätigkeit für den KruppKonzern die Arbeitersiedlung Kiel-Gaarden und deren vollständig standardisiertes Bausystem. Bei dieser Gelegenheit studierte er die genossenschaftlichen Maßnahmen des Konzerns, darunter das System der Konsum-Läden, die Werkzeitung, Filmvorführungen zu Aufklärungszwecken, Ausstellungen zu Lehr-
Hannes Meyer, Vogelschau der Siedlung Freidorf
zwecken und Bibliotheken. All diese sehr prägenden Erfahrungen flossen später in Meyers Projekte ein. Die Standardisierung
„Der Mensch soll wieder mit der Natur in Berührung
spielte dabei eine Schlüsselrolle, denn dadurch konnten Kosten
gebracht werden“
eingespart, aber auch ein „einheitlicher Geist der Siedler“
So lautete einer der Grundgedanken von Bernhard Jäggi,42 um
41
geschaffen werden.
die Wohnungskrise zu bewältigen, denn im überbevölkerten
Für die Arbeit an der Siedlung Freidorf ließ sich Meyer für ein
Basel waren die Wohnungen winzig und in schlechtem Zustand.
paar Jahre in seiner Geburtsstadt Basel nieder, bis er 1927 an
Sein Leben lang engagierte er sich zusammen mit seiner Ehefrau
das Dessauer Bauhaus berufen wurde. Das Siedlungsprojekt
Pauline in zahlreichen Genossenschaftsprojekten – Läden,
beschäftigte ihn intensiv: Er musste nicht nur die Pläne erstellen,
Bildungsprogramme, Kinderheime43 – und setzte sich für den
die Bauleitung machen und für den Fortgang der Baustelle
Bau von Wohnraum ein. Von der Reformpädagogik Pestalozzis
Sorge tragen, was in Anbetracht der wiederholten Streiks und
und Zschokkes inspiriert, die auf der Dreiteilung „Kopf, Herz,
des Materialmangels eine schwierige Aufgabe war, sondern
Hand“ basiert, aber auch vom utopischen Sozialismus eines
sich auch um die genossenschaftlichen Belange kümmern, ins-
Robert Owen, strebte Jäggi „sozialen Frieden, den Sieg des
besondere den Aufbau einer freiwilligen Selbstverwaltung der
Humanismus in einer künftigen vollgenossenschaftlichen Ge-
Bewohner:innen und die Ausarbeitung verschiedener kollek-
sellschaft auf privatwirtschaftlicher Basis“ an.44
tiver Programme. Sein Einsatz ging aber noch weit darüber hi-
Die Siedlung Freidorf war das Musterprojekt eines „dörflich-
naus, denn er ließ sich mit Frau und Kindern (wie der Initiator
genossenschaftlichen Sozialismus“45 und verstand sich als
Jäggi) in der Siedlung nieder. So brachte er sich voll und ganz
Gegenmodell zur kapitalistischen Wirtschaft. Ideengeber für
in die alltägliche Gestaltung dieser experimentellen Lebens-
die neue Lebensform waren die bereits erwähnten Henry George
form ein.
und Silvio Gesell. Letzterer entwickelte in seinem Buch Die natürliche Wirtschaftsordnung (1916) das Wirtschaftsmodell „Freiland und Freigeld“, das vorsah, den Boden in öffentliches Eigentum zu überführen und ein Pachtsystem zugunsten der Allgemeinheit zu lancieren.46 Das Freigeld ist ein stabiles (nicht der Inflation unterworfenes) Zahlungsmittel, das jedoch an
Anmerkungen Seite 96
Hannes Meyer: Siedlung Freidorf
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Wert verliert, wenn es nicht im Umlauf ist (um Spekulation zu verhindern). Diese Maßnahme zielte auf ein sozialeres Wirtschaftssystem ab und bildete das Fundament der Siedlungsgenossenschaft Freidorf, deren Name sich davon ableitete. Um nicht der Inflation unterworfen zu sein, hatte Freidorf eine eigene Währung, mit der die Bewohnerschaft in den kooperativen Läden einkaufen konnten, die im Genossenschaftshaus untergebracht waren. Die Gartenstadt wurde vollständig vom Verband Schweizerischer Konsumverein (VSK) finanziert. Ihm gehörten zum damaligen Zeitpunkt 360 000 konsumierende Familien an, die mittelbar 7,5 Millionen Schweizer Franken47 „zum Befreiungsversuch eines Volkstrupps, Vortrupp einer neuen Gesinnung, aus heutiger Wirtschaft und Stadt“ beisteuerten, wie Meyer 1920 in seinem Präsentationstext zur Siedlung Freidorf schreibt, der 1925 nach deren Einweihung in der Schweizer Zeitschrift Das Werk erschien.48 Der Architekt war von dieser stark kollektiven Bewegung, die Menschen aller Couleur in sich vereinte, begeistert: „Man denke: 150 Familien ergreifen gleichzeitig die Stadtflucht. 620 Menschen geschieden in Geld, Geschlecht, Glauben, Güte, Gaben, Geist und Gottheit, geeint im Willen zur Lebensgemeinschaft. 620 Menschen beschliessen hinfort Hannes Meyer, Siedlung Freidorf, Vorschläge zur Gestaltung der Siedlergärten
ein gemeinsames Leben in gemeinsamem Hause auf gemeinsamer Erde. So begann der Auszug ,aufs Land‘.“49 Das Genossenschaftsprojekt hatte auch eine betont pädagogische Ausrichtung, denn die Menschen sollten zur Selbstverwaltung erzogen werden. Die lebhaften Diskussionen zwischen den Mitgliedern der Genossenschaft und ihren Vorstehern waren Teil des Experiments, wie aus den Notizen des Architekten hervorgeht, der unmittelbar in die Auseinandersetzungen involviert war. Meyers Zeichnung mit dem Titel „Herzliche Glückwünsche aus dem Freidorf“ auf einer Grußkarte zeigt, wie sehr das Siedlungsprojekt mit einer paradiesischen Vorstellung verbunden war: Die Bewohner:innen tanzen nackt wie Putti auf Wolken, die einen Kranz um den dreieckigen Grundriss der Genossenschaftssiedlung bilden. Gamben, Trompeten, Trommeln und Reigen (in Freidorf gab es einen Chor und ein Orchester sowie Feste mit Gruppentänzen) veranschaulichen auf idyllische Weise die Beschäftigungen, denen die Bewohnerschaft dieses genossenschaftlichen Garten Eden nachgehen.
Hannes Meyer, Siedlung Freidorf, Haustypen
76
Zurück zur Ländlichkeit
Anmerkungen Seite 96
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Hannes Meyer beginnt seinen Präsentationstext mit einem
zusammengefügt sind. Durch das geschickte Spiel der Ver-
durchaus polemischen Postulat:
knüpfungen ergeben sich, ausgehend von einer strikt normier-
„Seit 1920 bietet im Osten von Basel die Siedelung Freidorf
ten „Zelle“, zahlreiche Raumkombinationen: „Und jede Bauzeile
dem Flieger wie dem Volksfreund ein gleicherweise rosig
ist Sippe ohne Blutsverwandtschaft und Helferkreis treuer
schimmerndes Peilziel. Dem Erdkundigen ein neuer Ort auf
Nachbarschaft.“52
der Siegfriedkarte, dem Bourgeois rotes Nest, dem Sovjet-
Um die soziale Durchmischung zu begünstigen, werden ver-
stern nicht rot genug, dem Aestheten Kaserne, dem
schiedene Haustypen entwickelt, die unterschiedlich groß sind
Gläubigen Stätte der Religionslosigkeit, dem Eigenbrödler
und über vier bis sechs Zimmer verfügen. Jedem Haus sind
Zwangserziehungsanstalt, dem Privathändler Todschlags-
zwei (kleinere oder größere) Gärten zugeordnet: ein Ziergarten
versuch an seiner Wirtschaftsform, und dem Genossenschaf-
vor dem Haus und ein größerer Nutzgarten dahinter. Howards
ter die erste schweizerische Vollgenossenschaft und eine
Modell entsprechend (aber im Unterschied zu den Arbeiter-
cooperative Rarität Europas: Das ist die Siedelungsgenos-
siedlungen von Adolf Loos), ist die Siedlung Freidorf keiner
senschaft Freidorf.“50
bestimmten sozialen Schicht vorbehalten. Bemerkenswert ist,
Die Siedlung erstreckt sich über eine Fläche von 8,5 Hektar
dass sogar die kleinsten Häuser viel geräumiger sind als die
und besteht aus 150 Wohneinheiten, die alle – eine Glanz-
zur selben Zeit in Österreich in den Arbeitersiedlungen gebau-
leistung für die damalige Zeit – an das Stromnetz ange-
ten, was mit der wesentlich besseren finanziellen Lage der
schlossen sind. Zu jedem Haus gehört ein eigener Selbstver-
Schweizer Genossenschaften zusammenhängt. Die vier Außen-
sorgergarten, zahlreiche Grünflächen mit Obstbäumen sind
mauern der Häuser sind gemauert, jedes Haus hat zwei Stock-
für alle zugänglich. In der Mitte der Agrarsiedlung steht das
werke, einen bewohnbaren Dachboden und einen Keller –
Genossenschaftshaus (1922/1923). Unter seinem Dach befinden
purer Luxus verglichen mit dem Wiener Standard jener Zeit.
sich eine Schule, ein Genossenschaftsladen „Co-op“, eine
Außerdem wird der Selbstbau nicht in Erwägung gezogen
Bibliothek, mehrere Seminarräume und ein großer Gemeinde-
(oder gefordert, wie in Wien).
saal für Feste, Sport-, Musik- und andere Veranstaltungen.
Der Garten ist ein wichtiges Thema für Meyer, allerdings sind
Meyer bedient sich der Metapher der Zelle und der Bienen-
die Vorschriften viel freizügiger als in der von Loos entworfenen
wabe aus der Biologie, um die neuartige gesellschaftliche
Arbeitersiedlung: In Freidorf können sogar „Kopfmenschen“
und bauliche Organisationsform zu beschreiben, deren
einen Garten haben. Jeder darf pflanzen, was er will (diese
Losung „Einfachheit, Gleichheit, Wahrhaftigkeit“ lautet: „… so ist Freidorfs Bauanlage […] Verkörperung dieses Versuches einer Lebensgemeinschaft von 150 Familien im bienenwabenähnlichen Zellenbau einer Siedelung. Derart entspricht strenger Satzung innern Aufbaues straffe Gliederung des Aeussern, Einhelligkeit der Siedler die Einheitsform der Häuser, die Gleichartigkeit und Gleichfarbigkeit der Hausblöcke und der Gleichklang der Hausteile. Denn die Stützen der Gemeinschaft wurden zu Säulen des Bauwerkes: Einfachheit, Gleichheit, Wahrhaftigkeit.“51 Die „Zelle“ bildet das Grundelement einer Reihenhaus-Anlage, die einem dreieckigen Schachbrettmuster ähnelt, wo die Straßen abwechselnd von Häusern und Nutzgärten gesäumt werden, sodass sich Verbindungs- und Düngerwege ablösen. In dieses Raster fügt Meyer 150 Häuser ein, die spiegelbildlich zu beiden Seiten der Gassen angeordnet sind und entweder zu Blöcken aus zwei Häusern oder zu Reihen aus vier, acht oder 14 Häusern
Anmerkungen Seite 96
Siedlung Freidorf, Genossenschaftshaus, 1924, Fotograf: Theodor Hoffmann
Hannes Meyer: Siedlung Freidorf
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Siedlung Freidorf, Eingangshalle und Eingang des Genossenschaftshauses, 1924, Fotograf: Theodor Hoffmann
Freiheit gibt es bei Loos nicht, der genaue Pläne für die Nutz-
norm aller 1350 Zimmertüren. Mit Normaltyp der 150 Bade-
gärten vorlegt). Allerdings unterliegt vor allem der Vorgarten
wannen, 150 Zentralöfen, 150 Elektroherde, 150 Wasch-
in Freidorf der sozialen Kontrolle und wird, da er den Blicken
herde, 150 Elektroboiler. Mit Normalzimmerlänge, Normal-
der anderen ausgesetzt ist, gehegt und gepflegt: „Unschwer
zimmerhöhe, Normaltreppentritt, Normalglaslaube und
erkennt der Menschenkundige an dessen Einteilung Siedlers
Normalgartenhaus. Mit genormter Dachneigung, genormtem
Gartenkunde und Charakter, und linkisch und praktisch, und
Dachgesims, genormtem Abfallrohr, genormter Abortgrube.
kraus und klar.“53 (Es sei daran erinnert, dass in der Wiener Arbei-
Mit der Norm von Glockentaster, Ladenbeschlag, Haustür-
tersiedlung die Kontrolle der Bewirtschaftung durch die Genos-
schloss, Fensterolive . . . und wo des Siedlers Sonderwunsch
senschaftsverwaltung ausgeübt wurde, wobei hier nicht der
genormte Ausführung durchbrach, ging von ihm bezahltes
Charakter der Bewohner:innen beurteilt wurde, sondern deren
Ding unentschädigt ins Eigentum Aller; Vergesellschaftung
Fähigkeit, Lebensmittel zu erzeugen – ein im Wesentlichen
des Luxus!“54
produktorientierter Ansatz.)
Diese Beschreibung macht deutlich, dass alles durchgeplant und standardisiert war, um die Kosten zu senken und die Bau-
Standardisierung
weise zu vereinheitlichen, aber auch, um die individuellen
Aus Meyers Texten spricht eine geradezu obsessive Begeiste-
Wünsche der Bewohnerschaft in Schranken zu halten.
rung für durchgehende Standardisierung, angefangen bei der
78
Baustruktur bis zum kleinsten Detail. Jeder Sonderwunsch wird
Ästhetik
danach beurteilt, inwieweit er den Standards der Siedlung
Wie von Bernhard Jäggi gefordert, sollten die Häuser von ihrer
Freidorf entspricht oder nicht:
Ästhetik her der „jurassischen Bauweise“ entsprechen, erklärt
„Ein Zellenbau. Typisiert, normalisiert, standardisiert, elektri-
Meyer,55 da bei den Bewohner:innen eine abstraktere Architektur,
fiziert. Mit viererlei Fenstern und viererlei Türen. Mit einziger
deren Schlichtheit sie mit der Bauweise von Mietskasernen
Scheibennorm aller 1742 Fenster und mit einziger Füllungs-
verbinden würden, nicht gut angekommen wäre. Dabei ist
Zurück zur Ländlichkeit
Anmerkungen Seite 96
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festzustellen, dass trotz der Standardisierung aller Bauelemente
Freigeld gründet, und das in einer Zeit, in der alles zusammen-
die Anlage sehr klassisch gehalten ist, in Anlehnung an die Vil-
zubrechen scheint.
len von Andrea Palladio, den Meyer sehr bewunderte. So gestaltet er die gemeinschaftlichen Außenbereiche und Häuser
Vier Raumbilder
anhand der Kompositions- und Proportionsregeln, die er bei
Mit ebenso großer Sorgfalt richtet Meyer seine Aufmerksamkeit
Palladio ausgemacht hat. Der Brunnen mit dem Obelisken bei-
auf die kollektiven Außenbereiche, für die er spezifische Rund-
spielsweise bildet den exakten Mittelpunkt des Dorfplatzes mit
wege und Plätze vorsieht. Die Raumproportionen und Ausbli-
seinen harmonischen Proportionen.
cke, die sie den Spaziergänger:innen bieten, sind für ihn
Das Herzstück der Gartenstadt ist das in der zweiten Bauphase
wesentliche Bestandteile des Gesamtgefüges. Er entwirft vier
errichtete Genossenschaftshaus. Einige Details, wie die halbrunde Außentreppe der Eingangstür, die ein Rundfenster schmückt, erinnern an den Meisterarchitekten der Renaissance. Es ist eine klassische (fast postmoderne) Handschrift, die von der aristokratischen Villa auf eine kollektive Einrichtung übertragen worden ist. Abgesehen von diesen Details, die dem Genossenschaftshaus ein tempelartiges Aussehen verleihen, sticht das Gebäude hauptsächlich durch den Größenunterschied und die eher vertikalen Proportionen heraus, obwohl es sich von seiner Materialität und Architektursprache kaum von den Wohnhäusern unterscheidet: „Aussen und innen bleibt er ein fügsam Bauwesen dem Einheitsgesetze der Siedelung, und nur das verdoppelte Mass aller Dinge kennzeichnet den öffentlichen Bau. Der Mensch wird klein, betritt er den Tempel der Gemeinschaft. ln seiner Sicht schwant auch dem Laien das alles beherrschende Modul seines Spiels von Raum, Fläche, Öffnung
Siedlung Freidorf, Zentraler Platz mit Denkstein und Obelisk, 1919, Fotograf: Theodor Hoffmann
und Profil. lm lnnern ist Schönheitsgesetz die Folge von Grundformen des Raumes; sie geht von wagrecht zu senkrecht, von breit zu hoch, von eng zu weit, und ihr antwortet der Wandfarben Dreiklang mit Weiss – Kobalt – Zinnober.“56 Das Tempelartige ist auch im Innern deutlich zu spüren, was auf die Proportionen und die zwischen Horizontalität und Vertikalität changierende Ausrichtung zurückzuführen ist. Auch das Licht trägt zu dieser Wirkung bei, vor allem jenes, das sich durch das Rundfenster in den Flur ergießt und die Menschen in das obere Stockwerk lockt, wo sich der große Saal, die Bibliothek und die Seminar- und Versammlungsräume befinden. Die besondere Atmosphäre dieses „Tempels der Gemeinschaft“, der der Selbstverwaltung, der Kultur und dem Feiern geweiht ist, berührt die Bewohner:innen und trägt somit zur Entstehung eines Gefühls der Resonanz mit der im Entstehen begriffenen „neuen Welt“ kooperativen Miteinanders bei, die auf dem heterotopischen Prinzip von Freiland und
Anmerkungen Seite 96
Siedlung Freidorf, Brunnen mit Obelisk und Wohnhof, umgeben von Häusern mit eigenem Nutzgarten, 1919, Fotograf: Theodor Hoffmann
Hannes Meyer: Siedlung Freidorf
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„Raumbilder“, die den Bewohner:innen beim Gang durch die
Etwa fiele Schranke von Familie zu Familie, – jetzt herkömm-
Gartenstadt jeweils eine andere Stimmung vermitteln: „Prome-
lich-respektvoll verehrt, – so fiele mit dieser alle Einrichtung
nade“,57 „Spielwiese“, „Wohnhöfe“ und „stiller Platz“. Meyer
der Trennung, es fielen Gartenzäune und Scheidemauern.
richtet die Außenbereiche wie Innenräume ein, in denen die
Es entstünden gemeinsam bewirtschaftete Gartenfelder,
Bänke, Bäume und Blumen das Mobiliar bilden.
Fernheizwerk, Zentralboileranlage, Zentralküche.“61
So beschreibt er den „Wohnhof“ als einen „lange[n] Saal mit
Sollte sich die Gesellschaft grundlegend in diese Richtung ver-
vierzig Türen. Saalverhältnis 1 : 4, in Metern 25 × 100“ – ganz
ändern, so Meyers spekulativ-idealistische Schlussfolgerung,
so, als wäre er ein großer Ballsaal, zu dem hin sich viele Türen
wäre die Stadt anders angelegt und organisiert: „Etwa fiele
öffnen, nämlich die der Einfamilienhäuser. Dieses Prinzip der
geistige Bindung zum Krimskrams soeben durchlebter Stadt-
Umkehrung von innen und außen macht deutlich, dass die
kultur, fiele anmassender Maßstab von Haus und Hausteil des
Priorität auf dem kollektiven „Saal“ im Außenbereich liegt,
Kleinhauses, fiele Begriff der ,Strasse‘, der ,Symmetrie‘, des
dem Meyer dieselbe Aufmerksamkeit im Hinblick auf die Pro-
,Details‘. Es entstünde in unsymmetrisch-gebrochener Haltung
portionen, Bepflanzung und Farbgebung widmet wie allen
eine mit einzig berechtigtem Respekt vor Hygiene und Rendite
anderen Bereichen auch.
aufgebaute Siedelungsform, als garten- und bautechnische
In seiner Beschreibung des Raumbilds „Der stille Platz“ macht sich
Wohnmaschinerie ein Sonnenanfang, und zugleich ein Träger
Meyer ein Vergnügen daraus, die Pflanzen zu personifizieren:
unmenschlicher Schönheit und Reinheit.“62 Dieser Wunsch
58
„Vier Platanen, persische Flüchtlinge, lauschen im Viereck
nach Asymmetrie, Gebrochenheit und Ungleichgewicht konnte
dem Plätscherbrunnen. […] Die Kammer der Irisköniginnen.
in der Siedlung Freidorf nicht umgesetzt werden, nahm aber in
Im Juni erscheinen sie allem Volke: zuerst Iris missouriensis,
Meyers späteren Projekten konkrete Gestalt an.
lanzettblättrig, spitz und spitzig, gewählt, gequält und unnahbar, ganz Amerikanerin. Hernach Maory King, gedrungen, braun und gelb, naturwüchsig und exotisch, wie eine
und der sozialen Wohlfahrtspflege: Die „Vitrine Co-op“ als
Tahitanerin von Gauguin. Zuletzt Madame Chereau, kobalt-
Modell einer runden Stadt und das „Theater Co-op“ als
blau gerändert, kultiviert, parfümiert, Französin von Rasse
Lehrstück
und von Auftreten.“
Hannes Meyer kämpfte für eine grundlegende Erneuerung
59
Auf diese Weise erzeugt Meyer eine zwischen vernunftge-
von Architektur, Gesellschaft und Kunst. Ihn interessierte, wie
leitetem Rationalismus und expressionistischer Lyrik changie-
die Ideen des Kooperativen in der Bevölkerung verbreitet
rende Atmosphäre, in der Menschen, Pflanzen, Technik und
werden konnten. Ausstellungen und Gebärdenspiel waren in
Architektur zu einer Einheit verschmelzen. Hier bei seinem
seinen Augen gute Formate, um seine Überzeugungen zu
ersten Projekt wird bereits die Idee des „Gesamtkunstwerks“
vermitteln, da diese didaktischen Mittel alle Menschen, unab-
greifbar, die Meyer wenig später in seinem Aufsatz „Die neue
hängig von Bildungsstand und Sprache, unmittelbar berühren
Welt“ (1926) darlegen wird.
können. Für den Stand der VSK auf der Exposition Internatio-
Der Architekt beschließt seinen Präsentationstext mit einem
nale de la Coopération et des Œuvres Sociales (E.I.C.O.S.; In-
Rückblick auf die Hintergründe des Siedlungsprojekts, das sich
ternationale Ausstellung des Genossenschaftswesens und der
vom Stil und seiner Symbolik her in eine lange humanistische
sozialen Wohlfahrtspflege), die 1924 in Gent (Belgien) statt-
Tradition einreiht, sowie auf dessen starker kollektiver
fand, entwarf er eine außergewöhnliche Installation. Statt dem
Dimension: „So ist Freidorf, Kind ungeklärter Zeit und vielver-
üblichen Ausstellungsformat mit ausufernden Produktpräsen-
schränkter Verhältnisse, durchaus Kompromiss; sozial zwi-
tationen, Modellen und langweiligen Statistiken zu folgen bzw.
schen Einzelmensch und Gemeinschaft, formal zwischen Stadt
sich folkloristischer Stereotypen wie Chalet, Schokolade und
und Land.“ Meyers Bestrebungen gehen allerdings noch
Kühen zu bedienen, wollte Meyer die Besucher:innen mit
einen Schritt weiter, was die kollektive Organisation mit allen
einer Art „absolutem Theater“ konfrontieren „mit dem Ziel:
daraus resultierenden baulichen Konsequenzen betrifft:
Menschenseelen durch das Schau-Spiel von Körper, Licht,
60
„Reinere Gemeinschaftsbindung ruft reinerer Siedelungsform.
80
Internationale Ausstellung des Genossenschaftswesens
Zurück zur Ländlichkeit
Farbe, Geräusch und Bewegung zu erschüttern.“63
Anmerkungen Seite 96
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 81
Hannes Meyer, Vitrine Co-op, E.I.C.O.S., 1924, Fotograf: Theodor Hoffmann
Hannes Meyer, Theater Co-op: Der Traum, Gebärdenspiel, 1924, Fotograf: Theodor Hoffmann65
Für die Ausstellung entwarf der Architekt einen rundum roten
Querschnitte durch genossenschaftliche Umwelt, als Schaustück
Saal: roter Fußboden, rote Decke, rote Wände, rote Sessel.
ohne Anfang und Ende, ohne Steigerung zum Spielschluss, ohne
In der Saalmitte stand ein riesiger Glasschaukasten mit über-
Pathos, moralinfrei und sonder Apotheose, nur Zustandsschil-
dimensionierten Co-op-Artikeln, deren Präsentation einer spie-
derung schweizerischen Gemeinschaftslebens.“66 In den Szenen
lerischen Logik sonderbarer Produktionsketten folgt: in frei
erschien die Genossenschaft als rettende Instanz für das Volk
gekrümmter Linie angeordnet, dann wieder wie zu Wohntürmen
und ermöglichte ihm, sich zu ernähren, die Schulden zu tilgen
gestapelt. Diese Anordnung erzeugt mit Bedacht eine Mehr-
und sich vom Elend zu befreien. Mit seinem Schaustück wollte
deutigkeit zwischen den Maßstäben der Konsumgüter und des
Meyer die Menschen aufrütteln, damit sie ihr Schicksal selbst in
Stadtentwicklungsplans, denn Co-op hat keinen Maßstab und
die Hand nehmen, sich mobilisieren und der Genossenschaft
umfasst alles, von der Alltagsware bis zum kollektiven Wohnen.
beitreten, um bessere Produkte billiger einzukaufen, zu günsti-
Der Aufbau dieses stadtähnlichen Gebildes folgte allerdings
geren Mieten in hochwertigeren Wohnungen zu leben, sich
einer anderen Logik als die Städte, die üblicherweise um ein
nach reformpädagogischen Prinzipien zu bilden und innerhalb
Straßennetz herum angelegt sind. Die Struktur ist hier nicht
dieser Strukturen aktiv an ihrer Selbstbestimmung mitzuwirken.
linear, sondern zyklisch und symbolisiert die fortwährende Erneuerung des Produktionsprozesses. Meyer beschrieb die
„Die neue Welt“ und die Gemeinschaftsseele
Ausstellungsgestaltung wie folgt:
Eine wichtige Rolle für den Aufbau der neuen kollektiven
„In der Saalmitte ein übergrosser Glasschaukasten: signalrotes
Gesellschaft spielt die Kunst. In seinem Aufsatz „Die neue
Aquarium der Co-op-Artikel genossenschaftlicher Produktion.
Welt“67 aus dem Jahr 1926 strebt Meyer die Verwurzelung
Am Saalende über Rechtecksausschnitt der Bühne und musik-
der Kunst in der neuen Gesellschaft an, die auf kooperativen
dosenhaftem Phonopavillon in signalroten Lettern:
Prinzipien beruht: „Kooperation beherrscht alle Welt. Die
LE THEATRE CO-OP.“64
Gemeinschaft beherrscht das Einzelwesen“, äußert er in
Das Bühnenbild für dieses Theater entwarf Meyer zusammen
einem radikaleren Ton.68 Folglich ist das „neue Kunstwerk
mit dem Genfer Schauspieler Jean Bard. Zwei Pantomimen
[…] ein kollektives Werk und für alle bestimmt“.69 Bei diesem
(das Ehepaar Bard) wurden engagiert, um für die gesamte
kollektiven Kunstbegriff drängt sich die Frage der Standardi-
Ausstellungsdauer ein Lehrstück aufzuführen: 100 Aufführungen
sierung aus idealistischer Sicht erneut auf: „Das sicherste
für 15 000 Besucher:innen. Die von Meyer ausgemachten vier
Kennzeichen wahrer Gemeinschaft ist die Befriedigung
„Kernfragen der Arbeit, Familie, Kleidung, Handel“ wurden in
gleicher Bedürfnisse mit gleichen Mitteln. Das Ergebnis
kleinen mimischen Szenen thematisiert: „So entstanden vier
solcher Kollektivforderung ist das STANDARDPRODUKT.“70
Anmerkungen Seite 96
Hannes Meyer: Siedlung Freidorf
81
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 82
Meyer schwärmt für die Wissenschaften und die neuen Tech-
Ob natürliches Milieu oder künstliche Umgebung, Bühnenbild,
nologien, die eine Standardisierung der Produkte ermöglichen,
Architektur oder Objektdesign: Stimmungen sind das, was die
und stellt fest, dass die Grenzen zwischen Mathematik, Kunst
Dinge entstehen lässt und dem Lebewesen das Gefühl gibt, zu
und Musik immer mehr verschwimmen. Er setzt sich aktiv für
existieren.“73
die Entwicklung einer neuen Kunst ein und stellt die Dimension
Dieser theoretische Ansatz nimmt im Werk von Hannes Meyer
der Wahrnehmung der herkömmlichen Kunst infrage, die aus
konkrete Gestalt an: durch die Erzeugung starker Stimmungen,
seiner Sicht der Vergangenheit angehört:
kraft derer sich die Bewohner:innen (oder Zuschauer:innen)
„Die Kunst der gefühlten Nachahmung ist in Abrüstung
von einer neuen Lebensform angezogen fühlen, die sie für das
begriffen. Die Kunst wird Erfindung und beherrschte Wirk-
Kollektiv sensibilisiert und ihr Handlungsvermögen anregt.
lichkeit. Die Kunst wird Realität. Und die Persönlichkeit?
Die neue Siedlung Freidorf, die fernab von der Stadt inmitten
Das Gemüt?? Die Seele??? Wir plädieren für die reine Schei-
von Feldern gebaut wurde, musste ästhetisiert werden, um ein
dung. Diese Drei seien in ihre ureigensten Reservate verwie-
kollektives Experimentum Mundi sein zu können. Die Sublimie-
sen: Liebestrieb, Naturgenuß, Umgang mit Menschen.“71
rung bestand in der Schaffung eines Gesamtkunstwerks, das
Wenn die Persönlichkeit auf die Libido, der Geist auf den Natur-
alles einschloss, alle Bereiche abdeckte: die Ästhetik der Archi-
genuss und die Seele auf den menschlichen Umgang reduziert
tektur und der Landschaftselemente, die Erfahrung genossen-
wird, hat die individuelle Wahrnehmung der Welt, die auf
schaftlichen Lebens, Bildung und didaktisches Theater – die
„Einfühlung“ basiert (der Begriff bildete sich im 19. Jahrhundert
Schlüsselfaktoren von Meyers Programm. Gemeinschaftliches
heraus und bezeichnet das Vermögen, sich in einen anderen
Handeln ist ein integraler Bestandteil dieses Konzepts vom
Menschen oder in ein Objekt zu versetzen ) keine Gültigkeit
neuen Menschen.
mehr. Statt von einem auf individueller Anschauung beruhen-
Meyer sieht vor allem die politische Dimension der Ästhetik im
den, einigenden Gefühl erfasst zu werden, würden wir vollends
Sinne Rancières, der Kunst und Architektur in erster Linie als
von der Kraft kollektiver Erfahrung mitgerissen. Das individuelle
„Formen der Einschreibung des Sinns der Gemeinschaft“ be-
Prinzip der Einfühlung würde somit von einem kollektiven
greift, die festlegen, „wie Werke oder künstlerische Auffüh-
Prinzip des Mitgefühls abgelöst, das mit dem Begriff der
rungen ,Politik‘ machen“.74 Durch ihre Zugehörigkeit zum
Solidarität assoziiert werden kann. Die Seele des Einzelnen träte
genossenschaftlichen Kollektiv haben die Bewohner:innen das
zugunsten einer Gemeinschaftsseele zurück. Mithin würde der
Gefühl zu existieren. Dieses Gefühl wird durch Architektur und
Begriff der Standardisierung ganzheitlich alles umfassen, von
Kunst auf ganzheitliche Weise verstärkt. Der „ästhetische Zu-
der Seele bis zum Gebäude und zum kleinsten Baudetail.
stand“, in den wir kraftvoll versetzt werden, „ist der Augen-
72
blick, in dem eine spezifische Menschheit gebildet wird“,
82
Ästhetik und das Gefühl zu existieren
schreibt Rancière mit Betonung auf dem schöpferischen
Bei Hannes Meyer verbinden sich beide eingangs dargelegten
Potenzial von Ästhetik.75 Die Architekten der Moderne wussten
Definitionen von Ästhetik. Er möchte die seelische Erfahrung,
um dieses Potenzial und versuchten es im Zuge ihres Kampfes
die von einer individuellen in eine kollektive übergeht, „ästhe-
für bessere Lebensbedingungen durch das Gesamtkunstwerk
tisieren“, und zwar in der ursprünglichen Bedeutung von Äs-
auszuschöpfen.
thetik als Lebenserfahrung. Damit nähert er sich der Definition
1926, nach Fertigstellung der Siedlung Freidorf, ging Meyer in
Gernot Böhmes an, für den die Aisthetik eine Wissenschaft der
seinen sozialen Bestrebungen noch einen Schritt weiter, indem
sinnlichen Erfahrung ist, die weder in der Eigenschaft eines
er sich dem Funktionalismus annäherte, und nahm eine radika-
Objekts noch im Zustand eines Subjekts gründet, sondern in
lere Haltung ein: „Bauen ist ein technischer, kein ästhetischer
der Anwesenheit „eines zwischen Subjekt und Objekt befindli-
Prozeß, und der zweckmäßigen Funktion eines Hauses wider-
chen Etwas“, das Böhme „Stimmung“ nennt: „Indem er dem
spricht je und je die künstlerische Komposition.“76 Damit stellt
Zwischenraum, in dem die affektive Erfahrung eine beachtliche
er die Funktion ganz klar über die künstlerische Komposition,
Rolle spielt, den gebührenden Stellenwert einräumt, wird das
die immer intuitiv ist. „Idealerweise und elementar gestaltet,
Verhältnis von Objekt und Subjekt grundlegend umgestaltet.
wird unser Wohnhaus eine Wohnmaschinerie“, schließt er in
Zurück zur Ländlichkeit
Anmerkungen Seite 96 und 97
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 83
Anspielung auf das Buch Vers une architecture (1923) von
namens „Rote Bauhausbrigade“, die am Stadtumbau Moskaus
Le Corbusier, dessen Ansatz ihn begeistert und in seiner
und im Rahmen des Fünfjahresplans des Sowjetregimes am
Architektursprache immer stärker zum Ausdruck kommt.77 Sein
Bau mehrerer neuer Städte beteiligt war, darunter Birobidschan,
Wunsch nach Asymmetrie, Gebrochenheit und Ungleichgewicht
Verwaltungszentrum der Jüdischen Autonomen Oblast, in
(den er in der Siedlung Freidorf noch nicht umsetzen konnte)
Sibirien nahe der Grenze zu China. Als die stalinistischen Säu-
wird im nächsten Wettbewerbsentwurf aus dem Jahr 1926
berungsaktionen immer bedrohlicher wurden, kehrte Meyer
(zusammen mit Hans Wittmer und der Bauabteilung am
1936 in die Schweiz zurück, allerdings ohne seine Lebensge-
Dessauer Bauhaus) für eine Schule in Basel (Peterschule; er
fährtin Margarete Mengel, die als deutsche Staatsbürgerin
bekam den Zuschlag nicht) überdeutlich, wo eine riesige ein-
kein Visum bekam und 1938 standrechtlich erschossen wurde,
seitige Auskragung einen Platz überragt. Die Darstellungs-
und auch ohne den gemeinsamen Sohn, der in einem staatli-
weise, die Architektursprache und die strukturellen Errungen-
chen Erziehungsheim überlebte.80 Drei Jahre später folgte
schaften sind vom russischen Konstruktivismus und vom Funk-
Meyer einem Ruf der mexikanischen Regierung und wurde
tionalismus inspiriert, wonach die Form der Gebäude deren
Direktor des neu gegründeten Städtebauinstituts. 1943 war er
Nutzung unmittelbar widerspiegeln sollte. Die Zeit der von
an der Veröffentlichung eines „Schwarzbuchs über den Nazi-
Palladio angeregten Wohnhäuser ist vorbei und wird von der
terror in Europa“ – El libro negro del terror nazi en Europa.
funktionellen Architektur abgelöst. Die Standardisierung, die
Testimonios de escritores y artistas de 16 naciones – beteiligt,
in der Siedlung Freidorf bereits systematisch umgesetzt wurde,
das ein von deutschsprachigen Antifaschisten gegründeter
wird nun zum Kernkonzept der Moderne – vom Stuhl bis zur
Exilverlag herausbrachte.
Gemeinschaftsseele.
Meyer war zeit seines Lebens sehr engagiert, angefangen bei der Siedlung Freidorf, wo er lebte und ein Ideal umzusetzen
Eine andere Form des Fortschritts
suchte, dem er anschließend am Bauhaus und in der Sowjet-
Meyer war ein Anhänger des technischen Fortschritts, der eine
union mehr Geltung verschaffen wollte, bis hin zu seinen
Standardisierung der Bauweise ermöglichte. Gleichzeitig war
Versuchen in Mexiko, trotz aller politischen Kämpfe mit
er jedoch sehr skeptisch, welche Richtung der Fortschrittsge-
Nationalisten und Trotzkisten die Weichen für den modernen
danke im Hinblick auf die Gesellschaft und die Politik einge-
Städtebau zu stellen. Seine Ideen verdichteten sich schließlich
nommen hatte. Angezogen von der Lebensreformbewegung
in anderer Form am Ende seines Lebens, kurz vor seiner Rück-
und dem genossenschaftlichen System, die mit dem Garten-
kehr in die Schweiz, wo er 1954 starb: in den Publikationen
stadt-Modell verbunden waren, widmete er sich in seiner
eines Verlags, den er von 1942 bis zu seiner Abreise 1949
Arbeit der Gestaltung einer Zukunft, die eine andere Form
leitete, La Estampa Méxicana der Künstlervereinigung Taller
sozialen, kulturellen, künstlerischen und architektonischen
de Gráfica Popular („Werkstatt für populäre Grafik“), die
Fortschritts versprach. Meyer wirkte mit seinen eigenen
mit politischen Grafiken gegen den Faschismus kämpfte.
Mitteln – Architektur und Vermittlung – am Aufbau eines gesellschaftlichen Gegenmodells mit. Aufgrund seines Anspruchs, das Bauen als Gesamtkunstwerk zu verstehen, und seines engagierten Fortschrittsbegriffs wurde Hannes Meyer 1927 von Walter Gropius als Lehrkraft an
Bruno Taut: Die Stadtkrone und die Hufeisensiedlung, 1920/1933
das Dessauer Bauhaus berufen und richtete dieses in seiner
Der Deutsche Bruno Taut (1880–1938) vervollständigt nun das
Eigenschaft als Direktor von 1928 bis 1930 stärker auf bauliche
Architekten-Trio, das sich nach dem Ersten Weltkrieg um eine
und soziale Belange aus. Unter dem wachsenden Einfluss der
Neubestimmung und Aktualisierung des Howard-Modells
Nationalsozialisten in der Stadt Dessau wurde Meyer 1930
bemühte. Besonders interessant an Taut ist hier, dass seine
„wegen kommunistischer Umtriebe“78 fristlos entlassen. Er
Gartenstädte auf gesellschaftlichen und ästhetischen Visionen
ging nach Moskau und gründete dort mit sieben seiner ehe-
beruhten, die als Reaktion auf den Krieg entstanden, eines
maligen Studentinnen und Studenten79 eine Arbeitsgruppe
Krieges, der für Taut die Zerschlagung aller Hoffnungen auf
Anmerkungen Seite 97
Bruno Taut: Die Stadtkrone und die Hufeisensiedlung
83
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 84
die (Wieder-)Verwurzelung des Menschen in der Natur durch eine generalisierte „Läuterung“. Die Folge dieses Strebens nach radikaler Erneuerung war, dass Taut, der überladene Baustile wie den Jugendstil ablehnte, sich der japanischen Architektur mit ihrer ergreifenden Schlichtheit und ihren Naturformen zuwandte, die ihm als Vorbild dienten. Der Architekt Theodor Fischer, der Taut in seinem Büro in Stuttgart einstellte, erkannte schnell die Talente des jungen Mannes und vertraute ihm Aufträge an. So konnte er 1909 sein eigenes Architekturbüro eröffnen (zusammen mit Franz Hoffmann). Nach dem Neubau einer Mietshausgruppe in Berlin-Neukölln wurde Taut zum beratenden Architekten der Deutschen Gartenstadtgesellschaft (gegr. 1902) berufen. 1913 erhielt er den Auftrag, die Bauleitung für eine Gartensiedlung in Magdeburg zu übernehmen, außerdem sollte er den Lageplan für die neue Berliner Arbeitersiedlung „Gartenstadt Falkenberg“ erstellen. In beiden Fällen verwendete er intenBruno Taut, Blatt 17: „Das Baugebiet vom Monte Ceneroso gesehen“, aus: Alpine Architektur, 1919
sive Farben, was damals völlig unüblich war.81 Auch bei seinem berühmten „Glashaus“ für die Kölner Werkbundausstellung 1914 gab es Farben, die je nach Wetterlage und Tageszeit
den Fortschritt der Menschheit bedeutete. In seiner Verzweif-
changierten und auf den spiegelnden Facetten der Kuppel
lung zog er sich in eine Fantasiewelt zurück und zeichnete
vielfarbige rotierende Lichtstrahlen ins Innere projizierten – wie
utopische Entwürfe für ein friedliches Europa, das auf neuen
ein Kaleidoskop, das einer hypnotisierenden Maschine gleich
gemeinschaftlichen Prinzipien aufbaute – und setzte damit die
das Zeitgefühl aufhebt.
reale Raum-Zeit außer Kraft. Welche Ästhetik hat er bemüht,
84
um diese neue Welt zu skizzieren, und auf welche Weise diente
In den Kriegsjahren nehmen Utopien Gestalt an
sie ihm, als die Zeit reif war, als Ausgangspunkt für den Aufbau
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs stürzte Bruno Taut in
einer besseren Welt? Was entstand aus Tauts raumzeitlichen
tiefe Verzweiflung. Er ließ sich gehen und verwahrloste
Fantasiewelten, und auf welche Weise ist er dann, als er sie in
zunehmend, um der Einberufung zu entgehen. Statt an die
die Realität übertragen konnte, die Frage der notwendigen
Front zu gehen, übernahm er die Bauleitung eines Wohn-
Reduktion angegangen?
komplexes für die Arbeiter einer Pulverfabrik. Je länger der
Bruno Taut wurde 1880 in eine verarmte bürgerliche Familie in
Krieg andauerte und je weniger Aufträge er hatte, desto
Königsberg (heute Kaliningrad) geboren. Er machte eine Aus-
mehr plagten ihn Suizidgedanken. Er tauchte ab in eine Fan-
bildung an der örtlichen Baugewerkschule und arbeitete in
tasiewelt und in das Studium von Sakralbauten – Domen,
den Sommerferien als Maurer (wie Meyer und Loos). In Berlin
Tempeln, Pagoden – und dachte über den Sinn der Welt nach.
lernte er im Büro von Bruno Möhring, wo er sich Architektur-
Auf seinen Streifzügen durch Raum und Zeit konnte er Abstand
kenntnisse aneignete, Anhänger der Lebensreformbewegung
gewinnen und die architektonischen Eigenschaften dieser Bau-
kennen. Wie Hannes Meyer begeisterte sich Taut für deren
werke auf eine friedfertige Welt übertragen, die nicht mehr auf
fortschrittliche Ideen zum Aufbau einer befreiten Gesellschaft.
religiösen, sondern auf neuen gemeinschaftlichen und sozialen
Die vielfältige Reformbewegung prangerte die menschen-
Prinzipien gründete. Dome verwandelten sich so in „Volkspa-
feindlichen Folgen der Industrialisierung, die Ausbeutung der
läste“. Von 1916 bis 1917 zeichnete Bruno Taut Die Stadt-
Arbeiter, die Armut, die Übervölkerung der Städte und die
krone 82, Ansichten einer Idealstadt, in der seine sozialreforme-
damit zusammenhängenden Krankheiten an und propagierte
rischen Ideen verwirklicht würden. So krönen anstelle der Dome
Zurück zur Ländlichkeit
Anmerkungen Seite 97
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 85
Bruno Taut, Blatt 1, „Nun blüht unsere Erde auf“, aus: Die Auflösung der Städte, 1920
Bruno Taut, Blatt 23, „Die grosse Kirche“, aus: Die Auflösung der Städte, 1920
kristalline Stahl-Glas-Bauten, die der Kultur und der Kunst
Hölderlin und Paul Scheerbart entnommen sind.
geweiht sind, die Stadt und werden zu Friedenssymbolen.
Diese drei Bücher, die Taut heimlich verfasste und zeichnete
Ab 1917 spann Taut seine utopischen Ideen mit Alpine Archi-
(als Pazifist lief er Gefahr, des Landesverrats beschuldigt zu
tektur fort, indem er dem Krieg eine andere Welt entgegen-
werden), wurden erst nach dem Krieg in der Weimarer Republik
setzte, die harmonischer, schillernder, farbiger war und die er
veröffentlicht. Sie sind als Antikriegsmanifeste anzusehen. Die
in die Alpen verlegte; überdies fügte er poetische Texte voller
Stadtkrone hat er übrigens „dem Friedfertigen“ gewidmet.
83
kosmischer Anspielungen in die Zeichnungen ein. In beiden 84
Werken reihen sich verschiedene Maßstäbe aneinander, von
„Die Stadtkrone“
der Architektur über den Bebauungsplan und dem Landschafts-
Wichtige Inspirationsquellen für Bruno Taut waren der Anarchis-
projekt bis hin zu den Sternen. Taut, der ein wichtiger Protago-
mus und der von Michail Bakunin theoretisierte „freiheitliche
nist des deutschen Expressionismus war, übertrug die Vision
Sozialismus“. Er interessierte sich besonders für die Schriften
einer utopischen Gegenwelt auf den Kristall.
von Pjotr Kropotkin und Gustav Landauer. Letzterer hatte eine
In seinem dritten Werk, Die Auflösung der Städte 85, mit Texten
romantischere, geradezu mystische Version des freiheitlichen
und Zeichnungen, die ebenfalls im Laufe der langen Kriegs-
Sozialismus entwickelt und deutete die Idee der „Menschen-
jahre entstanden, gibt Taut einen Einblick in die Quellen, die
gemeinschaft“ als eine harmonische und fruchtbare Symbiose
sein Denken befruchtet haben. Die 30 vorangestellten Zeich-
von Geist und Volk.86 Die Vorstellung eines Sozialismus, an
nungen zeigen eine Stadt, die sich allmählich auflöst, um Platz
dem die ganze Gesellschaft teilhat, war prägend für Taut, der
für utopische kristallförmige, kubische und organische Bau-
in Die Stadtkrone darauf Bezug nahm. Hier ist auch Erich
werke zu machen, die am Ende durch den unendlichen Kosmos
Baron, ein weiterer wichtiger politischer Ideengeber für den
schweben. Daran schließt sich eine Sammlung von Texten und
Architekten während des Ersten Weltkriegs, mit einem Beitrag
Zitaten an, die unter anderem Werken von Pjotr Kropotkin,
vertreten, wo zu lesen ist: „Aus der Fülle des Herzens zur geis-
Lew Tolstoi, Friedrich Engels, Karl Marx, Gustav Landauer,
tigen Alldurchdringung zu gelangen, ist das idealistische Ziel
Ernst Fuhrmann, Erich Baron, Friedrich Nietzsche, Friedrich
des romantisch-visionären Sozialismus.“87 Dieser ist, wie Taut
Anmerkungen Seite 97
Bruno Taut: Die Stadtkrone und die Hufeisensiedlung
85
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 86
an anderer Stelle erläutert, ein „Sozialismus im unpolitischen,
Goldene Sterne sind’s!
überpolitischen Sinne“. Taut schwebte eine soziale, offene
Der Erdball ist ganz weiß – ganz mit weißem Schnee
Struktur vor, die einer neuen Stadtform mit neuen Stätten der
umhüllt – mit leuchtendem Schnee!
Begegnung und Geselligkeit bedurfte. So überragt als Ersatz
Sternklare Winternacht auf den Höhen und im Tal!
für den Dom der alten Städte in seinen Zeichnungen in Die
Die tote Erde dreht sich immer langsamer.
Stadtkrone ein Kristallpalast das Stadtzentrum:
Doch im sammetschwarzen Himmel wird’s lebendig.“90
88
„Vom Licht der Sonne durchströmt thront das Kristallhaus
Auf diese apokalyptische Einleitung folgt eine fantastische
wie ein glitzernder Diamant über allem, der als Zeichen der
Vision: Die Erzengel öffnen ihre Rucksäcke und holen glit-
höchsten Heiterkeit, des reinsten Seelenfriedens in der
zernde Paläste hervor, die mit ihren prächtigen Farben die
Sonne funkelt.“
schneebedeckte Erde beleuchten. Der Himmel wird immer
89
Diese ausgefallene, mystisch angehauchte Sprache ist vom
schwärzer und auch die Sterne verblassen, da die Erde zur
romantischen Sozialismus Landauers und der Theosophie in-
Lichtquelle wird. Ein neues Leben ringt sich durch, das ewige
spiriert und geradezu charakteristisch für einen Teil der dama-
Leben; die Toten steigen aus ihren Gräbern und sehen sich
ligen deutschen Lebensreformbewegung.
erstaunt an. Voller Rührung fallen sie sich um den Hals. „Ja! Ja! Wer hätte nicht gern ein neues Leben begonnen!“, rufen sie
86
Paul Scheerbart: „DAS NEUE LEBEN. Architektonische
aus, und „Die Erde dreht sich schneller.“91 Nachdem Scheerbart
Apokalypse“
eine Entschleunigung vorgenommen hat („Die tote Erde dreht
Aber letztlich waren die fantastischen Visionen des deutschen
sich immer langsamer“), um die Apokalypse und das Weltende
Dichters Paul Scheerbart (1863 –1915) die wichtigste Inspirati-
anzudeuten, setzt wieder eine Beschleunigung ein, um das
onsquelle Tauts. In Die Stadtkrone gibt ein Text des Dichters
Erscheinen des erträumten neuen Lebens zu veranschaulichen,
den Auftakt („Das neue Leben. Architektonische Apokalypse“)
wo alles in einem wilden Durcheinander herumwirbelt:
und beschließt ein anderer mit dem Titel „Der tote Palast.
„Die Auferstandenen steigen die goldenen Stufen zu den
Ein Architektentraum“ den Band. Beide sind Auszüge aus dem
Schlössern und Domen empor. Es wimmelt man so!
Roman Immer mutig!, den Scheerbart 1902 veröffentlichte.
Alle Sprachen der Erde wirbeln durcheinander, daß es
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Apokalypse noch eine
mächtig durch den ganzen Himmel brummt und die Glocken
spekulative düstere Vision, ein Gedankenspiel, um sich eine neue
nicht mehr zu hören sind.“92
Welt zu erträumen, doch mit dem Ersten Weltkrieg wurde sie
Die Menschen gehen in die Kristallpaläste und werden von
zur bitteren Realität. In diesem Kontext, wo alle Hoffnungen
den Erzengeln empfangen. Doch im Innern dieser Juwele der
auf eine bessere Menschheit sich zerschlagen hatten, bekam
Baukunst denken sie nur ans Essen:
Scheerbarts Text eine ganz andere Bedeutung. Wir wollen ihn
„Marmor und Rubine, Gold und Silber, bunte Lampen und
uns etwas genauer ansehen, denn er veranschaulicht eindrück-
bunte Wände, entzückend gegliederte Kuppeln, ein bißchen
lich die Verbindung zwischen Fiktion und Architektur:
Sammet und Seide, mächtige Granitsäulen, glitzernde Glas-
„DAS NEUE LEBEN
grotten und ähnliche Sachen gibt’s ja in unüberschaubarer
Architektonische Apokalypse
Menge – doch von Hammelbraten, Schneckensalat und
Langsam dreht sich der alte Erdball um die alte Sonne, die
Feuerwein keine Spur!
nicht mehr glüht und strahlt wie einst.
,Engel, wo bleibt das Abendbrot?‘“93
Dunkelviolett scheint die alte Sonne, so daß es nie mehr
Daraufhin öffnen die Engel die Türen im Palast, doch zu ihrer
Tag wird – auf Erden niemals mehr.
größten Enttäuschung erblicken die Menschen keinen Speise-
Stille Nacht ist überall.
saal, sondern sehen sich mit ihrem alten Leben konfrontiert,
Es ist sehr sehr still.
das ihnen in diesem prächtigen Rahmen seltsam vorkommt, ja
Der Himmel ist schwarz wie schwarzer Sammet.
„so unappetitlich wie schmutzige Wäsche“. Scheerbart teilt
Die Sterne aber funkeln so hell wie sonst – wohl noch
die Menschen dann in „gute“, die mit allem zufrieden sind,
heller, da sie größer sind.
und „böse“, die sich immer nur vergnügen wollen. Als Letztere
Zurück zur Ländlichkeit
Anmerkungen Seite 97
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 87
von der „prunkvolle[n] Traumwelt eurer Wunderpaläste“ nichts wissen wollen, die ihnen die Erzengel schenken, werden sie wieder dem Tod anheimgegeben: „,Na, wenn euch der Selbstbetrug nicht paßt‘, donnern die Engel los, ,so könnt ihr ja wieder in eure Gräber zurück. Eure kannibalische Dummheit soll uns das neue Leben, das wir euch in dieser Glanzwelt darboten, nicht verleiden!‘“94 Die „guten Menschen aber, die schon dankbar sind, wenn sie bloß in einer glanzseligen Traumwelt leben können“, lachen und wollen nicht mehr. So endet die apokalyptische Geschichte genauso, wie sie begonnen hat: „Die unbeschreiblich großen Engel stecken die festlich erleuchteten Paläste wieder in ihren Rucksack, ziehen ihre Handschuhe an, nehmen ihre Dome in den Arm – und flattern davon. Bald dreht sich der ganze Erdball so langsam wie vorhin – wie ein großer Schneeball, den Kinder rollen, wenn sie einen Schneemann bauen. Die violette Sonne glüht in der Ferne wie eine Ampel, der das Öl ausgeht. Die goldenen Sterne funkeln im tiefschwarzen Sammethimmel – wie glückliche Strahlburgen. Und die Nacht ist so still – so grabesstill!“95 Die Geschichte ist nicht nur moralisch, sondern auch ironisch. Sie verspricht denen, die bereit sind, Opfer zu bringen, ein glanzvolles Leben – eine Vorstellung, die sich auf einigen Blättern von Tauts Buch Alpine Architektur wiederfindet. Scheerbart stellt die Ästhetik über die Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken und Genuss – als müsste man sich die Architektur und das besondere ästhetische Vergnügen, das sie bereitet, durch tugendhaftes Verhalten verdienen. Unsere Einstellung, so die Moral der Geschichte, bestimmt über unser Vermögen, Ästhetik zu genießen und glücklich zu sein. Das ist die zentrale Botschaft von Scheerbarts apokalyptischer Erzählung, die unterscheidet zwischen den Glücklichen, die sich an der Architektur erfreuen können, und den Unglücklichen, die ihrer eigenen Dummheit wegen dem Tod wieder anheimgegeben werden.
Bruno Taut, „Stadtsilhouette“, „Stadtschema“, Plan und Silhouette, aus: Die Stadtkrone, 1919
Bruno Taut: „Das Chaos“ Auf die Erzählung Scheerbarts folgt eine Reihe von Zeichnun-
als einzige Gebäude nicht den Kriterien des Nutzens unterwor-
gen und Fotografien von Städten aus der ganzen Welt, die
fen sind und deren Schönheit auf die übrige Stadt ausstrahlt.
von Domen und anderen religiösen Bauwerken wie Tempeln
Damit stellt er sich dem Trend seiner Epoche entgegen, in der
oder Pagoden „gekrönt“ werden. Daran schließen sich Refle-
diese Unterscheidung immer mehr verschwimmt. Es folgen
xionen über die Rolle der Architektur an, wobei Taut zwischen
Überlegungen über die „alte Stadt“ und im Anschluss daran
Architektur für den Alltag und Sakralbauten unterscheidet, die
ein Kapitel über das „Chaos“ als Folge des ungezügelten
Anmerkungen Seite 97
Bruno Taut: Die Stadtkrone und die Hufeisensiedlung
87
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 88
Bruno Taut, „Perspektivische Ansicht“, aus: Die Stadtkrone, 1919
Wachstums der Städte, womit Taut Scheerbarts apokalyptische
der den Bau von Plätzen im italienischen Stil für dringend
Botschaft auf den Stadtraum überträgt. Taut missbilligt dieses
geboten hielt. Den modernen Städtebau lehnte er ab,98 da die
gesichtslose und der Bodenspekulation geschuldete Wachs-
Monumente oft abgesondert und auf Sichtachsen ausgerichtet
tum, insbesondere den rein profitorientierten Bau von Arbeiter-
würden, die „nach außen gebogen“ seien, wie er es aus-
silos, die wegen ihrer Dichte und Überbelegung „Mietskasernen“
drückte, und bevorzugte mittelalterliche Stadtanlagen, wo die
genannt werden und in Berlin ganz besonders menschenun-
Plätze nach innen gebogen und umhüllend seien, da das Auge
würdig sind. Er will aufzeigen, dass die Hässlichkeit dieser
auf diese Weise wie in einem Theater den gesamten Raum
Bauten die Trostlosigkeit des Daseins widerspiegelt:
erfassen könne. „Die Konzentration der Effekte aufgrund der
„Die wildesten Mietskasernenviertel, ja jedes einzelne
Menge an Dingen, die diese ,grossartige[n]‘ Interieurs ,unter
Haus steht danach immer, wie häßlich es auch sein mag,
freiem Himmel‘99 schmücken, erzeugt letztlich den Eindruck
in Harmonie zu dem Leben, das sich in ihm abspielt.
der Fülle für das Auge“, so die Analyse von Paolo Amaldi,
Und käme nun ein Gott und stellte plötzlich das herrlichste
„ja einer überbordenden Fülle, die zur Bewegung einlädt.“100
Viertel hin, so würde sich nach und nach auch das Leben in
Es sind turbinenartige Gebilde ohne stabilisierende Achsen,
solchen neuen Häusern nach ihnen richten. Aber es gehörte
in denen die Straßen von der Leere des Platzes eingefangen
wirklich ein Gott dazu. Die wenigen Menschen, die die
werden, wodurch der Effekt visueller Intensität entsteht. Doch
Trostlosigkeit und Häßlichkeit dieses materialistischen
die Stadtentwicklung unterliegt nun Gesetzen, die den Hygie-
Daseins empfanden, konnten nur langsam schürfen und,
nevorschriften Rechnung tragen. Demgegenüber hebt Taut
von einzelnen Teilgesichtspunkten ausgehend, nach einer
die Vorzüge der Gartenstadt mit ihrem Garten- und Ackerbau,
Neuordnung der Dinge suchen.“
den vielen Grünflächen und dem Ausschluss der Bodenspeku-
96
Aus diesen Zeilen spricht Tauts Wunsch, in größerem Maßstab
lation hervor. Im folgenden Kapitel „Rumpf ohne Kopf“ beklagt
und auf radikalere Weise eine neue, würdevollere und schönere
er allerdings, dass die neuen Städte im Unterschied zu den
Stadt zu erbauen. Er möchte kollektive und gemeinschaftliche
Alten keinen Kopf hätten, da die öffentlichen Bauten „zersplit-
Orte schaffen, die in der Nachfolge der gotischen Dome von
tert“ seien, um für jedermann leicht erreichbar zu sein, und die
Karl Friedrich Schinkel und Caspar David Friedrich eine neue
Staatsbauten nur noch Verwaltungsaufgaben wahrnehmen
Identität stiften97 und auf die Landschaft ausstrahlen: Stätten
würden und dadurch ihre Repräsentationsfunktion verloren
der geistigen, sozialen und materiellen „Verdichtung“.
hätten. „[W]ir müssen nach einem anderen Kopf für den Rumpf suchen“, lautet sein Fazit,101 und er legt einen Grundriss vor,
88
„Die neue Stadt“
der dem Muster der Gartenstadt folgt und eine ganz eigene
Im nächsten Kapitel „Die neue Stadt“ fasst Taut die Stadtbau-
Raumgliederung aufweist.
theorien seiner Zeit zusammen und beginnt mit Camillo Sitte,
Taut entwirft eine kreisförmige Stadt, die sich über einen Hügel
Zurück zur Ländlichkeit
Anmerkungen Seite 97
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erstreckt und nach außen durch einen Baumkranz abgegrenzt ist. Der Grundriss folgt ähnlichen geometrischen Prinzipien wie die Grundrisse der asiatischen Tempel, die Taut im ersten Teil seines Buches abgebildet hat. An der höchsten Stelle im Zentrum stehen die Verwaltungsgebäude und werden von einem Opernhaus, einem Theater und zwei unterschiedlich großen Stadthallen flankiert. Die Bibliothek ist nah am Zentrum, während die Kirchen sich über das umliegende Wohngebiet aus Reihenhäusern und Gärten verteilen. Die Stadt ist wie Howards Gartenstadt an das Eisenbahnnetz angeschlossen, allerdings führen hier die gekrümmten Bahntrassen durch das Stadtrund hindurch und umschließen eine Industriezone. Auch Parkanlagen schieben sich wie Keile in das Rund der kegelförmigen Stadt und schaffen eine Verbindung zwischen innen und außen, wobei die größte bis zum Mittelpunkt reicht. „Gebt eine Fahne“ – Plädoyer für einen universellen Sozialismus Im folgenden Kapitel „Gebt eine Fahne“, dem wohl politischsten im Buch, erklärt Taut: „Es muß auch heute [in der neuen Stadt] wie beim alten Stadtbilde sein, daß das Höchste, die Krone, sich im religiösen Bauwerk verkörpert.“102 Andererseits beobachtet er, dass die Kirchen in den Gartenstädten verstreut
Bruno Taut, Blatt 10: „Schnee Gletscher Glas“, aus: Alpine Architektur, 1919
und klein sind und „keine überragende Bedeutung finden. Auch die Gottesidee zerfließt, wie die neue Stadt selbst.“103
Was hat es schließlich auf sich, dieses oder jenes Häuschen
Es ist, als wäre in diesen zerfließenden Städten nichts mehr
oder Gebäude hübsch zu machen, wenn wir nicht das große
von Bedeutung, stellt er enttäuscht fest. Also macht sich Taut
Element kennen, das alle kleinen Wässerchen speist!“105
angesichts dieses Schwebezustands, in dem es keine Religion
Der Architekt sollte sich der Bedeutung seiner gesellschaftlichen
und keine echten Kirchen mehr gibt, auf die Suche nach neuen
Rolle bewusst werden, die bei Taut eine demiurgische Dimen-
Inhalten und Symbolen für die Gesellschaft und schlägt eine
sion hat: „Der Architekt muß sich auf seinen hohen, priesterhaft
Art universellen Sozialismus vor, der sowohl makrokosmisch als
herrlichen, göttlichen Beruf besinnen und den Schatz zu heben
auch mikrokosmisch ist:
suchen, der in der Tiefe des Menschengemüts ruht“, schreibt
„Der Sozialismus im unpolitischen, überpolitischen Sinne, fern
er vollmundig.106 Dazu bedarf es eines neuen Ideals, betont er
von jeder Herrschaftsform als die einfache schlichte Bezie-
trotz seiner Verzweiflung darüber, die Welt zusammenbrechen
hung der Menschen zu einander, schreitet über die Kluft der
zu sehen. Also versucht er neue Perspektiven aufzutun, indem
sich befehdenden Stände und Nationen hinweg und verbin-
er sich eine mögliche Erneuerung ausmalt: „Ein glückbringendes,
det den Menschen mit dem Menschen. – Wenn etwas heute
baugewordenes Ideal soll wieder erstehen und alle zum
die Stadt bekrönen kann, so ist es zunächst der Ausdruck
Bewußtsein führen, daß sie Glieder einer großen Architektur
dieses Gedankens.“104
sind, wie es einst war.“107 Schwankend zwischen Nostalgie und
Bei diesem Aufbau einer sozialistischen Welt, die auf Koopera-
Utopie, erträumt sich Taut diese neue Welt, in der das Erschei-
tion und Frieden gründet, spielt der Architekt eine Schlüsselrolle:
nen der Farbe einem Heilsversprechen gleichkommt:
„Dies wird der Architekt gestalten müssen, will er sich nicht
„Dann blüht endlich wieder die Farbe auf, die farbige
selbst überflüssig machen und will er wissen, wofür er lebt.
Architektur, die heute nur von wenigen ersehnt wird.
Anmerkungen Seite 97
Bruno Taut: Die Stadtkrone und die Hufeisensiedlung
89
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Bruno Taut, Hufeisensiedlung in Britz, 1927, Luftaufnahme, 2017
Die Skala der reinen ungebrochenen Farben ergießt sich
von Scheerbarts fantastischer Fiktion („Langsam dreht sich
wieder über unsere Häuser und erlöst sie von ihrem toten
der alte Erdball um die alte Sonne“), entwirft er eine Welt,
Grau-in-Grau. Und die Liebe zum Glanz erwacht: der Architekt
deren Zeitlichkeit sich durch Langsamkeit auszeichnet. An-
scheut nun nicht mehr das Blanke und Glänzende: Er weiß
hand der Fiktion kann er die Welt auf Abstand halten, um sie
es nun zu verwerten und kann von seiner neuen Warte aus,
aus der Ferne zu betrachten, weit weg genug, um träumen zu
fern vom alten Vorurteil, alles und jedes zu neuer Wirkung
können. Dank der Fantasie flüchtet er sich in eine fiktive Welt,
verteilen.“
die sich, in besseren Tagen, aus der Asche der alten erheben
108
Diese Zeilen erinnern an die glänzenden Kristallpaläste, die
wird. Raum und Zeit werden relativ und verselbstständigen
Scheerbarts Erzengel aus ihrem Rucksack holen, doch Taut
sich, losgelöst von der realen und noch apokalyptischen Welt.
verteilt nun die Farben auf alle Gebäude, vom einfachen
90
Wohnhaus bis zum Volkspalast – als könnte dieser neue
Eine nach innen gewandte, strahlende Gartenstadt
Farbkosmos die Zeit genauso anhalten wie das hypnotisie-
Diese Verschränkung von kosmischer Träumerei und gesell-
rende Kaleidoskop seines Glashauses, um eine verzauberte
schaftlicher Erneuerung ist charakteristisch für den deutschen
Welt zu erschaffen.
Expressionismus und hallt im nachfolgenden Werk des Archi-
Taut entschleunigt die Zeit, indem er mit ihr spielt. Ausgehend
tekten nach, der sich nach dem Krieg mit Leib und Seele dem
Zurück zur Ländlichkeit
Anmerkungen Seite 97
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Aufbau der erträumten neuen Welt verschreibt. Nach der
anderen, eher geradlinigen Gebäude strahlen in vielen Farben
Novemberrevolution von 1918 ruft Taut zusammen mit anderen
rund um diese ikonische „starke Form“ – eine Art abgeflachte
engagierten Architekten und Künstlern den „Arbeitsrat für
„Stadtkrone“, ein Volkspalast unter freiem Himmel, allerdings
Kunst“ ins Leben und wird dessen erster Sprecher. Ansinnen
ohne funkelnde Glaskuppel.
der sozialistischen Gruppierung ist, Kunst und Architektur der
Der Schweizer Theoretiker Martin Steinmann hat den Begriff
breiten Masse zugänglich zu machen (statt nur einer Minderheit
„forme forte“ („starke Form“) geprägt und versteht darunter
von Ästheten).
„Körper, durch deren Einfachheit die Form, das Material, die
109
Im Rahmen der Projekte des sozialen Wohnungsbaus, die Taut in den 1920er Jahren in Berlin realisiert,
110
entwickeln sich
Farbe eine grosse Bedeutung bekommen, und zwar abseits aller Verweise auf andere Bauten“.112 Das sind mit anderen
seine sozialen und ästhetischen Visionen immer weiter und
Worten Gebäude oder urbane Formen, die keine kulturellen
nehmen auch konkrete Gestalt an, obwohl das expressionisti-
Werte transportieren, sondern „ihre eigene Bedeutung sind“
sche Vokabular von der Wirklichkeit eingeholt wird und einer
und die „ihren Sinn in Beziehung zu grundlegenden Gesetzen
größeren Schlichtheit weichen muss. Farbe ist das einzige
der Wahrnehmung finden“.113 Das ermöglicht „eine unvermit-
Mittel, das ein gewisses Extra bieten kann, ohne die Baukos-
telte Erfahrung der Dinge“.114 Und genau diese Erfahrung gibt
ten zu erhöhen. So bestehen die Wohnhäuser in Tauts Garten-
es in Tauts Siedlungsprojekt. Es ist eine räumliche und zu-
städten nicht aus geometrisch angeordneten weißen oder
gleich gesellschaftliche Erfahrung, ermöglicht durch eine
lichtdurchlässigen Baukörpern, wie dies einige Bauhaus-Archi-
Form, die seinen expressionistischen Kristallpalast-Visionen
tekten anregen, sondern sind farblich gestaltet und organi-
entsprungen ist.
scher angeordnet. Die Dimension der Landschaft, der große Sorgfalt entgegengebracht wird, bettet die Architektur in ein besonderes Naturverständnis ein. Anders als beim Wiener
Die raumzeitlichen Handlungsmodi der „Rückkehr zur Ländlichkeit“
„Wohnhof“ entwirft Taut keine mehrstöckigen Wohnblöcke, sondern mit Bedacht niedrig gehaltene Gebäude (gemäß
Die vorgestellten Beispiele veranschaulichen, wie in Krisenzei-
den Prinzipien der Gartenstadt und der Arbeitersiedlung)
ten ein neues Verhältnis von Mensch und Natur ersonnen wird,
mit direktem Zugang zu großzügigen Grünflächen, wo die
um eine andersartige Gemeinschaft zu schaffen, die auf den
Bewohner:innen sich erholen und zusammenkommen, aber
Prinzipien genossenschaftlichen Handelns aufbaut. Eine solche
auch Nutzgärten anlegen können. Gemeinschaftliche und
kollektive Utopie bedarf entsprechender Stadt- und Baufor-
soziale Aspekte verbinden sich mit der Erfüllung von Grund-
men. Die krönenden Kristallbauten Tauts spiegeln die Idee
bedürfnissen.
einer vereinten menschlichen Gemeinschaft wider, die sich
Die Hufeisensiedlung
111
, die Taut mit Martin Wagner entwirft
auch in Hannes Meyers Manifest für die Genossenschaftsbe-
und die zwischen 1925 in Britz am südlichen Stadtrand von
wegung wiederfindet. Ziel dieser Vorhaben ist die Schaffung
Berlin erbaut wird, besteht aus 1285 Wohneinheiten für circa
„neuer Welten“, die alle Aspekte des Lebens erfassen. Tauts
4000 Einwohner und erstreckt sich auf einem 37 Hektar großen
Schriften und Zeichnungen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs
Areal. Das Ensemble verfügt über ausreichend Freifläche,
zeugen von diesem Streben nach einer Vereinigung des Men-
damit die Bewohner Gärten anlegen und so zu ihrer Selbstver-
schen mit der Natur, der Erde, dem Himmel, dem Mond und
sorgung beitragen. Das Besondere daran ist die hufeisenför-
den Sternen – ein politisches, gesellschaftliches und ästhetisches
mige Anordnung der Gebäude in der Mitte des Wohnquartiers,
Ideal in einem. Dieses Beispiel führt uns vor Augen, dass die
wodurch eine weiträumige Gemeinschaftsfläche entsteht. Der
Konstruktion eines Imaginären auch ein erster Schritt jenseits
künstliche Teich im Zentrum ist von einem Gemeinschaftspark
aller Träumerei sein kann, um zu gegebener Zeit in der Welt
umgeben, den eine Baumreihe von den Nutzgärten trennt.
zu handeln.
Hier findet sich die räumliche Umhüllung von Sittes Städte-
Um der Formlosigkeit der Industriestadt entgegenzuwirken, die
bautheorie wieder, mit einem dynamischen Turbineneffekt, der
einer hochspekulativen kapitalistischen Dynamik ohne abseh-
gleichzeitig konzentrierend und zerstreuend wirkt. Denn die
bares Ende unterliegt, entwerfen die Architekten differenzierte
Anmerkungen Seite 97
Die raumzeitlichen Handlungsmodi der „Rückkehr zur Ländlichkeit“
91
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und durch „starke Formen“ gegliederte Stadträume. Ihr Ziel ist
den, der die Gegenwart und jegliche Zukunftsperspektive ver-
es, neuartige Orte zu schaffen, in denen sämtliche Bereiche
nichtet hatte, und begab sich in eine Fantasiewelt, die weder
mit kollektiven Werten verbunden sind, die einen kooperativen
Raum noch Zeit kennt. Er ließ die Kriegszeit gleichsam anhalten,
Gemeinschaftsgeist hervorbringen. In diesem idealistischen
indem er eine Stadt der Zukunft entwarf, die in besseren Zeiten
Bestreben laufen Gesellschaftsprogramm, Raumgestaltung
gebaut werden sollte.
und Ästhetik zusammen und erzeugen gleichsam einen holisti-
Nach dem Krieg versuchten Bruno Taut, Adolf Loos und Hannes
schen Kosmos. Howard entwarf eine kreisförmige Idealstadt, in
Meyer, den kapitalistischen Fortschrittsbegriff in eine sozialere,
der jeder Ring seine eigene programmatische und räumliche
menschenfreundlichere Richtung zu lenken. Der Zusammen-
Charakteristik besaß. Taut betonte und erweiterte dieses Prinzip
bruch der Wirtschaft in der Nachkriegszeit und die Massen-
durch die „Stadtkrone“, einen großen zentralen Platz, mit dem
armut brachten sie dazu, eine auf das Wesentliche reduzierte
die Gemeinschaft ein pulsierendes Herz erhielt. Mit seinen
Architektur zu entwerfen. Dieses Moment der Entschleunigung
Kristallpalästen, die dem „Rumpf der zerstreuten Stadt“ einen
eröffnete die Möglichkeit, ein neues Gesellschafts- und Archi-
Kopf gaben, und seinem hufeisenförmigen Platz im Zentrum
tekturmodell zu entwickeln.
der Arbeitersiedlung entstanden nach innen gewandte, endli-
Die gemeinschaftlichen Aktivitäten – in den Gartenstädten
che Räume, die gleichzeitig auf symbolische Weise ins Unend-
sind sie allgegenwärtig und finden weitestgehend im Freien
liche ausstrahlen.
und in Berührung mit der Natur statt – sind ein wirksames
Auch Meyer akzentuierte die Gemeinschaftsbereiche in der
Mittel, um die gewohnte Lebensweise, die von der Fabrikar-
Siedlung Freidorf, man denke an die halbrunde Eingangs-
beit diktiert wird, zu entschleunigen, insofern sie einen klaren
treppe zum Genossenschaftshaus oder an den Brunnen auf
Bruch markieren und den Bezug der Menschen zu Raum und
dem großen zentralen Platz mit dem Obelisken, der die sym-
Zeit verändern. Dieses Moment der Entschleunigung gibt
bolische Mitte des Gemeinschaftsbereichs markiert. Loos wie-
Menschen die Möglichkeit, anderen und letztlich auch sich
derum verlegte die Gemeinschaftsbereiche an die schönsten
selbst zu begegnen. Die Treffen im Genossenschaftshaus für
Stellen der Landschaft.
eine kulturelle Aktivität und das Anlegen des eigenen Gartens
Bei allen Entwürfen liegt der Schwerpunkt auf den gemein-
sind die ersten Schritte auf dem Weg der Auflehnung gegen
schaftlichen Außenbereichen, die mit größter Sorgfalt gestaltet
die Dynamik der Ausbeutung und für die Emanzipation der
sind. Mit ihren Architektur- und Landschaftsstrategien versuchten
Arbeiterschaft. Die von Loos aufgestellte Regel, dass man erst
die drei Architekten, der Undifferenziertheit und Gleichförmig-
beweisen müsste, imstande zu sein, einen Garten über einen
keit des urbanen Raums dadurch entgegenzuwirken, dass sie
Jahreszyklus hinweg zu bewirtschaften, bevor man sein Haus
den Genossenschaftsvorhaben starke Raumqualitäten verliehen,
selbst bauen durfte, machte die Bedingungen dieser Emanzi-
die die Bewohner:innen zu vereinen vermochten. In jeder dieser
pation deutlich: Der Mensch muss für seine Ernährung und
neuen „Parallelwelten“ wurde gemeinschaftliches Handeln zum
Unterkunft selbst sorgen können und dürfen.
Vehikel eines anderen Fortschrittsverständnisses. Im Anschluss an die Analyse dieser Architekturprojekte drängen
Reduktion/Sublimierung:
sich zwei Feststellungen auf.
Die „Rückkehr zur Ländlichkeit“ impliziert eine Reduktion, die mit dem Verzicht auf die Dinge einhergeht, die das Stadtleben
92
Entschleunigung:
ausmachen; diese Reduktion versuchen die Architekten dadurch
Deutlich wird bei allen Beispielen der gemeinsame Wunsch
zu sublimieren, dass der neue „Naturzustand“ auf eine höhere
nach Entschleunigung als Reaktion auf die durch Industriali-
Ebene gehoben wird. Alle untersuchten Beispiele weisen diesen
sierung, Kapitalismus und Bodenspekulation verursachte
doppelten Mechanismus der Reduktion/Sublimierung auf, auch
Beschleunigung. So legte Howard, um gegen die unmenschli-
wenn er jedes Mal anders vonstatten geht.
chen Lebensbedingungen anzukämpfen, ein Gegenmodell in
In seinem Gartenstadt-Entwurf sublimiert Ebenezer Howard
ländlichem Gebiet vor, das eine eigene Raum-Zeit hat. Taut
das Land durch Kultur. Sein Bauprogramm sieht eine Biblio-
wiederum wollte die zerstörerische Dynamik des Krieges been-
thek, ein Theater, einen Konzertsaal usw. vor, damit die
Zurück zur Ländlichkeit
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Stadtbewohner:innen die mit dem Umzug in eine autarke Ge-
bildlich dargelegt hat: Der Engel versucht vergeblich, sein
meinschaft vor den Toren der Stadt verbundene Reduktion der
Treiben abzubremsen, um dort innezuhalten, wo der unkon-
kulturellen Aktivitäten verkraften können.
trollierbare Sturm einen Trümmerhaufen hinterlassen hat, der
Bei Adolf Loos wird die Reduktion des Hauses auf eine einzige
„vor ihm zum Himmel wächst“. Benjamin entwirft ein apoka-
Mauer durch den Garten sublimiert. Der Akt des Gärtnerns ist
lyptisches Spiel mit der Zeit, das sich in der Geschichte von
fundamental wichtig für das psychische Gleichgewicht der Ar-
Paul Scheerbart wiederfindet: Die Toten werden von riesigen
beiter, weil er, so Loos, die Produktionskräfte (Fabrik) und die
Erzengeln zum Leben erweckt, die Kristallpaläste auf der Erde
Zerstörungskräfte (Ernte) ausgleicht – die entscheidende Voraus-
abstellen, damit die Menschen darin lustwandeln und die
setzung, um eine Form der Resonanz wiederzufinden.
Schönheit entdecken. Der Schlüsselmoment, die winzige
Getrieben von dem Wunsch nach Gleichheit und Einheitlichkeit,
Chance, die die Menschen nicht zu ergreifen wissen, ist der
versucht Hannes Meyer die individuelle Vielheit auf ein „Stan-
Augenblick der Erkenntnis, einer nicht mehr göttlichen, sondern
dardprodukt“ zu reduzieren, einschließlich der „menschlichen
ästhetischen Offenbarung. In beiden Geschichten scheint
Seele“, die viel zu lange zulasten des Gemeinschaftsgeistes
Handeln unmöglich: Benjamins Engel vermag die Trümmer
hochgehalten wurde. Der Sublimierungsmodus dieser Reduk-
nicht wieder aufzurichten, da der Sturm ihn nolens volens fort-
tion des Individuums auf eine „Gemeinschaftsseele“ besteht
treibt, und bei Scheerbart kehren die Menschen in den Tod
darin, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, das alle Aspekte des
zurück, da sie die rettende Hand der ihnen dargebotenen
Daseins erfasst, von der Erfahrung des kooperativen Gemein-
Schönheit nicht zu greifen wussten. In diesem Sinne ist die
schaftslebens über die urbane Architektur der Siedlung Freidorf
Architektur ein ästhetisches Programm, das die apokalyptische
bis hin zum didaktischen Theater Co-op.
Welt sublimiert, um Erneuerung herbeizuführen. Entschleuni-
Bruno Taut wiederum begreift die Reduktion auf das Wesentliche
gung eröffnet die Möglichkeit, zu sehen und zu handeln, ohne
(in gesellschaftlicher und geistiger Hinsicht) als Chance für die
vom Sturm des Fortschritts mitgerissen zu werden. Sie stellt
Entstehung eines kollektiven Bewusstseins, das den Weg zum
eine Form des ästhetischen und gesellschaftlichen Wider-
Frieden und zum Aufbau einer besseren Gesellschaft ebnet,
stands dar, der uns in die Lage versetzt, auf eine andere
die nicht mehr auf Religion gründet, sondern auf einem univer-
Weise die Welt zu bewohnen.
sellen Sozialismus. Reduktion ist hier die Bedingung schlechthin
Angesichts des drohenden Klimawandels und aller Folgen
zur Erreichung dieses höheren Ziels. Die Sublimierung besteht
sind die „Rückkehr zur Ländlichkeit“ und die dringend gebo-
in einem ästhetischen Akt, einer prismatischen Kristallarchitek-
tene größere Resilienz der Gesellschaft im Kontext von Über-
tur, die uns einen Einblick in die mögliche Welt geben soll, die
legungen zum Stadt-Land-Verhältnis wieder hochaktuell.
„den Menschen mit dem Menschen [verbindet]“.
Doch dafür gilt es Szenarien zu entwickeln, die die ökologi-
115
Für den Akt der Sublimierung, der im Kontext einer drastischen
sche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Dimension zusam-
Reduktion notwendig war, stützte sich Howard auf die Kultur,
mendenken, wenn wir uns einer „glücklichen Genügsamkeit“
Loos auf die Gartenernte und Meyer auf die Standardisierung,
annähern wollen, um einen Ausdruck von Pierre Rabhi aufzu-
während Taut sein Augenmerk auf die Ästhetik legte, die für
greifen.116 Wie bei den untersuchten Beispielen wird es nicht
ihn eine einigende Kraft in sich birgt, die den Aufbau einer
nur um die Befriedigung von Grundbedürfnissen gehen,
friedvollen und solidarischen Gesellschaft ermöglicht. Jeder
sondern auch um ein Nachdenken über gesellschaftliche, kul-
dieser Architekten reagierte auf seine Weise und mit seinen
turelle, ästhetische und geistige Belange als Quellen der
eigenen Mitteln auf die Gegenwart und schuf eine spezifische
Freude und Sinnhaftigkeit. Mithin beschließen wir dieses
Ästhetik. Aber trotz ihrer unterschiedlichen Ansätze teilten alle
Kapitel, ohne Beispiele aus der Gegenwart anführen zu kön-
Genannten die Skepsis gegenüber der Dynamik des Kapitalis-
nen, die all diese Aspekte abdecken.
mus und legten einen anderen Weg zur Kultur und damit ein
Gleichwohl ist in jüngster Zeit ein verstärktes Interesse am
anderes Verständnis von Fortschritt nahe.
Ländlichen festzustellen, sogar von einem international so
Kommen wir kurz zu Walter Benjamin und seiner Kritik des
renommierten Architekten wie Rem Koolhaas, der sich bis
Fortschritts zurück, die er mit dem „Engel der Geschichte“
dato hauptsächlich mit dem Stadtraum beschäftigt hat.
Anmerkungen Seite 97
Die raumzeitlichen Handlungsmodi der „Rückkehr zur Ländlichkeit“
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Das 2020 von ihm herausgegebene Begleitbuch Countryside. A Report zur Ausstellung Countryside. The Future im Guggenheim Museum in New York präsentiert einen umfassenden Bericht über die ländlichen Regionen und ihre Veränderungen und zeichnet am Schluss eine optimistische Zukunftsvision, in der sich die geschützten Landstriche und die automatisierte Nahrungsmittelproduktion die Waage halten. Im Katalog der Ausstellung Taking the Country’s Side, die 2019 auf der Architekturtriennale in Lissabon gezeigt wurde, untersucht Sébastien Marot die Folgen der industriellen Landwirtschaft für den Lebensraum. Thematisiert wird auch die Verwundbarkeit der Großstädte angesichts der ökologischen Krise, insbesondere im Hinblick auf die Autonomie in der Nahrungsmittelversorgung, und es werden vier Zukunftsszenarien zum Stadt-Land-Verhältnis entwickelt. In diesem Zusammenhang sind unter anderen zwei Studien rund um das Thema „ökologischer Wandel“ zu nennen: die 2018 von der Fondation Braillard Architectes lancierte Umfrage „Visionen für die Großregion Genf“ und die 2020 vom Département für Raumplanung des Ministeriums für Energie und Raumplanung des Großherzogtums Luxemburg lancierte Zukunftsstudie „Luxembourg in Transition – Visions territoriales pour le futur décarboné et résilient de la région fonctionnelle luxembourgeoise“. Sie entwickeln verschiedene Szenarien für Großregionen zum Verhältnis zwischen den städtischen Magneten und dem Hinterland, wobei der Fokus auf der Neuordnung der grenzüberschreitenden Gebiete und dem ländlichen Raum liegt, was bisher kaum erforscht wurde. Im kleineren Maßstab erfahren immer mehr Bauprojekte im ländlichen Raum mit großer architektonischer Qualität eine konkrete Umsetzung, darunter auch solche, die sich als Gegenreaktion auf die Großstädte, diese Hochburgen des Kapitalismus und der Globalisierung, verstehen. In ihrem jeweiligen Rahmen bewirken sie durchaus kleinere Veränderungen, doch was bislang nicht auf der Tagesordnung steht, sind großangelegte Projekte von hoher Durchschlagskraft in gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher, genossenschaftlicher und ästhetischer Hinsicht (wie die hier vorgestellten Beispiele), ebenso wenig wie die effiziente Vernetzung der neuen ländlichen Städte117 nach dem Vorbild von Howards Gartenstädten. Möge dieser Mangel uns zu neuartigen Ideen und Narrativen inspirieren – in Praxis, Forschung und Lehre.
94
Zurück zur Ländlichkeit
Anmerkungen Seite 97
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 95
Anmerkungen
Entfernung von der Arbeit. Hohe Mieten und
sollte zu einem niedrigen Preis erworben
Preise. Überlange Arbeitszeiten. Slums. Heer
werden; es gehört der Stadtgemeinde und
von Arbeitslosen. Nebel & Rauch. Verdorbene
wird von vier Personen treuhänderisch verwal-
1 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur
Luft. Mietskasernen“. Die Stadt hat aber auch
tet. Alle Bodenrenten sind an die Verwalter zu
Semantik geschichtlicher Zeiten, Berlin 1989
Vorteile: „Gesellschaftliche Gelegenheiten.
zahlen, die „nach den nötigen Abzügen für
(hier 12. Aufl. 2022), 363.
Vergnügungsstätten. Hohe Löhne. Gut be-
Zinsen und Amortisationsfonds“ den Über-
2 Leibniz, De rerum originatione radicali (1697),
leuchtete Straßen“. Rechts im Diagramm sind
schuss an die Stadtgemeinde aushändigen.
in: Opera philosophica, hg. von Johann
die Schattenseiten des Landlebens aufgelistet:
Diese verwendet den Überschuss „zur Schaf-
Eduard Erdmann, Berlin 1840, 150 (zit. nach
„Mangelndes Gesellschaftsleben. Hände ohne
fung und Instandhaltung aller öffentlichen
Koselleck, ebd., 362).
Arbeit. Brachliegendes Land. Niedrige Löhne.
Anlagen wie Straßen, Schulen, Parks usw.“
3 Immanuel Kant, Das Ende aller Dinge (1794),
Mangelnde Kanalisation. Mangel an Vergnü-
(ebd., 59f.)
in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, hg. von
gungen. Kein Gemeinsinn. Notwendigkeit von
21 Ebd., Siebentes Kapitel, 104.
der Königlich Preußischen Akademie der
Reformen. Überfüllte Wohnungen. Verlassene
22 Ebd., Achtes Kapitel, 109: „Wie dieses
Wissenschaften, Berlin/Leipzig 1912, 325 – 339,
Dörfer“; dieses hat aber auch Vorteile:
umfassendere [Gartenstadt-]Experiment der
hier 332.
„Schönheit der Natur. Wald. Wiese. Lange
Nation zu einem neuen Bodenrecht, das dem
4 Walter Benjamin, Über den Begriff der
Tage [weil es mehr Sonne gibt als in den
allgemeinen Rechtsempfinden entspricht, und
Geschichte (1940), in: Gesammelte Schriften,
dunklen Städten]. Gute Luft. Reichlich Wasser.
zu vernünftigen Anschauungen über Städte-
Bd. I.2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann
Heller Sonnenschein. Niedrige Mieten.“
bau verhelfen soll, so sind die verschiedenen
Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1980,
11 Ebd.
promunizipalen Unternehmungen der Garten-
Kap. IX, 697f. (Hervorh. im Original).
12 Ebd., Achtes Kapitel, 109. Nach dem Vor-
stadt dazu bestimmt, die Wohlfahrt und
5 Ebd., Kap. XIII, 701.
bild der Post und der Sparkasse müsste auch
Weiterentwicklung dieses Gemeinwesens zu
6 Ebd., Kap. XI, 699.
das Bankinstitut „nicht so sehr den Gewinn
fördern.“
7 Ebd.: „Zu dem korrumpierten Begriff von
seiner Gründer als die Wohlfahrt der Allge-
23 Adolf Loos, Regeln für die Siedlung (Hand-
Arbeit gehört als sein Komplement die Natur,
meinheit anstreben. Eine derartige Bank
schrift, 1920), in: Die Potemkinsche Stadt.
welche, wie Dietzgen sich ausgedrückt hat,
könnte statutengemäß festsetzen, daß der
Verschollene Schriften 1897–1933, hg. von
‚gratis da ist‘.“(Hervorh. im Original)
ganze Reingewinn oder die Summe, die eine
Adolf Opel, Wien 1983, 178.
8 Ebd.: „Nach Fourier sollte die wohlbeschaf-
bestimmte Dividende übersteigt, in die Stadt-
24 Adolf Loos, Die moderne Siedlung (1926),
fene gesellschaftliche Arbeit zur Folge haben,
schatulle fließt und daß der Stadtverwaltung
in: Sämtliche Schriften, Bd. 1: Ins Leere
daß vier Monde die irdische Nacht erleuchte-
das Recht zusteht, die Verwaltung der Bank
gesprochen: 1897–1900. Trotzdem. 1900 –1930,
ten, daß das Eis sich von den Polen zurückzie-
ganz in ihre Hand zu nehmen von dem Augen-
hg. von Franz Glück, Wien/München 1962,
hen, daß das Meerwasser nicht mehr salzig
blick an, wo sie von ihrer Nützlichkeit und der
402– 428, hier 406.
schmecke und die Raubtiere in den Dienst des
Gesundheit ihrer wirtschaftlichen Prinzipien
25 Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage
Menschen träten. Das alles illustriert eine
überzeugt ist.“
(1872), in: Karl Marx, Friedrich Engels – Werke,
Arbeit, die, weit entfernt die Natur auszubeu-
13 Ebd., Neuntes Kapitel, 116.
Bd. 21, 5. Aufl. (unveränd. Nachdruck der 1.
ten, von den Schöpfungen sie zu entbinden
14 Ebd., Erstes Kapitel, 64.
Aufl. 1962), Berlin/DDR 1975, 325–334, hier 330
imstande ist, die als mögliche in ihrem Schoße
15 Ebd., Siebentes Kapitel, 104.
26 Ebd., 332.
schlummern.“
16 Ebd., Neuntes Kapitel, 117; die Sozialisten
27 Elsie Altmann-Loos, Lina Loos, Claire Loos,
9 Martin Steinmann, La forme forte. Für eine
befürworten ein absolutes staatliches
Adolf Loos – der Mensch, hg. von Adolf Opel,
Architektur diesseits von Zeichen, in: Ders.,
Monopol.
Wien 2002, 222.
Forme Forte. Schriften/Ecrits 1972 – 2002, hg.
17 Ebd., Elftes Kapitel, 124. Vgl. Thomas
28 Vgl. Loos 1983 (Regeln für die Siedlung), 179.
von Jacques Lucan und Bruno Marchand,
Spence, The Real Rights of Man (Pamphlet,
29 Ebd., 178.
Basel/Boston/Berlin 2003, 189 – 208, hier 197.
1775) und The Nationalization of the Land
30 Margarete Schütte-Lihotzky, Warum ich
10 Ebenezer Howard, Gartenstädte von
(1775 und 1782), dt. Das Gemeineigentum am
Architektin wurde, hg. von Karin Zogmayer,
morgen. Das Buch und seine Geschichte, hg.
Boden, a. d. Engl. von Fritz von Eichmann,
Salzburg 2004, 28.
von Julius Posener, Basel, Gütersloh/Berlin
Leipzig 1904.
31 Loos 1962 (Die moderne siedlung), 415;
2015, 57 [Einträge im Diagramm ohne dt.
18 Howard 2015, Zehntes Kapitel, 125.
[ihn]: den Engländer. Loos bezieht sich hier auf
Übers.]. Als Nachteile der Stadt führt Howard
19 Ebd.
die englische Wohnkultur mit dem Kamin im
im Diagramm u. a. auf: „Ausschluss der Natur.
20 Ebd., Erstes Kapitel, 59f.: Das Gelände
Wohnzimmer.
Anmerkungen zu Seite 64 – 71
95
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 96
96
32 Ebd., 411f.
51 Ebd., 49.
Ablauf der Stücke vorgegeben, deren didak-
33 Ebd., 420.
52 Ebd.
tischer und pädagogischer Charakter ein
34 Ebd.
53 Ebd.: „Ein Zellenbau mit einem grossen
Beispiel aus der Traumszene verdeutlicht:
35 Loos 1983 (Regeln für die Siedlung), 179.
Garten. Roter Reiz in grüner Ruhe. Steinernes
„Der Traum. ,Einer armseligen Familie erscheint
36 Ebd.
Freundschaftsband läuft seine Mauer ringsum
im Traumgesicht die wahre Genossenschaft.‘
37 Solita Solano, Vienna – A Capital Without
von Kopfbau zu Kopfbau. Grünes Schutzband
Elend! Eine Mutter und zwei Kinder schlafen.
a Nation, in: National Geographic Magazine,
folgen ihr windwärts die Kirschbäume. Wo
Eine Kaffeekanne schwankt im Raum. Herab-
Vol. XLIII, Nr. 1, Januar 1923, Washington
längs der Autostrasse Freidorfs Kleinwelt das
kunft einer schwarzen Spinne. Entsetzen der
D. C., 77–102, hier 83 – 86.
Getriebe grosser Welt berührt, legt sich als
Mutter. Sie ohrfeigt die Kinder. – Auftreten
38 Hannes Meyer, Bauen und Gesellschaft.
Grüngürtel die Promenade zwischen Strassen-
des Vaters. Die Spinne flieht. Stille und Erwar-
Schriften, Briefe, Projekte, hg. von Lena
staub und Wohnbezirk. Mit Ligusterhecke,
tung. Aus einem Papier wickelt der Vater
Meyer-Bergner, Dresden 1980, Kap. „Die
Grasnarbe und Nussbaumallee erkämpft sie
einen Brotlaib. Das Papier ist ein Co-op-Plakat.
Siedlung Freidorf“, 14.
dem Staudenreich ihrer 2000 winterharten
Der Vater heftet es an die Wand. Erregung
39 Bernoulli, der sich ebenfalls für den
Blumen, vegetative Vertreter aller Erdteile,
der Familie. — Schlummer. Schlaf. Schnarcheln.
Genossenschaftswohnbau einsetzte, machte
eine blühwillige Existenz. Der Genossenschaft
Stöhnen. Das Traumbild: Die Co-op-Packungen
sich wenig später mit seinem Einsatz für die
Vorbehalt gilt alle Kultur von Hochstamm-Nutz-
steigen herab: Würste, Waren, Wickelkind,
Bodenreform in Genf (zusammen mit Maurice
bäumen, hingegen bleibt Anlage des Kleingar-
gauckeln und entschwinden. Das Bild der
Braillard) einen Namen.
tens dem Siedler völlig anheimgestellt.“
Zukunft steigt auf, riesengross. Die Hand der
40 Meyer 1980, 10 –14.
54 Ebd.
Rückvergütung kommt herab, gold-beladen.
41 Ebd., 14.
55 Meyer 1980, 11.
Gierig greifen Mutter und Vater danach: der
42 Zit. nach Lukas Gruntz, 100 Jahre Siedlung
56 Meyer 1925, 50.
Spuk zerfällt. Die Familie erwacht. Am Phono-
Freidorf: Pioniergeist an der „äussersten Ge-
57 Ebd., 50f.: „Die Promenade: Vorhalle
graph: Zopfenberger Mazurka. — Peer Gynt
schmacksgrenze“, veröffentlicht am 5.1.2019
eigentlich, daher die Eile. Alles läuft zur Tiefe;
Suite: Anitras Tanz. Tanz in den Hallen des
von Architekturbasel:
perspektivisch zu verstehen: Holzmaste, Tele-
Bergkönigs. — Gruss aus Nottwil.“ (ebd., 331)
https://architekturbasel.ch/100-jahre-siedlung-
phondrähte, Wallnussbäume, Gartenmauern,
66 Ebd., 331.
freidorf-pioniergeist-an-der-aeussersten-ge
Ligusterhecken, torfbraunes Zickzack der
67 Hannes Meyer, Die neue Welt, in: Das
schmacksgrenze/ (zuletzt am 11.1.2023).
Beete, Spazierweg und darauf Leute, Kinder-
Werk, Bd. 13, 1926, 205 –224; ebenfalls in:
43 Susanne Stacher, Sublime Visionen.
wagen, Zweiräder. Dazwischen rhythmischer
Meyer 1980, 27– 32.
Architektur in den Alpen, Basel 2018, Kap. 4
Kampf der Wagrechten mit den Senkrechten,
68 Meyer 1980, 29 (Hervorh. im Original).
„Kampf um das Kind“, 136f.
der Mauern und Hecken mit den Stangen und
69 Ebd., 31 (Hervorh. im Original).
44 Meyer 1980, 7f.
Pappeln, der Nussbaumkette und Stauden-
70 Ebd., 30.
45 Zit. nach Matthias Möller, Leben in
reihe mit den Kopfbauten und Gartentoren.
71 Ebd., 32 (Hervorh. im Original).
Kooperation. Genossenschaftlicher Alltag in
Ach diese Gartenportale! Vertraulich und ver-
72 Vgl. Robert Vischer, Über das optische
der Mustersiedlung Freidorf bei Basel (1919 –
traut, halb Bärenzwinger, halb Klosterpforte.
Formgefühl. Ein Beitrag zur Aesthetik, Diss.,
1969), Frankfurt a. M./New York 2015, 11.
Mit zwei Schwarzpappeln daneben, Populus
Leipzig u. a. 1873. Vischer zufolge ist dies ein
46 Silvio Gesell, Die natürliche Wirtschaftsord-
italicus, Italiener, bei jedem Luftzuge fröstelnd
seelischer Akt, der darin besteht, wahrnehm-
nung durch Freiland und Freigeld, Selbst-
und wispernd. –“ (Hervorh. im Original).
bare äußere Phänomene mit geistigen Inhalten
verlag, Les Hauts-Geneveys, 1916.
58 Ebd., 51.
zu füllen. Theodor Lipps fügte eine künstleri-
47 In einem anderem Text von Meyer mit dem
59 Ebd.
sche Dimension hinzu: Beim Betrachten eines
Titel „Curriculum vitae“ wird die Summe von
60 Ebd.
Kunstwerks verschmilzt das Ich mit dem
8,2 Millionen Schweizer Franken genannt, in:
61 Ebd.
betrachteten Objekt und ruft ästhetisches Ver-
Meyer 1980, 11.
62 Ebd.
gnügen hervor. (Vgl. Theodor Lipps, Zur Ein-
48 Hannes Meyer, Die Siedelung Freidorf.
63 Hannes Meyer, Das Theater Co-op, in:
fühlung, in: Psychologische Untersuchungen,
Erbaut durch Hannes Meyer, Basel, in: Das
Das Werk, Bd. 11, 1924, 329– 332, hier 332
hg. von Th. Lipps, Bd. 2, Heft 2 und 3, Leipzig
Werk, Bd. 12, 1925, 39–51, hier 40:
(Hervorh. im Original).
1913, 111–491.)
http://doi.org/10.5169/seals-81644.
64 Ebd., 329.
73 Umschlagtext zu Gernot Böhme, Aisthéti-
49 Ebd., 40f.
65 Theater Co-op: Der Traum, Gebärdenspiel.
que. Pour une esthétique de l’expérience
50 Ebd., 40 (Hervorh. im Original).
Hannes Meyer hat einen Rahmen für den
sensible, Dijon 2020.
Anmerkungen zu Seite 71 – 82
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 97
74 Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinn-
90 Paul Scheerbart, DAS NEUE LEBEN.
Onkel Toms Hütte, die Taut im Anschluss an
lichen. Die Politik der Kunst und ihre Parado-
Architektonische Apokalypse (1902), in: Taut
die Hufeisensiedlung entwarf.
xien, hg. von Maria Muhle, a. d. Französ. von
1919a, 10–15, hier 10.
111 Sie ist seit 2008 UNESCO-Welterbe.
Maria Muhle sowie Susanne Leeb und Jürgen
91 Ebd., 11.
112 Steinmann 2003, 197.
Link, 2., durchgesehene Aufl., Berlin 2008, 28.
92 Ebd.
113 Ebd.
75 Ebd., 40f. (Übersetzung leicht abgeändert).
93 Ebd., 12.
114 Ebd., 191.
76 Meyer 1980, 29.
94 Ebd., 13.
115 Taut 1919a, 59f.
77 Ebd.; auf Deutsch erschien das Werk Le
95 Ebd., 15.
116 Vgl. Pierre Rabhi, Glückliche Genügsam-
Corbusiers zuletzt unter dem Titel „Ausblick
96 Bruno Taut, Das Chaos, in: Taut 1919a, 54.
keit, a. d. Französ. von Dirk Höfer, Berlin 2015.
auf eine Architektur“.
97 Vgl. Stacher 2018, Kap. 2, 59. Karl Friedrich
In Anlehnung an Pierre Rabhi, der zur Entste-
78 Zit. nach Marcel Bois, Zwischen Intersozia-
Schinkel oder Caspar David Friedrich wollten
hung eines neuen ökologischen Denkens
lismus und Sozialfaschismus. Kommunistische
der deutschen Nation, die sich ab 1815 zu
beigetragen hat, indem er die notwendige
Studentenfraktionen in der Weimarer Repu-
konstituieren begann, mit dem gotischen Stil
Reduzierung des Ressourcenverbrauchs
blik, in: Andreas Schätzke, Florian Strob,
der Dome, der damals „Kristallgotik“ genannt
positiv wendete: Wird der Planet Erde mitsamt
Wolfgang Thöner (Hg.), Linke Waffe Kunst.
wurde, eine neue Identität verleihen.
aller Lebewesen, der menschlichen und nicht-
Die Kommunistische Studentenfraktion am
98 Dafür stand insbesondere Reinhard Bau-
menschlichen, geachtet, dann wird ein
Bauhaus, Basel 2022, 18 – 34, hier 18.
meister, der oberste Stadtplaner von Berlin,
Wohlbefinden, begriffen als körperlich und
79 Konrad Püschel, Béla Scheffler, Philipp
ein. Vgl. Paolo Amaldi, Architecture, Profon-
moralisch befreiende Kraft, als wahrer Wert
Tolziner, Tibor Weiner, René Mensch, Antonin
deur, Mouvement [APM], Genf 2011, 321f.
damit verbunden.
Urban und Klaus Meumann. Vgl. Magdalena
99 Camillo Sitte, Der Städtebau nach seinen
117 Vgl. Salomé Wackernagel, La Rurapolis
Droste, Bauhaus: 1919 –1933, Köln 2015, 96.
künstlerischen Grundsätzen, Reprint der 4. Auf-
comme formation territoriale face aux enjeux
80 Vgl. Ursula Muscheler, Das rote Bauhaus.
lage von 1909, Basel/Boston/Berlin 2002, 10.
socio-environnementaux du développement
Eine Geschichte von Hoffnung und Scheitern,
100 Amaldi 2011, 321f.
urbain, in: Cahiers thématiques, Nr. 22: Réin-
Berlin 2016, 118f. Margarete Mengel wurde
101 Bruno Taut, Rumpf ohne Kopf, in: Taut
venter le rural? Le périmétropolitain en projet,
1938 verhaftet und mit vielen anderen Auslän-
1919a, 58.
Éditions de la Maison des sciences de
der:innen ohne Prozess zum Tode verurteilt.
102 Taut 1919a, 58– 62, hier 58.
l’homme, Paris, erscheint 2023.
Der Sohn Johannes Mengel (* 4. Januar 1927)
103 Ebd.
erfuhr erst 1993 vom gewaltsamen Tod seiner
104 Ebd., 59f.
Mutter.
105 Ebd., 60.
81 Die Farbauswahl stieß auf heftige Kritik
106 Ebd.
und brachte der Genossenschaftssiedlung den
107 Ebd.
despektierlichen Beinamen „Tuschkastensied-
108 Ebd.
lung“ ein.
109 Taut war auch Mitglied der November-
82 Bruno Taut, Die Stadtkrone, mit Beiträgen
gruppe, die erklärtermaßen „radikal und revo-
von Paul Scheerbart, Erich Baron und Adolf
lutionär“ agierte. Gegründet wurde die
Behne, Jena 1919 [1919a].
Künstlervereinigung am 3. Dezember 1918 in
83 Bruno Taut, Alpine Architektur, Hagen i. W.
Berlin nach der von revolutionären Sozialisten
1919 [1919b].
angeführten Novemberrevolution. Ihre Anlie-
84 Vgl. Stacher 2018, Kap. 2, 62f., 66 – 69.
gen ähnelten denen des Arbeitsrats für Kunst.
85 Bruno Taut, Die Auflösung der Städte oder
Nach der Machtübergabe an Hitler 1933
Die Erde eine gute Wohnung oder auch: Der
musste der Verein, dem Architekt:innen und
Weg zur Alpinen Architektur, Hagen i. W. 1920.
Künstler:innen angehörten, die sich dem
86 Iain Boyd White, Bruno Taut and the Archi-
Expressionismus, der Abstraktion oder auch
tecture of Activism, Cambridge u. a. 1982, 83.
Dada verschrieben hatten, seine Arbeit
87 Erich Baron, Aufbau, in: Taut 1919a,
einstellen.
99 –111, hier 104.
110 Von 1924 bis 1931 wurden in Berlin mehr
88 Taut 1919a, 59f.
als 140 000 Sozialwohnungen gebaut; neue
89 Ebd., 69.
Siedlungen entstanden, darunter die Siedlung
Anmerkungen zu Seite 82 – 94
97
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 98
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 99
Gordon Matta-Clark, Conical Intersect, Paris, 1975, Fotograf: Harry Gruyaert
3Schaffen durch Zerstören Beschleunigung als Mittel zum Zweck Zeit: Beschleunigung Psychologie: Destruktionstrieb und Sublimierung Modus Operandi: Herbeiführung des Niedergangs, um Erneuerung in Gang zu setzen
Der Handlungsmodus, den dieses Kapitel nun beleuchtet,
und die Zeit beschleunigen. Gleichwohl kann der Destruktions-
beruht auf einem Akt der Zerstörung. Dabei kann es unter-
trieb über den Umweg der Sublimierung in produktive und
schwellig durchaus konstruktive Ambitionen geben, da Zer-
künstlerische Tätigkeiten umgewandelt werden. Wie Freud
störung auch neue Horizonte zu eröffnen vermag; dafür muss
unterstreicht: „Am meisten erreicht man, wenn man den Lust-
aber erst eine „Grundreinigung“ erfolgen. Daher wird es hier
gewinn aus den Quellen psychischer und intellektueller Arbeit
um Geschichte gehen und die Vorstellung vom „reinen Tisch
genügend zu erhöhen versteht. Das Schicksal kann einem
machen“, die Nietzsche häufiger bemühte, sowie um Fortschritt
dann wenig anhaben. Die Befriedigung solcher Art, wie die
und Entropie, um Beschleunigung und ihre ökonomischen,
Freude des Künstlers am Schaffen, an der Verkörperung seiner
ökologischen, urbanen und sozialen Folgen.
Phantasiegebilde […] haben eine besondere Qualität.“1 Nicht
Aus psychologischer Sicht ist die Triebkraft des schöpferischen
nur Künstler:innen, auch Architekt:innen vermögen sich die-
Handelns hier der Todestrieb (oder Destruktionstrieb), den
ses schöpferischen Elans in Momenten realer und zugleich
Freud in der Folge der Traumata des Ersten Weltkriegs theo-
ontologischer Krisen zu bedienen, um einem sich ihnen als
retisierte und der im Gegensatz zum Lebenstrieb mit Auflösung
unabänderlich darbietenden „Schicksal“ zu entrinnen. Dieses
verbunden ist: Er will zerschlagen, vernichten, zerstören und
Schicksal gilt es zu verändern: Der Vorgang der Beschleunigung
das Lebendige in seinen anorganischen Zustand zurückführen
zielt auf das schnellere Eintreten des Niedergangs ab, gefolgt
und zielt dabei in erster Linie auf das Subjekt selbst ab. Mit
von einem Akt der Sublimierung, der die Zeit aufhebt, um ein
diesem Auflösungsprozess ist zugleich ein fortwährender
radikal neues Feld potenzieller Möglichkeiten zu eröffnen.
Kampf zwischen Eros und Thanatos verbunden. Der Destruk-
Diese psychologische Dynamik liegt allen Projekten zugrunde,
tionstrieb, der einem Wiederholungszwang unterliegt, gewinnt
die in diesem Kapitel vorgestellt werden und deren Schaffens-
die Oberhand über das Lustprinzip, da er innere Spannungen
modus auf einem zerstörerischen Vorgehen beruht. Getrieben
abbaut. Um sie schnellstmöglich zu lindern, will man zerstören –
vom Wunsch nach Beschleunigung, haben manche Architekten
Anmerkungen Seite 131
Beschleunigung als Mittel zum Zweck
99
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 100
andere Räume und Zeitlichkeiten zu erschaffen versucht, ent-
Bruch mit der Geschichte und Tabula rasa
weder um eine „neue Welt“ zu entwerfen (die radikal moder-
Der Zerstörungsakt stellt das Verhältnis zur Geschichte grund-
ner, gerechter, hygienischer, sinnlicher usw. sein sollte) oder
sätzlich infrage. Nietzsche zufolge hat das sehnsüchtige
um das Alte auszulöschen – manchmal ohne eine bestimmte
Bewusstsein des Vergangenen eine lähmende Wirkung: „zu
Zukunftsperspektive vor Augen zu haben. „Schaffen durch
allem Handeln gehört Vergessen“,2 damit es Wandel geben
Zerstören“ beschreibt diesen doppelten Vorgang der Zerstö-
kann:
rung und Sublimierung in der Architektur (und in der Kunst).
„[e]s giebt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wieder-
Genaugenommen handelt es sich, je nach Fall, um eine
käuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu
Schöpfung, die proaktiv durch einen Zerstörungsakt oder re-
Schaden kommt, und zuletzt zu Grunde geht, sei es nun
aktiv im Anschluss an eine erlittene Zerstörung erfolgt, indem
ein Mensch oder ein Volk oder eine Cultur. Um diesen
eine prospektive oder eine aperspektivische (perspektivlose,
Grad und durch ihn dann die Grenze zu bestimmen, an der
nihilistische) Haltung eingenommen wird. Bei der Analyse der
das Vergangene vergessen werden muss, wenn es nicht
Beispiele wird es darum gehen, auf diese feinen Unterschiede
zum Todtengräber des Gegenwärtigen werden soll, müsste
zu achten, da sie jeweils nicht nur einen eigenen Zeitablauf,
man genau wissen, wie gross die plastische Kraft eines
sondern auch eine jeweils andere psychologische Disposition
Menschen, eines Volkes, einer Cultur ist, ich meine jene
implizieren. Diese auf psychischen Reaktionen beruhenden
Kraft, aus der sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergan-
zeitlichen Eingriffe können sich in unterschiedlichen ästheti-
genes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben,
schen Haltungen niederschlagen, die in Momenten der Insta-
Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene
bilität und an Kipppunkten in Erscheinung treten. Worin
Formen aus sich nachzuformen.“3
bestehen die von Architekten vorgenommenen Zerstörungs-
Für den Philosophen der deutschen Romantik ist die Fähigkeit
akte, welches sind die Sublimierungsmodi und wie lautet ihre
zu vergessen befreiend, gleichzeitig unterstreicht er, wie
symbolische Botschaft an die Gesellschaft? Welche Ziele ver-
wichtig es ist, sich im richtigen Augenblick erinnern zu können,
folgen sie und welche Ästhetik bringen sie hervor? Welcher
denn „das Unhistorische und das Historische ist gleicher-
Natur sind die Beschleunigungsstrategien und welche Aus-
maassen für die Gesundheit eines Einzelnen, eines Volkes
wirkungen haben sie auf Stadt, Gesellschaft und Umwelt?
und einer Cultur nöthig“.4 Um von der Geschichte nicht zermalmt zu werden, sondern fortwährende Erneuerung zu ge-
Nietzsches Dionysos: „reinen Tisch machen“
währleisten, die ihrerseits in die Geschichte eingeht, plädiert Nietzsche dafür, dass jeder Mensch seinen eigenen Horizont,
100
Der Zerstörungsakt kann mit einem dionysischen Ritual
seine eigene Weltanschauung erschaffen sollte, die Voraus-
einhergehen, da dieser mit allem Apollinischen (Schönheit,
setzung, damit „der Mensch zum Menschen [wird]“.5 Auf
Harmonie, Beständigkeit) aufräumt. Umwälzungen und der
diese Weise führt er einen neuen Ansatz ein, der es dem In-
Verlust von Bezugspunkten ermöglichen eine tiefergehende
dividuum ermöglicht, frei zu denken und zu handeln – und
Befreiung, indem sie mit der alten Welt reinen Tisch machen,
also auch mit der Geschichte zu brechen, wann immer es ihm
der Conditio sine qua non für Erneuerung: Man muss sich
beliebt, um ein neues Kapitel aufzuschlagen.
des Vergangenen entledigen, um handeln zu können.
Seine romantisch-dionysische Vorstellung, „aus dem Nichts
Diese Haltung wird von der Figur des Dionysos verkörpert,
Werte zu erschaffen“,6 kommt in der Wendung „reinen Tisch
die Nietzsche mit einem Bruch mit der Geschichte assoziiert,
machen“ zum Ausdruck, die in mehreren seiner Schriften auf-
wobei der schöpferische Handlungsmodus in der Tabula
taucht. In Ecce Homo erklärt Nietzsche: „Und warum sollte
rasa besteht. Die Überlegungen des Philosophen sind
ich nicht bis ans Ende gehn? Ich liebe es, reinen Tisch zu
hier von besonderem Interesse, da er einen Schlüssel
machen.“7 Das ist eine mögliche Weise, die Gedanken zu
zum Verständnis dieses sonderbaren Zerstörungsmodus
befreien, um etwas erschaffen zu können. Diese Vorstellung
liefert, der letztlich die Bedingung schlechthin für jede
wird in seinem Werk Die Genealogie der Moral verinnerlicht
radikale Schöpfung zu sein scheint.
und mit dem Bewusstsein verbunden, der Stille einen Raum
Schaffen durch Zerstören
Anmerkungen Seite 131
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 101
zu geben, damit Unerwartetes zum Vorschein komme: „Die
an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste
Thüren und Fenster des Bewusstseins zeitweilig schliessen;
Gewissens-Collision, an eine Entscheidung, heraufbe
[…] ein wenig Stille, ein wenig tabula rasa des Bewusstseins,
schworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert,
damit wieder Platz wird für Neues.“
geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin
8
In solchen Momenten der Schwebe, des Vergessens und des
Dynamit.“13
Bruchs mit der historischen Zeit bieten sich unversehens
Nietzsche, der alle Werte umwertete, war überzeugt: „Wir
Schöpfungsakte dar. Bei der Frage nach den Beweggründen
werden die Zeitrechnung verändern, ich schwöre es ihnen
eines solchen Vorgangs des Schaffens-durch-Zerstören unter-
zu.“14 Ziemlich kühn stellte er die christliche Zeitrechnung in
scheidet Nietzsche zwischen Nihilisten, die vom „Hass des
Abrede, hatte aber gleichzeitig „schreckliche Angst davor,
Missrathenen“ getrieben sind (eine Haltung, die er entschie-
dass man mich eines Tages heiligspricht […]. Ich will kein
den ablehnt), und der dionysischen Lust, die ihn fasziniert:
Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst.“15 Doch seine Nach-
die gepeinigte Seele des Philosophen oder Künstlers, der in
folger sollten anders entscheiden. Seine Schriften, insbeson-
seinem zutiefst romantischen Erkenntnisstreben fortwährend
dere der dionysische Begriff des Übermenschen, wurden ins
sich selbst sucht.
Gegenteilige umgedeutet (unterm Strich blieb nur der „Wille
Die dunkle und tragische Seite der Schaffenskraft verdichtet
zur Macht“ übrig), weit entfernt vom Streben des Selbst nach
sich im Lachen „jenes dionysischen Unholds […], der
Transzendenz, das für ihn mit einer Emanzipation des Denkens
9
Zarathustra heisst“ und in dessen taumelndem Tanz im
einherging.
Sturm. Das Lachen und der Tanz des Propheten, die Nietzsche
Nietzsches Plädoyer für den befreienden „reinen Tisch“
schildert, sind die symbolischen Vorboten einer Welt, die sich
machte Schule und fand über die Philosophie hinaus Eingang
auflöst, um sich in „der ganzen wundervollen Ungewissheit
in die Praxis, vor allem in Architektur und Städtebau. Fasziniert
und Vieldeutigkeit des Daseins“,11 wie Nietzsche begeistert
von der Figur des Architekten, projizierte Nietzsche ein be-
formuliert, neu zusammenzusetzen. Das Lachen resultiert aus
stimmtes Handlungsvermögen in sie hinein: „hier ist es der
der kritischen Distanzierung von der Gesellschaft und ist eine
grosse Willensakt, der Wille, der Berge versetzt, der Rausch
plötzliche Reaktion auf die Bewusstwerdung unseres In-der-
des grossen Willens, der zur Kunst verlangt.“ Für ihn war
Welt-seins in Abweichung zur Gesellschaft. Diese Art der
Architektur „eine Art Macht-Beredsamkeit in Formen, bald
Distanzierung haben wir beim Monte Verità gesehen (Kap. 1),
überredend, selbst schmeichelnd, bald bloss befehlend. Das
wo der von jeglichen Konventionen befreite Tanz die gel-
höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in dem zum
tende Moral zerrüttet. Nietzsche führt ins Feld, dass es eine
Ausdruck, was grossen Stil hat.“16 Kein Wunder, dass diese
absolute Wahrheit nicht gibt und dass jeder Mensch seinen
Faszination sich auf manche Architekturströmungen übertrug,
Weg finden muss, um der zu werden, der er ist. So wendet
verlieh Nietzsche doch dem Architekten durch den „grossen
sich Zarathustra an seine Schüler und stellt klar: „Hier redet
Willensakt“ eine einzigartige Macht als ordnende Kraft, die
kein Fanatiker, hier wird nicht ,gepredigt‘, hier wird nicht
bis dahin noch niemand so ausformuliert hatte.
10
Glauben verlangt“12 – und fordert sie auf, sich selbst zu folgen. Lachen, Tanzen, Ungewissheit, Vergessen, zersprungene Formen und „reinen Tisch machen“ sind die Modi Operandi eines zerstörerischen Schaffens, das zugunsten einer künstle-
Marinetti und Sant’Elia: Die Manifeste des Futurismus, 1909/1914
rischen Suche mit der Geschichte bricht. Wie ein Ende 1888,
In Italien setzte die Nietzsche-Rezeption zunächst im literari-
kurz vor seinem Zusammenbruch, verfasstes Manuskript
schen Bereich mit D’Annunzio ein, bekam aber 1908 mit
deutlich macht (posthum 1908 in Ecce Homo publiziert),
Mussolinis Aufsatz über die „Philosophie der Stärke“17 als
wusste Nietzsche durchaus, welchen Sprengstoff sein Werk
Antwort auf einen Vortrag des Abgeordneten Treves über
beinhaltete:
Nietzsches Buch Der Wille zur Macht (1901 postum von
„Ich kenne mein Loos. Es wird sich einmal an meinen
Nietzsches Schwester herausgebracht, die seine Schriften
Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, –
nach Belieben zusammenstellte und veränderte18) eine eminent
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politische Dimension. Mussolini, damals noch Radikalsozialist,
Schöpfer eine leidenschaftliche Rückkehr zum Heidentum
rückte die systemverneinende Seite und die antideutschen
und zur Mythologie voraus.“21 Im Gegensatz dazu wollten die
Akzente der Philosophie Nietzsches in den Mittelpunkt und
Futuristen nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern
nahm eine rein kriegerische Deutung vom Übermenschen
mit einem Sprung über die Gegenwart hinweg sich in eine
vor, mit der er die Erschaffung eines neuen Menschen unter
Zukunft der Hochgeschwindigkeit katapultieren, allerdings
evolutionär-darwinistischen Vorzeichen verband, wie Fran-
ohne konkretes Ziel. Das bildhafte Prinzip der Tabula rasa
cesca Belviso hervorhebt. Mussolinis Übermensch, dessen
und die Sprengkraft des Denkens von Nietzsche hatten zwar
Devise „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt!“ lautete,19 war dazu
unleugbare Spuren hinterlassen, ebenso wie der literarische
berufen, eine neue Welt zu errichten, indem er mit allen alten
Stil des Philosophen, doch seine Ideen wurden, da für andere
Werten reinen Tisch machte.
Zwecke missbraucht, verzerrt rezipiert.
Nietzsches Ideen, die auf dem Bruch mit der Geschichte und
Marinetti eröffnete sein Manifest mit einigen in freier Versform
der Tabula rasa gründen, beeinflussten in weitem Maße den
verfassten Zeilen, in denen seine Begeisterung für die
Futurismus, der die Kunst und die Architektur revolutionierte.
Beschleunigung der Industrialisierung zum Ausdruck kommt.
Diese Strömung, deren Modus Operandi in der Verherrlichung
Selbst Industrieabfälle umgibt eine himmlische Aura:
und Ästhetisierung von maschineller Geschwindigkeit und
„Da, das Antlitz vom guten Fabrikschlamm bedeckt – diesem
zerstörerischer Kraft bestand, wollte den Bruch mit der Gegen-
Gemisch aus Metallschlacke, nutzlosem Schweiß und himmli-
wart und der Vergangenheit gewaltsam herbeiführen – ein
schem Ruß – zerbeult und mit verbundenen Armen“, schreibt
Gestus mit dionysischen Zügen, der letztlich mit Nietzsches
er poetisch am Ende seines Prologs, der mit einem seltsam
Definition dieses Attributs nicht mehr viel gemein hatte. Der
gebieterischen Appell schließt: „diktierten wir unseren ersten
Futurismus, der den Krieg als ultimatives disruptives System
Willen allen lebendigen Menschen dieser Erde.“22 In den
verherrlichte, wurde von einer Gruppe junger Dichter ins
folgenden elf Punkten des Manifests ist die kriegerische
Leben gerufen, von denen der älteste gerade einmal 30 Jahre
Ästhetisierung der Maschine allgegenwärtig, wie jener
alt war: Filippo Tommaso Marinetti, Verfasser des Gründungs-
berühmte Satz beispielhaft zeigt: „ein aufheulendes Auto,
manifestes des Futurismus, das am 20. Februar 1909 mit dem
das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike
Titel „Le Futurisme“ auf der Titelseite der französischen Tages-
von Samothrake“.23 Der junge Rebell strebt den Bruch mit
zeitung Le Figaro erschien. Der junge Schriftsteller, Künstler
der Kultur einer in der Vergangenheit wurzelnden Gesellschaft
und Jurist, der in Paris durch die strenge Schule der Jesuiten
an, die er für rückständig und erstarrt hält, und greift ihre
gegangen war, gegen die er sich zeit seines Lebens empörte,
Stätten und Symbole an, namentlich die Bibliotheken und
war zweifellos auch von Nietzsches Werk beeinflusst, das er
Museen:
über Autoren wie Georges Sorel und Mario Morasso rezipierte –
„Mögen also die lustigen Brandstifter mit ihren verkohlten
von Letzterem ließ er sich in seinem ersten Manifest zu einem
Fingern kommen! Hier! Da sind sie! … Drauf! Legt Feuer
Vergleich des Automobils mit der Nike von Samothrake inspi-
an die Regale der Bibliotheken! … Leitet den Lauf der
rieren. Morasso war es, so Belviso, der den Bogen von der
Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen! … Oh,
literarischen Rezeption zur politischen Ausschlachtung der
welche Freude, auf dem Wasser die alten, ruhmreichen
Philosophie Nietzsches schlug. Marinetti hingegen legte
Bilder zerfetzt und entfärbt treiben zu sehen! … Ergreift
Wert darauf, seine künstlerische und geistige Unabhängigkeit
die Spitzhacken, die Äxte und die Hämmer und reißt nieder,
vom deutschen Philosophen hochzuhalten, und distanzierte
reißt ohne Erbarmen die ehrwürdigen Städte nieder!“24
sich insbesondere von der unwiederbringlichen Rückwärtsge-
Diese radikale und betont ikonoklastische Geste ist allerdings
wandtheit des „Passatisten“ : „In unserem Kampf gegen die
nicht modern im emanzipatorischen Sinne des Wortes, ganz
schulmeisterliche Leidenschaft für die Vergangenheit lehnen
im Gegenteil. Sie richtet sich nicht nur gegen die Kulturein-
wir auf das Entschiedenste das Ideal und die Lehre Nietz-
richtungen, sondern auch gegen die neuen Bewegungen für
sches ab. […] Sein Übermensch, das Erzeugnis des philoso-
die Frauenemanzipation, die seinerzeit aufkamen: „Wir wollen
phischen Kultes der griechischen Tragödie, setzt bei seinem
die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art
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Schaffen durch Zerstören
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zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und
von dem im alten Europa von der Buchkultur durchdrungenen
gegen jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und
fundamental unterscheidet. Er preist die archaische Lebensart,
Eigennutz beruht.“25 Von heroischer Männlichkeit besessen,
die auf Urinstinkten beruht und von der abendländischen
verherrlicht das Manifest Gefahr, Mut, Kühnheit und Aufleh-
Moral weit entfernt ist (ebenso wie von der Philosophie eines
nung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Salto mortale, die Ohr-
Rudofsky, der sich wirklich, ohne Männlichkeits- und Kriegs-
feige und den Faustschlag, die Geschwindigkeit26 und vor
fantasien, für ferne Kulturen interessierte und daraus Lehren
allem den Krieg, „diese einzige Hygiene der Welt – den Milita-
zog, um eine andere Kulturform zu entwerfen).
rismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes“.27 Die Futuristen streben einen Bruch mit der Geschichte und der Kultur an, indem sie die Vergangenheit, ja sogar Raum und Zeit auslöschen – zugunsten der „ewigen Geschwindigkeit“ des großen Absoluten: „8. Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte! … Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen.“28 Der Moment des Stillstands, in dem Raum und Zeit dem rebellischen Willen nach radikaler Erneuerung nicht standhalten, ist für unsere Analyse besonders interessant, da das Raum-ZeitGefüge ersetzt wird durch eine „ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit“, die weder Vergangenheit noch Zukunft kennt und sich weder historisch noch räumlich einordnen lässt; sie besitzt eine Eigendynamik und ist ohne Ziel. Insofern ist sie proaktiv und vollkommen aperspektivisch. Das Manifest endet angriffslustig und bemüht eine kosmische Dimension: „Aufrecht auf dem Gipfel der Welt schleudern wir noch einmal unsere Herausforderung den Sternen zu! ...“29 Der Einfluss Nietzsches scheint im Vorwort von Marinettis erstem Roman Mafarka der Futurist (1909) durch, dessen poetischer Tonfall an die Vorrede Nietzsches in So sprach Zarathustra (1885) erinnert: „Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest!“30 Marinetti wendet sich an seine Kollegen mit den Worten: „Brandstifter, große Dichter! Futuristen, meine Brüder!“ Das klingt ähnlich gebieterisch wie seine „wie Hammerschläge“31 formulierten Ideen und verleiht dem Text einen explosiven Charakter, der von der „Sprengkraft“ Nietzsches inspiriert ist. In seinem Roman setzt Marinetti einen mechanischen, geflügelten Übermenschen in Szene, ein futuristisch-männliches Ideal, verkörpert vom Afrikaner Mafarka, dessen Geist sich
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Antonio Sant’Elia, Elektrizitätswerk (aus der Serie „La Città Nuova“), 1914, schwarze Tusche und Gouache auf Papier
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Die Kriegsbegeisterung, Angriffslust und Radikalität der
von 1914, in der eine Architektur unterbreitet wird, die (im
Bewegung des Futurismus sprach viele junge Männer an, die
Unterschied zur Schule Wagners) auf Ornamente und dekora-
sich in Kunst und Architektur betätigten: Die Geschwindigkeit
tive Bildwerke verzichtet – zugunsten einer schlichten Formen-
und Mechanisierung erschienen ihnen als befreiende Kraft in
sprache, deren radikale „Nacktheit“ von der Industrieästhetik
einem Land, das eine schwere Wirtschafts-, Gesellschafts-
und den Hochhäusern von New York angeregt war. Seine
und Identitätskrise durchmachte, in dem Armut und Analpha-
Bauten setzen sich aus schrägen Baukörpern zusammen und
betismus allgegenwärtig waren und Zukunftsperspektiven
sind häufig in Untersicht wiedergegeben, was die Fluchtlinien
fehlten. Der Futurist war „der wahrhaft neue Barbar, der eins
übersteigert und den Gebäuden eine größere Dynamik verleiht.
wird mit der Maschine und sich im Getriebe der Moderne in
Wie Paolo Amaldi zu Recht festgestellt hat, ergibt sich aus
ein Rädchen verwandelt“.
dieser Darstellungsweise eine Reihe an Implikationen für die
32
Wahrnehmung: „Obwohl Sant’Elias Vorliebe für Massivität
Manifest „Die futuristische Architektur“ von Antonio Sant’Elia, 1914
der von Marinetti dargelegten Theorie der vollständigen Auflösung des Bauwerks in der Stadt entgegenstand, sagt die Untersicht viel über den ideologischen und kulturellen Status
Am 11. Juli 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs,
aus, den er dem modernen Betrachter zuweisen wollte. In
veröffentlichte Antonio Sant’Elia das Manifest „Die futuristi-
der Tat verstärkt er diese Wirkung des Einfügens und Eintau-
sche Architektur“ aus einem ähnlichen Antrieb heraus wie
chens in die unmittelbaren Wahrnehmungsgegebenheiten,
Marinetti, allerdings bezogen auf die Architektur und ihren
indem er die Unmöglichkeit sanktioniert, in den Genuss einer
formalen Ausdruck. Dieses neue Manifest zeugt davon, wie
kühl-analytischen Gesamtansicht zu kommen, im Gegensatz
bedeutend der Futurismus als künstlerische und politische
zu den Axonometrien eines Alberto Sartoris beispielsweise.
Bewegung inzwischen geworden war. Der 1888 in Como ge-
Oder zu den Bildern, die einige Jahre später Le Corbusiers
borene Sant’Elia ging zum Studium nach Mailand, wo er eine
Entwurf der Drei-Millionen-Stadt beigegeben waren: einer
dynamische, faszinierende Stadt entdeckte, die sich gerade
auf totalisierenden Ansichten basierenden Formalstruktur.“36
in einen Industriestandort verwandelte und einen starken Kon-
In dem nun folgenden Architekturporträt werden wir auf diesen
trast zum übrigen Italien aufwies – wie auch zum Lehrplan der
Unterschied zu Le Corbusier zurückkommen, der sein Ideal-
Accademia di Brera, auf dem frühere Baustile und Dekorationen
modell als abstraktes, von oben herab umzusetzendes System
standen. Die Lektüre des Buches Die Wagnerschule (1902)
begriff, während Sant’Elia, der ebenfalls reproduzierbare
machte ihn mit der modernen Architektur von Otto Wagner
Systeme und Typen entwarf, den Betrachter oft in die Position
vertraut, der damals Professor in Wien war, und insbesondere
des Eintauchenden, der den Blick nach oben gerichtet hält,
mit dem Werk von Joseph Maria Olbrich, der einen großen
versetzte, um der neuen Architektur einen monumentalen
Einfluss auf ihn ausübte, wie seine frühen Zeichnungen zeigen.
und heroischen Status zu verleihen.
Sant’Elia gehörte der avantgardistischen Gruppe Nuove
Die „Città Nuova“ von Sant’Elia besteht aus riesigen hybriden
Tendenze an, die sich selbst als „gemäßigter rechter Flügel“
Bauwerken, die für den Land- und Luftverkehr bestimmt sind:
des Futurismus bezeichnete. Er hatte sich 1914 der Bewe-
Sowohl der „Bahnhof für Flugzeuge und Eisenbahnen mit
gung angeschlossen, in der sein Freund, der Maler Mario
Seilbahnen und Außenliften auf drei Straßenebenen“ als
Chiattone, aktiv mitwirkte. Für ihre Ausstellung Nuove
auch das „Elektrizitätswerk“ wurden zu Wahrzeichen der Mo-
33
Tendenze in Mailand verfasste er einen Text (bekannt unter
derne, die von den Futuristen zu symbolträchtigen Ikonen
dem Titel „Messaggio“), der kurz darauf zu einem Manifest
erhoben wurden, da sie die Mobilität durch Maschinen und
verarbeitet wurde, vermutlich unter Mitwirkung von Ugo
die „Fee Elektrizität“37 als die wahren Triebkräfte der zukünf-
Nebbia, Mario Buggelli und Marinetti.35
tigen Welt ansahen.
Zu den gut 300 Zeichnungen, die Sant’Elia anfertigte (Ent-
Im Fahrwasser der Futuristen, doch ohne deren martialischen
würfe, Skizzen, Baudetails und u. a. eine Serie mit dem Titel
und nihilistischen Ton anzuschlagen, wollte Sant’Elia die Bau-
„Dinamismi architettonici“), zählt die Serie „La Città Nuova“
kunst durch einen radikalen Bruch mit der Geschichte neu
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Schaffen durch Zerstören
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erfinden, wie der fünfte Punkt seines Manifests Die futuristische Architektur verdeutlicht: „[UND PROKLAMIERE] 5. daß wir, die wir materiell und geistig künstlich sind, unsere Inspiration in den Elementen der völlig neuen mechanischen Welt finden müssen, die wir geschaffen haben und deren schönster Ausdruck, vollkommenste Synthese und wirksamste Ergänzung die Architektur sein muß, genau wie die Antike ihre Kunstinspiration aus den Naturelementen zog; […].“38 Er träumte von einer dynamischen Elastizität, die er schrägen und elliptischen Linien sowie neuen Baumaterialien zuschrieb, um die alte statische Architektur zu ersetzen. Nicht mehr die Natur war seine Inspirationsquelle, sondern die menschengemachte Mechanik: „UND PROKLAMIERE: 1. daß die futuristische Architektur die Architektur der Berechnung, der verwegenen Kühnheit und der Einfachheit ist; die Architektur des Eisenbetons, des Eisens, des Glases, des Kunststoffs, der Textilfaser und aller jener Ersatzstoffe für Holz, Stein und Ziegel, mit denen man die größte Elastizität und Leichtigkeit erreichen kann; […].“39 In den Städten seiner Wünsche, wie er es ausdrückte, ist die Zeitlichkeit ebenso flüchtig wie in Marinettis Manifest. Es gibt weder Vergangenheit noch Zukunft, vielmehr eine sich fortwährend erneuernde, ewige Gegenwart: „8. […] DIE HÄUSER WERDEN KURZLEBIGER SEIN. JEDE GENERATION WIRD SICH IHRE EIGENE STADT BAUEN MÜSSEN. Diese ständige Erneuerung der architektonischen Umwelt wird zum Sieg des FUTURISMUS beitragen, der sich bereits mit den BEFREITEN WORTEN, DEM BILDNE-
Antonio Sant’Elia, Bahnhof für Flugzeuge und Eisenbahnen mit Seilbahnen und Außenliften auf drei Straßenebenen, 1914, Perspektivansicht, schwarze Tusche auf Papier
RISCHEN DYNAMISMUS, DER MUSIK OHNE QUADRATUR UND DER KUNST DER GERÄUSCHE durchgesetzt hat und
der alten Welt geht, unterbreitet Sant’Elia als Architekt eine
für den wir pausenlos gegen die passatistische Feigheit
neue Ästhetik, die der neuen Welt entspricht, welche sich die
kämpfen.“
Futuristen ausmalen und der er in seinen Zeichnungen aus
40
Wie Marinetti verdrehte Sant’Elia die Dinge, indem er sich
der Serie „La Città Nuova“ Ausdruck verleiht. Er will einen
auf die richtige Seite schlug: Nicht die futuristische Haltung
Bruch mit der historischen Kontinuität vollziehen, um in einer
war angriffslustig, wenn sie sich bereits mit Worten und ihrem
proaktiven und prospektiven Weise eine „völlig neue mecha-
„bildnerischen Dynamismus“ durchsetzte, sondern die Feig-
nische Welt“ zu erschaffen.
heit der Ewiggestrigen, die zurückblicken und sich auf die Geschichte stützen, statt sich in die Zukunft zu projizieren.
Die politische Dimension des Futurismus
In seinen Aussagen ist das Prinzip vom „reinen Tisch ma-
Der junge Architekt, der für Marinettis Manifest schwärmte,
chen“ und der fortwährenden Erneuerung allgegenwärtig.
war Sozialist und Anhänger der Irredenta, einer 1866
Während es in Marinettis Manifest eher um die Zerstörung
entstandenen politischen Bewegung, die den Anschluss aller
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italienischsprachigen Gebiete einschließlich jener in Öster-
Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben
reich-Ungarn (Triest und Dalmatien) erstrebte (und die später
läßt. So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der
vom Faschismus einverleibt wurden). Als die italienische
Faschismus betreibt.“44
Armee im Frühjahr 1915 in den Krieg gegen die Habsburger
Die Futuristen entwickelten eine akzelerationistische Vision
geschickt wurde, schloss sich Sant’Elia zusammen mit
mit zerstörerischen Zügen und stellten sich gleichzeitig eine
Marinetti, Umberto Boccioni und Luigi Russolo dem Freiwilli-
neue mechanisierte Welt vor. Das „Schaffen durch Zerstören“
genbataillon der Fahrrad- und Autofahrer an. Ein Jahr später
erfolgt hier durch einen gewaltsamen radikalen Bruch mit der
wurde der 28-Jährige während der Achten Isonzoschlacht
Geschichte und der Kultur und katapultiert den mechanisierten
von einer Kugel tödlich getroffen. In seinem kurzen Leben
Uomo nuovo als Symbol einer modernen, industrialisierten
hatte Sant’Elia dennoch einem dichten, vielversprechenden
Italianità in eine andere Raumzeit, die von Geschwindigkeit,
Werk Gestalt verliehen.
der Mechanisierung der Welt und vom Krieg als ultimativem
Auch Marinetti war Irredentist. In seiner Jugend hatte er der
Heilmittel bestimmt wird. In Marinettis Weltbild existieren
sozialistischen Bewegung nahegestanden, wurde später
Raum und Zeit nicht mehr, alles löst sich in der Geschwindig-
Anarchist, wandte sich 1910 wieder davon ab und unterstützte
keit auf. Die proaktive Haltung der Futuristen, die alles zer-
den Libyenkrieg gegen das Osmanische Reich. Er schloss
stören wollten, um den Lauf der Dinge zu beschleunigen und
sich den „Fasci italiani di combattimento“ (der ersten faschis-
vorwärtszutreiben, war zutiefst nihilistisch und aperspektivisch,
tischen Partei Europas) kurz nach ihrer Gründung im März
in den Zeichnungen von Sant’Elia jedoch fand sie ihren
1919 an und fand sich Seite an Seite mit dem Futuristen
Ausdruck in einer prospektiven Vision der avantgardistischen
Mario Carli und dem Agitator Benito Mussolini wieder. Letzte-
Stadt mit futuristischer Ästhetik, die die Bewegung der Mo-
rer berief ihn 1929 an die neue Akademie der Künste. 1938
derne nachhaltig beeinflussen sollte.
schrieb Marinetti einen Text, in dem er den Kolonialkrieg, den Italien gegen Äthiopien führte, verherrlichte und ästhetisierte: „Seit siebenundzwanzig Jahren erheben wir Futuristen uns
Le Corbusier: Plan Voisin de Paris, 1925
dagegen, daß der Krieg als antiästhetisch bezeichnet wird … Demgemäß stellen wir fest: … Der Krieg ist schön, weil
Wie wir gesehen haben, wurde die Ästhetik der Maschine
er […] die erträumte Metallisierung des menschlichen
durch den Futurismus hervorgebracht, der nihilistische und
Körpers inauguriert. […] Der Krieg ist schön, weil er neue
destruktive Tendenzen zusammenfügte. Auch der nach dem
Architekturen, wie die der großen Tanks, der geometrischen
Ersten Weltkrieg entstandene Funktionalismus war tendenziell
Fliegergeschwader, der Rauchspiralen aus brennenden
auf Zerstörung ausgerichtet, denn er machte reinen Tisch mit
Dörfern und vieles andere schafft …“
den existierenden Bau- und Stadtformen, allerdings mit dem
41
Diese Ästhetisierung des Krieges (den Marinetti bereits 1909
Ziel, eine bessere Welt zu schaffen. Sein Schwerpunkt lag auf
in seinem ersten Manifest als „diese einzige Hygiene der
dem Aufbau einer Welt, die fluider, gesünder und sozialer
Welt“42 beschrieben hatte) geht bis zur totalen Zerstörung.
sein sollte, wobei die Zerstörung nur ein Mittel war, um neue
Marinettis zynische Devise „Fiat ars, pereat mundus“ –
Stadttypen auf der Grundlage eines schematisierten Städte-
„Kunst soll entstehen, und gehe die Welt darüber zugrunde“ –
baus zu entwickeln. Im Plan Voisin de Paris, dem Großprojekt
stellt die Kunst ins Zentrum der Apokalypse. Daher der kritische
für eine „strahlende“ Moderne von Le Corbusier (1887–1956),
Kommentar Walter Benjamins aus dem Jahr 1936: „,Fiat ars –
finden sich die ästhetischen und programmatischen Prinzi-
pereat mundus‘ sagt der Faschismus und erwar-tet die künst-
pien der „Città Nuova“ von Sant’Elia wieder, insbesondere
lerische Befriedigung der von der Technik erwarteten Sinnes-
der mehrere Nutzungen vereinende Bahnhof und die Raum-
wahrnehmung, wie Marinetti bekennt, vom Kriege. Das ist
organisation der modernen Stadt mit Straßen auf mehreren
offenbar die Vollendung des l’art pour l’art.“ Benjamin zufolge,
Ebenen – auch wenn sich Gestaltung und Diskurs erheblich
der diese Haltung widerwärtig fand, hatte die Selbstentfrem-
voneinander unterscheiden.
dung der Menschheit „jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene
Die Argumente, die die Bewegung der Moderne vorbrachte,
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Schaffen durch Zerstören
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betrafen vor allem die Hygiene, die Verbesserung der sozialen
aus dem Jahr 1935, der den Abriss der im 19. Jahrhundert
Bedingungen und die funktionelle Optimierung der Städte,
rund um das historische Zentrum errichteten Wohnviertel zu-
die als zu dicht bevölkert, zu verschmutzt, zu unhygienisch
gunsten einer neuen grünen Stadt mit bandförmigen Häuser-
und seit dem Aufkommen des Automobils als zu verstopft
zeilen vorschlug. In politischer Hinsicht nahm er somit einen
galten. Modellprojekte zur Neugestaltung der Städte waren
noch radikaleren Standpunkt ein als Le Corbusier, da er im
zwar nichts Neues. Man denke – ungeachtet solcher aus der
Zuge einer grundlegenden „Bodenreform“ den Grundbesitz
Zeit vor dem 19. Jahrhundert – etwa an den Plan Cerdà in
abschaffen und Wohnkooperativen aufbauen wollte. Besonders
Barcelona (1841), an die Bandstadt von Soria y Mata (1882),
auffallend an dem utopischen Projekt „Ville contemporaine
an die Gartenstadt von Ebenezer Howard (1898) oder an die
de trois millions d’habitants“, das Le Corbusier 1922 in
Studie „Die Großstadt“ von Otto Wagner (1911), von der
abstracto entwarf, ist die Tatsache, dass er sie nicht in der
sich Sant’Elia inspirieren ließ. Doch der Krieg markierte eine
Peripherie errichtet sehen wollte (wie Howard es für seine
tiefe Zäsur und beschleunigte den Wunsch nach Erneuerung,
Gartenstadt vorschlug, um genügend Platz zu haben), sondern
da die Paradigmen der alten Welt plötzlich obsolet erschienen.
mitten im Zentrum von Paris – eine Entscheidung, die diesem
Der Bruch mit der Geschichte und der befreiende Gestus der
Projekt-Manifest einer „strahlenden“ Moderne der Architektur
Tabula rasa schienen notwendig, um radikale Veränderungen
eine brutale, zerstörerische Dimension verlieh.
zu erwirken, die geeignet wären, die historische europäische
Für Le Corbusier, der Nietzsche gelesen hatte und dessen
Stadt (deren Stadtgefüge aus längst vergangenen Epochen
Idee des Bruchs mit der Geschichte sehr reizvoll fand,46 war
stammte) aus der Krise der Moderne herauszuführen. Im
Paris „der Sitz der Traditionen“ und „die stete Abfolge von
Mittelpunkt dieser Vision stand das aufkommende Automobil,
Seiten, von neu aufgeschlagenen Kapiteln“,47 daher schlug
das nicht nur als berückendes Sinnbild der maschinellen
er vor, die Traditionen umzustürzen und ein neues Kapitel zu
Moderne eine Schlüsselrolle spielte, sondern auch als Zerstö-
eröffnen, das alle anderen ausradieren würde. Nach den
rungsfaktor der Städte, die sich für den Autoverkehr als
mehrfachen Umgestaltungen über die Jahrhunderte hinweg
ungeeignet erwiesen.
und insbesondere nach jenen des Stadtplaners Haussmann
Le Corbusiers Plan Voisin de Paris aus dem Jahr 1925 ist
im 19. Jahrhundert, deren Effizienz Le Corbusier bewunderte,
zweifellos das radikalste Beispiel für ein Stadtplanungskonzept,
sollte Paris nach seinem Dafürhalten einen noch radikaleren
das ohne jeden Kompromiss reinen Tisch mit der historischen
Umbau in Angriff nehmen. Le Corbusier zeichnete ein düste-
Stadt macht. Anführen ließe sich in diesem Zusammenhang
res Bild vom Zustand der Städte: „Die Zentren schwellen an,
auch der Masterplan für die Stadt Genf von Maurice Braillard
breiten sich aus. Man strömt herbei, man preßt sich zusam-
45
men, man arbeitet, man kämpft, und manch einer findet sich hier nur ein, um an der unbarmherzigen Flamme zu verbrennen.“48 Um dem entgegenzuwirken, unterbreitete der gerade einmal 35-Jährige im Jahr 1922 vier Postulate, die später in seinem Buch Urbanisme (1925; dt. Städtebau) veröffentlicht wurden: „1. Entlastung des verstopften Städtezentrums, um den Verkehrsansprüchen zu genügen. 2. Steigerung der Bevölkerungsdichte, um die von der Geschäftswelt verlangte Begegnung zu verwirklichen. 3. Steigerung der Verkehrsmittel, das heißt, vollständige Umwandlung des augenblicklichen Begriffs der Straße, die sich vor dem neuen Phänomen der modernen Transportmittel als wirkungslos herausgestellt hat: Untergrundbahnen, Le Corbusier, Plan Voisin de Paris, 1925, Modellfoto
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Autos, Straßenbahnen, Flugzeuge.
Le Corbusier: Plan Voisin de Paris
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der den Auftrag sogleich so zurechtbog, dass sich sein Umfang um ein Vielfaches vergrößerte: „Wir machten etwas anderes: Wir machten die Studie einer ,Stadt der Gegenwart für 3 Millionen Bewohner‘.“ Die Studie, in deren Zentrum ein großformatiges Diorama mit hundert Quadratmetern Entwurfsfläche stand, wurde auf einem über 27 Meter langen Ausstellungsstand gezeigt.50 Le Corbusier schwärmte für diesen Entwurf, der sich radikal von der traditionellen Stadt entfernte: „Durch diese Studie drangen wir in die wundersame Welt der dicht bevorstehenden Gewissheiten. Die Analyse führte in neue Dimensionen, zu neuen Maßstäben, und die Synthese zu einem urbanen Organismus, der so anders war als alles, was man kennt, dass es kaum möglich ist, sich ein Bild davon zu machen.“51 Tatsächlich brachte diese Schwierigkeit dem Architekten viel Kritik ein und er stieß auf heftigen Widerstand. „Alle erdenkLe Corbusier, Plan Voisin de Paris, 1925, Modellfoto
lichen, leidenschaftlichen Diskussionen sind auf diese Studie gefolgt und nehmen jeden Tag noch weiter zu: ,Sie arbeiten
4. Vergrößerung der Grünflächen als einziges Mittel zur
für den Mond!‘“, warfen ihm seine Gegner vor, worauf er in
Sicherung genügender Hygiene und der für die ange-
triumphierend-distanziertem Ton mit rationalen Argumenten
spannte Arbeit, wie sie der neue Rhythmus der Geschäfte
antwortete: „Bis jetzt hat kein technisches Argument die
verlangt, notwendigen Ruhe.“49
rationellen Vorschläge dieses Projekts wirksam entkräften
In Le Corbusiers Vorstellung war die Stadt so beschaffen,
können.“52 Le Corbusier weckte auch das Interesse politischer
dass man sie mit hoher Geschwindigkeit durchqueren und
Organisationen, insbesondere von rechts- und linksaußen.
von einem erhöhten Standpunkt aus sehen konnte: Sie be-
In einem Brief vom 15. Mai 1930 an seine Mutter prahlte
stand aus Wolkenkratzern, die schwindelerregende Aussichten boten, wurde von einer Autobahn durchquert und mitten im Zentrum landeten Flugzeuge. Die Beschleunigung war das Schlüsselelement des Entwurfs, der in erster Linie auf die Geschwindigkeit setzte, die durch den technischen Fortschritt ermöglicht wurde. Eine „Stadt der Gegenwart für 3 Millionen Bewohner“ Le Corbusiers Plan einer „Stadt der Gegenwart für 3 Millionen Bewohner“ entstand im Zusammenhang mit einem Auftrag des Leiters der Stadtplanungssektion auf dem Herbstsalon in Paris, Marcel Temporal, dem für die Ausstellung von 1922 ein kleiner dekorativer Entwurf vorschwebte. „Urbane Kunst, das ist die Boutique, ein schmiedeeisernes Ladenschild, ein Haustor oder ein Straßenbrunnen, alles was unsere Augen auf der Straße sehen. Machen Sie uns doch einen schönen Brunnen oder etwas Derartiges!“, teilte er Le Corbusier mit,
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Schaffen durch Zerstören
Le Corbusier, Plan de Paris, 1937, Fotocollage
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er damit, er würde rund um seine Ideen „Gruppierungen kristallisieren, die vorwärtskommen wollen. Von links und von rechts werde ich einverleibt, hier von Kommunisten, dort von Faschisten, hier von Royalisten, dort von internationalen Organisationen.“53 Tatsächlich wurde er sowohl von der Kommunistischen Partei als auch von faschistischen Bünden eingeladen, um seinen Stadtentwurf vorzustellen, dessen Radikalität und Hochschätzung der modernen Technik diese Leute begeistert aufnahmen. Le Corbusier räumte dem Automobil einen zentralen Platz ein
Le Corbusier, Plan de Paris, große West-Ost-Achse, 1937, Zeichnung
und entwarf seine neue Hauptstadt nach dessen Maßgabe. Daher versuchte der Architekt,
zu machen, das dem Plan entsprechend nicht mehr schädlich
die Magnaten der Autoindustrie davon zu überzeugen, die
wäre noch für die Verstopfung der Stadt verantwortlich ge-
Fortführung seiner Stadtstudie zu finanzieren, um den vorerst
macht werden könnte, sondern im Gegenteil durch eine der
utopischen Entwurf an die Stadt Paris anzupassen. Er argumen-
motorisierten Fortbewegung gewidmeten Planung die Stadt
tierte dabei wie folgt:
der Zukunft vorteilhaft gestalten würde.
„Das Automobil hat die Großstadt getötet. Das Automobil muß die Großstadt retten.
Plan Voisin de Paris
Wollen Sie Paris einen Plan […] schenken […], der keinen
Der Plan Voisin veranschaulicht den radikalen Eingriff, den eine
anderen Zweck hat, als […] [die] Schaffung von städtischen
Umsetzung des abstrakten Entwurfs einer „Stadt der Gegen-
Organen, die sich den durch die Maschine von Grund aus
wart mit 3 Millionen Einwohnern“ für das historische Zentrum
umgewandelten Lebensbedingungen anpassen?“
von Paris bedeutet. Wie eine riesige über die Stadt gelegte
54
Während Peugeot, Michelin und Citroën ablehnten, erklärte
„geometrische Platte“56 erstreckt sich die neue Stadt an der
sich Gabriel Voisin ohne zu zögern bereit, das Projekt mit
Rive Droite von der Rue Vieille du Temple bis zur Avenue de
25 000 alten Francs zu unterstützen (das entspricht von der
Wagram und von der Seine bis zur Gare de l’Est. Alle Gebäude
Kaufkraft her heute in etwa dem gleichen Betrag in Euro),
sind dem Erdboden gleichgemacht, mit Ausnahme einiger
allerdings unter der Bedingung, dass der Stadtplan seinen
Wahrzeichen wie Louvre, Palais Royal oder Place Vendôme
Namen tragen sollte.55 Vor dem Krieg hatte der Flugzeug-
sowie einiger privater Stadtpalais aus dem 17. und 18. Jahrhun-
bauer Doppeldecker hergestellt, während des Krieges Bom-
dert. Die Viertel Le Marais und Les Halles müssen dem neuen
benflugzeuge, danach wandte er sich dem Automobilbau zu,
Geschäftsviertel mit den Wolkenkratzern weichen.
dem eine glänzende Zukunft bevorstand.
Wie eine Fotocollage zeigt, wollte Le Corbusier in einer späte-
Der Entwurf für die Innenstadt von Paris wurde 1925 unter
ren Studie auch die Île de la Cité einbeziehen: Die weiß ge-
dem Namen Plan Voisin auf der Pariser Internationalen Aus-
färbelten Zonen sollten der Nord-Süd-Autobahn weichen,
stellung für dekorative Kunst und Kunstgewerbe gezeigt –
was den Abriss zahlreicher Haussmann-Gebäude bedeutete.
eine wunderbare Gelegenheit, um Werbung für das Automobil
Einzig Notre-Dame, die Conciergerie, Sainte-Chapelle und
Anmerkungen Seite 132
Le Corbusier: Plan Voisin de Paris
109
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Le Corbusier, Plan Voisin de Paris, 1925, Zeichnung
110
Le Corbusier, Plan de Paris, 1937, Modellfoto: Lucien Hervé
am rechten Seine-Ufer die beiden Theater an der Place du
wusste. Darum sollten die volkstümlichen Quartiere gemäß
Châtelet und das Hôtel de Ville blieben verschont – als isolierte
den Lehren des Funktionalismus und der Hygiene niederge-
Bauwerke gleichsam im luftleeren Raum schwebend.
rissen und ein neues Stadtgefüge geschaffen werden, das
Doch die weißen Zonen erstreckten sich weit über die Ränder
einen gesünderen und moderneren Wohnraum bot. Auf
des Entwurfs für das rechte Seine-Ufer bis hin zur Rive
Einwände im Hinblick auf die Kosten eines solchen Vorhabens
Gauche und betrafen den Großteil des Quartier Latin, das
antwortete Le Corbusier mit dem unschlagbaren Argument,
wie Les Halles und Le Marais als „ungesundes Stadtviertel“
dass die projektierte Nachverdichtung dem Staatssäckel
galt.
zugute käme:
Bleibt anzumerken, dass die Stadtmitte von Paris damals
„Die Doktrin des modernen Städtebaus verkündet: Urbani-
ziemlich heruntergekommen und überwiegend von Klein-
sieren heißt valorisieren. Urbanisieren heißt nicht Geld
händlern und Arbeiterfamilien bewohnt war, die in rußge-
ausgeben, sondern Geld verdienen, Geld machen. Das
schwärzten alten Gebäuden zusammengedrängt lebten. Das
Zentrum der Großstädte bedeutet einen gewaltigen
enge Gassengewirr begünstigte die Ausbreitung der Tuber-
Bodenwert, der vervielfacht werden kann, weil die moderne
kulose und anderer Krankheiten: „Die Maschine, die wir be-
Technik nun anstelle von 6 Geschossen 60 Geschosse
wohnen, ist hingegen ein tuberkulöses altes Nest. […] Man
möglich macht. […] Das Zentrum von Paris, das heute vom
zerstört allerorten die Familie, und man demoralisiert die
Tod bedroht ist, vom Exodus, ist in Wirklichkeit eine
Menschen, indem man sie wie Sklaven an unzeitgemäß ge-
Diamantenmine. Das Zentrum von Paris muss, einem
wordene Dinge kettet“, stellte Le Corbusier fest.57 Wer wohl-
biologischen und geografischen Phänomen gleich, über
habend war, floh aus der Stadt und ließ sich entlang der
sich selbst wiederaufgebaut werden.“59
Straße nach Saint-Germain-en-Laye nieder. Nach Ansicht des
Als Ersatz für die alten Quartiere entwarf Le Corbusier eine
Architekten kapitulierten die Pariser Behörden angesichts der
Neustadt mit einem großen unterirdischen Bahnhof in der
Herausforderungen, die die beengten Wohnverhältnisse und
Mitte zwischen Geschäfts- und Wohnvierteln, der als moderner
unhygienischen Zustände in der Hauptstadt mit sich brachten.
intermodaler Hub mit einem Flugplatz auf dem Dach angelegt
Das Stadtzentrum aufzugeben, war für ihn Verrat: „Das Zentrum
war (später musste er die Idee eines Flugplatzes aus Sicher-
von Paris seinem Schicksal zu überlassen, bedeutet, vor dem
heitsbedenken aufgeben):
Feind zu desertieren.“58 Diese Haltung kam ihm umso ab-
„Der Bahnhof kann nur im Zentrum der Stadt liegen. Dies
surder vor, als Stadtkerne a priori die höchsten Bodenwerte
ist sein einziger Platz; es gibt keinen Grund, ihm einen
aufwiesen, wenn man sie den neuen Bedürfnissen anzupassen
anderen anzuweisen. […]
Schaffen durch Zerstören
Anmerkungen Seite 132
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Der Bahnhof ist eine Baulichkeit vor allem unter der Erde.
gegeneinander versetzt angeordnet sind und jeweils im Un-
Sein Dach, das sich zwei Etagenhöhen über dem natürlichen
tergeschoss über eine Metrostation verfügen. Die Büroge-
Stadtboden erhebt, ergibt den Flughafen für Lufttaxis. Der
bäude, „riesige Kristallmassen […] – höher als irgendein
Hafen für Lufttaxis […] muß vermittels einer Gürtelbahn mit
Gebäude der Welt“, erfüllten den Architekten mit einer Be-
den Untergrundbahnen, den Vorortebahnen, den Provinz-
geisterung, die mitunter schwärmerische und futuristische
bahnen und der großen Durchgangsbahn in unmittelbarer
Züge annahm: „Kristall, das im azurnen Blau schillert und
Verbindung stehen“.
unter dem grauen Winterhimmel leuchtet – Kristall, das
60
Die Mobilität spielte eine Schlüsselrolle in der für drei Millionen
schwerelos in der Luft zu schweben scheint, das am Abend
Einwohner geplanten Stadt, die durch die neuen die Verkehrs-
funkelt und glitzert – elektrischer Zauber.“65
ströme lenkenden Verkehrsachsen eine Umstrukturierung erfuhr:
Zwischen den Wolkenkratzern öffnet sich eine weite, 2400 × 1 500
„Der Verkehr läßt sich einteilen – leichter als alles andere.
Meter große Fläche (insgesamt 3,64 Mio. m2) mit Parks, Gärten
Heute ist der Verkehr nicht eingeteilt, – Dynamit in den
und begrünten Hügeln, die durch die Verwertung des
Hochöfen der Korridorstraßen geschleudert. Der Fußgänger
Erdaushubs für die Fundamente der Türme eine Art künstliche
ist zum Tode verurteilt. Und trotzdem: der Verkehr läuft
Topografie bilden. Aus der grünen Masse ragen punktuell
nicht mehr.“
Denkmale früherer Epochen heraus, losgelöst von ihrem
61
Die vom Architekten vorgeschlagene Lösung lässt sich in
historischen Kontext – „mit Sand bestreute Alleen führen zu
wenigen Worten zusammenfassen: „Nord–Süd, Ost–West,
ihnen“,66 sodass sie wie überdimensionales Spielzeug in einem
die große Durchgangsbahn für Blitzfahrzeuge“.62 Die Auto-
großen Sandkasten anmuten. Rampen führen zu einer langen,
drome oder Autobahn besteht aus aufgeständerten, 40 oder
von Straßencafés gesäumten Promenade, von wo aus – dem
60 Meter breiten Fahrbahnen mit Einbahnverkehr, jeweils
neuen städtischen Boden, der die Altstadt überragt – sich eine
zwei nebeneinander (also 80 bis 120 Meter breit) und mit
Aussicht bietet, die „tausend Meter nach vorne flieht“,67 in
Abfahrten über Rampen in Abständen von 400 Metern.
eine endlose Weite. Das Wesen der Stadt und die Art und
So konnte man die Stadt „mit der allergrößten Geschwindig-
Weise, sie zu bewohnen, haben sich vollkommen verändert:
keit“ durchqueren, um schnell die Vororte zu erreichen,
„Das Zentrum der City muß in die Höhe gebaut werden.
„ohne durch eine Kreuzung aufgehalten zu werden“. Diese 63
Vorstellung spiegelt die Begeisterung des Architekten für Geschwindigkeit und moderne Technik wider. Konkret plante Le Corbusier, die Hauptachse parallel zur Route Triomphale zu bauen, „die wirklich große Fahrbahn“,64 die die Wohnvororte im Westen mit dem Industrieviertel im Osten verbinden sollte. In Nord-Süd-Richtung ersetzte er den heutigen Boulevard de Sébastopol durch die zweite Durchfahrtsstraße, die sich zu zwei riesigen Plätzen aufweitet, welche das Zentrum des neuen Geschäftsviertels bilden. Alle Straßen und Wege befinden sich über dem Boden auf unterschiedlichen Ebenen, um zu verhindern, dass sich die Verkehrsströme kreuzen, und sind durch Auf- und Abfahrtsrampen miteinander vernetzt. Damals war die Trennung der Verkehrsströme, um sich unabhängig voneinander zu Fuß oder mit dem Auto bewegen zu können, eine absolute Neuheit. Die Kreuzung der Hauptachsen wird von 18 Hochhaustürmen flankiert, die jeweils 200 Meter hoch sind (60 Geschosse), einen kreuzförmigen Grundriss haben, im Abstand von 400 Metern
Anmerkungen Seite 132
Le Corbusier, Ville Radieuse, 1930, Modellfoto
Le Corbusier: Plan Voisin de Paris
111
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Sportanlagen, Geschäfte, Kindergärten und Schulen sowie Arztpraxen untergebracht.69 Der Grüngürtel um Paris (jenseits der Verbindungsstraße, den Boulevards des Maréchaux) dient als „Stadtlunge“, ist aber auch als Landreserve im Hinblick auf eine zukünftige Stadtentwicklung gedacht (obwohl sie dann den Zweck der Lunge gefährden würde). Dieser Gürtel muss im Gemeindeeigentum sein, betont Le Corbusier, damit die Gemeinde frei darüber verfügen kann und Bodenspekulation unterbunden wird. Um den Grüngürtel herum befinden sich Gartenstädte für zwei Millionen Einwohner. Le Corbusier, Pavillon de l’Esprit Nouveau, 1925
112
Die Wohnbauten in der City dürfen nicht an ,Korridorstraßen‘
„Um der Bestie die Spitze zu bieten“: Baukunst oder
voller Lärm und Staub und um finstere Höfe herum errichtet
Revolution
werden. Die Stadtwohnung kann ohne Hof und abseits der
Durch diesen radikalen Entwurf würde das „dumpfe, ver-
Straßen gebaut werden, mit Fenstern, die auf ausgedehnte
schlossene, erdrückende“ alte Paris den „jahrhundertealten
Parks blicken.“68
Gewohnheiten“ entrissen und als moderne Großstadt, „Phä-
Diese Wohnhäuser, die im nördlichen Teil des Geschäftsviertels
nomen einer unbedingt notwendigen Ordnung“ wiederauf-
abseits der neuen großen Durchfahrtsstraßen im Grünen
gebaut,70 verkündete der Architekt voller Überzeugung. Eine
stehen, bilden offene „Blocks in Zahnschnittform“ und „ge-
derartige Umgestaltung, die auf dem Tabula-rasa-Prinzip
schlossene Wohnblöcke“, deren Größe und Abstand vonein-
gründet, als ultimative modernistische Utopie anvisieren zu
ander so bemessen ist, dass sie ausreichend Licht und Luft
können, setzte eine abstrakte Vision voraus, die sich von der
für eine Million Einwohner bieten. Dieser neue Immeuble-
Realität der Stadt und ihrer Bewohner:innen, aber auch von
Villas oder „Villa-Block“ genannte Gebäudetyp stellt ein
der Geschichte vollkommen losgelöst hatte:
absolutes Novum dar, besteht er doch aus vier übereinander
„Vorgehend, wie der Praktiker in seinem Laboratorium zu
gestapelten doppelgeschossigen Wohneinheiten mit Terrassen
verfahren pflegt, habe ich die Spezialfälle geflohen: Ich
sowie zwei Attikageschossen darüber, deren Aneinanderreihung
habe sämtliche Zufälligkeiten ausgemerzt; ich habe mir ein
riesige, mit „Villen“ gefüllte „Regale“ bildet: zahnschnittför-
ideales Terrain gewählt. Das Ziel war ja nicht, mit Zuständen
mige Appartementblöcke mit zehn Geschossen. Auf dem
schon bestehender Gegebenheiten fertigzuwerden, sondern
Dach sind eine 1 000 Meter lange Sprintbahn und ein Solarium
durch Konstruktion eines Theoriegebäudes von äußerster
geplant. Nur zwölf Prozent des Bodens sind überbaut, da
Strenge vorzudringen zur Formulierung der Grundprinzipien
die Wohneinheiten (mit 2 700 Bewohner:innen pro Gebäude)
für den modernen Städtebau. Diese Grundprinzipien können,
auf Betonpfeilern ruhen, damit die gesamte Bodenfläche
wenn sie nicht bloße Erdichtungen sind, das Knochengerüst
den Fußgängern zugute kommt. In den Erdgeschossen sind
bilden für jedes städtebauliches System der Gegenwart.
Schaffen durch Zerstören
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STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 113
Sie werden die Regel sein, nach der das Spiel gespielt
allerdings stand ihm kein Politiker zur Seite, der solche
werden kann.“
Tabula-rasa-Maßnahmen durchsetzen konnte. Daher: „Wir
71
Diese „Spielregel“ lässt sich beliebig anwenden, als fielen in
bräuchten einen Mann mit eiserner Hand, der den Auftrag hat,
dieser modernistischen Utopie die kulturellen Unterschiede
die Lösung für die Stadtfrage anzuweisen. – Einen Mann, aus-
sowie die morphologischen und topografischen Besonder-
gestattet mit weitestgehenden Vollmachten, einen Colbert.
heiten nicht ins Gewicht, ob „Paris, London, Berlin, New York
Wir fordern einen Colbert!“76 So einen eisern durchgreifen-
oder den winzigsten Flecken“, so Le Corbusier. Von der Not-
den Mann gab es 1925 in Frankreich nicht. Mussolini, für den
wendigkeit überzeugt, alles zu meistern, verkündete er in
Le Corbusier eine große Bewunderung hegte und bei dem er
kämpferischem Tonfall: „wird man ihm als Meister gegen-
sich um einen Termin bemühte, um seine Stadtentwürfe vor-
überstehen, […] wird man der Schlacht, die sich entspinnen
zustellen, hatte kein Interesse an ihm.
will, eine entscheidende Wendung geben. Denn eine Großstadt von heute städtebaulich gestalten zu wollen, heißt eine
Der Pavillon de l’Esprit Nouveau, 1925: eine Kostprobe
fürchterliche Schlacht liefern.“
des Plan Voisin de Paris
Der Größe seines Entwurfs stellte der Architekt die Dürftig-
Um sein Projekt voranzutreiben, stellte Le Corbusier eine
keit der Projekte und Maßnahmen der Stadtbehörden gegen-
Inszenierung auf die Beine, die zeigen sollte, was modernes
über (Schutzleute, Lärm- und Leuchtsignale, Fußgängerbrücken
Bauen für ihn bedeutete, wobei er alle Maßstäbe in gleich
über die Straßen, rollende Steige unter den Straßen, Garten-
radikaler Weise behandelte – von der Wohnzelle über den
städte, Streichung von Straßenbahnlinien usw.), die hier und
Röhrenstuhl bis zur Stadt. Sein Pavillon de l’Esprit Nouveau,
da Kleinigkeiten zu verbessern suchten, „um der Bestie die
der für die Internationale Kunstgewerbeausstellung in Paris
Spitze zu bieten“. Vergebens: „Die BESTIE, die Großstadt, ist
1925 entworfen und vom Autobauer Gabriel Voisin und vom
sehr viel stärker als alles dies. Sie braucht nur zu erwachen.
Industriellen Henry Frugès kofinanziert wurde, ist der Prototyp
Was wird man morgen erfinden?“
einer Wohneinheit, der Immeuble-Villas des Plan Voisin. Die
Eine Sorge, die auch in der berühmten Aussage „Baukunst
neuen übereinander gestapelten und nebeneinander gestellten
oder Revolution“ zum Ausdruck kommt, die er 1923 in seinem
Wohneinheiten bestehen jeweils aus einem standardisierten
72
Buch Vers une architecture formuliert, um auf die Notwen-
Minimalraum mit integrierter moderner „Ausrüstung“ (also
digkeit hinzuweisen, dass entsprechend den Herausforde-
keinen Möbeln im herkömmlichen Sinne). Auch bei diesem
rungen der modernen Epoche gebaut werden müsse.
das Interieur betreffenden Maßstab ist ein radikaler Bruch mit
73
Le Corbusier zufolge geht es um „die Wiederherstellung des heute gestörten Gleichgewichts“, denn: „Das Räderwerk der Gesellschaft ist ernstlich gestört, es schwankt zwischen einem Aufschwung von historischer Bedeutung und einer Katastrophe.“74 Nach dieser bedrohlichen Feststellung liefert der Architekt seine Wunderlösung für die Stadt. Sie besteht in einem radikalen Kurswechsel, der auf einer kraftvollen Programmatik basiert: abreißen, um eine neue Stadt mit hoher Dichte zu bauen (die drei- bis viermal so hoch ist als in den historischen europäischen Städten). Le Corbusier hatte die Bedeutung des Stadtzentrums und seines Bodenwerts sehr wohl erkannt, als er feststellte: „es gibt also im Zentrum der Großstädte eine Diamantenmine, die der Staat ab sofort ausbeuten könnte, wenn eine adäquate Gesetzgebung greifen, ein Programm existieren und eine vernünftige Lehre dieses Programm inspirieren würde“,75 Le Corbusier, Pavillon de l’Esprit Nouveau, 1925 Anmerkungen Seite 132
Le Corbusier: Pavillon de l’Esprit Nouveau
113
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 114
der Geschichte und den Nutzungen festzustellen:
geführt, eine Rotunde, wo sich ihnen zwei große Dioramen
„Ein neuer Begriff hat das Wort Mobiliar ersetzt: dieser
von 100 Quadratmetern darboten: das eine die Dreimillionen-
Ausdruck verkörperte in jeder Beziehung lange Tradition
stadt, das andere der Plan Voisin de Paris. An den Wänden
und Vergangenheit. Das neue Wort wird Ausrüstung eines
„gründliche Studien von Wolkenkratzern, Wohnkolonien in
Hauses sein. […] Die Studien an Stühlen und Tischen führten
Zahnschnittform, zellenartige Siedlungen und eine Menge
zu vollkommen neuen Ergebnissen und zu völlig anderer
neuer Architekturtypen, konsequente Ergebnisse von Gedan-
Anordnung nicht formeller oder kunstgewerblicher Art,
ken, die auf die Zukunft gerichtet sind“,78 resümierten
sondern funktioneller Natur; die strenge Etikette ist im
Le Corbusier und Pierre Jeanneret in ihrer Autobiografie und
Lauf der Entwicklung der Sitten gefallen; man darf sich
ließen dabei nicht unerwähnt, dass der Pavillon auf Anordnung
heute auf sehr viele Arten setzen und diesen verschiedenen
der Baudirektion der Ausstellung, die „dem Unternehmen in
Sitzweisen müssen die neuen Stuhlformen entsprechen,
der feindseligsten Weise begegnete“,79 hinter einem sechs
die ohne Schwierigkeit aus Metallröhren oder Blechen
Meter hohen Palisadenzaun versteckt wurde, um das Werk
hergestellt werden können. […] Im Verlaufe von Vorträgen
den Blicken der Besucher:innen zu entziehen – bis der Minis-
[…] gelangte man […] zu einem neuen System häuslicher
ter für Bildung und Kunst, Anatole de Monzie, der die Aus-
Organisation.“
stellung eröffnete, diesen wieder entfernen ließ. So wurde
77
Diese Neuorganisation des häuslichen Wohnens betraf alle
die „strahlende“ Moderne aufgrund der ihr (wie dem Denken
Bereiche, angefangen mit der Körperhaltung über die Wohn-
Nietzsches) zugeschriebenen Sprengkraft erst einmal diskret
form bis hin zur Stadtstruktur. Schritt für Schritt entdeckten
verhüllt, bis sie dann doch zum Ausbruch kam und die gelten-
die Besucher:innen das ganzheitliche Programm in all seinen
den Kulturmodelle außer Kraft setzte.
Maßstäben: Erst lernten sie den Prototyp der villa von außen
Le Corbusier unternahm mehrere Anläufe, um für seinen Plan
und innen kennen, dann wurden sie in den Anbau des Pavillons
Voisin zu werben. 1930 arbeitete er zusammen mit dem jungen Filmemacher Pierre Chenal an drei Kurzfilmen über moderne Architektur, in denen er sein Städtebauprojekt erläuterte. Er stellte es in den Architekturzeitschriften L’Architecture d’aujourd’hui und Bâtir vor, wobei er dessen Vorzüge als „grünes Projekt“ mit Aufnahmen üppiger Natur hervorhob, die in deutlichem Kontrast zu der von ihm beschriebenen Beengtheit und Gesundheitsschädlichkeit der Pariser Gassen standen. 1938 drehte Jean Epstein den Dokumentarfilm Les Bâtisseurs, in dem Le Corbusier anhand zahlreicher Skizzen und eines großen Modells des Plan de Paris – er hatte es angefertigt mit dem Ziel, „eine Reihe fotografischer Dokumente anzufertigen, die ein Gefühl der Wirklichkeit vermittelten“80 – eine Lektion in Stadtplanung erteilte. Die Präsentation ihres Projekts auf der Pariser Weltausstellung 1937 im Pavillon des Temps Nouveaux bot Le Corbusier und Pierre Jeanneret „die Gelegenheit, der Öffentlichkeit und der Obrigkeit den Abschluss von 20 Jahren Studien zu unterbreiten. Die Studie legt die aufeinander folgenden Etappen vor, von denen die erste gleich morgen beginnen kann. […] Wie es scheint, hat die Stunde der allgemeinen
Le Corbusier, Automobil „Delage, 1921“, Kap. „Die Augen, die nicht sehen“ aus: Vers une architecture, 1923
114
Schaffen durch Zerstören
Umgestaltung der Städte geschlagen: Es ist das Programm schlechthin in der gegenwärtigen Epoche.“81
Anmerkungen Seite 132
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Krise, Beschleunigung und Fortschritt
noch Sklave der Technik, anstatt sich ihrer zu bedienen: „Wie dumm steht der Mensch nach Atem ringend und
Die Futuristen und Le Corbusier teilten die gleiche Faszina-
keuchend vor diesem Werkzeug, mit dem er nichts anzu-
tion für die Maschine, die neue Technik und die Idee der
fangen weiß. Der Fortschritt scheint ihm gleichermaßen
Tabula rasa. Der Erste Weltkrieg hatte sich als Beschleuniger
hassens- wie lobenswert; sein Geist ist ein einziges Chaos.
von technologischen Innovationen und industriellen Produkti-
Der Mensch fühlt sich dabei aber eher als Sklave einer
onsmethoden erwiesen. 1923 stimmte Le Corbusier in seinem
Zwangslage und hat gar nicht das Gefühl einer Befreiung,
Buch Vers une architecture ein Loblied auf diese Form der
Erleichterung oder gar Verbesserung seines Loses.“84
Beschleunigung an in der Hoffnung, dass sie auch in der
Die Hilflosigkeit des Menschen gegenüber den neuen techni-
Architektur Anwendung finden würde:
schen Werkzeugen und den Auswirkungen der Mechanisierung
„Der Krieg hat die Schläfer wachgerüttelt. Man sprach vom
geht mit einem Krisengefühl einher:
Taylorsystem. Man wandte es an. Die Unternehmer kauften
„Eine schwere Zeit der Krise, vor allem moralischer Krise.
wohldurchdachte, ausdauernd und rasch arbeitende
Um die Krise zu überwinden, muß man die geistige
Maschinen. Werden die Bauplätze demnächst Fabriken
Voraussetzung dafür schaffen, die Vorgänge zu begreifen
werden? Man spricht von Häusern, die man an einem Tag
und die neuen Werkzeuge zu gebrauchen. Wenn dieses
aus flüssigem Beton gießt, ähnlich wie man Flaschen füllt.
arme menschliche Wesen [la bête humaine, das menschliche
Und nachdem der Faden nun einmal eingefädelt ist, nach
Tier] sich in sein neues Joch geschickt hat und erfährt,
dem man so viele Kanonen, Flugzeuge, Lastwagen, Eisen-
welche Art von Leistung von nun an von ihm verlangt wird,
bahnwagen fabrikmäßig herstellt, sagt man sich: Könnte
dann wird es auch erkennen, daß sich die Dinge verändert
man nicht schließlich auch Häuser fabrikmäßig produzieren?
haben, daß sie sich verbessert haben.“85
Das wäre eine voll und ganz der Zeit entsprechende
So herablassend und moralisierend der Tonfall dieses Textes
Einstellung.“
ist (einen Tonfall, den wir noch zugespitzter aus der Feder von
82
Le Corbusier sah im technischen Fortschritt eine Chance für
Sant’Elia kennen, der von der „Feigheit der Ewiggestrigen“
eine radikale Veränderung der Bau- und Wohnweise im klei-
spricht), er kann als Appell an die Menschen verstanden werden,
nen wie im großen Maßstab, vom Stuhl bis zur Stadt. Die
sich der Technik zu bemächtigen und sie sich dienstbar zu ma-
Maschine diente ihm als strukturgebende Inspirationsquelle
chen, um dadurch eine neue Freiheit zu erlangen. Für Le Cor-
für diese Rundumerneuerung. Im Begleittext zur berühmten
busier und seine Anhänger kam es nicht infrage, das Automobil
Abbildung mit dem Titel „Augen, die nicht sehen …“ in seinem
zu verbannen, auch wenn es die Städte lebensfeindlich machte.
Buch erläutert er:
Stattdessen zogen sie es vor, die Form der Stadt selbst zu
„Würde das Problem des Wohnens und der Wohnung so
verändern, damit sie den Anforderungen der Fahrzeuge best-
gut durchstudiert wie das Fahrgestell eines Autos, dann
möglich entsprach. Sie forderten, dass sich die Stadt an-
erlebte man rasch eine Wandlung und Verbesserung unserer
passte, und nicht, wie heute, das Auto. Die Verbreitung des
Häuser. Wenn die Häuser wie die Fahrgestelle serienmäßig
Automobils bot für die Architekten die Gelegenheit, die
von der Industrie hergestellt würden, dann sähe man sehr
Lebensweise der Bewohner:innen grundlegend zu verändern.
bald überraschende Formen, aber gesunde, vertretbare,
Maschine und Technik gelten als Werkzeuge schlechthin der
auftauchen und die entsprechende Ästhetik würde sich mit
Beschleunigung des Fortschritts. Diese Dynamik sollte der
erstaunlicher Präzision ebenso bald formulieren.“
Mensch verstärken, so Le Corbusier, statt sie auszubremsen,
83
Die ästhetischen Prototypen dieses Paradigmenwechsels prä-
indem er nostalgisch auf eine vergangene Epoche zurück-
sentierte er insbesondere im Pavillon de l’Esprit Nouveau,
blickt, die nur noch ein Abklatsch ist und außerstande, die
wo das integrierte Mobiliar, der „Villen-Block“ und der Plan
Herausforderungen und Krisen der Moderne zu bewältigen.
Voisin ein großes Ganzes bildeten – ein ganzheitliches Mani-
Das Vordringen der Technik in alle Bereiche scheint ihm bei
fest der Moderne. Allerdings hätte die Menschheit seiner
diesem Prozess wesentlich zu sein. Die Maschine ist Symbol
Meinung nach das Problem noch nicht erfasst und sei immer
der Beschleunigung. Sie spricht aber nicht nur die Vernunft
Anmerkungen Seite 132
Krise, Beschleunigung und Fortschritt
115
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 116
an, sondern auch die Sinne: Als greifbares Ding erregt sie die
„Der Reisende, der im Flugzeug ankommt, vielleicht aus
Affekte; sie beschert neue Erfahrungen; sie vermag zu rühren.
Konstantinopel, vielleicht aus Peking, sieht plötzlich in dem
Le Corbusiers träumerische und lyrische Beschwörung der
Liniengewirre der Flüsse und Wälder diese klare Spur erschei-
strahlenden Stadt lässt futuristische Anklänge erkennen:
nen, die ihm die leuchtende Stadt der Menschen ankündet:
„Es ist Nacht. Wie ein Meteorenschwarm in den Sommer-
Diese Planung, die das Eigentum eines Menschenhirnes
Aequinoktien zeichnen die Autos Feuerzeichen der
ist.“89 Le Corbusier beendete mit demiurgischen Worten über
Autostraße entlang. Zweihundert Meter darüber, auf den
die Ordnung, die der Mensch der Natur zu geben vermag, seinen
Dachgärten der Wolkenkratzer (wirkliche Gärten […]),
Artikel „Une ville contemporaine“, dabei schlug er einen
breitet das elektrische Licht ruhige Freude aus. Die Nacht
schwärmerisch-futuristischen Ton an und verpasste nebenbei
darüber.“
dem Futurismus noch einen kleinen Seitenhieb:
86
Die Maschine ist hier weit mehr als ein rationales und funktio-
„In der Dämmerung flammen die gläsernen Wolkenkratzer
nales Werk: Sie wird zu einem Instrument der Projektion des
auf. Das ist kein gefährlicher Futurismus, kein literarischer
Menschen in eine neue Welt, die sich aus ihr heraus konstitu-
Dynamit, dem Zuschauer mit Gebrüll ins Gesicht geschleu-
iert. Waren für Nietzsche das Denken und die Kunst die
dert. Es ist ein Schauspiel, organisiert durch die Architektur
Triebfedern der radikalen Fortentwicklung unserer Kultur, so
mit den Mitteln der Plastik, die das Spiel der Formen unter
ist für Le Corbusier die Maschine der Katalysator der kommen-
dem Lichte ist.90
den Kultur, wie er in prophetischem Ton in Vers une architecture
Das ist der wahre Futurismus – wirkungsvoll, weil er bereit
verkündet:
ist, schon morgen eine neue Stadt zu errichten und eine neue
„[…] eine neue Epoche löst eine sterbende ab. Die
Lebensweise zu schaffen.Le Corbusier, der sich selbst „L’In-
Maschinentechnik, neu in der Geschichte der Menschheit,
transigeant“ nannte, der Unnachgiebige,91 dieser „wilde gute
hat einen neuen Geist erweckt. Jedes Zeitalter erschafft
freie Sturmgeist“, wie es bei Nietzsche heißt,92 machte gerne
sich seine eigene Baukunst, die reines Abbild ihres Denk-
reinen Tisch, um wie der schöpferische Dionysos „zerbrochene
systems ist.“87
Formen aus sich nachzuformen“. Diese zyklische Vorstellung
Auf die ontologische Krise der Moderne im Spannungsfeld
von einer ewigen Wiederkunft des Gleichen findet sich bei Le
zwischen der segensreichen und gleichzeitig unheilbringen-
Corbusier in dessen Wunsch wieder, ein neues Kapitel aufzu-
den Industrialisierung gibt Le Corbusier eine klare Antwort,
schlagen. Die Begeisterung für das Prinzip vom ewigen
indem er die Maschine zum Mythos macht. Seit den Futuris-
Schaffen und Zerstören, das sich jählings von der Geschichte
ten ist die Maschine zur Ikone der Moderne avanciert: unan-
befreit, nimmt freilich eine ganz andere Dimension an, wenn
tastbar und makellos, leuchtend, faszinierend, elektrisierend
es von der Philosophie auf den Städtebau und von der Roman-
und verführerisch, zukunftsträchtig. Sie wird zum Leitbild für
tik auf die Zeit zwischen den Weltkriegen übertragen wird –
die neue Stadt, für neues Wohnen, für einen neuen Körper
eine beklemmend konkrete Dimension in Bezug auf die ge-
und sogar ein neues Empfinden.
baute und soziale Wirklichkeit. Das Tabula-rasa-Prinzip löscht in einem Handstreich die histo-
Tabula rasa: wenn der Entwurf weiter geht als die
rische Zeit aus und zielt auf die Zukunft ab. Le Corbusier
Philosophie
suchte die Zeit zu beschleunigen, um den neuen Menschen
„Und warum sollte ich nicht bis ans Ende gehn? Ich liebe es,
in die Zukunft zu katapultieren; er wollte die „schwere Zeit
reinen Tisch zu machen“, verkündete Nietzsche eine Generation
der Krise, vor allem moralischer Krise“93 überwinden, indem
früher aus einem Antrieb heraus, der sich auch bei Le Corbusier
er die proaktive Zerstörung als Hebel einsetzte. „Baukunst
findet. Nicht aus bloßem nihilistischem Vergnügen, sondern um
oder Revolution“ lautet dann die Losung, um der durch das
eine neue Ästhetik zu schaffen, die betört durch „[r]iesige,
ernstlich gestörte „Räderwerk der Gesellschaft“94 verursach-
aber strahlende Prismen“, wie er mit Blick auf die Wolken-
ten Katastrophe zuvorzukommen. Es gilt, zur „Wiederherstel-
kratzer der Ville Radieuse euphorisch formulierte. Nicht min-
lung des heute gestörten Gleichgewichts“95 die alte Stadt zu
der begeisterte ihn die ordnende Kraft des Architekten:
zerstören, um eine neue Welt aufzubauen, die alles einschließt.
88
116
Schaffen durch Zerstören
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Die Architektur dient somit als Mittel, um Resonanz herzustellen; dabei sind Tabula rasa und Geschichtstilgung die Grundlage für diese Haltung der Erneuerung.
Gordon Matta-Clark: Anarchitektur und Conical Intersect, 1975 Die Arbeit von Gordon Matta-Clark (1943–1978) bietet einen
Export eines allgemeingültigen Entwurfs
guten Ansatzpunkt, um die Visionen der Ville Radieuse in ein
Nach zahlreichen Reisen ins europäische Ausland, nach Russ-
anderes Licht zu rücken und die Kehrseite der Politik
land und Südamerika war Le Corbusier erst recht davon über-
der Tabula rasa aufzudecken. Matta-Clark, der weit weniger
zeugt, dass die bestehenden „sehr beengten“ Städte
„strahlend“ war als sein älterer Kollege Le Corbusier, ist in
umgestaltet werden mussten, und entwickelte städtebauliche
der Architektur- und Kunstwelt mit seiner auf Destruktion
Visionen für Buenos Aires, Montevideo, São Paulo, Rio de
statt Konstruktion ausgerichteten Vorgehensweise zweifellos
Janeiro, Algier, Barcelona, Stockholm, Antwerpen u. a., die
eine der herausragenden ikonischen Figuren der Entropie.
alle auf seinem Konzept der Ville Radieuse basierten, das
Vor dem Hintergrund der massiven Abrisse, die im Namen
er 1930 in Fortsetzung seiner Stadtstudien skizziert hatte:
der Modernisierung in den Städten vorgenommen wurden,
„Heute kann der Öffentlichkeit oder den Entscheidungsträgern
war die apokalyptische Dimension in seinem Werk allgegen-
eine richtiggehende Städtebaulehre vorgelegt werden, die
wärtig. Dieses Vorgehen thematisierte und ritualisierte er,
dem gewaltigen Reformbedarf in allen Städten und auf allen
indem er selbst in vom Verschwinden bedrohte Häuser ein-
Kontinenten Rechnung trägt.“
griff und dadurch den Akt der Zerstörung in ein Kunstwerk
96
Le Corbusiers erstes städtebauliches Projekt, der Entwurf für
verwandelte. Hier gilt es nun vor allem an den krisenhaften
eine Umgestaltung von Paris, wurde, obwohl der Architekt
Kontext zu erinnern, in dem seine Projekte entstanden. Die
es verschiedenen Regierungen einschließlich dem Vichy-
Idee des „Schaffens durch Zerstören“ bekommt dann eine
Regime unterbreitete, nicht verwirklicht. Sogar nach dem
ganz andere Bedeutung als bei dem „Meister der Moderne“.
Krieg versuchte er noch André Malraux davon zu überzeugen, doch der entschied sich, bei aller Hochachtung für
New York ruiniert und als Ruine. Entropie und Ende des
Le Corbusier, für eine behutsamere Variante, die eine Sanie-
Fortschritts
rung des Stadtzentrums vorsah. Unabhängig davon, dass sich
New York war Anfang der 1970er Jahre so gut wie bankrott
die vollständige Zerstörung eines historischen Stadtkerns aus
(die erste Ölkrise von 1973 hatte zu einer schweren Rezession
vielerlei Gründen als schwierig erwies, ließen sich zahlreiche
geführt) und befand sich in einer politisch prekären Lage, da
Anhänger des Funktionalismus vom Entwurf der Ville Radieuse
der Vietnamkrieg damals sehr unpopulär war und der Water-
anregen. Man denke an Niemeyer und die neue brasiliani-
gate-Skandal das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber
sche Hauptstadt Brasilia, die in der geografischen Mitte des
den Entscheidungsträgern weiter geschürt hatte. Der „urban
Landes buchstäblich aus dem Nichts erschaffen wurde, oder
blight“ (Stadtverfall) und die Stagflation (das gleichzeitige
auch an den Schule machenden „urbanisme de dalle“ (mit
Auftreten von wirtschaftlicher Stagnation und Inflation) hatten
strikter Trennung der Funktionen auf verschiedenen Ebenen),
New York an einen Kipppunkt gebracht. Zu den düsteren
der in vielen Städten zur Anwendung kam, die zwecks Moder-
Zukunftsaussichten kamen eine große soziale Krise und eine
nisierung ihres Zentrums Schnellstraßen bauten, wie das
Identitätskrise hinzu, da nach der Ermordung von Martin
Hochhausviertel La Défense, die „voies sur berge express“
Luther King im Jahr 1968 Rassenunruhen ausbrachen und in
(Uferschnellstraßen) und die in den 1960er und 1970er Jahren
einigen Stadtteilen kriegsartige Zustände herrschten. Die
gebauten Vorstädte von Paris und auch weltweit, insbesondere
weiße Middleclass floh aus den Innenbezirken und ließ sich
in New York, belegen.
am Stadtrand oder auf dem Land nieder und überließ so den Ärmsten das Zentrum. Um einen Ausweg aus dem urbanen Chaos zu finden und der stringenten Vision einer „strahlenden Stadt“ ein Stück näherzukommen, ließ der oberste Stadtplaner von New York,
Anmerkungen Seite 132
Gordon Matta-Clark: Anarchitektur und Conical Intersect
117
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stellte. Dieser Umschwung schlug sich auch in der ästhetischen Haltung nieder. Während Le Corbusier für die Zerstörung unhygienischer Wohnviertel und den Bau moderner Städte plädierte, kämpfte Matta-Clark, der in New York seit seiner Kindheit die Vernichtung ganzer Wohnviertel persönlich miterlebt hatte, zeit seines Lebens gegen diese Maßnahmen. „Anarchitecture“98 – so auch der Name einer Künstlergruppe, die sich um Matta-Clark bildete99 – war die Antwort auf Le Corbusiers Ansatz: Indem die Anarchitektur das subversive und anarchische Vorgehen von Architektur für sich bean-
Gordon Matta-Clark, Conical Intersect, Paris,1975, Fotograf: Harry Gruyaert
spruchte, stellte sie sich mit Robert Moses, Stadtautobahnen bauen, die das durch die
„Towards anarchitecture“ Le Corbusiers Vers une architecture
exponentiell gestiegene Anzahl an Automobilen verursachte
(engl. Towards an architecture, was sich als Wortspiel anbie-
Verkehrschaos abmildern sollten, damit die nunmehr an den
tet) diametral entgegen. Matta-Clark propagierte nicht wie
Stadträndern wohnende Schicht der Bessergestellten leichter
Le Corbusier Ordnung, Universalität und Fortschritt, sondern
in die Innenstadt gelangen konnte. Die neue Infrastruktur
Chaos, Originalität und Rebellion gegen das, was seinerzeit
entstand auf dem bestehenden Stadtgefüge, das Moses als
als Fortschritt galt. Auf Le Corbusiers mantraartig wiederholte
„Slums“ disqualifizierte, und so wurden ganze Stadtteile, ins-
Aufforderung „Denkt an die Aufgaben der Baukunst!“,
besondere alte Arbeiter- und Handwerkerviertel, abgerissen,
antwortete Matta-Clark mit einer schlichten Verneinung: „Die
um Wohntürme mit Sozialwohnungen zu errichten.
Anarchitektur versucht nicht, Probleme zu lösen.“100 Vielmehr
Dieser turbulente Kontext löste heftige Reaktionen in der
erkundet sie, wie schon das Wort nahelegt, die schöpferischen
Kunstszene aus und führte zu einem Paradigmenwechsel, wie
Spannungen, die durch den Gegensatz der apollinischen
der Schweizer Architekturtheoretiker Philip Ursprung unter-
und dionysischen Kräfte entstehen, wie James Attlee betont:
streicht: „Der Trend verlagerte sich von Harold Rosenbergs
Architektur ist Anarchie. Mit anderen Worten eine
,Tradition des Neuen’ zu Smithsons Idee der Entropie, weg
Anti-Architektur, die auf Nicht-Konstruktion, Nicht-Planung
vom linearen Fortschritt zur Idee des Recycelns. Andy Warhol
gründet und auf die Zerstörung der Architektur selbst
hatte 1964 in Empire die sublime Schönheit des Monopol-
hinausläuft. Damit nimmt diese Position, die als Reaktion auf
kapitalismus beschworen.“ Hier kündigte sich das Ende
die urbane Katastrophe entstand, selbst katastrophenartige
vom Zeitalter des auf der Idee eines unbegrenzten Wachs-
Züge an.
tums beruhenden Fortschritts durch einen Paradigmenwechsel
Die Vernichtung der Arbeiter- und Industrieviertel hatten bei
an: Ordnung wurde durch einen kritischen Entropie-Begriff
Matta-Clark nicht nur Betroffenheit ausgelöst, sondern ihn
ersetzt, der die chaotische Transformation, Unvorhersagbarkeit,
auch politisch empört, sodass er beschloss, gegen die Städte-
Desorganisation und den Zusammenbruch in den Vordergrund
baupolitik von Robert Moses anzukämpfen. Er versuchte, die
97
118
Schaffen durch Zerstören
Anmerkungen Seite 132
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von den Behörden nahezu aufgegebenen Viertel, deren Be-
apokalyptischen Kontext und verwandelte sie in Kunstwerke.
wohner:innen ihrerseits vor Abriss und Zerstörung flohen, mit
Solche dionysischen Handlungen lindern Spannungen, nach-
neuem urbanem und sozialem Leben zu erfüllen. Er initiierte
dem sie im Vorfeld maximal gesteigert wurden. Die daraus
Rituale in Form von Straßenfesten mit Graffiti-Aktionen, an
resultierende Lust kann als Urquelle des Schaffens erachtet
denen er die Bewohnerschaft teilhaben ließ, die mit einem
werden.103
auf dem Bürgersteig gegrillten Schwein am Spieß belohnt
Die Aisthetik, das heißt die Wahrnehmungserfahrungen
wurden. Matta-Clark war ein Mann der Straße, der Aktion
und das Teilen dieser Erfahrungen, gab ihm das Gefühl, zu
und der Rebellion. In einer riesigen, verlassenen Lagerhalle
existieren. Gordon Matta-Clark nahm eine Haltung ein, die
nahm er auf einem Holzbrett Platz, das an einem Stahlträger
dem Fortschrittsgedanken diametral entgegenstand. Sein
befestigt war. Mit einer Motorsäge schnitt der junge Mann,
Credo „Completion through Collapse“ beinhaltete eine
der eine Bärennatur hatte, ein leicht abgeschrägtes, linsen-
ästhetische Strategie, die sonderbar entropische, im Destruk-
förmiges großes Loch in die Blechwand, das im dunklen
tionsmodus geschaffene „Tempel“ hervorbrachte: ein in der
Hallenraum wie eine Sonnenfinsternis aussah. Wie im Pariser
Mitte zerteiltes Haus, dessen Hälften umzukippen drohen
Panthéon drang das Licht durch eine einzige Öffnung in die
(Splitting), ausgehöhlte Gebäude, die wie implodiert
weiträumige, leere Gewerbehalle und verlieh ihr etwas Poeti-
aussahen (Conical Intersect), oder eine durchlöcherte
sches und Magisches, ein krasser Gegensatz angesichts der
Lagerhalle, die sich durch das plötzlich einfallende Licht in
apokalyptischen Zerstörung rundherum. Die Aktion fand
einen „Pantheon“ zu verwandeln scheint (Day’s End). Man
1975 statt und bekam den poetischen Titel Day’s End. Sie
kann Matta-Clarks Aktionen als „sakralisierende Akte“
gab den Auftakt zu weiteren Cuttings, die Matta-Clark wenig
begreifen, bei denen nicht das Zepter die Grenzen des Bau-
später unter der Bezeichnung Conical Intersect in Paris vor-
körpers vorgibt (wie bei den Auguren, die den Standort des
nehmen sollte, als das Quartier des Halles abgerissen wurde,
Tempels festlegten), sondern die Motorsäge, die ihm
wovon Le Corbusier immer geträumt hatte.
dadurch einen anderen Status verleiht, den eines Kunstwerks
Mit seinen proaktiven Destruktionen, die er vor dem geplanten
mit einer eigenen Zeitlichkeit. Diese zerschnittenen, „von der
Abriss durchführte, beschleunigte Matta-Clark die Zeit. Er nahm
Welt abgetrennten Tempel“ laden uns zum Nachdenken
Gebäude in Besitz, die der Zerstörung anheimgegeben waren,
über ebendiese Welt und die sie beherrschende Dynamik
um sie vor dem Abriss ein letztes Mal zu beseelen. Wie von
ein, was letztlich das Wesen der Kunst ausmacht. Im Gegen-
einem dionysischen Ritual besessen (ein Film belegt dies
101
),
satz zu Le Corbusiers „geometrischer Platte“ sind
schnitt er konische Teile aus Wänden und Holzböden, bis
Matta-Clarks „Tempel“ ihrem Wesen nach entropisch.
durch die durchlöcherten alten Gebäude – wie durch das
Die Idee der Entropie – der regellosen, nicht vorhersagba-
Auge eines Zyklopen – die Baustelle des zukünftigen Centre
ren, chaotischen Umwandlung – verdrängt die ordnungs-
Pompidou mit dem riesigen, vollkommen weißen Knochen-
basierte Städtebaulehre der Ville Radieuse und markiert,
gerüst zu erblicken war. Es war wie ein Schwanengesang auf
indem der Fortschrittsgedanke aufgegeben wird, den
das Innenleben und die gelebte Geschichte der 300-jährigen
Übergang zur Postmoderne.
Gebäude, die nun solchermaßen freigelegt (mit angeschnittenen Tapeten und Fliesen) sich ein letztes Mal in die Zeit und in
Was sich in den Ansätzen von Matta-Clark, Le Corbusier und
das kollektive Gedächtnis einschreiben konnten, bevor sie
Sant’Elia, die je eigene raumzeitliche Fiktionen geschaffen
endgültig verschwanden.
haben, herauskristallisiert (wenn auch auf unterschiedliche
In Matta-Clarks Werk ist eine doppelte Dynamik zu erkennen,
Weise), hat Jacques Rancière brillant auf den Punkt gebracht:
die einerseits auf einem Zerstörungswillen beruht, verbunden
das Reale muss fiktionalisiert werden, „damit es gedacht wer-
mit einer zutiefst aperspektivischen Haltung im nihilistischen
den kann“,104 aber auch kritisiert und verändert. Ihre Projekte
Sinne. Andererseits wird sein starker Wunsch deutlich, diesen
haben allen Unterschieden zum Trotz ein gemeinsames Ziel:
Wiederholungszwang (nach dem Prinzip der „ewigen Wieder-
die Geschichte und die Zeit auf den Kopf zu stellen, um
kehr des Gleichen“102) durch Sublimierung umzuwandeln:
unser In-der-Welt-sein zu hinterfragen. Der Modus der Be-
Durch das Zerschneiden der Gebäude löste er sie aus ihrem
schleunigung scheint die effizienteste Strategie zu sein, um
Anmerkungen Seite 132 und 133
Gordon Matta-Clark: Anarchitektur und Conical Intersect
119
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so schnell wie möglich zum „Nullpunkt“ zu gelangen – durch
Blick auf die Probleme der heutigen Welt mit den Wirtschafts-
ein befreiendes radikales Aufräumen, das einen fiktionalen
und Politiktheorien beschäftigen, in denen das Konzept der
Raum eröffnet, in dem alles möglich wird, zum Guten wie
„schöpferischen Zerstörung“ eine entscheidende Rolle spielt,
zum Schlechten.
insbesondere für unsere Gegenwart, in der die Ideen des Akzelerationismus ein Comeback erleben. Wie sich herausge-
Akzelerationismus
stellt hat, haben die sozioökonomischen und politischen Theorien und Dynamiken nämlich starke Auswirkungen auf
Inzwischen ist die von Futurismus und Moderne ersehnte Be-
unsere Städte, deren Architektur und Bewohnerschaft.
schleunigung, die sich an Begriffen wie „neue Technologien“ oder „fortwährende Erneuerung“ festmacht, zu einer furcht-
Schumpeters Begriff der „schöpferischen Zerstörung“
bar konkreten Wirklichkeit geworden, da sich ihre exponen-
Karl Marx prägte den Begriff „schöpferische Zerstörung“
tielle Dynamik nunmehr unserer Kontrolle entzieht, mit
Mitte des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der For-
verheerenden Folgen für die Menschheit und den Planeten.
mulierung der kommunistischen Theorie.105 Der Begriff gründet
So werden wir uns im letzten Abschnitt dieses Kapitels mit
in der Tatsache, dass der Kapitalismus frühere Wirtschaftsordnungen zerstört und umordnet, indem er den vorhandenen Reichtum entwertet (durch Krieg oder durch periodisch wiederkehrende Wirtschaftskrisen), um Platz für die Schaffung neuen Reichtums zu machen. Dieses Konzept wurde von dem deutschen Soziologen Werner Sombart, der sich offen zum Einfluss Nietzsches auf seine Theorie bekannte, in Krieg und Kapitalismus (1913) aufgegriffen,106 später auch von dem österreichischen Nationalökonomen Joseph Schumpeter, der ab 1927 an der Harvard University lehrte, wobei er in Abwendung von der marxistischen (kritischen) Analyse eine ultraliberale Deutung vornahm. Schumpeter, der eine Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung formulierte, definierte Wachstum als einen unaufhörlichen schöpferischen Prozess der Zerstörung und Umstrukturierung wirtschaftlicher Aktivitäten. „Der fun-
Highland Park Plant Model-T, Fordwerke, um 1920
damentale Antrieb, der die kapitalistische Maschine in Bewegung setzt und hält“, so Schumpeter, „kommt von den neuen Konsumgütern, den neuen Produktions- oder Transportmethoden“,107 um fremde oder einheimische Märkte zu eröffnen. „Dieser Prozeß einer industriellen Mutation […], der unaufhörlich die Wirtschaftsstruktur von innen heraus revolutioniert, unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue schafft. Dieser Prozeß der ,schöpferischen Zerstörung‘ ist das für den Kapitalismus wesentliche Faktum. Darin besteht der Kapitalismus und darin muß auch jedes kapitalistische Gebilde leben.“108 Krisen sind nicht bloß Aussetzer der Wirtschaftsmaschinerie, sie sind der Logik des Kapitalismus inhärent. Schumpeters Theorie zufolge sind sie heilsam und für den wirtschaftlichen
Aufgegebene Fabrikhalle in Detroit, 2014, Fotograf: Quentin Mourier
120
Schaffen durch Zerstören
Fortschritt notwendig, da sie an bewährten Positionen rütteln
Anmerkungen Seite 133
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und die Suche nach neuen Ideen befördern. Eine Behinde-
und die Moderne in eine Logik der Flucht nach vorn ein-
rung des Innovationsflusses würde den Boden für eine Rezes-
schreibt, vertritt die Idee, dass der einzuschlagende Weg in
sionsphase bereiten, auf die eine Krise folgt.
Krisenzeiten nicht Widerstand, Ablehnung oder ein Rückgriff
Diese Wirtschaftslogik, die auf mehr oder weniger geregelte
auf frühere Epochen sein kann, sondern darin besteht, ausge-
Weise unsere Welt regiert und auf einem fortwährenden
hend von den Bedingungen des Hier und Heute vorwärtszu-
Schaffens- und Zerstörungsprozess basiert, der Wirtschafts-
kommen und die unsere Realität beherrschende Dynamik
wachstum garantiert (und bei Bedarf mit industriellen Umwäl-
zu verstärken, indem das, was als Nächstes kommen könnte,
zungen und Standortverlagerungen einhergeht), hat bei jeder
beschleunigt eintreten wird.
Fabrikschließung verheerende Folgen für Gesellschaft, Stadt
Im Jahr 2013 veröffentlichten Nick Srnicek und Alex Williams,
und Umwelt auf globaler Ebene. Die Globalisierung hat den
beide damals junge Doktoranden an der London School of
Wettbewerb drastisch verschärft, auch zwischen den Produk-
Economics und an der University of East London, ein Manifest
tionsstandorten. Die Vernichtung lokaler Arbeitsplätze, die
mit dem Titel #ACCELERATE MANIFESTO for an Accelera-
durch neue Arbeitsplätze am anderen Ende der Welt ersetzt
tionist Politics. Dieses #Beschleunigungsmanifest für eine
werden, ist fester Bestandteil dieses Systems.
akzelerationistische Politik, das in mehrere Sprachen über-
In der globalen Beschleunigungsdynamik schrumpfen die
setzt wurde und rasch große Verbreitung fand, löste heftige
Vektoren von Raum und Zeit zusammen. Durch die Entwick-
Kontroversen aus, da die marxistisch geprägten Autoren die
lung der Verkehrs- und Kommunikationsnetzwerke ist die
Ansätze des Degrowth oder Postwachstums zum Aufbau
ganze Welt in unmittelbare Reichweite gerückt. Das Resultat
einer postkapitalistischen Welt ablehnten.109 Ihr Projekt einer
der Schwankungen des Marktes sind postindustrielle Ruinen –
„alternativen Moderne“ erteilt dem „entschleunigenden
Detroit ist ein beredtes Beispiel dafür –, die uns die verhee-
Primitivismus“ eine Absage, der ihrer Ansicht nach keine
renden Folgen vor Augen führen, die eine ultraliberale, aus-
Zukunft bietet, weil seine von Lokalismus gespeiste Politik
schließlich auf Gewinnmaximierung ausgerichtete
nur zu einer allmählichen Fragmentierung führe, „zur perma-
Wirtschaftspolitik in einer globalisierten Welt auf eine Indus-
nenten Krise und zum weltweiten ökologischen Zusammen-
triestadt haben kann, wenn die Produktion aus Kostengründen
bruch“.110 Stattdessen fordern sie die Umweltbewegung auf,
an einen anderen Ort verlagert wird. Übrigens hat Henry
den Kapitalismus, den technologischen Fortschritt und die
Ford (1863 –1947) Schumpeter zur Beschreibung des Vorzeige-
Automatisierung der Produktivkräfte zu beschleunigen, um
Unternehmers inspiriert.
ein anderes „radikales Projekt der Moderne, Emanzipation
Abgesehen von der Schaffung von Kapital hat die Schumpe-
und Demokratisierung im Tandem mit der technologischen
ter’sche „schöpferische Zerstörung“ letztlich nur zu sozialem und ökologischem Chaos geführt. Weit entfernt vom Glamour des „Vorzeige-Unternehmers“ der 1920er Jahre, der Verkörperung einer sonderbaren Fortschrittsvision, die vom Prinzip der permanenten Zerstörung bestimmt war, veranlasst uns diese Beschleunigungsdynamik mit ihren verheerenden Auswirkungen auf globaler Ebene heute zum Nachdenken, wie wir eine andere Beziehung zur Umwelt und zur Gesellschaft aufbauen können. #ACCELERATE MANIFESTO von Nick Srnicek und Alex Williams Der Akzelerationismus, der sich heute Bahn bricht, schlägt freilich einen anderen Weg ein. Die wirtschaftliche, politische und philosophische Denkrichtung, die sich wie der Futurismus
Anmerkungen Seite 133
Smart City, Taipei, Taiwan, 2018, DIGITIMES
Akzelerationismus
121
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OMA, Ole Scheeren, Maha Nakhon, Bangkok, 2016, Fotograf: Srirath Somsawat
neuen sozialen, politischen, organisatorischen und ökonomi-
Entwicklung jenseits der vom neoliberalen Kapitalismus gesetzten Grenzen“ zu entwerfen.
122
111
Im Unterschied zur neo-
schen Vision.116 Es sei an der Zeit, gegen den „Zusammen-
liberalen akzelerationistischen Politik im Wortsinne Schumpeters
bruch der Idee der Zukunft“ zu kämpfen, der „symptomatisch
ist ihr Ziel der Aufbau „eine[r] Moderne der Abstraktion,
[ist] für den rückschrittlichen Zustand unserer Zeit“.117
Komplexität, Globalität und Technologie“,112 um „zu einer
Interessanterweise räumen Srnicek und Williams der Techno-
Vollendung des aufklärerischen Projekts von Selbstkritik und
logie einen wichtigen Platz ein, die uns durch Automatisierung
Selbstbeherrschung statt seiner Auslöschung“ beizutragen.
von der Arbeit befreien soll. Diese Vision habe Keynes schon
113
Ihr Manifest beginnt mit einer apokalyptischen Beschreibung
in den 1930er Jahren in seinem Essay „The Economic Possi-
der heutigen Welt:
bilities for our Grandchildren“ skizziert. Allerdings müsse
„1. Am Beginn des zweiten Jahrzehnts des einundzwan-
heute, angesichts der Tatsache, dass „die Arbeit nach und
zigsten Jahrhunderts sieht sich die globale Zivilisation mit
nach in jeden Aspekt des sozialen Getriebes gedrungen
einer ganz neuen Art der Katastrophe konfrontiert. Die
ist“,118 eine andere Beziehung zur Technologie entwickelt
bevorstehenden Apokalypsen machen die Normen und
werden, indem alle Möglichkeiten zur Verbesserung unserer
Organisationsstrukturen unserer Politik, die in der Geburt
Lebensbedingungen ausgelotet und die Technologie in den
der Nationalstaaten, dem Aufstieg des Kapitalismus und
Dienst der realen Bedürfnisse des Menschen (und nicht der
einem zwanzigsten Jahrhundert der beispiellosen Kriege
Erzeugung von Kapital) gestellt würde. Darüber hinaus
geprägt worden sind, zu einem Witz.“
schwebt den Autoren „eine Ausbreitung über die Grenzen
114
In der Überzeugung, dass die heutige Politik die „sich immer
der Erde […] hinaus“119 in neue Sphären vor, die mithilfe der
weiter beschleunigenden Katastrophen“115 nicht aufhalten kann,
neuen Technologien erforscht werden sollen – eine Vision
unterstreichen die Autoren die Notwendigkeit einer radikal
also, die sich in ihr Projekt einer „alternativen Moderne“ einfügt:
Schaffen durch Zerstören
Anmerkungen Seite 133
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 123
„Schließlich wird nur eine postkapitalistische Gesellschaft,
Tatsächlich finden sich in dieser Vision die utopischen und
ermöglicht durch eine akzelerationistische Politik, je in der
dystopischen Träumereien des 20. Jahrhunderts wieder, ins-
Lage sein, das Versprechen der Raumfahrtprogramme des
besondere die des mechanischen Menschen der Futuristen,
mittleren zwanzigsten Jahrhunderts einzulösen – als
doch das Ziel ist ein anderes. Sahen die Futuristen in der
Verschiebung über eine Welt der minimalen technischen
Technik und vor allem im Krieg ein ultimatives, weil in seiner
Upgrades hinaus zu allumfassendem Wandel. Hin zu einer
Radikalität befreiendes Heilmittel (daher ihre starke Anziehungs-
Zeit der kollektiven Selbstbeherrschung und der wirklich
kraft für den Faschismus), so stellen sich die Philosophen der
fremden Zukunft, die sie mit sich bringt und möglich
London School gegen die rechtsgerichteten (rechtsliberalen
macht.“
und neofaschistischen) Bewegungen des Akzelerationismus
120
Die politischen Philosophen versuchen sich an einer Wieder-
und streben eine demokratischere Gesellschaft an, allerdings
aneignung der Ideale von Universalismus, Fortschritt, Technik,
von ganz eigenwilliger Ausprägung. Diese Gesellschaft
Humanismus, Vernunft und Emanzipation und heben die
würde durch eine seltsam anmutende Kombination beherrscht:
Bedeutung kollektiver Reflexion hervor. So beenden sie ihr
dem „PLAN“ (einer mächtigen vertikalen, wiewohl vom Kollektiv
Manifest mit einem zukunftsgerichteten Ausblick, der an das
effizient kontrollierten Instanz, mit deren Hilfe die Komplexität
Imaginäre appelliert: „Der Akzelerationismus strebt nach
der Welt und ihrer Umweltprobleme bewältigt werden könnten)
einer moderneren Zukunft – einer anderen Moderne, die der
und der „improvisierte[n] Ordnung des NETZWERKS“123,
Neoliberalismus von Natur aus nicht hervorbringen kann. Die
einer vernetzten Struktur aus horizontalen Gruppierungen:
Zukunft muss noch einmal aufgeknackt werden – und unsere
„Wir erklären, dass nur eine prometheische Politik der
Horizonte werden frei für die unbegrenzten Möglichkeiten
größtmöglichen Beherrschung der Gesellschaft und ihrer
des Außen.“
Umwelt in der Lage ist, mit globalen Problemen fertig zu
121
werden und die Oberhand über das Kapital zu erlangen. Beunruhigende oder zukunftsweisende Träumereien?
Diese Beherrschung muss unterschieden werden von der,
Die Faszination für die neuen Technologien als Wegbereiter
die die Denker der ursprünglichen Aufklärung so geliebt
einer neuen Zukunft erinnert an das Manifest des Futurismus.
haben.“124
Der Unterschied zwischen diesen beiden Manifesten, die
Dieses abstrakte Argument ist zwar zulässig, aber auch be-
im Abstand von fast hundert Jahren verfasst wurden, besteht
unruhigend, wenn man sich ausmalt, welche Folgen eine wie
allerdings darin, dass der italienische Futurismus die Technik
auch immer geartete „mächtige vertikale Instanz“ auf die
als Rettung begriff, sie verherrlichte und ästhetisierte und
Gesellschaft haben kann. Das weckt Erinnerungen an den
zum Selbstzweck erhob, während Srnicek und Williams sie
Faschismus, aber auch Ängste vor einer schon einmal dage-
eher als Werkzeug zum Aufbau einer postkapitalistischen
wesenen prometheischen Politik.
Welt betrachten, die besser, sozialer und demokratischer sein soll. Beiden gemeinsam ist die Faszination für eine
Ästhetik des Akzelerationismus
technologische Fantasterei, die einem erlaubt, sich über eine vernunftgeleitete, entzauberte Welt zu erheben:
Wie wir gesehen haben, inspirierte das Manifest des Futuris-
„Diese Bewegung über unsere derzeitigen Schranken
mus aus der Feder des jungen Dichters Marinetti einige
hinweg muss mehr beinhalten als nur den Kampf für eine
Jahre später Sant’Elia zu seinem Manifest Die futuristische
rationalere globale Gesellschaft. Sie muss, so glauben wir,
Architektur, mit dem er die Architektur einer futuristischen
auch die Bergung der Träume beinhalten, die so viele von
Gesellschaft in einen ästhetischen Rahmen fasste. Das
der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis zum Anbeginn
#Beschleunigungsmanifest für eine akzelerationistische Politik
der neoliberalen Ära in ihren Bann geschlagen haben,
wurde hingegen von politischen Philosophen verfasst. Wie
Träume vom Streben des Homo sapiens nach Ausbreitung
sieht also hier eine Übertragung in den Kontext der Ästhetik,
über die Grenzen der Erde und seiner unmittelbaren kör-
Kunst, Architektur und Stadt aus? Wie machen sich Künst-
perlichen Form hinaus.“122
ler:innen und Architekt:innen das Science-Fiction-artige Konzept
Anmerkungen Seite 133
Ästhetik des Akzelerationismus
123
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 124
einer postkapitalistischen Welt zu eigen, um den Stellenwert
die Kundschaft ein nie dagewesenes Erlebnis mit Gänsehaut-
der Technik und ihr Verhältnis zur menschlichen Gesellschaft
momenten bereithält – getreu der Devise des „Immer mehr“.
völlig neu zu denken? Was hat es mit der akzelerationistischen
Die akzelerationistische Dynamik manifestiert sich sinnbildlich
Gesellschaft auf sich?
in der sich nach oben windenden Spiralform mit den heraus-
Einen Eindruck davon im architektonischen Bereich können
gebrochenen Teilen, wie bei Bruegels halb verfallenem Turm
uns Projekte von Wolkenkratzern vermitteln, die überall in
zu Babel. Diese prometheische Ikone des Kapitalismus hat
Asien oder auch anderswo gebaut werden. Immer schneller,
eine doppelte Bedeutung: Sie verweist nicht nur auf einen
immer höher, immer komplexer, immer verdichteter, immer
grenzenlosen Fortschritt (nach dem Motto „Alles ist mög-
schwindelerregender und reicher an einzigartigen Erlebnis-
lich“), sie scheint auch dessen Niedergang anzukündigen. Ein
sen – eine Architektur des „immer mehr“, eine Architektur,
entropisch anmutender Wolkenkratzer also, der dennoch
die die Dynamik der Stadt und der Wahrnehmung beschleu-
symbolträchtig für eine Welt steht, die (noch) dem Diktat der
nigt, eine Architektur der ikonischen Bilder, die im Internet
Beschleunigung unterliegt.
um die Welt gehen, eine Architektur, die zur Nachahmung anregt, um das Vorbild zu übertreffen. Es ist eine Architektur,
Smart City / Cyber City
die reinen Tisch macht mit dem bestehenden Stadtgefüge,
124
wie alle großen Vorhaben der Immobilienbranche (immer
Auf Stadtebene liegt dem Entwicklungskonzept der Smart
wieder werden die Wohnviertel der ärmsten Bewohner:innen
City (oder Cyber City) das Prinzip der Beschleunigung zu-
abgerissen), um Platz zu schaffen für die Stadt der Zukunft.
grunde. Im Unterschied zur Green City, die auf Entschleuni-
Die von multinationalen Unternehmen errichteten symbolträch-
gung setzt und daher dem vorangegangenen Kapitel
tigen Bauwerke verleihen diesem exponentiellen Vorgang
zugeordnet werden könnte, zielt die Smart City durch die
eine „Aura des Verlangens“ – eines Verlangens nach Über-
Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien,
bietung hinsichtlich Höhe, Geschwindigkeit und Hightech.
die auf der Sammlung von Metadaten beruhen, auf eine
Insofern ist diese hochgradig proaktive Architektur eine akzele-
komplett durchdigitalisierte Stadt ab, mit dem Ziel, die Qua-
rationistische Architektur, wobei ihr allerdings jegliche soziale
lität der städtischen Dienstleistungen, die Verkehrsströme
Dimension fehlt. In dieser Dynamik gibt es keine Vergangen-
und die Governance zu verbessern sowie das Ressourcenma-
heit mehr; alles findet sich in einer Gegenwart, die sich fort-
nagement und die Risikoprävention zu optimieren. Dieses
laufend erneuert und auf immer kühner werdende Zukunfts-
Konzept der hypervernetzten „Cyber City“ aus digitalen
horizonte zusteuert, wie Sant’Elia sich dies ein Jahrhundert
Gemeinschaften setzt sich weltweit immer mehr durch – auf
zuvor gewünscht hatte.„Ich glaube, es ist wieder Zeit für Uto-
unterschiedlichen Levels von künstlicher Intelligenz. 2018
pien. Wir haben so lange im Gegenteil gelebt, dass es Zeit
startete Taiwan ein Smart-City-Projekt mit dem Ziel einer
ist, wieder mutiger zu sein und darüber nachzudenken, wie
landesweiten Vernetzung im Bereich der Steuerung, des
Dinge auch ganz anders sein könnten“, so Ole Scheeren,
Transports, des Gesundheitswesens, der Ausbildung und der
125
ehemaliger Partner bei OMA und Erbauer des Maha Nakhon
Landwirtschaft, wobei autonome fahrerlose Luftfahrzeuge
Tower („Metropole“ auf Thailändisch) in Bangkok. Der 2016
(Drohnen) für Krisenprävention und -management eingesetzt
eröffnete, 77 Stockwerke hohe Glasturm scheint zu bröckeln,
werden, um Überschwemmungen, Brände oder die Ausbreitung
wie wenn ein Flugzeug es gerammt hätte und einige „Pixel“
von Epidemien in den Griff zu bekommen.126
herausgebrochen wären. An diesen Bruchstellen ragen
Das Sammeln von Daten birgt jedoch (neben möglichen Ver-
Luxus-Wohneinheiten in chaotischer Weise vor. Die spiralför-
letzungen des Datenschutzes und der Privatsphäre) die Gefahr
mig versetzten, würfelförmigen Elemente bilden Terrassen, die
der Abhängigkeit von einem digitalen Metasystem, das im
zum Teil frei in der Luft hängen, sodass schwindelerregende
Krisenfall zusammenbrechen kann – ausgelöst durch eine
Außenbereiche in mehreren hundert Metern Höhe entste-
Naturkatastrophe, Krieg oder einen Stromausfall (den ge-
hen. Als Krönung verfügt der Turm über einen höchst exklu-
fürchteten Blackout), was wirklich bedrohlich sein kann, wie
siven rooftop mit einem überhängenden Glasboden, der für
wir beim Krieg in der Ukraine gesehen haben, wenn ein Land
Schaffen durch Zerstören
Anmerkungen Seite 133
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 125
zum Spielball geopolitischer Interessen wird. Sobald Städte
History128 (der Titel verweist auf ein fiktionales Spiel mit der
von Metadaten abhängig sind, die ihr „smartes“ Funktionie-
historischen Vergangenheit und der Zukunft) soll nur einen
ren regeln sollen, sind sie letztlich viel weniger resilient als
Vorgeschmack geben auf ein geplantes Werk, das sich aus-
vorher.
schließlich mit dem Thema „Masterplanet“ befasst. In Anbetracht der Klimanotlage hätten die Architekten, so Ingels, ein
Bjarke Ingels Group (BIG): Masterplanet, ab 2020
Wörtchen mitzureden: „Während das Thema des Klimawandels im politischen Bewusstsein einen Höhepunkt erreicht hat, scheint es an
Das Beschleunigungsstreben, das auf KI und neue – teils rea-
konkreten Vorschlägen zu fehlen, wie das Problem auf
listische, teils fantasierte – Technologien setzt, kann noch viel
globaler Ebene angegangen werden kann. Statt der Kako-
weiter gehen. In der Nachfolge des Futurismus besteht eines
phonie von Berichten und Reden, Teilzielen und begrenzter
der Ziele des #Beschleunigungsmanifests von Srnicek und
Regulierung, die die derzeitigen Bemühungen kennzeichnen,
Williams, wie wir gesehen haben, in der „Bergung der
glauben wir, dass wir einen Masterplan für unseren ganzen
Träume […], die so viele von der Mitte des neunzehnten Jahr-
Planeten entwerfen müssen. Einen greifbaren, umsetzbaren,
hunderts bis zum Anbeginn der neoliberalen Ära in ihren Bann
durchführbaren Masterplan, pragmatisch in seinen Prinzipien,
geschlagen haben, Träume vom Streben des Homo sapiens
utopisch in seinem Anspruch. Den Masterplanet.“129
nach Ausbreitung über die Grenzen der Erde und seiner un-
Danach fragt er sich, wie wir die Erde „reorganisieren“ könnten,
mittelbaren körperlichen Form hinaus“.127 Der Architekt, der
um eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen, den Schutz
dieses Streben nach Ausbreitung am besten verkörpert, ist
der Ressourcen und die Anpassung des Menschen an den
Bjarke Ingels, Gründer der Bjarke Ingels Group (BIG). Mit
Klimawandel zu bewerkstelligen. Sein Projekt strebt „einen
seinem radikalen, utopischen Gestus ist er nicht weit vom
CO2-neutralen Planeten Erde“ an und stellt sich dabei „den
#Beschleunigungsmanifest und der Bewegung des Futuris-
primären Herausforderungen hinsichtlich Energie, Transport,
mus entfernt. Wir wollen nun bei dieser auch jenseits der
Industrie, Biodiversität, Ressourcen, Umweltverschmutzung,
Architekturszene weit verbreiteten Vision verweilen, um sie
Wasser, Ernährung und der guten Lebensbedingungen für
in eine kritische Perspektive zu rücken.
eine Welt mit bis zu zehn Milliarden Menschen“ – eine demo-
Der dänische Architekt, der weltweit für seine radikalen
grafische Maximalannahme, um die Challenge für seine globale
Großprojekte bekannt ist (allein der Name seines Büros – BIG
Utopie noch größer erscheinen zu lassen. Für die Erstellung
– kündet von diesem Streben nach Größe), beschäftigt sich
des „Masterplanet“ stellt BIG eine Gruppe von Fachleuten
derzeit mit der Ausarbeitung eines Projekts, das alle üblichen
aus verschiedenen Disziplinen zusammen, zu der neben
Maßstäbe sprengt: Diesmal hat er aber weder Kolossalbau-
Landschaftsarchitekten, Stadtplanerinnen und Ingenieuren
ten noch ganze Stadtviertel im Sinn, sondern einen „Master-
auch Energieexpertinnen gehören. Ziel des Projekts sei es,
plan“. Unter „Masterplan“ versteht man in der Regel ein
„einen Überblick darüber zu geben, was jetzt nötig wäre, um
Planungsdokument, in dem problemlösungsorientierte Leitlinien
den Nettoausstoß von Treibhausgasen zu stoppen, und eine
für einen Ballungsraum oder einen Stadtteil festgelegt sind.
Vorstellung davon zu bekommen, was das ultimative Ziel
BIG hingegen will einen solchen für den gesamten Planeten
einer zu 100 Prozent nachhaltigen menschlichen Präsenz auf
erstellen! Ingels nennt ihn „Masterplanet“: ein Wortspiel mit
der Erde für praktische Folgen hat“.130 Ein sehr ehrgeiziges
einer Prise Humor – oder ist es doch Größenwahn mit einem
Vorhaben und ein a priori absolut notwendiges Ziel, doch wie
Anflug von Zynismus ob der Unmöglichkeit der Realisierung?
ist das in einer äußerst heterogenen und alles andere als ge-
Doch Ingels scheint nicht zu scherzen. Er wird nicht müde,
einten Welt zu erreichen?
seine Projekte in Vorträgen und Publikationen vorzustellen,
Die von Ingels auf pragmatische und pauschalisierende
und träumt sogar von einer TV-Dokuserie, angelehnt an
Weise angekündigte Methode besteht zunächst darin, „die
Carl Sagans Fernsehserie Unser Kosmos. Sein 2020 bei Ta-
Probleme und Möglichkeiten zu identifizieren, nach möglichen
schen erschienener Band Formgiving. An Architectural Future
technologischen Lösungen zu suchen, mehrere Optionen der
Anmerkungen Seite 133
Bjarke Ingels Group (BIG): Masterplanet
125
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 126
Intervention zu erforschen und zu bewerten, die Mittel und
nimmt diese Utopie jedoch sehr bald dystopische Züge an:
den Umfang der Arbeit zu quantifizieren“. Zu diesem analyti-
Neben dem offensichtlichen und nicht zu vernachlässigenden
schen Teil, der auf den neuesten wissenschaftlichen Erkennt-
Problem einer Governance, die im globalen Maßstab poten-
nissen und umfangreichen, global gesammelten Daten
ziell totalitär ist, stellt sich die Frage nach der Kompetenz.
beruht, kommt die viel heiklere politische Dimension der
Obwohl BIG bei diesen hochkomplexen Thematiken mit
Governance hinzu: Es sind „die grundlegenden Implikationen
Fachleuten zusammenarbeitet, drängt sich die Frage der
der Planung zu klären, die Auswirkungen zu visualisieren“.
Synthese und der Methode auf. Billy Fleming, Direktor des
131
Dabei werden die Implikationen und Konsequenzen einer
McHarg Center an der University of Pennsylvania und Klima-
solchen universellen Planung, die per definitionem top-down
aktivist, hält „das zentrale Ziel des Masterplanet – einen ein-
ist, weder problematisiert noch differenziert. Zum Schluss
heitlichen Plan für einen nachhaltigen Planeten zu erstellen –
nimmt Ingels eine für Architekten, die mit Großprojekten
für keine schlechte Sache“, aber hinsichtlich der Governance
vertraut sind, typische projektorientierte, praktische Haltung
für utopisch, vor allem aber sei die Vision begrenzt und drohe
ein – „die für die Realisierung erforderlichen Schritte [sind]
die Vorstellungswelt der Menschen einzuengen.134 Wie lassen
aufzuschlüsseln“ –, ohne die organisatorische und finanzielle
sich der wissenschaftliche Charakter einer Analyse und ihre
Dimension zu vergessen: „ein Phasen- und Finanzierungsmo-
Objektivität gewährleisten, wenn sie in den Händen eines
dell vorzuschlagen“.132 „Masterplanet“ versteht sich also als
Kommunikationsgenies liegen, der sie nur allzu schnell in ein
ein erweiterter Masterplan, der realistischerweise, wie bei
„Projekt“ verwandelt, das seinerseits spekulativ und fiktiv ist
einem ganz gewöhnlichen Projekt, „Budgets, Flächentabellen,
und Gefahr läuft, ein Bild der Zukunft vorzuzeichnen, von
Systempläne und Strategien der schrittweisen Umsetzung“
dem man sich nur schwer wird wieder lösen können?
enthält.
Wie Ingels unterstreicht, brauche es jedoch gerade Architekten,
133
In ihrer konkreten Dimension als schlüsselfertiges Projekt
um möglichen Lösungen Gestalt zu verleihen und ein Handeln anzustoßen. Der Beitrag von BIG wäre in einem ersten Schritt, die Phänomene, die die Welt bestimmen, darzustellen und zu bündeln und hiernach die Erkenntnisse mit grafischen Mitteln, die Architekten und Data-Liebhaber wie er perfekt beherrschten, zu vermitteln und zu popularisieren. In einem zweiten Schritt wolle er die Realisierung des „Projekts“ ungeachtet dessen Maßlosigkeit in Angriff nehmen. In seiner Leidenschaft für die Kraft der Architektur versucht Ingels, wie jeder Utopist, das Unmögliche zu denken: „Architektur ist die Kunst und die Wissenschaft, Fiktion in die Wirklichkeit zu übersetzen. Was sich verändert hat, sind die Werkzeuge, die uns zur Verfügung stehen, um unsere Ideen zu verwirklichen. Wir Architekten sind nicht nur auf unsere Vorstellungskraft, unsere technischen Fertigkeiten und unsere Erfindungsgabe angewiesen, sondern auch auf unsere Fähigkeit, andere anzuleiten und zu befähigen, das zu bauen, was wir erdacht haben.“135 In diesen Zeilen schimmert die Haltung des Architekten als Demiurg durch, der die Welt retten will, indem er sie nach neuen Paradigmen (um)gestaltet, die nur er wahrzunehmen und umzusetzen vermag. Doch um weitreichende
BIG, „Masterplanet”, aus: Formgiving, 2020
126
Schaffen durch Zerstören
Veränderungen wie die Reduzierung des CO2 - Ausstoßes zu
Anmerkungen Seite 133
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 127
bewirken, gilt es, wie Ingels betont, die makroterritoriale
der Umsetzung von Großprojekten hingewiesen und die An-
Ebene in den Blick zu nehmen und den Fokus sehr viel weiter
sicht vertreten, dass eine mächtige vertikale Instanz vonnöten
zu fassen: „Wenn man ein Haus baut, kann man einige Dinge
sei, und Le Corbusier forderte seinerzeit einen Colbert. Doch
tun – ein paar Sonnenkollektoren auf dem Dach anbringen
weder Ingels noch Le Corbusier, beides Architekten mit einer
und so weiter –, aber die meisten dieser Maßnahmen sind
ausgeprägten Hybris, sehen und sahen in der Kritik an der
nicht besonders effektiv.“136 Plant man hingegen eine
Maßlosigkeit der gestellten Aufgabe und den daraus resultie-
Siedlung oder einen Stadtteil, können bestimmte Synergien
renden Governance-Problemen ein Hindernis für die Umset-
in Gang gesetzt werden, indem man das Regenwasser groß-
zung von Entwürfen großen Ausmaßes. Denn selbst bei der
flächig auffängt oder sich den unterschiedlichen Energie-
Erstellung eines Masterplans für ein Stadtviertel sei, so In-
verbrauch von Wohnhäusern, die Energie in der Regel zum
gels, die Aufgabe so groß, dass man sie am Anfang gar nicht
Heizen brauchen, und Gewerbegebäuden, die tagsüber
überblicken könne: „Aber bei jeder Präsentation nähert man
Energie für die Klimaanlage brauchen, zunutze macht.
sich weiter an, bekommt viel Feedback, und dann ändert
„Man kann alle möglichen Dinge in Angriff nehmen. Und
man ihn, bis alle Kästchen angekreuzt sind […]. Auch wenn er
jedes Mal, wenn der Maßstab höher gesetzt wird, kann man
zu Beginn komplex und umfangreich erschien, schafft man es
mehr tun.“
am Ende doch“, sagt er mit einer gehörigen Portion Optimis-
137
Daher der globale Anspruch seines Projekts. So kommt er auf
mus und einer fast zynischen Distanziertheit.142
die Idee, die Stromnetze weltweit zu verbinden, um das Pro-
Angesichts der Komplexität der gegenwärtigen Probleme
blem der zeitweiligen Unterbrechungen zu lösen – Instabilitä-
wie „Klimawandel, steigender Meeresspiegel, Plastikmüll-
ten, die auf die für erneuerbare Energien typischen
strudel so groß wie ganze Länder“,143 setzt Ingels auf künstli-
Wärme-Kälte-Schwankungen (Nacht/Tag, Sommer/Winter)
che Intelligenz und deren Analysefähigkeit: „Die unermüdli-
zurückzuführen sind, und somit deren Verbreitung verhin-
che Rechenleistung, die geduldige Durchführung zahlloser
dern. BIG und seinen Experten zufolge würde dieses Problem, trotz der durch die Länge der Stromtrassen entstehenden Verluste, durch die Vernetzung gelöst.138 Doch wie lassen sich die Energieflüsse auf globaler Ebene steuern, wenn Staaten Kriege um die Energiehoheit und andere geopolitische und wirtschaftliche Ziele führen? Dieser utopische Ansatz einer „neuen Welt“ stecke, wiewohl er naiv sei, voller Hybris, so Elizabeth Yeampierre, Direktorin der Umweltorganisation Uprose.139 Sie erinnert daran, dass „Aktivisten für Klimagerechtigkeit, die fordern, dass das Klimahandeln nicht nur die Emissionen, sondern auch die systemischen Ungleichheiten angehen sollte, nicht nur Ingels’ Recht zur Erstellung eines Plans für den gesamten Planeten infrage stellen, sondern auch seine Befähigung dazu“.140 Ihre Kritik richtet sich auch gegen die Maßlosigkeit des Projekts: „Selbst in einer Welt, in der die Covid -19-Pandemie unser Verständnis davon verändert hat, was im Hinblick auf kollektive Antworten auf eine globale Herausforderung möglich ist, ist es nahezu unmöglich sich vorzustellen, dass ein einziger Klimaplan von den Industrien, den Regierungen und den Gemeinden auf der ganzen Welt ernsthaft angenommen wird.“141 Bereits Srnicek und Williams haben auf das Governance-Problem bei
Anmerkungen Seite 133
BIG, „Moon – City of New Hope“, aus: Formgiving, 2020
Bjarke Ingels Group (BIG): Masterplanet
127
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 128
Experimente und der sofortige Zugriff auf das gesamte Welt-
von (blinder?) Begeisterung für den Entwicklungs- und Be-
wissen machen KI zu einem mächtigen Verbündeten für ana-
schleunigungsgedanken erfüllt – vollkommen linear vorstellt
lytische Experimente.“ Sie sei sogar „imstande, intuitiv
und in einen riesigen Zeitrahmen einbettet, der vom Urknall
Möglichkeiten zu erkennen, die dem menschlichen Designer
bis zur Gegenwart reicht. „Die Entwicklung des Denkens ist
einfach zu weit voraus sind, um sie zu ergründen. Wenn wir
eine Reise von den Anfängen der biologischen Intelligenz bis
über die Grenzen unserer Vorstellungskraft hinausgehen wol-
zur künstlichen Intelligenz. Wir glauben, dass künstliche Intel-
len, müssen wir uns mit künstlich intelligenten Designern ver-
ligenz im kreativen Prozess unweigerlich zum Einsatz kommen
bünden.“144 In der Zusammenführung beider Intelligenzen –
wird, wodurch das menschliche Element [sic!] immer wichtiger
von Mensch und Maschine – sieht er das ideale Werkzeug,
wird.“147 In dieser anthropozentrischen Sichtweise kommt
um die Herausforderungen einer Zukunft, die es noch zu er-
eine prometheische, ja demiurgische Haltung zum Ausdruck,
finden gilt, zu meistern. Mit gleichsam futuristischer Begeis-
die vielleicht zu Zeiten der Begründer der Moderne noch
terung ruft er aus: „Die Symbiose von Mensch und Maschine
denkbar war, inzwischen aber längst nicht mehr kritiklos hin-
ist das Stärkste. Der Architekt wird mithilfe der KI – wie der
genommen wird.
Großmeister – über beispiellose Kräfte verfügen, um zu gestal-
Das Problem des Maßstabs und der Abstraktionsgrad sind
ten.“
145
Das ist die futuristische Mensch-Maschine des 21. Jahr-
wahrscheinlich nur einige der Gründe (neben kommerziellen
hunderts, freilich nicht mehr um die Mechanik der Maschinen
Überlegungen und der Werbung in eigener Sache) dafür,
erweitert, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts fantasiert, son-
dass Ingels in Formgiving auch Bauprojekte seines Büros auf-
dern um eine künstliche Intelligenz, die weit über die Grenzen
nimmt, die realistischer und daher auch einfacher zu begreifen
des Wahrnehmbaren hinausgeht.
sind, wie zum Beispiel eine Plastik-Recyclinganlage,148
Unerschrocken und bedenkenlos plädiert Ingels für die Zu-
schwimmende Städte für Gemeinden, die vom steigenden
sammenführung etlicher Wissensgebiete, die wie „Künstliche
Meeresspiegel betroffen sind, oder eine für Toyota erbaute
Intelligenz, Erweiterte Realität, Urbaner Metabolismus, Lang-
hypervernetzte Smart City (Toyota Woven City), die auf dem
lebigkeit, Robot Enhancement und interplanetarische [sic!]
innovativen Prinzip der autonomen Mobilität mit einem auto-
Migration“
146
als Werkzeuge und Allheilmittel zur Bewältigung
matischen Liefersystem basiert. Diese und viele andere Pro-
der großen Herausforderungen dienen sollen. Die neuen
jekte, die man im Band Formgiving entdecken kann, sind nur
Technologien sind für ihn ein Mittel, um auf dem Weg des
ein Vorgeschmack auf die Gesamtvision des Masterplanet.
Fortschritts vorwärtszukommen, den er sich in Formgiving –
Doch wer soll diese Bauten finanzieren, wer wird auf diesen Inseln oder in diesen Städten leben? Und wer wird sich das überhaupt leisten können? Dem Kapitel „Masterplanet“ sind zwei Projekte vorangestellt, die an den Expansionsdrang des #Beschleunigungsmanifests erinnern, da sie außerhalb des Planeten angesiedelt sind: Moon – City of New Hope und Science City Mars. Ersteres, das sich in einem
NASA, menschliches Landungssystem mit Besatzung auf einem Mondkrater mit der Erde am Horizont, virtuelles Schaubild, 2019, © NASA/Moon to Mars
128
Schaffen durch Zerstören
Mond-Wohnprojekt mit dem Titel „Olympus“ konkretisiert,
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ist von der auf Robotik-Bautechnologien spezialisierten Firma
und sieht, was er daraus lernen kann, um zu den weltweiten
ICON Build in Zusammenarbeit mit SEArch+ und der NASA
Bemühungen beizutragen“.153
entwickelt worden. Ihm liegt die „Vision eines langfristigen
Blättert man nun die letzte Seite des Kapitels „Masterplanet“
menschlichen Außenpostens“ für „den Handel im Rahmen
mit seinen großartigen, mehr oder weniger ernst gemeinten
der Erd- und Weltraumsatelliten, für Wissenschaft, Quanten-
Vorsätzen um, stößt man unvermittelt auf das Kapitel „LEGO“
informatik, Bergbau und Tourismus“ zugrunde.149 Über dieses
mit Projekten von BIG, die in ein Miniaturformat übertragen
kolonialistische Programm hinaus sind die physikalischen
sind – ein gelinde gesagt grotesker Kontrast. Ingels vollzieht
Eigenschaften der Mondoberfläche im Hinblick auf eine
einen abrupten Sprung in die Kindheit und wechselt plötzlich
potenziell bewohnbare Umgebung interessant, denn „insbe-
den Maßstab, um in eine vollends beherrschbare Traumwelt
sondere die sehr geringe Schwerkraft und die monatlich
abzutauchen, die des Konstruktionsspielzeugs. Mit diesem
wiederkehrenden Tageszyklen“ bieten laut Ingels „die Mög-
erstaunlich banalen Ausklang bietet er selbst uns einen
lichkeit, die Art und Weise, wie wir arbeiten, spielen, leben
Schlüssel zum Verständnis. Nachdem er sich an die großen
und wachsen, auf dem Mond neu zu denken“.150 Das zweite
Herausforderungen gewagt hat, vor denen die Menschheit
Projekt Science City Mars ist der Prototyp einer „nachhaltigen
als Ganzes steht, sagt uns Ingels nun, dass alles Fiktion ist,
Stadt“ [sic!], der derzeit in Dubai entwickelt wird, um die
dass das Spiel eine Erkundung der Fantasiegebilde ermög-
Bautechnologien für eine künftige Marsbesiedlung zu
licht, die nötig sind, um von einer anderen Welt zu träumen:
erforschen, wobei die gleichen Technologien genutzt werden
„Was wir an LEGO lieben, ist, dass es kein Spielzeug ist, son-
wie auf dem Mond: „Bauroboter, Ausschachtung, 3D-Druck
dern ein Werkzeug – ein Werkzeug, das Kinder befähigt, ihre
und aufblasbare Membranen“.
151
Das Ziel ist, zunächst auf
der Erde einen Campus für Bildung und Technik, Wissenschaft und Landwirtschaft „in Verbindung mit der interplane-
eigene Welt zu erschaffen und diese Welt spielend zu bewohnen.“154 Dann zieht er eine Parallele zum Architekten: „Und genau das ist formgiving. Als menschliche Lebewesen
taren Entwicklung und Besiedelung“ zu bauen, um „Erfahrun-
haben wir die Macht – die Werkzeuge – der Zukunft, in der
gen auf den Gebieten Klimakontrolle, Sicherheit, Qualität
wir leben wollen, eine Form zu geben. Und wir vermögen
oder Konstruktion sowie der Resilienz der von Menschenhand
zu hören, zu sehen und zu lernen, wie das Leben unsere
geschaffenen Ökosysteme zu sammeln, die von unschätzbarem
Absichten immer übertrifft, um neue Wege zu entdecken
Wert sein werden, wenn wir endlich zum Mars gehen“, erläu-
und zu erkunden, wie wir mit der Welt, die wir geschaffen
tert BIG.
haben, zusammenleben können. Wenn Arbeit die Welt in
Endlich? Es fällt schwer, diesen akzelerationistischen Bestre-
Gang hält, dann lässt das Spiel sie über sich selbst hinaus
bungen zu folgen. Als müsste die Erde auf die Eigenschaften
wachsen.“155
152
des Mondes oder des Mars neidisch sein! Diese Projekte
Ingels sieht in der Figur des Architekten den Schöpfer einer
liegen ganz auf der Linie der größenwahnsinnigen Fantasien
neuen Welt, der frei genug ist, um sich über die reale Welt
von Multimilliardären wie Jeff Bezos (Gründer von Amazon)
hinwegzusetzen und sich von der Wirklichkeit freizumachen,
mit seinen Weltraumkolonien und mehr noch Elon Musk
indem er, wie ein Kind, seine grenzenlose Traumwelt erkundet.
(Gründer von Tesla und SpaceX), der von einem „Terrafor-
War also alles am Ende nur ein Kinderspiel?
ming“ des Mars träumt, der künstlichen Veränderung seiner
In diesem fiktionalen Prozess, den er „narrative design“ nennt,
Atmosphäre, um ihn bewohnbar zu machen, wenn die Erde
spielt Ingels mit der Zeit und zitiert den amerikanischen Science-
es nicht mehr ist.
Fiction-Autor William Gibson, der die Bewegung des Cyber-
In dem Band Formgiving folgt das Kapitel „Masterplanet“
punk einläutete: „Die Zukunft ist schon da, sie ist nur ungleich
auf diese beängstigenden utopischen Projekte. Mit unerhörtem
verteilt.“156 Genau darin liegt das Problem: Eines der größten
Optimismus und Selbstvertrauen hofft Ingels darauf, dass
Bedenken gegenüber dieser globalen Utopie besteht gerade
„in ein paar Jahren […] ein neuer Premierminister oder CEO
in der Frage der gerechten Verteilung, insbesondere des
den Masterplanet aus der Schublade zieht, wenn er ein
Reichtums und des Zugangs zur eminent „smarten“ Welt,
Klimaproblem angehen will, das in seine Zuständigkeit fällt,
von der Ingels träumt, gesteuert von jener künstlichen
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Bjarke Ingels Group (BIG): Masterplanet
129
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Intelligenz, die er als Allheilmittel für alle Probleme ansieht.
Formen der Natur – von den lebenden Organismen bis zu ihren
In einer solchen Cyberwelt droht das akzelerationistische
Lebensräumen – bedeutende Komponenten der Stadtform
Prinzip vom „Schaffen durch Zerstören“ eine Eigendynamik
und Teile der grünen Infrastruktur sind“.157 Während die
zu entwickeln, die nur verheerende Folgen haben kann.
Smart City sich dem Futurismus, der Moderne und den Akze-
Schaffen durch Zerstören – ein wiederkehrendes Hirngespinst, doch zu welchem Zweck?
lerationstheorien anschließt, verschreibt sich die Green City der Tradition der Gartenstadt und der „Rückkehr zur Ländlichkeit“, allerdings mitten in der Stadt. An der Frage der Be- oder Entschleunigung scheiden sich die Erneuerungs-
Die destruktive Dynamik, von der die Futuristen träumten in
konzepte.
ihrem Bestreben, reinen Tisch mit der Geschichte zu machen,
Die dem „Schaffen durch Zerstören“ innewohnende Be-
die auch bei Le Corbusier für die Entstehung der Ville Ra-
schleunigungsdynamik, die allen in diesem Kapitel präsen-
dieuse von zentraler Bedeutung war und nicht zuletzt von
tierten Beispielen eigen ist, katapultiert uns – im Modus eines
Schumpeter als schöpferische Kraft des Wirtschaftskapitalis-
Futurismus, der dem „schneller, höher, weiter“ gehorcht und
mus, der auf ständiger Erneuerung beruht, verteidigt wurde –
in einer Atmosphäre zwischen Beklemmung und Faszination
diese Dynamik hat sich inzwischen, mit verheerenden Folgen,
an Erhabenheit grenzt – in eine Zukunft ohne Bezugspunkte.
überall auf der Welt durchgesetzt. Die vom #Beschleuni-
Sind Vergangenheit und sogar Gegenwart einmal ausgelöscht,
gungsmanifest und von BIG propagierte zeitgenössische
braucht der ausschließlich nach vorn gerichtete Blick Fiktionen,
Beschleunigung, die sich auf einer globalen Hyper-Governance
die in die Zukunft projizieren, in eine ungewisse Zukunft zwar,
zur Bewältigung der Klima- und Umweltkrise stützt, ist eine
aber voller Versprechungen, die umso verlockender scheinen,
utopische Vision, die auf neuen Technologien aufbaut. Da sie
je vager sie sind. Allerdings kann die Beschleunigungsdynamik
letztlich auf die Wunschvorstellung der Expansion auf andere
wie bei Science-Fiction-Erzählungen leicht von der Utopie in
Planeten als Prothesen der völlig erschöpften Erde hinausläuft,
die Dystopie umschlagen.
dürfte sie, zumal auf diesem Niveau futuristischer Naivität,
Erstaunlicherweise findet das Phänomen der Beschleunigung
zumindest für die allermeisten Menschen Science-Fiction
heutzutage großen Anklang in der Architektur und Stadtpla-
bleiben.
nung. Umgekehrt ließ sich jedoch kein adäquates aktuelles
Angesichts des Beschleunigungsprozesses – sei er utopisch
Beispiel für Entschleunigung finden, das allen wesentlichen
oder real –, zu dem unser Planet verdammt zu sein scheint,
Aspekten (gesellschaftlichen, kulturellen, städtebaulichen,
erzwingt der dringende ökologische Wandel eine Gegendy-
architektonischen, ästhetischen und geistigen) gerecht wird
namik der Verlangsamung des Konsumrausches und der Ein-
und an die historischen Vorbilder (siehe Kap. „Zurück zur
dämmung der weltweiten Verstädterung, im Zuge derer
Ländlichkeit“) anknüpfen kann. Hat die Beschleunigungs-
Agrarflächen in exponentiellem Ausmaß vereinnahmt werden,
dynamik die Welt schon so weit erfasst, dass es auch wegen
um sie in bebaute Gebiete umzuwandeln. Die Frage der Ent-
der globalen wirtschaftlichen und finanziellen Interdependenz
schleunigung stellt sich im Spannungsfeld zwischen einer
schwierig geworden ist, eine Gegenströmung in Erwägung
zunehmend verheerenden Realität und dem Bewusstwerden
zu ziehen, die stark genug ist, um sich dem Strudel der fort-
der klimatischen, ökologischen und sozialen Dringlichkeit.
dauernden schöpferischen Zerstörung zu entziehen? Diese
Man könnte sogar behaupten, dass alle Positionierungen sich
Herausforderung gilt es anzupacken.
angesichts der ökologischen Krise irgendwo zwischen diesen beiden Polen bewegen: Entweder man strebt Beschleunigung und Hochtechnologie in Verbindung mit künstlicher Intelligenz oder Entschleunigung und ein Minuswachstum als Heilmittel an. Die Konzepte der „Smart City“ und der „Green City“ verkörpern diese beiden Haltungen. Die Green City wird definiert als „Stadt ,im Gleichgewicht mit der Natur‘, in der alle
130
Schaffen durch Zerstören
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Anmerkungen
Unzeitgemässen“, 118f. (Hervorh. im Original).
32 Ebd., 25.
17 Benito Mussolini, La filosofia della forza
33 Viviana Birolli, Antonio Sant’Elia et La Città
(postille alla conferenza dell’on. Treves), in:
Nuova: représenter la ville moderne, in: Livrai-
1 Vgl. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der
Il Pensiero romagnolo, Nr. 48, 49 und 50 vom
sons de l’histoire de l’architecture [online],
Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften,
29.11., 6.12. und 13. 12.1908. Zit. nach Enzo
32/2016, hochgeladen am 31.12.2018:
5. Aufl., Frankfurt a. M. 2009, Kap. II, 46.
Santarelli, Scritti politici di Benito Mussolini,
http://journals.openedition.org/lha/641; DOI:
2 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrach-
Mailand 1979, 99–109.
https://doi.org/10.4000/lha.641 (zuletzt am
tungen, in: Kritische Studienausgabe (KSA) in
18 Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht.
23.11.2020).
15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino
1884/1888. Versuch einer Umwerthung aller
34 Sie wurde vom 20. Mai bis 10. Juni 1914 im
Montinari, Neuausg., München 1999, KSA 1,
Werthe, Leipzig 1906. Nietzsches Schwester
Kunstverein Famiglia Artistica gezeigt;
157–510, hier 250.
brachte sein Werk an sich und verwendete die
https://exhibitions.univie.ac.at/exhibition/688
3 Ebd., 250f. (Hervorh. im Original).
Reste des Projekts Der Antichrist sowie den
(zuletzt am 25.4. 2023).
4 Ebd., 252 (Hervorh. im Original).
Titel Der Wille zur Macht, die Nietzsche ver-
35 Siehe Birolli. Par. 21.
5 Ebd., 253.
worfen hatte, für das vermeintliche „Haupt-
36 Paolo Amaldi, Architecture, Profondeur,
6 Gerhard Krüger, La philosophie à l’époque
werk“ des Philosophen, das sehr erfolgreich
Mouvement, Genf 2011, 348.
du romantisme, in: Archives de Philosophie,
war, obwohl es sich um einen fingierten
37 Vgl. Birolli 2018, 16.
74 (1), 2011, 83–99, hier 23: https://www.cairn.
Sammelband handelte.
38 Antonio Sant’Elia, Die futuristische
info/revue-archives-de-philosophie-2011-1-
19 „Nulla è vero, tutto è permesso!“, Benito
Architektur (1914), in: Asholt/Fähnders (Hg.),
page-83.htm (zuletzt am 22.2.2023).
Mussolini in: Francesca Belviso, Brève généa-
1995, 84– 87, hier 86.
7 Friedrich Nietzsche, Ecce Homo, in: KSA 6,
logie du nietzscheisme futuriste. Le surhomme
39 Ebd.
255–374, hier Kap. „Der Fall Wagner“, 362.
de Marinetti, entre approche politique et
40 Ebd., 87 (Hervorh. im Original).
8 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der
quête esthétique, in: Cahiers de la SIES, Nr. 2,
41 Filippo Tommaso Marinetti, zit. nach
Moral, in: KSA 5, 245 – 412, hier Zweite Ab-
2018: Le futurisme italien, entre l’art et la
Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter
handlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“
politique, 20–31, hier 23.
seiner technischen Reproduzierbarkeit
und Verwandtes, o. S. [291].
20 Filippo Tommaso Marinetti, Contro i
(1935/1936), Frankfurt a. M. 1963, Nachwort,
9 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissen-
professori (1910), in: Ders., Futurismo e
43. Als Quelle von „Marinettis Manifest zum
schaft, in: KSA 3, 343 – 651, hier Fünftes Buch,
fascismo, Foligno 1924, 28 (Mussolini gewidmet):
äthiopischen Kolonialkrieg“ (ebd.) erwähnt
Kap. „Was ist Romantik?“, 621.
„Er ist ein Passatist, der kühn über die Gipfel
Benjamin „La Stampa Torino“. Der Text erschien
10 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der
der thessalischen Berge schreitet, die Füße
1935 unter dem Titel „Estetica Futurista della
Tragödie, in: KSA 1, 9–156, hier 22 (Hervorh.
unglücklicherweise in langen griechischen
Guerra“ in der Turiner Monatszeitschrift Stile
im Original).
Texten verfangen.“
Futurista, Rivista Mensile.
11 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in:
21 Ebd.
42 Marinetti 1995, Punkt 9, 5.
KSA 3, 343 – 651, hier Erstes Buch, 2. Kap.
22 Filippo Tommaso Marinetti, Gründung und
43 In Anlehnung an den Wahlspruch der
„Das intellektuale Gewissen“, 373.
Manifest des Futurismus, in: Wolfgang
Juristen „Fiat iustitia et pereat mundus“ – „Es
12 Nietzsche im Vorwort zu Ecce homo, KSA
Asholt/Walter Fähnders (Hg.), Manifeste und
herrsche Gerechtigkeit, möge auch die Welt
6, 260 (Hervorh. im Original).
Proklamationen der europäischen Avantgarde
darüber zugrunde gehen“. Vgl. Susanne
13 Nietzsche, Ecce Homo, KSA 6, Kap.
(1909–1938), Stuttgart/Weimar 1995, 3– 7, hier
Stacher, Sublime Visionen. Architektur in den
„Warum ich ein Schicksal bin“, o. S. [365]
4 (Hervorh. im Original).
Alpen, Basel 2018, Kap. 4, 130.
(Hervorh. im Original).
23 Ebd., Punkt 4, 5 (Hervorh. im Original).
44 Benjamin 1963, o. S. [44] (Hervorh. im
14 In einem Brief an Helen Zimmermann vom
24 Ebd., 6.
Original).
8.12.1888 bezieht sich Nietzsche auf sein Werk
25 Ebd., Punkt 10, 5.
45 Dazu zählen der Wiederaufbau Londons
„Der Antichrist“, das 1896 veröffentlicht wird;
26 Ebd., Punkt 3, 5.
nach dem Großbrand im Jahr 1666, der von
in: Sämtliche Briefe, Kritische Studienausgabe
27 Ebd., Punkt 9, 5.
Noto auf Sizilien nach dem zerstörerischen
in 8 Bänden, hg. von Giorgio Colli und
28 Ebd., Punkt 8, 5.
Erdbeben von 1693 oder der Lissabons nach
Mazzino Montinari, Berlin u. a. 1986, Bd. 8, 512.
29 Ebd., 7.
der Katastrophe von 1755.
15 Ebd.
30 Nietzsche, So sprach Zarathustra, in:
46 Vgl. François Warin, Le Corbusier et l’esprit
16 Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung,
KSA 4, o. S. [11].
du temps, in: Revue de métaphysique et de
in: KSA 6, 55–161, hier Kap. „Streifzüge eines
31 Belviso 2018, 26.
morale, Nr. 4, 1970, 439 –451: http://allegresa
Anmerkungen zu Seite 99 –107
131
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 132
132
ber.e-monsite.com/pages/esthetique/le-cor
69 Le Corbusier und Jeanneret, Œuvre
92 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4,
busier-et-l-esprit-du-temps.html#_ftn21 (zu-
complète, Bd. 3, 46f.
Kap. „Vom höheren Menschen“ 20, 367.
letzt am 27.2. 2023).
70 Le Corbusier, zit. nach Jean-Baptiste
93 Le Corbusier 1982, 203.
47 Le Corbusier, Destin de Paris (1941), Paris
Michel, Paris: ce dont rêvait Le Corbusier pour
94 Vgl. ebd., 202.
1987, 11.
la rive droite, veröffentlicht am 18.7.2016
95 Ebd.
48 Le Corbusier, Städtebau, übers. u. hg. von
https://www.geo.fr/voyage/paris-plan-voisin-
96 Le Corbusier und Jeanneret, Œuvre
Hans Hildebrandt, 2. Aufl. (Faksimile-Wieder-
ce-dont-revait-le-corbusier-pour-la-rive-droite-
complète, Bd. 3, 31.
gabe der 1. Aufl. 1929), Stuttgart 1979, 78f.
161992 (aufgerufen am 18.3. 2023).
97 Vgl. Philip Ursprung, Die Kunst der Gegen-
49 Ebd., 87 (Hervorh. im Original).
71 Le Corbusier 1979, 134.
wart: 1960 bis heute, 4., überarb. Aufl.,
50 Le Corbusier und Pierre Jeanneret, Ville
72 Alle Zitate dieses Absatzes in ebd.
München 2019, 39.
contemporaine de trois millions d’habitants,
(Hervorh. im Original).
98 Den Begriff prägte Robin Evans 1970 in
o. J. (1922), in: Œuvre complète, hg. von Willy
73 Le Corbusier 1982, 202 (Hervorh. im Origi-
seinem Essay „Towards Anarchitecture“ als
Boesiger und Oscar Stonorov, 13. Aufl., Zürich
nal). Auch: „Baukunst oder Demoralisierung,
Antwort auf Le Corbusiers Manifest.
1991, Bd. 1: 1910 –1929, 34 –39, hier 34.
Demoralisierung und Revolution“ (ebd., 206).
99 Ihr gehörten Laurie Anderson, Tina
51 Ebd.
74 Ebd. (Hervorh. im Original).
Girouard, Suzanne Harris, Jene Highstein,
52 Ebd.
75 Le Corbusier und Jeanneret, Œuvre
Bernard Kirschenbaum, Richard Landry,
53 Le Corbusier in einem Brief an seine
complète, Bd. 1, 111.
Gordon Matta-Clark und Richard Nonas an.
Mutter vom 15. Mai 1930; zit. nach François
76 Ebd. Diese Vorstellung eines energischen
100 Zit. nach James Attlee, Towards Anarchi-
Chaslin, Un Corbusier, Paris 2015, 101.
Durchgreifens findet sich in dem 1939 erschie-
tecture: Gordon Matta-Clark and Le Corbusier,
54 Le Corbusier 1979, o. S. [233], Anm. 1.
nenen Sammelband Pleins pouvoirs von Jean
in: Tate Papers, Nr. 7, Spring 2007:
55 Chaslin 2015, 100.
Giraudoux wieder, wie François Chaslin erläu-
https://www.tate.org.uk/research/tate-pa
56 Vgl. ebd.
tert (Chaslin 2015, 174). Das zweite Kapitel des
pers/07/towards-anarchitecture-gordon-matta-
57 Le Corbusier, 1922, Ausblick auf eine
Bandes lässt rassistische und antisemitische
clark-and-le-corbusier (zuletzt am 14.3.2023).
Architektur, übers. von Hans Hildebrandt, neu
Tendenzen erkennen. 1939 wurde Giraudoux
101 Gordon Matta-Clark, Conical Intersect,
überarb. von Eva Gärtner, Braunschweig/Wies-
von der Regierung Daladier zum „Commissaire
16-mm-Stummfilm in Farbe, Ort: Paris, Rue
baden 1982, 206.
général à l’information“ ernannt, eine Art Pro-
Beaubourg, realisiert im Rahmen der Biennale
58 Le Corbusier und Pierre Jeanneret, „Plan
paganda-Minister, und war 1940 Präsident des
von Paris 1975, Kamera: Bruno de Witt, Ton:
Voisin“ de Paris, 1925, in: Œuvre complète,
„Conseil supérieur de l’information“, bevor er
Nicolas Petit Jean, Verleih: Light Cone, Samm-
Bd. 1: 1910 –1929, 109–121, hier 111.
im Januar 1941 in Ruhestand ging.
lung Centre Pompidou Nr. AM 1994-F1271.
59 Ebd.
77 Ebd., 105 (Hervorh. im Original).
102 Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips
60 Le Corbusier 1979, 138 (Hervorh. im
78 Ebd.
(1920), in: Gesammelte Werke XIII, Frankfurt
Original).
79 Ebd.
a. M. 1940, 4– 69, hier 21.
61 Ebd., 137.
80 Le Corbusier und Jeanneret, Œuvre
103 Ebd., 22. Wie in der Theoretischen Rah-
62 Ebd., 139.
complète, Bd. 3, 31.
mung dargelegt, stellte Freud die Hypothese
63 Ebd., 137.
81 Ebd., 46.
auf, „daß es im Seelenleben einen Wiederho-
64 Le Corbusier, Hinweis auf einem Plan, FLC,
82 Le Corbusier 1982, 171.
lungszwang gibt, der sich über das Lustprinzip
Nr. 29751.
83 Ebd., 105.
hinaussetzt“. Er war der Ansicht, dass das
65 Le Corbusier, 1929 – Feststellungen zu
84 Ebd., 203.
Lustprinzip und der Destruktionstrieb parado-
Architektur und Städtebau, hg. von Ulrich
85 Ebd. (Hervorh. im Original).
xerweise keinen Widerspruch darstellen, da
Conrads und Peter Neitzke, 2. Aufl., unveränd.
86 Le Corbusier und Jeanneret, Œuvre
die Selbstzerstörung eine Möglichkeit ist,
Nachdr., Gütersloh u. a. 2001 (EA 1964), 184.
complète, Bd. 1, 121.
innere Spannungen abzubauen, und das
66 Le Corbusier und Jeanneret, Œuvre
87 Le Corbusier 1982, 77.
Streben nach Lust manchmal nichts anderes ist
complète, Bd. 1, 114.
88 Le Corbusier 1979, 144.
als das Ende eines Schmerzes. „Wiederholungs-
67 Le Corbusier und Pierre Jeanneret,
89 Ebd., 144.
zwang und direkte lustvolle Triebbefriedigung
„Le plan de Paris 1937“, in: Œuvre complète,
90 Ebd.
scheinen sich dabei zu intimer Gemeinsam-
Bd. 3: 1934 –1938, 46f., hier 46.
91 Am Ende des Textes über den Plan Voisin;
keit zu verschränken.“ Gleichwohl kann der
68 Le Corbusier 1979, 136 (Hervorh. im
vgl. Le Corbusier und Jeanneret, Œuvre com-
Destruktionstrieb über den Umweg der
Original).
plète, Bd. 1, 115.
Sublimierung in produktive und künstlerische
Anmerkungen zu Seite 107 –119
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 133
Tätigkeiten umgewandelt werden.
am 16.3. 2023), Punkt 03.23.
142 Ebd.
104 Jacques Rancière, Die Aufteilung des
111 Williams/Srnicek 2014.
143 BIG 2020, Kap. „Big Leap“, 586.
Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Para-
112 Srnicek/Williams 2013, Punkt 03.1.
144 Ebd., Kap. „Thinking“, 20.
doxien, hg. von Maria Muhle, a. d. Französ.
113 Ebd., Punkt 03.22.
145 Ebd.
von Maria Muhle sowie Susanne Leeb und
114 Ebd., Punkt 01.1.
146 Ebd., Kap. „Big Leap“, 586.
Jürgen Link, 2., durchgesehene Aufl., Berlin
115 Ebd., Punkt 01.3.
147 Ebd., Kap. „Thinking“, 20.
2008, 61.
116 Ebd., Punkt 01.6.
148 Nach dem Vorbild der Müllverbrennungs-
105 Karl Marx führte den Begriff 1848 im
117 Ebd., Punkt 03.24.
anlage Amager Bakke in Kopenhagen (erbaut
Kommunistischen Manifest und erneut 1867 in
118 Ebd., Punkt 03.2.
2013 bis 2017), einem beliebten Ausflugsziel,
Das Kapital ein. Er bringt zum Ausdruck, dass
119 Ebd., Punkt 03.22.
da sie auf dem Dach über eine Skipiste verfügt.
eine neue Wirtschaftsordnung die alte ablöst,
120 Ebd.
149 BIG 2020, Kap. „Moon – City of New
so, wie der Kapitalismus die feudale Produkti-
121 Ebd., Punkt 03.24.
Hope“, 592.
onsweise abgelöst hat.
122 Ebd., Punkt 03.22.
150 Ebd.
106 Vgl. Hugo Reinert, Erik Reinert, Creative
123 Ebd., Punkt 03.14.
151 Ebd., Kap. „Science City Mars“, 612.
Destruction in Economics: Nietzsche, Sombart,
124 Ebd., Punkt 03.21.
152 Ebd.
Schumpeter, in: The European Heritage in
125 Ole Scheeren: Die Realität der Möglich-
153 Nugent 2020.
Economics and the Social Sciences, 11.9.2006:
keiten, Jeanette Kunsmann und Stephan
154 BIG 2020, Kap. „Play“, 674.
https://www.researchgate.net/publication/226
Burkoff im Gespräch mit Ole Scheeren, in:
155 Ebd.
027214_Creative_Destruction_in_Economics_
baunetz interior|design, 22. 5. 2018:
156 Ebd. Der Begriff „Cyberspace“ spielt in
Nietzsche_Sombart_Schumpeter/ (zuletzt am
https://www.baunetz-id.de/menschen/ole-
seinem ursprünglichen Kontext darauf an,
16.5. 2023).
scheeren-die-realitaet-der-moeglichkeiten-
dass bestimmte Dinge, die für Menschen in
107 Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus,
18401257 (zuletzt am 16.3.2023).
der Zukunft zum Alltag gehören werden,
Sozialismus und Demokratie, übers. von
126 Smart City Taiwan: https://www.twsmart-
schon heute für einige existieren. Die meisten
Susanne Preiswerk u. a., 7., erw. Aufl., Tübin-
city.org.tw/en (zuletzt am 6. 4.2023).
Veränderungen werden, zumindest kurz- oder
gen/Basel 1993, 137.
127 Srnicek/Williams 2013, Punkt 03. 22.
mittelfristig, lediglich darin bestehen, dass
108 Ebd., 137f. (Hervorh. im Original).
128 BIG, Formgiving. An Architectural Future
Dinge, die heute ein Nischendasein führen
109 Alex Williams und Nick Srnicek: „Nous
History, Köln 2020.
oder eine untergeordnete Rolle spielen, eine
avons perdu le fil du futur“, in: Libération,
129 Ebd., Kap. „Masterplanet“, 632.
große Verbreitung erfahren.
17.10.2014, Interview mit Marie Lechner:
130 Ebd.
157 Vgl. Jürgen Breuste, The Green City:
https://www.liberation.fr/france/2014/10/17/no
131 Ebd.
General Concept, in: Jürgen Breuste, Martina
us-avons-perdu-le-fil-du-futur_1124088 (zuletzt
132 Ebd.
Artmann, Cristian Ioja, Salman Qureshi (Hg.),
am 16.3. 2023): „Reinen Tisch zu machen ist
133 Ciara Nugent, The Climate is Breaking
Making Green Cities. Concepts, Challenges
eine attraktive und romantische Option, aber
Down. Architect Bjarke Ingels Has a Masterplan
and Practice, Cham 2020, 1–15, hier 3.
sie wirft ernsthafte Probleme auf und scheint
for That, in: Time.com, 21.10. 2020:
eine unmögliche Aufgabe zu sein.
https://time.com/collection/great-reset/
Die Infrastrukturen des Kapitalismus – von der
5900743/bjarke-ingels-climate-change-archi
Logistik bis zum Finanzwesen –, seine Pro-
tecture/ (zuletzt am 20. 3. 2023).
duktions- und Vertriebssysteme bilden unsere
134 Ebd.
materielle Grundlage. Selbst im Falle einer
135 BIG 2020, Kap. „Making“, 8.
totalen Zerstörung wäre das Ergebnis nicht
136 Nugent 2020.
eine progressive sozialistische Politik, sondern
137 Ebd.
Chaos, Tod und Elend.“
138 Bjarke Ingels, Masterplanet by BIG, Vortrag
110 Nick Srnicek und Alex Williams, #Be-
an der Columbia University (GSAPP), 4.5. 2020:
schleunigungsmanifest für eine akzelerationis-
https://readingoffice.com/masterplanet-by-
tische Politik (2013), übers. von Samir Sellami
big/ (zuletzt am 21.3.2023).
und Frederik Tidén, online: https://www.desig
139 Nugent 2020.
ning-history.world/beschleunigungsmanifest-
140 Ebd.
fuer-eine-akzelerationistische-politik/ (zuletzt
141 Ebd.
Anmerkungen zu Seite 119 –130
133
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 134
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 135
Robert Delaunay und Felix Aublet, Innenausstattung der kegelstumpfförmigen Halle des Palais de l’Air, realisiert von der Association Art et Lumière, Architekten: Audoul, Hartwig, Gerodias, Exposition Internationale des Arts et Techniques, Paris, 1937; im Vordergrund: verschiedene Flugzeugmotoren; Fotograf: Henri Baranger
4
Wiederverzauberung der Welt Aufhebung der Zeit durch einen Sprung in die Zukunft
Zeit: Aufhebung der Zeit Psychologie: Lebenstrieb und Verdrängung Modus Operandi: Einklammerung der Krise zwecks Projizierung in die Nachkrisenzeit
Nach einer Krise oder einer großen Katastrophe, wie sie ein
erachtete Vorstellungen abweist und vom Bewusstsein fernhält.
Krieg darstellen kann, drängt sich die Frage der Identität und
Es sei auch an das Postulat „zu allem Handeln gehört Verges-
der Kultur als Seele einer Gesellschaft geradezu zwingend
sen“ von Nietzsche erinnert,2 der damit auf die lähmende
auf. Wie lässt sich in einer Gesellschaft nach einer Krise oder
Wirkung des Wissens um die Vergangenheit verwies; mithin
einem Konflikt unser kollektives „Sein“ wiederaufbauen, wie
sollten wir uns des Geschichtssinns und der Erinnerung entle-
können die Sehnsüchte nach einem besseren Leben in Frieden,
digen, wenn Letztere uns zu schaden beginnt, lautete die
in Resonanz mit der Gesellschaft und im Gleichgewicht mit
Schlussfolgerung des Philosophen noch vor Freud und dessen
der Umwelt erfüllt werden? Die Antworten fallen den jeweiligen
Theorie der Verdrängung. In diesem Kapitel steht also nicht
Herausforderungen und Bedürfnissen einer Epoche entspre-
das „reinen Tisch machen“ im Fokus, sondern die „Verdrän-
chend unterschiedlich aus.
gung“ als psychische Abwehrstrategie gegen den durch
Der Wunsch nach einer Wiederverzauberung der Welt während
große Krisen ausgelösten Destruktionstrieb, wodurch der
oder nach einer Krise gehorcht einer von den Lebenstrieben
Lebenstrieb wieder die Oberhand gewinnen kann. Welche
befeuerten Dynamik der Selbsterhaltung, Selbstliebe und
Werkzeuge haben Architekt:innen zur Hand, um die Vision
Nächstenliebe, die Freud „Eros“ oder „Libido“ nennt. Es ist
einer besseren Welt zu entwerfen? Inwieweit können Architek-
der Versuch, das Zersprengte wieder zusammenzufügen,
turprojekte eine politische Dimension haben und konkret auf
indem der Destruktions- und Spaltungstrieb neutralisiert wird.
unser Leben einwirken?
Der vereinigende Lebenstrieb kann mit Verdrängung einher-
Der Vorgang der „Wiederverzauberung der Welt“ weist eine
gehen, deren Wesen Freud zufolge „nur in der Abweisung
doppelte Zeitdimension auf und besteht zunächst aus einer
und Fernhaltung vom Bewußten besteht“.1 Verdrängung ist
Aufhebung der Zeit, um sich dem Hier und Jetzt zu entziehen,
die priorisierte Form der Triebabwehr und ein Vorgang, bei dem
und anschließend aus einer Projektion in eine bessere Zukunft.
das Subjekt als unangenehme und als mit dem Ich unvereinbar
Wie schlägt sich diese zeitliche Doppelbewegung bei den
Anmerkungen Seite 166
Aufhebung der Zeit durch einen Sprung in die Zukunft
135
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 136
Architekt:innen und in deren Werken nieder? Welche – insbe-
vorlegten, beherbergt das Mundaneum die fünf traditionellen
sondere ästhetischen – Werte transportieren Letztere?
Institutionen der geistigen Arbeit: Bibliothek, Museum, Wis-
Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen Kultur und Gesellschaft.
senschaftliche Gesellschaft, Universität und Institut internatio-
Dabei wird untersucht, wie die Weitergabe von Wissen, Ideen
naler Vereine. Am Anfang seiner Ausführungen geht Otlet auf
und moralischen Werten etwa nach dem Zusammenbruch
die Problematik der Globalisierung ein und unterstreicht die
einer Gesellschaft vorgenommen wird. Wie können Bücher,
zunehmende wechselseitige Abhängigkeit der Gemeinschaf-
Kunst, Kommunikation und kultureller Austausch gefördert
ten, Völker und Nationalitäten – eine Interdependenz, die der
werden, um einen erneuten Zusammenbruch, einen neuerlichen
Krieg deutlich vor Augen geführt hat. Dann zieht er eine Bilanz
Krieg zu verhindern? Wie kann ferner die Emanzipation der
der Zerstörungen: „An Menschen: 7 Millionen Tote und ebenso
Arbeiterklasse ermöglicht oder eine Dynamik des partizipato-
viele Verwundete; an Sachen: Verwüstung und Vernichtung von
rischen Lernens durch den Entwurf von „Palästen“, die der
Gütern im Wert von 1500 Milliarden Goldfranken. Die Welt
Kultur geweiht sind, in Gang gesetzt werden? Was versteht
wurde nicht nur erschöpft, sondern auch zutiefst zerrüttet zu-
man dann unter „Kultur“? Welche neue Gesellschaft soll
rückgelassen. […] Der Völkerbund – ein weiterer Beweis der
errichtet werden? Die zweifache Handlung im Vorgang der
Interdependenz – ist kraft eines regelrechten soziologischen
Wiederverzauberung zielt auf einen solchen Gesellschaftsent-
Determinismus eine logische Folge des Krieges.“3
wurf: Durch Fernhalten entzieht man sich dem Hier und Jetzt
Otlet erläutert das Projekt also zunächst im globalen Maßstab
und die Zeit wird aufgehoben; außerhalb der Zeit gelingt es
der Menschheit, danach geht er auf die apokalyptische Zer-
schließlich, sich in einen Nachkrisenraum zu projizieren, dem
störung der Menschheit durch den Krieg ein und richtet das
man einen neuen Zauber zu verleihen versucht.
Augenmerk zum Schluss auf die Erneuerung, die in der Schaf-
Paul Otlet und Le Corbusier: Weltmuseum und Museum mit unbegrenztem Wachstum, 1928/1939
fung einer internationalen, überstaatlichen Organisation als
Mundaneum Zehn Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entwickelte der Universaldenker Paul Otlet zum Gedenken an das Ende des Krieges und zur Feier der Gründung des Völkerbundes in Genf, dessen Aufgabe die Aufrechterhaltung der Eintracht unter den Nationen sein sollte, die Pläne für eine „Cité Mondiale“, eine Weltstätte unter dem Namen Mundaneum. Der belgische Philosoph, Begründer der modernen Dokumentationswissenschaft, Sozialist und überzeugte Pazifist war schon vor dem Krieg in Vereinigungen aktiv gewesen, die sich für den Frieden und für Kulturbelange einsetzten. Otlet ging von der Idee aus, dass profunde Kenntnisse über die Kulturen aller Länder und die Schaffung einer gemeinsamen, allen Menschen zugänglichen Sprache des Wissens einen Beitrag auf dem Weg zum Frieden leisten könnten. Er wandte sich daraufhin an Le Corbusier, der ein Konzept entwickeln sollte, das seinen Ideen Gestalt verlieh. Laut Präsentationsbroschüre, die Otlet und Le Corbusier 1928
136
Wiederverzauberung der Welt
Le Corbusier, Weltbibliothek im Mundaneum von Genf, Pläne und Schnitt, 1928
Anmerkungen Seite 166
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 137
Garantin für den Frieden besteht. Die Globalisierung und Interdependenz, die Otlet feststellt, veranlassen ihn zum Entwurf eines transkulturellen Bildungsprojekts, das ein Tempel für Kultur und Geist im globalen Maßstab sein soll. Für die Etablierung einer gemeinsamen Sprache: die Weltbibliothek Das Mundaneum ist als Plattform konzipiert, welche die internationalen Vereinigungen empfangen soll, deren Ziel „die Regulierung, Vereinheitlichung, Standardisierung, Terminologie und eine gemeinsame Sprache“ ist,4 den Prämissen für eine globale Verständigung, um einen neuen Weltkonflikt zu verhindern. Der Philosoph, der für seine umfangreiche Sammlung von Büchern, Zeitungen, Bildern und Postkarten bekannt war, träumte von einem ehrgeizigen Projekt, um Wissensträger aus der ganzen Welt mithilfe der seinerzeit völlig neuen Informationstechnik des Mikrofilms, der auf Leinwand projiziert werden konnte, zugänglich zu machen. Sein visionäres Vorhaben bestand in der Einrichtung einer Weltbibliothek, die als „gemein-
Paul Otlet, Mondothèque, Arbeitstisch mit integrierter Projektionstafel für das Mundaneum, 1930
sames Zentrum“ dienen und möglichst alle Sammlungen einer Universalbibliothek unter einem Dach vereinen sollte, also nicht nur Bücher, sondern allerlei Arten von Trägern: „Musikalien, Fotografien, Drucke, Kinofilme, Grammophonplatten usw.“ – auch sie in den Lesesälen auf Leinwänden zugänglich. Otlet entwickelte ein ausgeklügeltes Karteikartensystem und plante, einen internationalen Verleih einzurichten: „Der Nutzen eines Weltdokumentationszentrums sollte nicht nur für die Gegenwart bedacht werden, sondern auch für die Zukunft. Die Herrscher, Fürsten und Liebhaber konnten kaum ahnen, als sie in den vergangenen Jahrhunderten ,ihre Bibliotheken‘ einrichteten, dass daraus die großen Buch-Institutionen unseres Jahrhunderts hervorgehen würden. Was wissen wir schon davon, was in fünfzig oder hundert Jahren aus einem großen Weltmagazin hervorgehen wird? Wir können das nicht im Detail beantworten, aber wir vertrauen darauf, dass die Zukunft ein fruchtbarer Boden sein wird.“5
Paul Otlet, Schrank im Mundaneum, Fotograf: Stefaan Van der Biest, 2016
Die Bibliotheksklassifikation, die Otlet erfand, ist zum Standard geworden und wird noch heute verwendet, gleiches
der Klassifikation und des Teilens von Wissen einzurichten,
gilt für die internationale Vernetzung der Bibliotheken. Lange
kann Otlet als einer der Vordenker des Internets und vor
vor dem Internetzeitalter erkannte der utopische Visionär
allem von Wikipedia angesehen werden. Die Etablierung
die Notwendigkeit, ein Netzwerk für den Datenaustausch
einer gemeinsamen Sprache für die Völkerverständigung lässt
zu schaffen. Mit seinem Bestreben, ein universelles System
an den legendären Turmbau zu Babel denken: Nach den
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Paul Otlet und Le Corbusier: Mundaneum, Weltbibliothek
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Ziel ist „die systematische Demonstration der ganzen Wirklichkeit an einem Punkt“, nämlich in einem „Weltmuseum, das ein Museum der Enzyklopädie und der Synthese ist, angelegt als Instrument der Wissenschaft, des Studiums und der Kultur, damit bei allen Menschen, allein durch das von ihm gebotene Schauspiel, die großen und erhabenen Eindrücke wieder erweckt werden, die eine Entdeckung des weiten Universums, in dem wir uns bewegen, auslösen kann.“8 Für die Umsetzung dieser hehren Le Corbusier, Mundaneum in Genf, 1928, Perspektive Rechts: Genfer See, links: Mundaneum mit Weltmuseum in Pyramidenform, Bibliothek, Forschungsinstitut, Haus der Vereinigungen, Universität, Sportanlagen usw.
Ziele der weitläufigen „Weltstätte“ entwarf Le Corbusier eine archetypische Anlage, die
Wirren und Schrecken des Krieges wollte Otlet einen neuen
von einer babylonischen Tempelstadt inspiriert war. Die ge-
Turm errichten, in der Hoffnung, wieder zu einer gemeinsa-
samte Komposition basiert auf Rechtecken des Goldenen
men Sprache zu finden.
Schnitts, „sodass eine große Einheitlichkeit und harmonische Proportionen herrschen“,9 so der Architekt in seinem Präsen-
Das Weltmuseum
tationstext. Er schreibt das Bauwerk in eine absolute Geome-
Otlets Weltmuseum ist als Herzstück des Mundaneums dazu
trie ein, damit die vier Ecken „ganz genau die vier Himmels-
bestimmt, „eine Demonstration des gegenwärtigen Zustands
richtungen anzeigen“.10 Das Gelände hat seinen höchsten
der Welt, [und] ihres komplexen Mechanismus […] zu sein.
Punkt am Standort des Weltmuseums.
Der umfangreiche Weltinhalt wird nach den drei Kategorien
Den Höhepunkt der Komposition bildet das Weltmuseum, für
Werk, Zeit und Ort in drei entsprechenden Reihen von Abtei-
das Le Corbusier eine siebenstöckige, quadratische Zikkurrat
lungen präsentiert und erläutert.“6 Diese programmatische
vorschlägt, die in den Himmel aufragt – eine Art Turm zu
Idee ist maßgeblich für die Raumplanung, denn sie erfordert
Babel, der von den Rekonstruktionszeichnungen des Sargon-
eine besondere Anordnung: Anders als die in den Museen
Palastes in Chorsabad von Perrot und Chipiez inspiriert ist.
übliche wird sie von der Zeitachse bestimmt, die sich räumlich
Mit dem Unterschied, dass Le Corbusiers Stufenpyramide
in der Architektur niederschlägt. Dazu sei angemerkt, dass dem
durch eine Reihe von Pfeilern über den Boden gehoben wird,
Philosophen kein Museum im eigentlichen Sinne vorschwebte,
die den Blick bis zu den Bergen freigeben und eine Schwebe-
sondern eher ein Idearium und ein Useum: „Vom alten Muse-
wirkung erzeugen. Diese Losgelöstheit vom Boden bringt die
umskonzept werden wir lediglich die Idee des Zeigens und
gewohnte Wahrnehmung ins Wanken und verleiht der arche-
des beständigen Zugangs für alle beibehalten.“ Im Unterschied
typischen Form eine Leichtigkeit und seltsam moderne Er-
zum herkömmlichen Museum geht es hier nicht darum, zu
scheinung, was durch die Materialität – statt Ziegel, Stein
bewahren, sondern darum, zu erklären, um das Vermitteln von
oder sogar Beton werden Glas und Stahl verwendet – noch
Zusammenhängen – auch dies eine bahnbrechende Idee.
verstärkt wird. Um die erste Stufe der Zikkurrat herum erstreckt
Otlets Useum ist der Nutzung gewidmet und sein ehrgeiziges
sich eine dünne Überdachung auf Pfosten, die sich zu beiden
7
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Wiederverzauberung der Welt
Anmerkungen Seite 166
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Le Corbusier, Weltmuseum im Mundaneum von Genf, 1928, Perspektive
Seiten des Pyramidenkorpus hinaus verlängert und so einen
Wie dieses Exposee durch eine unmittelbare Visualisierung
Platz für den Empfang der Besucher:innen bildet.
synchronisieren? Denn sie wird erst wirklich ergreifend und
Die Pyramide ist über eine Außenrampe und über einen
nützlich sein, wenn sie unmittelbar erfolgt.“11
Schrägaufzug zugänglich, der die Besucher:innen nach oben
Dafür unterteilt Le Corbusier die Ausstellungsflächen in drei
befördert; von dort gelangen sie ins Innere des Museums,
Bereiche (Werk, Zeit, Ort), die den Raum und die Form der
wo sich ihnen ein Blick über alle Stockwerke eröffnet, die sich
Präsentation der Menschheitsgeschichte gliedern:
spiralförmig um ein großes Atrium anordnen. Le Corbusier
„Drei Hauptschiffe erstrecken sich parallel nebeneinander,
gestaltet den Innenraum entsprechend den drei von Otlet ersonnenen Kategorien Werk, Zeit und Ort und knüpft an den erhabenen Tonfall von dessen Kernaussage an („damit bei allen Menschen […] die großen und erhabenen Eindrücke wieder erweckt werden, die eine Entdeckung des weiten Universums, in dem wir uns bewegen, auslösen kann“), indem er mitbedenkt, was die Besucher:innen in einem solchen Gebäude empfinden mögen: „Und jetzt, nach der kollektiven Tätigkeit, nach der guten oder schlechten Organisation, ist der Mensch allein im Angesicht des Universums. Der Mensch in der Zeit und am Ort. Die Werke des Menschen werden exakt in die Zeit ihrer Erschaffung und an die Orte ihrer Entstehung zurück versetzt. Das Werk. Die Zeit. Der Ort.
Anmerkungen Seite 166
Le Corbusier, Organisationsschema Weltmuseum, Mundaneum in Genf, Zeichnung, 1928
Paul Otlet und Le Corbusier: Mundaneum, Weltmuseum
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Seite an Seite, ohne Wände, die sie voneinander trennen.
Jahre später. Die Weltkarte wächst, verändert sich, zittert
In einem der Schiffe des Menschen Werk, das die Tradition,
wie eine in Zeitlupe gefilmte Blüte. Was für eine Lehre!“13
die ehrfürchtige Erinnerung oder die Archäologie uns her-
Für die räumliche Umsetzung dieses Programms sieht
gebracht haben; im angrenzenden Schiff alle Dokumente,
Le Corbusier vor, das Mittelschiff – die Zeitachse – auf einem
welche die Zeit, die Geschichte zum betreffenden Zeitpunkt
niedrigeren Niveau zu halten als die benachbarten Abteilungen
festhalten werden, visualisiert durch Grafiken, überlieferte
und an den Seiten zu verglasen, um das einfallende zenitale
Bilder, wissenschaftliche Rekonstruktionen usw. Und direkt
Licht in den Ausstellungsraum zu leiten. Ganz unten in
daneben das dritte Schiff mit allem, was uns die Orte, ihre
der Pyramide befindet sich in der Mitte ein runder Raum,
unterschiedlichen Bedingungen, ihre natürlichen oder
den Le Corbusier in feierlichen und geheimnisvollen Tönen
künstlichen Erzeugnisse usw. zeigen werden.“
beschreibt:
12
Für die Spiralform spricht die beeindruckende Menge an
„Aber ganz unten, am Boden, erkennt er [der Besucher],
Dokumenten, die im Lauf der Geschichte immer zahlreicher
von einem fernen Licht angestrahlt, auf bloßer Erde eine
werden. Der Rundgang beginnt mit der Vorgeschichte an der
kreisförmige Einfriedung, eine hohe glatte Mauer um etwas
Spitze der Pyramide, wo die Spirale eng zusammengerollt ist,
herum: Es ist das Sacrarium. […] Er betritt den runden,
während sich beim Abstieg Zeit und Form immer weiter ent-
glatten und stillen Raum, den er von oben erblickt hat, und
falten. Die Spirale wird allmählich breiter und bietet immer
findet darin die Figuren der großen Eingeweihten, die bei
mehr Platz für jüngere und besser dokumentierte Epochen.
ihrem Erscheinen in Stein gemeißelt wurden von der Hand
Das räumliche Prinzip der dreischiffigen Anordnung ist innova-
derer, die sie anbeteten, und die die Menschheit im Verlauf
tiv, denn es gewährleistet eine ununterbrochene, fließende
ihres Weges mit ihrer ganzen mystischen Kraft und ihrem
räumliche Kontinuität.
Bedürfnis nach Erhebung, Selbstverleugnung und Selbst-
Le Corbusier ist begeistert von diesem Konzept der Struktu-
losigkeit aufgeladen hat. Große und unbestreitbare Momente
rierung von Geschichte und von der dynamischen Art und
der Menschheitsgeschichte.“14
Weise, sie auf ein räumliches Prinzip zu übertragen, denn die
Im Sacrarium – im Angesicht der berühmten Persönlichkeiten
Geschichte ist, wie auch die Auffassung davon, nie statisch,
der Geschichte – scheint die Zeit stillzustehen. Nicht mehr die
sondern immer im Wandel begriffen:
Kirche vermittelt ein derart zeitloses Gefühl von Größe, son-
„Alles ist miteinander verknüpft; jede wahnsinnige, egoisti-
dern ein profaner, der Universalkultur geweihter Raum, dessen
sche, waghalsige oder selbstlose Tat hat Folgen; diese
Aufgabe es ist, uns Menschen in die große Geschichte einzu-
zeitigen sich sofort oder erst hundert oder zweihundert
schreiben.
Le Corbusier, Skizze der Eingangshalle des „Musée esthétique“, Februar 1936
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Wiederverzauberung der Welt
Le Corbusier, Modellfoto des Museums mit unbegrenztem Wachstum, 1939, Fotograf: Lucien Hervé
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Dem Weltmuseum stellt Le Corbusier die Weltbibliothek zur
nach dem Siegeszug des Internets, errichtete der belgische
Seite, die im Gegensatz zum Museum nichts Tempelartiges
Staat in Mons ein Mundaneum, in dem die Sammlung Paul
hat. Sie gleicht einer gigantischen funktionalen (und funktio-
Otlets untergebracht ist und das die visionären Vordenker des
nalistischen) Maschine, die ein großes internationales Archiv
Internets würdigt.
aus Karteikarten-, Mikrofiche-, Akten-, Dokumenten- und Büchersammlungen sowie mehrere Lesesäle in den oberen Stockwer-
Museum mit unbegrenztem Wachstum
ken beherbergt. Aufzüge in Glasschächten und eine große geschwungene Rampe für die Besucher:innen verleihen dem
Die Kultur und die Menschheitsgeschichte in den Mittelpunkt
Gebäude die Merkmale eines hochmodernen Nutzbaus. Beide
eines Museumsprojekts zu stellen, eröffnet zugleich die Mög-
Bauten, das Weltmuseum in babylonisch anmutender Zikkurat-
lichkeit, Krisen, Kriege und Katastrophen in einen größeren
Gestalt und die Weltbibliothek in Maschinen-Gestalt, sind räum-
zeitlichen Zusammenhang zu stellen. Das verändert die Zeit-
liche Verkörperungen der utopischen Ideen Otlets, die humani-
wahrnehmung, und so scheint die Gegenwart angesichts der
stisch, universalistisch und futuristisch in einem sind.
großen Geschichte wie aufgehoben zu sein.
Das Mundaneum in Genf wurde nie realisiert, aber immerhin
Nach dem Ersten Weltkrieg stellte sich ein solcher notwendi-
konnte Paul Otlet zusammen mit Henri La Fontaine (mit dem
ger Moment des Stillstands der Zeit ein, und es wurden neue
er 1895 das Office International de Bibliographie gegründet
Narrative ersonnen, die auf dem gesellschaftlichen, techni-
hatte) 1920 in Brüssel einen Raum einrichten, in dem eine
schen, wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt gründeten
Kurzpräsentation des Weltmuseums und der Weltbibliothek
mit dem Ziel, Frieden zwischen den Völkern zu stiften.
gezeigt wurde. Ihr Museum wurde allerdings 1934 geschlossen.
Le Corbusiers Musée à croissance illimitée oder „Museum mit
Otlet beteiligte sich daraufhin an der Eröffnung des Munda-
unbegrenztem Wachstum“ ist eine Weiterentwicklung des
neum Institute in Den Haag, das sein Freund Otto Neurath ins
Weltmuseums. Es spiegelt den Wunsch nach unbegrenzter Er-
15
Leben gerufen hatte – der österreichische Philosoph, Sozio-
weiterbarkeit wider, deren Voraussetzung eine friedliche und
loge und Ökonom war der Begründer des Gesellschafts- und
in vollem Wachstum begriffene Welt ist – ein idealistischer
Wirtschaftsmuseums in Wien und floh nach dem „Anschluss“
Wunsch, der trotz des sich anbahnenden Krieges als Versuch
1938 ins Exil nach Holland. Zwei Jahre später, als die Deutschen
einer Wiederverzauberung der Welt zu werten ist. Le Corbu-
in die Niederlande einmarschierten, wurde auch dieses Insti-
sier war fasziniert vom Raumprinzip des Weltmuseums und
tut geschlossen. Otlet verfiel während des Zweiten Weltkriegs
dessen Spiralform, die mit der Idee einer universellen Kultur
in Depression und Wahnsinn und starb 1944. Im Jahr 1998,
verbunden ist. Die Frage der – im Prinzip unbegrenzten –
Le Corbusier, Modellfotos des Museums mit unbegrenztem Wachstum, 1939, Fotograf: Lucien Hervé
Anmerkungen Seite 166
Le Corbusier, Modellfotos des Museums mit unbegrenztem Wachstum, 1939, Fotograf: Lucien Hervé
Le Corbusier: Museum mit unbegrenztem Wachstum
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Erweiterbarkeit eines solchen Museums (wie sollte man der Anhäufung von Wissen und Erkenntnissen Einhalt gebieten können?) spornte ihn dazu an, diesen räumlichen Archetypus weiterzuentwickeln. Für die Weltfachausstellung Exposition Internationale des Arts et Techniques dans la Vie Moderne 1937 in Paris entwirft er den Prototyp eines „Museums mit unbegrenztem Wachstum“ als flache Spiralform, um spätere Erweiterungen zu ermöglichen: „Die modernen Zeiten brachten bisher das Problem des Wachstums (oder der Erweiterung) von Gebäuden mit sich, ohne echte Lösungen zu erhalten.“16 Er dachte sich eine endlose, räumlich wie baulich exponentiell wachsende Architektur aus, ähnlich einem Schneckengehäuse oder der Fibonaccifolge, und verband sie mit dem Goldenen Schnitt, wie eine seiner Skizzen zeigt. Das Museum mit einer anfänglichen Seitenlänge von 25 oder 50 Metern basiert auf denselben Gliederungsprinzipien wie das Weltmuseum, nur dass die flache Spiralform hier als unvollendetes Fragment gedacht ist und – anders als bei der starren Pyramidenform – nachträgliche Erweiterungen ermögLe Corbusier, Skizze für das Museum mit unbegrenztem Wachstum, 1939
licht. Ein Modellfoto zeigt eine Reihe von genormten Trägern, die in Erwartung einer Vergrößerung aus dem Gebäude herausragen, wodurch dann später die Außenfassade in eine Innenwand umgewandelt wird. Am Boden lagern vorgefertigte Balken und können jederzeit montiert werden. Aus Kostengründen plante Le Corbusier eine vollständige Standardisierung der Bauteile: „Ein Pfosten, ein Balken, ein Deckenelement, ein Element für die Tagesbeleuchtung, ein Element für die Nachtbeleuchtung. Das Ganze wird durch Verhältnisse des Goldenen Schnitts geregelt, die einfache, harmonische, unbegrenzte Kombinationen gewährleisten.“17 Obwohl beliebig erweiterbar, ist die sich um sich selbst windende Spirale vor allem ein Archetypus, eine Stilfigur des endlosen Wachstums, aber auch der Beschleunigung. Insofern hat diese Form schon fast etwas Barockes: „Von Bramante bis Borromini“, so Arnaldo Bruschi, „ist die Komposition eine Struktur unter Spannung, auf der einerseits die Zentrifugalkraft der Leere im Inneren und andererseits die Zentripetalkraft der raumumhüllenden Masse lastet.“18 Und für Paolo Portoghesi gleicht der barocke Raum auf der Wahrnehmungsebene einem „konzentrischen rotierenden Feld, das die Wand-
Le Corbusier, Skizze des Organisationsprinzips des „Musée esthétique“ für die Weltfachausstellung Arts et Techniques 1937 in Paris, 1936
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Wiederverzauberung der Welt
flächen krümmt“.19 Die Spiralform und das Spiel mit den konvexen und konkaven Formen sind aber nicht nur in barocken Innenräumen zu finden, sondern auch außen wie bei der
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Universitätskirche Sant’Ivo alla Sapienza in Rom, wo Borromini die Turmspitze als sich emporwindende Spirale gestaltete,
Die Pariser Weltausstellung Arts et Techniques von 1937 als Heilmittel gegen die Krise
um das universelle Wissen zu symbolisieren. Nicht nur, dass Le Corbusiers Museum diesem Muster des rotierenden Span-
Le Corbusiers Museumsprojekt kann nicht losgelöst vom
nungsfeldes folgt, das zentrifugal und zentripetal zugleich ist,
damaligen Kontext der internationalen Krisen von Wirtschaft
hier spielt die symbolische Dimension einer universellen Kultur
und Politik betrachtet werden. Mussolini kam 1922 in Italien
ebenfalls eine Schlüsselrolle.
an die Macht, Hitler 1933 in Deutschland; 1934 führte
Genau wie das Weltmuseum ruht die quadratische Spiralform des Museums mit unbegrenztem Wachstum auf Pfeilern und hebt sich vom Boden ab. Der Zugang erfolgt von unten, wobei die von zenitalem Licht erhellte Eingangshalle sich in der Mitte befindet, eine „wahre Ehrenhalle, die für einige Meisterwerke bestimmt ist“,20 deren Raumgliederung der ihrer Vorgängerin ähnelt. Hier startet der spiralförmige Rundgang, der sich im Wesentlichen durch ein in der Decke abgesenktes Lichtband auszeichnet, dessen seitliche Verglasungen Tageslicht in den Raum strömen lassen. Die Zeit wird durch dieses architektonische Element symbolisiert und räumlich erfahrbar; es leitet den Besucher auf seinem Rundgang von der Frühgeschichte bis in die Gegenwart und wird so zur treibenden Kraft seiner Erfahrung. Um den Eindruck eines Labyrinths zu vermeiden, sieht Le Corbusier Orientierungspunkte vor: große Öffnungen in alle vier Himmelsrichtungen, um den
Postkarte Exposition Internationale Paris 1937 mit dem sowjetischen Pavillon (rechts) und dem deutschen Pavillon gegenüber
Rundgang verkürzen oder verlassen, einen Blick nach draußen werfen oder sogar hinaus in den Garten gehen zu können, dies über breite überdachte Fußgängerbrücken, die auch als Wetterschutz für diejenigen dienen, die das Museum betreten oder verlassen. So bietet dieses Gebäude trotz seiner einschränkenden Form genügend Flexibilität, damit die Besucher:innen ihren eigenen Rundgang zusammenstellen und die Museumsgestalter die Ausstellungsräume mit beweglichen Wänden beliebig verändern können. Hier setzt sich die Rationalität gegen den barocken Rausch durch, der Besucher kann das „konzentrische rotierende Feld“ verlassen und sich der räumlichen Spannung zwischen zentrifugaler Leere und zentripetaler Masse entziehen. Letztere wird durch große Öffnungen durchbrochen, die kartesische Achsen einführen und so den Besucher:innen wieder Orientierungspunkte geben, die in diesen turbulenten Zeiten dringend nötig sind.
Robert Delaunay und Félix Aublet, Innenausstattung der kegelstumpfförmigen Halle des Palais de l’Air, 1937
Anmerkungen Seite 166
Pariser Weltausstellung 1937
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Dollfuß den austrofaschistischen Ständestaat ein, der bis zum
Für den Palais de l’Air entwarfen Robert Delaunay und Felix
„Anschluss“ Österreichs durch Hitlerdeutschland bestand.
Aublet eine monumentale schwebende Spirale, die einen
Der Putsch im Juli 1936 gegen die Volksfrontregierung in
kreiselnden Rundgang um ein herabhängendes Flugzeug
Spanien stürzte das Land in einen blutigen Bürgerkrieg und
bot und durch ihre freie Formgebung und farbenfrohe
mündete in die Franco-Diktatur. Russland erlebte in den
Erscheinung bestach. Darauf bedacht, arbeitslose Künstler:innen
1930er Jahren die großen stalinistischen Säuberungen mit
wieder in Lohn und Brot zu bringen, hatte die von ihnen vor-
Millionen von Toten und Deportierten.
geschlagene Rauminstallation so riesige Ausmaße, dass sie
Vor diesem Hintergrund des Zusammenbruchs der Demokra-
nur von einem Künstlerkollektiv verwirklicht werden konnte
tien und großer politischer Spannungen, zu denen nach dem
(„Art et Lumière“ wurde eigens dafür gegründet).
Börsenkrach von 1929 noch die Weltwirtschaftskrise hinzukam,
Nicht weit davon entfernt standen zwei Pavillons an der Haupt-
beschloss die französische Regierung unter Doumergue (per
achse vom Eiffelturm zum Palais de Trocadéro: der deutsche,
Gesetz vom 6. Juli 1934), eine internationale Ausstellung in
ein Entwurf von Hitlers Lieblingsarchitekten Albert Speer, ein
Paris auszurichten und Edmond Labbé mit der Leitung zu be-
turmartiger Bau aus monumentalen Säulen im neoklassizisti-
trauen. Das (recht utopische) Ziel war, den Frieden zwischen
schen Stil, auf dem der Adler mit dem Hakenkreuz thronte,
den Nationen zu fördern und durch die Schaffung von Arbeits-
und gegenüber der sowjetische, ein ebenso imposanter,
plätzen die Wirtschaft der Hauptstadt anzukurbeln.21 Labbé
gleichwohl kleinerer, dafür aber dynamischerer Bau mit zu-
wollte zeigen, dass Kunst und Technik keine gegensätzlichen
oberst zwei den Himmel stürmenden heroischen Figuren, der
Felder sind, und forderte, dass das Schöne und das Nützliche
Monumentalskulptur Arbeiter und Kolchosbäuerin von Vera
„untrennbar miteinander verbunden“ sein sollten. Mit diesem
Muchina im Stil des Sozialistischen Realismus.
22
Anspruch wollte er zwei von der Krise betroffenen Branchen neuen Schwung verleihen: der Welt der Kunst, die stark von
Statt des „Museums mit unbegrenztem Wachstum“ der
Arbeitslosigkeit betroffen war, und der Welt der Technik und
Pavillon des Temps Nouveaux
der Fabriken mit einer so schlecht bezahlten Arbeiterklasse,
Für die Weltausstellung von 1937 hoffte Le Corbusier den Pro-
dass ein Überleben kaum möglich war.
totyp seines „Museums mit unbegrenztem Wachstum“ an der
Die Regierung Doumergue hielt nur neun Monate, vom
Porte d’Italie bauen zu können. Hier sollte das „Zentrum für
9. Februar bis zum 8. November 1934. Nach der Bildung und
zeitgenössische Ästhetik“ unterkommen, nach der Weltaus-
dem Sturz von vier weiteren Regierungen beschlossen die
stellung das „Autonome Museum für Moderne Kunst“ – an
linken Parteien, sich angesichts der Bedrohung durch Hitler-
diesem oder an einem anderem Standort, hatte doch sein Bau
Deutschland und mit Blick auf eine Stabilisierung der Innen-
den Vorteil, demontierbar zu sein. Doch letztlich verhinderten
politik zu einer neuen Koalition zusammenzuschließen, die
finanzielle Gründe die Realisierung: „Da die zu investierende
unter dem Namen „Front populaire“ die Wahlen vom 26. April
Summe für ein dauerhaftes Gebäude mit 25.000 m2 bebauter
und 3. Mai 1936 gewann. Léon Blum, der neue Premierminister,
Fläche 2,5 Millionen betrug, wurde sie im Oktober 1936
hielt an dem Ausstellungsprojekt fest, allerdings änderte sich
abgelehnt.“24 Darüber hinaus schlug Le Corbusier den Bau
die Auswahl der Künstler grundlegend zugunsten von Vertre-
einer dauerhaften Wohneinheit für die Weltausstellung vor,
ter:innen der Avantgarde. Robert Mallet-Stevens wurde mit
um Geldverschwendung zu vermeiden und langfristig die
dem Entwurf des Pavillon de la Lumière beauftragt, einem
Lebensbedingungen der Stadtbewohner:innen zu verbessern,
symbolträchtigen Gebäude mit einem Leuchtturm und einer
doch auch dieses Vorhaben kam aus Kostengründen nicht zu-
großen geschwungenen Fassade, die, ausgestattet mit einer
stande.Schließlich wurde Le Corbusier mit einem weitaus
Leinwand, nächtliche Projektionen zum Leben erweckten. Im
kostengünstigeren temporären Ausstellungspavillon beauf-
Innern wurden allerlei Innovationen in Verbindung mit elektri-
tragt, dem Pavillon des Temps Nouveaux. Das Ergebnis war
schem Licht präsentiert, und auf einer Fläche von 600 Quadrat-
ein avantgardistisches Konstrukt, zum einen wegen seiner
metern schmiegte sich das riesige Fresko La Fée Électricité
flexiblen Materialität (er bestand vollständig aus auf gespann-
von Raoul Dufy an die gekrümmten Wände des Pavillons.
ten Stahlseilen montierten Tuchbahnen), zum anderen wegen
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Wiederverzauberung der Welt
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Le Corbusier, Pavillon des Temps Nouveaux, Weltfachausstellung Arts et Techniques, Paris, 1937, Fotograf: Albin Salaün; „DIE GROSSEN EUROPÄISCHEN INDUSTRIEZONEN, DIE FRIEDEN SCHAFFEN“ (rechts); im Hintergrund Stadtentwürfe für die Ville Radieuse
der Art und Weise, wie politische Inhalte (die sich mit denen
gebauten Projekte wie die „Strahlende Stadt“ und die
der neuen Volksfrontregierung deckten) anhand von Collagen
„Wohneinheit“ präsentierte. Bespielt wurde der Innenraum
präsentiert wurden. Während der 1925 ausgestellte Pavillon
durch riesige Collagen, die nicht nur seine Entwürfe zeigten,
de l’Esprit Nouveau auf ästhetische und funktionalistische
sondern auch Fotografien von Sporttreibenden direkt neben
Erneuerung gesetzt hatte, richtete der Pavillon des Temps
Aufnahmen von Waffen, die überschrieben waren mit: „KA-
Nouveaux das Augenmerk darauf, wie dringlich der Aufbau
NONEN, MUNITION? NEIN DANKE, WOHNUNGEN BITTE!
einer friedlichen Gesellschaft war.
Frankreich gibt jedes Jahr 12 Milliarden für Rüstung aus.“
Fassen wir nun den politischen Inhalt kurz zusammen, denn er
An einer anderen Wand gab der Architekt die Forderungen
liefert uns den Schlüssel zum Verständnis des Kontextes, aus
der CIAM wieder: „WOHNEN, ERHOLEN, ARBEITEN,
dem heraus Le Corbusier sein „Museum mit unbegrenztem
BEFÖRDERN“, und: „IM SINNE DES ALLGEMEINWOHLS –
Wachstum“ entwickelte.
DAS LAND AUSSTATTEN“. Le Corbusier bezog Stellung
Angesichts der weltweiten politischen und sozialen Unruhen
gegen den Krieg und setzte sich unmissverständlich für eine
nahm Le Corbusier eine entschieden optimistische Haltung
Verbesserung der Lebensbedingungen ein. Architektur und
ein und hob die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Verbes-
Städtebau erschienen als die große Herausforderung der
serung der Lebensbedingungen hervor: „DIE WELT IST
„maschinistischen“ Welt auf dem Weg zum Fortschritt, wie
NICHT AM ENDE – WEDER EUROPA NOCH DIE USA,
die Wandbeschriftungen belegen:
WEDER ASIEN NOCH SÜDAMERIKA GEHEN UNTER – DIE
„Hoffnung der maschinistischen Zivilisation: die Wohnung.
WELT LEBT WIEDER AUF!“ Dieser Satz prangte an einer
Willst du lieber Krieg führen?
Wand des Pavillons, in dem er seine visionären, noch nicht
Auslöschen … oder ausstatten …“25
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Pariser Weltausstellung 1937
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dem Ende des Ersten Weltkriegs bekräftigt hatte, ließen sich der Fortschrittsgedanke und die Bedeutung der Kultur für den Aufbau einer friedlichen Gesellschaft sowohl symbolisch als auch räumlich besonders überzeugend durch dieses durchaus optimistische, sich stetig weiterentwickelnde Dispositiv verkörpern, ganz so, als ob nichts eine solche expansive Dynamik aufhalten könnte. Vor dem Hintergrund des drohenden Krieges wurde eine konkrete Umsetzung allerdings immer unwahrscheinlicher. Aber Le Corbusier gab nicht auf und stellte sein Projekt verschiedentlich vor, darunter Salomon Guggenheim für ein neues Museum in London (1938/1939) und Theodor Ahrenberg für dessen Sammlung moderner Kunst in Hollywood (1939) oder den Städten Philippeville in Algerien (Juni 1939; heute Skikda) und Grenoble (Juli 1939); selbst der Kriegsausbruch konnte ihn nicht aufhalten (Hitler war am 12. März 1938 in Österreich einmarschiert und hatte sich am 16. März 1939 Böhmen und Mähren einverleibt). Paradoxerweise wurde das räumliche Prinzip dieses Kulturtempels im Vorfeld des Krieges dadurch interessant, dass es wie eine geschlossene Box konzipiert und somit nicht als Museum erkennbar war; in den damaligen unsicheren Zeiten wurde dieser Aspekt als Vorteil gesehen, da die Kunstwerke dadurch geschützt wären. Schließlich wurde das Konzept nach dem Zweiten Weltkrieg am anderen Ende der Welt von einem japanischen Sammler westlicher Kunst wiederaufgegriffen, der sich an Le Corbusier wandte. Im Jahr 1955 eröffnete das Nationalmuseum für westliche Kunst in Tokio seine Tore: Seine Raumanordnung ähnelte der des „Museums mit unbegrenztem Wachstum“, das Le Corbusier für die Weltausstellung 1937 in Paris Le Corbusier, Nationalmuseum für westliche Kunst, Tokio, 1955; oben: Eingang, unten: Innengalerie mit spiralförmigem zenitalem Lichtband, Fotograf: Olivier Martin-Gambier
entworfen hatte. Auch wenn die „Timeline“ hinsichtlich des Museumsinhalts zweitrangig geworden war (vom „Tempel der Universalkultur“, der Paul Otlet ursprünglich vorschwebte und
In Anbetracht der drohenden Kriegsgefahr wurden die
der dem Gesetz des Chronos unterworfen war, ist nichts mehr
Strahlende Stadt und die Wohneinheit als dringende Notwen-
übrig), erzeugte das Lichtband an der Decke dennoch einen
digkeit dargestellt, mit der klaren und unmissverständlichen
spiralförmig sich entfaltenden raumzeitlichen Rundgang,
Botschaft, dass die Staaten statt in den Rüstungswettlauf in
während die in alle vier Himmelsrichtungen sich bietenden
bessere Lebensbedingungen (wie die Schaffung von neuem
Ausblicke auf die Außenwelt die Besucher:innen wieder in die
Wohnraum) investieren sollten und dass es fundamental wichtig
Jetztzeit holten.
sei, die Technik in den Dienst der Menschheit zu stellen. Obwohl auf der Weltausstellung statt des Museums mit
Technik und Fortschritt – ein Paradigmenwechsel
unbegrenztem Wachstum der kostengünstige Pavillon des
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Temps Nouveaux gezeigt wurde, warb Le Corbusier weiterhin
Die Werte des Weltfriedens, des Austauschs und der Völker-
für sein visionäres Projekt. Denn wie schon Paul Otlet nach
verständigung, die für Paul Otlets Entwurf eines Weltmuseums
Wiederverzauberung der Welt
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maßgeblich gewesen waren, wandelte Le Corbusier in der Zwischenkriegszeit in ein Symbol für Wachstum um, für das der Frieden nur noch eine Prämisse und nicht mehr das eigentliche Ziel war. Die Form des potenziell endlos erweiterbaren Museums drückte die Idee eines kontinuierlich beschleunigten Fortschritts aus und nahm in einer von Kriegen und politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen erschütterten Welt eine entschieden optimistische Haltung ein. Daher trotzte dieses modernistische Sinnbild für Wachstum selbst noch bei Kriegsausbruch der sich abzeichnenden globalen Katastrophe und unterbreitete der Gesellschaft weiterhin das Narrativ des linearen, unerschütterlichen Fortschritts. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurden menschlicher und technischer Fortschritt noch zusammen gedacht; wie der Historiker François Hartog formuliert: „Die Menschen haben sich stets als eine Gesamtheit begriffen, die ihre Welt errichtet, indem sie eine moderne Zeit schufen: die Zeit der Welt, die Zeit der Universalgeschichte.“26 Paul Otlets ambitioniertes Projekt für den Bau eines Weltmuseums und einer Weltbibliothek, die alles Wissen in sich vereinen, ist dafür ein perfektes Beispiel. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einem Paradigmenwechsel, den Hartog folgendermaßen zusammenfasst: „Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts lebten unsere Gesellschaften mit der Perspektive eines stetig zunehmenden und beschleunigten Fortschritts. Die Zerrüttung dieser Perspektive erfolgte insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg. Technologischer Fortschritt und Fortschritt der Menschheit konnten nicht mehr zusammen gedacht werden. Sie haben sich endgültig voneinander entkoppelt. Auf diesem eingeschlagenen Weg verschwindet der Fortschritt allmählich, während die
Le Corbusier, Nationalmuseum für westliche Kunst, Tokio, 1955, Hauptraum mit zenitalem Tageslicht, Fotograf: O. Martin-Gambier
Technologie nicht stehen bleibt und die Innovation an seine Stelle setzt.“27
dem Menschen höchstens die Demütigung beibringe, nichts
Die Begeisterung für die Maschine und die Technik, die in den
zu sein als ein kleines Rad in der gewaltigen Maschine des
Äußerungen Le Corbusiers und vieler anderer Anhänger der
Massenmordes. […] Der Krieg in seiner unbeirrbar mörderischen
Bewegung der Moderne zum Ausdruck kommt, wurde durch
Willkür wurde zum Symbol für den ‚großen Gleichmacher‘ Tod
den Zweiten Weltkrieg mehr als gedämpft, denn Technologie
und damit zum wahren Vater einer neuen Weltordnung.“28
war vor allem zum Sinnbild der Zerstörung der Menschheit ge-
Allerdings sollte die Entstehung neuer Technologien dem
worden. Hannah Arendt reflektierte diesen Bruch und stellte
Fortschrittsbegriff einen neuen Glanz verleihen, wofür das
fest, dass der Krieg im Maschinenzeitalter „die ritterlichen Tu-
Wort Innovation steht. Nach dem Wiederaufbau, bei dem
genden von Tapferkeit, Ehre und Männlichkeit [nicht gut] er-
die Städte in hohem Tempo nach Maßgabe der von den
zeugen könne“, von denen die Futuristen träumten, sondern
Anhängern der Moderne gepriesenen rationalistischen Prinzi-
„daß er vielmehr außer der Erfahrung absoluter Zerstörung
pien umgestaltet wurden, wich die Begeisterung für den
Anmerkungen Seite 166
Technik und Fortschritt
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Funktionalismus und die Standardisierung einer Faszination
heutigen Bibliotheken, die zu erwartenden Fortschritte in der
für die Kybernetik, die eine physische und psychische Erwei-
Informationsspeicherung und -abfrage sowie die weiter
terung des Menschen versprach.29 Die Maschine und die
oben vorgeschlagenen symbiotischen Funktionen zusam-
Technologie nahmen eine andere Gestalt und Bedeutung an
menführt […]. […] ein Netz solcher Zentren, die untereinander
und eröffneten ein weites Feld für neue Forschungen und Fik-
durch Breitband-Kommunikationskanäle verbunden sind.“31
tionen. An die Stelle des erträumten „Maschinenmenschen“
Allerdings stellte für Licklider die vernetzte Bibliothek (die für
der Futuristen trat der „Computermensch“.
Paul Otlet Teil eines großen Friedensprojekts war) nur eine von vielen möglichen Nutzungen dar, darunter in naher Zukunft
Kybernetik und „Computermensch“
auch militärische. Im Oktober 1962 wurde er zum Direktor
Die Kybernetik begeisterte die Architektur- und Kunstwelt.
der Abteilung für Informationsverarbeitung der Defense
Die Wissenschaft, die sich mit den Informationsmechanismen
Advanced Research Projects Agency ernannt, die dem
komplexer Systeme beschäftigt, wurde von dem Mathematiker
US-Verteidigungsministerium unterstand, und stellte ein infor-
Norbert Wiener begründet, der eine Theorie der sowohl bei
melles Team zusammen, das die Informatik-Forschung voran-
Tieren als auch in Maschinen bedeutsamen Steuerung und
treiben sollte. So wurde einmal mehr die Anwendung einer
Kommunikation entwickeln wollte. 1948 veröffentlichte er sein
vielversprechenden neuen Technologie, die ursprünglich dazu
Buch Cybernetics or Control and Communication in the Animal
gedacht war, die menschlichen Fähigkeiten zur Wissenspro-
and the Machine, das die Sozialwissenschaften stark inspirieren
duktion zu optimieren, auf die Entwicklung militärischer Werk-
sollte, insbesondere die Palo Alto School, eine Denk- und
zeuge ausgerichtet.
Forschungsschule mit Schwerpunkt Psychologie sowie Infor-
Die Erfindung der Computertechnologie hat aber auch
mations- und Kommunikationswissenschaften. Mit dem Auf-
Architekt:innen, Künstler:innen und Forschende der Technik-
kommen der ersten Computer zeichnete sich auch eine neue
und Sozialwissenschaften stark inspiriert. Diese stellten sich
Art der Beziehung ab: die Interaktion zwischen Mensch und
eine Welt vor, in der Computer der Menschheit eine neue
Maschine. In seinem Artikel „Man-Computer Symbiosis“
Form der Freiheit bescheren würden.
(März 1960) unterbreitete J. C. R. Licklider, der Vordenker eines globalen Computer-Netzwerks, die Idee einer Symbiose zwischen Mensch und Computer: „Die Mensch-Computer-Symbiose ist eine Unterklasse der Mensch-Maschine-Systeme. Es gibt viele Mensch-
148
Cedric Price und Joan Littlewood: Fun Palace, 1961 – 1965
Maschine-Systeme. Derzeit gibt es jedoch noch keine
Der von dem jungen britischen Architekten Cedric Price und
Mensch-Computer-Symbiosen. […] Es besteht die Hoffnung,
der Theaterregisseurin Joan Littlewood entworfene Fun Palace
dass schon in ein paar Jahren das menschliche Gehirn und
ist ein einschlägiges Beispiel für den Glauben an einen durch
die Computermaschinen eng miteinander verknüpft sein
Computer ermöglichten Fortschritt. In Großbritannien, das
werden und die daraus resultierende Partnerschaft in einer
sich in der Nachkriegszeit nur langsam von einer schweren
Art denken wird, wie kein menschliches Gehirn je gedacht
Krise erholte und wo man alle Hoffnungen auf die Etablierung
hat, und Daten auf eine Weise verarbeiten wird, an die die
einer Konsumgesellschaft setzte, engagierten sich Littlewood
uns heute bekannten informationsverarbeitenden Maschinen
und Price auf dem Gebiet der Kultur. Ihr politisches Anliegen
nicht heranreichen.“
war, durch Kultur zur Verbesserung der Lebensbedingungen,
30
Aus Gründen der Effizienz und der Wirtschaftlichkeit sollte die
zur Bildung und vor allem zur Emanzipation der Arbeiterschaft
(sehr teure) Nutzung des Computers auf viele Nutzer verteilt
beizutragen, die in ihren Augen nicht nur als bloße Konsu-
werden, so Licklider. Und was die konkrete Anwendung betrifft,
mentenmasse betrachtet werden sollte. Price und Littlewood
so stellte er sich das Prinzip einer vernetzten Bibliothek vor:
entwickelten einen alternativen Vorschlag, um die Arbeiter:innen
„Es erscheint angemessen, sich in zehn oder 15 Jahren
vor der ontologischen Krise zu schützen, die der Konsumge-
ein ,Denkzentrum‘ vorzustellen, das die Funktionen der
sellschaft innewohnt.
Wiederverzauberung der Welt
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Der Kontext der Krise
geflossen und die Ausfuhren eingebrochen waren. 1945 ge-
Diese betont zukunftsgerichtete Zeit beschreibt François
wann Clement Attlee,35 der Vorsitzende der Labour-Partei, zur
Hartog als eine Zeit des Wiederaufbaus und der Modernisie-
allgemeinen Überraschung die Wahlen mit einem umfangrei-
rung, die mit einem starken wirtschaftlichen Wettbewerb zwi-
chen Sozialprogramm, das die Verstaatlichung von Unterneh-
schen den europäischen Ländern einherging, dies „vor dem
men, den Aufbau eines kostenlosen Gesundheitssystems und
Hintergrund des Kalten Krieges und eines immer schnelleren
Investitionen in den sozialen Wohnungsbau und Schulen vor-
Rüstungswettlaufs“; sie wurde daher „,strahlende Zukunft‘
sah. Als Churchill und die Conservative Party 1951 die Regierung
im Sozialismus, ,Wirtschaftswunder’ in Deutschland und
übernahmen, setzten sie die von den Sozialisten initiierte
,Trente Glorieuses‘ in Frankreich genannt“. Diese Zukunfts-
Sozialpolitik in weiten Teilen fort.
ausrichtung wurde bald vom „Präsentismus“ als neuer Zeit-
Durch den Marshallplan wurde die britische Wirtschaft zwar
ordnung abgelöst: „Doch nach und nach verlor die Zukunft
angekurbelt, allerdings hinkte die industrielle, technische und
immer mehr Boden zugunsten der Gegenwart, die immer
soziale Entwicklung jener von Ländern wie Frankreich,
mehr Raum einnehmen sollte, bis sie ihn, wonach es seit kur-
Deutschland oder Japan hinterher. Die Lebensmittel blieben
zem aussieht, ganz einnehmen würde.“
über viele Jahre weiter rationiert und der Lebensstandard er-
32
33
34
Nach dem Krieg erlebte Großbritannien eine schwere wirt-
reichte erst in den 1950er Jahren das Vorkriegsniveau. Die
schaftliche und soziale Krise. Der Staat war bankrott, nachdem
Einsicht setzte sich durch, dass Großbritannien sich seine
im Verlauf des Krieges mehr als 50 Prozent des BIP in Rüstung
Kolonien nicht mehr leisten konnte, die übrigens nach und nach die Unabhängigkeit erlangten. Zur Förderung einer neuen britischen Identität, die statt auf dem internationalen Handel nunmehr auf der inländischen Industrie beruhte, wurde 1951 das Festival of Britain organisiert, um britische Beiträge zu Wissenschaft, Technologie, Design, Architektur und Kunst einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Dafür wurde die Dockside South Bank an der Themse in ein Ausstellungsgelände umgewandelt. Hier erhob sich, gleichsam durch das All schwebend wie ein riesiges Raumschiff, die 91 Meter hohe Skulptur Skylon als Wahrzeichen und Ikone einer modernen Welt, symbolisiert durch eine neue Technologie, die Leichtigkeit und Dynamik zugleich ausstrahlte. Diese architektonische Skulptur – ein Entwurf der Architekten Hidalgo Moya und Philip Powell sowie des noch jungen Bauingenieurs Frank Newby (1926 –2001) – wies eine innovative Struktur aus Stäben und Seilen auf, ein „Tensegrity“ genanntes stabiles Stabwerk, das zu jener Zeit von Richard Buckminster Fuller entwickelt wurde und auf dem Gleichgewicht der Spannungskräfte beruhte. Einige Jahre später wurde Newby von Price beauftragt, die Voliere Snowdon Aviary für den Londoner Zoo zu entwerfen und dann auch am visionären Fun Palace mitzuwirken. Bei all diesen ikonischen und durch ihre innovativen Technologien bestechenden Projekten ging es darum, die Welt wiederzuverzaubern und nach der großen Krise neue Perspektiven zu eröffnen.
Der Skylon-Turm auf dem Festival of Britain, 1951, Fotograf: Bernard William Lee
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Cedric Price und Joan Littlewood: Fun Palace
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Joan Littlewood, Theaterfrau
großer Beliebtheit. Als MacColl und Littlewood 1940 eine
Das utopische Projekt Fun Palace nahm seinen Anfang 1962
chaplineske Parodie inszenierten, in der sie Chamberlains
nach der Begegnung des Architekten Cedric Price (1934 –
Appeasement-Politik gegenüber Hitler kritisierten, landeten
2003) mit der um 20 Jahre älteren, damals schon bekannten
sie für kurze Zeit im Gefängnis und wurden (vorübergehend)
Schauspielerin und Regisseurin Joan Littlewood (1914 –2002),
von der BBC ausgeschlossen.
die von dem Wunsch getrieben war, ein Theater für die Ärmsten
150
der Armen zu gründen. Als uneheliche Tochter einer Frau, die
Eine Alternative zur Konsumgesellschaft
ihr Leben lang als Hausangestellte arbeiten sollte, wuchs Joan
Nach dem Krieg, mit dem Aufkommen der Konsumgesell-
bei den Großeltern in einem Arbeiterviertel im Osten Lon-
schaft, äußerte Littlewood klar und deutlich ihre Ablehnung
dons auf. Von klein auf hatte sie politisch engagierte Men-
gegenüber den Maßnahmen der englischen Regierung
schen um sich, die von Arbeitsbedingungen, Recht,
zwecks angeblicher „Erziehung“ der Arbeiterklasse: Sie sollte
Gewerkschaften und Streiks redeten. Als junge Frau trat sie
von „inakzeptablen Arten der Freizeitgestaltung (Verbrechen,
der Kommunistischen Partei bei. Sie bemühte sich um ein Sti-
Alkohol, politische Revolution)“ abgehalten und stattdessen
pendium für eine Schauspielschule, bekam es, verließ aber
hin zu für die Gesellschaft profitableren Praktiken und Freizeit-
die Schule gleich wieder, weil sie sie zu elitär fand, ging dann
aktivitäten wie Bildung oder Konsum gelenkt werden, wie der
nach Frankreich und kehrte 1934 nach London zurück. Ihr
Artikel „The Terrible Challenge of Leisure“ in der Zeitschrift
Leben lang sollte sie sich für die Förderung eines Volksthea-
New Statesman (1963) zusammenfasste.36 Die Arbeiter auf
ters einsetzen. Ihre Schauspielkarriere begann bei der BBC.
Personen zu reduzieren, die umerzogen werden sollten, oder
Hier lernte sie Ewan MacColl kennen, der auch Kommunist
auf bloße Konsumenten, war für Littlewood nicht hinnehmbar,
war und 1931 die Red Megaphones, eine kleine Straßenthea-
denn es lenkte von den eigentlichen gesellschaftlichen
tertruppe, gegründet hatte, die Mitglied der Worker’s Theatre
Herausforderungen ab. Sie lehnte sogar die Unterscheidung
Movement (WTM) war und in den Arbeitervierteln Agitprop
zwischen Arbeit und Freizeit ab:
betrieb. Unzufrieden mit den unsicheren und unhygienischen
„Die Automatisierung kommt. Immer mehr Maschinen
Verhältnissen, die auf den Straßen von East London herrsch-
erledigen unsere Arbeit. Es wird noch mehr Zeit übrig,
ten, und ständig von der Polizei schikaniert, gründete Mac-
noch mehr menschliche Energie ungenutzt bleiben. Das
Coll zusammen mit Littlewood eine neue Theatergruppe
Problem, das sich uns stellt, ist weitaus größer als das der
namens Theatre of Action, die diesmal inhäusig auftrat. Sie
,vermehrten Freizeit‘, von der unsere Politiker sprechen.
schöpften aus dem Theater von Brecht, Meyerhold, Appia
Damit wird die Zukunft unterschätzt. Fakt ist, je mehr die
und Laban und versuchten die neuen Methoden auf den eng-
Maschinen die Knochenarbeit übernehmen, desto unerheb-
lischen Arbeiterkontext zu übertragen. Der Erfolg ließ nicht
licher werden die Begriffe Arbeit und Freizeit. Die Unter-
lange auf sich warten und sie wurden die bekannteste Volks-
scheidung zwischen ihnen löst sich auf. Es ist uns ein
theatertruppe des Landes. Doch aus Sicht der Kommunisti-
Bedürfnis, und wir haben das Recht dazu, uns unseres
schen Partei waren sie viel zu experimentell und man warf
Lebens in seiner Gesamtheit zu erfreuen. Wir müssen jetzt
ihnen vor, für die Arbeiterklasse zu abstrakt und unverständ-
damit beginnen, herauszufinden, wie wir das tun können.“37
lich zu sein. Die Partei wies sie an, sich an die von Moskau
Die technische Entwicklung bot für Littlewood eine einmalige
vorgegebene Linie zu halten und sich dem Kontrollorgan der
Gelegenheit, um die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse
Agitprop-Abteilung unterzuordnen, andernfalls würden sie
zu verändern: „,Arbeit‘ und ,Freizeit‘ überschneiden sich
aus der Partei ausgeschlossen. Frei im Geist, wie sie waren,
und verschmelzen: Das Leben wird zu einem Ganzen“, ist in
und wenig geneigt, sich einem solchen Diktat zu fügen,
einer ihrer Notizen zu lesen.38 Sie schlug die Schaffung einer
optierten sie für Letzteres und gründeten 1936, diesmal ohne
dynamischen Kulturstätte vor, die der Kreativität und Bildung
Subventionen, eine neue Theatergruppe namens Theatre
gewidmet war und für Emanzipation und Demokratisierung
Union. Da ihr Theater durchwegs auf das Zeitgeschehen und
stand. Damit blieb sie dem treu, was sie sich schon als Schau-
die Probleme der Arbeiterklasse einging, erfreute es sich bald
spieldebütantin vom Theater erträumt hatte:
Wiederverzauberung der Welt
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„Ein Ort, der sich mit den Jahreszeiten verändert, an
Bau zeitloser Denkmäler beschränken dürfe, sondern sich
dem alles Wissen verfügbar ist und neue Entdeckungen
dem Umfeld der Mitbürger in der Gegenwart und in naher
verständlich gemacht werden. Es war ein Ort, an dem
Zukunft anpassen müsse.
man spielen, lernen und tun konnte, was man wollte.“
39
Price trat in die Fußstapfen seines Vaters und schlug eine
Der Fun Palace ist das Ergebnis dieses Vorhabens und dieser
Karriere als Architekt ein. 1956, noch als Student, lernte er den
Vision: ein Haus, unter dessen Dach alle möglichen Aktivitäten
Bauingenieur Frank Newby und den Architekturkritiker Reyner
stattfinden würden, natürlich Theater, aber auch Musik, Tanz,
Banham kennen, sowie drei Jahre später Richard Buckminster
Kreativworkshops, Diskussionen, Vorträge usw., allerdings
Fuller, mit dem er zeit seines Lebens im Austausch bleiben
ohne ein genau festgelegtes Programm, sodass sich dieses
und zusammenarbeiten sollte. Er unterrichtete an der Londo-
ständig weiterentwickeln konnte. 1962 lernte Littlewood Ce-
ner Architekturschule Architectural Association (1958 – 1964)
dric Price auf einer Party kennen und stellte ihm ihr Konzept
und eröffnete 1960, mit gerade einmal 26 Jahren, sein eigenes
eines wahren „Volkstheaters“ vor („a true ,people’s theatre‘“).
Büro. Seine Architekturprinzipien gründeten auf einer sozialen
Es sei ein Ort, an dem „jeder lernen und spielen kann; wo es
Vision und folgten einem rationalen Ansatz auf genossen-
alle Arten von Unterhaltung gibt, von klassisch bis improvi-
schaftlicher Basis zur Verbesserung der Lebensbedingungen,
siert, von künstlerisch bis wissenschaftlich; wo man sich mit
bei dem Stil- und Formfragen nicht ins Gewicht fielen.
Malerei oder Ton beschäftigen, an wissenschaftlichen Vorträgen und Vorführungen teilnehmen, streiten, prahlen oder die
Einflüsse: Der Computer als prothetisches Hilfsmittel für
Welt an sich vorbeiziehen lassen kann. Er sollte an einem
den menschlichen Körper
Fluss liegen. Wir brauchen Ebbe und Flut, um am Puls der
In Prices Studienzeit fiel ein einschneidendes Ereignis: die
Zeit zu bleiben.“ Daraufhin forderte sie den jungen Architek-
Ausstellung Man, Machine and Motion, die das Institute of
ten auf, seinen architektonischen Beitrag zu leisten. Er sollte
Contemporary Arts (ICA) 1955 in London zeigte. Damals
versuchen, einen Ort zu entwerfen, der die veränderlichen
erkannte er, dass Architektur dank des Computers als ein
Zeitlichkeiten und Räumlichkeiten kongenial verband. Price
Prozess begriffen werden konnte, der sich kontinuierlich
stellte sich ohne zu zögern der ehrgeizigen Herausforderung.
weiterentwickelt. In der Ausstellung wurden Maschinen als
40
prothetische Hilfsmittel präsentiert, mittels derer sich die Cedric Price, Architekt
Fähigkeiten des menschlichen Körpers vervielfältigen ließen:
Cedric Price wurde 1934 in Stone, Staffordshire, geboren und
„Die Geräte, die der Mensch herstellt, um seine physischen
wuchs in einer vom Kohlebergbau und der Keramikherstel-
Möglichkeiten zu erweitern, gehören zu den ältesten und
lung geprägten Industrieregion auf. Sein Vater, ein gebürtiger
den neuesten Dingen, die wir von ihm kennen. [...] Die
Ire, war Soldat bei der Royal Navy, ehe er ins Architekturfach
Beziehung zwischen Mensch und Maschine gleicht einem
wechselte. Seine Mutter kam aus dem Großbürgertum der
Bund. Beide wirken zusammen wie ein einziges Wesen.“42
Keramikindustrie. Während des Zweiten Weltkriegs lebte sie
Wie Stanley Mathews herausstellt, weihte die Ausstellung
mit ihren beiden Kindern in Dorset an der Südküste Englands,
Price in Systeme und Prozesse ein, die jenseits der traditionel-
bis ihr Haus von der deutschen Luftwaffe bombardiert wurde.
len statischen Architektur dynamische Alternativen für die
Der Familie blieb nur ein Häuschen auf dem Land, wo Cedric
menschliche Umgebung bereitstellen.43
seine Kindheit verbrachte, allerdings ohne zur Schule zu gehen,
Prägend war auch der 1956 von Andrew Booth am ICA gehal-
denn die war zu weit entfernt und das Auto seiner Eltern von
tene Vortrag mit dem Titel „The Second Industrial Revolution“,
der Armee beschlagnahmt.41 Durch das politische Engage-
in dem er die Auswirkungen der neuen Informatiktechnologie
ment seines Vaters und seines Onkels Jack in der sozialisti-
darlegte. Und dann war noch ein drittes Kunstereignis für den
schen Bewegung wuchs Price in einem familiären Umfeld auf,
architektonischen Ansatz von Cedric Price entscheidend:
das ihm schon früh ein Bewusstsein für soziale Ungleichheit
Exhibition (1956) von Richard Hamilton, Victor Pasmore und
vermittelte – ein politisches Bewusstsein, das ihn später zu
Lawrence Alloway. Diese Künstler stützten sich auf die von
der Aussage veranlasste, dass Architektur sich nicht auf den
dem Mathematiker und Physiker John von Neumann entwickelte
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Cedric Price und Joan Littlewood: Fun Palace
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Spieltheorie, um die Parameter einer mit den Mitteln der Im-
führen. Wendet man die neuen Technologien nämlich auf ein
provisation entworfenen Rauminstallation zu bestimmen:
räumliches Dispositiv an, dann interagieren sie mit den Men-
„Die Galerie ähnelt einem Tennisplatz oder dem Hickelkasten
schen anhand der Codes, die der Spieltheorie und der Kyber-
des Himmel-und-Hölle-Spiels, wo besondere Regeln gelten.
netik entlehnt sind, und ermöglichen es dynamischen
Das Spiel ist eine bestimmte Ordnungsform, die Standards
Systemen, ohne vorherbestimmte Finalität sich selbst zu
und freie Improvisation zugleich enthält.“44
regulieren. Räume wären somit instabil und unvorhersagbar,
Die Spieltheorie fand auch bei der Entwicklung der logischen
in ständigem Wandel begriffen und würden sich an ein sich
Codes von Computern, also den zukünftigen Computerpro-
fortwährend weiterentwickelndes Programm anpassen.48 Mit
grammen, Anwendung. Wie John von Neumann 1958 in seinem
seinem psychologischen und biologischen Ansatz war für Pask
Buch Computer and Brain schrieb:
die entscheidende Frage der Kybernetik die der Organisation
„Der englische Logiker A. M. Turing zeigte 1937 (und
komplexer biologischer, sozialer und mechanischer Systeme.
verschiedene Rechenmaschinenexperten haben seine
Sein besonderes Interesse galt der bilateralen Interaktion
Gedanken auf mannigfaltige Art in die Praxis umgesetzt),
zwischen zwei Entitäten: „Architektur ist nur als menschliche
daß es möglich ist, Befehlssysteme für eine Rechenma-
Umgebung sinnvoll. Sie interagiert fortwährend mit ihren
schine zu entwickeln, die sie veranlassen, sich wie eine
Bewohner:innen, indem sie ihnen einerseits dient und anderer-
bestimmte andere Rechenmaschine zu verhalten.“45
seits ihr Verhalten kontrolliert.“49 Daher könne die Architektur
Der Code der Computersprache ermöglichte also die Vernet-
mithilfe von Computern das menschliche Verhalten beeinflus-
zung zwischen verschiedenen Maschinen und anderen ange-
sen und umgekehrt. Pask versuchte, durch die ununterbrochene
schlossenen Apparaten. Zusätzlich beeinflusst wurden Prices
Interaktion zwischen Mensch und sich wandelndem Raum das
zukünftige Entwürfe, zu denen auch der Fun Palace gehörte,
Gefühl von Freude und Glück zu stimulieren.
durch einen Vortrag über Kybernetik mit dem Titel „Art and
Bei der Konzipierung des Fun Palace waren der Traum von
Communication Theory“, den Ross Ashby 1960 im ICA hielt.
einer Symbiose zwischen Mensch und Computer und die
In Anlehnung an die kybernetischen Forschungen von Nor-
neuen gesellschaftlichen Fragen, die mit dieser technologi-
bert Wiener, der eine neue Theorie über das Verhalten insta-
schen Innovation aufkamen, sowie der auf der Spieltheorie
biler Systeme formulierte, richtete Ashby das Augenmerk auf
und der Improvisation basierende spielerische Ansatz allesamt
die Tatsache, dass die Maschinen der ersten Industriellen
entscheidend. Cedric Price war davon überzeugt, dass
Revolution einfache Funktionen gehabt hätten, dagegen sei
Gebäude nicht für die Ewigkeit gemacht sind, sondern sich in
„die Lage heute eine völlig andere, da die Erfindung des Uni-
der Interaktion mit dem Publikum ständig weiterentwickeln
versalcomputers schlicht bedeutet, dass es heute Maschinen
müssen. Für ihn war die Zeit die vierte Dimension, die bei der
gibt, die buchstäblich alles können“. Diese Öffnung durch
Planung eines Gebäudes berücksichtigt werden sollte, und
die neuen Technologien stimulierte die Kreativität der Archi-
die Aufgabe des Architekten, Veränderungen zu antizipieren,
tekt:innen, die sich nunmehr eine andere Weise ausdenken
um sie in den Dienst der Gesellschaft zu stellen.
46
konnten, die Welt zu bewohnen. Der Indeterminismus Gordon Pask, Kybernetiker
Ein weiterer grundlegender Begriff für den Fun Palace war der
Im Jahr 1963 kontaktierten Price und Littlewood den „Alt-
„Indeterminismus“. Er wurde von dem Physiker Werner
meister der romantischen Kybernetiker“ Gordon Pask und
Heisenberg und dem Philosophen Karl Popper theoretisch
fragten ihn, ob er Interesse hätte, mit ihnen am Fun Palace zu
gefasst und inspirierte zahlreiche Forschende in verschiedenen
arbeiten. Pask war von ihrem Projekt begeistert, bot es ihm
Bereichen wie Psychologie oder Sozialwissenschaften, aber
doch die Möglichkeit, nicht nur seine „Conversation Theory“
auch Kybernetik, Stadtplanung und Architektur. In seinem be-
zu erproben, sondern auch seine „Interactions of Actors
rühmten Aufsatz „Wolken und Uhren“, der 1956 in dem Band
Theory“, die einen kybernetischen und dialektischen Rahmen
The Open Universe. An Argument for Indeterminism erschien,50
lieferte, der erklärte, wie Interaktionen zur Wissenskonstruktion
behauptet Popper im Rückgriff auf den Indeterminismus der
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152
Wiederverzauberung der Welt
Anmerkungen Seite 166 und 167
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Quantenphysik, dass man sich die a priori unvorhersehbaren
das Vergnügen von der Musik, insbesondere vom Gesang in
Wolken als hochkomplexe Uhrwerke vorgestellt habe, wo
Begleitung eines großen Orchesters, herrührt und stets mit einer
doch in Wirklichkeit die Uhren Wolken seien, anscheinend
kritischen Reflexion über die Gesellschaft sowie einer moralischen
wohlgeordnet, aber kaum vorhersehbar, wenn man sie als
Botschaft einhergeht. Fun war für sie untrennbar mit emanzipa-
Wolken von Molekülen betrachtet. Er übertrug den Indetermi-
torischem Denken und Freiheit verknüpft – fundamentalen Zielen,
nismus-Begriff auch auf die sozialen Bedingungen und zeigte
die nach ihrem Dafürhalten nur allzu oft vernachlässigt wurden:
auf, dass es einen Platz für menschliche Freiheit, Kreativität
„Die wichtigsten Aspekte menschlicher Entwicklung werden
und Verantwortung gibt und sich diese dem Determinismus
von den Stadtplanern immer noch missachtet, und das
entziehen, der die Zukunft mit einer gewissen Genauigkeit
Problem der Linderung des Elends, der Verzweiflung und
vorherzusagen vorgibt. Vermittels zahlreicher Wissenschaft-
der Stumpfheit der Menschen ist so akut, dass jeder qualifi-
ler fand das Konzept des Indeterminismus auch Eingang in
zierte Lehrer, Kybernetiker und Künstler für den Kampf
der Architektur: als Idee von der Flexibilität nicht vorherbe-
gegen die Dumpfheit rekrutiert werden muss […].“52
51
stimmter Räume, wie sie Littlewood, Price, Pask und Newby
Littlewood und Price verwendeten die Begriffe „Freizeit“ und
sowie alle anderen Mitglieder des Projektteams sich vorstellten.
„Lernen“ synonym, denn ihr Konzept des Fun Palace war mit einer konstruktiven Nutzung der freien Zeit verbunden. Doch
Fun Palace
wie sollte diese freie Zeit gestaltet werden? Mit welchen Praktiken und Nutzungen? Die Mitglieder des Projektteams hatten
Was ist „fun“?
entsprechend ihren jeweiligen Interessen eine eigene Vorstel-
Joan Littlewood verband mit dem englischen Wort „fun“ für
lung davon. Gordon Pask etwa erwähnte in einer Notiz des
„Spaß, Vergnügen“ nicht die müßigen Freizeitvergnügungen,
Kybernetik-Komitees das „Happening“ als mögliche Nutzung
sondern orientierte sich vielmehr am Brecht’schen Theater, wo
und Anwendungsweise der Kybernetik:
Cedric Price, Innenperspektive des Fun Palace, um 1966 Anmerkungen Seite 167
Cedric Price und Joan Littlewood: Fun Palace
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„Am anderen Ende nehmen wir als Paradigma das
110 Meter breit und circa 80 Meter hoch. Im Erdgeschoss ist
,Happening‘, eine Art amerikanische Party. Im Prinzip sollte
sie als vollkommen offene und von allen Seiten zugängliche
das ,Happening‘ einen Input an neuartigen und mannigfaltigen
Halle konzipiert. Sie kann den jeweiligen Aktivitäten beliebig
Ereignissen geben, deren Fortgang vom Feedback der
angepasst und immer wieder umgewandelt werden. Dafür
Partyteilnehmer reguliert wird.“
sorgt ein System von Kränen auf Schienen, das auf dem Dach
53
Als Anwendungsmöglichkeit nannte er „spezifische Kunstfor-
installiert ist und von einem Computer, der die mechanische
men der Kybernetik“, die im Fun Palace in Interaktion mit
Umplatzierung der beweglichen Teile ausführt, gesteuert wird.
konventionelleren Freizeitorten wie Bars und Restaurants ent-
Diese Umplatzierung wird durch die Bewegungen der anwe-
wickelt und ausgestellt werden könnten. Die Frage, wie Glück
senden Personen im Raum ausgelöst, auf die die Computer,
hervorzubringen sei, schien ihm von fundamentaler Bedeutung:
die laut Spieltheorie untereinander interagieren, reagieren wie
„Da geht es insbesondere um philosophische und theoreti-
die Spieler. Abgesehen von einigen festen Bauteilen wie Trep-
sche Fragen und Prinzipien, die für die Bestimmung dessen,
pen, Aufzügen und Schächten, die in einer Reihe von mächti-
was mutmaßlich Glück hervorruft, bedeutend sind, und
gen Pfeilern eingebaut sind – die ihrerseits in einem
darum, welche Rolle die Organisation im Hinblick auf die
Doppelraster, das Newby „tartan pattern“ nennt, angeordnet
Freizeitgestaltung in einer automatisierten Gesellschaft
sind –, ist alles andere beweglich: Die Rolltreppen sind
spielen soll.“54
schwenkbar, um je nach Nutzung und Programm Platz zu
Er fragte sich, bis zu welchem Grad der Fun Palace als selbst-
schaffen; die Fußgängerbrücken und Plattformen sind ebenso
organisiertes System gedacht werden konnte, in dem eine
beweglich wie das Mobiliar, insbesondere die Tribünen, die
Reihe von Einrichtungen sich „in einer ihnen inhärenten regu-
von zwei Kränen umgesetzt werden, deren Aktionsradius bis
lierten Weise“ entwickelte. Für Pask wäre diese Entwicklung
in den letzten Winkel der Halle reicht, da sie das Gebäude
ein Zeichen des Erfolgs. Glück, Freizeit und die Selbstorgani-
der Länge nach durchqueren können. Die Rauminstallationen
sation des Systems durch computergesteuerte Kybernetik
in den Seitenflügeln (Kinosäle, Werkräume, Tagungsräume
waren mithin die Schlüsselfaktoren des Fun Palace.
usw.) können beliebig verändert, umgebaut und ausgetauscht
55
werden. Das Dach besteht aus einer an beweglichen Seilen Das architektonische Konzept
montierten Plane und die Halle wird mit großen Gebläsen
Für Cedric Price boten die Kybernetik und insbesondere die
klimatisiert. Die Schöpfer des Fun Palace entwickeln aber
Begriffe der „Zirkularität“ und des „Feedbacks“ (Rückkopp-
nicht nur ein raumklimatisches Konzept, sondern auch ein
lung) eine großartige Möglichkeit, die Nutzer aktiv in die Ar-
atmosphärisches: Die Luft wird zur Herstellung von Nebel-
chitektur einzubeziehen. Das architektonische Konzept des
dunst genutzt, um Lichtstrahlen sichtbar zu machen und
Fun Palace basiert auf einer großen leeren Box, in der allerlei
besondere Stimmungen zu erzeugen. Es ist eine gigantische
Aktivitäten Aufnahme finden können. Price beschrieb diese
Maschinerie, die sich fortwährend neu konfiguriert und von
Halle bzw. das Exoskelett als „anti-building“:
Computern, die mit dem Publikum interagieren, gesteuert
56
„Seine Form und Struktur ähneln denen einer großen
wird – ein Dispositiv, das den Traum der Symbiose von Mensch
Werft, in der abgegrenzte Bereiche wie Theater, Kinos,
und Computer veranschaulicht und greifbar macht.
Restaurants, Werkstätten und Versammlungsräume kombiniert, versetzt, neu angeordnet und fortwährend ausgemustert
Schwierige Implementierung in der realen Welt
werden können. Seine mechanisch gesteuerten Umwelt-
Die Standortfrage war für das ehrgeizige und hochkomplexe
kontrollen sind derart, dass er [der Fun Palace] in einem
Projekt ganz zentral. Joan Littlewood und Cedric Price waren
verseuchten Industriegebiet stehen kann, das für Vergnü-
davon überzeugt, dass das Gebäude nicht in der Nähe der
gungsstätten konventionelleren Typs ungeeignet ist.“
Theater in den wohlhabenden Vierteln von West London,
57
Die besagte Box ist eine Stahlkonstruktion (und dank der
sondern in den Arbeitervierteln von East London implemen-
jüngsten Erfindung der intumeszierenden Farbe brand-
tiert werden sollte:
geschützt); sie hat eine Länge von circa 238 Metern, ist
154
Wiederverzauberung der Welt
„Die Tatsache, dass derartige Vergnügungen in den armse-
Anmerkungen Seite 167
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ligen Gebieten der Londoner Slums geschehen, weist auf das
später (1971) von Richard Rogers und Renzo Piano entworfen
immense Vergnügungspotenzial einer Gegend hin, die wahl-
wurde und mit seinen 166 × 60 × 42 Metern fast halb so groß
loses Schlendern und alle möglichen Aktivitäten fördert.“58
ist wie der Fun Palace.
Bei einem Spaziergang entlang der Themse im Londoner East End entdeckte Littlewood das Gelände einer großen
Eine Zeitmaschine des Werdens
verlassenen Fabrik am Ufer der Isle of Dogs – Glengall Wharf
Der Fun Palace ist als „Zeitmaschine“ anzusehen, die mehrere
und fand, dass es der ideale Standort für den Fun Palace war.
Zeitlichkeiten gleichzeitig anbietet: Sobald man die Räumlich-
Das Areal gehörte der Stadt und wurde vom Gardens Com-
keiten betritt, wird man in eine Binnenwelt hineingezogen, in
mittee verwaltet. Littlewood und Price beschlossen, auch um
der sich die räumlichen und zeitlichen Konstellationen fort-
bei einer Kontaktaufnahme ihre Chancen zu erhöhen, ihr Pro-
während verändern. Das „Zepter“ von Price und Littlewood
jekt zuerst der Öffentlichkeit zu präsentieren; sie machten auf
(um die Metapher von Catherine Malabou aufzugreifen)
der Grundlage eines großen Modells einen Film mit schönen
schneidet diesen „Kulturtempel“ von der übrigen Welt und
Ansichten vor schwarzem Hintergrund, der in der BBC gezeigt
damit auch von der Echtzeit ab. Die Aufhebung von Raum
wurde. So erfuhren viele Menschen übers Fernsehen von dem
und Zeit erlaubt die Schaffung eines verzauberten Binnenkos-
visionären Projekt und die Presse griff die Sache auf. Der
mos, in dem alles möglich wird und sich ständig verändert.
Fun Palace wurde über Nacht berühmt. Die Reaktionen waren
Man findet sich in einer Art dynamisierendem „Katalysator“
durchwegs positiv, da das Gebäude Freizeit- und Lernzwe-
wieder, der Glück bereitet und das Individuum dadurch,
cken dienen sollte, was eine gute Antwort auf die Probleme
dass ihm sein Veränderungspotenzial bewusst gemacht wird,
der damaligen Zeit zu sein schien. Daraufhin nahm Littlewood
in einen emanzipierten Bürger verwandelt.
Kontakt zum Gardens Committee auf und trug ihrer beider
Karl Poppers Indeterminismus und die von ihm aufgezeigte
Wunsch vor, den Fun Palace auf der Isle of Dogs zu bauen.
Möglichkeit für die menschliche Freiheit, Kreativität und Ver-
Unterdessen protestierte ein Zusammenschluss von Anwoh-
antwortung, dem Determinismus zu entgehen, finden hier
ner:innen gegen das Vorhaben, weil sie fürchteten, dass der
ihren Niederschlag in einer Architektur, die über Computer
Fun Palace massenhaft dubiose Leute anziehen würde. Littlewood
mit den Bewohner:innen interagiert, ohne dass dabei die
entgegnete ihnen in einer engagierten und flammenden Rede:
menschlichen Handlungen und die entsprechenden räumli-
„Die Volksbildung ist rückläufig, gleiches gilt für die
chen Konfigurationen vorhersehbar wären. Indeterminismus,
staatliche Planung. Wir können es uns nicht leisten,
Unvorhersehbarkeit und Kybernetik werden auf diese Weise
menschliche Talente zu vergeuden. In jedem Kind steckt
zu neuen Paradigmen der Kultur und des Fortschritts, die der
unentdecktes Talent. Wir müssen unsere Prioritäten richtig
Emanzipation der Menschen zugrunde liegen.
setzen.“
Innerhalb dieser imaginären Struktur erscheint die Mensch-
59
Littlewood vermochte die Anwohner:innen zu überzeugen:
Computer-Symbiose als ein Wunschtraum, der der Technolo-
Sie verstanden, dass dieses Gebäude auch eine Chance für
gie die Macht verleiht, zum kollektiven und individuellen
sie darstellte. Leider fiel die Antwort des Komitees negativ
Glück beizutragen. Das Raumgefüge beruht auf Instabilität,
aus und auch die Suche nach einem neuen Standort blieb er-
erzeugt durch bewegliche Elemente und Leuchtkörper, die
folglos. Gleichzeitig versuchten Littlewood und Price, öffentli-
sich entsprechend den Bewegungen der Nutzer:innen verän-
che und private Sponsoren zu finden, um das nötige Geld für
dern. Das „Wohnen“ in der Begriffsdefinition von Martin
ihr Vorhaben aufzutreiben. Doch es war zu kostspielig, zu am-
Heidegger im phänomenologischen Sinn des In-der-Welt-
bitioniert und im Hinblick auf die Planung zu ungenau, um die
seins (Bauen, Wohnen, Denken, 1951) ist nur noch ein Vor-
Behörden zu überzeugen, und so wurde der Fun Palace im
kommnis in Raum und Zeit, das je nach Situation variiert und
Endeffekt nie realisiert. Mit seinen großen sozialen und tech-
sich verändert. An einem solchen dionysischen Kultur- und
nologischen Ambitionen ist er zwar eine Utopie geblieben,
Wissensschauplatz ist Impermanenz das Schlüsselwort.
diente aber als Inspirationsquelle für andere Bauwerke,
„Lernen, um zu werden“ könnte die symbolische Botschaft
namentlich das Centre Pompidou in Paris, das sechs Jahre
des Fun Palace lauten.
Anmerkungen Seite 167
Cedric Price und Joan Littlewood: Fun Palace
155
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 156
Vernetzung: Vom Global Village zu architektonischen Phantasmagorien Das Aufkommen der Informatik hat auch Sozialwissenschaftler, Schriftstellerinnen, Künstler und Architektinnen dazu animiert, phantasmagorische Vorstellungswelten zu entwickeln, wobei die Möglichkeit einer computervernetzten Menschheit nicht nur neue Perspektiven eröffnete, sondern auch neue Ängste schürte. Diese beiden Aspekte finden sich auch im Buch The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man von Marshall McLuhan aus dem Jahr 1962. McLuhan setzte sich kritisch mit dem Beginn des Computerzeitalters auseinander und prägte den Begriff „Global Village“. Er ahnte voraus, dass die „Massenmedien“ die Welt in ein „globales Dorf“ verwandeln würden. Die „Gutenberg-Galaxis“ vereint, wie in Paul Otlets (ebenso vorausschauendem) Projekt, alle verzeichneten menschlichen Kunstwerke und Wissensbestände in sich – in einer Welt, die zu einem riesigen Computer geworden wäre: „Statt sich auf eine riesige alexandrinische Bibliothek hinzubewegen, ist die Welt ein Computer geworden, ein elektronisches Gehirn, wie wir das in einem kindischen Zukunftsroman lesen können. Und so wie unsere Sinne sich
Carl Andre, Essay On Sculpture For E. C. Goossen, 1964, Schreibmaschinenschrift auf Papier, 28 × 21 cm, aus: Carl Andre, Things in Their Elements, London 2011
nach außen begeben haben, so dringt der Große Bruder in
156
uns ein. Folglich werden wir, wenn wir uns dieser Dynamik
entschließt, diese visuelle Technik durch eine elektrische
nicht bewußt sind, schlagartig in eine Phase panischer
Technik einzuschränken, wird auch der Individualismus
Schrecken hineingeraten, was genau zu unserer kleinen, von
eingeschränkt.“61
Stammestrommeln widerhallenden Welt, zu unserer völligen
McLuhan unterstrich die Bedeutung des Übergangs von der
Interdependenz und aufgezwungenen Koexistenz paßt. […]
mündlichen Überlieferung zur schriftlichen, die durch die
Der Terror ist in jeder oralen Gesellschaft der Normalzustand,
Schrift segmentiert und homogenisiert worden sei, während
denn in ihr wirkt allzeit alles auf alles ein. […] In unserem
die neue elektrische Kultur eine Rückkehr zur Stammeskultur
langen Bemühen, für das Abendland wieder eine Einheit
mit sich bringe, die der oralen Kultur ähnle. Unsere „neue
des Empfindens, des Denkens und Fühlens zurückzuerlangen,
elektrische Zivilisation“ stelle „unser Leben wieder auf die
sind wir ebensowenig darauf gefaßt gewesen, die sich aus
Basis einer neuen Stammeskultur“, schrieb er zu Beginn des
einer solchen Einheit ergebende Stammeskultur anzunehmen,
Informatikzeitalters in der Überzeugung, dass die Technologie
wie wir auf die Fragmentierung der menschlichen Psyche
das Selbstverständnis des Menschen tiefgreifend verändern
durch die Buchdruckkultur vorbereitet waren.“60
würde, sowohl individuell als auch kollektiv.62 Die Geschichte
McLuhan stellte die These auf, dass der Buchdruck (im Unter-
hat ihm Recht gegeben.
schied zur Manuskriptkultur) den Menschen individualisiert
Die Rückkehr zur Stammeskultur ist in gewisser Weise eine
bzw. „entkollektiviert“ habe:
Rückkehr zum Archaischen. Die Faszination für das Archaische
„Der Buchdruck bildet die Endphase der Alphabet-Kultur,
findet sich bei David Greene, dem Mitbegründer der britischen
die den Menschen in erster Linie aus dem Stammesverband
Architektengruppe Archigram, ebenso wieder wie bei den
gerissen oder entkollektiviert hat. […] Der Buchdruck ist die
amerikanischen Minimalisten mit ihren rätselhaften, stummen
Technik des Individualismus. Wenn nun die Menschheit sich
Gegenständen, die wie aus vorgeschichtlichen Zeiten zu
Wiederverzauberung der Welt
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stammen scheinen, als die Schrift noch nicht erfunden war. Die Auflösung der Sprache im Sinne herkömmlicher Sprachformen vollzog bereits Kurt Schwitters mit seiner Ursonate (1922 –1932) nach dem Trauma des Ersten Weltkriegs, wobei Raketengeräusche die Satzstrukturen zerstören. Nach dem darauffolgenden Krieg setzte gegen Ende der 1950er Jahre die Wiener Gruppe (Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener) diese auflösend-neukomponierende experimentelle Tendenz mit Lautgedichten, Atemgedichten, Partituren und bildhaften „Topologien der Sprache“ (Konrad Bayer) fort – so, als ob nach einer schweren Katastrophe
Hans Hollein, Mobiles Büro, 1969, Installation, Foto und Film: Hans Hollein beim Zwischenstopp mit Reißbrett und Telefon am Flugfeld Aspern bei Wien
die Sprache selbst erst wieder neu erfunden werden müsste. Carl Andre, den der Besuch
dass die Zeichnung seines Hauses bald fertig sei. Der Kurzfilm
von Stonehenge 1954 tief beeindruckt hatte, schuf Anfang
Mobiles Büro feierte eine Erfindung, die uns dank des Telefons,
der 1960er Jahre Schriftbilder, in denen er die Sprache, völlig
das Hollein sich hellsichtig als drahtloses, mobiles Gerät vor-
sinnentleert, auf Wortgebilde reduzierte (…cockcockcock…)
stellte, von räumlichen Zwängen befreit. Allein die Vorstellung
und sie zu Rechtecken oder anderen geometrischen Figuren
einer Vernetzung des gesamten Globus und einer Mobilität
anordnete. Die Form gewann die Oberhand über den Inhalt,
ohne Einschränkungen stellte schon damals die Kultur- und
die geschriebene Sprache verschwand in abstrakten Figuren.
Weltsicht auf den Kopf.
Seine massiven, dunklen Skulpturen, auch aus unbehandeltem Holz, scheinen mehr der oralen, altüberlieferten und tribalistischen Tradition verbunden zu sein als der Schrifttradition. Schon lange vor dem Internet war die Vorstellung einer Ver-
Archigram, David Greene: Rokplug und Logplug, 1969
netzung der ganzen Welt, einer generalisierten Zusammenschaltung aller Erdbewohner:innen ein Traum, der viele
Ungefähr zur selben Zeit, als Cedric Price den Fun Palace ent-
Künstler:innen und Architekt:innen inspirierte, die über neue
warf, machte sich eine Gruppe junger Londoner Architekten
Wege nachdachten, die Erde zu bewohnen, beispielsweise in
daran, in Abkehr von der funktionalistischen Nachkriegsarchi-
mobilen und ultravernetzten Kapseln. 1969 erfand Hans Hollein
tektur des Wiederaufbaus eine andere Art des Bauens zu er-
ein ephemeres, aufblasbares, mobiles Büro, das überall aufge-
finden, die die Welt ein Stück weit wiederverzaubern könnte.
stellt und beliebig umgestellt werden konnte. Er ließ sich filmen,
Aus der Popkultur kommend, versuchten sie die Kriegszeit
wie er in einer Blase auf dem Boden sitzt, ein Zeichenbrett auf
und die darauf folgenden Krisenjahre mit ihren Erzählungen
den Knien; im Hintergrund sind Sportflugzeuge zu sehen. Als
und Architekturfantasien schnellstmöglich zu vergessen. Die
sein Telefon klingelt, hebt er ab und erklärt seinem Kunden,
Jugend hatte damals nur einen Wunsch: sich schleunigst von
Anmerkungen Seite 167
Archigram, David Greene: Rokplug und Logplug
157
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der grauen Eintönigkeit zu befreien und eine andere Welt der
Städte aus, die monumentalen und unheimlichen Maschinen
kollektiven Freude und der wesentlichen Erfahrungen zu
glichen oder, im Gegenteil, als leichte und kurzlebige Gebilde
schaffen – mit anderen Worten eine dionysische und schran-
von schwebenden Ballons getragen wurden. Mithilfe von Dia-
kenlose Welt, angetrieben von ständiger Bewegung und er-
grammen, Zeichnungen und Comicstrips skizzierten sie eine
füllter Augenblicklichkeit.
Welt, die die Realität hinterfragt, und loteten die Grenzen des
Ihre geradezu bilderstürmerische Zeitschrift Archigram brach
Möglichen und Vorstellbaren in einer nahen oder fernen Zu-
mit der herrschenden architektonischen Kultur und den übli-
kunft aus. Sie trieben ein Spiel mit Raum und Zeit, in dem der
chen Darstellungsweisen, vor allem aber mit der Bedeutung
Mensch, die Stadt, die Kultur und die Gesellschaft auf den
von Architektur an sich, die zu einer Art Spiel, Comic, Spaß,
Kopf gestellt und neu gedacht wurden, ein Spiel, in dem uns
zu einer spekulativen und proaktiven Erzählung wurde.
nolens volens alle Orientierungspunkte verloren gegangen
„Archigram befreit sich vom ,Bedürfnis-Menschen‘ der CIAM-
waren.
Kongresse, vom Kultur- und Beziehungsmenschen von
Wie bei allen fiktionalen Erzählungen bestand das wichtigste
TEAM X, um ein fiktionales Wesen zu umreißen, das sich sein
Instrument und die Vorgehensweise von Archigram in einer
persönliches Theater erfindet“, schreibt Alain Guiheux. In
Manipulierung von Raum und Zeit. Im Werk der Architekten-
ihrem „persönlichen Theater“ spielte Archigram vielfältige,
gruppe finden sich zwei Erzählstränge, die sich um die Stadt
mal erschreckende, mal berückende Fiktionen immer wieder
einerseits und um die Natur andererseits drehen, wobei deren
durch. So dachte sich die Gruppe beispielsweise mobile
gemeinsamer Nenner die neuen Technologien und die
63
David Greene, Logplug und Rokplug, 1969, Ausstellung Archigram, Kunsthalle Wien, 1994
158
Wiederverzauberung der Welt
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Unbeständigkeit sind. Daraus ergeben sich neuartige Interak-
denen lenkbare Ballons schweben, an denen Zelte hängen.
tionen zwischen Mensch und Umwelt, die das Verhältnis zur
Eine technische Infrastruktur aus Gerüsten, Kränen und Robo-
Stadt und zur Natur grundlegend infrage stellen. Kulturelle
tern gewährleistet den Betrieb der temporären Anlage. Die
und ontologische Krisen begünstigen eine Neuerfindung der
ephemere Stadt – eine Hochburg der festlichen und zauber-
Welt und der Gesellschaft. Hier öffnet der Traum von einer
haften Kultur – erzeugt ein Event und verschwindet dann so-
Mensch-Computer-Symbiose ein vielstufiges fiktionales Feld –
fort wieder. Architektur beschränkt sich auf einen Akt in der
von der Megastruktur bis zum menschlichen Körper.
Gegenwart, nichts ist mehr von Dauer, weder örtlich noch zeitlich. Als Vorbote des Internetzeitalters stützt sich die ima-
Visionen einer flüchtigen Stadt, Plug-in City
ginäre Stadt auf ein Netzwerk der Informationsströme, verbin-
und Instant City
det lokale Gemeinschaften zeitweise mit der Metropole und
Die Mitglieder von Archigram – Peter Cook, Warren Chalk,
führt so die über das Territorium verstreuten urbanisierten
Ron Herron, Dennis Crompton, Michael Webb und David
Fragmente zusammen. Die Stadt wird also nicht mehr als eine
Greene – hatten ihr Domizil in der Londoner Architectural
Ansammlung von Gebäuden, die sich über einen langen Zeit-
Association. Sie griffen nicht nur einige Themen von Cedric
raum hinweg gebildet hat, betrachtet, sondern als ein Gewebe
Price und dessen Fun Palace auf, sondern holten sich auch
aus endlos ineinander verwobenen Ereignissen, die die Mög-
Anregungen beim Raumstadtkonzept „La Ville spatiale“ (1959)
lichkeiten der Selbstbefreiung und des Überlebens verbessern
von Yona Friedman, der Megastrukturen mit integrierten
sollen. Eine Art Fun Palace im territorialen Maßstab.
Wohnzellen entwarf, die gleichsam über Stadt und Land schweben, um die Bodenfläche frei zu lassen. In ihrer Zeitschrift
Zeit, Abwesenheit und Tarnung: David Greene und die
befassten sie sich mit Fragen der Mobilität, Unbeständigkeit
durch Rokplug und Logplug erweiterte Natur (1969)
und Freude. Mit Plug-in City (erschienen 1964 im 5. Heft von
Stark von McLuhan angeregt, interessierte sich Archigram
Archigram) entwickelten sie eine um 45 Grad geneigte Mega-
auch für die Natur, da sie durch die neuen Technologien in
struktur, bestehend aus mobilen Wohneinheiten, Infrastruktur
einen neuen Lebensraum verwandelt werden konnte. Nach-
für die Bewohnerschaft, aus integrierten Zugangsstraßen und
dem die ersten Projekte den Fokus auf Wegwerfbarkeit, Ob-
einem Monorail-Transportsystem. Der bilderstürmerische Ent-
soleszenz und consumability (die Tendenz der Architektur, sich
wurf versprach eine endlose Wandelbarkeit, um Obsoleszenz
selbst zu verbrauchen) gelegt hatten, brachte nun David
zu vermeiden: Jedes Einzelteil konnte, ähnlich wie beim Fun
Greene, der „Poet“ der Gruppe, eine autarke ökologische
Palace, nach dem Prinzip des fortlaufenden Um- und Neuauf-
Dimension ein. Seine Visionen führten in eine archaische und
baus mithilfe von Kränen bewegt werden, die an der Spitze
zugleich hochtechnologische Vorstellungswelt, indem er die
des Bauwerks montiert waren. Peter Cook entwickelte dieses
Zukunft und die Vergangenheit gleichermaßen heraufbe-
Prinzip fort und erweiterte es um ein Bildungsprogramm na-
schwor, um die Welt neu zu verzaubern. Greene fragte sich,
mens Plug-in University Node (1965). Dennis Crompton wie-
wie die Architektur des „elektronischen Menschen“ aussehen
derum interessierte sich besonders für die Kette der sich mit
könnte, den McLuhan in seinem Buch Die Gutenberg-Galaxis
der Zeit verändernden Tätigkeiten und schuf 1964 die Com-
beschreibt. Im Gardeners Notebook (erschienen 1969 im
puter City, eine von Computern gesteuerte Stadt mit einem
8. Heft von Archigram), einer Reflexion über die Natur und
U-Bahn-Netz.
die „Maschine, die in der Natur ihren Platz findet“, sinniert er
Die Frage der Zeit- und Ortsgebundenheit wurde von Peter
über die Flüchtigkeit der Orte:
Cook in Instant City (1965) bearbeitet, einem urbanen Szenario,
„Ein flüchtiger Ort, bleibend vielleicht nur in der Erinnerung.
bei dem neue Kommunikations-, Informations-, Bildungs- und
Eine Architektur, die nur in Abhängigkeit von der Zeit existiert.
Freizeiträume kurzfristig über eine bestehende Stadt gelegt
Es ist seltsam, daß die Zeit in den letzten Jahren eine so
werden. Diese Stadt bietet eine audiovisuelle Umgebung aus
bedeutende Rolle in allen Künsten gespielt hat, mit Aus-
Worten und Bildern, die auf Leinwände projiziert werden, au-
nahme der Architektur (abgesehen von verbalen und
ßerdem mobile Objekte wie Kapseln und Wohnmobile, über
oberflächlichen Auseinandersetzungen mit ,Bewegung‘ und
Anmerkungen Seite 167
Archigram, David Greene: Rokplug und Logplug
159
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 160
,Kommunikation‘). Vielleicht haben die Architekten schon
und einen raschen Bewuchs mit Moos, Flechten oder Pilzen
immer gewußt, daß sie sich, wenn sie sich auf die Dimension
begünstigt.“69 So begegnen wir wieder der Vorstellung einer
Zeit einlassen, selbst ums Geschäft bringen.“64
Mensch-Computer-Symbiose, allerdings mit einer anderen
Eine seiner berühmtesten Erfindungen ist der Living Pod
Ästhetik. Diese bezieht sich nicht mehr auf eine mechanische
(1967), eine vollkommen autarke Kapsel, die mittels Projektio-
und betont ikonische Megastruktur, sondern impliziert das
nen auf die Innenwände von der Außenwelt abgeschnitten ist.
Verschwinden der Architektur an sich, die nur noch „erweiterte“
Noch näher am Körper ist eine Art aufblasbares Bett von Mi-
Natur ist.
chael Webb, das sich in eine den Körper umhüllende, auf
Daran anschließend beschreibt Greene die technische Vor-
zwei, drei oder vier Personen erweiterbare Blase verwandeln
richtung in der Art einer Gebrauchsanleitung, als stünde sie
kann (Cushicle, 1966); später entwirft er einen elektronischen
bereits in einem Katalog zum Verkauf:
Anzug, ähnlich dem der Kosmonauten, der sich an andere
„Dieses Diagramm erklärt die Funktionsweise eines
Personen andocken lässt, um zu mehreren eine körperliche
typischen Simulations-Baumstamms. Die Fixierdichtung für
Einheit zu bilden, und aus dem man je nach Bedarf aus- oder
die Steine und Stämme ist standardisiert und austauschbar.
wieder einsteigen kann (Suitaloon, 1968).
1. Zugangsdeckel
Greene entwarf auch ein Fahrzeug, das als fahrbares Haus
2. Kaltwasseranschluss
nutzbar war, so dass mehrere Wohnwagen, insbesondere bei
3. Ausgang der Kabel-Dienste: Wechsel- und Gleichstrom,
Verkehrsstaus, eine potenzielle Stadt bilden könnten. Aller-
Telefon, Anschluss für internationale Informationen,
dings: „Das wichtigste Problem beim mobilen Wohnen ist na-
Anschluss für Bildung und Erziehung
türlich die Energiequelle. Solange kein wirklich brauchbares
4. Kreditkarten-Steckplatz
System vorhanden ist, wird man auf Batterien und Gasfla-
5. Buchse
schen ausweichen müssen“, stellte er im Gardeners Notebook
6. Dienstleistungs-Messgerät und Kontrollsystem
in einer erläuternden Notiz zur Vorrichtung Rokplug und Log-
7. Abnehmbarer Deckel
plug (1969) fest.65 So schlug er ein System für alle Arten mobi-
8. Sender des Plugfind-Ortungssignals
ler Architekturen vor, um das Problem der Versorgung zu
9. Versorgungskabel
lösen: „Zum Aufladen braucht man eine Anschlußmöglichkeit
Vorgehensweise für die Verwendung von Logplug und
[…]. Und genau dafür gibt es die Rokplugs und Logplugs.“66
Rokplug: Zugangsdeckel 1 anheben. Standardstecker der
Diese sind täuschend echte Nachbildungen von Baumstäm-
mobilen Einheit in die Buchse 5 stecken. Verriegelungsvor-
men und Gesteinsbrocken, in denen „die Steckdosen für
richtung sichern. Kreditkarte in den Steckplatz 4 einfügen.
nicht- oder halbautonome Wohncontainer“ verborgen sind.
160
67
Gewünschte Dienstleistung auf dem Display neben dem
Die Hightech-Installation tarnt sich als Teil der Natur, eine
Steckplatz auswählen. Öffnungsschalter betätigen. Alle
Entscheidung, die Greene mit einem ästhetischen Argument
Kosten werden über Ihre Kreditkartennummer abgerechnet,
begründete: „Sie wären vom echten Objekt nicht zu unter-
diese Kosten werden auf Ihrem Log-Find-Gerät angezeigt,
scheiden und würden somit in jeder Umgebung einen hohen
wenn Sie die gelbe Taste drücken.“70
Versorgungsgrad bieten, ohne die natürliche Schönheit zu be-
Es ist bemerkenswert, dass Greene die neuesten Technologien
einträchtigen (was bedeutet, dass das Dorf zu existieren auf-
einbezieht, wie zum Beispiel die Kreditkarte, die zu einer ge-
hört, wenn keine Hardware angeschlossen ist).“68
wissen Autonomie beiträgt. Automatisierung, Netzwerkan-
Dieses Narrativ basiert auf der Vergänglichkeit: Ein Ort als sol-
schlüsse und sanitäre Einrichtungen könnten seiner Meinung
cher existiert nur, wenn die mobilen Wohneinheiten an das
nach „jede natürliche Umgebung mit einem hohen Maß an
Versorgungssystem angeschlossen sind. Damit die Technik
Service ausstatten“.71 Die Art von gut getarnten und daher
mit der Natur verschmelzen kann, stellt sich Greene eine die
praktisch unsichtbaren Anschlüssen begeisterte ihn, weil diese
künstlichen Objekte überwuchernde Natur vor: „Alle Vorrich-
ein nomadisches und freieres Leben ermöglichten. Dabei
tungen bekommen eine mit eingelagerten Sporen versehene
dachte Greene, der Logik des Ephemeren folgend, sogar an
Oberflächenausführung, die für jeden Standort geeignet ist
den Müll, der komplett „elektrostatisch behandelt werden
Wiederverzauberung der Welt
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und dessen Asche entweder in den Wind gestreut oder in Sä-
Greene entfaltete die entropische Utopie einer toten Stadt
cken im Innern der Stämme oder Steine deponiert“ würde.
und einer expandierenden Vorstadt, die ihrerseits dem Verfall
72
Bleibt die Frage, wie die in der Natur verstreute und wegen
anheimgegeben ist. In seiner Erzählung ist der Untergang die
ihrer Tarnung nur schwer als solche erkennbare Versorgungs-
Bedingung an sich für die Rückkehr zur Natur (die er „Garten“
infrastruktur lokalisiert werden könnte. Greenes Antwort darauf
nennt), den ultimativen Traum der ursprünglichen wilderness,
ist wieder eine technische: Die künstlichen Gesteinsbrocken
in der Netzwerke, Computer und Kybernetik eine entschei-
und Baumstämme geben elektronische Signale ab, sodass
dende Rolle spielen. Er war davon überzeugt, dass die mo-
Reisende sie in einem Umkreis von 1,5 km mithilfe einer
dernen Nomaden ausgeklügelte Dienstleistungen benötigten,
Plugfind-Leuchte am Armaturenbrett ihres mit einem radio-
und stellte sich sogar eine durch Roboter unterstützte Land-
ähnlichen Empfangsgerät ausgestatteten Fahrzeugs orten
schaft vor (The Bottery).
könnten.
„Marshall McLuhan hat gesagt, daß man die Erde heute als
Greene dachte auch darüber nach, wer die potenziellen Inte-
eine Skulptur in der Galaxis ansehen kann“,76 schreibt er und
ressenten für diese Art von Vorrichtungen sein könnten, „die
beendet seinen Text, McLuhans Ideen aufgreifend, mit einem
als bewegliche Markierungen Räume auf dem Rasen abgren-
Hinweis auf die Ureinwohner: „Ihre Technologie war primitiv,
zen“. Er stellte sich alle Arten von Gemeinschaften und viel-
ihre Lebensform aber ganzheitlich, erfüllt von ewig gültigen
fältige Nutzungen vor. Er sprach von Arbeitsplätzen, Schulen,
Sagen und Geschichten.
Universitäten, Bibliotheken und Theatern, die sich „herbeizau-
Sie lebt mit und in ihrer Umgebung, nicht parasitär von ihr.“77
bern“ ließen, „ohne jede Einengung durch ein Gebäude. Sie
Durch dieses Wiederanknüpfen an den Urzustand kann er die
formen sich ganz einfach, wenn sie erwünscht sind“. In seiner
Architektur, die er sich als etwas Mobiles und Fließendes
Erzählung malte sich Greene den Untergang unserer Welt und
wünscht, neu denken und die neuen Technologien mit Träu-
die Entstehung einer fabelhaften neuen Welt aus, in der Tech-
men und Mythen in Beziehung setzen:
73
74
nik, Mensch und Natur eins werden:
„Unsere Architektur dagegen ist nichts anderes als das
„Ganz London oder New York könnte erscheinen auf den
Überbleibsel eines alten Traums, mit ihr wollten wir uns
baumbestandenen Plätzen, in den Wüsten, auf den blühenden
sicher auf der Oberfläche dieses Planeten verankern. Wenn
Wiesen der ganzen Welt.
doch diese Anker Räder hätten oder man sie mit irgendeiner
Im Augenblick müssen wir noch warten, bis die Mausoleen
gleitenden Substanz unterfüllen könnte. Dann bestände
aus Stahl und Beton in unseren Städten verwelken und die
unsere Verankerung auf der Erde aus Software, aus Liedern,
Vorstädte anfangen werden zu blühen. Danach werden
Träumen und Märchen. Trennt Euch von der Hardware, von
auch diese vergehen, und vielleicht wird die Welt irgend-
der Verankerung auf dem Boden der Erde. Der elektrifizierte
wann wieder zum Garten. Und das genau ist der Traum,
Ureinwohner führt zur gestundeten Architektur.“78
und wir sollten einander nicht darin bestärken, weiterzu-
Dieser „elektrifizierte Ureinwohner“ entspräche mithin einem
bauen, sondern darin, dieses unsichtbare Netzwerk in den
durch die Technologie erweiterten Urzustand – das reine
Lüften enger zu flechten … Lesen Sie ein paar Zeilen aus
Fantasiegebilde einer neuen Lebensform, basierend auf einer
diesem unglaublichen Gedicht – denn Gnade und Liebe
nicht dauerhaften Architektur, die Michael Webb zufolge „die
kommt aus den Maschinen:
Zugangsknoten zum Garten Eden“ bietet. Archigram speku-
Ich liebe es, (jetzt gleich bitte!)
lierte über die „möglichen Einflüsse, die ein Arsenal winzigster
mir einen kybernetischen Wald vorzustellen,
elektronischer Hardware auf unser Leben haben kann“,79 mit-
mit Nadelbäumen und Elektronika,
hilfe derer die Menschen sich in eine ultramobile „walking
wo das Wild friedfertig grast
architecture“ verwandeln könnten.
zwischen allerlei Computern
Die „Wiederverzauberung der Welt“ durch den Traum von
als ob es Blumen wären
einer Natur, die dank der neuen Technologien wieder zum
mit gesponnenen Blüten
Paradies geworden ist, böte den Komfort von Städten inmitten
Der Realist“75
der Natur und eine ungeahnte Freiheit. Das solchermaßen in
Anmerkungen Seite 167
Archigram, David Greene: Rokplug und Logplug
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den Urzustand zurückversetzte Kulturgebäude ließe uns vielleicht wiederfinden, was wir verloren haben: Träume, Lieder und Mythen, die Greene wie Programme und Netzwerke als
Ryue Nishizawa und Rei Naito: Teshima Art Museum, 2010
notwendige „Software“ bezeichnet.
Einer zyklischen Bewegung folgend, möchte ich wie das erste
Diese Erzählung setzt die Zeit außer Kraft und eröffnet eine
Kapitel auch das letzte Kapitel dieses Buches mit einem Ausblick
urzuständliche Zukunft, die von der Netzwerktechnologie ver-
auf ein Architekturprojekt im heutigen Japan beschließen:
zaubert wird. Die Stadt ist nicht mehr die Hochburg der Kultur,
dem Teshima Art Museum auf der Insel Teshima, das vom
sondern die erweiterte Natur und ihre Potenziale. Der archaische
Architekten Ryūe Nishizawa (Partner von Kazuyo Sejima der
und „elektrifizierte Ureinwohner“ wird zur Fantasiegestalt
SAANA-Gruppe) und der Künstlerin Rei Naito entworfen
eines neuen ökologisch-technoiden Zeitalters.
wurde. Durch seine extrem reduzierte Form und Funktion
In der von Archigram imaginierten Welt gibt es keinen Tempel
führt dieses Bauwerk die Phänomene der Natur und der ver-
und kein Zepter mehr, um einen Raum abzutrennen, wie dies
gehenden Zeit deutlich vor Augen. Es markiert eine Rückkehr
beim Schöpfungsakt eines jeden Bauwerks der Fall ist. Hier
zum Archaischen, insofern es auf so gut wie alles Artifizielle
ist das Zepter des Architekten ein digitales System, das die
verzichtet. Es ist ein Museum, in dem die Bedeutung des
Wildnis in bewohnbares Land verwandelt und auf diese Weise
Kunstwerks darin besteht, uns die Zeit spüren zu lassen, ein
durch die Technologie nach dem Vorbild der realen eine er-
Museum, in dem allein die natürlichen Elemente und der
weiterte Natur erschafft. Die Teilung, die überdauert, ist eine
Raum selbst Empfindungen erzeugen.
von der Zeit strukturierte: in starke Zeiten, wenn die Menschen
Die Frage der Kultur und ihres Zeitbezugs wird hier anders
vernetzt sind, wobei die Orte nur in diesem Moment existieren,
gestellt. Für den japanischen Kunstkritiker Noi Sawaragi, der
und in schwache Zeiten, während derer die Orte fast vollständig verschwinden (die kleinen Infrastrukturen, die selbst unsichtbar sind, ausgenommen). Es ist im Wesentlichen die Zeit, die diese Orte existieren lässt. Diese vorausahnende Utopie der Augenblicklichkeit und der elektronischen Vernetzung, die die Natur überall bewohnbar macht und sie mit der übrigen Welt vollends verbindet, ist Wirklichkeit geworden. Der „elektrifizierte Ureinwohner“ hat den gesamten Planeten mit seinen allgegenwärtigen Netzwerken erobert, die es ihm ermöglichen, Raum und Zeit, die Natur und sogar den Kosmos zu beherrschen – solange die ökologischen Folgen dieser totalen Kontrolle, die in der Regel mit einer profitorientierten Ausbeutung der Ressourcen bis zu deren Erschöpfung einhergeht, nicht auf ihn zurückfallen. Die optimistischen Visionen der Wiederverzauberung, die den „Computermenschen“ in einer ultimativen Osmose mit der Technologie sahen, um die Kultur inmitten der Natur zu fördern, stellen heute ein Szenario dar, das Gefahr läuft, sich in eine Dystopie zu verwandeln.
Ryūe Nishizawa, Teshima Art Museum, Künstlerin: Rei Naito, Werk: Matrix, 2010, Fotograf: Noboru Morikawa
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Wiederverzauberung der Welt
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die neue Welle japanischer Museen, die keine Kunst im herkömmlichen Sinne ausstellen, kommentiert, ist „das [traditionelle] Kunstmuseum ein mit einer Zeitkapsel vergleichbarer Ort, der, entsprechend dem hypothetischen Ziel eines Jüngsten Gerichts am Ende der Zeiten, die Kunst erfolgreich von der realen Welt abkoppelt“.80 Im Gegensatz zu diesem statischen Kunstwerk-Begriff zieht das Teshima Art Museum Kunst als Phänomen des Lebendigen in Betracht, das sich fortwährend wandelt. Kunst ist hier ein Werkzeug, um natürliche Phänomene wie Wolken, Licht, Schatten, Wasser, Wind, Laub und Insekten sichtbar und spürbar zu machen. Das Besuchserlebnis beginnt mit der Wanderung auf einem gewundenen Weg, der durch eine zauberhafte Landschaft führt, die früher sich selbst überlassen war. Das Gelände rund um das Museum wurde nach dem Erwerb durch die Stiftung Fukutake von Bauern und Freiwilligen aus der Umgebung neu
Ryūe Nishizawa, Teshima Art Museum, Künstlerin: Rei Naito, Werk: Matrix, 2010, Fotograf: Noboru Morikawa
bestellt (Reisanbau), um die wirtschaftliche und soziale Aktivität auf der Insel wiederzubeleben. Der Besucher erblickt zu-
ließe sich das Bauwerk den „Zeitobjekten“ im Sinne Husserls
nächst von einem erhöhten Standpunkt aus das wie ein
zuordnen, der darunter Objekte verstand, „die nicht nur Ein-
Tropfen in der grünen Landschaft liegende Museum, umrundet
heiten in der Zeit sind, sondern die Zeitextension auch in sich
dann einen kleinen Hügel mit Blick auf das Meer und gelangt
enthalten“.81 Der mährisch-deutsche Philosoph nimmt den
schließlich zum Eingang des Museums. Der Museumsbau be-
Klang als Beispiel, der ein Dahinfließen bezeichnet und zu-
steht aus einer sehr flachen, asymmetrischen Betonschale mit
gleich die Einheit einer Dauer ist. Wenn wir einen Ton verneh-
zwei großen Öffnungen, die den Blick in den Himmel und auf
men, werden wir uns des Jetzt bewusst. „Die Wahrnehmung
die Landschaft freigeben. An der schmalsten Stelle des Tropfens
selbst ist aber […] im beständigen Fluß des Bewußtseins und
befindet sich der Eingang in Form einer schlichten, abgerun-
selbst ein beständiger Fluß: immerfort wandelt sich das Wahr-
deten Auffaltung der Betonschale, was eine Art Trichter er-
nehmungs-Jetzt in das sich anschließende Bewußtsein des
gibt, der den Besucher ins Innere saugt. Das Gebäude hat
Soeben-Vergangenen, und zugleich leuchtet ein neues Jetzt
nichts Statisches an sich, eher ähnelt es einer organischen
auf usw.“82 Dieser „Bewusstseinsstrom“ lässt uns das Verge-
Haut, die atmet, und gleicht mehr einem Lebewesen, etwas
hen einer Dauer wahrnehmen. Neben dem Klang wäre auch
Beseeltem. Das Einzige, was man im Innern zu sehen bekommt,
die Wahrnehmung sich bildender Wassertropfen, eines Wind-
sind herabbaumelnde Baumwollfäden, die vom Wind bewegt
hauchs oder wandernder Schatten zu nennen, die uns Raum
werden, flache Kieselsteine und vereinzelte weiße Murmeln,
und Zeit sowie unsere eigene Existenz bewusst machen: Die
die am Boden liegen, sowie rieselnde Wassertropfen an der
(auf der Wahrnehmung basierende) „natürliche[n] Einstellung“
glatten Oberfläche der Betonschale, die durch die Boden-
ermöglicht es also, „daß ich bewußtseinsmäßig als mir ge-
feuchtigkeit entstehen. Der Hauptakteur in diesem Museum
genüber eine daseiende Dingwelt vorfinde, daß ich mir in
ist die Zeit. Es macht den Luftzug sichtbar, der die fast un-
dieser Welt einen Leib zuschreibe und nun mich selbst ihr
sichtbaren Fäden in Bewegung setzt, das Entstehen von Wasser
einordnen kann. Offenbar ist diese letzte Quelle die sinnliche
sowie die Schatten, die mit der Sonne wandern. Die Inszenie-
Erfahrung“, schrieb Husserl zu Beginn des 20. Jahrhunderts
rung der Zeitlichkeit und der Entstehung der Dinge versetzt
und lieferte uns damit einen möglichen Schlüssel zum
uns in die Lage, uns selbst in Raum und Zeit zu verorten.
Verständnis des Museums auf Teshima.83
Mithin vermittelt das Museum eine rein phänomenologische
Kunst auf die Wahrnehmung der Natur zu reduzieren, ist eine
Erfahrung, die auf der Wahrnehmung von Zeit basiert. Damit
mögliche Weise, unser In-der-Welt-sein neu zu verzaubern,
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Ryūe Nishizawa, Teshima Art Museum und Bauplan, Künstlerin: Rei Naito, Matrix, Fotograf: Ken'ichi Suzuki, 2010
indem wir uns wieder verankern in dem, was uns wirklich
Der Animismus begreift den Menschen als Teil einer ganzheit-
„wesentlich“ erscheint. Die Besucher:innen vernehmen dann
lichen Welt. Das Bewusstsein für den beispiellosen ökologischen
ein Werk, das den Gegensatz zwischen Natur und Künstlichkeit
Fußabdruck der Menschen und die Zerbrechlichkeit des Sys-
überwindet, als phänomenologische Erfahrung, die Sarawagi
tems Erde können als Hauptgründe für den Bau von Projekten
als „vollkommen neue Auffassung von Kunst“ beschreibt:
wie dem Teshima Art Museum im gegenwärtigen Kontext an-
Kunst und Natur „werden behutsam ineinander gebettet […],
gesehen werden. Sie zielen im Wesentlichen darauf ab, dass
in ein größeres zirkulierendes Ganzes einge-gliedert, wo sie
wir uns in dem Bewusstsein, Teil eines großen Ganzen zu sein,
einen ,Ort‘ schaffen, an dem die Grenze zwischen Kunstwerk
wieder in der Natur und in der Welt verankern.
und dem Akt des Erlebens des Kunstwerks verschwimmt“.
84
Die Künstlerin Rei Naito faszinieren Genesen.85 Sie wurde 1961 in Hiroshima geboren und zeit ihres Lebens mit dem
Wie gestaltet sich der zeitliche Eingriff zur „Wiederverzauberung der Welt“?
Tod konfrontiert, der wie ein unsichtbares Gespenst über ihrer
164
Heimatstadt schwebt,86 und so fragt sie sich, „ob es Segen
Zum Schluss dieses Kapitels ist festzuhalten, dass die hier vor-
oder Fluch ist, auf der Welt zu sein“. Dieses Nachdenken über
gestellten „Tempel“ oder „Katalysatoren“ von Kultur allesamt
das Dasein ist tief in der japanischen Kultur verwurzelt: „In
„Instrumente zur Aufhebung von Zeit“ sind. Die Maschinen,
Japan sind Philosophie und Religion eng verflochten: Man ist
Kapseln und Blasen erzeugen eine andere Zeitlichkeit und
dankbar für das Leben, fürchtet die Natur, ehrt den Tod. Man
verändern die Wahrnehmung von Raum und Zeit, um die Welt
lebt und liebt bedingungslos.“87 So ist denn auch die existen-
und die Gesellschaft zu hinterfragen und ihnen einen neuen
tielle und ursprüngliche Beziehung zur Natur und zum Leben-
Zauber zu verleihen.
digen in Naitos Werk sehr prägend.
Paul Otlets visionäres und optimistisches Vorhaben, mit einem
Wiederverzauberung der Welt
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Weltmuseum als chronologisch aufgebautem Kulturtempel
der Zeit auszusetzen und das Bewusstsein für die Fragilität
am Weltfrieden mitzuwirken, zerschlug sich mit dem Ausbruch
der Erde zu schärfen. Es versammelt keine Werke im her-
des Zweiten Weltkriegs. Die geltenden kulturellen Werte wurden
kömmlichen Sinn mehr, verkörpert auch nicht mehr die Idee
infrage gestellt und der einzige Ausweg aus der darauffolgen-
des einenden Wachstums, sondern bietet schlicht die Insze-
den ontologischen Krise war die Errichtung einer neuen Gesell-
nierung einer Genese, die erst durch die Aufhebung der
schaft, die auf veränderten Paradigmen beruhte.
Jetztzeit wahrgenommen wird.
Der Fun Palace verkörpert diesen Wunsch nach Erneuerung
Das Museum auf Teshima spiegelt einen Paradigmenwechsel
im Zeichen der Freude: Freude am Lernen, an der Selbstbe-
wider, der auf der Erkenntnis beruht, dass die Spuren und
stimmung, am Sich-Weiterbilden, am gemeinsamen Feiern.
Schäden, die wir im Namen des Fortschritts auf der Erde hin-
Die für alle zugängliche Bildungsmaschine – eine richtigge-
terlassen haben, unauslöschlich und nicht wiedergutzumachen
hende Heterotopie in der Stadt – setzt die Wahrnehmung der
sind; dass sie die Ursache für die Umwelt- und Klimakrise sind
Jetztzeit außer Kraft und katapultiert uns, indem wir unsere
und schwerwiegende soziale Folgen haben, deren Ausmaß
gewohnten Bezugspunkte verlieren, in eine Art Riesenflipper,
wir nicht wirklich ermessen können. Angesichts der unver-
der von mannigfaltigen Zeitlichkeiten bestimmt wird.
gleichlichen, lähmenden Angst, die uns das einflößt, versu-
Dieser dionysische Impuls findet sich auch bei der Architek-
chen wir die Zeit „aufzuheben“, um uns dem Hier und Jetzt
tengruppe Archigram wieder, die Stadt und Natur neu erfin-
zu entziehen. So vermögen wir uns Klarheit über unser In-der-
den wollte. Ihre bilderstürmerischen Entwürfe, die auf eine
Welt-sein zu verschaffen, sowohl individuell als auch kollek-
Grunderneuerung der Kultur abzielten und im Übrigen nie
tiv – eine Bewusstwerdung, die alles umfasst, Menschen,
realisiert wurden, beruhen auf der Augenblicklichkeit und
Tiere, Pflanzen und Dinge. Das Archaische, das am Anfang
Flüchtigkeit als Schlüsselfaktoren. Die Natur wird – anstelle
und am Ende dieses Buches steht, bringt somit Erzählungen
der Schulen und städtischen Museen – als idealer Ort für die
und Urerfahrungen hervor, die die Gegenwart und die Zukunft
Vermittlung von Kultur erachtet. Der in Rokplug und Logplug
grundsätzlich infrage stellen.
als perfekte symbiotische Entität präsentierte „Computer
Über unsere Bewusstwerdung hinaus kann die arché, verstan-
mensch“ kann dank einer neuen, traumhaften Mobilität, unter
den als „sprudelnde Quelle und Ressource in einem“ (Chris
deren Vorzeichen der Raum durch die Zeit bestimmt wird, in
Younès), auch als wirksames Instrument dienen, um unsere
Osmose mit der Natur und der Welt leben, eine Vision, die
Weltbeziehung auf dem Weg zu einer „glücklichen Mäßi-
durch die Gestalt des „elektrifizierten Ureinwohners“ verkör-
gung“ zu erneuern. Denn wenn wir uns mit Introspektion zu-
pert wird.
frieden geben, dürfte sich die Welt wohl kaum verändern!
Auch das Teshima Art Museum feiert, wenngleich auf andere
Diese aktive, transformative Dimension erklärt die heutigen
Weise, die Rückkehr zu einem „verzauberten“ Archaismus, bei
archaischen Tendenzen, die in der Architektur und in der
dem allein die Naturphänomene wichtig sind. An diesem Ort
Ästhetik allgemein zu beobachten sind – verstanden in ihrem
der aufgehobenen Zeit haben Kultur, Technologie und Fort-
ontologischen Sinn als Art und Weise, eine spezifische Bezie-
schritt keine Bleibe mehr. Gleichzeitig eröffnet diese Art von
hung zur Welt herzustellen. Wir müssen uns also der Rolle der
Husserl’scher epochē einen essentiellen Freiraum, um eine
Architekt:innen bei der Wiederverzauberung der krisenge-
neue Weltbeziehung herzustellen.
schüttelten Welt bewusst sein, ohne darüber in demiurgische
Wenn wir das Museum mit unbegrenztem Wachstum mit dem
Maßlosigkeit oder in eine passive Haltung zu verfallen.
Teshima Art Museum vergleichen, ist festzustellen, dass sich
Schauen, horchen, wahrnehmen und sich die Dinge bewusst
der Fortschrittsgedanke grundlegend verändert hat. Fast ein
machen, um die krisenhafte Welt zu reparieren, das ist es, was
Jahrhundert später ist das „Museumsmanifest“, wenn man es
wir heute als Ziel der Grunderneuerung einer Kultur erachten
so nennen kann, keine offene Spirale mehr, die die einschlägi-
können, die ein anderes Verhältnis zur Natur unterhält.
gen Werke der Weltkulturen endlos aufnehmen kann in der Hoffnung, den Krieg zu bannen, sondern eine gleichsam leere Schale, deren alleiniger Zweck es ist, die Naturphänomene
Ryūe Nishizawa und Rei Naito: Teshima Art Museum
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Anmerkungen
166
20 Le Corbusier und Jeanneret, Œuvre com-
einer Pille entsteht. Sein berühmter Satz „Alles
plète, Bd. 4, 16.
ist Architektur“ bezieht auch diese psychische
21 Vgl. Pascal Guillot, Faire de l’Exposition de
Dimension der Raumwahrnehmung mit ein.
1 Sigmund Freud, Die Verdrängung (1915), in:
1937 une occasion de révolution urbanistique:
30 J. C. R. Licklider, Man-Computer Symbiosis,
Sigmund Freud-Studienausgabe, hg. von
Morizet et le rêve du „Grand Paris“, in:
in: IRE Transactions on Human Factors in
Alexander Mitscherlich u. a., Bd. 3: Psychologie
Cahiers d’histoire. Revue d’histoire critique,
Electronics, Bd. HFE -1, März 1960, 4–11, on-
des Unbewußten, Frankfurt a. M. 1982, 103 –
Nr. 135, 2017, 53– 69: https://journals.openedi
line unter: http://groups.csail.mit.edu/medg/
118, hier 108 (Hervorh. im Original).
tion.org/chrhc/5904 (zuletzt aufgerufen am
people/psz/Licklider.html (zuletzt aufgerufen
2 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrach-
14.4. 2023).
am 14.4. 2023).
tungen, in: Kritische Studienausgabe (KSA) in
22 Vortrag „Arts et Techniques dans la vie
31 Ebd.
15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino
moderne“ von Edmond Labbé, (1937), zit.
32 François Hartog, Régimes d’historicité:
Montinari, Neuausg., München 1999, KSA 1,
nach Évelyne Cohen, Paris dans l’imaginaire
Présentisme et expériences du temps (2003),
157–510, hier 250.
national de l’entre-deux-guerres, Paris 1999,
Paris 2012, 150.
3 Paul Otlet und Le Corbusier, Mundaneum,
134.
33 Ebd.
Publikation Nr. 128 der Union des Associations
23 Amédée Ozenfant, Notes d’un touriste à
34 Ebd.
Internationales, Brüssel 1928, 2.
l’Exposition, in: Cahiers d’art, Nr. 8/10:
35 Clement Attlee war von 1935 bis 1955
4 Ebd., 12. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg
Souvenirs de l’Exposition 1937, 1937, 241–247.
Vorsitzender der Labour Party und von 1945
setzten sich verschiedene internationale Ver-
24 Le Corbusier und Pierre Jeanneret, Œuvre
bis 1951 Premierminister des Vereinigten
einigungen mit Blick auf den Weltfrieden für
complète, hg. von Max Bill, Zürich 1964, Bd. 3:
Königreichs.
eine Vereinheitlichung der Wissenschaftssprache
1934–1938, 153.
36 Vgl. Art. The Terrible Challenge of Leisure,
und die Zugänglichkeit von Wissen ein. Otlet
25 Le Corbusier und P. Jeanneret, Des Canons,
in: New Statesman, Nr. 66, 23. August 1963, 1,
selbst war in mehreren Vereinigungen aktiv.
des munitions? Merci! Des logis… s.v.p.,
zit. nach Stanley Mathews, From Agit-Prop to
5 Ebd., 13.
Boulogne-sur-Seine 1938, 5 und 8f.
Free Space. The Architecture of Cedric Price,
6 Ebd., 7f. (Hervorh. im Original).
26 François Hartog, Confinés, déconfinés,
London 2006, 69.
7 Ebd., 10.
reconfinés: que faire de notre incertitude?,
37 Joan Littlewood, Entwurf für das Pamphlet
8 Ebd.
Radiosendung von France Culture: L’Invité(e)
zum Fun Palace, 1964, Archives Cedric Price,
9 Ebd., 32.
des Matins, Moderator: Guillaume Erner,
CCA Montreal, zit. nach Mathews 2006, 70.
10 Ebd., 30.
28.9.2020: https://www.radiofrance.fr/france-
38 Joan Littlewood, Notizen, 18. Februar 1964,
11 Ebd., 36.
culture/podcasts/l-invite-e-des-matins/confi
Archives Cedric Price, zit. nach Mathews 2006,
12 Ebd.
nes-deconfines-reconfines-que-faire-de-notre-
70.
13 Ebd., 36f.
incertitude-avec-francois-hartog-et-frederic-
39 Joan Littlewood, Joan’s Book. The
14 Ebd., 38f.
worms-5412638 (zuletzt aufgerufen am
Autobiography of Joan Littlewood, London
15 Im Gebäude der heutigen Königlichen
14.4.2023).
2016, 62.
Museen für Kunst und Geschichte im Parc du
27 Ebd.
40 Ebd., 446.
Cinquantenaire.
28 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge
41 Mathews 2006, 21f.
16 Le Corbusier und Pierre Jeanneret, 1939:
totaler Herrschaft, von der Verf. aus dem
42 Man, Machine and Motion, Institute of
Musée à Croissance illimitée (Plan établi pour
Amerikan. übertr. u. neubearb. Ausg.,
Contemporary Arts (ICA), London 1955, zit.
la ville de Philippeville, Afrique du Nord), in:
Frankfurt a. M. 1962, 493.
nach Mathews 2006, 30.
Œuvre complète, hg. von Willy Boesiger und
29 In diesem Zusammenhang könnte der
43 Ebd.
Oscar Stonorov, Zürich 1966, Bd. 4: 1938–1946,
Cyborg (1960, Cyberorganismus) erwähnt
44 An Exhibit: Richard Hamilton, Victor
16–21, hier 16.
werden, der für die Raumfahrt entwickelt
Pasmore, Lawrence Alloway, 13. bis 24. August
17 Ebd.
wurde und den menschlichen Organismus mit-
1957, ICA, London 1957, zit. nach Mathews
18 Arnaldo Bruschi über Donato Bramante,
hilfe der Technologie und Chemie erweitern
2006, 31.
zit. nach Paolo Amaldi, Architecture, Profon-
konnte. Hans Hollein griff diese Dimension mit
45 John von Neumann, Die Rechenmaschine
deur, Mouvement, Genf 2011, 411.
seiner „Architekturpille“, einem Element des
und das Gehirn, a. d. Engl. übers. von Char-
19 Paolo Portoghesi über Francesco
Non-physical Environmental Control Kit (1967),
lotte und Heinz Gumin, 6. Aufl., München
Borromini, zit. nach Amaldi 2011, 411 (Hervorh.
auf und öffnete das Feld der Architektur für
1991, 68f. (Hervorh. im Original).
im Original).
den psychischen Raum, der durch die Einnahme
46 Ross Ashby, Art and Communication
Anmerkungen zu Seite 135 –152
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:26 Seite 167
Theory, Vortrag am ICA, London, 7. April 1960,
engl. Original [A.d.Ü.]).
ICA Archives, zit. nach Mathews 2006, 31.
68 Ebd. (Text in Abb., übersetzt aus dem
47 Ebd., zit. nach Mathews 2006, 74.
engl. Original [A.d.Ü.]).
48 Gordon Pask, An approach to Cybernetics,
69 Ebd. (Text in Abb., übersetzt aus dem engl.
New York 1961, 11, zit. nach Mathews 2006, 75.
Original [A.d.Ü.]).
49 Gordon Pask, The Architectural Relevance
70 Ebd., 111 (Hervorh. im Original; Text in
of Cybernetics, zit. nach Mathews 2006, 75.
Abb., übersetzt aus dem engl. Original
50 Karl R. Popper, Das offene Universum.
[A.d.Ü.]).
Ein Argument für den Indeterminismus,
71 Peter Greene, Notizen zum Querschnitt
Gesammelte Werke, Bd. 8, hg. von William W.
von Rokplug, Logplug, 22. 9.1969.
Bartley, a. d. Engl. übers. von Eva Schiffer,
72 Greene, in: Cook 1991, 111.
Tübingen 2001, 21f.
73 Ebd., 110.
51 Ebd.
74 Ebd.
52 Joan Littlewood, Notizen, 1964, zit. nach
75 Ebd. (Hervorh. im Original); das Gedicht
Mathews 2006, 69.
„It’s all watched over“ von Richard Brautigan
53 Gordon Pask, Cybernetics Committee’s
aus dem Jahr 1967 ist dem Band Machines of
introductory document, circulation list, and
Loving Grace entnommen.
basic plans for Fun Palace Project, um 1963–
76 Ebd., 113.
65, Archive CCA, Fun Palace Project, 1961–85,
77 Ebd., 118.
hier insb. 1961–74, online unter:
78 Ebd.
https://www.cca.qc.ca/fr/recherche/details/coll
79 Ebd., 119.
ection/object/400832 (zuletzt aufgerufen am
80 Noi Sawaragi, in: Naoshima Note, Juni
26.4. 2023).
2010; Auszüge unter:
54 Ebd. (Hervorh. im Original).
https://www.ogijima.fr/guide-des-oeuvres-art-
55 Ebd.
setouchi/teshima/teshima-art-museum/
56 Cedric Price, um 1963, Archives CCA, vgl.
(zuletzt aufgerufen am 30. 5. 2023).
Mathews 2006, 73.
81 Edmund Husserl, Vorlesungen zur Phäno-
57 Cedric Price, Memorandum, 1964, Archives
menologie des inneren Zeitbewusstseins
CCA, zit. nach Mathews 2006, 73.
(1928), hg. von Martin Heidegger, Tübingen
58 Cedric Price, Anfang 1963, Archives CCA,
1980, 18.
zit. nach Mathews 2006, 73.
82 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen
59 Zit. nach Mathews 2006, 92.
Phänomenologie und phänomenologischen
60 Marshall McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis.
Philosophie I: Allgemeine Einführung in die
Die Entstehung des typographischen Men-
reine Phänomenologie, Grafrath 2020, §41.
schen, a. d. Amerikan. übers. von Max Nänny,
Der reelle Bestand der Wahrnehmung und ihr
Neuausg., Hamburg 2011, 42f.
transzendentes Objekt, 111.
61 Ebd., 206f.
83 Ebd., § 39 „Bewußtsein und natürlich
62 Ebd., 41.
Wirklichkeit“, 107.
63 Alain Guiheux, Fast histoire, in: Ders. (Hg.),
84 Sawaragi 2010.
Archigram, Ausst.-Kat., Paris, Centre Georges
85 Rei Nato in einem Gespräch mit Judith
Pompidou, 29.6.– 29.8.1994, Paris 1994, 9–12,
Benhamou-Huet, hochgeladen am 29.1. 2017:
hier 10.
https://www.youtube.com/watch?v=MVQbAG
64 David Greene, Aus dem Notizbuch des
Te7E0 (zuletzt aufgerufen am 14.4. 2023).
Gärtners, in: Peter Cook u. a. (Hg.), Archigram,
86 Ebd.
Basel u. a. 1991, Kap. 12, 110–119, hier 112.
87 Ebd.
65 Ebd., 111. 66 Ebd., 110. 67 Ebd., 111 (Text in Abb., übersetzt aus dem
Anmerkungen zu Seite 152 –164
167
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Giorgio de Chirico, Das böse Genie eines Königs, 1914/1915, Öl auf Leinwand
168
Ein Fazit mit Aussicht
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Ein Fazit mit Aussicht
oft einen Paradigmenwechsel beinhalten. Mithin erschaffen Architekt:innen neue Narrative, indem sie sich auf andere Epochen zurückbesinnen, sich andere Lebens- und Gesell-
Dieser Streifzug durch die Architekturgeschichte unter dem
schaftsformen ausmalen, andere Ziele skizzieren und neue
Blickwinkel der Krise hat gezeigt, dass die Reaktionen der
symbolische Botschaften übermitteln.
Architekt:innen, wie auch immer sie ausfielen, durchwegs in
Die Geschichte der Architektur in Krisenzeiten zeigt, wie stark
einer Neugestaltung des raumzeitlichen Verhältnisses zur
sich die Hoffnungen, die in Fortschritt, Wachstum und Technik
Welt bestanden haben. In Zeiten des Orientierungsverlusts
gesetzt wurden, im Laufe der Zeit gewandelt haben. Andere
versuchen sie durch eine Neuaufteilung und -anordnung von
Werte traten in den Vordergrund, insbesondere die einer
Raum und Zeit wieder die Oberhand zu gewinnen. Erinnern
gerechteren Gesellschaft mit einer größeren Resonanz und
wir uns daran, dass das lateinische Wort tempus für „Zeit“
Naturverbundenheit.
auch „Zeiteinteilung“ bedeutet, und dass tempus und templum (die etymologisch die gleiche Wurzel haben) auf
Die vier Figuren, die für die Strukturierung der vorliegenden
eine Zerteilung verweisen, eine bestimmte Art, „einen Raum
Analyse definiert wurden, stellen ein Instrument der Kontrak-
und eine Zeitspanne in einem Sakralisierungsvorgang von der
tion und Dilatation der Raumzeit dar; sie stehen jeweils für
natürlichen Welt zu trennen“.1 Entsprechend zerteilen die
einen spezifischen Handlungsmodus, der in der Architektur
Architekt:innen mit ihrem „Zepter“ Raum und Zeit und ver-
zum Tragen kommt. Die dargelegten Beispiele veranschaulichen
setzen uns in eine andere Raumzeit; sie erschaffen „Tempel“,
die Mechanismen raumzeitlicher Verfahren, bilden ein breites
die ihre eigene Raumordnung, Zeitlichkeit und Daseinsbe-
Spektrum ästhetischer Handlungsweisen ab und zeigen Mög-
rechtigung haben und uns letztendlich ermöglichen, mit der
lichkeiten auf, wie in Krisenzeiten agiert, reagiert und entworfen
Welt in Resonanz zu treten, das heißt, uns weiterzuentwickeln,
werden kann. Denn es gibt nicht nur eine mögliche Handlung
zu emanzipieren, in Würde zusammenzuleben und handelnde
und ästhetische Antwort. Es kann keine Universallehre geben.
Wesen zu sein. Sie unterbreiten raumzeitliche Fiktionen,
Uns steht, im Gegenteil, eine große Palette an Möglichkeiten
Gegenwelten und „Gegenzeiten“ und eröffnen damit neue
zur Verfügung, was letztlich eine Ermutigung darstellt, die ei-
Horizonte.
genen Begabungen zu entfalten, um zu handeln.
Bei der Analyse der in Krisenzeiten entstandenen Ästhetik
Fassen wir nun die Inhalte der vier Figuren zusammen, um zu
und Schriften von Architekt:innen lag der Schwerpunkt auf
erkennen, welche Handlungsstrategien Architekt:innen ange-
ihren (emotionalen) Beweggründen und Zielen, ihrem Ver-
wandt haben und anwenden, um die Jetztzeit so zu manipu-
hältnis zu Fortschritt und Technik sowie auf ihrer Mitwirkung
lieren wie De Chirico seine Uhren, um sich ihr weitestgehend
bei der Schaffung neuer Werte. Dabei ging es insbesondere
entziehen zu können und uns neue Wege in eine bessere
um das Ausmaß ihrer raumzeitlichen Eingriffe, um ihre ästhe-
Zukunft zu weisen.
tischen Ausdrucksformen und die zentrale Bedeutung des Rituals darin, wobei ein besonderes Augenmerk auf der gesellschaftlichen Relevanz ihrer Ideen lag.
Archaismus
So war festzustellen, dass Projekte, die in Kippmomenten aus einem starken Drang heraus entstehen – oftmals unter Bedin-
Das „Uhrwerk“ des Archaismus ist überaus seltsam: Es macht
gungen der Eile und Dringlichkeit, der Entbehrungen, der
einen Sprung rückwärts und konfrontiert uns mit einer früheren
Angst oder eines Schockzustands –, sowohl materiell als auch
Epoche oder Urzeit, setzt uns aber gleichzeitig der Zukunft
formal eine radikale Reduktion erfahren. Der offenkundige
aus. Man muss das Archaische in dieser doppelten, sowohl
ikonische Rang, der diesen Vorhaben zukommt, macht deutlich,
retrospektiven als auch prospektiven Dynamik begreifen.
dass ontologische Krisen wirkmächtige Entwürfe hervorbringen,
Der Blick zurück ermöglicht ein grundsätzliches Hinterfragen
die unsere Weltbeziehung grundsätzlich infrage stellen und
der Gegenwart, da alles auf null gesetzt wird. Nachdem die
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Zeit eine Weile angehalten wurde, beginnt die Uhr wieder zu
Zurück zur Ländlichkeit
ticken, diesmal jedoch in ihrem eigenen Takt. Diese Verschiebung, bezogen auf die verlangsamte oder beschleunigte
Das Uhrwerk der „Rückkehr zur Ländlichkeit“ verlangsamt die
Zeit, enthebt uns der Gegenwart, damit wir uns eine neue
Zeit zugunsten einer Lebensweise, die gesünder, autonomer,
Weltbeziehung vorstellen können.
kollektiver und mit der fruchtbaren Natur enger verbunden
Durch den Rekurs auf das Archaische und den damit verbun-
ist. Der Ausdruck schlechthin dieses Strebens ist die Garten-
denen Sprung in Raum und Zeit versuchen Architekt:innen,
stadt, die außerhalb der Städte neue „Tempel“ der Gesellschaft
die Jetztzeit zu verändern, wobei sie sich einerseits auf die
mit einer eigenen Zeit- und Raumordnung schafft. Nach dem
Arché (den Anfang oder das Urprinzip der Welt) und anderer-
Vorbild von Ebenezer Howard sind die Gartenstädte miteinan-
seits auf den Archetypus (die Urform) als Gestaltungsprinzip
der verbunden und bilden ein weitläufiges Netz mit eigener
berufen, um eine neue Zukunft zu eröffnen. Diese raumzeitli-
genossenschaftlicher Kreislaufwirtschaft; sie verwalten sich
chen Verfahrensweisen führen gegenläufige Dynamiken ein,
selbst und stellen Kerngebilde der Gesellschaft dar, die auf
wie die Verwendung ägyptischer Ornamente nach der Fran-
regionaler, nationaler und sogar internationaler Ebene ausge-
zösischen Revolution oder Durands „Temple à la Liberté“ mit
baut werden können.
seiner neuen rasterhaften Formensprache zeigen. Davon
Nach dem Ersten Weltkrieg passten Adolf Loos, Margarete
zeugen auch das Werk Architektur ohne Architekten und die
Schütte-Lihotzky, Hannes Meyer und Bruno Taut die flächen-
Reaktivierung natürlicher Nutzungen durch Bernard Rudofsky,
mäßig großzügig angelegte Gartenstadt von Howard den
der sich nach einer Kultur zurücksehnte, die vom Faschismus
damaligen Krisenbedingungen an und reduzierten den
zerschlagen worden war; oder das Manifest Absolute Archi-
Lebensraum auf das absolute Minimum. Reduktion bedeutet
tektur und die stark ritualisierten archaischen Traumwelten
Verzicht, daher wurde das neue „Landleben“ durch Sublimie-
von Hans Hollein, der sich zur Hochzeit des funktionalistischen
rung in „höhere Sphären“ gehoben, wo der Gemeinschaft,
Wiederaufbaus der Nachkriegszeit auf Aztekentempel und
Selbstverwaltung, Kunst, Ästhetik und Kultur eine zentrale
Weltraumraketen besann; und schließlich das bewusst elemen-
Bedeutung zukommt. In allen untersuchten Beispielen führt
tar gehaltene, höhlenartige Restaurant von Junya Ishigami,
dieser doppelte Mechanismus der Reduktion/Sublimierung,
der die heute immer stärker bedrohte Natur sakralisiert. All
unabhängig von der jeweiligen Ausdrucksform, zur Entstehung
diese Projekte können als Akte der Auflehnung gegen eine
einer „starken Form“, die neue kollektive Orte zur Förderung
krisengeschüttelte Welt gesehen werden, mit der in Resonanz
des Zusammenhalts und der Zusammenarbeit hervorbringt.
zu treten scheinbar unmöglich geworden ist. Mithin ersinnen
Howard entwarf eine kreisförmige Stadt aus Ringen mit je ei-
die Architekt:innen für ihre Werke eine neue Formensprache
gener programmatischer und räumlicher Charakteristik. Taut
und Ästhetik, um sich die Welt wieder zu eigen zu machen –
erweiterte dieses Prinzip um eine „Stadtkrone“ als Herzstück
ist doch die Sprache die Bedingung schlechthin, um eine
der menschlichen Gemeinschaft. Seine Kristallpaläste geben
Welt zu denken.
dem „Rumpf“ der zerstreuten Stadt einen Kopf, zeitigen end-
Der Sprung in Raum und Zeit, den der Rekurs auf den Arche-
liche, umgrenzte Räume und strahlen symbolisch bis zu den
typus möglich macht, führt eine neue Zeitlichkeit ein und
Sternen. Meyer betonte das Kollektive in seiner Siedlung
stellt auch einen anderen Bezug zur Zukunft her. Der Arche-
Freidorf, wo ein Obelisk die symbolische Mitte als Gemein-
typus als leere Vorform öffnet dann einen imaginären Raum,
schaftsort markiert. Sie alle haben mit diesen Architektur- und
um eine „Gegenwelt“ zu denken: Die Gegenwart wird aufge-
Landschaftsstrategien versucht, der beängstigenden Form-
hoben, und das Eintauchen in eine weit zurückliegende Epo-
losigkeit der ausufernden kapitalistischen Industriestadt ent-
che bildet die Voraussetzung für eine neue Zukunftsvision.
gegenzuwirken. Indem sie einen neuen „Kosmos“ schufen,
Hollein hat es auf den Punkt gebracht: „Die Architektur von
der dem Kollektiv geweiht war und alle Facetten des Lebens
Heute gibt es noch nicht.“ In solchen Momenten der Suspen-
vereinte (das Arbeiten, Wohnen, Sich-Weiterbilden, Debat-
dierung muss sogar die Gegenwart neu bestimmt werden.
tieren usw.), wurde das gemeinschaftliche Handeln zum wichtigsten Vehikel eines anderen Fortschrittsverständnisses.
170
Ein Fazit mit Aussicht
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Starke Form, Reduktion/Sublimierung und Entschleunigung
Geschichte reinen Tisch machen, die er für überholt und
sind mithin die wichtigsten Hebel für den Aufbau einer
statisch hielt („Zeit und Raum sind gestern gestorben“3).
„neuen Welt“, in der Stadt und Natur eine Einheit bilden.
Auch Le Corbusiers Äußerungen zeugen von einer großen
Eine reaktive Haltung (gegenüber Wirtschafts-, Gesellschafts-
Begeisterung für die Maschine und die Technik, die er wie
und Gesundheitskrisen) verbindet sich mit einer dezidiert
Marinetti beschönigte und gleichsam heiligsprach, wobei er
prospektiven Vision, die von dem Wunsch getragen ist, eine
sich vom Futurismus distanzierte. Er setzte Zeit mit Beschleuni-
bessere Welt zu schaffen.
gung gleich, sein „Tempel“ war die Ville Radieuse. Er suchte die Zeit proaktiv zu beschleunigen, um den motorisierten Neuen Menschen mit den Mitteln der Zerstörung aus der
Schaffen durch Zerstören
Krise (dem urbanen und gesellschaftlichen Chaos) heraus in eine „strahlende“ Zukunft zu führen. Matta-Clark wiederum
Das Uhrwerk des „Schaffens durch Zerstören“ gehorcht dem
wandte sich gegen den Funktionalismus mit seinen verheeren-
Zerstörungstrieb, beschleunigt die Zeit und treibt uns gewalt-
den Folgen für die Innenstädte, die das Prinzip der Tabula
sam in eine orientierungslose Zukunft. Die futuristische Ob-
rasa mit voller Wucht zu spüren bekamen, und formulierte
session setzt sich über die Vergangenheit und die Gegenwart
mit seiner Anarchitektur das Gegenmanifest zu Le Corbusiers
hinweg und nimmt in schillernden Fiktionen Gestalt an, die
Vers une architecture. Sein Credo „Completion through
auf vielerlei Weise auszulöschen versprechen, was im Lauf
Collapse“ ist als ästhetische Strategie zu verstehen, die Fra-
der Geschichte geschaffen wurde. „Das Verlangen nach Zer-
gilität und gelebte Geschichte von zum Abriss freigegebenen
störung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen,
Gebäuden schonungslos offenzulegen. Heutzutage sehen
zukunftsschwangeren Kraft sein“, stellte Nietzsche Ende des
einige Anhänger des Akzelerationismus den einzigen Ausweg
19. Jahrhunderts fast schon in Vorahnung dessen fest, was
aus der Klimakrise in einer forcierten Beschleunigung der
bald Wirklichkeit werden und schreckliche Ausmaße annehmen
weltbeherrschenden Dynamik der „schöpferischen Zerstörung“
sollte.2
(Joseph Schumpeter) und einer anschließenden Neuausrich-
„Schaffen durch Zerstören“ ist eine ikonische Figur aufgrund
tung der technologischen Innovationen auf das Überleben
der ihr inhärenten Gewalt, die als notwendig erachtet wird,
des Planeten. So träumt Bjarke Ingels von einem Masterplan
um einen radikalen Wechsel herbeizuführen, der sich in der
für die ganze Welt, den er „Masterplanet“ nennt, und zieht
Regel im Bild der „Tabula rasa“ äußert. Beflügelt von einer
sogar für den Fall, dass die Erde nicht mehr bewohnbar sein
akzelerationistischen, progressiven oder entropischen Vision,
sollte, dessen Ausweitung auf andere Planeten in Betracht.
nehmen sich die Architekt:innen eine Neuaufteilung von
An diesen vier Projekten, die zu unterschiedlichen Zeiten
Raum und Zeit vor, wobei sie zunächst mit allem Alten aufräu-
(jeweils im Abstand von rund einer Generation) entstanden
men, um Neues schaffen zu können. Diese Neuaufteilung
sind, ist deutlich geworden, wie Architekten in Krisenzeiten
von Raum und Zeit zeitigt eine spezifische Ästhetik, in der
den Modus der Zerstörung sowie deren Sublimierung mit
das Ritual eine Schlüsselrolle spielt. Manche Vorgehensweisen
ästhetischen Mitteln angewandt haben, um neue Werte und
folgen einem dionysischen Muster, andere führen ein Ritual
Symbole zu etablieren. Zwar vermitteln ihre raumzeitlichen
ein (das auch dem Prinzip der Tabula rasa und der Neuord-
Entscheidungen unterschiedliche, bisweilen gegensätzliche
nung gehorcht), wieder andere bemühen Endzeitszenarien,
Botschaften zu Fortschritt, Technik und Gesellschaft, doch
dabei ist allen gemeinsam, dass sie einen radikalen Bruch mit
letztlich zielen sie alle auf einen Umsturz der Geschichte
der sie umgebenden Welt vollziehen.
zwecks Neugestaltung der Welt – mit Ausnahme von
Eine proaktive Variante dieses Zerstörungsdrangs findet sich
Matta-Clark, der diese Art von Erneuerungsprozess kritisch
vor dem Ersten Weltkrieg in den Schriften der Futuristen wieder,
sieht. Eine Haltung, die auf der Zerstörung als Schaffensprinzip
die voller Sprengkraft waren. Filippo Tommaso Marinetti, ein
beruht, ist allerdings mit Vorsicht zu genießen, da sie un-
glühender Verfechter von Technik, Maschine und Moderne,
versehens von der Utopie in die Dystopie umschlagen kann –
wollte nicht nur mit Raum und Zeit, sondern auch mit der
mit verheerenden Folgen für Mensch und Umwelt.
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Wiederverzauberung der Welt
verschwinden zugunsten einer Bewusstwerdung der Zeit als einziger Schaffensquelle.
Das Uhrwerk der „Wiederverzauberung der Welt“, eines
Die Rückbesinnung auf das Wesentliche öffnet den Weg für
optimistischen Ansatzes, der auf einer Verdrängung der Krise
Urerfahrungen, die die Gegenwart und Zukunft radikal infrage
und auf dem Eros (dem Lebenstrieb als vereinigender Kraft)
stellen. Dieses Kapitel markiert in Abwendung vom Konzept
beruht, versetzt uns in eine Zukunft, die glücklich zu sein ver-
des grenzenlosen Wachstums, das die ökologische Krise zu
spricht. Seine Komplexität hat damit zu tun, dass zwei zeitli-
verantworten hat, den Übergang zu einer dezidiert archaischen
che Eingriffe erfolgen, nämlich zunächst eine Aufhebung der
Haltung, die in Opposition zur Kultur auf dem Glauben an
Zeit, um sich dem Hier und Jetzt zu entziehen, und anschlie-
die Natur gründet. Die dargelegten Beispiele zeugen alle
ßend eine Projektion in eine bessere Zukunft. Das Abstand-
von einem proaktiven optimistischen Drang, den ein vereini-
nehmen setzt die Zeit außer Kraft; außerhalb von Zeit und
gender Lebenstrieb befeuert. Es sind Versuche, die Krise zu
Raum kann man sich in einen Nach-Krisen-Zustand versetzen
überwinden und der Welt einen neuen Zauber zu verleihen.
und diesem Zauber verleihen. Der Wunsch nach einer Wiederverzauberung der Welt wird bei dem von Paul Otlet vorangetriebenen Vorhaben des
Entwerfen von „Gegenzeiten“ und „Gegenräumen“
Mundaneum mit einem Weltmuseum deutlich. Nach dem
172
Ersten Weltkrieg wollte er mit einem Kulturprojekt, das eine
Die in diesem Buch vorgestellten Beispiele verfolgen unter-
einigende Wirkung haben sollte, zu einem dauerhaften Welt-
schiedliche ästhetische Strategien, um in Krisenzeiten eine
frieden beitragen. Das darauf aufbauende Museum mit
Gegendynamik zu erzeugen. Die Einführung von contretemps
unbegrenztem Wachstum, das Le Corbusier entwarf, verriet,
– „Gegenzeiten“ und contre-espaces – „Gegenräumen“ ist
allen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisen zum
wesentlich, um aus den eingeschlagenen Wegen auszubrechen,
Trotz, eine positive Grundhaltung gegenüber Wachstum und
sie sind die Prämissen für eine – zwangsläufig – radikal andere
Fortschritt, allerdings zerschlugen sich seine Visionen mit
Zukunft. Das französische Wort contretemps ist ein „Ereignis,
Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Alle geltenden Werte –
ein Umstand, der den Erwartungen zuwiderläuft. Ein widriger
Fortschritt, Moral, Kultur, Technik – wurden jetzt grundsätzlich
Umstand“, ist im Wörterbuch Le Robert zu lesen;4 in der
infrage gestellt. Als der Krieg vorüber war, wollte man eine
Musik bezeichnet er eine Verzögerung,5 auf die eine kurze
„neue Welt“ aufbauen und brauchte dafür neue Paradigmen.
Stille folgt. Bietet dieser „widrige Umstand“, diese „Verzöge-
Das Streben nach einer Wiederverzauberung der Welt erhielt
rung“, dieser kurze Augenblick der Schwebe nicht die einma-
später eine Fortsetzung mit dem Projekt Fun Palace von Joan
lige Gelegenheit – den zu ergreifenden Kairos –, eine
Littlewood und Cedric Price, einer Stätte der Bildung, Eman-
Abzweigung zu nehmen, um einen Übergang einzuleiten,
zipation und Festlichkeit. In diesem dionysischen Tempel nie
einen Neustart?
endender Bewegung zelebrieren Mensch und Maschine
In diesen Kippmomenten wird die Zeit gleichsam in der
einen neuen Bund, der sich dank der Entwicklung der Kyber-
Schwebe gehalten, ähnlich wie in den metaphysischen Bildern
netik als Symbiose versteht. Die Begeisterung für die auf-
De Chiricos, wo die auf den Uhren angegebene Stunde mit
kommenden digitalen Technologien zeigt sich auch in den
der Tageszeit, die die Schatten suggerieren, nicht überein-
utopischen Entwürfen der Gruppe Archigram, die von einer
stimmen kann. Die surrealistische Diskrepanz zwischen ange-
Neuordnung der Welt träumte, in der durch Rückgriff auf das
zeigter und wahrgenommener Zeit löst leichtes Unbehagen
Archaische (Rokplug und Logplug) der „Computermensch“
aus und erzeugt diesen Schwebezustand. Diese Art von Ver-
in einer urzeitlichen Osmose mit der Natur leben würde. Das
schiebung entsteht auch, wenn Architekt:innen Erzählungen
Archaische kehrt in anderer Form im Teshima Art Museum
von anderen Welten außerhalb der realen Zeit und des realen
des Architekten Ryūe Nishizawa und der Künstlerin Rei Naito
Raums unterbreiten, um aus einer ontologischen Krise, die
wieder, die die bezaubernden Naturphänomene in den Mittel-
handlungsunfähig macht, herauszuführen. Wir sind von diesem
punkt ihres Kunstwerks stellen. Kultur, Technik und Fortschritt
Schwebezustand ergriffen; wir lassen uns bereitwillig in diese
Ein Fazit mit Aussicht
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Erzählungen hineinziehen, die offen sind für neue Perspektiven,
zwischen Kultur und Natur:8 Sie sind „wirklich wie die Natur,
reale wie fiktive, umsetzbare wie visionäre. Oszillierend zwi-
erzählt wie der Diskurs, kollektiv wie die Gesellschaft, exis-
schen Wirklichkeit und Traum, Engagement und Weltflucht,
tentiell wie das Sein“.9 Sie bahnen und bilden Netze, sie
zeigen die teilweise realisierten Vorhaben, dass ein Entwurf
„sind kollektiv, denn sie verbinden uns miteinander, […].
und seine Erzählung die Erwartungen an die Zukunft tatsäch-
Sie sind instabil und riskant, existentiell und nie seinsverges-
lich verändern können.
sen.“10 Filipe Pais prägte später den Begriff der „Superobjekte“, die durch ihr Dasein auf ihre Umgebung einwirken
Handelnde Objekte
können. Pais und seine Gruppe GOR (Groupe des Objets
Aufgrund ihres bilderstürmerischen Charakters haben die ge-
Révolutionnaires) betrachten sie als revolutionäre Objekte, „die
genzeitlichen Vorhaben auch einen Rückkopplungseffekt auf
keine ,Neuheit‘ bezeichnen, sondern radikales politisches
die Gesellschaft: Indem sie eine Gegendynamik erzeugen,
Handeln“. Diese Objekte „heben die etablierten Prinzipien
hinterfragen sie den Raum der „realen Welt“ durch ihr Einwir-
aus den Angeln und kämpfen darum, die Werte unserer
ken auf den Faktor Zeit. Man kann sie daher als „manipulierte“
Gesellschaft zu verändern“.11 Sie sind mehr als bloße Objekte
Uhrwerke deuten, die die Raumzeit kontrahieren oder aus-
und sind in der Lage, zu agieren, indem sie eine Wirkung
dehnen. Mit anderen Worten als Objekte, die an den Grund-
erzielen, die weit über einen abstrakten oder psychischen
festen der „realen“ Zeit rütteln, ähnlich wie in dem Bild La
Vorgang hinausgeht – sie „handeln“12 also in einem politischen,
Persistance de la mémoire von Salvador Dalí aus dem Jahr
kollektiven und transformativen Sinne.
1931, wo vier weiche, gleichsam zerfließende Uhren jeweils
Obwohl unsere architektonischen Objekte das Ergebnis
eine andere Uhrzeit anzeigen: Die phantasmagorischen Objekte
menschlichen Wollens sind, ist diese Vorstellung vom Quasi-
lösen Raum und Zeit auf, durch diese Suspension verzerren
Objekt als Hybrid für uns interessant, denn auf die Architektur
sie die Sicht auf die reale Zeit. Sie vermitteln sogar eine
übertragen eröffnet sie eine sinnliche, relationale, kollektive
„psychotische“ Weltsicht, wobei Freud zufolge die Wahrneh-
und politische Dimension, die dem Objekt selbst innewohnt
mungsverzerrung als Abwehrmechanismus gegen Angst dient.
und auf die Psyche und die Gesellschaft einwirkt, indem sie
Ein reales Ereignis (eine historische Krise) fungiert also als
unser In-der-Welt-sein hinterfragt und verändert.
Auslöser, weckt zunächst starke Emotionen, die uns zum Nachdenken zwingen, und setzt uns dann in Bewegung; wir tauchen in die Krise ein und nutzen sie, um „agierende
Fortschritt – aber welcher?
Objekte“ zu schaffen, die ihrerseits an den Grundfesten der Realität rütteln. Diese agierenden Objekte sind zugleich
Der Fortschrittsgedanke wird heute grundsätzlich infrage ge-
Anzeiger und Auslöser von Krisen. Sie sind vergleichbar mit
stellt. Im entfesselten Wettlauf zwischen Fortschritt und Moral
José Saramagos revolutionären Quasi-Objekten, die, ausge-
hat schließlich, was Kant nicht begeistern dürfte, der Fortschritt
stattet mit einem Bewusstsein und einem Willen, auf die Welt
den Sieg davongetragen, mit allen Folgen, die dieser Triumph
einwirken und sich von der anthropozentrischen Daseinsform
für das ökologische Gleichgewicht der Erde und ihrer Bewoh-
befreien. Wie Saramago treffend im Zusammenhang mit der
ner:innen haben kann.
Arbeit des Schriftstellers feststellt: „Ich denke, es ist unmög-
In puncto Macht der Moral viel skeptischer als Kant, rief Walter
lich, nicht realistisch zu sein, […], aber manchmal kann man
Benjamin zwischen den Weltkriegen den Engel der Geschichte
die Realität realer machen und die Präsenz des Realen in das
auf den Plan, der den Sturm des Fortschritts einzudämmen
Fantastische einführen.“6 Für Michel Serres ist das Quasi-
versucht und gegen seinen Willen in die Zukunft getrieben wird;
Objekt beziehungsstiftend und schafft Bindungen zwischen
vergeblich möchte er die Trümmer, die im Laufe der Geschichte
Objekt und Mensch, ist also ein „Quasi-Wir“. Bruno Latour
hinterlassen wurden, wieder aufrichten. Dieses Bild hat nichts
greift den Begriff in Wir sind nie modern gewesen auf und
von seiner Aktualität verloren: „Wo eine Kette von Begeben-
versteht darunter vollkommen hybride Objekte der Subjektivi-
heiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe,
tät, eine menschliche und zugleich nichtmenschliche Entität
die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft […].“13
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Auch Claude Lévi-Strauss hat eine Dynamik wahrgenommen,
wird: „[…] nach hundert Jahren Sozialismus, der sich mit
die auf ihr Ende zusteuert. In Traurige Tropen (1955) ist zu
einer Umverteilung der ,Wohltaten‘ der Wirtschaft begnügt
lesen: „Die Welt hat ohne den Menschen begonnen, und sie
hat, [ist es] vielleicht an der Zeit, einen Sozialismus zu erfinden,
wird ohne ihn enden.“ Skeptisch angesichts der durch den
der die Produktion als solche infrage stellt. Denn ungerecht
Menschen verursachten unwiderruflichen Veränderungen auf
geht es nicht nur bei der Umverteilung der Früchte des Fort-
der Erde, erscheint ihm dieser „selbst als eine Maschine […],
schritts zu, sondern auch in der Art und Weise, wie der Planet
die […] eine in höchstem Maße organisierte Materie in einen
fruchtbar gemacht wird. Das bedeutet nicht, dass wir uns be-
Zustand der Trägheit jagt, die immer größer und eines Tages
schneiden oder nur noch von Luft und Liebe leben, sondern
endgültig sein wird. Seitdem der Mensch begonnen hat, zu
dass wir lernen, jedes einzelne Segment dieses berüchtigten,
atmen und sich zu ernähren, seit der Entdeckung des Feuers
angeblich unumkehrbaren Systems auszusondern, jede einzelne
bis zur Erfindung atomarer und thermonuklearer Verrichtun-
der angeblich unverzichtbaren Verbindungen zu hinterfragen
gen, hat er […] nichts anderes getan, als unbekümmert Milli-
und Schritt für Schritt zu prüfen, was wünschenswert ist und
arden von Strukturen zu zerstören, um sie in einen Zustand
was nicht mehr.“18 Die suspendierende Dimension der Krise,
zu versetzen, in dem sie sich nicht mehr integrieren lassen.“
die ihn mitten im Corona-Lockdown zu diesen Gedanken
So kommt er zu dem Schluss: „Statt Anthropologie sollte es
animiert hat, ist bedenkenswert und kann Ansporn zu einer
,Entropologie‘ heißen, der Name einer Disziplin, die sich
Neujustierung sein. Es sei daran erinnert, dass Krisis ursprüng-
damit beschäftigt, den Prozeß der Desintegration in seinen
lich „Urteil“ bedeutete: der Vorgang oder das Vermögen, zu
ausgeprägtesten Erscheinungsformen zu untersuchen.“14
unterscheiden, Dinge zu trennen, eine Entscheidung zu treffen.
Seitdem hat diese Dynamik nichts als verheerende Folgen gezeitigt.
An Höhe gewinnen und landen
„Die Zukunft hat sich verdunkelt und ein neues Zeitalter ist
An Höhe gewinnen und einen Schritt zur Seite tun (wie
aufgetaucht, das schnell als Anthropozän bezeichnet wurde,
Benjamins Engel), ist essentiell, um den zerstörerischen
[…] in dem die menschliche Spezies zur wichtigsten Kraft ge-
Prozess zu erkennen. Nur unter dieser Bedingung können wir
worden ist: zu einer geologischen Kraft“, stellt François Hartog
Traumwelten erfinden und allen pessimistischen Visionen zum
fest. Und er fragt sich: „Was wird […] aus den alten Weisen,
Trotz „neue Welten“ errichten – wie die Erzengel von Paul
Chronos zu erfassen, welche neuen Strategien müssten for-
Scheerbart, die während der apokalyptischen Verlangsamung
muliert werden, um mit dieser unermesslichen und bedrohli-
der Erde ihre Rucksäcke öffnen und glitzernde Paläste hervor-
chen Zukunft fertig zu werden, während wir immer noch im
holen. Der erste Schritt besteht also darin, Abstand zu gewin-
mehr oder weniger straff geschnürten Korsett der flüchtigen
nen, um sehen und sichtbar machen zu können; der zweite,
und beengenden Zeit des von mir sogenannten Präsentismus
die bestehenden Dynamiken aufmerksam zu beobachten, um
stecken?“ – wir also im Wesentlichen in einer allmächtigen
entscheiden zu können, „was wünschenswert ist und was
Gegenwart leben, ohne historische Perspektiven und Zu-
nicht mehr“; und der letzte und schwierigste (man denke an
kunftsvisionen.16 Hartog schlägt daher vor, „die lange Dauer
die griechischen Tragödien, in denen jeder Versuch, richtig
wieder einzubeziehen in die Art und Weise, wie wir unsere
zu handeln, zum Scheitern verurteilt ist), den Kairos oder
Beziehung zur Welt und zu den anderen in Betracht ziehen,
rechten Augenblick zu ergreifen, den einzig möglichen Zeit-
eine lange Dauer, die die Perspektive des Fortschritts [...]
punkt, um noch rechtzeitig eine Gegendynamik zu erzeugen.
noch nicht in Beschlag genommen hat. Diese lange Dauer
Hier entfaltet der günstige Augenblick sein ganzes Potenzial
muss fast jeden Morgen neu geschaffen werden.“17
und ist das Verständnis des untrennbaren Trios Chronos,
Im selben Bemühen um eine Wiedereinführung der langen
Kairos und Krisis, wie Hartog dargelegt hat,19 entscheidend.
Dauer fordert uns Bruno Latour auf, die Produktion von Kon-
Denn nur wer ein Handeln als nie dagewesene, günstige,
sumgütern mit Blick auf den Schutz der Umwelt gründlich zu
einzigartige Gelegenheit begriffen hat, kann sich – nachdem
hinterfragen, einer Umwelt, die im Namen des Fortschritts –
die Gegenzeit als Gegenstrategie erkundet wurde – wieder in
den es ebenfalls neu zu definieren gilt – immer weiter zerstört
die Gegenwart – Chronos – begeben. Nach dem Umweg der
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Ein Fazit mit Aussicht
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und sorgfältig prüft, „was wünschenswert ist und was nicht
Gegenzeit und der dadurch ermöglichten, für das Denken und Handeln notwendigen Verschiebung, ist eine Landung
20
mehr“,23 können wir die besten Narrative für die Zukunft
in der hiesigen Zeit und der hiesigen Welt (da es keine andere
bebauter Räume erfinden.
gibt) essentiell, will man dem Handeln Veränderungspotenzial
Angesichts der nie dagewesenen Herausforderungen kommen
zuschreiben.
der Architektur und der Stadtplanung eine wichtige Rolle zu,
Um angesichts der kommenden Krisen nicht dem Nihilismus
gilt es doch: die Nutzung, Herkunft und Wiederverwendung
zu verfallen, sollten wir einen analytischen und kritischen
der Ressourcen und Materialien, aber auch die Bauweisen zu
Blick auf historische und zeitgenössische Beispiele werfen
überdenken; eine Architektursprache auf der Grundlage lokaler,
und vor allem auf kreative Weise neue Strategien entwickeln,
biologisch und geologisch erneuerbarer Ressourcen wieder-
die Alternativen zur gegenwärtigen Dynamik aufzeigen. In
zufinden; die Frage des Bodenrechts, unsere Lebensweise,
dem Bestreben, eine neue Beziehung zu dieser Welt zu denken,
das Verhältnis zur Gemeinschaft, die Gestaltung der individu-
die sich unaufhaltsam und in rasendem Tempo verändert,
ellen und kollektiven Räume neu zu durchdenken; die Ener-
muss das Verhältnis zwischen Raum und Zeit grundlegend
gie- und Materialflüsse in ihrer intrinsischen Interdependenz
überdacht werden. Die Dynamik, der die Welt bis heute un-
und im Hinblick auf ihre perspektivische CO2-Neutralität zu
terliegt – der Sturm des Fortschritts, um das Bild aufzugrei-
bedenken; die Stadt-Land-Beziehungen neu zu gestalten;
fen, das der Engel der Geschichte von Walter Benjamin
Gegendynamiken zu entwickeln, um das exponentielle
verwendet –, hat uns unaufhaltsam in eine Zukunft getrieben,
Wachstum der Städte einzudämmen; unser Verhältnis zur
die in eine Katastrophe zu münden droht. Wir können ange-
Natur, zur Landschaft und zur Umwelt radikal zu infrage zu
sichts des Beschleunigungsprozesses, der eine zerstörerische
stellen und dafür die Beziehung des Menschen zu anderen
Dynamik angenommen hat, nicht passiv bleiben. Es tut not,
Lebewesen, menschlichen wie nichtmenschlichen, zu prüfen;
über die Zeitordnung und die Zeitlichkeiten nachzudenken,
die Entstehung eines Gefühls der Resonanz im ganzheitlichen
die den Lauf der Dinge bestimmen, um Gegendynamiken zu
Sinn zu fördern.
entwickeln, die resilienter und inklusiver sind, und Mittel und
Demnach hätten Architektinnen und Architekten die Aufgabe,
Wege zu erkunden, um in eine größere Resonanz mit der
die Trümmerberge, die der Sturm des Fortschritts hinterlassen
Welt zu treten.
hat, zu reparieren und Letzteren auf neue Horizonte auszu-
Mit diesem Buch möchte ich dazu beitragen, dass neue
richten. Immer in dem Versuch, zu bestimmen, was dieser
Ideen, Projekte, Modelle und Fiktionen entstehen, denn „das
„Fortschritt“ ist – eine andere Form davon.
Ende aller Dinge“ ist ganz sicher nicht schon morgen zu erwarten! Statt in Panik zu geraten oder dem Nihilismus zu verfallen, fordert Pierre-Henri Castel uns auf, die Gegenwart und die nahe Zukunft zu nutzen, wie man sprichwörtlich den Tag pflückt. Erinnern wir uns an seine treffende Losung: „Es steht uns nicht mehr viel Zeit zur Verfügung, um glücklich zu sein. So präsentiert sich das Morgen oder Übermorgen als die einzige Gelegenheit, die uns bleibt, um zu verwirklichen, was uns am Herzen liegt.“21 Wir brauchen Visionen, und zwar solche, die dem Handeln förderlich sind. Wenn die Zeit ihren Flug unterbricht oder, wie Bruno Latour mitten im Lockdown gesagt hat, wenn „alles zum Erliegen kommt, dann kann alles infrage gestellt, in eine andere Richtung gelenkt, ausgesondert, sortiert, endgültig unterbrochen oder, im Gegenteil, beschleunigt werden“.22 Mit einer solchen Haltung, die das „berüchtigte, angeblich unumkehrbare System“ hinterfragt
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Anmerkungen
176
9 Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen.
232020, Kap. XL „Besuch im Kyong“, 411.
Versuch einer symmetrischen Anthropologie,
15 François Hartog, Chronos – L’Occident aux
a. d. Französ. übers. von Gustav Roßler,
prises avec le Temps, Paris 2020, Umschlag-
1 Catherine Malabou, Le temps. Notions
Frankfurt a. M. 2008, 122: „[…], so sind die
Rückseite.
Philosophiques, Paris 1996, 7f.
Quasi-Objekte, denen die Modernen zur Aus-
16 Ebd.
2 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissen-
breitung verholfen haben, und so sollten wir
17 François Hartog, Confinés, déconfinés,
schaft, in: Kritische Studienausgabe (KSA) in
ihnen auch nachgehen, indem wir einfach
reconfinés: que faire de notre incertitude?,
15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino
wieder werden, was wir nie aufgehört haben
Radiosendung von France Culture: L’Invité(e)
Montinari, Neuausg., München 1999, KSA 3,
zu sein: nichtmodern.“
des Matins, Moderator: Frédéric Worms,
343–651, hier 621 (Hervorh. im Original).
10 Ebd., 120f.: „Von den Quasi-Objekten oder
28.9.2020, https://www.radiofrance.fr/france-
3 Filippo Tommaso Marinetti, Gründung und
Quasi-Subjekten werden wir einfach sagen,
culture/podcasts/l-invite-e-des-matins/confi
Manifest des Futurismus, in: Wolfgang Asholt/
daß sie Netze bilden oder bahnen. Sie sind
nes-deconfines-reconfines-que-faire-de-notre-
Walter Fähnders (Hg.), Manifeste und Prokla-
real, sehr real, und wir Menschen haben sie
incertitude-avec-francois-hartog-et-frederic-
mationen der europäischen Avantgarde
nicht gemacht. Aber sie sind kollektiv, denn sie
worms-5412638 (zuletzt aufgerufen am
(1909 –1938), Stuttgart/Weimar 1995, 3 – 7, hier
verbinden uns miteinander, weil sie durch
11.6.2023)
5 (Punkt 8), denn: „Wir leben bereits im Abso-
unsere Hände gehen und gerade durch ihre
18 Bruno Latour, Imaginer les gestes-barrières
luten, denn wir haben schon die ewige, allge-
Zirkulation unseren sozialen Zusammenhalt
contre le retour à la production d’avant-crise,
genwärtige Geschwindigkeit erschaffen.“
definieren. Dennoch sind sie diskursiv, erzählt,
in: AOC, 30.3.2020, online: http://www.bruno-
4 Stichwort „contretemps“ im Wörterbuch
historisch, leidenschaftlich und von Aktanten
latour.fr/fr/node/849 (zuletzt aufgerufen am
„Le Robert“:
mit autonomen Formen bevölkert. Sie sind
13.6.2023); dort findet sich auch eine deutsche
https://dictionnaire.lerobert.com/definition/co
instabil und riskant, existentiell und nie seins-
Übersetzung, aus der hier mit Änderungen
ntretemps (zuletzt aufgerufen am 14.4.2023).
vergessen.“
zitiert wird [A.d.Ü].
5 Siehe Musiklexikon online:
11 Filipe Pais, Julie Brugier und Olivain Porry,
19 Hartog 2020, 22–27.
https://musikwissenschaften.de/lexikon/v/ver
Manifeste du GOR (Groupe des objets révolu-
20 In Anlehnung an Bruno Latours Buch mit
zoegerung/ (zuletzt aufgerufen am 6.6.2023).
tionnaires), Punkt 1, in: Filipe Pais, Le retour
dem Titel Où atterrir? („Wo landen?“), das auf
Contretemps steht im Deutschen auch für
des objets, quasi-objets et super-objets, Vor-
Deutsch unter dem Titel Das terrestrische
„Kontrapunkt“ (lat. contrapunctus, von
trag, Cycle „Quasi Objets/Objecto Quase“,
Manifest erschienen ist.
punctus contra punctum, „Note gegen
20. März 2018 in der Fondation Calouste
21 Pierre-Henri Castel, Pollution, inondations,
Note“), wobei zu einer Melodie eine Gegen-
Gulbenkian, Paris: https://academia.edu/re
contaminations: comment vivre avec la peur?,
stimme hinzugefügt wird, die versetzt zum
source/work/40197907 (zuletzt aufgerufen am
Radiosendung von France Culture: L’Invité(e)
Rhythmus der Hauptstimme verläuft, auch
14.4.2023). Als Beispiel nennen sie auf der
des Matins, Moderator: Guillaume Erner,
„Synkope“ genannt (griech.): Zusammen-
Straße liegen gebliebene Gegenstände, die
28.10.2019: https://www.franceculture.fr/emis
ziehung der Taktglieder.
auf Überfluss und vorprogrammierte Obsoles-
sions/linvite-des-matins/pollution-inondations-
6 Rencontre avec José Saramago:
zenz hinweisen.
contaminations-comment-vivre-avec-la-peur
„Les romanciers font une sorte d’inventaire“,
12 „Handeln“ im Sinne Henri Bergsons, der
(zuletzt aufgerufen am 14. 4.2023).
in: Le Monde, 11.11.1988.
unterstrich: „Die Spekulation ist ein Luxus,
22 Latour 2020 (Übersetzung geändert
7 Vgl. Michel Serres, Genèse, Paris 1982, 198.
während das Handeln eine Notwendigkeit ist.“
[A.d.Ü]).
8 Vgl. Michel Serres, Éclaircissements: cinq
Vgl. Henri Bergson, L’Évolution créatrice
23 Ebd. (Übersetzung geändert [A.d.Ü]).
entretiens avec Bruno Latour, Paris 1992, 160.
(1907); dt. Schöpferische Evolution, neu a. d.
Serres führt den Ball als Beispiel an: „Einem
Französ. übers. von Margarethe Drewsen,
Quasi-Objekt gleich, ist der Ball das eigentliche
Hamburg 2013, 58.
Subjekt des Spiels; er funktioniert wie ein
13 Walter Benjamin, Über den Begriff der
Beziehungsmarker in dem fließenden Kollektiv
Geschichte (1940), in: Gesammelte Schriften,
um ihn herum. Dieselbe Analyse träfe auch auf
Bd. I.2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann
das Individuum zu.“ Diese Objekttypen seien
Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1980, Kap.
„weder natürlich noch menschengemacht“, so
IX, 697f. (Hervorh. im Original).
Latour mit Blick auf die globale Erwärmung,
14 Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen, a. d.
die Ozonschicht usw. (ebd.).
Französ. übers. von Eva Moldenhauer, Berlin
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Andere Zeiten, andere Räume
einführte, als er nach seinem Rückzug aus der Welt den Orden der Regularen gründete, war ein Machwerk des Widerstands angesichts der dunklen Stunden Italiens, zu einem Zeitpunkt, als sich in diesem Gebiet die Relikte des Römischen
Paolo Amaldi
Reichs mit dem Papsttum und den Ostrogoten überlagerten. Dieses Buch hat verdeutlicht, dass eine bessere Welt oft die-
Die Klöster entstanden also in einer Zeit, in der die Kriegs-
jenige ist, die als Gegenpol zur herrschenden Realität aufge-
truppen unentwegt wüteten. Die Städte wurden geplündert,
baut wird. Das 1516 von Thomas More verfasste Werk Utopia
die Felder nicht bestellt und die Menschen verhungerten in
fiel zwar mit der Entdeckung der Neuen Welt durch Christoph
Italien. In einer solchen Katastrophensituation rissen jegliche
Kolumbus zusammen, der das Gelobte Land erreicht zu
Bande, die die Gesellschaft zusammenhielten. Zu jener Zeit
haben meinte, dennoch war dieses Buch keine fantastische
hatte Benedikt eine stabile Gemeinschaft von Menschen aus
Darstellung eines unbekannten Landes, sondern vielmehr
unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten aufgebaut:
eine Erzählung, die versucht, eine bestimmte Vorstellung von
Barbaren aus dem Arianismus, Menschen aus gutem Hause,
Gesellschaft hervorzubringen; oder, um es mit André Lalandes
Arme und Außenseiter, die sich alle an die Regeln eines
Worten auszudrücken, „ein Bild, das in Form einer konkreten
strengen, aber nicht zwanghaften Gemeinschaftslebens
und detaillierten Beschreibung eine Idee darstellt“,1 die auf
hielten. Die Einführung dieses stillen und arbeitsamen Lebens
die schreienden Ungleichheiten im damaligen England ant-
in Montecassino diente dazu, Wälder zu roden, Mauern zu
wortete. More begann somit im ersten Kapitel ein erschrecken-
errichten, Flüsse zu begradigen und die umliegenden Ge-
des Bild der Gesellschaft seiner Zeit und ihrer Widersprüche zu
biete fruchtbar zu machen.4 Mitten im herrschenden Chaos
skizzieren, während er im darauffolgenden Kapitel, das die
bauten die Klöster langsam und allmählich – man könnte
räumlichen und zeitlichen Dispositive erläutert, die Realität
sagen fast lautlos – zerstörte Gebiete wieder auf und struktu-
vollkommen auf den Kopf stellt. Utopia ist eine Enklave, die
rierten sie neu, wobei sie gleichzeitig das schriftliche und
sich in jeder Hinsicht der Gesellschaftsordnung ihrer Zeit
mündliche Erbe der bedrohten lateinischen Sprache aufrecht-
widersetzt und daher „eine Art Fremdkörper innerhalb des
erhielten. Angesichts des Aufruhrs der Außenwelt schuf
Sozialen“ ist, dessen Werte sie umkehrt. So schrieb More
Benedikt wohlgeordnete Räume und Lebensformen, geprägt
den glücklichen Bewohner:innen seiner Städte ein geregeltes
von repetitiven Ritualen, die die Erinnerung wahrten.
Leben zu, wie in einem Kloster mit immer wiederkehrenden
Diese Beschreibung des klösterlichen Lebens zeigt auf, dass
Ritualen und identischen Tagesabläufen – und das zu einer
der Akt des Bauens, der von bestimmten Idealen oder einem
Zeit, als Heinrich VIII. beschloss, eben diese Institutionen zu
Prinzip der Hoffnung getragen wird, oft auf einer zeitlichen
zerstören und ihre Schätze zu plündern. Gemäß Max Weber
und räumlichen Gegenwelt zur Realität beruht.
2
strukturierten diese gemeinschaftlichen Orte nicht nur die Arbeit, sondern vor allem auch die Zeit. Das Klosterleben
Im weiteren Sinne besteht die These von Susanne Stacher in
wickelt den Tagesablauf in geordneter Weise ab, ohne jegli-
der Aussage, dass Architektur in Krisenzeiten nicht als bloßer
chen Unterbruch oder unvorhergesehene Ereignisse, und
Ausdruck des Widerstands gewisser tiefliegender Gesell-
verräumlicht gleichzeitig diese Aufteilung in einer zirkulären
schaftsstrukturen gegen das Chaos verstanden werden kann,
Form. Bis zur gregorianischen Reform war der territoriale
sondern vielmehr als ein bewusstes Projekt, das darauf
Einfluss so mancher Mönchsgemeinschaften dermaßen stark,
abzielt, der als erratisch und sinnlos empfundenen Realität
dass sie als regelrechte Schutzzonen dienten, die sich der
durch die Errichtung einer strukturierenden Neuordnung
Autorität der Bischöfe entzogen.
entgegenzuwirken. Wir sprechen hier also von aktiven und
3
Bekanntlich hat sich dieses Lebensmodell angesichts der
engagierten Reaktionen auf Ereignisse, die als sinnlos wahr-
chaotischen Ereignisse, die das Hochmittelalter geprägt
genommen werden, als „Katastrophe“ – im Sinne René Thoms
hatten, gefestigt und seine Daseinsberechtigung gefunden.
–, nämlich als Ausdruck der Instabilität eines Systems.5
Die Regula Benedicti, die Benedikt von Nursia im 6. Jahrhundert
Zu den chaotischen Perioden ferner Epochen hat die Moderne,
Anmerkungen Seite 180
Andere Zeiten, andere Räume
177
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 178
deren Beginn im 18. Jahrhundert anzusiedeln ist, ein ausge-
Augen, die Thomas Carlyle zu der entsetzten Bemerkung in-
prägtes Bewusstsein für die Beschleunigung der sich die im
spiriert hatten: „Wer will behaupten, dass nicht das Ende von
Gange befindlichen Prozesse hinzugefügt. Reinhart Koselleck
Vielem [der Welt] gekommen ist?“12 Die Französische Revo-
umreißt die Konturen dieses Bewusstseins einer historischen
lution war aber, trotz des apokalyptischen Anscheins, die
und sozialen Beschleunigung, die nicht zuletzt an das Motiv
Durchsetzung der Thesen der Aufklärung, die mit der zusam-
der Katastrophe in Hubert Roberts Gemälden erinnert. Dieser
menbrechenden alten Ordnung kollidierten. Man kann also
stellte Monumente und Bauwerke, die seinerzeit im Zuge der
sagen, dass die Beschleunigung durch den Fortschritt, den
Umgestaltung der Stadt Paris zerstört wurden, in Trümmern
die Philosophen der Aufklärung zum Hebel der Moderne
dar und malte sich dabei sogar die zukünftigen Ruinen der
gemacht hatten, auf spektakuläre Weise einen Höhepunkt in
Galerie des Louvre aus. Peter Conrad stellt fest, dass es „in
diesen revolutionären Ereignissen erreichte, die zuallererst
der Moderne [...] um die Beschleunigung der Zeit [geht]“8 –
das Recht, die Religion, die Wirtschaft und die Sitten um-
ein Phänomen, das Nietzsche mit einer neuen Form der Bar-
gekrempelt hatten.13 Michaël Fœssel zeigt in Nach dem Ende
barei assoziierte: „Bei der ungeheuren Beschleunigung des
der Welt. Kritik der apokalyptischen Vernunft,14 wie dieser
Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches
Stillstand der Zeit, den Kant hinter der Hektik der revolutio-
Sehen und Urtheilen gewöhnt. [...] Diese Bewegtheit wird so
nären Ereignisse wähnte, mit der Bekräftigung des Absoluten
groß, dass die höhere Kultur ihre Früchte nicht mehr zeitigen
zusammenfiel – den Prinzipien der Aufklärung und der
kann. Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Civilisation in eine
Befreiung der Vernunft von jeglicher Begrenzung durch das
neue Barbarei aus.“9
Sinnliche.
Die Auswirkungen dieser Beschleunigung sind heutzutage
Der Wendepunkt ist also der das „Ende der [Sinnenwelt]“
besorgniserregend. Wir stehen vor einer Endzeit, die von
und den „Anfang der [intelligiblen Welt]“15 darstellt. Interes-
Wissenschaftlern aller Couleur angekündigt wird, die uns vor
santerweise nimmt dieser Austritt aus der Zeit im Text des
der Sinnlosigkeit des Konsumwahns und seines ökologischen
Philosophen die Form einer Versteinerung, eines Stillstands
Fußabdrucks warnen. Der Fortschritt wirkt also paradoxer-
an. Die von Kant verwendete Metapher ist jedoch sehr auf-
weise als Akzelerator für klimatische und soziale Krisen
schlussreich, und es ist wichtig, sich mit ihr näher zu befas-
und weckt in uns ein Gefühl der „Dringlichkeit“ (urgence) –
sen. Denn in diesem Augenblick beginnt etwas Neues, das
ein Begriff, der zum ersten Mal 1798 nach dem Sturz des
allerdings keine zeitliche Nachfolge einläutet, da es nicht von
royalistischen Regimes im Wörterbuch der Académie
Dauer ist. „Die Bewohner der anderen Welt [...] werden
française auftaucht.10
daher so vorgestellt, wie sie [...] immer dasselbe Lied, ihr Hal-
In seinem nach der Französischen Revolution verfassten
lelujah, anstimmen“,16 dem 10. Buch der Offenbarung fol-
Essay Das Ende aller Dinge11 versuchte Immanuel Kant, sich
gend. Diese Kreislaufhaftigkeit, die Kant als Ausdruck des
dieses Ende in hypothetischer Weise vorzustellen, d. h. sich
„gänzliche[n] Mangel[s] alles Wechsels in ihrem Zustande“17
eine Welt auszumalen, in die wir stürzen würden, wenn ein
definiert, lässt uns in ein neues Bezugssystem eintreten, eine
„Ende aller Zeiten“ eingetreten wäre. Er zitierte eine Passage
Art in Schwebe befindlicher Gegenwart. Diese Tendenz zum
aus dem Buch der Offenbarung, in der ein Engel, der „auf
Stillstand wäre sozusagen der Fluchtpunkt der Beschleuni-
dem Meer und auf der Erde steht“ und seine rechte Hand
gung, die mit der Emanzipation des Menschen von einem
zum Himmel erhebt, „und zu dem schwört, der in alle Ewig-
Glauben an das Jenseits beginnt.
keit lebt [...]: Von nun an wird es keine Zeit mehr geben“.
Als der Historiker Emil Kaufmann im Jahr 1933, also inmitten
Wie Susanne Stacher betont, möchte uns Kant darauf auf-
des aufkommenden Nationalsozialismus, die Architektur von
merksam machen, dass die Apokalypse weniger das Ende
Claude-Nicolas Ledoux wiederentdeckte, assoziierte er sie
der Welt und deren Untergang bezeichnet, sondern vielmehr
mit dem Ausdruck einer tektonischen Kraft, die Moral, Vernunft
ihren Neuanfang, ihre Neuinitialisierung.
und konstruktive Authentizität vereint. Die „revolutionäre
In diesem Essay, der seinen drei Kritiken folgte, hatte der
Architektur“, die der österreichische Historiker in seinem
deutsche Philosoph zweifellos die Massaker des Terrors vor
Pamphlet Von Ledoux bis Le Corbusier, Ursprung und
6
7
178
Paolo Amaldi
Anmerkungen Seite 180
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Entwicklung der autonomen Architektur bis ins kleinste Detail
Trägheit, kurz gesagt als „Epiphänomene“ der „Petrifizierung“23
beschreibt, geht von folgender Beobachtung aus: „Kant ähn-
wirken, die manchmal mit einer zurückhaltenden und abwar-
lich war auch Ledoux tief davon durchdrungen, dass die
tenden Haltung gegenüber der Gesellschaft zusammenfallen.
neuen Gedanken Umsturz bedeuten.“ Kaufmann sprach
Seit dem Aufkommen der Globalisierung erleben wir somit
von einer neuen Ära der Architektur der Vernunft, die das
eine Renaissance der politischen Räume der „Enclosures“
Ende der barocken
und der „Commons“.24 In Frankreich nehmen die „Territoires
Besessenheit markiert, die sich auszeichnet durch die Anei-
en lutte“ (von der lokalen Bevölkerung besetzte Gebiete, die
nanderreihung von Einzelteilen, durch den Anthropomorphis-
sich gegen öffentliche, als „nutzlos“ erachtete Großprojekte
mus der Architektur, durch plastischen Zusammenhalt, durch
wehren) die Form von ephemeren Bauten und Aktivitäten an,
die Prinzipien der Hierarchie und der Inszenierung. Wenn er
die, weit entfernt von jeder überhöhten utopischen Zielset-
das Ende der „Heteronomie“ in der Architektur preist, dann
zung, versuchen, den Alltag wieder zu verzaubern.
18
ist es um das Aufkommen der Individualität der Komponenten hervorzuheben, anknüpfend an das Bild des „guten Wilden“ von Rousseau, der zwar isoliert aber dennoch mit einem großen Ganzen verbunden ist: „In bemerkenswerter Parallele zur allgemein-geschichtlichen Entwicklung tritt an Stelle des Verbandes das Pavillonsystem, das von da ab herrschend wurde – die freie Vereinigung selbständiger Existenzen.“19 Will man diese puristische Tendenz, die Kaufmanns Buch durchdringt und in der Architektur von Claude-Nicolas Ledoux, Jean-Nicolas-Louis Durand oder Louis-Ambroise Dubut zum Ausdruck kommt, charakterisieren, dann ist es das Ende jeglicher Fortschrittlichkeit in der architektonischen Erfahrung zugunsten einer Unbeweglichkeit, aber auch zugunsten einer Form der Stille, die zum Beispiel den Entwurf des „Hauses des Friedens“ von Ledoux kennzeichnet, deren Kubus als „Symbol der Gerechtigkeit und Beständigkeit“20 verstanden werden kann. Wie Ledoux betonte, „ermüdet alles, was nicht unentbehrlich ist, die Augen und schadet dem Denken“.21 Diese revolutionäre Architektur versteht sich somit als metaphysische Antwort, die die Zeit aufhebt, indem sie die Vorherrschaft der Vernunft über die Empfindung und die Wahrnehmung zur Schau stellt. Eine Entkörperlichung, die dem Pathos keinen Raum lässt und die mechanistische Architektur des frühen 20. Jahrhunderts einleitet. Zwischen der ad infinitum skandierten Zeit des klösterlichen Raums und der entschleunigten Zeit, bis sie schließlich in einer „fulminanten Immobilität“22 (um den Begriff von Paul Virilio zu verwenden) erstarrt, spielen sich in den Dispositiven der Moderne verschiedene Widerstandsformen der Architektur ab. Wie Hartmut Rosa bemerkt und wie dieses Buch aufzeigt, können sie als Kräfte der Entschleunigung, der Bremsung, der
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Paolo Amaldi Professor an der École nationale supérieure d’architecture Paris-Val de Seine Übersetzung: Susanne Stacher
Andere Zeiten, andere Räume
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Anmerkungen
vor der Französischen Revolution: „Alles ist Revolution in dieser Welt” (tout est révolution dans ce monde). Siehe: Louis Sébastien
1 André Lalande, „Utopie“ in: Vocabulaire
Mercier, L’An 2440. Rêve s’il en fut jamais,
technique et critique de la philosophie, PUF,
London 1772, 328.
1997, Bd. 2, 1179.
14 Michael Foessel, Nach dem Ende der Welt.
2 Fredric Jameson, Archéologie du futur, le
Kritik der apokalyptischen Vernunft, a. d.
désir nommé utopie (2005), Max Milo Editions,
Französ. von Brita Pohl, Wien/Berlin 2019.
Paris 2007, 47.
15 Kant 1923, 333.
3 Florian Mazel, L’évêque et le territoire,
16 Kant 1923, 334f.
l’invention médiévale de l’espace, Editions du
17 Kant 1923, 335.
Seuil, Paris 2016, 227f.
18 Emil Kaufmann, Von Ledoux bis Le Corbusier,
4 Jean Décarreaux, Les moines et la civilisation,
Ursprung und Entwicklung der autonomen
Artaud, Paris, 1962, 206–230 (Die Mönche und
Architektur (1933), Stuttgart 1985, 12.
die abendländische Zivilisation (1962),
19 Ebd., 16.
Wiesbaden 1964).
20 Ebd., 32.
5 René Thom, Stabilité structurelle et morpho-
21 Claude-Nicolas Ledoux, L’Architecture
génèse, Interédition, Paris 1977.
considérée sous le rapport de l'art, des
6 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft:
moeurs et de la législation, 1804, 70.
Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Berlin
22 Paul Virilio, L’inertie polaire, Paris 1990.
1989 (12. Aufl. 2022).
23 Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Verän-
7 André Corboz, Peinture militante et archi-
derung der Zeitstrukturen in der Moderne,
tecture révolutionnaire, A propos du thème du
Frankfurt/Berlin 2005.
tunnel chez Hubert Robert, Birkhäuser, Basel
24 Naomi Klein, Reclaiming the Commons, in:
1978, 44f.
The Left Review, 9, Mai – Juni 2001.
8 Peter Conrad, Modern Times and Modern Places. How Life and Art were Transformed in a Century of Revolution, Alfred A. Knopf, New York 1999, 9. 9 Friedrich Nietzsche, Menschliches, allzu Menschliches, Leipzig 1886, Bd. 1, § 282. „Klagelied“, 255 und § 285. „Die moderne Unruhe“, 257. 10 Wörterbuch der Académie française, 5. Aufl., Paris, 1798, Bd. 2, 708: „Eigenschaft des Dringlichen. Erwartete Dringlichkeit eines Falles. Dringlichkeit eines Bedürfnisses. Man hat den Zustand einer Notsituation, einer Dringlichkeit erklärt, d. h., es ist der Augenblick gekommen, etwas anzuordnen.“ 11 Immanuel Kant, Das Ende aller Dinge (1794), in: Kant’s gesammelte Schriften, Berlin 1923, Bd. 8, 325 –339. 12 Thomas Carlyle, Die Französische Revolution (1837), a. d. Englischen von P. Feddersen, Bd. 2, Leipzig 1889, Kap. 5 „Könige und Emigranten“. 13 Louis Sébastien Mercier schrieb 15 Jahre
180
Anmerkungen zu Seite 177–179
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Angesichts eines „Endes aller Zeiten“
schwellige Zeitlichkeit, die als axiomatisch angesehen wurde.
Dialektik zwischen der kurzen Zeit der Technik und den
die zunächst geltend gemacht und schließlich implizit wurde.
langen Zyklen der Natur
Kant hatte den nicht-begrifflichen Status der Zeit dargelegt –
Die Begriffe Renaissance, Moderne oder Postmoderne verweisen auf die Verankerung in einer ursprünglichen Zeitlichkeit,
„eine reine Anschauungsform“ –, die er als ontologische Philippe Potié
ästhetische Gegebenheit klassifizierte. Was aber geschieht, wenn sich diese auflöst? Susanne Stacher stellt in ihrer Arbeit
Susanne Stachers Buch entsteht in einer Zeit, in der sich ein
die Perspektive der Überwindung der „Krise“ ins Zentrum,
tiefgreifender Wandel in der architektonischen Kultur vollzieht.
um die Werkzeuge einer „Wiederverzauberung“ zu schmieden,
Als Verantwortlicher für den Geschichtsunterricht an der École
die für den Akt des Entwerfens notwendig ist.
nationale supérieure d’architecture de Versailles konnte ich
Architektur als Ausdruck einer Zeitlichkeit und nicht nur als
den plötzlichen Zusammenbruch eines Sockels von Referen-
Ausdruck einer Räumlichkeit zu verstehen, ist nicht einfach.
zen feststellen, die ich für unumstößlich betrachtet hatte.
Die erste Tatsache, die sich bei der Betrachtung der aktuellen
Es scheint, als ob das Korpus, das sich seit der Renaissance
Situation aufdrängt, ist der Wandel, den das „ökologische“
langsam sedimentiert hatte und die wichtigsten Werke
Denken herbeiführt, welches eine weitaus größere Zeitlichkeit
des Abendlandes – von Brunelleschi bis Le Corbusier – in
eröffnet. Aus der säkularen Zeit, die die zivilisatorische Zeit
einer Gesamtheit vereinte, plötzlich seine Beständigkeit
einer neu interpretierten Antike und einer avantgardistischen
verloren hat.
Moderne war, wird eine millenaristische Zeit, die von der
Aufgrund der ökologischen Krise hat sich das Interesse vom
Natur geprägt ist. Von einer prometheischen Vision kehren
Gebäude auf dessen Kontext verlagert. So hat gewissermaßen
wir zur Landschaft zurück, die von Gaia und Persephone
die Geografie die Geschichte verdrängt, und die Landschaft
gezeichnet ist. Susanne Stachers Perspektive entfaltet sich
das Gebäude, was den Historiker etwas ratlos zurücklässt.
in dieser Zeitlichkeit, von der sie einige der Meilensteine be-
Wir sind heutzutage Zeugen einer Veränderung der „Ordnun-
schreibt, die es ermöglichen, ihren Widerhall zu erfassen. Die
gen der Geschichtlichkeit“, um den von François Hartog
Kapitel ihres Buches bieten unumgängliche Orientierungs-
geprägten Begriff aufzugreifen, wodurch so manche Gewiss-
punkte auf dem Weg zur Rekonstruktion einer notwendigen
heiten infrage gestellt werden. Dazu gehört auch die des
Fiktion, einer erlösenden Utopie.
architektonischen Entwurfs. Es ist in der Tat schwierig, sich in etwas hineinzuprojizieren, wenn die Geschichte, auf die sich
Ich möchte einen letzten Markierungspunkt hinzufügen. Mir
unsere Gewissheiten stützen, entschwindet. Zum großen
scheint es nützlich zu sein, die kurze Zeit der Technik und die
Erstaunen der Geschichtsprofessoren gesellt sich die Klage
langen Zyklen der Natur neu in ein dialektisches Verhältnis zu
derjenigen, die für den Projektunterricht verantwortlich sind,
setzen. Wenn man auf die Lehre von Claude Lévi-Strauss und
denn sie stehen entwaffnet vor einer Generation, die im
das Fundamentalpaar Natur/Kultur zurückgreift, kann man
Bauen einen Ökozid sieht, dessen Symbol der Beton und die
tatsächlich in unserem architektonischen Erbe dualistische
Rückkehr zu Lehm und Holz die rettenden Ikonen sind.
Mechanismen wiederentdecken, die immer noch gültig sind.
Diese tiefgreifende Wandlung fordert dazu auf, unsere kultu-
Bei näherer Betrachtung unserer Geschichte wurden die langen
relle Basis drastisch zu überdenken und nach dem schwächsten
naturalistischen Zeiten nie ganz verdrängt. Oden an die Natur
Glied im System zu suchen. In Anlehnung an die Arbeit von
punktieren auf leisen Sohlen die Fortschritte der Architektur;
Susanne Stacher werde ich die Hypothese aufgreifen, dass
insbesondere sind es Dekorationen und Gärten, die diesen
wir unser Fachgebiet in Bezug auf die Zeit hinterfragen müssen.
Dialog untermalen. Die Epochen, die der prometheischen
Ich gehöre zu einer Generation, für die Architektur eine Wis-
Rationalität radikal den Vorzug geben, sind jedoch nicht sehr
senschaft der Räumlichkeit war, die man in all ihren Aspekten
zahlreich. Der französische Klassizismus, der den Garten
deklinierte. Das Primat des Raumes verdeckte eine unter-
seinen strengen Regeln unterwarf, markiert einen Höhepunkt.
Angesichts eines „Endes aller Zeiten“
181
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 182
Aber offensichtlich ist der Dualismus mit den naturalistischen
Konflikt zwischen Kontemplation und Aktion, Natur und Kultur,
Zeiten am wenigsten vernehmbar in der ersten asketischen
langer zyklischer Zeit des Lebendigen und kurzer Zeit der
Moderne, die jegliches Dekor verbannte. Gabriel Guevrekians
technischen Effizienz. Erstaunlicherweise, dank eines inneren
kubistischer Garten (1925) der Villa Noailles von Robert
psychischen Mechanismus, verbindet das Denken diese
Mallet-Stevens symbolisiert diese prometheische Vorherrschaft
ideellen Gegensätze dann mit ästhetischen Ausdrucksformen,
über die Natur.
die Farbe/Weiß, Kurve/Gerade, Ornament/Glattflächigkeit,
Aber diese Momente bleiben ziemlich begrenzt, im Gegenzug
Variation/Einheit usw. miteinander vereinen.
kann man sogar eine naturalistische Präsenz in einem der em-
Will man diese Hypothese aufgreifen, lassen sich viele der
blematischsten Werke des freien Plans finden. Mies van der
offen gebliebenen Paradoxa ansatzweise klären. So wird ver-
Rohes Barcelona-Pavillon, dessen aufgelöste Wände aneinander
ständlich, wie nach dem Schock des Zweiten Weltkriegs die
vorbeizugleiten scheinen, stellt seine Abstraktion in einem
puristischen und optimistischen Akzente von Le Corbusier
kraftvollen Dialog mit einer Materialität zur Schau, wobei die
aus den 1920er Jahren dem Expressionismus von Ronchamp
zentrale Wand aus orangefarbenem Onyx eine tektonische
wichen. Auf ähnliche Weise wird der Dualismus in Le Corbusiers
Verwurzelung geltend macht. Die Zeitlichkeit der Erde, die in
meisterhafter Architektur des Klosters La Tourette deutlich,
der Maserung des Steins in Erscheinung tritt, bildet einen
wo der brutalistische Block der Kirche mit der gebogenen
Rahmen für die Andeutung der zyklischen Rhythmen des
Wand der Kapelle kontrastiert, während die standardisierten
Lebendigen, während die Statue Morgen von Georg Kolbe
Zellen auf der Hauptfassade des Gebäudes den Takt zu
den Blick einfängt.
schlagen scheinen, um die von Xenakis komponierten melo-
Ich war zweifellos von der rationalistischen Überinterpretation,
dischen Linien der Stützen zur Geltung zu bringen.
die in gewissen Kreisen der Architekturgeschichte üblich war, geblendet, so dass ich die Onyx-Wand nicht als naturalistische
Angesichts des Katastrophismus einer angekündigten
Präsenz sah (die in der Tat von ihrem Autor selbst kaum geltend
Apokalypse besteht die Verantwortung des Architekten darin,
gemacht wurde). Die Kritik, die zu sehr an einem einheitlichen
die „Enthüllung“ von „Projekt-Figuren“ vorzunehmen, deren
Denken festhält, hat es nie geschafft, diesen fast omnipräsenten
erste Umrisse Susanne Stacher skizziert und die, wie ich
ästhetischen Dualismus zu erfassen. Das Werk von Adolf Loos
glaube, in einer ästhetischen Dialektik dekliniert werden, die
ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, bei dem das radikal
die farbige Kurve mit dem Weiß der Linie konfrontiert.
strenge, weiße Äußere der Villen im Gegensatz zu den sinnlichen, haptischen und farbigen Innenräumen steht. Ich vermute, dass die langen Zyklen des Lebendigen, die einen kontemplativen Blick begünstigen, systematisch durch Farben, Kurven und Sinnlichkeit der Materialien zum Ausdruck kommen. Umgekehrt zeichnet die Rationalität, die der effizienten Zeit des Handelns und Projektierens eigen ist, automatisch Linien und Winkel auf weißem Hintergrund, egal in welcher Epoche. Der Ansatz von Kasimir Malewitsch und seiner Architektone ist beispielhaft für die Suche nach einer geläuterten rationalistischen Formensprache. Spiegelbildlich dazu bildet die Sternwarte von Erich Mendelsohn (Einsteinturm) mit ihren kurvigen Wölbungen ein gegensätzliches Narrativ, nämlich das eines Ausbruchs aus magmatischer Tiefe. Expressionismus und Modernismus stehen einander gegenüber und ergänzen sich letztendlich, um das unauslöschliche Schicksal menschlichen Denkens darzustellen, gefangen in einem ontologischen
182
Philippe Potié
Philippe Potié, Professor emeritus an der École nationale supérieure d’architecture de Versailles Übersetzung: Susanne Stacher
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Anhang
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 184
Abbildungsverzeichnis
45 Johann Adam Meisenbach, Der Tanzkreis des Choreografen Rudolf von Laban auf den Monte Verità, um 1914, Fotografie, Archiv Monte
184
Angaben nach Seitenzahlen
Verità.
Hinweis auf die Platzierung der Abbildung mit folgendem Zeichen:
47 Bernard Rudofsky, „Bewegliche Architektur in Vietnam“, aus:
^ oben | < links | > rechts | v unten
Architektur ohne Architekten, Abb. 142, o. S.
6 Giorgio de Chirico, Die Eroberung des Philosophen, 1913/1914, Öl
welche die Deformation der Füße durch das Tragen spitzer Schuhe
auf Leinwand, Art Institute of Chicago, Reference Number 1939.405,
demonstrieren, aus: Are Clothes Modern?, Chicago 1947, S. 74.
© 2018 Artists Rights Society (ARS), New York/SIAE, Rome.
49 Bernard Rudofsky, Bernardo, Plakat, 1944, Privatsammlung, Rechte
34 Charles de Wailly, Projekt für die Umgestaltung des Pantheons
vorbehalten
in eine Pyramide, Paris, um 1797, Perspektive, Feder und Tinte, lavierte
50 Hans Hollein, Überbauung Wien, 1960, Fotomontage, Sammlung
Tinte mit Spuren von Graphit auf Papier, auf Karton montiert, 24,4 ×
Centre Pompidou, Paris, © Archiv Hans Hollein.
19,8 cm, Sammlung Canadian Centre for Architecture, Montréal,
52 Hans Hollein, Werk und Verhalten, Leben und Tod, Podium mit To-
Schenkung von Frau Marjorie Bronfman, Nr. DR1995:0061.
tenbahre und Mumie, Biennale von Venedig, 1972, © Archiv Hans Hol-
37 Sandro Botticelli, Die Geburt der Venus, um 1484/1485, Tempera
lein.
auf Leinwand, 172 × 278 cm, Uffizien, Florenz, WMC.
53 Hans Hollein, Werk und Verhalten, Leben und Tod, Kultischer Renn-
38 ^ Luciano Laurana (vormals zugeschrieben), Idealstadt, um
wagen und Badezimmer, Biennale von Venedig, 1972, © Archiv Hans
48 Bernard Rudofsky, Symmetrischer Schuh und Fuß, Gipsabgüsse,
1480 –1490, Öl auf Holztafel, 68 × 235 cm, Galleria Nazionale delle
Hollein.
Marche, Urbino, WMC.
54 Hans Hollein, Doppelseite aus: Hollein/Pichler: Architektur,
38 v Architekten Legrand und Molinos, Entwurf für einen Nationalzirkus
Ausst.-Kat. Galerie nächst St. Stephan, Wien 1963.
auf der Place des Invalides in Paris, 1791, aus: Werner Szambien, Les
56 Junya Ishigami, Projekt für acht Ferienhäuser in Dali (China),
projets de l’an II, Paris 1986, S. 66.
Modell, Ausstellung Freeing Architecture, Fondation Cartier, Paris,
39 Architekt Sobre, Entwurf eines Denkmals für die Place des Victoires
2018, Foto © Susanne Stacher.
in Paris mit Hieroglyphen und Elefanten, Wettbewerbsentwurf, 1793,
57 Junya Ishigami, House & Restaurant, Yamaguchi, Japan, 2019,
aus: Werner Szambien, Les projets de l’an II, Paris 1986, S. 80.
© Yashiro Photo Office.
40 ^ < Leo von Klenze nach Jean-Nicolas-Louis Durand und Jean-
58 Junya Ishigami, House & Restaurant, Yamaguchi, Japan, 2019,
Thomas Thibault, Temple à l’Égalité, 1793, Perspektive, Staatliche Gra-
© Yashiro Photo Office.
phische Sammlung München, Nr. AKG1642431, aus: Werner Szambien,
62 Emil Krause, Hugo Mayer (nach dem Lageplan von Adolf Loos),
J-N-L Durand, Paris 1984, S. 86.
Siedlerarbeit, Siedlung Rosenhügel, 1921, Fotograf: Josef Derbolav
40 ^ > Jean-Nicolas-Louis Durand und Jean-Thomas Thibault, Temple
Machovsky, © Wien Museum, Nr. 55113, Birgit und Peter Kainz.
à l’Égalité, 1793, Grundriss, Beaux-Arts Paris, aus: Werner Szambien,
65 Paul Klee, Angelus Novus, 1920, aquarellierte Zeichnung aus Tusche
J-N-L Durand, Paris 1984, S. 87.
und Ölkreide auf vergilbter Radierung eines Luther-Porträts aus dem
40 v Jean-Nicolas-Louis Durand, „Combinaisons horisontales, de Co-
19. Jh., Israel Museum, Jerusalem, WMC.
lonnes, de Pilastres, de Murs, de Portes et de Croisées“, 1802, Tafel 2,
66 < Ebenezer Howard, „Die drei Magneten“, Diagramm der Vor- und
aus: Précis des leçons d’architecture données à l’École Polytechnique,
Nachteile von der Stadt, dem Landleben und der „Stadt in der Land-
Bd. 1, 2. Teil, Paris 1802, o.S.
schaft“, aus: Tomorrow – A peaceful Path to Real Reform, 1898, Abb. 1,
41 Jacques-Louis David, Der Schwur der Horatier, 1784, Öl auf
S. 9.
Leinwand, 330 x 425 cm, Musée du Louvre, Paris, WMC.
66 Mitte Ebenezer Howard, „Social Cities“, Vernetzung der Gartenstadt,
42 Jacques-Louis David, Die Sabinerinnen, 1799, Öl auf Leinwand,
aus: Tomorrow – A peaceful Path to Real Reform, 1898, Abb. 7, S. 130.
385 × 522 cm, Musée du Louvre, Paris, WMC.
66 > Ebenezer Howard, „Garden-City“, Diagramm der Gartenstadt
43 Jacques-Louis David, Madame Récamier, 1800, Öl auf Leinwand,
und dem umgebenden Agrarland, aus: Tomorrow – A peaceful Path to
174 × 224 cm, Musée du Louvre, Paris, WMC.
Real Reform, 1898, Abb. 2, S. 12.
44 ^ Jean-Léon Gérôme, Bonaparte vor der Sphinx, 1867/1868, Öl auf
67 Ebenezer Howard, „Ward and Centre Garden-City“, Ausschnitt des
Leinwand, 61 × 103 cm, Hearst Castle, San Simeon (USA), WMC.
Planes der Gartenstadt, aus: Tomorrow – A peaceful Path to Real Reform,
44 v Stuhl im ägyptischen Directoire-Stil, 1799/1800, Mahagoni,
1898, Abb. 3, S. 14.
Maison Jacob Frères, großes Zimmer im Doppelapartment des Prinzen,
70 < und > Emil Krause, Hugo Mayer (nach dem Lageplan von Adolf
Château de Compiègne, Réunion des Musées Nationaux-Grand Palais,
Loos), Siedlung Rosenhügel, Kleintierhof, Mai 1924, Fotograf: Josef
C.81D7.
Derbolav Machovsky, Wien Museum, Nr. 55124, Birgit und Peter Kainz.
Anhang
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Emil Krause, Hugo Mayer (nach dem Lageplan von Adolf Loos), Sied-
89 Bruno Taut, Blatt 10: „Schnee Gletscher Glas“, aus: Alpine Architektur,
lung Rosenhügel, Siedlerfrauenarbeit, 1921, Fotograf: Josef
1919.
Derbolav Machovsky, Wien Museum, Nr. 55109, Birgit und Peter Kainz.
90 Bruno Taut, Hufeisensiedlung in Britz, 1927, Luftaufnahme, 2017,
71 ^ Adolf Loos, „Selbst-Versorger“: Schema für die Erschließung von
Quelle: A. Savin, WMC.
Kleinsiedlungen, 1918, Albertina, Nr. ALA17.
98 Gordon Matta-Clark, Conical Intersect, 1975, Paris, Fotograf: Harry
71 v Adolf Loos, Plan einer Ecktype, 1918, Albertina, Nr. ALA409.
Gruyaert, © Magnum Photo, picturedesk.com, 19750615_PD0680.
72 Adolf Loos, Bauart „Haus mit einer Mauer“, 11. Februar 1921,
103 Antonio Sant’Elia, Elektrizitätswerk (aus der Serie „La Città Nuova“),
Albertina, Nr. ALA702.
1914, schwarze Tusche und Gouache auf Papier, 20,5 × 31 cm, Privat-
73 Hannes Meyer, Postkarte „Herzliche Glückwünsche aus dem
sammlung, Mailand, WMC.
Freidorf“, Staatsarchiv des Kantons Basel-Landschaft, PA 6438.
105 Antonio Sant’Elia, Bahnhof für Flugzeuge und Eisenbahnen mit
74 Siedlung Freidorf, Karneval im Freidorf, undatiert, Fotograf unbe-
Seilbahnen und Außenliften auf drei Straßenebenen, 1914, Perspektiv-
kannt, Staatsarchiv des Kantons Basel-Landschaft, PA 6438.
ansicht, schwarze Tusche auf Papier, 39 × 50 cm, Musei Civici di Como,
75 Hannes Meyer, Siedlung Freidorf, Lageplan, Staatsarchiv des Kantons
Palazzo Volpi, WMC.
Basel-Landschaft, PA 6438.
107 Le Corbusier, Plan Voisin von Paris, 1925, Modellfoto, Fotograf
76 ^ Hannes Meyer, Siedlung Freidorf, Vorschläge zur Gestaltung des
unbekannt, © FLC L2(14)52.
Siedlergärten, Staatsarchiv des Kantons Basel-Landschaft, PA 6438.
108 < Le Corbusier, Plan Voisin von Paris, 1925, Modellfoto, Fotograf
76 v Hannes Meyer, Siedlung Freidorf, Haustypen, Staatsarchiv des
unbekannt, © FLC L2(14)46.
Kantons Basel-Landschaft, PA 6438.
108 > Le Corbusier, Plan de Paris, 1937, Fotocollage, © FLC 29788.
77 Siedlung Freidorf, Genossenschaftshaus, 1924, Fotograf: Theodor
109 Le Corbusier, Plan de Paris, große West-Ost-Achse, 1937,
Hoffmann Staatsarchiv des Kantons Basel-Landschaft, PA 6438.
Zeichnung, © FLC 29751.
78 < Siedlung Freidorf, Eingangshalle des Genossenschaftshauses,
110 < Le Corbusier, Plan Voisin von Paris, 1925, Zeichnung, © FLC 30850A.
1924, Fotograf: Theodor Hoffmann, Staatsarchiv des Kantons Basel-
110 > Corbusier, Plan von Paris, 1937, Modellfoto: Lucien Hervé,
Landschaft, PA 6438.
© J. Paul Getty Trust, FLC L2(14)2.
78 > Siedlung Freidorf, Eingang des Genossenschaftshauses, 1924,
111 Le Corbusier, Ville Radieuse, 1930, Modellfoto, Fotograf unbe-
Fotograf: Theodor Hoffmann, Staatsarchiv des Kantons Basel-Land-
kannt, © FLC L3(20)71.
schaft, PA 6438.
112 und 113 Le Corbusier, Pavillon de l’Esprit Nouveau, 1925, Fotograf
79 ^ Siedlung Freidorf, Zentraler Platz mit Denkstein und Obelisk,
unbekannt, © FLC L2(13)18 und L2(13)31.
1919, Fotograf: Theodor Hoffmann, Staatsarchiv des Kantons Basel-
114 Le Corbusier, Automobil „Delage“, aus: Vers une architecture,
Landschaft, PA 6438.
1923, 2. Aufl., Paris 1925, S. 105.
79 v Siedlung Freidorf, Brunnen mit Obelisk und Wohnhof, umgeben
118 Gordon Matta-Clark, Conical Intersect, 1975, Paris, Fotograf: Harry
von Häusern mit eigenem Nutzgarten, 1919, Fotograf: Theodor
Gruyaert, © Magnum Photo, picturedesk.com, 19750615_PD0680.
Hoffmann, Staatsarchiv des Kantons Basel-Landschaft, PA 6438.
120 ^ Highland Park Plant Model-T, Fordwerke, um 1920, © 2017–2023
81 < Hannes Meyer, Vitrine Co-op, E.I.C.O.S., Fotograf: Theodor
Model T Ford Fix.
Hoffmann, 1924, Staatsarchiv des Kantons Basel-Landschaft, PA 6438.
120 v Aufgegebene Fabrikhalle in Detroit, 2014, Fotograf: Quentin
81 > Hannes Meyer, Theater Co-op: Der Traum, Gebärdenspiel, 1924,
Mourier.
Fotograf: Theodor Hoffmann, aus: Das Werk, Bd. 11, 1924, S. 330.
121 Smart City, Taipei, Taiwan, 2018, DIGITIMES.
84 Bruno Taut, Blatt 17: „Das Baugebiet vom Monte Ceneroso
122 < und > OMA, Ole Scheeren, Maha Nakhon, Bangkok, 2016,
gesehen“, aus: Alpine Architektur, 1919.
Fotograf: © Srirath Somsawat.
85 < Bruno Taut, Blatt 1, „Nun blüht unsere Erde auf“, aus:
126 BIG, „Masterplanet”, aus: Formgiving, 2020, © BIG
Die Auflösung der Städte, 1920.
127 BIG, „Moon – City of New Hope“, aus: Formgiving, 2020, © BIG
85 > Bruno Taut, Blatt 23, „Die grosse Kirche“, aus: Die Auflösung der
128 NASA, menschliches Landungssystem mit Besatzung auf einem
Städte, 1920.
Monkrater mit der Erde am Horizont, virtuelles Schaubild, 2019,
87 ^ Bruno Taut, „Stadtsilhouette“ und „Stadtschema“, aus: Die
© NASA/Moon to Mars
Stadtkrone, 1919, Jena, S. 71.
134 Robert Delaunay und Felix Aublet, Innenausstattung der kegel-
87 v Bruno Taut, Plan und Silhouette, aus: Die Stadtkrone, 1919, Jena,
stumpfförmigen Halle des Palais de l’Air, realisiert von der Association
S. 73.
Art et Lumière, Architekten: Audoul, Hartwig, Gerodias, Exposition
88 Bruno Taut, „Perspektivische Ansicht“, aus: Die Stadtkrone, 1919,
Internationale des Arts et Techniques, Paris, 1937, Fotograf: Henri
Jena S. 74.
Baranger, © Centre Pompidou, MNAM-CCI Bibliothèque Kandinsky,
Abbildungsverzeichnis
185
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Dist. RMN-Grand Palais/Fonds Robert et Sonia Delaunay, Nr. DEL49,
Fotograf: Olivier Martin-Gambier, © FLC OMG_012.
23-501309.
149 Hidalgo Moya, Philip Powell, Felix Samuely (und Frank Newby),
136 Le Corbusier, Weltbibliothek im Mundaneum von Genf, Pläne und
Skylon-Turm auf dem Festival of Britain, 1951, Fotograf: Bernard
Schnitt, 1928, © FLC.
William Lee, WMC.
137 ^ Paul Otlet, Mondothèque, Arbeitstisch mit integrierter Projektionstafel für das Mundaneum, 1930, WMC.
153 Cedric Price, Innenperspektive des Fun Palace, um 1966, Archive
137 v Paul Otlet, Schrank im Mundaneum, © Stefaan Van der Biest,
156 Carl Andre, Essay On Sculpture For E. C. Goossen, 1964, Maschin-
2016, WMC.
schrift auf Papier, 28 × 21 cm, aus: Things In Their Elements, London
138 Le Corbusier, Mundaneum in Genf, 1928, Perspektive, © FLC
2011, S. 133, © Carl Andre Archive.
Mundaneum002.
157 Hans Hollein, Mobiles Büro, 1969, Installation am Flugfeld Aspern
139 ^ Le Corbusier, Weltmuseum im Mundaneum von Genf, 1928,
bei Wien, Foto und Film, © Archiv Hans Hollein.
Perspektive, © FLC Nr. 2049_1603.
158 David Greene, Logplug und Rokplug, 1969, Ausstellung Archigram,
139 v Le Corbusier, Organisationsschema Weltmuseum, Mundaneum
Kunsthalle Wien, 1994, © Archiv Archigram.
in Genf, 1928, Zeichnung, © FLC 33513A.
162 Ryūe Nishizawa, Teshima Art Museum, Künstlerin: Rei Naito,
140 < Le Corbusier, Skizze der Eingangshalle des „Musée esthétique“,
Matrix, 2010, Fotografie: Noboru Morikawa.
Februar 1936, © FLC 00768.
163 Ryūe Nishizawa, Teshima Art Museum, Künstlerin: Rei Naito,
140 > Le Corbusier, Modellfoto des Museums mit unbegrenztem
Matrix, 2010, Fotografie: Noboru Morikawa.
Wachstum, 1939, Fotografie: Lucien Hervé, © J. Paul Getty Trust,
164 < Ryūe Nishizawa, Teshima Art Museum, Künstlerin: Rei Naito,
2002.R.41, FLC L3(20)25.
Matrix, 2010, Fotografie: Ken’ichi Suzuki.
141 < Le Corbusier, Modellfoto des Museums mit unbegrenztem
164 > Ryūe Nishizawa, Teshima Art Museum, Bauplan, 2010.
Wachstum, 1939, Fotografie: Lucien Hervé, © J. Paul Getty Trust,
168 Giorgio de Chirico, Das böse Genie eines Königs, 1914/1915, Öl
2002.R.41, FLC L3(20)31.
auf Leinwand, 61 × 50,2 cm, Museum of Modern Art, New York, WMC.
141 > Le Corbusier, Modellfoto des Museums mit unbegrenztem Wachstum, 1939, Fotografie: Lucien Hervé, © J. Paul Getty Trust, 2002.R.41, FLC L3(20)20. 142 ^ Le Corbusier, Skizze für das Museum mit unbegrenztem Wachstum, 1939, aus: Œuvre complète, Bd. 4: 1938–1946, Zürich 1966, S. 16f. 142 v Le Corbusier, Skizze des Organisationsprinzips des „Musée esthétique“ für die Weltfachausstellung Arts et Techniques 1937 in Paris, 1936, © FLC 00713. 143 ^ Postkarte Exposition Internationale Paris 1937 mit dem sowjetischen Pavillon (rechts) und dem deutschen Pavillon gegenüber, Privatkollektion der Autorin. 143 v Robert Delaunay und Felix Aublet, Innenausstattung der kegelstumpfförmigen Halle des Palais de l’Air, realisiert von der Association Art et Lumière, Architekten: Audoul, Hartwig, Gerodias, Exposition Internationale des Arts et Techniques, Paris 1937, Fotografie: Henri Baranger, © Centre Pompidou, MNAM-CCI Bibliothèque Kandinsky, Dist. RMN-Grand Palais/Fonds Robert et Sonia Delaunay, Nr. DEL49, 23-501309 145 Le Corbusier, Pavillon des Temps Nouveaux, Weltfachausstellung Arts et Techniques, Paris, 1937, Fotograf: Albin Salaün, © FLC L2(13)126. 146 Le Corbusier, Nationalmuseum für westliche Kunst, Tokio, 1955; oben: Eingang, unten: Innengalerie mit spiralförmigem zenitalem Lichtband, Fotograf: Olivier Martin-Gambier, © FLC OMG_001 147 Le Corbusier, Nationalmuseum für westliche Kunst, Tokio, 1955, Hauptraum mit zenitalem Tageslicht,
186
Anhang
CCA Nr. DR1995:0188:518.
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192
Anhang
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 193
Index
Bakunin, Michail 85
Chenal, Pierre 114
Bangkok 122, 124
Chiattone, Mario 104
Banham, Reyner 151
Chipiez, Charles 138
Absolutismus 38, 44
Barcelona 117
Chirico, Giorgio de 6, 168f., 172
Achleitner, Friedrich 157
Bard, Jean 81
Chronos 27, 32, 146, 174, 176
Adorno, Theodor W. 12, 17, 30
Baron, Erich 85, 97
Churchill, Winston 149
Agrargenossenschaft 73f.
Baumgarten, Siegmund Jacob 18
Cité Mondiale 136
Agrarreform 68
Bayer, Konrad 157
Città Nuova 103–106, 131
Ahrenberg, Theodor 146
Belviso, Francesca 102, 131
Colbert, Jean-Baptiste 113, 127
Aisthetik 31, 82, 96, 119
Benedikt von Nursia 177
Computermensch 147f., 162, 172
Akzelerationismus 120f., 123, 171
Benjamin, Walter 61, 64f., 73, 93, 95, 106,
Conrad, Peter 178, 180
akzelerationistisch 106, 121, 123ff., 130, 133
131, 173ff., 176
contretemps/contre-espaces 172, 176
Algier 117
Bergson, Henri 176
Cues, Nicolaus von 22, 31
Alloway, Lawrence 151, 166
Bernoulli, Hans 74, 96
Altmann-Loos, Elsie 95
Berthault, Louis-Martin 43
D’Annunzio, Gabriele 101
Amaldi, Paolo 88, 97, 104, 131, 166
Beschleunigung 7f., 10f., 15 –18, 20f., 24, 28,
Dalí, Salvador 173
Anarchitecture 118, 132
29, 68, 86, 92, 99, 102, 108, 115, 119f., 124,
Damaschke, Adolf 74
Anders, Günther 13
130, 142, 171, 178, 180
Dante 16, 37
Angst 7, 11, 13, 26, 30, 165, 169, 173
Beschleunigung(sdynamik) 121, 130
David, Jacques-Louis 41ff., 60f
Anthropozän 24, 57, 174
Bezos, Jeff 129
Delaunay, Robert 135, 143f.
Antwerpen 117
BIG (Bjarke Ingels Group) 125ff, 129f., 133
Delécluze, Étienne-Jean 60f.
Apokalypse 11, 13, 21, 24, 26, 30, 35, 106,
Birobidschan 83
Demiurg, demiurgisch 89, 116, 126, 128
178, 182
Blum, Léon 144
Dessauer Bauhaus 75, 83, 97
_ architektonische 86, 97
Boccioni, Umberto 106
Destruktion(strieb) 14ff., 28, 38f., 41f., 45,
apollinisch 20, 100, 118
Bodenreform 74, 96, 107
60, 70, 99, 117, 119, 132, 135
Appia, Adolphe 150
Böhme, Gernot 18, 31, 82, 96
Detroit 120f.
Archaismus 8, 28f, 35, 44, 55ff., 58, 165, 169
Bois, Marcel 97
Deutsche Gartenstadtgesellschaft 84
Arché 28, 35, 54, 165, 170
Booth, Andrew 151
Diderot, Denis 42
Archetypus (-typisch) 28, 35 –38, 41, 43, 47,
Borromini, Francesco 142, 166
Dietzgen, Josef 65, 95
49, 50 –55, 57ff., 60, 63, 138, 141f., 170
Botticelli, Sandro 37
dionysisch 20, 39, 46, 100ff., 116, 118ff, 155,
Archigram 156 –159, 161f., 165, 167, 172
Boullée, Étienne-Louis 40ff.
158, 165, 171ff.
Arendt, Hannah 35, 50, 60f., 65, 147, 166
Braillard, Maurice 94, 96, 107
Directoire-Stil 42, 44
Artmann, H. C. 157
Bramante, Donato 142, 166
Dissonanz 18
Ashby, Ross 152, 166
Brasilia 117
Doktrin 110
Ästhetik (ästhetisch) 7f., 12f., 16 – 20, 26ff.,
Brecht, Bert 150, 153
Doumergue, Gaston 144
31f., 35, 37f., 41– 44, 46f., 49, 56 – 59, 63, 69,
Breitenborn 75
Dubut, Louis-Ambroise 179
73f., 78, 82ff., 87, 91–94, 100, 104ff., 115f.,
Brunelleschi 181
Dufy, Raoul 144
118f, 123, 130, 135, 144, 160, 165, 169–172
Bruschi, Arnoldo 142, 166
Durand, Jean-Nicolas-Louis 40f., 43, 59,
Ästhetisierung 82, 102, 106
Büchner, Ludwig 24, 32, 137
60, 170, 179
Attali, Jacques 10, 30
Buckminster Fuller, Richard 149, 151
Attlee, Clement 149, 166
Buenos aires 117
Egli, Ernst 70 Einstein, Albert 25, 182
Attlee, James 118, 132 Aublet, Felix 135, 143f.
Carli, Mario 106
Empire-Stil 42
Auböck, Carl 61
Carlyle, Thomas 178, 180
Ende aller Dinge/Zeiten 21ff., 25f., 32, 95,
Aufhebung von Zeit 8, 16f., 28, 29, 37,
Castel, Pierre-Henri 13f., 30, 176
175, 178, 180
135, 172
Centre Pompidou 119, 155
Engels, Friedrich 70, 85, 95
Aufklärung 15, 21f., 24, 38, 42, 60, 64,
Chamberlain, Neville 150
Enthoven, Raphaël 25, 32
123, 178
Chauvier, Éric 26, 32
Entropie 99, 117ff.
Index
193
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 194
Entschleunigung 8, 28, 29, 63f., 73, 86, 92,
Gesell, Silvio 74f.
124, 130, 171, 179
Gibson, William 129
Epstein, Jean 114
Goethe, Johann Wolfgang von 25
Jäggi, Bernhard 74f., 78
Erner, Guillaume 13, 30, 166, 176
GOR (Groupe des Objets Révolutionnaires)
Jeanneret, Pierre 114, 132, 166
Eros 15, 31, 55, 99, 135, 172
173, 176
Johnson, Philip 49
Ethik 28, 39, 47f.
Green City 124, 130, 133
Jung, C. G. 35f., 38, 52, 58, 60
Euklid 37
Grenoble 146
Experimentum Mundi 63, 82
Gropius, Walter 83
Kairos 27f., 32, 172, 174
Expressionismus 86, 91, 97, 182
Gruntz, Lukas 96
Kalter Krieg 50, 55, 148
Guevrekian, Gabriel 182
Kant, Immanuel 12, 21– 26, 28, 31f., 64, 95,
Guggenheim 94, 146
173, 176, 178f., 180, 181
Fenichel, Otto 15 Feuerstein, Günther 61
Kapitalismus 45, 63f., 67, 73, 93f., 118, 120ff.,
Fiktion 8, 14, 18f., 86, 90, 119, 126, 129f., 147,
Hamilton, Richard 151, 166
124, 133
158, 169, 175, 181
Hartog, François 19, 25, 27, 32, 147f., 166,
Katastrophe 7, 10–14, 20f., 31, 49, 55, 63, 65,
Fischer, Theodor 84
174, 176, 181
113, 116, 118, 122, 124, 131, 135, 141, 147, 157,
Fleming, Billy 126
Hartwig, René 135
173, 175, 177f.
Fœssel, Michaël 11, 30, 32, 178, 180
Haus mit einer Mauer 69, 71f.
Katastrophismus 182
Ford, Henry 121
Haussmann, Georges-Eugène 107, 109
Kaufmann, Emil 178f., 180
Fortschritt 6, 7f., 10f., 13ff., 22 – 25, 28, 31,
Heidegger, Martin 12, 27, 155, 167
Keynes, John Maynard 122
41f., 48f., 50, 53, 56, 59, 64ff., 68, 73, 83f., 92f.,
Heinrich VIII. 177
Kierkegaard, Søren 13, 30
99, 108, 115, 117–121, 123f., 128, 141, 145–148,
Heisenberg, Werner 152
King, Martin Luther 117
155, 165, 169 –175, 178f., 181
Herder, Johann Gottfried 24, 32
Klee, Paul 64f.
Fourier, Joseph 65, 95
Hitchcock, Henry-Russell 49
Klenze, Leo von 40
Frank, Josef 70
Hitler, Adolf 97, 144, 146, 150
Kolbe, Georg 182
Franz, Marie-Louise von 60
Hoffmann, Franz 84
Kollaps 13, 20f., 30
Französische Revolution 22, 24ff., 38, 42ff.,
Hoffmann, Theodor 77ff., 81
Kollapsologie 11, 64
59, 170, 178, 180
Hölderlin, Friedrich 85
Kölner Werkbundausstellung 84
Freidorf 73–83, 92f., 96, 170
holistischer Kosmos 92
Kolumbus, Christoph 177
Freud, Sigmund 6, 14ff., 20, 30f., 36, 42, 53,
Hollein, Hans 33, 50– 55, 59, 61, 157, 166, 170
Konsonanz 18
55, 60f., 99, 131f., 135, 166, 173
Hollywood 14, 145
Konterrevolution 26
Fried, Michael 43, 60
Holzmeister, Clemens 51
Koolhaas, Rem 93
Friedrich, Caspar David 88, 97
Hoppen, Donald W. 61
Koselleck, Reinhart 22, 31f., 95, 178, 180
Frugès, Henry 113
Howard, Ebenezer 66–70, 73ff., 77, 83, 89,
Krause, Emil 63, 70
Fuhrmann, Ernst 85
92ff., 95, 107, 170
Krise 7f., 10f., 12, 13f., 16–19, 20f., 25 –28, 36,
Fun Palace 148ff., 152 –155, 157, 159, 165,
Hufeisensiedlung 83, 90f. 97
44f., 49ff., 55f., 64, 66, 69, 73, 91, 94, 99, 101,
166f., 172
Huizinga, Johan 48
107, 115ff., 120f., 124, 130, 135, 141, 143f., 146,
Funktionalismus 46ff., 50 – 53, 59, 82f., 106,
Hundertwasser, Friedensreich 51, 55, 61
148f., 159, 165, 169, 171–175, 178, 181
110, 117, 147, 171
Hüttenau 75
Kristallpalast 67, 86, 90 –93, 170
Futurismus, Futuristen 101–106, 115f., 120f., 123, 125, 130, 131, 147, 171, 176
194
Ishigami, Junya 55– 59, 61 170
Kropotkin, Pjotr 85 ICON Build 129
Krupp 75
Idealstadt 37f., 65, 84, 92
Kulturzustand 67
Gartenstadt 65 – 69, 73 – 76, 79, 83f., 88 – 92,
Immeuble-Villas (Villen-Block) 112f.
Kunst 12, 16–20, 27, 37, 41–46, 48, 51, 55, 59,
94, 95, 107, 112f., 130, 170
In-der-Welt-sein 12, 17, 20f., 54, 58, 101, 119,
50, 80ff., 85, 91, 97, 100ff., 104ff., 108f., 114,
Gayraud, Agnès 12, 17, 30
155, 163, 165, 173
116, 119, 123, 126, 136, 144, 146, 149, 163f., 170
Genf 94, 96, 107, 136, 138f., 141
Indeterminismus 152f., 155, 167
künstliche Intelligenz 127f.
George, Henry 74f., 96
Industrialisierung 24f., 41f., 64, 84, 102, 116
Kybernetik 147f., 152–155, 161, 172
Gerodias, Jack 135
industrielle Revolution 66, 151f.
Gérôme, Jean-Léon 44
Instant City 159
Anhang
Laban, Rudolf von 45f., 61, 150
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 195
Labbé, Edmond 144, 166
_ Alles ist Architektur 53
Morasso, Mario 102
La Estampa Méxicana 83
_ Anarchitektur 132, 171
More, Thomas 177
La Fontaine, Henri 141
_ Architektur mit Händen 51
Moses, Robert 118
Laland, André 177, 180
_ Die futuristische Architektur 104
Moya, Hidalgo 149
Lamartine, Alphonse de 24f., 32
_ Kommunistisches Manifest 133
Muchina, Vera 144
Landauer, Gustav 85f.
_ Manifest der Moderne 115
Mundaneum 136 –139, 141, 166, 172
Ländlichkeit 8, 28, 29, 45, 63f., 68, 91ff., 130,
_ Manifest des Futurismus 101–104, 106, 123,
Musée esthétique 140, 142
170 lange Dauer 174 Lapauze, Henri 60
131, 176 _ Manifest für die Genossenschaftsbewegung 91
Museum mit unbegrenztem Wachstum 136, 140–146, 165, 172 Musk, Elon 129
Larousse, Pierre 61
_ Museumsmanifest 165
Mussolini, Benito 101f., 106, 113, 131, 143
Latour, Bruno 10, 13, 30, 173ff., 176
_ terrestrisches Manifest 30, 176
Muttenz bei Basel 73f
Laurana, Luciano 38
_ Verschimmelungsmanifest 51, 61
Lebensreform(bewegung) 45f., 49, 64, 83f.,
Margarethenhöhe 75
Napoleon Bonaparte 41f., 44, 60
86
Marinetti, Filippo Tommaso 101–106, 123,
NASA 128f.
Lebenstrieb 15ff., 28, 31, 37, 63, 99, 135, 172
131, 171, 176
Nationalmuseum für westliche Kunst 146f.
Le Corbusier 53, 55, 61, 83, 97, 104, 106–119,
Marot, Sébastien 94
Naturzustand 28, 45f., 59, 63, 67, 92
127, 130, 132, 136, 138 –147, 166, 171f., 178,
Marx, Karl 45, 67, 85, 95, 120, 133
Netzwerk 137, 148, 159ff., 162
180, 181f.
Maschinenmensch 147
neue Welt 8, 28, 54, 73, 80f., 84, 86, 89, 96,
Ledoux, Claude-Nicolas 41, 178f., 180
Masterplanet 125f., 128f., 133, 171
100, 102, 116, 172
Legrand, Jacques-Guillaume 38
Materialität 7, 58, 79, 138, 144, 182
Neumann, John von 151f., 166
Leibniz, Gottfried Wilhelm 22, 31, 64, 95
Mathews, Stanley 151, 166f.
Neurath, Otto 141
Lenoir, Nicolas 60
Matta-Clark, Gordon 99, 117ff., 132
Newby, Frank 149, 151
Letchworth 69
Mayer, Hugo 63, 70
Newton, Isaac 41
Lévi-Strauss, Claude 25, 32, 174, 176, 181
Meisenbach, Johann Adam 45
New York 47, 51, 65, 94, 104, 113, 117f., 161
Licklider, J. C. R. 148, 166
Mendelsohn, Erich 182
Niemeyer, Oscar 117
Liszt, Franz 16
Mengel, Johannes 97
Nietzsche, Friedrich 18, 20, 31, 46, 85,
Littlewood, Joan 148–155, 166f., 172
Mengel, Margarete 83, 97
99–103, 107, 114, 116, 120, 131ff., 135, 166,
London 66, 69, 113, 131, 146, 149ff., 154,
Menke, Christoph 18, 31
171, 176, 178, 180
161
Mensch, René 97
Nishizawa, Ryūe 162ff., 172
Loos, Adolf 63, 69 – 74, 77f., 84, 92f., 95f.,
Mensch-Computer-Symbiose 148, 155, 159f.
Nuove Tendenze 104
170, 182
Metzendorfs Atelier 75
Loos, Claire 95
Meumann, Klaus 97
Obsoleszenz 159,176
Loos, Lina 95
Meyer, Hannes 69, 73– 84, 92f., 96f., 170
Olbrich, Joseph Maria 104
Louis-XVI-Stil 42
Meyerhold, W. E. 150
OMA 120, 124
Ludwig XIV. 38
Mies van der Rohe, Ludwig 182
ontologische Krise 7, 36, 47, 49, 50f., 56, 99,
Moderne 7, 11, 17, 20, 46f., 49, 56, 73, 82f.,
116, 148, 159, 165, 169, 172
MacColl, Ewan 150
104, 106f., 114 –117, 120f., 123, 128, 130, 147,
Otlet, Paul 136–139, 141, 146f., 156, 165,
Malabou, Catherine 28, 32, 155, 176
171, 177ff., 180, 181f.
166, 172
Malewitsch, Kasimir 182
Möhring, Bruno 84
Owen, Robert 75
Mallet-Stevens, Robert 144, 182
Molinos, Jacques 38
Malraux, André 117
Mondothèque 137
Pais, Filipe 173, 176
Manhattan 52
Montagnard 39
Palais de Compiègne 60
Manifest
Montaigne, Michel de 22, 31
Palais de l’Air 135, 143
_ #ACCELERATE MANIFESTO #Beschleuni-
Montecassino 177
Palais de Trocadero 144
gungsmanifest für eine akzelerationistische
Monte Verità 45f., 101
Palais Royal 60, 109
Politik 121ff., 125, 128, 130, 133
Montevideo 117
Palladio, Andrea 79, 83
Monzie, Anatole de 114
Pandemie 10, 127
_ Absolute Architektur 52, 61, 170
Index
195
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 196
Panthéon 35, 38, 119
Raum-Zeit 8, 16, 27, 43, 46f., 49, 50, 55, 84,
Schumpeter, Joseph 64, 120ff., 130, 133, 171
Paradigmenwechsel 41, 56, 118, 146f., 165, 169
92, 103
Schütte-Lihotzky, Margarete 69, 71–74, 95, 170
Paris 39, 42, 55, 99, 102, 106–110, 112ff.,
raumzeitlich 18f., 28, 35ff., 58, 84, 91, 119,
Schwarzwald, Eugenie 72
117ff., 132, 155
146, 169ff.
SEArch+ 129
Pariser Weltausstellung 1937 135, 142 – 146,
Recamier, Juliette 43, 45
Selbstverwaltung 75f. 79, 170
166, 178
Red Megaphones 150
Sell, Madlen 55, 61
Pascal, Blaise 9, 30
Reduktion 41f., 49, 60, 63, 71, 74, 84, 92f.,
Semper, Gottfried 53
Pask, Gordon 152ff., 167
169ff.
Seneca 20
Pasmore, Victor 151, 166
régimes d’historicité 19, 25, 32, 166
Sergent-Marceau 39, 60
Pavillon de l’Esprit Nouveau 112f., 115, 144
Reich, Wilhelm 15
Serres, Michel 173, 176
Pavillon de la Lumière 144
Religion 17, 37, 39, 44, 47, 59, 89, 93, 164, 178
Servigne, Pablo 11, 30
Pavillon des Temps Nouveaux 114, 144ff.
Renaissance 22, 37, 79, 181
Siedlerbewegung 69
Perrot, Georges 138
Resonanz 17f., 31, 37, 44f., 47, 49, 51, 55, 58f.,
Siedlung Freidorf 73 –80, 82f., 92f., 96, 170
Perugino 43
61, 63, 65, 69, 79, 93, 117, 135, 169f., 175
Siedlung Friedensstadt 72
Pestalozzi, Johann Heinrich 75
Resonanzachsen 17, 37, 44, 59
Siedlung Rosenhügel 63, 70
Philippeville (Skikda) 146
Revolution (Baukunst oder) 112f., 116, 132
Siedlungsgenossenschaft 73, 76
Piano, Renzo 155
revolutionäre Ordnung 40
Skylon 149
Pichler, Walter 51f., 54, 61
Rio de Janeiro 117
Smart (Cyber) City 121, 124, 128, 130, 133
Pierrefeu, François de 61
Ritual 8, 12, 19f., 39, 44, 46f., 51ff., 55, 57, 59,
Smithson, Robert und Alison 118
Piketty, Thomas 10, 26, 30
100, 119, 169, 171, 177
Sokrates 37
Plan Cerdà 107
Robert, Hubert 178, 180
Solano, Solita 73, 96
Plan de Paris 108ff., 132
Robespierre, Maximilien de 42, 60
Sombart, Werner 120, 133
Plan Voisin 106ff., 109f., 113ff., 132
Rogers, Richard 155
Sorel, Georges 102
Platon 37
Rosa, Hartmut 17f., 31, 37, 44, 51, 59, 60f., 69,
Soria y Mata, Arturo 107
Plug-in City 159
179, 180
Speer, Albert 144
Popper, Karl 152, 155, 167
Rosenberg, Harold 118
Spence, Thomas 68, 95
Portoghesi, Paolo 142, 166
Rosenblum, Robert 42, 60f.
Spencer, Herbert 68
Postmoderne 119, 181
Rousseau, Jean-Jacques 22, 64, 179
Spieltheorie 151f., 154
Potié, Philippe 35, 60
Rudofsky, Bernard 46– 49, 50, 59, 61, 103, 170
Spiralform 124, 140–143
Powell, Philip 149
Rudofsky, Berta 47, 61
Sprung in Raum und Zeit 28, 35, 46, 58, 170
Prachensky, Markus 51, 55, 61
Rühm, Gerhard 157
Srnicek, Nick 121ff., 125, 127, 133
Präraffaeliten 43
Russolo, Luigi 106
Stammeskultur 156 Standardisierung 74f., 78f., 81ff., 93, 137,
Präsentismus 25 Price, Cedric 148f., 151–155, 157, 159, 167, 172
Sagan, Carl 125
142, 147
Primitivismus 121
Salzburg 52
Steinmann, Martin 91, 95, 97
Psychoanalyse des Kleides 47f.
Sant’Elia, Antonio 101, 103–107, 115, 119,
Stevens, Raphaël 11, 30
Püschel, Konrad 97
123f., 131
Stockholm 117
São Paulo 117
Sublimierung 14, 16f., 28, 39, 63f., 82, 92f.,
Saramago, José 173, 176
99f., 119, 132, 170f.
Sartoris, Alberto 104
Szambien, Werner 60
Quasi-Objekt 173, 176
196
Rabhi, Pierre 93, 97
Schär, Friedrich 74
Raffael 43
Schaudt, Emil 74
Tabula rasa 28, 100ff., 107, 112f., 115ff., 171
Rainer, Arnulf 51, 55, 61
Scheerbart, Paul 85– 88, 90, 93, 97, 174
Taipei 121
Rainer, Roland 61
Scheeren, Ole 122, 124, 133
Taller de Gráfica Popular 83
Rancière, Jacques 18f., 31, 57, 61, 73, 82, 97,
Scheffler, Béla 97
Taut, Bruno 69, 73, 83 –93, 97, 170
119, 133
Schinkel, Karl Friedrich 88, 97
Temporal, Marcel 108
Räumlichkeit 16, 42, 181
Schlegel, Friedrich 25, 32
Tempus 22, 28, 169
Raumstadtkonzept 159
schöpferische Zerstörung 64, 120f., 130, 171
Ternaux, Louis Mortimer 60
Anhang
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 197
Teshima Art Museum 162 –165, 172
Wien 50, 52f., 69f., 73, 77, 15
Thanatos 15f., 55, 99
Wiener Avantgarde 52
Theater Co-op 81
Wiener Gruppe 157
Theatre of Action 150
Wiener, Norbert 148, 152
Theatre Union 150
Wiener, Oswald 157
Thermidor 22
Williams, Alex 121–125, 127, 133
Thibault, Jean-Thomas 40f.
Winckelmann, Johann 18
Thom, René 12, 30, 180
Wittmer, Hans 83
Tokio 146
Wright, Frank Lloyd 50, 61
Tolstoi, Lew 85 Tolziner, Philipp 97
Xenakis, Iannis 182
Town-Country 65f. Trédé-Boulmer, Monique 27, 32
Yeampierre, Elizabeth 127
Treves, Claudio 101, 131
Younès, Chris 35, 60, 165
Turing, Alan M. 152 Zeitkrise 25 Übergangsritus 55, 59
Zeitlichkeit 8, 16, 19, 35, 42, 68, 90, 100,
Ukraine 10, 125
105, 119, 151, 155, 163ff., 169f., 175, 181f
Universalcomputer 152
Zeitmaschine 155
Universalismus 123
Zeitobjekte 163
Universalität 118
Zerstörung 11, 13–16, 26, 71, 99f., 105f.,
Universalkultur 140
116–121, 130, 133, 136, 147, 171
Universallehre 169
Zikkurrat 138, 141
universeller Sozialismus 89, 93
Zirkularität 154
Urban, Antonin 97
Zschokke, Heinrich 75
Ureinwohner (elektrifizierte) 161f., 165
Zusammenbruch 11, 13f., 20f., 59, 118,
Ursprung, Philip 118, 132
121f., 136
Utopie/Dystopie 10, 12, 84, 89, 91, 112f., 124ff., 129f., 155, 161f., 171, 180 Verdrängung 16, 28, 135, 166, 172 Vergil 37 Ville (cité) radieuse 111, 116f., 119, 130, 171 Virilio, Paul 179, 180 Vischer, Robert 96 Vitruv 41 Voisin, Gabriel (Plan V.) 106–110, 113ff., 132 Wagner, Martin 91 Wagner, Otto 53, 104, 107 Wahrnehmung von Raum/Zeit 16, 19, 22, 27, 32, 57, 141, 163ff., 166 Wailly, Charles de 35, 38 Walking Architecture 161 Warhol, Andy 118 Weiner, Tibor 97 Weltbibliothek 136f., 140f., 147 Welwyn 69
Index
197
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 198
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 199
Dank
Inhaltlich gesehen möchte ich mich insbesondere bei Philippe Potié, Professor emeritus der ENSA Versailles, und Paolo Amaldi, Professor an der ENSA Val-de-Seine, bedanken, die
Nach jahrelanger Arbeit, die einer intensiven Zusammenarbeit
nicht nur zwei wunderbare Gastbeiträge verfasst, sondern
bedurfte, möchte ich meinen aufrichtigen Dank an alle richten,
meine Recherchen mit anregenden Diskussionen begleitet
die mich bei diesem Werk hilfreich unterstützt haben. Zuerst
haben. Begonnen hat unsere Auseinandersetzung mit diesem
an Frau Seipenbusch-Hufschmied und Frau Holas, die sich
Thema, als wir – zusammen mit Carmela Cucuzzela, heute
für diese Publikation sehr eingesetzt haben und wunderbare
Dekanin der Fakultät für Raumplanung der Université de
Begleiterinnen waren. Dann an die Universität für angewandte
Montréal (UdeM), und Jean-Pierre Chupin, Professor an der
Kunst Wien, die die deutsche Version großzügig finanziert
UdeM und Leiter der Chaire de recherche du Canada – ein
hat, sowie an die École nationale supérieure d’architecture
Thema für ein Symposium suchten, das schließlich unter dem
de Versailles (ENSA Versailles) und unser Forschungslabor
Titel Architecture de la catastophe: Lieux et rituels de l’utopie
LéaV, die mithilfe des französischen Kulturministeriums das
et de la dystopie 2016 an der ENSA Versailles und 2018 an
Erscheinen der französischen Version finanziell ermöglicht
der UdeM stattgefunden hat. Diese Symposien haben mir
haben.
viele hilfreiche Anregungen für die Weiterentwicklung meiner
Auch für die Bilder bedanke ich mich, die von zahlreichen
Arbeit gegeben.
Institutionen, Archiven und Fotografen kostenlos oder ermäßigt
Auch dem französischen Radiosender France Culture sei
zur Verfügung gestellt wurden; ohne deren Hilfe hätte dieses
gedankt, insbesondere Les Chemins de la philosophie und
Buch wesentlich weniger Abbildungen, was dem Verständnis
Guillaume Erners Sendung l’Invité(e) des Matins, deren gela-
des Inhalts geschadet hätte. Insbesondere seien das Teshima
dene Gäste oft sehr interessante Gedanken darlegten, die
Art Museum, die Siedlungsgenossenschaft Freidorf, die
zum Weiterlesen in deren Werken anregten. Diese Sendun-
Albertina, die Fondation Le Corbusier und die Getty Founda-
gen sind für mich und viele andere leidenschaftlichen
tion, die Archive Hans Hollein und Monte Verità, die Büros
Hörer:innen beinahe wie eine zweite Universität.
Ryūe Nishizawa, Yunya Ishigmi und BIG, die Fotografen
Nicht zuletzt geht ein besonderer Dank an meine Familie, die
Yashiro Photo Office, Ken‘ichi Suzuki und Noboru Morikawa
meine langen Arbeitsphasen erduldet hat. Guy, mein Mann,
erwähnt, sowie unser lieber Doktoranden-Kollege Quentin
und meine zwei Söhne, Floris et Raphaël, die damit aufge-
Mourier, den das Attentat auf das Bataclan brutal aus dem
wachsen sind. Sie haben meine Freude an der Arbeit gespürt,
Leben gerissen hat.
die – so hoffe ich – ansteckend und anregend sein mag.
Ein speziell herzlicher Dank geht an das hochprofessionelle
Neugierige Fragen und anerkennendes Kopfnicken, wenn ich
Team, mit dem es traumhaft war zu arbeiten: François Mortier,
zu ihrem Erstaunen eine Antwort auf ihre Fragen hatte, geben
der mit Engelsgeduld meinen französischen Text – meine
mir Anlass, mich in diesem Wunschgedanken zu bestärken.
Habilitationsschrift – dermaßen überarbeitet hat, dass er
Schließlich ist es ihre Generation und diejenige meiner Studie-
nicht nur leserlich, sondern auch sehr angenehm zu lesen ist.
renden, die mit großer Wachsamkeit und Sorgfalt unsere Welt
Salomé Wackernagel, eine meiner geschätzten Doktorand:in-
in andere Bahnen werden lenken müssen, um mit Humanismus
nen, für ihre kritische Lektüre und anregenden Vorschläge.
und Kreativität eine sozialere und ökologischere „neue“ Welt
Caroline Gutberlet, die es verstand, diesen Text mit einer
aufzubauen.
dermaßen schönen Ausdrucksweise ins Deutsche zu übersetzen, dass ich große Freude hatte, meine Gedanken in meiner eigenen Muttersprache neu zu entdecken. Claudia Mazanek, die ihn kritisch lektoriert und mit viel Ausdauer druckfertig gemacht hat, und nicht zuletzt Katharina Erich, deren Grafik dem Text eine Interesse und Neugier erweckende Innengestaltung verliehen hat.
199
STACHER_1.09.2023_druck.qxp_Layout 1 01.09.23 12:28 Seite 200
Biografie der Autorin Susanne Stacher ist Architektin und Architekturkritikerin. Nachdem sie ihre Karriere als Architektin in den Büros von Renzo Piano, Dominique Perrault, Morger & Degelo, Ibos & Vitart und Shigeru Ban begann, verlagerte sie ihren Schwerpunkt auf Forschung und Lehre. Als Professorin unterrichtet sie Architekturtheorie und -praxis an der École nationale supérieure d’architecture de Versailles. Ihr Forschungsgebiet liegt an der Schnittstelle von Architektur und Urbanismus, Theorie, Geschichte und Philosophie. Sie ist Autorin des Buches Sublime Visionen. Architektur in den Alpen (Birkhäuser 2018). Ihre aktuelle Forschung konzentriert sich auf Krisen und mögliche Narrative für den Entwurf von Projekten, die eine andere Beziehung zur Welt skizzieren – ein Thema, das sie auch in der Pädagogik verfolgt.