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German Pages 478 [480]
Hans-Christoph Schmitt Arbeitsbuch zum Alten Testament
3. Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht
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UTB
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Farmington Hills facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Orell Füssli Verlag · Zürich Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Oakville vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich
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Hans-Christoph Schmitt
Arbeitsbuch zum Alten Testament Grundzüge der Geschichte Israels und der alttestamentlichen Schriften 3., durchgesehene Auflage Mit 5 Karten
Vandenhoeck & Ruprecht
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Prof. Dr. Hans-Christoph Schmitt, geb. 1941 in Tübingen; 1960–1965 Studium der Theologie und Orientalistik in Marburg, Heidelberg und Tübingen; 1970 Promotion an der Theologischen Fakultät der Universität Marburg (Elisa. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur vorklassischen nordisraelitischen Prophetie, Gütersloh 1972); 1975 Habilitation am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Marburg für das Fach Altes Testament (Die nichtpriesterliche Josephsgeschichte, Berlin/New York 1980); 1979–1987 Professor für Evangelische Theologie mit Schwerpunkt Biblische Theologie an der Universität Augsburg; 1987–2007 Professor für Alttestamentliche Theologie an der Universität ErlangenNürnberg; 1993–2008 Herausgeber der Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft; Forschungsschwerpunkte: Pentateuchkritik, Hermeneutik des Alten Testaments.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de
Umschlagabbildung: Oberschwelle am Grab des Ussia (Strichzeichnung, Ernst Bückelmann).
© 2011, 2005 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Ulm UTB-Band-Nr. 2146 ISBN 978-3-8252-3609-0
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Vorwort
Die Vermittlung bibelwissenschaftlicher Grundkenntnisse im Fach Altes Testament wird gegenwärtig durch die sehr unübersichtliche Forschungssituation erschwert. Das vorliegende Buch bemüht sich daher um eine konzentrierte und möglichst übersichtliche Darstellung des alttestamentlichen Grundwissens im Bereich der Geschichte Israels und der Entstehungsgeschichte der alttestamentlichen Schriften. Ziel dieses Arbeitsbuches ist es dabei, die Erarbeitung der Grundfragen der alttestamentlichen Wissenschaft dadurch zu erleichtern, dass die zentralen Befunde in einer stark gegliederten und elementarisierten Form dargeboten werden. Diese Elementarisierung kann nur dadurch gelingen, dass die neuere Forschungsdiskussion nicht in ihrer ganzen Breite, sondern nur in wenigen m. E. aber repräsentativen Diskussionsbeiträgen aufgenommen wird. Breiter ist die neuere Diskussion in den den einzelnen Paragraphen beigegebenen Bibliographien dokumentiert. Wichtig war mir vor allem, die biblischen Aussagen in den Mittelpunkt zu stellen und sie als Basis und Ziel aller theologischen Arbeit am Alten Testament ernst zu nehmen. Daher gehen die „Grundzüge der Geschichte Israels“ immer von einer Darstellung der Quellenlage aus. Aufgrund der alttestamentlichen Quellensituation kann dabei eine „Geschichte Israels“ erst mit der Königszeit einsetzen, da erst für sie zeitgenössische schriftliche Quellenmaterialien vorliegen bzw. rekonstruiert werden können. Für die vorhergehende vorstaatliche Zeit Israels liegt dagegen nur Sagenüberlieferung vor, so dass diese Perioden nur unter „Traditionen der Königszeit“ zu behandeln sind. Andererseits konnte ich mich wegen der für die Königszeit weitgehend gleichen alttestamentlichen Quellenlage nicht der neuerdings weit verbreiteten Auffassung anschließen, eine Geschichte Israels könne erst mit der Zeit der nordisraelitischen Dynastie der Omriden beginnen. Ziel der Erforschung der Entstehungsgeschichte der alttestamentlichen Schriften ist es, ein sachgemäßes Verständnis der theologischen Aussagen dieser Schriften zu gewinnen. Daher beschränkt sich die Darstellung der Schriften nicht auf Gliederung und Entstehungsgeschichte, sondern bemüht sich durchgehend um eine Wiedergabe des zentralen theologischen Profils der in der Entstehungsgeschichte erarbeiteten literarischen Schichten. Dies gilt vor allem für die Schich-
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Vorwort
ten des Pentateuch, deren Rekonstruktion erst durch das sich in ihnen zeigende unterschiedliche theologische Profil seine Berechtigung erfährt. Die Darstellung der alttestamentlichen Theologie bleibt im Rahmen des vorliegenden Buches auf die Bezüge zur Literargeschichte beschränkt. Nur einige wenige Exkurse behandeln schriftenübergreifende theologische Fragen (wie z. B. bundestheologische Vorstellungen, messianische Erwartungen, Vorstellungen über Leben nach dem Tod). Am Ende von Teil I und am Ende der einzelnen Kapitel von Teil II findet sich jeweils eine Zusammenstellung von Repetitionsthemen, die auf Fragestellungen hinweisen sollen, die die einzelnen Epochen der Geschichte Israels bzw. die Schriften des Alten Testaments übergreifen. Verzichtet wurde auf eine Einführung in die Methoden der alttestamentlichen Exegese. An elementarisierten Darstellungen dieser Methoden besteht auf dem gegenwärtigen Büchermarkt kein Mangel. Das Buch ist aus der akademischen Lehre an der Universität Erlangen-Nürnberg seit 1987 hervorgegangen. Für das Schreiben von Manuskriptteilen und das Korrekturlesen von Manuskripten und Druckfahnen danke ich der Sekretärin am Erlanger Lehrstuhl für Alttestamentliche Theologie, Frau Anne-Luise Münkemer, und den Assistenten und studentischen Hilfskräften des Lehrstuhls in den Jahren 1995–2005, Frau Dr. Ulrike Schorn, Herrn Dr. Matthias Büttner, Herrn Privatdozent Dr. Martin Beck, Herrn Dr. Markus Saur, Herrn Dr. Alexander Deeg, Frau Katja Schütz, Frau Christa Auernhammer, Herrn Michel Debus, Frau Catharina Fenn, Herrn Mario Ertel, Frau Susanne Birkel, Frau Julia Preuß, Frau Katharina Schäfer und Herrn Christian Rosenzweig. Erlangen, im März 2005
Hans-Christoph Schmitt
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Inhalt
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I: Grundzüge der Geschichte Israels in alttestamentlicher Zeit
Kapitel 1: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1 Die theologische Aufgabe einer Geschichte Israels und ihre Periodisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Die Quellen der Geschichte Israels . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 2: Die Königszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3 Die Staatenbildung der „Israeliten“ in Palästina und das Königtum Sauls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 4 Die judäisch-israelitische Personalunion unter David und Salomo § 5 Das Nordreich von der Reichstrennung bis zur Eroberung durch die Assyrer (926–722) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 6 Das Südreich von der Reichstrennung bis Josia (926–609) . . . . .
25
Kapitel 3: Die die Identität „Israels“ bestimmenden Traditionen der Königszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 7 Die Mosetradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 8 Die Tradition von den Erzvätern . . . . . . . . . . . . . . . . . § 9 Die Landnahmeüberlieferung und die archäologischen, sozialen und ökonomischen Gegebenheiten der beginnenden Eisenzeit . § 10 Die biblische Darstellung des vorstaatlichen Stämmesystems und die Frage nach sozialgeschichtlichen Analogien . . . . . . .
13 19
25 35 50 67
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82 82 95
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100
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Kapitel 4: Die exilisch-nachexilische Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . § 11 Die Zeit des babylonischen Exils und die Wiedererrichtung des Jerusalemer Tempelkultes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119 119
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Inhalt
§ 12 Die Kooperation mit dem Perserreich im 5. und 4. Jh. v. Chr. . . . § 13 Die Auseinandersetzung mit dem Hellenismus und der Makkabäeraufstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 5: Anhang zur Geschichte Israels . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 14 Zeittafel und Repetitionsthemen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
144 144
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Teil II: Die Schriften des AT
Kapitel 1: Theologisches Verständnis, Kanon und Textgestalt des AT § 15 Die theologische Aufgabe einer „Einleitung in das AT“ . . . . § 16 Die Entstehung des alttestamentlichen Kanons . . . . . . . . § 17 Die kanonische Textgestalt des AT . . . . . . . . . . . . . . .
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149 149 155 163
Kapitel 2: Der Pentateuch und die Geschichtsbücher . . . . . . § 18 Der Aufbau des Pentateuch . . . . . . . . . . . . . . . . § 19 Die Geschichte der Pentateuchforschung . . . . . . . . . § 20 Die priesterliche Pentateuchschicht . . . . . . . . . . . . 20.5. Exkurs: Bundesvorstellungen im AT . . . . . . . . . § 21 Die jahwistische Pentateuchschicht . . . . . . . . . . . . § 22 Die elohistische Pentateuchschicht . . . . . . . . . . . . § 23 Das Deuteronomium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 24 Die „spätdeuteronomistische“ Pentateuchredaktion. . . . § 25 Das Deuteronomistische Geschichtswerk . . . . . . . . . § 26 Das Chronistische Geschichtswerk . . . . . . . . . . . . § 27 Das Buch Rut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 28 Das Buch Ester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 29 Die den Geschichtsbüchern vorgegebene Erzählungs- und Rechtsüberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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173 173 176 189 200 208 223 234 242 248 268 276 279
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283
Kapitel 3: Die prophetischen Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 30 Die Gattungen der prophetischen Überlieferung und die Entstehung der Prophetenbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . .
303
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303
Inhalt
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§ 31 Das Jesajabuch, der Prophet Jesaja und die deutero- und tritojesajanische Botschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 31.7. Exkurs: „Messiaserwartung“ in der atl. Prophetie . . § 32 Das Jeremiabuch und der Prophet Jeremia . . . . . . . . § 33 Das Ezechielbuch und der Prophet Ezechiel . . . . . . . § 34 Das Zwölfprophetenbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . § 35 Hosea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 36 Joel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 37 Amos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 38 Obadja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 39 Die Jona-Novelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 40 Micha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 41 Nahum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 42 Habakuk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 43 Zefanja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 44 Haggai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 45 Protosacharja (Sach 1–8) . . . . . . . . . . . . . . . . . § 46 Deutero- und Tritosacharja (Sach 9–11 und 12–14) . . . § 47 Maleachi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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311 333 342 355 365 367 375 377 387 389 391 395 397 399 402 405 408 410
Kapitel 4: Lied- und Psalmendichtung . . . . . . . . . § 48 Die Entstehung des Psalters . . . . . . . . . . . § 49 Die Psalmengattungen und ihr Sitz im Leben . . 49.10. Exkurs: Zionspsalmen und Zionstheologie . § 50 Die Klagelieder (Threni) . . . . . . . . . . . . § 51 Das Hohelied . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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414 414 417 426 433 435
Kapitel 5: Weisheitsliteratur . . . . . . . . . . . . . § 52 Die israelitische Weisheit und ihre Gattungen § 53 Das Buch der Sprüche . . . . . . . . . . . . . § 54 Das Buch Hiob . . . . . . . . . . . . . . . . . § 55 Das Buch Kohelet . . . . . . . . . . . . . . .
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439 439 441 448 453
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10
Inhalt
Kapitel 6: Das apokalyptische Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 56 Das Buch Daniel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56.6. Exkurs: Das Todesverständnis des AT . . . . . . . . . . . . . .
459 459 463
Namen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
471
Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I: Grundzüge der Geschichte Israels in alttestamentlicher Zeit
12
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Einleitung
13
Kapitel 1: Einleitung
§1
Die theologische Aufgabe einer Geschichte Israels und ihre Periodisierung
1.1.
Das Verständnis von „Israel“
„Israel“ ist im Folgenden Grundriss einer „Geschichte Israels“ in einem spezifischen Sinne verstanden, der bewusst den Bezug auf das AT zum Ausgangspunkt nimmt. „Israel“ stellt in der atl. Königszeit primär die Bezeichnung des Nordreichstaates dar (und zwar auch in außerbiblischen Texten: vgl. nur Mescha-Stele Z. 4 f. „Omri war König von Israel“ und Monolith-Inschrift Salmanassars III. Kol. II, Z. 91 f. „Ahab von Israel“). Inwieweit der Name bereits vor dem Ende des Nordreiches (722 v. Chr.) auch auf das Gottesvolk als Ganzes bezogen ist, ist umstritten. Deutlich ist jedoch, dass von 722 v. Chr. ab auch Juda als Teil von „Israel“ verstanden werden kann. So spricht der (wohl erst aus der Exilszeit stammende) Geschichtsrückblick von Jes 8,11–15* in V. 14 von den „beiden Häusern Israels“. Auch wird in Micha 3,1.9 die Jerusalemer Oberschicht mit „Herren des Hauses Israel“ bezeichnet. Wie alt diese religiöse Bedeutung des Namens „Israel“ als Bezeichnung des Juda und Nordreich übergreifenden „Gottesvolkes“ auch sein mag, sie ist jedenfalls für den Großteil der atl. Literatur bestimmend geworden (vgl. Zobel). Neben den ca. 564 Belegen, in denen das AT mit „Israel“ das Nordreich meint, finden sich über 1000 Stellen, an denen „Israel“ sich auf das „Volk Jahwes“ bezieht (in gleichem Sinne ist auch der größte Teil der 637 Bezeugungen des Begriffs „Söhne Israels“ zu verstehen). Von zentraler Bedeutung für das Israelverständnis des AT ist schließlich, dass die für die Entstehung des AT verantwortliche nachexilische um den zweiten Tempel versammelte Gemeinde sich als Verkörperung von „Israel“ versteht (vgl. dazu vor allem die Chronikbücher, Esr und Neh). Im Sinne dieses religiösen „Israel“-Verständnisses sollen im Folgenden Grundzüge einer Geschichte „Israels“ als Geschichte „Israels“ und „Judas“ dar-
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
gestellt werden. Im Rahmen einer „Einführung in das Alte Testament“ ist es nicht sinnvoll, eine von diesem atl. „Israel“-Verständnis losgelöste Darstellung der „Geschichte Palästinas“ zu entwerfen, wie dies in der neueren Forschungsdiskussion über die Konzeption einer „Geschichte Israels“ gefordert wurde (vgl. u. a. Ahlström, Lemche, Thompson).
1.2.
Der Bezug der „Geschichte Israels“ auf das AT
Die Ablösung einer auf das AT bezogenen „Geschichte Israels“ durch eine sich hauptsächlich auf nichtbiblische Quellen stützenden „Geschichte Palästinas“ wird nun in der neueren Forschung deswegen gefordert, weil das atl. Bild der „Geschichte Israels“ nicht die Grundlage einer profanhistorischen Ansprüchen genügenden Rekonstruktion der Geschichte Palästinas in der Zeit von 1400–164 v. Chr. bilden kann. Nun muss auch eine sich als „theologische“ Disziplin verstehende Geschichte Israels dieser Auffassung insofern Recht geben, als sie um den theologischen Charakter der atl. Geschichtsbilder weiß und ihre Aufgabe darin sieht, nach den diesen Geschichtsbildern zugrunde liegenden historisch konstruierbaren „Fakten“ zu fragen. Dabei geht es nicht um die Infragestellung des biblischen Geschichtsbildes durch eine objektive „wissenschaftliche“ Geschichtsdarstellung. Vielmehr kann auch die wissenschaftliche Geschichtsforschung immer nur „Geschichtskonstrukte“ erarbeiten, die aufgrund neuer methodischer Fragestellungen und aufgrund neu entdeckter Quellenmaterialien einem permanenten Wechsel unterliegen. Allerdings hat die historische Bibelwissenschaft die Erfahrung gemacht, dass der Vergleich des atl. Geschichtsbildes mit den jeweiligen Rekonstruktionen der profanen Geschichtswissenschaft zu einer Vertiefung des theologischen Verständnisses der biblischen Texte beiträgt. Obwohl die „Geschichte Israels“ sich somit der profanhistorischen Methoden bedient, die sich jeweils in der Geschichtswissenschaft bewährt haben, ist sie doch insofern eine theologische Disziplin, als sie Geschichtsforschung nicht um ihrer selbst willen betreibt, sondern im Dienst der Auslegung der für die Kirche kanonischen biblischen Texte. Auch wenn für die „Geschichte Israels“ als historischer Forschung die atl. Texte nur eine Geschichtsquelle unter anderen darstellen, bleibt doch der theologische Bezug auf diese Texte konstitutiv für sie. Aufgrund dieses Textbezuges begrenzt sich der Zeitraum, auf den sich eine im Rahmen der atl. Exegese arbeitende Geschichte Israels zu beziehen hat, auf die Entstehungszeit der atl. Überlieferung. Beschränken wir uns auf den Kanon der sog. „Hebräischen Bibel“, so endet die atl. Zeit mit der Periode des Makkabäeraufstandes, die als die Entstehungszeit des jüngsten atl. Buches, der Danielapokalypse, anzusehen ist.
Einleitung
15
Schwieriger zu datieren sind die ältesten im AT überlieferten historischen Traditionen. Wahrscheinlich liegen sie in der Erzväterüberlieferung vor, die trotz aller späteren Übermalung wohl auf historische Gegebenheiten des 14./13. Jh. v. Chr. zu beziehen sind.
1.3.
Geschichte Israels als „Ereignisgeschichte“
Die folgenden Grundzüge der Geschichte Israels müssen sich aus Raumgründen auf die Darstellung der das atl. Bewusstsein bestimmenden historischen Ereignisse beschränken. Zwar sind für das atl. Geschichtsverständnis auch sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche „Fakten“ von entscheidender Bedeutung gewesen (vgl. hierzu vor allem M. Weippert), doch setzt die Interpretation dieser Daten eine breite sozialwissenschaftliche Theoriediskussion voraus, die im Rahmen von knappen „Grundzügen“ nicht geleistet werden kann.
1.4.
Die Perioden der Geschichte Israels in atl. Zeit
Im Rahmen einer auf politische Ereignisse konzentrierten Geschichtsdarstellung gliedert sich die von ca. 1400–164 v. Chr. reichende Zeit des AT in drei Perioden: Am Anfang der „Geschichte Israels“ steht nach übereinstimmendem Zeugnis der atl. Überlieferung eine Periode, in der das Volk noch in vorstaatlichen Sozialformen existiert. Dabei wird einerseits in der Erzväter- und Moseüberlieferung mit einer „nomadischen Vorzeit“ und andererseits mit einer vorstaatlichen sesshaften Existenz („Zeit Josuas und der Richter“) gerechnet. Im Mittelpunkt der atl. Geschichtsüberlieferung steht die von ca. 1000–587 v. Chr. dauernde Königszeit. Aufgrund des Verhältnisses der beiden zum „Volk Jahwes“ gehörenden Reiche „Israel“ (Nordreich) und „Juda“ (Südreich) unterscheidet man hier zwischen erstens der Zeit der vereinigten Reiche unter (Saul?,) David und Salomo, zweitens der Zeit der getrennten Existenz des Nord- und des Südreiches (926–722 v. Chr.) und drittens der Zeit der Alleinexistenz des Südreiches (722–587 v. Chr.). In der dritten Periode lebt „Israel“ in abhängiger Existenz als Teil der jeweiligen altorientalischen Großreiche: Nach ihnen unterscheidet man die Zeit des babylonischen Exils, die Perserzeit und die hellenistische Zeit.
16
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Chronologische Übersicht über die Perioden der Geschichte Israels (Daten nach Jepsen) I.
II.
ca. 1400–ca. 1000 v. Chr. Vorstaatliche Periode 1. ca. 1400–ca. 1200 v. Chr. „Nomadenzeit“ (Erzväter- und Moseüberlieferung) 2. ca. 1200–ca. 1000 v. Chr. „Landnahme- und Richterzeit“ ca. 1000–587 v. Chr. Königszeit 1. ca. 1000–926 v. Chr. 2. 926–722 v. Chr. 3. 722–587 v. Chr.
III.
1.5.
Zeit der Personalunion zwischen Nord- und Südreich Zeit der getrennten Reiche Zeit der Alleinexistenz Judas
587–164 v. Chr. „Israel“ als Teil der altorientalischen Großreiche 1. 587–539 v. Chr. Die sog. Zeit des babylonischen Exils 2. 539–332 v. Chr. Perserzeit 3. 332–63 v. Chr. Hellenistische Zeit
Das Problem des Beginns der Geschichte Israels
Von zentraler Bedeutung für die Möglichkeit, die historischen Ereignisse dieser drei Perioden der atl. Geschichte Israels darzustellen, ist die Quellenlage. Während für die Königszeit und die exilisch-nachexilische Zeit sowohl in der biblischen als auch in der außerbiblischen Überlieferung zeitgenössische schriftliche Quellen vorliegen, fehlen solche Quellen für die vorstaatliche Periode nahezu vollständig. Als Quellen für die Ereignisse der Zeit der Erzväter, des Mose, des Josua und der Richter stehen ausschließlich die frühestens in der Königszeit schriftlich fixierten volkstümlichen Überlieferungen des Pentateuch, des Josuaund des Richterbuches zu Verfügung. In historische Zusammenhänge einzuordnende und zeitlich genau fixierbare Ereignisse sind daher erst nach der Staatswerdung Israels zu greifen. Schon Martin Noth hat daher zwischen Traditionen über die Vorgeschichte Israels (wie die Erzväter-, die Exodus- und die Sinaiüberlieferung) und dem Beginn der Geschichte Israels differenziert. Für ihn stellt dabei die Konstituierung eines Zwölfstämmebundes nach der Landnahme das Ausgangsdatum der Geschichte Israels dar. Die neuere Forschung hat jedoch gezeigt, dass es sich auch bei dem „Zwölfstämmebund“ um eine erst im Laufe der (späteren?) Königszeit ent-
Einleitung
17
standene israelitische Tradition handelt, über deren historische Grundlagen sehr unterschiedlich geurteilt werden kann (vgl. zuletzt Schorn). Ausgangspunkt einer Geschichte Israels kann daher nicht mehr die Richterzeit sein, vielmehr wird man erst mit der Königszeit einzusetzen haben (vgl. Soggin, auch Miller/Hayes). Dies bedeutet nicht, dass die atl. Überlieferungen über die vorstaatliche Zeit keinen historischen Kern besitzen. Das sich in ihnen spiegelnde israelitische Selbstverständnis der Königszeit ist nicht ohne historische Voraussetzungen entstanden, die auch im Rahmen einer Geschichte Israels aufzuklären sind. Allerdings spiegeln diese Überlieferungen primär Erfahrungen der Königszeit wider, so dass erst unter Berücksichtigung dieser Gegenwartsbedeutung der Bezug auf Ereignisse der Vorgeschichte Israels geklärt werden kann. Die Untersuchung des historischen Kerns der Tradition von Mose, von den Erzvätern, von der Landnahme und von dem Zwölfstämmebund ist daher erst nach der Darstellung der Königszeit (Kapitel II) in einem Kapitel III („Die die Identität Israels bestimmenden Traditionen von der Vorgeschichte Israels“) vorzunehmen.
1.6.
Ausgewählte Literatur
1.6.1.
Ausgewählte neuere Geschichten Israels (in chronologischer Reihenfolge)
Noth, M.: Geschichte Israels, Göttingen 1950. 101986. Metzger, M.: Grundriß der Geschichte Israels, Neukirchen-Vluyn 1963. 81990. Ben-Sasson, H.H. (Hg.): History of the Jewish People I (hebr. Tel Aviv 1969), London/ Cambridge 1976, deutsch: Geschichte des jüdischen Volkes I, München 1978. Vaux, R. de: Histoire ancienne d’Israel I-II, Paris 1971–1973. Gunneweg, A.H.J.: Geschichte Israels bis Bar Kochba, Stuttgart 1972. 61989 (mit dem Titel: Geschichte Israels. Von den Anfängen bis Bar Kochba und von Theodor Herzl bis zur Gegenwart). Herrmann, S.: Geschichte Israels in atl. Zeit, München 1973. 21980. Fohrer, G.: Geschichte Israels. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Heidelberg 1977. 61995. Hayes, J.H./Miller, J.M. (Hg.): Israelite and Judaean History, London 1977. Jagersma, H.A.: History of Israel in the OT Period, London 1982 (niederländisch Kampen 1981; deutsch: Konstanz 1982: Israels Geschichte zur atl. Zeit). Soggin, J.A.: A History of Israel from the Beginnings to the Bar Kochba Revolt, AD 135, London 1984. Donner, H.: Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen, ATD Erg.4, Göttingen 1984/86. 32001. Clauss, M.: Geschichte Israels: von der Frühzeit bis zur Zerstörung Jerusalems, München 1986.
18
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Miller, J.M./Hayes J.H.: History of Ancient Israel and Judah, London 1986. Lemche, N.P.: Ancient Israel. A New History of Israelite Society, Sheffield 1988. Soggin, J.A.: Einführung in die Geschichte Israels und Judas. Von den Ursprüngen bis zum Aufstand Bar Kochbas, Darmstadt 1991. Ahlström, G.W.: The History of Ancient Palestine from the Paleolithic Period to Alexander’s Conquest, edited by B. Edelman, Sheffield 1993. Coogan, M.D. (Hg.): The Oxford History of the Biblical World, New York/Oxford 1998. Clauss, M.: Das alte Israel. Geschichte, Gesellschaft, Kultur, München 1999. Kinet, D.: Geschichte Israels, NEB Erg. 2, Würzburg 2001. Frevel, C.: Grundriss der Geschichte Israels, in: E. Zenger u. a., Einleitung in das AT, Stuttgart 72008, 587–731.
1.6.2.
Ausgewählte Literatur zu Grundproblemen der „Geschichte Israels“
Ahlström, G.W.: The Role of Archaeological and Literary Remains in Reconstructing Israel’s History, in: D.V. Edelman (Hg): The Fabric of History, Sheffield 1991, 116–141. Davies, P.R.: In Search of „Ancient Israel“, Sheffield 1992. Day, J. (Hg.): In Search of Pre-Exilic Israel, London 2004. Garbini, G.: History and Ideology in Ancient Israel, Sheffield 1988. Grabbe, L.L. (Hg.): Can a ‚History of Israel‘ Be Written?, Sheffield 1997. Hardmeier, C. (Hg.): Steine – Bilder – Texte, Leipzig 2001. Hesse, F.: Die Erforschung der Geschichte Israels als theologische Aufgabe, KuD 4, 1958, 1–19. Jepsen, A.: Zeittafel, in: H.J. Stoebe, Das zweite Buch Samuelis, KAT 8/2, Gütersloh 1994, 551–565. Kessler, R.: Sozialgeschichte des alten Israel, Darmstadt 2006. Koster, M.D.: The Historicity of the Bible: Its Relevance and its Limitations in the Light of Near Eastern Archaeology, in: J.C. de Moor/H.F. van Rooy (Hg), Past, Present, Future. The Deuteronomistic History and the Prophets, Leiden 2000, 120–149. Knauf, E.A.: From History to Interpretation, in: D.V. Edelman (Hg.), The Fabric of History, Sheffield 1991, 26–64. –: Art. Israel II. Geschichte, RGG4 4, 2001, 283–293. Lemche, N.P.: Early Israel. Anthropological and Historical Studies on the Israelite Society before the Monarchy, Leiden 1985. Lohfink, N.: Gesellschaftlicher Wandel und das Antlitz des wahren Gottes. Zu den Leitkategorien einer Geschichte Israels, in: Dynamik im Wort, Stuttgart 1983, 119–131. Long, V.P. (Hg.): Israel’s Past in Present Research. Essays on Ancient Israelite Historiography, Winona Lake, Indiana 1999. Mildenberger, F.: Biblische Dogmatik Bd. 1, Stuttgart 1991. Miller, J.M.: Is it Possible to Write a History of Israel without Relying on the Hebrew Bible in: D.V. Edelman (Hg.), The Fabric of History, Sheffie1d 1991, 92–102. Schorn, U.: Ruben und das System der zwölf Stämme Israels, Berlin/New York 1997. Soggin, J.A.: Probleme einer Vor- und Frühgeschichte Israels, ZAW 100, 1988 Supplement 255–267.
Einleitung
19
Thiel, W.: Überlegungen zur Aufgabe einer altisraelitischen Sozialgeschichte, in: Gelebte Geschichte. Studien zur Sozialgeschichte und zur frühen prophetischen Geschichtsdeutung Israels, Neukirchen-Vluyn 2000, 58–171. Thompson, T.L.: Early History of the Israelite People. From the Written and Archaeological Sources, Leiden 1992. Van Seters, J.: In Search of History, New Haven/London 1983. Weippert, M.: Geschichte Israels am Scheideweg, ThR 58, 1993, 71–103. Weippert, M. und H.: Die Vorgeschichte Israels in neuem Licht, ThR 56, 1991, 369–381. Whitelam, K.W.: The Invention of Ancient Israel. The silencing of Palestinian history, London/New York 1996. Zobel, H.-J.: Art. ji´sr¯a #el, ThWAT 3, 1982, 986–1012.
§2
Die Quellen der Geschichte Israels
Auch wenn „Geschichte Israels“ als theologische Disziplin primär auf das AT bezogen ist, kann es gerade nicht ihre Aufgabe sein, sich auf das AT als Geschichtsquelle zu konzentrieren. Gerade um den theologischen Charakter der atl. Geschichtsüberlieferung herauszuarbeiten, hat sie das biblische Geschichtsbild mit nichtbiblischen Verständnissen dieser Geschichte zu konfrontieren. Trotzdem bleibt das AT die wichtigste Quelle für eine Geschichte Israels.
2.1.
Das AT als Geschichtsquelle
Die Darstellung einer Geschichte Israels oder auch einer Geschichte Palästinas in der Eisenzeit ist ohne Bezug auf das AT unmöglich (vgl. Miller in § 1.6.2.), wenn auch das AT nur in indirekter Weise historische Überlieferung enthält: Primäres Ziel des atl. Kanons ist es nämlich, der atl. Gemeinde des zweiten Tempels theologische Orientierung zu vermitteln, wobei er dafür allerdings auf die geschichtliche Erfahrung Israels von der Nomadenzeit bis in die nachexilische Gegenwart zurückgreift. Die unter dem Interesse der Gegenwartsorientierung tradierte Geschichtsüberlieferung darf als historische Quelle allerdings nur nach einer umfassenden historisch-kritischen Analyse herangezogen werden. Ihr Quellenwert ist nämlich erst nach der textkritischen Sicherung des Textbestandes dieser Überlieferung, der literar- und redaktionskritischen Differenzierung ihrer jüngeren und älteren Schichten, ihrer überlieferungsgeschichtlichen Einordnung und Datierung und ihrer formgeschichtlichen Klassifizierung zu bestimmen.
20
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Karte 1: Juda und Israel in der Königszeit (aus: H. Donner, Geschichte des Volkes Israels und seiner Nachbarn in Grundzügen 2, Göttingen 32001, S. 315)
Einleitung
21
Nach einer solchen Analyse zeigt sich, dass das AT durchaus historisch verwertbare zeitnahe Zeugnisse der Geschichte Israels tradiert. Wie verlässlich Überlieferungen von annalistischem Material, alten Namens- und Ortslisten sind, zeigt sich vor allem an ihrer Übereinstimmung mit Originaldokumenten aus dem altorientalischen Bereich (vgl. vor allem die assyrischen Königsinschriften des 9. und 8. Jh. und ihre Übereinstimmungen mit den annalistischen Überlieferungen zu den Königen Israels und Judas in diesen beiden Jahrhunderten). Schließlich kann auch im Bereich der Sagentradition des AT mit „historischen Kernen“ gerechnet werden, die unter günstigen Umständen noch ermittelt werden können (vgl. vor allem die sog. „historischen Sagen“ und dazu unten § 29.2.1.).
2.2.
Außerbiblische schriftliche Überlieferungen
2.2.1.
Antike Autoren
Auf außerbiblische historische Angaben zur Geschichte Israels nehmen zunächst griechisch bzw. lateinisch schreibende antike Schriftsteller Bezug. Zu nennen sind hier vor allem Flavius Josephus, Philo von Alexandrien und Eusebius von Caesarea. Gesammelt sind diese historischen Angaben im Werk von Stern (zu den auf die Samaritaner bezogenen außerbiblischen antiken Überlieferungen vgl. auch Zangenberg). 2.2.2.
Archäologisch entdeckte altorientalische Quellen (zu Sammlungen dieser Quellen vgl. vor allem Kaiser [Hg.]: TUAT; Pritchard [Hg.]: ANET; Hallo: COS und Galling: TGI).
2.2.2.1. Palästina-Syrien Zu nennen sind hier zum einen historische Dokumente aus dem alten Israel wie u. a. die Ostraka aus Samaria, vom Tell Arad und aus Lachisch (vgl. Smelik und Conrad), zum andern die kanaanäischen und aramäischen Steininschriften des 1. Jt. v. Chr. (vgl. Donner/Röllig, Renz/Röllig und Davies) und zuletzt die Inschrift vom Tell Dan (vgl. zuletzt Kottsieper). Für das 14. Jh. v. Chr. stellt die in Akkadisch geschriebene Korrespondenz syrisch-palästinischer Fürsten, wie sie in dem in Tell el-Amarna erhaltenen Archiv vorliegt, die wichtigste Quelle dar (vgl. Knudtzon, Rainey).
22
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
2.2.2.2. Mesopotamien Unter den sehr zahlreichen mesopotamischen Funden bilden für die Geschichte Israels die Bauinschriften und Feldzugsberichte der assyrischen und babylonischen Könige des 9.–6. Jh. und die neubabylonischen Chroniken (7./6. Jh.) (vgl. Grayson) die wichtigsten Quellen. 2.2.2.3. Ägypten Hervorgehoben werden sollen hier nur die Feldzugsberichte der Pharaonen der 18.–20. Dynastie mit den aus der gleichen Zeit stammenden Orts- und Beutelisten auf den Wänden ägyptischer Tempel. Besonders zu nennen sind hierbei die Siegesstele des Merenptah (die sog. „Israel“-Stele) (vgl. dazu nur Engel, Fecht, Hornung und Kaplony-Heckel) und die Erwähnungen der „Schasu“ in diesen Texten (vgl. Giveon). Gleiches gilt für den Feldzugsbericht des Pharao Scheschonq I. (Schischak; ca. 924 v.Chr.) (vgl. Noth, Herrmann und Kitchen). 2.2.3.
Zur Bewertung der außerbiblischen schriftlichen Quellen.
Diese außerbiblischen schriftlichen Quellen müssen – um für eine Rekonstruktion der Geschichte Israels herangezogen werden zu können – in gleicher Weise einer historisch-kritischen Analyse unterzogen werden wie die atl. Überlieferungen. Dies gilt trotz ihrer Nähe zur biblischen Zeit auch für die durch die Archäologie entdeckten Dokumente aus Syrien, Palästina, Mesopotamien und Ägypten. Auch bei ihnen müssen vor ihrer historischen Auswertung die Fragen der Textrekonstruktion, der literarischen Abhängigkeit, der Verlässlichkeit der in ihnen enthaltenen Traditionen und der formgeschichtlichen Klassifizierung geklärt sein.
2.3.
Archäologische Quellen
Archäologische durch Ausgrabungen oder durch Oberflächenuntersuchungen gewonnene Befunde lassen sich nur gelegentlich auf konkrete Ereignisse der Geschichte Israels beziehen. Allerdings sind sie von größtem Wert für die historischen Langzeitprozesse, die den geschichtlichen Ereignissen zugrunde liegen. So kann anhand von ihnen die Siedlungsgeschichte einer Region, die Entwicklung ihrer Kultur und Religion, ihrer Wirtschaftsweise und ihrer Handelsbeziehungen rekonstruiert werden. Allerdings setzt diese Rekonstruktion eine umfassende kultur- und sozialwissenschaftliche Deutung der archäologischen Befunde und gleichzeitig eine Bewertung der dieser Deutung zugrundeliegenden Methoden und Theorien voraus.
Einleitung
2.4.
Ausgewählte Literatur
2.4.1.
Zu außerbiblischen schriftlichen Quellen
23
Athas, G.: The Tel Dan Inscription. A Reappraisal and a New Interpretation, Sheffield 2003. Conrad, D.: Hebräische Dokumente, in: O. Kaiser (Hg.), TUAT I, Gütersloh 1985, 247–252. –: Hebräische historische Inschriften, in: O. Kaiser (Hg.), TUAT I, Gütersloh 1985, 620–624. Davies, G.I.: Ancient Hebrew Inscriptions. Corpus and Concordance, Cambridge 1991. Dearman, A. (Hg.): Studies in the Mesha Inscription and Moab, Atlanta 1989. Donner, H./Röllig, W.: Kanaanäische und aramäische Inschriften (=KAI) 1–3, Wiesbaden 52002. Engel, H.: Die Siegesstele des Merneptah, Bib 60, 1979, 373–399. Fecht, G.: Die Israelstele, in: FS H. Brunner, Tübingen 1983, 106–238. Galling, K. (Hg.): Textbuch zur Geschichte Israels, Wiesbaden 21968. Gibson, J.C.L. (Hg.): Textbook of Syrian Semitic Inscriptions, Oxford 1971 ff. Givéon, R.: Les bédouins Shosou des documents égyptiens, Leiden 1971. Grayson, A.K.: Assyrian and Babylonian Chronicles, Locust Valley, New York 1975. Hallo, W.W. (Hg.): The Context of Scripture, Leiden, 1: Canonical Compositions from the Biblical World, 1997; 2: Monumental Inscriptions from the Biblical World, 2000; 3: Archival Documents from the Biblical World, 2002. Herrmann, S.: Operationen Pharao Schoschenks I. im östlichen Ephraim, ZDPV 80, 1964, 55–79. Hornung, E: Die Israelstele des Merenptah, in: FS H. Brunner, Wiesbaden 1983, 224–239. Janowski, B./Wilhelm, G./Schwemer, D. (Hg.): Texte aus der Umwelt des AT Neue Folge 1–5, Gütersloh 2004–2010. Jepsen, A.: Von Sinuhe bis Nebukadnezar. Dokumente aus der Umwelt des AT, Berlin 1975. Kaiser, O. (Hg.): Texte aus der Umwelt des AT I–III + Ergänzungsliefg., Gütersloh 1985–2001. (CD-ROM-Fassung 2003). Kaplony-Heckel, U.: Ägyptische historische Texte, in: O. Kaiser (Hg.), TUAT I, Gütersloh 1985, 525–619. Kitchen, K.A.: The Third Intermediate Period in Egypt (1100–650 B.C.), Warminster 21986. Kottsieper, I.: Aramäische und phönizische Texte, in: O. Kaiser (Hg.): TUAT Ergänzungsliefg., Gütersloh 2001, 176–202. Knudtzon, J.A.: Die El-Amarna-Tafeln 1–2, Leipzig 1915, Nachdruck Aalen 101964. Lemaire, A. (Hg.): Inscriptions Hébraiques I. Les Ostraca, Paris 1997. Noth, M.: Die Schoschenkliste, in: ABLAK II, Neukirchen-Vluyn 1971, 73–93. Pritchard, B. (Hg.): Ancient Near Eastern Texts Relating to the OT (=ANET3) Princeton (NJ) 31969. Rainey, A.F.: El-Amarna-Tablets 359–379. Supplements to J.A. Knudtzon, Die El-AmarnaTafeln, Kevelaer und Neukirchen-Vluyn 21978. Renz, J./Röllig, W.: Die althebräischen Inschriften I; II/1; II/2 und III, Darmstadt 1995 und 2003. Smelik, K.A.D.: Historische Dokumente aus dem alten Israel, Göttingen 1987. Weippert, M.: Historisches Textbuch zum AT, Göttingen 2010.
24
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Wilson, K.A.: The Campaign of Pharaoh Shoshenq I into Palestine, Tübingen 2004. Zangenberg, J.: SAMAREIA: Antike Quellen zur Geschichte und Kultur der Samaritaner in deutscher Übersetzung, Tübingen/Basel 1994.
2.4.2.
Zur Archäologie und Landeskunde Palästinas und seiner Umwelt
Aharoni, Y.: The Archaeology of the Land of Israel. From the Prehistoric Beginnings to the End of the First Temple Period, Philadelphia 1982. –: Das Land der Bibel, Neukirchen-Vluyn 1984. Finkelstein, I.: Archaeology and the Text in the Third Millenium: A View from the Center, in: A. Lemaire (Hg.), Congress Volume Basel 2001, Leiden 2002, 323–342. Finkelstein, I./Silberman, N.A.: The Bible Unearthed. Archaeology’s New Vision of Ancient Israel and the Origin of Its Sacred Texts, New York 2001 (deutsch: Keine Posaunen vor Jericho, München 2002). –: David and Solomon, New York 2006 (deutsch: München 2006). Fritz, V.: Einführung in die biblische Archäologie, Darmstadt 1985. –: Kleines Lexikon der Biblischen Archäologie, Konstanz 1987. –: Die Stadt im alten Israel, München 1990. Galling, K.: Biblisches Reallexikon, Tübingen 21977. Hütteroth, W.-D.: Palästina und Transjordanien im 16. Jh. Wirtschaftsstruktur ländlicher Siedlungen nach osmanischen Steuerregistern, Wiesbaden 1978. Kallai, Z.: Historical Geography of the Bible. The Tribal Territories of the Bible, Jerusalem/ Leiden 1986. Karmon, Y.: Israel. Eine geographische Landeskunde, Darmstadt 21994. Keel, O. u. a.: Orte und Landschaften der Bibel. Ein Handbuch und Studien-Reiseführer zum Heiligen Land Bd. 1–2, Zürich 1982–1984; Bd. 4, Göttingen 2007. Mazar, A.: Archaeology in the Land of the Bible 10.000–586 B.C., New York 1990. Meyers, E.M. (Hg.): The Oxford Encyclopedia of Archaeology in the Near East 1–5, New York/Oxford 1997. Mittmann, S./Schmitt, G. (Hg.): Tübinger Bibelatlas. Auf der Grundlage des „Tübinger Atlas des Alten Vorderen Orients“ (TAVO), Stuttgart 2001. Negev, A. (Hg.): Archäologisches Bibel-Lexikon, Neuhausen-Stuttgart 1991. Otto, E.: Das antike Jerusalem, München 2008. Reicke, B./Rost, L. (Hg.): Biblisch-Historisches Handwörterbuch 1–4, Göttingen 1962–1979. Stern, E. (Hg.): The New Encyclopaedia of Archaelogical Excavations in the Holy Land 1– 4, Jerusalem/New York 1993. Vieweger, D.: Archäologie der biblischen Welt, Göttingen 2003. Weippert, H.: Palästina in vorhellenistischer Zeit. Handbuch der Archäologie: Vorderasien II/I, München 1988. Wirth, E.: Syrien. Eine geographische Landeskunde, Darmstadt 1971. –: Die orientalische Stadt im islamischen Vorderasien und Nordafrika 1–2, Mainz 2000; 32002. Zwickel, W.: Calwer Bibelatlas, Stuttgart 2000. –: Biblische Archäologie, ThR 66, 2001, 288–309. –: Einführung in die biblische Landes- und Altertumskunde, Darmstadt 2002.
Die Königszeit
25
Kapitel 2: Die Königszeit
§3
Die Staatenbildung der „Israeliten“ in Palästina und das Königtum Sauls
3.1.
Quellen
3.1.1.
Biblische Überlieferung
Mit auf den ersten „israelitischen“ König Saul bezogenen vordtr. Traditionen ist in folgenden Textbereichen von 1 Sam 1–31 zu rechnen (vgl. hierzu § 25.3.4.2.): 3.1.1.1. Königsfreundliche Darstellung des Königtums in 1Sam 9–11*: 1 Sam 9–11 liegen zwei vor-dtr. Erzählungen zugrunde: 9,1–10,16* (Eselinnensuche Sauls) enthält im Grundbestand eine historisch kaum auswertbare märchenhafte Darstellung: Die Vorstellung einer Salbung und „Nagid“-Designation („Nagid“ bezeichnet wohl den „designierten König“; vgl. 1Kön 1,35) Sauls durch Samuel in 10,1 gehört erst zu einer sekundären Überarbeitung (vgl. L. Schmidt; H.-C. Schmitt). Historisches Material dürfte dagegen in 1Sam 11,1–15* (Sauls Sieg über die Ammoniter) vorliegen, allerdings ist umstritten, ob die Zeichnung des Ammoniterkrieges als des Kampfes eines „charismatischen Führers“ alte Überlieferung darstellt (vgl. Fritz). 3.1.1.2. Die Berichte über Sauls Siege gegen die Philister und die Amalekiter 1Sam 13–15* Hinter der spätdtr. Erzählung von Sauls Amalekitersieg dürfte kaum noch eine alte Tradition zu greifen sein (vgl. Donner, anders Dietrich). Alte Überlieferungen (vor allem von Heldentaten Jonatans; vgl. besonders 1Sam 14,1 ff.*) liegen jedenfalls dem Abschnitt über Sauls Philistersiege zugrunde, auch wenn über ihre literarkritische Ausgrenzung kein Konsens besteht.
26
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
3.1.1.3. Die Erzählung von Samuels Jugend (1Sam 1–3*) Meist wird hier mit einer Grundschicht gerechnet, in der sich noch keine Polemik gegen den Kult von Silo findet (Mommer: 1,1–3a.4–28; 2,19–21a; 3,1ff.). Doch das hier vorliegende Samuelbild beinhaltet die Vorstellung von gleichzeitig prophetischen und priesterlichen Funktionen Samuels (Stolz), so dass hier keine alte Samueltradition vorliegen dürfte. 3.1.1.4. Die Ladeerzählung 1Sam 4–6* + 2Sam 6* Auch wenn die Ladeerzählung als Ganze narrative Theologie darstellt, dürften ihr doch Einzelüberlieferungen zugrunde liegen, die in ihrem Kernbestand historisch verwertbar sind (vgl. 1Sam 4,1 f.10 f.; 4,12–21* etc.). 3.1.1.5. Die Geschichte von Davids Aufstieg 1Sam 16–2Sam 5* Die vorliegende Geschichte vom Aufstieg Davids stellt eine ältere und jüngere Traditionen miteinander verbindende Komposition dar. Möglicherweise lässt sich noch eine Grundschicht rekonstruieren, die durch jüngere Stücke (wie u. a. 1Sam 16,1–13; 17*; etc.) ergänzt worden ist. Auch die Doppelüberlieferungen in 1Sam 19,1 ff.//20,1 ff.*; 24*//26*; 21,11ff.//27,1 ff. sind als Folge sekundärer Erweiterung zu verstehen (vgl. Wellhausen, Kaiser). 3.1.2.
Außerbiblische Quellen
Das Königtum Sauls ist in außerbiblischen schriftlichen Quellen nicht belegt. Doch ist für die Beurteilung der außenpolitischen Situation Sauls die Geschichte der Philister von zentraler Bedeutung. Für sie sind vor allem die ägyptischen Angaben über die Seevölker (vgl. hierzu zuletzt Noort) zu berücksichtigen (dabei in erster Linie die Texte und Reliefs am Totentempel Ramses’ III. in Medinet Habu). Neben dem außenpolitischen Druck auf Israel dürften auch innen- und wirtschaftspolitische Entwicklungen zur Entstehung eines israelitischen Königtums beigetragen haben. Für deren Verständnis ist die archäologische Erforschung der „israelitischen“ Siedlungsentwicklung vom 12. zum 11. Jh. v. Chr. (vgl. hierzu besonders die Untersuchungen von Finkelstein für den Bereich „Ephraim“) heranzuziehen.
Die Königszeit
3.2.
Die Entstehung des israelitischen Königtums
3.2.1.
Die vorstaatliche Existenz und Sozialstruktur „Israels“
27
Die israelitische Staatenbildung ist als Übergang von der Form einer „Sippengesellschaft“ (vgl. hierzu u. a. Crüsemann und Thiel) in eine Gesellschaftsform mit einer außerfamiliär geordneten Dauergewalt zu verstehen. Mit „Israel“ ist dabei die Bevölkerung der Bergregionen des West- und Ostjordanlandes verstanden, die sich aufgrund eines Verwandtschaftsbewusstseins (gemeinsamer Stammvater) als zusammengehörig fühlte und später in den Nationalstaaten „Israel“ und „Juda“ aufging. Vor dem Aufkommen des Königtums existierte dieses „Israel“ soziologisch als eine akephale (d. h. ohne eine politische Zentralinstanz wie Häuptling oder König) und segmentäre (d. h. politisch aus gleichrangigen Gruppen zusammengesetzte, die ihrerseits wieder gleichartig in Segmente und Untersegmente gegliedert sind) Gesellschaft (in Jos 7,14 werden diese „Segmente“ und „Untersegmente“ mit ˇsæbæt „Stamm“, miˇsp¯ah¯ah „Sippe/Clan“ und bêt #a¯ b „Großfamilie“ bezeichnet). Typisch für diese vorstaatliche Gesellschaftsform ist, dass die Jurisdiktionsgewalt in ihr einerseits im Bereich der Großfamilie beim pater familias, andererseits im Bereich der Sippe bei den Sippenältesten liegt (Niehr). In der weiteren Entwicklung der israelitischen Gesellschaft kommt es jedoch zu Herausforderungen, die ein dauerndes gemeinsames Handeln der israelitischen Gruppen oberhalb der Sippenebene notwendig machten. Zum einen war dies die außenpolitische Bedrohung durch die Philister, zum anderen waren dies ökonomische Entwicklungen, die umfassendere politische Einheiten forderten. 3.2.2.
Die Philisterbedrohung als auslösender Faktor
3.2.2.1. Die Philister als Teil der „Seevölker“ Die Entstehung der philistäischen Stadtstaaten muss im Zusammenhang der sog. „Seevölkerbewegung“ gesehen werden. Von der Auseinandersetzung mit diesen Seevölkern berichten Texte und Reliefs am Totentempel des Pharao Ramses III. (1187–1156) in Medinet Habu. In dieser Darstellung werden fünf Völker (prst = Philister, tkr = Teukrer?, ˇsklˇs = Sikuler, dnjn = Danuna, wˇsˇs = a¯ kawaˇsa = Achäer?) genannt (als weiteres „Seevolk“ werden im Papyrus Harris noch die „Sardanen“ [ˇsrdn] aufgeführt), denen die Zerstörung des Hethiterreichs und Syriens zugeschrieben wird. In Wirklichkeit handelt es sich hierbei wohl nicht um einen ethnisch einheitlichen „Seevölkersturm“. Vielmehr kam es aufgrund der allgemeinen Instabilität des anatolisch-syrisch-palästinischen Staaten- und Wirtschaftssystems (vgl. Knauf) um 1200 v. Chr. zu Aufständen unterschiedlich zu-
28
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
sammengesetzter Bevölkerungsgruppen, die z. T. den Charakter von Piratenüberfällen hatten. Ein wichtiger Bestandteil dieser aufständischen Gruppen stammte dabei wohl aus dem Mittelmeerraum (vgl. die in den ägäischen Raum weisenden Völkernamen und auch den Hinweis von Am 9,7 auf die Herkunft der „Philister“ aus Kaphtor/Kreta). Nach den ägyptischen Texten hat Ramses III. im Jahre 1180 v. Chr. in einer gleichzeitigen See- und Landschlacht im Bereich des östlichen Nildeltas diese Seevölkergruppen aus Ägypten abgedrängt. Die für die israelitische Geschichte wichtigste Gruppe wurden die „Philister“ (prst; akkadisch: palastu), die sich in der palästinischen Küstenebene niederließen und in der Symbiose mit den dortigen Kanaanäern eine Mischkultur schufen (vgl. Noort). 3.2.2.2. Die Hegemonie der Philister über Palästina Unter dem Einfluss dieses neuen Bevölkerungselements schlossen sich die bisherigen Kanaanäerstädte Gaza, Aschkelon, Aschdod, Ekron und Gat zu einem „Fünfstädtebund“ („Pentapolis“) zusammen (vgl. Jos 13,3). Ihre Fürsten tragen den Namen ser¯anim (vgl. griechisch tyrannoi). Nach dem Niedergang der ägyptischen Macht versucht dieser philistäische Städtebund die Hegemonie über Palästina zu gewinnen. Dabei beschränken die Philister sich nicht auf die Küstenund die Jesreelebene (vgl. zur philistäischen Präsenz in Bet-Schean 1Sam 31,10), sondern errichten auch Militärposten auf dem Gebirge Ephraim (Gibea nach 1Sam 10,5; bei Geba und Michmas [südöstlich von Bethel] nach 1Sam 13,23 ff.) und auf dem Gebirge Juda (Bethlehem nach 2Sam 23,14; Keïla nach 1Sam 23,1). Durch diese Posten werden offensichtlich bei der israelitischen Bevölkerung Kontributionen eingetrieben (vgl. u. a. 1Sam 23,1). Zur Stärkung ihrer Militärmacht bedienten sich die Philister auch Söldnertruppen, deren Führer sie durch Belehnung mit Stadtfürstentümern entlohnten (vgl. 1Sam 27 und dazu auch unten § 4.2.3.). 3.2.2.3. Die Unterlegenheit der „israelitischen“ Bevölkerung Der Widerstand der „israelitischen“, in den palästinischen Bergregionen wohnenden Bevölkerung erwies sich als wirkungslos. Die „Ladeerzählung“ (1Sam 4,1 ff.) berichtet von einer vernichtenden Niederlage der Israeliten gegen die Philister bei Aphek (= dem späteren Antipatris). Meist nimmt man an, dass in diesen Zusammenhang auch die in Jer 7,12–14 berichtete Zerstörung des Heiligtums von Silo gehört, doch ist dies nicht mit Sicherheit nachzuweisen. Die Überlegenheit der Philister wird häufig auf die eiserne Bewaffnung der Philister zurückgeführt. Hingewiesen wird dabei auf die eiserne Spitze des Speeres Goliats (1Sam 17,7). Gleichzeitig entnimmt man 1Sam 13,19–22, dass sich die Philister ein „Eisenmonopol“ gesichert hätten. Neuere Forschungen (vgl. Noort)
Die Königszeit
29
haben jedoch gezeigt, dass die Beschreibung der Rüstung Goliats nicht auf spezifisch philistäische Gegebenheiten Bezug nimmt. Auch spricht 1Sam 13,19–22 nicht von philistäischer Eisenverarbeitung, sondern von einem allgemeinen Metallverarbeitungsmonopol der Philister. Überhaupt sind wohl erst im 10. Jh. die Eisenwaffen der bronzenen Bewaffnung ebenbürtig geworden. Trotzdem dürfte 1Sam 13,19–22 insofern Recht haben, als die Philister versuchten, durch ein Metallverarbeitungsmonopol ihre waffentechnische Überlegenheit zu sichern. Die Überlegenheit der Philister bestand jedoch gleichzeitig in der militärischen Organisation. Den philistäischen Berufskriegertruppen (vgl. dazu auch 1Sam 27,2–12 und 29,1–11) waren der „Heerbann“ israelitischer Sippen und Stämme in normalen militärischen Situationen nicht gewachsen. Auch fehlte der israelitischen Bevölkerung eine dem philistäischen „Fünfstädtebund“ vergleichbare politische Organisation, die ein koordiniertes militärisches Handeln ermöglicht hätte. 3.2.3.
Die ökonomische Entwicklung als zusätzlicher Faktor
Aufgrund seiner Untersuchungen der Entwicklung der Eisen I-Siedlungen im Gebirge „Ephraim“ zwischen dem frühen 12. und dem späten 11. Jh. stellt Israel Finkelstein eine starke Bevölkerungsvermehrung in den palästinischen Bergregionen fest (für das gesamte Westjordanland geht er von einer Steigerung der Bevölkerung in den palästinischen Bergregionen von ca. 20 000 auf ca. 55000 Personen aus), die in „Ephraim“ zu einer Verschiebung der Siedlungsdichte von den östlichen und mittleren Gebirgsregionen (dort nur Zunahme von 46 auf 62 Siedlungen) zu den westlichen Hanglagen (dort Zunahme von 16 auf 42 Siedlungen) führt. Hier zeigt sich, dass das Bevölkerungswachstum die „Israeliten“ dazu zwang, in Gebieten zu siedeln, die für die landwirtschaftliche Nutzung größere Schwierigkeiten mit sich brachten (Abschüssigkeit und Felsigkeit des Geländes, Fehlen von Quellen). Die Notwendigkeit, Terrassen anzulegen und Zisternen zu bauen, erforderte eine stärkere Zusammenarbeit, die über die Familie und die Sippe hinausgehende Organisationsformen als wünschbar erscheinen ließ. In gleicher Weise machte auch die Tatsache, dass an den westlichen Hanglagen vor allem Oliven- und Weinanbau günstig war, einen Handelsaustausch mit den primär Getreideanbau und Viehzucht betreibenden östlicheren Gebieten und eine sippenübergreifende Handelsorganisation notwendig. Außerdem führte die Differenzierung in der landwirtschaftlichen Produktion auch zu unterschiedlichem Reichtum und zu einer stärkeren sozialen Schichtung. Das von Finkelstein gezeichnete Szenarium macht jedenfalls deutlich, dass es innerhalb der Gesellschaft der Bergregionen eine kontinuierliche Entwicklung auf sippenübergreifende Organisationsformen hin gab, so dass die Entstehung
30
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
des Königtums kaum als „revolutionärer“ Akt empfunden werden konnte. Ein von den Repräsentanten der bisherigen „Sippengesellschaft“ getragener „Widerstand gegen das Königtum“ (Crüsemann) ist von daher nicht unbedingt zu erwarten. 3.2.4.
Widerstand gegen das Königtum durch Repräsentanten der „Sippengesellschaft“ (Samuel)?
Die königskritische Darstellung der Entstehung des israelitischen Königtums (vgl. dazu unten § 25.3.4.) ist zwar in der atl. Forschung gelegentlich als Hinweis auf einen zur Zeit Sauls festzustellenden „Widerstand gegen das Königtum“ gedeutet worden (vgl. u. a. Crüsemann), doch ist heute weitgehend anerkannt, dass hier die Urteile eines dtr. Redaktors über die zurückliegenden Erfahrungen mit dem Königtum vorliegen (vgl. Boecker, Veijola und schon Wellhausen). Häufiger vertreten wird demgegenüber die Auffassung, dass Samuel als Repräsentant der vorstaatlichen Ordnung Israels zu verstehen sei und er als solcher Widerstand gegen die Einführung des Königtums geleistet habe. So hat zuletzt Peter Mommer zu zeigen versucht, dass die älteste Samuelüberlieferung in 1Sam 7,15–17 und 25,1* vorliegt und dass hier Samuel als „Kleiner Richter“ im Sinne der Liste der „Kleinen Richter“ von Ri 10,1–5 und 12,7–15 (vgl. hierzu unten § 10) zu verstehen sei. Als ein solcher habe er ein auf den gesamtisraelitischen Stämmebund bezogenes Amt im Schnittpunkt von Religion, Recht und Politik ausgeübt. Er stelle somit den Repräsentanten des vorstaatlichen Israel dar, mit dem Saul als der Vertreter der staatlichen Ordnung Israels in Konflikt geraten sei, wie sich den überlieferungsgeschichtlichen Grundlagen von 1Sam 13,7–15*; 15* noch entnehmen lasse. Gegen dieses Verständnis Samuels sprechen jedoch eine Reihe von Bedenken. In 1Sam 13,7–15* und 15* handelt es sich um relativ junge Überlieferungen, die kaum noch historische Erinnerungen spiegeln. Auch dürfte die Zeichnung Samuels als „Kleiner Richter“ in 1Sam 7,15–17 doch wohl dtr. Herkunft sein (vgl. Stolz). Schließlich gibt es kaum verlässliche Anhaltspunkte für einen vorstaatlichen gesamtisraelitischen Stämmebund (vgl. unten § 10), deren Gesetzessprecher Samuel gewesen wäre (auch bei den „Kleinen Richtern“ ist mit Wolfgang Richter wohl eher an „Regionalherrscher“ zu denken). Wie die Grundschicht von 1Sam 9,1–10,16* zeigt, ist Samuel ursprünglich als „charismatische“ Seher-Gestalt zu verstehen, die dem Königtum freundlich gegenüberstand (vgl. auch Lehnart). Die Samuelüberlieferung kann somit nicht als Beleg für einen Widerstand der vorstaatlichen Ordnung Israels gegen das Königtum in Anspruch genommen werden.
Die Königszeit
3.3.
Die Form des „Königtums“ Sauls
3.3.1
Saul als ursprünglicher „charismatischer Führer“?
31
Es besteht ein weitgehender Konsens in der atl. Forschung, dass in 1Sam 11,1–6.7*.8–11.15 („Sauls Sieg über die Ammoniter“) der älteste Bericht über die Erhebung Sauls zum König vorliegt. Diesem Bericht meint man gleichzeitig entnehmen zu können, dass Saul sich im Ammoniterkrieg zunächst als „charismatischer Führer“ (einem „Großen Richter“ entsprechend) bewährt habe (vgl. 1Sam 11,6 mit Ri 6,34; 11,29 etc.), bevor er vom Volk zum König ausgerufen worden sei (1Sam 11,15). Gegen eine zu direkte historische Auswertung von 1Sam 11 erheben sich jedoch Bedenken: So ist umstritten, ob es sich bei der Übereinstimmung zwischen 1Sam 11 und den Erzählungen von den „Großen Richtern“ im Geistbegabungsmotiv (vgl. 1Sam 11,6) um einen historischen Kernbestand von 1Sam 11 handelt (vgl. Fritz). Auch ist zu fragen, ob während der philistäischen Herrschaft über das israelitische Bergland, wie sie vor Beginn des Königtums Sauls anzunehmen ist, Saul die Möglichkeit zu den in 1Sam 11 geschilderten Aktionen zugunsten von Jabesch in Gilead gehabt hätte (vgl. Edelman, Ahlström). Von daher spricht einiges dafür, dass hinter 1Sam 11 zwar eine alte Tradition von Sauls Sieg über die Ammoniter mit der Befreiung der Stadt Jabesch in Gilead steht. Dass Saul diesen Sieg als „charismatischer Führer“ vor seiner Königserhebung erzielt habe, ist jedoch nicht sicher nachzuweisen. 3.3.2.
Saul als „Häuptling“ oder als „König“?
In der neueren Forschung (vgl. Flanagan, Frick, Albertz, Niemann) ist die These vertreten worden, dass die bei Saul vorliegende Herrschaftsform noch nicht als Königtum, sondern als „chiefdom“ („Häuptlingstum“) zu verstehen sei. Nach der These von E.R. Service über die Entstehung des Staates bildet sich beim Übergang von segmentären zu zentralisierten Gesellschaften als Zwischenstufe das „Häuptlingstum“ heraus, bei dem es zwar schon eine „zentralisierte Lenkungsinstanz“ gibt, aber noch keinen „Erzwingungsstab“, der dem „Häuptling“ unmittelbar (unabhängig von verwandtschaftlichen Beziehungen) zur Verfügung steht. Nach den biblischen Nachrichten geht die Herrschaftsform Sauls jedoch entgegen der obigen These deutlich über ein „Häuptlingstum“ hinaus (vgl. SchäferLichtenberger). Sauls Machtausübung ist nicht nur von seinen verwandtschaftlichen Beziehungen abhängig (trotz der Stellung von Sauls Vetter Abner als „Heerführer“), sondern nach 1Sam 14,52 zieht Saul „jeden tapferen Mann“ in seinen Dienst, was durch die Stellung des Judäers David (vgl. 1Sam 16,21) und
32
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
die des Edomiters Doeg (vgl. 1Sam 22,9) am Hofe Sauls belegt wird. Auch dass es am Hofe Sauls bereits feste Ämter gibt (vgl. das von Abner wahrgenommene Amt des Heerführers [1Sam 14,50 f.] und das von Doeg eingenommene Amt des „Vorstehers der Hirten“ [1Sam 21,8]), deutet darauf hin, dass die biblische Bezeichnung Sauls als „König“ und die dadurch erfolgte Gleichsetzung der von ihm ausgeübten Herrschaftsform eines „patrimonialen Staates“ (vgl. dazu Max Weber) mit der der späteren israelitischen „Könige“ nicht unbegründet sind. 3.3.3.
Umfang des Herrschaftsgebietes Sauls
Kein klares Ergebnis ist dem atl. Befund für die Frage nach dem Umfang des Reiches Sauls zu entnehmen. Einerseits kann Saul ohne Schwierigkeiten Militäraktionen auf dem Gebiet Judas unternehmen. Andererseits wird Juda nicht als konstitutiver Bestandteil des Herrschaftsgebietes Sauls betrachtet, so dass das Königtum Davids über Juda in 2Sam 2 nicht als Abfall von dem unter Saul bestehenden Königreich angesehen wird. Wahrscheinlich verstand sich das Königtum Sauls primär als ein Nationalkönigtum für die Gesamtbevölkerung des palästinischen und ostjordanischen Berglandes ohne feste territoriale Begrenzung. Ein unmittelbares Zugehörigkeitsbewusstsein zum Reich Sauls entwickelten jedoch wahrscheinlich nur die Gebiete, die nach 2Sam 2,8 f. zum Herrschaftsgebiet von Sauls Nachfolger und Sohn Eschbaal gehörten und die sich als „Israel“ im Gegenüber zum Südreich „Juda“ verstanden: Mittelpalästina (Benjamin, Ephraim), Galiläa (Jesreel und Asser) und das Ostjordanland (Gilead).
3.4.
Das Werk Sauls
3.4.1.
Regierungszeit
1Sam 13,1 gibt an, dass Saul zwei Jahre über Israel geherrscht habe (zur Deutung von 1Sam 13,1 vgl. auch Kreuzer). Da die in die Regierungszeit Sauls fallenden Etappen des Aufstiegs Davids mehr als 2 Jahre in Anspruch nehmen, ist wohl mit einer längeren Regierung Sauls zu rechnen. Wahrscheinlich ist daher zumindest eine die Jahre 1010–1005 v. Chr. umfassende Regierungszeit Sauls anzunehmen. 3.4.2.
Siege
Dem historischen Kern der Philisterkriegsberichte von 1Sam 13 f. ist zu entnehmen, dass es Saul gelungen ist, die Philister dauerhaft aus dem mittelpalästinischen Bergland zu vertreiben. 13,2 ff. und 14,1ff. schreiben dabei Jonatan ein be-
Die Königszeit
33
sonderes Verdienst bei der Eroberung von philistäischen Militärposten (vor allem bei Gibea und bei Michmas) durch Guerillataktik zu. Historisch dürften auch der in 1Sam 11,1 ff.* berichtete Sieg über die Ammoniter und die dadurch erzielte Befreiung der Stadt Jabesch in Gilead sein, auch wenn seine Ansetzung als vorkönigliche Tat Sauls Bedenken unterliegt (vgl. oben 3.3.1.). 3.4.3.
Niederlage und Tod
Nicht gelungen ist es Saul, die Herrschaft der Philister über die Ebenen zurückzudrängen. Beim Versuch Sauls, vom Gilboagebirge aus die Philister aus der Jesreelebene zu vertreiben (vgl. 1Sam 28,4; 29,1; 31,1), wird Saul vernichtend geschlagen und kommt zusammen mit seinen Söhnen Jonatan, Abinadab und Malkischua im Zusammenhang dieser Schlacht um. 3.4.4.
Bedeutung des Königtums Sauls
Trotz dieser Katastrophe am Ende seiner Regierung hat Saul Israel von den Vorteilen des Königtums überzeugt, so dass im Nordreichsgebiet Sauls Sohn Eschbaal als königlicher Nachfolger Sauls (2Sam 2,8–10) anerkannt wird (der in den Samuelbüchern tradierte Name Isch-Boschet „Mann der Schande“ stellt eine Verballhornung des in 1Chr 8,33; 9,39 in der ursprünglichen Form überlieferten Namens dar). Insofern kann David auf den Fundamenten aufbauen, die Saul gelegt hat. Demgegenüber war der Versuch des Abimelech (Ri 9), in Sichem und Ophra ein Stadtkönigtum nach kanaanäischem Muster zu errichten, rückwärts gewandt. Er fand daher nach dem gewaltsamen Tod Abimelechs auch keine Nachahmer.
3.5.
Ausgewählte Literatur
Albertz, R.: Religionsgeschichte Israels in atl. Zeit, ATD Erg. 8, Göttingen 1992. Alt, A.: Die Staatenbildung der Israeliten in Palästina, in: Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes IsraeI II, München 1953, 1–65. Boecker, H.J.: Die Beurteilung der Anfänge des Königtums in den dtr. Abschnitten des 1. Samuelbuches, Neukirchen-Vluyn 1969. Coote, R.B./Whitelam, K.W.: The Emergence of Early Israel in Historical Perspective, Sheffield 1987. Crüsemann, F.: Der Widerstand gegen das Königtum, Neukirchen-Vluyn 1978. Dietrich, W.: David, Saul und die Propheten, Stuttgart 1991. –: Bannkriege in der frühen Königszeit, in: Von David zu den Deuteronomisten. Studien zu den Geschichtsüberlieferungen des AT, Stuttgart 2002, 146–156.
34
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
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Die Königszeit
35
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§4
Die judäisch-israelitische Personalunion unter David und Salomo
4.1.
Quellen
4.1.1.
Alttestamentliche. Überlieferung
4.1.1.1. Über David Im Anschluss an die Arbeit von L. Rost (1926) wird auch heute meist von vier vordtr. Quellen der Daviddarstellung der Samuelbücher ausgegangen: a) b) c) d)
die Ladeerzählung 1Sam 4,1–7,1 + 2Sam 6* die Geschichte von Davids Aufstieg 1Sam 16–2Sam 5 (8?) der Ammoniterkriegsbericht 2Sam 10,1–11,1*; 12,26–31 (jetzt einbezogen in d.) die Geschichte von der Thronfolge Davids 2Sam (6f.*) 9–20 + 1Kön 1–2
Über das Alter, die Herkunft und die Intention dieser Quellen des Dtr. Geschichtswerkes herrschen allerdings widersprüchliche Auffassungen (vgl. unten
36
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
§ 25.3.4.2), so dass sie in den historischen Rekonstruktionen der Geschichte Davids in sehr unterschiedlicher Weise berücksichtigt werden. Weitgehender Konsens besteht demgegenüber im Hinblick auf den hohen historischen Wert der in den Samuelbüchern verarbeiteten Listen (vgl. u. a. die Beamtenlisten von 2Sam 8,16–18; 20,23–26, die Elitekämpferliste 2Sam 23,8–39). 4.1.1.2. Über Salomo Als Quelle für seine Darstellung der Salomozeit nennt das Dtr. Geschichtswerk in 1Kön 11,41 das „Buch der Geschichte Salomos“. Obwohl über Charakter und Umfang dieses Buches keine Klarheit herrscht, können doch wahrscheinlich folgende Stücke aus 1Kön 3–11 auf es zurückgeführt werden. a) b) c) d) e)
4,2–6 Liste der Beamten Salomos 4,7–19 Liste der 12 Bezirksvögte Israels 6,6–8,13* Bericht über Palast- und Tempelbauten Salomos 9,15–23*.26–28*; 10,16–20*.28–29 Bericht über Regierungsmaßnahmen Salomos 11,26–28.40 Bericht über den Aufstand des Jerobeam
Nicht historisch sein dürften die Berichte über den außergewöhnlichen Reichtum Salomos in 9,26–10,29* (einschließlich des Berichts über den Besuch der Königin von Saba). Wahrscheinlich handelt es sich bei diesen Stücken um nachdtr. Nachträge (Würthwein). 4.1.1.3. Die David- und Salomodarstellung von 1Chr 10–2Chr 9 Nicht zu berücksichtigen ist die Darstellung Davids und Salomos in den Chronikbüchern. Soweit diese historische Elemente enthält, gehen sie auf das Dtr. Geschichtswerk als Quelle der Chronikbücher zurück. 4.1.2.
Außerbiblische schriftliche Quellen
Ein außerbiblischer Beleg für „Haus Davids“ liegt in der Tell Dan-Inschrift in Z. 9 vor (vgl. unten § 5.5.1.1.). 4.1.3.
Archäologische Befunde zur materiellen Kultur im 10. Jh. v. Chr.
Die archäologischen Ausgrabungen und Surveys zeigen, dass die Zeit Salomos keineswegs das „goldene Zeitalter“ dargestellt hat, als das es in der biblischen Überlieferung geschildert wird (vgl. Würthwein).
Die Königszeit
37
So sind die archäologischen Zeugnisse für öffentliche Arbeiten (Befestigungen, Bauwerke, Wassersysteme) für das 10. Jh. verhältnismäßig gering, wachsen aber im 8. Jh. außerordentlich an. Auch für Luxusgegenstände kommt es zu einem deutlichen Anstieg erst im 8. Jh. Schließlich zeigt sich in den zu Israel und Juda gehörenden Siedlungen zwar ein deutliches Wachstum vom 12. zum 10. Jh., doch auch hier ergibt sich erst für das 8. Jh. wieder eine beeindruckende Steigerung (vgl. das Wachstum Jerusalems von 4 ha auf 13 ha im 10. Jh. und auf 60 ha im 8. Jh. und insgesamt zu diesen Daten Jamieson-Drake). Allerdings ist diesen Daten nicht zu entnehmen, dass die biblischen Angaben über die Bautätigkeit Salomos und die dafür von der Bevölkerung zu erbringenden Fronarbeiten und Abgaben Fiktionen darstellen. Ob die archäologischen Befunde mit den Angaben von 1Kön 9,15 über die salomonischen Festungsbauten in Hazor, Megiddo und Geser übereinstimmen (vgl. Fritz und Weippert), wird in der neueren Diskussion in Frage gestellt (vgl. vor allem Finkelstein, der die archäologischen Eisen II A-Schichten erst ca. 900–830 v. Chr. ansetzt [sog. Low Chronology; vgl. Kletter]). Im ganzen bestätigt der archäologische Befund die literarische Analyse der Salomoüberlieferung durch Würthwein, die gezeigt hat, dass die Vorstellungen von einem außergewöhnlichen Reichtum der Salomozeit in 9,26–10,29* erst in nachexilischen Schichten der Königsbücher belegt sind.
4.2.
David (ca. 1005–965)
4.2.1.
Davids Jugend am Hofe Sauls
In der atl. Forschung herrscht weitgehend Konsens, dass die Erzählung von der Salbung des noch jugendlichen David durch Samuel (1Sam 16,1–13) und die Goliaterzählung (1Sam 17) späte Erweiterungen der Geschichte vom Aufstieg Davids darstellen und bei der Rekonstruktion des historischen Ablaufs des Aufstiegs Davids unberücksichtigt bleiben müssen. Dafür, dass die Goliatüberlieferung erst sekundär mit David in Verbindung gebracht worden ist, spricht auch die alte Tradition von 2Sam 21,19, nach der der Sieg über den philistäischen Einzelkämpfer Goliat nicht auf David, sondern auf den Bethlehemiter Elhanan zurückgeführt wird. Zum historischen Kern der Geschichte vom Aufstieg Davids dürfte demgegenüber die Angabe über die Herkunft Davids aus Bethlehem als Sohn des angesehenen Bauern Isai (1Sam 16,18) gehören. Auch ist David wohl zu militärischen Diensten an den Hof Sauls gekommen (16,21).Umstritten ist ob hinter den „musiktherapeutischen“ Aufgaben Davids (16,23) alte Tradition steht (so Donner). Jedenfalls rechnen auch 2Sam 1,19–27; 3,33f. – David dichtet Leichenlieder auf
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Saul und Jonatan bzw. auf Abner – mit einer musikalischen Begabung Davids: Eine Rückprojektion der Vorstellungen der Psalmenüberschriften von David als Psalmendichter liegt hier somit kaum vor (gegen Gunneweg). Angesichts außergewöhnlicher militärischer Erfolge Davids (vgl. 1Sam 18,6–9) erkennt Saul in David eine Gefahr für seinen Königsthron (1Sam 20,31), so dass David sich vom Hof Sauls in die Schefela und in die Wüste Juda zurückziehen muss. 4.2.2.
Davids Beziehung zur Familie Sauls
Zum historischen Kern der Davidüberlieferung gehört wohl auch, dass David in der Zeit am Hofe Sauls in enge persönliche Beziehungen zu Sauls ältestem Sohn Jonatan und zu Sauls Tochter Michal getreten ist. Eine freundschaftliche Beziehung Davids zu Jonatan wird auch in der Überlieferung von einem Leichenlied Davids auf (Saul und) Jonatan in 2Sam 1,19–27 vorausgesetzt. Möglicherweise verbanden sich mit dieser Freundschaft auch gemeinsame politische Ziele. Historisch dürfte auch Davids Ehe mit Sauls Tochter Michal sein. Strittig ist, ob diese Ehe erst nach Davids Aufstieg zum König von Juda (vgl. 2Sam 3,12–16; vgl. Stoebe) oder schon bei seinem Aufenthalt am Hofe Sauls (1Sam 18,20–27) geschlossen wurde. In beiden Fällen wird eine Ehe Michals mit Paltiel (1Sam 25,44) bzw. Adriel (2Sam 21,8; anders 1Sam 18,19)in der Zeit von Davids Aufenthalt in der Wüste Juda vorausgesetzt. Die an die Ehe mit Michal geknüpfte politische Erwartung eines von Sauls Tochter geborenen Thronerben Davids, der Nord- und Südreich auf Dauer hätte vereinigen können, erfüllen sich jedoch wegen der Kinderlosigkeit Michals nicht (2Sam 6,23). 4.2.3.
Davids Weg vom Söldnerführer in der Wüste Juda zum König von Juda
Von entscheidender Bedeutung für Davids Aufstieg war, dass er die Befehlsgewalt über eine ihm persönlich ergebene Söldnertruppe besaß. Sie setzte sich aus Personen zusammen, die nach 1Sam 22,2 durch Ächtung oder Verschuldung aus ihrem gesellschaftlichen Umfeld herausgefallen waren. Ob David diese Truppe erst nach seiner Flucht in die Wüste Juda aufgebaut hat oder sie schon während seiner Zeit am Hofe Sauls besaß (so Gunneweg), ist umstritten. Unterhalten wurde diese Söldnertruppe in der Wüste Juda durch Tributleistungen der judäischen Bevölkerung, für die David Schutz gegen Nomaden- und Philisterüberfälle gewährte (vgl. 1Sam 30,1; 23,5; auch 25,16). Trotz der gelegentlich feindlichen Haltung der judäischen Bevölkerung ihm gegenüber (vgl. nur das Verhalten Nabals in 25,10ff.) scheint David insgesamt positive Beziehungen zu den Repräsentanten der judäischen Sippen aufgebaut zu haben: Für letzteres spricht vor allem, dass es ihm in dieser Zeit gelang, die Ehe mit zwei Ju-
Die Königszeit
39
däerinnen (Abigajil von Karmel in Südjuda, Ahinoam von Jesreel bei Hebron) zu schließen. Für Saul stellte die Söldnertruppe Davids allerdings einen gefährlichen Machtfaktor dar, den er auszuschalten versuchen musste. Die Davidüberlieferung berichtet daher wohl zu Recht davon, dass sich David diesen Verfolgungen Sauls nur mit großer Mühe entziehen konnte (vgl. u.a. 1Sam 23,7ff. und 23,19ff.). David versuchte deshalb, sich durch Übertritt auf das Gebiet eines fremden Herrschers der Verfolgung durch Saul zu entziehen. So steht hinter der Notiz von 1Sam 22,3, die von einer Übersiedlung der Eltern Davids nach Moab berichtet, möglicherweise die Erinnerung an einen gescheiterten Versuch Davids, in die Dienste der Moabiter zu treten. Erfolg hat er dagegen bei den Philistern, deren Stadtkönig Achisch von Gat ihn und seine Söldnertruppe als Vasallen übernimmt und David mit der Stadt Ziklag belehnt (1Sam 27,1–6). Glücklicherweise wurde David davor verschont, an der Entscheidungsschlacht gegen Saul am Gilboagebirge teilnehmen zu müssen. Wahrscheinlich ließ er sich zum gleichen Zeitpunkt in eine kriegerische Auseinandersetzung mit den Amalekitern verwickeln (1Sam 30), so dass er unabkömmlich war (der Bericht über die Nichtteilnahme Davids an der Gilboaschlacht wegen Bedenken der philistäischen Fürsten in 1Sam 29 dürfte demgegenüber eine sekundäre Überlieferungsbildung darstellen; vgl. Gunneweg). Nach Sauls und Jonatans Tod in der Gilboaschlacht war dann der Weg für David frei, sich von den „Männern Judas“ in Hebron zum König von Juda salben zu lassen (2Sam 2,4). Wahrscheinlich geschah dies mit Duldung der Philister, die in David weiterhin den ihnen ergebenen Vasallen sahen. 4.2.4.
Die Personalunion zwischen „Juda“ und „Israel“
Während David in Hebron von den „Männern Judas“ zum König von Juda gesalbt wurde, wurde Sauls Sohn Eschbaal (so die wohl ursprünglichere Schreibung der Chronik 1Chr 8,33; 9,39 gegenüber der im Text der Samuelbücher überlieferten Form Isch-Boschet „Mann der Schande“) von Sauls Vetter und Heerführer Abner im ostjordanischen Mahanajim zum König über Israel eingesetzt, wobei zu diesem „Israel“ das Ostjordanland (Gilead), das galiläische Gebiet (Asser, Jesreel) und Mittelpalästina (Ephraim, Benjamin) gehörten (2Sam 2,8–10). Das Nebeneinander beider Reiche führt jedoch bald zu militärischen Auseinandersetzungen im Grenzgebiet bei Gibeon (2Sam 2,12 ff.), während derer Abner beschließt, zu David überzulaufen. Als Grund für das Zerwürfnis zwischen Eschbaal und Abner wird Abners Heirat einer Nebenfrau Sauls (Rizpa) genannt (2Sam 3,6 ff.). Bevor jedoch die Verhandlungen zwischen David und
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Abner abgeschlossen sind, wird Abner von Joab unter Hinweis auf eine Blutracheverpflichtung Joabs (Abner hatte im Kampf Joabs Bruder Asahel getötet; vgl. 2,19–23) ermordet (3,26 f.). David missbilligt zwar diesen Mord (3,39), lässt aber Joab ohne Strafe. Nachdem bald darauf auch Eschbaal einem Mord zum Opfer fällt (4,1 ff.; diesmal bestraft David die Mörder mit dem Tode), ist Davids Weg frei, um auch König des Nordreiches Israel zu werden: Nach einem Bund (einer „Selbstverpflichtung“ = Vertrag) Davids wird er von dem Ältesten Israels in Hebron zum König von Israel gesalbt (5,1–3). Die nur sehr kurze Zeitspanne (nach 2Sam 2,10 betrug sie zwei Jahre) zwischen der Erhebung Davids zum König von Juda und der zum König von Israel hat bei den Forschern Vermutungen ausgelöst, David habe seinem Aufstieg mit Hilfe von politischen Morden nachgeholfen (vgl. auch den in 2Sam 16,7 f. gegen David erhobenen Vorwurf). Die Darstellung der Aufstiegsgeschichte in 2Sam 3,26 f. und 4,1–12 wolle dies kaschieren (VanderKam, Gunneweg). Doch gibt es für einen solchen Verdacht keine historisch verlässlichen Anhaltspunkte. Stimmen die chronologischen Angaben von 2Sam 2,11 (David versieht das Königtum siebeneinhalb Jahre von Hebron aus), dann ist Davids Herrschaft über das Süd- und das Nordreich in der Form einer Personalunion mehr als fünf Jahre lang von dem judäischen Hebron aus ausgeübt worden. Um nicht dem Vorwurf der Bevorzugung des Südreiches (vgl. später 2Sam 19,42–44) Nahrung zu geben, entschloss sich David, den an der Grenze zwischen Nord- und Südreich gelegenen und von den kanaanäischen Jebusitern bewohnten Stadtstaat Jerusalem zu seiner Residenz zu machen. Der in 2Sam 5,6–9 überlieferte Bericht über die Eroberung Jerusalems liegt allerdings in einer textlich stark verderbten Form vor, so dass über Einzelheiten der Einnahme Jerusalems durch David kaum Sicheres zu eruieren ist: Strittig ist vor allem, inwieweit es erlaubt ist, den Text von 2Sam 5,8 mit Hilfe von 1Chr 11,6 zu emendieren (vgl. gegen eine entsprechende Emendation zuletzt Schäfer-Lichtenberger, Floß und Oeming). Man wird daher gegenüber der auf der Chronikfassung beruhenden Theorie, dass mit dem in 2Sam 5,8 genannten s. innôr die Wasserleitungsanlagen Jerusalems gemeint und Joab und seine Männer durch diese Anlagen unbemerkt in die Stadt eingestiegen seien (vgl. Vincent), zurückhaltend sein müssen. Gegen sie spricht auch die Spätdatierung dieser Wasseranlagen Jerusalems in das 10./9. Jh. v. Chr. durch den letzten Ausgräber Yigal Shiloh. Allerdings wird man daran festhalten müssen, dass David nach 2Sam 5,6 f. Jerusalem mit seiner Söldnertruppe „erobert“ hat und dass dadurch Jerusalem zur „Stadt Davids“ wurde, einer gegenüber Juda eigenständigen politischen Einheit, in der David ein auf seine Person bezogenes Stadtkönigtum ausübte (für die Eigenständigkeit Jerusalems gegenüber Juda vgl. noch Jes 5,3: „Bürger Jerusa-
Die Königszeit
41
lems und Männer von Juda“). Die anderen im Bereich der israelitischen Stämme liegenden Kanaanäerstädte (vgl. Ri 1,27–33) dürften ebenfalls zur Zeit Davids in das israelitische Territorium eingegliedert worden sein, auch wenn die biblische Überlieferung darüber schweigt. Um diese kanaanäische Stadt mit israelitischer Tradition zu verbinden, überführt David schließlich die heilige Lade (ein Kultgegenstand, der wohl aus Israels Nomadenzeit stammt und ein Symbol der Präsenz Jahwes darstellt; vgl. 1Sam 4) nach Jerusalem (2Sam 6). Nach der Ladegeschichte (vgl. 1Sam 4) hatte sie ihren ersten Standort im ephraimitischen Heiligtum von Silo gefunden, war beim Einsatz in den Philisterkriegen in die Hände der Philister gefallen und fristete schließlich ein weitgehend unbeachtetes Dasein in der benjaminitischen Stadt KirjatJearim (1Sam 6,21–7,1). Aus der Anwesenheit der Lade in Jerusalem entwickelt sich dann der Glaube an die Erwählung Jerusalems und der Davididen durch Jahwe (vgl. Ps 132). In gleicher Weise legitimiert die Nathanweissagung (2Sam 7) den Anspruch der Davididen auf das Königtum über Juda und Jerusalem. 4.2.5.
Das Reich Davids
Nachdem David auch König über das Nordreich geworden war, konnten die Philister dem weiteren Anwachsen der Macht ihres Vasallen David nicht mehr tatenlos zusehen. Anders als die Reihenfolge der Berichte in 2Sam 5,6–25 es nahe legt, dürfte der Angriff der Philister auf David unmittelbar nach seiner Salbung zum Nordreichskönig (und damit vor der Eroberung Jerusalems durch David) erfolgt sein. Nach 2Sam 5,20.22 kam es zu zwei Schlachten in der Ebene Refaim (südwestlich des jebusitischen Jerusalem), die von Davids Söldnerheer (vgl. 5,21 „David und seine Männer“) zu seinen Gunsten entschieden wurden. In welcher Weise die Philisterstädte von David seinem Reich zugeordnet wurden, lässt sich der biblischen Überlieferung nicht mehr entnehmen (zu 2Sam 8,1 „David nahm den Philistern den Handzaum aus der Hand“, vgl. Mittmann). Die militärische Überlegenheit, die David durch seine Söldnertruppe besaß, dürfte auch der Grund für seine Erfolge in Kämpfen mit den übrigen Nachbarstaaten gewesen sein. Nach 2Sam 8 machte David dabei sowohl die Moabiter (V. 2) als auch die Aramäer von Zoba (V. 3–4: im Gebiet des Antilibanon) tributpflichtig. Außerdem gelang es ihm, Statthalter im Aramäerstaat von Damaskus (V. 5–6) und in Edom (V. 13–14) einzusetzen. Schließlich ist dem in 2Sam 10,1–19*; 12,26–31 überlieferten Ammoniterkriegsbericht zu entnehmen, dass sich David nach der Eroberung von Rabbat-Ammon auch noch die Krone des Königtums der Ammoniter aufs Haupt setzen konnte (12,30). Strittig ist, ob man 2Sam 8,9–10 (Toi, der König von Hamat schickt seinen Sohn Joram [1Chr 18,10: Hadoram] mit Geschenken zu David) entnehmen
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kann, dass David auch das Königtum von Hamat tributpflichtig machte, so dass seine Oberherrschaft von Aqaba bis zum Euphrat gereicht hätte. Näher liegt es jedoch, hier nur auf freundschaftliche Beziehungen zwischen David und dem mittelsyrischen Staat zu schließen. Überhaupt wird mit nur einer lockeren „Herrschaft“ Davids über die Nachbarvölker zu rechnen sein. Entgegen der Angabe von 2Sam 24,7 dürften die phönizischen Städte nicht von David abhängig gewesen sein. Bei den in 1Kön 5,15 ff. dargestellten Beziehungen Salomos zu Hiram von Tyrus handelte es sich um ein Wirtschaftsabkommen, bei dem Salomo die technologische und wirtschaftliche Überlegenheit Phöniziens (im Verhältnis zu Phönizien stellte das davidisch-salomonische Reich ein Entwicklungsland dar; vgl. Knauf) anerkannte und für die Leistungen der Phönizier offensichtlich sogar mit Gebietsabtretungen (vgl. 1Kön 9,10–14: Abtretung des Gebiets von Kabul ca. 15 km südöstlich von Akko) bezahlte. 4.2.6.
Die Verwaltung des Reiches Davids
Die sich schon bei Saul zeigenden Ansätze zu einer staatlichen Verwaltung werden bei David weitergeführt, was sich vor allem an den zwei Listen der höchsten Beamten Davids, die in 2Sam 8,16–18 und 20,23–26 überliefert sind, zeigt. Die zusätzliche Aufnahme des Amtes des „Frondienstvorstehers“ in 20,23–26 (vgl. V. 24) spricht dafür, dass 20,23–26 eine gegenüber 8,16–18 jüngere Liste darstellt. Offensichtlich hat im Laufe der Regierungszeit Davids die Bedeutung des Frondienstes zugenommen (vgl. nur den Einsatz von Kriegsgefangenen zum Frondienst in 2Sam 12,31). Dass sich David beim Aufbau der Staatsverwaltung ägyptischer Vorbilder bedient, zeigen vor allem die beiden der Zivilverwaltung zuzuordnenden Ämter (8,16 f.; 20,24 f.) des Mazkir („der ins Gedächtnis ruft“; vgl. ägypt. whm) und des Sofer („Schreiber“; vgl. ägypt. sˇs). Allerdings hatten wohl bereits die kanaanäischen Stadtstaaten solche dem ägyptischen Vorbild entsprechende Ämter geschaffen. Besonders bemerkenswert in Davids Beamtenlisten ist die jeweilige Doppelspitze in der Militär- und in der Religionsverwaltung. So steht neben dem Heerbannführer Joab (der Heerbann Israels und Judas besitzt hier auffälligerweise einen gemeinsamen Führer) Benaja, der Führer der ausländischen Söldnertruppe (nach dem relativ hohen Anteil an Angehörigen aus den „Seevölkern“ wird diese Truppe „Kreti und Pleti“ genannt). Dass David durch diese Doppelspitzen einen Ausgleich zwischen altisraelitischen und kanaanäischen Traditionen herstellen will, wird besonders bei den obersten Priesterämtern deutlich: Hier steht neben Abjatar (in 2Sam 8,17 ist wie in 1Sam 23,6; 30,7 „Abjatar, der Sohn Ahimelechs“ zu lesen) als Nachkomme des altisraelitischen Priestergeschlechts der Eliden (Ahimelech = Ahija von 1Sam 14,3) der Priester Zadok, der aller Wahrscheinlich-
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keit nach den vorisraelitischen Jerusalemer Priestern entstammt (außerdem werden in priesterlicher Funktion in 2Sam 8,18 noch königliche Prinzen und in 20,26 Ira aus Jair genannt, deren Aufgaben aber nicht deutlich werden). Von entscheidender Bedeutung für die Zukunft des Reiches Davids war die Frage, ob dieser von David bewusst angestrebte Ausgleich zwischen altisraelitischer und kanaanäischer Tradition auch von dem Nachfolger Davids als politisches Ziel festgehalten werden würde. In dieser Hinsicht war es besonders problematisch, dass David keine frühzeitige Regelung seiner Nachfolge getroffen hat, die eine Auseinandersetzung zwischen seinen Söhnen hätte verhindern können.
4.3.
Salomo (965–926)
4.3.1.
Das Sich-Durchsetzen Salomos im Konflikt um die Nachfolge Davids
Zwar enthält die Erzählung von der Thronnachfolge Davids romanhafte Elemente, doch dürfte das von ihr für die spätere Regierungszeit Davids entworfene Bild auf historische Erinnerungen zurückgehen. So spricht einiges dafür, dass Davids älteste Söhne Amnon und Absalom jeweils eines gewaltsamen Todes gestorben sind. Nach 2Sam 13 soll Amnon von seinem Halbbruder Absalom (als Rache für die Vergewaltigung von Absaloms Schwester Tamar) getötet worden sein. Und Absalom selbst soll im Zusammenhang eines gegen seinen Vater gerichteten Aufstandes durch Davids Heerbannführer Joab den Tod erlitten haben (2Sam 15–19). Auch das in 1Kön 1 geschilderte Gegenüber einer um Adonija gruppierten altisraelitische Traditionen betonenden Juda-Partei und einer den Thronanspruch Salomos herausstellenden Jerusalem-Partei dürfte historisch zuverlässig sein. Beachtenswert ist, dass sich hierbei die wichtigsten Personen aus den Listen der führenden Beamten Davids auf verschiedenen Seiten finden: So stehen Joab und Abjatar auf Seiten des noch im judäischen Hebron geborenen Adonija, während Benaja und Zadok sich zusammen mit anderen Jerusalemer Persönlichkeiten wie Davids Frau und Salomos Mutter Batseba und Nathan (für seine Jerusalemer Herkunft spricht, dass er ebenso wie Zadok in der Davidüberlieferung ausschließlich in Jerusalemer Kontexten erscheint; vgl. 2Sam 7; 12; 1Kön 1) für ein Königtum des in Jerusalem geborenen Salomo einsetzen. Unter Hinweis auf ein Opferfest Adonijas an der Rogelquelle, bei der Joab und Abjatar anwesend waren und eine mögliche Ausrufung Adonijas zum König vermutet werden konnte (1Kön 1, 5 ff.), gelang es der Salomopartei schließlich, David zum Eingreifen zu bewegen. Sie veranlassten den König, der offensichtlich im Alter weitgehend von den Einflüsterungen seiner Ratgeber abhängig geworden war, zu einer staatsstreichartigen Einsetzung Salomos als königlichen Nach-
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folger. Von einer Salbung Salomos durch die Männer Judas bzw. von einem Vertrag mit den Ältesten Israels wie bei David ist hier nicht die Rede, die Salbung wird ausschließlich durch den Priester Zadok vorgenommen (in 1Kön 1, 45 ist die Salbung durch den Propheten Nathan sekundär zugefügt). Offensichtlich hat jedoch die Bevölkerung Judas und Israels diesen Staatsstreich, der schließlich auch den Tod Adonijas (2,13–25) und Joabs (2,28–35) und die Verbannung Abjatars nach Anatot (2,26–27) zur Folge hatte, ohne größeren Widerstand hingenommen. Das Gleiche gilt zunächst auch für das mit Salomos Königtum verbundene politische Programm einer stärkeren Orientierung an jerusalemischen und altorientalischen Vorstellungen. 4.3.2.
Außenpolitik
Schon in der Außenpolitik wird der unter Salomo sich gegenüber David vollziehende Wandel sichtbar. Salomo verzichtet auf außenpolitische Demonstrationen militärischer Macht und versucht, durch Bündnispolitik die Beziehungen zu den Teilen des Reichs zu festigen. Die Überlieferung von den zahlreichen ausländischen Frauen Salomos (1Kön 11,1–3) dürfte mit der Bündnispolitik Salomos und den damit verbundenen Heiraten in Verbindung stehen (vgl. auch 1Kön 14,21, wonach Salomos Sohn Rehabeam von einer ammonitischen Mutter abstammte). Die relativ große Bedeutung, die dem Reich Salomos von seinen Nachbarn zugebilligt wurde, wird vor allem an der Heirat Salomos mit einer ägyptischen Prinzessin (vgl. 7,8; 9,24; auch 3,1) deutlich. Der Schwiegervater Salomos dürfte dabei entweder mit Siamun (ca. 978–959) oder mit dessen Nachfolger Psusennes (ca. 959–945) zu identifizieren sein. Als Mitgift soll er nach 9,16 Salomo die Stadt Geser übereignet haben. Ein besonders wichtiger Teil der Außenpolitik Salomos war sein Handelsabkommen mit Hiram von Tyrus (973–942). Nach ihm stellte Tyrus Salomo Bauholz (5,24) und gleichzeitig technisches Know-How in der Gestalt von Bauhandwerkern (5,32) und Matrosen (9,27) zur Verfügung. An Gegenleistungen lieferte Salomo Weizen und Öl (5,25). Auch kam es in diesem Zusammenhang wohl zu einer Gebietsabtretung an Tyrus (vgl. oben § 4.2.5.). Auch sonst hat sich Salomo stark für die Förderung des Außenhandels eingesetzt: So soll er nach 1Kön 9,26–28 den Hafen von Ezjon-Geber (der Ort ist wahrscheinlich mit der Pharaoneninsel im Roten Meer zu identifizieren) ausgebaut haben, um über den Golf von Aqaba Zugang zur südarabischen Küste (Ofir) zu haben. Bei diesen Handelsfahrten ist es offensichtlich auch zu gemeinsamen Unternehmungen mit Tyrus gekommen (9,27 f.). Außerdem hat Salomo wohl nach 10,28 f. einen internationalen Pferde- und Wagenhandel (zwischen Kleinasien-Syrien und Ägypten) betrieben.
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Andererseits führte die unter Salomo zurückgehende militärische Überlegenheit dazu, dass die Ränder des Reiches Davids und Salomos abzubröckeln begannen. Vor allem machten sich die Aramäer von Damaskus wieder unabhängig, so dass sich hier unter Reson ein eigenständiges Königtum entwickelte (1Kön 11,23–25). Zu Aufständen kam es auch in Edom (1Kön 11,14–22): Auch wenn 11,21 f. voraussetzen, dass der edomitische Königssohn Hadad aus seinem ägyptischen Exil nach Edom zurückkehrt, kann von einer Unabhängigkeit Edoms noch keine Rede sein (die von der Lutherbibel von 1964 vorgenommene Umstellung von 11,25b hinter 11,22 ist textkritisch unbegründet). Erst hundert Jahre später unter Joram von Juda (847–845) konnte sich Edom als eigenständiger Staat konstituieren. 4.3.3.
Militärpolitik
Salomo bemüht sich zwar um die Modernisierung der Rüstung: Vor allem wird ihm die Einführung von Streitwagenkorps (vgl. 1Kön 10,26; 5,6.8) zugeschrieben. Hauptsächlich sind seine militärischen Aktivitäten jedoch auf die Sicherung von Israel und Juda durch Festungsbauten gerichtet (9,15–18). So werden in Israel als Festungsstädte Hazor (gegen die Aramäer), Megiddo (zur Sicherung der Straße durch die Küsten- und Jesreelebene) und Geser (zur Sicherung des westlichen Zugangs nach Jerusalem) ausgebaut. Ähnliches gilt wohl für den Ausbau von Tamar in Juda (Sicherung gegen die Edomiter). Allerdings ist umstritten, ob diese Festungsbauten Salomos archäologisch nachzuweisen sind (kritisch vor allem Finkelstein). 4.3.4.
Innenpolitik
Erfolgreicher war die Innenpolitik Salomos. Vor allem hat Salomo die staatliche Verwaltung weiter ausgebaut, wie besonders die in 1Kön 4,2–4a.5–6 (V. 4b ist sekundär aus 2Sam 20,25 übernommen) überlieferte Liste der führenden Beamten Salomos zeigt (anders Niemann). Zunächst hat Salomo die von David eingesetzten Doppelspitzen im priesterlichen und militärischen Bereich aufgehoben: Als Oberpriester fungiert nur noch der aus Jerusalemer Tradition kommende Sohn Zadoks. Auch im Bereich des Heeres hat jetzt Söldnerheer und Heerbann eine gemeinsame Führung, die von dem Söldnerführer Benaja wahrgenommen wird. Die Ämter des Mazkir (= „Kanzler“), des Frondienstvorstehers und des Schreibers sind beibehalten. Allerdings taucht jetzt zusätzlich ein zweiter Schreiber auf. Neu zu den leitenden Beamten gehören das Amt des „Freundes des Königs“ (vgl. schon 2Sam 15,37; 16,16), das des „Palastvorstehers“ (= Krongutverwalters) und das des für die Abgabenverwaltung zuständigen Chefs der Bezirksvögte.
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Inwieweit es im Zusammenhang des salomonischen Ausbaus des Beamtenwesens auch zur Errichtung von Weisheitsschulen kam, ist umstritten. Die Deutung des Berichtes über „Salomos Weisheit“ in 1Kön 5,9–14 auf eine von Salomo vorgenommene Einführung der in Ägypten und Mesopotamien gepflegten „Listenwissenschaft“ (Alt) ist kaum mit Sicherheit vorzunehmen. Wahrscheinlich handelt es sich bei diesem Bericht um erst nachdtr. entstandene schriftgelehrte Reflexionen (Würthwein). 4.3.5.
Bautätigkeit
Unter den innenpolitischen Leistungen Salomos ist vor allem seine Bautätigkeit zu nennen. Von seinen Festungsbauten ist bereits in 4.3.3. gesprochen worden. Als noch wichtiger ist jedoch seine Bautätigkeit in Jerusalem anzusehen. Von entscheidender Bedeutung für die israelitische Religionsgeschichte ist der Tempelbau Salomos geworden. Die aufgrund von 2Sam 24,18–25a entwickelte These (vgl. vor allem Rupprecht), dass Salomo lediglich ein jebusitisches Heiligtum umgebaut habe, ist nur schwer zu belegen. Jedenfalls wurde der Tempel im Zusammenhang von Palastbauten (u. a. Libanonwaldhaus, Säulenhalle, Thronhalle) erstellt, für die 1Kön 7,1 eine Bauzeit von 13 Jahren angibt, während nur von einer Bauzeit von 7 Jahren für den Tempel berichtet wird. Es handelt sich bei ihm somit bewusst um ein königliches Heiligtum, das gegenüber anderen altorientalischen Sakralbauten nur eine bescheidene Größe besitzt (ca. 30 m lang, 10 m breit und 15 m hoch; davor eine Vorhalle #ul¯am von ca. 5 m Länge; vgl. 6,1f.). Nach 1Kön 5,15 ff. wurde der Tempel unter Beteiligung phönizischer Bauleute errichtet, was sich auch an der Übernahme des nordsyrischen Langhaustempeltyps zeigt. Aus altorientalischer Tradition entstammen auch die im Allerheiligsten (Debir: bei ihm handelt es sich um einen Kubus von ca. 10 × 10 × 10 m) aufgestellten zwei Cheruben, die eine Art Sphingenthron bilden, auf dem Jahwe – unter Wahrung des israelitischen Gottesverständnisses – unsichtbar thronend gedacht ist. Auch mit dem Niederlegen der heiligen Lade unter die Cheruben bemüht sich Salomo, die altisraelitische Tradition im Tempel zu ihrem Recht kommen zu lassen. 4.3.6.
Gesellschaftliche Konsequenzen der Politik Salomos
Die hohen Kosten, die durch den salomonischen Ausbau von Verwaltung, Militär, Handelseinrichtungen, Palast und Kult entstanden, blieben nicht ohne Konsequenzen für die gesellschaftliche Struktur Israels. Zunächst entstand durch das Königtum ein außerhalb des Grundeigentums der israelitischen Sippen existierendes königliches Krongut, das der König vor allem für die Belehnung seiner Beamten benötigte. Dass zur Zeit Salomos bereits ein größeres königliches Kron-
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gut zu verwalten war, zeigt sich vor allem daran, dass unter Salomo erstmalig das Amt des „Krongutverwalters“ (= Palastvorstehers) in die Liste der leitenden Beamten aufgenommen wurde. Unmittelbar zu spüren war für die israelitische Bevölkerung die Einführung von Fronarbeit. Allerdings scheinen nach 1Kön 5,27 f. nur die Nordisraeliten fronpflichtig gewesen zu sein (vgl. auch 11,26–28: Jerobeam als Fronvogt des Hauses Josef). Die Auffassung von 1Kön 9,20–22, dass nur die „kanaanäische“ Urbevölkerung zu Frondiensten herangezogen wurde, geht auf eine spätdeuteronomistische Redaktion zurück. Bei den Frondiensten dürfte es sich vor allem um Arbeiten im Zusammenhang der salomonischen Bautätigkeit gehandelt zu haben (Holzfällen, Steinetransport), wobei 5,27 f. offensichtlich davon ausgeht, dass dem König ein Drittel der jährlichen Arbeitszeit zur Verfügung zu stellen war. Schließlich scheint Salomo auch die Versorgung des königlichen Hofes durch Naturalabgaben neu geregelt zu haben. 1Kön 4,7 berichtet davon, dass Salomo „Israel“ in 12 Bezirke geteilt habe, deren Aufgabe darin bestand, den Königshof jeweils für einen Monat zu versorgen. Auch hier scheint wieder nur das Nordreich in das Abgabensystem einbezogen gewesen zu sein. Bemerkenswert ist auch, dass die in 1Kön 4,7–19 überlieferte Liste der 12 israelitischen Bezirke sich nur zum Teil an Stammesgebieten orientiert (vgl. Bezirk 1: Ephraim, 8: Naftali, 9: Asser, 10: Issachar, 11: Benjamin, 12: Gilead), während die anderen Bezirke auf (ursprünglich kanaanäische?) Stadtgebiete bezogen sind. 4.3.7.
Innenpolitische Unruhen
Die außergewöhnlich starken Belastungen der Nordreichbewohner durch Frondienste und Abgaben führten schon während der Regierungszeit Salomos zu Unruhen im Bereich des nordisraelitischen Gebietes. Besonders zu nennen ist hier der Aufstand des ursprünglich als Frondienstaufseher des Hauses Josef tätigen Jerobeam (1Kön 11,26–28). Jerobeam musste schließlich fliehen und fand beim ägyptischen König Schischak (= Scheschonq I.: ca. 945–924) Aufnahme. Nach dem Tod Salomos kehrte er zurück. Der Versuch der israelitischen Volksversammlung, in Verhandlungen mit Salomos Nachfolger Rehabeam die Frondienst- und Abgabenlast für das Nordreich zu vermindern, scheiterte und führte zur Trennung des Nordreiches von den Davididen und damit zum Zusammenbruch des von David und Salomo geschaffenen Reiches (1Kön 12,1–19). In dieser Situation wurde Jerobeam von der Volksversammlung zum König von Israel eingesetzt (12,20).
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4.4.
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Ausgewählte Literatur
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
§5
Das Nordreich von der Reichstrennung bis zur Eroberung durch die Assyrer (926–722)
5.1.
Quellen
5.1.1.
Atl. Überlieferung
Die Zeit des gleichzeitigen Bestehens von Nord- und Südreich (926–722 v. Chr.) ist diejenige Periode der Geschichte Israels, die am stärksten durch historisch verwertbare Quellen dokumentiert ist. So enthält der über die Regierungszeiten der israelitischen und judäischen Könige informierende Rahmen der Königsbücher durchgehend Angaben, die auf Auszügen aus den Annalen der Könige von Israel und Juda beruhen (vgl. unten § 25.3.5.2.). Auch in den in die Königsbücher aufgenommenen Prophetenerzählungen (vgl. ebd.) finden sich historisch verwertbare alte Traditionen. Schließlich sind auch den Grundschichten der über Propheten des 8. Jh. v. Chr. berichtenden Prophetenbücher (Amos, Hosea, Jesaja, Micha) Nachrichten über die damalige politische und soziale Situation Israels und Judas zu entnehmen. 5.1.2.
Außerbiblische schriftliche Dokumente
Relativ zahlreich sind die für diese Zeit vorliegenden außerbiblischen schriftlichen Quellen. So ist für das 10. Jh. der in 1Kön 14,25 f. berichtete und ca. 924 v. Chr. zu datierende Feldzug des ägyptischen Königs Scheschonq (= hebr. Schischak) durch eine Palästina-Liste Scheschonqs am Amun-Tempel von Karnak dokumentiert (vgl. dazu TUAT NF II, 246–271). Reichlicher finden sich außerbiblische Dokumente für das 9. Jh.: Zu nennen sind hier zum einen die Gedenkstele des Königs Mescha von Moab aus der Zeit um 840 v. Chr. (vgl. zu ihr TGI2 Nr. 21; TUAT I, 646 ff. und vor allem den von A. Dearman herausgegebenen Sammelband). Zum andern stellt die aramäische Inschrift vom Tell Dan wohl ein epigraphisches Zeugnis für die Jehurevolution dar (vgl. dazu vor allem Biran/Naveh 1995). Für das Verständnis des 9. Jh. wichtig sind auch die Inschriften der assyrischen Könige, vor allem die des assyrischen Königs Salmanassar III. (858–824), unter denen der sog. Schwarze Obelisk mit der Abbildung der Tributzahlung Jehus besonders hervorzuheben ist (zu den Texten vgl. TGI2 Nr. 19–20 und TUAT I, 360 ff.; zu Abbildungen des Schwarzen Obelisken ANEP Nr. 351–355). Eine noch gewichtigere Rolle spielen die Inschriften der assyrischen Könige für die Geschichte des 8. Jh. (vgl. TGI2 Nr. 24–35 und TUAT I, 370–402). Zu berück-
Die Königszeit
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sichtigen sind hier besonders die Könige Tiglatpileser III. (745–727), Salmanassar V. (726–722) und Sargon II. (721–705). Hinzu kommen für die Wirtschaftsund Sozialgeschichte der ersten Hälfte des 8. Jh. die in Samaria gefundenen Ostraka (vgl. TUAT I, 248ff.), die Notizen über die Lieferungen von Öl und Wein an die königliche Verwaltung (Naturalsteuer bzw. Krongutlieferungen?) enthalten. 5.1.3.
Archäologische Befunde
Für die Dynastien der Omriden und der Jehuiden ist archäologisch eine umfangreiche Bautätigkeit bezeugt. 1Kön 16,24 entsprechend finden sich in Samaria in der Eisen II B-Zeit (900–700 v. Chr.) Befestigungs- und Palastbauten. Bemerkenswert sind besonders die hier zu Tage gekommenen Luxusgegenstände, die die Kritik des Amos an der Oberschicht von Samaria belegen (vgl. u. a. die in Samaria entdeckten Elfenbeinverzierungen von Möbeln mit Am 6,4). Die bauliche Leistungsfähigkeit Israels in der Omridenzeit (ca. 882–845) zeigt u. a. auch die völlige Neugestaltung der Festungsstädte Hazor (Stratum VIII) und Megiddo (Stratum IV B). Besonders zu erwähnen ist die Einrichtung von Wasserschachtanlagen, die den Zugang zu außerhalb der Stadtmauern gelegenen Quellen vom Stadtinnern ermöglichen. Keine eindeutigen archäologischen Befunde liegen bis jetzt für die Errichtung von Reichsheiligtümern in Bethel und Dan in der Zeit Jerobeams I. (926–907) vor. In Bethel ist bisher kein Tempel ausgegraben worden. Und die in Dan von dem Ausgräber A. Biran als Heiligtum gedeuteten Baureste stellen wohl eher einen Palast dar (Fritz 1990 und H. Weippert 1988).
5.2.
Die Chronologie der Königszeit
5.2.1.
Daten
Die im sog. Rahmen der Königsbücher überlieferten Daten über die Regierungszeit der einzelnen Könige erweisen sich insgesamt als so verlässlich, dass eine lückenlose Chronologie der Könige von Israel und Juda von der Reichstrennung bis zur Zerstörung Jerusalems erstellt werden kann. Die weitgehende historische Brauchbarkeit dieser Daten zeigt sich auch daran, dass sie in Übereinstimmung stehen mit den Daten, die uns aus den assyrischbabylonischen und den ägyptischen Dokumenten bekannt sind. Die Übereinstimmung mit der assyrisch-babylonischen Chronologie ist auch insofern wichtig, als diese auf astronomisch berechenbare Daten Bezug nimmt (z.B. auf die Sonnenfinsternis von 763 v. Chr.) und deshalb eine absolute (astronomisch datierbare) Chronologie ermöglicht. Hinzu kommt, dass die assyrisch-babyloni-
52
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
schen Angaben über die seleukidische Chronologie an unsere heutige Zeitrechnung angeschlossen sind. 5.2.2.
Probleme bei der Interpretation der Daten
Allerdings ergeben sich bei der Interpretation der in den Königsbüchern überlieferten Daten eine Reihe von Unsicherheiten, die den Grund für die (allerdings meist nur geringfügigen) Abweichungen in den Berechnungen der Regierungszeiten der judäischen und israelitischen Könige bilden: Erstens ist unklar, ob bei der Zählung der Regierungsjahre das Restjahr vom Regierungsantritt eines Königs bis zum nächsten Neujahrstag (das sog. Antrittsjahr oder Akzessionsjahr) als 1. Jahr gezählt wird (sog. vordatierende Zählung) oder ob dieses Jahr unberücksichtigt bleibt (sog. nachdatierende Zählung). Zum zweiten kann nicht sicher von einem durchgängigen Beginn des israelitischen Jahres im Herbst ausgegangen werden. Sowohl in Juda als auch in Israel ist eventuell mit Perioden zu rechnen, in denen das Neujahrsfest im Frühjahr lag. Drittens ist nicht immer klar, ob die Jahre der Mitregentschaft eines Königs mit seinem Vorgänger der Regierungszeit hinzugezählt werden oder nicht. 5.2.3.
Berechnungssysteme
Die in Deutschland besonders verbreitete Chronologie von Joachim Begrich und Alfred Jepsen, die auch im vorliegenden Buch benutzt wird, geht bei der Interpretation der Daten der Königsbücher von folgenden Annahmen aus: In Israel und Juda ist ursprünglich mit einem Jahresbeginn im Herbst zu rechnen. Auch wurden in beiden Staaten die Regierungszeiten der Könige vordatierend (unter Mitberücksichtigung des Antrittsjahres) gezählt. Dies ändert sich mit der Anerkennung der assyrischen Oberherrschaft durch Menahem von Israel (738) und durch Ahas von Juda (733). Ab Pekachja von Israel (737–736) und ab Hiskia von Juda (725–697) ist daher mit einem Jahresbeginn im Frühjahr und mit einer nachdatierenden (das Antrittsjahr unberücksichtigt lassenden) Zählung der Regierungsjahre zu rechnen. Einfachere Annahmen liegen dem chronologischen System von Andersen zugrunde. Hier wird vorausgesetzt, dass es während der Königszeit zu keinen Änderungen bei der Zählung der Jahre der Könige gekommen ist: Vielmehr sei durchgehend mit einem Jahresbeginn im Herbst und mit einer vordatierenden Zählung der Regierungsjahre zu rechnen.
Die Königszeit
5.3.
Der Abfall Israels von der Daviddynastie (926)
5.3.1.
Politische Ursachen
53
Über die Trennung Israels von der Daviddynastie berichtet in den Königsbüchern vor allem die Geschichtserzählung 1Kön 12,1–20* (anders Becker, der 12,1–20* als spätdtr. Geschichtsreflexion versteht). Sie stellt zwar aus einem deutlichen zeitlichen Abstand heraus die politisch agierenden Personen als Typen dar: Doch dürfte der Erzählung die zutreffende historische Erinnerung zugrunde liegen, dass ein Nordreichkönig vor seinem Regierungsantritt der Zustimmung der Ältesten des Nordreichs bedurfte (vgl. 2Sam 5,3) und dass er dafür politische Verpflichtungen einzugehen hatte. Auch spricht alles dafür, dass die Vertreter des Nordreichs – wie in 1Kön 12,3b.4 geschildert – von Salomos Sohn Rehabeam vor allem eine Minderung der Frondienst- und Abgabelasten gefordert haben und dass die Ablehnung dieser Forderungen (vgl. 12,14: „Mein Vater hat euer Joch schwer gemacht, ich aber werde euer Joch noch schwerer machen“) zum Abfall des Nordreichs von der Daviddynastie führte (vgl. 12,16: „Was haben wir für Anteil an David? Wir haben kein Erbteil an Isais Sohn“ und 12,18 die Steinigung des Frondienstministers Davids und Salomos Adoniram durch die Israeliten). Historisch dürfte auch sein, dass die Verhandlungen in Sichem, der größten Stadt auf dem Territorium des Hauses Josef, stattfanden, zumal die ehemalige Kanaanäerstadt (vgl. Ri 9, aber auch Jos 24) später zu einer der Residenzstädte des ersten nordisraelitischen Königs Jerobeam I. wurde (1Kön 12,25). Den Annalennotizen 1Kön 12,2.20a ist zu entnehmen, dass Jerobeam (926–907) nach dem Tode Salomos aus dem Exil in Ägypten zurückkehrte und nach den gescheiterten Verhandlungen mit Rehabeam von den Repräsentanten des Nordreichs zum König über Israel eingesetzt wurde. 5.3.2.
Die Regierungssitze Jerobeams I.
Nach 1Kön 12,25 kam es unter Jerobeam sowohl zum Ausbau von Sichem als auch von Pnuel im Ostjordanland (die Bedeutung beider Städte spiegelt sich vor allem in der Jakobtradition in Gen 33 ff. bzw. in Gen 32,23 ff.). Außerdem wird in 1Kön 14,17 Tirza als Residenzstadt Jerobeams dargestellt. Da ein zeitliches Nacheinander der Funktion dieser Orte als Königsstädte nicht sicher ist (für eine Verlegung des Regierungssitzes ins Ostjordanland wegen des Feldzuges des Pharao Scheschonq I. von 1Kön 14,25–28 spricht nichts), ist davon auszugehen, dass Jerobeam wohl unter dem Gesichtspunkt des Ausgleichs zwischen verschiedenen Teilen seines Reiches gleichzeitig mehrere Regierungssitze unterhielt (Westisrael: Sichem; Ostjordanland: Pnuel; Kanaanäerstädte: Tirza?).
54
5.3.3.
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Die Kultpolitik Jerobeams I.
Über die Kultpolitik Jerobeams liegt nur der dtr. Bericht von 1Kön 12,26–32 vor. Nach ihm hat Jerobeam I. die alten Heiligtümer von Bethel (vgl. Gen 28,11ff.; heute betin) und Dan (vgl. Ri 17–18; heute: tell el-qadi) zu Reichsheiligtümern gemacht. Offensichtlich ist die Anlage dieser Reichsheiligtümer in Grenzstädten im Süden und Norden des Reiches als bewusstes Konzept Jerobeams I. anzusehen. Schwer zu bestimmen ist die kultpolitische Intention, die hinter der Errichtung von Stierbildern in Bethel und Dan steht. Wahrscheinlich hat Jerobeam mit den Stierbildern keine Neuerung einführen wollen, sondern eine Betheler Tradition von Stierbildern neu aufleben lassen (Keel/Uehlinger). Jedenfalls sind die Stierbilder als Gegenstand des Kultes Jahwes, der Israel aus Ägypten geführt hat (1Kön 12,28), verstanden. Der Plural „Götter“ („Hier sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Lande Ägypten heraufgeführt haben“) bezieht sich dabei auf die zwei Kultbilder, nicht auf eine polytheistische Gottesvorstellung. Das Verhältnis von Stierbild und Jahwe ist möglicherweise (obwohl in der Eisen II-Zeit Darstellungen einer Gottheit auf einem Trägertier nur selten bezeugt sind; vgl. Keel/Uehlinger) so zu interpretieren, dass die Stierbilder Postamente darstellen, die wie die Cheruben im Jerusalemer Tempel den über ihnen unsichtbar thronenden Jahwe vergegenwärtigen (anders Koenen, der die Stierstatuette als Jahwebild versteht). Jedenfalls wird erst in der Polemik Hoseas (Hos 8,5; 10,5; 13,2) eine Identität von Stierbild und Gott vorausgesetzt. Der dtr. Verfasser von 1Kön 12,26 ff. deutet diese Kultmaßnahme allerdings als Verführung zu Sünde und Götzendienst (12,30). In gleicher Weise tut dies die jetzige Fassung der Erzählung vom Goldenen Stierbild von Ex 32,1 ff., in der die Übereinstimmung des Kultrufs von V. 4.8 mit dem von 1Kön 12,28 den Bezug von Ex 32,1 ff. auf die Stierbilder von Bethel und Dan deutlich macht. Schließlich wird die Beibehaltung des Kultes von Bethel und Dan von DtrH als Sünde Jerobeams allen Nordreichkönigen zum Vorwurf gemacht und mit ihr der Untergang des Nordreichs (2Kön 17,22 f.) erklärt. In 1Kön 12,31f. werden schließlich weitere Differenzen des Nordreichskultes gegenüber den deuteronomischen Vorstellungen (Bau von Höhenheiligtümern, nichtlevitische Priester, Laubhüttenfest im 8. Monat) als Abfall von Jahwe gedeutet. 5.3.4.
Das Scheitern von Dynastiebildungen
Bemerkenswert ist, dass die Politik Jerobeams I. in der Bevölkerung des Nordreiches so wenig Anerkennung fand, dass sein Sohn Nadab (907–906) sich als Nachfolger nicht durchsetzen konnte, sondern von dem Issachariten Bascha (906–883) nach kurzer Regierungszeit gestürzt werden konnte. Allerdings gelang auch Bascha, dessen Regierungszeit von kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem
Die Königszeit
55
Südreich (vgl. 1Kön 15,17) und den Aramäern (vgl. 1Kön 15,18–20) bestimmt war (dabei Verwüstung von Ijon, Dan, Abel Bet-Maacha und der Gebiete von Kinneret und Naftali im Norden und Verlust von Rama an das Südreich), keine Dynastiebildung. Vielmehr erhoben sich nach seinem Tod gleich zwei Thronprätendenten (Tibni, 882–878, und Omri, 882–871) gegen seinen Sohn Ela (883–882). Das Nichtgelingen von Dynastiebildungen in den ersten Jahrzehnten des Nordreiches ist damit erklärt worden, dass im Nordreich anders als im Südreich kein dynastisches Königtumsverständnis geherrscht habe. Vielmehr sei man hier von einem „charismatischen Königsideal“ (Alt, Donner) ausgegangen, nach dem der Anspruch auf den Königsthron von der Designation durch einen Propheten (vgl. 1Kön 11,29 ff.; 14,14; 2Kön 9,7–10) und der Akklamation durch das Volk (vgl. 1Kön 12,20; 2Kön 9,11–13) abhängig sei. Allerdings ist für Bascha weder eine prophetische Designation (1Kön 14,14 ist eine Strafankündigung an Jerobeam und keine Designation Baschas) noch eine Akklamation durch das Volk bezeugt. Auch bei Jehu liegt in 2Kön 9,11–13 keine Anerkennung durch das Volk, sondern lediglich die Zustimmung des Militärs zum Putsch Jehus vor. Die Tatsache, dass sowohl von Nadab als auch von Ela eine Dynastiebildung versucht wird, zeigt zudem, dass auch im Nordreich dynastische Königtumsvorstellungen vorhanden waren (allerdings bestand im Nordreich für den König wohl die Pflicht, vor dem Regierungsantritt einen Königsvertrag abzuschließen: vgl. u. a. 2Sam 5,3; 1Kön 12,1 ff.). Gelungen sind solche Dynastiebildungen im Nordreich jedoch nur den Königen Omri (882–871; Dynastie: 882–845) und Jehu (845–818; Dynastie: 845–747). Es bestehen offensichtlich im Nordreich starke innenpolitischen Spannungen, die einerseits eine Dynastiebildung erschweren, die andererseits aber auch nach dem Ende der Dynastie Jehus zu einem raschen Zusammenbruch des Nordreiches führen.
5.4.
Die Dynastie Omris (882–845)
5.4.1.
Omri (882–871)
Omri, der vor seiner Ausrufung zum König Führer des sich im Kampf gegen das philistäische Gibbeton befindenden israelitischen Heerbanns war, konnte zwar den Mörder Elas, Simri, der in Tirza die Macht an sich gerissen hatte, nach wenigen Tagen besiegen. Er wurde allerdings erst nach dem Tod des zweiten Gegenkönigs Tibni von der Nordreichbevölkerung insgesamt anerkannt. Möglicherweise bildeten Tibni und Omri Repräsentanten einer „israelitischen“ und einer „kanaanäischen“ Partei (Gunneweg). Dabei stehen hinter der „kanaanäischen“
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Partei nicht „Kanaanäer“ im ethnischen Sinne, sondern z. T. aus den ehemaligen kanaanäischen Stadtstaaten stammende „städtische“ Bevölkerungsgruppen, die sich gleichzeitig den monolatrischen Vorstellungen der israelitischen Tradition gegenüber zurückhaltend verhielten (vgl. Donner; auch Zwickel, der von „Stadtstaaten, die sicherlich ihre traditionellen religiösen Formen noch bewahrt hatten“, spricht). Die wichtigste Nachricht, die das AT aus Omris Regierungszeit berichtet, ist die Gründung der neuen Hauptstadt des Nordreichs, Samaria, in einem bisher unbesiedelten Gebiet (1Kön 16,24). Allerdings handelt es sich bei der Notiz von dem Kauf des Berges von Samaria – wie Würthwein gezeigt hat – um eine volkstümliche etymologische Ätiologie, der nicht entnommen werden kann, dass Samaria auf „kanaanäischem“ Territorium errichtet worden sei (gegen Alt). Allerdings dürfte der Notiz die Erinnerung zugrunde liegen, dass Samaria wie Jerusalem einen zum unmittelbaren Besitz des Königs gehörenden eigenständigen Stadtstaat darstellte (vgl. Alt). In 1Kön 16,27 deutet die atl. Überlieferung noch die besondere „Tüchtigkeit“ (gebûr¯ah) Omris an. Was damit gemeint ist, ist nur den altorientalischen Dokumenten zu entnehmen. So berichtet die Mescha-Inschrift, dass es Omri gelungen ist, Moab zu unterwerfen (vgl. Z. 4–8). Bemerkenswert ist auch, dass die assyrischen Inschriften das Nordreich meist als „Haus Omri“ bezeichnen, und zwar auch noch in der Zeit nach der Omridendynastie (so berichtet Salmanassar III. über einen Tribut „Jehus vom Hause Omri“ im Jahre 841; auch Tiglatpileser III. spricht im Zusammenhang des syrisch-ephraimitischen Krieges vom Nordreich als dem „Haus Omri“; vgl. nur TGI2 Nr. 20 und 26). 5.4.2.
Ahab (871–852)
5.4.2.1. Außenpolitik Detailliertere Angaben finden sich in den Königsbüchern zu Omris Sohn Ahab. Allerdings lässt sich die Zielsetzung seiner Außenpolitik wieder nur den assyrischen Inschriften Salmanassars III. entnehmen. Die für Ahabs Regierungszeit wichtigste Nachricht findet sich in der Monolithinschrift Salmanassars III. (vgl. TUAT I, 360–362; TGI2 Nr. 19). Nach ihr kam es im Jahre 853 bei Karkar am Orontes in Nordsyrien (zwischen Hamat und Aleppo) zu einer Schlacht zwischen dem assyrischen König Salmanassar III. (858–824) und einer Koalition von 12 syrisch-palästinischen Königen, an deren Spitze Hadadeser von AramDamaskus, Irhuleni von Hamat und Ahab von Israel standen. Dabei stellte nach den Angaben Salmanassars Ahab mit 2000 Streitwagen und 10 000 Soldaten das stärkste Wagenkontingent der antiassyrischen Koalition (Damaskus soll mit 1200 Wagen und 20 000 Soldaten an der Koalition teilgenommen haben).
Die Königszeit
57
Zwar berichtet Salmanassar davon, dass er diese Koalition im Jahre 853 besiegt habe. Doch war dieser „Sieg“ offensichtlich mit so starken eigenen Verlusten verbunden, dass ihn Salmanassar nicht politisch nutzen konnte und sich auch in den Jahren 848 und 845 mit der gleichen Koalition auseinander setzen musste. Zu einer Tributleistung von Tyrus, Sidon, Byblos und Israel kam es erst nach dem Ende dieser Koalition im Jahre 841 (vgl. TUAT I, 362–363), als in Israel Jehu die Omridendynastie gestürzt hatte. Dass Ahab Vertreter eines antiassyrischen syrisch-palästinisch-phönizischen Bündnisses war, lässt sich indirekt auch den atl. Nachrichten entnehmen. So berichtet 1Kön 16,31 von der – wohl als Besiegelung eines Bündnisses zu verstehenden – Heirat Ahabs mit Isebel, der Tochter des Königs Ittobaal von Sidon. Aufgrund der Darstellung des Josephus (Antiquitates VIII 13,1f.; vgl. IX 6,6) wird dieser Ittobaal meist als König von Tyrus und Sidon verstanden. Doch hat Josephus für diese Darstellung keine alte Überlieferung zur Verfügung, vielmehr projiziert er den um 500 regierenden Ittobaal von Tyrus in das 9. Jh. zurück (Timm), so dass an der Herkunft Isebels aus Sidon festzuhalten ist. Einbezogen in dieses Bündnis wird offensichtlich auch Juda, was sich u.a. an der Verheiratung der Schwester Ahabs, Atalja, mit dem judäischen König Joram (852–845) zeigt (2Kön 8,26; vgl. aber auch 8,18, wo Atalja als „Tochter Ahabs“ bezeichnet wird). Gegen ein solches Bündnis Ahabs und seines Sohnes Joram mit Damaskus sprechen nicht die Berichte über Aramäerkriege zur Zeit Ahabs und Jorams in 1Kön 20; 22; 2Kön 6,24–7,20: Diese Aramäerkriegserzählungen beziehen sich in ihrer ursprünglichen Gestalt auf einen anonymen König von Israel und dürften daher erst die Aramäerkämpfe zur Zeit der Dynastie Jehus widerspiegeln (vgl. Jepsen, Miller, Schmitt). Zerbrochen ist die antiassyrische Koalition offensichtlich im Jahre 845 nach dem Regierungsantritt des Königs Hasael von Damaskus (845–802). Erst für das Jahr 845 sind nämlich kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Aramäern und Israel um die Stadt Ramot-Gilead belegt (2Kön 8,28). Die omridische Bündnispolitik muss somit als erfolgreich angesehen werden: Sie hat es offenbar vermocht, ein Vordringen der Assyrer in Syrien-Palästina während der ersten Hälfte des 9. Jh. zu verhindern. 5.4.2.2. Religionspolitik Weniger erfolgreich war demgegenüber die omridische Religionspolitik, die auch von den dtr. Verfassern der Königsbücher besonders negativ beurteilt wird (vgl. 1Kön 16,31–33 mit Hinweis auf die Errichtung eines Baalstempels in Samaria und der Anfertigung einer Aschera). Offensichtlich haben die Omriden – ausgehend von ihrer Bündnis- und Heiratspolitik (vgl. 1Kön 16,31–33) – neben ihrer Orientierung am monolatrischen
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Jahweglauben (vgl. die das theophore Element „Jahwe“ enthaltenden Namen von Ahabs Söhnen Ahasja und Joram) – gleichzeitig auch eine polytheistische „kanaanäische“ Religiosität gefördert, wie sie vor allem wohl in dem Bevölkerungsteil herrschend war, der aus den Kanaanäerstädten stammte. Allerdings spricht nichts für die These von Albrecht Alt, dass die Omriden eine dualistische Verwaltung des Nordreichs mit Samaria als Kanaanäerzentrum und Jesreel als israelitischer Hauptstadt aufgebaut hätten. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Samaria ausschließlich Hauptstadt für den kanaanäischen Teil des Nordreiches gewesen sei (vgl. nur die Darstellung von 1Kön 18,2 ff., die mit der Anwesenheit des als Jahweverehrer dargestellten Krongutministers Obadja in Samaria rechnet). Andererseits scheint Jesreel nur ein saisonal genutzter Wohnort der Omriden gewesen zu sein. Auch wenn die omridische Religionspolitik nicht als „dualistisch“ zu verstehen ist, so hat die starke Förderung kanaanäischer polytheistischer Frömmigkeit durch das Königshaus (vgl. dabei vor allem die Kritik an Isebel in 2Kön 9,22) doch einen massiven Protest jahwetreuer Kreise hervorgerufen, wie er sich vor allem in der Jehurevolution entlädt. Wichtig ist hierbei die Unterstützung der Jehurevolution durch die um Elisa gruppierten „Prophetensöhne“ (vgl. 2Kön 9,1 ff.*) und durch den Ahnherrn der Rechabiter Jonadab ben Rechab (vgl. 2Kön 10,15–16). Inwieweit auch der „historische“ Elia bereits als Gegner der Omriden angesehen werden kann, ist angesichts der freundschaftlichen Beziehungen zwischen Elia und Ahab in der ältesten Schicht der Elia-Tradition (vgl. 1Kön 18,41– 46*) strittig (vgl. aber 2Kön 1,2.5–8.17a für eine Gegnerschaft Elias gegenüber Ahasja und dazu Beck). 5.4.2.3. Innenpolitik Schließlich wirft die alte Nabotüberlieferung (vgl. 2Kön 9,25 f.; 1Kön 21,1–16), zu der – wie 2Kön 9,25 f. zeigt – das in 1Kön 21,17 ff. beschriebene Auftreten Elias noch nicht gehörte, Ahab auch eine „Kanaanisierung“ des israelitischen Rechts vor. Die wohl erst nach dem Untergang des Nordreichs (vgl. Schmitt) entstandene „Novelle“ 1Kön 21,1–16 stellt Ahab als einen Herrscher dar, der (unter dem Einfluss Isebels) ein „absolutistisches“ Königtum vertritt, das sich durch das Recht nicht begrenzen lässt (21,7). Eventuell zeichnet 1Kön 21 Nabot auch als einen sich am israelitischen Bodenrecht (Unverkäuflichkeit des Grundbesitzes der Sippe) orientierenden frommen Israeliten, der sich weigert, das ihm und seinen Vätern von Jahwe zum Erbteil verliehene Land an Ahab zu verkaufen (1Kön 21,3). Es ist allerdings umstritten, ob Lev 25,23 („das Land soll nicht unwiderruflich verkauft werden, denn mir gehört das Land, Schutzbürger und Beisassen seid ihr bei mir“) bereits vorexilische israelitische Rechtsvorstellungen zugrunde liegen.
Die Königszeit
5.4.3.
59
Ahasja (852–851) und Joram (851–845).
An den von ihr hervorgerufenen innen- und religionspolitischen Konflikten ist die Dynastie Omris trotz ihrer im ganzen erfolgreichen Außenpolitik gescheitert. So ist bemerkenswert, dass die einzige atl. Überlieferung über den nur kurze Zeit (852–851) regierenden Nachfolger Ahabs, Ahasja, eine Erzählung über die Inanspruchnahme eines Fremdgottes (Baal Zebub „Fliegen-Baal“ von Ekron; ursprünglich wohl Baal Zebul: „Fürst Baal“) ist. Auslöser für die „Befragung“ des Baal war ein Unfall, der dann zum Tode Ahasjas führte (2Kön 1,1 ff.). Von Joram wird zwar berichtet, dass er die von Ahab angefertigte Baalmassebe entfernt habe (2Kön 3,2), doch geht die atl. Überlieferung gleichzeitig von der Fortsetzung der bisherigen Religionspolitik durch die Königin-Mutter Isebel aus (2Kön 9,22; zur Stellung Isebels als „Königin-Mutter“ = „Gebira“ vgl. auch 2Kön 10,13 und dazu unten § 6.2.3.3.).
5.5.
Die Dynastie Jehus (845–747)
5.5.1.
Jehu (845–818)
5.5.1.1. Die Jehurevolution (845) Der Sturz Jorams durch Jehu ist zunächst als Militärputsch eines Heereskommandanten (2Kön 9,11–13) zu beurteilen. Jehu nutzte dabei geschickt eine Verwundung Jorams bei der Verteidigung Ramot-Gileads gegen Hasael von Damaskus (2Kön 9,14f.) aus. Doch wäre dieser Militärputsch kaum erfolgreich gewesen, wenn Jehu nicht die Unterstützung jahwetreuer Kreise wie die Elisas und der Prophetensöhne (2Kön 9,1–6) und die Jonadabs, des Ahnvaters der Rechabiter (2Kön 10,15–16; vgl. Jer 35,5ff.) gewonnen und die Beseitigung der omridischen Religionspolitik zum Ziel seiner Revolution gemacht hätte (vgl. die Vernichtung der Baalsverehrer und des Baalstempels in 2Kön 10,18–27*). Eine literarkritische Tilgung der religionspolitischen Bezüge aus der Geschichtserzählung 2Kön 9,1–10,27* (Würthwein, auch Minokami; vgl. dagegen S. Otto und Lehnart) atomisiert einerseits die Erzählung und erschwert andererseits die redaktionsgeschichtliche Erklärung der Entstehung des vorliegenden Textes von 2Kön 9,1–10,27 (vgl. jedoch auch Beck). Die Erzählung 9,1–10,27* verschweigt zwar nicht den äußerst blutigen Verlauf der Revolution, doch zeigt sich in ihr – anders als später in Hos 1,3–4 – keine direkte Kritik am Vorgehen Jehus. Ein epigraphisches Zeugnis für die Jehurevolution liegt wahrscheinlich in der Tell Dan-Inschrift vor (vgl. dazu Biran/Naveh 1995): Allerdings schreibt sich in ihr Hasael die von Jehu vorgenommene Tötung von Joram von Israel und von Ahasja von Juda selbst zu.
60
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
5.5.1.2. Religionspolitik Die dtr. Darstellung von 2Kön 10,28–31, dass Jehu zwar den „Baal“ aus Israel ausgerottet, aber trotzdem an der Sünde Jerobeams festgehalten habe, dürfte historisch zutreffend sein. Jehu hat einerseits die omridische Politik einer Förderung „kanaanäischer“ Frömmigkeit beendet. Andererseits hielt er jedoch wie alle Nordreichkönige an den von Jerobeam I. gegründeten Reichsheiligtümern von Bethel und Dan mit ihren Stierbildern fest. 5.5.1.3. Außenpolitik Dass die Revolution Jehus nicht nur ein Militärputsch war, sondern gleichzeitig auf eine Änderung der omridischen Politik abzielte, zeigt sich auch in der Außenpolitik Jehus. So gibt Jehu die antiassyrische Außenpolitik der Omriden auf und unterwirft sich im Jahre 841 den Assyrern (die Szene ist auf dem Schwarzen Obelisk Salmanassars III. bildlich dargestellt, vgl. oben 5.1.2.). Diese proassyrische Politik führt in der folgenden Schwächeperiode der Assyrer (vor allem unter dem von 823–810 regierenden assyrischen König Schamschi-Adad V.) zum Ausgeliefertsein des Nordreichs an die Aramäer von Damaskus. Unter Hasael (845–802) gelang es diesen, das ganze Ostjordanland zu erobern (2Kön 10,32f.), ja selbst bis zum Südreich (vgl. die Eroberung der damals zum Südreich gehörenden Stadt Gat) vorzudringen (2Kön 12,18 f.). Die in 1Kön 20,1 ff.; 2Kön 6,24 ff. geschilderten Belagerungen Samarias (vgl. auch 2Kön 6,8–23) dürften nicht – wie es der jetzige atl. Kontext nahe legt – in die Zeit der Omriden, sondern in die Zeit der Jehuiden fallen (vgl. oben 5.4.2.1.; zum Leiden Israels unter Hasael vgl. auch 2Kön 8,7–15*). 5.5.2.
Joahas (818–802)
Unter dem Nachfolger Jehus, Joahas, kam es offensichtlich zum Tiefpunkt der Demütigung des Nordreichs durch die Aramäer: Nach 2Kön 13,7 schrumpfte das israelitische Heer zur Zeit dieses Königs auf einen Bestand von 50 Gespannen, 10 Wagen und 10 000 Fußsoldaten. 5.5.3.
Der außenpolitische Umschwung unter Joasch (802–787)
Eine Veränderung trat erst unter Joasch, dem Nachfolger des Joahas, ein, und zwar aufgrund eines stärkeren Eingreifens der Assyrer in den syrisch-palästinischen Raum. So gelang es dem assyrischen König Adadnarari III. (811–781), die Aramäer zu entmachten (vgl. hierzu vor allem die in Tell er-Rim¯ah im Irak gefundene Stele Adadnararis III. [übersetzt in TUAT I, 368], nach der der assyrische König Damaskus belagert und vom aramäischen König Tribut erhalten hat). Daher ergab sich für Joasch die Möglichkeit zu israelitischen Erfolgen gegen die
Die Königszeit
61
Aramäer (vgl. 2Kön 13,25 mit 13,18–19 Ankündigung von drei Siegen über Damaskus, auch 13,14–17 die Siegesverheißung Elisas gegenüber Joasch). Auch die in 1Kön 20,34 erwähnte Rückeroberung der Städte, die der Vater des Königs verloren hatte, könnte sich ursprünglich auf Joasch und seinen Vater Joahas beziehen. Nach der Stele von Tell er-Rim¯ah hat allerdings auch Joasch Tribut an den Assyrerkönig Adadnarari gezahlt. 5.5.4.
Die Blütezeit des Nordreiches unter Jerobeam II. (787–747)
Nach 2Kön 14,23.25a gelang es Jerobeam II., aufgrund der durch die Assyrer hervorgerufenen Schwächeperiode von Damaskus das Ostjordanland vom Steppenmeer (= Toten Meer) bis nach Lebo Hamat (= Lebwe in der Biqac-Ebene) zurückzuerobern. Nach 2Kön 14,25 soll dieser Erfolg von dem Propheten Jona ben Amittai geweissagt worden sein. Unzutreffend dürfte jedoch die in 2Kön 14,28 DtrH enthaltene Aussage sein, dass Jerobeam auch Damaskus und Hamat an Israel zurückgebracht habe. Dass Jerobeam II. vor allem im Ostjordanland militärische Erfolge hatte, bezeugt auch die Amosüberlieferung, die in Am 6,13 wohl von Siegen bei Lodabar (nördlich des Jabbok) und Karnajim (= ˇs¯e h sa d nörd˘ lich des Jarmuk) spricht (vgl. unten § 37.4.). Gleichzeitig zeigt jedoch die Amosüberlieferung, dass der durch diese Landgewinne erzielte Reichtum nur der Oberschicht zugute kam und sie zu luxuriöser Lebensweise verleitete (Am 6,1–6*; 4,1–3). Auch kam es zur Ausbeutung der Armen (vgl. Am 2,6–8; zu Einzelheiten vgl. unten § 37.8.) und damit zu einer Spaltung der nordisraelitischen Gesellschaft. In dieser Situation erhält Amos (um 760) den göttlichen Auftrag, Israel das Ende anzusagen (8,1–2). Diese Weissagung ist bereits wenige Jahrzehnte danach in Erfüllung gegangen.
5.6.
Der Untergang des Nordreichs
5.6.1.
Die innenpolitische Instabilität nach dem Tod Jerobeams II. (747–722)
Wie gespalten die israelitische Gesellschaft war und als wie wenig konsensfähig sich ihre politischen Führer erwiesen, zeigt schon die Tatsache, dass in den 25 Jahren vom Tode Jerobeams II. bis zur assyrischen Eroberung Samarias allein sechs Könige an die Macht kamen, die mit einer Ausnahme (Menahem) alle gewaltsam beseitigt wurden (vgl. 2Kön 15,8–31). So konnte nach Jerobeams Tod sein Sohn Secharja (747) nur 6 Monate und dessen Mörder Schallum nur einen Monat regieren. Erst nachdem Menahem Schallum beseitigt hatte, kam es zu einer längeren Regierungszeit eines Königs (747–738; das wichtigste Ereignis
Karte 2: Das neuassyrische Großreich (aus: H. Donner, Geschichte des Volkes Israels und seiner Nachbarn in Grundzügen 2, Göttingen 32001, S. 323)
62 Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Die Königszeit
63
dieser Regierung war der Tribut an den assyrischen König Tiglatpileser III. von 738), an die sich sogar eine Regierung von Menahems Sohn Pekachja anschließen konnte (738–736). Allerdings wurde dann Pekachja durch Pekach (735–732) getötet, wobei – wie der syrisch-ephraimitische Krieg von Aram und Israel gegen das sich einem antiassyrischen Bündnis widersetzende Juda (2Kön 16,5; Jes 7,1 ff.*) zeigt – Pekach wohl als Vertreter einer konsequent antiassyrischen Haltung die Macht an sich riss. Nach dem siegreichen Eingreifen der Assyrer im Jahre 733 v. Chr. löste Hoschea (ben Ela: 731–723) Pekach ab und trat als Vasall der Assyrer die Herrschaft über Israel an (2Kön 17,1–3*). Sein Abfall von Assyrien (aufgrund eines Bündnisses mit Ägypten; vgl. dazu auch unten 5.6.2.) führte zunächst zu seiner Gefangennahme (17,4: 723) und schließlich im Jahre 722 zur Eroberung Samarias durch den assyrischen König Salmanassar V. (726–722). 5.6.2.
Die assyrische Expansionspolitik
Hinter der assyrischen Außenpolitik des 9.–7. Jh. v. Chr. steht das Bestreben der Assyrer, die damals bekannte Welt ihrem Reichsgott Assur zu unterwerfen. Einen besonders konsequenten Verfechter dieser assyrischen Expansionspolitik stellt Tiglatpileser III. (745–727) dar, mit dem sich Israel nach dem Tod Jerobeams II. auseinanderzusetzen hatte. Dabei zeigen sich drei Stadien des Vorgehens der Assyrer, die auch im Falle Israels zu erkennen sind. Im Allgemeinen begnügt sich der assyrische König mit der Tributzahlung des zu unterwerfenden Landes. Im Falle Menahems von Israel betrug dieser im Jahre 738 die sehr beträchtliche Summe von 1000 Talenten Silber, die der König nur durch eine Umlage auf die israelitischen Grundbesitzer aufbringen konnte (pro grundbesitzendem Mann wurden hierbei fünfzig Schekel Silber erhoben). Nach dem in den Zusammenhang des syrisch-ephraimitischen Krieges (733) gehörenden Abfall Pekachs (735–732) von Assur und nach dem Sieg Tiglatpilesers III. über Aram und Israel wandte der assyrische König die zweite Stufe seiner Unterwerfungspolitik gegen Israel an: Die Randgebiete des besiegten Landes wurden abgetrennt und zu assyrischen Provinzen gemacht. Im Falle Israels wurden nach 2Kön 15,29 sowohl Galiläa als auch das Ostjordanland als assyrische Provinzen (Dor, Megiddo, Gilead; so Alt) abgetrennt, so dass nur noch das mittelpalästinische Gebiet um Samaria als eigenständiges Königreich übrig blieb. Nachdem sich jedoch auch gegen diese Maßnahme Widerstand erhob, ging Assur zur dritten Stufe der Unterwerfung über: Auch das Kernland wurde erobert und zur assyrischen Provinz gemacht, die Oberschicht wurde deportiert und eine Oberschicht aus einer anderen Provinz wurde angesiedelt. Dieses Stadium der Unterwerfung trat in Israel ein, nachdem Hoschea (731–723) im Jahre 724 ein antiassyrisches Bündnis mit dem ägyptischen König (so # ist wahr-
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
scheinlich hebräische Transkription des ägyptischen Wortes für König nj-´sw.t) eingegangen war: Im Jahre 723 (?) geriet Hoschea in assyrische Gefangenschaft, und Samaria wurde belagert und 722 erobert (durch Salmanassar V.: vgl. 2Kön 17,4–6; 18,9–11). Die israelitische Oberschicht wurde danach in das Gebiet von Halach und Gosan (= Tell Halaf) im nordwestlichen Mesopotamien und in die Städte Mediens südlich des Urmia-Sees deportiert (2Kön 17,1–6; nach den Annalen Sargons II. [TUAT I, 378–381] geschah dies erst unter Sargon, vgl. hierzu Timm). Außerdem berichtet 2Kön 17,24 von der Neuansiedlung einer fremden Oberschicht aus Babel, Kuta (im nordöstlichen Babylonien) und Hamat (in Nordsyrien). Die Nennung von Awa und Sefarwajim stellt wahrscheinlich einen sekundären Nachtrag aus 2Kön 18,34 dar (Würthwein). Diese neue Bevölkerung bildete zwar nur weniger als 10 % der Population der Provinz Samarien. Doch genügte dies rigorosen judäischen Kreisen, um die Zugehörigkeit der nach 722 im Gebiet des Nordreichs verbliebenen Bewohner zu „Israel“ in Frage zu stellen.
5.7.
Ausgewählte Literatur
5.7.1.
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§6
Das Südreich von der Reichstrennung bis Josia (926–609)
6.1.
Quellen
6.1.1.
Alttestamentliche Überlieferungen
Wie bei der Geschichte des Nordreiches so ist auch für das Südreich die dem Deuteronomistischen Geschichtswerk zugrunde liegende „synchronistische Königschronik“ und das in ihr überlieferte annalistische Material (vgl. für seine Herkunft das in 1Kön 14,29 erwähnte „Tagebuch der Könige von Juda“) die wichtigste Quelle. Heranzuziehen sind auch hier wieder die in den Büchern der judäischen Schriftpropheten (vgl. vor allem Jesaja, Micha, Zefanja, Jeremia) tradierten alten Überlieferungen. Schließlich wird damit gerechnet, dass auch im Sondergut der Chronikbücher in 2Chr 11,5–12 eine vorexilische Festungsliste vorliegt. Umstritten ist allerdings, ob sie – wie der Chronist annimmt – aus der Zeit Rehabeams stammt oder – wie Alt vermutet – aus der Zeit Josias.
68
6.1.2.
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Außerbiblische Inschriften
Auch für die Geschichte Judas liegen zahlreiche außerisraelitische Dokumente vor: Vor allem zu nennen sind auch hier die assyrischen Königsinschriften. Außer den in § 5.1. genannten sind noch die Inschriften von Sanherib (704–681), Asarhaddon (680–669) und Assurbanipal (668–ca. 630) zu erwähnen. Für das Eingreifen der Babylonier in den syrisch-palästinischen Raum stellt die babylonische Chronik (vgl. Wiseman) die wichtigste Quelle dar. Schließlich liegen für diesen Zeitraum auch zahlreiche in Israel gefundene hebräische Inschriften vor. Besonders genannt werden soll hier nur die bereits 1880 gefundene SiloaInschrift, die an der Ausmündung des (das Wasser der Gihon-Quelle in die Stadt Jerusalem führenden) Siloa-Tunnels in den Siloateich angebracht war (vgl. TGI2 Nr. 38; TUAT II, 555 f.) und die von der Vollendung dieses Tunnels in der Zeit Hiskias (vgl. 2Kön 20,20) berichtete. 6.1.3.
Archäologische Befunde
Erwähnenswert sind hier die archäologischen Anzeichen für ein starkes Anwachsen Jerusalems um 700. Während Jerusalem um 900 nur ca. 13–18 ha umfasste, dehnt sich die Stadt um 700 auf eine Größe von ca. 60 ha aus. Diese Ausdehnung wird durch biblische Angaben bestätigt, die im 7. Jh. mit einer „Neustadt“ (miˇsnæh) in Jerusalem rechnen (vgl. 2Kön 22,14; Zef 1,10). Diese Ausdehnung Jerusalems um 700 wird meist in Verbindung gebracht mit der Aufnahme von Nordreichflüchtlingen. Dass zur Zeit Hiskias (725–697) unmittelbar nach dem Untergang des Nordreiches größere Baumaßnahmen in Jerusalem vorgenommen wurden, zeigt auch 2Kön 20,20. Die zahlreichen Hinweise in der atl. Literatur auf eine Übernahme von Nordreichtraditionen im Juda des 7. Jh. (vgl. nur die Juda-Redaktion des Hoseabuches und dazu unten § 35.2.) machen ebenfalls eine solche Annahme wahrscheinlich (anders Thompson, der eine Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Nordreich für unwahrscheinlich hält und die Ausdehnung Jerusalems auf den Ausbau zum Zentrum eines assyrischen Vasallenstaates zurückführt).
6.2.
Das Südreich neben dem Nordreich (926–722)
6.2.1.
Der Umfang des Südreiches
Zur Beschreibung des Nord-Süd-Umfangs des Südreichs findet sich in 2Kön 23,8 die Formel „von Geba bis Beerscheba“. Die Ausdehnung des Südreichs nach Norden bis Geba und Mizpa ist unter Asa (908–868) erreicht worden (1Kön 15,22).
Die Königszeit
69
Dieser hatte durch ein Bündnis mit den Aramäern von Damaskus (1Kön 15,16–21) den Nordreichkönig Bascha daran gehindert, die unmittelbar im Einzugsbereich von Jerusalem liegende benjaminitische Stadt Rama als Grenzfestung auszubauen, und schob während des Aramäereinfalls die Nordgrenze des Südreiches um etwa 4 km weiter nach Norden, so dass seit dieser Zeit Geba und Mizpa die nördlichen Grenzstädte des Südreiches bildeten. Aufgrund der Festungsliste von 2Chr 11,5–12 ist anzunehmen, dass zur Zeit Rehabeams die Philisterstädte mit Ausnahme von Gat, das hier offensichtlich als Festungsstadt gegen die Philister fungiert, nicht mehr unter der Oberhoheit des Südreiches standen. In gleicher Weise scheint auch der Jerusalemer König nicht mehr wie zu Zeiten Davids und Salomos gleichzeitig König von Ammon gewesen zu sein. Da nach 1Kön 16,34 Jericho zum Nordreich gehörte, fehlte dem Südreich überhaupt der direkte Zugang zum Ostjordanland (so wird nach der Reichstrennung nur von einer Oberhoheit des Nordreichs über Moab unter den Omriden berichtet; vgl. Mescha-Inschrift und 2Kön 3,4). Das einzige Gebiet, über das Juda auch nach 926 die Oberhoheit behielt, war Edom. So gab es noch zur Zeit Joschafats (868–847) einen judäischen Statthalter in Edom. Ebenso war der am Golf von Aqaba gelegene Hafen von Ezjon-Geber (vgl. dazu auch oben § 4.3.2.) damals noch in judäischer Hand (vgl. 1Kön 22,48f.). Zur Unabhängigkeit Edoms kam es offensichtlich erst unter Joram von Juda (852–847), dem Nachfolger Joschafats (vgl. 2Kön 8,20). 6.2.2.
Stabilitätsfaktoren im Südreich
Dass trotz des Bedeutungsverlustes, den das Jerusalemer Königtum nach dem Tode Salomos hinnehmen musste, das Südreich sich insgesamt als stabiler erwies als das Nordreich, hängt damit zusammen, dass im Südreich ein weitgehender Konsens in zwei zentralen politischen Fragen herrschte: Zum einen war von Anfang an Jerusalem als Hauptstadt des Südreichs unbestritten. Dabei spielte offensichtlich auch ihre religiöse Bedeutung als Stadt des Tempels und damit als von Jahwe „erwählte“ Stadt eine zentrale Rolle (vgl. das allerdings späte Zeugnis Ps 132,13). Noch wichtiger für die Stabilität des Südreiches war das durchgängige Festhalten am Königtum der Davididen, wobei auch hier die religiöse Legitimation (vgl. die Nathanweissagung von 2Sam 7*) zentrale Bedeutung gehabt haben dürfte. Ebenso wichtig ist jedoch, dass es eine soziale Gruppe im Südreich gab, die in Krisensituationen das Festhalten an der Daviddynastie durchsetzen konnte. Es handelt sich dabei um den judäischen Landadel (am h¯a #a¯ ræs), . der bei Verschwörungen gegen den regierenden davidischen Herrscher (vgl. 2Kön 14,19–21; 21,23 f.) jeweils dafür sorgte, dass wieder ein Davidide die Thronfolge antrat (vgl.
70
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
auch die Mitwirkung des am h¯a#a¯ ræs. bei der Einsetzung des Davididen Joasch nach der Usurpation des Jerusalemer Thrones durch die Ahabschwester Atalja in 2Kön 11,18.20). 6.2.3.
Wichtigste Könige
6.2.3.1. Rehabeam (926–910) Bestimmt ist die Regierungszeit Rehabeams, des ersten judäischen Königs nach der Reichstrennung, von dauernden kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Nordreich (1Kön 14,30). Dabei ging es wohl weniger darum, das Nordreich wieder unter davidische Herrschaft zu bringen, als vielmehr die Nordgrenze des Südreichs so zu gestalten, dass Jerusalem nicht in direkter Reichweite des Nordreichs lag (vgl. oben 6.2.1.). Dafür, dass Rehabeam sich um eine militärische Absicherung des Gebietes des Südreiches bemühte, könnte auch die ihm vom Chronisten zugeschriebene Festungsliste 2Chr 11,5–12 (vgl. oben 6.2.1) sprechen (vgl. allerdings auch 6.1.1.). Nach der atl. Überlieferung (1Kön 14,25–28) fällt in das fünfte Jahr Rehabeams (anders Knauf: um 940/930; vgl. auch Donner und Schipper) der Palästinafeldzug des Pharao Schischak (= Scheschonq I.: 941–921 nach Jepsen; von den Ägyptologen wird üblicherweise – unter Zugrundelegung einer anderen Chronologie der judäischen Könige – seine Regierungszeit in die Jahre 945–924 datiert). Nach 1Kön 14,25–28 soll Schischak dabei sowohl den Schatz des Jerusalemer Tempels als auch den des Königspalastes erbeutet haben. Nach der Inschrift Schischaks (am großen Amun-Tempel in Theben-Karnak) sind jedoch bei diesem Feldzug das judäische Kernland und Jerusalem nicht berührt worden. Man erklärt diese Diskrepanz damit, dass Rehabeam sein Herrschaftsgebiet durch Tributleistung freigekauft habe (Donner), doch ist dies den Quellen nicht direkt zu entnehmen. 6.2.3.2. Joschafat (868–847) Mit dem judäischen König Joschafat kam insofern ein neues Element in die Politik des Südreichs, als die unter seinen Vorgängern üblichen kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Nordreich durch friedliche Beziehungen zwischen beiden Staaten abgelöst wurden (1Kön 22,45). Die Voraussetzung dafür lieferte wohl die Palästina und Syrien einbeziehende antiassyrische Bündnispolitik der Omriden (vgl. oben § 5.4.). In diesen Zusammenhang gehört auch die Verheiratung des Sohnes Joschafats, Joram, mit Atalja, der Schwester Ahabs (vgl. 2Kön 8,26 und auch die sekundäre Überlieferung von 8,18 und dazu oben § 5.4.2.1.). Bemerkenswert ist, dass die enge Beziehung zwischen Nord- und Südreich auch nach der Aufkündigung des syrisch-palästinischen Bündnisses gegen Assur
Die Königszeit
71
durch Hasael von Damaskus im Jahre 845 noch weiterbestand: So kämpft noch der Enkel Joschafats, Ahasja von Juda, als Bündnispartner des Nordreichs an der Seite von Joram von Israel gegen die Aramäer von Damaskus (2Kön 8,28). Allerdings hat Joschafat dieses Bündnis auf den außenpolitischen Bereich beschränkt. Bei seinen Außenhandelsunternehmungen, bei denen Schiffsexpeditionen von Ezjon-Geber nach Ofir (in Südarabien, vgl. Gen 10,29; vgl. auch die Ofir-Fahrten Salomos und dazu oben § 4.3.) zur Gewinnung von Gold geplant waren (1Kön 22,49), lehnte Joschafat eine Beteiligung des omridischen Königs Ahasja von Israel ab (1Kön 22,50). Trotz seines außenpolitischen Bündnisses mit den Omriden wird Joschafat daher von den dtr. Verfassern der Königsbücher positiv beurteilt (vgl. 1Kön 22,43; auch 22,46, wo die „Tüchtigkeit“ gebûr¯ah Joschafats gewürdigt wird). 6.2.3.3. Atalja (845–840) Als Folge der Einheirat der omridischen Prinzessin Atalja in die Familie der Davididen ist als besonderes Ereignis der judäischen Geschichte des 9. Jh. schließlich noch die Machtergreifung Ataljas nach dem Tode ihres Sohnes Ahasja von Juda in der Jehurevolution (2Kön 10,27 f.) zu erwähnen (2Kön 11,1–3). Voraussetzung für diese Usurpation war wohl die Macht, die ihr als „Mutter des Königs“ (2Kön 8,26) nach dem Tode ihres Sohnes zukam: Aufgrund von 1Kön 15,10.13 ist zu vermuten, dass der Mutter des Königs im Normalfall das Amt der „Gebira“ („Herrin“) zustand (vgl. auch 2Kön 10,13 für Isebel als Mutter Jorams von Israel), der im Falle eines frühen Todes des Königs die Aufgabe der Übergangsregierung zukam (vgl. auch 2Kön 9,30 ff. und zu den ugaritischen und hethitischen Parallelen Donner). Inwieweit die Aussage von 2Kön 11,1, dass Atalja versucht habe, alle Nachkommen des davidischen Königshauses zu beseitigen, historisch ist, ist umstritten. Jedenfalls lässt sich für ein solches Vorgehen kein politisches Ziel wahrscheinlich machen (Würthwein). Möglicherweise wird hier nur für den Umstand, dass im Zusammenhang der auf die Jehurevolution folgenden Wirren zahlreiche Mitglieder der davidischen Familie umkamen (vgl. u.a. 2Kön 10,13f.), Atalja verantwortlich gemacht. Umstritten ist ebenfalls, ob der Erwähnung eines unter Atalja existierenden Jerusalemer Baaltempels (2Kön 11,18) ein historischer Wert zuzuschreiben sei (vgl. dagegen Würthwein, der 2Kön 11,18 als Konstruktion von DtrN beurteilt). Beendet wird die sechsjährige Herrschaft Ataljas (845–840; vgl. 2Kön 11,3 f.) durch das Zusammenwirken der Vertreter der judäischen Bürger (vgl. „Hundertschaftsführer“ in 11,4.9.19) mit den Jerusalemer Priestern. Die Stellen, die an einen Putsch der Leibwache (vgl. „Karer und Läufer“ in 11,4.19) denken lassen,
72
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
dürften auf eine nachexilische Bearbeitung zurückgehen (Würthwein; anders Levin). Nach der alten Überlieferung setzen die Repräsentanten des judäischen Landadels unter Führung des Priesters Jojada (11,12) den erst siebenjährigen Prinzen Joasch (12,1) zum König ein (durch Krönung, Überreichung der Edut, Salbung und Akklamation; vgl. 11,12) und lassen gleichzeitig Atalja töten (11,20). 6.2.3.4. Asarja/Usija (787–736) Wie im Nordreich die Zeit Jerobeams II. (787–747) so bildet auch im Südreich die Zeit des gleichzeitig regierenden judäischen Königs Asarja (787–736; mit einer etwas kürzeren Regierungsdauer, die noch eine eigenständige Herrschaft Jotams von Juda ermöglicht, rechnet Würthwein) eine allgemeine Blütezeit (der in 2Kön 15,13.30.32.34 und in Jes 1,1 u. ö. gebrauchte Name Usija stellt möglicherweise den Thronnamen des Königs dar). Als besonders zu erwähnende Tat wird die Rückgewinnung des edomitischen Elat für Juda genannt (2Kön 14,22). Außerdem berichtet 2Kön 15,5 von einer Aussatz-Erkrankung des Königs, die dazu führte, dass sein Sohn Jotam bereits zu Lebzeiten des Königs die Regierungsgeschäfte führen musste (756–741). Die Vorstellung, dass es sich bei dem Aussatz um die Strafe Jahwes für einen kultischen Übergriff Asarjas handelt, findet sich allerdings erst in 2Chr 26,16–21. In der dtr. Beurteilung erhält Asarja dagegen ein durchweg positives Urteil (2Kön 15,3). 6.2.3.5. Ahas (741–726) Als Gegenspieler des Propheten Jesaja bei seiner Verkündigung im syrischephraimitischen Krieg ist schließlich Ahas von Juda (741–726) zu nennen. Das dtr. Urteil über ihn fällt in 2Kön 16,2–4 besonders negativ aus, wobei ihm vor allem Götzendienst vorgeworfen wird. Dieser Vorwurf hängt wahrscheinlich mit der Entscheidung des Ahas für ein Bündnis mit Assur im sog. syrisch-ephraimitischen Krieg zusammen. 6.2.4.
Der syrisch-ephraimitische Krieg (733)
Für die atl. Exegese ist der sog. syrisch-ephraimitische Krieg (= Krieg der Syrer/ Aramäer von Damaskus und von Nordisrael mit Hauptgebiet „Ephraim“ gegen Juda) insofern von besonderer Bedeutung, als zentrale Texte der atl. Schriftprophetie (vor allem Jes 7 f. und Hos 5,8–6,6) auf ihn Bezug nehmen. Der politische Zusammenhang, in dem der syrisch-ephraimitische Krieg zu sehen ist, wird allerdings in der neueren Forschung unterschiedlich beurteilt. Dabei ist von folgenden in 2Kön 16,5.7–9 genannten Fakten auszugehen: Im Jahre 733 greifen der König Rezin von Damaskus und der König Pekach von Israel (735–732) Jerusalem und seinen König Ahas von Juda an. Zur Abwehr dieses
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Angriffs schließt Ahas ein Bündnis mit dem assyrischen Großkönig Tiglatpileser III. (745–727). Als Folge davon zieht der assyrische König gegen Damaskus, erobert es, deportiert seine Bewohner und tötet seinen König. Die Eroberung von Damaskus erfolgte nach den assyrischen Quellen im Jahre 732. Es spricht einiges dafür, dass die in 2Kön 15,29 berichtete Eroberung von Galiläa und Gilead bereits im Jahre 733 erfolgt ist (anders Bickert; vgl. aber auch die Reihenfolge der Eroberungen Tiglatpilesers III. in seiner sog. Kleinen Inschrift [TGI2 Nr. 27]: Gaal’aza = Gilead, Abilakka = Abel Bet-Maacha, BitHaza #ili = Damaskus). Joachim Begrich hat diese Ereignisse in einen weltpolitischen Zusammenhang stellen wollen. Seiner Meinung nach sind Damaskus und Israel als Angehörige eines umfassenden antiassyrischen Bündnisses anzusehen, zu dem jedenfalls noch Gaza und Ägypten gehörten. Insofern vermutet Begrich, dass sich Tiglatpilesers Feldzug gegen Gaza von 734 v. Chr. auch gegen Israel gerichtet habe. Für einen solchen Zusammenhang gibt es jedoch weder in den assyrischen noch in den atl. Texten Anhaltspunkte, so dass der syrisch-ephraimitische Krieg besser als eine auf Damaskus, Israel und Juda beschränkte Auseinandersetzung anzusehen ist (vgl. Herrmann, Oded). Auf diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, dass Jesaja für Juda durchaus die Möglichkeit sah, sich gegen Damaskus und Israel zur Wehr zu setzen (vgl. Jes 8,6 f. und dazu Kilian), ohne assyrische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Nicht bei Jesaja thematisiert wird der Umstand, dass Bündnisse mit den Assyrern auch kultische Verpflichtungen gegenüber fremden Göttern nach sich ziehen. 6.2.5.
Die religionspolitischen Konsequenzen des Bündnisses zwischen Ahas und Assur von 733
Nach 2Kön 16,10–16 hat das in 2Kön 16,7 dargestellte judäisch-assyrische Bündnis einschneidende kultische Konsequenzen gehabt: Hier wird von einem Zusammentreffen des Ahas von Juda mit Tiglatpileser III. in Damaskus (vgl. 16,10 textus emendatus nach BHS) berichtet, nach dem Ahas den Bau eines neuen Altars im Tempel von Jerusalem anordnet. Zwar spricht 2Kön 16 nicht explizit von einer Übernahme des assyrischen Reichskultes, doch sind den assyrischen Quellen entsprechende assyrische Forderungen gegenüber ihren Vasallen zu entnehmen (Spieckermann). Die Angaben von 2Kön 16,10–16 sind auf diesem Hintergrund nach Spieckermann folgendermaßen zu interpretieren (anders Fritz): Ahas lässt den alten ehernen Altar an eine abgelegene Stelle des Jerusalemer Tempels verrücken (16,14), um dort – ohne größeres Aufsehen zu erregen – die von den Assyrern auferlegten Kulte durchführen zu lassen (u.a. die für die Assyrer besonders wichtige Opfer-
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schau; vgl. lebaqqer in 16,15b und dazu Würthwein). Für die israelitischen Opfer (vgl. 16,15a: Morgenbrandopfer und Speisopfer des Königs, Brandopfer und Speisopfer des Volkes) baut Ahas an der alten Stelle einen neuen Altar, um sich den Judäern gegenüber gleichzeitig als Förderer des Jahwekultes auszuweisen. Allerdings wird vom dtr. Autor der Königsbücher dieser Kompromiss von Einführung assyrischer Reichskulte und gleichzeitiger Förderung der Jahweverehrung scharf abgelehnt. Das besonders negative Frömmigkeitsurteil über Ahas in 2Kön 16,2–4 zeigt dies deutlich.
6.3.
Die Zeit der Alleinexistenz Judas (722–609 v. Chr.)
Die judäische Politik am Ende des 8. Jh. und im 7. Jh. wird im wesentlichen von drei Königen bestimmt: Hiskia (725–697), Manasse (696–642) und Josia (639–609). Die Regierungszeit Amons von Juda, der nach nur sehr kurzer Herrschaft (641–640) einer Verschwörung zum Opfer fiel, kann daher hier vernachlässigt werden. 6.3.1.
Hiskia (725–697)
6.3.1.1. Die außenpolitische Situation 6.3.1.1.1. Zeit des Assyrerkönigs Sargon II. (721–705): Die Übernahme der Herrschaft im Assyrerreich durch den Usurpator Sargon II. (721–705) hatte im Westen dieses Reiches eine Reihe von Aufständen gegen die assyrische Oberhoheit zur Folge. Für die Überlieferung ist vor allem der Abfall der Philisterstadt Aschdod (713–711) von Bedeutung (vgl. dazu vor allem das Prismenfragment Sargons, TUAT I, 381 f.). Offensichtlich hat sich Aschdod dabei um Koalitionen mit seinen Nachbarn, vor allem mit dem im Jahre 716 an die Macht gekommenen ägyptischen König Schabaka (716–702) bemüht, der aus der 25. nubischen Dynastie stammte (vgl. Kusch in Jes 20,3–5). Auch Juda stand damals vor der Entscheidung, sich diesem Aufstand anzuschließen, wie die in Jes 20 berichtete Symbolhandlung eines dreijährigen Nacktgehens Jesajas voraussetzt. Nach den assyrischen Dokumenten ist dieser Aufstand durch die assyrische Eroberung der Philisterstädte Aschdod und Gat (mit Deportation der Oberschicht und der Umwandlung der beiden Städte zu einer assyrischen Provinz unter einem Administrator) beendet worden. Hiskia von Juda blieb unbehelligt. Möglicherweise hat er aufgrund des Eingreifens Jesajas von Jes 20 rechtzeitig von Aufstandsüberlegungen Abstand genommen.
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6.3.1.1.2. Zeit des Assyrerkönigs Sanherib (704–681): Nach dem Tode Sargons II. im Jahre 705 kam es – wie vor allem dem Taylor-Zylinder des assyrischen Königs Sanherib (TGI2 Nr. 39; TUAT I, 388–390) zu entnehmen ist (vgl. jedoch auch Jes 28–32* und 2Kön 18–20) – zu einer breiten antiassyrischen Koalition, zu der Hiskia von Juda, die Philisterstädte Aschkelon und Ekron und mehrere phönizische Städte gehörten. Wie Jes 31,1.3 (vgl. auch 30,1–5, aber dazu auch Kilian) zeigen, wurden damals auch Bündnisverhandlungen zwischen Juda und Ägypten geführt (nach 2Kön 20,12–19 kam es möglicherweise auch zu Kontakten mit Babylonien). Erst im Jahre 701 konnte sich Sanherib den Aufständen im Westen zuwenden. Er unterwarf zunächst die phönizischen Städte. Nach einem Sieg über ein ägyptisches Hilfsheer gelang ihm dann die Eroberung der abtrünnigen Philisterstädte (Aschkelon und Ekron). Schließlich wurden auch die judäischen Landstädte (besonders erwähnt werden Libna [vgl. 2Kön 19,8] und Lachisch [vgl. 2Kön 18,17 und auch die Reliefbilder von der Eroberung Lachischs in Sanheribs Palast in Ninive]) eingenommen. Nachdem Jerusalem allein übriggeblieben war und von Sanherib belagert wurde, hat sich Hiskia offensichtlich unterworfen und durch einen hohen Tribut den Abzug Sanheribs von Jerusalem erkauft (vgl. TUAT I, 388–391, und auch 2Kön 18,13–16). Sanherib beließ Hiskia im wesentlichen nur den Stadtstaat Jerusalem, trennte das Land Juda ab und teilte es auf assyrertreue Philisterkönige in Gaza, Aschdod und Ekron auf. Jes 1,7–9 beschreibt diese Situation: Jerusalem ist wie eine „Hütte im Gurkenfeld“ übriggeblieben (wesentlich positiver wird in den Jesajalegenden 2Kön 18–20* die Nichteroberung Jerusalems als Wunder verstanden: vgl. 2Kön 19,35 f.). Inwieweit bereits unter Hiskia wesentliche Teile des judäischen Landes von den Philistern zurück gewonnen werden konnten, bleibt unklar. Möglicherweise ist jedoch die Notiz 2Kön 18,8 von einem Sieg Hiskias über die Philister auf eine solche Entwicklung zu beziehen (Gunneweg). 6.3.1.2. Innenpolitik 6.3.1.2.1. Baumaßnahmen: Nach dem archäologischen Befund ist es in der Regierungszeit Hiskias zu einer beträchtlichen Erweiterung Jerusalems gekommen: Wahrscheinlich wurde bereits unter ihm die sog. Neustadt („Mischne“) im Südwesten Jerusalems angelegt (möglicherweise im Zusammenhang der Aufnahme von Nordreichflüchtlingen). Bei diesen Baumaßnahmen ist wohl auch die Wasserleitung gebaut worden, von der die Annalennotiz von 2Kön 20,20 (vgl. auch die genaueren Angaben von 2Chr 32,30) als einer besonders bedeutenden Leistung Hiskias berichtet. Wahrscheinlich im Hinblick auf eine assyrische Belagerung hat Hiskia die außerhalb
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der Stadtmauer gelegene Gihonquelle durch einen ca. 513 m langen Felsentunnel in den innerhalb der Stadtmauern gelegenen Siloateich leiten lassen. Zur Feier der Vollendung dieses Tunnels wurde damals die Siloa-Inschrift (heute im AntikenMuseum in Istanbul) angebracht (vgl. zuletzt Renz/Röllig I, 178–189). 6.3.1.2.2. Kultreformen?: Als weitere alte Nachricht zur Innenpolitik Hiskias berichtet die Notiz von 2Kön 18,4, dass Hiskia den von Mose hergestellten Nechuschtan („Eherne Schlange“; vgl. Num 21,4–9) zerschlagen habe. Die Hintergründe für diesen Schritt Hiskias bleiben allerdings dunkel. Für eine umfassende Reformtätigkeit Hiskias sowohl auf kultischem als auch auf sozialem Gebiet (so Albertz) fehlen jegliche sicheren Anhaltspunkte (vgl. gegen eine Sozialreform Hiskias Crüsemann und gegen eine Kultreform Na’aman). 6.3.2.
Manasse (696–642)
Von Hiskias Nachfolger Manasse wird die längste Regierungszeit eines judäischen Herrschers (55 Jahre: 696–642) berichtet (der Verfasser der Chronikbücher erklärt in 2Chr 33,12 f. die lange Regierungszeit als Folge einer Bekehrung Manasses). Allerdings wird Manasse wegen seiner Religionspolitik vom dtr. Verfasser der Königsbücher sehr negativ beurteilt: Hinter dem Vorwurf einer besonders intensiven Übertretung des ersten Gebotes steht dabei wahrscheinlich die völlige Unterwerfung Manasses unter die assyrische Herrschaft und damit auch unter die assyrischen Kultforderungen (vgl. besonders 2Kön 21,5 Bau von Altären für das Heer des Himmels in beiden Tempelvorhöfen und dazu Spieckermann). Nach dem archäologischen Befund hat sich andererseits die Unterwerfung unter Assur für Juda wirtschaftspolitisch sehr positiv ausgewirkt. Hiernach kann durchaus von einer kulturellen Blüte Judas unter Manasse gesprochen werden. 6.3.3.
Josia (639–609)
6.3.3.1. Außenpolitische Situation Nach dem Tod des letzten großen assyrischen Königs Assurbanipal (668–ca. 630) kam es zu einem Erstarken der Meder (unter Kyaxares: 625–585) und der Neubabylonier (unter Nabopolassar: 626–605). Dies führte zu einem schnellen Niedergang des assyrischen Reiches: So wurde 614 die Stadt Assur durch die Meder und 612 die assyrische Hauptstadt Ninive durch eine neubabylonisch-medische Koalition erobert. Auch ein assyrischer Reststaat in Haran (unter Assuruballit II.) wurde 610 durch die Meder und die Neubabylonier besiegt. Allerdings gelang es 609 dem ägyptischen König Necho II. (610–595; aus der 26. saitischen Dynastie),
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Haran zurückzuerobern (vgl. 2Kön 23,29a: MT spricht hier irrtümlich von einem Kriegszug Nechos gegen den König von Assur) und Assuruballit für kurze Zeit wiedereinzusetzen. Diese Phase der ägyptischen Oberherrschaft über Syrien-Palästina endete jedoch bereits 605, als der neubabylonische Kronprinz Nebukadnezar bei Karkemisch am Nordlauf des Euphrat die Ägypter vernichtend schlug. Im Laufe des Niedergangs des assyrischen Reiches gelang es Josia, Judas Unabhängigkeit wiederherzustellen. Um sie 609 auch gegen Ägypten zu verteidigen, trat er nach 2Kön 23,29b Necho entgegen. Dabei wurde Josia bei Megiddo von Necho getötet: 2Chr 35,20–24 rechnet mit dem Tod Josias in einer Schlacht, doch ist dies der alten Notiz 2Kön 23,29b („der Pharao tötete ihn bei Megiddo, als er ihn sah“) nicht zu entnehmen: Wahrscheinlich wird die Ursache des Todes Josias um der Idealisierung des Königs willen von den Tradenten bewusst verschleiert (Würthwein). 6.3.3.2. Die Kultreform Josias Der in 2Kön 22f. überlieferte Bericht über die Hintergründe und die Durchführung der Josiareform setzt sich aus vier Teilen zusammen: 1.
22,3–13:
2. 3. 4.
22,14–20: 23,1–3: 23,4–24*:
Auffindung eines Gesetzbuches im Tempel (Kernbestand: vordtr. Bericht) Orakel der Prophetin Hulda (dtr. und spätdtr.) Bundesschluss Josias (spätdtr.) Bericht über die Reformmaßnahmen einschließlich der Feier des Passa (vordtr. Materialien in dtr. und spätdtr. Bearbeitung)
Unter den unter 4. dargestellten Reformen finden sich auch Maßnahmen, die ausschließlich der Rückgängigmachung assyrischer Kultauflagen dienen: So spricht 23,12 von der Beseitigung der zusätzlichen Altäre, die Ahas und Manasse wohl zugunsten des assyrischen Reichskultes (vgl. oben 6.2.5.) hatten errichten lassen. Auch das Verbrennen der Sonnenwagen (23,11) bezieht sich wahrscheinlich auf die Abschaffung von assyrischen Gestirnkulten. Gleiches gilt für die in 23,4 erwähnte Beseitigung der Kultgeräte für das Himmelsheer. Allerdings sind in dem Reformbericht auch eine Reihe von Maßnahmen genannt, die als Umsetzung von Forderungen des Deuteronomium anzusehen sind. So erwähnen 23,5.8 f.19 Kultzentralisationsmaßnahmen, wie sie in Dtn 12 gefordert wurden. Auch entspricht die in 23,7 berichtete Beseitigung der Kedeschen (Hierodulen) der Forderung von Dtn 23,18 f. In ähnlicher Weise steht die Verunreinigung des sog. Tofet im Hinnom-Tal (23,10) mit der dtn. Forderung nach
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Abschaffung der Kinderweihe (an Moloch) in Verbindung (Dtn 18,10 f.). Auch die in 23,21–23 erwähnte Passafeier in Jerusalem entspricht Dtn 16, wo das Passa als Fest am Zentralheiligtum verstanden wird (vgl. hierzu auch unten § 23.4.1.). Inwieweit mit der Historizität einer am Urdeuteronomium orientierten Kultreform des Josia zu rechnen ist, ist in der neueren Forschung strittig. So haben Würthwein, Kaiser und Gunneweg darauf hingewiesen, dass es sich bei dem vordeuteronomistischen Fundbericht von 2Kön 22,3–11* nicht um eine Geschichtserzählung, sondern um eine Ätiologie der Bedeutung des deuteronomischen Gesetzes handelt, die es als die Grundlage der letzten Glanzzeit des judäischen Königtums herausstellen will. Dafür, dass es zur Zeit Josias keine am deuteronomischen Gesetz orientierte umfassende Kultreform gab, spricht nach ihnen auch Jer 22,15 f.: In diesem in die Zeit Jojakims zu datierenden Spruch Jeremias wird an Josia nur gerühmt, dass er „Recht und Gerechtigkeit“ geübt habe. Von einer Kultreform Josias scheint ihm nichts bekannt zu sein. Aufgrund dieser Befunde ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass sich die kultischen Maßnahmen Josias auf die Beseitigung assyrischer Kultgegenstände und Kultstätten beschränkten. In gleicher Weise dürfte auch die Erzählung von der Entweihung des mit der „Sünde Jerobeams“ verbundenen Heiligtums von Bethel 2Kön 23,15 ff.* keinen historisch verifizierbaren Bericht darstellen (anders Koenen), sondern ad maiorem regis gloriam (so Spieckermann) verfasst worden sein, wie es überhaupt für eine Eroberung größerer Teile des Nordreiches durch Josia keine Belege gibt (schon gar nicht kann davon die Rede sein, dass Josia sich um eine Wiederherstellung des davidischen Großreiches bemüht habe). Die Leistung Josias besteht somit primär in der entschlossenen Reinigung des israelitischen Glaubens von den assyrischen Kulten. Insofern hat er in der israelitischen Kultgeschichte zu Recht den Titel des Kultreformers erhalten – ganz gleich, ob er sich dabei schon an den umfassenderen Vorstellungen der deuteronomischen Bewegung von Kulteinheit und Kultreinheit orientierte oder noch nicht.
6.4.
Ausgewählte Literatur
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Karte 3: Ägypten und die Sinai Halbinsel z. Zt. des Exodus (aus: H. Donner, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen 1, Göttingen 32000, S. 107)
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Kapitel 3: Die die Identität „Israels“ bestimmenden Traditionen der Königszeit
§7
Die Mosetradition
7.1.
Die Moseüberlieferung
7.1.1.
Der Befund
In seiner „Überlieferungsgeschichte des Pentateuch“ (1948) hat Martin Noth darauf hingewiesen, dass die Mosegestalt in den Büchern Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium im Zusammenhang von vier Pentateuchthemen vorkommt: 1. 2. 3. 4.
Herausführung aus Ägypten (Ex 1–15) Führung in der Wüste (Ex 15,22–18,27 und Num 10,11–20,13) Offenbarung am Sinai (Ex 19,1 – Num 10,10) und Hineinführung in das Kulturland (Num 20,14 – Dtn 34,12).
Eine ursprüngliche Verhaftung der Mosegestalt meinte Noth aber nur im Bereich des Themas „Hineinführung in das Kulturland“ feststellen zu können. Seiner Meinung nach deutet die am Westrand des moabitischen Gebirges zu lokalisierende Grabtradition von Beth-(Baal-) Peor (Dtn 34,1–6 P/Dtr) darauf hin, dass „Mose geschichtlich wohl in den Zusammenhang der Vorbereitungen der Landnahme der mittelpalästinischen Stämme hineingehören“ muss. In der neueren Pentateuchforschung hat sich das Problem der Rückfrage nach dem „historischen Mose“ noch verschärft, da die Existenz von Pentateuchquellen, die aus der frühen bzw. mittleren Königszeit stammen, in Frage gestellt ist. Von daher ist Ausschau zu halten nach Moseüberlieferungen außerhalb des Pentateuch, die eine eindeutigere Datierung ermöglichen. Dabei zeigt sich, dass die Erwähnungen Moses im Psalter durchweg aus der Nachexilszeit stammen (vgl. u. a. Ps 77,21; 90,1; 99,6 f.; 103,7), wobei einzelne
Identität „Israels“ und Traditionen der Königszeit
83
Psalmen wahrscheinlich bereits die heute vorliegende Gestalt des Pentateuch (nach RJEP) voraussetzen (vgl. u. a. Ps 105,26; 106,16.23.32f.). Nicht weiter führen auch die von den deuteronomistischen Redaktionen stammenden Mosestellen des Deuteronomistischen Geschichtswerks. Hier wird mehrfach auf das „Buch der Tora des Mose“ Bezug genommen (vgl. u. a. Jos 8,31; 23,6; 2Kön 14,6; letztere Stelle übernommen in 2Chr 25,4), wobei durchweg das deuteronomische Gesetz gemeint ist. Inwieweit der Hinweis in 2Kön 18,4, dass der judäische König Hiskia die „Eherne Schlange“ zerschlug, die Mose gemacht hatte und der die „Israeliten“ in der Königszeit räucherten, eine alte Mosetradition darstellt, ist umstritten (vgl. Würthwein). Möglicherweise stammt die Rückführung der „Ehernen Schlange“ auf Mose erst von einem spätdeuteronomistischen Redaktor, der gleichzeitig in Num 21,4–9 von der Herstellung einer Heilung bringenden Schlangenplastik durch Mose berichtet und dadurch eine „Entmythisierung“ der kanaanäischen Schlangengottheiten vornimmt (vgl. Van Seters) und die Verehrung dieses Schlangenbildes durch die späteren Israeliten als „Götzendienst“ (vgl. „räuchern“ in 2Kön 18,4) verwirft (zur spätdeuteronomistischen nachpriesterschriftlichen Entstehung von Num 21,4–9 vgl. Aurelius, aber auch Seebass und Beyerle). Auf einen spätdeuteronomistischen Bearbeiter gehen wohl auch die beiden Stellen des Richterbuches zurück, die von einem „kenitischen“ Schwiegervater Moses sprechen (Ri 4,11; 1,16). Jedenfalls dürfte die Überlieferung von der Verschwägerung des Mose mit den „Midianitern“ (vgl. Ex 2–4*; 18*; Num 10,29–32) die ältere Überlieferung darstellen. Dagegen scheint sich alte Überlieferung in einer anderen Aussage des Richterbuches zu spiegeln. So setzt der deuteronomistische Verfasser von Ri 18,30 (vgl. hierzu Veijola, auch Niemann; anders zuletzt Becker) voraus, dass das ursprüngliche Priestergeschlecht des Heiligtums von Dan auf Gerschom, den Sohn Moses (Sohn Manasses stellt – wie das nun suspensum im Masoretischen Text zeigt – eine späte dogmatische Korrektur dar), zurückgeht. Hier zeigt sich bemerkenswerterweise eine deutlich im Nordreich verankerte Moseüberlieferung. Des weiteren ist bemerkenswert, dass dieser Zusatz „für die Zeit der Existenz des Staates Israel in Dan eine Stammespriesterschaft von Gerschomiten“ bezeugt, „die für sich – mit welchem Recht auch immer – ‚levitische‘ Herkunft in Anspruch nahmen“ (Noth): Könnte dies darauf hindeuten, dass die Mosetradition vor allem in nordisraelitischen Levitenkreisen tradiert wurde? Zu einem ähnlichen Ergebnis führt nun die Durchsicht der Prophetenbücher auf alte Zeugnisse für die Mosegestalt: Der Großteil der relativ wenigen Erwähnungen Moses in den Prophetenbüchern stammt aus exilisch-nachexilischer Zeit (vgl. Jes 63,11; Jer 15,1; Mi 6,4; Mal 3,22). Bei der vorexilischen Prophetie wird Mose nur von dem im Nordreich beheimateten Propheten Hosea erwähnt
84
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
(Hos 12,14; zur Authentizität dieser Stelle vgl. Schmitt). Zwar wird hier Mose nicht direkt mit Namen genannt, doch kann mit dem „Propheten“, durch den Jahwe Israel aus Ägypten führte, nur Mose gemeint sein. Dass Hosea die Exodustradition kennt, zeigen im übrigen auch Hos 11,1 („Aus Ägypten rief ich [= Jahwe] meinen Sohn“) und 12,10; 13,4 („Ich bin Jahwe, dein Gott, vom Land Ägypten her“). Auch hinter Hos 9,10 (hier wird Jahwes Erwählung als ein Finden Israels in der Wüste dargestellt) dürfte eine Mosetradition stehen: 9,10b nimmt nämlich auf die in Num 25,1 ff. überlieferte Moseerzählung vom Götzendienst in Baal Peor Bezug, wobei im Bereich des ostjordanischen Baal Peor auch das Mosegrab zu suchen ist (vgl. oben). Dagegen lässt sich bei dem aus dem Südreich ins Nordreich gekommenen Amos eine Kenntnis der Exodustradition nicht mit Sicherheit nachweisen (vgl. Jeremias). Gleiches gilt für die Südreichpropheten des 8. Jh., Jesaja und Micha. Offensichtlich hat die Mosetradition zunächst nur im Nordreich größere Beachtung gefunden, und zwar vor allem in levitischen und auch in prophetischen Kreisen. 7.1.2.
Zur Auswertung des Befundes
Die Moseüberlieferung liegt somit nicht – wie noch Noth in seiner „Überlieferungsgeschichte des Pentateuch“ vermutete – in einer Entwicklungsstufe der Richterzeit vor, sondern wird für uns erst als Tradition der ausgehenden Königszeit greifbar. Dies macht die immensen Schwierigkeiten deutlich, die bei dem Versuch entstehen, den historischen Kern der Moseüberlieferung zu rekonstruieren. Dies kann im Folgenden nur so geschehen, dass man die vorpriesterliche und vordeuteronomistische Überlieferung der Bücher Exodus, Numeri und Deuteronomium auf alte Mosetraditionen hin untersucht und sie auf ihre zeitgeschichtlichen Bezüge befragt. Wir beginnen mit der Frage nach den historischen Hintergründen der Exodusüberlieferung (7.2.), wenden uns dann der „Gottesberg“- bzw. Sinaiüberlieferung zu (7.3.). Des Weiteren ist die Wüstenwanderungstradition (7.4.) und die Landnahmeüberlieferung des Numeribuches (7.5.) zu befragen. Abschließend wird das Problem des ursprünglichen Haftpunktes der Mosegestalt zu diskutieren sein (7.6)
7.2.
Die historischen Hintergründe der Exodusüberlieferung
7.2.1.
Nomadische Gruppen aus Palästina in Ägypten
Das AT erklärt die Anwesenheit der Exodusgruppe in Ägypten durch die Josefsgeschichte (Gen 37–50*), in der von der Übersiedlung Jakobs und seiner Söhne nach Ägypten (vgl. vor allem Gen 47,4 ff.) berichtet wird. Als Grund für diese
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Übersiedlung nennt die Josefsgeschichte eine auf eine Dürre zurückgehende Hungersnot (41,30ff.; 47,4 ff.). Auch sonst berichtet die Genesis von Übersiedlungen nach Ägypten aufgrund von Hungersnöten (Gen 12,10 ff.; vgl. 26,1 f.). Diese atl. Überlieferung wird durch ein ägyptisches Originaldokument bestätigt. Im Brief eines Grenzbeamten aus der Zeit Sethos’ II. (um 1200–1194 v. Chr.), der im Papyrus Anastasi VI (Z. 51–61) erhalten ist (vgl. TGI2 Nr. 16), wird davon berichtet, dass man Schasu-Nomaden nach Ägypten einwandern lässt, um sie und ihr Vieh offensichtlich während einer Dürre am Leben zu erhalten. Als Gebiet, in das die Schasu eingelassen werden, wird die Gegend um die Stadt _tkw (= hebr. Sukkoth = tell ret¯abe; vgl. Ex 12,37) genannt, d.h. den Bereich um das w¯adi et-tum¯el¯at, der wohl mit dem in der Josefsgeschichte genannten „Land Goschen“ (Gen 46,28; 47,4) zu identifizieren ist. Auch wenn man die Josefsgeschichte als Novelle nicht unmittelbar als Geschichtsquelle auswerten darf, ist dieses Bild, das sie von der Übersiedlung nomadischer Gruppen vermittelt, wohl historisch zutreffend. Gleiches dürfte auch von der Überlieferung von Ex 1,11 ff.* gelten, nach der die eingewanderte Nomadengruppe zu Frondiensten herangezogen wurde. Allerdings ist der Einsatz von eingewanderten Schasugruppen bei staatlichen Bauarbeiten der Ägypter bisher nicht belegt. In einem Musterbrief aus der Zeit Ramses II. (1279–1213) wird lediglich von cApiru (Asiaten, die als eine Art „outlaws“ aus ihrer ursprünglichen staatlichen sozialen Struktur ausgeschieden sind) berichtet, die bei Bauarbeiten eingesetzt wurden (vgl. TGI2 Nr. 12 D). Ex 1,11b (eine möglicherweise späte gelehrte Notiz; vgl. Engel, Schmitt, Knauf) berichtet davon, dass die Exodusgruppe beim Bau der Städte Pitom (= Pr-Itm = „Haus des Atum“, gemeint ist wahrscheinlich der Atumtempel von Sukkot) und Ramses (= die Deltaresidenz der Ramessiden der 19. und 20. Dynastie, die nach Bietak auf einem Gelände von ca. 10 km2 Ausdehnung zwischen tell ed. dab . a [Auaris] und qantir, ca. 60 km westlich des Suezkanals, zu suchen ist) herangezogen wurde. Sollte diese Notiz einen historischen Kern besitzen, dann kann anhand der Bauarbeiten an der Ramsesstadt Ramses II. (1279–1213) als Pharao der Unterdrückung erschlossen werden. Die vorliegenden archäologischen Befunde deuten jedenfalls auf eine intensive Bautätigkeit an der Ramsesstadt zur Zeit Ramses’ II. hin. Als älteste Überlieferung vom Auszug der Exodusgruppe wird meist die Notiz von Ex 14,5a (E?; vgl. „König von Ägypten“ wie in Ex 1,15 ff. E) angesehen, nach der sich die „israelitische“ Gruppe dem Frondienst durch Flucht entzogen habe. Die Überlieferung von den ägyptischen Plagen, die Verhandlungen mit dem Pharao über den Auszug voraussetzt, stellt demgegenüber ein junges Element dar. Genauere Anhaltspunkte dafür, wann es zu dieser Flucht gekommen ist, liegen bisher nicht vor. Meist denkt man an die Zeit des Pharao Merenptah
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(1213–1204). Die Tatsache, dass er in der Stele aus seinem 5. Regierungsjahr (1208) davon berichtet, dass „Israel“ verwüstet ist und keinen Samen hat (vgl. TUAT I, 552), spricht nicht dagegen, da das hier genannte „Israel“ offensichtlich eine im nördlichen Palästina beheimatete Größe (determiniert mit dem Zeichen für eine ethnische Größe) darstellt und daher nicht mit der Exodusgruppe in Verbindung gebracht werden kann (vgl. auch unten § 9.2.). 7.2.2.
Der Ort des Meerwunders
Nach Ex 14 (P/J) kam es beim Auszug der Exodusgruppe zu einem Zusammentreffen mit einer ägyptischen Streitwagenabteilung, die auf unerwartete Weise im Meer versank. Dass diese Streitwagen durch den Pharao selbst befehligt wurden und dass die Israeliten – so die priesterschriftliche Darstellung – durch ein sich zu Mauern stauendes Meer zogen, stellen dabei jüngere Traditionsentwicklungen dar. Umstritten ist in der Forschung, wo der Ort des Meerwunders zu suchen ist. Die priesterschriftliche Darstellung lokalisiert das Meerwunder in der Gegend von Baal-Zafon. Hierbei handelt es sich um einen Hügel in der Nähe des Westendes des „Sirbonischen Sees“ (sab at el-berdaw¯ıl), der eine Lagune des Mittel. h¯ ˘ diesem Hügel (mons Casius) wurde in helmeeres darstellt (anders Bietak). Auf lenistisch-römischer Zeit Zeus Kasios (als Nachfolger des Baal Zafon) verehrt (vgl. Fauth). Eine Lokalisierung des Meerwunders im Bereich des Sirbonischen Sees legt sich insofern nahe, als die Gefährlichkeit dieses Gebietes in der Antike gut bezeugt ist. So stellt Diodor (Bibl. Hist. 1,20) im 1. Jh. v. Chr. zum Sirbonischen See folgendes fest: In ihn „wird viel Sand hineingewirbelt, wenn anhaltende Südwinde wehen. Der macht das Wasser für das Auge unerkennbar und lässt den See unmerklich ins Festland übergehen, so dass man ihn davon gar nicht unterscheiden kann. So sind auch schon viele … mit ganzen Heeren untergegangen … Denn der Sand … täuscht die darüber Gehenden …, bis sie endlich die drohende Gefahr ahnen und sich zu helfen suchen, wo doch keine Flucht und Rettung mehr möglich ist. Denn der vom Sumpf Verschlungene kann weder schwimmen, da der Schlamm die Bewegung des Körpers unmöglich macht, noch kann er heraussteigen, da er nichts Festes zum Darauftreten hat.“ (Übersetzung nach Fohrer). Gleichzeitig werden mit der Gegend um den Sirbonischen See Seebeben in Verbindung gebracht, wie ein Bericht des um die Zeitenwende lebenden Geographen Strabo (Geographica I,58) zeigt: „Als wir in dem ägyptischen Alexandria weilten, wurde … bei dem Kasionberg das Meer emporgehoben, überschwemmte das Land und machte den Berg zu einer Insel …“ (Übersetzung wieder nach Fohrer). Inwieweit es sich bei der Lokalisierung am Sirbonischen See um eine historisch verlässliche Tradition handelt (so Fohrer, der allerdings Ex 14,1–3 der von
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ihm postulierten alten „Nomadenquelle“ zuweist) oder ob hier eine späte gelehrte Konstruktion der Priesterschrift aufgrund des Wissens um die Gefährlichkeit des Sirbonischen Sees vorliegt (so Noth), bleibt umstritten. Eine andere Bestimmung des Ortes des Meerwunders nimmt Ex 13,18 (E?) vor. Danach fand das Meerwunder am „Schilfmeer“ (jam sûp) statt. Nun bezeichnet das „Schilfmeer“ in 1Kön 9,26 den Golf von Aqaba (vgl. auch schon im Pentateuch Num 14,25; 21,4; Dtn 1,40; 2,1). Antonius H.J. Gunneweg, der die Meinung vertritt, dass das Meerwunder als Teil der Sinaitradition zu verstehen sei, hält daher eine Ansetzung des Meerwunders am Golf von Aqaba für historisch wahrscheinlich. Andererseits kann „Schilfmeer“ durchaus auch auf andere Teile des „Roten Meeres“ bezogen werden: So ist das „Schilfmeer“, in das nach Ex 10,19 Jahwe die Heuschrecken durch einen Westwind treiben lässt, wohl das Rote Meer oder der Golf von Suez mit seinen nördlichen Ausläufern. Somit kann das Schilfmeer in Ex 13,18 durchaus auch auf das Gebiet des Golfes von Suez, der Bitterseen und des Ballahsees (vgl. auch Bietak) bzw. des Krokodilsees bezogen werden (eine genauere Lokalisierung erweist sich dabei allerdings als unmöglich). Für eine Trennung von Exodus- und Schilfmeertradition liegt somit jedenfalls kein Anhaltspunkt vor (gegen Gunneweg). 7.2.3.
Der Gott des Exodus
Antonius H.J. Gunneweg hat ebenfalls die These vertreten, dass in der frühen Exodustradition nicht von Jahwe, sondern von einem dem Gott der Erzväter entsprechenden „Gott des Mose“ die Rede sei. Der Gott Jahwe gehöre in die Sinaitradition und habe ursprünglich mit dem Exodus in keiner Beziehung gestanden. Gegen diese These spricht jedoch schon, dass die Bezeichnung „Gott des Mose“ in der alten Moseüberlieferung nicht bezeugt ist. Zudem ist schon die mit dem Auftrag der Herausführung aus Ägypten verbundene Tradition von der Berufung des Mose (Ex 3,1 ff.) auf Jahwe bezogen. Auch wird im Mirjamlied (Ex 15,21b) das Meerwunder, das (wie in 7.2.2. gezeigt) zur Exodustradition zu rechnen ist, auf Jahwe zurückgeführt (allerdings wird in der neueren Forschung das hohe Alter des Mirjamliedes in Frage gestellt: Ist das Mirjamlied nicht ursprünglich nur der Refrain des Meerliedes Ex 15,1–18?, vgl. u. a. Scharbert).
7.3.
Die alte Gottesberg- und Sinaiüberlieferung
7.3.1.
Die Lokalisierung des Sinai
Die christliche Überlieferung sucht seit dem 4. Jh. (vgl. vor allem den Reisebericht der Nonne Etheria 1,1–6,4; vgl. hierzu Donner) den Gottesberg der Mose-
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überlieferung auf der seitdem so genannten Sinaihalbinsel (der Gottesberg wird dabei mit dem 2292m hohen gˇebel m¯us¯a auf der südlichen Halbinsel identifiziert). Dagegen hat die historische Forschung die in Ex 19,18 J dargestellten vulkanischen Erscheinungen (Rauch, Feuer, Erdbeben) bei der Sinaitheophanie zum Anlass genommen, den Gottesberg in dem Gebiet südöstlich des Golfes von Aqaba zu suchen. Hier ist nämlich in historischer Zeit noch vulkanische Tätigkeit bezeugt (vgl. zuletzt Noth, Gese, Gunneweg). Doch ist in neuerer Zeit darauf hingewiesen worden, dass Rauch, Feuer und Erdbeben nicht unbedingt historische Elemente der Sinaitheophanie darstellen müssen und dass somit aufgrund von ihnen auch nicht direkt auf einen vulkanischen Charakter des Gottesberges zurückgeschlossen werden kann (vgl. nur Donner). Dies wird dadurch bestätigt, dass die in Ex 19,2b–3a.10–19* vorliegende älteste Sinaitheophanie – Darstellung gleichzeitig auch Gewitterphänomenebeschreibt. Auch der Versuch, mit Hilfe des Stationenverzeichnisses der Wüstenwanderung in Num 33,11–36 die alttestamentliche Vorstellung von der Lage des Sinaiberges zu erschließen, schlägt fehl, weil alle in der Nähe des Sinai gelegenen Orte sich als nicht lokalisierbar erweisen. Die brauchbarsten Hinweise auf die Lage des Sinai ergeben sich noch aus den Theophanieschilderungen des Mosesegens (Dtn 33,2: „Jahwe kommt vom Sinai, von Seir leuchtet er für sie auf“) und des Deboraliedes (Ri 5,4 f.: „Jahwe, als du auszogst von Seïr, als du einherschrittest vom Gefilde Edoms …, da wankten die Berge vor Jahwe …“ [mit der Glosse: „das ist der Sinai“]). Beide nehmen an, dass der Sinai im Bereich Edoms (= „Seïr“) liegt und daher südlich des Toten Meeres zu suchen ist. Genauere Angaben sind der biblischen Überlieferung nicht zu entnehmen (vgl. nur das Diktum von Wellhausen: „Wo der Sinai gelegen hat, wissen wir nicht und die Bibel ist sich schwerlich einig darüber; das Streiten über die Frage ist bezeichnend für die Dilettanten“). 7.3.2.
Die religionsgeschichtlichen Bezüge der Sinai-/Gottesbergüberlieferung
Auch wenn eine genaue Lokalisierung des biblischen Sinai nicht möglich ist, so können doch eine Reihe von religionsgeschichtlichen Gegebenheiten, mit denen die älteste Sinaiüberlieferung in Zusammenhang steht, erkannt werden. Zunächst machen sowohl Dtn 33,2 als auch Ri 5,4 f. deutlich, dass der Sinai den ursprünglichen Haftpunkt der Offenbarung Jahwes darstellt. Damit wird die Überlieferung von Ex 3 bestätigt, nach der Mose der Jahwename am Gottesberg (= Sinai; in der dtn.-dtr. Überlieferung: Horeb) offenbart wurde. Ex 3,1 ff. ist des weiteren zu entnehmen, dass dieser Gottesberg im Bereich des Weidegebietes der Midianiter liegt. Aus Ex 18,12 ist eventuell sogar zu schließen,
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dass es eine gemeinsame Jahweverehrung (Opfergottesdienste) zwischen Midianitern und „Israeliten“ gegeben hat. Von daher spricht einiges für die sog. „Midianiterhypothese“, nach der Jahwe vor den „Israeliten“ bereits von den Midianitern verehrt wurde. Bestätigt wird diese Hypothese von einem vorisraelitischen „Jahwe“ durch ägyptische Inschriften im nubischen Soleb aus der Zeit Amenophis III. (1390– 1353). Hier wird ein „Land der Schasu (Nomaden) von Yhw#“ genannt (vgl. Herrmann; auch Giveon). Besonders zu beachten ist, dass in einer entsprechenden Inschrift in dem ebenfalls nubischen Amara-West aus der Zeit Ramses II. das „Land der ‚Jahwe‘-Nomaden“ zusammen mit dem „Land der Schasu von Scrr (Nomaden von Seïr)“ erwähnt wird, so dass ähnlich wie in Dtn 33,2; Ri 5,4 f. auch hier der Jahwename mit dem Gebiet südlich des Toten Meeres in Verbindung gebracht wird (anders Pfeiffer). Unsicher ist allerdings, ob „Jahwe“ in diesen ägyptischen Inschriften eine Person, ein Ort, eine Landschaft, ein Berg oder ein Gott ist, doch gibt es im Bereich der altorientalischen Geographie viele Beispiele dafür, dass ein Name gleichzeitig eine Gottheit und einen Berg (bzw. eine Landschaft) bezeichnen kann. Jedenfalls besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass wir in den Inschriften von Soleb und AmaraWest für das 14./13. Jh. v. Chr. ein vorisraelitisches Zeugnis des alttestamentlichen Gottesnamens besitzen. Das, was für den biblischen Jahwe charakteristisch ist (Monolatrie, anikonischer [= bildloser] Kult) ist allerdings vor der Sinaioffenbarung an „Israel“ nicht zu fassen. Religionshistorisch wird die Geschichte Jahwes erst beschreibbar, nachdem er der Gott Israels geworden ist. 7.3.3.
Die alten Elemente der Tradition von der Sinaioffenbarung
Die Pentateuchüberlieferung von Ex 18 – Num 10 bringt mit der Sinaioffenbarung drei Elemente in Verbindung: 1. 2. 3.
die Offenbarung des Gesetzes (vgl. nur Ex 20,1–17: Dekalog; Ex 20,22 – 23,33:Bundesbuch; Ex 25 – Num 10: priesterliche Gesetzgebung) den Bundesschluss (vgl. vor allem Ex 24,3–8) die Theophanie (vgl. vor allem Ex 19,10–19*)
Die literarhistorische Forschung (vgl. vor allem Perlitt) hat gezeigt, dass sowohl die Gesetzesmaterialien als auch die Bundesschlussvorstellung erst im Zusammenhang einer deuteronomisch-deuteronomistischen Bearbeitung der Sinai/ Gottesberg-Überlieferung in Ex 18 – Num 10 eingefügt wurden. Lediglich die Theophanie Jahwes stellt somit ein altes Traditionselement der Sinaiüberlieferung dar (vgl. dazu auch Ri 5,4 f.; Dtn 33,2).
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Bei der Theophaniedarstellung in der alten Sinaitradition verbinden sich dabei Gewitter- und Vulkanphänomene (vgl. Ex 19,10–19*), was es unmöglich macht, den „Jahwe“ vom Sinai dem Typus eines „Wettergottes“ zuzuordnen (gegen Knauf). Gegen das Verständnis des Sinaigottes Jahwe als eines „Wettergottes“ sprechen die von Jeremias (19772) herausgearbeiteten Unterschiede zwischen den Sinaitheophaniedarstellungen und den von der Wettergott-Tradition beeinflussten hymnischen Theophanieschilderungen. Mit „Jahwe“ vom „Sinai“ tritt nicht einfach ein bereits bekannter Göttertyp in die altorientalische Religionsgeschichte ein, vielmehr dürfte sich mit ihm von Anfang an eine Gottesvorstellung verbinden, für die sich später die Forderungen der Monolatrie und der Bildlosigkeit der Jahweverehrung als charakteristisch erwiesen.
7.4.
Die alte Wüstenüberlieferung
7.4.1.
Typische Wüstenerfahrungen
Befreit man die in Ex 15–17* und in Num 10–20* vorliegende Tradition von der Wüstenwanderung der Israeliten vor und nach der Sinaioffenbarung von den durch die Pentateuchquellen eingeführten theologischen Elementen, so stößt man auf folgende drei vorgegebene Themen: a) b) c)
Rettung vor Durst in der Wüste (vgl. nur das Wunder von „Wasser aus dem Felsen“ in Ex 17,1 ff.* und in Num 20,1 ff.*) Rettung vor Hunger in der Wüste (vgl. nur Ex 16* „Manna und Wachteln“ und Num 11* „Wachteln“) Rettung vor Feinden in der Wüste (vgl. nur den „Kampf gegen die Amalekiter“ in Ex 17,8–16*)
Diese Traditionen beziehen sich somit ausschließlich auf typische Wüstenerfahrungen, die nicht historisch zuzuordnen sind. 7.4.2.
Die Kadesch-Überlieferung
Nach Auffassung einiger Forscher (vgl. u. a. Herrmann, Gunneweg) steht jedoch hinter der Überlieferung vom Aufenthalt der Israeliten in Kadesch (vgl. vor allem Num 13,26; 20,1; die Langform dieses Ortsnamens „Kadesch-Barnea“ findet sich in Num 32,8; 34,4; Dtn 1,2.19; 2,14; 9,23; Jos 10,41; 14,6.7; 15,3) eine historische Erinnerung. Dabei nimmt man an, dass die Vermittlung des Jahweglaubens an die israelitischen Südstämme über Kadesch erfolgt sei. Allerdings lässt sich Kadesch bestenfalls als Ort des Grabes der Mirjam (Num 20,1) wahrschein-
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lich machen. Dagegen findet sich die Vorstellung, dass sich Israel lange Zeit in Kadesch aufgehalten habe (Dtn 1,19.46; 2,14), erst in später Überlieferung. Gleiches gilt wohl auch für die Lokalisierung der Kundschaftergeschichte (Num 13,26) in Kadesch (Jericke; anders L. Schmidt) und für die der Gesandtschaft des Mose zum König von Edom (Num 20,14).
7.5.
Landnahmeüberlieferungen im Pentateuch
7.5.1.
Landnahme in Juda
In der vorpriesterlichen Kundschaftererzählung von Num 13 f.* ist in Num 13,22–24* ein altes – wohl kalebitisches – Überlieferungsstück erhalten, das von der Entdeckung der Fruchtbarkeit des Siedlungsgebietes der Kalebiter um Hebron berichtet. Möglicherweise liegt diesem Text die Überlieferung von einer kalebitischen Einwanderung aus dem Negev in das Gebiet um Hebron zugrunde (vgl. Fritz). Dagegen dürfte es sich bei dem Bericht über die Eroberung der judäischen Stadt Horma in Num 21,1–3 um einen erst spätdeuteronomistischen Zusatz handeln (vgl. ähnlich auch Num 14,40–45), der auf keine alte Überlieferung zurückgeht. 7.5.2.
Landnahme im Ostjordanland
Bei den Berichten von Num 21,21–35 über die Siege gegen Sihon von Heschbon und Og von Baschan handelt es sich – wie die Abhängigkeit des Heschbonliedes von Num 21,27–30 gegenüber Jer 48,45 f. zeigt (Schmitt) – um eine erst späte nachprophetische Überlieferung. Dagegen liegt im Grundbestand von Num 32* (vgl. hierzu Schorn) eine alte Überlieferung von der Landnahme der Stämme Ruben und Gad im Ostjordanland vor. Mit dieser Überlieferung dürfte auch die Tradition (Dtn 34,1ff.*) vom Grab Moses im Gebiet von Nebo (nach Num 32,37f. gehört Nebo zum Siedlungsgebiet Rubens) in Beziehung stehen. In welchen anderen Zusammenhängen die Mosegestalt ursprünglich ist, ist allerdings in der neueren Forschung umstritten.
7.6.
Die Mosegestalt und ihr ursprünglicher Haftpunkt
7.6.1.
Das ostjordanische Mosegrab als ursprünglicher Haftpunkt der Mosegestalt
In seiner „Überlieferungsgeschichte des Pentateuch“ (1948) hat Martin Noth die Auffassung vertreten, dass nur die Vorstellung vom ostjordanischen Mosegrab
92
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(Dtn 34,1 ff.*) als alte Mosetradition angesehen werden kann. Zwar stelle auch die Vorstellung, dass Mose mit einer ausländischen Frau verheiratet war, eine alte Überlieferung dar. Doch könne der historische Kontext, in den diese Heirat des Mose hineingehöre, nicht mehr rekonstruiert werden. Dafür lägen zu unterschiedliche Überlieferungen über ihre Herkunft vor (Ex 2,16–22; 3,1ff.: Tochter des Priesters von Midian; Ri 4,11: Keniterin; Num 12,1: Kuschitin). Auch zeigten sowohl die Exodustradition als auch die Sinaiüberlieferung, dass Mose erst sekundär in sie aufgenommen wurde (vgl. die erst späte Einführung Moses in Ex 5,20 ff. und die Überflüssigkeit Moses in der Gottesschauszene der Sinaidarstellung von Ex 24,1*.9–11, in der die 70 Ältesten die eigentlich handelnden Personen bildeten). 7.6.2.
Die ursprüngliche Verhaftung der Mosegestalt in der Exodusüberlieferung
Die weitere Forschung hat die von Noth vertretene These, dass sich die Mosetradition aus der Überlieferung von einem (später unbekannten) Mosegrab entwickelt habe, weitgehend abgelehnt und sich daher bemüht, weitere ursprüngliche Bezüge der Mosegestalt nachzuweisen. Ausgegangen ist man dabei vor allem vom Namen „Mose“, bei dem es sich um die Kurzform eines ägyptischen Namens wie Thutmose, Ramose, Ahmose („Der Gott N.N. hat ihn gezeugt“) handelt. Auch ist man darauf aufmerksam geworden, dass Asiaten in Ägypten häufig ägyptische Namen angenommen haben. Ein Mitglied der Exodusgruppe kann daher mit hoher Wahrscheinlichkeit einen ägyptischen Namen wie „Mose“ getragen haben (vgl. hierzu Metzger und Gunneweg). Dagegen erklärt sich die späte Einführung des Mose in Ex 5 als Stilmittel und stellt keinen Hinweis auf eine erst sekundäre Einführung Moses in die Exodustradition dar. 7.6.3.
Die Verhaftung der Mosegestalt in Exodus- und Sinaiüberlieferung
Eine genauere Betrachtung der Tradition von der ausländischen Frau des Mose zeigt schließlich, dass alle Varianten dieser Tradition auf eine Verschwägerung Moses mit den Midianitern hinweisen: Der Vergleich von Ri 4,11 mit Num 10,29 weist darauf hin, dass Moses Schwager Hobab auch als Midianiter bezeichnet werden kann. Auch die Bezeichnung der Frau des Mose als „Kuschitin“ (Num 12,1) spricht nicht gegen eine midianitische Herkunft: Hab 3,7 zeigt nämlich, dass es sich bei Kuschan und Midian um verwandte Nomadenstämme handelt. Aufgrund dieser Beziehung zu den Midianitern ist bei Mose somit auch eine ursprüngliche Beziehung zur Sinaiüberlieferung und damit zur Jahweoffenbarung wahrscheinlich zu machen (vgl. Fohrer, W.H. Schmidt). Überhaupt spricht eine
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gewisse Plausibilität dafür, dass ein Führer des Exodus gute Beziehungen zu Wüstenstämmen wie den Midianitern besitzen muss, um eine Flucht aus Ägypten in die Wüste organisieren zu können (vgl. Herrmann). Schließlich ist es auch nicht unwahrscheinlich, dass der Führer der Exodusgruppe nach der Landnahme im Ostjordanland dort sein Grab erhält. Auch wenn die biographischen Einzelheiten der biblischen Mosedarstellung nicht zu verifizieren sind, erweist sich doch der gleichzeitige Bezug der Mosegestalt auf Exodus, Sinaioffenbarung und ostjordanische Landnahme als in sich plausibel.
7.7.
Ausgewählte Literatur
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Smend; R.: Die Methoden der Moseforschung, in: Zur ältesten Geschichte Israels, München 1987, 45–115. –: Mose als geschichtliche Gestalt, Historische Zeitschrift 260, 1995, 1–19. Van Seters, J.: The Life of Moses, Kampen 1994. Veijola, T.: Das Königtum in der Beurteilung der deuteronomistischen Historiographie, Helsinki 1977. Wellhausen, J.: Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 61905. Würthwein, E.: Die Bücher der Könige: 1. Kön 17 – 2. Kön 25, Göttingen, ATD 11, II, 1984.
§8
Die Tradition von den Erzvätern
8.1.
Der königszeitliche Bezug der Erzväterüberlieferung.
Seit den Arbeiten von Thomas L. Thompson (1974) und John Van Seters (1975) ist deutlich geworden, dass die in Gen 12–36* vorliegende Erzväterüberlieferung ein der israelitischen Königszeit entstammendes Bild der Erzvätergestalten vermittelt (vgl. schon Wellhausen: „über die Patriarchen ist hier kein historisches Wissen zu gewinnen, sondern nur über die Zeit, in welcher die Erzählungen über sie im israelitischen Volke entstanden; diese spätere Zeit wird hier, nach ihren inneren und äußeren Grundzügen, absichtslos ins graue Altertum projiziert und spiegelt sich dann wie ein verklärtes Luftbild ab“ [61905, 316]). Erhard Blum hat daraus die Konsequenz gezogen, dass bereits die ältesten Elemente der Erzväterüberlieferung völkergeschichtlich zu verstehen seien. So werden beispielsweise schon in den alten Jakobsagen Gen 25,21–28* und 25,29–34 Jakob als Repräsentant Israels und Esau als Repräsentant Edoms dargestellt (vgl. 25,23 und 25,30). Außerdem wird in beiden Fällen die politische Abhängigkeit Edoms von Israel vorausgesetzt (vgl. hierzu die Unterwerfung Edoms durch David in 2Sam 8,13 f.). Allerdings räumt Blum ein, dass die in Gen 12–50* vorliegende durchgehende Zeichnung der Erzväter als „Kleinviehnomaden“ nicht aus der Königszeit herzuleiten ist. Vielmehr komme hier „eine geschichtliche Erinnerung an Ursprünge Israels in nichtsesshaften Gruppen zum Tragen“. Nicht ganz deutlich wird jedoch, weshalb diese Feststellung „selbstverständlich“ nicht dazu berechtige, „diesen Aspekt der Väterüberlieferung als methodischen Schlüssel für eine hypothetische Vorgeschichte“ der vorliegenden Erzvätertexte zu benutzen. „In die Frühzeit noch nicht sesshafter Gruppen“ könne die Erzväterüberlieferung nicht führen. M.E. ist es durchaus möglich, die vorliegende Erzväterüberlieferung der Königszeit auf ihr Wissen von Traditionen aus der vorstaatlichen Zeit Israels
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hin zu befragen, wie dies bei der Moseüberlieferung üblich (vgl. oben § 7) ist. Im Einzelnen soll es dabei im Folgenden um die Fragen nach der Lebensweise der Erzvätergestalten, nach ihrer historischen Herkunft, nach ihren topographischen Haftpunkten im Kulturland und nach der von ihnen repräsentierten Religionsform gehen.
8.2.
Das Bild der älteren Väterüberlieferung von der Lebensweise der Erzvätergestalten
In der Gen 12–35* zugrundeliegenden Sagenüberlieferung zeigt sich durchgehend ein gemeinsames Bild der Lebensweise der Erzväter: Die Väter leben in Zelten (Gen 12,8; 13,3.5.12.18; 18,1–10; 25,27; 26,25; 31,25.33f.) und erwerben ihren Lebensunterhalt hauptsächlich als Kleinviehnomaden, die Schafe und Ziegen züchten (vgl. nur Gen 27,9; 30,28–43). Allerdings werden daneben auch Rinder (vgl. u.a. Gen 12,16; 20,14; 21,27; 26,14; 32,6) und Esel (vgl. u.a. Gen 12,16; 32,6.16) genannt. Anachronistisch dürfte die Erwähnung von Kamelen (vgl. Gen 12,16; 31,17; 32,8.16) sein. Nur am Rande wird auch vom Ackerbau der Erzväter berichtet (vgl. Gen 26,12; auch 27,28.37), bei Esau auch von Jagd (Gen 25,27; 27,3–31). Zu den sesshaften Bewohnern der städtischen und dörflichen Siedlungen Kanaans stehen sie in Schutzbürgerverhältnissen (vgl. Gen 21,23) und schließen mit ihnen Verträge (Gen 21,22–31, 26,16–33; 31,44–54). Von einem regelmäßigen Wechsel zwischen Sommerweiden im Kulturland und Winterweiden in der Steppe, wie er für heutige Kleinviehnomaden in Palästina typisch ist, wird allerdings in der Erzväterüberlieferung nichts berichtet. Vielmehr entspricht das Leben der Erzväter dem von Kulturlandnomaden, die sich durchgehend in weniger dicht besiedelten Gebieten des Kulturlandes aufhalten. Ein ähnlicher Befund liegt im übrigen auch für die in den Maribriefen des 18. Jh. v. Chr. beschriebenen Nomaden vor (vgl. Weippert 1974).
8.3.
Die in der Erzväterüberlieferung angenommene Herkunft der Erzväter
Die Auffassung, dass Abraham aus dem südmesopotamischen Ur in Chaldäa stamme, findet sich nur in der späten exilisch-nachexilischen priesterlichen und nachpriesterlichen Überlieferung des AT (vgl. nur Gen 11,28.31; 15,7; Neh 9,7; 1Chr 11,35). Die in Gen 27,43; 28,10; 29,4 vorliegende Annahme einer Beziehung der Erzväter zum nordmesopotamischen Haran (später aufgenommen in Gen 11,31 P) geht vermutlich auch erst auf das 7. Jh. v. Chr. zurück (vgl. Blum).
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Eine alte Lokalisierung liegt dagegen wohl in Gen 29,1 vor, wo die LabanJakob-Überlieferung bei den benê qædæm („Ostleuten“) angesetzt wird. Zu identifizieren sind diese „Ostleute“ mit aramäischen Gruppen der ostjordanischen Wüste (vgl. die Bezeichnung Labans als „Aramäer“ in Gen 31,20.24 und auch den parallelen Gebrauch von Aram und qdm in Num 23,7). Einen Zusammenhang der Jakobgestalt mit aramäischen Gruppen nimmt schließlich auch das Credo von Dtn 26,5–9 an, in dem der Erzvater als ein „dem Untergang naher Aramäer“ (V. 5) bezeichnet wird. Da die Landnahme der Israeliten nicht mehr wie bei Martin Noth auf eine „aramäische Wanderung“ aus der syrisch-arabischen Wüste in das Kulturland zurückgeführt werden kann (vgl. Donner), ist gegenwärtig ungeklärt, ob hinter der Überlieferung der aramäischen Verwandtschaft der Gestalt des Erzvaters Jakob ein historisch auszuwertender Traditionskern steht.
8.4.
Die Kulturlandhaftpunkte der Erzvätergestalten
Ein der königszeitlichen Erzväterüberlieferung vorgegebenes Element stellt auch der Ortsbezug der Erzvätergestalten dar, der sich kaum aus Gegebenheiten der Königszeit erklären lässt. Handelte es sich um Konstruktionen der Königszeit, wäre nicht verständlich, weshalb Heiligtümer wie Jerusalem, Silo, Gilgal nicht einbezogen wurden. Diese „Haftpunkte“ zeigen zudem, dass Abraham, Isaak und Jakob ursprünglich jeweils einen eigenständigen Ortsbezug besaßen und dass die Erzvätergestalten erst nachträglich in eine genealogische Beziehung gebracht worden sind. So steht die alte Abrahamüberlieferung in besonderer Weise mit dem „Hain Mamre“ (bei Hebron) in Verbindung (vgl. Gen 13,18; 18,1). Dagegen ist die alte Isaaküberlieferung im Gebiet um Beerscheba lokalisiert (vgl. Gen 26; besonders V. 23ff.). Schließlich weist die alte Jakobüberlieferung einen deutlichen Bezug zu Mittelpalästina bzw. zum mittleren Ostjordanland auf (vgl. vor allem Gen 28,11–19*: Bethel; Gen 33,18f.: Sichem; Gen 32,2f.: Mahanajim; Gen 32,23–32*: Pnuel). Albrecht Alt hat diese „Haftpunkte“ folgendermaßen erklärt: Abraham, Isaak und Jakob stellen Sippenoberhäupter und Offenbarungsempfänger verschiedener nomadischer Gruppen dar, die im Bereich der genannten Haftpunkte sesshaft wurden.
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
8.5.
Die in der alten Erzväterüberlieferung vorausgesetzte Religionsform
8.5.1.
Die These Albrecht Alts
Nach Albrecht Alt spiegelt sich in den Gottesaussagen von Gen 12–36* eine spezifisch nomadische Religiosität. Hier wird vom „Gott Abrahams“, vom „Gott Isaaks“ und vom „Gott Jakobs“ gesprochen, also von einem Gott, der in enger Beziehung zu dem als Offenbarungsempfänger gedachten Sippenoberhaupt steht und der mit der Sippe mitgeht. Im Gegensatz zu den Kulturlandvorstellungen von einem „Gott heiliger Orte“ handelt es sich hier somit – der nomadischen Lebensweise entsprechend – um einen „Gott des Weges“. Für das hohe Alter dieser Gottesvorstellung führt Alt auch die altertümlichen Gottesbezeichnungen „Pachad (‚Schrecken‘?) Isaaks“ (vgl. Gen 31,42.54) und „Starker Jakobs“ (vgl. Gen 49,24) an. Über Alt hinausgehend ist allerdings vermutet worden, dass als älteste Gottesbezeichnung der Erzväterüberlieferung „Gott meines Vaters“ (vgl. Gen 31,5.29.42; 50,17) angesehen werden muss. Andererseits sprechen nach Meinung von Alt auch das Vorkommen von Gottesbezeichnungen wie „Gott des NN“ bei den ursprünglich eine nomadische Lebensweise besitzenden Nabatäern für die Herkunft des „Gottes der Väter“ aus einer nomadischen Religiosität. Als charakteristischer Ausdruck dieser nomadischen Frömmigkeit sind nach Alt auch die Verheißungen der Erzväterüberlieferung anzusehen (vgl. in der „jahwistischen“ Pentateuchschicht Gen 12,1–3.7; 26,1–3a und 28,13–15*), was sich besonders an der Verheißung des „Mit-seins“ zeigt (vgl. auch Preuß). Gleichzeitig postuliert Alt, dass die Mehrungsverheißung sich ursprünglich nicht auf „ein großes Volk“ (vgl. Gen 12,2), sondern nur auf „Nachkommenschaft“ (vgl. Gen 28,14) bezogen habe. Auch meine die Landverheißung (vgl. Gen 12,7; 28,13) ursprünglich nicht „Landbesitz“, sondern nur den Zugang zu Weidegebieten. 8.5.2.
Die Kritik von Erhard Blum und Matthias Köckert
Einen ursprünglich nomadischen Bezug des in der Erzväterüberlieferung beschriebenen Gottesverhältnisses haben Erhard Blum und Matthias Köckert mit gewichtigen Argumenten bestritten. Vor allem lassen sich die vorliegenden Väterverheißungen nur schwer auf nomadische Gegebenheiten beziehen: So meint die Nachkommenverheißung die Mehrung des Volkes Israel, und so setzt die Landverheißung die Gefährdung des Landbesitzes Israels voraus. Auch finden sich die Väterverheißungen nicht in der alten Erzählungssubstanz, sondern gehen auf relativ späte redaktionelle Schichten zurück.
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Auch die Gottesbezeichnung „Gott des Vaters NN“ kann nach heutiger Kenntnis der altorientalischen Religionsgeschichte nicht auf ein nomadisches Gottesverständnis zurückgeführt werden. Schon der atl. Gebrauch des Gottesprädikats „Gott deines Vaters David“ (vgl. 2Kön 20,5; Jes 38,5) zeigt, dass es auch im Kontext der Kulturlandreligiosität die Rede von einem „Gott des Vaters“ gibt. Wie vor allem mesopotamische Beispiele zeigen, gehört die Bezeichnung „Gott des Vaters“ in den Zusammenhang der Familienreligiosität des Kulturlandes („Persönliche Frömmigkeit“; vgl. hierzu Vorländer 1975 und Albertz 1978). 8.5.3.
Der Vorschlag von Rainer Albertz
Rainer Albertz hat allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass durch die obigen Befunde die Existenz einer „Persönlichen Frömmigkeit“ bereits in der Nomadenzeit nicht ausgeschlossen ist. Jedenfalls spricht „der Umstand, daß die ‚Vätergötter‘ fast nur in den Erzväterüberlieferungen vorkommen, … gegen die Annahme einer späteren Konstruktion“ (vgl. auch Donner). Auch die starke Betonung des „Mit-Seins Gottes“ in der Erzväterüberlieferung könnte auf eine nomadische „Persönliche Frömmigkeit“ zurückgehen.
8.6.
Ausgewählte Literatur
Albertz, R.: Persönliche Frömmigkeit und offizielle Religion, Stuttgart 1978. –: Religionsgeschichte Israels in atl. Zeit, ATD Erg. 8, Göttingen 1992. Alt, A.: Der Gott der Väter (1929), in: Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel I, München 1953, 1–78. Blum, E.: Studien zur Komposition der Vätergeschichte, Neukirchen-Vluyn 1984. –: Art. Isaak I. Biblisch, RGG4 4, 2001, 240–241. Cross, F.M.: Yahweh and the God of the Patriarchs, HThR 55, 1962, 225–259. Donner, H.: Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen, ATD Erg. 4, Göttingen 32001. Fischer, I.: Die Erzeltern Israels, Berlin/New York 1994. Fohrer, G.: Geschichte Israels, Heidelberg 61995. Fritz, V.: Jahwe und El in den vorpriesterschriftlichen Geschichtswerken, in: Studien zur Literatur und Geschichte des alten Israel, Stuttgart 1997, 511–566. Gertz, J.C.: Mose und die Anfänge der jüdischen Religion, ZThK 99, 2002, 3–20. Hagedorn, A.C./Pfeiffer, H. (Hg.): Die Erzväter in der biblischen Tradition. FS M. Köckert, Berlin/New York 2009. Henninger, J.: Über Lebensraum und Lebensform der Frühsemiten, Köln/Opladen 1968. Klengel, H.: Zwischen Zelt und Palast, Wien 1972. Knauf, E.A.: Art. Penuel, RGG4 6, 2003, 1103. Köckert, M.: Vätergott und Väterverheißungen, Göttingen 1988.
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Levin, C.: Das vorstaatliche Israel, in: Fortschreibungen. Gesammelte Studien zum AT, Berlin/New York 2003, 142–157. Noth, M.: Überlieferungsgeschichte des Pentateuch, Stuttgart 1948; Nachdruck Darmstadt 1966. –: Geschichte Israels, Göttingen 101986. Otto, E.: Art. Jakob I. AT, RGG4 4, 2001, 352–354. Preuß, H.D.: „… ich will mit dir sein!“, ZAW 80, 1968, 139–173. Pury, A. de: Promesse divine et légende cultuelle dans le cycle de Jacob, Paris 1975. Schmid, H.: Die Gestalt des Isaak, Darmstadt 1991. Schmidt, L.: Väterverheißungen und Pentateuchfrage, in: Gesammelte Aufsätze zum Pentateuch, Berlin/New York 1998, 110–136. Seebass, H.: Genesis II: Vätergeschichte I (11,27–22,24), Neukirchen-Vluyn 1997. –: Genesis II: Vätergeschichte II (23,1–36,43), Neukirchen-Vluyn 1999. Thiel, W.: Geschichtliche und soziale Probleme der Erzväter-Überlieferungen in der Genesis, in: Gelebte Geschichte, Neukirchen-Vluyn 2000, 72–91. Thompson, T.L.: The Historicity of the Patriarchal Narratives. The Quest for the Historical Abraham, Berlin/New York 1974. Van Seters, J.: Abraham in History and Tradition, New Haven/London 1975. –: The Religion of the Patriarchs in Genesis, Bib 61, 1980, 220–233. Vorländer, H.: Mein Gott, Kevelaer/Neukirchen-Vluyn 1975. Wahl, H.M.: Die Jakobserzählungen. Studien zu ihrer mündlichen Überlieferung, Verschriftung und Historizität, Berlin/New York 1997. Waschke, E.-J.: Art. Land Israel I. AT, RGG4 5, 2002, 53–55. Weippert, M.: Semitische Nomaden des zweiten Jahrtausends, Bib 55, 1974, 265–280. 472–483. Wellhausen, J.: Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 61905. Westermann, C.: Genesis II. Gen 12–36, BKAT 1/2, Neukirchen-Vluyn 1981.
§9
Die Landnahmeüberlieferung und die archäologischen, sozialen und ökonomischen Gegebenheiten der beginnenden Eisenzeit
9.1.
Die atl. Landnahmeüberlieferungen
Das AT kennt drei unterschiedliche Überlieferungen über die Landnahme der „Israeliten“. Jos 1–12 berichtet von der vollständigen Eroberung Palästinas (vgl. besonders Jos 10,40–43; 11,23) durch das aus dem Ostjordanland einwandernde Gesamtisrael unter Führung Josuas. Hierbei handelt es sich um ein vom ursprünglichen Verfasser des Deuteronomistischen Geschichtswerks (DtrH) im 6. Jh. v. Chr.
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(also ein halbes Jahrtausend nach den geschichtlichen Ereignissen) geschaffenes Bild, das kaum Anspruch erheben kann, historisch zu sein. Die DtrH vorgegebene Überlieferung weist noch keine entsprechende Vorstellung von der israelitischen Landnahme auf. Ebenfalls von einer Eroberung des Landes spricht der spätdtr. Text Ri 1,1–2,5* (zur literarischen Einordnung vgl. Smend und auch unten § 25.1.5.). Doch geht dieser Bericht – wohl unter Rückgriff auf ältere Traditionen – davon aus, dass die jeweiligen Stammesgebiete durch die einzelnen Stämme erobert werden: Ri 1,1–20 berichten von der Eroberung der Stammesgebiete von Juda und Simeon, 1,22–26 thematisieren die Landnahme des Hauses Josef. Schließlich findet sich in 1,21.27–35* das sog. „Negative Besitzverzeichnis“, das von den Israeliten ursprünglich nicht eroberte Kanaanäerstädte aufzählt, die vermutlich erst zur Zeit Davids unter israelitische Herrschaft kamen. Ein ganz anderes Verhältnis von Israeliten und vorisraelitischer Bevölkerung Palästinas beschreibt die Erzväterüberlieferung Gen 12–36*. Hier wird von einem friedlichen Zusammenleben nomadischer „israelitischer“ Gruppen und der vorisraelitischen Bevölkerung ausgegangen (vgl. nur Gen 20*; 21,22–34* und 26,1–33*).
9.2.
Außerbiblische Befunde
9.2.1.
Texte aus Ägypten zur Geschichte Palästinas im 14./13. Jh.
Die früheste außerbiblische Erwähnung des Namens „Israel“ findet sich auf der aus Theben stammenden Siegesstele des Merenptah, die in das 5. Jahr des Pharao (1208 v. Chr.) datiert ist und den Sieg des ägyptischen Königs über Libyen und dessen Wirkung auf den vorderasiatischen Raum beschreibt (Z. 26–28; Übersetzung nach Kaplony-Heckel in TUAT I, 544 ff.): „Cheta (= Hethiter) ist befriedet, Kanaan ist mit allem Übel erbeutet, Askalon ist herbeigeführt, Geser ist gepackt. Inuam (= Jenoam = Tell Nacam) ist zunichte gemacht. Israel ist verwüstet; es hat kein Saatgut. Charu (= Churriter) ist zur Charet (= Witwe) des Geliebten Landes geworden“. Die drei Stadtnamen Aschkelon, Geser und Jenoam sind dabei in Richtung von Süden nach Norden angeordnet. Da „Israel“ jedoch als ethnische Gruppe aus dieser Reihe herausfällt, ist es wohl nicht nördlich von Jenoam zu suchen. Eher ist an die Bezeichnung einer mittelpalästinischen Größe zu denken. Beachtenswert ist auf jeden Fall, dass der ägyptische Text bereits Ende des 13. Jh. v. Chr. mit der Existenz eines „Israel“ in Palästina rechnet. Bei „Israel“ dürfte es sich somit um eine in Palästina beheimatete Gruppe handeln.
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Als wichtigste Quelle für die Geschichte Palästinas in der Zeit vor 1200 v. Chr. ist das Keilschriftarchiv von Tell el-Amarna (aus der Zeit von Amenophis III.: 1390–1353 und von Amenophis IV. Echnaton: 1353–1336) anzusehen. Für den vorliegenden Zusammenhang ist vor allem von Bedeutung, dass die Briefe der kanaanäischen Stadtfürsten an die ägyptischen Könige von militärischen Auseinandersetzungen mit capiru-Gruppen berichten. Bei ihnen handelt es sich wohl um sozial Deklassierte, die aus den Stadtstaaten herausgefallen sind und nun das Leben von Nichtsesshaften führen (zu den Amarnatexten vgl. Knudtzon, Rainey und Moran). 9.2.2.
Altorientalische Texte zum syrisch-palästinischen Nomadentum des 2. Jahrtausends
Allerdings stellen capiru-Gruppen nur einen Teil der nichtsesshaften Bevölkerung Syrien-Palästinas des 1. Jt. v. Chr. dar. Das Tontafelarchiv der Stadt Mari (am syrischen Euphrat) aus dem 18. Jh. v. Chr. zeigt, dass im altorientalischen Kontext auch mit ursprünglichen Kleinviehnomaden zu rechnen ist, wobei es sich hier um Kulturlandnomaden handelt (ein Kamelnomadentum entsteht erst nach 1000 v. Chr. in der Folge der Domestikation des Kamels als Lastentier), die in engerer (vgl. Hanäer der Maritexte) oder in nicht so enger Symbiose (vgl. Jaminiten und Sutäer) mit der sesshaften Bevölkerung Maris stehen. Dass solche Nomaden auch zu weiteren Wanderungen fähig sind, zeigen schließlich die ägyptischen Zeugnisse über die Schasu-Nomaden (vgl. Giveon): Hingewiesen werden soll hier nur auf die im Papyrus Anastasi VI (Brief eines Grenzbeamten aus der Zeit um 1200–1194 v. Chr.) erwähnten „Schasu von Edom“, die während einer Dürre nach Ägypten einwandern (vgl. dazu auch oben § 7.2.1.). 9.2.3.
Archäologische Befunde im Palästina der Spätbronzezeit II (ca. 1400–1200 v. Chr.) und der Eisenzeit I (ca. 1200–1000 v. Chr.)
9.2.3.1. Das Ende der spätbronzezeitlichen Städte Aus dem Ende der spätbronzezeitlichen Städte, das sich in der Zeit von ca. 1230–1130 v. Chr. fast über ein ganzes Jahrhundert hinzog, kann nicht auf eine zusammenhängende Eroberung dieser Städte geschlossen werden. Vor allem erweist es sich als unwahrscheinlich, dass die spätbronzezeitlichen Städte ein Opfer einwandernder Nomaden geworden sind. So zeigen die damals untergegangenen Städte sehr unterschiedliche Formen der Weiterexistenz: 1. Bei einigen von ihnen ergibt sich durch die Zerstörung eine längere Siedlungslücke (so z. B. in Lachisch für die Zeit von 1150–950). 2. Bei anderen wird die Siedlung durch einen unbefes-
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tigten Ort fortgesetzt (vgl. Hazor nach 1230 und Megiddo nach 1135). 3. Schließlich werden einige der zerstörten Kanaanäerstädte von den Philistern übernommen (vgl. Aschdod, in dem seit 1160 die sog. „Philisterkeramik“ nachzuweisen ist). Jedenfalls sprechen schon die sehr unterschiedlichen Daten der Zerstörung der spätbronzezeitlichen Kanaanäerstädte dagegen, dass hier eine zusammenhängende Eroberung – sei es durch die Seevölker/Philister, sei es durch einwandernde „Israeliten“ – angenommen werden kann. 9.2.3.2. Die eisenzeitliche Siedlungsbewegung im Gebirge seit 1200 v. Chr. Die großen Veränderungen, die seit ca. 1200 v. Chr. im Bereich der palästinischen Gebirge festzustellen sind, sind für Mittelpalästina vor allem durch Israel Finkelstein herausgearbeitet worden: So zeigt sein Survey von Ephraim, dass im späteren Bereich des Stammes Ephraim in der Mittelbronzezeit (ca. 2000–1600 v. Chr.) noch 60 Ortslagen nachzuweisen sind. Im Laufe der Spätbronzezeit (ca. 1600–1200 v. Chr.) reduziert sich die Zahl der Siedlungen auf ca. 5–6. In der Eisenzeit entstehen hier nun plötzlich wieder über 100 neue Ortslagen (115 Ortslagen). Ein ähnlicher Befund ergibt sich für das Stammesgebiet von Manasse, aber auch für Galiläa (Gal 1982) und für das Ostjordanland (Mittmann 1970). Auch wenn die Befunde in Südpalästina nicht so deutlich sind, so sind auch hier zahlreiche früheisenzeitliche Siedlungen ausgegraben worden. So finden sich in Hirbet el-Mˇsaˇs (ca. 20 km östlich von Beerscheba) die für die Siedlungs˘ der frühen Eisenzeit typischen Breitraum- bzw. Drei- oder Vierraumbewegung häuser. Ähnliches gilt für Tel Isdar (20 km südöstlich von Beerscheba), wo vor allem die für die Eisenzeit charakteristischen ringförmigen Siedlungen entdeckt wurden. 9.2.3.3. Die Herkunft der materiellen Kultur der frühen Eisenzeit Bei der Klärung der Frage, ob die für die Siedlungsbewegung der frühen Eisenzeit charakteristische materielle Kultur aus nomadischen oder aus sedentären Zusammenhängen stammt, kommt man zu einem ambivalenten Bild. Einerseits ergeben sich durchaus Hinweise auf eine nomadische Herkunft. So sind die ringförmigen Siedlungen („elliptical sites“) wohl in Anlehnung an die Struktur von Nomadenlagern errichtet worden (Finkelstein). Auch sind die in den früheisenzeitlichen Siedlungen gefundenen zahlreichen Kleinsilos charakteristisch für eine noch unentwickelte frühe Form von Vorratshaltung gerade sesshaft gewordener Nomaden. Strittig ist die Herkunft des Drei- bzw. Vierraumhauses: Israel Finkelstein hat darauf hingewiesen, dass die Struktur eines solchen Hauses (entwickelt aus dem Breitraumhaus mit vorgelagertem Hof, der durch Pfeiler in einen überdachten
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
und in einen nichtüberdachten Teil gegliedert ist) auf die Anlage des Nomadenzeltes (mit vorgelagertem Viehgehege) zurückgehe (so auch Fritz in seinen früheren Publikationen). Andererseits wird jedoch auf Vorläufer der Pfeilerbauweise in den spätbronzezeitlichen Städten aufmerksam gemacht (vgl. Fritz 1996; in einigen Häusern des spätbronzezeitlichen Tell Bat¯aˇsi [Timnah] waren bereits in ähnlicher Weise rechteckige Räume durch Steinpfeiler gegliedert, die gleichzeitig als Dachstützen dienten). Beachtenswert ist allerdings, dass sich das Dreibzw. Vierraumhaus erst in der frühen Eisenzeit durchgesetzt hat. Andererseits weist die in den früheisenzeitlichen Siedlungen gefundene Keramik eine weitgehende Kontinuität mit der Keramik der Spätbronzezeit auf. Die meisten Formen sind aus der kanaanäischen Kultur übernommen. So geht auch der für die früheisenzeitlichen Siedlungen typische bis zu 1,5 m hohe Vorratskrug mit einem Wulst unter dem Hals (collared rim jar „Kragenrandkrug“) auf den spätbronzezeitlichen Pithos zurück. Allerdings zeigt sich beim Übergang in die frühe Eisenzeit eine Verschlechterung der Qualität der Keramik (so fehlt weitgehend eine Dekoration der Gefäße). Kontinuität zur kanaanäischen Kultur wird auch bei der Metallverarbeitung sichtbar. Erst allmählich bekommt die Verwendung von Eisen größere Bedeutung. Ermöglicht wurde das durch die neue Entwicklung einer Technik des Härtens (Schmieden bei Erhitzung des Eisens im Holzkohlefeuer)
9.3.
Theorien zur Landnahme der Israeliten
Bei der historischen Analyse der biblischen und außerbiblischen literarischen Überlieferung zur Frühgeschichte Israels und der entsprechenden archäologischen Befunde sind im Laufe des 20. Jh. stark divergierende Theorien über den Verlauf der Landnahme der Israeliten entwickelt worden. Man kann diese Theorien drei grundlegenden Hypothesen zuordnen und diese wie folgt klassifizieren: 1. 2. 3. 9.3.1.
Eroberungshypothese Revolutions- und Evolutionshypothese Infiltrationshypothese Eroberungshypothese
Diese von William F. Albright und seiner damals sehr einflussreichen Schule vertretene Hypothese geht davon aus, dass die Überlieferung von Jos 1–12* sich im Kern als historisch erweist. Für die Historizität des Bildes von einer israelitischen
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Eroberung der kanaanäischen Stadtstaaten spricht nach dieser Hypothese der archäologische Befund vom Untergang der spätbronzezeitlichen Städte. Kritisch ist gegen diesen Erklärungsansatz eingewandt worden (vgl. vor allem Noth), dass bei der historischen Auswertung von Jos 1–12* die literarhistorischen Befunde nicht genügend berücksichtigt wurden. So handelt es sich bei Jos 1 ff. fast durchweg um Formen der Überlieferung (Ätiologien, theologische Erzählungen), die eine unmittelbare historische Rückfrage nicht ermöglichen. Andererseits spricht auch der archäologische Befund nicht für eine einheitliche kriegerische Verursachung des Untergangs der spätbronzezeitlichen Städte. Schon die Tatsache, dass die früheste Zerstörung für die Zeit um 1230 und die späteste für 1135 anzunehmen ist, lässt an verschiedene Zerstörungsursachen denken: So ist auch mit militärischen Zerstörungen durch andere kanaanäische Stadtstaaten, durch die Ägypter und durch die Seevölker zu rechnen. Auch ein Verlassen von Kanaanäerstädten aus ökonomischen oder ökologischen Gründen ist nicht auszuschließen. 9.3.2.
Revolutions- und Evolutionshypothese
Von George E. Mendenhall (1962) ist darauf hingewiesen worden, dass der Gegensatz zwischen Israel und Kanaan, der die Frühzeit der Geschichte Israels bestimmt hat, nicht unbedingt auf den ethnischen Gegensatz zwischen palästinischer Urbevölkerung und in das palästinische Kulturland einwandernden Nomaden zurückgeführt werden muss. Vielmehr könne sich in ihm – wie ethnologische Analogien zeigen – ein primär soziologischer Gegensatz innerhalb Palästinas ausdrücken, und zwar der Gegensatz zwischen der Gesellschaft der kanaanäischen Stadtstaaten und der tribalen ländlichen Gesellschaft. Dieser Gegensatz komme auch in dem von den Amarnabriefen bezeugten Auseinandersetzungen zwischen den Stadtstaaten und den aus den Städten geflohenen Bevölkerungselementen der capiru zum Ausdruck. Bei den kriegerischen Ereignissen im Zusammenhang der israelitischen Landnahme handelt es sich somit um eine von der tribalen palästinischen Landbevölkerung und den capiru getragene und gegen die Stadtstaaten gerichtete revolutionäre Umwälzung (vgl. auch Gottwald). Bei dieser „Revolution“ spielen außerpalästinische nomadische Elemente nur am Rande eine Rolle. So habe die Mosegruppe, die Jahwe in Ägypten als Gott der Befreiung erfahren habe, den Beginn des Aufstandes gegen die Unterdrückung durch die Stadtstaaten nur mitausgelöst. An dieser „Revolutionshypothese“ hat Niels Peter Lemche (1985) kritisiert, dass für die Annahme einer Revolution der Landbevölkerung gegen die kanaanäischen Stadtstaaten keine überzeugenden soziologischen Befunde vorliegen. Noch weniger könne die relativ junge biblische Überlieferung eine Initialzündung die-
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ses revolutionären Prozesses durch die Mosegruppe belegen. Mit einiger Sicherheit festzustellen sei lediglich der Übergang größerer Bevölkerungselemente der kanaanäischen Stadtstaaten zur Gründung neuer Siedlungen außerhalb des Bereichs dieser Städte, wodurch es zur Bildung agrarischer Gemeinschaften und zum Aufbau tribaler Strukturen kam. Eine solche tribale Gemeinschaft stelle auch das „Israel“ der Merenptah-Stele (1208 v. Chr.) dar. Die Entwicklung der israelitischen Stammesgesellschaft bilde somit einen rein innerpalästinischen Vorgang (ohne Beeinflussung durch von außen kommende nomadische Gruppen). Auch die Entstehung der Jahwereligion sei dabei als ein rein evolutionärer Prozess zu verstehen: Aus der kanaanäischen Religion habe sich neben dem agrarischen Fruchtbarkeitskult des Baalsglaubens die stärker ethisch und urban bestimmte Variante des Jahweglaubens herausgebildet. Problematisch ist an den zuletzt dargestellten Hypothesen, dass sie dem nomadischen Element der palästinischen Gesellschaften eine zu geringe Bedeutung zumessen. Auch dürfte dem Selbstverständnis Israels, sich auf einen nomadischen Ursprung zurückzuführen, ein historischer Kern zugrunde liegen. Somit bleibt die These Albrecht Alts von einer Infiltration nomadischer Gruppen in die Ackerbaukultur der kanaanäischen Städte weiterhin grundlegend für die Lösung des Problems der Landnahme. 9.3.3.
Infiltrationshypothese
Für Albrecht Alt (1925) ist in der frühen Phase der Landnahme der Israeliten mit einer friedlichen Infiltration von Kleinviehnomaden in das Kulturland zu rechnen. Dabei wurden diese nomadischen Gruppen im bisher weitgehend unbesiedelten Bergland sesshaft und gingen zu Ackerbau über. Zu militärischen Auseinandersetzungen mit den Bewohnern der Stadtstaaten kam es nach Alt erst in der zweiten, kriegerischen Phase der Landnahme, die er als „Landesausbau“ bezeichnet. Das im Josua- und im Richterbuch (vgl. vor allem den Kern des Deboralieds von Ri 5 und dazu Soggin und Schorn) vermittelte Bild einer kriegerischen Landnahme geht seiner Meinung nach auf diese zweite Landnahmephase zurück. Dass es sich in der ersten Phase der Landnahme um die friedliche Sesshaftwerdung nomadischer Gruppen handelt, wird nun auch in der neueren Forschung wieder verstärkt vertreten. So hat Israel Finkelstein (1988) aufgrund der in 9.2.3. referierten archäologischen Befunde wahrscheinlich gemacht, dass es sich bei den Mitgliedern der in der Eisenzeit I einsetzenden Siedlungsbewegung im Gebirge Ephraim, in Galiläa, und im Gebirge Juda um Nomaden handelte, die sich während der Spätbronzezeit durch Handel mit den Stadtstaaten mit Getreide versorgt hatten. Aufgrund des Untergangs der spätbronzezeitlichen Städte wur-
Identität „Israels“ und Traditionen der Königszeit
107
den sie gezwungen, selber Getreideanbau zu betreiben und daher eine sesshafte Lebensweise anzunehmen (vgl. hierzu auch Coote/Whitelam). Für die der Ansiedlung dieser Nomaden vorausgehende „Symbiose“ (Fritz) mit den spätbronzezeitlichen Stadtstaaten (dimorphic society) spricht nun die bei ihnen festzustellende Kontinuität der materiellen Kultur der Spätbronzezeit. Andererseits weisen die in 9.2.3. beschriebenen Siedlungsformen dieser Siedler auf eine vorhergehende nomadische Lebensweise („elliptical sites“, Kleinsilos, Dreibzw. Vierraumhaus). Zu erwähnen ist auch, dass die frühen Ansiedlungen in Gebieten vorgenommen wurden, die gleichzeitig Getreideanbau und Viehzucht ermöglichten. Differenzierter als Finkelstein wird man allerdings die Herkunft der in der Eisenzeit I sesshaft werdenden Nomaden beurteilen müssen. Es handelt sich hierbei nicht nur um nomadische Bevölkerungselemente, die beim Übergang von der Mittelbronzezeit in die Spätbronzezeit aus der urbanen Kultur in das Kulturlandnomadentum überwechselten, vielmehr ist auch mit nomadischen Gruppen zu rechnen, die von außerhalb in das palästinische Kulturland eingewandert sind (Schasu; vgl. hierzu M. Weippert, Donner und Rösel). Eine solche Schasu-Gruppe dürfte die Trägerin der Exodus-Mose-Überlieferung gewesen sein.
9.4.
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108
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Identität „Israels“ und Traditionen der Königszeit
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Karte 4: Palästina vor der israelitischen Staatenbildung (aus: H. Donner, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen 1, Göttingen 32000, S. 167)
Identität „Israels“ und Traditionen der Königszeit
111
§ 10
Die biblische Darstellung des vorstaatlichen Stämmesystems und die Frage nach sozialgeschichtlichen Analogien
10.1.
Die atl. Überlieferung von der Richterzeit
Nach der biblischen Darstellung der vorstaatlichen Zeit im Richterbuch wird diese Zeit als „Richterzeit“ bezeichnet. Dabei finden sich im Richterbuch die zwei unterschiedlichen Überlieferungen von sog. „Großen Richtern“ bzw. „Kleinen Richtern“. 10.1.1. Die Überlieferung von den Großen Richtern Im Richterbuch greift der Deuteronomistische Historiker wohl auf die Vorlage eines nordisraelitischen Retterbuches Ri 3,12–9,55* aus der Zeit Jehus (845–818) zurück (Richter 21966; anders Becker 1990, der die schriftliche Fixierung der Überlieferung von den Großen Richtern erst auf DtrH zurückführt). Im Einzelnen berichtet DtrH in Ri 3–16 von folgenden charismatischen Führergestalten, die israelitische Einzelstämme militärisch gegenüber kanaanäischen Stadtstaaten und feindlichen Stämmen verteidigt haben: 1. Ri 3,7–11 (ein durchgängig dtr. formulierter Bericht): Otniel, der Bruder von Kaleb, der die Israeliten aus der Hand Kuschan-Rischatajims, des Königs von Mesopotamien, befreit. 2. Ri 3,12–30: Ehud aus Benjamin, der die Moabiter unter ihrem König Eglon besiegt. 3. Ri 3,31 (Notiz, die offensichtlich erst sekundär in den dtr. Zusammenhang von 3,30 und 4,1 eingefügt worden ist): Schamgar (ohne Herkunftsbezeichnung), der sechshundert Philister erschlägt. 4. Ri 4 (Prosaerzählung) und 5 (Deboralied): Debora aus Ephraim und Barak aus Naftali, die unter der weiteren Beteiligung der Stämme Benjamin, Machir, Sebulon und Issachar gegen Kanaanäerstädte unter Sisera von Haroschet (nordwestl. Ende der Jesreelebene) in einer Schlacht am Bach Kischon (zur Lokalisierung der Schlacht vgl. Neef) einen entscheidenden Sieg erzielen. 5. Ri 6–8: Gideon aus Manasse, der vor allem die Midianiter besiegt. 6. Ri 10,6–12,6: Jeftah aus Gilead, der die Ammoniter bekämpft. 7. Ri 13–16: Simson von Dan (dessen Stammesgebiet sich hier noch im Hügelland westlich von Jerusalem befindet; vgl. Zora in Ri 13,2), der in Einzelaktionen gegen die Philister kämpft.
112
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Soweit hier alte Traditionen vorliegen (vgl. dazu vor allem den Kern des Deboralieds in Ri 5), sind sie der zweiten Phase der Landnahme, dem kriegerischen Landesausbau (Alt), zuzuordnen. Sie zeigen, dass es in der vorstaatlichen Zeit nur zu einem gelegentlichen militärischen Zusammenwirken einzelner Stämme gekommen ist. Eine umfassendere militärische Kooperation der israelitischen Stämme wurde schon durch den nördlichen und den südlichen Querriegel von Kanaanäerstädten verhindert, die das Gebiet der Stämme in drei Teile aufspalteten (vgl. dazu Ri 1,27: die nicht eroberten nördlichen Städte Bet-Schean, Taanach, Dor, Jibleam, Megiddo; und Ri 1,21.29.35: die nicht eroberten südlichen Städte Jerusalem, Geser, Ajalon und Schaalbim). 10.1.2. Die Liste der Kleinen Richter (Ri 10,1–5; 12,7–15) Während die Überlieferungen von den sog. „Großen Richtern“ kein gesamtisraelitisches militärisches Zusammenwirken kennt, spricht die Liste der „Kleinen Richter“ davon, dass diese jeweils Israel über einen längeren Zeitraum „richteten“. Martin Noth hat die These vertreten, dass die „Kleinen Richter“ im Rahmen eines israelitischen Zwölfstämmebundes das Amt eines „Gesetzessprechers“ (vgl. dazu unten 10.2.1.) ausübten. Dagegen wird eingewendet, dass das „Richten über Israel“ möglicherweise ein der Liste sekundär zugefügtes Element darstellt, da die übrigen Angaben der Liste zu den einzelnen „Kleinen Richtern“ nur lokale Bezüge betreffen: 1. Tola aus Issachar wohnt in Schamir auf dem Gebirge Ephraim und wird dort auch begraben. 2. Jaïr aus Gilead besitzt dreißig Söhne, die dreißig Städte mit Namen „Dörfer Jairs“ hatten, und wird in Kamon begraben. 3. Jeftah aus Gilead (zu identifizieren mit dem „Großem Richter“ Jeftah) wird in seiner Stadt in Gilead begraben. 4. Ibzan aus Bethlehem hat dreißig Söhne und wird begraben in Bethlehem. 5. Elon aus Sebulon wird begraben in Ajalon im Land Sebulon. 6. Abdon aus Piraton hat vierzig Söhne und dreißig Enkel und wird begraben in Piraton im Land Efraim. Aufgrund dieser lokalen Bezüge hat man vermutet, dass es sich bei den „Kleinen Richtern“ ursprünglich um „Bezirksherrscher“ handelte (W. Richter), zumal – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – wenig dafür spricht, dass die „Kleinen Richter“ das Gesetzessprecheramt einer israelitischen Zwölfstämme-Amphiktyonie ausgeübt haben.
Identität „Israels“ und Traditionen der Königszeit
10.2.
113
Die Stämmeorganisation der Richterzeit
10.2.1. Die These Martin Noths von Israel als amphiktyonischem Stämmeverband Die das ganze AT bestimmende Vorstellung von Israel als einem aus 12 Stämmen bestehenden Volk geht nach Martin Noth (1930) bereits auf die vorstaatliche Zeit zurück. Noth rechnet dabei mit zwei unterschiedlichen Varianten dieses Systems: Zum einen handelt es sich um ein genealogisches System (System A), das die Eponymen der zwölf Stämme als Söhne Jakobs und seiner Frauen Lea und Rahel und deren Mägde Silpa und Bilha darstellt. Der wichtigste Beleg für dieses System A findet sich in der Erzählung von der Geburt der Jakobsöhne in Gen 29,31–30,24 + 35,16–20. Nach diesem System werden die Eponymen der israelitischen Stämme folgenden Müttern zugeordnet: Lea:
Ruben Simeon Levi Juda Issachar Sebulon (nicht in das Stämmesystem gehört Leas Tochter Dina, sie dürfte aus Gen 34 nach Gen 30,21 eingedrungen sein).
Rahel: Josef Benjamin Bilha: (Magd Rahels): Dan Naftali Silpa: (Magd Leas):
Gad Asser
Das gleiche System A wird nun auch im Jakobsegen von Gen 49 gebraucht. Auch in Gen 46,8–27 und in Ex 1,2–4 liegt es vor. Ein davon zu unterscheidendes System (System B) findet sich in Num 26,5–51 (vgl. auch Num 1,5–16 und 1,20–46): In ihm fehlt Levi, außerdem treten an die Stelle Josefs die Namen seiner Söhne Ephraim und Manasse. Noth meint nun, System A in die frühere Richterzeit und System B wegen der Entsprechung zu den Stämmevorstellungen des Deboraliedes (auch hier Differenzierung in Ephraim und Machir/Manasse) in die spätere Richterzeit datieren
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
zu können. Auch postuliert er aus der Tatsache, dass trotz der Veränderungen im Stämmebestand an der Zwölfzahl der Stämme festgehalten wird, das Vorliegen einer institutionellen Grundlage, die das Vorhandensein einer Zwölfzahl von Stämmen erforderlich macht. Dass die Zwölfzahl bei Stammeseponymen kein Zufall ist, belegen nach ihm auch Gen 22,20–24 (12 Söhne Nahors); 25,13–16 (12 Söhne Ismaels); 36,10–14 (12 Söhne Esaus). Bemerkenswert ist auch das Vorliegen der Sechszahl bei den Keturasöhnen in Gen 25,2. Bei der Suche nach einer institutionellen Analogie, die die Zwölfzahl erklären kann, stößt Noth auf die griechischen und altitalischen Zwölfstämmebünde (Amphiktyonien = vorstaatliche Verbände von „umwohnenden“ Stämmen um ein Zentralheiligtum). Der bekannteste griechische Zwölfstämmebund ist dabei die pyläisch-delphische Amphiktyonie, die ursprünglich ihr Zentralheiligtum an den Thermopylen hatte und es später nach Delphi verlegte. Die Zwölfzahl der Stämme erklärt sich bei diesen Amphiktyonien daraus, dass jeder Stamm für einen Monat das Heiligtum zu unterhalten hat. Charakteristisch für diese Amphiktyonien sind außerdem ein gemeinsamer Festkult und ein gemeinsames Recht. Zudem sind die Mitglieder der Amphiktyonie zum Krieg gegen ein anderes Mitglied verpflichtet, wenn dies gegen das Amphiktyonenrecht verstößt. Nach Noth sind diese typischen Merkmale der griechisch-altitalischen Amphiktyonien auch für den vorstaatlichen israelitischen Stämmebund nachzuweisen: 1. Auch in Israel handelt es sich um einen vorstaatlichen Verband sesshafter Stämme. 2. Als Zentralheiligtum sei in Israel die heilige Lade (vgl. 1Sam 4–6 und 2Sam 6) anzunehmen, bei der Noth 1930 annimmt, dass sie sich vor Silo und Jerusalem nur in Sichem befunden habe. 1950 rechnet er damit, dass die Lade vor Silo und nach Sichem auch in Bethel (vgl. Ri 20,27 f.) und in Gilgal (vgl. Jos 3,3 ff.) stationiert gewesen sei. 3. Auch für den israelitischen Zwölfstämmebund nimmt Noth eine komplexe Vorgeschichte an: Zunächst hätten die Leastämme eine 6-Stämme-Amphiktyonie mit Namen „Israel“ gebildet. Durch den Bundesschluss von Sichem (Jos 24) seien dann die Rahel- und die Mägdestämme hinzugekommen und hätten den Zwölfstämmebund gebildet. Erst damals sei „Israel“ durch die Aufnahme der Exodustradition zu einem Jahwebund geworden. 4. Auch habe der israelitische Stämmebund den Krieg gegen unbotmäßige Amphiktyoniemitglieder gekannt, wie Ri 19–21 (Krieg gegen Benjamin wegen der Schandtat von Gibea) zeige. Bei Kriegen gegen äußere Feinde spiele allerdings die Amphiktyonie keine Rolle (anders G. von Rad, der den Heiligen Krieg als Institution der israelitischen Amphiktyonie verstehen will).
Identität „Israels“ und Traditionen der Königszeit
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5. Mit dem Amphiktyonenrecht bringt Noth die in Ri 10,1–5*; 12,7–15* aufgeführten „Kleinen Richter“ in Verbindung. Die Aussage „sie richteten Israel“ bezieht er auf das das Gottesrecht verwaltende Amt eines amphiktyonischen Richters für besonders schwierige Fälle der Rechtsfindung (vgl. Dtn 17,8–13). Auch Albrecht Alt hatte bereits die Kleinen Richter mit dem aus dem mittelalterlichen Island bekannten Amt des sog. „Gesetzessprechers“ verglichen, der alljährlich beim Allthing der versammelten Volksgemeinde das jeweils gültige Recht zu verkündigen hatte und bei besonders streitigen Rechtsfällen zur Auskunftserteilung herangezogen werden konnte. 10.2.2. Die Bestreitung einer Jahwe-Amphiktyonie In der neueren Diskussion (vgl. dazu vor allem Fohrer 1966) ist es zu einer weitgehenden Infragestellung der Nothschen Amphiktyonie-Hypothese gekommen. Gegen die Annahme eines vorstaatlichen Jahwestämmebundes werden u. a. folgende Argumente angeführt: 1. Es fehlt im AT ein Name für eine solche amphiktyonische Institution (der Name „Israel“ kann nicht als Ersatz für einen entsprechenden Begriff angeführt werden, da für eine von der Jahweverehrung bestimmte Institution nicht ein El-haltiger Name stehen kann). Auch sind die für eine solche Institution angeführten Analogien nur im griechisch-altitalischen Raum belegt, nicht jedoch in der unmittelbaren altorientalischen Umwelt Israels. 2. In Israel ist kein vorstaatliches Zentralheiligtum zu belegen. Die heilige Lade ist vorstaatlich nur für Silo (vgl. 1Sam 4–6) bezeugt und war deshalb wohl nur ein Heiligtum der mittelpalästinischen Stämme. Die Erwähnung der Lade im Zusammenhang des Heiligtums von Bethel (Ri 20,27 f.) ist literarisch sekundär. Aber auch der Bezug der Lade zu Gilgal (Jos 3–4) stellt keine alte Gilgaltradition dar (vgl. zuletzt Fritz). Überhaupt nicht belegt ist ein Aufenthalt der Lade in Sichem. 3. Auch hinter dem in Jos 24 beschriebenen „Bundesschluss von Sichem“ wird man keine historisch auswertbare Überlieferung sehen können (vgl. Perlitt). 4. Des Weiteren ist auch Ri 19–21 nicht als historischer Beleg für einen Amphiktyonenkrieg auszuwerten. Die jetzt vorliegende Erzählung Ri 19–21* dürfte – wie schon Wellhausen gezeigt hat – ein Erzeugnis der nachexilischen Zeit darstellen, das in dieser Situation ein „Plädoyer für das Königtum“ (H.-W. Jüngling) vornimmt. Die der jetzigen Erzählung zugrundeliegenden Traditionen beziehen sich jedenfalls nur auf militärische Auseinandersetzungen innerhalb der Rahelstämme. 5. Außerdem kann auch die Liste der Kleinen Richter kaum auf das amphiktyonische Amt eines „Gesetzessprechers“ bezogen werden. Zunächst ist – wie
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Wolfgang Richter gezeigt hat – das hebräische Verb ˇspt nicht nur juridisch im Sinne von „richten“ zu verstehen, sondern kann auch „herrschen“ meinen. Angesichts der oben unter 10.1.2. bereits aufgezeigten lokalen Bezüge ist es am nächstliegenden, sie mit W. Richter als eine Liste von Führern anzusehen, die zur zivilen Verwaltung und Rechtsprechung über eine Stadt und einen entsprechenden Landbezirk eingesetzt waren. 6. Schließlich deutet auch die Zwölfzahl der Stämme nicht unbedingt auf eine institutionelle Größe. Vielmehr bezeichnet sie auch sonst im Alten Orient „eine vollkommene Gesamtheit“ (vgl. nur die 12 Monate, die 12 Tierkreiszeichen etc.). Mit den 12 Stämmen wird somit ein vollkommener Umfang Israels zum Ausdruck gebracht (Schorn). Wenn es sich somit bei dem Zwölfstämmesystem nicht um eine institutionelle Gegebenheit der vorstaatlichen Zeit Israels handelt, so stellt sich die neue Frage, wann diese sich im Zwölfstämmesystem zeigende Vorstellung eines vollkommenen Umfangs Israels sich herausgebildet hat. Es spricht einiges dafür, dass dies erst im Laufe der Königszeit geschehen ist. 10.2.3. Die Entstehung des Zwölfstämmesystems in der Königszeit Martin Noth war von der Voraussetzung ausgegangen, dass das die Stämme Levi und Josef enthaltende sog. „genealogische“ System A aus der Zeit vor dem Deboralied stamme. Dabei stellt nach Noth der „Levi“ des Systems A einen weltlichen Stamm dar, der ursprünglich keine Beziehung zu der kultische Aufgaben wahrnehmenden Gruppe der Leviten besaß und bereits in der frühen vorstaatlichen Zeit untergegangen war. Nun ist die Existenz eines solchen weltlichen Stammes Levi kaum überzeugend nachzuweisen. Jedenfalls stellen die für einen weltlichen Stamm angeführten Belege in Gen 34 und 49,5–7 keine alten Traditionen dar (vgl. dazu Gunneweg und zuletzt Schorn). Von daher spricht alles dafür, dass im genealogischen Stämmesystem „Levi“ als Eponym der Gruppe der „Leviten“ zu verstehen ist. Da diese erst in der späteren Königszeit größere kultische Bedeutung erhielt (vgl. vor allem die Forderung des Deuteronomiums, dass die Priester „Leviten“ sein müssen), deutet einiges darauf hin, dass das Stämmesystem mit Levi sich erst in der späteren Königszeit herausgebildet hat (vgl. de Geus). Da sich das stärker auf geographische Gegebenheiten bezogene Stämmesystem B nur in priesterschriftlichen bzw. nachpriesterschriftlichen Texten findet („Levi“ fällt hier wegen seines fehlenden Landbesitzes aus dem „geographischen“ Stämmesystem heraus), ist damit zu rechnen, dass es sich bei dem genealogischen System A um die älteste Form der Zwölfstämmevorstellung handelt. Sie dürfte in der Zeit nach dem Untergang des Nordreiches entwickelt worden
Identität „Israels“ und Traditionen der Königszeit
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sein, um in dieser Krisensituation den „idealen“ Umfang „Israels“ zu bestimmen (Schorn). Für eine Entstehung dieses Süd- und Nordreichstämme umgreifenden Systems erst nach 722 spricht, dass Süd- und Nordreichtraditionen noch in der Prophetie des 8. Jh. im Wesentlichen getrennt erscheinen (vgl. Herrmann und Schmid) und dass sich eindeutige Anzeichen für eine Vereinigung der Überlieferungen der Nord- und der Südstämme erst im Südreich des 7. Jh. v. Chr. ergeben: Hier dürfte auch die Vorstellung von einem 12 Stämme umfassenden „idealen Israel“ entstanden sein (vgl. dazu Schorn).
10.3.
Ausgewählte Literatur
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118
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Die exilisch-nachexilische Zeit
119
Kapitel 4: Die exilisch-nachexilische Zeit
§ 11
Die Zeit des babylonischen Exils und die Wiedererrichtung des Jerusalemer Tempelkultes
11.1.
Die Einnahmen Jerusalems durch Nebukadnezar (604–562) in den Jahren 597 und 587
11.1.1. Vorgeschichte unter den Nachfolgern des Königs Josia: Joahas (609) und Jojakim (608–598) Nach dem Tod des Josia (609) wurde zunächst – unter Übergehung Eljakims, des ältesten Sohnes Josias, – Joahas vom judäischen Landadel (am h¯a#a¯ ræs.) zu seinem Nachfolger erhoben. Allerdings wurde diese Königserhebung drei Monate später durch den inzwischen die Oberhoheit über Syrien-Palästina ausübenden ägyptischen König Necho II. (610–595) korrigiert. Er setzte Joahas ab und inthronisierte statt seiner Eljakim, wobei er ihn – um seine Oberhoheit zum Ausdruck zu bringen – in „Jojakim“ umbenannte. Im Jahre 605 verliert Necho durch eine Niederlage gegen den neubabylonischen Kronprinzen Nebukadnezar bei Karkemisch seine Oberhoheit über den syrischpalästinischen Raum, wie dies die Babylonische Königschronik (vgl. dazu die Ausgabe von Wiseman) berichtet (vgl. auch Jer 46,2). Dadurch wurde auch Jojakim zum Vasall der Babylonier (2Kön 24,1a). Allerdings fiel Jojakim relativ kurze Zeit danach (2Kön 24,1a spricht von drei Jahren) wieder von den Babyloniern ab (2Kön 24,1b). Ursache dafür war wohl die Niederlage Nebukadnezars in Ägypten im Jahre 601 v. Chr., von der nur die Babylonische Königschronik berichtet. 11.1.2. Die erste Einnahme Jerusalems (597) In Reaktion auf den Abfall kam es dann im Jahre 598 zu einer Belagerung von Jerusalem durch die Babylonier. Inzwischen war Jojakim gestorben, und an seiner Stelle war sein Sohn Jojachin (598/97) König geworden (2Kön 24,6.8). Um
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
die Zerstörung Jerusalems durch einen Sturmangriff der babylonischen Truppen zu vermeiden, übergab Jojachin drei Monate nach Regierungsantritt (nach der Babylonischen Chronik am 2. Adar = 16. März 597) die Stadt an Nebukadnezar. 2Kön 24,14–16 berichten von einer umfänglichen Deportation der Oberschicht von Juda-Jerusalem nach Babylonien. Betroffen waren der junge König und seine Familie, die politische und die militärische Führung und kriegswichtige Handwerker wie Zimmerleute und Schmiede. 2Kön 24,14 spricht dabei von ca. 10 000 Deportierten; Jer 52,28 nennt 3023 Judäer. Wie beide Angaben in Beziehung zueinander zu setzen sind, ist in der Forschung ungeklärt. 11.1.3. Die zweite Einnahme und Zerstörung Jerusalems (587) Gleichzeitig mit der Deportation eines Großteils der Oberschicht setzte Nebukadnezar den Onkel Jojachins Mattanja zum neuen König über Juda und Jerusalem ein, wobei sein Name in „Zedekia“ umbenannt wurde (2Kön 24,17). Wahrscheinlich unter starkem innenpolitischem Druck (vgl. dazu nur die antibabylonische Tendenz von Heilspropheten wie Hananja in Jer 28,1 ff. und von gegen Jeremia vorgehenden Oberschichtkreisen in Jer 37–38) fiel Zedekia relativ bald wieder von der babylonischen Oberhoheit ab (vgl. 2Kön 24,20b), wobei er wohl auf die Unterstützung durch den ägyptischen König Apries/Hofra (589–570; vgl. Jer 44,30) hoffte. Der Umstand, dass während der folgenden Belagerung Jerusalems durch die Babylonier ein ägyptisches Entsatzheer – allerdings letztlich erfolglos – eingreift (vgl. Jer 37,5), spricht dafür. Die als Reaktion auf den Abfall erfolgende Belagerung Jerusalems dauerte vom Winter 589/588 bis zum Sommer 587 (nach Jer 34,7 werden auch Aseka und Lachisch belagert), die schließlich mit der Erstürmung Jerusalems (9. Tammus = Juni/Juli 587) durch die Babylonier endete. Als Folge der Eroberung Jerusalems kam es zur Vernichtung des Tempels (2Kön 25,8 f.), zur Zerstörung der Stadtmauern (25,10) und zur Beseitigung des Königtums: Nach 2Kön 25,6 f. wurde Zedekia geblendet und gefangen nach Babylon gebracht. Gleichzeitig wurden seine Söhne getötet. Schließlich fand auch noch eine zweite Deportation der Oberschicht statt (Jer 52,29 spricht von 832 Jerusalemern). Diese Katastrophe von 587 bedeutete somit eine radikale Infragestellung grundlegender religiöser Traditionen Israels und Jerusalems (Landverheißung, Zionsverheißung, Nathanverheißung).
Die exilisch-nachexilische Zeit
11.2.
121
Die Lebensverhältnisse im Land Juda nach 587
11.2.1. Politische Lage Anders als bei der assyrischen Eroberung des Nordreiches im Jahre 722 v. Chr. wurde nach 587 in Juda durch die Babylonier keine neue Oberschicht angesiedelt. Vielmehr setzte man als babylonischen Statthalter ein Mitglied einer führenden judäischen Beamtenfamilie ein: Gedalja, den Sohn Ahikams und den Enkel Schafans, des führenden Beamten Josias (2Kön 25,22). Gedalja wählte als Sitz seiner Verwaltung die 13 km nördlich von Jerusalem gelegene Stadt Mizpa (25,23). Der von ihm unternommene Versuch einer Zusammenarbeit zwischen Judäern und Babyloniern wurde durch seine Ermordung beendet. Verantwortlich für diesen politischen Mord war ein Angehöriger des königlichen Geschlechts mit Namen Jischmael ben Netanja (25,25; vgl. Jer 41*), der offensichtlich mit ammonitischer Unterstützung (vgl. Jer 40,14) gehandelt hatte. Um der babylonischen Rache zu entgehen, floh die Umgebung Gedaljas nach Ägypten (2Kön 25,26). Auch der Prophet Jeremia, der nach 587 zu Gedalja gehalten hatte (Jer 40*), wurde gegen seinen Willen nach Ägypten verschleppt (Jer 42–44*). 11.2.2. Religiöse Situation Bemerkenswert ist, dass trotz der Zerstörung Jerusalems und seines Tempels die religiöse Bindung der Judäer und auch der Bewohner Samariens an die Tempelstätte von Jerusalem gewahrt blieb. So wird in Jer 41,4 f. von Wallfahrten zu einer Klagefeier an der Tempelstätte in Jerusalem berichtet, die hier sogar von Bewohnern Sichems, Silos und Samarias durchgeführt wurde. Dies zeigt, dass sowohl in Juda als auch im Gebiet des ehemaligen Nordreiches trotz der babylonischen Zerstörung Jerusalems am Glauben an die göttliche Erwählung des Zion festgehalten wurde.
11.3.
Die Situation in der babylonischen Gola
11.3.1. Die Situation der Deportierten Ein Bild von den Lebensverhältnissen der nach Babylonien deportierten judäischen Bevölkerung lässt sich am ehesten aus dem Ezechielbuch gewinnen. Die hier vorliegende Beschreibung der Lebensumstände des 597 nach Babylonien deportierten Propheten Ezechiel dürfte in ihrem Kernbestand historisch verwertbar sein. Danach wohnten die judäischen Exulanten in eigenen Siedlungen (vgl.nur Ezechiels Aufenthaltsort Tel-Abib am Kanal Kab¯aru bei Nippur südöstl.
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
von Babylon nach Ez 1,1.3; 3,15 etc.; aber auch Tel-Melach, Tel-Harscha, KerubAddon und Immer in Esr 2,59 und Kasifija in Esr 8,17) und konnten daher dort ihre kulturelle und religiöse Identität bewahren. Gleichzeitig lässt sich dem Kernbestand des Briefes Jeremias an die babylonische Gola in Jer 29,5 ff.* entnehmen, dass die dortigen Exulanten die Möglichkeit besaßen, Familien zu gründen, Häuser zu bauen und Gartenbau zu betreiben. Dass die Exulanten in Babylonien auch zu Wohlstand kommen konnten, zeigen die hohen Spenden zugunsten des Wiederaufbaus des Tempels, die den um 520 aus Babylonien heimgekehrten Exulanten zugeschrieben werden: Esra 2,68 f. (vgl. ähnlich Neh 7,69–72) sprechen von 5000 Minen Silber und von 61 000 Golddrachmen, also von außergewöhnlich hohen Summen. Bestätigt wird die im allgemeinen gute wirtschaftliche Lage der Exulanten durch die in Nippur ausgegrabenen Dokumente eines Geschäftshauses des 5. Jh. v. Chr. Zu den Kunden dieses Hauses gehören, wie die Auswertung der in den Dokumenten aufgeführten Namen ergab, zahlreiche Personen mit israelitischen Namen. 11.3.2. Die Situation des deportierten Königs Jojachin Dass auch der deportierte König Jojachin in Babylon unter erträglichen Bedingungen lebte, zeigen bei Ausgrabungen im Palastbereich von Babylon gefundene Keilschrifttafeln. Auf vier dieser Tafeln (eine davon ist auf das Jahr 592 v. Chr. datiert) sind Lieferungen von Sesamöl für Jojachin und für fünf seiner Söhne dokumentiert. Von einer Art Amnestie Jojachins durch den Nachfolger Nebukadnezars, Awil-Marduk (hebr. Ewil-Merodach), berichtet schließlich 2Kön 25,27–30. Danach soll Jojachin bis zu seinem Lebensende eine Ehrenstellung am babylonischen Königshof eingenommen haben und zur königlichen Tafel zugelassen worden sein. 11.3.3. Die religiöse Situation Aus Ps 137 lässt sich entnehmen, dass die babylonischen Exulanten in Klagefeiern die Erinnerung an die religiöse Zionstradition aufrechterhielten. Die große Bedeutung der Jerusalemer Tradition für die Hoffnung auf eine Rückkehr ins Gelobte Land zeigen auch die im babylonischen Exil entstandenen Heilsprophetien Deuterojesajas (Jes 40–55*; vgl. auch die exilischen Wurzeln der Heilsprophetien des Ezechielbuches Ez 33–48*). Der wohl auch im babylonischen Exil verfassten Grundschrift der Priesterschrift (PG vgl. unten § 20.2.) ist zu entnehmen, dass die Praxis der Beschneidung (vgl. Gen 17) und die Feier des siebten Tages (Gen 2,1–3) für die Wahrung der religiösen Identität der exilierten Judäer von großer Wichtigkeit waren. Opferkult
Die exilisch-nachexilische Zeit
123
war in Babylonien als einem unreinen Land (vgl. Ez 4,13) nicht möglich, eventuell ist mit der exilischen Entstehung von Formen des Wortgottesdienstes zu rechnen (vgl. Ez 11,16; anders Owczarek).
11.4.
Die Rückkehr aus dem babylonischen Exil und der Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels (515 v. Chr.)
11.4.1. Das Ende des babylonischen Reiches 539 v. Chr. Nach dem Tod Nebukadnezars II. (562 v. Chr.) kam es zu einem raschen Niedergang des babylonischen Königtums. Der Sohn Nebukadnezars Awil-Marduk (562–560, vgl. oben 11.3.2.) wurde 560 v. Chr. durch seinen Schwager Neriglissar (vgl. zu ihm als an der Eroberung Jerusalems 587 v. Chr. beteiligten babylonischen Beamten Jer 39,3.13) gestürzt. Nach Neriglissars Tod 556 v. Chr. gelang es dem Kronprinzen Labaschi-Marduk wiederum nicht, die Macht zu behaupten. Er fiel einem Mord zum Opfer, worauf der aus Haran stammende Nabonid, der Sohn eines Statthalters und der Sin-Priesterin Adda-Guppi, König wurde. Nabonid versuchte, sich gegenüber der Beamtenschaft von Babylon und vor allem gegenüber der dortigen Mardukpriesterschaft eine eigene Machtbasis aufzubauen, und zog sich 550 v. Chr. zu diesem Zweck in die Oase Tema auf der arabischen Halbinsel zurück. Die Vertretung des Königtums in Babylon überließ er dem Kronprinzen Belsazar (vgl. zu ihm auch Dan 5,1 ff., wo er als letzter König des neubabylonischen Reiches missverstanden ist). Als im Jahre 540 v. Chr. Nabonid nach Babylon zurückkehrte, war der Zerfall des babylonischen Königtums nicht mehr aufzuhalten. Die Marduk-Priesterschaft war inzwischen zu einer radikalen Ablehnung des Königtums Nabonids gekommen. Jedenfalls lässt sich dies dem gegen Nabonid gerichteten „Strophengedicht“ (vgl. die englische Übersetzung von Oppenheim, und dazu von Soden und Högemann) entnehmen, dessen Kern wohl noch auf die Zeit vor 539 v. Chr. zurückgehen dürfte. Gleichzeitig setzte sich die Marduk-Priesterschaft für die Übernahme der Macht in Babylonien durch den Perserkönig Kyrus II. ein. 11.4.2. Der Aufstieg des Perserkönigs Kyrus II. (558–530) Um 550 v. Chr. wurde der König des medischen Reiches, Astyages, von einem seiner Vasallen, dem Perserkönig Kyrus II., besiegt und damit ein persisch-medisches Reich geschaffen. Nach einem überraschend schnell erzielten Sieg über Krösus von Lydien (547/46) konnte Kyrus dieses Reich bis an die Westküste Kleinasiens erweitern.
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Die Einnahme Babylons wurde, wie die Nabonid-Chronik (vgl. hierzu die Übersetzung von Borger) berichtet, eingeleitet durch einen Sieg der Perser über Nabonids Heer bei Opis am Tigris. Auch lief der babylonische Statthalter von Gutium, Ugbaru (von den Griechen „Gobryas“ genannt), zu den Persern über. Dieser zog schließlich zusammen mit den Truppen des Kyrus kampflos in Babylon ein (am 16. Tischri = 12. Oktober 539). 11.4.3. Die persische Religionspolitik unter Kyrus II. Nach dem Kyrus-Zylinder (vgl. zu ihm die Übersetzung von Borger) hat Kyrus nach der Einnahme von Babylon den babylonischen Stadtgott Marduk als durch den persischen König zu verehrenden Gott anerkannt. Diese Anerkennung bedeutet nicht eine Bekehrung des Persers zur Religion der Babylonier. Vielmehr ist sie als Ausdruck einer Politik der Toleranz gegenüber der Kultur und Religion der Völker des Perserreiches zu verstehen. Im gleichen Sinne ist auch das Juda und Jerusalem betreffende Kyrus-Edikt von 538 zu interpretieren. Die älteste atl. Fassung, deren Kernbestand historisch sein dürfte, liegt in dem aramäischen Text von Esra 6,3–5 vor. Nach diesem Edikt ordnet der persische König die Wiedererrichtung des Jerusalemer Tempels mit finanzieller Unterstützung der persischen Staatskasse an. Gleichzeitig verfügt er die Zurückgabe der goldenen und silbernen Tempelgeräte, die Nebukadnezar 597 und 587 nach Babylon verschleppt hatte. Die Rückgabe der Tempelgeräte wurde nach Esr 5,13–15 noch im Jahre 538 vollzogen. Durchgeführt wurde sie durch Scheschbazar, dessen Amt (als Amtsbezeichnung ist pæh¯ah gebraucht) am besten als „Wiedergutmachungskommissar“ (Alt, Donner) zu verstehen ist. Nichts spricht dafür, dass Scheschbazar bereits das Amt eines „Statthalters“ von Juda ausgeübt hat (gegen Fohrer u. a.). Jedenfalls dürfte die Aussage von Esr 5,16, dass Scheschbazar bereits den Grundstein des zweiten Tempels gelegt habe, unhistorisch sein (vgl. dagegen die historisch verlässlicheren Nachrichten von Sach 4,7.9, nach denen die Grundsteinlegung des Zweiten Tempels durch Serubbabel vollzogen wurde). 11.4.4. Der Bau des Zweiten Tempels Zum Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels ist es somit erst nach dem Tod des Kambyses (530–522, unter ihm wurde 525 v. Chr. Ägypten durch die Perser erobert), gekommen. Ein wesentlicher Impuls zum Wiederaufbau des Tempels ging – wie schon angedeutet – von Serubbabel aus, einem Enkel Jojachins (vgl. 1Chr 3,17–19), der wahrscheinlich um 520 (so Galling und Donner) an der Spitze einer Gruppe von Rückkehrern aus dem babylonischen Exil nach Jerusalem kam (vgl. dazu die Heimkehrerliste von Esr 2 par. Neh 7). Mit ihm, der als
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125
persischer „Repatriierungskommissar“ (Alt, Donner) zu verstehen ist, kam auch der Priester Jeschua (vgl. Esr 2,2 und Sach 3,1–9*; 4,1–14*; 6,9–13*) nach Jerusalem zurück, der ebenfalls den Wiederaufbau des Tempels energisch betrieb (Hag 1,14). Stark unterstützt wurde das Unternehmen schließlich durch die Propheten Haggai und Sacharja (vgl. auch Esr 6,14), so dass es nach Sach 4,7.9 im Jahr 520 bereits zur Grundsteinlegung des Tempels durch Serubbabel kam. Esr 6,15 berichtet dann von der Vollendung des Baus des Zweiten Tempels im Jahre 515 v. Chr. Bemerkenswert ist, dass bei der Einweihung Serubbabel nicht mehr erwähnt wird. Man hat vermutet, dass die mit Serubbabel verbundenen messianischen Erwartungen (vgl. Hag 2,20–23 und den Kernbestand von Sach 6,9 ff.* und dazu unten § 45) zu seiner Abberufung durch die persische Verwaltung geführt haben. Doch gibt es für eine solche Annahme keine Anhaltspunkte.
11.5.
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Karte 5: Das persische Großreich (aus: H. Donner, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen 2, Göttingen 32001, S. 437)
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
§ 12
Die Kooperation mit dem Perserreich im 5. und 4. Jh. v. Chr.
12.1.
Die persische Politik des 5. Jh. und das Wirken Nehemias
12.1.1. Das Perserreich im 5. Jh. Wie sich die Beziehungen zwischen Juda und Jerusalem zum Perserreich in der Zeit nach der Wiedereinweihung des Zweiten Tempels im Jahre 515 v. Chr. gestaltet haben, bleibt angesichts fehlender Quellen dunkel. Im Hinblick auf die Gesamtsituation des Perserreiches ist nur festzustellen, dass schon zu Beginn des 5. Jh. sich erste Grenzen der persischen Macht zeigten. Noch gegen Ende der Regierungszeit von Darius I. (522– 486) kam es zur Niederlage der Perser gegen die Athener bei Marathon (490). Unter Xerxes (485–465) folgten dann weitere Misserfolge gegen die Griechen: 480 erlitt die Flotte des Xerxes bei Salamis eine Niederlage, und 479 wurde bei Plataeae das persische Heer geschlagen. Stärker den palästinischen Raum betraf während der Regierungszeit des Artaxerxes I. Longimanus (464–424) der Aufstand des Inaros in Ägypten, der um 460 ausbrach und erst um 454 niedergeworfen werden konnte (vgl. dazu Kaiser). Vor allem die zuletzt genannte Krise machte der persischen Regierung deutlich, dass die während der Regierungszeit des Xerxes und zu Beginn der Regierungszeit des Artaxerxes bestehenden Spannungen zwischen Jerusalem und Samaria (vgl. dazu Esr 4,6 ff.) einer Lösung bedurften, um nicht auch Palästina als wichtiges Grenzgebiet gegenüber Ägypten zu destabilisieren (vgl. Hoglund). Als Konsequenz kam es zur Entsendung von Nehemia durch den persischen Hof. 12.1.2. Das von Artaxerxes I. (464–424) geschaffene Amt Nehemias Für die Geschichte Nehemias steht als Quelle vor allem die sog. „Nehemiadenkschrift“ zur Verfügung, die der Darstellung des Nehemiabuches in Neh 1,1–7,5*; 12,27– 43* und 13,4–31* zugrunde liegt. Mit großer Wahrscheinlichkeit geht diese Denkschrift auf Nehemia selbst zurück. Das „Ich“ dieser Texte dürfte somit (anders als das „Ich“ der Esradarstellung von Esr 8–10) authentisch sein (vgl. unten § 26.3.2.). Nach Neh 2,1; 13,6 wirkte Nehemia in der Zeit von 445–433 in Jerusalem. Nach Neh 1,1–11 war er Nachkomme von jüdischen Exulanten, die in Babylonien geblieben waren, und war als Beamter am Hof in Susa zum Mundschenk von Artaxerxes I. (464–424) aufgestiegen. Diesem Amt folgte eine Beauftragung durch den persischen König als Wiederaufbaukommissar für Jerusalem (Neh 2,1–8). Von einer Einsetzung als Statthalter von Juda spricht die Denkschrift nicht. Allerdings kann die 12jährige Tätigkeit Nehemias in Juda nur als „Statthalter-
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schaft“ gedeutet werden (vgl. auch Neh 5,14 „pæh¯ah [text.emend.] im Land Juda“, wobei pæh¯ah unterschiedliche Ämter bezeichnen kann: in Esra 5,3.6; 6,6.13; Neh 3,7 meint es den Satrapen, in Esra 5,14 und in Hag 1,1.14; 2,2.21 Kommissare mit begrenzten Aufgaben, dagegen in Esr 8,36; Neh 2,7.9 und auch in Neh 5,14 Provinzstatthalter). Es ist daher anzunehmen, dass Nehemia im Anschluss an seine Beauftragung mit dem Wiederaufbau Jerusalems die Aufgabe eines Statthalters in Juda übernahm. Auch sonst spricht einiges dafür, dass Juda erst während der Tätigkeit Nehemias zu einem eigenständigen Verwaltungsbezirk mit einem eigenen Statthalter wurde: Bei dem Widerstand der Samarier gegen den Wiederaufbau Jerusalems am Anfang der Regierungszeit von Artaxerxes I. (464–424) ist der für die persische Regierung zuständige Verhandlungspartner die Verwaltung von Samaria (Esra 4,7–22), von einem für Juda zuständigen persischen Statthalter verlautet nichts. Auch bei den Verhandlungen des Satrapen von Transeuphratene mit Juda über den Wiederaufbau des Tempels 518 v. Chr. (Esr 5,3–17) wird Juda nicht von einem Statthalter, sondern nur von Ältesten repräsentiert. Es deutet daher alles darauf hin, dass die Perser bei der Übernahme der Macht in Palästina an der territorialen Gliederung festhielten, die die Babylonier (wahrscheinlich nach der Ermordung des judäischen Statthalters Gedalja) geschaffen haben. Nach ihr gehörte Juda mit zum Verwaltungsbezirk des Statthalters von Samaria (vgl. Alt). Während es vor der Zeit Nehemias keine eindeutigen Hinweise für einen eigenständigen persischen Verwaltungsbezirk „Juda“ gibt (anders Schaper), finden sich für die 2. Hälfte des 5. Jh. klare Indizien: Seit dieser Zeit lassen sich in den archäologischen Funden Siegelabdrücke, Krughenkel und Münzen mit der Aufschrift „Jehud“ nachweisen. Auch ist der in Elephantine gefundene Brief 30 (Zählung nach der Ausgabe von Cowley), der in das Jahr 407 v. Chr. datiert ist, an einen Statthalter von Juda gerichtet (vgl. 2.1: „An unseren Herrn Bagohi, den Statthalter von Juda“). 12.1.3. Die Maßnahmen Nehemias 12.1.3.1. Nach Neh 2,1–8 war Nehemia vom persischen König Artaxerxes I. zunächst mit dem Wiederaufbau der Mauern von Jerusalem beauftragt worden. Dies bedeutete gleichzeitig die Aufhebung des zu Beginn seiner Regierungszeit erlassenen Verbots des Jerusalemer Mauerbaus. Nach Neh 6,15 hat Nehemia diesen Wiederaufbau in 52 Tagen gegen den Widerstand des Statthalters von Samaria Sanballat, des Ammoniters Tobija, des Arabers (Idumäers?) Geschem und auch von Aschdoditern (vgl. Neh 2–4*; vgl. u. a. 2,19; 4,1) durchgesetzt. 12.1.3.2. Im gleichen Zusammenhang unternimmt Nehemia den Versuch, die zu geringe Bevölkerung Jerusalems (vgl. Neh 7,4 f.) durch einen Synoikismos zu
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mehren: Durch ihn werden Landbewohner nach Jerusalem umgesiedelt. Nach Neh 11,1 f. geschah dies einerseits auf freiwilliger Basis und andererseits durch Losentscheid, wobei es sich beim Bericht vom Losentscheid wohl um eine erbauliche Darstellung handelt (Gunneweg). 12.1.3.3. Zur Beseitigung von sozialen Spannungen, die teilweise aufgrund der starken Belastung durch staatliche Steuern entstanden waren (vgl. Neh 5,4), setzt Nehemia außerdem einen Schuldenerlass durch (Neh 5,1–13). Unmittelbares Ziel dieser Maßnahme war, den Verkauf von Judäerinnen und Judäern in die Schuldknechtschaft zu unterbinden (vgl. Neh 5,2.5). Mit diesem Schuldenerlass verbunden war auch eine Rückgabe von verpfändetem und verkauftem Grundbesitz (5,3.11). Nehemia lässt dabei die entsprechenden Verzichterklärungen der Gläubiger der judäischen Oberschicht durch von den Priestern abgenommene Eide besiegeln (5,12–13). Bemerkenswerterweise zeigen diese Maßnahmen eine gewisse Parallelität zu dem im Athen des selben Jahrhunderts durchgeführten Schuldenerlass des Solon. 12.1.3.4. Des Weiteren setzt sich Nehemia auch für die finanzielle Absicherung der Leviten ein (Neh 13,10–14). Vor allem sorgt er dafür, dass der „Zehnte von Getreide, Most und Öl“ (13,12) – unter einer von Nehemia eingesetzten Kontrollbehörde – in die Vorratskammern des Tempels abgeliefert wird und somit die Leviten den ihnen zustehenden Anteil erhalten. Überhaupt ist für die Zeit Nehemias mit einer politischen und religiösen Aufwertung der Leviten zu rechnen (vgl. Schaper und Achenbach). 12.1.3.5. Auch dringt er auf striktes Einhalten der Sabbatruhe (Neh 13,15–22). Besonders vorgehen muss er in diesem Zusammenhang gegen judäische und auch tyrische Händler, die auch am Sabbat zum Verkauf von Lebensmitteln nach Jerusalem gekommen waren. 12.1.3.6. Schließlich kritisiert Nehemia auch Ehen mit Nichtjudäerinnen (Neh 13,23–29). Er sieht durch die nichtjudäischen Frauen die Weitergabe der jüdischen Tradition an die Kinder als gefährdet an (13,23 f.). Auch geht er gegen eine Ehe des Sohnes des Hohenpriesters Eljaschib mit einer Tochter des samarischen Statthalters Sanballat vor (13,28). In beiden Fällen ist jedoch nur von z. T. handgreiflichen Repressalien, nicht jedoch von einer Auflösung dieser „Mischehen“ die Rede. 12.1.3.7. Aus einer ähnlichen Tendenz heraus unterbindet Nehemia auch Verbindungen von Nichtjudäern zum Jerusalemer Tempel. So wird dem ostjordani-
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schen („ammonitischen“) Beamten Tobija (seinem Namen nach ein Jahweverehrer!) – wieder auf sehr handgreifliche Art und Weise – die Nutzung einer Tempelkammer (die wohl im Auftrag des samarischen Statthalters Sanballat zu amtlichen Zwecken stattfand) entzogen (Neh 13,4–9).
12.2.
Das Wirken Esras
12.2.1. Datierung Esras Anders als bei Nehemia liegt für das Wirken Esras keine alte Quelle vor, so dass man für dieses im wesentlichen auf die Angaben des Chronistischen Geschichtswerks (in Esra 7–10 und in Neh 8–10) angewiesen ist. Älteres Material ist nur dem in Esra 7,12–26 überlieferten Artaxerxes-Erlass zu entnehmen, der trotz chronistischer Überarbeitung in einem Kernbestand authentisches Material aufweist (so zuletzt Donner, anders Gunneweg). Strittig ist schon der Zeitpunkt des Auftretens Esras. Nach Esra 7,8 begann Esra seine Jerusalemer Tätigkeit im 7. Jahr des persischen Königs Artaxerxes. Allerdings kann dem Kontext nicht entnommen werden, ob es sich dabei um Artaxerxes I. (464–424) oder um Artaxerxes II. (404–359) handelt. Bestenfalls kann aus dem Umstand, dass das Chronistische Geschichtswerk Esra vor Nehemia anordnet und mit einem gemeinsamen Auftreten von Esra und Nehemia rechnet (vgl. nur Neh 8,9 und 12,26), geschlossen werden, dass sein Verfasser bei Esra an das 7. Jahr von Artaxerxes I. (458) dachte und dies wohl auch der ihm überkommenen Tradition entsprochen habe (Gunneweg, vgl. schon Kellermann). Demgegenüber hat man darauf hingewiesen, dass nirgends in den alten Nehemia- und Esraüberlieferungen ein gemeinsames Auftreten von Esra und Nehemia vorausgesetzt wird (die vorliegenden Fassungen von Neh 8,9 und 12,26 stellen jedenfalls junge Textentwicklungen dar). Auch deutet in der „Nehemiadenkschrift“ Neh 1–7*.12 f.* nichts darauf hin, dass der Tätigkeit Nehemias ein Wirken Esras vorausging. Von daher spricht die größere Wahrscheinlichkeit dafür, dass Esras Wirken erst im 7. Jahr von Artaxerxes II. (= 398 v. Chr.) begann. 12.2.2. Das Esrabild des chronistischen Geschichtswerks Zwischen der Beschreibung der Aufgaben Esras, wie sie der Artaxerxes-Erlass von Esr 7,12–26* enthält und der sonstigen „chronistischen“ Darstellung Esras in Esr 7–10* und Neh 8–9 herrschen so große Unterschiede, dass man zweckmäßigerweise zwischen beiden Esrabildern differenziert (vgl. besonders Rendtorff). Das im Chronistischen Geschichtswerk vorliegende Bild versteht Esra als „Schriftgelehrten, bewandert im Gesetz Moses“ (Esr 7,6 in der Übersetzung von
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Gunneweg). Diesem Bild entspricht, dass der Chronist in Neh 8 eine zentrale Aufgabe Esras in der öffentlichen Verlesung der Tora des Mose sieht. In Neh 8 entwickelt der Chronist auch seine Vorstellungen von einem Wortgottesdienst ohne Opferkult, der bei ihm allerdings nicht im Gegensatz zum Tempelgottesdienst steht, sondern als eine Art Ergänzung dazu gedacht ist. Im Rahmen dieses chronistischen Verständnisses wird Esra in Esr 7,1–5 gleichzeitig auch als „Priester“ vorgestellt. Allerdings könnte sich in der chronistischen priesterlichen Genealogie Esras auch eine historische Reminiszenz spiegeln, die um die Herkunft Esras aus einem nach Babylonien deportierten Priestergeschlecht wusste. Auch Esras Kampf gegen die Ehen von Judäern mit ausländischen Frauen (Esr 9,1–10,44) entspricht dem chronistischen Bild: Esra wird eine radikalere Durchführung der Maßnahmen Nehemias von Neh 13,23–27 zugeschrieben. So fordert er in Esr 10,11 f. nicht nur wie Nehemia den Verzicht auf zukünftige Mischehen, sondern setzt die Scheidung bestehender Verbindungen mit fremden Frauen durch. 12.2.3. Der historische Esra Angesichts des späten chronistischen Esrabildes von Esr 7–10* muss eine historische Rekonstruktion des Wirkens Esras vom Artaxerxes-Erlass von Esra 7,12–26 ausgehen. Trotz der auch hier vorliegenden chronistischen Überarbeitung ist sein Kern als im wesentlichen historische Darstellung des Auftrages Esras anzusehen (anders Grätz; auch Gunneweg, der Esr 7,12–26 auf chronistische Verfasserschaft zurückführt, jedoch nicht mit freier Erfindung des Chronisten, sondern mit einer weitgehend sachgemäßen Wiedergabe der Rechtssituation im Juda des 4. Jh. v. Chr. rechnet). Nach 7,12 ist Esra, der aus einem nach Babylonien deportierten Priestergeschlecht stammt (vgl. 12.2.2.), vom persischen König als „s¯apar (= Staatskommissar) für das Gesetz (d¯at) des Himmelsgottes“ eingesetzt worden. Dies meint keine Aufgabe als „Schriftgelehrter“, der die Tora des Mose zu verlesen und zu interpretieren hat, wie dies der Chronist in Neh 8–10* schildert. Vielmehr obliegt ihm – wie Esra 7,25 zu entnehmen ist (vgl. Esr 7,14) – die Organisation der synagogalen Gerichtsbarkeit über das Judentum in der Satrapie Transeuphratene. Dabei wird gleichzeitig nach Esr 7,26 das Gesetz des Gottes Esras als Gesetz des persischen Königs anerkannt („Reichsautorisation“; vgl. Frei und dazu kritisch Rüterswörden und Wiesehöfer) und seine Übertretung mit staatlichen Strafen geahndet. Außerdem werden durch den Artaxerxes-Firman Juda und Jerusalem (inwieweit hier von einer „Jerusalemer Bürger-Tempel-Gemeinde“ [so Weinberg] gesprochen werden kann, ist umstritten) personell und finanziell gestärkt: Nach
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Esr 7,13 wird Esra die Repatriierung von Exulanten erlaubt (dass es sich hierbei um die in Esr 8,1–20 genannten 1571 Männer handelt, die von Frauen und Kindern begleitet waren, ist unsicher: Esr 8,1–20 stellt wohl keine vorchronistische Liste dar). Auch spricht Esr 7,15–22 von der Gewährung von einmaligen und regelmäßigen Zahlungen des persischen Staates an den Jerusalemer Tempel. Schließlich gewährt der Erlass in 7,24 Steuerfreiheit für das Tempelpersonal. Kaum historisch dürfte die Bestimmung des Erlasses über die Rückführung von Kultgeräten des Jerusalemer Tempels sein. Sie war bereits Gegenstand des Kyrus-Erlasses und der Beauftragung des Scheschbazar (vgl. oben 11.4.2.). 12.2.4. Das „Gesetz“ (d¯at) von Esr 7,12.14.25f. Nach der Mehrheitsmeinung der heutigen Forschung (vgl. Fohrer, ähnlich Crüsemann, Blum) ist „das Gesetz, das sich in der Hand Esras“ befindet (Esr 7,14) und das durch die persische Regierung als „Gesetz des persischen Königs“ autorisiert wird (Esr 7,26), der „Pentateuch“ von Gen 1 – Dtn 34. Dabei wird meist angenommen, dass der Pentateuch in der babylonischen Diaspora seine heutige Gestalt erhalten habe und von Esra in Juda eingeführt worden sei (vgl. Fohrer). Demgegenüber machen Ulrich Kellermann und Antonius H.J. Gunneweg darauf aufmerksam, dass Esr 7,25 nicht von einem neuen Gesetz spricht, sondern ein bereits gültiges Gesetz voraussetzt. Dabei ist an das deuteronomische Gesetz zu denken, da sich die Maßnahmen Esras und Nehemias durchgehend aus dem deuteronomischen Gesetz herleiten lassen. Schließlich zeigt Rolf Rendtorff, dass d¯at von Esr 7,12 nicht ohne weiteres mit tôr¯ah im Sinne des „Gesetzes des Mose“ zu identifizieren ist. Es kann sich bei dem „Gesetz des Himmelsgottes“ von Esr 7,12 somit durchaus auch um nicht mehr im einzelnen bestimmbare Gesetzesmaterialien handeln. Wahrscheinlich sind diese später in den Pentateuch eingegangen, doch kann ihre Identifizierung nicht mit Sicherheit vorgenommen werden (so Noth und Donner).
12.3.
Entwicklungen außerhalb Judas
12.3.1. Samarien Obwohl es unter Nehemia (445–433) zur staatlichen Unabhängigkeit Judas von Samarien kam, blieb die geistige Verbindung zwischen Juda und den Gebieten des ehemaligen Nordreiches erhalten. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl wird u. a. durch ein gemeinsames Votum zugunsten des Wiederaufbaus des jüdischen Tempels auf der ägyptischen Nilinsel Elephantine belegt, das die Statthalter Bagoas von Juda und Delaja von Samarien um das Jahr 407/406 v. Chr. aufgrund
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einer Anfrage der jüdischen Gemeinde von Elelphantine an diese schickten und das uns unter den Elephantine-Papyri (Cowley, AP Nr. 32) erhalten ist. Auch zeigt der Pentateuch der Samaritaner, dass die im 4./3. Jh. v. Chr. entstandene Endgestalt des Pentateuch (von kleineren Abweichungen abgesehen) bei Juden und Samaritanern noch identisch war. Der Tempel der Samaritaner auf dem Berg Garizim, der zum Hauptkonfliktpunkt zwischen der jüdischen und der samaritanischen Form der israelitischen Tradition wurde, ist erstmals für die Zeit um 170 v. Chr. (vgl. 2Makk 6,2) bezeugt. Allerdings rechnet man damals schon mit einem längeren Bestehen des Tempels: Nach Josephus (Antiquitates XI 8,1–7) ist der Tempel auf dem Garizim zur Zeit Alexanders des Großen errichtet worden. Hierbei dürfte es sich jedoch um eine legendarische Überlieferung handeln. Als historischer Kern von ihr ist bestenfalls anzunehmen, dass es am Beginn der hellenistischen Zeit zur Errichtung des Tempels auf dem Garizim kam (so Gunneweg und Donner). Wahrscheinlich ist in der Zeit nach Nehemia nur mit einem sehr allmählich vor sich gehenden Entfremdungsprozess zwischen Juda und Samarien zu rechnen. Er führte erst mit der Zerstörung des Tempels auf dem Garizim durch die Judäer unter Johannes Hyrkan I. (135–104 v. Chr.) im Jahre 129 v. Chr. zum endgültigen Bruch. 12.3.2. Die jüdische Militärkolonie auf der oberägyptischen Insel Elephantine Die auf der oberägyptischen Nilinsel Elephantine gefundenen Papyri (vgl. dazu die Ausgabe von Cowley) bezeugen die Existenz einer jüdischen Militärkolonie auf dieser Nilinsel. Wann diese Kolonie entstand, bleibt unbekannt. Zwar ist nicht sicher nachzuweisen, dass die Kolonie auf Flüchtlinge zurückgeht, die im Zusammenhang der babylonischen Herrschaft über Juda in Ägypten Aufnahme fanden (vgl. für solche Flüchtlinge vor allem Jer 41– 44). Doch könnte dafür sprechen, dass nach dem Brief der Juden von Elephantine an den judäischen Statthalter Bagoas von 407 v. Chr. (Zeile 13 f.) bereits der persische König Kambyses (529–522) im Jahre 525 einen jüdischen Tempel in Elephantine vorfand. Eventuell ist jedoch auch mit Kolonisten aus dem 722 v. Chr. untergegangenen Nordreich zu rechnen (vgl. dazu van der Toorn). In der Regierungszeit des persischen Königs Darius II. (423–405) kam es 410/409 v. Chr. zu einem Komplott der Chnum-Priester von Elephantine gegen den Jahwetempel der Nilinsel: Der Jahwetempel wurde angezündet und bis auf die Grundmauern zerstört. Doch gelang es der jüdischen Gemeinde von Elephantine mit Unterstützung der Statthalter Bagoas von Juda und Delaja von Samarien (vgl. ihr Votum von 407/406 v. Chr. in Cowley, AP Nr. 32 und dazu oben 12.3.1.) und der von ihnen erwirkten Unterstützung durch den persischen
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Satrapen Arscham den Jahwetempel in den Jahren zwischen 406 und 400 v. Chr. wieder aufzubauen. Bemerkenswert ist, dass in dem Votum aus Juda und Jerusalem nicht von Tieropfern im Jahwetempel von Elephantine die Rede ist (nur Speise- und Weihrauchopfer). Für das Jahr 400 v. Chr. ist jedenfalls eine Steuerliste des Jahwetempels von Elephantine bezeugt. Nach ihr haben die Juden in diesem Tempel nicht nur Jahwe („Jahu“), sondern auch die Göttin Anat-Betel und den Gott Ascham-Betel verehrt (zur Herkunft dieser Gottheiten vgl. van der Toorn). Zu Beginn des 4. Jh. v. Chr., als die persische Herrschaft über Ägypten verloren ging, kam es dann zu einer erneuten Zerstörung des jüdischen Tempels in Elephantine. Nachrichten über das weitere Schicksal der oberägyptischen Diasporagemeinde fehlen.
12.4.
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§ 13
Die Auseinandersetzung mit dem Hellenismus und der Makkabäeraufstand
13.1.
Palästina in der hellenistischen Zeit (332–63)
13.1.1. Die Eroberung Palästinas durch Alexander den Großen (332 v. Chr.) Nach dem Sieg Alexanders des Großen (336–323) über den persischen König Darius III. (335–331) bei Issus in Nordsyrien (333 v. Chr.) wandte sich der Makedonenkönig der Eroberung von Syrien, Palästina und Ägypten (332 v. Chr.) zu. Dabei war er zu einer 7monatigen Belagerung der Inselfestung Tyrus (Errichtung eines Dammes) und einer 2monatigen Belagerung von Gaza gezwungen. Dagegen konnte er Ägypten kampflos einnehmen. Nach der Schlacht von Gau-
138
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
gamela in Nordmesopotamien im Jahre 331 v. Chr. fiel Alexander dann auch der Osten des persischen Reiches zu. Die Eroberung des palästinischen Berglands übertrug Alexander seinem General Parmenio. Berichtet wird in diesem Zusammenhang vom Widerstand Samarias, das daraufhin zu einer makedonischen Kolonie gemacht wurde. Keine historisch verlässlichen Nachrichten gibt es über die Einnahme Jerusalems. Der von Josephus (Antiquitates XI 8,4–6) berichtete Besuch Alexanders beim Hohenpriester in Jerusalem kann nur als legendarische Überlieferung beurteilt werden. 13.1.2. Die Herrschaft der Ptolemäer über Palästina (301–200) Nach dem Tod Alexanders des Großen in Babylon (323 v. Chr.) und der Ermordung eines von Alexanders Frau Roxane geborenen Sohnes Alexander IV. (323–311) kam es zu Kämpfen zwischen den Generalen Alexanders um die Aufteilung der Herrschaft über das Alexanderreich. Erst um 280 stabilisierten sich die Verhältnisse: Danach übten die Antigoniden die Herrschaft über Makedonien (und Teile Griechenlands) aus. Die Seleukiden beherrschten Kleinasien, Nordsyrien und den Osten des Reiches, von dem sich ca. 246/5 das Partherreich unabhängig machte. Die Herrschaft über Palästina und Phönizien fiel nach 301 an die Ptolemäer, die seit 323 die Satrapie Ägypten leiteten und dort in dem 331 von Alexander gegründeten Alexandria residierten. Allerdings blieb der Besitz Palästinas und Phöniziens (Koil¯e Syria = Coelesyrien) zwischen den Ptolemäern und den Seleukiden umstritten: Zur Sicherung Coelesyriens hatten die Ptolemäer in den Jahren 274–195 die sog. 5 „Syrischen Kriege“ (274–271; 260–253; 246–241; 219–217; 202–195) zu führen. Im 5. Syrischen Krieg erlitt der noch minderjährige Ptolemäus V. (204–180) im Jahre 200 bei der Schlacht am Paneion (an den Jordanquellen) allerdings eine so schwere Niederlage, dass Palästina für die Folgezeit an das Seleukidenreich fiel. Während der Ptolemäerzeit wurde die judäische Innenpolitik vor allem von zwei Familien, den Oniaden und den Tobiaden, bestimmt. Die Hohenpriester wurden seit etwa 320 von den Oniaden gestellt, die im ganzen seleukidenfreundlich eingestellt waren: So verweigerte der Hohepriester Onias II. während des 3. Syrischen Krieges (246–241 v. Chr.) die Tributzahlungen an die Ptolemäer. Eine ptolemäerfreundliche Einstellung findet sich dagegen bei der jüdischammonitischen Familie der Tobiaden, die an der heutigen Ruinenstätte Ar¯aq elEm¯ır (westlich von Amman) residierte, aber gleichzeitig maßgeblichen Einfluss auf die judäische Politik nahm. Als bekanntestes Mitglied dieser Familie ist Joseph ben Tobija zu nennen, dem es gelang, in der Zeit von ca. 240–218 v. Chr. das Amt des obersten Steuereinnehmers der Gesamtprovinz Coelesyrien zu erhalten.
Die exilisch-nachexilische Zeit
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13.1.3. Die Herrschaft des Seleukidenkönigs Antiochus III. (223–187) über Palästina Nach seinem Sieg über die Ptolemäer bei Paneion (200 v. Chr.) und der damit erworbenen Herrschaft über Palästina zeichnete sich der Seleukidenherrscher Antiochus III. (223–187) zunächst durch eine judäafreundliche Politik aus. Nach Josephus (Antiquitates XII 3,3) gewährte er in einem Erlass Judäa und vor allem Jerusalem und seinem Tempel zahlreiche Privilegien: So verfügte er u. a. finanzielle Unterstützungen zugunsten des Tempelkults und ordnete für das Jerusalemer Tempelpersonal dauernde Steuerbefreiung an. Auch für die übrige Jerusalemer Bevölkerung wurden z. T. befristete Steuerentlastungen ausgesprochen. Allerdings zwangen die in den folgenden Jahren eintretenden politischen Misserfolge die Seleukiden zu einer weniger großzügigen Politik auch gegenüber Palästina. Im Jahre 190 v. Chr. erlitt Antiochus III. bei Magnesia in Ionien eine Niederlage gegen die Römer und musste aufgrund des Friedens von Apameia 188 v. Chr. hohe Reparationsleistungen an die Römer erbringen. 13.1.4. Palästina unter der Herrschaft des Seleukidenkönigs Antiochus IV. Epiphanes (175–164) Die durch den Frieden von Apameia hervorgerufenen finanziellen Schwierigkeiten konnten auch von Seleukus IV. (187–175), dem Nachfolger und Sohn des Antiochus III., nicht beseitigt werden. Nach seiner Ermordung kam der jüngste Sohn des Antiochus III., Antiochus IV. Epiphanes, der von 189–175 als Geisel in Rom gelebt hatte, an die Macht (175–164). Er unternimmt den Versuch, das Reich durch eine stärkere Hellenisierung zu stabilisieren (vgl. 1Makk 1,41 ff., wo allerdings diese Hellenisierungspolitik aus jüdischer Sicht einseitig dargestellt wird). Dabei zeigen die historischen Befunde, dass der König nicht direkt in den Jerusalemer Kult eingreift, sondern Hellenisierungsbestrebungen nur indirekt durch die Begünstigung der jüdischen Hellenistenpartei fördert (vgl. Bickermann und Hengel). So erkannte er 174 v. Chr. die Absetzung des Hohenpriesters Onias III. (190–174) und seine Ersetzung durch den Oniaden Jason (174–172), der ein Anhänger der Hellenisierung der jüdischen Religion war, an. Im Jahre 172 v. Chr. billigte er schließlich auch die Ersetzung Jasons durch den für das Hohepriesteramt nicht legitimierten Menelaus (172–162). Bemerkenswert ist, dass in beiden Fällen die Anerkennung des neuen Hohenpriesters durch den Seleukidenkönig jeweils mit dem Versprechen höherer Tributzahlungen des Hohenpriesters an den König verbunden ist (vgl. 2Makk 4,8 f.; 4,24). Auch das Betreten des Jerusalemer Tempels durch den heidnischen König im Jahre 169 v. Chr. geschieht im übrigen wegen Nichterfüllung von Tributzahlungen. An deren Stelle lässt der König im Jerusalemer Tempel u. a. goldenes
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Tempelzubehör konfiszieren (1Makk 1,20 ff.). Schließlich dient auch das militärische Vorgehen gegen Jerusalem der Unterstützung des Hellenisierungsprogramms des von ihm eingesetzten Hohenpriesters.
13.2.
Die Bestrebungen der jüdischen Hellenistenpartei zur radikalen Hellenisierung des Jerusalemer religiösen Lebens
13.2.1. Der Hohepriester Jason (174–172 v. Chr.) Nach der Ersetzung des Hohenpriesters Onias III. durch seinen Bruder Jason (174–172 v. Chr.) führt dieser eine umfassende Hellenisierung Jerusalems durch (2Makk 4,9 ff.). Das Ziel bestand darin, die Stadt Jerusalem in eine hellenistische Polis (mit Namen „Antiochia“; vgl. 2Makk 4,9) zu verwandeln. Kulturell bedeutete dies zunächst die Einführung griechischer Lebensart durch die Errichtung eines „Gymnasions“, in dem entgegen der jüdischen Sitte ein unbekleidetes Ausüben von Sport ermöglicht wurde (2Makk 4,12 f.). Die deutliche Distanz zur jüdischen religiösen Tradition, in der dies geschah, zeigt sich daran, dass ein Teil der männlichen Bevölkerung in diesem Zusammenhang ihre Beschneidung rückgängig machen ließ (1Makk 1,14 f.). Auch dass im Zusammenhang dieser Sportveranstaltungen heidnische Kulte ausgeübt wurden (v. a. der Herakleskult), wurde in Kauf genommen (2Makk 4,18 ff.). 13.2.2. Der Hohepriester Menelaus (172–162 v. Chr.) Zu einer Verschärfung der Spannung zwischen den Hellenisten und den gesetzestreuen Anhängern der jüdischen Religion kam es unter dem Hohenpriester Menelaus (172–162), der entgegen der jüdischen Tradition als Nichtzadokide dieses Amt erhalten hatte. Als unter ihm im Jahre 169 (vgl. 1Makk 1,20–28) Antiochus IV. den Tempel betrat und einen Teil des Tempelschatzes konfiszierte (vgl. dazu oben 13.1.4.), brach ein Bürgerkrieg aus (1Makk 1,29–40; 2Makk 5,5ff.), auf den der Seleukidenkönig 168/167 v. Chr. mit der Stürmung Jerusalems, der Schleifung der Stadtmauern und der Errichtung der Akra (Festung mit seleukidischer Besatzung) in Jerusalem reagierte. Unter diesem militärischen Schutz der seleukidischen Macht konnte der Hohepriester Menelaus (vgl. hierzu 2Makk 13,4) seine radikalen Vorstellungen einer Hellenisierung des jüdischen Tempelkultes durchsetzen: Der Jerusalemer Tempel wurde dem Zeus Olympios, den man mit Jahwe als dem „Himmelsbaal“ (Baal Schamem) gleichsetzte, geweiht. Diese Umweihung wird am deutlichsten
Die exilisch-nachexilische Zeit
141
an dem Brandopferaltaraufsatz, der in 1Makk 1,54 und in Dan 9,27; 11,31; 12,11 als „Greuel der Verwüstung“ (ˇsiqqûs. ˇsômem) bezeichnet wird (ˇsiqqûs. ˇsômem stellt dabei wohl eine Anspielung auf „Baal Schamem“ dar; vgl. Bickermann, Hengel, Koch). Dieser Altaraufsatz enthielt wahrscheinlich ein bildliches Symbol des Zeus bzw. des Baal Schamem (eventuell eine Adlerdarstellung oder eine Darstellung der Flügelsonne). Zu diesem religiösen Umerziehungsprogramm gehörte nach 1Makk 1,44 ff. schließlich das Verbot der Ausübung der traditionellen jüdischen Gesetze (u. a. der Beschneidung und des Sabbats). Auch wurden die traditionellen täglichen Tempelopfer eingestellt und dagegen Opfer im Sinne der Reformreligion auch auf Altären außerhalb Jerusalems angeordnet.
13.3.
Der Makkabäeraufstand und die Wiederherstellung der Religionsfreiheit
Nach 1Makk 2,1 ff. kam es zuerst in der Provinz zu einem massiven Widerstand gegen die vom Seleukidenkönig unterstützte Hellenisierung des traditionellen jüdischen Glaubens: In Modeïn, 10 km östlich von Lydda, weigert sich der Priester Mattatias aus dem Geschlecht des Hasmon (Josephus, Antiquitates XII 6,1.) heidnische Opfer darzubringen. Diese Weigerung führt zu gewaltsamem Widerstand: Er tötet den seleukidischen Beamten, der das heidnische Opfer verlangt, und gleichzeitig einen Juden, der zur Durchführung des Opfers bereit war. Anschließend flieht er mit seinen Söhnen in das naheliegende Gebirge und organisiert von dort einen Guerillakrieg gegen die seleukidischen Truppen. Nach dem in 1Makk 2,49–70 dargestellten Tod des Mattatias berichtet 1Makk 3 ff. davon, dass die Leitung der Widerstandsbewegung von seinem Sohn Judas (mit dem Beinamen „Makkabäus“ = „Hammermann“) übernommen wird. Diesem „makkabäischen“ Widerstand gelingen in den Jahren 166/165 drei eindrucksvolle Siege gegen die seleukidische Militärmacht des Vizekönigs Lysias (1Makk 3,13–4,35: bei Bet-Horon, bei Emmaus und bei Bet-Zur). Im Gefolge dieser Siege kann Judas Makkabäus Jerusalem besetzen, die Akra mit ihrer seleukidischen Besatzung einschließen und dann im Dezember 165 den geschändeten Tempel neu weihen (zur Erinnerung an dieses Ereignis feiert das Judentum das Chanukka-Fest). Inzwischen war Ende 164 v. Chr. Antiochus IV. bei einem Feldzug nach Armenien und Iran in der Persis an einer Krankheit gestorben und an seiner Stelle hatte sein Sohn Antiochus V. (164–162) die Herrschaft über das Seleukidenreich angetreten. Obwohl 163 v. Chr. Judas Makkabäus eine Niederlage gegen den König in Bet-Sacharja (südlich von Bethlehem) erlitten hatte und von Lysias in Jerusalem
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
belagert wurde, zwang die labile politische Lage den König 162 v. Chr. zu einem Kompromissfrieden (vgl. 1Makk 6). Nach ihm blieb zwar die seleukidische Besatzung der Akra erhalten. Auch musste die Tempelmauer geschleift werden. Doch wurde den Juden andererseits die freie Ausübung ihrer Religion nach den überkommenen Gesetzen zugesichert. Außerdem wurde der Hohepriester der jüdischen Hellenistenpartei Menelaus (172–162) auf Befehl von Antiochus V. hingerichtet. Nachdem die Freiheit der Religionsausübung den Juden auch durch den Nachfolger von Antiochus V., Demetrius I. (162–150), zugesichert worden war, hatte der Makkabäeraufstand seine religiösen Ziele erreicht. Allerdings hatte die makkabäische Bewegung sich inzwischen das weitere Ziel eines unabhängigen jüdischen Staates gesetzt.
13.4.
Ausblick auf den Staat der Makkabäer
Trotz des relativ frühen Todes des Judas Makkabäus in der Schlacht bei Elasa im Jahre 160 v. Chr. gelang es den Nachfolgern des Judas, seinen Brüdern Jonatan (160–143; seit 152 obwohl Nichtzadokide Hohepriester) und Simon (142–133), die Selbständigkeit Judäas zu erkämpfen. Symbol der Abhängigkeit von den Seleukiden war die Jerusalemer Akra gewesen. Im Jahre 141 v. Chr. wurde sie von Simon erobert und die seleukidische Besatzung zum Abzug gezwungen. In der Folge konnte zunächst unter Johannes Hyrkan (134–104), Aristobul (104–103), Alexander Jannäus (103–76) und Salome Alexandra (76–67) die Selbständigkeit des jüdischen Staates verteidigt und ausgebaut werden. Unter Aristobul II. (67–63 v. Chr.) kam es dann jedoch zu einem Machtkampf mit seinem Bruder Hyrkan II., der bereits unter seiner Mutter Salome Alexandra die Hohepriesterwürde ausübte, aber von Aristobul II. entmachtet worden war. Diesen Bruderkampf nutzten die Römer unter Pompejus und setzten 63 v. Chr. Hyrkan II. unter römischer Oberherrschaft wieder als Hohepriester ein und bereiteten dabei gleichzeitig dem makkabäischen Königtum ein Ende.
13.5.
Ausgewählte Literatur
Bar-Kochba, B.: Judas Maccabaeus, Cambridge 1989. Bickermann, E.: Der Gott der Makkabäer, Berlin 1937. Bringmann, K.: Hellenistische Reform und Religionsverfolgung in Judäa, Göttingen 1983. Dommershausen W.: 1/2 Makkabäer, NEB, Würzburg 1985. Donner, H.: Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen. ATD Erg. 4, Göttingen, 32001.
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143
Fischer, T.: Seleukiden und Makkabäer, Bochum 1980. Grabbe, L.L.: A History of the Jews and Judaism in the Second Temple Period. Bd. 2: The Coming off the Greeks, London 2008. Haag, E.: Das hellenistische Zeitalter, Stuttgart 2003. Habicht, H.: 2. Makkabäerbuch, JSHRZ 1/3, Gütersloh 1976. Hengel, M.: Judentum und Hellenismus (1969), Tübingen 31988. Hübner, U.: Die Ammoniter. Untersuchungen zur Geschichte, Kultur und Religion eines transjordanischen Volkes im 1. Jahrtausend v. Chr., Wiesbaden 1992. Jagersma, H.: A History of Israel from Alexander the Great to Bar Kochba, Philadelphia 1986. Kaiser, O.: Die atl. Apokryphen. Eine Einleitung in Grundzügen, Gütersloh 2000. –: Zwischen Athen und Jerusalem, Berlin/New York 2003. Kippenberg, H.G.: Religion und Klassenbildung im antiken Judäa, Göttingen 21982. Koch, K.: Das Buch Daniel, Darmstadt 1980. –: Daniel, BKAT 22, Neukirchen-Vluyn 1986ff. –: Die Reiche der Welt und der kommende Menschensohn. Studien zum Danielbuch, Neukirchen-Vluyn 1995. Lebram, J.-C.: Das Buch Daniel, ZBKAT 23, Zürich 1984. Maier, J.: Zwischen den Testamenten. Geschichte und Religion in der Zeit des zweiten Tempels, NEB Erg. 3, Würzburg 1990. –/Schreiner, J. (Hg.): Literatur und Religion des frühen Judentums, Würzburg 1973. Plöger, O.: Theokratie und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 31968. –: Das Buch Daniel, KAT 18, Gütersloh 1965. –: Aus der Spätzeit des Alten Testaments. Studien, Göttingen 1971. Schäfer, P.: The Hellenistic and Maccabaean Periods, in: J.H. Hayes/J.M. Miller (Hg.), Israelite and Judaean History, London 1977, 539–604. Schmitt, H.H./Vogt, E. (Hg.): Kleines Wörterbuch des Hellenismus, Wiesbaden 1988. Schürer, E.: The history of the Jewish people in the age of Jesus Christ. Revised and edited by G. Vermes, F. Millar and M. Black, Edinburgh 1973. Schunck, K.-D.: 1. Makkabäerbuch, JSHRZ 1/4, Gütersloh 1980. Stern, M:. Die Zeit des Zweiten Tempels, in: H. Ben-Sasson (Hg.), Geschichte des jüdischen Volkes I, München 1981, 229–373. Witte, M./Alkier, S.: Die Griechen und der Vordere Orient, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 2003.
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Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
Kapitel 5: Anhang zur Geschichte Israels
§ 14
Zeittafel und Repetitionsthemen
14.1.
Zeittafel zu den zentralen Daten der Geschichte Israels
Alter Orient 1180 Sieg von Ramses III. über die Seevölker am Mittelmeer
Juda ca. 1005–965 David ca. 965–926 Salomo
945–924 Scheschonq I. in Ägypten
926–910 Rehabeam 868–847 Joschafat
926–907 Jerobeam I. 882–871 Omri 876 Gründung Samarias 871–852 Ahab
845–840 Atalja 840–801 Joas von Juda
845–818 Jehu
858–824 Salmanassar III. von Assyrien 853 Schlacht Hadadesers von Damaskus und Ahabs gegen die Assyrer bei Karkar 841 Tribut Jehus an die Assyrer
Israel ca. 1010–1005 Saul 926 Reichstrennung (1Kön 12)
787–736 Asarja/Usija 756–741 Jotam 745–727 Tiglatpileser III. von 741–726 Ahas Assyrien 733 Syrisch-ephraimitischer Krieg (2Kön 16,5; Jes 7)
787–747 Jerobeam II. 747 Secharja 747–738 Menahem 735–732 Pekach
Assyrische Könige: 726–722 Salmanassar V. 721–705 Sargon II. 704–681 Sanherib
731–723 Hoschea
725–697 Hiskia
722 Eroberung Samarias durch Salmanassar V.
Anhang zur Geschichte Israels
Alter Orient
Juda
680–669 Asarhaddon 668-ca. 630 Assurbanipal
696–642 Manasse
639–609 Josia 612 Zerstörung Ninives durch 622 Kultreform Josias Neubabylonier und Meder 609 Tod Josias gegen Necho bei Megiddo 609 Joahas 625–605 Nabopolassar von Babylon 610–595 Necho II. von Ägypten 605–562 Nebukadnezar von Babylon 605 Schlacht bei Karkemisch
561–560 Awil-Marduk von Babylon 555–539 Nabonid von Babylon 539 Eroberung von Babylon durch Kyrus von Persien
332 Eroberung SyrienPalästinas durch Alexander den Großen
608–598 Jojakim 598/97 Jojachin 597 1. Eroberung Jerusalems 597–587 Zedekia 587 2. Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar
538 Kyrusedikt zum Wiederaufbau des Tempels 515 Weihe des Zweiten Tempels 445–433 Nehemia Statthalter von Juda 458 (?)/398 (?) Beauftragung Esras durch Perserkönig Artaxerxes I. oder II.
Israel
145
146
Grundzüge der Geschichte Israels in atl. Zeit
14.2. 1. 2. 3.
4.
5. 6.
7. 8. 9. 10. 11.
12. 13. 14.
Repetitionsthemen zur Geschichte Israels (§ 2–14): Die zentralen Inhalte der atl. Erzväterüberlieferung, ihr zeitgeschichtlicher Bezug und ihre Historizität. Die Moseüberlieferungen der Pentateuchschichten (vgl. hierzu auch unten § 20–23) und der historische Kern der atl. Mosedarstellung. Die Theorien der neueren Forschung zur Landnahme der israelitischen Stämme und ihre Bezüge zur atl. Überlieferung und zu archäologischen und ethnologischen Befunden. Die Beziehungen zwischen den israelitischen Stämmen in der Richterzeit: Die Amphiktyoniehypothese Martin Noths und die Kritik an ihr. Die atl. Überlieferungen von der Entstehung des israelitischen Königtums unter Saul und ihr historischer Kern. Die innen-, außen- und religionspolitischen Entwicklungen der Regierungszeiten Sauls, Davids und Salomos: Die Darstellungen der Samuel- und Königsbücher und ihre Historizität. Die außen- und religionspolitischen Entwicklungen im Nordreich in der Zeit der Omriden und der Jehuiden. Die drei Stadien der neuassyrischen Unterwerfungspolitik und der Untergang des Nordreiches Israel. Das Verhältnis zwischen Nordreich Israel und Südreich Juda während der Königszeit. Die Bedeutung Jerusalems und der Daviddynastie für die Geschichte des Südreiches Juda. Die Eroberung Jerusalems durch die Babylonier und die politische und religiöse Situation Judas und der babylonischen Gola in der Exilszeit. Die Bedeutung Jerusalems und seines Tempels für die babylonische Gola und die Errichtung des Zweiten Tempels. Die atl. Überlieferung über Esra und Nehemia und ihr historischer Kern. Die Beziehungen des nachexilischen Juda zu den Persern und zu den hellenistischen Reichen.
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Teil II: Die Schriften des AT
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Die Schriften des AT
Theologisches Verständnis, Kanon und Textgestalt des AT
149
Kapitel 1: Theologisches Verständnis, Kanon und Textgestalt des AT
§ 15
Die theologische Aufgabe einer „Einleitung in das AT“
15.1.
Die Krise der „Einleitung in das AT“
Eine „Einleitung in die Schriften des AT“ hat die Klärung der Entstehungsgeschichte von Kanon, Text und Einzelschriften des AT zum Ziel. In ihrem Mittelpunkt stehen vor allem folgende Fragen: Wie ist es zu der für Synagoge und Kirche verbindlichen Sammlung atl. Schriften (Kanon des AT) gekommen? Wie sind die unterschiedlichen Textüberlieferungen des AT zu beurteilen? Wann und in welchen Kreisen sind die einzelnen Schriften des AT entstanden? Stellen diese Schriften eine literarische Einheit dar oder sind sie auf mehrere Autoren bzw. Redaktoren zurückzuführen? Das Problem der neueren Einleitungswissenschaft sowohl im Bereich des Alten als auch des Neuen Testaments besteht darin, dass bei ihr vielfach das Ziel historischer Arbeit nicht mehr deutlich wird: Sie versucht mit einem verfeinerten Methodeninstrumentarium die Entstehungsgeschichte der einzelnen Bestandteile des AT in immer differenzierterer Weise zu rekonstruieren, doch wird häufig die Frage aus den Augen verloren, inwiefern die hypothetischen Rekonstruktionen von frühen Vorstufen der jeweiligen biblischen Texte für die theologische Interpretation des für Synagoge und Kirche verbindlichen kanonischen biblischen Textes Bedeutung besitzen. Gegenüber einer den theologischen Sitz im Leben exegetischer Arbeit nicht mehr berücksichtigenden Verabsolutierung historischer Fragestellungen muss wieder an die ursprüngliche Aufgabe einer „Einleitung in die biblischen Schriften“ erinnert werden, wie sie in der vorkritischen Bibelauslegung der alten, der mittelalterlichen und der frühneuzeitlichen Kirche und auch der gleichzeitigen Synagoge verstanden wurde. Herbert Donner hat die Aufgabe einer solchen sich ihres theologischen Sitzes im Leben bewussten atl. Einleitungswissenschaft zu Recht folgendermaßen bestimmt: „Einleitung in das AT ist eine Geistesbeschäf-
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Die Schriften des AT
tigung zur Ermöglichung und Förderung des Verständnisses des AT für die nachgeborenen Generationen“. Zur Vergewisserung dieses komplexen Verständnisses einer Einleitung in das AT kann der folgende kurze Rückblick auf unterschiedliche Verständnisse der Aufgabe einer solchen Einleitung hilfreich sein.
15.2.
Exemplarische Geschichte der „Einleitung in das AT“ und ihres hermeneutischen Verständnisses.
15.2.1. Alte Kirche: Annahme eines doppelten Schriftsinns des AT Unter Rückgriff auf die in Ex 34,34 f. vorliegende Vorstellung von der auf dem Angesicht Moses liegenden „Decke“ vertritt Paulus in 2Kor 3,4–18 die Auffassung, dass der eigentliche Sinn des AT, sein Bezug auf Christus (2Kor 3,14), dem Judentum verborgen bleibe: Die vom Judentum vorgenommene Auslegung des Buchstabens des AT wird dem vom Geist Gottes gewirkten Sinn der Schrift nicht gerecht: „der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“ (2Kor 3,6). In Aufnahme dieser paulinischen Vorstellung hat die Alte Kirche zwischen dem „buchstäblichen Sinn“ (sensus literalis bzw. historicus) und dem „geistlichen Sinn“ (sensus spiritualis, auch sensus allegoricus) der Schrift unterschieden. Die Gefahr dieser Unterscheidung wird bereits in der frühen Bibelauslegung deutlich, wenn es zu einer völligen Trennung des „geistlichen Sinns“ von dem ursprünglich gemeinten Literalsinn kommt. Ein besonders eindrückliches Beispiel einer solchen „geistlichen“ Auslegung gegen den Literalsinn enthält der aus der 1. Hälfte des 2. Jh. n. Chr. stammende Barnabasbrief, der in Barn 9,7 die in Gen 14,14 erwähnten 318 Knechte Abrahams als Weissagung auf den gekreuzigten Jesus Christus deutet. Dieser Bezug wird dabei über die griechische Wiedergabe von 318 durch (300), (10) und (8) hergestellt: deute auf das Kreuz, und auf „Jesus“ hin. Hier wird in das AT ein „christlicher“ Sinn hineinexegesiert, der das Selbstverständnis des AT unberücksichtigt lässt. Dem biblischen Text wird somit nur entnommen, was man bereits vor seiner Lektüre wusste. Gegenüber solchen den biblischen Text entmachtenden „spirituellen“ Auslegungen wird schon in der Alten Kirche darauf hingewiesen, dass der „geistliche Sinn“ des Bibeltextes über den Literalsinn vermittelt werden muss: Nur demjenigen, der sich mit Hilfe von Grammatik, Semantik und Stilistik um das Verständnis des Literalsinns der biblischen Texte bemüht, erschließt sich der „geistliche“ Sinn der Schrift. Einer solchen stärkeren Berücksichtigung des Literalsinns will auch die erste „Einleitung in die göttlichen Schriften“ (Edition von F. Goessling, 1887) dienen, die uns aus der Alten Kirche bekannt ist. Sie stammt von dem sy-
Theologisches Verständnis, Kanon und Textgestalt des AT
151
rischen Mönch Adrianus, der um 440 n. Chr. gestorben ist und theologisch der den Literalsinn der Bibel betonenden Antiochenischen Schule nahe stand. Sie behandelt vor allem die stilistischen Besonderheiten der atl. Texte in der Septuaginta-Übersetzung, in denen sich u. a. Eigentümlichkeiten hebräischer Ausdrucksweise spiegeln. Sinn dieser ersten uns bekannten Einleitung war somit, die Bibel Lesern verständlich zu machen, denen die ursprünglichen Entstehungsbedingungen der biblischen Schriften nicht mehr bekannt waren. 15.2.2. Reformation: Theologisches Verständnis des Literalsinns (sensus historicus) des AT Da für die Reformation die Bibel die norma normans aller theologischen Aussagen wurde, konnte sie die Vorstellung eines mehrfachen und damit möglicherweise widersprüchlichen Sinns der Schrift nicht beibehalten. Martin Luther (1483–1546) hat sich daher schon früh für die alleinige Verbindlichkeit des Literalsinns der Heiligen Schrift eingesetzt. Für die christliche Interpretation des AT ergibt sich beim Festhalten am ursprünglichen Verständnis der atl. Texte das von Paulus schon in 2Kor 3,4–18 behandelte Problem. Luther versucht dieses Problem so zu lösen, dass er die ntl. Auslegung des AT als ursprüngliche Intention der atl. Schreiber versteht und dieses christliche Verständnis des AT durch philologische und historische Argumentation abzusichern unternimmt. Dass dies zu keinem überzeugenden Verständnis des Literalsinns des AT führt, zeigt die Auseinandersetzung Luthers mit der jüdischen Auslegung, die in den polemischen Judenschriften des Jahres 1543 gipfelt (Von den Juden und ihren Lügen; Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi; Von den letzten Worten Davids). 15.2.3. Die Synagoge des Mittelalters: Der Literalsinn (sensus historicus) des AT im Widerspruch zum theologischen Anspruch Wenn auch im Christentum die Spannung zwischen dem Literalsinn des AT und der vom Christusgeschehen her bestimmten kirchlichen Neuinterpretation des AT besonders deutlich hervortritt, so ist diese Spannung auch in der Synagoge zu beobachten. So hat schon im 12. Jh. der bedeutendste jüdische Exeget des Mittelalters Abraham Ibn Esra (1089–1164) erkannt, dass ein wörtliches Verständnis der Schrift mit ihrem Gegenwartsanspruch in Widerspruch geraten kann. So bemerkt er in seinem Genesiskommentar zu Gen 12,6 „und der Kanaaniter war damals in jenem Lande“: „… es scheint, daß Kanaan das Kanaaniterland nahm, obwohl ein anderer es vorher in Besitz hatte, ist das aber nicht der Fall, so liegt hierin ein Geheimnis, aber wer es erkennt, der schweige“ (zitiert nach B. de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, 21989, 283). Die unter Beachtung des Li-
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Die Schriften des AT
teralsinns des Pentateuch gewonnene Beobachtung Ibn Esras, dass der Verfasser dieser Pentateuchstelle die Vertreibung der Kanaanäer durch Israel voraussetzt und somit nicht mit Mose identisch sein kann, wird hier bewusst als ein „Geheimnis“ bezeichnet, das dem autoritativen Verständnis des Pentateuch als von Mose übermittelter Tora widerspricht und daher verschwiegen werden soll. Als dann ein halbes Jahrtausend später der niederländische jüdische Philosoph Baruch de Spinoza (1632–1677), diese Erkenntnis veröffentlicht, ist dies einer der Gründe, die zu seinem Ausschluss aus der Synagoge führen. Ein wörtliches Verständnis des AT scheint somit sowohl in der Kirche als auch in der Synagoge nicht mit der religiösen Bedeutung der Heiligen Schrift in Übereinstimmung zu bringen zu sein. 15.2.4. Aufklärung: Beschränkung auf ein nichttheologisches Verständnis des sensus historicus Die sich mit der Aufklärung durchsetzende „Einleitungswissenschaft“ löst die Spannung zwischen dem sensus historicus der Schrift und ihrem theologischen Anspruch bewusst zugunsten des historischen Verständnisses auf. So ordnet schon der Begründer der neuen Einleitungswissenschaft, der Göttinger Orientalist Johann David Michaelis (1717–1791), in seiner 1750 erschienenen „Einleitung in die göttlichen Schriften des Neuen Bundes“ (41788) das historische Verständnis der biblischen Bücher ihrem theologischen Anspruch als kanonische Schriften über und betrachtet die Evangelien des Markus und Lukas als „nichtapostolisch“ und damit als „nichtkanonisch“ (vgl. hierzu Schnelle). Noch konsequenter wird der kanonische Anspruch der biblischen Bücher von Johann Salomo Semler (1725–1791) hinterfragt. In seiner 1771–1775 in vier Bänden erschienenen „Abhandlung von freier Untersuchung des Kanon“ stellt er die Frage, durch welches Kriterium innerhalb des Kanons „Wort Gottes“ von historisch bedingten Überlieferungen unterschieden werden kann. „Wort Gottes“ findet er nun nur in den biblischen Stellen, die der „moralischen Besserung“ dienen. Für das AT hat dies bei Semler folgende Konsequenz: „Da wir durch alle 24 Bücher des Alten Testaments nicht moralisch gebessert werden, so können wir uns auch von ihrer Göttlichkeit nicht überzeugen“ (III, 26; vgl. Kaiser). Auf diesem Hintergrund kann sich die neue Einleitungswissenschaft von der Aufgabe dispensieren, den theologischen Anspruch der einzelnen biblischen Überlieferungen berücksichtigen zu müssen. Vor allem das AT ist jetzt als ein Dokument der nichtchristlichen Religionsgeschichte unter Ausklammerung seiner theologischen Problematik als „profane Literatur“ zu würdigen. Besonders deutlich wird dies in der ersten von Johann Gottfried Eichhorn verfassten „Einleitung in das Alte Testament“ von 1780–1783, die sich auf die Fragen der Ent-
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153
stehung des Kanons, des hebräischen Textes des AT und der Entstehungsgeschichte der einzelnen atl. Bücher beschränkte. Dass hier bewusst auf die theologische Fragestellung verzichtet wird, zeigt die Vorrede zur zweiten Auflage von 1787: „Der bloß theologische Gebrauch, welcher von den Schriften des Alten Testaments gewöhnlich gemacht wird, hat bisher mehr, als man denken sollte, verhindert, diese Werke des grauen Alterthums nach Verdienst zu würdigen. Man suchte darin nichts als Religionsideen, und war für ihren übrigen Inhalt blind, man las sie ohne Sinn für Alterthum und seine Sprache, nicht viel anders, als ein Werk der neuern Zeiten, und mußte nach Verschiedenheit der Geisteskräfte den allerungleichartigsten Erfolg in sich verspüren … Gewiß hätten sich … denkende … Männer mit diesen äußerst wichtigen Denkmählern des menschlichen Geistes ausgesöhnt, wenn nur Ein Erklärer ihres Inhalts und Ein Vertheidiger ihrer Wichtigkeit gezeigt hätte, daß das meiste Wunderbare und Uebernatürliche … aus Unkunde der Sprache und Vorstellungsart, die sie mit allen Werken des frühern Alterthums gemein haben, erst in sie getragen worden“ (S. III–IV). 15.2.5. Das 20. Jh.: Der Bezug der atl. Texte zu ihrem „Sitz im Leben“ Dass biblische Texte auch eine über ihren historischen Bezug hinausgehende theologische Bedeutung besitzen, ist der atl. Wissenschaft vor allem im Rahmen der von Hermann Gunkel (1862–1932) entwickelten „formgeschichtlichen Forschung“ wieder deutlich geworden. Gunkel hat sein „formgeschichtliches“ Verständnis des AT besonders in seinem Bändchen „Die israelitische Literatur“ von 1925 zusammenfassend dargestellt. In ihm weist er darauf hin, dass für die Interpretation der atl. Texte nicht nur die zeitliche Relation, sondern auch der Institutionenbezug, der von Gunkel so genannte „Sitz im Leben“, von entscheidender Bedeutung ist. Die atl. Texte erschließen sich erst von den ihnen zugrundeliegenden Gattungen her, die als „Sprachäußerung“ eines soziologisch zu deutenden „Sitzes im Leben“ zu interpretieren sind. Neben profanen Gattungen (vgl. nur die „Sagen“ der Genesis, die auf die volkstümliche Unterhaltung zurückgehen) macht Gunkel dabei vor allem auf Gattungen aufmerksam, die dem religiösen Volksleben entstammen (vgl. nur den gottesdienstlichen „Sitz im Leben“ der Psalmengattungen). Seit Gunkel kommt es daher zu einer Erweiterung der Fragestellung der „Einleitung in das AT“ um eine Darstellung der Gattungen der atl. Überlieferung und ihres jeweiligen „Sitzes im Leben“. Als Konsequenz des Gunkelschen Ansatzes der Frage nach dem Institutionenbezug der atl. Überlieferung kann auch der von Brevard S. Childs vertretene „canonical approach“ der Interpretation des AT verstanden werden, wie er ihn in seiner „Introduction to the Old Testament as Scripture“ von 1979 vertreten hat.
154
Die Schriften des AT
Hier wird auf den „Sitz im Leben“ der Gesamtsammlung des AT aufmerksam gemacht. Diese Sammlung ist nur in ihrer theologischen Bedeutung als für die Synagoge bzw. für die Kirche autoritative („kanonische“) Literatur sachgemäß zu verstehen. Dabei muss, worauf Herbert Donner zu Recht hingewiesen hat, auch die christliche und jüdische Wirkungsgeschichte des AT einbezogen werden. Wichtig ist allerdings, dass durch den doppelten Institutionenbezug des AT auf Synagoge und Kirche ein komplexes Verständnis des AT notwendig wird. Wenn die Reformation sich für die Kanonizität des durch die Synagoge überlieferten jüdischen AT entschieden hat und nicht für die griechische Übersetzung des AT, die in der Alten Kirche zum „christlichen AT“ wurde, dann hat sie sich bewusst für ein Verständnis des AT entschieden, bei dem das AT in seinem vorchristlichen Literalsinn gedeutet werden soll. Dass die Reformation die sich zwischen jüdischer und christlicher Auslegung ergebenden Spannungen unterschätzt hat, beinhaltet nicht die Unsachgemäßheit der reformatorischen Entscheidung. Eine dem atl. Text gerecht werdende Auslegung kann sich nicht davon dispensieren, sowohl den Literalsinn des AT als eines vorchristlichen Dokuments zu erheben als auch die Bezogenheit des AT auf das ntl. bezeugte Christusereignis zu betonen. Diese Spannung ist von der Exegese des AT durchzuhalten und darf nicht zugunsten einer Unterordnung des AT unter das NT oder auch einer Überordnung des AT über das NT aufgelöst werden. Was für das Verhältnis AT-NT gilt, gilt im übrigen für das Verhältnis von historischem Literalsinn und Mitte der Schrift in Christus im Bereich der gesamten Schriftauslegung: Auch hier darf der Zeitbezug und der Christusbezug eines Textes nicht gegeneinander ausgespielt werden, vielmehr bleibt die biblische Botschaft nur dann relevant, wenn gleichzeitig ihr Zeitbezug und ihr Christusbezug im Blick bleibt (vgl. hierzu Smend und zuletzt Büttner).
15.3.
Ausgewählte Literatur
Bultmann, R.: Theologie des NT. Durchges. und erg. von O. Merk, Tübingen 91984. Büttner, M.: Das AT als erster Teil der christlichen Bibel. Zur Frage nach theologischer Auslegung und „Mitte“ im Kontext der Theologie Karl Barths, Gütersloh 2002. Childs, B.S.: Introduction to the Old Testament as Scripture, London 1979. Donner, H.: Das Problem des AT in der christlichen Theologie, in: FS W. Trillhaas, Berlin 1968, 37–52. Eichhorn, J.G.: Einleitung in das AT, Leipzig 1780–1783; 21787; 41823/24. Goessling, F. (Hg.): Adrianus’ Eisag¯og¯e eis tas theias graphas, Berlin 1887. Gunkel, H.: Die israelitische Literatur, Leipzig 1925 = Nachdruck Darmstadt 1963. Kaiser, O.: Johann Salomo Semler als Bahnbrecher der modernen Bibelwissenschaft, in: Von der Gegenwartsbedeutung des AT, Göttingen 1984, 79–84.
Theologisches Verständnis, Kanon und Textgestalt des AT
155
–: Art. Literaturgeschichte, Biblische I.: Altes Testament, TRE 21, 1991, 306–337 (= Abriß der atl. Literaturgeschichte, in: Studien zur Literaturgeschichte des AT, Würzburg 2000, 9–69). Michaelis, J.D.: Einleitung in die göttlichen Schriften des Neuen Bundes, Göttingen 41788. Schmidt, K.: Literaturgeschichte des AT, Darmstadt 2008. Schnelle, U.: Einleitung in das NT, Göttingen1994. Semler, J.S.: Abhandlung von freier Untersuchung des Canon I-IV, Halle 1771–1775. Smend, R.: Die Mitte des AT. Exegetische Aufsätze, Tübingen 2002. Spinoza, B. de: Tractatus theologico-politicus. Hg. v. G. Gawlick und F. Niewöhner, Opera (lateinisch und deutsch) 1, Darmstadt 21989. Zobel, H.-J.: Art. Einleitungswissenschaft I: AT, TRE 9, 1982, 460–469.
§ 16
Die Entstehung des atl. Kanons
16.1.
Die Kanonizität der atl. Schriften
16.1.1. Der Terminus „Kanon“ Der Begriff geht zurück auf das griechische Wort kan¯on („gerader Stab“, „Maßrohr“; vgl. auch das verwandte semitische Wort q¯anæh „Rohr“) und gewinnt von daher die Bedeutung „Maßstab“, „Norm“ (vgl. z. B. Gal 6,16). Im religiösen Bereich bezeichnet „Kanon“ auf diesem Hintergrund die Sammlung der verbindlichen Schriften, die für die betreffende Religion normativen Charakter besitzen. 16.1.2. „Kanon“ im Christentum Der Begriff „Kanon“ wird im 4. Jh. n. Chr. erstmals auf die christliche Bibel aus AT und NT angewandt. Das bekannteste Dokument dafür ist der 39. Osterfestbrief des Athanasius (ca. 295–373), des Bischofs von Alexandrien, aus dem Jahre 367 n. Chr. Dieser Brief enthält neben einem Bekenntnis zur Kanonizität der 27 Bücher des NT die Aufzählung von 22 atl. Büchern, die er zu den „gotteingegebenen“ (theopneustos) biblischen Büchern rechnet. Bemerkenswert ist, dass er damit nicht den in der Septuaginta vorliegenden atl. Kanon (vgl. dazu unten 16.2.3.) übernimmt, sondern die in der jüdischen Überlieferung vorliegende Sammlung der atl. Schriften.
156
Die Schriften des AT
16.1.3. „Kanon“ im Judentum In der jüdischen Tradition wird zwar der Begriff „Kanon“ nicht gebraucht, doch ist die Sache hier schon früh vorhanden: So spricht Flavius Josephus (ca. 37–100/ 110 n. Chr.) in seiner apologetischen Schrift „Contra Apionem“ von einer festen Zahl anerkannter Schriften des Judentums (I,38–40), die er mit 22 angibt und zu denen er die 5 Mosebücher, 13 „prophetische“ Bücher (gemeint sind Josua, Richter mit Rut, Samuelbücher, Königsbücher, Jesaja, Jeremia mit Threni, Ezechiel, Dodekapropheton, Chronikbücher, Esra mit Nehemia, Ester, Hiob, Daniel, die die Geschichte vom Tod des Mose bis Artaxerxes darstellen) und 4 Bücher mit Hymnen und Vorschriften für das menschliche Leben (Psalmen, Hohelied, Proverbien, Kohelet) rechnet (anders Hengel/Deines, die annehmen, dass unter den 22 Büchern des Josephus Kohelet und das Hohelied fehlen). Diese Bücher zeichnen sich nach Josephus (Contra Apionem I, 37) dadurch aus, dass sie von Gott inspiriert sind: Sie stammen aus der Zeit der Prophetie, die auch nach Josephus von der Zeit des Mose bis in die Zeit des persischen Königs Artaxerxes I. (464–424) dauerte. Die rabbinische Überlieferung bringt die Heiligkeit dieser Bücher dadurch zum Ausdruck, dass sie sie als Schriften versteht, „die die Hände verunreinigen“ (vgl. besonders Mischna Jadaim 3,5). Eine ähnliche Abgrenzung des jüdischen Kanons findet sich in der Apokalypse des 4. Esrabuches, die wie die Schrift „Contra Apionem“ am Ende des 1. Jh. n. Chr. entstanden ist (die Adlervision 4 Esr 11–12 deutet hin auf eine Zeit unmittelbar nach dem Tode Domitians [81–96 n. Chr.]). Das 4. Esrabuch berichtet über die Zeit nach der Zerstörung Jerusalems 587 v. Chr., wobei in 14,18 ff. vorausgesetzt wird, dass bei der Vernichtung der Heiligen Stadt auch alle heiligen Schriften verbrannt sind. Um diesen Verlust zu beheben, verleiht Gott Esra den Heiligen Geist, so dass er in 40 Tagen 5 Schreibern Tag und Nacht die verloren gegangenen heiligen Bücher diktieren kann. Es handelt sich hierbei um 94 Bücher (14,44), also eine Zahl, die weit über die Zahl der kanonischen Bücher des AT hinausgeht. Allerdings sollen 70 dieser Bücher nicht veröffentlicht, sondern auf den Gebrauch durch „Weise“ beschränkt werden. Nur die restlichen 24 sollen offen zugänglich sein. Wenn die Esraapokalypse somit sich selbst und andere Apokalypsen auch zu den göttlich inspirierten Schriften rechnet, so beschränkt sie doch den öffentlich zugänglichen Schriftenkanon auf 24 Bücher, mit denen offensichtlich die gleichen Schriften gemeint sind, die die jüdische Bibel enthält und die Josephus mit den 22 anerkannten Büchern meinte (Rut und Threni werden von 4. Esra und später auch vom Talmud – anders als bei Josephus – als eigenständige Bücher gezählt). Kriterium der Kanonizität ist auch hier wie bei Josephus die göttliche Inspiration der Schriften und die Entstehung zur Zeit der „Prophetie“, die bis einschließlich Esra reicht.
Theologisches Verständnis, Kanon und Textgestalt des AT
16.2.
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Die Entstehung des atl. Kanons
16.2.1. Die Bücher der jüdischen Bibel (Tenak) Die jüdische Tradition geht nicht wie die christliche Überlieferung von 39 Büchern des AT aus, sondern spricht von 24 Büchern, die sie folgendermaßen anordnet: Als wichtigster Teil der Bibel stehen die 5 Bücher der Tora des Mose voran. Ihnen folgen 8 Bücher der Propheten (Nebiim), wobei man zwischen den „vorderen Propheten“ (Josua, Richter, Samuelbücher, Königsbücher) und den „hinteren Propheten“ (Jesaja, Jeremia, Ezechiel, Dodekapropheton) differenziert. Am komplexesten ist die Zusammensetzung des dritten Kanonteils, der „Schriften“ (Ketubim), denen 11 Bücher in recht unterschiedlicher Reihenfolge zugeordnet werden: Am Anfang der „Schriften“ stehen meist Psalmen, Hiob, Proverbien. Ihnen folgen dann die 5 „Festrollen“ (Megillot: Hoheslied, Rut, Threni, Kohelet, Ester). Am Ende stehen vor allem in der jüngeren jüdischen Tradition die drei Bücher Daniel, Esra-Nehemia und Chronik (1+2 Chr). Aufgrund der Anfangsbuchstaben der drei Kanonteile Tora, Nebiim und Ketubim hat sich die Bezeichnung Tenak für die jüdische Bibel eingebürgert. 16.2.2. Die jüdische Tradition von der Entstehung des Tenak Wie sich bereits bei Josephus und im 4. Esrabuch gezeigt hat, ist für die jüdische Vorstellung von der Inspiration der Bibel von zentraler Bedeutung, dass die kanonischen Schriften in der von Mose bis Esra reichenden „Zeit der Prophetie“ entstanden sind. In diesem Sinne gibt der babylonische Talmud im Traktat Baba batra (14b.15a) folgende Darstellung der Entstehung der biblischen Bücher: Mose schrieb „sein Buch“ und außerdem das Hiobbuch; Josua verfasste dann „sein Buch“ und fügte an die Mosebücher die Darstellung vom Tod des Mose in Dtn 34,5–12 an. Samuel war der Verfasser „seines“ Buches und des Richter- und Rutbuches; die Teile der Samuelbücher, die die Zeit nach Samuels Tod betreffen, stammen von Gad und Nathan. Jeremia schrieb „sein Buch“, die Königsbücher und Threni, usw. Schließlich werden die Bücher Ezechiel, Zwölf Propheten, Daniel und Ester auf die „Männer der großen Synagoge“ zur Zeit Esras zurückgeführt. Zuletzt verfasste Esra „sein Buch“ und die Genealogien der Chronikbücher, die Nehemia dann ergänzte. Diese in der jüdischen Überlieferung herrschend gewordene Vorstellung von der Enstehung des AT ist schließlich durch den jüdischen Gelehrten des 16. Jh. Elias Levita weitergeführt worden, indem er die breit rezipierte Auffassung entwickelte (in der 3. Vorrede seines Buches Massoreth hammassoreth, 1538), dass Esra und seine Genossen (gemeint sind die „Männer der großen Synagoge“ von
158
Die Schriften des AT
Neh 8–10) die noch getrennt vorliegenden 24 Bücher zusammengestellt und den drei Kanonteilen Tora, Nebiim und Ketubim zugeordnet hätten. Diese auch von christlichen Gelehrten übernommene Vorstellung von der Entstehung des atl. Kanons wurde allerdings von der historischen Kritik des 18. und 19. Jh. in Frage gestellt, die u. a. nachgewiesen hat, dass der atl. Kanon noch nicht in der Perserzeit abgeschlossen sein konnte: Bücher wie Daniel (um 165 v. Chr.) und Kohelet (3. Jh. v. Chr.) stammen mit hoher Wahrscheinlichkeit erst aus der hellenistischen Zeit. Auch zur Dreiteilung des Kanons ist es wohl erst in einem längeren Prozess gekommen: Vor allem die Abgrenzung des Kanonteils „Ketubim“ dürfte erst im Laufe des 1. Jh. n. Chr. vorgenommen worden sein. Es stellt sich von daher die Frage, ob die Sammlung der Ketubim nicht ursprünglich umfangreicher gewesen ist und auch die Bücher umfasst hat, die uns jetzt nur noch durch den Septuagintakanon überliefert werden. 16.2.3. Der Kanon der Septuaginta (vgl. hierzu auch unten § 17.1.–3.) Der Kanon der griechischen Übersetzung des AT, der Septuaginta (LXX), unterscheidet sich zunächst schon durch seinen Aufbau vom jüdischen Kanon des AT. In der LXX wird das AT meist in die 3 Teile „Geschichtsbücher, Lehrbücher (poetische Bücher) und prophetische Bücher“ gegliedert – eine Gliederung, die auch der christlichen Bibel zugrunde liegt (zum differenzierten Befund vgl. jedoch Brandt). Zusätzlich zu den Schriften der jüdischen Bibel enthält die Septuaginta eine Reihe von Schriften, die Martin Luther als Bücher bezeichnet hat, „so der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten und doch nützlich und gut zu lesen sind“, und die er deshalb in einem mit „Apokryphen“ (der Ausdruck geht wohl auf Hieronymus zurück) überschriebenen Anhang zusammengestellt hat (Judit, Weisheit Salomos, Tobit, Sirach, Baruch, 1. + 2. Makkabäerbuch, Stücke in Ester, Stücke in Daniel). Von Luther nicht aufgenommen wurden ein apokryphes Esrabuch und die „Oden“, eine Sammlung poetischer Stücke aus AT und NT. In den Handschriften der Septuaginta sind diese Schriften jeweils in die Geschichtsbücher, die poetischen Bücher und die Prophetenbücher eingeordnet. So setzen sich die Geschichtsbücher einerseits aus den Mosebüchern, aus Josua, Richter, Rut, den zwei Samuelbüchern, den zwei Königsbüchern, den zwei Chronikbüchern, Esra (einschließlich des apokryphen Esrabuches) Nehemia, Ester (mit Erweiterungen, die in der LXX überliefert sind, wie u. a. der Traum Mardochais 1,1a-r) und andererseits aus Tobit, Judit und 1.+2. Makkabäerbuch zusammen. Zu den poetischen Büchern zählen Hiob, Psalmen, Proverbien, Kohelet, Hoheslied und zusätzlich Weisheit Salomos und Jesus Sirach. Schließlich finden sich in den Prophetenbüchern einerseits Jesaja, Jeremia und Threni, Ezechiel, die Zwölf Propheten und das Danielbuch (erweitert um die in
Theologisches Verständnis, Kanon und Textgestalt des AT
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der LXX überlieferten Erzählungen von Susanna und von Bel und dem Drachen und die Gebete des Asarja und der drei Männer im Feuerofen (in der Vulgata Dan 13 f. und 3,24–90) und andererseits das Jeremia und Threni zugeordnete „apokryphe“ Baruchbuch samt dem Brief Jeremias (in der Vulgata Baruch 6,1–72). Dieser Kanon der Septuaginta ist im Wesentlichen von der Vulgata des Hieronymus (ca. 347–420) übernommen und daher mit der Verbindlichkeitserklärung der Vulgata durch das Konzil von Trient (Session 4, 1546) zum in der römisch-katholischen Kirche gültigen Kanon des AT (zu ihm gehören Judit, Tobit, Weisheit Salomos, Jesus Sirach, Baruch, 1.+2. Makkabäerbuch) geworden. Von der Ostkirche wurde dieser Kanon (mit Judit, Tobit, Weisheit Salomos und Jesus Sirach) auf der Synode zu Jerusalem 1672 als verbindlich erklärt, allerdings hat diese Entscheidung keine allgemeine Anerkennung gefunden. In der theologischen Diskussion, inwieweit sich die Kirche am Septuagintakanon oder am jüdischen Kanon zu orientieren habe, spielt die Frage eine zentrale Rolle, welche Vorstellung die sich um die Mitte des 1. Jh. n. Chr. bildende Urchristenheit vom kanonischen Umfang des AT hatte. 16.2.4. Die These eines vorchristlichen „alexandrinischen“ Septuaginta-Kanons Eine in der atl. Wissenschaft früher weit verbreitete These nahm an, dass es neben dem durch Josephus, 4. Esra und dem babylonischen Talmud bezeugten „palästinischen Kanon“, wie er der jüdischen Bibel zugrunde liegt, einen in der Septuaginta überlieferten älteren alexandrinischen Kanon gegeben habe, in dem die von Luther als „Apokryphen“ bezeichneten Bücher kanonischen Rang gehabt hätten. Dies sei möglich gewesen, weil in Alexandrien nicht mit einem Erlöschen des Geistes der Prophetie nach Esra gerechnet worden sei, so dass auch später entstandene Werke als göttlich inspiriert gelten konnten. Von daher hätten hier Bücher wie Jesus Sirach, 1.+2. Makkabäer, Judit, Tobit etc. als heilige Schriften Anerkennung finden können. Demgegenüber hat die neuere Forschung (vgl. vor allem Sundberg) gezeigt, dass der Septuaginta-Kanon nur in christlichen Zusammenhängen bezeugt ist. Eindeutige christliche Zeugnisse sind sogar erst für das 4. Jh. n. Chr. vorhanden. Zum andern spricht gegen einen vorchristlichen, die sog. „Apokryphen“ mitenthaltenden „alexandrinischen Kanon“ des AT der Umstand, dass Philo von Alexandrien (ca. 20. v. Chr. – 45. n. Chr.), der wichtigste Bibelausleger des alexandrinischen Judentums des 1. Jh. n. Chr., nie die Bücher zitiert, die die Besonderheit des „alexandrinischen“ gegenüber dem palästinischen Kanon ausmachen sollen. Schließlich kennt der in Ägypten um 130 v. Chr. entstandene griechische Prolog
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Die Schriften des AT
zu Jesus Sirach noch nicht die Septuaginta-Gliederung des AT in geschichtliche, poetische und prophetische Bücher, sondern rechnet mit dem für den sog. „palästinischen“ Kanon typischen Aufbau: Tora, Propheten und weitere Schriften. Von daher wird man gegenüber der Annahme einer vorchristlichen Wurzel des Septuagintakanons zurückhaltend sein müssen. 16.2.5. Die These der Reduzierung des ursprünglichen atl. Kanons durch die „Synode von Jamnia“ Schon das Buch Jesus Sirach (um 180 v. Chr.) geht aus vom Abschluss der Kanonteile Tora und Nebiim (so reicht das „Lob der Väter“ in Sir 44–49 von Henoch (Gen 5,24; vgl. Sir 44,16) bis zu den zwölf Propheten (Sir 49,10). Dagegen scheint der dritte Kanonteil, der wohl bei dem Enkel Sirachs (um 130 v. Chr.; vgl. griechisches Vorwort des Sirachbuches) vorausgesetzt wird („Gesetz, Propheten und weitere Schriften“), bis in das 1. Jh. n. Chr. hinein offen geblieben zu sein. Eine einflussreiche, von dem jüdischen Gelehrten Heinrich Graetz 1871 entwickelte These, nimmt an, dass der Abschluss des dritten Kanonteils auf einer um 100 n. Chr. anzusetzenden Synode von Jamnia/Jabne festgelegt worden sei. Graetz stützt sich für diese These auf die Mischnaüberlieferung (Traktat Jadaim 3,5), die folgendes berichtet: „R. Simeon b. Azzai (um 110) sagte: Ich habe die Überlieferung aus dem Mund der 72 Ältesten an dem Tag, da sie R. Eleasar b. Asarja (um 100) im Lehrhaus einsetzten, dass Hoheslied und Kohelet die Hände verunreinigen“ (Übersetzung nach Rüger). Mit der These von einer Entstehung des jüdisch-pharisäischen Kanons um 100 n. Chr. hat man die Auffassung verbunden, dass es „antiapokalyptische, antisapientiale, vornehmlich aber antichristliche Polemik“ gewesen sei, „wenn in diesem Traditionsabschluss 100 n. Chr. ein entscheidender Teil eliminiert wurde, nämlich ein Großteil des apokalyptischen und sapientialen Materials“ (Gese). Zur Begründung verweist man auf die Tosefta (Jadaim 2,13), in der es heißt: „Die Giljonim und die Bücher der Minim verunreinigen die Hände nicht. Die Bücher des Ben Sira und alle Bücher, die von da an und weiterhin geschrieben worden sind, verunreinigen die Hände nicht“. Hier werde deutlich, „daß der Abschluss des dritten Teils der hebräischen Bibel und der damit verbundene Ausschluss der Apokryphen und Pseudepigraphen zumindest auch veranlasst ist durch die Auseinandersetzung des Frühjudentums mit den Minim, d. h. mit heterodoxen und heteropraxen jüdischen Gruppen, und in diesem Falle ganz konkret durch die Auseinandersetzung mit dem Anspruch der Christen, auch ihre ‚Evangelien‘ hätten als heilige Schriften zu gelten“ (Rüger, wobei Rüger die „Giljonim“ als mit den „Evangelien“ identisch ansieht).
Theologisches Verständnis, Kanon und Textgestalt des AT
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Aufgrund der Annahme einer antichristlichen Frontstellung der jüdischen Kanonbildung folgert Gese: „Ein christlicher Theologe darf den masoretischen Kanon niemals gutheißen … Mir scheint unter den Einwirkungen des Humanismus auf die Reformation die eine verhängnisvolle gewesen zu sein, daß man die pharisäische Kanonreduktion und die masoretische Texttradition, auf die man als ‚humanistische‘ Quelle zurückgriff, miteinander verwechselte und Apokryphen aussonderte“. Auf diesem Hintergrund ist Gese der Auffassung, dass für christliche Theologie ausschließlich der Septuagintakanon verbindlich sein könne und sich von ihm her – anders als vom masoretischen Kanon her – eine Einheit von atl. und ntl. Traditionsbildung begründen lasse. 16.2.6. Die Infragestellung einer Festlegung des dritten Teils des jüdischen Kanons um 100 n. Chr. Eine genaue Untersuchung der in Mischna Jadaim 3,5 vorliegenden Überlieferung ergibt jedoch, dass hier von keiner allgemein anerkannten Synode von Jamnia/Jabne die Rede ist, sondern nur von einer Diskussion von 72 Weisen (bei der Einsetzung von R. Eleasar im Lehrhaus von Jamnia/Jabne um 100 n. Chr.) über die Kanonizität von Hohemlied und Kohelet. Dafür spricht vor allem, dass R. Simeon ben Azzai von keiner autoritativen Entscheidung berichtet, sondern nur davon, dass ihm die Überlieferung über eine Lehrhausdiskussion zugunsten der Kanonizität der beiden Bücher bekannt sei (vgl. hierzu Lewis, auch Wanke und Stemberger). Es geht hier offensichtlich um eine Diskussion, wie sie Mischna Jadaim 3,5 auch für die Zeit nach dem Bar Kochba-Aufstand (135 n. Chr.) berichtet: „R. Jehuda sagt: Das Hohelied verunreinigt die Hände; Kohelet hingegen ist umstritten. R. Jose sagt: Kohelet verunreinigt die Hände nicht, das Hohelied hingegen ist umstritten“. Dass schon für die Mitte des 1. Jh. n. Chr. mit einer einigermaßen festen Kanonabgrenzung im palästinischen Judentum zu rechnen ist, zeigt die Tatsache, dass am Ende des 1. Jh. sowohl Josephus als auch 4. Esra (vgl. 16.1.3.) mit dem gleichen Umfang der kanonischen „inspirierten“ Schriften rechnen, obwohl sie sie in unterschiedlicher Weise als 22 bzw. 24 Schriften zählen (Stemberger). Auch spricht kaum etwas für eine antichristliche Tendenz bei der jüdischen Kanonabgrenzung. Dass sich die in Tosefta Jadaim 2,13 erwähnten Giljonim und die Bücher der Minim auf christliche heilige Schriften beziehen, ist kaum wahrscheinlich zu machen. Mit „Giljonim“ werden erst im 3. Jh. n. Chr. „Evangelien“ bezeichnet. Hier sind offensichtlich jüdische Bibeltexte gemeint, die nicht in der Form von Buchrollen vorliegen (Maier). Auch beziehen sich Minim in der rabbinischen Literatur nicht einfach auf Judenchristen oder Christen schlechthin,
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Die Schriften des AT
sondern auf „alle Juden, die von der Hauptlinie jüdischen Lebens abweichen“ (Stemberger). Schließlich gibt es keinen Hinweis in der jüdischen Überlieferung, dass die Aussage von Tosefta Jadaim 2,13 auf die Zeit um 100 n. Chr. (und damit auf die Aussage von Mischna Jadaim 3,5) zu beziehen ist. Der Kanon des AT geht somit nicht auf eine synagogale Entscheidung um 100 n. Chr. zurück. Vielmehr hat sich – nachdem sich der Tora- und Prophetenkanon bereits bis zum Beginn des 2. Jh. v. Chr. herauskristallisiert hatte – im Laufe des 1. Jh. v. Chr. und des 1. Jh. n. Chr. auch der dritte Kanonteil der Schrift in einem verbindlichen Umfang herausgebildet, so dass um 100 n. Chr. sich ein weitgehender Konsens über die Zugehörigkeit der 22 bzw. 24 Bücher zum jüdischen Kanon zeigt. Dass es trotzdem immer wieder zu Bestreitungen der Kanonizität einzelner Bücher kommt, schließt das Vorliegen eines weitgehend anerkannten Kanons nicht aus (vgl. die entsprechenden Diskussionen über die Kanonizität einzelner ntl. Bücher, die sich bis in die Reformationszeit erstrecken). 16.2.7. Der von der Reformation übernommene jüdische Kanon als im Neuen Testament vorausgesetzter Kanon Gegen eine Begrenzung des vom NT vorausgesetzten atl. Kanons auf die Bücher des jüdischen Kanons scheint zwar zu sprechen, dass sich im NT Zitate aus den sog. „Apokryphen“ finden (vgl. nur Jak 1,19 mit Zitat von Sir 5,11). Doch muss es sich bei den im NT zitierten Schriften nicht generell um als kanonisch angesehene Werke handeln. Für das Zitat des stoischen Philosophen Aratus in Apg 17,28 ist dies offensichtlich (vgl. auch das Zitat von Thukydides II, 97,4 in Apg. 20,35). Auch wenn Jud 14f. 1 Henoch 1,9 zitiert, kann nicht angenommen werden, dass für den Verfasser des Judasbriefs die Henochapokalypse als Teil des Kanons anerkannt war. Stellen, denen eindeutig zu entnehmen ist, dass der Septuagintakanon für die Verfasser des NT als kanonisch galt, liegen nicht vor (anders Vielhauer).
16.3.
Ausgewählte Literatur
Auwers, J.-M./Jonge, H. J. de: The Biblical Canons, Leuven 2003. Beckwith, R.: The Old Testament Canon of the New Testament Church, London 1985. Brandt, P.: Endgestalten des Kanons. Das Arrangement der Schriften Israels in der jüdischen und christlichen Bibel, Berlin/Wien 2001. Campenhausen, H. von: Die Entstehung der christlichen Bibel, Tübingen 1968. Carr, D.M.: Canonization in the Context of Community, in: FS J.A. Sanders, Sheffield 1996, 22–64. Gese, H.: Erwägungen zur Einheit der biblischen Theologie, in: Vom Sinai zum Zion, München 1974, 11–30.
Theologisches Verständnis, Kanon und Textgestalt des AT
163
Graetz, H.: Kohelet oder der salomonische Prediger. Anhang I: Der atl. Kanon und sein Abschluß, Leipzig 1871, 147–173. Hengel, M./Deines, R.: Die Septuaginta als „christliche Schriftensammlung“ und das Problem ihres Kanons, in: M. Hengel/A.M. Schwemer (Hg.), Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum, Tübingen 1994, 182–284. Kaiser, O.: Art. Literaturgeschichte, Biblische I.: Altes Testament, TRE 21, 1991, 306–337 (= Abriß der atl. Literaturgeschichte, in: Studien zur Literaturgeschichte des AT, Würzburg 2000, 9–69). Lewis, J.P.: What Do we Mean By Jabne, JBR 32, 1964, 125–132. Macholz, G.C.: Die Entstehung des hebräischen Bibelkanons nach 4 Esra 14, in: FS R. Rendtorff, Neukirchen-Vluyn 1990, 379–391. Maier, J.: Jüdische Auseinandersetzung mit dem Christentum in der Antike, Darmstadt 1982. –: Zur Frage des biblischen Kanons im Frühjudentum im Licht der Qumranfunde, JBTh 3, 1988, 135–146. Rüger, H.P.: Das Werden des christlichen AT, in: JBTh 3, 1988, 175–189. Schmitt, H.-C.: Die Einheit der Schrift und die Mitte des AT, in: U. Schorn/M. Büttner (Hg.), Theologie in Prophetie und Pentateuch. Gesammelte Schriften, Berlin/New York 2001, 326–345. Steck, O.H.: Der Kanon des hebräischen AT, in: W. Pannenberg/T. Schneider, Verbindliches Zeugnis I: Kanon – Schrift – Tradition, Freiburg und Göttingen 1992, 11–33. Steins, G.: Die „Bindung Isaaks“ im Kanon (Gen 22), Freiburg 1999. Stemberger, G.: Jabne und der Kanon, JBTh 3, 1988, 163–174. Sundberg, A.C.: The Old Testament of the Early Church, Cambridge (Mass.)/London 1964. Vielhauer, P.: Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin/New York 1975. Wanke, G.: Art. Bibel I. Die Entstehung des AT als Kanon, TRE 6, 1980, 1–8. Zenger E. (Hg.): Die Tora als Kanon für Juden und Christen, Freiburg 1996.
§ 17
Die kanonische Textgestalt des AT
17.1.
Die Kanonizität des Septuaginta-Textes in der Alten Kirche
Die Bedeutung, die die griechische Übersetzung der Septuaginta für die Alte Kirche gewonnen hat, wird besonders bei Augustinus (354–430) deutlich, der u. a. in „De civitate Dei“ (XV, 23,3) feststellt: „Mit Recht nimmt man an, daß die 70 Dolmetscher den prophetischen Geist empfangen haben, so daß man überzeugt sein darf, was sie unter seiner Einwirkung änderten und worin sie vom Urtext abwichen, sei gleichfalls Gottes Wort“. Diese christliche Vorstellung von
164
Die Schriften des AT
einer besonderen göttlichen Inspiration der Septuaginta hat sich in den ersten christlichen Jahrhunderten gegenüber jüdischen Infragestellungen der Angemessenheit der Septuagintaübersetzung durchgesetzt. Sie greift zurück auf die Entstehungslegende der Septuaginta, wie sie in der um 120 v. Chr. entstandenen pseudepigraphen Schrift des Aristeas-Briefs überliefert ist (vgl. Meisner). Nach ihr schlägt der als Vorsteher der königlichen Bibliothek von Alexandria vorgestellte Demetrios von Phaleron dem König Ptolemäus II. (285–246 v. Chr.) vor, in die Bibliothek auch die jüdische Tora aufzunehmen, wozu sie allerdings ins Griechische übersetzt werden müsste. Der König stimmt zu und sendet zur Vorbereitung der Übersetzung den Aristeas, einen heidnischen Hofbeamten, nach Jerusalem zum Hohenpriester Eleasar mit der brieflich geäußerten Bitte, ihm gelehrte Männer für die Übersetzung der Tora zur Verfügung zu stellen, und zwar 6 Männer aus jedem der 12 Stämme. Der Hohepriester Eleasar sendet daraufhin 72 Männer (in der Tradition wird von ihnen dann abgerundet als von den „Siebzig“ gesprochen) nach Alexandria. Dort erweisen sie in sehr breit dargestellten Gesprächen mit dem König ihre Weisheit. Schließlich führen die 72 Männer in 72 Tagen die Übersetzung folgendermaßen durch: „(zunächst) brachten sie die einzelnen (Übersetzungen) durch Vergleich in Übereinstimmung; worin sie nun übereingekommen waren, das schrieb Demetrios in diesem Wortlaut ordentlich nieder“ (Aristeasbrief 302, Übersetzung von Meisner). Nach dem Abschluss der Arbeit liest Demetrios die Übersetzung der jüdischen Gemeinde von Alexandria vor, was zu folgender Reaktion führt: „Als die Rollen verlesen waren, traten die Priester, die Ältesten der Übersetzer, Vertreter der (jüdischen) Bürgerschaft und die Vertreter der Gemeinde zusammen und sprachen: Da die Übersetzung gut, fromm und völlig genau ist, ist es recht, daß sie so erhalten bleibt und keine Überarbeitung stattfindet“ (Aristeasbrief 310). Bei dieser Darstellung des Aristeasbriefs handelt es sich um eine ätiologische Sage, die mit Hilfe einer Erzählung eine Erklärung dafür geben will, dass es im Alexandria der zweiten Hälfte des 2. Jh. v. Chr. eine hocheingeschätzte Übersetzung der Tora gab. Bemerkenswert ist, dass sowohl in der jüdischen als auch in der christlichen Überlieferung sich bald die Auffassung von einem wunderhaften Charakter der Übersetzung herausbildet: So spricht Philo (De vita Mosis 2,32) davon, dass die Übersetzer „auf prophetische Weise und wie unter göttlicher Ergriffenheit … alle dieselben Bezeichnungen und Worte“ niederschrieben. Beim christlichen Kirchenvater Irenäus (gest. um 200) findet sich eine noch genauere Beschreibung dieses Wunders (Adv. Haer. III, 21,2). Danach trennte Ptolemäus vor der Übersetzungsarbeit die einzelnen Übersetzer voneinander, stellte aber nachher fest, dass alle die Texte mit denselben Worten wiedergegeben hatten: „So wurde allgemein erkannt, dass die Bücher durch göttliche Inspiration übersetzt waren“.
Theologisches Verständnis, Kanon und Textgestalt des AT
165
Zu beachten ist, dass Irenäus nicht mehr nur von einer Übersetzung der Tora, sondern von allen atl. Büchern ausgeht. Noch weiter entwickelt liegt diese Legende in der pseudojustinischen Cohortatio ad Graecos (wohl aus der 2. Hälfte des 3. Jh.) vor (Kap. 13). Sie behauptet, die 70 Übersetzer hätten ihre Arbeit an „der Geschichte Moses und der übrigen Propheten“, getrennt in 70 Häuschen, jeder für sich vorgenommen, und man könne noch die Fundamente dieser Behausungen auf der Insel Pharos besichtigen. Angesichts der großen kirchlichen Bedeutung der Septuaginta verwundert es nicht, dass zahlreiche christliche Übersetzungen des AT Tochterübersetzungen der Septuaginta darstellen (so die Vetus Latina seit dem 2. Jh., die koptischen Übersetzungen ab dem 3. Jh., die äthiopische Übersetzung ab dem 4. Jh.).
17.2.
Die historische Entstehung der Septuaginta
Als historischer Kern der Legende des Aristeasbriefs ist die Existenz einer griechischen Übersetzung der Tora im Alexandria der 2. Hälfte des 3. Jh. v. Chr. anzunehmen. Die erste literarische Verwendung dieser Übersetzung ist bei dem hellenistischen jüdischen Geschichtsschreiber Demetrios um 210 v. Chr. festzustellen (Hengel). Die griechische Übersetzung weiterer Teile des AT wird dann durch den griechischen Prolog des Sirachbuches (130 v. Chr.) bezeugt. Nach ihm liegen dem Übersetzer des Sirachbuches bereits „das Gesetz, die Propheten und weitere Schriften“ in griechischer Übersetzung vor. Bei den Büchern Esra und Nehemia (= Esdras) wie bei Kohelet und Hohemlied spricht einiges dafür, dass sie erst im Laufe des 1. Jh. n. Chr. ins Griechische übertragen wurden (Hengel).
17.3.
Die Abkehr von der Septuaginta im Judentum des 2. Jh. n. Chr.
An der Auseinandersetzung mit der sich meist auf die Septuaginta stützenden christlichen Auslegung des AT stellte das Judentum an vielen Stellen eine Differenz der Septuagintaübersetzung gegenüber dem hebräischen Urtext fest. Von daher sind für das Judentum des 2. Jh. eine Reihe von Versuchen festzustellen, zu neuen griechischen Übersetzungen des Tenak zu kommen. Bekannt sind sie uns vor allem durch die Synopse der griechischen Übersetzungen geworden, die Origenes (185–254) um 240 herstellte und die er als Hexapla („das sechsfältige Werk“) bezeichnete. In ihm sind in Kolumnen nebeneinandergestellt:
166
Die Schriften des AT
1. 2. 3. 4. 5. 6.
der hebr. Konsonantentext der hebr. Text in griech. Transkription die Übersetzung des Aquila die Übersetzung des Symmachos die Septuaginta die Übersetzung des Theodotion
In den Psalmen soll Origenes noch weitere griechische Übersetzungen (Quinta, Sexta, Septima) beigefügt haben. Auch hat Origenes noch eine Tetrapla herausgegeben, in die nur die griechischen Übersetzungen aufgenommen waren. Origenes hat den ihm vorliegenden Septuagintatext nach dem Urtext korrigiert, indem er fehlende Passagen aus anderen Übersetzungen einfügte, sie aber durch Asteriskos (*) und Metobelos (./.) einklammerte. Passagen, die im Urtext fehlten, wurden dagegen mit dem Obelos (–:) und dem Metobelos markiert. Unter den von Origenes überlieferten griechischen Übersetzungen zeichnet sich die Anfang des 2. Jh. n. Chr. von einem Proselyten namens Aquila angefertigte durch ihre oft gewaltsame wörtliche Wiedergabe des hebräischen Textes aus (vgl. nur Gen 1,1: en kephal¯e ektisen theos syn ton ouranon). Der Septuaginta näher stehen die beiden anderen traditionell am Ende des 2. Jh. n. Chr. angesetzten Übersetzungen des Theodotion und des Symmachus. Für die TheodotionLesarten finden sich allerdings schon wesentlich frühere Belege, besonders im Zusammenhang der sog. kaige-Rezension des Septuagintatextes (hebr. gam wird hier mit kaige wiedergegeben), die vor allem in der griechischen Dodekaprophetonrolle vom Nahal Hever (ca. 50 n. Chr.), aber auch in Septuagintalesarten der . Bücher Samuel-Könige und Richter seit dem 1. Jh. v. Chr. bezeugt ist (vgl. Barthélemy und Tov).
17.4.
Vulgata
Wie die Hexapla des Origenes zeigt, hat die Theorie von der göttlichen Inspiration der Septuagintaübersetzung das christliche Interesse am hebräischen Urtext des AT nie ganz verdrängen können. Besonders deutlich zeigt sich dies an der Übersetzungsarbeit des Hieronymus (ca. 347–420). Er begann mit Revisionen der Vetus Latina nach dem griechischen Text, aus denen das Psalterium Romanum und (aufgrund des Hexapla-Textes) das Psalterium Gallicanum (später in die Vulgata aufgenommen) hervorgingen. Ab 390 hat Hieronymus dann eine neue lateinische Übersetzung aufgrund der „hebraica veritas“ (Vulgata) hergestellt, die sich allmählich in der römischen Kirche durchsetzte (nicht rezipiert wurde jedoch das
Theologisches Verständnis, Kanon und Textgestalt des AT
167
„Psalterium iuxta Hebraeos“ des Hieronymus). Allerdings hat Hieronymus die meisten „Apokryphen“ aus der Vetus Latina übernommen. Auch die Reihenfolge der atl. Bücher orientiert sich im Wesentlichen an der Septuaginta.
17.5.
Peschitta
Die wichtigste Bibelübersetzung der syrischen Kirche stellt die Peschitta dar. Der Name „Peschitta“ (die „einfache“ Übersetzung) wird offensichtlich in Unterscheidung zur Syro-Hexapla, der Übersetzung der griechischen Hexapla, gebraucht. Sie ist zwischen dem 2. Jh. und dem 5. Jh. (vor der Spaltung in Jakobiten und Nestorianer) entstanden. Auch sie geht wie die Vulgata in ihren Hauptbestandteilen auf den hebräischen Urtext zurück (gelegentlich ist auch mit Einwirkung jüdischer Targume zu rechnen: vgl. dazu unten 17.6.2.). Alles in allem zeigt sich somit, dass trotz der überragenden Stellung, die die Septuaginta in der christlichen Tradierung des AT einnahm, doch auch hier die Bedeutung des hebräischen Urtextes nie völlig an den Rand gedrängt werden konnte.
17.6.
Der reformatorische Rückgriff auf die jüdische Überlieferung des AT
17.6.1. Die Vorstellung von der Verbalinspiration des hebräischen „textus receptus“ des AT Nach dem humanistischen Grundsatz „ad fontes“ hat die Reformation bei den biblischen Texten den jeweiligen Urtext, also im Falle des AT den hebräischen Text, für verbindlich angesehen. Dabei lag den Reformatoren der hebräische Text in der Form des sog. „textus receptus“ vor (die wichtigste Druckausgabe dieses Textes ist die 1524/25 bei Daniel Bomberg in Venedig gedruckte „Rabbinerbibel“ des Jakob ben Chajim, die auch als „Bombergiana“ bezeichnet wurde), der sich aufgrund der Arbeit der tiberiensischen Masoreten Ben Naftali und Mosche ben Ascher (und dessen Sohnes Aaron) herausgebildet hatte (Punktation des Konsonantentextes mit den tiberiensischen Vokalzeichen und Akzenten, Beifügung der Rand- und der Schlussmasora, d. h. Bemerkungen zur Textgestalt mit dem Zweck, die Unveränderlichkeit des Textes zu sichern). In der lutherischen Orthodoxie (vgl. u. a. Johann Buxtorf sen., 1564–1629) wurde nun angenommen, dass dieser textus receptus einschließlich der Punktation der hebräischen Wörter die von Gott inspirierte ursprüngliche Textgestalt
168
Die Schriften des AT
des AT darstelle. Problematisch wurde diese Auffassung jedoch dadurch, dass man feststellte, dass die tiberiensische Punktation erst im 9. Jh. n. Chr. entstanden war (vgl. dazu schon Elias Levita [1469–1549] und Ludwig Cappellus 1524 „Arcanum punctationis revelatum“) und dass der atl. Konsonantentext im Samaritanischen Pentateuch starke Abweichungen aufwies (Pietro della Valle 1616). Somit erwies es sich auch für die reformatorische Bibelwissenschaft als notwendig, sich über die genaueren Entstehungsbedingungen des masoretischen Textes zu informieren, um sachgemäße Entscheidungen über den Urtext des AT fällen zu können. 17.6.2. Die Entstehung des masoretischen Textes Wie der Befund bei den hebräischen Bibelhandschriften von Qumran, deren Entstehung bis in die 1. Hälfte des 2. Jh. v. Chr. zurückreicht, deutlich macht, gab es ursprünglich ein Nebeneinander verschiedener Textformen der atl. Bücher. Bemerkenswert ist, dass sich zwischen den hebräischen Bibelhandschriften von Qumran und den vorher bekannten unterschiedlichen Textformen des masoretischen Textes, des Samaritanus und der Septuaginta enge Verwandtschaften aufweisen lassen (so z. B. zwischen 4 QJerb und dem Septuagintatext des Jeremiabuches). Daran zeigt sich, dass der Septuaginta zumindest teilweise eine hebräische Vorlage zugrunde lag, die sich von der masoretischen Textform unterschied. In gleicher Weise führten auch die Samaritaner, als sie sich im letzten Drittel des 2. Jh. v. Chr. endgültig vom Judentum trennten, eine ältere Textform weiter. Ihr Pentateuch, der bei ihnen allein als Heilige Schrift galt, enthält gegenüber dem masoretischen Text rund 6000 Abweichungen, die aber in ca. 2000 Fällen mit Septuagintavarianten übereinstimmen. Die Vielfalt der frühen jüdischen Textüberlieferung spiegeln auch die Targume, die Übersetzungen des hebräischen Textes des AT ins Aramäische, wider. Sie wurden notwendig, weil bei den palästinischen und babylonischen Juden der Nachexilszeit die Kenntnis der hebräischen Sprache mehr und mehr abnahm. So wurden im Synagogengottesdienst die atl. Texte nach ihrer Verlesung in Hebräisch zunächst durch einen Dolmetscher (Turgeman) frei ins Aramäische übersetzt, das sich als Amtssprache im Perserreich zur Volkssprache der jüdischen Bevölkerung entwickelt hatte. Allmählich entstanden dabei Übersetzungstraditionen, die schließlich schriftlich fixiert wurden. Ein altes Zeugnis hierfür ist das in Höhle 11 von Qumran fragmentarisch erhaltene Hiobtargum (11QTgJob = 11Q10), das wohl aus der Zeit um 100 v. Chr. stammt (Entsprechendes gilt für das Hiobtargum 4Q157). Auch die palästinischen Targume (vgl. zum Pentateuch das Targum Pseudo-Jonatan [ = Targum Jeruschalmi I], das Fragmenten-Targum [ = Targum Jeruschalmi II] und schließlich auch das Manuskript Vaticanus
Theologisches Verständnis, Kanon und Textgestalt des AT
169
Neophyti I) gehen in ihrem Grundbestand auf frühe Textformen des AT zurück. Dagegen spiegelt sich in den im 5. Jh. ihre Endgestalt erreichenden babylonischen Targumen (u. a. Targum Onkelos für Pentateuch, Targum Jonatan für die Prophetenbücher) bereits der masoretische Text wider. Dieser autoritative Konsonantentext dürfte sich im Judentum erst am Ende des 1. Jh. n. Chr. durchgesetzt haben. Seine minutiöse Sicherung ist das Verdienst der „Masoreten“ („Überlieferer“), die durch die „Masora“ (vgl. oben § 17.6.1.) eine buchstabentreue Weitergabe des hebräischen Textes gefördert haben. Die Zentren ihrer Arbeit lagen in Tiberias und in Babylonien (Sura, Nehardea, Pumbeditha). Die unterschiedlichen Stadien in der Herausbildung der masoretischen Beigaben zum Konsonantentext lassen sich anhand der in der 2. Hälfte des 19. Jh. in der Geniza der Synagoge von Alt-Kairo gemachten Funde noch rekonstruieren. Durchgesetzt hat sich dabei die im 9. Jh. n. Chr. entwickelte tiberiensische Punktation und Akzentuierung, wobei der Text der Familie Ben Ascher unter dem Einfluss des Philosophen Maimonides (1135–1204) besonders hohes Ansehen gewann. Das älteste uns erhaltene Werk dieser Familie liegt im Kairoer Propheten-Kodex (Josua – Dodekapropheton) vor, den Mosche Ben Ascher 895 geschrieben und publiziert hat. Von Aaron Ben Mosche Ben Ascher stammt der in der 1. Hälfte des 10. Jh. geschriebene Codex von Aleppo, der im Rahmen der Hebrew University Bible (ed. M.H. Goshen-Gottstein) publiziert wird. Nach einer Vorlage des Aaron Ben Mosche Ben Ascher wurde im Jahre 1008 der Codex Leningradensis B 19 A geschrieben, der seit der 3. Aufl. der Biblia Hebraica zugrundeliegt (zuletzt Biblia Hebraica Stuttgartensia hg.v. K. Elliger und W. Rudolph 1968–1975; auch die geplante Biblia Hebraica Quinta druckt diesen Codex ab). 17.6.3. Die Vorzugstellung des Masoretischen Textes Als Ausgangspunkt für die Herstellung des kanonischen Textes des AT ist der hebräische Masoretische Text (MT) anzusehen (Childs). Für diese Vorzugstellung des Masoretischen Textes gegenüber der nichtjüdischen Überlieferung des AT, die sich in der textkritischen Regel „in dubio pro MT“ (Würthwein) äußert, sprechen sowohl historische als auch theologische Gründe. Einerseits geht der Masoretische Text im Ganzen auf eine gegenüber den außermasoretischen Texttraditionen, wie sie im Samaritanus und in den mit der Septuaginta verwandten Qumranbibelhandschriften vorliegen, relativ altertümliche und zuverlässige Texttradition zurück (Würthwein). Gleichzeitig hat sich die Überlieferung der Masoreten um eine Sicherung dieser Texttradition bemüht, für die es in den übrigen Textüberlieferungen des AT keine Parallelen gibt. Andererseits hat die Alte Kirche neben der Septuaginta immer auch die jüdische Texttradition als inspiriert und damit als verbindlich angesehen. Dies zeigt
170
Die Schriften des AT
sich einerseits an der von Origenes (185–254) vorgenommenen Rezension des Septuagintatextes anhand des Textes der hebräischen jüdischen Texttradition. Andererseits hat Hieronymus (ca. 347–420) sogar als Grundlage für die Schaffung einer verbindlichen lateinischen Übersetzung des AT das hebräische AT der Septuaginta vorgezogen. Zwar hat die Kirche das AT vom Christusereignis her neu verstanden, doch hat sie dieses neue Verständnis immer auf der Grundlage des jüdischen AT vertreten: Christen kennen kein anderes Zeugnis vom atl. Handeln Gottes als das, das auch vom Judentum überliefert wird. Zu den Wurzeln des christlichen Glaubens im Sinne des paulinischen Ölbaumgleichnisses (Röm 11,17–24) gehört daher auch der vom Judentum überlieferte Text des AT. Die Entscheidung der Reformation für die „veritas hebraica“ der atl. Tradition ist daher nicht bloß von dem humanistischen Ruf „ad fontes“ her zu verstehen, sondern beruht einerseits auf historisch überzeugenden Überlegungen, andererseits vor allem aber auch auf theologischen Gründen, die dem paulinischen Gottesvolkverständnis entstammen.
17.7.
Ausgewählte Literatur
17.7.1. Lehrbücher und Untersuchungen Barthélemy, D.: Les dévanciers d’Aquila, Leiden 1963. –: Critique textuelle de l’Ancien Testament I-III, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1982–1992. Childs, B.S.: Introduction to the Old Testament as Scripture, London 1979. Fabry, H.-J.: Der Text und seine Geschichte, in: E. Zenger u. a., Einleitung in das AT, Stuttgart 72008, 34–59. Fabry, H.-J./Offerhaus, U. (Hg.): Im Brennpunkt: Die Septuaginta, Stuttgart 2001. Fischer, A. A./(Würthwein, E.): Der Text des AT, Stuttgart 2009. Hengel, M.: Die Septuaginta als christliche Schriftensammlung, in: W. Pannenberg/ T. Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis I, Freiburg und Göttingen 1992, 34–127. Koch, K.: Die aramäische Rezeption der Hebräischen Bibel. Studien zur Targumik und Apokalyptik, Neukirchen-Vluyn 2002. Kreuzer, S./Lesch J.P. (Hg.): Im Brennpunkt: Die Septuaginta 2, Stuttgart 2004. Meisner, N.: Aristeasbrief, in: Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit II, Gütersloh 1977, 35–87. Siegert, F.: Zwischen Hebräischer Bibel und AT. Eine Einführung in die Septuaginta, Münster 2001. Tilly, M.: Einführung in die Septuaginta, Darmstadt 2005. Tov, E.: Textual Criticism of the Hebrew Bible, Minneapolis 1992 = Der Text der Hebräischen Bibel. Handbuch der Textkritik. Übers. von H.-J. Fabry, Stuttgart 1996. Troyer, K. de: Die Septuaginta und die Endgestalt des AT, Göttingen 2005.
Theologisches Verständnis, Kanon und Textgestalt des AT
171
17.7.2. Wichtige Textausgaben 17.7.2.1. Biblia Hebraica Kittel, R./Alt, A./Eißfeldt, O. (Hg.): Biblia Hebraica3, Stuttgart 1929–1937. 1951 (mit Varianten der Jesajahandschrift 1QIsa). Elliger, K./Rudolph, W. (Hg.): Biblia Hebraica Stuttgartensia, Stuttgart 1967–1977. Schenker, A. u. a. (Hg.): Biblia Hebraica Quinta, Stuttgart 2004 ff. Freedman, D.N. u. a. (Hg.): The Leningrad Codex. A Facsimile Edition, Grand Rapids/ Leiden 1998. Goshen-Gottstein, M.H. (Hg.): The Hebrew University Bible, Jerusalem 1965 ff. – (Hg.): The Aleppo Codex, Jerusalem 1976.
17.7.2.2. Samaritanischer Pentateuch Gall, A. von (Hg.): Der hebräische Pentateuch der Samaritaner, Giessen 1914–1918 (Neudruck 1963).
17.7.2.3. Septuaginta Rahlfs, A. (Hg.): Septuaginta I und II, Stuttgart 1935. Septuaginta. Vetus Testamentum Graecum Auctoritate Academiae Scientiarum Gottingensis editum, Göttingen 1931 ff. Field, F. (Hg.): Origenis Hexaplorum quae supersunt sive veterum interpretum graecorum in totum Vetus Testamentum fragmenta, Oxford 1867–1874 (Nachdruck Hildesheim 1964). Kraus, W./Karrer, M. (Hg.): Septuaginta Deutsch, Stuttgart 2009.
17.7.2.4. Targume Sperber, A. (Hg.): The Bible in Aramaic I-IV, Leiden 1959–1973. Rieder, D. (Hg.): Pseudo-Jonathan, Jerusalem 1974. Diez Macho, A.: Neophiti I, I–V, Madrid und Barcelona 1968–1978.
17.7.2.5. Peschitta The Old Testament in Syriac according to the Peshitta Version, ed. … by the Peshitta Institute of the University of Leiden, Leiden 1972 ff.
17.7.2.6. Vetus Latina Vetus Latina. Die Reste der altlateinischen Bibel. Nach Petrus Sabatier neu gesammelt und herausgegeben von der Erzabtei Beuron, Freiburg 1949 ff.
17.7.2.7. Vulgata Weber R. (Hg.): Biblia Sacra iuxta Vulgatam Versionem, Stuttgart 1969. Biblia Sacra iuxta latinam vulgatam versionem ad codicum finem … cura et studio Monachorum Abbatiae Pontificiae S. Hieronymi in urbe ordinis S. Benedicti edita, Rom 1926 ff. (AT seit 1986 vollständig).
172
Die Schriften des AT
17.8.
1. 2.
Repetitionsthemen zu Kanon und Textüberlieferung des AT (§ 15–17): Die Vorstellungen vom Kanon des AT von Jesus Sirach bis zum Talmud. Die zentralen Zeugen der atl. Textüberlieferung, ihre Entstehungssituation und ihre Besonderheiten.
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
173
Kapitel 2: Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
§ 18
Der Aufbau des Pentateuch
18.1.
Der Begriff „Pentateuch“
Der erste Kanonteil der jüdischen Tradition (Tora „Gesetz“) wird in der Bibelwissenschaft üblicherweise als „Pentateuch“ bezeichnet. Der Begriff leitet sich ab vom griechisch-lateinischen pentateuchus liber „das aus fünf Teilen bestehende Buch“. Die frühesten Belege für diesen Begriff finden sich zwar erst bei den christlichen Schriftstellern Tertullian (160–220) und Origenes (185–254), im Judentum sogar erst in talmudischer Zeit (ca. 400–600), doch wird die Einteilung in fünf Mosebücher am Ende des 1. Jh. n. Chr. bei Josephus und bei 4. Esra vorausgesetzt. Der Umfang der Mose-Tora zwang zur Aufteilung auf mehrere Rollen (vgl. Aristeasbrief 176 f., auch 310 für die Septuaginta-Übersetzung; bemerkenswert ist, dass im Aristeasbrief noch nicht von einer Fünfzahl der Pentateuchrollen die Rede ist). Dabei findet sich in der Septuagintaüberlieferung eine Aufteilung in 5 Bücher, die sich an einer Buchgröße von ca. 1000–1300 Versen orientierte, diese aber unter inhaltlichen Gesichtspunkten nach oben oder unten abrundete.
18.2.
Die Namen der Bücher des Pentateuch
Im Anschluss an diese Septuagintaaufteilung sind die in der Wissenschaft üblichen griechisch-lateinischen Namen gebildet: 1. 2. 3. 4.
Mose: Genesis „Ursprung“ Mose: Exodus „Auszug“; Mose: Leviticus „levitisches = priesterliches Gesetzbuch“ Mose: Numeri „Zahlen“ (wegen der Volkszählung zu Beginn des Buches)
174
Die Schriften des AT
5.
Mose: Deuteronomium „zweites Gesetz“ (auf Grund eines Missverständnisses von Dtn 17,18 miˇsneh hattôr¯ah „Abschrift des Gesetzes“ durch die Septuaginta)
In der hebräischen Überlieferung werden für die gleichen Bücher folgende Namen entsprechend den jeweiligen Buchanfängen gebraucht: 1. 2. 3. 4. 5.
18.3.
Mose: bereˇsît „im Anfang“ Mose: (we #ellæh) ˇsemôt „(und dies sind die) Namen“; Mose: wajjiqr¯a # „und er (Jahwe) rief “ Mose: (wajedabber Jhwh …) bemidbar „(und Jahwe redete …) in der Wüste“ Mose: (#ellæh had)deb¯arîm „(dies sind die) Worte“.
Die thematische Gliederung des Pentateuch
Nach inhaltlichen Gesichtspunkten legt sich eine Strukturierung des Pentateuch im Anschluss an Martin Noth (Überlieferungsgeschichte des Pentateuch 1948) in folgende Pentateuchthemen nahe: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
18.4.
Urgeschichte (Gen 1–11) Erzvätergeschichte (Gen 12–50) Exodusgeschichte (Ex 1,1–15,21) Wüstenwanderungserzählungen vor der Ankunft am Sinai (Ex 15,22–18,27) Sinaioffenbarungen (Ex 19–40; Lev 1–27; Num 1,1–10,10) Wüstenwanderungserzählungen nach dem Aufbruch vom Sinai (Num 10,11–20,29) Landnahme (Num 21,1-Dtn 34,12 angelegt auf Fortsetzung in Jos 1 – Ri 1; vgl. Korrespondenz zwischen Num 21,3 und Ri 1,17)
Der Abschluss der Pentateuchdarstellung
18.4.1. Hexateuchhypothese Wie das oben zuletzt erwähnte Pentateuchthema „Landnahme“ zeigt, schließt die Darstellung der Landnahme des Westjordanlandes im Josuabuch (bis einschließlich Ri 2,5) unmittelbar an die Pentateuchdarstellung der Landnahme des
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
175
Ostjordanlandes in Num 21,1 – Dtn 34,12 an. Von daher ging die atl. Forschung des 19. Jh. und der ersten Hälfte des 20. Jh. von einer Zusammengehörigkeit von Pentateuch und Josuabuch (Hexateuch) aus. 18.4.2. Tetrateuchhypothese Demgegenüber hat Martin Noth in seinen „Überlieferungsgeschichtlichen Studien“ (1943; vgl. auch sein 1948 erschienenes Werk „Überlieferungsgeschichte des Pentateuch“) wahrscheinlich gemacht, dass mit Dtn 1 das sog. Deuteronomistische Geschichtswerk beginnt, dessen ursprüngliche Darstellung von Dtn 1 bis 2Kön 25 reicht. Die spezifische Pentateuchthematik bricht nach Noth deshalb mit dem Buch Numeri ab, so dass der ursprüngliche Pentateuch sich auf einen Tetrateuch reduziert. 18.4.3. Enneateuchhypothese Nachdem sich nun die Landnahmethematik vom Numeribuch über das Deuteronomium bis ins Josuabuch (einschließlich Ri 1,1 – 2,5) erstreckt, andererseits aber die Darstellung von Dtn 1 bis 2Kön 25 als zusammengehöriges „Deuteronomistisches Geschichtswerk“ verstanden werden muss, kann ein durchlaufender Zusammenhang von Genesis bis 2. Könige angenommen werden. Zwar dürfte es sich hierbei erst um einen redaktionell hergestellten Zusammenhang, der das Deuteronomistische Geschichtswerk von Dtn 1 bis 2Kön 25 bereits voraussetzt, handeln. Trotzdem muss Gen 1 – 2Kön 25 als kompositionelle Einheit verstanden werden, so dass hier im Rückgriff auf die ältere Forschung (vgl. Hölscher) mit einem Enneateuch zu rechnen ist.
18.5.
Ausgewählte Literatur
Hölscher, G.: Geschichtsschreibung in Israel, Lund 1952. Holzinger, H.: Einleitung in den Hexateuch, Freiburg 1893. Kaiser, O.: Art. Literaturgeschichte, Biblische I.: Altes Testament, TRE 21, 1991, 306–337 (= Abriß der atl. Literaturgeschichte, in: Studien zur Literaturgeschichte des AT, Würzburg 2000, 9–69). Meisner, N.: Aristeasbrief, in: Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit II, Gütersloh 1977, 35–87. Noth, M.: Überlieferungsgeschichtliche Studien, Halle 1943; Tübingen 31967. –: Überlieferungsgeschichte des Pentateuch, Stuttgart 1948; Nachdruck 2001. Schmitt, H.-C.: Literaturgeschichte I. Altes Testament, EKL 3, 1992, 128–133.
176
§ 19
Die Schriften des AT
Die Geschichte der Pentateuchforschung
In der gegenwärtigen Forschungssituation, in der es kein allgemein anerkanntes Modell der Pentateuchentstehung gibt, erweist sich der Rückgriff auf die Geschichte der Pentateuchforschung als unverzichtbar. Alle im Laufe der letzten Jahrhunderte entwickelten Vorstellungen der Pentateuchforschung sind nämlich erneut in die Diskussion einzubeziehen.
19.1.
Die Diskussion über die Verfasserschaft des Mose
19.1.1. Das theologische Problem Sowohl in der jüdischen als auch in der kirchlichen Tradition wird die hohe Autorität und Verbindlichkeit des Pentateuch durch die Behauptung der Verfasserschaft des Mose zum Ausdruck gebracht. Dahinter steht die Vorstellung, dass allein Propheten wie Mose als Verfasser das göttliche Inspiriertsein der Pentateuchüberlieferung gewährleisten können. So hat es die Päpstliche Bibelkommission noch 1906 (vgl. Denzinger 3394–3397) für notwendig angesehen, an der mosaischen Verfasserschaft des Pentateuch festzuhalten, wobei allerdings zugestanden wird, dass es innerhalb der Mosebücher kleinere nachmosaische Zufügungen geben kann. Die Stellung der römisch-katholischen Kirche zur historisch-kritischen Bibelauslegung und vor allem zur Pentateuchkritik hat allerdings im Laufe des 20. Jh. eine beachtenswerte Entwicklung erfahren. Am deutlichsten wird diese an der Stellungnahme der Päpstlichen Bibelkommission zur Frage der Pentateuchverfasserschaft vom 16. Januar 1948 (an Kardinal Suhard, vgl. Denzinger 3862–3864): Hier wird zu einer „vorurteilsfreien“ Prüfung der Frage der Verfasserschaft des Pentateuch aufgefordert. Verbindlich ist der Textbefund der Bibel, nicht eine vorgegebene dogmatische Entscheidung. An der kanonischen Autorität des Pentateuchtextes kann nämlich einerseits auch – ohne mosaische Verfasserschaft – festgehalten werden. Andererseits sind auch im Hinblick auf die Klärung der Verfasserschaft des Pentateuch die Aussagen des biblischen Textes ernst zu nehmen und zwar auch gegenüber kirchlichen oder synagogalen Traditionen. 19.1.2. Der biblische Befund Ein Blick in das AT ergibt, dass hier Mose nie direkt als Verfasser des Pentateuch in seiner Gesamtheit bezeichnet wird. Vielmehr ist Mose als derjenige gesehen, der einzelne Teile der Pentateuchüberlieferung aufschreibt. So weist Ex 24,4
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
177
Mose die Verschriftlichung der Gesetze von Ex 20 ff. zu. In ähnlicher Weise setzt Dtn 31,9 die Niederschrift des deuteronomischen Gesetzes durch Mose voraus (Dtn 31,22 übrigens auch die des Moseliedes von Dtn 32). Auch in Jos 23,6 und 2Kön 14,6 (vgl. Bezug auf Dtn 24,16) dürfte mit dem „Gesetzbuch des Mose“ das Deuteronomium gemeint sein. Gleiches gilt für das in 2Chr 25,4 genannte „Gesetzbuch des Mose“. Im NT wird von Mose meist nur als dem Verfasser der Gesetze des Pentateuch gesprochen (vgl. nur Mt 8,4; 19,7; Lk 2,22; Joh 1,17). Nur in Mk 12,26 meint „Buch des Mose“ einen erzählenden Pentateuchtext (Ex 3,1 ff.). 19.1.3. Die Vorstellungen des frühen Judentums der nachatl. Zeit Eindeutig greifbar wird die Vorstellung von einer mosaischen Verfasserschaft des Gesamtpentateuch im 1. Jh. n. Chr. bei Philo (De vita Mosis 3,39) und bei Josephus (Antiquitates IV 8,48 § 326). Bei ihnen findet sich an den genannten Stellen sogar die Auffassung, dass Mose als Prophet den Bericht von Dtn 34,5–12 über seinen Tod selbst geschrieben habe. Diese Auffassung scheint in den folgenden Jahrhunderten sowohl im Judentum als auch in der Kirche herrschend geworden zu sein. Der babylonische Talmud (b Baba batra 14b) variiert diese Auffassung allerdings leicht, indem er für die letzten 8 Verse des Pentateuch, den Bericht über den Tod des Mose, Josua als Verfasser annimmt. 19.1.4. Grundsätzliche Zweifel im Mittelalter und in der frühen Neuzeit Die zentralen Argumente, die gegen eine mosaische Verfasserschaft des Pentateuch sprechen, finden sich bereits bei Abraham Ibn Esra (1089–1164): So weist er u. a. auf Dtn 1,1 hin, wo die Bezeichnung des Ostjordanlandes als „jenseits des Jordans“ auf eine westjordanische Abfassung des Pentateuch schließen lässt. Desgleichen nennt er Gen 36,31 („dies sind die Könige Edoms, bevor Israel Könige hatte“) als Hinweis auf einen Verfasser, der nach dem Aufkommen des israelitischen Königtums lebte (vgl. zu Gen 12,6 auch oben § 15.2.3.). Ähnliche Beobachtungen, die gegen die Verfasserschaft des Mose sprechen, finden sich unter den Reformatoren bei Andreas Bodenstein (nach seiner Geburtsstadt genannt Karlstadt; ca. 1480–1541, vgl. vor allem seine Schrift von 1520 „De canonicis scripturis“) und unter den Philosophen des 17. Jh. bei Thomas Hobbes (1651: „Leviathan“) und bei Baruch de Spinoza (1670: „Tractatus theologico-politicus“). Besonders bemerkenswert ist schließlich der Vorschlag einer überlieferungsgeschichtlichen Erklärung der mosaischen Verfasserschaft durch den römischkatholischen Theologen Richard Simon (1678: „Histoire Critique du Vieux Tes-
178
Die Schriften des AT
tament“): Nach ihm ist der Pentateuch das Produkt einer etwa tausendjährigen Überlieferungsgeschichte: Mose setzte einen Schreiberstand ein, der die mosaische Überlieferung über die Jahrhunderte tradierte und dessen Aufzeichnungen nach dem Exil zusammengestellt wurden.
19.2.
Die literarische Schichtung des Pentateuch
19.2.1. Die Ältere Urkundenhypothese des 18. Jh. Unabhängig von der Diskussion über die mosaische Verfasserschaft des Pentateuch stieß man im 18. Jh. auf Beobachtungen, die darauf hindeuteten, dass beim Pentateuch auf verschiedene literarische Quellen zurückgegriffen worden war. Dabei wurde zunächst mit vormosaischen Quellen gerechnet, die Mose in der Genesis benutzt habe. So machte der Hildesheimer Pfarrer Henning Bernhard Witter in seinem Werk „lura Israelitarum in Palestinam“ (1711) auf die unterschiedlichen Gottesbezeichnungen in den parallelen Abschnitten Gen 1,1–2,4a und 2,4bff., aufmerksam und erklärte diesen Befund damit, dass hier Mose zwei unterschiedliche Quellen herangezogen habe. Da die Arbeit Witters keine nennenswerte wissenschaftliche Rezeption fand (sie ist erst in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts von dem französischen Alttestamentler Adolphe Lods wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden), ist die gleiche Entdeckung unabhängig davon noch einmal von Jean Astruc, dem Leibarzt Ludwigs XV. und Professor der Medizin in Paris, gemacht und in dessen Werk „Conjectures sur les mémoires originaux dont il paroit que Moyse s’est servi pour composer le livre de la Genèse“ publiziert worden: Wie der Titel zeigt, geht es auch bei Astruc um dem Mose vorgegebene Quellen der Genesis: Dabei nimmt Astruc zwei Hauptquellen an, die sich durch die unterschiedlichen Gottesbezeichnungen „Elohim“ und „Jahwe“ (Astruc spricht noch von „Jehova“) unterscheiden. Außerdem findet er in der Genesis noch 10 fragmentarische Quellenstücke. Dass Astrucs These nicht wie die von Witter in Vergessenheit geriet, ist das Verdienst von Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827), der sie in seine „Einleitung in das Alte Testament“ (1780–1783; vgl. Bd. II, 1781) aufnahm und sie durch detailliertere Quellenscheidung und genauere Charakterisierung der Hauptquellen weiterentwickelte. Auch Eichhorn nimmt zunächst noch an, dass der Pentateuch von Mose unter Zuhilfenahme der von Astruc entdeckten Quellen verfasst worden sei. Erst im Laufe seiner Arbeit rückte er von der These der mosaischen Verfasserschaft ab und rechnet mit der Zusammenstellung der Pentateuchquellen durch einen unbekannten Redaktor.
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Normalerweise ordnet man auch Karl David Ilgen den Vertretern der Älteren Urkundenhypothese zu. Allerdings bildet seine Arbeit (vgl. vor allem „Die Urkunden des Jerusalemischen Tempelarchivs in ihrer Urgestalt als Beytrag zur Berichtigung der Geschichte der Religion und Politik. Erster Theil“, 1798; ein Teil II ist nicht erschienen) eine Art Übergang sowohl zur Fragmentenhypothese als auch zur Neueren Urkundenhypothese. Ilgen kommt nämlich bei seiner Analyse der Genesis auf 17 Einzelurkunden. Diese ordnet er allerdings 3 Schriftstellern zu, von denen einer die Gottesbezeichnung „Jahwe“ (bei Ilgen: „Jehova“) und zwei die Gottesbezeichnung „Elohim“ gebrauchen. Mit der Annahme zweier „elohistischer“ Quellen („Priesterschrift“ und „Elohist“) bereitet Ilgen die ein halbes Jahrhundert später sich durchsetzende „Neuere Urkundenhypothese“ vor, findet jedoch dafür in seiner Zeit keine Anerkennung. 19.2.2. Fragmentenhypothese Aufgrund der Analyse der Bücher Exodus bis Deuteronomium wendet sich Johann Severin Vater („Abhandlung über Moses und die Verfasser des Pentateuchs“, 1802–1805) von der Urkundenhypothese ab und einer Fragmentenhypothese zu – und zwar in Rückgriff auf die Arbeiten des englischen Gelehrten Alexander Geddes („The Holy Bible“ Vol. 1, 1792; „Critical Remarks on the Hebrew Bible“ Vol. 1, 1800). Mose ist nur als Verfasser einzelner Teile des Pentateuch, nicht als Redaktor des ganzen Pentateuch vorstellbar. Als Kern des Pentateuch ist das Deuteronomium anzusehen, das nach der Meinung Vaters auf eine Gesetzessammlung der Zeit Davids und Salomos zurückgeht. Auch sonst lägen dem Pentateuch nur unzusammenhängende Traditionsblöcke zugrunde. Als Vertreter der Fragmentenhypothese ist auch der frühe Wilhelm Martin Leberecht de Wette einzuordnen. Zu nennen ist hier vor allem seine „Dissertatio critica“ (1805), in der er die These vertritt, dass das Deuteronomium ein eigenständiges Werk darstelle, das erst kurz vor seiner Auffindung im Jahre 622 v. Chr. entstanden sei (vgl. unten § 23.4.1.). 19.2.3. Ergänzungshypothese Aus einer Kombination von Fragmentenhypothese und Urkundenhypothese entsteht die Ergänzungshypothese, die sich in ihren Grundzügen bereits bei W.M.L. de Wette findet (vgl. schon „Beiträge zur Einleitung in das AT“, 1806/07): De Wette rechnet mit einem Elohim-Epos, das er mit der Eichhornschen Elohim-Urkunde (= Priesterschrift) identifiziert. In dieses Epos seien dann zahlreiche Fragmente, vor allem auch Fragmente, die den Jahwe-Namen gebrauchen, eingearbeitet worden. Als Vertreter der Ergänzungshypothese sind außerdem Heinrich Ewald („Geschichte des Volkes Israel“ I, 1843); Friedrich Bleek („De libri Geneseos origine“, 1836) und Friedrich Tuch („Kommentar zur Genesis“, 1838) zu nennen.
180
Die Schriften des AT
19.2.4. Neuere Urkundenhypothese Angesichts der auch für die Jahwe-Fragmente zu beobachtenden Zusammenhänge ergab sich als Fortentwicklung der Ergänzungshypothese die Rückkehr zur Urkundenhypothese, wobei jetzt neben der jahwistischen Urkunde mit zwei „elohistischen“ Urkunden (Priesterschrift, Elohist) gerechnet wurde (vgl. schon Ilgen, oben 19.2.1.). Diese Neuere Urkundenhypothese ist von Hermann Hupfeld zunächst für die Genesis begründet worden („Die Quellen der Genesis und die Art ihrer Zusammensetzung“, 1853). Dass zu Jahwist (J), Priesterschrift (P) und Elohist (E) als vierte selbständige Größe das Deuteronomium (D) hinzuzurechnen ist, wurde unter Rückgriff auf W.M.L. de Wette von Eduard Riehm („Die Gesetzgebung Mosis im Lande Moab“, 1854) durchgesetzt.
19.3.
Die Datierung der vier Pentateuchquellen J, E, D, P
Die theologische Leistung der Neueren Urkundenhypothese besteht darin, dass sie es erlaubt, im Pentateuch vier verschiedene theologische Profile zu erkennen. Um die theologische Intention dieser vier Pentateuchquellen genau erfassen zu können, ist allerdings ihre Datierung von großer Bedeutung. 19.3.1. Die Spätdatierung der priesterlichen Schicht (P) nach dem Deuteronomium (D) Im Laufe der 2. Hälfte des 19. Jh. setzte sich die sog. Graf-Wellhausensche Hypothese durch, dass die Priesterschrift – obwohl sie das Grundgerüst des Pentateuch bildet – nicht die älteste Schicht des Pentateuch darstellt, sondern erst exilisch-nachexilisch entstanden ist. Von besonderer Wichtigkeit war dabei die von Karl Heinrich Graf (1815–1869) in seiner Arbeit „Die geschichtlichen Bücher des AT“ (1866) veröffentlichte Beobachtung, dass die „priesterschriftlichen“ Gesetze (Lev und die damit zusammenhängenden Gesetze in Ex und Num) jünger sind als das Deuteronomium. Schließlich hat Graf in seiner Studie „Die sog. Grundschrift des Pentateuchs“ (in: Archiv für wissenschaftliche Erforschung des AT 1, 1869, 466–477) festgestellt, dass auch die Priesterschrift (P) selbst jünger als das Deuteronomium (D) ist. Die These Grafs wurde von Julius Wellhausen (1844–1918) aufgenommen und umfassend begründet. Vor allem zu nennen sind seine „Prolegomena zur Geschichte Israels“ (2. Aufl. 1883, in der 1. Aufl. von 1878 trug das Buch noch den Titel „Geschichte Israels I“). In diesem Werk zeigte er, dass die Priesterschrift samt ihren gesetzlichen Partien durchweg jünger als das Deuteronomium (D) ist,
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das Wellhausen mit de Wette in die Zeit um die Josiareform von 622 v. Chr. datierte, und dass sie somit exilisch-nachexilisch angesetzt werden muss. Dabei behandelte Kap. 1 des Werkes die Vorstellungen über den „Ort des Gottesdienstes“ und wies nach, dass P durchgängig die Kultzentralisation der Jahweverehrung als selbstverständlich voraussetzt, während D sie noch als zukünftig zu verwirklichende Forderung versteht und die nichtpriesterlichen und nichtdeuteronomischen Teile des Pentateuch eine Vielzahl von Jahweheiligtümern als unproblematisch ansehen. Gleiches arbeitete er in den folgenden Kapiteln für die Vorstellungen vom Opfer (Kap. 2), von den Festen (Kap. 3), von Priestern und Leviten (Kap. 4) und von der „Ausstattung des Klerus“ (Kap. 5) heraus und zeigte zugleich, dass das priesterliche Gesetz durchweg später als die Verkündigung der Propheten anzusetzen ist (lex post prophetas). Seit Wellhausen hat sich somit ein Konsens über die Reihenfolge der Entstehung der Pentateuchschichten herausgebildet, der in die Formel zu fassen ist: J – E – D – P. 19.3.2. Das Problem der Datierung von J E Im Unterschied zu den Vorstellungen eines zentralisierten Kultes bei D und P deutet die unreflektierte Vorstellung von einer Vielzahl von Jahweheiligtümern (vgl. u. a. Gen 12,7.8; 13,4.18) bei JE nach Wellhausen auf eine vordeuteronomische Entstehung hin. Allerdings haben neuere Arbeiten zum Jahwisten darauf hingewiesen, dass die Aussagen von Gen 12,7 f. (Abram baut in Sichem und bei Bethel Jahwe einen Altar) nicht in unreflektierter Weise von einer Vielzahl von Jahweheiligtümern ausgehen. Bemerkenswert ist, dass diese jahwistischen Altarbaunotizen nirgendwo auf einen normalen Opferkult bezogen sind. Vielmehr ruft Abraham im Zusammenhang dieser Stellen immer den Namen Jahwes an, was möglicherweise an Wortgottesdienste denken lässt (vgl. H.H. Schmid, Blum, Levin, auch Zwickel). Aus den Altarbaunotizen von J kann daher nicht ohne weiteres auf eine vorexilische Entstehung von J geschlossen werden. Die enge Verwandtschaft, die zwischen der Prophetie und Vorstellungen der jahwistischen Pentateuchtexte bestehen, lassen vielmehr an eine Entstehung dieser „jahwistischen“ Texte im 6. Jh. v. Chr. denken (H.H. Schmid, Van Seters, Levin).
182
Die Schriften des AT
19.4.
Die form- und traditionskritische Erforschung der vorliterarischen Überlieferung
19.4.1. Die formkritische Frage nach den kleinen Einheiten Die formgeschichtliche Fragestellung ist durch Hermann Gunkel („Genesis“, 1901) und Hugo Greßmann („Mose und seine Zeit“, 1913) in die Pentateuchforschung eingeführt worden. Sie hat ergeben, dass die literarischen Schichten des Pentateuch auf mündliche Sagentraditionen (Einzelsagen und kleinere Sagenkränze) zurückgreifen, die ihren Sitz im Leben im Bereich des volkstümlichen Erzählens hatten. 19.4.2. Die überlieferungsgeschichtliche Frage nach dem Wachstum der Pentateuchtradition In Weiterführung der formgeschichtlichen Frage entwickelt Martin Noth in seiner „Überlieferungsgeschichte des Pentateuch“ (1948) folgende Theorie, wie die Einzelüberlieferungen des Pentateuch zu den literarischen Pentateuchschichten (vor allem von J und E) zusammengewachsen sind: Noth geht davon aus, dass sich sowohl die „jahwistische“ als auch die „elohistische“ Pentateuchschicht in 5 Themen gliedern lässt. Er nimmt daher an, dass sich die mündliche Pentateuchtradition zunächst um diese 5 eigenständigen Themenkomplexe herum kristallisiert hat. Es sind dies die Themen: 1. 2. 3. 4. 5.
Herausführung aus Ägypten Hineinführung ins Kulturland Verheißung an die Erzväter Führung in der Wüste Offenbarung am Sinai.
Erst am Ende des mündlichen Tradierungsprozesses sind nach Noth diese ursprünglich getrennten Überlieferungsthemen zusammengefasst worden. Ob diese sowohl vom Jahwisten als auch vom Elohisten vorausgesetzte „Grundlage“ nur in mündlicher oder auch in schriftlicher Form existiert hat, bleibt unklar. 19.4.3. Der Sitz im Leben der Pentateuchtraditionen Dafür, dass diese Pentateuchthemen erst allmählich zusammengewachsen sind, beruft sich Noth auf die Untersuchungen Gerhard von Rads zum sog. „Kleinen Geschichtlichen Credo“ in der Arbeit „Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch“ (1938). Dieses vor allem in Dtn 26,5–10 belegte Credo sieht von Rad als
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183
ein Urbekenntnis Israels an, als dessen spätere Ausformulierung der Pentateuch zu betrachten sei. An diesem Credo fällt nach von Rad auf, dass in ihm nur die Erzväterüberlieferung (und hier sogar nur die Jakobüberlieferung), die Exodusüberlieferung und die Landnahmeüberlieferung aufgeführt ist. Mit keiner Andeutung erwähnt ist die Sinaiüberlieferung. Von Rad schließt daraus, dass in diesem Stadium der israelitischen Bekenntnisentwicklung die Sinaiüberlieferung noch eine eigenständige Größe darstellte. Die Eigenständigkeit einzelner Bekenntnisinhalte erklärt von Rad dadurch, dass er mit einer getrennten Überlieferung an einzelnen Heiligtümern und im Zusammenhang bestimmter Feste rechnet. So nimmt er an, dass die Sinaitradition am Heiligtum von Sichem und im Zusammenhang des „Bundesfestes“ (= Laubhüttenfestes) ihren Haftpunkt gehabt hätte. Von Rad geht dabei davon aus, dass im Mittelpunkt der Sinaitradition die Bundesschlussvorstellung stehe und dass die israelitische Bundestradition aufgrund von Jos 24 mit Sichem und aufgrund von Dtn 31,10 f. mit dem Laubhüttenfest (als „Bundesfest“) verbunden sei. Andererseits sieht von Rad das Credo von Dtn 26,5–10 aufgrund des Bezugs zur Landnahmetradition als Tradition des Heiligtums von Gilgal an. Gleichzeitig ordnet er es wegen seines Bezugs zur Darbringung der Erstlingsfrüchte (Dtn 26,2 ff.) dem Wochenfest zu. Anders als Noth rechnet von Rad nicht mit einer J und E vorgegebenen „Grundlage“. Vielmehr nimmt er an, dass erst der Jahwist die Themen des „Kleinen Geschichtlichen Credos“ und die Sinaitradition miteinander verbunden habe. Auf ihn gehe auch erst die Zufügung der südpalästinischen Erzväterüberlieferung (Abraham, Isaak) zurück. Mit Noth stimmt er allerdings darin überein, dass die Urgeschichte (Gen 2–11*) erst vom Jahwisten der Pentateuchüberlieferung vorangestellt wurde. 19.4.4. Die Probleme der überlieferungsgeschichtlichen Rekonstruktion der mündlichen Vorgeschichte der Pentateuchüberlieferung Die neuere Forschung hat nachgewiesen, dass die soeben referierte Rekonstruktion des Sitzes im Leben der alten Pentateuchtraditionen den Textbefunden nicht gerecht wird. So haben Leonhard Rost und Siegfried Kreuzer wahrscheinlich gemacht, dass der Grundbestand des Credos in Dtn 26,5*.10 vorliegt, in dem von einem „ich“ gesprochen wird: „Ein dem Untergang naher Aramäer war mein Ahnherr. Und jetzt siehe, ich bringe die Erstlingsfrucht des Ackerbodens dar, den du, Jahwe, mir gegeben hast.“ In sie ist das von „uns“ sprechende Credo (V. 5a–9) erst sekundär eingefügt worden („da zog er hinab nach Ägypten und zeltete dort mit einer großen Zahl von Männern und wurde dort zu einem großen, gewaltigen und zahlreichen Volk. Da behandelten uns die Ägypter übel und schwächten
184
Die Schriften des AT
uns und legten uns schweren Dienst auf. Da schrien wir zu Jahwe, dem Gott unserer Väter, und Jahwe hörte unsere Mühe und unsere Bedrängnis. Und Jahwe führte uns heraus aus Ägypten mit starker Hand und ausgestrecktem Arm und großer Furchterregung und mit Zeichen und Wundern. Und er brachte uns an diesen Ort und gab uns dieses Land, ein Land fließend von Milch und Honig“). Das Credo bildet hier nicht, wie von Rad vermutet, die Keimzelle des Pentateuch. Vielmehr stellt es eine späte (dtr.) Zusammenfassung der ihm vorgegebenen Pentateuchdarstellung dar, die sich auf die für den Kontext relevanten Pentateuchthemen beschränkt. Für den Sitz im Leben der in diesem Credo angesprochenen Pentateuchthemen können daher aus Dtn 26 keine Schlussfolgerungen gezogen werden. Auch die von Radsche These von der ursprünglichen Verhaftung der Sinaitradition beim sichemitischen Bundesfest ist von der neueren Forschung in Frage gestellt worden. Wie Lothar Perlitt gezeigt hat, ist die „Bundes“-Theologie erst in deuteronomisch-deuteronomistischer Zeit in die Sinaiüberlieferung aufgenommen worden, so dass der Bezug zur Bundesvorstellung keine Hinweise auf den Sitz im Leben der alten Sinaitradition geben kann (vgl. unten § 20.5.). Da sich somit die Rekonstruktionen der mündlichen Stadien der Pentateuchentstehung als problematisch erweisen (vgl. hierzu auch Kirkpatrick und Wahl), hat sich die Pentateuchexegese der letzten Jahrzehnte stärker auf die literarische Wachstumsgeschichte des Pentateuch, d.h. seine Redaktions- und Kompositionsgeschichte, konzentriert.
19.5.
Das redaktionsgeschichtliche Problem der Pentateuchentstehung
19.5.1. Der fragmentarische Charakter des „Elohisten“ Martin Noth hat in seiner „Überlieferungsgeschichte des Pentateuch“ (1948) darauf aufmerksam gemacht, dass die elohistische Darstellung im Pentateuch nur sehr fragmentarisch zu greifen ist. Er erklärt diesen Befund damit, dass bei der Zusammenarbeitung der jahwistischen und der elohistischen Quelle der Jahwist die Grundlage bildete und man die elohistische Quelle nur zur Ergänzung des Jahwisten aufgenommen habe. Eine andere Erklärung für den fragmentarischen Charakter der „elohistischen“ Texte haben Paul Volz und Wilhelm Rudolph gegeben. Sie gehen nicht von einer ursprünglich zusammenhängenden „elohistischen“ Quelle aus, sondern sehen die „elohistischen“ Texte als bloße Ergänzungen der jahwistischen Darstellung an (vgl. auch Van Seters 1975). In Weiterführung dieser Beobach-
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
185
tungen versteht Hans-Christoph Schmitt den Elohisten als Kompositor ihm vorgegebener protojahwistischer Überlieferungen. 19.5.2. Spannungen innerhalb der jahwistischen Schicht Schon die sog. „Neueste Urkundenhypothese“ hatte auf Spannungen innerhalb der Pentateuchdarstellung des Jahwisten hingewiesen (vgl. dazu unten § 21.3.1.). Aufgrund dieser Beobachtungen unterschieden die Vertreter der Neuesten Urkundenhypothese jeweils zwischen zwei jahwistischen Quellen (vgl. zuletzt Georg Fohrer: Jahwist und Nomadenquelle). Diese „Neueste Urkundenhypothese“ hat sich allerdings in der Forschung nicht durchsetzen können. Weiterführend dürfte die Differenzierung zwischen protojahwistischen Texten und einer späteren jahwistischen Bearbeitung dieser Texte sein, wie sie Rudolf Kilian (1966; vgl. auch 1989) und Volkmar Fritz (1970) vorgenommen haben. Dabei sind die Beobachtungen miteinzubeziehen, die für die Entstehung einer jahwistischen Schicht in exilisch-nachexilischer Zeit sprechen (vgl. oben 19.3.2.). 19.5.3. Das Verständnis der priesterlichen Schicht als Kompositionsschicht und das kompositionsgeschichtliche Modell der Pentateuchentstehung Das in der amerikanischen Forschung herrschend gewordene Verständnis der priesterlichen Schicht als einer Bearbeitungsschicht, auf die gleichzeitig meist die Endredaktion des Pentateuch zurückgeführt wird (vgl. Cross, Van Seters), ist in Deutschland von Rolf Rendtorff und Erhard Blum aufgegriffen worden. Vor allem Blum hat in seinen Arbeiten („Die Komposition der Vätergeschichte“, 1984; „Studien zur Komposition des Pentateuch“, 1990) ein kompositionsgeschichtliches Modell der Pentateuchentstehung entwickelt. Seiner Meinung nach ist innerhalb der priesterlich beeinflussten Teile des Pentateuch zwischen der Endredaktion des Pentateuch und übernommenen priesterlichen Materialien nicht zu trennen. Vorgelegen hat dieser nachexilischen priesterlichen Komposition (KP) nach Blum eine deuteronomistische Komposition (KD), die aus der frühnachexilischen Zeit stammt und die erstmals die vorexilisch entstandenen Traditionsblöcke (u. a. Vätergeschichte, Exodusüberlieferung) zu einem umfassenden Geschichtsentwurf verbunden hat. Gegenüber Blums Entwurf ist zu fragen, ob der Textbefund nicht doch für die Trennung zwischen einer ursprünglich selbständigen priesterlichen Grundschrift und einer priesterliche und deuteronomistische Vorstellungen miteinander verbindenden Endredaktionsschicht spricht. Auch ist zu überprüfen, ob nicht mit einem vordeuteronomistischen Zusammenwachsen von Vätergeschichte, Exodus-, Gottesberg- und Wüstenwanderungsüberlieferung zu rechnen ist.
186
Die Schriften des AT
19.5.4. Die Vier-Schichten-Theorie der Pentateuchentstehung Beim Rückblick auf die Pentateuchforschung der letzten Jahrhunderte ist zu fragen, ob die im Laufe des 19. Jh. im Zusammenhang der Neueren Urkundenhypothese gewonnene Erkenntnis, dass im Pentateuch vier theologische Profile (J, E, D, P) zu erkennen sind, nicht auch nach der – seit den 70er Jahren unseres Jahrhunderts deutlich gewordenen – Krise der Urkundenhypothese festzuhalten ist. Dabei besteht Konsens, dass im Pentateuch eine aus priesterlichen Kreisen stammende Schicht relativ eindeutig ausgrenzbar ist. Trotz neuerer gewichtiger Bestreitungen spricht vieles dafür, dass ihr eine ursprünglich selbständige „Priesterschrift“ (PG) aus der Exilszeit zugrunde liegt, die in nachexilischer Zeit mehrfach erweitert (Ps) wurde (vgl. unten § 20.3.). Gleichzeitig ist mit einer deuteronomisch-deuteronomistischen Schicht in der Pentateuchentwicklung zu rechnen (vgl. hierzu neben den Arbeiten von Blum auch die Untersuchungen von Weimar und Zenger). Die deuteronomistische Redaktion des Pentateuch (mit Verbindung von Tetrateuch und Deuteronomium als Teil des Deuteronomistischen Geschichtswerks) wird zwar meist vorpriesterschriftlich datiert, doch ist mit Martin Noth zu fragen, ob nicht mehr für eine erst nachpriesterschriftliche Inbeziehungsetzung von Tetrateuch und Deuteronomistischem Geschichtswerk spricht. Dies gilt vor allem, weil sich an einer Reihe von zentralen Stellen des Pentateuch eine Mischung von deuteronomistischer und priesterlicher Theologie zeigt (vgl. neuerdings u.a. K. Schmid und Gertz). Entgegen der Auffassung von Blum ist neben einer deuteronomistischen Pentateuchschicht auch mit einer (späten) jahwistischen Schicht zu rechnen (H.H. Schmid, Levin, Van Seters), die sich vor allem durch ihren Universalismus und das Fehlen jeglicher Bezugnahme auf die göttlichen Gebote an Israel von der deuteronomistischen Schicht abhebt. Es spricht einiges dafür, dass diese Schicht von Vorstellungen der vorexilischen und der exilischen Propheten abhängig ist. Schließlich gibt es Anzeichen dafür, dass dieser mit Gen 2 einsetzende spätjahwistische Entwurf in sich eine bereits vorexilische Darstellung von Erzväter- und Mosezeit aufgenommen hat. Die weitere Forschung wird zu klären haben, inwieweit die traditionell als „elohistisch“ bezeichneten Texte (aufgrund des durchgängigen Gebrauchs der Gottesbezeichnung „Elohim“) Anhaltspunkte für die Rekonstruktion einer vorexilischen Darstellung der Väter- und Mosegeschichte liefern können. Da wir für die vorexilische Zeit mit aus weisheitlichen Schreiberkreisen stammenden Literaturwerken zu rechnen haben (vgl. nur die Proverbiensammlungen von Spr 10–29), kann auch der Weisheitsbezug der „elohistischen“ Texte möglicherweise darauf hindeuten, dass hier Fragmente einer vorexilischen Darstellung der israelitischen Frühgeschichte zu greifen sind.
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
19.6.
187
Ausgewählte Literatur zur neueren Pentateuchforschung
Achenbach, R.: Die Vollendung der Tora, Wiesbaden 2003. Blum, E.: Die Komposition der Vätergeschichte, Neukirchen-Vluyn 1984. –: Studien zur Komposition des Pentateuch, Berlin/New York 1990. –: Textgestalt und Komposition, Tübingen 2010. Carr, D.M.: Reading the Fractures of Genesis, Louisville (Kentucky) 1996. Cross, F.M.: Canaanite Myth and Hebrew Epic, Cambridge (Mass.) 1973. Denzinger, H./Hünermann, P. (Hg.): Enchiridion Symbolorum Definitionum et Declarationum de rebus fidei et morum, Freiburg 371991. Eißfeldt, O.: Hexateuch-Synopse, Leipzig 1922; Nachdruck 1962. –: Einleitung in das AT, Tübingen 1934; 31964. Fohrer, G.: Einleitung in das AT (begr.von E. Sellin), Heidelberg 1965; 121979. Fritz, V.: Israel in der Wüste, Marburg 1970. Gertz, J.C.: Tradition und Redaktion in der Exoduserzählung, Göttingen 2000. – (Hg.): Grundinformation AT, Göttingen 32009. Greßmann, H.: Mose und seine Zeit, Göttingen 1913. Gunkel, H.: Genesis, HK 1/1, Göttingen 91977. Hölscher, G.: Geschichtsschreibung in Israel, Lund 1952. Holzinger, H.: Einleitung in den Hexateuch, Freiburg 1893. Kaiser, O: Traditionsgeschichtliche Untersuchung von Genesis 15, in: Von der Gegenwartsbedeutung des AT, Göttingen 1984, 107–126. –: Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des AT 1, Gütersloh 1992. –: Pentateuch und Deuteronomistisches Geschichtswerk, in: Studien zur Literaturgeschichte des AT, Würzburg 2000, 70–133. Kilian, R.: Die vorpriesterlichen Abrahams-Überlieferungen, Bonn 1966. –: Nachtrag und Neuorientierung. Anmerkungen zum Jahwisten in den Abrahamerzählungen, in: FS J. Scharbert, Stuttgart 1989, 155–167. Kirkpatrick, P.G.: The Old Testament and Folklore Study, Sheffield 1988. Kreuzer, S.: Die Frühgeschichte Israels in Bekenntnis und Verkündigung des AT, Berlin/ New York 1989. Levin, C.: Der Jahwist, Göttingen 1993. Lods, A.: Un précurseur allemand de Jean Astruc: Henning Bernhard Witter, ZAW 43, 1925, 134–135. Noth, M.: Überlieferungsgeschichtliche Studien, Halle 1943; Tübingen 31967. –: Überlieferungsgeschichte des Pentateuch, Stuttgart 1948; Nachdruck 2001. Otto, E.: Art. Pentateuch, RGG4 6, 2003, 1089–1102. Perlitt, L.: Bundestheologie im AT, Neukirchen-Vluyn 1969. Rad, G. von: Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch, Stuttgart 1938 = Gesammelte Studien zum AT, München 1958, 9–86. Rendtorff, R.: Das überlieferungsgeschichtliche Problem des Pentateuch, Berlin/New York 1977.
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Die Schriften des AT
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Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
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§ 20
Die priesterliche Pentateuchschicht
20.1.
Kriterien für die Ausgrenzung der priesterlichen Schicht
Im Laufe des 19. Jh. hat sich ein weitgehender Konsens über die Ausgrenzung der priesterlichen Schicht aus dem übrigen Pentateuch herausgebildet, der in besonderer Weise in der 1869 veröffentlichten Arbeit von T. Nöldeke („Untersuchungen zur Kritik des AT 1. Die s.g. Grundschrift des Pentateuch“) sichtbar wird. Als Kriterien für die Bestimmung der priesterlichen Texte werden dabei vor allem ein sich deutlich von den übrigen Pentateuchbestandteilen abhebender „Stil“, aber auch inhaltliche Beobachtungen genannt. 20.1.1. Stilistische Besonderheiten 1. Priesterliche Texte des Pentateuch fallen zunächst durch ihre besondere Vorliebe für Zahlen auf. Diese finden sich vor allem in einer durchgehenden Chronologie, die nicht nur die Jahre, sondern häufig auch die Tage nennt (vgl. nur Gen 7,11: Beginn der Sintflut im 600. Lebensjahr Noahs am 17. Tag des 2. Monats). Aber auch in anderen Zusammenhängen zeigt sich bei P ein Interesse an detaillierten Zahlenangaben (vgl. nur die Maßangaben für die Arche in Gen 6,15 f. und die Volkszählungsangaben von Num 1,20–46).
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Die Schriften des AT
2. Mit dem Interesse an Zahlen verbindet sich oft ein besonderes Interesse an Namen. Dies gilt vor allem für einen Teil der in P überlieferten Genealogien (vgl. Gen 5,1 ff.). Allerdings finden sich in P auch Genealogien ohne Angaben von Lebenszeiten (vgl. nur Gen 10,1–7 in der Völkertafel). 3. Der Stil von P ist schließlich durch ein charakteristisches Vokabular geprägt. Zu nennen sind hier zum einen die Bezeichnungen Israels als ed¯ah („Gemeinde“) und der Angehörigen des Volkes als benê ji´sr¯a #el. Hinzu kommen eine Reihe von für P typischen Wendungen wie p¯ar¯ah und r¯ab¯ah für „fruchtbar sein und sich mehren“ (vgl. Gen 1,28; 9,1; 17,6; Ex 1,7), heqîm/n¯atan berît (statt sonst: k¯arat berît) für „einen Bund errichten“ bzw. „machen“, b¯ar¯a # für „schaffen“ (von Gott), etc. 4. Exaktheit und Formelhaftigkeit der Ausdrucksweise von P führen zu einem äußerst nüchternen Berichtstil (im Gegensatz zu dem erzählenden Stil von J und E), den sich die atl. Forschung am ehesten von Priestern geschaffen vorstellen kann. 20.1.2. Inhaltliche Besonderheiten Für die Vermutung priesterlicher Herkunft dieser Schicht spricht auch, dass überall, wo sich der soeben beschriebene Stil zeigt, gleichzeitig ein besonderes Interesse an gottesdienstlichen Institutionen und Riten erkennbar wird. So erweist sich schon der erste im obigen Berichtstil geschriebene Text, der Schöpfungsbericht von Gen 1,1–2,4a, als eine „ätiologische Erzählung“, die mit Hilfe des Ruhetages Gottes den Sabbat (vgl. Ex 16* P) und wohl überhaupt die Institution des Gottesdienstes (vgl. Ex 25–31*.35–40*) erklären will. In gleicher Weise enthält der „priesterliche“ Text von Gen 17 eine Ätiologie des Ritus der Beschneidung. Auch zeigt sich am unterschiedlichen Gebrauch von Gottesbezeichnungen für Urzeit (#aelohîm), Väterzeit (#el ˇsaddaj) und Mosezeit (jhwh), dass sich die priesterliche Schicht durch ein spezifisches Verständnis Gottes auszeichnet (vgl. unten 20.4.1.).
20.2.
Der Aufbau von P
20.2.1. Abgrenzung Dass die priesterliche Pentateuchschicht mit dem Schöpfungsbericht Gen 1,1–2,4a beginnt, ist weitgehend unbestritten. Sehr unterschiedliche Vorstellungen herrschen jedoch über das Ende der priesterlichen Schicht. So rechnet u. a. Norbert Lohfink mit einem Abschluss der Priesterschrift (als priesterlicher Grundschicht) erst im Josuabuch (vgl. Jos 4,19; 5,10–12; 14,1f.;
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18,1 f.; 19,51). Demgegenüber nimmt die Mehrheitsmeinung der atl. Forschung (vgl. besonders Elliger und neuerdings L. Schmidt, Frevel und Schaper) das Ende der priesterlichen Grundschicht in Dtn 34,7–9* an. Andererseits hat sich Lothar Perlitt für einen Abschluss von PG in Num 27,12–14 eingesetzt. Schließlich sind in den letzten Jahren eine Reihe von Vorschlägen für ein Ende der Priesterschrift in der Sinaiperikope gemacht worden (Zenger: Lev 9,23–24; Pola: Ex 40,16.17a.33b; Otto: Ex 29,46). Gegen die Ausscheidung des Numeribuches aus dem PG-Zusammenhang spricht jedoch, dass es keine überzeugenden literarkritischen Gründe für eine Zuweisung von Num 13 f.*P an eine nachpriesterschriftliche Schicht gibt. Auch wird hierbei die Bedeutung des verheißenen Landes für PG nicht hinreichend gewürdigt. Auf jeden Fall hat Lohfink zu Recht darauf hingewiesen, dass im Josuabuch noch mit einer die Priesterschrift des Pentateuch fortsetzenden Schicht zu rechnen ist (vgl. auch noch Jos 22,9–34). Allerdings handelt es sich bei den priesterlichen Josuastellen um eine die Priestergrundschrift ergänzende „spätpriesterliche“ Schicht, die die Einnahme des verheißenen Landes in den Mittelpunkt stellt (vgl. kbˇs pi. in Jos 18,1; Num 32,22.29 PS und evtl. auch Gen 1,28a Ende), während PG (Num 13,2; 14,8; 20,24) den Gabecharakter des Landes betont (so noch Zenger 21987). 20.2.2. Inhalt von PG (in Auswahl) Im Folgenden soll ein Überblick über zentrale Texte der priesterlichen Grundschrift gegeben werden. Auch wenn im Mittelpunkt des priesterschriftlichen Interesses die Erfahrung Gottes im israelitischen Kult (Sinaioffenbarung) steht, setzt PG mit der die Gottesbeziehung der Gesamtschöpfung thematisierenden Urgeschichte ein. Erst mit der Erzväterüberlieferung wendet sich PG dann den Verheißungen für Israel zu. Aber auch beim Exodus und bei der Wüstenwanderung geht es um die Frage der Weltmächtigkeit Jahwes. A. Urgeschichte Gen 1,1–2,4a Gen 5,1–32* Gen 6,9–9,17*
Schöpfung Genealogie Adam-Noah Sintflut mit „Noahbund“ (Verheißung für Menschheit und Tiere) Gen 10,1–7*.20.22–23.31–32 Völkertafel Gen 11,10–27.31–32 Genealogie Noah-Abraham B. Väterzeit Gen 12,4b.5; 13,6.11b.12ab Notizen zur Geschichte Abrahams
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Gen 17*
„Abrahambund“ (Verheißung für Israel: Mehrung, Land, Gottesnähe) Gen 23* Begräbnis Saras in der Höhle Machpela (als erstem Anteil am verheißenen Land) Gen 26,34f; 27,46–28,9; 29,24.28b.29 Mischehen Esaus und die Heiraten Jakobs in Paddan-Aram (im Bereich der Verwandtschaft Abrahams) Gen 35,9–13a.15 Erscheinung El Schaddajs vor Jakob in Bethel Gen 41,46a; 46,6f. Josefs und Jakobs (und seiner Söhne) Aufenthalt in Ägypten C. Exodus Ex 1,1–7*.13f.; 2,23–25*
Unterdrückung der Israeliten in Ägypten durch Fronarbeit Ex 6,2–12 Berufung des Mose Ex 7,8–12.19–22*; 8,1–3.11*.12–15; 9,8–12; 12,1–20*.28.40f. Fünf Plagenwunder zum Erweis der Macht Jahwes (Wasser zu Blut; Frösche; Mücken; Blattern; Tod der ägyptischen Erstgeburt) Ex 14* Meerwunder D. Wüstenwanderung zum Sinai Ex 16* Mannaerzählung (Entdeckung des Sabbats durch Israel) E. Sinaioffenbarung Ex 24,15–29,46*; 39,32.43; 40,17.33–35* Anweisungen Jahwes zur Einrichtung des Begegnungszeltes Lev 8 f.* Beginn des Kultes F. Wüstenwanderung auf dem Weg ins verheißene Land Num 13 f.* Die Kundschafter und der Unglaube des Volkes Num 20,1–13* Unglaube Moses und Aarons Num 20,22–29* Tod Aarons Dtn 32,48–52* Ankündigung des Todes Moses Dtn 34,1*.7–9* Tod Moses
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
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20.2.3. Die Annahme einer spätpriesterlichen Schicht im Pentateuch (und im Josuabuch) Wie die priesterlichen Texte des Josuabuches zeigen, ist die priesterschriftliche Grundschrift durch spätpriesterliche Zusätze erweitert worden. Zu dieser PS-Schicht, die wahrscheinlich auf mehrere Hände zurückzuführen ist, gehören auch eine Reihe von priesterlichen Texten, die innerhalb von Gen 1 – Dtn 34 Ergänzungen von PG darstellen: Traditionell weist man hier PS diejenigen gesetzlichen und listenmäßigen Materialen zu, die nicht organisch mit der PG-Erzählung verbunden sind (wie z. B. die Gesetzessammlungen Lev 1–7: Opfertora; Lev 11–15: Reinheitstora; Lev 17–26: Heiligkeitsgesetz bzw. die Liste Ex 6,13–30: Genealogie Rubens, Simeons und Levis). Wahrscheinlich geht auch die Grundschicht der Landverteilungslisten von Jos 13–21* auf PS zurück (Cortese, Schorn)
20.3.
Entstehung der priesterlichen Schicht
20.3.1. Selbständigkeit von PG In der neueren Forschung (Cross, Van Seters, Rendtorff, Blum) wird die Auffassung vertreten, dass es sich bei P nicht um eine selbständige Quelle, sondern um eine Redaktions- bzw. Kompositionsschicht handele, die den vorpriesterlichen Materialien zugefügt worden sei. Als Argumente für diese Annahme werden genannt: 1. Die priesterliche Schicht besteht über weite Strecken aus kurzen Notizen (vgl. nur Gen 12,4b.5; 13,6.11b.12ab), die sich als zusammenfassende Zusätze zu einer vorliegenden Erzählung verstehen lassen. 2. In der P-Schicht werden wichtige Überlieferungen der Pentateuchtradition nicht erwähnt (z. B. die Sündenfallerzählung Gen 3; die Jugendgeschichte des Mose Ex 2 ff., die jedoch von Ex 6,2 P vorausgesetzt werde: Mose träte sonst in Ex 6,2 ohne jede Einführung in Erscheinung). Doch erweisen sich diese Argumente als nicht überzeugend, so dass in der neuesten Forschung das Verständnis von P als selbständiger Grundschicht des Pentateuch wieder verstärkt vertreten wird (vgl. u. a. aus dem amerikanischen Kontext Carr, Propp): 1. P darf nicht als bloße Zusammenfassung der vorpriesterlichen Pentateuchtraditionen verstanden werden, vielmehr setzt P gegenüber dem JE-Stoff eigene Akzente (vgl. die abweichende Deutung der Ursünde in Gen 6,11–13). Auch ist es im Rahmen des hebräischen Erzählstils durchaus möglich, dass eine all-
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gemein bekannte Person neu eingeführt wird, ohne dass ein Bericht über ihre vorhergehende Geschichte gegeben wird (vgl. nur 1Kön 17,1). 2. Die aus den nichtpriesterlichen Kontexten herausgelösten P-Texte lassen sich als fortlaufender Zusammenhang lesen (vgl. die P-Verse in Gen 6–9* und Ex 14*). Dass der P-Bericht sich gelegentlich nur auf notizenhafte Zusammenfassungen reduziert, ist im Rahmen des den Erzählungscharakter zurücktreten lassenden Berichtstils von P durchaus vorstellbar. 3. Auch enthält P eine Reihe von theologischen Aussagen, die sich nicht in eine die anderen Pentateuchschichten komponierende Schicht fügen (vgl. u. a. die Vorstellung von einem Verheißungsbund mit dem Verzicht auf die Annahme eines Sinaibundes; aber auch die Aussage von Ex 6,3, dass sich Gott den Erzvätern nicht unter seinem Namen „Jahwe“ geoffenbart habe). 20.3.2. Entstehungszeit Seit Karl Heinrich Graf und Julius Wellhausen (vgl. § 19.3.1.) hat sich in der atl. Forschung die Spätdatierung der priesterlichen Schicht durchgesetzt. Ihr Hauptargument bestand darin, dass die von der deuteronomischen Reform erst geforderte Kultzentralisation bei P bereits als selbstverständlich vorausgesetzt wird (vgl. die bei der Errichtung des Begegnungszeltes in Ex 25 ff. angenommene Einheit des Heiligtums). In gleicher Weise ist von ihnen auch nachgewiesen worden, dass die priesterlichen Gesetze das Spätstadium der Geschichte des atl. Kultes repräsentieren (vgl. für die atl. Festvorstellungen Lev 23 mit Dtn 16). Insofern muss P später als die entsprechenden deuteronomischen Gesetze datiert werden. Auch spricht die priesterschriftliche Sintflutdarstellung für eine Abhängigkeit von der Schriftprophetie: Wenn in Gen 6,13 Gott feststellt, dass das Ende (qes. ) allen Fleisches vor ihn gekommen ist, dann dürfte hier ein Rückgriff auf prophetische Vorstellungen vorliegen (Smend), wie sie sich bei Amos finden: „Gekommen ist das Ende (qes. ) für mein Volk Israel“ (Am 8,2; vgl. auch Ez 7,2 ff.). Gleichzeitig ergeben sich in den priesterlichen Texten Anhaltspunkte für eine Entstehung nach dem Ende der Staatlichkeit Israels: So spricht P von Israel als einer ‘ed¯ah „Gemeinde“ (vgl. u. a. Ex 12,3 ff.). Auch die in Ex 29,7 vorgenommene Übertragung der Königsalbung auf den Hohenpriester (vgl. Lev 8,12) spricht für eine Entstehung nach dem Untergang des Königtums (587 v. Chr.). Ist somit die Entstehung der Priesterschrift in der Zeit nach 587 v. Chr. weitgehender Konsens der atl. Wissenschaft (anders Y. Kaufmann und seine Schule; vgl. dagegen aber zuletzt Blenkinsopp), so ist jedoch umstritten, ob P in die Exilszeit oder in die frühe Nachexilszeit zu datieren sei. Da die priesterlichen Texte, die einen Bezug auf die nachexilische Zeit aufweisen und Ätiologien der Jerusalemer Kultgemeinde enthalten, wohl PS zuzuord-
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195
nen sind, spricht einiges für die These von Werner H. Schmidt, dass PG in der Exilszeit entstanden sei und PS eine die nachexilische Situation berücksichtigende Ergänzungsschicht darstelle. 20.3.3. Entstehungsort Entsprechend der Datierung von PG in die Exils- oder in die Nachexilszeit wird auch der Entstehungsort der Priesterschrift unterschiedlich angesetzt. Einerseits wird ein Bezug von PG auf das nachexilische Jerusalem vertreten (u. a. Smend, L. Schmidt), andererseits rechnet man mit einer Herkunft von PG aus der babylonischen Gola (W.H. Schmidt, Zenger). Auch in Hinblick auf den Entstehungsort spricht einiges für eine Herkunft von PS aus dem nachexilischen Jerusalem, während PG auf den Kreis der babylonischen Exulanten verweist. Auf eine Herkunft von PG aus der babylonischen Gola deutet vor allem die von PG vorgenommene starke Betonung von Sabbat und Beschneidung hin, zwei Riten, die für die religiöse Identität der babylonischen Exulanten von besonderer Bedeutung waren. Auch spiegelt das Ende von PG (in Dtn 34,7–9*) die Situation der babylonischen Exulanten wider, die sich auch wegen ihres Ungehorsams gegen Jahwe außerhalb des verheißenen Landes befinden.
20.4.
Theologie der Priesterschrift
20.4.1. Gottesverständnis Die priesterschriftliche Geschichtsdarstellung ist auf dem Hintergrund der Exilssituation zu verstehen als Bekenntnis zu dem einen, alleinmächtigen Gott, der trotz der negativen Erfahrungen sich als naher Gott und als Gott der Verheißung erweist. 20.4.1.1. Der alleinmächtige und transzendente Gott Angesichts der beim Verlust von Land, Königtum und Tempel gemachten Ohnmachtserfahrung betont P die Transzendenz Gottes. Gott ist nicht mit irdischer Macht gleichzusetzen, vielmehr steht er der Welt in personaler Freiheit gegenüber. Dies kommt in P vor allem in der Vorstellung von der Weltschöpfung durch das Wort zum Ausdruck (Gen 1,3.6 etc.), die wohl u. a. auf die prophetische Anschauung vom schöpferischen Jahwewort (vgl. Jes 9,7; Jer 23,29; Jes 55,10 f.) Bezug nimmt. In diesem Zusammenhang stellt P die Macht der heidnischen Götter in Frage: So werden die Gestirngötter der Babylonier (Sonne, Mond und Sterne) zu „Lam-
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Die Schriften des AT
pen“ depotenziert (Gen 1,14–18). Gleichzeitig versteht P die Plagen in Ex 7–12* als „Gericht über die Götter Ägyptens“ (Ex 12,12). So zeigt besonders die Stechmückenplage (Ex 8,12–15 P), dass die sich am Wort Jahwes orientierenden Repräsentanten Jahwes Mose und Aaron den sich auf Zauberkünste (vgl. Ex 7,22; 8,3.14) stützenden Priestern überlegen sind (8,14 f.). 20.4.1.2. Der nahe Gott Obwohl P den Gott der Bibel als Gott aller Menschen versteht (vgl. die Bezeichnung „Elohim“ in der priesterschriftlichen Urgeschichte), wendet sich Gott nach P in besonderer Weise Israel zu: So erscheint er allein den Erzvätern als „El schaddaj“ (siehe 20.4.3.1.) und erst Mose als „Jahwe“ (Ex 6,2 f.). Vor allem stellt jedoch der Kabod („Herrlichkeit“) Jahwes die Erscheinungsform dar, in der sich Jahwe Israel offenbart. Dabei zeigt sich der Kabod als „verzehrendes Feuer“ (Ex 24,15–17), womit P betont, dass auch der offenbare Gott unnahbar und damit transzendent bleibt. Obwohl der Kabod Jahwes auch spontan erscheinen kann (Ex 16,10; strafend: Num 14,10; helfend: Num 20,6), ist er für P regelmäßig im Kult erfahrbar (vgl. besonders Lev 9,23 f.: nach den ersten Opfern erscheint der Kabod Jahwes). P (möglicherweise erst die nachexilische PS-Schicht; vgl. Owczarek) versteht den Kult – angesichts der prophetischen Erklärung des Exils durch die Schuld Israels – vor allem als „Sühne schaffend“. So erscheint Jahwe nach Ex 25,22 über der Kapporet („Sühnort“; vgl. Janowski; Luther: „Gnadenthron“) der Lade, um mit Mose zu reden. Vor der Kapporet werden auch die zentralen Blutriten des Sühnekultes am Versöhnungstag (Lev 16,14 f.) vom Hohenpriester durchgeführt (zur Bedeutung des Blutes in diesen Riten vgl. auch Lev 17,11 PS: „… ich habe euch das Blut für den Altar gegeben, dass ihr damit entsühnt werdet“). 20.4.1.3. Der Gott der Verheißung Diese Deutung des Sühne schaffenden Kultes fügt sich jedenfalls gut in das von P vertretene Gottesverständnis, nach dem im Mittelpunkt des göttlichen Handelns Verheißungen stehen. Dies zeigt sich vor allem an der priesterlichen Vorstellung vom „Bund“ (berît). Bei P handelt es sich hier immer um Selbstverpflichtungen Gottes, die vom menschlichen Verhalten unabhängige Verheißungen beinhalten. Diese Verheißungen richten sich nicht nur an Israel, sondern bei der NoahBerit auch an die Menschheit als Ganze (Gen 9,9) und sogar an die Tiere (Gen 9,10). Inhaltlich geht es hier um den Verzicht Gottes auf eine weitere Sintflut und um die Verheißung des Bestands der Erde, die Gott hier als „ewigen Bund“ und damit als bedingungslos gültige Verheißung (Gen 9,16) bezeichnet. Als Zeichen, das Gott an diesen Bund erinnern soll, versteht P den Regenbogen (Gen 9,13–15).
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Die andere „Bundes“-Setzung von P beinhaltet die grundlegende Verheißung an Israel in der Abraham-Berit (entgegen der Meinung von Wellhausen ist PG kein „Vierbundesbuch“, sondern kennt nur zwei „Bundes“-Setzungen). Im Einzelnen setzt sich diese Verheißung an Abraham aus der Mehrungsverheißung (Gen 17,3–6), der Landverheißung (Gen 17,8) und der Verheißung der Zuwendung Gottes (Gen 17,7: „Ich will ihr Gott sein!“) zusammen. Auch hier handelt es sich um einen „ewigen Bund“ (Gen 17,7), der unabhängig vom Verhalten des Volkes gültig ist. Zeichen der Zugehörigkeit zu dieser Verheißung stellt die Beschneidung dar (Gen 17,10–14). Gerade am „Bundes“-Zeichen der Beschneidung wird deutlich, dass trotz der bedingungslosen Gültigkeit der Verheißung die Realisierung dieser Verheißung für das einzelne menschliche Leben auch Gegenstand menschlicher Verantwortung ist (göttliche Verheißung und menschliche Verantwortung stellen im biblischen Denken keinen Gegensatz dar). 20.4.2. Menschenverständnis Die Verantwortung des Menschen vor Gott steht auch im Mittelpunkt des priesterschriftlichen Menschenverständnisses, wobei P besonders zwischen den unterschiedlichen Verantwortlichkeiten der Menschen differenziert. Trotz dieser Unterschiede zwischen den Menschen versteht P jedoch jeden Menschen als „Ebenbild Gottes“. 20.4.2.1. Die Vorstellung vom Menschen als „Ebenbild Gottes“ 20.4.2.1.1. Begrifflichkeit: Zur Beschreibung der „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen benutzt P zwei Begriffe (Gen 1,26.27; auch 5,1 und 9,6; vgl. 5,3): s. ælæm (lat. imago, plastisches Bild, vgl. u. a. 2Kön 11,18) und demût (lat. similitudo, „Ähnlichkeit“, vgl. u. a. Ez 1,5). Die von der Alten Kirche (vgl. Irenäus) vorgenommene Differenzierung zwischen „imago“ als natürlicher Gottebenbildlichkeit und „similitudo“ als „übernatürlicher“, durch den Sündenfall verlorengegangener Gottebenbildlichkeit wird dem Befund in P nicht gerecht. Vielmehr scheinen beide Begriffe in der Form eines Hendiadyoin den gleichen Sachverhalt zu meinen, der in 5,1 auch durch demût und in 9,6 durch s. ælæm allein wiedergegeben werden kann. Die Benutzung unterschiedlicher Präpositionen in Gen 1,26 (be bei s. ælæm und ke bei demût) spricht nicht gegen diese Auffassung, da demût in 5,1 auch mit der Präposition be verbunden werden kann. 20.4.2.1.2. Bedeutung: In der neueren Forschung beseht Konsens darüber, dass mit „Ebenbild Gottes“ keine Qualität des Menschen ausgesagt wird. Vielmehr geht es hierbei um eine Relation des Menschen, aus der sich eine Aufgabe ergibt.
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Strittig ist, in welchem Maße P bei der Bild-Gottes-Vorstellung auf die altorientalische Königsanschauung zurückgreift. Nach der einen Auffassung (vgl. u. a. W.H. Schmidt) stellt im Alten Orient der König in besonderer Weise das Ebenbild des höchsten Gottes und damit den Repräsentanten Gottes gegenüber der übrigen Schöpfung dar. Diese Vorstellung sei von P auf alle Menschen ausgedehnt und damit „demokratisiert“ worden. Dies zeige sich noch darin, dass sich in Gen 1,26b.28 aus der Gottebenbildlichkeit als Hauptaufgabe die Herrschaft über die Welt und die Tiere ergebe. Dass ein die Relation zu Gott betonendes atl. Menschenverständnis („Mensch wenig niedriger als Gott“) auf Königsvorstellungen zurückgreife, zeige zudem Ps 8,6 (Mensch gekrönt mit „Ehre“ k¯abôd und „Hoheit“ h¯ad¯ar) und Ps 8,7 ff. (auch hier Betonung der Herrschaft über die Tiere). Nach der anderen Deutung (vgl. vor allem Westermann) ist bei der Suche nach altorientalischen Parallelen zur „Bild-Gottes“-Vorstellung nicht vom Begriff auszugehen, sondern von Menschenschöpfungserzählungen, in denen der Mensch als ein den Göttern entsprechendes Wesen geschaffen wurde, das zum Dienst für die Götter geeignet sei (vgl. Atramchasis-Epos, Enuma-eliˇs-Epos). Auch in Gen 1,26 ff. werde mit der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit nicht die Herrschaftsaufgabe des Menschen betont (sie sei erst Folge der Gottebenbildlichkeit). Herausgestellt werde vielmehr, dass der Mensch Partner, Gegenüber Gottes sei. Westermann dürfte darin Recht haben, dass bei P mit Gottebenbildlichkeit primär die enge personale Beziehung zwischen Gott und Mensch gemeint ist (vgl. hierzu besonders Gen 9,6). Doch schließt dies nicht aus, dass diese Beziehung (im Anschluss an die altorientalische Königstradition) primär die Herrschaftsaufgabe gegenüber der übrigen Schöpfung beinhaltet. Auch hier sind wie sonst im biblischen Denken Gottes- und Weltbeziehung nicht voneinander zu trennen. 20.4.2.2. Differenzierung zwischen unterschiedlichen menschlichen Verantwortlichkeiten 20.4.2.2.1. Israel und die Menschheit: Als „Bild Gottes“ steht jeder Mensch nach P unter göttlichen Geboten, die für die gegenwärtige nachsintflutliche Menschheit in den noachitischen Geboten (Gen 9,1–6) formuliert sind. Ihr Hauptinhalt ist das Verbot, menschliches Blut zu vergießen (9,5 f.). Trotz der Freigabe tierischer Nahrung (bei der Schöpfung gilt nach P noch das Gebot rein pflanzlicher Nahrung für Mensch und Tier, Gen 1,29 f.; vgl. jetzt aber 9,2–3) wird gleichzeitig von der Menschheit auch Ehrfurcht vor dem Leben des Tieres gefordert, die sich im Verzicht des Genusses von Blut als der eigentlichen Lebenssubstanz äußert (9,4).
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Über die noachitischen Gebote hinaus gilt für das Gottesvolk die Abraham übermittelte Forderung, vor Gott zu wandeln und dabei „vollkommen“ (t¯amîm) zu sein (Gen 17,1). Diese vollkommene Hingabe an Gott zeigt sich in Gen 17 in der Erfüllung der Beschneidungsforderung (17,9–14) und darüber hinaus der weiteren göttlichen Ordnungen für Israel (Ex 12: Passa; Ex 16: Sabbat; Ex 25–29*: Kultordnung, etc.). 20.4.2.2.2. Mann und Frau: In besonderer Weise betont wird bei P bereits im Schöpfungsbericht der Unterschied von „männlich“ (z¯ak¯ar) und „weiblich“ (neqeb¯ah). Auch hier hat PG vor allem die unterschiedlichen Gebote für Mann und Frau im Blick, wie sie u. a. in der – allerdings zur PS-Schicht gehörenden – „Reinheitstora“ (Lev 11–15) sichtbar werden (vgl. nur die Differenzierung von z¯ak¯ar und neqeb¯ah in Lev 15,33). 20.4.3. Geschichtsverständnis Angesichts dieser Differenziertheit der Menschheit entwickelt PG ein komplexes Geschichtsverständnis, das sich vor allem in der Herausstellung unterschiedlicher Geschichtsperioden zeigt. 20.4.3.1. Periodisierung durch unterschiedliche Gottesbezeichnungen Bemerkenswert ist, dass PG in der auf die Menschheit insgesamt bezogenen Urgeschichte (Gen 1–11*) ausschließlich von „Elohim“ („Gott“) spricht. Demgegenüber offenbart Gott sich den Erzvätern als El ˇsaddaj (Vulgata: deus omnipotens, „allmächtiger Gott“; doch wahrscheinlicher ist hier an eine Sippengottheit [vgl. auch theós sou in der LXX] gedacht, vgl. Koch und Vorländer). Erst bei der Berufung Moses (Ex 6,2) kommt es zur Offenbarung des Jahwenamens. P deutet damit darauf hin, dass Gott in der Moseoffenbarung anders wahrgenommen wird als außerhalb ihrer. 20.4.3.2. Der Einbruch der Sünde Zwar kennt PG keine Gen 3 entsprechende „Sündenfall“-Erzählung. Doch kennt auch sie eine „Ursünde“ (Lohfink), durch die sich die in der Schöpfung von Gott festgesetzte Ordnung verändert. So spricht Gen 6,11–13 davon, dass die Erde sich in der Generation vor der Sintflut mit h¯am¯as „Gewalttat“ füllt und alles Fleisch seinen Weg verderbt hat. Gedacht ist hier offensichtlich daran, dass sich unter Mensch und Tier „Blutvergießen“ (vgl. zu h¯amas vor allem Ez 7,23) ausgebreitet hat. Unter dem Eindruck dieser „Ursünde“ hebt Gott nach der Sintflut das Mensch und Tier geltende Gebot der rein pflanzlichen Nahrung auf und gestattet in den noachitischen Geboten das Töten von Tieren (vgl. jedoch oben 20.4.2.2.1.).
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20.4.3.3. Die vier Perioden der priesterschriftlichen Geschichtsdarstellung Aufgrund des Einbruchs der Sünde und der verschiedenen Formen der Zuwendung Gottes zu den Menschen gliedert sich nach P die Geschichte in vier Perioden. Die erste, vorsintflutliche Periode ist bestimmt von der Schöpfungsordnung von Gen 1,29 f. Ihr folgt die nachsintflutliche Periode, die von den noachitischen Geboten (Gen 9,1–6) und der göttlichen Verheißung des Verzichts auf eine neue Sintflut (Noahberit: Gen 9,9–17) bestimmt ist. Dieser schließt sich dann als erster Akt Gottes zur Konstituierung eines Gottesvolkes die Abrahamverheißung (Abrahamberit: Gen 17,2–14) an (Gottesname: Gen 17,1 El ˇsaddaj). Die dort verheißene Zuwendung Gottes verwirklicht sich schließlich in der vierten Periode, die mit der Moseberufung und der Offenbarung des Jahwenamens (Ex 6,2–7) beginnt und in der Offenbarung der kultischen Ordnungen (Ex 25– Lev 9*) ihren Höhepunkt erreicht.
20.5. Exkurs: Bundesvorstellungen im AT 20.5.1. Begriff „Bund“ (berît) Eine Untersuchung des atl. Gebrauchs des normalerweise mit „Bund“ übersetzten hebr. Begriffs berît ergibt, dass zur Grundbedeutung dieses Nomens nicht die Vorstellung der Gegenseitigkeit von Verpflichtungen gehört. Vielmehr besitzt das Nomen ausschließlich die Bedeutung „Verpflichtung“ (Kutsch). Auch sind die etymologischen Erklärungen von berît, die dem Nomen die Grundbedeutung einer gegenseitigen Beziehung zuschreiben (Herleitung von akkadisch birit „zwischen“ oder von akkadisch birtu „Fessel, Band“ oder auch von hebr. brh „essen“ = „gemeinsam essen“), wenig überzeugend. Eher ist mit Kutsch an eine Herleitung von brh II „sehen, ersehen, bestimmen“ (vgl. hebr. brh in 1Sam 17,8 und akk. barû) zu denken: berît = „Bestimmung, Verpflichtung“. Auch kann der Ausdruck krt berît (wörtlich: „eine Berit schneiden“) mit Kutsch im Sinne von „eine Berit festsetzen“ verstanden werden. Betrachtet man den nichttheologischen Gebrauch des Begriffs im AT, so lassen sich vier verschiedene Bedeutungen von berît unterscheiden: 1.
2.
Selbstverpflichtung: Dabei kann diese Selbstverpflichtung sowohl von einem Herrscher gegenüber den Beherrschten (so z. B. von David gegenüber den Ältesten von Israel in 2Sam 5,3) als auch von einem Schwächeren gegenüber einem Mächtigeren (so z. B. von Israel gegenüber Assur in Hos 12,2) eingegangen werden. Von einem anderen auferlegte Verpflichtung: So legt beispielsweise Nebukadnezar dem König von Juda eine Verpflichtung auf (Ez 17,13).
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3.
4.
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Wechselseitige Verpflichtung: Diese Bedeutung kommt nur sehr selten im AT vor. Wie die oben genannten Beispiele zeigen, ist dabei die Wechselseitigkeit der Verpflichtung nur dem Kontext und nicht dem Begriff berît zu entnehmen (vgl. 1Kön 5,26, wo Salomo und Hiram von Tyrus gemeinsam eine berît „schneiden“). Durch einen Dritten vermittelte Verpflichtung: Auch dies ist eine im AT äußerst selten belegte Bedeutung von berît. So vermittelt im Grundtext von 2Kön 11,17* der Priester Jojada eine Selbstverpflichtung des Königs Joas gegenüber dem judäischen Volk.
Auch für den theologischen Gebrauch des Begriffs berît ist daher vor allem mit den Bedeutungen 1. und 2. zu rechnen. 20.5.2. Das Alter des theologischen Gebrauchs von berît. Aufgrund des Nachweises von Lothar Perlitt (Bundestheologie im AT, 1969) ist davon auszugehen, dass sich ein theologischer Gebrauch des Begriffs berît frühestens im Laufe des 7. Jh. unter dem Eindruck des neuassyrischen Vertragsdenkens und im Zusammenhang der Entstehung der dtn.-dtr. Theologie herausbildet. Für diese Auffassung sprechen vor allem folgende Beobachtungen: 1. Ein theologischer Gebrauch des Begriffs „Bund“ (berît) ist der Prophetie des 8. Jh. noch nicht bekannt („Bundesschweigen“ der Prophetie des 8. Jh.). Die im Hoseabuch vorliegenden Belege von berît gehören entweder zu einer sekundären redaktionellen Schicht des Buches (vgl. 8,1b) oder beziehen sich noch auf ein profanes Verständnis von berît (vgl. 6,7; 10,4: politische Verträge; 12,2: die politische Selbstverpflichtung Israels gegenüber Assur). 2. Die Darstellungen von einer Sinai-Berit in Ex 19–24. 32–34 gehen erst auf die dtr. (spätdtr.?) Redaktion der Sinaiüberlieferung zurück (so in Ex 24,3 ff. und in Ex 34,10 ff.). Die vordtr. Sinaitradition spricht von einer Theophanie ohne „Bundes“-Schluss (vgl. u. a. Ex 19,16–19* E). 3. Die nichtpriesterliche Vorstellung von einem Abraham-„Bund“, wie er in Gen 15 vorliegt, sind weder der „elohistischen“ noch der „jahwistischen“ Pentateuchschicht zuzuweisen, sondern gehören in den Zusammenhang einer „deuteronomistischen“ Redaktion, die wahrscheinlich nachpriesterschriftlich anzusetzen ist. 4. Auch die Vorstellung von einem „Bundes“-Schluss durch Josua (Josua 24, besonders 24, 25) sind auf den dtr. Verfasser der Grundschicht von Jos 24 zurückzuführen (vgl. zuletzt Nentel). Die frühesten Formen einer „Bundes“-Theologie dürften daher im 7./6. Jh. v. Chr. entstanden sein.
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Hinzuweisen ist auch auf die These von Eckart Otto, dass der Beginn des Urdeuteronomium (Dtn 6,4–5; 12,13–27*; 13,2–12*) die Loyalitätseide der Vasallenverträge Asarhaddons (VTE) rezipiere und sie auf Jahwe beziehe (vgl. auch Dtn 28,20–44 mit VTE § 56) und mit dieser indirekten Revolte gegen die assyrische Herrschafts- und Königsideologie sich im 7. Jh. v. Chr. auch in der Grundschicht des Exodusbuches (vgl. Ex 34,27) die atl. „Bundestheologie“ entwickele. 20.5.3. berît im Deuteronomium Davon, dass Israel von Jahwe eine „Verpflichtung“ (berît) auferlegt wird, spricht erst die wohl aus der Exilszeit stammende Dekalogeinleitung Dtn 5,1 ff. Hier werden die Zehn Gebote als eine von Jahwe Israel auferlegte berît verstanden. Ein anderes „Bundes“-Verständnis findet sich demgegenüber in Dtn 7,1–8,20 (7,9.12; 8,18) in Stellen, die offensichtlich spätdtr. sind und daher erst aus der Nachexilszeit stammen. Nach ihnen hält Jahwe an der mit den Erzvätern geschlossenen Berit fest, mit der er sich selbst verpflichtet hat, Israel das verheißene Land zu geben. Dtn 7,7 f. betont dabei, dass Jahwe dies nicht wegen Israels Größe tut, sondern allein aus Liebe zu seinem Volk. Beide „Bundes“-Verständnisse sind hier zwar durch die spätdtr. Redaktion miteinander verbunden worden, doch werden sie nirgendwo direkt in Beziehung zueinander gesetzt, so dass sie auch in den übrigen Textbereichen des AT zu differenzieren sind. 20.5.4. Deuteronomistische „Bundestheologie“ Bestimmend für die dtr. Theologie ist das Verständnis des „Bundes“ als von Jahwe Israel auferlegter Verpflichtung. Besonders deutlich wird dies in der Geschichtsreflexion des Dtr. Geschichtswerks über den Untergang des Nordreichs in 2Kön 17,7 ff.: Hier wird die Katastrophe Israels darauf zurückgeführt, dass das Volk den ihm von Jahwe auferlegten „Bund“ verachtet hat, wobei die Berit mit den göttlichen Geboten identifiziert wird (17,15). Die Gleichsetzung der Israel auferlegten Verpflichtung mit den Zehn Geboten wird auch daran deutlich, dass die Lade als Behälter der Dekalogtafeln im Dtr. Geschichtswerk die Bezeichnung „Bundeslade“ trägt (vgl. u. a. 1Kön 8,1.6 mit 8,9). Allerdings wird in der dtr. Theologie nicht nur der Dekalog als Inhalt der von Jahwe auferlegten berît verstanden. Gleichzeitig können auch umfangreichere Dokumente wie z. B. das „Bundesbuch“ Ex 20,21–23,19(33) in Ex 24,7, das „Privilegrecht Jahwes“ Ex 34,10–26 in Ex 34,27 oder das deuteronomische Gesetz in 2Kön 23,2–3.21 als Gegenstand der Israel verpflichtenden berît bezeichnet werden.
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20.5.5. „Bundestheologie“ in der Priesterschrift Im Mittelpunkt der priesterschriftlichen „Bundestheologie“ steht demgegenüber die Vorstellung von der Selbstverpflichtung Jahwes. Wie oben bereits ausgeführt, sind die zwei „Gnadenbünde Gottes“ gegenüber Noah und Abraham von grundlegender Bedeutung für den Aufbau der Priesterschrift (vgl. oben 20.4.1.3.). Dabei richtet sich die Noah-Berit Gen 9,8 ff. an die Menschheit und an alle Tiere und verheißt ihnen den göttlichen Verzicht auf eine weitere Sintflut und damit die Garantie des Bestandes der Schöpfung. Diese Selbstverpflichtung Gottes ist als ein „ewiger Bund“ (9,16) verstanden, der durch menschliches Fehlverhalten nicht in Frage gestellt werden kann. In gleicher Weise bildet auch die sich auf das spätere Israel beziehende Abraham-Berit (Gen 17,2 ff.) eine „ewige“ Selbstverpflichtung Gottes (17,7), die dem Gottesvolk Mehrung, Landbesitz und die kultische Gegenwart Gottes (17,2–8) verheißt. In Gen 17,9–14 P aufgenommen ist allerdings auch die ältere Vorstellung von einer Israel auferlegten berît, die in der Beschneidungsforderung für alle männlichen Israeliten besteht (Kutsch). Zu beachten ist jedoch, dass in Gen 17 die beiden „Bundes“-Vorstellungen nicht im Sinne sich gegenseitig bedingender Verpflichtungen miteinander verbunden worden sind, vielmehr bleibt durch die „ewige“ Selbstverpflichtung Gottes die Bedingungslosigkeit der göttlichen Verheißung (17,2–8) gewahrt. 20.5.6. Der Abraham-„Bund“ von Gen 15 Auch bei dem Abraham-„Bund“ von Gen 15,7–21 geht es um eine feierliche Selbstverpflichtung Jahwes. Dies zeigt schon das von Jahwe durchgeführte „Bundes“-Ritual des Hindurchgehens durch zerschnittene Tiere von 15,8 ff., mit dem eine bedingte Selbstverfluchung für den Fall des Nichteinhaltens der Verpflichtung zum Ausdruck gebracht werden soll (vgl. Jer 34,18). Inhalt der Selbstverpflichtung Jahwes ist dabei die bedingungslose Verheißung des Besitzes des Landes vom Strom Ägyptens bis zum Euphrat (15,18) an Israel. Die zeitliche Ansetzung von Gen 15 ist in der Forschung umstritten. Teils denkt man an die frühe dtn Bewegung im 7. Jh. v. Chr. (Kutsch), teils an eine vorpriesterliche dtr. Schicht (Blum), teils an einen nachpriesterlichen spätdtr. Text (K. Schmid). 20.5.7. Die Vorstellung eines David-„Bundes“ Auch bei den atl. Belegen für eine David-Berit geht es um eine bedingungslose Selbstverpflichtung Jahwes, mit der er den dauernden Bestand der Daviddynastie verheißt. So erinnert Ps 89 in exilisch-nachexilischer Zeit angesichts der Katastro-
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phe des judäischen Königtums an die berît und den Schwur Jahwes (89,4–5.35–38), Davids Geschlecht auf dem Jerusalemer Thron ewigen Bestand zu geben (dabei wird die Nathanverheißung von 2Sam 7*, die noch keinen David-„Bund“ kannte, aufgenommen und als berît Jahwes verstanden). In gleicher Weise spricht auch das nachexilische „Testament Davids“ 2Sam 23,1–7 von einem „ewigen Bund“ gegenüber David (23,5). In Jes 40–55 wird schließlich diese Vorstellung eines „ewigen Davidbundes“ aufgegriffen und als Verheißung für das ganze Volk Israel kollektiv neu interpretiert (55,3). Allerdings findet sich in den atl. Königspsalmen auch die Vorstellung einer den Davididen von Jahwe auferlegten berît: In Ps 132,12 bindet Jahwe seine Verheißung der Dauer der Daviddynastie daran, dass Davids Nachkommen die berît Jahwes halten, womit im Sinne des dtr. berît-Verständnisses die göttlichen Gebote gemeint sind (zur exilisch-nachexilischen Ansetzung von Ps 132 vgl. Perlitt, anders Gese). Beachtenswert ist, dass – anders als in den vorhergehenden Belegen für den „Davidbund“ – hier die Verheißung an David nicht als berît bezeichnet wird. Auch in Ps 132 werden somit durch den Begriff „Bund“ keine sich gegenseitig bedingenden Verpflichtungen zum Ausdruck gebracht. 20.5.8. Der „neue Bund“ von Jer 31,31–34 Auch der Vorstellung von Jer 31,31–34 von einem „neuen Bund“ liegt ein dtr. Verständnis von „Bund“ als einer Israel auferlegten Verpflichtung zugrunde. So spricht V. 32 davon, dass Israel und Juda gegenüber dem ihnen gebotenen Gesetz ungehorsam waren und insofern den „alten Bund“ nicht gehalten haben. Jahwe verheißt ihnen nach V. 33 nun eine „neue“ berît, die sie nicht mehr übertreten können, da der Gegenstand der ihnen auferlegen Verpflichtung, das Gesetz Gottes, in ihr Herz geschrieben sein wird. 20.5.9. „Bundesformel“ und „Bundesformular“ Üblicherweise bezeichnet man die Formel „Jahwe, der Gott Israels, – Israel, das Volk Jahwes,“ (Kutsch schlägt für sie die Bezeichnung „Zugehörigkeitsformel“ vor) als „(doppelte) Bundesformel“ (vgl. vor allem Smend und Rendtorff). Bei dieser Formel ist – um die Herstellung falscher Zusammenhänge zu vermeiden – auf jeden Fall darauf hinzuweisen, dass sie in keiner Verbindung zum Begriff „Berit“ steht. Gleiches gilt für das mehreren atl. Texten zugrundeliegende „Bundesformular“ (vgl. vor allem Baltzer), für das sich zahlreiche altorientalische Parallelen finden, vor allem bei neuassyrischen und hethitischen Vasallenverträgen. Kutsch bezeichnet die bei diesen Texten vorliegende Struktur präziser als „Vasallenvertragsformular“.
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
20.6.
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Ausgewählte Literatur
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208
Die Schriften des AT
§ 21
Die jahwistische Pentateuchschicht
21.1.
Kriterien für die Ausgrenzung der jahwistischen Schicht
21.1.1. Das Verständnis von „J“ Die Mehrheit der atl. Forschung nimmt an, dass der Pentateuch aus der Vereinigung mit einem „nichtpriesterlichen Geschichtswerk“ entstanden ist. Über den Wachstumsprozess, der zu diesem nichtpriesterlichen Geschichtswerk führte, gibt es in der neueren Forschung stark divergierende Vorstellungen: Teils rechnet man mit einem „Jehowistischen Geschichtswerk“ (JE), das aus der Kombination einer „jahwistischen“ (J) und einer „elohistischen“ (E) Urkunde entstanden ist (vgl. u. a. Noth, Ruppert, W.H. Schmidt, L. Schmidt, Seebass), teils mit einem durch deuteronomistische Bearbeitungen erweiterten „Jehowisten“ (vgl. u. a. Smend, Zenger), teils jedoch auch mit einem späten nachdeuteronomistischen Jahwisten (Rose, Van Seters, Levin, Kaiser, Schmitt, wobei in den überlieferungsgeschichtlichen Bildungsprozess des späten Jahwisten auch eine „elohistische“ Schicht eingeflossen sein kann; vgl. H.H. Schmid). Somit zeichnet sich in der neueren Forschung eine Tendenz zur Annahme eines „späten Jahwisten“ („J“) ab. Auch wenn sich somit mit dieser Größe recht unterschiedliche Vorstellungen verbinden, lässt sich dem Kern dieser „spätjahwistischen“ Texte doch ein eindeutiges theologisches und z. T. auch stilistisches Profil zuweisen. 21.1.2. Stilistische Anhaltspunkte für „J“ Außer durch die Gottesbezeichnung „Jahwe“ sind die Texte von „J“ im Pentateuch zunächst einmal durch ein Negativkriterium zu erkennen: am Fehlen von Stileigentümlichkeiten der priesterlichen und der deuteronomistischen Schichten. Im Allgemeinen erweist sich dabei die Abgrenzung gegenüber priesterlichen Texten mit ihrem vom Berichtstil geprägten Charakter (in „J“ dominiert „Erzählstil“) problemloser (im Bereich der Urgeschichte Gen 1–11 kommt auch das „Gottesbezeichnungskriterium“ zum Tragen: P gebraucht hier immer „Elohim“) als die Abgrenzung gegenüber „deuteronomistischen“ Texten. 21.1.3. Inhaltliche Anhaltspunkte für „J“ Auch wenn in der neueren atl. Forschung der Zusammenhang zwischen den den Jahwenamen gebrauchenden Texten der Urgeschichte Gen 2–11* und den „J“-Texten von Gen 12–50* und Ex 1 – Num 24* in Frage gestellt wird (Crüsemann, Blum, Witte, K. Schmid, Gertz, Kratz), so spricht Gen 12,2–3 („ich will
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dich zu einem großen Volk machen und will deinen Namen groß machen, so dass du ein Segen wirst. Segnen will ich, die dich segnen, wer dich aber schmäht, den verfluche ich. So können dann in dir Segen gewinnen alle Sippen der Erde“, Übersetzung nach Wolff) doch dafür, dass „J“ in der Vätergeschichte eine „J“-Urgeschichte voraussetzt, die erklärt, weshalb die Menschheit den göttlichen Segen benötigt. Zentrales Thema von „J“ ist daher, dass die Israeliten „erst dann ihre Größe als Segen Jahwes gewinnen, wenn bei ihnen alle Völker Segen als Rettung freien, fruchtbaren Lebens gefunden haben“ (Wolff). Es geht bei „J“ daher um eine „Geschichte des Segens“ (Levin), in die die Völkerwelt einbezogen wird. Dieses Thema verbindet Gen 12,3b mit Gen 27,29b; 28,14 und Num 24,9b. Aber auch die Segensthematik in Gen 24,35; 26,3a.12.29; 30,27.30; 39,5, in der von der Ausstrahlung des Segens von Abraham, Isaak, Jakob und Josef auf Nichtisraeliten die Rede ist, fügen sich in diesen Zusammenhang ein. Schließlich ergeben sich auch bei der nichtpriesterlichen Exoduserzählung Bezüge zu Gen 12,2 f. (vgl. vor allem Ex 12,32b mit der Bitte Pharaos: „Geht hin und bittet auch um Segen für mich!“).
21.2.
Der Inhalt von „J“
21.2.1. Umfang Bei allen Forschern, die mit „J“ in der Urgeschichte rechnen, wird als erster „J“-Text der zweite Schöpfungsbericht Gen 2,4b-3,24 als Anfang des „Jahwistischen Geschichtswerks“ angesehen. Sehr unterschiedliche Vorstellungen werden jedoch über das Ende des Jahwisten vertreten: 1. Vor allem Gustav Hölscher (1952) und seine Schülerin Hannelis Schulte (1971) verstehen das „Jahwistische Geschichtswerk“ als eine bis zur Zeit des Jahwisten reichende Darstellung der gesamten Geschichte Israels. Da J ihrer Meinung nach um 900 v. Chr. abgefasst wurde, rechnen sie damit, dass das letzte von J dargestellte Ereignis die Reichstrennung 926 v. Chr. gewesen sei. Sie postulieren daher einen „Jahwisten“, der sich auch in Texten der Bücher Josua, Richter, 1 und 2Samuel und 1Könige findet und mit 1Kön 12,19 geendet habe. Die neuere Forschung hat diese These jedoch nicht rezipiert. Gegen sie spricht, dass sich die Thematik von „Israel als Segen für die Völker“ in den für J in Anspruch genommenen Texten des Deuteronomistischen Geschichtswerks (Dtn-Kön) nicht nachweisen lässt. 2. Dies spricht auch gegen die These, die mit einer Darstellung der Landnahme im Westjordanland am Ende des „J“ rechnet. Meist hat man dabei an
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Ri 1,1–2,5 (vorbereitet durch Jos 15,19 ff.; 17,14 ff.) gedacht (u. a. Weiser). John Van Seters lässt seinen „J“ in Jos 24 enden. Doch weist Ri 1,1–2,5 deutliche spätdtr. Züge auf (vgl. unten § 25.1.5.), hinter denen kaum noch eine „J“-Grundschicht zu fassen sein dürfte. Dtr. Züge zeigt auch Jos 24 (vgl. dazu Perlitt und Nentel). 3. Auch Martin Noth (1948) rechnet mit einem ursprünglichen J-Bericht von der Landnahme im Westjordanland. Dieser sei allerdings bei der Verbindung von JE mit P verlorengegangen. Von daher endet J bei ihm mit Num 22–24*; 25,1–5* und 32,1.16.39–42*. 4. Legt man das Thema „Israel als Segen für die Völker“ zugrunde, so spricht alles dafür, dass der dritte Bileamspruch Num 24,1ff. das ursprüngliche Ende von „J“ gebildet hat (Levin): Ein Abschluss von „J“ durch den Bileamsegen über Israel „Gesegnet sei, wer dich segnet, und verflucht, wer dich verflucht“ passt in hervorragender Weise zur zentralen theologischen Aussage von „J“. Die Einnahme des Ostjordanlandes dürfte hier für die Erfüllung der Landverheißung stehen. 21.2.2. Zentrale Texte von „J“ A. Urgeschichte Gen 2,4b-3,24* 4* 6,5–8,22* 9,18–26* 10,8–30* 11,1–9* B. Vätergeschichte Gen 12–13* 16* 18–19* [20–22* (?) 24* 25,21–34* 26* 27* 28,10–22* 29–31* 32–33*
Schöpfung und „Sündenfall“ Kain und Abel und der Kainitenstammbaum Sintflut Noah und seine Söhne Völkertafel Turmbau zu Babel Abraham, Sara und Lot Flucht Hagars Abraham, Lot und Sodom Bei Annahme eines späten „J“: von „J“ aufgenommene elohistische Abrahamerzählungen] Werbung Rebekkas als Frau für Isaak Geburt Esaus und Jakobs Isaak in Gerar und Beerscheba Jakobs Erschleichung des Erstgeburtssegens Gottesbegegnung Jakobs in Bethel Jakob, Laban und die Geburt der Kinder Jakobs Jakob und Esau
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35* 37–50*
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Geburt Benjamins und Tod Rahels Josefsgeschichte (ohne das „spätdeuteronomistische“ Kapitel Gen 38)
C. Exodus Ex 1* 2–5*
Unterdrückung Israels in Ägypten Moses Geburt, Flucht, Berufung und Rückkehr nach Ägypten 7,14–12,39* 7 Plagen gegen die Ägypter (Fischsterben im Nil, Frösche, Stechfliegen, Viehpest, Hagel, Heuschrecken, Tod der ägyptischen Erstgeburt) 13,17–14,31* Meerwunder
D. Wüstenwanderung zum Sinai Ex 15–17* Murren Israels in der Wüste E. Offenbarung am Sinai Ex 18–20*.24* Theophanie und die Gemeinschaft Gottes mit Israel Ex 32* Israels Ursünde F. Wüstenwanderung ins verheißene Land Num 10,29–36 Mitziehen des Midianiters Hobab 13–14* Die Kundschafter im Gebirge Juda und die Verheißung an Kaleb G. Landnahme Num 22–24*
21.3.
Segen Bileams über Israel im Ostjordanland
Einheit von „J“
Das nichtpriesterliche Geschichtswerk „J“ verdankt sich einem komplexen Entstehungsprozess, der nicht mehr vollständig aufzuklären ist. Wie der Befund von Gen 28,10–22* und Num 22,2–24,9* zeigt, hat der späte „J“ möglicherweise Teile einer „elohistischen“ (durchgängig die Gottesbezeichnung „Elohim“ benutzenden) Geschichtsdarstellung bearbeitet und in sein Geschichtswerk eingebaut. Jedenfalls muss „J“ als ein Sammelwerk verstanden werden, das teilweise widersprüchliche alte Traditionen aufgreift, ohne sie voll miteinander auszugleichen. Diese Widersprüche innerhalb von „J“ haben in der Forschungsgeschichte immer wieder zu Thesen geführt, die die Zusammengehörigkeit der „J“-Texte in
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Die Schriften des AT
Frage stellen. Als Beispiele für diese Auffassungen sollen im folgenden die sog. „Neueste Urkundenhypothese“ und die These von der Eigenständigkeit der nichtpriesterschriftlichen Urgeschichte behandelt werden. 21.3.1. Bestreitung der Einheit von „J“ durch die sog. „Neueste Urkundenhypothese“ Vor allem aufgrund von Widersprüchen innerhalb der „jahwistischen“ Urgeschichte rechnen Rudolf Smend sen., Otto Eißfeldt und Georg Fohrer mit zwei voneinander unabhängigen alten Quellen, die in der Urgeschichte den Jahwenamen gebrauchen. Smend differenziert dabei zwischen J1 und J2. Eißfeldt nimmt neben dem „Jahwisten“ eine ältere „Laienquelle“ (L) an. Fohrer schließlich rechnet mit einer „Nomadenquelle“ (N), die auf ältere Traditionen als J (nach Fohrer um 850 v. Chr. entstanden) zurückgreift, aber wahrscheinlich erst als kritische Reaktion auf die „Kulturlandbegeisterung von J“ um 800 v. Chr. abgefasst wurde. Auf eine solche stärker kulturkritische jahwistische Quelle führt man in der Urgeschichte vor allem den „Kainitenstammbaum“ von Gen 4,17–24 und die Erzählungen vom „Turmbau zu Babel“ Gen 11,1–9 zurück. Beide Erzählungen stehen im Widerspruch zu ihrem „jahwistischen“ Kontext: So rechnet Gen 4,17–24 damit, dass gegenwärtige Kulturerrungenschaften auf die Nachkommen Kains zurückgehen, während Gen 6–8* J das Ende aller Menschen (mit Ausnahme Noahs und seiner Familie) in der Sintflut voraussetzt. In gleicher Weise nimmt die Turmbauerzählung (11,1–9) an, dass die Menschheit erst nach dem gescheiterten Turmbau ihre Einheit verloren habe, während die Völkertafel von Gen 10* J bereits vor dem Turmbau von sich über die ganze Welt verbreitenden Völkern spricht. Die Annahme verschiedener „jahwistischer“ Quellen hat sich in der neueren Forschung jedoch nicht durchsetzen können. Gegen sie spricht u. a., dass in Gen 4,17–24 und 11,1–9 das gleiche theologische Sündenverständnis vorliegt wie in der mit diesen Überlieferungen im Widerspruch stehenden Noah- und Sintflutdarstellungen von „J“. 21.3.2. Die These von der Eigenständigkeit der nichtpriesterlichen Urgeschichte Gegenstand der Diskussion in der neueren Forschung sind daher nicht Unterschiede innerhalb der „jahwistischen“ Urgeschichte, sondern vielmehr die Spannungen zwischen den nichtpriesterlichen Bestandteilen der Urgeschichte (Gen 2–11*) und denjenigen der Väter- und Mosegeschichte. Aufgrund von ihnen hat Frank Crüsemann 1981 die These von der „Eigenständigkeit der (nichtpriesterlichen) Urgeschichte“ aufgestellt.
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Begründet wird diese These zunächst mit dem Fehlen von Rückverweisen auf die Urgeschichte im übrigen nichtpriesterlichen Pentateuch und mit sprachlichen Differenzen zwischen Gen 12,1–3 (#æræs. hier als Land im Sinne eines beanspruchten Gebietes; #ad¯am¯ah als die ganze Erde) und der nichtpriesterlichen Urgeschichte (#æræs. in 2,4–6 etc. bezeichnet die ganze Erde; #ad¯am¯ah in 2,5–7 den Ackerboden). Zum anderen stehe der in Gen 12 ff. verheißene Segen in keiner Beziehung zu den in Gen 3–11* „J“ angesprochenen „Lebensminderungen“. Schließlich finde sich in Gen 2–11* „J“ ein anderes Gottesverständnis (9,26: Jahwe nicht nur Gott Israels, sondern Sems; 8,21f. Jahwe nicht Gott der Geschichte, sondern Herr des jahreszeitlichen Rhythmus und damit der Natur). Doch ist dieses „universale“ und naturbezogene Gottesverständnis auch in Gen 12 – Num 24* zu finden. So wirkt in dem wohl „J“ abschließenden Bileamspruch Num 24,7–9* der Segen Jahwes, der paradiesische Fruchtbarkeit verheißt, gleichzeitig auch über Israel hinaus auf die Menschen, die Israel segnen. Dabei dürfte „J“ an eine eschatologische Zukunft denken, in der der Fluch über den Ackerboden von Gen 3,17–19 aufgehoben ist. Als „zeichenhafte Aufhebung“ dieses Fluchs ist auch die Fruchtbarkeit des Bodens zu verstehen, die der Segen Jahwes bei Isaak (Gen 26,12) wirkt. In Gen 13,10 liegt in dem Vergleich der Landschaft im Umkreis des Jordans mit dem Garten Jahwes sogar ein direkter Rückverweis auf Gen 2–3 vor. Auch fügt sich Gen 12,1–3 sprachlich durchaus in die Urgeschichte von „J“ (vgl. zu #æræs. als einzelnes Land u. a. 4,16; 11,2 und zu #ad¯am¯ah als „ganze Erde“ 6,7; 7,4.23; 8,13b) ein (Van Seters). Gegen das Verständnis von „J“ als Sammelwerk eines unterschiedliche mündliche und auch schriftliche Überlieferungen miteinander verbindenden „Schriftgelehrten“ spricht somit nichts. Von seinen Vorlagen lassen sich nur noch die Fragmente des von ihm teilweise rezipierten „Elohistischen Geschichtswerks“ mit einiger Sicherheit rekonstruieren.
21.4.
Entstehungssituation von „J“
21.4.1. Entstehungszeit 21.4.1.1. Terminus a quo Konsens besteht in der atl. Forschung darüber, dass „J“ die Zeit Salomos voraussetzt. Eine israelitische Schriftkultur, die in der Lage war, größere schriftstellerische Werke hervorzubringen, gab es frühestens in der Zeit Salomos (ca. 960–926 v. Chr.), in der im Zusammenhang einer sich entwickelnden staatlichen Verwaltung eine „weisheitliche“ Schreiberausbildung notwendig wurde. Auch blickt „J“ insofern auf die Davidzeit (ca. 1000–960 v. Chr.) zurück, als hier die Erfahrung
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von Herrschaft Israels über seine Nachbarvölker vorausgesetzt ist (vgl. nur Gen 25,23, wo von der in 2 Sam 8,13 f. berichteten Unterwerfung Edoms durch Israel ausgegangen wird). 21.4.1.2. Terminus ad quem Strittig behandelt wird in der gegenwärtigen Forschungssituation die Frage, wann man sich spätestens die Entstehung von „J“ vorstellen kann. 21.4.1.2.1. Die Reichstrennung (926 v. Chr.) als terminus ad quem: Ein Großteil der Forscher nimmt an, dass „J“ vor der Reichstrennung von 926 v. Chr. entstanden sein muss (vgl. zuletzt Berge). Nirgendwo seien in „J“ Anzeichen dafür zu finden, dass „J“ die Reichstrennung bereits voraussetze. Als einen Hinweis darauf, dass zur Zeit von „J“ das davidisch-salomonische Großreich noch existierte, sieht man zusätzlich die Verheißung von Gen 12,2 an, Jahwe werde Abraham zu einem „großen Volk“ (goj g¯adol) machen. Der Begriff goj g¯adol zeige, dass Israel zur Zeit von „J“ eine bedeutsame Nation mit einheitlicher politischer Führung und eigenem Territorium gewesen sei. Dies treffe so nur für die Zeit Davids und Salomos zu. Auch sei in Gen 12,2 f. das von David geschaffene Großreich als Verkörperung des Segens Jahwes verstanden, an dem die übrigen Völker Anteil bekommen können (L. Schmidt). Problematisch ist dieses Argument allerdings insofern, als die Verheißung, Israel werde zu einem goj g¯adol werden, auch in Texten vorkommt, die mit Sicherheit erst nach dem Zusammenbruch des Reiches Davids und Salomos entstanden sind (vgl. nur Gen 46,3; Dtn 26,5). Auch in der Angabe von Ex 1,11, dass die Ägypter Fronvögte über die Israeliten setzten und diese „Speicherstädte“ zu bauen hatten, hat man eine Anspielung auf die Situation zur Zeit Salomos gesehen: Nach 1Kön 9,15 legt nämlich auch Salomo den Israeliten Frondienst auf, und nach 9,19 lässt auch er sie „Speicherstädte“ bauen (W.H. Schmidt). Allerdings ist auch dieses Argument nicht beweiskräftig: Das Leiden der Israeliten unter Frondienst wird nicht nur für die Zeit Salomos berichtet (vgl. u. a. Klgl 1,1 für die Zeit des Exils), und bei dem in Ex 1,11; 1Kön 9,19 gebrauchten Wort für „Speicher“ miskenôt handelt es sich wohl um ein Lehnwort aus dem Akkadischen, das erst zur Zeit der Herrschaft der Assyrer und Babylonier über Palästina (seit Ende des 8. Jh. v. Chr.) ins Hebräische übernommen sein dürfte (vgl. Schmitt 1989). 21.4.1.2.2. Die Exilszeit als terminus ad quem: Seit den Arbeiten von John Van Seters (1975) und Hans Heinrich Schmid (1976) hat die These einer Spätdatierung von traditionell als „jahwistisch“ angesehenen Pentateuchtexten zuneh-
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mend Beachtung in der atl. Wissenschaft gefunden. Als zentrale Argumente, die für eine Ansetzung von „J“-Texten ins 6. Jh. v. Chr. sprechen, werden genannt: 1. „J“-Texte setzen die Schriftprophetie voraus. Hierzu ist vor allem die Zeichnung Moses in Ex 3–14* als Schriftprophet zu beachten (vgl. nur die Prophetenbeauftragung mit der Botenformel in 7,26; 8,16; 9,1.13 etc.). 2. Die „J“-Verheißungen von Israel als Segen für die Völker (Gen 12,3) stellen die Übertragung eines königlichen Motivs (Ps 72,17) auf das Volk als ganzes dar, wie es sich ähnlich im Umkreis Deuterojesajas (Jes 55,3–5) findet. Auch setzt die sich in Gen 12,3 äußernde Offenheit für die Völkerwelt einen Universalismus voraus, wie er sonst frühestens bei Deuterojesaja vorliegt (Van Seters). 3. Schließlich stellen die „J“-Texte, die mit einer Mehrzahl von Heiligtümern rechnen (vgl. nur Gen 12,7.8), wohl eine bewusste Korrektur der deuteronomischen Forderung nach Kultzentralisation dar. Unter dieser Voraussetzung muss „J“ „nachdeuteronomisch“ datiert werden (Levin). 21.4.1.3. Entstehung von „J“ in einem sukzessiven Prozess Die unterschiedlichen Datierungen erklären sich am einfachsten dadurch, dass der Grundstock von „J“ in Überlieferungen und Texten aus der Königszeit besteht, die dann von einem exilischen (nachexilischen) „J“ gesammelt und überarbeitet worden sind. Insofern trifft die Auffassung von Rudolf Smend iun. zu, dass man sich die Entstehung der „J“-Texte in einem längeren mit der salomonischen Zeit einsetzenden Prozess vorstellen muss. Smend rechnet mit einem Abschluss dieses Prozesses kurz vor dem Ende der Staatlichkeit (als spät entstandene Textkomplexe sieht er dabei Gen 1–11*; 24; 37–50* an). Wahrscheinlich wird man jedoch den Abschluss dieses Prozesses erst in exilischer (Van Seters, Rose, Levin) oder in frühnachexilischer Zeit (Kaiser, Schmitt) anzusetzen haben. Auch ist dabei eventuell mit der Aufnahme von Texten aus einem „Elohistischen Geschichtswerk“ durch „J“ zu rechnen. 21.4.2. Entstehungsort Traditionell geht man von einer Entstehung von „J“ im Südreich Juda aus, wofür die starke Herausstellung von Traditionen aus Juda (nicht aus der Stadt Jerusalem!) spricht. So stehen offensichtlich hinter der Kain-Darstellung von „J“ (Gen 4*) südjudäische kenitische Traditionen. Auch die Sodomüberlieferung von Gen 13*.18f.*, die im von „J“ aufgenommenen „Elohistischen Geschichtswerk“ noch nicht vorhanden war und deren Einfügung daher auf „J“ zurückgeht, deutet auf das Land Juda. Gleiches gilt für die „J“-Erzählung von den Kundschaftern im Tal Eschkol bei Hebron (Num 13,23–25 „J“). Unter der Voraussetzung der Spätda-
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tierung von „J“ kann vermutet werden, dass hier bewusst Traditionen aus Gebieten aufgenommen wurden, die nicht mehr zur persischen Provinz Juda gehörten.
21.5.
Theologie von „J“
21.5.1. Gottesverständnis Wie der Priesterschrift geht es auch „J“ darum, die Alleinmächtigkeit Jahwes zu betonen. Während jedoch P die Mächtigkeit Gottes an den von ihm eingesetzten Ordnungen verdeutlicht, zeigt sich bei „J“ Gottes Macht an der Unmittelbarkeit und Personhaftigkeit seines Eingreifens in Gericht und Gnade, die auch über die Grenzen des Gottesvolkes hinausgeht. 21.5.1.1. Universalität Jahwes Wie P so setzt auch „J“ mit einem Bericht über die Weltschöpfung ein, in dem allerdings Gottes Zuwendung zum Menschen noch stärker im Mittelpunkt steht als bei P. „J“ stellt dadurch sowohl die Alleinmächtigkeit Jahwes als auch die Beziehung zu allen Menschen heraus. So ist bei „J“ auch – anders als bei P – der Jahwename der Menschheit von Anfang an bekannt (vgl. den Ausspruch Evas in Gen 4,1: „Ich habe einen Mann gewonnen mit Jahwe“; Gen 4,26 geht dagegen wohl erst auf den Pentateuchredaktor zurück; vgl. Witte) und wird auch in der Geschichtsdarstellung von „J“ seit der Schöpfung gebraucht (bei P erst seit der Mosezeit). 21.5.1.2. Anthropomorphes Verhalten Jahwes Auf diesem Hintergrund sind die „Anthropomorphismen“ der Gottesdarstellung von „J“ (vgl. den Spaziergang Jahwes in der Abendkühle in Gen 3,8; das Gnädiggestimmtwerden Jahwes durch den Opfergeruch in Gen 8,21; das Herunterkommen Jahwes vom Himmel, um den Turmbau zu sehen bzw. um zugunsten Israels einzugreifen Gen 11,5; Ex 3,8) nicht als Zeichen eines noch „primitiven“ Gottesbildes zu interpretieren. Vielmehr betont „J“ hiermit die Personalität und Unmittelbarkeit der Zuwendung Jahwes zum Menschen. 21.5.1.3. Jahwe als richtender und gnädiger Gott Die Personalität der Zuwendung Gottes macht „J“ vor allem an seinen Erzählungen von Schuld, Strafe und Begnadigung deutlich: Jahwe zieht die Menschen für ihre Schuld zur Rechenschaft (Gen 3,9–13; 4,9–10; Num 14,11a), bestraft sie (Gen 3,14–19.22–24; 4,11–12; 6,7; Num 14,23b; vgl. Ex 8,20), erweist sich dabei jedoch in der Strafe auch als gnädiger Gott (Gen 3,21; 4,15; 6,8; 8,21f.; Num 14,24*; vgl. auch gegenüber Pharao Ex 8,26 f.; 9,33; 10,18f.).
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21.5.2. Menschenverständnis Charakteristisch für „J“ ist seine „realistische“ Sicht des Menschen, die um das Gestörtsein aller seiner Beziehungen weiß. Doch geht „J“ davon aus, dass das in der Schöpfung von Jahwe intendierte „Wesen“ des Menschen auch nach dem „Sündenfall“ noch Bedeutung besitzt: Der Darstellung dieses „Wesens“ dient die unter Aufnahme urtümlicher Traditionen geschaffene Paradiesgeschichte von Gen 2, die den in Harmonie mit der „Natur“, mit der Arbeit und mit dem Mitmenschen lebenden Menschen beschreibt. 21.5.2.1. Mensch und Natur Gen 2,7 betont zunächst die enge Verbundenheit des Menschen mit der übrigen Schöpfung. Er entsteht als „Adam“ aus der #ad¯am¯ah („Erdboden“; vgl. auch 3,19) und unterscheidet sich insofern nicht von den Tieren (2,19; vgl. auch, dass beide zur næfæˇs hajj¯ah geschaffen werden). Auch das göttliche Einhauchen des „Odems des Lebens“ (2,7b) bezieht sich nicht auf die Verleihung einer „unsterblichen Seele“, sondern meint die Verleihung von „Lebendigkeit“ (neˇsa¯ m¯ah entspricht hier der göttlichen ruah, deren Lebendigkeit schaffende Wirkung u. a. in Ez 37,9–10 beschrieben ist). Die einzige Herrschaftsfunktion, die der Mensch hier gegenüber der Tierwelt ausübt, besteht in der Namengebung (2,19). 21.5.2.2. Mensch und Arbeit Nach Gen 2,5b besteht die Aufgabe des Menschen in der Bebauung des Ackers. Inwieweit die Näherbestimmung dieser Aufgabe durch 2,15 (Jahwe setzt den Menschen in den Garten Eden, „dass er ihn bebaute und bewahrte“) noch zu „J“ gehört, ist umstritten (nach Kutsch und L. Schmidt sind 2,10–15 mit der „Paradiesgeographie“ später als „J“ anzusetzen, auch Witte weist 2,9b-15 seinem „Urgeschichtsredaktor“ zu). Doch spricht angesichts von Gen 2,5b nichts dafür, dass „J“ die Arbeit erst als eine negative Folge des „Sündenfalls“ angesehen habe. Gen 2,15 dürfte zumindest die Intention von „J“ sachgemäß wiedergeben. Das „bewahrende Bebauen“ des Bodens gehört zum Wesen des Menschen. Nur die „frustrierende“ Arbeit auf dem Dornen und Disteln hervorbringenden Acker (3,17–19.23) ist Folge des „Sündenfalls“. 21.5.2.3. Mensch und Mitmensch Nach Gen 2,18 („es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“) ist der Mensch nach „J“ ein auf personale Gemeinschaft angewiesenes Wesen. Die Frau wird daher als „Hilfe, die dem Menschen entspricht“ (ezær kenægdô „Hilfe als sein Gegenüber“), d. h. als personales Gegenüber des Mannes, geschaffen (ezær „Hilfe“ bedeutet nicht eine untergeordnete Gehilfin; zu Gott als ezær vgl. nur Dtn 33,7).
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Die Erzählung von der Erschaffung der Frau aus der Rippe des „Menschen“ will daher die Gleichartigkeit von Mann und Frau betonen (anders 1Kor 11,7–9; 1Tim 2,11–15), wie vor allem der Jubelruf des Mannes von 2,23 (mit der Verwandtschaftsformel: „Das ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch“; vgl. Gen 29,14) zeigt. Zur Herrschaft des Mannes über die Frau kommt es nach „J“ erst im Gefolge des „Sündenfalls“ (Gen 3,16). 21.5.3. Sündenverständnis 21.5.3.1. Das Phänomen der „Sünde“ „J“ entfaltet sein Verständnis von „Sünde“ weniger in begrifflicher Form (der Begriff h¯att¯a #t „Sünde“ wird erst in Gen 4,7 eingeführt), vielmehr gibt er eine erzählende Beschreibung des Phänomens. Ausgelöst wird der „Sündenfall“ durch die Schlange, die als klügstes der Feldtiere (nicht als Verkörperung einer Macht des Bösen) über das Verbot Gottes, vom Baum der Erkenntnis zu essen, reflektiert. Dadurch wird der Wunsch der Frau geweckt, sein zu wollen wie Gott und die Erkenntnis von Gut und Böse zu besitzen. „Erkenntnis von Gut und Böse“ meint in diesem Zusammenhang nicht nur die „ethische Entscheidungsfreiheit“ (so Jes 7,15 f.; vgl. dazu Albertz), sondern die „Bestimmung des für den Menschen Förderlichen und des für ihn Schädlichen“ (Westermann, Steck), und zwar durch den an die Stelle Gottes getretenen Menschen. Was hier der Frau und dann auch dem Mann verlockend erscheint, ist eine Autonomie ohne Theonomie. Wie Gen 3,2 f. (Übersteigerung des Verbotes Gottes durch die Frau) zeigt, kommt es nach „J“ zur Übertretung des göttlichen Gebotes aufgrund des fehlenden Vertrauens in die göttliche Begrenzung der menschlichen Möglichkeiten. Sünde entsteht hier also dadurch, dass der Mensch im Misstrauen gegenüber Gott das seinem Leben Förderliche selbst zu bestimmen versucht. 21.5.3.2. Folgen der Sünde Gen 3,17–19 beschreiben die Folgen der Sünde als „Selbstbestimmung ohne Gottvertrauen“. Sie werden von „J“ als Zerstörung der bisher bestehenden Harmonien zwischen „Mensch und Natur (Tier)“, „Mensch und Arbeit“ und „Mensch und Mitmensch“ dargestellt. Am deutlichsten beschrieben wird in Gen 3 die mitmenschliche Disharmonie. Dem grenzenlosen gegenseitigen Vertrauen, das sich in 2,25 darin äußert, dass Mann und Frau nackt sind und sich nicht voreinander schämen, folgt in 3,7–10 das Sich-Schämen voreinander und vor Gott als Zeichen des verlorenen Vertrauens. Die gestörte Beziehung zwischen Mann und Frau wird auch durch das vom Mann in 3,12 vorgenommene Abwälzen der Schuld auf die Frau deutlich. In diesem Rahmen deutet „J“ im Strafspruch über die Frau von 3,16 schließlich
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auch die zu seiner Zeit übliche gesellschaftliche Unterordnung der Frau unter den Mann als Zeichen der gestörten partnerschaftlichen Beziehung von Mensch und Mitmensch. Als Folge der Sünde versteht „J“ in gleicher Weise die Störung des Verhältnisses von Mensch und Natur, die exemplarisch an der Feindschaft zwischen Mensch und Schlange verdeutlicht wird (vgl. den Strafspruch über die Schlange in 3,15). Schließlich sieht der Strafspruch über den Mann in 3,17–19 auch die Mühseligkeit und Vergeblichkeit menschlicher Arbeit als Konsequenz der Ursünde an. 21.5.3.3. Der Tod als der Sünde Sold? In Gen 3,22.24 wird die Vertreibung aus dem Paradies mit dem Lebensbaum (vgl. 2,9b) in Verbindung gebracht. Die göttliche Strafe besteht hiernach darin, dass dem Menschen der Zugang zum ewigen Leben verwehrt wird. Möglicherweise geht das Lebensbaummotiv jedoch erst auf den Pentateuchredaktor zurück (so Witte). Jedenfalls rechnet „J“ damit, dass Jahwe in seiner Gnade die Drohung, am Tag der Gebotsübertretung werde der Mensch sterben (2,17), nicht direkt wahrmacht. 21.5.3.4. Allgemeinheit der Sünde Im Gesamtzusammenhang von Gen 2–11* „J“ wird mit einer Ausdehnung der Folgen der Sünde auf die verschiedensten Lebensbereiche gerechnet (4,1 ff.: Brudermord; 11,1 ff.: Konflikt zwischen den Völkern, etc.). Dabei nimmt 8,21 an, dass das Trachten des menschlichen Herzens von Jugend auf böse und der Mensch daher hoffnungslos der Sünde verfallen ist (vgl. ähnlich in der Schriftprophetie Jer 13,23). Rettung ist nur durch göttliche Gnade möglich (vgl. 6,8: „Noah fand Gnade in den Augen Jahwes“). Wichtig für „J“ ist, dass auch die von Jahwe Erwählten nicht frei von Sünde sind. So dienen die Erzählung von Abrahams Zug nach Ägypten in Gen 12,10–20* und die von seinem Verhältnis zu Hagar in Gen 16* im Zusammenhang von „J“ dem Nachweis, dass auch der Jahwe vertrauende Abraham dem Unglauben verfallen kann (vgl. auch die negative Zeichnung Jakobs in Gen 27* und die von Mose in Ex 2,11–15). 21.5.3.5. Verantwortlichkeit für die Sünde Trotz der allgemeinen Sündenverfallenheit hält „J“ an der Verantwortung des Menschen für seine sündigen Taten fest (vgl. die Ermahnung Jahwes an Kain in Gen 4,7: „Handelst du aber nicht recht, so lauert die Sünde vor der Tür. Du aber herrsche über sie!“). Auch die Katastrophen, die die Ägypter in Ex 3–14* „J“ erleben, werden von „J“ nicht nur wie von P als Machterweise Jahwes verstanden. Vielmehr sind sie in
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der Schuld Pharaos begründet, der sein Herz immer wieder selbst willentlich „verhärtet“ (vgl. Ex 8,28; 9,34; P spricht in Ex 9,12 demgegenüber von einer Verstockung des Herzens Pharaos durch Jahwe). 21.5.4. Das Verständnis des Gottesvolkes Anders als bei P, bei der die Verheißungen des „Abrahambundes“ nur für Israel gelten, werden bei „J“ die Völker in die Segensverheißungen für Israel hineingenommen (Gen 12,2 f.; 28,14; vgl. 30,27.30; 39,5; Ex 12,32b). Die Segensverheißung an Israel (Gen 12,2) richtet sich dabei auf das (eschatologische?) Ziel der Aufhebung des über der Menschheit liegenden Fluches (vgl. Gen 3,17; 4,11). Mit der Segensverheißung an Israel ist verbunden die Nachkommenverheißung (Gen 12,2; 28,14; Ex 1,9), die Beistandsverheißung (Gen 28,15; vgl. 39,2 f.21.23) und schließlich auch die Landverheißung (Gen 12,7; 28,13–15*: bei Spätdatierung von „J“ als Verheißung der Rückgabe des gelobten Landes). Die Verwirklichung der Verheißung ist dabei nicht Israels Aufgabe (vgl. auch Ex 14,14: Jahwe streitet für Israel, während Israel still ist). So hat Israel auch nicht den Segen an die Völker zu vermitteln, vielmehr ist es Jahwe, der selbst die Völker segnet (Gen 12,3: „ich will segnen, die dich segnen“). Daher besteht Israels Aufgabe gegenüber der Völkerwelt – wie die Plagenerzählungen von „J“ zeigen – im Jahwezeugnis vor den Völkern (vgl. Ex 7,16 etc.) und in der Fürbitte für sie (vgl. Ex 8,4–9.24–27; 9,27–29; 10,16–19; 12,32).
21.6.
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§ 22
Die elohistische Pentateuchschicht
22.1.
Kriterien für die Ausgrenzung der „elohistischen“ Schicht
22.1.1. Das Verständnis von „E“ Die Existenz einer „elohistischen“ Pentateuchquelle ist in der neueren Forschung häufig in Frage gestellt worden (vgl. schon Volz/Rudolph und neuerdings vor allem Westermann). Für die Annahme einer „elohistischen“ Schicht spricht jedoch, dass sich im Pentateuch eine durchgehend die Gottesbezeichnung „Elohim“ gebrauchende Schicht (im folgenden: „E“) erkennen lässt, die ein sich deutlich von anderen Pentateuchquellen abhebendes theologisches Profil aufweist (vgl. zuletzt Graupner). Allerdings ist diese Schicht nur noch fragmentarisch und (mit Ausnahme von Gen 20–22*) in enger Verzahnung mit „jahwistischen“ Texten erhalten. Möglicherweise ist sie als Teil des Geschichtswerkes des „späten Jahwisten“ („J“) in den Pentateuch aufgenommen worden. Auch stellt sie ihrerseits wohl eine Kompositionsschicht dar, die protojahwistische Materialien (wie u. a. die Juda-Schicht der Josefsgeschichte Gen 37–50*; vgl. dazu Schorn) in sich integriert hat (vgl. Zimmer und auch die von Blum herausgearbeitete Kompositionsschicht der „Jakoberzählung“ Gen 25,21–34*; 27–33*). 22.1.2. Stilistische Anhaltspunkte für „E“ Seit Martin Noth hat sich in der deutschen atl. Forschung die Auffassung durchgesetzt, dass der Elohist durchgängig die Gottesbezeichnung „Elohim“ benutzt hat (und zwar – anders als bei P – auch nach der Offenbarung des Jahwenamens an Mose in Ex 3,14). Auch sonst zeigt „E“ deutliche Stileigentümlichkeiten: Besonders zu nennen ist die Anrede Gottes (oft doppelt), auf die die Antwort des Angeredeten „Siehe, hier bin ich“ (hinnenî) folgt (vgl. Gen 22,1 f. 11; 31,11; 46,2; Ex 3,4b).
224
Die Schriften des AT
22.1.3. Inhaltliche Anhaltspunkte für „E“ Charakteristisch für die „elohistischen“ Texte ist das Thema „Gottesfurcht“ (vgl. Gen 20,11; 22,12; 42,18; Ex 1,17.21; 18,21; 20,20), wobei Anerkennung des menschlichen Abstandes zu Gott und ethisches Verhalten gegenüber Mitmenschen als zwei zusammengehörige Aspekte verstanden werden müssen. Auch dass sich Gott durch Engel bzw. Träume offenbart, ist typisch für die „elohistische“ Schicht, wobei „Engel“ und „Träume“ auch in anderen Pentateuchschichten vorkommen können (vgl. nur die nichtelohistischen Stellen Num 12,6 und 22,22–35). Bemerkenswert ist auch die bei zahlreichen Texten von „E“ zu beobachtende Tendenz der ethischen Entlastung der israelitischen Patriarchen (vgl. Gen 20,12 f.; 21,11 f.; 31,6–9; 37,5–11.28). 22.1.4. „E“ als Quelle oder als „Kompositionsschicht“? Die Doppelüberlieferung von Gen 20,1b-17* // 12,10–13,1* und von 21,9–21* // 16,1b-14* wird von der Forschung normalerweise als Indiz für eine eigenständige „elohistische“ Quelle angesehen. Andererseits gibt es auch Anzeichen dafür, dass „E“ „protojahwistische“ Texte voraussetzt. Vor allem Abrahams Feststellung in Gen 20,13: „Als mich Gott aus meines Vaters Haus wandern ließ, sprach ich zu ihr (Sara): Das ist die Liebe, die du mir erweisen sollst: An jedem Ort, wo wir hinkommen, sage von mir: Er ist mein Bruder!“ zeigt, dass hier sowohl auf Gen 12,1.4a als auch auf 12,10–13,1* Bezug genommen wird (Westermann). Da der erste dem „elohistischen“ Kompositor zuzuweisende Text Gen 20,1b-17* nicht als Beginn von „E“ verstanden werden kann, ist die Einleitung von „E“ entweder verloren gegangen oder sie bestand aus Gen 12,1*.4a*; 12,10–13,1*. Da hier mit einem Wohnort Abrahams im Negeb gerechnet wird (13,1), hat möglicherweise auch Gen 16,1b-14* zu den von „E“ in sein Werk aufgenommenen protojahwistischen Materialien gehört. Dafür spricht, dass Gen 21,9 f. „E“ nur unter der Voraussetzung von Gen 16,1–2* verständlich ist, und Gen 20,1b-17* direkt an Gen 16,14 angeschlossen werden kann (Van Seters). Problematisch bleibt allerdings, dass der Gen 16* und Gen 21,9–22* miteinander verbindende Vers Gen 16,9 in der vorliegenden Formulierung keine Anhaltspunkte für eine Abfassung durch den „elohistischen“ Kompositor aufweist (ist hier ein „Engel Gottes“ wie in Gen 22,11 wegen des Kontextes nachträglich in ein „Engel Jahwes“ umgewandelt worden?).
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
22.2.
225
Der Aufbau von „E“
22.2.1. Abgrenzung Nach dem Nachweis, dass in Gen 15* keine elohistische Schicht vorliegt (Kaiser), ist Gen 20,1b-17* als erster dem „elohistischen“ Kompositor zuzuweisender Text anzusehen. Wie oben in 22.1.4. gezeigt, kann bei einem Verständnis von „E“ als Kompositionsschicht jedoch auch mit einer Aufnahme der „protojahwistischen“ Abrahamerzählungen Gen 12,1*.4a*; 12,10–13,1*; 16,1b-14* in „E“ gerechnet werden. Das vom „elohistischen“ Kompositor geschaffene Werk hätte in diesem Falle mit der Berufung Abrahams in Gen 12,1 eingesetzt. Noch größere Schwierigkeiten bereitet die Frage nach dem Abschluss von „E“: Wie bei „J“ ist auch hier das Ende von „E“ entweder in den Königsbüchern (2Kön 25; vgl. Hölscher) oder in der Darstellung der Landnahme (Jos 24; vgl. Weiser, Fohrer) gesucht worden. Aufgrund der oben unter 22.1. entwickelten Kriterien liegt jedoch der letzte „E“-Text in Num 22–23* (allerdings in einer durch „J“ und den „Pentateuchredaktor“ stark überarbeiteten Gestalt) vor. Nach Ludwig Schmidt gehören auch Num 21,21–24b.31 (Besiegung Sihons) und 32,1–6*.16–17a.20a.24.33–38* (Landnahme der Gaditen und Rubeniten im Ostjordanland) zu „E“ (anders Schorn). 22.2.2. Zentrale Texte von „E“ Folgende Texte sind als Teil der von einem „elohistischen“ Kompositor geschaffenen Geschichtsdarstellung, die von Abraham bis zur Konstituierung des Volkes im Ostjordanland reicht, anzusehen. „Protojahwistische“ Texte, von denen eventuell anzunehmen ist, dass „E“ sie in sein Geschichtswerk integriert hatte, sind dabei einbezogen. A. Vätergeschichte 1. Abraham [Gen 12,1*.4a*; 12,10–13,1*; 16,1–14*] Gen 20,1b-17* Sara im Harem Abimelechs Gen 21,9–21* Vertreibung Hagars Gen 21,22–34* Vertrag Abrahams mit Abimelech Gen 22,1–19* Versuchung Abrahams 2. Jakob Gen 25,21–34*; 27,1–45* Gen 28,10–12.17–22*
Jakob raubt Esau den Erstgeburtssegen Jakobs Traum von der Himmelsleiter
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Die Schriften des AT
Gen 29–31* Gen 32,1–33,20*+35,7–20*
Jakob bei Laban Rückkehr Jakobs und Versöhnung mit Esau
3. Josef Gen 37*; 39,1*; 40–48*;50*, darin: Gen 46,1b-5a Offenbarung an Jakob vor Übersiedlung nach Ägypten Gen 50,15–21 Verzeihung Josefs B. Exodus Ex 1* Ex 1,15–21 Ex 2–4* Ex 14,5a C. Gottesberg Ex 18* Ex 19,16–19* Ex 20,18–21* Ex 24,9–11*(?)
Unterdrückung Israels durch den König von Ägypten Gottesfurcht der Hebammen Moses Geburt, Flucht und Berufung Flucht Israels aus Ägypten Jitros Besuch bei Mose: gemeinsames Opfer und Einsetzung von Richtern Sinaitheophanie Gottesfurcht Israels Gottesschau der Repräsentanten Israels (?)
(aus dem Kontext von „E“ fallen heraus: Ex 20,1–17 Dekalog Ex 20,22–23,33 Bundesbuch; anders Schüpphaus) D. Israel im Ostjordanland Num 22,2–21*.36–41*; 23,1–26* Gott zwingt Bileam zur Segnung Israels. Gegen die Zusammengehörigkeit dieser Texte wurde eingewandt, dass es für einen vorpriesterschriftlichen Zusammenhang zwischen Erzväter- und Exodusdarstellung keine Hinweise gebe (K. Schmid, Gertz). Auch bildeten Väterüberlieferung (Abraham ist von Anfang an im Land „Israel“ zu Hause) und Exodusüberlieferung (Israel ist ins Land eingewandert) in vorpriesterschriftlicher Zeit noch konkurrierende „Ursprungslegenden“. Doch ist Letzteres nicht eindeutig nachweisbar. Zudem sind in Gen 31,11.13; 46,2–4; Ex 3,4b.6a bereits vorpriesterschriftlich Väter- und Exodusdarstellung durch ein gemeinsames Offenbarungsschema miteinander verbunden. Auch passt der Abschluss von „E“ im Gebiet Rubens (Num 22–23*) zur bei „E“ betonten Vorrangstellung Rubens als Erstgeborener Jakobs (Gen 30,14–16; 37,21f. 29 f.; 42,22.37; vgl. Schorn).
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
22.3.
227
Entstehung von „E“
22.3.1. Entstehungsort In den Texten von „E“ spielen Nordreichtraditionen eine herausragende Rolle: Besonders zu nennen ist die Hervorhebung der Heiligtümer von Bethel (Gen 28,10–22*; 35,7*), Sichem (33,20) und schließlich Beerscheba (Gen 21,31 f.*; 22,19; 46,1–5*), das nach Ausweis von Am 5,5 ein Wallfahrtheiligtum der Nordreichbewohner darstellte. Auch finden Orte des zum Nordreich gehörenden Ostjordanlandes besondere Beachtung: Mahanajim in Gen 32,2 f., Bamot-Baal in Num 22,41, Pisga in Num 23,14 und wohl auch Pnuel in Gen 32,23–32 (vgl. dazu Schmitt). Schließlich dürfte auch die besondere Stellung, die Ruben in „E“ besitzt, mit dem Stammesgebiet Rubens im Ostjordanland zusammenhängen (vgl. Schorn). Für Beziehungen von „E“ zu Nordreichtraditionen sprechen auch Übereinstimmungen mit der Hoseaüberlieferung: So setzen Ex 3,14 „E“ und Hos 1,9 eine gemeinsame Tradition der Erklärung des Jahwenamens voraus; außerdem verstehen sowohl Ex 3,10 f. als auch Hos 12,14 Mose als „prophetischen“ Führer Israels aus Ägypten. Allerdings deutet dieser Bezug auf Nordreichtraditionen nicht unbedingt auf eine Entstehung von „E“ im Nordreich. Wie vor allem das Hoseabuch zeigt, sind Nordreichüberlieferungen nach 722 v. Chr. auch im Südreich tradiert worden. Für eine Entstehung im Südreich (vgl. Smend, Kaiser) sprechen vor allem die südpalästinischen Bezüge der ursprünglich mittelpalästinischen Jakobtradition (Kontakte zwischen „Jakob“ und Edom sind nur in Südpalästina denkbar). Weniger beweiskräftig ist allerdings die Erwähnung von „Morija“ (vgl. zur Beziehung auf Jerusalem 2Chr 3,1) in Gen 22,2, da es sich hierbei wohl um einen Zusatz des Pentateuchredaktors handelt (Kilian; anders Van Seters; Veijola; Kaiser). 22.3.2. Entstehungszeit In der Pentateuchforschung, die mit einem „Elohisten“ rechnet, hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass „E“ ein „reflektierteres“ Stadium der Entwicklung der Pentateuchtradition darstelle als J und daher später als J zu datieren sei. Gedacht ist dabei an Erzählungen wie Gen 20* und 21,9–21* im Gegenüber zu den „jahwistischen“ Texten 12,10–13,1* und 16,1b-14*. Da diese Texte jedoch zu einer aus „J“ herauszuhebenden frühen „protojahwistischen“ Schicht gehören, ist dieses Argument für den Gesamtentwurf von „J“ nicht beweiskräftig. Vielmehr hat Martin Noth darauf aufmerksam gemacht, dass E insofern ein früheres Stadium der Traditionsentwicklung des Pentateuch repräsentiere, als beim „Elohisten“
228
Die Schriften des AT
die bei „J“ schon zugewachsene Urgeschichte Gen 2–11* noch fehle. Die weit verbreitete Auffassung, dass die Abfassungszeit von „J“ den terminus a quo für die Entstehung von „E“ bilde, stellt sich somit als wenig begründet heraus. Andererseits wird häufig die Trennung des Nordreichs vom Südreich (926 v. Chr.) als terminus a quo angesehen. Erst danach ist eine so starke Hervorhebung des Nordreichheiligtums von Bethel wie in Gen 28,10–22*; 31,13; 35,7 vorstellbar. Zur Bestimmung des terminus a quo eignet sich nicht die Vorstellung von Abraham als „fürbittenden Propheten“ in Gen 20,7a.17. Hier handelt es sich möglicherweise um eine spätdtr. Bearbeitung von Gen 20 (vgl. Dtn 9,20.26; 1Sam 7,5; 1Kön 8,28 ff.; auch Num 11,2; 21,7; dazu Seidl und Zimmer), so dass dieser Befund nicht als Argument für eine nachexilische Datierung von Gen 20 anzuwenden ist (gegen Blum). Noch umstrittener ist die Bestimmung des terminus ad quem für die Entstehung von „E“. Häufig wird angenommen, dass „E“ vor der Schriftprophetie entstanden sein müsse, da „E“-Texte (vgl. Gen 28,10–22*) im Widerspruch zu schriftprophetischen Vorstellungen wie der Infragestellung von Traumoffenbarungen (Jer 23,28 f.) und der Ablehnung des Betheler Heiligtums (Hos 10,5 f.; Am 5,4 f.) stünden. Aufgrund dieses Befundes wird in der Forschung oft angenommen, daß „E“ zwischen 800 und 760 v. Chr. abgefasst worden sei (Axel Graupner denkt sogar schon an die Zeit zwischen 845 und 838 v. Chr.). Für diese Zeit spreche auch, dass das Fehlen der Landverheißung bei „E“ auf eine Zeit vor der Assyrerbedrohung hindeute. Allerdings gibt es durchaus Texte aus der Zeit während und nach der Schriftprophetie, die weiterhin mit göttlichen Offenbarungen durch Träume rechnen (vgl. für die späte Weisheit Hi 33,15 f.). Auch ist Sach 7,1–3 zu entnehmen, dass Bethel noch in frühnachexilischer Zeit als Heiligtum anerkannt war. Schließlich kann das Fehlen der Landverheißung auch auf eine während der Assyrer- und Babylonierherrschaft entwickelte Theologie hinweisen, für die Landbesitz nicht mehr von entscheidender Bedeutung war (vgl. Jer 29,4–7). Dass „E“ die Erzväter als Menschen darstellt, die unter fremder Herrschaft leben (vgl. Gen 20,1; 21,23.34) und mit denen trotzdem Gott ist (vgl. Gen 21,22), bestätigt diese Vermutung. Auch scheinen Texte wie Gen 22 und Num 22 f.* die Erfahrung einer tödlichen Bedrohung Israels zu reflektieren, bei der angesichts der engen Beziehung von „E“ zu Nordreichtraditionen an die Katastrophe von 722 v. Chr. zu denken ist. Wahrscheinlich ist daher mit einer Entstehung von „E“ in der Zeit nach dem Untergang des Nordreiches im 7. Jh. zu rechnen.
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
229
22.3.3. Die „geistige Heimat“ von „E“ Da im Zentrum der „E“-Texte das Thema „Gottesfurcht“ steht (Wolff; vgl. oben 22.1.3.) und es sich bei diesem Leitwort von „E“ um einen zentralen Begriff der atl. Weisheit handelt (vgl. Spr 16,6 und auch 1,7.29 etc.), dürfte der Verfasser von „E“ in weisheitlichen Kreisen zu suchen sein (vgl. zuletzt L. Schmidt). Allerdings handelt es sich hierbei um eine schriftgelehrte Weisheit, die prophetische Traditionen in sich aufgenommen hat: So ist Josef in Gen 41,38 f. „E“ als ein Weiser gezeichnet, der seine Weisheit dem „Geist“ Gottes und damit göttlichen Offenbarungen verdankt (vgl. für die Schriftprophetie Hos 9,7 und für die schriftgelehrte Weisheit Hi 32,8.18).
22.4.
Die Theologie von „E“
22.4.1. Gottesverständnis Dass „E“ seine „geistige Heimat“ in der Weisheit besitzt, erklärt die besondere Betonung der Unverfügbarkeit der göttlichen Offenbarung und der Distanz zwischen Gott und Mensch. 22.4.1.1. Unverfügbarkeit der göttlichen Offenbarung Anders als in den „J“-Texten steht in den „E“-Texten Jahwe nicht in Beziehung zur Menschheit als ganzer, was sich schon am Fehlen der Urgeschichte zeigt. Der Jahwename wird hier nur Israel und dies auch erst zur Zeit Moses (Ex 3,14) offenbart (was religionsgeschichtlich zutreffend sein dürfte; vgl. oben § 7.2.3. und 7.3.2.). Charakteristisch für „E“ ist, dass aber auch bei der Offenbarung an Mose die Unverfügbarkeit des Jahwenamens betont wird: Der Jahwename wird hier nur in der Form einer Anspielung angedeutet: #æhjæh #aˇsær #æhjæh „ich bin, der ich bin“, wobei einerseits die Undefinierbarkeit Gottes hervorgehoben wird (Noth). Andererseits ist jedoch auch hier ein Verständnis von h¯aj¯ah („sein“) im Sinne von „wirksam sein“, „dasein für“ nicht auszuschließen. Ex 3,14 erklärt somit den Jahwenamen als Verheißung, dass Gott in nie vorher definierbarer Weise für Israel da sein wird. 22.4.1.2. Distanz zwischen Gott und Mensch „E“ betont Gottes Wohnen im Himmel (vgl. Gen 21,17; 22,11), womit Ferne und Verborgenheit Gottes (vgl. Dtn 26,15; Koh 5,1) zum Ausdruck gebracht werden. Überbrückt wird diese Ferne durch Engel (Gen 21,17; 22,11; 28,12). Auch offenbart sich Gott nicht direkt, sondern bedient sich des Mittels des Traums (Gen
230
Die Schriften des AT
20,3.6; 28,11f.; 31,11.24; wahrscheinlich sind auch die Träume von Gen 37,5–9; 40,9–19 und 41,17–24 als göttliche Offenbarungen zu verstehen) oder des Nachtgesichts (Gen 46,1–5*). Auch führt Gott nicht selbst Israel aus Ägypten (so Ex 3,7f. „J“), sondern lässt Israel durch Mose aus Ägypten führen (Ex 3,9–14; zu Mose als „Mittler“ vgl. auch 20,18–21*). Gen 40,8; 41,16.38 rechnen zudem damit, dass zur Erkenntnis des Willens Gottes Prophetie (vgl. „Geist Gottes“ in 41,38) notwendig ist. 22.4.1.3. Beziehung Gottes zu einzelnen Nichtisraeliten Auch wenn Gott seinen Namen nur Israel offenbart, so nimmt er doch – in seiner unverfügbaren Freiheit – auch Beziehung auf zu Nichtisraeliten. In diesem Sinne macht der durchgängige Gebrauch von „Elohim“ („Gott“) auf die Universalität der von „E“ dargestellten Gotteserfahrung aufmerksam: So erscheint Gott Abimelech, dem König von Gerar (Gen 20,3–7), der Ägypterin Hagar (Gen 21,17–18*), dem Aramäer Laban (Gen 31,24) und auch dem mesopotamischen Seher Bileam (Num 22,9.20; 23,4.16). Auch wird in Ex 18,12 der Midianiter Jitro als Verehrer des israelitischen Gottes dargestellt. 22.4.2. Menschenverständnis 22.4.2.1. Der Maßstab der „Gottesfurcht“ Der Maßstab, von dem her „E“ menschliches Leben beurteilt, ist die „Gottesfurcht“ (vgl. Wolff). „Gottesfurcht“ zeigt sich nach „E“ vor allem an sittlicher Zuverlässigkeit. So werden in Ex 18,21 „gottesfürchtige“ Männer gleichzeitig als tüchtig, zuverlässig und „unlauteren Gewinn verabscheuend“ dargestellt (vgl. ähnlich Gen 42,18). In diesem Sinn kann auch bei Nichtisraeliten Gottesfurcht festgestellt werden (vgl. Gen 20,11 mit 20,4–8). Ex 1,15–21 macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass „Gottesfurcht“ Freiheit von Menschenfurcht bedeutet: Aus Gottesfurcht widersetzen sich die hebräischen Hebammen (möglich ist auch die Übersetzung „die Hebammen der Hebräerinnen“, so dass „E“ eventuell auch an ägyptische Hebammen gedacht haben kann) dem Befehl des Königs von Ägypten, die neugeborenen israelitischen Knaben zu töten. Dass „Gottesfurcht“ als „sittliches“ Verhalten nach „E“ in der Gottesbeziehung begründet ist, zeigt vor allem die Deutung der Gottesbergtheophanie durch Mose in Ex 20,20: Die „Gottesfurcht“, die davor schützt, sich zu versündigen, besteht in der Anerkennung der Distanz zwischen Gott und Mensch (V. 18.21: das Volk bleibt „von ferne“ stehen) und im Vertrauen auf die Mittlerschaft des Mose, der sich stellvertretend dem Dunkel, in dem Gott ist (V. 21), und der Todesgefahr, die die Nähe Gottes bedeutet (V. 19), aussetzt. Die Sinaitheophanie mit der Erfah-
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
231
rung der in der Gottesbegegnung bestehenden Todesdrohung (V. 19) wird dabei als Versuchung verstanden, die auf den Erweis solcher Gottesfurcht zielt (V. 20). In gleicher Weise um Erweis von „Gottesfurcht“ geht es auch in der Erzählung von der Versuchung Abrahams in Gen 22,1–19*: Wie in Ex 20,18–2* wird auch hier Gott im Befehl der Opferung Isaaks zunächst als todbringend erfahren (22,1–2). In Gen 22,11–14a wird jedoch deutlich, dass Gott nicht den Tod Isaaks will, sondern sich ein anderes Opfer „ersieht“ (V. 14a). Die Gottesfurcht Abrahams besteht hier darin, dass Abraham trotz der göttlichen Todesdrohung am Gehorsam gegenüber Gott festhält, wobei dieser Gehorsam von dem Vertrauen getragen ist, dass Gott sich ein anderes Opfer „ersieht“ (V. 8a) und Abraham zusammen mit Isaak von diesem Opfergang zurückkehren wird (V. 5b). Ein „Kadavergehorsam“ Abrahams, wie ihn ein neuzeitliches Verständnis häufig in Gen 22 zu erkennen meinte, liegt hier somit nicht vor. Vielmehr sieht „E“ in dem gottesfürchtigen Gottvertrauen Abrahams die Voraussetzung zur Mitmenschlichkeit auch im Angesicht der Todesdrohung (vgl. Gen 22,6b.8b: „So gingen beide miteinander“). 22.4.2.2. Die „Ethisierung“ der Väterdarstellung durch „E“ Auf diesem Hintergrund ist auch die sog. „Ethisierung“ der Darstellung der Erzväter zu sehen, die „E“ in den von ihm formulierten Texten gegenüber seinen Vorlagen vorgenommen hat. Während in den (proto-) jahwistischen Stücken Gen 12,10–20* und 16,1b-14* Abraham in eigenmächtiger Weise die Probleme von Überleben in einer Hungersnot und von Sicherung der Nachkommenschaft zu lösen versucht, wird in Gen 20,11–13 und 21,1f. Abrahams Orientierung an der Führung Gottes (vgl. besonders 21,12) betont. So wird aus der berechnenden Lüge, Sara sei die Schwester Abrahams (Gen 12,12 f.), eine angesichts der göttlichen Führung in die Unsicherheit der Fremde zum Schutz des Lebens Abrahams vorgenommene Geheimhaltung der Ehe zwischen Abraham und Sara (wobei Sara tatsächlich die Halbschwester Abrahams ist, Gen 20,11–13). In ähnlicher Weise wird auch in der Josefsgeschichte die Schuld der Brüder als Teil des göttlichen Heilsplans (Gen 50,19 f.) verstanden. Und es ist dieses Verständnis von Geschichte als Führung Gottes, das Versöhnung und Mitmenschlichkeit zwischen Josef und seinen Brüdern ermöglicht (vgl. auch bei der Versöhnung zwischen Jakob und Esau Gen 33,1–11 den Rückbezug von V. 10 auf 32,31). 22.4.3. Das Verständnis des Gottesvolkes Es ist dieses Wissen um die Führung Gottes, das Israel auszeichnet: Schon die allein an Israel ergehende Offenbarung des Jahwenamens wird von „E“ (Ex 3,14) als Verheißung des – allerdings unverfügbaren – „Für-Israel-Daseins“ Jahwes verstanden (vgl. 22.4.1.).
232
Die Schriften des AT
Beachtenswert ist, dass „E“ nur die Nachkommenverheißung (Gen 46,1–5*, hier bemerkenswerterweise bezogen auf den Aufenthalt der Israeliten außerhalb des Landes) und die Beistandsverheißung („sein Gott ist mit ihm“, Num 23,21; vgl. Gen 21,22 für Abraham; auch 28,20 für Jakob und Ex 3,12 für Mose) kennt. Demgegenüber fehlt die Landverheißung. Deutet dies darauf hin, dass nach „E“ Israel seine Existenz auch unabhängig vom Landbesitz verstehen kann? Ist möglicherweise die Aussage von Num 23,9, dass Israel ein Volk ist, das für sich wohnt und nicht unter die „Völker“ (gojîm) gerechnet wird, von diesem Hintergrund her zu verstehen?
22.5.
Ausgewählte Literatur
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Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
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234
Die Schriften des AT
§ 23
Das Deuteronomium
23.1.
Sonderstellung des Deuteronomium
Die in § 20–22 dargestellten Pentateuchschichten begrenzen sich (eventuell mit Ausnahme von P; vgl. oben § 20.2.) auf den sog. Tetrateuch (Gen, Ex, Lev, Num). Das Deuteronomium als Abschiedsrede Moses im Ostjordanland schließt zwar an die Tetrateucherzählung an, ist aber primär als Einleitung des Deuteronomistischen (dtr.) Geschichtswerks (das die Bücher Dtn – 2Kön umfasst) zu verstehen und nimmt insoweit eine Sonderstellung innerhalb des Pentateuch ein.
23.2.
Name
Der griech.-lat. Name Deuteronomium geht auf die irrtümliche Übersetzung von miˇsneh hattôr¯ah („Abschrift des Gesetzes“) in Dtn 17,18 durch die LXX mit deuteronomion („zweites Gesetz“) zurück. Er versteht das Deuteronomium als eine gegenüber den Sinaigesetzen zweite Gesetzgebung, die allerdings von Mose dem Volk übermittelt wird (nicht wie am Sinai von Gott dem Mose).
23.3.
Aufbau
Mit Ausnahme von Dtn 31,14–23*; 32,48–52 und 34* stellt das Deuteronomium Moserede dar. Im Zentrum steht dabei die Verkündigung des deuteronomischen (dtn.) Gesetzes (A: Dtn 12–26), das sich folgendermaßen gliedern lässt: A.
Gesetzeskorpus (Dtn 12–26) I. 12,1–16,17 Kultgesetze 12 Kultzentralisationsbestimmungen 13 Maßnahmen gegen Götzendienst 14 Speisegebote 15 Schulderlassbestimmungen 16,1–17 Festkalender II. 16,18–18,22 Ämtergesetze 16,18–17,13 Richter 17,14–20 König
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
18,1–8 18,9–22
235
Priester Propheten
III. 19–25 Zivilgesetze, besonders zum Sozialverhalten 19 Asylbestimmungen 20 Kriegsgesetze 21–22+24–25 Ehegesetze 23,2–9 Gemeindegesetz Anhang: 26 Bestimmungen über kultische Abgaben 26,5–9*: Kleines geschichtliches Credo Um das Gesetzeskorpus legt sich zunächst ein innerer Rahmen (B: Dtn 5–11; 27–28) B.
I. 5–11: Paränetische Einleitungsrede 5 Dekalog 6,4 f. Schema Jisrael („Höre Israel“) 6,20–25 Katechese der Kinder 7 Warnung vor Bund mit den Völkern 9–10 Israels Abfall am Horeb und in der Wüste II. 27–28: Segen und Fluch 27,15–26 Fluchdodekalog
Hinzu kommt ein äußerer Rahmen (C: Dtn 1– 4*; 29–34*), der vor allem geschichtliche Mitteilungen enthält und daher von Anfang an als Beginn des Deuteronomistischen Geschichtswerks konzipiert worden sein dürfte (anders Mittmann). C.
I. 1–3 Rückblick Moses auf die 40jährige Wanderung vom Horeb ins Land Moab [4 Anhang an 1–3: Ermahnung zum Halten der Gebote, vor allem des Bilderverbots] II. 29–34 Schluss des Pentateuch [28,69–30,20 „Bund“ im Land Moab] 31 Einsetzung Josuas zum Nachfolger Moses 32 Lied Moses 33 Segen Moses 34 Tod Moses
236
23.4.
Die Schriften des AT
Entstehungsgeschichte des Deuteronomium
Der komplexe Aufbau deutet auf eine mehrstufige Entstehungsgeschichte von Dtn 1–34 hin. Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Diskussion zur Entstehungszeit sind die Entsprechungen, die zwischen den Forderungen des dtn. Gesetzes und den in 2Kön 22f. geschilderten Reformmaßnahmen Josias (622 v. Chr.) bestehen. 23.4.1. Die Deutung des Deuteronomium als Programmschrift der Josiareform von 622. v. Chr. Seit W.M.L. de Wette (Dissertatio Critica, 1805) hat sich in der atl. Wissenschaft – von wenigen Gegenstimmen abgesehen – die Auffassung durchgesetzt, dass das in 2Kön 22 aufgefundene Gesetzbuch, das der Josiareform zugrundegelegt wird, mit dem Urdeuteronomium (Dtn 12–26*) zu identifizieren ist und den in 2Kön 23 geschilderten Reformmaßnahmen als Grundlage diente (vgl. u. a. Kultzentralisation in 12,13 ff. und 2Kön 23,8 f., Beseitigung des Gestirndienstes in 17,3 und 2Kön 23,11 f., Verbot des Kinderopfers 18,10 und 2Kön 23,10, Abschaffung der Kedeschen 23,18 f. und 2Kön 23,7). Allerdings wird nach 2Kön 23,9 entgegen den Bestimmungen von Dtn 18,6–8 den Landpriestern kein Opferrecht am Jerusalemer Tempel zugestanden. In der Forschung umstritten ist allerdings, inwieweit der Bericht von 2Kön 22 f. historisch ist. Traditionell werden zwar die Grundaussagen von 2Kön 22 f. als historisch angesehen. Nach Ernst Würthwein geht jedoch 2Kön 23 erst auf einen spätdtr. Verfasser zurück, der Josia als sich am dtn. Gesetz orientierenden frommen König darstellen will (vgl. 2Kön 23,25). Eine alte Überlieferung über die Josiareform liegt daher nur in 2Kön 23,11 f. vor: Sie zeigt, dass es sich bei ihr ursprünglich nur um die Beseitigung assyrischer Kulte handelte, wie sie aufgrund der von Josia erzielten Unabhängigkeit von den Assyrern möglich war. Nach Otto Kaiser und Antonius H.J. Gunneweg spricht zudem für eine erst exilisch-nachexilische Entstehung des dtn. Gesetzes, dass Jeremia und Ezechiel es nicht voraussetzen („Deuteronomiumschweigen“ der Propheten; vgl. vor allem Jer 22,15 f., wo Josia nur wegen „Übens von Recht und Gerechtigkeit“, nicht wegen einer Kultreform positiv beurteilt wird). 23.4.2. Entstehungszeit des Urdeuteronomium (Dtn 12–26*) 23.4.2.1. Terminus a quo Allgemein wird angenommen, dass das Deuteronomium erst nach dem Aufkommen der Schriftprophetie entstanden sein kann. Vor allem werden in ihm Vorstellungen der Prophetie Hoseas aufgenommen. So entspricht die Ablehnung ka-
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
237
naanäischer Kultbräuche (vgl. Dtn 18,10; 23,18 f.) der Ablehnung einer Kanaanisierung der Jahwereligion durch Hosea (Hos 2). Auch die Beschränkung der königlichen Macht im dtn. Königsgesetz (Dtn 17,14–20) ist am ehesten auf der Grundlage der grundsätzlichen Infragestellung des Königtums durch Hosea (vgl. vor allem Hos 8,4; 13,11) verstehbar. 23.4.2.2. Terminus ad quem Die Mehrheitsmeinung geht davon aus, dass das Urdeuteronomium der Josiareform von 622 v. Chr. zugrunde lag und dass es daher in den Jahrzehnten vorher entstanden sein muss. Unter Rückgriff auf Argumente von Gustav Hölscher nehmen jedoch Ernst Würthwein und Otto Kaiser an, dass sich das Urdeuteronomium nicht für ein königliches Reformprogramm eigne, sondern wegen seines utopischen Charakters erst in exilisch-nachexilischer Zeit entstanden sein könne (vgl. u. a. den in 17,16 geforderten weitgehenden Verzicht des Königs auf Militärmacht und die Zeichnung des Königs als Toragelehrten in 17,19). 23.4.3. Entstehungsort des Urdeuteronomiums Aufgrund der oben in 23.4.2.1. aufgezeigten Beziehungen zu Hosea wird häufig mit einer „Heimat des Deuteronomium“ im Nordreich gerechnet (Alt). Dabei nimmt man gleichzeitig an, dass der in Dtn 12,14.18.26 genannte Ort, den Jahwe erwählt hat „in einem deiner Stämme“, ursprünglich auf ein Nordreichheiligtum zu beziehen ist. Doch ist ein solcher ursprünglicher Bezug des Urdeuteronomiums auf ein Zentralheiligtum im Nordreich nirgendwo wahrscheinlich zu machen. Mit dem von Jahwe erwählten Ort kann vielmehr nur Jerusalem gemeint sein (vgl. Preuß, Smend, Kaiser). Auch schließt eine Entstehung in Jerusalem eine Beeinflussung durch Hoseatraditionen nicht aus, da die Botschaft Hoseas nach 722 v. Chr. in Juda weitertradiert wurde (vgl. unten § 35.2.). 23.4.4. Sitz im Leben der dtn. Literatur Eine Besonderheit des dtn. Gesetzes stellt das Nebeneinander von Gesetzestext und Gesetzesinterpretation dar, in der wiederum vor allem die Gesetzesparänese auffällt (vgl. u. a. 15,1 mit 15,2 und 15,3–11). An zahlreichen Stellen finden sich sogar rein „paränetische Gesetze“ (vgl. 13,1–6; 17,14–20; 18,9–22). Hinter einer solchen „Gesetzespredigt“ steht nach Gerhard von Rad das Amt der (Land-)Leviten: Neh 8,7 belege, dass die Leviten die Aufgabe der Gesetzesunterweisung des Volkes besessen hatten.
238
Die Schriften des AT
Allerdings ist von einer gesetzesinterpretatorischen Aufgabe der Leviten erst in nachexilischer Zeit die Rede (vgl. 2Chr 17,7–9; 35,3; auch in Dtn 33,10 liegt nach Stefan Beyerle erst eine spätdtr. Schicht vor). In Dtn 14,27–29; 18,6–8 wird zwar die Unterstützungsbedürftigkeit der Leviten betont, von der Aufgabe der Gesetzespredigt verlautet jedoch noch nichts. Wahrscheinlich ist den Leviten diese Aufgabe erst in nachexilischer Zeit zugewachsen. Näher liegt es daher, die dtn. Paränesen auf weisheitlich geprägte Schreiber am Jerusalemer Hof (Weinfeld) bzw. in der babylonischen Verwaltung Judas nach 587 v. Chr. zurückzuführen (zu solchen Schreibern am Hof Hiskias vgl. Spr 25,1). Hierfür spricht, dass diese Kreise unmittelbaren Zugriff sowohl auf die israelitischen Rechtstraditionen als auch auf die im Dtn verarbeiteten Geschichtstraditionen hatten. Auch dass die Verfasser des Dtn auf Elemente des altorientalischen Vasallenvertragsformulars zurückgreifen (vgl. Baltzer; Lohfink), deutet auf im politischen Bereich tätige Schreiberkreise. Auch die Beziehung des Deuteronomium zur Weisheit (vgl. den „Humanismus“ und die „didaktischen Tendenzen“ im Dtn) wird auf diesem Hintergrund verständlich.
23.5.
Die literarischen Schichten des Deuteronomium
23.5.1. Urdeuteronomium (Dtn 12–26*) Aufgrund des oben in 23.4. Ausgeführten ist mit einer Entstehung des Kernbestandes von Dtn 12–26* („Urdeuteronomium“; vgl. in Dtn 12 V. 13–19) in der Zeit zwischen dem Beginn des 7. und der Mitte des 6. Jh. v. Chr. zu rechnen. In Hinblick auf die Beziehungen des Deuteronomium zu den assyrischen Vasallenverträgen (vgl. Otto und Steymans) sind auch die oben § 20.5.2. referierten Befunde zu berücksichtigen. 23.5.2. Die dtn. Redaktion Eine später anzusetzende Schicht stellt die sog. dtn. Redaktion von Dtn 5–28* dar, die Mose Israel in der 2. Pers. sing. anreden lässt (vgl. z. B. in Dtn 12 V. 20–27*). 23.5.3. Die ältere dtr. Redaktion In der Exilszeit wird das Deuteronomium zum Anfang des Deuteronomistischen Geschichtswerks (Dtn 1–34*) und wird dtr. überarbeitet – vor allem durch Schichten mit pluralischer Anrede („ihr“, vgl. Minette de Tillesse) an Israel (vgl. z. B. in Dtn 12 V. 8–12).
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
239
23.5.4. Die spätdeuteronomistische Redaktion Aus der nachexilischen Zeit stammt schließlich eine Bearbeitung des Dtr., die möglicherweise eine Verbindung zwischen Deuteronomistischem Geschichtswerk und dem Tetrateuch (Gen-Num) herstellen will (in dieser Schicht findet sich teilweise auch wieder singularische Anrede; vgl. in Dtn 12 V. 1–7* und V. 29–31).
23.6.
Theologie des Deuteronomiums
Theologisch geht es dem Deuteronomium um die Wahrung der Einheit Gottes, des Kultes und des Volkes („ein Gott, ein Volk, ein Kult“). 23.6.1. Gottesverständnis Das dtn. Gottesverständnis ist am deutlichsten dem ˇsema ji´sr¯a #el in Dtn. 6,4–9 zu entnehmen: „Höre Israel, Jahwe ist unser Gott, Jahwe ist einer“. Dabei ist die Einheit Gottes nicht nur nach außen gegen die Vielfalt der kanaanäischen Kulte, sondern auch nach innen gegen einen „Polyjahwismus“, d. h. die „Vielheit auseinanderstrebender Jahwetraditionen und Jahwekultorte“ (von Rad) zu wahren. Gleichzeitig verlangt sie anthropologisch die Totalität der Hingabe an Jahwe (6,5: „Du sollst Jahwe, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft“). 23.6.2. Die Vorstellung vom Zentralheiligtum Aus der Betonung der Einheit Gottes ergibt sich die Forderung nach der Zentralisierung des Kultes (12,13–19): Kulteinheit soll die Kultreinheit sicherstellen. Dabei bringt das Dtn die Bindung Jahwes an das eine Heiligtum so zum Ausdruck, dass die Transzendenz Jahwes gewahrt ist: Nach 12,14 hat Jahwe den Ort des Zentralkultes erwählt (b¯ahar); nach 12,21 ist der erwählte Ort die Stätte, an der Jahwe seinen „Namen“ (ˇsem) hinlegt (´swm; vgl. 12,11 Dtr. „Stätte, an der Jahwe seinen Namen wohnen lässt“: ˇsa¯ kan pi). 23.6.3. Das Verständnis des Gottesvolks 23.6.3.1. Die Erwählungsvorstellung Ebenso wie das Verhältnis Jahwes zum israelitischen Zentralheiligtum wird auch das Verhältnis Jahwes zu seinem Volk mit dem Begriff der „Erwählung“ (b¯ahar) beschrieben (Dtn 7,6.8: „dich hat Jahwe erwählt, dass du sein Eigentumsvolk sein sollst …, weil Jahwe euch liebt“). Aufgrund von Jahwes freier liebender Wahl
240
Die Schriften des AT
ist Israel zum Eigentumsvolk Jahwes geworden, nicht aufgrund besonderer Verdienste, sondern „sola gratia“ (vgl. Dtn 9,4.6: „Nicht wegen deiner Gerechtigkeit gibt dir Jahwe, dein Gott, dieses gute Land, es in Besitz zu nehmen“). Dieses aufgrund der Erwählung Jahwes zustande gekommene Verhältnis kann Dtn 26,16–19 auch durch die doppelte Zugehörigkeitsformel zum Ausdruck bringen: „Jahwe hast du heute erklären lassen, dass er dein Gott sein wolle … Und Jahwe hat dich heute erklären lassen, dass du sein Eigentumsvolk sein wollest …“. Die allein aus Gnaden geschehene Erwählung schließt allerdings ein, dass Israel die Aufgabe hat, „die Gebote und Rechte Jahwes zu bewahren“ (Dtn 5,1). In diesem Sinne versteht 5,2 den Dekalog als eine Israel auferlegte Verpflichtung („Bund“), die allerdings nicht nur der Horebgeneration gilt, sondern auch das gegenwärtige Israel verpflichtet (5,3). 23.6.3.2. Die Solidaritätsforderung Aus der bedingungslosen Annahme des Volkes durch Jahwe ergibt sich daher die Forderung nach bedingungsloser gegenseitiger Annahme der Glieder des Gottesvolkes. Dies äußert sich konkret in der Unterstützung der personae miserae (Leviten, Fremde, Witwen, Waisen): Nach Dtn 14,28 f. soll der normalerweise für das Heiligtum geltende Zehnte in jedem dritten Jahr für sie bestimmt werden. In gleicher Weise fordert Dtn 15,1–11* ein alle 7 Jahre durchzuführendes Erlassjahr, in dem alle Schulden hinfällig werden. Ebenso soll nach 15,12–18* jeder hebräische Sklave bzw. jede hebräische Sklavin im 7. Jahr wieder die Freiheit erlangen. Entsprechende Humanitätsvorstellungen finden sich im Deuteronomium sogar im Bereich des Kriegsgesetzes (20,1–18): Nach 20,5–7 werden diejenigen vom Kriegsdienst freigestellt, die ein Haus gebaut haben, einen Weinberg gepflanzt haben oder eine Verlobung eingegangen sind. Zu beachten ist, dass im Deuteronomium diesen Humanitätsforderungen häufig heilsgeschichtliche Begründungen beigegeben werden. Besonders deutlich wird dies am dtr. Dekalog: Hier wird das Sabbatgebot (5,12–15) damit begründet, dass an ihm Knecht und Magd ruhen können, wobei die Israeliten an ihre eigene Knechtschaft in Ägypten denken sollen.
23.7.
Ausgewählte Literatur
Achenbach, R.: Israel zwischen Verheißung und Gebot, Frankfurt a. M. 1991. Alt, A.: Die Heimat des Deuteronomium, in: Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel II, München 1959, 250–275. Baltzer, K.: Das Bundesformular, Neukirchen-Vluyn 1960.
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
241
Beyerle, S.: Der Mosesegen im Deuteronomium, Berlin/New York 1997. Braulik, G.: Deuteronomium, NEB, Würzburg 1986–1992. Conrad, D.: Einige (archäologische) Miszellen zur Kultgeschichte Judas in der Königszeit, in: FS E. Würthwein, Göttingen 1979, 28–32. Crüsemann, F.: Die Tora, München 1992. Gunneweg, A.H.J.: Geschichte Israels, Stuttgart 61989. Heckl, R.: Moses Vermächtnis. Kohärenz, literarische Intention und Funktion von Dtn 1–3, Leipzig 2004. Hölscher, G.: Komposition und Ursprung des Deuteronomium, ZAW 40, 1922, 161–255. Kaiser, O.: Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des AT 1, Gütersloh 1992. Kratz, R.G./Spieckermann, H. (Hg.): Liebe und Gebot. Studien zum Deuteronomium. FS L. Perlitt, Göttingen 2000. Levin, C.: Über den ‚Color Hieremianus‘ des Deuteronomiums, in: Fortschreibungen. Gesammelte Studien zum AT, Berlin/New York 2003, 81–95. Levinson, B.M.: Deuteronomy and the Hermeneutics of Legal Innovation, New York/ Oxford 1997. Lohfink, N.: Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur 1–3, Stuttgart 1990–1995. Minette de Tillesse, G.: Sections „tu“ et sections „vous“ dans le Deutéronome, VT 12, 1962, 29–87. Mittmann, S.: Deuteronomium 1,1–6,3 literarkritisch und traditionsgeschichtlich untersucht, Berlin/New York 1975. Nielsen, E.: Deuteronomium, HAT I/6, Tübingen 1995. Otto, E.: Theologische Ethik des AT, Stuttgart 1994. –: Das Deuteronomium, Berlin/New York 1999. –: Das Deuteronomium im Pentateuch und Hexateuch, Tübingen 2000. –: Art. Deuteronomium, RGG4 2, 1999, 693–696. Pakkala, J.: The Date of the Oldest Edition of Deuteronomy, ZAW 121, 2009, 388–401. Perlitt, L.: Deuteronomium-Studien, Tübingen 1994. Preuß, H.D.: Deuteronomium, Darmstadt 1982. Rad, G. von: Das fünfte Buch Mose, ATD 8, Göttingen 41956. –: Deuteronomium-Studien, in: Gesammelte Studien zum AT, München 1973, 109–153. Rofé, A.: Deuteronomy. Issues and Interpretation, London 2002. Rose, M.: 5.Mose, ZBKAT 5, Zürich 1994. Rüterswörden, U.: Das Buch Deuteronomium, NSKAT 4, Stuttgart 2006. Schmidt, W.H.: Einführung in das AT, Berlin/New York 51995. Schmitt, H.-C.: Art. Liebe Gottes und Liebe zu Gott I. AT, RGG 4 5, 2002, 350–351. Seitz, G.: Redaktionsgeschichtliche Studien zum Deuteronomium, Stuttgart 1971. Smend, R.: Die Entstehung des AT, Stuttgart 41989. Spieckermann, H.: Juda unter Assur in der Sargonidenzeit, Göttingen 1982. Steymans, H.-U.: Deuteronomium 28 und die adê zur Thronfolgeregelung Asarhaddons, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1995.
242
Die Schriften des AT
Veijola, T.: Moses Erben. Studien zum Dekalog, zum Deuteronomismus und zum Schriftgelehrtentum, Stuttgart 2000. –: Das 5. Buch Mose. Kap. 1,1–16,17, ATD 8/1, Göttingen 2004. – (Hg.): Das Deuteronomium und seine Querbeziehungen, Helsinki und Göttingen 1996. Weinfeld, M.: Deuteronomy and the Deuteronomic School, Oxford 1972. Würthwein, E.: Die Josianische Reform und das Deuteronomium, in: Studien zum Deuteronomistischen Geschichtswerk, Berlin/New York 1994, 188–216. –: Die Bücher der Könige 1. Kön. 17 – 2. Kön 25, ATD 11/2, Göttingen 1984.
§ 24
Die „spätdeuteronomistische“ Pentateuchredaktion
24.1.
Die These einer spätdtr. Pentateuchredaktion
In der atl. Wissenschaft ist seit Julius Wellhausen die Auffassung weit verbreitet, dass die Endredaktion des Pentateuch, d. h. die Zusammenarbeitung der Priesterschrift mit der in einem komplexen Prozess entstandenen nichtpriesterlichen Pentateuchdarstellung, in „priesterlichem Geist“ erfolgt sei: Dabei wird entweder damit gerechnet, dass die priesterliche Schicht selbst als eine die nichtpriesterliche Pentateuchdarstellung einbeziehende Kompositionsschicht zu verstehen sei (vgl. dazu oben § 20.3.1.), oder man nimmt an, dass es sich bei RJEP um einen priesterlichem Denken nahestehenden Redaktor handele (vgl. nur Holzinger, Smend). Zu erwähnen ist jedoch auch die Auffassung von Erich Zenger, der zwei Redaktionen für die Endkomposition des Pentateuch verantwortlich macht: eine priesterliche Redaktion für den Bereich Gen – Num mit Einbau der erweiterten Priesterschrift und eine deuteronomistisch-priesterliche Redaktion vor allem im Bereich Dtn. Da eine Reihe von Beobachtungen dafür sprechen, dass die Vereinigung des Tetrateuch mit dem Deuteronomium nicht vor der Verbindung des nichtpriesterlichen Tetrateuch mit der Priesterschrift stattgefunden hat (vgl. Crüsemann), ist anzunehmen, dass die letzte Phase der Pentateuchentstehung im Geiste einer vom Deuteronomium bestimmten Theologie geprägt worden ist. Dies führt zu der These, dass die sog. „deuteronomistischen“ Texte des Pentateuch (anders Van Seters) nicht – wie bisher meist angenommen (vgl. zuletzt Blum) – sich einer vorpriesterlichen Redaktion verdanken, sondern vielmehr als Teil der (das Deuteronomium und darüber hinaus das gesamte Deuteronomistische Geschichtswerk einbeziehenden) Endredaktion des Pentateuch (Enneateuch; vgl. hierzu Schmitt, auch K. Schmid) zu verstehen sind. Dabei dürfte diese spätdeuterono-
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
243
mistische Schicht auf mehrere Hände zurückzuführen sein (vgl. unten § 25.1.5. und auch Aurelius). Doch gibt es – entgegen einer neuerdings häufiger vertretenen Auffassung (vgl. Blum, Otto, Römer, auch Kratz) – keine methodisch überzeugenden Hinweise auf das zeitweise Vorliegen eines Hexateuch Gen – Jos 24 (alle Schichten in Jos 24 weisen über sich hinaus auf 2Kön 17–25). Auch das in Jos 24,26 erwähnte „Buch des Gesetzes Gottes“, in das Josua das in Jos 24,2 ff. Gesagte schreibt (vgl. entsprechend 1Sam 10,25), bezieht sich eher auf einen „Enneateuch“ als auf einen „Hexateuch“ (vgl. Neh 8–9, wo in 8,8.18 ebenfalls vom „Buch des Gesetzes Gottes“ und in 9,3 in gleichem Sinne vom „Buch des Gesetzes Jahwes“ die Rede ist und wo das Bußgebet von Neh 9,5–37 den Geschichtszusammenhang des Enneateuch Gen – 2Kön voraussetzt). Auf diesem Hintergrund ist auch die These, dass die Endgestalt des Pentateuch sich der persischen Reichsautorisation lokaler Gesetze (vgl. oben § 12.2.3.) verdanke (vgl. Crüsemann, Blum u. a.), kaum wahrscheinlich zu machen. Der Pentateuch ist wegen seines großen Umfangs, seines überwiegend erzählenden Inhalts und auch der in ihm enthaltenen widersprüchlichen Rechtsaussagen als „persisches Reichsrecht“ ungeeignet. Neben dem Befund, dass das Deuteronomium (mit dem Dtr. Geschichtswerk) erst in der Endphase der Pentateuchentstehung in den Pentateuch aufgenommen wurde (zusammen mit ihm wurden wahrscheinlich der Dekalog in Ex 20,1–17 und das Bundesbuch in Ex 20,22–23,19* in den Pentateuch einbezogen), spricht für die Annahme einer spätdeuteronomistischen nachpriesterschriftlichen Pentateuchredaktion vor allem die Beobachtung, dass zahlreiche der „deuteronomistischen“ Pentateuchredaktion zugeschriebenen Texte sich als nachpriesterschriftlich erweisen (vgl. die Texte mit der Glaubensthematik in Gen 15,6; Ex 4,1–9*.31; 14,31; 19,9; Num 14,11; 20,12; Dtn 1,32; 9,23; 2Kön 17,14 und dazu Schmitt; vor allem auch Blums nachpriesterliche Ansetzung seiner „Jos 24-Bearbeitung“). Diese spätdtr. Texte bemühen sich um eine theologische Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Strömungen des nachexilischen Judentums und betonen daher die für alle gültige zentrale Autorität Moses und seiner Tora. Als Folge dieses spätdtr. Moseverständnisses kam es dann wohl zu Beginn des hellenistischen Zeitalters zur Herauslösung der Darstellung des Mose (samt ihrem Prolog in der Ur- und Vätergeschichte) und damit des Pentateuch aus dem Geschichtswerk Gen 1 – 2Kön 25. Jedenfalls ist die Vorstellung von einem auf Gen 1 – Dtn 34 beschränkten Pentateuch in der Überlieferung von der Septuagintaübersetzung im Alexandrien des Ptolemäus II. (285–246) erstmals sicher zu greifen.
244
24.2.
Die Schriften des AT
Zentrale Themen der spätdtr. Redaktion
Thema „Glaube“, „vollständige Nachfolge (mille # #aharê)“ und „Bund“: Gen 15,1 – 21*; 32,10–13; Ex 4,1–16*.21–31*; 14,13f. 31; 19,3b-9; 24,3–8*; 34*; Num 14,11b-25*; 20,12*; 32,7–14; Dtn 1,32.36; 9,23; 2Kön 17,14. Thema „Hören auf die Stimme Jahwes“ (vgl. dazu Aurelius): Gen 22,15–18; 26,3b-5*; Ex 4,1.8; 19,3b-9; Num 14,11b-25*; Dtn 9,23; vgl. Jos 5,6; 24,24, Ri 2,2; 6,10; 1Sam 12, 14 f.; 2Kön 18,12. Stellvertretender Gehorsam Abrahams: Gen 22,15–18: 26,3b-5*.24; vgl. stellvertretenden Gehorsam Davids in 1Kön 11,13.32; 15,4; 2Kön 8,19 und stellvertretendes Leiden Moses in Dtn 1,37; 3,26; 4,21; vgl. auch Mose als Fürbitter: Ex 17,8–16*; 32,7–14; Num 14,11b-25*; Dtn 9,7–10,5*. Abgrenzung gegenüber den Fremdvölkern des verheißenen Landes: Gen 9,25–27; 10,16–18a; 15,1–21*; 35,1–7*; Ex 3,8*.17*; 13,1–16*; 23,20–33; 32–34*; Num 13,29; Dtn 7,1; 20,17; vgl. Jos 3,10; 9,1; 11,3; 12,8; 24,11; Ri 3,5; 1Kön 9,20. Mal #ak (Engel-) Thema (vgl. Blums „Mal #ak-Bearbeitung“): Gen 22,15–18; Ex 23,20–33*; 32–34*; Num 22,22–35; vgl. Ri 2,1–5. Josefgrab-Bezüge (vgl. Blums „Jos 24-Bearbeitung“): Gen 33,19; 35,1–7*; 50,24–25; Ex 13,19; vgl. Jos 24,19–24. 26a. 32–33; Ri 10,16, 1Sam 7,3–4.
24.3.
Theologie der Pentateuchredaktion
24.3.1. Gesetzesgehorsam und Verheißung Typisch für die spätdtr. Redaktion des Pentateuch ist die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen der Verheißung Jahwes an Abraham und dem Gehorsam Abrahams: So sieht Gen 22,15–18 den in Gen 22 gezeigten Gehorsam Abrahams als die Voraussetzung der Verheißung an Abraham an: „Weil du solches getan hast und deines einzigen Sohnes nicht verschont, will ich dein Geschlecht segnen …“. Die gleiche Vorstellung findet sich in Gen 26,3b-5* in der Verheißung an Isaak: „… dir und deinen Nachkommen will ich alle diese Länder geben …, weil Abraham meiner Stimme gehorsam gewesen ist und gehalten hat meine Rechte, meine Gebote, meine Weisungen und mein Gesetz“. Beachtenswert ist jedoch, dass die Verheißung an Isaak nicht von Isaaks Gehorsam abhängig gemacht wird, vielmehr ergeht die Verheißung wegen Abrahams Gehorsam (vgl. Van Seters, Blum, Schmitt). Dass die Verheißung hier im „stell-
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
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vertretenden Gehorsam“ Abrahams begründet ist, wird am deutlichsten in Gen 26,24, wo Gott die Verheißung an Isaak ausspricht „um Abrahams willen“ (vgl. die ähnliche Vorstellung, dass Gott den Davididen die Herrschaft über Juda belässt „um Davids willen“ in 1Kön 11,13.32; 15,4; 2Kön 8,19). Auch das stellvertretende Auf-sich-Nehmen der Strafe für das Volk durch Mose in Dtn 1,37; 3,26; 4,21 (vgl. den Zorn Jahwes über Mose „um Israels willen“) ist wohl in diesem Zusammenhang zu sehen. 24.3.2. Gesetzesgehorsam, „Bund“ und „Glaube“. Dass es in diesen spätdtr. Stellen nicht um Verheißungen geht, die von menschlichem Verhalten abhängig gemacht werden, wird vor allem an den zur gleichen Schicht gehörenden Stellen deutlich, die „Glauben“ thematisieren (Gen 15,1–21*; Ex 4,1–16*.21–31*; 14,31; 19,3–9*; Num 14,11b-23a; 20,12; Dtn 1,32; 9,23; vgl. 2Kön 17,14). Mit „Glauben“ ist dabei ein Verhalten gemeint, das trotz des entgegenstehenden Augenscheins an der Verheißung Jahwes festhält, wobei mit einer Stärkung dieses Glaubens durch Zeichen gerechnet wird (vgl. Ex 4,1–9*.31; 14,31). Dabei wird der Glaube durchweg als Folge und nicht als Voraussetzung der Verheißung verstanden. Besonders deutlich wird dies in Gen 15, wo in V. 1–6 vom Glauben Abrahams an die göttliche Verheißung gesprochen wird (in V. 6 ist entgegen der Auffassung von Oeming, Mosis und Rottzoll an der traditionellen Übersetzung festzuhalten: „Abraham glaubte Jahwe, und Jahwe rechnete es ihm als Gerechtigkeitstat an“: vgl. Neh 9,8) und dann in V. 7–21 in dem Bundesschlussritus eine bedingungslose Verheißung Gottes ergeht. Komplexer ist der Befund in Ex 19,3b-9. Hier wird zunächst auf die Heilstat Jahwes im Exodusgeschehen verwiesen (V. 4). Dann wird allerdings die Verheißung, dass Israel das Eigentumsvolk Jahwes sein soll, davon abhängig gemacht, dass die Israeliten auf Jahwes Stimme hören und seinen „Bund“ (berît) halten. Dabei ist mit berît die Verpflichtung Israels, Jahwes Gebote zu halten, gemeint (vgl. ähnlich Gen 18,19: Abraham soll seinem Hause befehlen, dass sie Jahwes Wege halten, auf dass Jahwe auf Abraham kommen lasse, was er ihm verheißen hat). Somit zeigt sich, dass im Rahmen der spätdtr. Theologie berît sowohl die bedingungslose Selbstverpflichtung Jahwes wie in Gen 15,18 als auch die Israel auferlegte Verpflichtung der göttlichen Gebote wie in Ex 19,5 bedeuten kann (Kutsch). Die Vorstellung, dass Israel verpflichtet ist, die Beziehung zu Gott in seiner Lebensführung zu konkretisieren, steht daher nicht im Widerspruch zu der Bedingungslosigkeit der Verheißung Jahwes. Zum Wesen des Jahweglaubens gehört daher auch, dass sich Israel nicht an den es umgebenden Völkern orientiert, sondern ihnen gegenüber seine Identität
246
Die Schriften des AT
wahrt. So wird in der spätdtr. Schicht Israel verpflichtet, keinen Bund mit den vorisraelitischen Bewohnern Palästinas zu schließen (vgl. die Jahwerede in Ex 34,11 f.: „Halte, was ich dir heute gebiete. Siehe, ich will vor dir ausstoßen die Amoriter, Kanaaniter, Hetiter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter. Hüte dich, einen Bund zu schließen mit den Bewohnern des Landes, in das du kommst, damit sie dir nicht zum Fallstrick werden in deiner Mitte“; ähnlich Gen 15,19–21; Ex 3,8*.17*; 13,5; 23,23.28; 33,2; Dtn 7,1; 20,17; vgl. Jos 3,10; 9,1; 11,3; 12,8; 24,11; Ri 3,5 etc.). Bemerkenswert ist hierbei schließlich auch der innere Zusammenhang, der an den genannten Pentateuchstellen zwischen dem Glauben an Jahwe (Gen 15,6; Ex 14,31; Num 14,11; 20,12; Dtn 1,32; 9,23) und dem Glauben an Mose (Ex 4,1.5.8.9.31; 14,31; 19,9) besteht. Mose ist als der zentrale Mittler zwischen Jahwe und Israel gesehen. An Jahwe glauben heißt hier daher: an den von Mose übermittelten Verheißungen und Geboten festhalten.
24.4.
Ausgewählte Literatur
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248
Die Schriften des AT
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§ 25
Das Deuteronomistische Geschichtswerk
25.1.
Die Entstehung der Geschichtsdarstellung von Dtn 1 – 2Kön 25
Für den vom Ende des Pentateuch bis zum Schluss des 2. Königsbuches bestehenden Zusammenhang sind in der Forschungsgeschichte des 20. Jh. verschiedene Erklärungsmodelle erarbeitet worden. 25.1.1. Urkundenhypothese Zunächst hat man versucht, die Urkundenhypothese, die sich am Pentateuch bewährt hatte, auch auf die Bücher anzuwenden, die im Kanon der Hebräischen Bibel als die „Vorderen Propheten“ auf den Pentateuch folgen. Vor allem ist hier Gustav Hölscher zu nennen (vgl. auch Eißfeldt), der damit rechnet, dass die jah-
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249
wistische Quelle bis 1Kön 12 (Abfall des Nordreichs vom Südreich) fortzuführen sei. Den Zusammenhang von Gen – 2Kön 25 führt Hölscher dann auf die „elohistische“ Quelle zurück. Diese Auffassung hat sich allerdings nicht durchsetzen können, da die anhand des Pentateuch erarbeiteten Kriterien für die Ausgrenzung von J und E sich an den Texten von Dtn – 2Kön nicht bewähren. 25.1.2. Unterschiedliche deuteronomistische (= dtr.) Redaktionen der einzelnen Bücher von Dtn – 2Kön Durchgesetzt hat sich demgegenüber die Auffassung, dass der Zusammenhang von Dtn – 2Kön auf dtr. Bearbeitung(en) zurückzuführen ist. Eine Reihe von Forschern sieht allerdings in den einzelnen Büchern von Dtn – 2Kön verschiedene dtr. Hände am Werk. So rechnet Georg Fohrer mit unterschiedlichen dtr. Verfassern von Deuteronomium, Josuabuch, Richterbuch und Samuel- und Königsbüchern. Norbert Lohfink nimmt eine frühe aus der Zeit Josias stammende dtr. Landnahmeerzählung an, zu der der Grundbestand von Dtn 1 – Jos 22 gehöre (DtrL). Auf dieser Grundlage hat Ernst Würthwein folgende Theorie von der Entstehung der Bücher Dtn – 2Kön entwickelt: In exilisch-nachexilischer Zeit wird zunächst eine knappe synchronistische Chronik der Könige von Israel und Juda (Dtr G) verfasst, die die Könige von Salomo bis Zedekia (1Kön 4,1 – 2Kön 25,7) einer Beurteilung von der dtr. Theologie her unterzieht. Spätere „prophetische“ Deuteronomisten (Dtr P) ergänzen dieses Werk und fügen vor es gleichzeitig die Überlieferungen der Samuelbücher über Saul und David. Auch entstehen eine dtr. Geschichte der Richterzeit und ein dtr. Landnahmebericht (nach Otto in Dtn und Jos), die beide schließlich den Samuel- und Königsbüchern vorangestellt werden (vgl. ähnlich auch Westermann, Rösel und Kratz). Als problematisch erweist sich an diesen Rekonstruktionen der Entstehungsgeschichte der Bücher Dtn – 2Kön, dass in ihnen die zwischen Texten des Deuteronomium, des Josua- und des Richterbuches und der Samuel- und der Königsbücher bestehenden theologischen Gemeinsamkeiten nicht genügend reflektiert sind. 25.1.3. Einheitliche dtr. Redaktion der Bücher von Dtn – 2Kön Diesen die Bücher von Dtn – 2Kön bestimmenden theologischen Zusammenhang hat Martin Noth in seinen „Überlieferungsgeschichtlichen Studien“ von 1943 durch die Annahme eines dtr. Verfassers der genannten Bücher zu erklären versucht. Zwar hat dieser für sein Geschichtswerk zahlreiche ältere schriftliche Quellen benutzt, sie jedoch durch zwei durchgängige redaktionelle Eingriffe aufeinander abgestimmt. Zum einen ist durch die dtr. Redaktion ein von der Mosezeit bis zum Ende des judäischen Königtums reichender einheitlicher chronologischer Rahmen ge-
250
Die Schriften des AT
schaffen worden (vgl. Dtn 1,3; 2,7.14; Jos 14,10; Ri 3,8.11 …; 1Kön 2,11; 6,1; 11,42; 14,21; 15,1.9.25.33 …). Zum andern hat die dtr. Redaktion Dtn – 2Kön durch Reden (Dtn 1–33* Abschiedsrede Moses; Jos 23 f.* Abschiedsrede Josuas; 1Sam 12 Abschiedsrede Samuels; 1Kön 8,14–61 Rede und Gebet Salomos bei der Tempelweihe) und durch Geschichtsreflexionen (Ri 2,11–3,6* Geschichtsbetrachtung über die Richterzeit; 2Kön 17,7–23 Geschichtsbetrachtung über den Untergang des Nordreichs) eine in sich zusammenhängende geschichtstheologische Sicht entwickelt. 25.1.4. Exilische Ergänzung eines vorexilischen Dtr. Geschichtswerks Allerdings finden sich innerhalb der redaktionellen Texte von Dtn – 2Kön theologische Differenzen, die für ein sukzessives Wachstum des Dtr. Geschichtswerks sprechen. Von Frank Moore Cross und seinen Schülern (in Deutschland vgl. auch Lohfink und Rendtorff) ist daher das sog. „Blockmodell“ entwickelt worden, das mit nachträglichen Erweiterungen eines vorexilischen Geschichtswerks rechnet. Häufig wird dieses Blockmodell in der von Cross entwickelten Form vertreten: Die ursprünglich aus der Zeit Josias stammende Fassung des Dtr. Geschichtswerks (DtrG1) endete mit dem Bericht über die Josiareform (2Kön 22,1–23,25), in dem noch mit einem natürlichen Tod Josias gerechnet wird (vgl. 2Kön 22,20). 2Kön 23,26–25,30 mit dem Bericht über den gewaltsamen Tod Josias und dem darauffolgenden Untergang des Südreiches führt Cross dagegen auf einen exilischen Ergänzer des DtrG (DtrG2) zurück. Dafür, dass das ursprüngliche DtrG den Untergang des Südreiches noch nicht berichtet habe, spreche auch die Tatsache, dass sich eine Geschichtsreflektion lediglich nach dem Untergang des Nordreichs fände (2Kön 17,7–23*). 25.1.5. Verschiedene dtr. Redaktionen in Dtn 1 – 2Kön 25 Die inhaltlichen Differenzen in den dtr. Texten werden von Rudolf Smend und seinen Schülern mit der Annahme mehrerer dtr. Redaktionsschichten innerhalb des DtrG erklärt. So liegt in Jos 1 neben einer dtr. Grundschicht in V. 1–6 eine weitere dtr. Schicht in V. 7–9 vor, die die Aufforderung an Josua von V. 6, getrost und unverzagt zu sein, aufgreift und sie mit der Aufgabe des Gesetzesgehorsams in Verbindung bringt: „dass du tust in allen Dingen nach dem Gesetz, das dir Mose geboten hat“ (V. 7). Aufgrund dieser Schichtung in Jos 1,1–9 unterscheidet Smend zwischen einem dtr. Historiker (DtrH) in V. 1–6 und einem späteren aus der spätexilischen oder nachexilischen Zeit stammenden dtr. Nomisten (DtrN) in V. 7–9, wobei innerhalb von DtrN zwischen verschiedenen Händen zu differenzieren ist (V. 7 und V. 8 f.).
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251
Mit einer entsprechenden dtr. Schichtung ist in Jos 23 f. zu rechnen. So berichtet Jos 24* vom Abschied Josuas beim „Landtag zu Sichem“, ohne dass das Thema Gesetz besonders betont wird (DtrH). Demgegenüber wird in Jos 23* (DtrN) in V. 6 zum „Halten des Gesetzes“ aufgefordert. Dabei bindet Jos 23 an diesen Gesetzesgehorsam die Vertreibung der nach der Landnahme noch im Lande gebliebenen Völker (vgl. dazu 23,4–5 und auch schon Jos 13,2–6). Die gleiche Vorstellung, dass wegen des mangelnden Gehorsams gegen Jahwe es nur zu einer teilweisen Vertreibung der palästinischen Fremdvölker gekommen ist, findet sich auch in Ri 1,1–2,5 (vgl. das sog. „negative Besitzverzeichnis“ in Ri 1,19.21.27–35). Timo Veijola hat darüber hinaus wahrscheinlich gemacht, dass wie die Abschiedsrede Josuas von Jos 23 auch die Abschiedsrede Samuels in 1Sam 12 zu DtrN gehört. Auch die königskritische Einstellung von 1Sam 12, nach der die Wahl eines irdischen Königs die Verwerfung des Königtums Jahwes darstellt (12,12) dürfte daher typisch für DtrN sein (vgl. 1Sam 8,7; 10,19 und Ri 8,22 f.). Rudolf Smend weist auch auf Beziehungen zwischen DtrN und einer Reihe von Pentateuchstellen hin (Ex 23,20–23; 34,11–16; Num 33,50–55; Dtn 7,1–5), ohne daraus allerdings redaktionsgeschichtliche Konsequenzen zu ziehen: Die weitere Forschung wird daher die Frage zu klären haben, inwieweit eine dtr. Pentateuchredaktion mit DtrN in Verbindung zu bringen ist. Neben DtrH und DtrN rechnen Smends Schüler Walter Dietrich und Timo Veijola auch noch mit einem prophetischen Deuteronomisten (DtrP; vgl. auch Würthwein und dazu oben 25.1.2.). Auf ihn führt Dietrich vor allen Dingen die von Einzelpropheten ausgesprochenen und mit Botenformel und Anklagen (Scheltworten) eingeleiteten Weissagungen gegen mehrere Könige einschließlich der entsprechenden Erfüllungsvermerke zurück (vgl. u. a. 1Kön 14,7.8–9.10–11; 15,29 f. Ahija von Silo gegen Jerobeam; 16,1– 4.11 f. Jehu gegen Bascha; 21,20–24; 22,38 Elia gegen Ahab; auch 2Sam 11,27b–12,15a Nathan gegen David). In der neueren Forschung werden diese gegen einzelne Könige und ihre Dynastien gerichteten und auf die Samuel- und Königsbücher beschränkten prophetischen Untergangsweissagungen jedoch meist weiterhin DtrH zugewiesen (vgl. zuletzt Beck). Demgegenüber dürfte sich die Differenzierung zwischen DtrH und DtrN bewährt haben. Allerdings ist statt DtrN besser von einem Spätdeuteronomisten (DtrS) zu sprechen (vgl. Kaiser und zuletzt Nentel). Festzuhalten ist auch an der These von Martin Noth, dass der Zusammenhang von Dtn 1 – 2Kön 25* erst von einem Deuteronomisten der Exilszeit geschaffen wurde (vgl. unten 25.2. und 4.).
252
25.2.
Die Schriften des AT
Aufbau des DtrG
Für die Annahme einer exilischen Entstehung des DtrH spricht bereits der Aufbau von Dtn 1 – 2Kön 25*. Als Prolog vorangestellt ist die Moserede von Dtn 1–34*, die eine Paränese zum alleinigen Vertrauen auf Jahwe und zum Gehorsam ihm gegenüber enthält und die damit die Kriterien für die Beurteilung der Geschichte Israels bis zur Katastrophe von 587 v. Chr. vorgibt. Diese Geschichte gliedert sich in die folgenden drei Perioden: I. II. III.
25.3.
Josuazeit (Jos 1–24*) als die vorbildliche Epoche der Geschichte Israels. Richterzeit (Ri 2,6 – 1Sam 12*), in der Israel immer wieder zum vorbildlichen Verhalten gegenüber Jahwe umkehrt. Königszeit (1Sam 13 – 2Kön 25*), die – abgesehen von den Regierungszeiten weniger judäischer Könige (u. a. David, Asa, Joschafat, Usija, Hiskia, Josia) – durchweg negativ beurteilt wird, so dass die Katastrophen von 722 (vgl. 2Kön 17) und von 587 (vgl. 2Kön 25) als unabwendbar erscheinen.
Von DtrH aufgenommene Quellen
25.3.1. Deuteronomium Für die These, dass das deuteronomische Gesetz erst nachträglich in DtrH eingefügt wurde, so dass nur Dtn 1–3*.31–34* Bestandteil von DtrH gewesen sei, spricht wenig. Angesichts der großen Bedeutung, die das Kultzentralisationsgebot von Dtn 12 für die dtr. Beurteilung der Geschichte Israels besitzt, muss ein Kernbestand des deuteronomischen Gesetzes in DtrH enthalten gewesen sein (vgl. oben § 23). 25.3.2. Josuabuch 25.3.2.1. Aufbau I. II.
Jos 1 Göttliche Beauftragung Josuas Jos 2–12 Eroberung des Westjordanlandes 2 Kundschaftererzählung 3–5 Jordanüberquerung bei Gilgal
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6 7–8 9 10 11 12
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Eroberung Jerichos Achans Diebstahl und die Eroberung von Ai List der Gibeoniten Schlacht bei Gibeon gegen Städtekoalition unter AdoniZedek von Jerusalem Schlacht am Wasser von Merom gegen Jabin von Hazor Liste der besiegten Könige
III.
Jos 13–21 Verteilung des Westjordanlandes mit Rückblick auf die Verteilung des Ostjordanlandes durch Mose 13 Ostjordanland (Ruben, Gad und Ostmanasse) 14–15 Juda 16–17 Ephraim und Manasse 18–19 Die restlichen 7 Stämme 20–21 Asyl- und Levitenstädte
IV.
Jos 22 Rückkehr der ostjordanischen Stämme und Bau des Altars am Jordan
V.
Jos 23–24 Abschiedsreden Josuas
25.3.2.2. Aufgenommene Quellen Volkmar Fritz geht davon aus, dass sich für Jos 1–12 keine durchgängigen vordtr. literarischen Quellen ermitteln lassen. Nur das Liedfragment Jos 10,12 f. („Sonne stehe still zu Gibeon und Mond im Tal Ajalon!“) wird auf ein dem Verfasser vorliegendes „Buch des Aufrechten“ zurückgeführt. Auf vorgegebene mündliche Überlieferung gehen wohl die Ortsätiologien von Jos 2* („Kundschafter in Jericho“); 8* („Eroberung von Ai“) und 10,16ff. („Könige in der Höhle von Makkeda“) zurück. Umstritten ist, ob darüber hinaus auch Jos 4* (vgl. V. 6 f.9.20–23); 5* (vgl. V. 9); 6* (vgl. V. 25); 7* (vgl. V. 26) und 9* (vgl. V. 27) alte benjaminitische Ortsätiologien enthalten (Alt) und diese von einem vordtr. „Sammler“ verschriftet worden sind (Noth). Nach Martin Noth ist dieser Sammler vor 900 v. Chr. anzusetzen, neuerdings denkt man meist an eine nach dem Untergang des Nordreiches (733 bzw. 722 v. Chr.) (sukzessiv?) entstandene Sammlung, da in ihr der Jordan als Ostgrenze Israels verstanden ist (vgl. Rose, Görg und Bieberstein). In Frage steht auch die These Albrecht Alts, dass hinter Jos 13–19* zwei Dokumente stehen: zum einen ein aus vorstaatlicher Zeit stammendes System der Beschreibung der Grenzen der (westjordanischen?) Stämme; zum andern eine in 12 Gaue gegliederte judäische Ortsliste aus der Zeit Josias. Meist wird heute damit gerechnet, dass auch die Grenzbeschreibungen erst auf Dokumente
254
Die Schriften des AT
der „königlichen Verwaltung“ (Fritz) zurückgehen. Literarisch zusammengefasst worden sind diese Listen jedenfalls erst in exilischer Zeit, entweder durch DtrH (Smend, Auld) oder durch Ps (Cortese, Schorn). 25.3.3. Richterbuch 25.3.3.1. Aufbau I. Ri 1,1–2,5
Eroberung des Westjordanlandes durch einzelne Stämme (sek. Einleitung durch DtrS)
II. Ri 2,6–16,31
Die charismatischen Führer der vorstaatlichen Zeit („Große Richter“) 2,6–3,6 geschichtstheologische Betrachtungen (DtrH + DtrS) zur Richterzeit 3,7–11 Otniel (DtrH) 3,12–30 Ehud aus Benjamin gegen Eglon von Moab 3,31 (Nachtrag) Schamgar gegen Philister 4–5 Barak aus Naftali und Debora aus Ephraim gegen Sisera/Jabin von Hazor 6–8 Gideon (Jerubbaal) aus Manasse gegen Midianiter 9 Abimelech als Sohn Gideons Stadtkönig von Sichem 10,1–5; 12,7–15 Kleine Richter (Tola, Jair, Jeftah, Ibzan, Elon, Abdon) 10,6–12,6 Jeftah aus Gilead gegen Ammoniter 13–16* Simson aus Dan gegen Philister
III. Ri 17–18:
(Anhang 1 durch DtrS?) Michas Bilderdienst und das Heiligtum von Dan
IV. Ri 19–21:
(Anhang 2 durch DtrS?) Schandtat Gibeas und der Krieg Gesamtisraels gegen Benjamin
25.3.3.2. Aufgenommene Quellen Wie Uwe Becker gezeigt hat, sind Ri 1,1–2,5/8? und Ri 17–21* dem Richterbuch erst nach DtrH zugewachsen (DtrS und später). Mit Ausnahme von Ri 19* (Erzählung über Schandtat in Gibea) dürften dabei keine älteren Quellen verwertet worden sein. Allerdings ist es möglich, dass dem „negativen Besitzverzeichnis“ von Ri 1,19.21.27–35 Nachrichten über kanaanäische Gebiete innerhalb Israels zugrunde liegen. Entgegen der Meinung von Becker ist jedoch innerhalb von Ri 3–16* in Ri 3,12–9,55* ein auf Nordreichtraditionen zurückgehendes „Retterbuch“ auf-
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255
genommen worden. Wolfgang Richter datiert dieses „Retterbuch“ in die 2. Hälfte des 9. Jh. v. Chr., es gibt jedoch Anzeichen, die auf eine Entstehung nach dem Untergang des Nordreiches hindeuten (Schmitt). Dieses Retterbuch ist durch DtrH und durch DtrS bearbeitet und zu seiner auch Otniel, Jeftah und Simson umfassenden Form Ri 3–16* erweitert worden. Ihm vorgegebenes Material hat DtrH auch mit der Liste der „Kleinen Richter“ in 10,1–5; 12,7–15* („Liste von Bezirksherrschern“ nach W. Richter) aufgenommen. 25.3.4. Samuelbücher 25.3.4.1. Aufbau I. II. III.
1Sam 1–3 Kindheitsgeschichte Samuels 1Sam 4–6 Erzählung von den Schicksalen der Heiligen Lade I 1Sam 7–12 Entstehung des Königtums königsfreundliche Darstellung: 9,1–10,16 Sauls Eselinnensuche und Salbung durch Samuel 11* Saul als charismatischer Führer gegen die Ammoniter königskritische Darstellung (DtrH + DtrS): 7–8* Samuels Philistersieg und Israels Wunsch nach einem König 10,17–27* Loswahl Sauls 12* Abschiedsrede Samuels
IV. 1Sam 13–15 Sauls Kriege und Verwerfung V. 1Sam 16–2 Sam 5 Geschichte vom Aufstieg Davids VI. 2Sam 6 VII. 2Sam 7 VIII. 2Sam 8
Erzählung von den Schicksalen der Heiligen Lade II Nathanverheißung Davids Unterwerfung der Nachbarvölker
IX. 2Sam 9–20 + 1Kön 1f. Geschichte von der Thronnachfolge Davids X. 2Sam 21–24 Einschübe in die Thronfolgeerzählung (durch DtrH und DtrS [22,1–23,7]) 21,1–14 Rache der Gibeoniten an den Sauliden 21,15–22 Helden Davids 22 Dankgebet Davids (= Ps 18) 23,1–7 Letzte Worte Davids 23,8–39 Helden Davids 24 Davids Volkszählung und der Altarbau auf der Tenne Araunas
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25.3.4.2. Aufgenommene Quellen Als vordtr. literarische Überlieferungen sind in den Samuelbüchern folgende Texte anzusehen: die Kindheitsgeschichte Samuels von 1Sam 1–3* (vgl. zuletzt Mommer); die Ladeerzählung von 1Sam 4–6*; 2Sam 6* (vgl. Schicklberger, der allerdings die Zugehörigkeit von 2 Sam 6 in Frage stellt); die königsfreundliche Darstellung der Entstehung des Königtums (1Sam 9,1–10,16* + 11,1–15*); die Erzählung von den Kriegen Sauls 1Sam 13–15*; die Erzählung vom Aufstieg Davids 1Sam 16 – 2Sam 5*; 8*?); die Erzählung von der Thronfolge Davids (2Sam 9–20* + 1Kön 1–2*). Die Auffassung von John Van Seters, dass die Thronfolgeerzählung erst nachdtr. entstanden sei, bewährt sich nicht (vgl. Kaiser). Von dieser vor allem auf Leonhard Rost zurückgehenden Differenzierung der vordtr. Überlieferung der Samuelbücher weicht Walter Dietrich in Folgendem ab: Nach ihm hat es neben den Büchern von „Davids Aufstieg“ und von „Davids Thronfolge“ ein „Buch von Sauls Aufstieg“ (1Sam 1–3; 7; 8–11*) und ein „Buch der Prophetengeschichten“ (vgl. zu ihm 1Sam 15; 28; 2Sam 12; 24) als den dtr. Redaktoren vorliegende Quellen gegeben. In der Datierung und in der Bestimmung der theologischen Intention dieser vordtr. Quellen der Samuelbücher besteht in der neueren Forschung kaum Konsens. Beispielhaft soll hier nur kurz auf die Diskussion über die Entstehung der Thronfolgeerzählung eingegangen werden: Normalerweise wird mit einem Beginn der Thronfolgeerzählung in 2Sam 9 gerechnet. Ernst Würthwein hält demgegenüber einen Einsatz der Erzählung erst mit 2Sam 10 für wahrscheinlicher. Andererseits legt es sich nach Leonhard Rost nahe, auch 2Sam 6,16.20 ff. und Teile von 2Sam 7 mit in die Thronfolgequelle hineinzunehmen. Gleichzeitig zeigt sich, dass 2Sam 9 ff. auch „Verzahnungen“ mit der Aufstiegsgeschichte (vor allem zu 2Sam 2,8–4,12 + 5,3a) aufweist (vgl. zuletzt Kaiser). Außerdem herrscht keine Einigkeit über die Intention dieser „Hofgeschichte“ (vgl. Van Seters: „Court History“): Während Rost als ihren Zielpunkt die Beantwortung der Frage von 1Kön 1,27 „Wer soll auf dem Thron Davids sitzen?“ ansieht und sie als ad maiorem gloriam Salomonis geschrieben beurteilt (vgl. zuletzt Seiler), erkennt Würthwein in ihrem Grundbestand eine antidavidische und antisalomonische Tendenz. Die Aussagen zugunsten Davids und Salomos gingen erst auf eine vordtr. Bearbeitung der späteren Königszeit zurück (so zuletzt auch Kaiser und Dietrich/Naumann). Auch sei mit eingehenden dtr. Bearbeitungen zu rechnen (vgl. hierzu auch Werner, der die beiden theologischen Deutestellen von 2Sam 11,27b und 17,14b auf dtr. Redaktionen zurückführt). Wieder andere halten an der literarischen Einheit von 2Sam 9–20 + 1Kön 1–2* fest, betonen aber gleichzeitig davidkritische (vgl. u. a.
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Seebass, Conrad) bzw. salomokritische Elemente der Erzählung (vgl. u. a. Crüsemann, Blum). Schließlich ist auch die Datierung der Thronfolgeerzählung umstritten. Meist wird zwar wie bei der übrigen Davidüberlieferung mit einer Entstehung in der Zeit Salomos gerechnet (vgl. zuletzt Seiler). John Van Seters hat jedoch eine Datierung in nachexilische Zeit vorgeschlagen (die Erzählung setze das dtr. Testament Davids 1Kön 2,1–12 voraus und habe eine antimessianische Tendenz). Demgegenüber hat sich Otto Kaiser für eine vordtr. Entstehung in der späteren Königszeit eingesetzt. 25.3.5. Königsbücher 25.3.5.1. Aufbau I.
II.
1Kön 1–11 1–2*
Geschichte Salomos Salomos Sieg im Machtkampf gegen Adonija (Ende der Thronfolgeerzählung) 3–5 Salomos Weisheit 4 Salomos Beamte und Bezirksvögte 5,15–9,9 Salomos Bau von Tempel und Palästen 9,10–10,29 Salomos Reichtum und der Besuch der Königin von Saba 11* Salomos Abgötterei und der Aufstand von Edom und Damaskus 11,26–43 Designation Jerobeams durch Ahija von Silo und Tod Salomos
1Kön 12–2Kön 17 Geschichte der getrennten Reiche Israel und Juda 1Kön 12 Reichstrennung 1Kön 17–19.21 + 2Kön 1 Eliageschichten 1Kön 17–18 Dürreerzählung 1Kön 19 Elia am Horeb 1Kön 21 Nabots Weinberg 2Kön 1 Einschreiten gegen die Befragung Baal Sebubs von Ekron durch Ahasja 1Kön 20 Aramäerkriegserzählungen mit Eingreifen anonymer Propheten 1Kön 22 Micha ben Jimla und die Hofpropheten Ahabs
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2Kön
2Kön 2Kön 2Kön
2–8; 13* Elisageschichten (1Kön 19,19–21 Berufung Elisas) 2 Himmelfahrt Elias und Einsetzung Elisas als Nachfolger 3 Moabiterkrieg 4+6,1–23+8,1–6 Wundergeschichtensammlung 5 Heilung Naemans durch Elisa 6,24–7,20 Belagerung Samarias 8,7–15 Designation Hasaels durch Elisa 13,14–21 Elisas letzte Taten 9–10 Jehurevolution 11 Sturz der Königin Atalja 17 Untergang des Nordreiches
III. 2Kön 18–25 Geschichte der Alleinexistenz Judas 2Kön 18–20 Jesajalegenden 18–19 Belagerung Jerusalems durch Sanherib (701 v. Chr.) 20,1–11 Hiskias Krankheit und Genesung 20,12–21 Hiskias Empfang einer Gesandtschaft von Babel 2Kön 22–23 Josiareform 2Kön 24 Erste Eroberung Jerusalems 2Kön 25,1–21 Zweite Eroberung und Zerstörung Jerusalems
25.3.5.2. Aufgenommene Quellen Häufig sieht man innerhalb des die Regierungszeit der einzelnen Könige formelhaft beschreibenden Rahmens der Königsbücher Vorstufen des von Dtn 1 – 2Kön 25 reichenden Dtr. Geschichtswerks. So rechnet Helga Weippert mit einer dreistufigen Entstehung dieses Rahmens: Die erste Stufe deckt die Zeit von Joschafat/Joram bis Ahas/Hoschea ab (1Kön 22,41 – 2Kön 17,1f.). In der zweiten Stufe wird das Königsbuch auf die Zeit von Rehabeam/Jerobeam (1Kön 14,21) bis Josia
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(2Kön 23,30) erweitert. In der dritten Stufe wird schließlich die Darstellung der letzten vier Könige hinzugefügt (2Kön 23,31–25,30). Nur zwei Stufen nimmt Jan W. Provan an: vorexilische Fassung der Königsbücher von 1Kön 1 – 2Kön 19*, erst eine exilische Bearbeitung stellt die bis 2Kön 25 reichende Fassung her. Schließlich rekonstruiert Ernst Würthwein eine aus der frühen Exilszeit stammende dtr. Grundschrift der Königsbücher, die von 1Kön 4,1 – 2Kön 25,7* reichte. Wenn auch die Frage nach solchen DtrH vorgegebenen Vorstufen der Königsbücher umstritten bleibt, so besteht doch darin Konsens, dass dem Rahmen der Königsbücher auf königliche Annalen zurückgehende Quellen zugrunde liegen. Die Königsbücher nennen drei Quellen, die offensichtlich Sammlungen von Auszügen aus den königlichen Annalen darstellen: 1. 2. 3.
das Buch der Geschichten Salomos (1Kön 11,41), das Tagebuch der Könige von Israel (vgl. 1Kön 14,19 – 2Kön 15,31), das Tagebuch der Könige von Juda (vgl. 1Kön 14,29 – 2Kön 24,5).
Aus ihnen entnommen sind folgende Angaben, die spätestens von DtrH zum Rahmen seiner Darstellung der einzelnen Könige zusammengestellt wurden: a. b. c. d. e. f.
der Synchronismus des Regierungsantritts (im Hinblick auf die Regierungszeit des Königs des jeweils anderen Staates), Regierungsdauer, Angaben über besondere Ereignisse der Regierungszeit, Tod, Begräbnis und Nachfolge, Alter bei Regierungsantritt, Name der Königsmutter, (e. und f. nur bei judäischen Königen).
Von DtrH zugesetzt ist die Wertung der Taten des Königs: „er tat, was Jahwe wohl gefiel bzw. was Jahwe missfiel“. Außerdem hat DtrH eine Reihe von Geschichtserzählungen in seine Königsdarstellungen aufgenommen (vgl. nur bei Salomo den Schluss der Thronfolgeerzählung in 1Kön 1–2* und bei Joram von Israel die Erzählung von der Jehurevolution in 2Kön 9–10*). Ein Großteil der Überlieferung der Königsbücher geht auf vordtr. Prophetenerzählungen zurück. Zu nennen sind hier vor allem die Eliaerzählungen (1Kön 17–19; 21; 2Kön 1), bei denen der Umfang der dtr. Bearbeitung umstritten ist. Teilweise wird mit relativ umfangreichen vordtr. Beständen gerechnet (Steck, Hentschel), teilweise werden nur wenige Texte als vordtr. angesehen (Würthwein: nur die Anekdoten 17,5–7*; 17,10–16*; 18,2a.17ab. 21– 45; 19,3–8*).
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Erst von DtrS aufgenommen worden sind die außerhalb des dtr. Rahmens der Königsbücher stehenden Elisaerzählungen (vgl. zuletzt S. Otto): Ihr Kernbestand setzt sich aus folgenden Erzählungen zusammen, die wohl noch aus der 1. Hälfte des 8. Jh. v. Chr. stammen: Aramäererzählungen 2Kön 5,1–14*; 8,7–15*; 13,14–17* und Wundergeschichtensammlung von 2Kön 4,1–8,6*. Aus dem Juda des 7. Jh. dürften die Erzählungen stammen, die Elisa als Nachfolger Elias verstehen: 1Kön 19,19–21*; 2Kön 2,1–24* (Schmitt: „Sukzessorsammlung“). Auch die Jesajalegenden (2Kön 18–20) zeigen dtr. Bearbeitung: So dürfte u. a. der zu 18,17–19,9a*.36 f.* parallele Bericht über Jesajas Verheißung angesichts einer Gesandtschaft Sanheribs 19,19b–36* eine „dtr. Komposition“ (Würthwein) darstellen. Vordtr. Tradition liegt jedoch in dem ersten Bericht über eine Gesandtschaft Sanheribs 18,17–19,9a*.36 f.* (entstanden wohl Ende des 7. Jh. v. Chr.), in der Erzählung von der Heilung Hiskias durch Jesaja (20,1–11*) und in dem Bericht über eine Gesandtschaft aus Babel (20,12–19*) vor.
25.4.
Entstehungszeit von DtrH
25.4.1. Terminus a quo Unter der Voraussetzung, dass DtrH Texte von Dtn 1 – 2Kön 25 umfasste (einschließlich 2Kön 25,27–30; vgl. hierfür zuletzt Aurelius) kann DtrH erst nach der in 2Kön25,27–30 berichteten Begnadigung Jojachins durch Awil-Marduk (562–560) im Jahre 561 v. Chr. (vgl. hierzu oben § 11.3.2.) abgefasst sein. 25.4.2. Terminus ad quem In der atl. Wissenschaft besteht weitgehend Konsens, dass DtrH noch während der Exilszeit entstanden ist. Die persische Eroberung Babylons im Jahre 539 v. Chr. wird in der Grundschicht DtrH des Dtr. Geschichtswerks nirgends vorausgesetzt (demgegenüber rechnen DtrS zuzuweisende Texte des Dtr. Geschichtswerks allerdings mit einer israelitischen Diaspora, die auch nach der Rückkehrmöglichkeit nach Juda weiter besteht: vgl. z. B. 1Kön 8,46–51; nur bei ihnen liegen somit Anzeichen für eine nachexilische Entstehung vor).
25.5.
Entstehungsort von DtrH
Seit Martin Noth rechnet man mit einer Entstehung des Dtr. Geschichtswerks in Palästina. Nur hier standen dem Verfasser die von ihm herangezogenen zahlreichen Quellen zur Verfügung. Eventuell kann sogar konkret an den im Norden
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von Jerusalem liegenden Ort Mizpa in Benjamin, der nach 587 v. Chr. zum Verwaltungszentrum Judas wurde (vgl. 2Kön 25,23; Jer 40 f.) gedacht werden. Dafür spricht, dass DtrH Mizpa mehrfach zum Versammlungsort Israels macht (vgl. 1Sam 7,5–7; 10,17) und benjaminitische Überlieferung stark berücksichtigt (z. B. in Jos 2–9*). Die gelegentlich vertretene Ansetzung von DtrH im babylonischen Exil (vgl. u. a. Soggin, Nicholson und Albertz) hat sich demgegenüber nicht durchsetzen können. Die dabei angenommenen Bezugnahmen des Dtr. Geschichtswerks auf die Situation der Gola (vgl. Dtn 4,29–31; 30,1–6; Jos 23,13–16; 1Kön 8,46–51; auch die Erwähnung der exilischen Sitte des Gebets in Richtung Jerusalem in 1Kön 8,35–38.42.44 [vgl. Dan 6,11]) dürften nicht auf DtrH, sondern erst auf DtrS zurückgehen (vgl. oben 25.1.5.).
25.6.
Die Theologie des DtrH
25.6.1. Die Grundlagen der theologischen Geschichtsbeurteilung Die Darstellung von Dtn 1 – 2Kön 25* DtrH verfolgt durchgehend das Ziel, eine Begründung für die Katastrophe von 587 v. Chr. zu geben. Dabei werden als Kriterien die Gebote von Dtn 6,4f. („Höre, Israel, Jahwe ist unser Gott, Jahwe allein …“) und die Kultzentralisationsforderung von Dtn 12,12–17 zugrunde legt. Wegen des Verstoßes gegen die Kultzentralisationsforderung („Sünde Jerobeams“: vgl. 1Kön 14,16 u. ö.) werden daher alle Nordreichkönige negativ beurteilt, so dass schon aufgrund dieser Beurteilung der Untergang des Nordreiches erklärbar wird (vgl. 2Kön 17,21–23* DtrH: „Jerobeam wandte Israel von Jahwe ab und ließ sie schwer sündigen. So wandelte Israel in allen Sünden Jerobeams, die er getan hatte, und sie ließen nicht davon ab, bis Jahwe Israel von seinem Angesicht wegtat“). Dabei wird allerdings der Verstoß Jerobeams gegen die Kulteinheit gleichzeitig als Verstoß gegen das erste Gebot verstanden (vgl. die Kritik an Jerobeam I. in 1Kön 14,9: „Du hast dir andere Götter gemacht, nämlich Gussbilder“). In diesem Sinne trifft der Vorwurf der Duldung des Höhenkultes auch nahezu alle judäischen Könige (Ausnahmen: David, Asa, Joschafat, Joasch, Amazja, Asarja/Usija, Jotam, Hiskia, Josia), so dass auch Juda sich die Strafe des Untergangs zuzieht. Gleichzeitig versteht DtrH den Untergang des Nord- und des Südreiches als Erfüllung der Botschaft der Propheten (2Kön 17,23 und 24,2), wobei hier die Propheten als Vertreter der Forderung der Alleinverehrung Jahwes und der Kultzentralisation angesehen werden.
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25.6.2. Die theologische Intention Nach Martin Noth bestand das Ziel der Geschichtsdarstellung des Deuteronomisten im Nachweis, dass der Untergang von Israel und Juda als gerechte Strafe Gottes für den Ungehorsam des Volkes zu verstehen ist. Eine Zukunftshoffnung, die mit einer Wende der Exilssituation rechnet, kenne der Deuteronomist nicht (Noth verweist auf die Vorstellung von einer langfristig andauernden Diasporasituation in 1Kön 8,46–51). Auch der Schluss des DtrG in 2Kön 25,27–30, der von der Begnadigung des Königs Jojachin durch den babylonischen König berichtet, darf seiner Meinung nach nicht als Hinweis auf eine positive Wende verstanden werden. Der Dtr berichtet darüber nur aus „Gewissenhaftigkeit und Ehrfurcht vor dem tatsächlichen Geschehen“ (Noth). Dass 2Kön 25,27–30 mit der Begnadigung Jojachins keine Zukunftserwartung verbinde, hat neuerdings noch einmal Ludwig Schmidt unterstrichen. Dass Jojachin nach V. 29f. „alle Tage seines Lebens“ am babylonischen Hofe verbrachte, sei als Hinweis auf den inzwischen eingetretenen Tod Jojachins zu verstehen: Die auf Jojachin gesetzten Erwartungen seien somit nicht in Erfüllung gegangen. Demgegenüber macht Gerhard von Rad darauf aufmerksam, dass die Gerichtsvorstellung des Deuteronomisten in den größeren Zusammenhang einer Theologie des schöpferischen Jahwewortes gestellt werden muss: So sind die Katastrophen von 722 (2Kön 17) und von 587 v. Chr. (2Kön 25) als Erfüllung der Flüche und Drohungen des Dtn (vgl. Dtn 27f.) anzusehen. Da jedoch das DtrG auch von göttlichen Verheißungen spricht (besonders große Bedeutung hat in ihm die Nathanverheißung über den dauernden Bestand des davidischen Königtums von 2 Sam 7) müssen auch diese Jahweworte als wirkmächtig angesehen werden. Auf diesem Hintergrund ist nach von Rad der das DtrG abschließende Bericht über die Begnadigung Jojachins mit der Nathanverheißung in Beziehung zu setzen: Zwar stelle die Begnadigung Jojachins keine Erfüllung der Nathanverheißung dar, doch schaffe sie die Möglichkeit des Neuanfangs eines davidischen Königtums und ermögliche damit eine neue messianische Hoffnung. Für eine solche Hoffnung verweist von Rad auch auf 1Kön 11,39 wonach Gott die Nachkommen Davids nicht für alle Zeiten bestrafen will (allerdings dürfte es sich bei 1Kön 11,39 um eine spätdtr. Stelle handeln). In anderer Weise sieht Hans Walter Wolff den Hoffnungsaspekt im Dtr. Geschichtswerk zum Ausdruck gebracht. Von Dtn 4,29–31; 30,1–10 angefangen bis hin zu 2Kön 17,13 weise das Dtr. Geschichtswerk auf die Umkehrforderung als die zentrale Botschaft Gottes an das Volk hin. Auch werde in 2Kön 23,25 Josia als Vorbild der Umkehr herausgestellt. Das DtrG verfolge somit die Intention, Israel zur Umkehr zu rufen und verbinde mit einer zukünftigen Umkehr des Volkes die Hoffnung auf eine neue Setzung Jahwes, die allerdings in 1Kön 8,46–51 sich nicht auf eine messianische Königserwartung beziehe (gegen von Rad). Vielmehr wird
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hier die Frage, worin sich die Vergebung Jahwes konkretisieren wird, bewusst offen gelassen. Schließlich zeige der in Ri 2,11–3,9* dargestellte schematische Ablauf der Richterzeit „Abfall – Strafe – Schreien zu Jahwe – Rettung durch Richter“, dass nach der Hinwendung zu Jahwe Hoffnung auf Rettung bestehe. Gegen Wolff hat jedoch Ludwig Schmidt gezeigt, dass es sich bei allen Stellen des DtrG, die eine Zukunftshoffnung mit der Forderung der „Umkehr“ verbinden, um spätdtr. Texte handelt (vgl. u. a. Dtn 4,29–31; 30,1–10; 1Kön 8, 46–51). Trotzdem ist – wie Rudolf Smend betont – dem auf DtrH zurückgehenden Richterschema (Ri 2,11–3,9*) zu entnehmen, dass DtrH durchaus die Hoffnung auf die Erweckung von Rettern durch Jahwe kennt. Im Sinne eines solchen – nicht unbedingt messianisch zu verstehenden – Weiterbestehens von Hoffnung ist auch der Schluss von DtrH mit dem Hinweis auf die Begnadigung Jojachins zu verstehen: DtrH stellt in 2Kön 25,27–30 heraus, dass Jojachin von Juda als Vasallenkönig öffentlich rehabilitiert wurde (Zenger), und will damit auf die Möglichkeit der Erfüllung der Nathanverheißung aufmerksam machen (vgl. auch Aurelius).
25.7.
Ausgewählte Literatur
25.7.1. Zum Dtr. Geschichtswerk Albertz, R.: Die Exilszeit. 6. Jh. v. Chr., Stuttgart 2001. –: Wer waren die Deuteronomisten? Das historische Rätsel einer literarischen Hypothese, in: Geschichte und Theologie. Studien zur Exegese des AT und zur Religionsgeschichte Israels. Hg. von I. Kottsieper und J. Wöhrle, Berlin/New York 2003, 279–301. Aurelius, E.: Zukunft jenseits des Gerichts. Eine redaktionsgeschichtliche Studie zum Enneateuch, Berlin/New York 2003. Beck, M.: Elia und die Monolatrie, Berlin/New York 1999. Braulik, G.: Die Theorien über das Dtr. Geschichtswerk (DtrG) im Wandel der Forschung, in: E. Zenger u. a., Einleitung in das AT, Stuttgart 72008, 191–212. Cross, F.M.: The Themes of the Book of Kings and the Structure of the Deuteronomistic History, in: Canaanite Myth and Hebrew Epic, Cambridge (Mass.) 1973, 274–289. Dietrich, W.: Prophetie und Geschichte, Göttingen 1972. –: Von David zu den Deuteronomisten. Studien zu den Geschichtsüberlieferungen des AT, Stuttgart 2002. –: Art. Deuteronomistisches Geschichtswerk, RGG4 2, 1999, 688–692. Eißfeldt, O.: Einleitung in das AT, Tübingen 1934; 31964. Fohrer, G.: Einleitung in das AT (begr. von E. Sellin), Heidelberg 121979. Hölscher, G.: Geschichtsschreibung in Israel, Lund 1952. Kaiser, O.: Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des AT 1, Gütersloh 1992. –: Pentateuch und Deuteronomistisches Geschichtswerk, in: Studien zur Literaturgeschichte des AT, Würzburg 2000, 70–133.
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Knoppers, G.N./Mc Conville, J.G. (Hg.): Reconsidering Israel and Judah. Recent Studies on the Dtr. History, Winona Lake (Indiana) 2000. Kratz, R.G.: Die Komposition der erzählenden Bücher des AT, Göttingen 2000. Lohfink, N.: Kerygmata des Deuteronomistischen Geschichtswerks in: Studien zum Deuteronomium und zur dtr. Literatur II, Stuttgart 1991, 125–142. Nentel, J.: Trägerschaft und Intentionen des deuteronomistischen Geschichtswerks, Berlin/New York 2000. Nicholson, E.W.: Preaching to the Exiles, Oxford 1970. Noth, M.: Überlieferungsgeschichtliche Studien, Halle 1943; Tübingen 31967. Oswald, W.: Staatstheorie im Alten Israel, Stuttgart 2009. Otto, E.: Das Deuteronomium im Pentateuch und Hexateuch, Tübingen 2000. Rad, G. von: Theologie des AT I, München 101992. Rendtorff, R.: Das AT. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 41992. Römer, T.: Israels Väter, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1990. Rösel, H.N.: Von Josua bis Jojachin, Leiden 1999. Schmidt, L.: Deuteronomistisches Geschichtswerk, in: H.J. Boecker u. a., AT, NeukirchenVluyn 51996, 127–141. Schmidt, W.H.: Einführung in das AT, Berlin/New York 51995. Smend, R.: Die Entstehung des AT, Stuttgart 41989. –: Das Gesetz und die Völker. Ein Beitrag zur deuteronomistischen Redaktionsgeschichte, in: Die Mitte des AT. Exegetische Aufsätze, Tübingen 2002,148–161. Soggin, J.A.: Der Entstehungsort des dtr. Geschichtswerks, ThLZ 100, 1975, 3–8. Van Seters, J.: In Search of History, New Haven/London 1983. Veijola, T.: Die ewige Dynastie, Helsinki 1975. –: Das Königtum in der Beurteilung der dtr. Historiographie, Helsinki 1977. –: Verheißung in der Krise, Helsinki 1982. Weippert, H.: Das deuteronomistische Geschichtswerk, ThR 50, 1985, 213–289. Westermann, C.: Die Geschichtsbücher des AT. Gab es ein deuteronomistisches Geschichtswerk?, Gütersloh 1994. Witte, M. u. a. (Hg.): Die deuteronomistischen Geschichtswerke, Berlin/New York 2006. Wolff, H.W.: Das Kerygma des dtr. Geschichtswerks, in: Gesammelte Studien zum AT, München 21973, 308–324. Würthwein, E.: Erwägungen zum sog. dtr. Geschichtswerk, in: Studien zum Dtr. Geschichtswerk, Berlin/New York 1994, 1–11. Zenger, E.: Die dtr. Interpretation der Rehabilitierung Jojachins, BZ NF 12, 1968, 16–30.
25.7.2. Zum Josuabuch (vgl. auch die Literaturangaben zu § 9) Alt, A.: Josua, in: Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel I, München 1953, 176–192. –: Das System der Stammesgrenzen im Buche Josua, in: Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel I, München 1953 , 193–202. –: Judas Gaue unter Josua, in: Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel II, München 1953, 276–288.
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266
Die Schriften des AT
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Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
267
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25.7.5. Zu den Königsbüchern (vgl. auch die Literaturangaben zu § 5, 6 und 11) Beck, M.: Elia und die Monolatrie, Berlin/New York 1999. Cogan, M.: 1 Kings, AncB 10, New York 2000. Fritz, V.: Das erste Buch der Könige, ZBKAT 10/1, Zürich 1996. –: Das zweite Buch der Könige, ZBKAT 10/2, Zürich 1998. Hentschel, G.: 1Könige, NEB, Würzburg 1984. –: 2Könige, NEB, Würzburg 1985. –: Die Elijaerzählungen, Leipzig 1977. Levin, C.: Erkenntnis Gottes durch Elia, in: Fortschreibungen. Gesammelte Studien zum AT, Berlin/New York 2003, 158–168. –: Josia im Deuteronomistischen Geschichtswerk, in: Fortschreibungen. Gesammelte Studien zum AT, Berlin/New York 2003, 198–216. Lemaire A.: Vers l’Histoire de la Rédaction des Livres des Rois, ZAW 98, 1986, 221–236. Otto, S.: Jehu, Elia und Elisa, Stuttgart 2001. –: The Composition of the Elijah-Elisha Stories and the Deuteronomistic History, JSOT 27, 2003, 487–508. Provan, I.W.: Hezekiah and the Book of Kings, Berlin/New York 1988. Pruin, D.: Geschichten und Geschichte. Isebel als literarische und historische Gestalt, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 2006. Schmitt, H.-C.: Elisa, Gütersloh 1972. Smend, R.: Die Entstehung des AT, Stuttgart 41989. Steck, O.H.: Überlieferung und Zeitgeschichte in den Elia-Erzählungen, NeukirchenVluyn 1968. Stipp, H.-J.: Elischa – Propheten – Gottesmänner, St. Ottilien 1987. Thiel, W.: Könige II: I,17 ff., BKAT 9/2, Neukirchen-Vluyn 2000 ff. Weippert, H.: Die „dtr“ Beurteilungen der Könige von Israel und Juda und das Problem der Redaktion der Königsbücher, Bib 53, 1972, 301–339. Werlitz, J.: Die Bücher der Könige, NSKAT 8, Stuttgart 2002. Würthwein, E.: Die Bücher der Könige, ATD 11, Göttingen 1984.
268
Die Schriften des AT
§ 26
Das Chronistische Geschichtswerk
26.1.
Die These eines Chronistischen Geschichtswerks
26.1.1. Der Name „Chronikbücher“ Der Name „Chronikbücher“ geht auf Hieronymus zurück, der das im masoretischen Kanon mit dibrê hajj¯amîm („Tagebücher“) überschriebene Buch (1/2Chr) mit „chronicon totius divinae historiae“ bezeichnet (im Prologus galeatus zu den [Samuel-]Königsbüchern der Vulgata). In der LXX tragen die Chronikbücher den Titel paraleipómena = „(in den anderen Geschichtsbüchern) Ausgelassenes“. 26.1.2. Begründung der Zusammengehörigkeit von 1/2Chr und Esr/Neh Seit dem 19. Jh. wird eine ursprüngliche Zusammengehörigkeit von 1/2Chr und Esr/Neh angenommen und 1/2Chr + Esr/Neh nach den voranstehenden „Chronikbüchern“ als „Chronistisches Geschichtswerk“ bezeichnet. Gründe für diese Annahme sind der unmittelbare Anschluss von Esra 1 an 2Chr 36, der sich an der Wiederholung von 2Chr 36,22 f. in Esr 1,1–3a* zeigt, und die engen sprachlichen Gemeinsamkeiten (vgl. dazu zuletzt D. Talshir) und die theologischen Übereinstimmungen zwischen 1/2Chr und Esra/Neh (besonderes Interesse an den Leviten und an der Beschreibung des Tempelkultes, Verbindung von Wendepunkten der Geschichte Israels/Judas mit Festen in 2Chr 7; 30; 35 und in Esr 3; 6; Neh 8). Dass 1/2Chr und Esr/Neh in den atl. Textüberlieferungen getrennt tradiert werden, ist nach dieser Auffassung darin begründet, dass zunächst nur Esr/Neh kanonisiert wurde, weil nur hier die die Geschichtsdarstellung von Pentateuch und Dtr. Geschichtswerk weiterführenden Berichte vorliegen. 26.1.3. Unterschiede zwischen 1/2Chr und Esr/Neh Gegenüber diesem Konsens der traditionellen Forschung ist in den letzten Jahrzehnten die Eigenständigkeit von 1/2Chr gegenüber Esr/Neh betont worden (vgl. besonders Japhet, Williamson). Vor allem wird auf gegenüber Esr/Neh unterschiedliche theologische Grundeinstellungen in den Chronikbüchern aufmerksam gemacht: So würden in Gegensatz zu Esr 9f.; Neh 13,23 ff. in den Chronikbüchern Mischehen toleriert (vgl. 1Chr. 2,3, wo eine negative Qualifizierung der Heirat Judas mit einer Kanaanäerin fehle; auch 2Chr 2,13 f. u. ö.). Auch finde sich die antisamaritanische Tendenz von Esr 4,1 ff. (Samaritaner dürfen nicht am Tempelbau Serubbabels teilnehmen) in den Chronikbüchern nicht (vgl. nur die Einladung Hiskias an die Bewohner des ehemaligen Nordrei-
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
269
ches zur Feier des Passafestes im Jerusalemer Tempel in 2Chr 30,5 ff.). Andererseits spiele der für die Theologie der Chronikbücher zentrale Glaube an einen unmittelbaren auf das Individuum bezogenen Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen (vgl. 2Chr. 26,16–21; 33,1.11–13) in Esr/Neh keine Rolle. 26.1.4. Ergebnis der neueren Diskussion Obwohl Esra/Nehemia und die beiden Chronikbücher in den atl. Textüberlieferungen durchgängig getrennt tradiert werden und eine relative Selbstständigkeit besitzen, sprechen die genannten theologischen und sprachlichen Übereinstimmungen zwischen diesen Schriften für eine aufeinander bezogene Entstehungsgeschichte von 1/2Chr und Esr/Neh. Beide Schriften dürften daher auf die gleiche chronistische Schule zurückgehen (vgl. Oeming, Steins), die beide wahrscheinlich auch miteinander in Beziehung gesetzt hat. Die aufgezeigten theologischen Unterschiede sind daher nicht prinzipieller Natur, sondern erklären sich aus dem jeweils vorgegebenen Stoff bzw. aus situationsbedingten theologischen Akzentverschiebungen innerhalb der chronistischen Schule (vgl. Gunneweg, Blenkinsopp, Pohlmann).
26.2. I.
II.
Aufbau 1Chr 1–9 2–4 5,27–6,66 8,1– 40
Genealogische Vorhalle: Von Adam bis David Juda Levi Benjamin
1Chr 10–29 10 11–12 13–17
Geschichte Davids Untergang Sauls Krönung Davids Überführung der Lade nach Jerusalem und göttliche Ablehnung eines Tempelbaus Davids Davids Kriege Davids Planung des von Salomo zu errichtenden Tempelkultes
18–20 22–29 III.
2Chr 1–11 2–7
Geschichte Salomos Tempelbau und -weihe
IV.
2Chr 12–36 14–16 17–20
Geschichte der Könige von Juda Asa Joschafat
270
Die Schriften des AT
29–32 34–35 36
Hiskia Josia Letzte Könige, Ende Judas und Kyrusedikt
V.
Esr
1–6 1 2 4,6–6,18
Bau des Zweiten Tempels Kyrusedikt und Rückwanderung der Exulanten Heimkehrerliste Chronik des Wiederaufbaus Jerusalems (aramäisch)
VI.
Esr
7–10 7,12–26
Esra-Erzählung Artaxerxes-Erlass (aramäisch)
VII.
26.3.
Neh 1–13*
Nehemia-Denkschrift Einschübe u. a.: 7* Heimkehrerliste (= Esr 2) 8–10* „Synagogen“-Gottesdienst im Freien mit Gesetzesverlesung durch Esra und Verpflichtung des Volkes auf das Gesetz 11–12* Einwohner-, Priester- und Leviten-Listen
Quellen
26.3.1. Quellen der Chronikbücher Im Bereich von 1/2Chr hat den chronistischen Verfassern im Wesentlichen nur das Deuteronomistische Geschichtswerk und der Pentateuch vorgelegen, die wahrscheinlich zu dem Gen 1 – 2Kön 25 umfassenden „spätdeuteronomistischen“ Geschichtswerk verbunden waren (vgl. oben § 24). Die sich in den Chronikbüchern findenden Verweise auf Quellen wie auf „das Buch der Könige von Juda und Israel“ (vgl. 2Chr 16,11) oder auf „die Geschichte des Propheten Nathan“ bzw. auf „die Geschichte des Sehers Gad“ (vgl. 1Chr 29,29) beziehen sich nur auf Materialien, die Gen 1 – 2Kön 25 entstammen. Das wenige chronistische Sondergut stellt meist Eigenbildung der Chronisten dar (vgl. Welten; Ausnahme: die Festungsliste Rehabeams von 2Chr 11,5b–10a). 26.3.2. Quellen von Esra/Neh Anders ist der Befund im Bereich der Bücher Esra/Neh. Hier ist sich die Forschung darüber weitgehend einig (anders allerdings Becker), dass dem Chronisten eine Reihe älterer Dokumente zur Verfügung standen.
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
271
Das wichtigste dieser Dokumente stellt die Nehemiadenkschrift dar, die in Neh 1,1–7,5*; 12,27–43*; 13,4–31* vorliegen dürfte. Sie hebt sich durch eine Reihe von stilistischen Besonderheiten von ihrem Kontext ab. Vor allem spricht in ihr Nehemia durchgehend in der „Ich-Form“. Charakteristisch ist auch die Gebetsformel: „Gedenke mir, mein Gott, zum Guten …“ in Neh 5,19; 13,14 (vgl. 13,22.31). Auch unterscheidet sich die Denkschrift von ihrem Kontext in der Art der Monatsangaben (Monate durch „Namen“ wiedergegeben: 1,1 Kislew; 2,1 Nisan; sonst Monatsbezeichnung durch Zahlen: 8,2 siebter Monat). Es spricht alles dafür, dass Nehemia, der von 445–433 im Auftrag des persischen Königs in Jerusalem Statthalterfunktionen wahrnahm, selbst der Verfasser dieser „Denkschrift“ gewesen ist. Demgegenüber liegt Esr 7–10 bzw. Neh 8–10 keine entsprechende Esra-Denkschrift zugrunde. Vielmehr dürfte der Chronist seinen Esra-Bericht in Anlehnung an die Nehemia-Denkschrift gestaltet haben (vgl. das allerdings nicht konsequent gebrauchte „Ich“ Esras in Esr 7,28; 8,15–17 etc. und dagegen 10,10 etc.). Den Chronisten vorgegeben war hier wohl nur das in Esr 7,12–26* vorliegende aramäische Dokument mit einem Erlass des persischen Königs Artaxerxes, der Esra vor allem mit der Visitation der jüdischen Kultgemeinde nach dem Maßstab des jüdischen Gesetzes beauftragt (Kellermann; für chronistisch hält das Stück Gunneweg). Offen bleibt, ob es sich bei dem persischen König um Artaxerxes I. (464–424 v. Chr.) oder um Artaxerxes II. (404–359 v. Chr.) handelt, so dass die Datierung der Beauftragung Esras in das 7. Jahr dieses Königs sich entweder auf das Jahr 458 v. Chr. oder auf das Jahr 398 v. Chr. beziehen kann (vgl. oben § 12.2.). Den Chronisten vorgegeben war schließlich ein weiterer aramäischer Text in Esr 4,6–6,18, der eine Chronik über den Wiederaufbau Jerusalems enthält. Ob in dieser aramäischen Chronik alte Urkunden verarbeitet sind (so zuletzt Williamson) oder ob es sich hier um fiktive Dokumente handelt (so u. a. Gunneweg), ist umstritten. Ein älteres Dokument stellt wohl die (Heimkehrer? –) Liste von Esr 2 dar (später aufgenommen in Neh 7). 26.3.3. Die Annahme eines mehrschichtigen Entstehungsprozesses des Chronistischen Geschichtswerks Nach Martin Noth und Wilhelm Rudolph ist das Chronistische Geschichtswerk nicht in seiner ursprünglichen Gestalt erhalten. Vielmehr sei mit beträchtlichen Erweiterungen (vgl. u. a. 1Chr. 23–27*) durch einen an Listen interessierten nachchronistischen Ergänzer zu rechnen: Auch in der genealogischen Vorhalle 1Chr 1–9 gehe ein Großteil des Listenmaterials erst auf den Ergänzer zurück. Aufgrund des Befundes, dass im deuterokanonischen Buch 3Esra auf Esra 1–10 direkt Neh 8 folgt, vertritt Karl-Friedrich Pohlmann die These, dass die NehemiaDenkschrift erst nachchronistisch in das Geschichtswerk eingefügt wurde.
272
Die Schriften des AT
Allerdings steht die neuere Forschung der Annahme umfangreicher nachchronistischer Ergänzungen eher zurückhaltend gegenüber. Gegen Pohlmann wird eingewandt, dass 3Esra kein Frühstadium des Chronistischen Werkes spiegelt, sondern ein unter Benutzung der vorliegenden atl. Bücher entstandenes Werk darstellt (Gunneweg). Auch sind Spannungen innerhalb der chronistischen Darstellungen nicht auf nachchronistische Erweiterungen zurückzuführen. Vielmehr erklären sie sich durch einen über längere Zeit tätigen Verfasserkreis (schriftgelehrte „Schule“; vgl. vor allem Kratz).
26.4.
Entstehungsort
Über die Entstehung des chronistischen Werkes in „theokratischen“ Kreisen des Jerusalemer Kultpersonals herrscht in der atl. Wissenschaft Konsens.
26.5.
Entstehungszeit
Sehr kontrovers beurteilt wird demgegenüber die Frage nach der Entstehungszeit. Als terminus a quo wird angesichts des Rückblicks auf Esra (458/398 v. Chr.) und Nehemia (445–433 v. Chr.) die Zeit um 400 v. Chr. angesehen. Ein terminus ad quem ergibt sich aus der Aufnahme des chronistischen Davidbildes durch den um 180 v. Chr. anzusetzenden Jesus Sirach (Sir 47,8–10 David als Begründer des Tempelgottesdienstes; anders Steins). Da sich im Chronistischen Geschichtswerk kein eindeutiger hellenistischer Einfluss zeige, wird oft mit einer Enstehung in der 1. Hälfte des 4. Jh. v. Chr. gerechnet (vgl. u. a. Kalimi). Andererseits vermutet man das 3. Jh. v. Chr., weil die zahlreichen Kriegstexte des Chronistischen Geschichtswerks die militärischen Bedrohungen, wie sie während der Syrischen Kriege des 3. Jh. zwischen Ptolemäern und Seleukiden gegeben waren, widerzuspiegeln scheinen (vgl. besonders Welten). Mit einer Entstehung erst im 2. Jh. v. Chr. rechnet Georg Steins: Nach ihm sind die Chronikbücher eigens als Abschluss des dritten Kanonteils („Ketubim“) verfasst worden und von daher in den Rahmen der frühmakkabäischen Restauration einzuordnen.
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
26.6.
273
Theologie des Chronistischen Geschichtswerks
26.6.1. Zentrale Bedeutung des Tempelgottesdienstes Wie 2Chr 7,1–3 zeigt, ist die Erfahrung der Gegenwart Gottes an den Opfergottesdienst im Tempel gebunden. Hier erscheint der k¯abôd Gottes, wobei der Tempel in Kontinuität zu dem am Sinai errichteten Begegnungszelt (Ex 25 ff.) steht. Allerdings wird die für den Tempel gültige Kultordnung der Tora durch David als neuem Mose fortgeschrieben (vgl. 1Chr 25.23–26). Einen zentralen Inhalt des Tempelkultes stellen die Wallfahrtsfeste (2Chr 7,8–10: Laubhüttenfest; 2Chr 30 und 35; Esra 6,19–22: Passafest) dar, zur Teilnahme an denen auch die Stämme des ehemaligen Nordreiches aufgerufen sind (vgl. 2Chr 30,1–11; allerdings nehmen zur Zeit Hiskias nur wenige diese Einladung an: V. 11). Neben dem Tempelgottesdienst rechnen die Chronisten jedoch auch mit „synagogalen“ Toralesungen außerhalb des Tempels (Neh 8), die die zentrale Bedeutung des Toragehorsams einschärfen (vgl. in den Chronikbüchern 2Chr 33,8). 26.6.2. Abgrenzung gegenüber der Religiosität von Nichtisraeliten Um diesen der Tora des Mose entsprechenden Kult zu sichern, fordern die chronistischen Verfasser die Abgrenzung gegenüber Personen, die sich an einem heidnischen Kult orientieren. So kritisiert der König Abija Jerobeam und Israel, weil sie die Aaroniden und die Leviten verworfen und sich eigene Priester wie die Völker gemacht haben (2Chr 13,9). Es geht hier also nicht um eine grundsätzliche (antisamaritanische) Ablehnung der Nordstämme, sondern um die Kritik an einem Verhalten Israels, das dem der Völker entspricht (vgl. die ähnliche Kritik in 2Chr 30,6–8). Auch in Esr 4,1–3 wird nicht Gliedern der Nordstämme die Mitarbeit am Tempelbau verweigert, sondern Personen, die zu den nach Samarien deportierten Fremdvölkern gehören. Schließlich richtet sich auch das Mischehenverbot nur gegen die Gefährdung des Jahweglaubens durch Frauen aus den Heidenvölkern (vgl. Neh 13,23–27 und Esr 9,10–10,44). 26.6.3. Verständnis des Königtums Vom Kult her wird im chronistischen Werk auch das Königtum und damit die politische Macht verstanden. So interpretiert die chronistische Fassung der Nathanverheißung in 1Chr 17,14 das Königtum Davids und Salomos als „Königtum Jahwes“ („ich will ihn einsetzen in mein Königtum“): Irdisches Königtum und Königtum Jahwes stehen anders als in 1Sam 8,7 etc. nicht im Widerspruch
274
Die Schriften des AT
zueinander, vielmehr besteht die Aufgabe des Königtums primär in der Sicherung der richtigen Verehrung Jahwes. So ist David im chronistischen Werk in erster Linie der Planer des zukünftigen Tempelkultes (1Chr 21–29), wobei seine vorbildliche Orientierung an der Tora betont wird (vgl. u. a. 2Chr 7,17) und alle im DtrG (vor allem in 1Sam 11–20) überlieferten negativen Züge der Davidgestalt unterdrückt sind. In gleicher Weise wird in der Nathanverheißung von 1Chr 17,11 f. als Hauptaufgabe des Nachkommens Davids (Salomo) der Tempelbau herausgestellt. Da mit dem Königtum keine politischen Hoffnungen verbunden sind, findet sich im chronistischen Werk (trotz der Klage über die Fremdherrschaft in Neh 9,36 f.) auch kein Messianismus. Vielmehr kann Esr 9,7–9 das persische Königtum insofern anerkennen, als es Juda „einen festen Halt an seiner heiligen Stätte gegeben hat“ (V. 8) und somit wie vorher die Könige des Gottesvolkes die vom König zu verlangenden kultischen Aufgaben erfüllt (vgl. hierzu auch Esr 1,1–3; 3,7; 6,14). 26.6.4. Erwartung einer individuellen Vergeltung Dass die Chronik keine messianische Zukunftshoffnung besitzt, wird auch an ihrer Vergeltungsvorstellung deutlich. Für sie wird der Zusammenhang von Tun und Ergehen nicht erst eschatologisch hergestellt. Vielmehr ist er in jeder einzelnen Biographie individuell zu erfahren: So erklärt sich der Aussatz des Königs Usija – anders als in 2Kön 15,5 – durch ein Vergehen dieses Königs gegen die von Gott eingesetzten Rechte des Priestertums (vgl. 2Chr 26,16 ff.). So muss andererseits aber auch eine außergewöhnlich lange Regierungszeit wie die des Königs Manasse (vgl. 2Kön 21,1: 55jährige Regierung) in einem vorbildlichen Verhalten dieses Königs begründet sein: Daher rechnen die Chronisten mit einer Bekehrung Manasses während einer angenommenen Gefangenschaft des Königs in Babylon (vgl. 2Chr 33,11–13). Die Botschaft, die so vermittelt wird, heißt: Die Zuwendung zu Jahwe, wie sie der Jerusalemer Tempelkult und die Tora des Mose ermöglichen, ist die Voraussetzung für ein langes und erfolgreiches Leben.
26.7.
Ausgewählte Literatur
Becker, J.: 1 Chronik, NEB, Würzburg 1986. –: 2 Chronik, NEB, Würzburg 1988. –: Esra/Nehemia, NEB, Würzburg 1990. Blenkinsopp, J.: Ezra-Nehemia, OTL, London 1989.
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
275
Grabbe, L.L.: Ezra-Nehemiah, London 1998. Gunneweg, A.H.J.: Esra, KAT 19/1, Gütersloh 1985. –: Nehemia, KAT 19/2, Gütersloh 1987. –: Zur Interpretation der Bücher Esra-Nehemia, in: Sola Scriptura 2. Aufsätze zu atl. Texten und Themen. Hg. von P. Höffken, Göttingen 1992, 9–24. Hieke, T.: Die Bücher Esra und Nehemia, NSKAT 9/2, Stuttgart 2005. Japhet, S.: I & II Chronicles, OTL, London 1993. –: Art. Chronikbücher, RGG4 2, 1999, 344–348. –: 1 Chronik, HThKAT, Freiburg 2002. Jonker, L.C.: Reflections of King Josiah in Chronicles. Late Strategies of the Josiah Reception in 2 Chr 34 f., Gütersloh 2003. Kaiser, O.: Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des AT 1, Gütersloh 1992. Kalimi, J.: Zur Geschichtsschreibung des Chronisten, Berlin/New York 1985. –: Die Abfassungszeit der Chronik – Forschungsstand und Perspektiven, ZAW 105, 1993, 223–233. Karrer, C.: Ringen um die Verfassung Judas. Eine Studie zu den theologisch-politischen Vorstellungen im Esra-Nehemia-Buch, Berlin/New York 2001. Kegler, J./Augustin, M.: Deutsche Synopse zum Chronistischen Geschichtswerk, Frankfurt a. M. 1993. Kellermann, U.: Nehemia, Berlin 1967. –: Erwägungen zum Esragesetz, ZAW 80, 1968, 373–385. Koch, K.: Art. Nehemia/Nehemiabuch, RGG4 6, 2003, 174–177. –/Lehnardt, A.: Art. Esra/Esrabücher, RGG4 2,1999, 1581–1588. Kratz, R.G.: Die Komposition der erzählenden Bücher des AT, Göttingen 2000. Mathys, H.-P.: Chronikbücher und hellenistischer Zeitgeist, in: Vom Anfang und vom Ende, Frankfurt a. M. 2000, 41–155. McKenzie, S.L.: 1–2 Chronicles, Abington OT Commentaries, Nashville 2004. Mosis, R.: Untersuchungen zur Theologie des chronistischen Geschichtswerks, Freiburg 1973. Noth, M.: Überlieferungsgeschichtliche Studien, Halle 1943; Tübingen 31967. Oeming, M.: Das wahre Israel. Die „genealogische Vorhalle“ 1 Chronik 1–9, Stuttgart 1990. Pohlmann, K.F.: Studien zum dritten Esra, Göttingen 1970. –: Zur Frage von Korrespondenzen und Divergenzen zwischen den Chronikbüchern und dem Esra-Nehemia-Buch, in: Congress Volume Leuven 1989, Leiden 1991, 314–330. Rudolph, W.: Esra und Nehemia samt 3.Esra, HAT I/20, Tübingen 1949. –: Chronikbücher, HAT I/21, Tübingen 1955. Saebø, M.: Art. Chronistische Theologie/Chronistisches Geschichtswerk, TRE 8, 1981, 74–87. Schunck, K.-D.: Nehemia, BKAT 23/2, Neukirchen-Vluyn 2009. Schwiderski, D.: Handbuch des nordwestsemitischen Briefformulars. Ein Beitrag zur Echtheitsfrage der aramäischen Briefe des Esrabuches, Berlin/New York 2000. Steins, G.: Die Chronik als kanonisches Abschlußphänomen, Weinheim 1995.
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§ 27
Das Buch Rut
27.1.
Aufbau
Die Novelle gliedert sich in vier Abschnitte, die sich mit den jeweiligen Kapiteln decken: I. 1
Rückkehr der Noomi nach Bethlehem 1–5 Vorgeschichte: Auswanderung der Familie der Noomi nach Moab, Heirat der Söhne mit Moabiterinnen, Tod des Mannes und der Söhne der Noomi 6–14 Trennung der Schwiegertochter Orpa von Noomi 15–19a Entscheidung der Schwiegertocher Rut für Noomi 19b–22 Klage Noomis in Bethlehem
II. 2
Ruts Begegnung mit Boas auf dem Ährenfeld 1–17 Rut liest Ähren auf dem Feld des Boas und findet Anerkennung bei ihm 18–23 Deutung der Begegnung Ruts mit Boas durch Noomi: Boas als einer der „Löser“
III. 3 Ruts Begegnung mit Boas auf der Tenne 1–5 Noomis Plan einer Ehe zwischen Boas und Rut 6–15 Rut begibt sich nachts zu Boas auf die Tenne und bittet ihn als „Löser“ darum, sie zu heiraten 16–18 Positive Deutung der Begegnung durch Noomi
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
277
IV. 4 „Lösung“ für Noomi in Bethlehem 1–8 Verzicht des ersten Lösers auf Rut im Tor von Bethlehem 9–13a Boas entscheidet sich, Rut zu heiraten 13b–17a Geburt eines Sohnes als Nachkomme Noomis (17b–22 Genealogie Davids)
27.2.
Entstehung des Buches
Einerseits wird die Auffassung vertreten, dass die Ruterzählung das Ziel verfolge, die „Moabitertradition, die der davidischen Herkunft anhaftete, … unschädlich zu machen“ (Gerleman, vgl. ähnlich Rudolph und Scharbert), andererseits nimmt man (Würthwein, Zenger) doch wohl zu Recht an, dass der Bezug auf David (4,17b.18–22) erst sekundär hergestellt worden ist (nichts deutet vor 4,17b auf einen Davidbezug hin): Wie zuletzt Zenger gezeigt hat, gehen 1,1a; 4,7–8a(?).11b–12(?).14b(?).17a(?).17b–22 auf eine spätnachexilische „messianische“ Bearbeitung des Rutbuches zurück (die Genealogie von 4,18–22 dürfte von dem in 1Chr 2,5.9–15 überlieferten Stammbaum abhängig sein). Die Namensübereinstimmung zwischen der männlichen Hauptfigur der Erzählung und dem Urgroßvater Davids und die Herkunft Davids aus Bethlehem ermöglichte dabei den Anschluss der Davidgenealogie an die Ruterzählung (vgl. Würthwein). Mit der ursprünglichen Zugehörigkeit der Davidgenealogie zur Ruterzählung rechnet allerdings neuerdings Irmtraud Fischer. Für eine Entstehung der Ruterzählung in vorexilischer Zeit hat man angeführt, dass die positive Zeichnung der Moabiterin Rut nur in vordeuteronomischer Zeit vorstellbar sei, wie das Gesetz zum Ausschluss von Ammonitern und Moabitern aus der Jahwegemeinde in Dtn 23,4 f. zeige (vgl. Rudolph, Gerleman, Meinhold, Scharbert). Doch dürfte diese deuteronomische Beurteilung der Moabiter in der nachexilischen Zeit nicht allgemein verbreitet gewesen sein. Auch scheint Rut 4,1–12 auf die Levirats-Bestimmungen von Dtn 25,5–10 als längst nicht mehr geübte Rechtsvorstellungen zurückzublicken (vgl. besonders 4,7). Auch scheint das „Löser“-Verständnis des Rutbuches von dem des Heiligkeitsgesetzes (Lev 25) abhängig zu sein (Zenger). Dies spricht für die Entstehung der Ruterzählung in schriftgelehrten weisheitlichen Kreisen der Nachexilszeit. Allerdings erweist es sich als unmöglich, die Ruterzählung einer bestimmten historischen Situation der Nachexilszeit zuzuordnen: Die gelegentlich vertretene Annahme, das Rutbuch lehne die Auflösung von Mischehen durch Nehemia und Esra ab (vgl. zuletzt Mesters, Jost und Fischer), lässt sich am Textbefund nicht erhärten.
278
27.3.
Die Schriften des AT
Gattung des Buches
Normalerweise wird die Ruterzählung als „Novelle“ verstanden (allerdings mit Elementen des „Midrasch; vgl. Fischer). Die auf Goethe zurückgehende Bezeichnung als „Idylle“ dürfte dem geschichtstheologischen Anspruch der Erzählung nicht gerecht werden. Zwar liegt auf der menschlichen „Treue“ (hæsæd; vgl. 3,10) ein besonderer Akzent der Erzählung (Würthwein), als entscheidend wird jedoch gleichzeitig die göttliche Führung und „Treue“ (vgl. 1,8; 2,20) herausgestellt.
27.4.
Theologische Bedeutung
Die kinderlos gewordene und damit vom „Tod“ bedrohte Noomi ist in der Ruterzählung wohl als Repräsentantin des nachexilischen Israel verstanden. Die Novelle will somit eine Hoffnungsgeschichte für Israel sein, die zeigt, wie Jahwe an der Treue zu seinem Volk festhält und sich als der aus dem Tod rettende „König“ (vgl. den Namen des Mannes der Noomi „Elimelech“ = „Mein Gott ist König“) erweist (Zenger). Wichtig ist allerdings auch, dass sich Jahwe in dieser Führungsgeschichte Menschen wie Rut und Boas bedient, die in Orientierung an der „Treue Gottes“ (2,12) mitmenschliche „Treue“ üben (3,10). Die Zufügung der Davidgenealogie (4,17b–22) erweitert noch die Hoffnungsdimension der älteren Ruterzählung: Wie die hoffnungslose Noomi zu einer der Stammmütter Davids wurde, so darf das nachexilische Israel auf eine gottgewirkte messianische Wende hoffen.
27.5.
Ausgewählte Literatur
Fischer, I.: Rut, HThKAT, Freiburg 2001. Frevel, C.: Das Buch Rut, NSKAT 6, Stuttgart 1992. Gerleman, G.: Ruth, in: BKAT 18, Neukirchen-Vluyn 21981, 1–39. Jost, R.: Freundin in der Fremde: Rut und Noomi, Stuttgart 1992. Köhlmoos, M.: Ruth, ATD 9/3, Göttingen 2010. Loretz, O.: Das Verhältnis zwischen Rut-Story und Davidgenealogie, ZAW 89, 1977, 124–126. Meinhold, A.: Theologische Schwerpunkte im Buch Ruth und ihr Schwergewicht für seine Datierung, ThZ 32, 1976, 129–137. Mesters, C.: Der Fall Rut. Brot-Familie-Land, Erlangen 1988. Prinsloo, W.S.: The Theology of the Book of Ruth, VT 30, 1980, 330–341. Rudolph, W.: Das Buch Ruth, in: KAT 17, Gütersloh 1962, 21–72. Scharbert, J.: Rut, in: NEB 33, Würzburg 1994, 3–28. Witzenrath, H.H.: Das Buch Rut. Eine literaturwissenschaftliche Untersuchung, München 1975.
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
279
Würthwein, E.: Ruth, in: HAT I/18, Tübingen 21969, 1–24. Zakovitch, Y.: Das Buch Rut. Ein jüdischer Kommentar, Stuttgart 1999. Zenger, E.: Das Buch Ruth, ZBKAT 8, Zürich 21992.
§ 28
Das Buch Ester
28.1.
Aufbau
Das in der hebräischen Textüberlieferung tradierte Esterbuch weist einen in die drei Teile „Vorgeschichte“ (1,1–2,23), „Haupthandlung“ (3,1–9,19) und „Folgen“ (9,20–10,3) gegliederten Aufbau auf: A. 1–2 Vorgeschichte I. 1,1–22 Verstoßung der Königin Wasti, der Gemahlin des in Susa residierenden persischen Königs Ahasveros (= Xerxes) II. 2,1–20 Die Pflegetochter des jüdischen Hofbeamten Mordechai Ester wird neue Königin, ohne dass König und Hof ihre jüdische Herkunft bekannt wird III. 2,21–23 Aufdeckung eines Anschlags auf das Leben des Ahasveros durch Mordechai B. 3,1–9,19 Haupthandlung I. 3,1–5,14 Hamans Aufstieg 1. 3,1–15 Haman, der Günstling des Ahasveros, ein Agagiter (=Angehöriger des Königsgeschlechts der Amalekiter, vgl. 1Sam 15), erwirkt vom König einen Erlass zur Vernichtung der Juden im persischen Reich. 2. 4,1–17 Mordechai veranlasst Ester, unter Lebensgefahr beim König für ihr Volk einzutreten. 3. 5,1–8 Ester lädt Ahasveros und Haman zu einem ersten von ihr bereiteten Mahl ein. 4. 5,9–14 Haman triumphiert und lässt einen Galgen für Mordechai errichten. II. 6,1–9,19 Hamans Scheitern 1. 6,1–13 Ahasveros entdeckt die Verdienste Mordechais bei der Aufdeckung des Anschlags gegen den König und lässt Mordechai durch Haman ehren.
280
Die Schriften des AT
2. 6,14–8,2 Esters zweite Mahleinladung von Ahasveros und Haman führt zur königlichen Missbilligung des Judenvernichtungsplans Hamans, zur Hinrichtung Hamans an dem von ihm für Modechai errichteten Galgen und zur Einsetzung Mordechais in die Stellung Hamans. 3. 8,3–17 Ester erwirkt einen königlichen Erlass, der die Juden im persischen Reich zu einem präventiven Vorgehen gegen ihre Feinde ermächtigt. 4. 9,1–19 Die Juden des persischen Reiches vernichten ihre Feinde. C. 9,20–10,3 Folgen I. 9,20–32 Einführung der jährlichen Feier des Purim-Festes am 14./15. Adar II. 10,1–3 Mordechais Ansehen bei Persern und Juden
28.2.
Die Septuaginta-Überlieferung des Esterbuches
Die Septuaginta-Überlieferung kennt eine u. a. vom Codex Vaticanus bezeugte Langfassung (sog. B-Fassung), in der sich über den hebräischen Text hinaus folgende Stücke finden: 1,1a-r 3,13a-g 4,17a-z 5,1a-f.2a-b 8,12a-x 10,3a-l
Traum Mordechais und Aufdeckung der Verschwörung gegen Ahasveros Pogromerlass Hamans Gebete Mordechais und Esters Esters Gang zum König Königlicher Erlass zum Schutz der Juden Deutung des Traumes Mordechais und Unterschrift zur griechischen Übersetzung des Ester-Buches.
Daneben ist noch eine nur bis 8,17 reichende Kurzfassung eines griechischen Esterbuches bezeugt (A-Fassung), die man traditionell auf eine späte „lukianische“ Rezension zurückführt. Nach David J.A. Clines bezeugt diese Fassung einen früheren hebräischen Text der Estererzählung, der mit 8,17 schloss (vgl. dagegen jedoch Loader und Kottsieper). Bei den nur in der B-Fassung bezeugten Stücken dürfte es sich um nachträgliche Erweiterungen handeln, die die im Hinblick auf theologische Aussagen sehr
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
281
zurückhaltende hebräische Fassung (eine theologische Aussage findet sich in ihr nur in 4,14) um religiöse Bezüge (vgl. vor allem um die Gebete in 4,17a-z) ergänzen will.
28.3.
Gattung
Das Esterbuch lässt sich im Rahmen der atl. Erzählungsgattungen als „Novelle“ (vgl. unten § 29.2.2.) verstehen (Meinhold: „Diasporanovelle). Allerdings handelt es sich um eine Novelle „mit romanhaftem Einschlag“ (Kaiser, vgl. auch Zenger).
28.4.
Entstehungsgeschichte
Das Buch zeigt eine gute Kenntnis des persischen Milieus, so dass alles für eine Entstehung in der östlichen Diaspora spricht, wobei hier an schriftgelehrte Kreise, die auf ältere biblische Überlieferungen Bezug nehmen (vgl. Gen 37–50; Ex 1–12 und dazu Gerleman), zu denken ist. Umstritten ist die Entstehungszeit: Terminus a quo ist die Regierungszeit des persischen Königs Xerxes (= Ahasveros: 485–465), auf den die Erzählung als einzige historische Person Bezug nimmt. Terminus ad quem ist die Zeit, in der nach der Abschlussnotiz der griechischen Übersetzung 10,3l das griechische Esterbuch nach Ägypten kommt: 78/77 v. Chr. (vgl. Bickerman). Oft wird an das 4. Jh., den Ausgang der Perserzeit, gedacht (vgl. zuletzt Meinhold, Loader), doch spricht die Verwandtschaft mit dem hellenistischen Roman (Würthwein, Smend, Zenger) eher für eine Ansetzung ins 3. Jh. Auch passt die Thematik einer regierungsamtlichen Judenverfolgung (vgl. auch das Verschweigen der Zugehörigkeit zum Judentum in 2,10) eher in die hellenistische Zeit (W.H. Schmidt, Zenger). Schließlich hat der Verfasser keine genaueren Vorstellungen mehr von der Zeit des persischen Königs Xerxes (485–465). Sonst hätte er dessen Beamten Mordechai nicht in 2,6 zu den Exulanten rechnen können, die 597 v. Chr. von Nebukadnezar in die Gola geführt wurden. Unbekannt scheint ihm auch zu sein, dass die persischen Könige ihre Königinnen aus einer der sieben vornehmen Familien auswählen mussten. Auch der Bezug auf das Purimfest (es wird außerhalb des Esterbuches erstmals in 2Makk 15,36 für das Palästina um 50 v. Chr. erwähnt) ergibt kaum eindeutige Hinweise auf die Entstehung der Estererzählung. Möglicherweise sind die Purimstellen in 3,7 und 9,20–32 erst sekundär zugefügt (so Meinhold; vgl. auch Würthwein, anders Rendtorff und Lebram). Ein Zurückgehen dieses Festes auf ein persisches oder babylonisches Neujahrsfest lässt sich bisher nicht sicher nachweisen.
282
Die Schriften des AT
Überhaupt dürften die der Estererzählung vorgegebenen älteren Stoffe (vgl. nur die möglichen mythologischen Bezüge von Mordechai auf Marduk und von Ester auf Ischtar) kaum noch rekonstruierbar sein.
28.5.
Theologische Bedeutung
In der Auslegungsgeschichte des Esterbuches hat man immer wieder die sich in ihm äußernde Selbstüberhebung des Gottesvolkes (vgl. nur 6,13 und 9,1–19) kritisiert. Dabei ist von Luther auch die Kanonizität des Buches in Frage gestellt worden (vgl. nur WATi 1, 208: 30). Auch das Judentum hat anfänglich die Kanonizität des Buches bezweifelt (vgl. bMegilla 7a und bSanhedrin 100a). Im Judentum hat die Estererzählung jedoch als Darstellung der göttlichen Führung im Leben des einzelnen und in der Weltgeschichte (vor allem als Festrolle des Purimfestes) zentrale Bedeutung gewonnen. Dabei spricht das Buch von einer göttlichen Führung, die nicht im Widerspruch steht zur klugen, ja diplomatischen Wahrnehmung menschlicher Verantwortung. Doch wo Menschen versagen, erwartet das Esterbuch (4,14), dass dem Gottesvolk „Entsatz und Rettung von einem anderen Ort zuteil werden“. So fordert das Esterbuch – obwohl es nicht direkt von Gott spricht – zum Vertrauen auf die göttliche Führung auf (vgl. auch die Verweigerung der Proskynese durch Mordechai in 3,2; 5,9 als Ausdruck der Orientierung am ersten Gebot). In diesem Sinne kann auch Luther die Haltung Mordechais und Esters als vorbildlich ansehen (vgl. Loader).
28.6.
Ausgewählte Literatur
Bardtke, H.: Zusätze zu Ester, JSHRZ 1/1, Gütersloh 1973. Bickerman, E.J.: The Colophon of the Greek Book of Ester, JBL 563, 1944, 39–62. Clines, D.J.A.: The Ester Scroll, Sheffield 1984. –: Ezra/Nehemiah/Ester, NCeB, Grand Rapids/London 1984, 251–333. Fox, M.V.: Character and Ideology in the Book of Esther, Columbia 1991. –: The Redaction of the Book of Esther, Atlanta 1991. Gerleman, G.: Ester, BKAT 21, Neukirchen-Vluyn 1973. Kaiser, O.: Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des AT 1, Gütersloh 1992. Kossmann, R.: Die Esthernovelle, Leiden 2000. Kottsieper, I.: Zusätze zu Ester, in: ATDA 5, Göttingen 1998, 109–207. Lebram, J.C.H.: Purimfest und Esterbuch, VT 22, 1972, 208–222. –/van der Klauw, J.: Art. Ester, TRE 10, 1982, 391–395.
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
283
Loader, J.A.: Das Buch Ester, in: ATD 16/2, Göttingen 1992, 199–280. Meinhold, A.: Die Gattung der Josephsgeschichte und des Esterbuches: Diasporanovelle I und II, ZAW 87, 1975, 306–324; 88, 1976, 72–93. –: Das Buch Ester, ZBKAT 13, Zürich 1983. –: Art. Esther/Estherbuch, RGG4 2, 1999, 1594–1597. Rendtorff, R.: Das AT. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 41992. Schmidt, W.H.: Einführung in das AT, Berlin/New York 51995. Schmitt, A.: Wende des Lebens. Untersuchungen zu einem Situations-Motiv der Bibel, Berlin/New York 1996. Smend, R.: Die Entstehung des AT, Stuttgart 41989. Wahl, H.M.: „Jahwe, wo bist du?“ Gott, Glaube und Gemeinde in Esther, JSJ 31, 2000, 1–22. –: Esther-Forschung, ThR 66, 2001,103–150. Würthwein, E.: Ester, in: HAT I/18, Tübingen 21969, 165–196. Zenger, E. u. a.: Einleitung in das AT, Stuttgart 72008.
§ 29
Die den Geschichtsbüchern vorgegebene Erzählungs- und Rechtsüberlieferung
29.1.
Die formgeschichtliche Rekonstruktion der den Geschichtsbüchern vorgegebenen mündlichen Tradition
Bei der Abfassung der atl. Geschichtsbücher haben ihre Autoren älteres Überlieferungsmaterial verwendet, dessen Rekonstruktion sich allerdings als schwierig erweist. Bewährt hat sich die von Hermann Gunkel begründete Annahme, dass die vorgegebenen Einzelüberlieferungen aufgrund einer formkritischen Analyse (Gattungsanalyse) der biblischen Texte erkannt werden können. Ein zentrales Interesse der formgeschichtlichen Forschung besteht dabei darin, aufgrund von Formmerkmalen das soziologische Milieu, in dem diese Einzelüberlieferungen entstanden sind und tradiert wurden („Sitz im Leben“), zu bestimmen.
284
29.2.
Die Schriften des AT
Die Gattungen und der Sitz im Leben der atl. erzählenden und berichtenden Überlieferungen
29.2.1. Volkstümliche Überlieferung Die in die Geschichtsbücher des AT aufgenommene Tradition besteht zu einem großen Teil aus Erzählungsgut, das in der volkstümlichen Überlieferung weitergegeben wurde. Dabei ist auch an die Tradierung durch einen Stand von Geschichtenerzählern zu denken. Bei der Klassifikation der volkstümlichen Erzählungen hat sich die Differenzierung Gunkels in Mythen, Sagen, Fabeln und Märchen bewährt. 29.2.1.1. Mythen Mythen (auf eine „mythische“ Zeit bezogene Göttergeschichten, die gegenwärtige grundlegende Menschheitserfahrungen erklären) sind im AT wegen seines monolatrischen Glaubens nur in spezifischer Ausprägung vorhanden. Der Mythos hat sich zwar im Bereich des Polytheismus entwickelt, doch kann er auch über die Beziehung eines Gottes zu Menschen berichten. Die atl. Urgeschichte beschränkt sich daher auf Mythen, die vom Handeln eines Gottes gegenüber Menschen sprechen und dabei auf eine Vergöttlichung des menschlichen Bereiches verzichten. Eine Ausnahme stellt nur die Erzählung von den Ehen der „Gottessöhne“ (Gen 6,1–4*) dar: Hier wird eine mythische Tradition aufgenommen, nach der die Heroen der Urzeit auf Verbindungen zwischen göttlichen Wesen und menschlichen Frauen zurückgingen. Im vorliegenden Kontext sind diese Verbindungen jedoch nur noch ein Zeichen menschlicher Sündhaftigkeit (6,5) und Anlass für die Strafe Gottes, das Leben der Menschen auf 120 Jahre zu begrenzen (6,3). Angesichts dessen, dass in den biblischen „Mythen“ der Urgeschichte Gen 1–11 die göttliche Welt nur in ihrer Beziehung zum Menschen und hierbei gleichzeitig sehr zurückhaltend dargestellt wird, kann man die Erzählungen der Urgeschichte auch als „Sagen“ bezeichnen (vgl. Gunkel: „Ursagen“). Außerhalb der Urgeschichte sind im AT vor allem in der eschatologischen Prophetie (vgl. nur Jes 27,1), in den Psalmen (vgl. vor allem die Zionspsalmen 46; 48; 76 und die dort bezeugten Motive des Paradiesmythos, des Götterbergmythos, des Chaoskampfmythos und des Völkerkampfmythos) und im Hiobbuch (vgl. vor allem die Chaoskampfvorstellungen der Gottesreden von Hi 38,1– 42,6) mythische Traditionen aufgenommen. Allerdings sind diese mythischen Motive auch hier so rezipiert, dass die Alleinmächtigkeit und Transzendenz Jahwes nicht in Frage gestellt wird. Inwieweit die in den Psalmen tradierten mythischen Motive im Kult überliefert wurden, ist umstritten. Für einen kultischen Sitz im Leben der mythischen
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
285
Motive von Gen 1–11 gibt es keine Anhaltspunkte. Sofern sie der mündlichen Tradition entstammen, dürften sie (wie die Sagen) Teil der volkstümlichen Überlieferung gewesen sein. Von der (nachexilischen) Weisheit scheinen mythische Motive bewusst zur Verbildlichung der Macht Jahwes eingesetzt worden zu sein (vgl. Hi 38,1– 42,6). 29.2.1.2. Märchen In gleicher Weise enthält das AT auch keine selbständigen Märchen. Jedoch finden sich eine Reihe von Märchenmotiven wie die redende Eselin Bileams (Num 22,27 ff.), die Elia mit Nahrung versorgenden Raben (1Kön 17, 4–6) oder der nicht versiegende Mehltopf und Ölkrug (1Kön 17, 16; vgl. auch 2Kön 4,5–6). Das Wesen des Märchens besteht darin, dass es ohne Bezug auf konkrete historische Situationen und konkrete Orte von wunderhaftem Geschehen erzählt, in dem die Amoralität der Welt vernichtet wird (vgl. Jolles, Kaiser). Da Gott nach atl. Verständnis immer in raumzeitlichen Zusammenhängen an den Menschen handelt, können im atl. Glaubenszeugnis nur in konkrete historische Bezüge eingebrachte Märchenmotive eine Rolle spielen. 29.2.1.3. Fabel Pflanzenfabeln sind im AT in Ri 9,7–15 (Jotamfabel) und in 2Kön 14,9 (Fabel vom übermütigen Dornstrauch) belegt. In beiden Fällen hat die Fabel die Funktion, in verschlüsselter Form eine Bewertung politischen Verhaltens abzugeben. 29.2.1.4. Sagen Die Form der volkstümlichen Überlieferung, die im AT am stärksten vertreten ist, ist die Sage (im Gegensatz zu Jolles ist diese atl. Gattung nicht mit der wesentlich komplexeren Literaturform der isländischen „saga“ in Verbindung zu bringen). Typisch für die Sage ist, dass sie volkstümliche Überlieferung als Bericht über geschichtliche Ereignisse (historische Sagen) oder als Erklärung von Gegenwartserfahrungen (ätiologische Sagen) enthält. 29.2.1.4.1. Stil der Sagen: Der Stil der Sage ist bestimmt von ihrem Sitz im Leben in der volkstümlichen Überlieferung, in der als Grundform eine in sich selbständige Einzelerzählung zu vermuten ist. Typisch für die Volkserzählung der verschiedensten Kulturen sind folgende Charakteristika einer Einzelerzählung, die in knapper Form das Interesse des Hörers wecken muss (vgl. die von Olrik 1909 formulierten „epischen Gesetze der Volksdichtung“):
286
Die Schriften des AT
a) Deutlicher Einsatz und deutlicher Schluss. b) Konzentration auf das für den Fortgang der Handlung Wesentliche (Verzicht auf Beschreibungen, Personen werden durch Handlungen und Reden charakterisiert). c) Beschränkung auf wenige Personen (Gesetz der Zweiheit oder Dreiheit). d) Typisierung der Personen (Schwarz-Weiß-Technik). e) Darstellung von historischen und politischen Entwicklungen als Folge von privaten und familiären Gegebenheiten (vgl. Gen 25,29–34: Herrschaft Israels über Edom als Folge des Verkaufs des Erstgeburtsrechts Esaus an Jakob). 29.2.1.4.2. Arten der Sagen: Gunkel differenziert die Sagen der atl. Geschichtsbücher nach ihren jeweiligen Inhalten und literarischen Kontexten in: – – –
Ursagen (vgl. Gen 1–11) Vätersagen (vgl. Gen 12–36) Sagen von einzelnen politischen und religiösen Führern (vgl. Ex – 2Kön: Mose, David, Elia, Elisa)
Neben Sagen, die historische Ereignisse widerspiegeln („historische Sagen“: vgl. z. B. Ex 14*; 1Kön 22*) ist mit „Ätiologien“ bzw. „ätiologischen Motiven“ (die oft nur als Nachträge vorkommen) zu rechnen, die gegenwärtige Erscheinungen durch eine Herleitung von Ereignissen einer „klassischen“ Zeit zu erklären versuchen. Entsprechend den zu erklärenden Gegenwartsphänomenen hat Hermann Gunkel vor allem auf ethnologische (vgl. Gen 9,20 ff.), geologische (vgl. Gen 19,26) und etymologische Ätiologien (vgl. Gen 11,9) hingewiesen. Besonders wichtig sind im AT die Kultätiologien (vgl. Gen 28,10–12*.17–22*; die Bezeichnung als Kultlegende sollte vermieden werden, da zentrale Charakteristika der – von der mittelalterlichen Heiligenüberlieferung zu verstehenden – Legende auf die atl. Kultätiologien nicht zutreffen; vgl. Kaiser). 29.2.2. Höfisch-weisheitliche Überlieferung Eine Besonderheit der atl. Geschichtsüberlieferung gegenüber den Geschichtsberichten der altorientalischen Umwelt Israels besteht darin, dass das AT vor allem auf volkstümliche Überlieferung Bezug nimmt und in wesentlich geringerem Maße sich auf höfische Geschichtsdarstellungen stützt. Die atl. Relativierung des Königtums führt dazu, dass in den atl. Geschichtsbüchern die Überlieferungsform der „Sage“ dominiert und nur im Bereich der Samuel- und Königsbücher in stärkerem Maße höfische Überlieferungsformen (annalistische Berichte, Listen, Geschichtserzählungen, wahrscheinlich auch Novellen) Berücksichtigung finden.
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
287
29.2.2.1. Novellen Die umfangreichste Pentateuchüberlieferung, die aus dem höfischen Bereich stammt, stellt wohl die Josefs-Novelle (Gen 37–50*) dar. Die längere Zeiträume überbrückenden und mehrere Schauplätze umfassenden Novellen dürften nämlich von Anfang an schriftlich konzipiert sein. Als „Sitz im Leben“ solcher Novellen kommt in vorexilischer Zeit daher nur die vom Königshof gepflegte Beamten-Weisheit in Frage. Die nachexilischen Novellen (Rut, vgl. auch Ester) dürften sich dagegen einer schriftgelehrten Weisheit verdanken. 29.2.2.2. Geschichtserzählungen Schriftlichen und damit höfisch-weisheitlichen Ursprungs sind auch die Geschichtserzählungen des AT, die zwar fiktionale Elemente enthalten, doch sich um eine realistische – wenn auch nicht tendenzfreie – Darstellung historischer Ereignisse bemühen (vgl. vor allem die Erzählung von der Thronnachfolge Davids in 2Sam 9–20* + 1Kön 1–2* und die Erzählung von der Jehurevolution in 2Kön 9–10*). 29.2.2.3. Annalistische Berichte Der Kern der Überlieferung der Königsbücher, wie er in dem „Buch der Geschichte Salomos“ (1Kön 11,41), in dem „Tagebuch der Könige von Israel“ (1Kön 14,19 – 2Kön 15,31) und in dem „Tagebuch der Könige von Juda“ (1Kön 14,29 – 2Kön 24,5) vorliegt, dürfte auf Annalen zurückgehen, die von den königlichen Verwaltungen des Nord- und Südreichs regelmäßig aufgezeichnet wurden. 29.2.2.4. Listen Auch ein Großteil der im AT überlieferten Listen geht wohl auf Aktivitäten der königlichen Verwaltung zurück. Dies gilt zum einen für einen Kern der in Jos 13–19 vorliegenden geographischen Listen (neben Ortslisten ist hier auch mit alten Itineraren zu rechnen). Zum andern sind hier auch Personen-, Stammes- und Völkerlisten zu nennen (darunter im AT vor allem auch Genealogien). Aus der königlichen Verwaltung stammen jedenfalls Beamtenlisten wie die von 2Sam 8,15–18; 20,23–26 und 1Kön 4,2–6 und die Bezirkeliste von 1Kön 4,7–19.
288
29.3.
Die Schriften des AT
Die Gattungen und der Sitz im Leben der atl. Rechtsüberlieferung
29.3.1. Die Unterscheidung von kasuistischen und apodiktischem Recht durch Albrecht Alt Nach Albrecht Alt ist innerhalb der atl. Rechtsüberlieferung zwischen „kasuistischen“ („fallbezogen formulierten“) und „apodiktischen“ („unbedingt formulierten“) Rechtssätzen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung hat sich bewährt, auch wenn das von Alt damit verbundene Verständnis des apodiktischen Rechts als „volksgebunden israelitisch“ und „gottgebunden jahwistisch“ sich als nicht sachgemäß erwiesen hat (die neuere Forschung hat für die Formen des apodiktischen Rechts durchweg Parallelen aus der Umwelt Israels festgestellt). Auch wird man als ursprünglichen Sitz im Leben des apodiktischen Rechts nicht mehr den israelitischen Gottesdienst ansehen können, auch wenn in späteren Überlieferungsstadien eine gottesdienstliche Rechtsverkündigung (vgl. Dtn 31,9–13; auch Ex 20,1–17) anzunehmen ist.
29.3.2. Kasuistisch formuliertes Recht Bewährt hat sich die These Alts, dass die kasuistisch formulierten Rechtssätze, die in Ex 21,1 als miˇsp¯atîm bezeichnet werden, als Maßstäbe für die im Tor der jeweiligen Orte durchgeführte Rechtsprechung vorzustellen sind. Diese Ortsgerichtsbarkeit lag in den Händen von Laien, den Ortsältesten, die dabei gleichzeitig als Zeugen und als Richter agierten, und orientierte sich am Gewohnheitsrecht: In diesem Rahmen nennt das kasuistische Recht fallbezogene Entscheidungen, die Vorbildcharakter für die Verhandlungen der Torgerichtsbarkeit haben sollen, ohne einen die Ortsältesten bindenden Charakter zu besitzen (vgl. Liedke: „Musterurteile“ der Rechtsgemeinde). Zur Grundform dieser kasuistischen Rechtssätze ist Ex 21,18 f. zu vergleichen: „Wenn (kî) Männer miteinander streiten und einer schlägt den anderen mit einem Stein oder mit der Faust, dass er nicht stirbt, sondern bettlägerig wird, und wenn er dann (#im) wieder aufkommt und ausgehen kann an seinem Stock, so soll der, der ihn schlug, straflos sein, nur sein Daheimsitzen soll er bezahlen und für seine Heilung aufkommen“. Der kasuistische Rechtssatz besteht zunächst aus einer Protasis (mit kî „wenn“ eingeleiteter Bedingungssatz, Unterfälle werden mit #im zugeordnet), die den Tatbestand definiert. In der Apodosis (Hauptsatz im Bedingungssatzgefüge) wird dann die Rechtsfolge genannt. Typisch für den kasuistischen Rechtssatz ist schließlich die unpersönliche Formulierung in der 3. Person.
Der Pentateuch und die Geschichtsbücher
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Die gleiche kasuistische Rechtssatzform ist auch im altorientalischen Recht weit verbreitet (vgl. nur Codex Hammurapi § 1: „Wenn ein Bürger einen anderen Bürger bezichtigt und ihm Mord vorwirft, ihn jedoch nicht überführt, so wird derjenige, der ihn bezichtigt hat, getötet“). 29.3.3. Apodiktisch formuliertes Recht Von diesen fallbezogenen Rechtssätzen unterscheidet Albrecht Alt die nicht nach Rechtsfällen differenzierten Rechtsaussagen, die er als apodiktisches Recht bezeichnet. Es hebt sich nach Alt schon dadurch vom kasuistischen Recht ab, dass es in Reihen erscheint. Dabei ist zwischen folgenden Rechtssatzreihen zu unterscheiden: 1. 2. 3. 4.
Talionsformel (Ex 21,23–25; Lev 24,18–20; Dtn 19,21) Reihe todeswürdiger Verbrechen (Ex 21,12.15–17*; Lev 20,9–16*) Fluchsatzreihe (Dtn 27,15–26*) Prohibitivreihe (Ex 22,17–30*; 23,1–9*, Lev 18,7–23*; vgl. Ex 20,1–17*; Dtn 5,6–21*).
29.3.3.1. Talionsformel Nach Albrecht Alt stammte die Talionsformel („Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme“) ursprünglich aus dem kultischen Bereich und regelte die Ersatzleistungen, die Gott zu bringen sind, wenn durch Tötung oder Körperverletzung eines Menschen die Gottheit als Geber von Leben und Leib des Menschen geschädigt ist. Demgegenüber hat die neuere Forschung (vgl. Wagner, Boecker, Kaiser) gezeigt, dass in keinem atl. Beleg der Talionsformel (vgl. Ex 21,22 ff.; Lev 24,17 ff.; Dtn 19,15 ff.) eine Ersatzleistung an die Gottheit angesprochen wird. Vielmehr geht es überall um einen juristischen Schadensausgleich. Ursprünglich hatte die Talionsformel dabei wohl die Funktion, die durch eine Schädigung an Leib und Leben hervorgerufene Blutracheverpflichtung (vgl. Gen 4,23 f.) auf ein erträgliches Maß zu begrenzen: „nur ein Leben für ein Leben, nur ein Auge für ein Auge …“. Als primärer Sitz im Leben der Talionsformel ist somit das in einer Sippengesellschaft herrschende Intergentalrecht anzusehen. 29.3.3.2. Todesrechtsätze Die Grundform des ein todeswürdiges Verbrechen bezeichnenden Rechtssatzes besteht aus der Todesdeklaration môt jûm¯at („er muss unbedingt getötet werden“), dem ein Partizip vorangestellt ist, das das todeswürdige Verbrechen be-
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zeichnet. Neben den oben angegebenen Todesrechtsreihen finden sich im AT auch einzelne Todesrechtssätze (vgl. nur Gen 26,11). Wie Gen 26,11 zeigt, ist eine solche Todesdeklaration nicht auf den Kult beschränkt, sondern kann auch im profanen Bereich durch eine Autoritätsperson (König, Sippenältester) ausgesprochen werden, die damit eine nicht zu überschreitende Grenze markiert (Boecker). Da in allen Fällen die gleiche Todesdeklaration ausgesprochen wird, sollte hier (trotz Lev 24,17) nicht von „kasuistischem Recht in apodiktischer Formulierung“ (so Fohrer; vgl. auch Gese und Kilian) gesprochen werden. 29.3.3.3. Fluchsätze Gleiches gilt für die Fluchsätze, bei denen auch der gleiche Fluch über unterschiedliche Rechtstatbestände ausgerufen wird. Hier setzt sich die Grundform aus einem #a¯ rûr „verflucht sei“ und einem den Tatbestand bezeichnenden Partizip (gelegentlich auch Relativsatz) zusammen. Als ursprünglicher Sitz im Leben des Fluchsatzes ist wieder nicht der Kult anzusehen (die in Dtn 27 beschriebene Situation stellt erst eine spätere Entwicklung dar), vielmehr geht es beim Fluch um die feierliche Exkommunikation von gemeinschaftsfeindlichen Einzelnen (vgl. die Ausschlussformel von Gen 4,11 f.) durch den Sprecher der jeweiligen Gemeinschaft. Die Fluchhandlung richtet sich dabei vor allem gegen Delikte, die heimlich geschehen sind (vgl. Dtn 27,24) und deren Täter daher nicht unmittelbar zur Verantwortung gezogen werden können. Dahinter steht die Vorstellung, dass die Gemeinschaft durch ein ungesühntes Verbrechen mit Schuld belastet wird (vgl. Dtn 21,1–9) und sie sich durch den Fluch von der Schuld des unbekannten Täters befreien kann. 29.3.3.4. Prohibitive Ohne jede Rechtsfolge formuliert sind die Prohibitive der oben genannten Rechtsreihen. Charakteristisch für sie ist gleichzeitig die Anrede in 2. Person. Von daher spricht einiges dafür, dass es sich bei ihnen ursprünglich mehr um Ethos als um Recht handelt. Die hinter diesen Verboten stehende Autorität war ursprünglich nicht Jahwe, sondern – wie vor allem Gerstenberger gezeigt hat – der pater familias (vgl. die Anordnungen des Stammvaters der Rechabiter Jonadab in Jer 35,6 f.). Auch die Zehnzahl bei solchen Prohibitivreihen, die offensichtlich mnemotechnische Gründe hat, deutet wohl auf einen „didaktischen“ Tradierungsort hin. Erst sekundär kommt es zu einem kultischen Sitz im Leben (vgl. Ex 20,1–17; Dtn 5,1–21), bei dem Jahwe zum Urheber der Prohibitive wird.
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Atl. Rechtssammlungen
29.4.1. Dekalog 29.4.1.1. Name Die (allerdings auch 2 positiv formulierte Gebote enthaltende) Prohibitivreihe Dtn 5,6–21* = Ex 20,1–17* wird in Dtn 4,13; 10,4 als „zehn Worte“ (Dtn 10,4 LXX: déka lógoi) zitiert, so dass sich für diese Reihe der Begriff Dekalog („Zehn Gebote“) durchgesetzt hat (vgl. auch Ex 34,28). 29.4.1.2. Zählung der Gebote Wie die Zehn Gebote voneinander abzugrenzen sind, liegt allerdings nicht offen zu Tage, so dass sich in der jüdisch-christlichen Tradition unterschiedliche Zählweisen entwickelt haben: Am stärksten dem atl. Befund entspricht die Zählung der reformierten Kirche (Zwingli, Calvin; vgl. auch schon Philo und die orthodoxe Kirche), bei der jeweils das Fremdgötterverbot (Ex 20,3) und das Bilderverbot (Ex 20,4) als eigenständige Gebote verstanden sind. In der von Augustin entwickelten und von Luther übernommenen Zählung werden das Fremdgötter- und das Bilderverbot (Ex 20,3–6) als das erste Gebot gezählt. Um eine Zehnzahl von Geboten zu erhalten, muss dann das Begehrensverbot als zwei Gebote verstanden werden (9. Gebot: Ex 20,17a; 10. Gebot: Ex 20,17b; mit zwei Begehrensverboten rechnet jedoch auch schon die Abschnittseinteilung des Masoretischen Textes von Dtn 5,21). Auch das orthodoxe Judentum interpretiert Fremdgötter- und Bilderverbot (Ex 20,3–6) als ein Gebot, allerdings deutet es gleichzeitig die Präambel des Dekalogs (Ex 20,2: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten, dem Sklavenhause, herausgeführt hat“) als 1. Gebot, so dass Ex 20,3–6 zum 2. Gebot wird. Auf eine Teilung des Begehrensverbotes kann daher in dieser Tradition verzichtet werden. 29.4.1.3. Aufbau Nach Dtn 4,13 und 10,3f. war der Dekalog auf 2 Tafeln geschrieben. Normalerweise ordnet man die theologischen Gebote (Fremdgötterverbot, Bilderverbot, Namensmissbrauchsverbot und Sabbatgebot) Tafel 1 (nach der Zählung von Augustin und Luther enthält Tafel 1 drei Gebote, worin man einen Hinweis auf die Trinität sieht), die restlichen ethisch-sozialen Gebote Tafel 2 zu.
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29.4.1.4. Literarhistorische Einordnung des Dekalogs Die These von Frank-Lothar Hossfeld, dass die älteste Fassung des Dekalogs in einer dtr. Schicht von Dtn 5 vorliege und Ex 20,1–17, wie 20,11 (Bezug des Sabbatgebotes auf Gen 2,1–3) zeige, eine vom priesterlichen Pentateuchredaktor geschaffene nachexilische Bearbeitung von Dtn 5,6–21 darstelle, hat zwar breite Zustimmung erfahren (Braulik, Rose, Scharbert, Otto). Trotzdem wird man an der Priorität der Dekalogfassung von Ex 20 festhalten müssen (vgl. Graupner, Kaiser, Kratz, Levin, W.H. Schmidt, Smend). Für sie spricht vor allem, dass man sich beim Begehrensverbot leichter eine Entwicklung von Ex 20,17 (Voranstellung des Hauses) zu Dtn 5,21 (Voranstellung der Frau: Neuinterpretation im Sinne des deuteronomisch-deuteronomistischen Humanismus) vorstellen kann als umgekehrt. Auch bei der Formel „wie dir Jahwe, dein Gott geboten hat“ in Dtn 5,12b.16a dürfte es sich um Erweiterungen handeln, die Dtn 5 gegenüber der Fassung von Ex 20 zugefügt hat (Graupner). Auch wenn Ex 20,1–17* älter als Dtn 5,6–21* ist, so kann doch nicht mehr die traditionelle These der Zugehörigkeit von Ex 20,1–17* zu E vertreten werden. Gegen sie spricht zum einen der Gebrauch des Gottesnamens Jahwe in 20,2–17 und zum andern, dass 20,1–17 den Zusammenhang zwischen Ex 19,19 „E“ und 20,18–21 „E“ unterbricht. Vor allem zeigt 20,19 („Lass Gott nicht mit uns reden …“), dass hier die Gottesrede von 20,1–17 noch nicht vorausgesetzt wird. Bei 20,1–17 muss es sich somit um einen nachelohistischen Einschub handeln. Wie die auf die Priesterschrift bezogene Begründung des Sabbatgebotes in Ex 20,11 zeigt, hat der Dekalog auf jeden Fall eine nachpriesterliche Bearbeitung erfahren. Möglicherweise ist der Dekalog auch erst im Rahmen dieser nachpriesterlichen Schicht in den Pentateuchzusammenhang eingefügt worden. Der Dekalog von Dtn 5 weist auf jeden Fall dtr. Einfluß auf. Die Formel „wie dir Jahwe, dein Gott, geboten hat“ deutet sogar auf eine spätdtr. Entstehung hin (Rose), so dass sich auch hier eine nachpriesterliche Einfügung (zum nachpriesterlichen Charakter der spätdtr. Pentateuchredaktion vgl. oben § 24.1.) nahelegt. 29.4.1.5. Entstehung des Dekalogs Die traditionelle Theorie über die Entstehung des Dekalogs, die auch von Albrecht Alt (1934) geteilt wurde, geht davon aus, dass die heutige Fassung der Zehn Gebote die späte Entwicklungsstufe eines in die Frühzeit Israels zurückgehenden „Urdekalogs“ darstellt. Für die Rekonstruktion dieses „Urdekalogs“ nahm man an, dass alle Gebote ursprünglich als relativ knappe „Prohibitive“ formuliert waren. Auch das Sabbat- und das Elternehrungsgebot hätten ursprünglich die Form eines verneinten Imperativs besessen („du sollst nicht eine Arbeit
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am Sabbat tun“ bzw. „du sollst nicht deinem Vater und deiner Mutter fluchen“; vgl. auch Stamm und Boecker). Die neuere Forschung (vgl. Crüsemann, Fohrer, Gerstenberger, W.H. Schmidt, Schreiner) hat demgegenüber gezeigt, dass der Dekalog erst sekundär aus Kurzreihen zusammengestellt worden ist. Als eine solche dem Dekalog vorgegebene Kurzreihe ist auf jeden Fall Ex 20,13–15 mit seinen drei extrem knapp formulierten Prohibitiven (lo# tirs. ah „du sollst nicht töten“, lo# tin #ap „du sollst nicht ehebrechen“, lo# tignob „du sollst nicht stehlen“) anzusehen. Möglicherweise haben auch die beiden positiv formulierten „Gebote“ (Sabbat- und Elternehrungsgebot) einmal eine eigene Kurzreihe gebildet (so Fohrer), eventuell auch das Fremdgötter- und das Bilderverbot (so W.H. Schmidt). Zusammengestellt worden ist der Dekalog spätestens in der Exilszeit. Jedenfalls nimmt die dtr. Bearbeitung des Jeremiabuches in Jer 7,9 („Ihr stehlt, tötet, brecht die Ehe, schwört falsch, opfert dem Baal und läuft anderen Göttern nach …“) auf ihn Bezug (Wanke). Dagegen dürfte in Hos 4,2 („man schwört, lügt, mordet, stiehlt, bricht die Ehe und übt Gewalttat …“) lediglich ein Zitat der Kurzreihe Ex 20,13–15 vorliegen, so dass der Dekalog als ganzer noch nicht vor der Zeit Hoseas existiert haben muss. 29.4.1.6. Theologische Bedeutung Von zentraler theologischer Bedeutung ist, dass hier theologische und ethische Gebote miteinander verbunden sind. Wie die Schriftprophetie (vgl. u. a. Amos und dazu unten § 37.9.) geht auch der Dekalog davon aus, dass die Beziehungen zu Gott und die Beziehungen zum Mitmenschen nicht voneinander zu trennen sind. Für das Dekalogverständnis entscheidend ist ebenfalls die Berücksichtigung der Präambel des Dekalogs, die eine Selbstvorstellung Jahwes („Ich bin Jahwe, dein Gott“; vgl. Lev 18,4//18,5) als Gott der Befreiung enthält: Dieser Hinweis auf die Befreiungstat Gottes beim Exodus macht darauf aufmerksam, dass es bei den Imperativen des Dekalogs um die Bewahrung der gottgeschenkten Freiheit geht. 29.4.2. Bundesbuch 29.4.2.1. Name Nach Ex 24,7 („Und Mose nahm das ‚Buch des Bundes‘ und las es vor den Ohren des Volks“) wird das in Ex 20,22–23,19/33 vorliegende Rechtskorpus allgemein als „Bundesbuch“ bezeichnet.
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29.4.2.2. Aufbau Meist wird ein chiastischer Aufbau des Bundesbuches angenommen, den man in Anlehnung an Gunther Wanke und Ludger Schwienhorst-Schönberger folgendermaßen darstellen kann: A. 20,22 B. 20,23–26
Einleitung Bilderverbot 21,1*: Überschrift über das Kasuistische Rechtsbuch („Mischpatim“) C. 21, 2–11 Sklavenbefreiung im 7. Jahr D. 21,12–22,16 Vorwiegend kasuistische Bestimmungen I. 21,12–17* Todeswürdige Verbrechen II. 21,18–32 Verletzungen der körperlichen Integrität III. 21,33–22,24 Haftungen im Bereich Landwirtschaft und Handwerk IV. 22,15–16 Verführung eines nicht verlobten Mädchens D’. 22,17–23,9 Vorwiegend apodiktische Bestimmungen I. 22,17–19 Todeswürdige Verbrechen II. 22,20–26 Soziale Gebote (Fremdling, Witwe, Waise, Arme) III. 22,27–30 Privilegrecht Jahwes IV. 23,1–9 Prozessrecht (V. 4–6: Verhalten gegenüber Feind) C’. 23,10–12 Brachjahr (7. Jahr) und Sabbatgebot B’. 23,13–19 Fremdgötterverbot, Fest- und Opferbestimmungen A’. 23,20–33 Schlussrede (Epilog)
29.4.2.3. Literarhistorische Einordnung Die von der traditionellen Pentateuchkritik vertretene Auffassung, dass das Bundesbuch Bestandteil des „Elohisten“ (allerdings an einer anderen als der jetzt von ihm eingenommenen Stelle) gewesen sei (vgl. nur Fohrer) ist in der neueren Forschung meist aufgegeben. Christoph Levin weist zu Recht darauf hin, dass das Bundesbuch erst nach dem Dekalog in den Zusammenhang der Sinaiperikope eingefügt wurde (vgl. u. a. den Rückverweis von 20,22 auf die göttliche Dekalogproklamation). Da der Epilog des Bundesbuches in 23,20–33 zahlreiche spätdtr. Theologumena aufweist (vgl. oben § 24 und § 25.1.5.), ist zu erwägen, ob das Bundesbuch nicht erst vom spätdtr. Endredaktor des Pentateuch hinter Ex 20,1–21 gestellt wurde.
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29.4.2.4. Entstehung Vor der Einfügung in den Pentateuch hat das Bundesbuch allerdings bereits einen längeren Entstehungsprozess durchlaufen. Dabei besteht weitgehender Konsens, dass – von spätdtr. Erweiterungen abgesehen – das Bundesbuch seine heutige Gestalt in der Königszeit (vor dem deuteronomischen Gesetz) gewonnen hat (anders Van Seters). Auch setzen seine frühen Bestandteile jedenfalls bereits die Landnahme voraus (vgl. 22,4 f.). Allerdings wird seine Entstehungsgeschichte im Einzelnen in sehr unterschiedlicher Weise rekonstruiert. Nach Jörn Halbe (vgl. Wanke) war eine Privilegrechtsurkunde rein religiösen Charakters (20,24–26*; 22,27–29; 23,10–19* mit der Einleitung 23,23–24.31b– 33*) Grundlage des Bundesbuches. Erst in mehreren Erweiterungen wurden zunächst die sozialen Bestimmungen von 22,20–26* und 23,1–8* und erst danach die kasuistischen Mischpatim von 21,1–22,16 aufgenommen. Hinter der Privilegrechtsurkunde stehen dabei oppositionelle Gruppen der frühen Königszeit, die in der synkretistischen Religionspolitik der Könige eine Gefährdung der Identität Israels durch die kanaanäische Umwelt sahen. Demgegenüber sieht Ludger Schwienhorst-Schönberger (vgl. Kaiser, Zenger) in dem kasuistischen Rechtsbuch 21,12–22,16* den ältesten, möglicherweise bereits aus Schreiberschulen der früh- bzw. vorstaatlichen Zeit stammenden Bestand. Zu einer Gottesrede stilisiert worden ist das Bundesbuch erst durch eine umfangreiche protodeuteronomische Redaktion (Zufügung von 20,24–26 und 22,17–23,19* mit dem Kern des Epilogs von 23,20–33*). Auch nach Eckart Otto gehören die kasuistischen Mischpatim (21,2–22,26*) zum Grundbestand des Bundesbuches (Sammlung durch Jerusalemer Priesterkreise des 8. Jh). Allerdings nimmt er eine zweite etwa gleichzeitig (in levitischen Kreisen Judas) zu datierende Grundsammlung 22,28–23,12* an. Jedenfalls ist Vorsicht gegenüber einer zu genauen historischen Inbeziehungsetzung einzelner Rechtsbestimmungen geboten. Für ein Verständnis des Bundesbuches als Grundlage einer sozialen Reform Hiskias (so Albertz) gibt es keine eindeutigen Anhaltspunkte. 29.4.2.5. Theologische Bedeutung Das Bundesbuch stellt das früheste atl. Zeugnis für eine Israelitisierung des altorientalischen Rechts dar. Es bildet dabei traditionsgeschichtlich und formgeschichtlich eine Vorstufe des deuteronomischen Gesetzes. Ex 20,24b („An jeder Stätte, wo ich meines Namens gedenken lasse, will ich zu dir kommen und dich segnen“) wird dabei als Zeugnis für eine von Jahwe sanktionierte Vielfalt von Kultstätten angesehen, die später vom Deuteronomium bei seiner Kultzentralisionsforderung unter dem Gesichtspunkt der Kultreinheit bekämpft wurde. Allerdings kann Ex 20,24b auch auf die nachexilische spätdtr. Bearbeitung des
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Bundesbuches (bei seiner Einfügung in den – wohl mit dem Dtr. Geschichtswerk verbundenen – Pentateuch [vgl. oben § 24]) zurückgeführt werden, die in partieller Korrektur der deuteronomischen Kultzentralisationsvorstellung (vgl. hierzu auch Levin und Oswald) auf die Legitimität vorjerusalemischer Heiligtümer verweist, wenn Jahwe dort seines Namens gedenken ließ (Schmitt). 29.4.3. Deuteronomisches Gesetz (siehe oben § 23) 29.4.4. Heiligkeitsgesetz 29.4.4.1. Name Aus dem Gesamtzusammenhang der Priesterschrift hebt sich als relativ eigenständige Größe Lev 17–26 ab, die seit Klostermann (1877) als „Heiligkeitsgesetz“ (H) bezeichnet wird, weil in diesen Kapiteln der Begriff der „Heiligkeit“ von zentraler Bedeutung ist (vgl. vor allem 19,2: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, Jahwe, euer Gott“; aber auch 20,7 f.26; 21,6–8.15.23; 22,9.16.32). 29.4.4.2. Aufbau 17
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Gebot der Schlachtung am Opferort und Verbot des Blutgenusses (V. 11: „des Leibes Leben ist im Blut, und ich habe es euch für den Altar gegeben, dass ihr damit entsühnt werdet.“) Verbotene Geschlechtsbeziehungen Heiligung des Alltags (vgl. besonders V. 2; auch V. 18: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“) Todeswürdige geschlechtliche und andere Verfehlungen Heiligkeit der Priester Heiligkeit kultischer Abgaben und Opfer Feste Probleme der Kultordnung: Dienst an Leuchter und Schaubrottisch und Gotteslästerung Sabbat- und Jobeljahr Segen und Fluch
Für das Verständnis dieser Kapitel als eines abgegrenzten Rechtsbuches spricht, dass Lev 17–26 mit Bestimmungen über den Opferort beginnt (vgl. Ex 20,24–26 und Dtn 12) und mit Segen und Fluch endet (vgl. Dtn 27/28).
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29.4.4.3. Beziehung zu P Die traditionelle Pentateuchkritik (vgl. schon Klostermann) sieht u. a. aufgrund der Sonderstellung von Lev 17 und von Lev 26 in Lev 17–26 eine eigenständige Gesetzessammlung aus der Exilszeit, die durch PS in die priesterliche Grundschrift eingefügt wurde. Das ursprüngliche Heiligkeitsgesetz stellt dabei eine Weiterentwicklung der Rechtssammlung des Deuteronomiums dar (Smend, Zenger, Grünwaldt). Demgegenüber werden im Rahmen eines kompositionsgeschichtlichen Modells der Pentateuchentstehung (Blum, Crüsemann, Ruwe, vgl. auch Gerstenberger und schon Wagner) Lev 17–26 als integrale Bestandteile der priesterlichen Schicht verstanden. Die sprachlichen (vgl. qiddeˇs „heiligen“ von Jahwe in 20,8; 21,8.15.23; 22,9 etc.) und theologischen Unterschiede gegenüber PG (während PG in Gen 9,2–4 die profane Schlachtung erlaubt, wird sie in Lev 17,1–9 verboten; außerdem spricht Lev 26,45 f. im Gegensatz zu PG von einem Sinai-Bund; auch versteht Lev 25,23 f. anders als PG Jahwe, nicht Israel als Eigentümer des Landes) sprechen jedoch dafür, dass hier eine sekundäre Zufügung zu PG vorliegt. Im Unterschied zur traditionellen Pentateuchkritik, die an ein selbständiges Rechtsbuch denkt (vgl. auch Grünwaldt), ist dabei schon die exilische Grundschicht von Lev 17–26 als Einfügung in PG konzipiert (Elliger, Kaiser, Preuß, W.H. Schmidt). 29.4.4.4. Beziehung zu Dtn und Ez Bei dieser Ergänzung von PG hat H jedoch offensichtlich gleichzeitig eine Weiterführung und Korrektur des Deuteronomiums (vgl. nur das Fehlen der Leviratsbestimmungen im Lev 17–26) im Sinn (Cholewinski; vgl. auch Thiel). Daraus hat Eckart Otto den Schluss gezogen, dass die „Einfügung dieser Kapitel in P in den Horizont der Pentateuchredaktion“ zu rücken sei. Allerdings wird man in H zwischen verschieden literarischen Schichten differenzieren müssen (vgl. Elliger und auch Kilian zu unterschiedlichen Beziehungen zwischen H und den Überlieferungen des Ezechielbuches): Möglicherweise kann in H zwischen einer PS-Schicht und einer spätdtr. Pentateuchredaktionsschicht unterschieden werden (gemeinsame Redaktion an Lev 17–26 und an Dtn 12–26; vgl. Braulik). 29.4.4.5. Datierung In H dürften zahlreiche ältere Rechtsmaterialien eingegangen sein, die bis in die Frühzeit Israels zurückreichen (vgl. Elliger zu Lev 18). Das vorliegende Heiligkeitsgesetz spiegelt dagegen die Situation des exilischnachexilischen Israel. So setzt Lev 17,1–7 mit seiner Forderung, dass jede Schlachtung am Zentralheiligtum vorgenommen werden muss, die judäische
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Gemeinde der exilisch-nachexilischen Zeit mit ihrer nur geringen räumlichen Ausdehnung voraus. Auch dürfte die Vorstellung von Lev 21,10, die von einem Priester spricht, „der der größte (g¯adôl) unter seinen Brüdern ist“ und „über dessen Haupt das Salböl ausgegossen wird“, in die Zeit nach 587 v. Chr. und um 520/519 v. Chr. (hier besitzt der Hohepriester inzwischen die Bezeichnung kohen g¯adôl; vgl. Sach 3,1) gehören. 29.4.4.6. Theologische Bedeutung Für Lev 17–26 ist zentral die Heiligkeitsvorstellung. Hierbei geht es, wie Lev 19,2 zeigt, darum, dass Israel heilig sein kann, weil Jahwe Israel heiligt und ihm Anteil an seiner Heiligkeit gibt (vgl. 20,8; 21,8.15.23; 22,9 etc.). Es geht in H somit nicht um Gesetzlichkeit, sondern um die Erkenntnis, dass die göttliche Gabe eine menschliche Aufgabe einschließt. In diesem Rahmen muss sowohl die Individualethik (vgl. besonders Lev 19,17 f.: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“) als auch die Sozialethik des Heiligkeitsgesetzes (vgl u. a. die bodenrechtlichen Sabbat- und Jobeljahrbestimmungen von Lev 25) verstanden werden.
29.5.
Ausgewählte Literatur
29.5.1. Zu den erzählenden und berichtenden Gattungen des AT Blum, E.: Die Komposition der Vätergeschichte, Neukirchen-Vluyn 1984. Carr, D. M.: Writing on the Tablet of the Heart, Oxford 2005. Fuchs, G.: Mythos und Hiobdichtung, Stuttgart 1993. Fohrer G.: Einleitung in das AT (begründet von E. Sellin), Heidelberg 121979. Gunkel, H.: Die israelitische Literatur, Leipzig 1925; Nachdruck Darmstadt 1963. Jolles, A.: Einfache Formen,Tübingen 21958. Kaiser, O.: Einleitung in das AT, Gütersloh 51984. Kirkpatrick, P.G.: The Old Testament and Folklore Study, Sheffield 1988. Noth, M.: Überlieferungsgeschichte des Pentateuch, Stuttgart 1948; Nachdruck 2001. Olrik, A.: Epische Gesetze der Volksdichtung, ZDA 51, 1909, 1–12. Rendtorff, R.: Das AT. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 41992. Schmidt, W.H.: Einführung in das AT, Berlin/New York 51995. Schmitt, H.-C.: Art. Literaturgeschichte 1. AT, in: EKL 3, 1992, 128–133. Smend, R.: Die Entstehung des AT, Stuttgart 41989. Van Seters, J.: Abraham in History and Tradition, New Haven/London 1975. Wahl, H.M.: Die Jakobserzählungen. Studien zu ihrer mündlichen Überlieferung, Verschriftung und Historizität, Berlin/New York 1997. Westermann, C.: Arten der Erzählung in der Genesis, in Forschung am AT, NeukirchenVluyn 1964, 9–91.
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301
Van Seters, J.: The Law of the Hebrew Slave, ZAW 108, 1996, 534–546. –: A Law Book for the Diaspora. Revision in the Study of the Covenant Code, Oxford 2003. Wanke, G.: Art. Bundesbuch, in: TRE 7, 1981, 412–415.
29.5.5. Zum Heiligkeitsgesetz (wenn nicht unter 29.5.2.) Blum, E.: Studien zur Komposition des Pentateuch, Berlin/New York 1990. Braulik, G.: Die deuteronomistischen Gesetze und der Dekalog, Stuttgart 1991. Cholewinski, A.: Heiligkeitsgesetz und Deuteronomium, Rom 1976. Elliger, K.: Leviticus, HAT I/4, Tübingen 1996. Gerstenberger, E.S.: Das 3. Buch Mose, ATD 6, 1993. Grünwaldt, K.: Das Heiligkeitsgesetz, Berlin/New York1998. Kilian, R.: Literarkritische und formgeschichtliche Untersuchung des Heiligkeitsgesetzes, Bonn 1963. Klostermann, A.: Ezechiel und das Heiligkeitsgesetz, ZLThK 38, 1877, 401–445. Preuß, H.D.: Art. Heiligkeitsgesetz, in: TRE 14, 1985, 713–715. Rendtorff, R./Kugler, R.A. (Hg.): The Book of Leviticus. Composition and Reception, Leiden 2003. Ruwe, A.: „Heiligkeitsgesetz“ und „Priesterschrift“, Tübingen 1999. Thiel, W.: Erwägungen zum Alter des Heiligkeitsgesetzes, ZAW 81, 1969, 40–73. Wagner, V.: Zur Existenz des sog. „Heiligkeitsgesetzes“, ZAW 86, 1974, 307–316.
29.6.
1. 2. 3. 4.
5. 6.
Repetitionsthemen zu Pentateuch und Geschichtsbüchern (§ 18–29): Die Entwicklung der Pentateuchforschung von Ibn Esra bis zur Gegenwart. Die priesterliche Pentateuchschicht: Zentrale Texte, stilistische Besonderheiten, Entstehungssituation und theologische Intentionen. Das Gottes- und Menschenverständnis der priesterlichen und der „jahwistischen“ Schicht der Urgeschichte Gen 1–11. Die theologischen Unterschiede zwischen der Darstellung der Erzväter in der priesterlichen, der „jahwistischen“ und der „elohistischen“ Schicht von Gen 12–50. Die unterschiedlichen Moseverständnisse der Schichten von Ex 1 – Dtn 34. Die Schichten des Deuteronomium und ihre zentralen theologischen Intentionen.
302
Die Schriften des AT
7. 8. 9. 10. 11. 12.
Das Deuteronomistische Geschichtswerk: Aufbau, Quellen, literarische Schichtung, Entstehungssituation und theologische Intentionen. Das Chronistische Geschichtswerk: Umfang, Quellen, Entstehungssituation und theologische Intentionen. Aufbau, literarische Schichtung, Gattung und theologische Intentionen des Rutbuches. Die atl. Rechtsgattungen und ihr Sitz im Leben und die Stellung des Dekalogs. Die atl. Rechtssammlungen, ihre Entstehungssituation und ihre theologischen Besonderheiten. „Bundes“-Theologien im AT.
Die prophetischen Bücher
303
Kapitel 3: Die prophetischen Bücher
§ 30
Die Gattungen der prophetischen Überlieferung und die Entstehung der Prophetenbücher
30.1.
Die Überlieferung der atl. prophetischen Verkündigung
30.1.1. Das Prophetenbuch als Sammelwerk Im atl. Kanon finden sich 4 umfangreiche Prophetenbücher: das Großjesajabuch (Jes 1–66), das Jeremiabuch (Jer 1–52), das Ezechielbuch (Ez 1– 48) und schließlich das Dodekapropheton, das eine Sammlung von 12 einzelnen kleineren Prophetenschriften enthält. Das Entstehen dieser Prophetenbücher verdankt sich einem sehr komplexen Entstehungsprozess, hinter dem ursprünglich – zumindest in den meisten Fällen – eine mündliche prophetische Verkündigung stand. Diese prophetische Verkündigung ist – wie auch die prophetische Überlieferung der Umwelt Israels zeigt – wohl durch paranormale, auf göttliche Einwirkung zurückgeführte Erfahrungen zustande gekommen. Allerdings ist sie angesichts des langen Überlieferungsprozesses nur noch schwer zu rekonstruieren. Wie bei der Erzählungs- und Rechtsüberlieferung (vgl. oben § 29) hat sich auch in der Prophetenforschung die von Hermann Gunkel eingeführte formgeschichtliche Methode bewährt. Dies gilt vor allem für den Versuch, die ursprünglichen kleinen Einheiten (die eine in sich sinnvolle Aussage innerhalb der prophetischen Überlieferung beinhalten) unter der Frage nach den Gattungen der Prophetie und deren jeweiligem Sitz im Leben wiederherzustellen. Dabei kommt dem Exegeten zu Hilfe, dass die Prophetensprüche oft mit bestimmten Formeln ein- bzw. ausgeleitet werden. Unter den Einleitungsformeln ist vor allem die sog. prophetische Botenformel (koh #a¯ mar Jhwh „so spricht Jahwe“; vgl. Am 1,3.6) anzuführen. Zu nennen sind auch die Wortereignisformel „es geschah das Wort Jahwes zu …“ (vgl. Jer 1,4) und der Aufmerksamkeitsruf „Höre!“, „Höret!“ (vgl. Jes 1,2.10).
304
Die Schriften des AT
Seltener finden sich in der prophetischen Überlieferung Abschlussformeln. Zu nennen sind hier die Gottesspruchformel ne #um Jhwh „Ausspruch Jahwes“ (vgl. Am 4,3) und die Formeln „spricht Jahwe“ (#a¯ mar Jhwh; vgl. Am 1,5) und „der Mund Jahwes sagt es“ (vgl. Jes 1,20). Anhand dieser Formeln zeigt sich, dass für die Propheten relativ kurze Sprüche typisch waren. Häufig waren diese Sprüche poetisch geformt, was in der hebr. Überlieferung vor allem am sog. parallelismus membrorum (vgl. dazu unten § 48.4.) und an bildhafter Sprache erkennbar wird (vgl. Jes 1,3: „Der Ochse kennt seinen Herrn, der Esel die Krippe seines Herrn, aber Israel kennt es nicht, und mein Volk versteht es nicht“). Dass eine kleine prophetische Einheit endet und eine andere beginnt, wird in den Prophetenbüchern häufig auch am Wechsel des Adressaten bzw. des Sprechers (z. B. Übergang von Jahwerede in 1. Person zu Rede über Jahwe in 3. Person) deutlich. Aufgrund solcher Überlegungen hat die formgeschichtliche Prophetenforschung eine Reihe von grundlegenden Gattungen prophetischer Rede nachweisen können. Dabei zeigt sich, dass es einerseits typisch prophetische Gattungen gibt, dass andererseits die prophetische Überlieferung aber auch Spruchgattungen aus anderen Lebensbereichen entlehnt, um ihrer Verkündigung größeren Nachdruck zu verleihen. 30.1.2. Prophetensprüche 30.1.2.1. Grundgattungen der Prophetensprüche Hermann Gunkel rechnet entsprechend dem Inhalt der vom Propheten zu vermittelnden Botschaft mit den vier Grundgattungen „Drohwort“, „Scheltwort“, „Mahnwort“ und „Heilswort“. 1.
2.
Da die atl. Schriftpropheten meist Unheil zu verkündigen haben, findet sich bei ihnen häufig das sog. Drohwort, das oft mit „daher“ (l¯aken) bzw. „siehe“ (hinneh) eingeleitet wird. Von Claus Westermann werden diese Unheilssprüche als „Gerichtsworte“ bezeichnet. Als Beispiel soll hier Am 4,2 f. genannt werden: „Siehe, es kommt die Zeit, dass man euch herausschleppen wird mit Angeln …“ Bemerkenswert ist, dass solche Drohworte häufig als direkte Gottesworte formuliert sind (vgl. bei Am 4,2 die Einleitung: „Jahwe hat geschworen“). Die zweite von Gunkel genannte Grundgattung ist das Scheltwort (Westermann: „Anklage“; Koch: „Lagehinweis“; vgl. als Beispiel Am 4,1: „Ihr Basanskühe, die ihr den Geringen Gewalt antut“). Das Scheltwort dient häufig zur Begründung eines „Drohwortes“ (vgl. Am 4,1 im Verhältnis
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3.
4.
a)
b) c)
305
zu 4,2 f.). Bemerkenswert ist, dass es oft nicht als direktes Gotteswort formuliert ist, sondern bloß als Wort des Propheten (vgl. Am 4,1). Soll für das Drohwort eine größere göttliche Autorität in Anspruch genommen werden als für das Scheltwort (vgl. Wolff; anders u. a. Wagner)? Das Mahnwort stellt nach Gunkel die dritte prophetische Grundgattung dar, die in der vorexilischen Schriftprophetie allerdings seltener als die beiden zuerst genannten Gattungen vorkommt (vgl. Am 5,4 „Jahwe spricht: Suchet mich, so werdet ihr leben“). Schließlich finden sich in der Schriftprophetie auch Heilsworte, die man nach Claus Westermann (1964) noch in folgende drei Untergattungen differenzieren kann: das Heilsorakel oder die Heilszusage, bei der die schon geschehene Heilszuwendung Gottes einem Klagenden mit einem „Fürchte dich nicht“ und im Perfekt („ich habe dich erlöst …“) zugesprochen wird (vgl. Jes 43,1–7 und dazu unten 30.1.2.2.c. und § 31.4.3.1.1.a); die Heilsankündigung bzw. die Verheißung (Ankündigung einer zukünftigen Wende, vgl. Jes 43,16–21: „siehe, ich werde Neues schaffen …“); die Heilsschilderung, die einen zukünftigen Zustand beschreibt (vgl. Jes 11,1–9: „es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais …“).
Diese vier Grundgattungen können sich an Einzelne (vgl. Am 7,16 f.), an eine Gruppe (vgl. Am 4,1–3), an das gesamte eigene Volk (vgl. Am 2,6 ff.) und schließlich auch an ein Fremdvolk (vgl. Am 1,3 ff.) richten. 30.1.2.2. Von der Prophetie aus anderen Lebensbereichen entlehnte Gattungen Um ihre Botschaft eindrücklicher zu machen, greift die Prophetie auch auf ursprünglich nichtprophetische Spruchgattungen zurück. Für die Unheilsbotschaft der Propheten legte sich dabei besonders die Totenklage nahe. a)
b)
c)
Der Totenklage entstammt das „Wehewort“ (hoj), das hier auf Lebende angewendet wird, um auszudrücken, dass einem bestimmten Verhalten der „Keim des Todes bereits innewohnt“ (Wanke; vgl. Am 5,18; 6,1). Eine ähnliche Funktion besitzt das Leichenlied (hebr. qîn¯ah), dessen bekanntestes Beispiel in Am 5,2 vorliegt („Gefallen ist, steht nimmer auf, die Jungfrau Israel“; im hebräischen Leichenliedmetrum mit 3 + 2 Hebungen). Hinzu kommen aus dem Kult stammende Gattungen. So liegt in den kultkritischen Ausführungen der Prophetien des Amos (Am 5,21–27*) und des Jesaja (1,10–17) keine bloße Polemik gegen den Opferkult vor.
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Die Schriften des AT
d)
e) f)
g)
Vielmehr wird hier der priesterliche Kultbescheid aufgegriffen, der dem Opfernden die Annahme oder Ablehnung seines Opfers durch Gott mitteilt. In Am 5 und Jes 1 handelt es sich um einen „negativen Kultbescheid“ (Würthwein), der nicht den Opferkult an sich ablehnt, sondern nur die jetzt dargebrachten Opfer, weil die Opfernden aufgrund ihrer Unterdrückung der Armen mit Blut befleckte Hände haben (vgl. Jes 1,15b). Möglicherweise geht auch das Heilsorakel (vgl. oben 30.1.2.1.) auf die einem Klagelied des Einzelnen antwortende priesterliche Erhörungszusage zurück (vgl. unten § 31.4.3.1.1.) Aus der Torgerichtsbarkeit stammt die Gattung der Gerichtsrede, wie sie u. a. in Jer 2,4–9; Jes 43,22–28 (Rechtfertigungsrede eines Angeklagten) oder in Jes 41,1–5 (Rede eines Anklägers) belegt ist (Boecker). Die in Am 3,3–8; Jes 40,12 ff. und in Mal 1–3 vorliegende Gattung des Disputationswortes ist vermutlich der Schulweisheit entnommen. Auch einem weisheitlichen Sitz im Leben entstammt wahrscheinlich der Geschichtsrückblick, dessen Gattung u. a. in Hos 11,1 ff. und in Ez 20 aufgegriffen wurde. In Jes 5,1–7 benutzt Jesaja ein Liebesgeschichtenlied, wie man es wahrscheinlich zur Volksunterhaltung vorgetragen hat.
30.1.3. Prophetenberichte Neben Prophetensprüchen finden sich in der prophetischen Überlieferung auch unterschiedliche Formen des Berichts über prophetische Erfahrungen und prophetisches Auftreten. 30.1.3.1. Berichte über prophetisches Auftreten In diesen Berichten kann zum einen über die Ausführung eines prophetischen Verkündigungsauftrags berichtet werden (Jes 7,1 ff.). Andererseits treten Propheten im AT auch zur Durchführung von symbolischen Handlungen auf. Teilweise wird in diesen Berichten ein noch nachwirkender magischer Hintergrund der Zeichenhandlung deutlich (vgl. Ez 4,1 ff.: symbolische Belagerung Jerusalems im Sinne eines Analogiezaubers). Andere Berichte betonen die pädagogische Abzweckung solcher Handlungen (vgl. Jes 20,3 und Jer 27,1 ff.). 30.1.3.2. Visionsberichte Dass Grundlage prophetischer Verkündigung ein paranormales Widerfahrnis des Propheten ist, wird vor allem an den Visionsberichten deutlich. Dabei unterscheidet man entsprechend der Beziehung des Visionsinhalts auf die Realität zwischen:
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307
Gottesvisionen (vgl. Jes 6,1 ff.), Ereignisvisionen (vgl. Am 7,1–6: Prophet sieht das zukünftige Ereignis), Symbolvisionen (vgl. Jer 1,13 f.: siedender Topf symbolisiert „Feind aus dem Norden“) und Wortspielvisionen, wie sie vor allem in Am 8,1–2 und Jer 1,13 f. vorliegen: So spielt in Am 8,1–2 der hebräische Begriff für Sommerobstkorb (qajis) . auf das hebräische Wort für Ende (qes) . an, so dass der Sommerkorb die Botschaft, für Israel sei das Ende gekommen, zum Ausdruck bringt. 30.1.3.3. Berufungsberichte Bemerkenswert ist, dass die atl. Schriftprophetie zwei verschiedene Formen des Berufungsberichts kennt. In Jer 1,4 ff. (vgl. auch Ez 2 f. und dazu Vieweger) wird der Prophet im Zwiegespräch mit Gott berufen. Kennzeichnend für dieses Schema ist, dass der Prophet gegen seine Berufung Einwände erhebt, die Gott dann durch seine Beistandszusage überwindet (vgl. das gleiche Berufungsschema auch in Ex 3,9–12; Ri 6,11b–17 und 1Sam 9,1–10,16). In Jes 6; 40,1 ff.; Ez 1 findet die Berufung dagegen im Thronrat Jahwes statt: Hier wird die Berufung in der Form der Vergabe eines außergewöhnlichen Auftrages (vgl. 1Kön 22,19–22 und dazu Steck) dargestellt. 30.1.3.4. Unterschiede in der Person des Berichtenden Bei den Prophetenberichten handelt es sich meist um Fremdberichte (vgl. Am 7,10–17). Doch liegen auch zahlreiche Ich-Berichte vor, vor allem bei den oben behandelten Berufungsberichten (vgl. Jes 6 und Jer 1). Dies deutet darauf hin, dass die prophetische Überlieferung mit der Niederschrift von einzelnen prophetischen Zeugnissen durch die Schriftpropheten selbst rechnet.
30.2.
Verschriftung der prophetischen Verkündigung
30.2.1. Atl. Zeugnisse über Verschriftung von prophetischer Botschaft Im Gegensatz zu Theorien, die mit einer jahrhundertelangen mündlichen Tradition der prophetischen Botschaft vor ihrer Verschriftlichung rechnen (UppsalaSchule; vgl. Nielsen), spricht der atl. Befund eher dafür, daß der Verschriftungsprozess prophetischer Überlieferungen schon zu Lebzeiten des Propheten einsetzt (Gunneweg).
308
Die Schriften des AT
Zunächst gibt es Hinweise für eine Niederschrift prophetischer Botschaft durch den Propheten selbst. So schreibt Jesaja in Jes 8,1 f. den Symbolnamen des Jesajasohnes „Raubebald-Eilebeute“ auf eine große Tafel, und in Jes 30,8 bekommt er den Auftrag, eine Botschaft aufzuzeichnen, wobei in der Forschung strittig ist, ob damit nur Jes 30,7* (so Kaiser, Höffken) oder der Gesamtzusammenhang von 30,8 ff. gemeint ist (vgl. Kilian). Für die Aufzeichnung größerer Prophetenworte durch Propheten könnten allerdings die Ich-Berichte der Prophetenbücher sprechen (vgl. Am 7,1 ff.). Von einer sehr viel umfangreicheren Niederschrift prophetischer Worte berichtet jedenfalls Jer 36,4: Hiernach hat Baruch nach dem Diktat Jeremias alle damals vorliegenden Prophetenworte Jeremias in eine Schriftrolle geschrieben. Schließlich spricht Jes 8,16 davon, dass Jesaja seine Botschaft in seinen Jüngern verschließen will. Allerdings bleibt offen, ob diese Tradierung der prophetischen Botschaft durch Prophetenschüler eine schriftliche Fixierung der Prophetie Jesajas im Blick hat. 30.2.2. Motive für die Verschriftung Für die Niederschrift von Prophetenworten nennt die prophetische Überlieferung vor allem drei Motive: 1. Nach Jes 30,8 hat die schriftlich fixierte prophetische Botschaft den Zweck, dass „sie ‚als Zeuge‘ diene für immer“. Das Prophetenwort, das noch nicht eingetroffen ist, wird aufgezeichnet, damit zum Zeitpunkt der Erfüllung seine Wahrheit erkannt wird. 2. In Jer 36,1–7 werden die Niederschrift der prophetischen Botschaft und ihre Verlesung als Buch mit der Erwartung verbunden, dass sie so eindringlicher zur Umkehr mahnen kann. 3. Der Hinweis auf die Erfüllung einzelner Prophetenworte in den Überschriften der Prophetenbücher (vgl. Am 1,1: „zwei Jahre vor dem Erdbeben“; aber auch Jer 1,3b: „bis Jerusalem weggeführt wurde“) deutet an, dass auch die Erfüllung der prophetischen Botschaft ihre Niederschrift motiviert hat: Dabei wird davon ausgegangen, dass das prophetische Wort auch über die gegenwärtige Erfüllung hinaus noch autoritative Aussagen über die Zukunft enthält.
30.3.
Redaktion der Prophetenbücher
Dass in exilisch-nachexilischer Zeit der Sinn der Botschaft der vorexilischen Propheten nicht nur in der Ankündigung des Exils gesehen wird, zeigt der Aufbau der Prophetenbücher nach dem sog. zweigliedrigen bzw. dreigliedrigen eschato-
Die prophetischen Bücher
309
logischen Schema. Als Beispiel für ein zweigliedriges eschatologisches Prophetenbuchschema sei das Amosbuch genannt: I. II.
Gericht: Heil:
Am 1,1 – 9,6 Am 9,7–15.
Dem dreigliedrigen eschatologischen Schema entspricht am klarsten das Ezechielbuch: I. II. III.
Gericht über Juda und Jerusalem: Ez 1–24 Gericht über die Fremdvölker: Ez 25–32 Heil: Ez 33–48.
Nach Auffassung der Redaktoren der Prophetenbücher spiegelt sich in diesem Aufbau der zukünftige Ablauf des eschatologischen Geschehens: Im Anschluss an das göttliche Gericht über Israel und die Völkerwelt wird das endzeitliche Heil (für Israel) eintreten. Im Rahmen dieses Verständnisses der prophetischen Botschaft kommt es in der exilisch-nachexilischen Zeit zu einer Reihe von redaktionellen Zufügungen, die man drei verschiedenen Intentionen zuordnen kann: 1.
2.
3.
30.4.
Anfügung von Heilsankündigungen (in Aufnahme der eschatologischen Prophetie der exilisch-nachexilischen Zeit); Beispiele: Am 9,7–15; Jes 40–66; Aktualisierung der Gerichtsbotschaft für die exilisch-nachexilische Situation; Beispiele: dtr. Redaktion des Amos- und Jeremiabuches (vgl. besonders den Judaspruch von Am 2,4–5). Zusätze im Zusammenhang der gottesdienstlichen Vergegenwärtigung der prophetischen Botschaft; Beispiele: Amos-Doxologien (Am 4,13; 5,8; 9,5 f.); Jes 12.
Ausgewählte Literatur
Begrich J.: Studien zu Deuterojesaja, Stuttgart 1938; München 21963. Behrens, A.: Prophetische Visionsschilderungen im AT. Sprachliche Eigenarten, Funktion und Geschichte einer Gattung, Münster 2002. Boecker, H.J.: Redeformen des Rechtslebens im AT, Neukirchen-Vluyn 21970. Fischer, I./Schmid, K./Williamson, H.G.M. (Hg.): Prophetie in Israel, Münster 2003. Fohrer, G.: Die symbolischen Handlungen der Propheten, Zürich 1968. Gunkel, H.: Die israelitische Literatur, Leipzig 1925; Nachdruck Darmstadt 1963.
310
Die Schriften des AT
Gunneweg, A.H.J.: Mündliche und schriftliche Tradition der vorexilischen Prophetenbücher, Göttingen 1959. Hermisson, H.-J.: Kriterien „wahrer“ und „falscher“ Prophetie im AT. Zur Auslegung von Jeremia 23,16–22 und Jeremia 28,8–9*, in: Studien zu Prophetie und Weisheit. Gesammelte Aufsätze. Hg. v. J. Barthel, H. Jaus und K. Koenen, Tübingen 1998, 59–76. Höffken, P.: Das Buch Jesaja Kapitel 1–39, NSKAT 18/1, Stuttgart 1993. Horst, F.: Die Visionsschilderungen der atl. Propheten, EvTh 20, 1960, 193–205. Jeremias, J.: Art. Prophet/Prophetin/Prophetie II. AT, RGG4 6, 2003, 1694–1699. –: Art. Prophetenbücher, RGG4 6, 2003, 1708–1715. Kaiser O.: Einleitung in das AT, Gütersloh 51984. –: Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des AT 2, Gütersloh 1994. –: Der Prophet Jesaja. Kap. 13–39, ATD 18, Göttingen 31983. Kilian, R.: Die prophetischen Berufungsberichte, in: Studien zu atl. Texten und Situationen, Stuttgart 1999, 53–76. –: Jesaja II: 13–39, NEB, Würzburg 1994. Koch, K.: Was ist Formgeschichte? Neukirchen-Vluyn 31974. Koenen, K.: Heil den Gerechten – Unheil den Sündern! Ein Beitrag zur Theologie der Prophetenbücher, Berlin/New York 1994. Kratz, R.G.: Die Redaktion der Prophetenbücher, in: FS O.H. Steck, Freiburg (Schweiz)/ Göttingen 1997, 9–27. Lange, A.: Vom prophetischen Wort zur prophetischen Tradition. Studien zur Traditionsund Redaktionsgeschichte innerprophetischer Konflikte in der Hebräischen Bibel, Tübingen 2002. Nielsen, E.: Oral Tradition, London 1954. Nissinen, M. (Hg.): Prophecy in its Ancient Near Eastern Context. Mesopotamian, Biblical, and Arabian Perspectives, Atlanta 2000. Rendtorff, R.: Das AT. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 41992. Schmid, K.: Hintere Propheten, in: J. C. Gertz (Hg.), Grundinformation AT, Göttingen 32009, 313–412. Schmidt, W.H.: Einführung in das AT, Berlin und New York 51995. –: Zukunftsgewißheit und Gegenwartskritik. Drei Studien zur Eigenart der Prophetie, Neukirchen Vluyn 2002. Schmitt, H.-C.: Das sog. vorprophetische Berufungsschema, in: Theologie in Prophetie und Pentateuch. Gesammelte Schriften. Hg. von U. Schorn und M. Büttner, Berlin/New York 2001, 59–73. Steck, O.H.: Bemerkungen zu Jes 6, in: Wahrnehmungen Gottes im AT, München 1982, 149–170. –: Die Prophetenbücher und ihr theologisches Zeugnis, Tübingen 1996. Sweeney, M.A.: Isaiah 1–39. With an Introduction to Prophetic Literature, FOTL 16, Grand Rapids (Mich.) 1996. Vieweger, D.: Die Spezifik der Berufungsberichte Jeremias und Ezechiels, Frankfurt a. M. 1986.
Die prophetischen Bücher
311
Wagner, A.: Prophetie als Theologie, Göttingen 2004. – (Hg.): Bote und Brief. Sprachliche Systeme der Informationsübermittlung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Frankfurt a. M. 2003. Wanke, G.: #oj und hoj, ZAW 78, 1966, 215–218. Westermann, C.: Grundformen prophetischer Rede, München 51978. –: Das Heilswort bei Deuterojesaja, EvTh 24, 1964, 355–373. –: Prophetische Heilsworte im AT, Göttingen 1987. Wolff, H.W.: Die Begründungen der prophetischen Heils- und Unheilssprüche, in: Gesammelte Studien zum AT, München 1964, 9–35. Würthwein, E.: Kultpolemik oder Kultbescheid?, in: Wort und Existenz, Göttingen 1970, 144–160. Zimmerli, W.: Ezechiel, BKAT 13, Neukirchen-Vluyn 21972.
§ 31
Das Jesajabuch, der Prophet Jesaja und die deuteround tritojesajanische Botschaft
31.1.
Das Großjesajabuch Jes 1–66
31.1.1. Aufbau Wie der Beginn des „Tritojesaja“-Teils (Jes 56–66) von Jes 1–66 in Jes 56,1 zeigt, ist mit einem bewusst komponierten „Großjesajabuch“ zu rechnen: 56,1 „So spricht Jahwe: Wahret das Recht (miˇspat) und übt Gerechtigkeit (s. ed¯aq¯ah); denn mein Heil (jeˇsû¯ah) … und meine Gerechtigkeit (s. ed¯aq¯ah) … sind nahe“ stellt nämlich eine Inbeziehungsetzung des Gerechtigkeitsbegriffs von Jes 1–39* (vgl. „Recht und Gerechtigkeit“ in 1,21.27; 5,7; 9,6; 16,5) mit dem des DeuterojesajaBuches Jes 40–55* (vgl. „Gerechtigkeit und Heil“ in 45,8; 46,13; 51,5.6.8) dar (Rendtorff). Dabei wird in Jes 56,1 hervorgehoben, dass die in Jes 1–39* erhobene Forderung nach menschlicher Gerechtigkeit als Konsequenz der in Jes 40–55 verkündigten Gabe der göttlichen Gerechtigkeit zu verstehen ist. Für eine Jes 1–66 umfassende Komposition spricht auch die außerhalb von Jes nur selten belegte Gottesbezeichnung „der Heilige Israels“ (vgl. 1,4; 5,19.24; 30,11 f.15; 31,1 mit u.a. 41,14.16.20; 43,3.14f.; 45,11; 54,5; 55,5 und 60,9.14). Auf einen das ganze Buch in den Blick nehmenden Kompositor dürfte auch die Verankerung des „Tierfriedenmotivs“ in 11,6–9 und 65,25 zurückgehen (Jüngling). Da sich in Jes 40 ff. keine neue Überschrift findet, wird von den Kompositoren der in Jes 1,1 genannte Jesaja des 8. Jh. als Autor von Jes 1–66 angesehen. Das Großjesajabuch scheint somit nach dem folgenden Schema aufgebaut zu sein:
312
Die Schriften des AT
I. II. III.
Göttliche Forderung und göttliches Gericht (Jes 1 ff.) Göttliches Heil (Jes 40 ff.) Göttliche Forderung angesichts von göttlichem Heil und göttlichem Gericht (Jes 56 ff.)
31.1.2. Entstehung Odil Hannes Steck (1991) rechnet mit folgenden Entstehungsstadien des Großjesajabuches: Während in der Perserzeit Jes 1–34* + 36–39 und Jes 40–55* + 60–62* noch als getrennte Bücher vorlagen, sind zu Beginn des hellenistischen Zeitalters beide Bücher erstmals zum Großjesajabuch vereinigt worden (dabei Zufügung von u. a. Jes 24–27*; 35; 51*; 62,10–12). Eine zweite kurz danach vorgenommene Fortschreibung hat vor allem den „tritojesajanischen“ Teil ausgebaut (56,9–63,6*). Um die Mitte des 3. Jh. v. Chr. ist dann schließlich Jes 63,7–66,24 (auch 19,18–25) hinzugefügt worden. Auf jeden Fall setzt zu Beginn des 2. Jh. v. Chr. Sir 48,22–25 den Zusammenhang von Jes 1–35.36–39 und 40ff. voraus. Auch die Jesajahandschriften aus Qumran belegen, dass der heutige Umfang von Jes 1–66 im 2. Jh. v. Chr. bereits festlag.
31.2.
Die Unterscheidung von Proto-, Deutero- und Tritojesaja
31.2.1. Abgrenzung von Jes 40 ff. Seit Ende des 18. Jh. (vgl. besonders Eichhorn) setzt sich in der atl. Exegese die Auffassung durch, dass Jes 40 ff. von einem anderen Verfasser stammen als Jes 1 ff. Für verschiedene Verfasser sprechen: 1.
2.
3.
der Zeitbezug: Jes 1–39 beziehen sich auf einen Propheten der 2. Hälfte des 8. Jh., Jes 40 ff. setzen demgegenüber die Zerstörung Jerusalems von 587 v. Chr. (44,26; 51,3) und den Aufstieg des Perserkönigs Kyrus nach 550 v. Chr. (44,26 f.; 45,1) voraus. die Verwendung unterschiedlicher prophetischer Ausdrucksformen: Während Jes 1 ff. primär Droh- und Scheltworte enthält, ist Jes 40 ff. geprägt durch Heilsverkündigung. die Stellung von Jes 36–39: Die aus 2 Kön 18–20 entlehnten Kapitel 36–39 sind als geschichtlicher Anhang an ein abgeschlossenes Prophetenbuch zu verstehen (vgl. Jer 52), so dass Jes 40 ff. als Neuanfang interpretiert werden muss.
Die prophetischen Bücher
313
31.2.2. Abgrenzung von Jes 56–66 und Jes 40–55 Seit Bernhard Duhm (1892) wird Jes 56–66 als Tritojesajabuch vom Deuterojesajabuch Jes 40–55 abgehoben. Jes 56–66 setzen eine Situation des Wiederaufbaus in Palästina nach dem Ende des Exils voraus. Auch hier treten gegenüber Jes 40–55 wieder stärker prophetische Anklage und Unheilsverkündigung hervor.
31.3.
Protojesaja (Jes 1–39)
31.3.1. Aufbau Dem Aufbau des Protojesajabuches Jes 1–39 liegt wahrscheinlich das dreigliedrige eschatologische Schema zugrunde: I. II. III. IV.
Jes 1–12 Jes 13–23 Jes 24–35 Jes 36–39
Vor allem Unheilsankündigung gegen das eigene Volk Vor allem Unheilsankündigung gegen die Fremdvölker Vor allem Heilsankündigungen Geschichtlicher Anhang aus 2Kön 18–20 (zusätzlich eingefügt: Dankpsalm Hiskias in Jes 38,9–20).
Teil I (Jes 1–12) untergliedert sich dabei in folgende Teilstücke: 1,1–2,5 „Zusammenfassung der Botschaft Jesajas“ (Fohrer) 1,4–9 Jerusalem wie Sodom („Hütte im Gurkenfeld“) 1,10–17 Kultkritik (wegen „Hände voll Blut“) 1,21–26 Läuterungsgericht an Jerusalem 2,1–5 Völkerwallfahrt zum Zion (vgl. Mi 4,1 ff.) 2,6–4,6 Worte gegen Hochmut 2,6–22 Tag Jahwes 3,1–15 Gegen die Führer in Jerusalem 3,16 ff. Gegen die Jerusalemer Frauen 4,2–6 Verherrlichung des Zion 5,1–7 Weinberglied 5,8–24; 10,1–4 Weheworte 6,1–9,6 Sog. Denkschrift Jesajas 6,1–11 (.12 f.) Thronratsvision 7,1–9 Botschaft an Ahas im syrisch-ephraimitischem Krieg 7,10–17 Immanuelzeichen 8,1– 4 Geburt des Eilebeute-Raubebald 9,1– 6 Geburt des Messiaskindes
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9,7–20 +5,25–29/30 Kehrversgedicht 11,1–9* Reis aus der Wurzel Isais 12 Eschatologisches Danklied In Teil II (Jes 13–23) ist auf folgende Fremdvölkerworte besonders hinzuweisen: 13 f. Gegen Babel, Assur und die Philister 15 f. Gegen Moab 17 Gegen Damaskus und das Nordreich 18–20 Gegen Ägypten und Äthiopien 20 Jesajas Symbolhandlung gegen Bündnis mit Ägypten 21 Gegen Babel, Edom, Arabien [22 Gegen Jerusalem und Hofbeamte] 23 Gegen Tyrus und Sidon Teil III (Jes 24–35) gliedert sich in folgende 3 Unterteile: A. 24–27 Sog. Jesaja-Apokalypse 24 Weltgericht 25 Zerstörung der feindlichen Stadt 26 Hoffnung auf Stadt auf dem Zion und Wiederherstellung und Mehrung des Volkes 27 Nachtrag: Lied vom Weinberg Israel 25,8; 26,19: Auferstehungshoffnung B. 28–32 Assur-Zyklus 28,1– 4 Wehe über Samaria 28,7–13 Gegen Priester und Propheten 28,16–22 Gottes fremdes Werk 28,23–29 Lehrgedicht von der Weisheit des Ackermanns 29,1–8 Wehe über Ariel-Jerusalem 30–31 Gegen Bündnis mit Ägypten (31,3: Ägypten ist Mensch und nicht Gott) 32,9–14 Gegen die leichtsinnigen Jerusalemerinnen C. 33–35 Heilsankündigungen 33 Prophetische Liturgie 34–35 Sog. Kleine Apokalypse 34 Gericht über Edom 35 Heimkehr zum Zion
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31.3.2. Entstehung Konsens besteht in der neueren Forschung insoweit, als man die sog. Jesaja-Apokalypse Jes 24–27 und die Heilsworte von Jes 33–35 als nachexilische Einfügungen in die Sammlung der Jesaja-Worte ansieht. Ähnliches gilt von den Fremdvölkersprüchen Jes 13–23: allerdings rechnet man damit, dass in sie auf Jesaja zurückgehendes Gut (in u. a. Jes 14,24–32*; 17,1ff.; 18,1 ff.; 20,1 ff.; 22,1 ff.) aufgenommen ist. Umstritten ist, inwieweit in Jes 1–12* und in 28–32* authentische Jesajaworte vorliegen. Traditionellerweise (vgl. Wildberger) nimmt man an, dass die Sammlungen Jes 6,1–9,6*; Jes 28–31*; Jes 1,1–2,5* und Jes 2,6–4,1* im Wesentlichen auf den Propheten selbst zurückgehen (vgl. neuerdings auch Blum). Demgegenüber vertritt Otto Kaiser die Auffassung, dass die Sammlungen des Jesajabuches erst aus exilisch-nachexilischer Zeit stammen. Vor allem sieht er in der sog. Denkschrift 6,1–8,18* eine redaktionelle Komposition, deren Verstockungstheologie das Scheitern der exilisch-frühnachexilischen Umkehrbotschaft bereits voraussetze. Doch räumt Kaiser ein, dass durchaus mit einzelnen authentischen Jesajasprüchen (wie u. a. in Jes 5,8 ff.; 28,1 ff.; 31,1 ff.) zu rechnen ist. Uwe Becker führt nur einige Heilsworte (u. a. Jes 8,1.3 f.16) und den Kern des Berufungsberichts von Jes 6* (V. 1–8* ohne Verstockungsauftrag) auf den historischen Jesaja zurück, der seiner Meinung nach im Sinne von Jes 36–39* als Heilsprophet verstanden werden muss. 31.3.3. Die Person und der historische Hintergrund des Auftretens Jesajas Unter der Voraussetzung, dass Jes 1–35* historische Angaben zu entnehmen sind, kann zum persönlichen und historischen Hintergrund des Auftretens Jesajas folgendes festgestellt werden. 31.3.3.1. Familienverhältnisse Als Vater Jesajas wird in Jes 1,1 ein sonst nicht bekannter Amoz genannt. Allerdings muss Jesaja von vornehmer Jerusalemer Abstammung gewesen sein, da er nach 7,3 unmittelbaren Zugang zum König Ahas besitzt. Nach 8,3 war Jesaja mit einer „Prophetin“ verheiratet, die wohl in ähnlicher Weise wie Hulda (vgl. 2Kön 22,14–20) über prophetische Fähigkeiten verfügte. Nach 8,3 ist sie die Mutter des Jesajasohnes mit dem symbolischen Namen „Eilebeute-Raubebald“ (symbolische Unheilsweissagung gegen Damaskus und Samaria im syrisch-ephraimitischen Krieg). In 7,3 hören wir von einem weiteren Sohn Jesajas, der auch einen Symbolnamen besitzt: „Schear-Jaschub“. Der Name wird gelegentlich mit „Ein Rest kehrt um“ übersetzt. Da sich jedoch bei Jesaja keine positive Restvorstellung fin-
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det, ist er sachgemäßer mit „Nur ein Rest kehrt zurück“ zu übersetzen. Mit diesem Namen weist Jesaja auf eine zu erwartende militärische Katastrophe hin, aus der nur ein Rest des Heeres zurückkehren wird (zu einer entsprechenden „Rest“-Vorstellung vgl. auch Am 3,12). 31.3.3.2. Beziehung Jesajas zu den Nebiim Angesichts der in Jes 28,7–13 vorliegenden Polemik gegen Priester und Propheten (Nebiim) spricht nichts dafür, dass Jesaja sich selber zu den Nebiim gerechnet hat. Bemerkenswert ist, dass Jesaja in Jes 1–35 nirgends als Prophet (Nabi) bezeichnet wird (anders 37,2 und öfter in den Jesajalegenden). Auch wird seine prophetische Tätigkeit in 1,1, mit der Verbwurzel h¯az¯ah „schauen“ zum Ausdruck gebracht, so dass er wohl eher als „Seher/Schauer“ zu verstehen ist (vgl. Am 7,12–15). 31.3.3.3. Historischer Hintergrund des Auftretens Jesajas und Wirkungsperioden Bei Jesaja handelt es sich um den ersten Schriftpropheten des Südreiches Juda (neben ihm tritt in Juda Micha von Moreschet auf; vgl. unten § 40). Seine Wirkungszeit dürfte etwa in die Jahre 740–700 v. Chr. fallen. Das Jahr seiner Berufung wird in 6,1 mit dem Todesjahr des Königs Usija gleichgesetzt (die Ansetzung dieses Todesjahres schwankt wegen der Unsicherheiten der judäischen Königschronologie in der 2. Hälfte des 8. Jh. zwischen den Jahren 747/46 und 735/34). Über den Tod Jesajas erfährt man in der biblischen Überlieferung nichts: eine jüdische Schrift aus dem letzten Drittel des 1. Jh. n. Chr. („Martyrium Jesajas“, vgl. Hammershaimb) berichtet von einem Martyrium unter König Manasse (Zersägung Jesajas), eine ihr angefügte christliche Legende sogar von seiner Himmelfahrt. Aufgrund der Angaben des Jesajabuches unterscheidet man normalerweise folgende Wirkungsperioden Jesajas (vgl. zum folgenden auch oben § 6.2. und 6.3.): 1.
Frühzeit (ca. 740–733): Der Frühzeitverkündigung ordnet man traditionell Jes 1–5* zu. Aufgrund dessen vermutet man für sie hauptsächlich Sozialkritik.
2.
Zeit des syrisch-ephraimitischen Krieges (733): Hintergrund des syrischephraimitischen Krieges ist der Versuch des syrischen Königs Rezin von Damaskus und des Nordreichkönigs Pekach von Israel (735–732), eine antiassyrische Koalition unter Einschluss Judas zu bilden. Da Ahas von Juda (741–726) nicht bereit ist, sich dieser Koalition anzuschließen, gehen der syrische und der nordisraelitische König militärisch gegen Juda
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vor und versuchen, einen ihnen genehmen König (vgl. Jes 7,6: „Sohn des Tabeal“) in Juda einzusetzen. In diese Situation gehört das Zusammentreffen Jesajas mit Ahas in Jes 7, bei der Jesajas Botschaft auf Unglauben trifft (vgl. Jes 7,10–17*: Immanuelzeichen als Unheilszeichen). Auch der Grundbestand von Jes 8* dürfte in das Jahr 733 zu datieren sein. Ahas entscheidet sich in diesem Zusammenhang für ein Bündnis mit den Assyrern (2Kön 16,7–9), die daraufhin unter König Tiglatpileser III. (745–727) in Aram (Damaskus) und Israel einmarschieren, Damaskus zerstören und Israels galiläische und ostjordanische Gebiete zu assyrischen Provinzen (2Kön 15,29) machen. 3.
Zeit vor dem Untergang des Nordreiches (722): In das Jahrzehnt vor die assyrische Eroberung Samarias und des restlichen Nordreichs (722 v. Chr.) gehören wohl die Worte Jesajas gegen das Nordreich: Jes 9,7 ff.* (Kehrversgedicht) und 28,1ff.* (Ankündigung des Untergangs Samariens).
4.
Die Zeit des Aufstands der Philisterstadt Aschdod gegen die Assyrer (713–711): Der Aufstand Aschdods gegen Sargon II. (721–705) war wahrscheinlich im Vertrauen auf Hilfszusagen des aus der neuen äthiopischen Pharao-Dynastie stammenden Schabaka (716–702) gewagt worden. Juda unter Hiskia (725–697) und andere Nachbarstaaten schienen einer Beteiligung an dem Aufstand zuzuneigen. Gegen eine solche Beteiligung wendet sich Jesaja mit seiner Symbolhandlung von Jes 20 (inwieweit auch Jes 18 f.* in diese Situation gehört, ist umstritten). Jesaja behält recht: Aschdod wird von den Assyrern besiegt und zur assyrischen Provinz gemacht. Ägypten versagt als Schutzmacht und liefert sogar den König von Aschdod, der nach Ägypten geflohen war, an Assur aus.
5.
Die Zeit des Aufstands Hiskias gegen Sanherib (705–701: Die letzte Wirkungsperiode Jesajas, der man vor allem die authentischen Texte des Assur-Zyklus von Jes 28–32* und Jes 1,4–9* und 22,1–14* zuweist, steht in Zusammenhang mit dem Aufstand Hiskias gegen den Assyrerkönig Sanherib (wieder im Vertrauen auf ägyptische Hilfe), der zur Belagerung Jerusalems durch Sanherib im Jahre 701 führte. Beachtenswert ist, dass Jesaja nach diesen Texten die Verschonung Jerusalems vor der Eroberung nicht wie der Jesaja von 2Kön 18f. (vgl. Jes 36 f.) als Erfüllung der göttlichen Verheißung versteht. Vielmehr verkündet er ein göttliches Nein zum Verhalten der Jerusalemer nach dem Abzug Sanheribs (22,1 ff.) und beschreibt trotz der Nichteroberung der Stadt die Lage Jerusalems als hoffnungslos (1,4 ff.).
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31.3.4. Botschaft Jesajas 31.3.4.1. Der Verstockungsauftrag und das Gottesverständnis (Jes 6) Die Mehrheitsmeinung der neueren Forschung geht davon aus, dass in dem Berufungsbericht (zur Gattungsfrage vgl. oben § 30.1.3.3) Jes 6,1–11 (V. 12–13* und V. 13b stellen sukzessive Erweiterungen aus exilisch-nachexilischer Zeit dar) ein von Jesaja stammender Text vorliegt, dem (unabhängig von der Frage, in welcher Wirkungsperiode Jesaja ihn geschrieben hat) jedenfalls das der prophetischen Erfahrung zugrunde liegende Gottesverständnis zu entnehmen ist. Zunächst weist in V. 1–3 der durch die Seraphim gebildete himmlische Thronrat Jahwes durch das Rufen des Trishagion (V. 3) auf die Heiligkeit Jahwes hin, die als Anspruch Jahwes auf den ganzen Menschen verstanden ist und daher in V. 5 zur Erkenntnis der menschlichen Sündhaftigkeit führt. Das Sündenbekenntnis des Propheten hat den rituellen Entsündigungsakt durch einen Seraphen zur Folge (V. 6–7), der dem Propheten die Möglichkeit gibt, sich als Bote Jahwes zur Verfügung zu stellen (V. 8). Als von ihm zu übermittelnde Botschaft erhält Jesaja in V. 9 f. den Verstockungsauftrag. Dabei gibt V. 9 f. nicht den Inhalt, sondern die Wirkung der Botschaft wieder. Auf die sich nur hier in einem Berufungsbericht findende Frage des Propheten nach der zeitlichen Dauer dieser Beauftragung macht V. 11 deutlich, dass die Konsequenz der durch die prophetische Verkündigung hervorgerufenen Verstockung der totale Untergang des Landes sein wird. Wie der Visionszyklus des Amosbuches (vgl. unten § 37.6.) macht auch Jes 6 deutlich, dass bei Gott das Ende des erwählten Volkes beschlossen ist. Diese Gotteserfahrung (vgl. auch die Aufnahme dieser Erfahrung in dem späten Zusatz von 28,21, der von der Fremdheit des Wirkens Jahwes [„opus alienum“] spricht) stellt ein zentrales Element der Botschaft Jesajas dar. 31.3.4.2. Die Verstockung des Ahas im syrisch-ephraimitischen Krieg (Jes 7 f.) Im jetzigen Kontext (die Ursprünglichkeit dieses Kontextbezugs ist allerdings umstritten) ist Jes 7 f. verstanden als Aufweis der in Jes 6 erwarteten Verstockung des Volkes, die sich zunächst an der Verstockung des Königs Ahas in der Situation des syrisch-ephraimitischen Krieges (vgl. hierzu oben 31.3.3.3. und auch § 6.2.4.) zeigt. Obwohl Jesaja in 7,4 den König zur Furchtlosigkeit aufruft und ihn in 7,7–9a den Untergang seiner Feinde Aram und Nordisrael verheißt, glaubt Ahas der göttlichen Verheißung nicht, wie an der Ablehnung des ihm angebotenen Zeichens (7,10–13) deutlich wird. Darauf kündigt Jesaja seinerseits ein göttliches Zeichen an, das nun entsprechend der bedingten Unheilsankündigung von Jes 7,9b: „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht!“ den Untergang von Volk und Königshof ansagt (vgl. auch die Unheilsbedeutung des Namens von Jesajas Sohn, der ihn nach 7,3 zu Ahas begleitet:
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Schear-Jaschub „Nur ein Rest kehrt zurück“; vgl. dazu oben 31.3.3.1.). Auf diesem Hintergrund kann das Immanuelzeichen (7,14–17*) nur als Unheilszeichen verstanden werden. Die Heilszusagen von 7,15 (Butter und Honig als messianische Speise) und 7,16b (Ankündigung des Untergangs des Landes der beiden feindlichen Könige) sind daher als Zusätze anzusehen. Die Umdeutung des Heil erwarten lassenden Namens „Immanuel“ („Gott mit uns“) in ein Unheilszeichen fügt sich dabei gut in die Grundtendenz der vorexilischen Schriftprophetie ein (vgl. die Umdeutung des „Tages Jahwes“ zu einem Tag der Finsternis in Am 5,18–20). Die in der Auslegungsgeschichte sehr intensiv diskutierte Frage nach dem Verständnis der alm¯ah („junge Frau“, nicht „Jungfrau“), die den Immanuel gebiert, bzw. nach der Identität des „Immanuel“ (Jesajasohn, Königssohn, Messias?; vgl. dazu vor allem Kilian) ist für die Interpretation des Immanuelzeichens von untergeordneter Bedeutung und kann daher offen gelassen werden. Der Ahas im syrisch-ephraimitischen Krieg gemachte Vorwurf des Unglaubens gilt entsprechend auch für das Volk von Jerusalem und Juda (vgl. auch die Anrede an das Volk in 7,9b). Weil dieses Volk auf die Hilfe Assurs gegen die syrisch-ephraimitische Koalition und nicht auf Jahwe vertraut hat, deshalb wird – wie 8,5–8 ankündigt – als göttliche Strafe Assur auch Juda überschwemmen. 31.3.4.3. Kritik an Außenpolitik Der in Jes 7 f. als Zeichen der Verstockung angesprochene Unglaube im Bereich der Außenpolitik äußert sich – wie in 31.3.4.2. gezeigt – im falschen Vertrauen auf ein Bündnis mit Assur (vgl. auch 2Kön 16,7 zum Bündnis des Ahas mit dem assyrischen König Tiglatpileser III. gegen Syrien und das Nordreich). Auch die Kritik Jesajas an der Politik Hiskias im Zusammenhang des Aufstandes Aschdods gegen Assur (713–711) und bei Hiskias eigenem Aufstand gegen den Assyrerkönig Sanherib (705–701) richtet sich gegen das Vertrauen auf die Macht starker Bündnispartner. In beiden Situationen waren die Aufstände im Vertrauen auf die Unterstützung durch Ägypten unternommen worden. Sowohl die Symbolhandlung des dreijährigen Nacktgehens Jesajas in der Zeit von 713–711 (Symbolisierung des Gefangengeführtwerdens der Ägypter) als auch die Stellungnahmen Jesajas zum Bündnis mit Ägypten in den Jahren 705 bis 701 (vgl. 30,1–5; 31,1–3) machen die Sinnlosigkeit dieses Vertrauens auf die nur menschliche Macht Ägyptens deutlich (vgl. vor allem 31,3: „Ägypten ist Mensch und nicht Gott, und seine Rosse sind Fleisch und nicht Geist“). 31.3.4.4. Sozialkritik Auf diesem Hintergrund stellt auch die Sozialkritik Jesajas besonders die menschliche Selbstüberschätzung heraus: So betont 2,12–17, dass der Tag Jahwes über alles Stolze und Erhabene kommt und es erniedrigt, so dass Jahwe allein er-
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haben ist an jenem Tag. Als Ausdruck dieses Hochmuts kritisiert Jesaja in 3,16–17.24 die Eitelkeit der Jerusalemer Damenwelt und in 22,15–18 die (sich in seinem Grabbau zeigende) Prunksucht und Arroganz eines hohen Jerusalemer Beamten. Die gleiche Arroganz wird nach Jes 5,8 im Anhäufen von Großgrundbesitz durch die Jerusalemer Beamtenschaft deutlich. Dieser Hochmut lebt vor allem auf Kosten der Ärmsten der Gesellschaft, von denen Jesaja in besonderer Weise Witwen und Waisen (vgl. 1,17: „Helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führet der Witwen Sache!“) herausstellt. Ähnlich wie Amos (vgl. Am 5,24) kritisiert Jesaja schließlich die Missachtung von „Recht“ und „Gerechtigkeit“ (1,21.27; 5,7). Am deutlichsten geschieht dies im Weinberglied von Jes 5,1–7, das den Verstoß gegen die göttliche Gerechtigkeitsforderung in 5,7 in einem Wortspiel deutlich macht: „Er hoffte auf Rechtsspruch (miˇsp¯at), doch siehe da war Rechtsbruch (mi´sp¯ah, wörtlich: „Blutvergießen“), auf Gerechtigkeit (s. ed¯aq¯ah), doch siehe, da war Geschrei (ze a¯ q¯ah) über Schlechtigkeit.“ 31.3.4.5. Kultkritik Schließlich stellt Jesaja selbst im Bereich des Gottesdienstes ein falsches Selbstvertrauen fest. Dabei handelt es sich in 1,10–17* trotz 1,11 um keine gegen die spezielle Form des Opfergottesdienstes gerichtete Polemik, da in 1,15a auch das Gebet als nicht dem Willen Jahwes entsprechend kritisiert wird. Vielmehr liegt hier ein prophetischer Kultbescheid vor (vgl. oben § 30.1.2.2.), der die Nichtannahme des Gottesdienstes durch Gott mitteilt, weil das Volk sich durch die Unterdrückung der Armen verunreinigt hat (1,15b: „eure Hände sind voll Blut“). Angesichts des sozialen Fehlverhaltens kann das Volk kein intaktes gottesdienstliches Verhältnis zu Jahwe haben. 31.3.4.6. Heilserwartung? Angesichts des durch und durch schuldhaften Verhaltens des Volkes und seiner durch die prophetische Botschaft noch gesteigerten Verstockung muss Jesaja von der Unabwendbarkeit des Gerichts ausgehen. Die neuere Jesajaforschung kann sich daher allenfalls eine Heilserwartung vorstellen, die das Gericht als Ermöglichung neuen Heils versteht. So wird häufig (vgl. W.H. Schmidt, Smend; anders jedoch Kaiser, Kilian, Höffken) die Ankündigung eines Läuterungsgerichtes in 1,21–26 („Ach, wie ward zur Hure die treue Stadt, die voller Recht war, in der Gerechtigkeit wohnte … Ich will … deine Schlacken mit Lauge ausschmelzen, all dein Blei schmelze ich aus. Dann will ich dir Richter wie anfangs geben und Ratgeber wie zu Beginn. Danach wird man dich nennen: Burg der Gerechtigkeit, treue Stadt!“) als authentisch angesehen.
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Dagegen sind die Stücke, die die Zeit nach dem Gericht schildern, wohl als exilisch-nachexilische Zusätze zu verstehen. Dies gilt vor allem für die messianischen Erwartungen von Jes 9 und Jes 11 (anders Wildberger; W.H. Schmidt; zur Messiaserwartung vgl. unten 31.7.), aber auch für die Hoffnung auf eine Völkerwallfahrt zum Zion in Jes 2,1–5 (gleiches gilt dann auch für die Erwartung eines eschatologischen Völkersturms in Jes 8,9 f. und 17,12–14). Diese Vorstellungen sind offensichtlich erst im Zusammenhang der sich in der Exilszeit entwickelnden Heilsprophetie entstanden, zu deren frühesten Zeugnissen die Botschaft Deuterojesajas gehört (anders Barth, der u. a. 8,23b–9,6; 8,9f.; 17,12–14 in die Josiazeit datiert).
31.4.
Deuterojesaja (Jes 40–55)
31.4.1. Aufbau Dass Jes 40–55 als eigenständiger Teil von Jes 1–66 komponiert ist, zeigt sich an dem deutlichen Einsatz, den der Prolog Jes 40,1–11 („Tröstet, tröstet, mein Volk“) darstellt. Ebenso deutlich wird der Deuterojesaja-Teil durch den Epilog 55,6–13 („meine Gedanken sind nicht eure Gedanken“) abgeschlossen. Dabei sind Prolog (40,8) und Epilog (55,10–11) durch das gemeinsame Thema der nicht in Frage zu stellenden Wirkung des Jahwewortes direkt aufeinander bezogen. Schwieriger ist eine Gliederung innerhalb von Jes 40–55 zu erkennen. Allerdings ist von Kyrus und Babylon nur in Jes 40–48 die Rede, während in 49–55 die Rückkehr nach Jerusalem und das Wiedererrichten der Stadt im Mittelpunkt stehen. Inwiefern zusätzlich die hymnischen Stücke 42,10–13; 44,23; 45,8; 48,20f; 49,13; 52,7–10 das Deuterojesajabuch gliedern (in unterschiedlicher Weise Westermann, Rendtorff, Matheus), ist umstritten. Aufbauschema von Jes 40–55: Prolog: Jes 40,1–11
Wort Jahwes und Heimkehr
I. Jes 40,12–48,22 II. Jes 49,1–55,5
Kyros und Babylon Heilswende für Jerusalem
Epilog: Jes 55,6–13
Wort Jahwes und Heimkehr
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31.4.2. Entstehung von Jes 40–55 31.4.2.1. Literarische Schichtung von Jes 40–55 Dass innerhalb von Jes 40–55 mit einer literarischen Schichtung zu rechnen ist, ist weitgehender Konsens der neueren Deuterojesajaforschung: Vor allem stehen die Polemiken gegen die Götzenbildfabrikation in 44,9–20; 40,19 f.; 41,6–7; 42,17; 46,5–7 in so deutlichem Widerspruch zum Verständnis der heidnischen Götter innerhalb der deuterojesajanischen Grundschicht (vgl. nur 41,21–29), dass sie einer späteren Bearbeitung zugewiesen werden müssen. Außerdem ist eine zur Umkehr und zum Hören auf die Gebote Jahwes angesichts der eschatologischen Naherwartung auffordernde nachdeuterojesajanische Schicht (vgl. nur 46,12–13; 48,17–19; 55,6f.) zu erkennen (vgl. Hermisson; van Oorschot: Naherwartungsbearbeitung). Der von einigen neueren Arbeiten (Kiesow, Kratz; van Oorschot) vertretenen Auffassung, dass deuterojesajanisches Gut nur innerhalb von Jes 40–48 zu finden sei, ist von Hans-Jürgen Hermisson widersprochen worden, der 6 deuterojesajanische Teilsammlungen in I. 40,1–31*; II. 41,1–42,9*; III. 42,10–44,23*; IV. 44,24–46,11*; V. 47*; 49,14–55,13* und VI. (Gottesknechtslieder) 42,1–4; 49,1–6; 50,4–9 annimmt. Einiges spricht jedoch weiterhin für die These Karl Elligers von 1933, dass mit deuterojesajanischem Gut in 40,1–52,12* zu rechnen ist: Deuterojesaja lässt sich nicht – wie Klaus Kiesow versucht hat – auf eine Exodustheologie des Weges in die Wüste begrenzen. Vielmehr gehört der Königs-Einzug Jahwes in Jerusalem (52,7–10) zu seiner Exodus-Vorstellung hinzu. Die Gottesknechtslieder (42,1– 4; 49,1–6; 50,4–9 und 52,13–53,12) und Jes 54 f. dürften einschließlich von Jes 40,6–8 (bleibende Gültigkeit des Jahwewortes) und wohl überhaupt des Prologes 40,1–11 (zur Frage der Abhängigkeit des Prologs Jes 40,1–11 von Jes 6* vgl. u. a. Albertz) dagegen auf eine nachexilische „schultheologische“ Redaktion (vgl. zu ihr auch Schmitt und Werlitz) zurückgehen. Wahrscheinlich gehören auch die Stellen der Naherwartungsbearbeitung 55,6 f.; 46,12–13; 48,17–19; (48,1ff.?) zu ihr. 31.4.2.2. Entstehungssituation der deuterojesajanischen Grundschicht 31.4.2.2.1. Entstehungszeit: Zwar ist Jes 1,1 (das Buch Jesaja stammt von einem Propheten des 8. Jh. v. Chr.) auch als Überschrift von Jes 40 ff. zu verstehen (Jes 40 ff. enthalten keinerlei Angaben über das Entstehen dieses Teils des Jesajabuches). Doch kann aus einzelnen Befunden in Jes 40–55 noch die Entstehungssituation der deuterojesajanischen Texte erschlossen werden: 44,28 und 45,1 erwähnen den Perserkönig Kyrus als eine allgemein bekannte Gestalt, was offensichtlich seinen Sieg über die Meder im Jahre 550 voraussetzt. Möglicherweise spielt 41,2 f. („Könige ‚trat er nieder‘ …, er jagt sie, zieht heil einher, berührt den
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Weg nicht mit seinen Füßen“) sogar bereits auf seinen unerwartet raschen Sieg über Krösus von Lydien (547/46) an (vgl. auch 41,25). Andererseits ist die Grundschicht von Jes 40–55* wohl vor der Einnahme Babels durch Kyrus im Jahre 539 v. Chr. entstanden. Die Ankündigung der Zerstörung Babels und seiner Götter in Jes 46 f.* muss vor der friedlichen Übernahme der Stadt durch Kyrus und vor seiner Anerkennung der babylonischen Götter ausgesprochen sein. 31.4.2.2.2. Entstehungsort: Sichere Anhaltspunkte für ein Auftreten des hinter der Grundschicht von Jes 40–55* stehenden Propheten im babylonischen Exil gibt es nicht, auch nicht für eine Mitwirkung bei exilischen Klagefeiern (vgl. dazu 1Kön 8,46–51). Da die Exulanten in Babylon seine eigentlichen Adressaten sind, spricht jedoch die Wahrscheinlichkeit für ein (mündliches oder schriftstellerisches?) Wirken Deuterojesajas in Babylonien (die Aufforderung zu einem Auszug „von dort“ in 52,11 ist kaum ein Gegenargument, das für eine Entstehung in Jerusalem angeführt werden könnte). 31.4.3. Die Botschaft Deuterojesajas 31.4.3.1. Die Gattungen seiner Verkündigung Dass sich in der Botschaft Deuterojesajas ein Umschwung gegenüber der Unheilsprophetie der klassischen Schriftpropheten vollzieht, wird schon deutlich an den neuen Gattungen, die sich bei ihm finden (vgl. hierzu vor allem Begrich und Westermann). 31.4.3.1.1. Verheißende Gattungen: Bestimmend für Deuterojesaja sind zwei unterschiedlich strukturierte Formen von Heilsworten: 1. Besonders charakteristisch für Deuterojesaja ist das Heilsorakel, dessen wichtigste Belege in 43,1–7; 44,1–5 (vgl. 41,8–13; 41,14–16) vorliegen. Aufgebaut ist ein Heilsorakel nach folgendem Schema: I. II. III. IV. V.
Anrede Beruhigungsformel: „Fürchte dich nicht“ Heilszusage (im Perfekt oder Nominalsatz) Folge der Heilszusage (im Imperfekt) Angabe des Ziels des göttlichen Eingreifens
Im Anschluss an Joachim Begrich nimmt man heute meist an, dass Deuterojesaja hierbei auf die Gattung eines priesterlichen Heilsorakels zurückgreife, das der Priester dem Beter nach dem Vortrag eines Klageliedes des Einzelnen als gött-
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liche Erhörungszusage zugesprochen habe und den in vielen Klageliedern zu beobachtenden Stimmungsumschwung erkläre (vgl. dazu unten § 49.4.3.). Von zentraler Bedeutung für diese Annahme ist der Gebrauch der Beruhigungsformel: Klgl 3,57 („Du nahtest dich mir am Tage, da ich dich rief, du sprachst: Fürchte dich nicht“) zeige, dass das „fürchte dich nicht“ ursprünglich als Anwort auf eine Klage des Einzelnen gesprochen worden sei. Deuterojesaja habe diese kultische Erhörungszusage auf das Volk übertragen, um Gottes neue Zuwendung zu seinem exilierten Volk anschaulich zum Ausdruck zu bringen. 2. Gleichzeitig hat Deuterojesaja jedoch auch die übliche prophetische Grundform (vgl. oben § 30.1.2.1.) des Heilsworts (Verheißung) gebraucht (Westermann: Heilsankündigung), die vor allem futurische Aussagen macht. Beispiele für diese Gattung finden sich in 41,17–20; 42,14–17; 43,16–21; 45,14–17. Die Annahme Westermanns, dass die Gattung der Heilsankündigung generell als Antwort auf eine Volksklage zu verstehen sei, lässt sich jedoch kaum wahrscheinlich machen. 31.4.3.1.2. Polemische Gattungen: Da Deuterojesajas Heilsbotschaft auf Skepsis und Ablehnung stößt, setzt er sich in der Form von Gerichtsreden und von Disputationsworten mit den Einwänden seiner Gegner auseinander. 31.4.3.1.2.1. Gerichtsreden a. Eine neu von Deuterojesaja geschaffene Gattung dürfte die Gerichtsrede zwischen Jahwe und den Völkern bzw. ihren Göttern darstellen, wie sie vor allem in 41,1–5; 41,21–29; 43,8–13; 44,6–8 vorliegt. Hier weist Jahwe vor einem universalen Forum gegenüber den Völkern bzw. den Göttern der Völker mit Hilfe des Weissagungsbeweises nach, dass er der einzige geschichtsmächtige Gott ist (vgl. u. a. 41,22 f.: Jahwe hat das Frühere, d. h. das Gericht von 587 v. Chr., geweissagt, deshalb ist auch das Kommende von ihm bestimmt). b. Außerdem benutzt Jes 40–55 die Form der Gerichtsrede Jahwe-Israel (vgl. 43,22–28; 50,1–3; auch 42,18–25*), die auch von der früheren Prophetie (vgl. oben 30.1.2.2.) bereits gebraucht wurde (vgl. nur Jer 2,4–9) und in der Jahwe sich gegen Anschuldigungen Israels verteidigt (bei Deuterojesaja gegen den Vorwurf, Israel grundlos der Vernichtung preisgegeben zu haben). 31.4.3.1.2.2. Disputationswort: Eine weitere der Auseinandersetzung Deuterojesajas mit Einwänden gegen seine Heilsbotschaft dienende Gattung ist das Disputationswort (vgl. nur 40,12–17; 40,18–26*; 40,27–31; 44,24–28), bei dem Deuterojesaja wieder auf eine bereits in der vorexilischen Prophetie benutzte Gattung zurückgreift (vgl. nur Am 3,3–8*). Idealtypisch kann man den Aufbau eines Disputationswortes 40,27–31 entnehmen:
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I. Zitat des Einwandes (40,27) II. Disputationsbasis (40,28) III. Schlussfolgerung (40,29–31) Auch wenn meist keine stringente Argumentation vorliegt (vgl. Hermisson), wird hier doch das als problematisch erfahrene Geschehen im Lichte einer zwischen Prophet und Auditorium gemeinsam geteilten Einsicht (die bei Deuterojesaja meist der Schöpfungstradition zu entnehmen ist) gedeutet. 31.4.3.1.3. Psalmistische Gattungen: Typisch für die Botschaft Deuterojesajas ist schließlich der eschatologische Hymnus (vgl. u. a. 42,10–13; 44,23; 45,8; 48,20–21; 49,13; 52,9–10). Er bringt die Naherwartung Deuterojesajas dadurch zum Ausdruck, dass er Gottes zukünftige Erlösung vorwegnehmend bereits gegenwärtig zum Lob aufruft. 31.4.3.2. Die Neuinterpretation der israelitischen Heilstraditionen Beachtenswert ist, dass bei Deuterojesaja die Schöpfungstradition in den Mittelpunkt des Interesses tritt (wie P benutzt Deuterojesaja dabei oft den Begriff b¯ar¯a#, der im AT nur auf das göttliche voraussetzungslose Schaffen bezogen ist). In der Situation Deuterojesajas kann der Jahweglaube nur in seinem universalen Bezug überzeugend vertreten werden. Dabei wird in den Disputationsworten vor allem auf die Weltschöpfung durch Jahwe Bezug genommen, um die Macht Jahwes zur Erlösung seines Volkes deutlich zu machen (40,12 f.). Dass dieser mächtige Schöpfer an der Erwählung Israels festhält, wird im Heilsorakel (vgl. 43,1) durch die Vorstellung von Jahwe als Schöpfer Israels zum Ausdruck gebracht. Schließlich wird die Schöpfungsvorstellung auch auf Gottes zukünftiges Handeln angewandt (vgl. 41,20 im Rückblick auf die eschatologische Verwandlung der Wüste: „der Heilige Israels hat es geschaffen [b¯ar¯a #]“). An der Erzvätertradition vergegenwärtigt sich Deuterojesaja einerseits die Erwählung Israels in Abraham (vgl. 41,8 f. Abraham als Freund Jahwes und 51,1 f. Abraham als Empfänger der Verheißung der Mehrung zum großen Volk). Andererseits wird in Jes 43,27 auf Jakob zum Aufweis der Schuld des Volkes Bezug genommen (vgl. Hos 12). Dass Aufnahme von Tradition Überbietung des Bisherigen beinhalten kann, zeigt die Rezeption der Exodustradition (vgl. 43,16 f.; 51,9 f.). Zwar erwartet Deuterojesaja einen neuen Exodus. Doch ist zu berücksichtigen, dass Jahwe dabei Neues schaffen wird (43,18; vgl. auch 52,11 f.: keine Eile beim neuen Exodus).
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Am stärksten wird die Davidtradtion bei Deuterojesaja neu interpretiert. Der königliche Titel des „Gesalbten“ wird auf den heidnischen Perserkönig Kyrus übertragen (45,1). Das Königtum über Israel nimmt jetzt Jahwe selber wahr (52,7). In 55,3 (nachdeuterojesajanisch?) wird die Davidverheißung sogar auf das Volk als Ganzes bezogen. 31.4.3.3. Zentrale Inhalte der Heilserwartung 31.4.3.3.1. Neuer Exodus und Königsherrschaft Gottes in Jerusalem: Wie der Prolog 40,1–5.9–11 zeigt (V. 6–8 gehört zur 55,6–13 entsprechenden nachdeuterojesajanischen Redaktion), müssen bei Deuterojesaja der „Neue Exodus“ mit der Befreiung aus Babel (48,20 f.; vgl. 52,11 f.), die Wanderung durch eine verwandelte Wüste (48,21; 43,19–21; vgl. auch 40,3–5), der Einzug Jahwes mit seinem Volk in Jerusalem (40,9–11; 52,7–10) und der Beginn der Königsherrschaft Jahwes (52,7) als zusammengehörig angesehen werden. Die Befreiung aus Babel kann bei Deuterojesaja nur im Zusammenhang der beginnenden Königsherrschaft Jahwes als eschatologischem Heilsereignis verstanden werden. 31.4.3.3.2. Bedeutung von Kyrus: Auch darf Kyrus bei Deuterojesaja nicht als „messianische“ Gestalt interpretiert werden. Die Bezeichnung als „Gesalbter Jahwes“ in 45,1 nimmt lediglich die Bezeichnung für den israelitischen König auf, dessen irdische Herrscherfunktion er zugunsten des Gottesvolkes ausübt. So ist auch der Titel „Hirte Jahwes“, den er in 44,28 trägt, ähnlich zu verstehen wie der Jer 25,9; 27,6; 43,10 Nebukadnezar verliehene Titel „Knecht Jahwes“: Er bringt lediglich zum Ausdruck, dass der Weltreichkönig als Werkzeug Jahwes handelt, ohne dass dieser König eine selbständige eschatologische Heilsbedeutung erhält. 31.4.3.3.3. Einbeziehung der Völkerwelt: Allerdings beschränkt sich die eschatologische Heilserwartung Deuterojesajas nicht auf die Rückkehr der Exulanten und die Wiedererstehung Jerusalems unter der Königsherrschaft Jahwes. Vielmehr rechnet 45,22–24 mit einer Anerkennung Jahwes durch die Völkerwelt. Dabei ist Israel in 43,10–12; 44,8 als Zeuge gegenüber der Völkerwelt verstanden. Hierbei ist nicht an aktive „Mission“ Israels gedacht, sondern daran, dass die Völker an Jahwes Handeln gegenüber seinem Volk seine alleinige Gottheit erkennen können. Eine weitergehende Vorstellung von der Aufgabe Israels an der Völkerwelt entwickeln demgegenüber die sog. Gottesknechtslieder, die daher als eigenständige Größe innerhalb von Jes 40–55 angesehen werden müssen.
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31.5.
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Die Gottesknechtslieder
31.5.1. Ausgrenzung der Gottesknechtslieder Seit Bernhard Duhm (1892) werden die sog. Gottesknechtslieder (Jes 42,1– 4; 49,1–6; 50,4–9 und 52,13–53,12) als eigenständige Schicht aus Jes 40–55 ausgegrenzt. In der Forschungsgeschichte ist diese Ausgrenzung mehrfach in Frage gestellt worden, zuletzt von Tryggve N.D. Mettinger (1983). Seiner Meinung nach sind die genannten Stücke als integraler Bestandteil von Jes 40–55 anzusehen, was Mettinger vor allem durch eine – allerdings kaum konsensfähige – Strukturanalyse von Jes 40–55 nachzuweisen versucht. Auch meint Mettinger den Gottesknecht von 42,1 ff. etc. mit dem Gottesknecht Israel des übrigen Deuterojesajabuches (vgl. nur 41,8 f.; 44,1 f.) identifizieren zu können. Demgegenüber hält die Mehrheit der neueren Forschung an der Unterscheidung des weitgehend passiv dargestellten Gottesknechtes Israel im Deuterojesajabuch und dem Knecht der Gottesknechtslieder, der einen prophetisch-königlichen Auftrag an Israel und der Völkerwelt auszuführen hat, fest. Für eine Unterscheidung der beiden Knechtsvorstellungen spricht auch, dass das Leiden des Knechts in den Gottesknechtsliedern stellvertretend für andere geschieht (53,4 f.), während Israel im übrigen Deuterojesajabuch wegen seiner eigenen Sünde leidet (vgl. nur 43,24). 31.5.2. Die Gattung und der Inhalt der Gottesknechtslieder Obwohl sich die Bezeichnung „Gottesknechtslieder“ eingebürgert hat, handelt es sich bei ihnen nicht um eigentliche „Lieder“. Vielmehr bilden 42,1– 4; 49,1–6; 50,4–9 und 52,13–53,12 insgesamt so etwas wie die „Idealbiographie“ des „Knechtes“ (Baltzer), die durch die Verwendung unterschiedlicher Gattungen dargestellt wird. 31.5.2.1. Jes 42,1– 4 (so die Abgrenzung nach Duhm, andere nehmen 42,5–9 hinzu, doch dürften in V. 5–9 spätere bei der Einfügung der Gottesknechtslieder in Jes 40–55 zugesetzte Erweiterungen vorliegen) Bei Jes 42,1– 4 handelt es sich um ein Präsentationswort. Wie V. 1a zeigt, stellt Jahwe mit ihm seinen Knecht vor einem universalen Forum vor (einbezogen zu denken ist wohl der himmlische Hofstaat). Als Aufgabe des Knechtes wird dabei die Verkündigung der göttlichen Tora gegenüber den Völkern (V. 1b–4) genannt. Eine Besonderheit dieser Rechtsverkündigung besteht darin, dass das geknickte Rohr nicht zerbrochen und der glimmende Docht nicht ausgelöscht wird (eventuell in Antithese zu 43,17b formuliert: der Auftrag des Knechtes beinhaltet nicht das Auslöschen der Feinde Israels; vgl. van Oorschot).
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Die Schriften des AT
31.5.2.2. Jes 49,1–6 (in V. 7–13 liegen möglicherweise redaktionelle Erweiterungen vor) 49,1–6 stellt ein Danklied dar, in dem der Knecht vor dem Forum der Völkerwelt von seiner bereits vorgeburtlichen Berufung (V. 1–3), seiner Klage über die Vergeblichkeit seiner Arbeit (V. 4) und über die göttliche Bestätigung seiner Berufung berichtet, die nun die Aufgabe, sowohl die Stämme Jakobs wieder aufzurichten als auch Licht der Völker zu sein, umfasst (V. 5–6). 31.5.2.3. Jes 50,4–9 (in V. 10–11 ist mit redaktionellen Zusätzen zu rechnen) In 50,4–9 liegt ein prophetisches Vertrauenslied vor, das – auch wenn der Knechtstitel in ihm nicht genannt ist – doch unter dem Aspekt des Leidens am prophetischen Amt sich gut zwischen 49,1–6 und 52,13–53,12 (auch setzt 50,8 wohl ein ähnliches universales Forum wie 49,1–6 voraus) einfügt (anders zuletzt Kaiser und van Oorschot). In V. 4 f. betont der Knecht dabei die genaue Ausführung seines Verkündigungsauftrages und in V. 6–9 seine Festigkeit im Leiden an seinem Amt. 31.5.2.4. Jes 52,13–53,12 Das vierte Gottesknechtslied mit seiner zentralen Aussage über das stellvertretende schuldlose Leiden des Knechts, das die Anerkennung Gottes findet (53,4–5.11b–12), ist als eine Liturgie gestaltet, in der vor einem universalen Forum die Rede einer Wir-Gruppe in V. 1–11a durch zwei Gottesreden (52,13–15 und 53,11b–12) gerahmt wird. Umstritten ist, wer mit dem „wir“ gemeint ist. Angesichts der Entsprechung von 53,4–5 (der Knecht trug unsere Sünden) und 53,11b (der Knecht trug Sünden der „vielen“) spricht einiges für eine Identifikation der „wir“ mit den „vielen“ von 52,13–15 und 53,11b–12 (Hermisson, Steck, Kaiser). Umstritten ist jedoch, wer mit den „vielen“ gemeint ist: Zum einen denkt man an „Israel“ (Kutsch, Hermisson, Steck), zum anderen angesichts von 52,15 doch wohl mit etwas größerem Recht an die Völker. 31.5.3. Deutungen des Knechts In der Auslegungsgeschichte lassen sich im Wesentlichen vier Deutungen des Knechts von 42,1– 4; 49,1–6; 50,4–9 und 52,13–53,12 unterscheiden: 1. 2. 3. 4.
die autobiographische Deutung die Deutung auf eine andere Einzelperson die messianisch-eschatologische Deutung die kollektive Deutung.
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31.5.3.1. Autobiographische Deutung Die vorherrschende Meinung der gegenwärtigen atl. Forschung vertritt das autobiographische Verständnis des Knechts. Deuterojesaja spreche von seinem eigenen prophetischen Amt, wenn er in 42,1– 4; 49,1–6 und 50,4–9 vom „Knecht“ spreche. Begründet wird diese These vor allem mit den deutlich erkennbaren prophetischen Zügen des Knechts (vgl. vor allem 50,4). Allerdings setzt diese These zwei Vorentscheidungen voraus. Das vierte Gottesknechtslied 52,13–53,12 muss auf einen Schüler Deuterojesajas (Elliger 1933: Tritojesaja) zurückgeführt werden, da Deuterojesaja nicht von seinem eigenen Tod und Grab (53,8 f.) berichten kann. Außerdem ist die Identifikation des Knechts in 49,3 mit „‚Israel (,an dem ich mich verherrlichen werde)“ auf einen Glossator zurückzuführen. Beide Voraussetzungen sind allerdings nicht ohne weiteres evident. Vor allem scheinen die ersten drei Gottesknechtslieder bereits auf das vierte hin konzipiert zu sein: 42,4 („er wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufgerichtet hat“); 49,4 („ich aber dachte, ich arbeitete vergebens und verzehrte meine Kraft umsonst“) und 50,6 („ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wange denen, die mich rauften …“) stellen doch wohl sich verstärkende Hinweise auf den leidenden Gottesknecht des vierten Liedes dar. Auch steht der weltweite Auftrag des Knechtes von 42,1– 4; 49,6 in deutlicher Spannung zu Deuterojesajas bloß innerisraelitischer Beauftragung (vgl. 40,1). 31.5.3.2. Deutung auf eine andere Einzelperson Zu Beginn der gesonderten Erforschung der Gottesknechtslieder hatte man daher hinter dem Knecht Personen der Gegenwart oder der Vergangenheit, die sich durch exemplarisches Leiden ausgezeichnet haben, gesucht: Bernhard Duhm (1892) dachte an einen sonst unbekannten, an Aussatz leidenden Toralehrer, andere dachten an Jeremia, wieder andere an Mose. Da es für Bezüge auf eine historische Person kaum Anhaltspunkte gibt, hat die neuere Forschung weitgehend auf entsprechende Identifikationen verzichtet. 31.5.3.3. Messianisch-eschatologische Deutungen In den Jahwereden Jes 52,13–15 und 53,11b–12 werden Aussagen über die Zukunft des Knechtes gemacht, die sinnvollerweise nur als eschatologische Aussagen zu deuten sind. Angesichts der königlichen Züge, die der Knecht aufweist (vgl. unten 31.5.4.2.), legt sich daher eine Deutung auf eine zukünftige messianische Gestalt nahe (Mowinckel 1956). Gleichermaßen kann man aber auch an einen eschatologischen Propheten denken (von Rad unter Hinweis auf ein eschatologisches Verständnis von Dtn 18,18: neuer Mose als eschatologischer Prophet).
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31.5.3.4. Kollektive Deutung In der Auslegungsgeschichte spielt wegen der Identifikation des Knechtes mit Israel im übrigen Deuterojesajabuch (vgl. u.a. 41,8f.; 44,1f.) auch die kollektive Deutung des Knechts von 42,1–4; 49,1–6; 50,4–9 und 52,13–53,12 auf Israel eine wichtige Rolle. Für diese Deutung spricht vor allen Dingen 49,3, wo der Knecht der Gottesknechtslieder als „‚Israel‘, an dem ich mich verherrlichen will“ bezeichnet wird. Wer mit diesem „Israel“ gemeint ist, ist in der Forschung umstritten. Otto Kaiser denkt an das exilierte Israel, Diethelm Michel an „eine Gruppe in Israel …, die zunächst mit ihrem Auftrag, das Wort auszurichten und Israel zu sammeln, abgelehnt worden, … aber dann doch schließlich anerkannt worden ist“. Besser ist es jedoch, dieses „Israel, an dem sich Jahwe verherrlichen will“ als eine eschatologische Größe (vgl. 31.5.3.3.) zu verstehen und es nicht zu stark auf empirische israelitische Gruppen zu beziehen. Vielmehr bündeln sich im „Knecht“ der Gottesknechtslieder die Erfahrungen unterschiedlicher israelitischer Überlieferungen. Dabei gehen die Gottesknechtslieder davon aus, dass es innerhalb des sündigen empirischen Israel ein „ideales Israel“ gibt, das die Aufgabe besitzt, das empirische Israel aufzurichten und zu sammeln (49,5–6). Für eine solche kollektive Deutung sprechen vor allem die Aussagen von Jes 52,13–53,12 über den Tod und das Grab des Knechtes (53,8f.) und über das Wiedererstehen und den Lohn des Knechtes (53,10–12; 52,13–15), die im Sinne von Ez 37,1–14 auf die Wiedererstehung eines eschatologischen Israels gedeutet werden können. 31.5.4. Die Aufgaben des „Knechtes“ als „eschatologisches Israel“ Bei einer Deutung der Gottesknechtslieder kann es daher nicht primär um eine Identifikation des „Knechtes“ gehen. Vielmehr sprechen die Gottesknechtslieder zunächst davon, welche Aufgaben des „eschatologischen“ Israel sich aus den zentralen atl. Traditionen ergeben. Dabei werden vor allem die prophetischen und die königlichen Aufgaben des Knechtes betont. 31.5.4.1. Prophetische Aufgaben Durchweg betonen die Gottesknechtslieder das Wortamt des Knechts: So wird sowohl in 42,1– 4; 49,5 und in 50,4–5 der Verkündigungsauftrag des Knechtes herausgestellt. Gleichzeitig heben die Texte jedoch auch das Leiden des Knechtes an diesem Verkündigungsamt hervor, wobei Traditionen, wie sie vor allem in den Konfessionen Jeremias (vgl. unten § 32.2.1.4.) vorliegen, aufgegriffen werden (vgl. 49,4; 50,6–9). Über die prophetische Tradition hinausgehend deutet dann Jes 52,13–53,12 dieses Leiden als ein sühneschaffendes Leiden für die „vielen“ (für das empirische Israel, bzw. doch wohl eher für die Völkerwelt insgesamt).
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31.5.4.2. Königliche Aufgaben Für eine Beziehung des Sühneleidens des Knechtes auf die Völkerwelt spricht vor allem das starke Vorliegen königlicher Traditionen in den Gottesknechttexten. Schon das An-der-Hand-Gehalten-Werden des Knechtes durch Jahwe in 42,1a geht auf königliche Vorstellungen zurück (vgl. Ps 89,22 und auch Jes 45,1). Gleiches gilt für die Geistverleihung zum Zweck der Rechtsvermittlung in Jes 42,1b (vgl. Jes 11,2 ff.). Schließlich sind die Aufgaben des Knechtes an der Völkerwelt in 42,1b–4 und in 49,1.6 („Licht für die Völker“) im Rahmen der Vorstellung einer universalen Herrschaft in der atl. Königstheologie (vgl. Ps 2 und Sach 9,9 f.) zu verstehen. Auf diesem Hintergrund ist auf jeden Fall auch der Plan Jahwes, der durch den Knecht verwirklicht werden soll (53,10) als ein die Völkerwelt einbeziehender Plan anzusehen. Nach 52,15 partizipieren wahrscheinlich auch die „vielen Völker“ an dem stellvertretenden Sühneleiden des Knechtes. Eventuell ist auch die Wir-Gruppe, die das ihr geltende stellvertretende Leiden des Knechtes („ideales Israel“) erkennt (53,4–6), mit der Völkerwelt zu identifizieren, deren Befriedung Aufgabe des eschatologischen Königs Israels ist (Sach 9,9b). Bemerkenswert ist, dass die ntl. Christologie in gleicher Weise als eschatologische Aktualisierung atl. königlicher und prophetischer Traditionen zu verstehen ist wie die Gottesknechtslieder. Insofern stellt die „christologische“ Deutung der Gottesknechtslieder auf Christus eine naheliegende Interpretationsmöglichkeit dar.
31.6.
„Tritojesaja“ (Jes 56–66)
31.6.1. Aufbau von Jes 56–66 Vom Deuterojesajabuch (Jes 40–55) hebt sich der dritte Teil des Großjesajabuches durch eine eigenständige Struktur ab, die konzentrisch um die Kernkapitel 60–62 herum angelegt ist: A 56,1–8 B C D C’ B’ A’
Gemeinde-Tora: Zulassung von Ausländern und Verschnittenen (gegen Dtn 23) 56,9–58,14 Anklage- und Drohworte 58,1–12 Fastenpredigt 59,1–21 Liturgie mit Volksklage 60–62 Heilsworte für Jerusalem 63,1–64,11 u. a. Volksklage (63,15 ff.: „Blicke vom Himmel und sieh … Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab“) 65,1–66,17 Verheißungs- und Drohworte 65,16b–25 Verheißung eines neuen Himmels und einer neuen Erde 66,18–24 Jahwes Herrlichkeit unter den Völkern
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31.6.2. Literarische Schichtung Der konzentrische Aufbau des „tritojesajanischen“ Abschnitts des Jesajabuchs ist am einfachsten durch eine Erweiterung des Kernbestandes von Jes 60–62 zu erklären. Angesichts dieses Befundes ist in der neueren Forschung die von Bernhard Duhm und Karl Elliger vertretene These einer „Einheit Tritojesajas“ aufgegeben worden. Vielmehr wird nur mit einer ursprünglichen Einheit von Jes 60–62* gerechnet. Zur Erklärung des Anwachsens des Kernbestandes von Jes 60–62* zu der heutigen Gestalt von Jes 56–66 werden gegenwärtig zwei unterschiedliche Theorien vertreten: Die erste stellt eine Fragmentenhypothese dar, die davon ausgeht, dass der Redaktor von Jes 56–66 neben dem Grundbestand von Jes 60–62 auf eine Reihe von Fragmenten zurückgegriffen hat (Sekine, Lau). Zum anderen wird eine Ergänzungs- bzw. Fortschreibungshypothese vertreten, die mit einer sukzessiven Erweiterung des Grundbestandes von 60–62 rechnet (Westermann, Steck, vgl. auch Koenen). Für die Fortschreibungshypothese spricht, dass sie die Struktur von Jes 56–66 durch sukzessive konzentrische Erweiterungen des Kerns von Jes 60–62 erklären kann. Dabei finden sich in den verschiedenen Rahmungen von Jes 60–62 unterschiedliche Vorstellungen vom Heil Israels: Während Jes 60–62 eine bedingungslose Heilsankündigung enthält (vgl. ähnlich Jes 57,14–21*; 65,16b–25; 66,7–14a), fordert 56,9–59,21* (vgl. 63,1–6) Gerechtigkeit als Bedingung für die Teilhabe am Heil. Auf einer späteren Stufe (vgl. Jes 65 f.*) wird außerdem die Teilhabe am Heil auf die Gerechten im Volk begrenzt. Schließlich öffnet das Gemeindegesetz von 56,1–8 (vgl. 66,18–24*) die Gemeinde auch für Verschnittene und für Mitglieder der Völkerwelt. 31.6.3. Entstehungsort und -zeit Allgemein wird mit einer Entstehung von Jes 56–66 im Palästina der Nachexilszeit gerechnet. Bei dem Grundbestand von Jes 60–62 denkt man meist an eine Abfassung nach der Errichtung des Zweiten Tempels 515 (jedenfalls vor Nehemias Auftreten 445; vgl. dazu oben § 12.1.). Bei den späteren Schichten rechnet Odil Hannes Steck mit einer Bildung während der frühen hellenistischen Zeit. 31.6.4. Schriftauslegung als Prophetie Auch wenn Jes 60–62 häufig auf einen Propheten „Tritojesaja“ zurückgeführt wird, so ist diese Prophetie doch bereits als „Auslegung“ von Jes 40–55 (vgl. Michel) zu verstehen. Auch die späteren Schichten von Jes 56–66 stellen durchweg „schriftgelehrte Prophetie“ dar.
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31.6.5. Theologische Bedeutung Der tritojesajanische Abschnitt des Jesajabuches (Jes 56–66) will daran erinnern, dass trotz der bedingungslosen Heilsverkündigung Deuterojesajas, die in Jes 60–62 aufgegriffen wird, das von der vorexilischen Schriftprophetie verkündete Gericht weiterhin zu berücksichtigen ist. Ihre Sozialkritik (vgl. 58,3 ff.) und ihre Kritik an Fremdkulten (vgl. 57,3 ff.; 65,3 ff.; 66,17) hat weiterhin Gültigkeit. Schließlich erinnert Jes 56–66 auch daran, dass Gottes Verheißung für Israel die Einbeziehung der Völkerwelt in diese Verheißung nicht ausschließt (66,18–24).
31.7.
Exkurs: „Messiaserwartung“ in der atl. Prophetie
31.7.1. Begriff „Messias“ (m¯aˇsî a h. = Gesalbter) Die hellenisierte Transkription „Messias“ für aramäisches meˇsîh¯a # (= hebr. m¯aˇsîah „Gesalbter“) geht auf das Johannesevangelium zurück (Joh 1,41; 4,25: an beiden Stellen übersetzt durch christós) und bezeichnet dort den eschatologischen Heilskönig. In entsprechender Weise wird hebr. m¯aˇsîah bereits in Qumran (1QSa II, 11–21 und 1QS IX,11) und griech. christós in den Psalmen Salomos (18,5) gebraucht. Demgegenüber verwendet das AT „Gesalbter“ für den regierenden König (so u.a. in 1Sam 24,7 für den ersten König Israels Saul und in Klgl 4,20 für den letzten judäischen König Zedekia; vgl. auch Kyrus als „Gesalbter Jahwes“ in Jes 45,1). In Dan 9,25 f. meint „Gesalbter“ möglicherweise den Hohenpriester (eventuell Onias III., der 190–174 v. Chr. das Hohepriesteramt innehatte). Allerdings kennt das AT durchaus die Erwartung eines eschatologischen Heilskönigs, der jedoch noch keine spezifische Bezeichnung trägt. Das Alter dieser Erwartung ist umstritten. Zum Teil rechnet man mit einer authentischen „Messias“-Hoffnung bereits bei Jesaja (9,1–6; 11,1–5*) und Micha (5,1–5*). Meist nimmt die atl. Forschung aber an, dass die sich auf einen eschatologischen Heilskönig beziehenden Texte der Prophetenbücher erst aus exilisch-nachexilischer Zeit stammen. Besonders zu nennen sind hier Jes 9,1–6; 11,1–9; Jer 23,5–6; Ez 34,23–24; 37,24; Mi 5,1–5*; Hag 2,21–23; Sach 4,1–14*; 6,9–15; 9,9–10. 31.7.2. Jes 9,1–6 31.7.2.1. Abgrenzung Albrecht Alt hatte unter Berufung auf Mt 4,14–16 die These vertreten, dass 8,23ab als Einleitung von 9,1–6 zu verstehen sei. Demgegenüber wird in der heutigen Forschung mehrheitlich mit einem Beginn des „messianischen“ Textes
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in 9,1 gerechnet. Gegen die Zugehörigkeit von 8,23* spricht vor allen Dingen der prosaische Charakter dieses Verses. Auch geht 9,1–6 nirgendwo auf die spezifische Verortung von 8,23 (Land Sebulon, Land Naftali, Weg am Meer, Land jenseits des Jordan) ein. Daher handelt es sich bei 8,23 wohl um eine spätnachexilische „historisierende“ Zufügung (Kaiser). 31.7.2.2. Zentrale Aussagen 9,1–6 stellt eine Weissagung in der Form eines eschatologischen Dankliedes dar. Die Heilswende, die Befreiung vom Joch der Feinde (das Sprechen vom „Volk im Finstern“ setzt wohl die Erfahrung des Exils voraus), wird dabei von Jahwe erwartet (V. 3.6b). Bemerkenswert ist, dass der Text nicht von der Tötung der Feinde, sondern nur vom Verbrennen ihrer Ausrüstung (Stiefel, Mantel) spricht (V. 4). Aufgabe des Heilskönigs ist es, dieses von Gott durchgesetzte Friedensreich vor allem durch „Recht und Gerechtigkeit“ zu sichern (V. 6a). Die ihm zugesprochenen Namen „Wunderplaner“ (vgl. Jes 28,29), „Starker Gott“ (vgl. Ps 24,8), „Ewigvater“, „Friedensfürst“ zeigen ihn dabei als Repräsentanten Gottes, dessen Aufgaben weit über das hinausgehen, was üblicherweise in Israel von einem König erwartet wurde. 31.7.3. Jes 11,1–9 31.7.3.1. Abgrenzung Umstritten ist, ob Jes 11,6–9 (Erwartung eines paradiesischen Tierfriedens) als ursprünglicher Bestandteil der Heilsweissagung anzusehen ist. Die Exegeten, die Jes 11,1ff. für jesajanisch halten, betrachten 11,6–9 meist als Zusatz aus nachexilischer Zeit (vgl. die gleiche Vorstellung in Jes 65,25). Datiert man jedoch Jes 11,1ff. nachexilisch, spricht nichts gegen die Einheit von Jes 11,1–9 (Kilian, Werner). 31.7.3.2. Zentrale Aussagen Die in die Form einer „Heilsschilderung“ gefasste Weissagung sieht den eschatologischen König nicht als direkten Nachkommen Davids. Vielmehr ist er als Zweig aus dem Wurzelstock Isais, des Vaters Davids, (dieses Bild deutet wohl das Ende der Daviddynastie an) verstanden. Der Heilskönig zeichnet sich durch eine dauernde Begabung mit dem „Geist Gottes“ aus (vgl. sonst 1Sam 16,13 f. bei David; auch 2Kön 2,15 bei Elisa). Dabei wird ihm – als eine Art zweiter Salomo – in besonderer Weise „Weisheit“ (vgl. 1Kön 3,12) zugeschrieben, die sich vor allem im Durchsetzen von „Gerechtigkeit“ (Jes 11,3–5), und zwar „durch den Stab seines Mundes“ (11,4), also durch das Wort, zeigt. Der durch den göttlichen Geist gewirkte Friede hat schließlich die ganze Schöpfung einbeziehende Wirkungen (11,6–9).
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31.7.4. Jer 23,5–6 (vgl. 33,14–16) 31.7.4.1. Zentrale Aussagen Der zukünftige Heilskönig wird hier als gerechter „Spross“ (vgl. zum Titel Sach 3,8; 6,12) Davids bezeichnet. Für seine Regierung wird charakteristisch sein, dass er „Recht und Gerechtigkeit“ im Lande üben wird und Juda und Israel in Sicherheit leben werden. Sein Name „Jahwe ist unsere Gerechtigkeit“ (Jhwh sidqenû) weist wieder auf Jahwes Wirken als den entscheidenden Faktor hin. . 31.7.4.2. Datierung In Jhwh sidqenû liegt möglicherweise eine Anspielung auf den Namen des letzten . judäischen Königs Zedekia (597–587) vor. Doch ist der Spruch wohl erst in exilischer Zeit entstanden (Wanke). Jedenfalls dürfte Jeremia – wie Jer 22,24–30 zeigt – keine „messianische“ Erwartung gekannt haben. 31.7.5. Die Erwartung eines künftigen David als „einzigen Hirten“ im Ezechielbuch (Ez 34,23 f.; 37,24) In den wohl auf nachezechielische Fortschreibungen zurückzuführenden „messianischen“ Erwartungen des Ezechielbuches wird in Ez 34,23 f. der Knecht Gottes David als einziger Hirte erwartet. Er ist dabei als Kontrastfigur zu den Hirten Israels verstanden, die sich nur selbst weiden (Ez 34,1 ff.). Wie 34,24 deutlich macht, wird dieser auch als „Nasi“ („Fürst“) bezeichnete zukünftige Hirte die Zuwendung Jahwes zu Israel repräsentieren: „Ich selbst Jahwe werde ihr Gott sein, und mein Knecht David wird Fürst in ihrer Mitte sein“. Ähnliche Vorstellungen von einem zukünftigen „Hirten“ und „Knecht Jahwes David“ finden sich in Ez 37,24, der hier zusätzlich noch den Königstitel trägt. Im AT einzigartig ist, dass hier für die messianische Zeit das „Halten der Gebote Jahwes“ erwartet wird (Kellermann). 31.7.6. Micha 5,1–5* 31.7.6.1. Abgrenzung Die Verheißung eines Herrschers der Heilszeit in Mi 5,1–5* stellt den Schluss der Heilsweissagung Mi 4,9–5,5* dar, die wegen des unmittelbaren Bezugs auf die Situation von 587 (vgl. Mi 4,14) aus der frühen Exilszeit stammen dürfte (Wolff, Oberforcher). Sekundäre nachexilische Zusätze bilden in ihr Mi 5,2.3b*.4b.5a, so dass der exilischen „messianischen“ Weissagung Mi 5,1.3*.4a.5b zuzuweisen sind (Wolff; vgl. L. Schmidt; anders Kessler). In 5,5b steht dabei „Assur“ für die die Gegenwart bestimmende Weltmacht.
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31.7.6.2. Zentrale Aussagen Wie in Jes 11,1 greift hier die Hoffnung auf einen Heilsherrscher auch auf die Situation der Vorfahren Davids zurück. So wird dieser Herrscher mit deutlicher königtumskritischer Absicht nicht aus Jerusalem, sondern aus dem Herkunftsort der Familie Davids, Bethlehem, erwartet (Efrata bezeichnet die Sippe, aus der Davids Vater Isai stammt, 1Sam 17,12). Von ihm wird erhofft, dass er „Israel“ von der Herrschaft der Weltmacht befreit (V. 5b) und damit „Schalom“ herbeiführt (V. 4a). V. 3a betont dabei wieder, dass er diese Hirtenaufgabe nur „in der Hoheit des Namens Jahwes“ vollbringen kann. 31.7.7. Serubbabel als eschatologischer Heilsherrscher bei Haggai (2,20–23) und Sacharja (4,1–14*; 6,9–15). Die von Haggai im Jahre 520 v. Chr.(vgl. unten § 44) und von Sacharja in den Jahren 520–518 v. Chr. (vgl. unten § 45) vertretene „messianische“ Erwartung nimmt insofern eine Sonderstellung innerhalb des AT ein, als sie sich mit dem Davididen und persischen Kommissar Serubbabel (vgl. zu ihm oben § 11.4.4.) auf eine konkrete Gestalt der Geschichte Israels richtet. 31.7.7.1. Hag 2,20–23 Der „messianischen“ Erwählung von Serubbabel geht hier die Errichtung eines universalen Friedensreiches durch Jahwe voraus („Ich [= Jahwe] werde … vernichten die Macht der Königreiche der Völker …“), bei der Jahwe die Streitkräfte der Völkerwelt vernichten wird. Von Serubbabel wird in V. 23 nur die Verwaltung dieses Friedensreiches erwartet. Verstanden ist er als „Knecht Jahwes“ und als sein „Siegelring“ (vgl. hierzu Jer 22,24). Wahrscheinlich ist damit die Wiedereinsetzung der Daviddynastie zum Ausdruck gebracht (Beyse). 31.7.7.2. Sach 4,1–14* In der vierten Vision der Nachtgesichte Sacharjas (4,1–6a.10b–14) sieht der Prophet zwei Ölbäume oberhalb eines mit sieben Lampen ausgestatteten goldenen Leuchters (V. 3). Der angelus interpres deutet diese auf die beiden „Ölsöhne“ (= „Gesalbte“), „die vor dem Herrn der ganzen Erde stehen“ (V. 14). Gemeint sind damit offensichtlich der künftige „messianische“ Herrscher und der „messianische“ Hohepriester (eine ähnliche Erwartung findet sich später in Qumran 1QS IX,11). Es spricht einiges dafür, dass Sacharja diese beiden „Ölsöhne“ mit dem Davididen Serubbabel und dem Hohenpriester Jeschua identifiziert. Jedenfalls wird Jeschua in Sach 3,7 in eine 4,14 entsprechende Position eingesetzt. Auch erwartet
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3,8 neben Jeschua eine weitere Heilsgestalt, die als „Spross“ bezeichnet wird (vgl. Jer 23,5 und dazu oben 31.7.4.1.). Aufgabe dieses Sprosses wird nach Sach 6,12 der Wiederaufbau des Tempels sein, der nach 4,6a–7 und 4,8–10a von Serubbabel erhofft wird. Von daher dürfte mit dem nichtpriesterlichen „Ölsohn“ Serubbabel gemeint sein. 31.7.7.3. Sach 6,9–15 Eine auf Serubbabel bezogene „messianische“ Erwartung wird auch in der prophetischen Symbolhandlung der Krönung Jeschuas durch Sacharja angedeutet. Jeschua ist hier offenbar „der Empfänger einer stellvertretenden Symbolhandlung“ (Reventlow) für den mit dem Tempelbau beauftragten davidischen „Spross“ (vgl. V. 12), womit Serubbabel gemeint sein muss (vgl. 4,6a–10a). 31.7.8. Sach 9,9–10 31.7.8.1. Abgrenzung Im Gegensatz zu den „messianischen“ Erwartungen des Haggai- und des Protosacharjabuches liegt im „Deuterosacharjabuch“ (Sach 9–11; vgl. unten § 46) die Hoffnung auf einen Heilskönig vor, die keinerlei Bezüge auf eine konkrete historische Situation aufweist. Jedenfalls deutet alles auf eine ursprüngliche Selbstständigkeit von Sach 9,9–10 gegenüber Sach 9,1–8* hin (Reventlow). 31.7.8.2. Zentrale Aussagen Sach 9,9–10 erwartet ein eschatologisches Jerusalemer Königtum (V. 9), das über die gesamte Welt herrscht („vom Meer zum Meer“, zugrunde liegt hier das altorientalische Weltbild, das mit einer von Meeren umgebenen Erde rechnet). Voraussetzung dieses universalen Friedensreiches ist die Vernichtung aller Waffen sowohl in der Völkerwelt als auch in Israel (Jerusalem und Ephraim) durch Jahwe (V. 10a); die Annahme, bei V. 10a handele es sich um eine sekundäre Zufügung (Reventlow), ist daher unwahrscheinlich. Aufgabe des Jerusalemer „messianischen“ Königs ist es nur noch, mit dem Wort den von Gott geschaffenen Frieden zu bewahren. Wahrscheinlich betont auch das Reiten auf einem Esel (vgl. jedoch für einen königlichen Esel auch Gen 49,11; für ein königliches Maultier auch 1Kön 1,33) den Verzicht auf militärische Macht, wie sie die „Rosse“ in 9,10a zum Ausdruck bringen. Die Parallelisierung mit dem „Arm“-Sein des Königs legt dies nahe. Deutlich macht der Text jedenfalls die völlige Abhängigkeit des „messianischen“ Königs von Jahwe. So bezeichnet der MT von 9,9 ihn als „einen, dem (von Jahwe) geholfen wurde“ (die LXX hat dies später in „ein Helfer“ geglättet). Und
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auch sein „Gerecht“-Sein dürfte hier als eine von Jahwe verliehene Gabe verstanden sein (vgl. Ps 72,1; auch 1Kön 3,9). Dieser das gewaltlose Auftreten des „Messias“ betonende Text hat für die ntl. Deutung Jesu besondere Bedeutung gewonnen, wie die gleichzeitige Bezugnahme auf ihn in Mt 21,4 f. und in Joh 12,14 f. zeigt.
31.8.
Ausgewählte Literatur
31.8.1. Zu Jes 1–66 und zu Protojesaja (Jes 1–39) Barth, H.: Die Jesaja-Worte in der Josiazeit, Neukirchen-Vluyn 1977. Barthel, J.: Prophetenwort und Geschichte, Tübingen 1997. Becker, J.: Isaias – der Prophet und sein Buch, Stuttgart 1968. Becker, U.: Jesaja – von der Botschaft zum Buch, Göttingen 1997. Berges, U.: Das Buch Jesaja. Komposition und Endgestalt, Freiburg 1998. Beuken, W.A.M.: Jesaja 1–12.13–27.28–39, HThKAT, Freiburg 2003–2010. Blum, E.: Jesajas prophetisches Testament. Beobachtungen zu Jes 1–11, ZAW 108, 1996, 547–568; 109, 1997, 12–29. Carr, D.: Reaching for Unity in Isaiah, JSOT 57, 1993, 61–80. Duhm, B.: Das Buch Jesaja (1892), Göttingen 51968. Eichhorn, J.G.: Einleitung in das AT 1–3, Leipzig 1780–1783. Fohrer, G.: Das Buch Jesaja 1–3, ZBKAT 19, Zürich 1960–1964. –: Jesaja 1 als Zusammenfassung der Verkündigung Jesajas, in: Studien zur atl. Prophetie, Berlin 1967, 148–166. Hammershaimb, E.: Das Martyrium Jesajas, in: JSHRZ II, Gütersloh 21977, 15–34. Hardmeier, C.: Prophetie im Streit vor dem Untergang Judas, Berlin 1990. Hartenstein, F.: Die Unzugänglichkeit Gottes im Heiligtum. Jesaja 6 und der Wohnort Jahwes in der Jerusalemer Kulttradition, Neukirchen-Vluyn 1997. Höffken, P.: Das Buch Jesaja Kap. 1–39 + 40–66, NSKAT 18, Stuttgart 1993/1998. Hoffmann, H.W.: Die Intention der Verkündigung Jesajas, Berlin/New York 1974. Huber, F.: Jahwe, Juda und die anderen Völker beim Propheten Jesaja, Berlin/New York 1976. Jüngling, H.-W.: Das Buch Jesaja, in: E. Zenger, u. a., Einleitung in das AT, Stuttgart 72008, 427– 451. Kaiser, O.: Das Buch des Propheten Jesaja, ATD 17/18, Göttingen Bd. 1, 51981; Bd. 2, 21983. –: Art. Jesaja, TRE 16, 1987, 636–658. –: Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des AT 2, Gütersloh 1994. Kilian, R.: Die Verheißung Immanuels, Stuttgart 1968. –: Jesaja 1–39, EdF 200, Darmstadt 1983. –: Jesaja 1–12, NEB, Würzburg 1986. –: Jesaja II: 13–39, NEB, Würzburg 1994.
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Die Schriften des AT
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§ 32
Das Jeremiabuch und der Prophet Jeremia
32.1.
Der Aufbau des Jeremiabuches
Im masoretischen Text und in der Septuaginta, die sich hier als Wiedergabe einer in Qumran bezeugten Textform zeigt (vgl. 4QJerb aus der Zeit um 100 v. Chr.; allerdings ist auch die masoretische Textform des Jeremiabuches in Qumran in 2QJer, 4QJera und in 4QJerc belegt), liegen unterschiedliche Aufbauschemata des Jeremiabuches vor. 32.1.1. Masoretischer Text (Jer MT) Jer MT setzt sich aus zwei Hauptteilen (Jer 1–25: überwiegend Drohworte gegen das eigene Volk; Jer 26–45: überwiegend Erzählungen) und zwei Anhängen (1: Jer 46–51: Fremdvölkersprüche; 2: Jer 52: historische Nachträge aus 2Kön 24 f.) zusammen. A. 1–25 Vor allem Worte gegen das eigene Volk I. 1 Prolog 1,4–10 1,11–16 1,17–19 II. 2,1– 4,4 III. 4,5–6,30
Berufung Zwei Visionen (Mandelzweig, siedender Kessel) Aussendung Anklage Israels wegen Fremdkult Feind aus dem Norden
Die prophetischen Bücher
343
IV. 7,1–10,25 Tempelrede mit Anhängen 7,1 ff. Rede am Tempeltor V. 11–20 11 13 14/15 16 18 19/20
Szenen jeremianischer Verkündigung Ungehorsam gegen das Gesetz Zeichenhandlung mit Gürtel „Dürreliturgie“ Zeichenhandlung der Ehelosigkeit Töpfergleichnis Zeichenhandlung des Zerbrechens des Kruges
VI. 21–24 Worte über Könige und Propheten 21,11–23,8 Worte „über das Königshaus“ (Schallum/Joahas – Jojakim – Jojachin) 23,9–20 Worte „über die Propheten“ 24 Vision von zwei Feigenkörben VII. 25
Das Gericht über Juda und Jerusalem (durch die Völker) und das Gericht („Zornbecher“) über die Völker
B. 26–45 Vor allem Erzählungen über das Wirken und Leiden des Propheten I. 26–29
Tempelrede und Auseinandersetzung mit falschen Propheten Sog. „Trostbüchlein für Ephraim“ Zeichenhandlung des Ackerkaufs in Anatot und Heilsworte Worte an Zedekia (u. a. wegen Rückgängigmachen der Sklavenbefreiung) Vorbild der Rechabiter Die von Baruch geschriebene Schriftrolle der Worte Jeremias und ihre Verbrennung durch Jojakim Das Leiden des Propheten vor und nach der babylonischen Eroberung Jerusalems Heilswort für Baruch
II. 30–31 III. 32–33 IV. 34 V. 35 VI. 36 VII. 37– 44 VIII. 45 Anhang 1: 46–51 46 47 48 49 50–51 Anhang 2:
Worte gegen Fremdvölker Ägypten Philister Moab Ammon, Edom, Damaskus, Araber, Elam Babylon
52 Anhang über Untergang Jerusalems aus vor allem 2Kön 24,18–25,30
344
Die Schriften des AT
32.1.2. Septuaginta-Text (Jer LXX) Jer LXX zeichnet sich dadurch gegenüber Jer MT aus, dass das Jeremiabuch hier stärker dem dreigliedrigen eschatologischen Schema des Prophetenbuchaufbaus entspricht: A. 1,1–25,13 Vor allem Gericht über das eigene Volk B. 25,14–32,38 Gericht über die Fremdvölker C. 33,1–51,35 Vor allem Heil (verbunden mit Erzählungen über das Wirken und Leiden des Propheten) Anhang: 52
Untergang Jerusalems
In der atl. Forschung ist umstritten, ob Jer LXX oder Jer MT den ursprünglichen Aufbau des Jeremiabuchs enthält. Häufig wird angenommen (vgl. hierzu Min, Stipp und Tov), dass der LXX-Text mit seiner stärkeren Entsprechung zum dreigliedrigen eschatologischen Prophetenbuchschema die ursprüngliche Fassung wiedergibt, zumal diese Textform auch in Hebräisch bezeugt ist (vgl. 4QJerb). Auch die Tatsache, dass Jer LXX um etwa ein Achtel (3017 Wörter) kürzer ist als Jer MT wird als Argument für die Ursprünglichkeit der LXX-Fassung angeführt, zumal sehr späte Zusätze zum Jeremiabuch wie 33,14–26 („ewiger Bund mit dem Haus David und dem Haus Levi“) in der LXX-Fassung (noch?) fehlen. Andererseits fehlen im LXX-Text auch Stellen wegen versehentlicher Auslassung (eventuell 39,4–13 wegen Homoioteleuton) bzw. infolge bewusster Kürzung (8,10–12 als Wiederholung von 6,13–15 und eventuell 39,4–13 als Vorwegnahme von 52,4–16). Auch scheint die von MT abweichende Reihenfolge der Fremdvölkersprüche in Jer LXX (Elam, Ägypten, Babel, Philister, Edom, Ammon, Arabien, Damaskus, Moab) deutlich sekundär zu sein (Voranstellung Elams wegen der Parthergefahr in den letzten Jahrhunderten vor der Zeitenwende). Schließlich könnte bei Jer LXX durchaus auch eine sekundäre Angleichung an das beim Jesaja-und beim Ezechielbuch vorliegende dreigliedrige eschatologische Aufbauschema vorliegen (gegen eine durchgehende Priorität der von der LXX bezeugten Textfassung vgl. zuletzt Schmid).
Die prophetischen Bücher
32.2.
345
Die Entstehung des Jeremiabuches
32.2.1. Zur Forschungsgeschichte 32.2.1.1. Die Literarkritik von Bernhard Duhm, Sigmund Mowinckel und Wilhelm Rudolph Die grundlegenden Erkenntnisse zur Entstehung des Jeremiabuches gehen auf Bernhard Duhm (1901) zurück: Er nahm an, dass einerseits Gedichte Jeremias (vor allem aus Jer 1–25*.30–31*) und andererseits eine von Baruch geschriebene Biographie Jeremias (vgl. vor allem Jer 26–45*) von einer Reihe von Ergänzern (auf die u. a. auch predigtartige Ausführungen mit nomistischer Theologie zurückgehen) zum heutigen Jeremiabuch zusammengestellt wurden. Auf die Beobachtungen Duhms aufbauend hat Sigmund Mowinckel (1914) für Jer 1– 45 (Jer 46–51 und Jer 52 stellen für Mowinckel späte Anhänge dar) eine Vierquellentheorie entwickelt: Quelle A enthält dabei die poetisch-rhythmisch geprägten Sprüche des Propheten (z.T. schon in Sammlungen wie Jer 4–6 „Sprüche über den Feind aus dem Norden“ und Jer 21–23 „Sprüche gegen Könige und Propheten“ zusammengestellt) und die auf ihn zurückgehenden prosaischen Eigenberichte wie Jer 1. Quelle B setzt sich aus den Berichten über Jeremia in 3. Person (vgl. u. a. Jer 19–20*; 26–29*; 36–44*) zusammen. Nach Mowinckel handelt es sich hierbei allerdings weder um eine Biographie Jeremias noch sind diese Texte auf Baruch zurückzuführen. Auf Quelle C gehen die Prosareden im dtr. Stil zurück, wie sie u.a. in Jer 7,1–8,3; 11,1–14; 18,1–12; 21,1–10; 25,1–14*; 35,1–19; 44,1–14 vorliegen. Typisch für diese Texte ist ihr Beginn mit der Wortereignisformel „Dies ist das Wort, das von Jahwe zu Jeremia geschah“. Der Quelle D schreibt Mowinckel die Heilsweissagungen von Jer 30–31 zu, die er nachexilisch datiert. Wilhelm Rudolph (1947) hat die Mowinckelsche Quellentheorie im Wesentlichen übernommen, sie allerdings an einigen Stellen modifiziert. Vor allem wird Mowinckels Quelle A ausgeweitet, indem der Grundbestand der Völkersprüche von Jer 46–49* und der Heilsworte von Jer 30–31* auch als authentische Sprüche Jeremias verstanden werden. 32.2.1.2. Die Redaktionshypothese von Winfried Thiel In Kritik an der Quellentheorie Mowinckels stellte die weitere Forschung fest, dass es zwischen den als dtr. angesehenen Texten der Quelle C und den jeremianisches Gut enthaltenden Quellen A und B durchaus enge Beziehungen gibt
346
Die Schriften des AT
(Helga Weippert zog daraus die Konsequenz, dass die Texte der Quelle C nicht dtr. Bildungen, sondern auf Jeremia zurückzuführen seien: er greife bei ihnen auf die Sprache der Paränese zurück). Diese Beziehungen kann nun Winfried Thiel dadurch erklären, dass er Mowinckels Quelle C als eine dtr. Redaktionsschicht (D) versteht, die auch das jeremianische Gut von Mowinckels Quellen A und B einer Bearbeitung unterzogen hat. Dabei ist in Mowinckels C-Material durchaus auch mit jeremianischen Worten (vgl. u. a. 7,14) zu rechnen, die dtr. ergänzt wurden (neben Eigenbildungen der dtr. Redaktion und Worten in dtr. Sprache, die ein authentisches Jeremiawort ausbauen). Diese D-Redaktion ist wie DtrH (vgl. oben § 25.4.) in der Zeit zwischen 560 und 539 entstanden und hat ein Jer 1– 45 umfassendes Jeremiabuch geschaffen. Jer 46–51 geht demgegenüber nach Thiel erst auf eine postdeuteronomistische Redaktion (PD) zurück (anders McKane und Levin 1985, die mit sehr divergenten Fortschreibungen der Jeremiaüberlieferungen nach einem „rolling corpus“System rechnen; vgl. auch Stipp). 32.2.1.3. Uneinheitlichkeit der Fremdberichte über Jeremia Nach der Untersuchung von Gunther Wanke (1971) kann nicht von einer einheitlichen „Baruchbiographie“ ausgegangen werden. Vielmehr liegen hier vier gesonderte Überlieferungelemente vor: a)
Jer 19–20*.26–29*.36* bilden Einzelerzählungen, die unter dem Thema „Verwerfung der Botschaft des Propheten“ stehen. b) Demgegenüber geht es in dem Erzählzyklus Jer 37– 43/44* um die Verfolgung des Propheten. c)+ d) Als eigenständige davon zu trennende Überlieferungen sind das an Baruch gerichtete Wort in Jer 45* und das der Gesandtschaft nach Babel mitgegebene Wort gegen Babel in 51,59–64* anzusehen. Außerdem hat Karl-Friedrich Pohlmann (1978) eine golaorientierte Bearbeitung in Jer 37– 44 (vgl. Jer 24) festgestellt, deren Verhältnis zur D-Redaktion des Jeremiabuches noch zu klären ist (ist hier mit mehreren dtr. Redaktionen des Jeremiabuchs zu rechnen?, vgl. dazu Wanke 1995). 32.2.1.4. Die Diskussion über die Authentizität der Konfessionen Jeremias Umstritten ist die Authentizität der 5 Konfessionen Jeremias (11,18–12,6*; 15,10–21*; 17,14–18*; 18,18–23*; 20,7–18*). Bei ihnen handelt es sich nicht um prophetische Verkündigung, sondern um Klagegebete des Propheten über seinen Beruf und die mit ihm verbundenen Anfeindungen. Formal entsprechen die Texte den Klageliedern des Einzelnen im Psalter (vgl. unten § 49.4.). Teils sieht
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man in diesen Texten eine Aufnahme der Klageliedform durch Jeremia (so u. a. Baumgartner, Ittmann, Hermisson, Herrmann, W.H. Schmidt), teils führt man sie auf eine redaktionelle Bearbeitung des Jeremiabuchs zurück, die Jeremia als exemplarischen „leidenden Gerechten“ (zum „exemplarischen Ich“ vgl. unten § 49.3.4.) deutet (so u. a. Gunneweg, Pohlmann, Wanke, Werner; vgl. dagegen wieder anders Bultmann). 32.2.2. Jeremianisches Gut im Jeremiabuch Auch wenn Jer 1– 45 erst durch eine D-Redaktion (bzw. durch mehrere dtr. Redaktionen) zusammengefügt worden ist, kann in diesen Kapiteln doch mit der Aufnahme von jeremianischem Gut gerechnet werden. Weniger gilt dies für die auf Jer 1– 45 folgenden Fremdvölkersprüche Jer 46–51, die vermutlich erst postdeuteronomistisch angefügt worden sind. Welche Texte innerhalb von Jer 1–25 und Jer 26–45 als redaktionell und welche als jeremianische Tradition anzusehen sind, ist in der gegenwärtigen Forschungssituation umstritten. Die folgende Darstellung der Wirkungsperioden und der Botschaft Jeremias bleibt weitgehend der literarischen Analyse von Winfried Thiel verpflichtet.
32.3.
Die Person und der historische Hintergrund des Auftretens Jeremias
32.3.1. Herkunft und Umfeld Jeremias Jer 1,1 bezeichnet den Propheten als Sohn Hilkias (der nicht mit dem Oberpriester Hilkia von 2Kön 22 identifiziert werden kann) und verweist auf seine Herkunft aus der Priesterschaft von Anatot (4 km nordöstlich von Jerusalem). Von einer Prägung Jeremias durch priesterliche Traditionen ist allerdings wenig zu erkennen. 16,1–9 weisen darauf hin, dass Jeremia ehe- und kinderlos geblieben ist, was 16,1 ff. als ihm von Gott aufgetragene Zeichenhandlung versteht. Auch sonst wird Jeremia als am Rande der Gesellschaft stehende Person dargestellt (11,21; 20,2 f.; 26,11; 36,26; 37,11–39,14; 43,4–7 sprechen von Verfolgungssituationen). Als Jeremia unterstützende Personen werden in 26,24 der hohe Hofbeamte Ahikam ben Schafan und in 36,4 Baruch genannt. Beachtenswert ist die These Avigads, dass auch Baruch durch ein in Jerusalem gefundenes Siegel mit der Aufschrift „… des Berekjahu, des Sohnes des Nerijahu, des Schreibers“ (vgl. Conrad, in TUAT II, 565) als hoher Staatsbeamter bezeugt sei.
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32.3.2. Das Berufungsdatum Jeremias Nach Jer 1,2 f. und 25,3 ist Jeremia im 13. Jahr des Königs Josia (627/26) berufen worden (auch rechnen 3,6 und 36,2 mit Jeremiaworten aus der Zeit Josias). Eine Schwierigkeit besteht allerdings darin, dass keine Jeremiaworte eindeutig der Zeit Josias zuzuordnen sind. Auch vermisst man unter den Jeremiaworten eine Stellungnahme zum wichtigsten Ereignis der Josiazeit, der von Josia 622 durchgeführten Kultreform (bei 8,8 ist sowohl die Authentizität als auch der Bezug auf die Josiareform nicht sicher). Von daher wird die These vertreten, dass Jeremia erst gegen Ende der von 639 bis 609 dauernden Regierungszeit Josias (Seybold) oder erst zur Zeit von Joahas/Schallum (609) bzw. von Jojakim (608–598) zum ersten Mal aufgetreten sei (die Beziehung von 22,10 auf Schallum ist umstritten). Erst die dtr. Redaktoren hätten in 1,2 f. und 25,3 die Berufung Jeremias in die Frühzeit Josias zurückprojiziert, um Jeremia als Vorläufer der Josiareform darzustellen (Horst) und ihm gleichzeitig eine 40jährige Wirkungszeit (Stilisierung als eines zweiten Mose?) zuzuschreiben (vgl. zuletzt Levin und Werner). 32.3.3. Die Wirkungsperioden Jeremias (zum historischen Hintergrund vgl. oben § 11) 32.3.3.1. Frühzeitverkündigung zur Zeit Josias (627–609)? Die Mehrheit der atl. Forschung (vgl. dagegen 32.3.2.) rechnet mit einer Frühzeitverkündigung Jeremias in der Zeit Josias (vgl. Jer 3,6; 36,2). Meist findet man sie in Jer 2–6*. Doch kann man die Verkündigung Jeremias vom „Feind aus dem Norden“ in 4,5–6,30 auch auf die Zeit Jojakims und damit auf die Babylonier beziehen (vgl. Albertz, Wanke). In diesem Falle sind vor allem 2,1–4,4* (Anklage gegen den Fremdkult [Nord-?] Israels) und eventuell Heilsankündigungen für das Nordreich (besonders in Jer 30f.*) als Frühzeitbotschaft Jeremias zu verstehen. 32.3.3.2. Regierungszeit von Schallum/Joahas (609) Die dtr. Redaktoren in 22,11 f. beziehen den jeremianischen Spruch 22,10 auf den Sohn des Josia Joahas/Schallum, der nach dem Tode Josias vom judäischen Landadel unter Übergehung des älteren Sohnes Eljakim/Jojakim zum König gemacht wurde (2Kön 23,30 f.). Joahas wurde kurze Zeit nach seinem Regierungsantritt von dem ägyptischen König Necho abgesetzt und als Gefangener nach Ägypten deportiert, wo er starb (2Kön 23,31–34).
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32.3.3.3. Regierungszeit von Jojakim (608–598) Nach den Redaktoren des Jeremiabuches gehören Jer 7–20+26 (vgl. vor allem die „Tempelrede“ und die Verfolgung Jeremias durch die Tempelpriesterschaft) und Jer 35 f. (vgl. vor allem die Auseinandersetzung um die Schriftrolle mit der Botschaft Jeremias und die Verbrennung der Rolle durch Jojakim in Jer 36) in die Zeit Jojakims. Gegen Jojakim selbst ist der Königsspruch 22,13–19 gerichtet, in der besonders die Luxusliebe des Königs und seine Unterdrückung der Armen kritisiert werden. 32.3.3.4. Regierungszeit Jojachins (597) Ein Bezug auf Jojachin, der als Sohn Jojakims nur die kurze Zeit vom Tode seines Vaters bis zur ersten Einnahme Jerusalems durch Nebukadnezar (597) regierte, liegt in der Jeremiaüberlieferung nur in Jer 22,24–30 vor. In einem ersten Spruch (V. 24–26*) wird von der Verstoßung Jojachins als Siegelring Jahwes gesprochen. Ein zweiter (V. 29–30*) kündigt an, dass kein Nachkomme Jojachins mehr auf dem Thron Davids sitzen wird. 32.3.3.5. Regierungszeit Zedekias (597–587) In die Zeit Zedekias werden Jer 21–24* (Ankündigung des Untergangs von JudaJerusalem), Jer 27–29* (Auseinandersetzung mit falschen Propheten und Ankündigung der Weltherrschaft Nebukadnezars) und Jer 37–39 (Gefangenschaft Jeremias während der babylonischen Belagerung Jerusalems) angesetzt. Zedekia ist dabei als ein Repräsentant Israels gezeichnet, der vor die Entscheidung für den Untergang oder für die Rettung Jerusalems gestellt wird, dabei für die rettende Entscheidung offen ist, aber sich schließlich als zu schwach erweist, sie zu treffen. 32.3.3.6. Die Zeit nach der Zerstörung Jerusalems (587 ff.) Auf diesen Zeitabschnitt bezieht sich ausschließlich der Fremdbericht in Jer 40–44. Erzählt werden Jeremias Befreiung aus der Gefangenschaft durch die Babylonier, seine Zusammenarbeit mit dem durch die Babylonier eingesetzten Statthalter Gedalja, die Ermordung Gedaljas, die Flucht der Anhänger Gedaljas nach Ägypten und die gegen seinen Willen vorgenommene Verbringung Jeremias nach Ägypten. Als letztes in Ägypten gesprochenes Wort Jeremias wird eine Unheilsankündigung wegen der Verehrung der Himmelskönigin überliefert (Jer 44).
350
32.4.
Die Schriften des AT
Die Botschaft Jeremias
32.4.1. Gerichtserwartung Im Prolog des Jeremiabuches (Jer 1) ist die Jeremia aufgetragene Botschaft in zwei aufeinander folgenden und aufeinander bezogenen Visionen dargestellt. In der Mandelzweigvision von Jer 1,11 f. wird in einem Wortspiel („wachender Zweig“) deutlich gemacht, dass Jahwe über das Eintreffen seines Wortes wachen wird. Als Inhalt dieses Wortes Jahwes vermittelt die zweite Vision von dem sich von Norden her neigenden dampfenden Kessel (1,13 f.), dass Gott von Norden her Unheil über alle Bewohner des Landes bringen wird. In Jer 4,5–6,30 wird dieser „Feind aus dem Norden“ genauer beschrieben und in späteren Texten mit den Babyloniern identifiziert (vgl. 27,6 ff.). Entgegen der damals herrschenden Vorstellung, dass Gott sein Heiligtum in Jerusalem schützen wird, hat Jeremia die Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch die Babylonier anzukündigen (vgl. Jer 38,23; 7,14: „ich will mit dem Tempel tun, wie ich mit Silo getan habe“). 32.4.2. Kritik an der Außenpolitik Aus dieser Gerichtsgewissheit Jeremias ist auch seine Kritik an der Außenpolitik der Könige seiner Zeit verständlich. Sowohl Jojakim (vgl. 36,29) als auch Zedekia (vgl. 37 f.) nehmen Jeremias Gerichtsbotschaft nicht ernst und unterwerfen sich dem babylonischen Gerichtswerkzeug Gottes, der in dieser Eigenschaft als „Knecht Jahwes“ bezeichnet wird (27,6; vgl. auch die Zeichenhandlung Jeremias mit dem Tragen des Joches, das die Weltherrschaft Nebukadnezars symbolisiert, in Jer 27–28), nicht. Diese Nichtorientierung am Willen Jahwes zeigt sich auch in Israels kultischem und sozialem Verhalten, das daher in gleicher Weise für das Gericht Gottes verantwortlich gemacht wird. 32.4.3. Kultkritik Wie Hosea (vgl. unten § 35.7.) sieht Jer 2–3 eine zentrale Schuld Israels im Fremdkult, der hier auch wie bei Hosea (vgl. Hos 2) beschrieben wird (vgl. Jer 2,1–3: Wüstenzeit als ideale Brautzeit Israels mit Jahwe; 2,23–25: Israel als ehebrecherische Braut; auch 5,7–9). In Jer 7 und 44 wird vor allem der Kult der „Himmelskönigin“ (Verehrung der Ischtar/Astarte im Gefolge der Übernahme assyrischer Kulte zur Zeit Manasses?) kritisiert (7,16 ff.; 44,1 ff.).
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32.4.4. Sozialkritik Als Zeichen der Nichtorientierung an Jahwe kann bei Jeremia auch unsoziales Verhalten gelten. So findet Jeremia in 5,1–6* nicht „einen, der Recht tut“ (V. 1). Auch stellt er in 6,1–8 fest, dass in Jerusalem Unterdrückung, Gewalttat und Misshandlung herrschen (V. 6 f.). Schließlich wirft er in 22,13–19 dem König Jojakim vor, dass er sein luxuriöses Haus mit Ungerechtigkeit und Unterdrückung baut. 32.4.5. Heilserwartung Im Mittelpunkt der Verkündigung Jeremias steht die Erkenntnis, dass die Menschen sich immer wieder als unfähig erweisen, Gutes zu tun (vgl. besonders Jer 13,23: „Kann ein Kuschit seine Hautfarbe ändern oder ein Leopard seine Flecken? Ihr dagegen solltet Gutes tun können, die ihr euch an das Böse gewöhnt habt?“). Auf diesem Hintergrund kann Jeremia kein Heil aufgrund einer Umkehr des Volkes erwarten. Wenn in 3,12 f. Israel zum Zurückkehren aufgefordert wird, dann ist damit keine Aufforderung zur Umkehr gemeint, vielmehr ruft der Imperativ das exilierte Israel nach der Zeit des Exils zur Rückkehr in die Heimat auf (vgl. Kilpp). Der Hauptinhalt der Heilsverkündigung Jeremias besteht daher in der Aufforderung, das Gericht zu akzeptieren, um im Aushalten des Gerichts die Zuwendung Gottes zu erfahren. Am deutlichsten wird dies am Brief Jeremias an die Exulanten in Babel (Jer 29,5–7): Mit dem „Baut Häuser und wohnt darin, nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, betet für das Wohl Babels“ fordert Jeremia zur Anerkennung der Gerichtssituation auf: Im Wohl Babels, im Wohl des Landes des Exils, ist dann der eigene Schalom zu erkennen (V. 7). In ähnlicher Weise wird in Jer 45 Baruch dazu aufgefordert, das Überleben als Gnade anzusehen: „Du begehrst Großes für dich? Begehre es nicht! Denn siehe, ich bringe Unheil über alle Sterblichen – Spruch Jahwes. Dir aber gebe ich dein Leben wie ein Beutestück, überall, wohin du auch gehst.“ Weitergehende Heilserwartungen wie die nach einem „neuen Bund“ (Jer 31,31–34; vgl. oben § 20.5.8.) oder nach einem „Messias“ (Jer 23,5 f.; vgl. dazu oben § 31.7.4.) gehen erst auf die späteren Redaktoren des Jeremiabuches zurück. Dies gilt möglicherweise auch für die mit dem Ackerkauf in Anatot verbundene Heilserwartung von Jer 32,14 f.; vgl. Wanke). 32.4.6. Gegensatz zu den Heilspropheten Dass bei Jeremia eine sehr spezifische Heilserwartung vorliegt, wird noch klarer, wenn man sich den das gesamte Jeremiabuch bestimmenden Gegensatz zwischen Jeremia und den Heilspropheten deutlich macht. Zu berücksichtigen ist
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hierzu vor allem in Jer 28 die Auseinandersetzung mit Hananja über die Zeichenhandlung des Jochtragens, in Jer 23,16 ff.; 6,13 f. und 14,10 ff. die Aussagen über die Lügenpropheten und in Jer 29,21–23 das Drohwort über die Exilspropheten Ahab ben Kolaja und Zedekia ben Maaseja. Der zentrale Vorwurf, den Jeremia den „falschen Propheten“ macht, besteht darin, dass sie sich nicht am Willen Jahwes, sondern am „Gesicht ihres Herzens“ (23,16 f.) orientieren. Dass sie Jahwes Willen nicht anerkennen, wird schon an ihrem sittlichen Verhalten deutlich (23,14; 29,23: Vorwurf von Ehebruch und Lüge). Von daher geben sie nicht das wieder, was in der himmlischen Ratsversammlung über Gottes Ratschluss zu erfahren ist (23,22), sondern nur ihre Träume (23,25–29). Dieses Nicht-mit-Gott-in-Kontakt-Stehen zeigt sich besonders deutlich am unterschiedlichen Gottesverständnis. Hananja kann sich Gott nur als einen vorstellen, der die Macht der Feinde Israels zerbricht und Schalom für sein Volk schafft (28,3–4). Jeremia weiß demgegenüber, dass Gott die Babylonier als Strafwerkzeug gegen sein eigenes Volk einsetzt und daher ihm verboten hat, für den Schalom des Volkes zu bitten (14,11). Während sich die falschen Heilspropheten nur einen „nahen“, seinem Volk Schalom schaffenden Gott vorstellen können, stellt sich der Gott Jeremias als „naher“ und „ferner“ – strafender – Gott vor (Jer 23,23: „Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht Jahwe, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?“). Anders als bei den Heilspropheten kann es daher bei Jeremia Heil nur im Aushalten der „Ferne Gottes“ geben.
32.5.
Ausgewählte Literatur
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Die prophetischen Bücher
§ 33
Das Ezechielbuch und der Prophet Ezechiel
33.1.
Der Aufbau des Ezechielbuches
355
Ez 1– 48 bildet das Prophetenbuch, an dem das sog. dreigliedrige eschatologische Schema am deutlichsten zu erkennen ist: A B C
1–24 25–32 33–48 33–39 40–48
Vor allem Gericht über Israel Vor allem Gericht über Fremdvölker Heil Wende zur Heilszeit Verfassung der Heilszeit
Der erste Teil des Buches Ez 1–24 thematisiert das Gericht über Israel (allerdings sind auch hier an einigen Stellen Heilsworte an Gerichtsankündigungen angefügt: vgl. 11,14 ff.; 17,22 ff.; 20,32 ff.). Im zweiten Teil Ez 25–32 findet sich eine Sammlung von Fremdvölkersprüchen, wobei Ez 25 Ammon, Moab, Edom und die Philister anspricht. Ez 26–28 enthalten Gerichtsworte über Tyrus (in 28,20–26 sind ein Gerichtswort über Sidon und ein Heilswort für Israel angehängt), Ez 29–32 Gerichtsworte über Ägypten. Der dritte Teil Ez 33–48 ist dem Thema des Heils Israels nach dem Gericht gewidmet. Dabei wenden sich Ez 33–39 stärker der Frage nach der Heilswende (vgl. Ez 33: die Wächteraufgabe des Propheten und Ez 35; 38 f.: der Untergang Edoms bzw. Gogs von Magog vor dem Heil Israels) und Ez 40–48 stärker der Darstellung des Heilszustands zu (sog. Verfassungsentwurf mit der Vision des neuen Tempels).
33.2.
Die form- und traditionsgeschichtlichen Besonderheiten des Ezechielbuches
33.2.1. Von den bisher behandelten Prophetenbüchern unterscheidet sich das Ezechielbuch dadurch, dass seine Visionsschilderungen eine über das übliche Maß hinausgehende komplexe Gestalt besitzen. Dies zeigt sich bereits im Umfang: So umfasst die Berufungsvision die drei Kapitel Ez 1–3, die Vision von Jerusalems Verschuldung und Bestrafung die Kapitel Ez 8–11 und die Vision vom neuen Tempel und vom neuen Israel sogar die neun Kapitel Ez 40–48. Hinzu kommt, dass in Ez 8–11 und 40–48 Führungsvisionen wie später in der Apokalyptik vorliegen, wobei die Führung in Ez 8,5ff. durch Jahwe und in
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Ez 40,3ff. durch einen angelus interpres vorgenommen wird. Bemerkenswert ist auch, dass in der vierten noch zu nennenden Vision von der Erweckung der Totengebeine Ez 37,1–14 ebenso wie in der Vision von Ez 8–11 der Prophet selbst in das visionäre Geschehen eingreifen kann: So bewirkt in Ez 37,4ff. das prophetische Wort die Erweckung der Totengebeine und in Ez 11,4–13 die Tötung des Pelatja. 33.2.2. In gleicher Weise stellen auch die Bildreden eine Besonderheit des Ezechielbuches dar. Dabei greift das Ezechielbuch zum einen auf das schon bei Hos 2 und Jer 2 gebrauchte Bild der ehebrecherischen Frau zurück und wendet es auf Jerusalem (Ez 16) und Israel und Juda (Ez 23: Ohola und Oholiba) an, wobei es jeweils breit ausgestaltet wird. Gleiches gilt für das Bild des Weinstocks, das in Ez 15 auf Jerusalem, in Ez 19,10 ff. auf das Königshaus und in Ez 17 auf den König Zedekia Anwendung findet (Allegorie vom Adler [= Nebukadnezar] und dem Weinstock [= Zedekia]). 33.2.3. Eine weitere Besonderheit des Ezechielbuches bilden die umfangreichen Geschichtsrückblicke, wie sie zum einen in den schon genannten Bildreden von Ez 16 und 23 (Geschichte Jerusalems bzw. Israels und Judas als ehebrecherischer Frauen) und zum andern in unbildlicher Form in Ez 20 vorliegen. Ez 20 enthält dabei ein düsteres Bild der israelitischen Heilsgeschichte, nach dem Israel bereits in Ägypten von Jahwe abfiel und nur wegen der Rücksichtnahme Jahwes auf seinen Namen nicht schon zu Beginn seiner Geschichte vernichtet wurde. 33.2.4. Gleichzeitig zeichnet sich das Ezechielbuch durchgängig durch eine formelhafte Sprache aus: So wird Ezechiel sehr oft mit „Menschensohn“ angeredet (vgl. 2,1.3.6.8; 3,1.3.4.10.17.25; 4,1 etc.). Besonders genannt werden muss auch noch die sog. „Erkenntnisformel“: „(ihr werdet o. ä.) erkennen, dass ich Jahwe bin“ (vgl. 6,7.13 f. etc.). 33.2.5. Diese formelhafte Sprache dürfte in Zusammenhang stehen mit dem starken Rückgriff auf priesterliche Traditionen, der im Ezechielbuch zu beobachten ist: Schon das besondere Interesse am Jerusalemer Tempel, wie es in den Visionen von Ez 8–11 und 40–48 sichtbar wird, zeigt dies. Dem entspricht, dass Ezechiel in Ez 1,3 als „Priester“ (oder zumindest „Priestersohn“) bezeichnet wird. In diesen Zusammenhang gehört auch die Verwandtschaft der Sprache des Ezechielbuches mit der priesterlichen Tradition, vor allem der des Heiligkeitsgesetzes Lev 17–26. 33.2.6. Allerdings enthält das Ezechielbuch nicht nur priesterliche Traditionen, sondern zeigt auch Übereinstimmung mit prophetischen Überlieferungen, wie sie vor allem in der Darstellung der vorklassischen israelitischen Prophetie
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vorliegen. So findet sich die Vorstellung, dass der Prophet durch die „Hand Jahwes“ ergriffen wird (Ez 1,3; 3,22) auch in der Elia- und Elisatradition (vgl. 1Kön 18,46; 2Kön 3,15). Gleiches gilt für die „Entrückung durch den Geist“ (Ez 3,12–14; 8,3; vgl. 2Kön 2,16).
33.3.
Die Entstehung des Ezechielbuches
In der Ezechielforschung gibt es stark voneinander abweichende Vorstellungen darüber, wie diese relativ einheitliche Formung des Ezechielbuches zu erklären ist. Jedenfalls wird man damit rechnen müssen, dass es sich bereits bei den Grundeinheiten des Ezechielbuches um literarische Produkte handelt, für deren Bezug auf eine mündliche prophetische Verkündigung kaum Anhaltspunkte zu finden sind. 33.3.1. Eine radikale Erklärung dieser Einheitlichkeit stellt die Pseudepigraphiehypothese dar, wie sie Joachim Becker (vgl. schon Torrey und neuerdings auch Schöpflin) vorgeschlagen hat. Becker geht davon aus, dass das Ezechielbuch eine Einheit darstellt (zum holistischen Verständnis des Ezechielbuches vgl. auch Greenberg) und als ein frühes apokalyptisches Werk des 5. Jh. v. Chr. zu verstehen ist. Wie die späteren apokalyptischen Schriften schreibt es seine Offenbarungen einem Propheten der Exilszeit zu. Für seinen apokalyptischen Charakter spreche vor allem, dass das Buch in Ez 8–11 und 40–48 Führungsvisionen enthält, wobei in 40,3 ff. wie im Danielbuch ein angelus interpres auftritt. 33.3.2. Eine nicht ganz so radikale Position vertritt die Ergänzungshypothese, wie sie vor allem Gustav Hölscher entwickelt hat. Nach ihr ist das Ezechielbuch zu seiner jetzigen Gestalt von 1273 Versen erst durch umfangreiche Redaktionen gekommen. Auf den Propheten Ezechiel ist dagegen nur ein schmaler poetisch geformter Kern des Buches von ca. 170 Versen zurückzuführen, bei denen es sich ausschließlich um Gerichtsworte handelt. 33.3.3. Besondere Beachtung hat in der neueren Forschung die sog. Fortschreibungshypothese gefunden, wie sie vor allem von Walther Zimmerli vertreten wurde: Sie rechnet mit einer umfangreichen mündlichen Verkündigung des Propheten, die in den poetischen Stücken noch durchschimmert, die jedoch vom Propheten selbst einer schriftlichen Fixierung unterzogen wurde. Dieser ersten Verschriftlichung folgen dann noch mehrere Fortschreibungen, die z. T. noch auf den Propheten, z. T. auf seine Schüler zurückgehen.
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33.3.4. Eine radikalisierte Fortschreibungshypothese hat Hermann Schulz vorgelegt. Seiner Meinung nach ist die individualisierende Schicht des Ezechielbuches (vgl. 3,16–21; 18; 33,1–20 etc.) nicht auf den Propheten selbst zurückzuführen. Vielmehr gehe sie auf eine spätere Fortschreibung zurück, die von Schulz als „Deutero-Ezechiel“ bezeichnet wird. Noch weiter geht Jörg Garscha, der nur mit einigen wenigen auf den Propheten selbst zurückzuführenden Einheiten rechnet. 33.3.5. Mit umfangreichen gola- bzw. diasporaorientierten Fortschreibungen im 5. und 4. Jh. v. Chr. rechnet schließlich Karl-Friedrich Pohlmann, nach dem die ältesten Schichten des Ezechielbuches noch ein Wirken Ezechiels in Jerusalem (vgl. vor allem Ez 8,1 ff.) annehmen (vgl. hierzu auch die Auffassung von Herntrich 1932).
33.4.
Die Person des Propheten und seine Wirkungsperioden
33.4.1. Dieser unterschiedlichen Ansätze der Ezechielforschung entsprechend ist die historische Zuverlässigkeit der folgenden Angaben des Ezechielbuches über den Propheten umstritten. Nach Ez 1,3 war Ezechiel Priester (oder Sohn des Priesters Busi). 24,15 ff. berichtet, dass Ezechiel verheiratet war und dass seine Frau in der Gola während der Zeit, in der Jerusalem von den Babyloniern belagert wurde (589–587 v. Chr.), eines plötzlichen Todes starb. Auch die übrigen Angaben des Ezechielbuches (1,1; 3,15; 8,1; 20,1 etc.) gehen davon aus, dass Ezechiel 597 v. Chr. zusammen mit König Jojachin und mit der judäischen und jerusalemischen Oberschicht nach Babylonien deportiert wurde. Ez 3,15 nimmt an, dass die Exulanten in eigenen Siedlungen wohnten. Als Wohngebiet Ezechiels wird dabei die Gegend um den Fluss(= Kanal) Kebar und vor allem der Ort Tel-Abib (in der Nähe von Nippur) genannt (vgl. hierzu auch oben § 11.3.1.). 33.4.2. Aufgrund einzelner Symbolhandlungen (vgl. 3,22 ff.: Bewegungsunfähigkeit und Stummheit; 4,4 ff.: Liegen auf der linken Seite für 390 Tage; 12,17 ff.: Essen des Brotes mit Beben) hat man in der Forschung (vgl. u. a. K. Jaspers) gelegentlich eine Nervenkrankheit Ezechiels angenommen. Nach dem Ezechielbuch sind diese Phänomene jedoch nicht als Krankheitssymptome, sondern als von Gott angeordnete Zeichenhandlungen zu verstehen. 33.4.3. Was die Wirkungszeit betrifft, rechnet das Ezechielbuch mit einem von 593 (5. Jahr nach der Verbannung Jojachins) bis 571 (27. Jahr der Verbannung) reichenden prophetischen Offenbarungsempfang Ezechiels. Dabei leitet die Be-
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rufungsvision von 593 (Ez 1,1–3,15*) eine Periode der Unheilsankündigung für Juda/Jerusalem (Grundstock von Ez 4–24*) ein. An sie hätten sich nach den Datierungen des Ezechielbuches im 11. Jahr der Verbannung (587) auch Unheilsankündigungen an die Fremdvölker (vgl. Ez 26,1) angeschlossen (Grundstock von Ez 25–32*?, Ez 25 ist jedoch undatiert). Allerdings ist möglicherweise mit einer Sonderstellung der Völkersprüche zu rechnen (Hossfeld, Fechter). 33.4.4. Ez 33,1 ff. spricht von einer weiteren Berufung Ezechiels zum „Wächter“ über sein Volk (in 3,16–21 sind die zentralen Aussagen von 33,1 ff. bereits der Berufungsvision von Ez 1–3* zugefügt worden). Nach 33,21 f. ist diese Berufung im Anschluss an das Eintreffen eines Boten ergangen, der im 10. Monat des Jahres 587/86 von der im 5. Monat dieses Jahres erfolgten Zerstörung Jerusalems berichtete. Man hat daher eine mit dieser Berufung eingeleitete Periode der ezechielischen Heilsverkündigung angenommen, an deren Ende in 40,1 ff. (573: 25. Jahr der Verbannung) die Vision des neuen Tempels steht. Noch später (571: 27. Jahr) ist ein Spruch gegen Ägypten (29,17 ff.) datiert, der Nebukadnezar den Besitz des Reichtums Ägyptens verheißt.
33.5.
Die Botschaft des Ezechielbuches
Mit der Person des Propheten Ezechiel verbindet das Ezechielbuch folgende zentrale theologische Aussagen. Da sich in der Forschung noch kein hinreichender Konsens in Hinblick auf die literarhistorische Genese des Ezechielbuches gebildet hat, wird dabei auf eine Differenzierung nach literarischen Schichten verzichtet: 33.5.1. Berufungsvision Ez 1–3* Ez 1–3 steht – wie Zimmerli (vgl. auch Vieweger) gezeigt hat – sowohl in der Tradition der Thronratsvisionen von Jes 6; 40,1–11 und 1Kön 22,19 ff. als auch in der der Berufungsvision von Jer 1,4 ff. (vgl. Ex 3,1–14*; Ri 6,11 ff.). Die Thronvision von Ez 1 zeigt Besonderheiten gegenüber Jes 6, die für die Botschaft des Ezechielbuches charakteristisch sind: So betont die Darstellung des Thrones Jahwes als beweglicher Thronwagen die Möglichkeit Jahwes, auch im unreinen Land der babylonischen Gola zu erscheinen (1,1–9.15 ff.). Aus dem Thronrat Jahwes werden vier Wesen mit vier Gesichtern eines Menschen, Löwen, Stiers und Adlers (Apk 4,6–8 macht daraus vier verschiedene jeweils einem Tier gleichende Gestalten, die später in der Alten Kirche zu Evangelistensymbolen werden). Charakteristisch für das Ezechielbuch ist auch, dass Jahwe in 1,28 in der Gestalt der
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„Herrlichkeit Jahwes“, des Kabod Jahwes, erscheint (vgl. die Parallelität mit dem Gottesverständnis der Priesterschrift und dazu oben § 20.4.1.2.). Bei der Darstellung des prophetischen Auftrags in 2,1–3,11 ergeben sich engere Berührungen mit der Berufung Jeremias in Jer 1: Wie in Jer 1,9 (Jahwe rührt den Mund des Propheten an) erfährt der Prophet den Wortempfang in einer visionären Symbolhandlung. In Ez 2,8–3,3 erhält „Ezechiel“ eine Buchrolle zum Essen, die mit „Ach und Weh“ beschrieben ist, aber „honigsüß“ schmeckt: Möglicherweise handelt es sich hierbei um die Umsetzung der Aussage aus den Konfessionen Jeremias Jer 15,16 („dein Wort ward meine Speise, sooft ich’s empfing; dein Wort ist meines Herzens Freude und Trost“) in eine Symbolhandlung. Auch im Hinblick auf den gegenüber der prophetischen Botschaft erwarteten Widerstand zeigen sich Parallelen zu Jer 1: Wie in Jer 1,8 („fürchte dich nicht vor ihnen, denn ich bin bei dir, dich zu erretten“) bereitet Gott den Propheten auf Anfeindungen vor: In Ez 3,7–9 macht Gott die Stirn des Propheten „so hart wie einen Diamanten“, damit er den „harten Stirnen“ und „verstockten Herzen“ des Hauses Israel widerstehen kann. Nicht in den Zusammenhang dieser Beauftragung zur Unheilsbotschaft gehört der Abschnitt 3,16 ff. Er ist bei der Berufung Ezechiels zum Wächteramt (vgl. 33,1 ff. und dazu unten 33.5.4.) zu behandeln. 33.5.2. Gerichtsankündigung Hauptinhalt der Verkündigung „Ezechiels“ ist die Ankündigung des Untergangs Jerusalems und Judas. Am deutlichsten wird diese Botschaft an den Symbolhandlungen. So weist die zeichenhafte Belagerung eines Ziegelsteins in 4,1–3 auf die zukünftige Belagerung Jerusalems hin. Auch werden in 12,1 ff. die Eroberung Jerusalems und die Flucht Zedekias symbolisch dargestellt. Außerdem wird die Vernichtung der Bevölkerung Judas und Jerusalems in der Symbolhandlung vom Abschneiden und Verbrennen von Barthaaren (5,1 ff.) zeichenhaft angekündigt. Ein besonderes Schwergewicht der Gerichtsbotschaft liegt auf der Ankündigung der Zerstörung des Jerusalemer Tempels. Besonders deutlich wird dies an der Vision von den Greueln im Jerusalemer Tempel in Ez 8–11, die abschließend vom Auszug des Kabod Jahwes aus dem Jerusalemer Tempel berichtet (10,18 f. und 11,22 f.). 33.5.3. Prophetische Kritik Begründet wird der Untergang Jerusalems vor allem durch die kultischen Vergehen des Volkes, wie sie besonders eindrücklich die visionäre Schau des Götzendienstes im Jerusalemer Tempel in Ez 8 schildert (im einzelnen wird hier Anklage wegen eines „Greuelbildes“, kultischer Tierdarstellungen, Tammuzverehrung
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361
durch Frauen und Sonnenanbetung erhoben). Auch im Mittelpunkt der Allegorie von der ehebrecherischen Frau Jerusalem steht der Vorwurf des Götzendienstes (Ez 16). Gleichzeitig werden jedoch auch soziale Vergehen angegriffen. Vor allem Ez 22 kritisiert Jerusalems Blutschuld, zu der auch die Unterdrückung von Fremdlingen, Witwen und Waisen (22,6 f.) gehört. In besonderer Weise klagt Ez 34 die Könige an und bezeichnet sie als Hirten, die sich selbst weiden. Wie bei Jesaja und Jeremia findet sich im Ezechielbuch auch Kritik an außenpolitischem Fehlverhalten: So kritisiert Ez 17 in der Bildrede vom Adler und Weinstock den Abfall Zedekias von Nebukadnezar und das Eingehen eines Bündnisses mit Ägypten. Ebenso wird auch in der Bildrede von den ehebrecherischen Frauen Ohola und Oholiba (Ez 23) die Bündnispolitik Israels und Judas mit Ägyptern, Assyrern und Babyloniern angegriffen. 33.5.4. Individualisierung Während ein Teil der Botschaft des Ezechielbuches mit einer kollektiven Strafe für das ganze Volk rechnet (vgl. 21,8: Jahwe tilgt „Gerechte und Ungerechte“ aus Israel hinweg), finden sich im Ezechielbuch gleichzeitig eine Reihe von Texten, die von einer individuellen göttlichen Vergeltung sprechen: So wehrt Ez 18 die Auffassung ab, dass die gegenwärtige Generation für die Sünden der Väter gestraft wird (vgl. das in 18,2 zitierte Sprichwort im Lande Israel: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Söhnen sind die Zähne davon stumpf geworden“): Nur wer sündigt, wird sterben (18,20). Selbst der Ungerechte, der von seiner Ungerechtigkeit umkehrt, wird von Strafe verschont bleiben (18,21–23.27f.). Allerdings wird andererseits auch der Gerechte, der sich von seiner Gerechtigkeit abkehrt und Unrecht tut, nicht der Strafe entgehen (18,24.26). In den Zusammenhang dieser Individualisierung des göttlichen Gerichts gehört auch die Berufung des Propheten zum Amt des Wächters („Spähers“), dessen Aufgabe darin besteht, den Frevler vor der Todesgefahr zu warnen und ihn zur Umkehr zu bewegen (Ez 33,1–20; 3,16–21). Am radikalsten wird dieser Individualismus in Ez 14,1–20 formuliert: Jeder – und dies gilt selbst für die exemplarischen Gerechten der alttestamentlichen Tradition Noah, Daniel und Hiob (V. 14) – kann nur sein eigenes Leben retten. Im Gegensatz zur Botschaft der Gottesknechtslieder (vgl. besonders Jes 52,13–53,12) wird hier jedes stellvertretende Sühneleiden ausgeschlossen.
362
Die Schriften des AT
33.5.5. Heilsankündigung Innerhalb des Heilsankündigungsteils des Ezechielbuches (Ez 33–48) nimmt die Vision von der Erweckung der Totengebeine (37,1–14) eine zentrale Stellung ein. Diese Vision wird in 37,11 f. auf die Wiedererstehung und Heimkehr des exilierten Volkes gedeutet und fügt sich daher gut in die Exilssituation ein. Angehängt an diese Vision ist der ebenfalls Heil verheißende Bericht über die Symbolhandlung von der Verbindung der beiden Holzstäbe mit der Aufschrift „Juda“ bzw. „Josef“. 37,15 ff.* (der Abschnitt enthält mehrere sekundäre Erweiterungen, zu denen u. a. die messianische Weissagung 37,24 gehört) kündigt damit die Wiedervereinigung von Süd- und Nordreich an (vgl. hierzu auch den sekundären Hoseaabschnitt Hos 2,1–3). Eng bezogen auf die Unheilsbotschaft von Ez 8–11 ist die im Kernbestand von Ez 40–48* geäußerte Hoffnung für Jerusalem: Nach dem in Ez 10 f. geschilderten Auszug aus dem Tempel wird der Kabod Jahwes nach 43,1 ff. wieder ins neu errichtete Heiligtum zurückkehren. Wie bei Hosea und Deuterojesaja findet sich im Ezechielbuch auch die Ankündigung eines „Neuen Exodus“. In Ez 20,32 ff. wird diese an die Darstellung der Unheilsgeschichte Israels in 20,1–31 angehängt. Verbunden ist der „Neue Exodus“ jetzt in 20,40 ff. mit der Wiederherstellung Jerusalems, so dass hier eine ähnliche Kombination von Jerusalemer Überlieferung und Exodustradition vorliegt wie im Deuterojesajabuch (vgl. oben § 31.4.3.3.1.). Bemerkenswert ist, dass im Ezechielbuch auch bei der Heilsankündigung des „Neuen Exodus“ eine Individualisierung der Heilshoffnung festzustellen ist. Nach Ez 20,36–38 werden die Israeliten, die abtrünnig geworden sind, durch Jahwe von der neuen Landnahme ausgeschlossen. Stärker auf den einzelnen Israeliten bezogen ist auch die in Ez 36,26 f. vorliegende Vorstellung von der Erneuerung des Menschen in der Heilszeit: Jahwe wird den Israeliten ein neues Herz und einen neuen Geist geben, damit sie in den Geboten Jahwes wandeln können (vgl. die ähnliche Vorstellung vom „neuen Bund“ in Jer 31,31–34). Auf das Halten der Gebote durch die Israeliten nimmt auch die messianische Weissagung von Ez 37,24 Bezug. Hier findet sich die einzige Stelle im AT, in der ein Zusammenhang zwischen dem Messias (= neuer David als Hirte und König Israels) und dem Halten der Gebote des Gesetzes hergestellt wird. Demgegenüber wird in Ez 34,23 f. im Gegensatz zu den ungerechten Königen der Geschichte Israels, die sich selbst weiden (34,2), ein neuer David als Knecht Jahwes und als einziger Hirte Israels erwartet (vgl. hierzu auch oben § 31.7.5.).
Die prophetischen Bücher
33.6.
363
Ausgewählte Literatur
Albertz, R.: Die Exilszeit, Stuttgart 2001. Baltzer, D.: Ezechiel und Deuterojesaja, Berlin/New York 1971. Bartelmus, R.: Ez 37,1–14, die Verbform weqatal und die Anfänge der Auferstehungshoffnung, ZAW 97, 1985, 366–389. Baumann, G.: Liebe und Gewalt, Die Ehe als Metapher für das Verhältnis JHWH – Israel in den Prophetenbüchern, Stuttgart 2000. Becker, J.: Erwägungen zur ezechielischen Frage, in: FS J. Schreiner, Würzburg 1982, 137–149. Blenkinsopp, J.: Ezekiel, Louisville (Kent.) 1990. Duguid, I.M.: Ezekiel and the Leaders of Israel, Leiden 1994. Ebach, J.: Kritik und Utopie, Untersuchungen zum Verhältnis von Volk und Herrscher im Verfassungsentwurf des Ezechiel (Kap. 40–48), Diss. Hamburg 1972. Fechter, F.: Bewältigung der Katastrophe. Untersuchungen zu ausgewählten Fremdvölkersprüchen im Ezechielbuch, Berlin/New York 1992. Feist, U.: Ezechiel. Das literarische Problem des Buches, forschungsgeschichtlich betrachtet, Stuttgart 1995. Fohrer, G./Galling, K.: Ezechiel, HAT I/13, Tübingen 1955. Fuhs, H.F.: Ezechiel 1–24, NEB, Würzburg 1984. –: Ezechiel 25–48, NEB, Würzburg 1988. Garscha, J.: Studien zum Ezechielbuch, Bern/Frankfurt a. M. 1974. Gese, H.: Der Verfassungsentwurf des Ezechiel (Kap. 40–48) traditionsgeschichtlich untersucht, Tübingen 1957. Greenberg, M.: Ezechiel 1–20, HThKAT, Freiburg 2001. Herntrich, V.: Ezechielprobleme, Gießen 1932. Hölscher, G.: Hesekiel, der Dichter und das Buch, Gießen 1924. Hossfeld, F.-L.: Untersuchungen zu Komposition und Theologie des Ezechielbuches, Würzburg 21983. –: Das Buch Ezechiel, in: E. Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 42001, 440–457. Hurvitz, A.: A Linguistic Study of the Relationship between the Priestly Source and the Book of Ezekiel, Paris 1982. Jaspers, K.: Der Prophet Ezechiel. Eine pathographische Studie, in: FS K. Schneider, Heidelberg 1947, 77–85. Kaiser, O.: Einleitung in das Alte Testament, Gütersloh 51984. Klein, R.W.: Ezekiel. The Prophet and his Message, Columbia 1988. Koch, K.: Die Profeten 2, Stuttgart 21988. Koenen, K.: Heil den Gerechten – Unheil den Sündern. Ein Beitrag zur Theologie der Prophetenbücher, Berlin/New York 1994. Krüger, T.: Geschichtskonzepte im Ezechielbuch, Berlin/New York 1989. Kutsch, E.: Die chronologischen Daten des Ezechielbuches, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1985.
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Die prophetischen Bücher
§ 34
Das Zwölfprophetenbuch
34.1.
Der Aufbau
365
Der früheste Beleg für das Verständnis der Prophetenschriften von Hosea bis Maleachi als eines Prophetenbuches findet sich bei Jesus Sirach (um 180 v. Chr.). In seinem „Lobpreis der Väter“ (Sir 44,1–50,24) werden in Sir 49 im Anschluss an Jeremia (V. 7) und Ezechiel (V. 8) die „Zwölf Propheten“ erwähnt, die „Heilung für Jakobs Volk“ brachten und „ihm durch zuverlässige Hoffnung“ halfen (V. 10). Offensichtlich wird bei Sirach bereits die im Masoretischen Text überlieferte Reihenfolge der Prophetenbücher „Jesaja, Jeremia, Ezechiel, Zwölfpropheten“ vorausgesetzt. Auch die LXX, die die Zwölf Propheten vor das Jesajabuch und damit an die Spitze der Prophetenbücher stellt, betont mit der Bezeichnung „Dodekapropheton“, dass es sich hierbei um ein zusammengehöriges Prophetenbuch handelt (vgl. für die christliche Überlieferung das Vorwort des Hieronymus in der Vulgata, in dem festgestellt wird: „unum librum esse duodecim prophetarum“, und für die jüdische Tradition den Traktat Baba Batra 14b/15a im Babylonischen Talmud). Dieser Befund hat die neuere Prophetenforschung dazu geführt, die in den letzten Jahrhunderten vernachlässigte Frage nach den Kompositionsprinzipien bei der Zusammenstellung der zwölf Prophetenschriften wieder aufzunehmen. Dabei hat sich gezeigt, dass die Reihenfolge Hosea (Zeit der judäischen Könige Usija, Jotam, Ahas und Hiskia und des israelitischen Königs Jerobeam II.; vgl. Hos 1,1), Amos (Zeit des Usija und des Jerobeam II.; vgl. Am 1,1), Jona (Zeit des Jerobeam II.; vgl. 2Kön 14,25), Micha (Zeit des Jotam, Ahas, Hiskia; vgl. Mi 1,1) offensichtlich unter chronologischen Gesichtspunkten erfolgte. Alle genannten Propheten sind in das 8. Jh. v. Chr. datiert. Unter den in der Regierungszeit Jerobeams II. auftretenden Propheten steht Hosea deswegen voran, weil sein Wirken sich zusätzlich auch noch auf die Zeiten von vier judäischen Königen bezog. Für eine chronologische Anordnung sprechen auch die Bücher der Propheten Nahum (Auftreten vor dem Untergang der Assyrer und Ninives, vgl. Nah 1,1), Habakuk (Bezug auf die Chaldäerherrschaft; vgl. Hab 1,6) und Zefanja (Zeit Josias; vgl. Zef 1,1), die damit alle drei der zweiten Hälfte des 7. Jh. v. Chr. zugeordnet sind. In das ausgehende 6. Jh. v. Chr. datiert sind schließlich die prophetischen Offenbarungen an Haggai (2. Jahr des Darius; vgl. Hag 1,1; 2,10) und an Sacharja (vom 2.–4. Jahr des Darius; vgl. Sach 1,1; 7,1). Die jetzige Stellung von Joel, Obadja und Maleachi geht demgegenüber auf inhaltliche Gründe zurück (beachtenswert ist, dass in alten LXX-Handschriften Joel und Obadja noch hinter Hosea, Amos und Micha und vor Jona eingeordnet sind). Wahrscheinlich sollte die das Joelbuch beherrschende Ankündigung des
366
Die Schriften des AT
Tages Jahwes vor Am 5,18 zu stehen kommen (vgl. auch die Beziehungen zwischen Joel 4,16 und Am 1,2 und zwischen Joel 4,19 und Am 1,11f. und dazu Kaiser). In ähnlicher Weise ist wohl die Edom-Polemik des Obadjabuches als Weiterführung entsprechender Aussagen des Amosbuches (vgl. Am 1,11f.; 9,12) verstanden. Schließlich stellt das Maleachibuch in seiner vorliegenden Gestalt eine Fortschreibung des Sacharjabuches dar (vgl. nur Mal 1,1 mit Sach 9,1 und 12,1).
34.2.
Die Entstehung
Das Zwölfprophetenbuch ist möglicherweise in mehreren Redaktionsprozessen zusammengewachsen: 1. Nach James D. Nogalski und Aron Schart sind in der Exilszeit die Schriften von Hos*, Am*, Mi 1–3*.6* und Zef* zu einem „Mehrprophetenbuch I“ (D-Korpus?) zusammengearbeitet worden. 2. In der nachexilischen Periode wurden wohl Haggai und Sacharja 1–8 durch eine der chronistischen Theologie nahestehende Bearbeitung (Beuken) zu einem „Mehrprophetenbuch II“ zusammengefasst. 3. Wohl im 4. Jh. (Kaiser) sind beide Sammlungen miteinander vereinigt und (sukzessiv?) um die Bücher Joel, Obadja, Jona, Nahum und Habakuk erweitert worden. 4. Am Schluss des Prozesses sind die an das Sacharjabuch angehängten Prophetien des Maleachibuches verselbständigt worden, wodurch eine Sammlung mit der idealen Zahl von 12 Prophetenschriften entstand. Dabei wurde das Maleachibuch zum redaktionellen Schluss zunächst des Corpus propheticum und dann der Tora und Nebiim umfassenden Frühform des atl. Kanons (Mal 3,22–24) umgestaltet.
34.3.
Ausgewählte Literatur
Albertz, R.: Die Exilszeit, Stuttgart 2001. Beck, M.: Der „Tag YHWHs“ im Dodekapropheton, Berlin/New York 2005. –: Das Dodekapropheton als Anthologie, ZAW 118, 2006, 558–581. Beuken, W.A.M.: Haggai – Sacharja 1–8, Assen 1967. Bosshard, E.: Beobachtungen zum Zwölfprophetenbuch, BN 40, 1987, 30–62. Bosshard-Nepustil, E.: Rezeptionen von Jesaja 1–39 im Zwölfprophetenbuch, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1997. Bosshard, E./Kratz, R.G.: Maleachi im Zwölfprophetenbuch, BN 52, 1990, 27–46. House, P.R.: The Unity of the Twelve, Sheffield 1990. Jeremias, J.: Art. Prophetenbücher, RGG4 6, 2003, 1708–1715.
Die prophetischen Bücher
367
Kaiser, O.: Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Bücher des AT 2, Gütersloh 1994. Nogalski, J.D.: Literary Precursors in the Book of the Twelve, Berlin/New York 1993. –: Redactional Processes, in the Book of the Twelve, Berlin/New York 1993. Nogalski, J.D./Sweeney, M.A. (Hg.): Reading and Hearing the Book of the Twelve, Atlanta 2000. Redditt, P.L./Schart, A. (Hg.): Thematic Threads in the Book of the Twelve, Berlin/New York 2003. Schart, A.: Die Entstehung des Zwölfprophetenbuchs. Neubearbeitungen von Amos im Rahmen schriftenübergreifender Redaktionsprozesse, Berlin/New York 1998. Steck, O.H.: Der Abschluß der Prophetie im Alten Testament, Neukirchen-Vluyn 1991. Wöhrle, J.: Der Abschluss des Zwölfprophetenbuches, Berlin/New York 2008. Zapff, B.M.: Redaktionsgeschichtliche Studien zum Michabuch im Kontext des Dodekapropheton, Berlin/New York 1997. Zenger, E. (Hg.): „Wort JHWHs …“ (Hos 1,1). Studien zum Zwölfprophetenbuch, Freiburg 2002.
§ 35
Hosea
35.1.
Der Aufbau des Hoseabuches
Das Hoseabuch gliedert sich – wie allgemein anerkannt ist – in die drei Teile Hos 1–3; 4–11 und 12–14. Dabei stellt Hos 1–3 die Familie des Propheten als Symbol des Gottesvolkes dar (vgl. Jeremias). Hos 12–14 thematisiert abschließend die in den Tod führende Schuld Jakob-Ephraims und ihre Vergebung. Der mittlere Teil des Buches enthält in Hos 4–11 eine Sammlung von Worten Hoseas, die die grundlegende Anklage Jahwes gegenüber Israel (4,1–3) in der Thematisierung von Israels Sünden (4,4–9,9) und in Rückblicken auf die Geschichte Israels als einer Geschichte des Abfalls von Jahwe (9,10–11,7) entfaltet und mit dem Hinweis auf Jahwes grenzenlose Liebe (11,8–11) schließt. 1–3 4–11
Die Familie des Propheten Worte Hoseas 4,1–9,9 Israels gegenwärtige Sünde 9,10–11,11 Geschichte Israels als Abfallgeschichte 12–14 Schuld Jakob-Ephraims und ihre Vergebung
368
35.2.
Die Schriften des AT
Die judäische Redaktion des Hoseabuches
Da Hosea im Nordreich unmittelbar vor dessen Untergang (vgl. unten 35.4.) aufgetreten ist, legt es sich nahe, dass die Hoseaüberlieferung nach 722 zusammen mit der Fluchtbewegung der Israeliten nach Juda-Jerusalem (vgl. oben § 6.1.3.) ins Südreich gekommen ist. Dafür sprechen die relativ zahlreichen Bezüge auf Juda, die sich im Text des Hoseabuches finden: u. a. in 5,5 der Hinweis, dass mit Ephraim auch Juda stolpert, in 1,7 die Ankündigung Jahwes, sich des Hauses Juda erbarmen zu wollen, in 3,5 die Hoffnung auf eine Umkehr zu Jahwe und zu David (vgl. auch 4,15 und 8,14). Vor allem zu erwähnen ist jedoch, dass in der Überschrift des Hoseabuches in 1,1 vor der Datierung des Auftretens Hoseas in die Zeit des Nordreichkönigs Jerobeam II. als Periode der Wirksamkeit Hoseas die Zeit der Südreichskönige Usija, Jotam, Ahas und Hiskia angegeben ist. Wenn es sich auch nahelegt, einige dieser Juda-Anspielungen ins 7. Jh. zu datieren (Jeremias; Yee, die hierbei allerdings an einen Deuteronomisten der Josiazeit denkt), sind diese Bezüge auf Juda doch teilweise von einer exilisch-nachexilischen Juda-Redaktion herzuleiten. Dafür sprechen die wohl auf die gleiche Redaktion zurückzuführenden Bezugnahmen auf das Amosbuch. So enthält Hos 12,6 („Jahwe ist Gott Zebaot, Jahwe ist sein Name“) eine Anspielung auf die aus exilisch-nachexilischer Zeit stammenden Amosdoxologien. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang Hos 8,14 („Israel vergaß seinen Schöpfer und erbaute Paläste, und Juda vermehrte befestigte Städte. Doch ich sende Feuer in seine Städte, dass er deren Palastfestungen zerstört“). Hier dürfte es sich einerseits um eine Anspielung auf den Völkerspruchzyklus (vgl. Am 1,4.7.10.12.14; 2,2.5) in seiner bereits deuteronomistisch bearbeiteten Gestalt (vgl. unten § 37.2.2.) handeln. Andererseits reiht sich der Vers gut in die oben besprochene Juda-Redaktion ein („Juda vermehrte befestigte Städte“). Auf eine entsprechende späte Redaktion dürfte dann auch die Übernahme von Am 5,5 in Hos 4,15 (vgl. V. 15b: „Kommt nicht nach Gilgal, zieht nicht hinauf nach Bet-Awen, schwört nicht: ‚So wahr Jahwe lebt‘!“) zurückgehen. Wie V. 15a zeigt („Wenn du, Israel, schon Unzucht treibst, so soll sich doch Juda nicht versündigen“), liegt auch hier die Juda-Redaktion vor.
35.3.
Die den Redaktionen des Hoseabuches vorgegebenen Einheiten der Hoseaüberlieferung
Erschwert wird die Frage nach der Geschichte, die die Hoseaüberlieferung durchlaufen hat, durch den Umstand, dass die sonst in den Prophetenbüchern vorliegenden Hinweise auf den Beginn und das Ende von kleinen prophetischen
Die prophetischen Bücher
369
Einheiten hier weitgehend fehlen: So findet sich im Hoseabuch die Botenformel „So spricht Jahwe“ nicht. Auch liegt die meist Abschlüsse von Prophetenworten bezeichnende „Jahwe-Spruch-Formel“ (ne #um Jhwh) nur in 2,15 (Ende des Drohworts von Hos 2,4 ff.), in 2,18.23 (als Einleitungsformel von sekundären „Nachträgen“) und in 11,11 vor. In 11,11 markiert sie das Ende des zweiten Teils der Gesamtkomposition des Hoseabuches (Hos 4–11). Eine das Hoseabuch gliedernde Funktion nimmt schließlich auch der Aufmerksamkeitsruf („Höret Jahwes Wort“) in 4,1 wahr: Er bezeichnet den Beginn des zweiten Teils des Prophetenbuches (vgl. aber auch noch 5,1). Diese Besonderheit der Hoseaüberlieferung dürfte sich dadurch erklären, dass ihre Tradenten nicht einzelne Hoseaworte wiedergeben wollen, sondern sich von Anfang an um eine Zusammenfassung der Botschaft Hoseas bemühen, wobei sie bestenfalls auf nur sehr wenige vom Propheten selbst verschriftete Aussagen (eventuell Hos 3* und den Grundbestand von Hos 2; vgl. zuletzt Jeremias) zurückgreifen konnten. Ob das übrige Material der Hoseaüberlieferung auf im Umkreis des Propheten angefertigte „Auftrittsskizzen“ (Wolff) zurückzuführen ist, ist in der Hoseaforschung umstritten. Jedenfalls dürfte der Großteil der Hoseaüberlieferung erst in der Zeit nach dem Untergang des Nordreichs schriftlich fixiert worden sein (Jeremias, Kaiser, Zenger).
35.4.
Ort und Zeit des Auftretens Hoseas
Angesichts der Tatsache, dass sich der Grundbestand der Worte des Hoseabuches an das Nordreich richtet, wird allgemein angenommen, dass Hosea im Nordreich aufgetreten ist. Die Anrede an Samaria in 8,5 lässt daran denken, dass er sich dabei u. a. in der Hauptstadt aufgehalten hat. Als Zeit seines Auftretens bezeichnet 1,1 die Regierungsjahre der judäischen Könige Usija, Jotam, Ahas und Hiskia (Zeitraum von 787–697) und die des israelitischen Königs Jerobeam II. In welchem Jahr der Herrschaft Jerobeams II. das Auftreten Hoseas begann, ist nur ungefähr zu bestimmen. Von der im Hoseabuch vorausgesetzten politischen Situation her spricht einiges für die letzten Jahre dieses Königs (um 750). Nicht mehr erwähnt wird in der alten Hoseaüberlieferung die zum Ende des Nordreichs führende Belagerung Samarias (724–722). Alles deutet daher darauf hin, dass die letzten Worte Hoseas auf die Zeit um 725 v. Chr. zurückgehen. Eine wichtige Rolle in der Botschaft Hoseas spielt jedenfalls der syrisch-ephraimitische Krieg des Jahres 733 v. Chr. (vgl. 5,8–9,9).
370
35.5.
Die Schriften des AT
Die geistige Heimat Hoseas
Ebenso wie Hoseas Auftreten in der zum Untergang führenden Krise des Nordreiches sind für das Verständnis seiner Botschaft die für ihn bestimmenden Traditionen von Bedeutung. So zeigt zunächst Hos 6,5 („Jahwe schlägt drein durch Propheten“), dass sich Hosea in der Kontinuität zu anderen Propheten versteht (Elia, Elisa?). Nach Hos 12,14 gehört in diese Geschichte der Prophetie auch Mose. Anders als Amos (vgl. Am 7,14) weist daher Hosea in 9,7 f. die Bezeichnung seiner Person durch Gegner als „Nabi“ („Ein Dummkopf der Prophet! Ein Verrückter der Geistesmann!“) nicht zurück (9,8: „Mag Ephraim auflauern, der Prophet bleibt bei ‚seinem‘ Gott“). Charakteristisch für Hosea ist gleichzeitig der Rückgriff auf frühisraelitische Geschichtsüberlieferungen wie die Exodustradition (11,1 ff.; 13,4; auch 12,14) und die Wüstenüberlieferung (9,10; auch 2,16 f.). Besonders zu erwähnen ist auch die Aufnahme der Jakobtradition in Hos 12 (V. 3–5* und V. 13). Die Herkunft dieser Traditionsbezüge Hoseas (Wolff rechnet mit der Zugehörigkeit Hoseas zu einer nordisraelitischen „prophetisch-levitischen Oppositionsgemeinschaft“) ist wohl nicht mehr mit hinlänglicher Sicherheit zu klären.
35.6.
Die Familie Hoseas und ihre symbolische Bedeutung
Über die Person des Propheten Hosea finden sich im Hoseabuch nur wenige Angaben: So wird er in 1,1 als „Sohn des Beeri“ bezeichnet (im Unterschied zum letzten König des Nordreiches Hoschea ben Ela). Auf seine Kinder und seine Eheverhältnisse wird nur eingegangen, weil beides symbolische Bedeutung für das Verhältnis Jahwe-Israel gewinnt. So besitzen die Kinder Hoseas (wie die Jesajas in Jes 7,3 und 8,3) Namen mit symbolischer Funktion: Der Name des ältesten Sohnes Jesreel (1,4) kündigt die Strafe für die Blutschuld Jehus an Jesreel an, die im Untergang des nordisraelitischen Königtums bestehen wird. Die Tochter „Lo-Ruchama“ („Sie empfängt kein Erbarmen“) weist darauf hin, dass Jahwe sich nicht länger des Hauses Israel erbarmen will (1,6). Schließlich macht der Name des dritten Kindes, des Sohnes „Lo Ammi“ („Nicht-mein-Volk“), darauf aufmerksam, dass Jahwe das Verhältnis zu seinem Volk aufgelöst hat (1,8 f.). Über die Eheverhältnisse Hoseas liegen zwei Berichte vor: Der Fremdbericht Hos 1 erzählt in V. 3a davon, dass Hosea Gomer, die Tochter Diblajims, heiratet. Hos 1,3b–9* berichten dann von der Geburt der drei oben genannten Kinder. Umstritten ist, weshalb Gomer in V. 2 als „hurerische Frau“ bezeichnet wird.
Die prophetischen Bücher
371
Sind die Eheberichte von 1,2–9* und 3,1–4 rein metaphorisch-allegorisch zu verstehen (Wacker)? War Gomer „eine jener heiratsfähigen jungen Frauen, die sich dem in Israel eingedrungenen bräutlichen Initiationsritus unterwarfen, … bei dem der Gottheit die Jungfrauschaft geopfert und damit Fruchtbarkeit erwartet wird“ (Wolff)? Oder geht der Hinweis auf die „hurerische“ Frau und die „hurerischen“ Kinder zusammen mit der Erklärung „denn ganz und gar hurerisch wendet sich das Land von Jahwe ab“ (V. 2b) erst auf den exilisch-nachexilischen Redaktor zurück, der Hos 1–3 zusammenkomponiert hat und dabei Vorstellungen von Hos 2 (vgl. u. a. V. 4–7*) und auch von Hos 3 in Hos 1,2b (ursprünglich lautete V. 2b nur: „Auf, nimm dir eine Frau und [zeuge] Kinder“) einträgt (Rudolph, Jeremias)? Auch bei der Deutung des Ich-Berichts von der Heirat einer ehebrecherischen Frau in Hos 3,1– 4 gibt es unterschiedliche Forschungsmeinungen. Nach Wilhelm Rudolph handelt es sich hier um die Symbolhandlung des Kaufs und der Einsperrung einer Hure. Jörg Jeremias macht im Anschluss an Hans Walter Wolff dagegen darauf aufmerksam, dass es sich bei dem in V. 1 erwähnten Ehebruch dieser Frau wahrscheinlich doch um Untreue gegenüber Hosea handelt. Nur so ist die Aufforderung an Hosea, eine Frau so zu lieben, wie Jahwe die Israeliten liebt, sinnvoll. In diesem Fall legt es sich nahe, dass auch in Hos 3 die in Hos 1 erwähnte Frau Hoseas Gomer gemeint ist. Auf jeden Fall wird man jedoch aus Hos 1–3 keine Ehebiographie Hoseas rekonstruieren können. Die Angaben von Hos 1–3 zu den Familienverhältnissen Hoseas beschränken sich nämlich ausschließlich auf ihren Symbolgehalt für das Verhältnis Jahwes zu Israel.
35.7.
Kultkritik
35.7.1. Der in Hos 1–3 angesprochene Ehebruch Israels bezieht sich auf die Missachtung des Alleinverehrungsanspruchs Jahwes und damit auf die Übertretung des ersten Gebotes: Israel erwartet offensichtlich die Fruchtbarkeit des Landes (2,7.10 f.) nicht von Jahwe, sondern von den kanaanäischen Fruchtbarkeitsgöttern. Obwohl Jahwe Israels Gott von Ägypten her war und es keinen anderen Gott neben ihm kannte (13,4; hier wird offensichtlich das erste Gebot zitiert), hat es sich dem Baal zugewandt und damit eine todbringende Schuld auf sich geladen (13,1). Die in 4,11–14 beschriebenen gottesdienstlichen Handlungen (Sexualriten?) sind wohl als Bestandteile der Baals- und Ascheraverehrung und der dazugehörigen Fruchtbarkeitskulte zu verstehen. 35.7.2. Hosea kritisiert jedoch nicht nur die Verehrung fremder Götter, sondern bekämpft einen Jahwekult, der sich nicht an das Bilderverbot hält und sich
372
Die Schriften des AT
mit den oben genannten kanaanäischen Vorstellungen verbunden hat. Diese Kritik richtet sich vor allem gegen die Verehrung Jahwes im Zusammenhang mit dem Stierbild von Bethel (vgl. 1Kön 12,28 f.): So spricht 8,5 davon, dass Jahwe das Kalb von Samaria verworfen hat, wobei mit diesem Kalb wohl das in 10,5 genannte „Kalbszeug von Bet-Awen“ (polemisch für das Stierbild von Bethel) gemeint ist. Eine besondere Verirrung dieses falschen Jahwekultes ist für Hosea, dass „Menschen Kälber küssen“ (13,2). 35.7.3. Neben dieser Kritik an einem falschen Kult, der im Widerspruch zum ersten und zum zweiten Dekaloggebot steht, übt Hosea jedoch auch Kultkritik, die der des Amos entspricht: So lehnt auch Hosea einen Opferkult bei gleichzeitiger Unterdrückung der Armen ab, wie vor allem 6,6 zeigt: „Gemeinschaftssinn (hæsæd) gefällt mir, nicht Schlachtopfer; Gotteserkenntnis statt Brandopfer“. Auf diesem Hintergrund kommt es auch bei Hosea zur Kritik an den Nordreichsheiligtümern (vgl. neben Bethel auch Gilgal in 9,15; 12,12). Dabei kritisiert Hosea auch die Priesterschaft (4,4 ff.), und zwar vor allem deshalb, weil ihr „Gotteserkenntnis“ fehlt (V. 6).
35.8.
Soziale und politische Kritik
Weil im kultischen Bereich die „Gotteserkenntnis“ fehlt, deshalb gibt es nach der Auffassung der alten Hoseatradition von 4,1 f. auch im Lande keine Treue (#æmæt) und keinen Gemeinschaftssinn (hæsæd). Stattdessen breiten sich Verhaltensweisen aus, die im Widerspruch zu den sozialen Forderungen des Dekalogs stehen: „fluchen, lügen, morden, stehlen, ehebrechen“ (hier ist die Kurzreihe des Dekalogs Ex 20,13–15 vorausgesetzt). Unzuverlässigkeit sieht Hosea gleichzeitig auch im Bereich der Außenpolitik: So geißelt er in 12,2 eine Bündnispolitik, bei der man gleichzeitig Bündnisse mit Assyrien und mit dem mit ihm verfeindeten Ägypten schließt. Ganz besonders radikal ist schließlich die hoseanische Kritik am Königtum, das Hosea als eine von Gott nicht gewollte Institution ansieht. Dies zeigt vor allem der Jahwespruch von 13,11: „Ich gab dir einen König in meinem Zorn“. Die Beobachtungen, die Hosea an den Königen Israels seiner Zeit macht, bestätigen dieses Urteil: Sie sind ohne Jahwes Zustimmung Könige geworden (8,4). Ja, die Königsgeschichte erweist sich sogar als eine Geschichte des Königsmordes (7,3–7; vgl. dazu 2Kön 15,8–31 und oben § 5.6.1.).
Die prophetischen Bücher
35.9.
373
Gerichtserwartung
Das aufgrund dieser Verfehlungen von Hosea erwartete Gericht spiegelt sich besonders deutlich in den Symbolnamen der Kinder des Propheten und ihrer Deutung. So wird im Zusammenhang der Geburt des ältesten Sohnes Hoseas, Jesreel, der Untergang des Königtums (wegen der Blutschuld von Jesreel 2Kön 9) angekündigt (1,4). Die Namen der beiden anderen Kinder „kein Erbarmen“ (1,6) und „Nichtmein-Volk“ (1,9) weisen darüber hinaus auf das Ende des Verhältnisses Jahwes zu seinem Volk hin. Diese Aufkündigung der Erwählung Israels hat nach Hosea die Konsequenz, dass Jahwe den Exodus und die Landnahme rückgängig machen wird. Konkret wird sich diese Aufhebung von Exodus und Landnahme in der Deportation nach Assyrien ereignen, wie dies sowohl 9,3 („Ephraim muss wieder nach Ägypten und muss in Assyrien Unreines essen“) als auch 11,5 („Zurück muss Israel ins Land Ägypten, ja, Assur ist sein wahrer König“) zeigen.
35.10. Heilserwartung Zwar geht ein Großteil der Heilserwartungen des Hoseabuches (vgl. nur 2,1–3; 2,18–25; 3,5; 14,2–9) erst auf exilisch-nachexilische Redaktionstätigkeit zurück, doch erweisen sich einige wenige Heilserwartungen bereits als Bestandteil der alten Hoseatradition. Der Grundgedanke dieser Heilserwartungen knüpft an die Gerichtsvorstellung von der Rückgängigmachung des Exodus an: Jahwe lässt die Aufhebung des Exodus nicht sein letztes Wort sein, sondern kündigt einen neuen Exodus und eine neue Landnahme an (vgl. 2,16 f.: „Darum will ich selbst sie nun verlocken, sie in die Wüste führen und ihr zu Herzen reden. Dann schenke ich ihr von dorther ihre Weinberge … Willig wird sie dorthin folgen wie in ihren Jugendtagen, wie damals, als sie aus Ägyptenland heraufzog.“). In ähnlicher Weise rechnet auch 11,11 mit einem neuen Exodus aus dem assyrischen Exil. Begründet wird dieses Heil in der alten Hoseatradition nicht mit der Umkehr des Volkes (so erst die exilisch-nachexilische Bearbeitung von 14,2 ff.). Vielmehr ist es die bedingungslose Liebe Jahwes zu seinem Volk, die es nicht zulässt, dass Jahwe auf sein Volk verzichtet: „Wie könnte ich dich preisgeben, Ephraim, dich ausliefern, Israel?“ (11,8).
374
Die Schriften des AT
35.11. Ausgewählte Literatur Bons, E.: Das Buch Hosea, NSKAT 23/1, Stuttgart 1996. Daniels, D.R.: Hosea and Salvation History. The Early Traditions of Israel in the Prophecy of Hosea, Berlin/New York 1990. Deissler, A.: Zwölf Propheten: Hosea, Joel, Amos, NEB, Würzburg 1981. Fohrer, G.: Einleitung in das AT (begr. von E. Sellin), Heidelberg 121979. Frevel, C.: Aschera und der Ausschließlichkeitsanspruch YHWHs, Weinheim 1995. Jeremias, J.: Der Prophet Hosea, ATD 24/1, Göttingen 1983. –: Hosea und Amos, Tübingen 1996. –: Art. Hosea/Hoseabuch, RGG4 3, 2000, 1908–1912. Kaiser, O.: Einleitung in das Alte Testament, Gütersloh 51984. –: Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des AT 2, Gütersloh 1994. Koch, K.: Die Profeten I, Stuttgart 21987. Köckert, M.: Prophetie und Geschichte im Hoseabuch, ZThK 85, 1988, 3–30. Koenen, K.: Bethel. Geschichte, Kult und Theologie, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 2003. Kratz, R.G.: Erkenntnis im Hoseabuch, ZThK 94, 1997, 1–24. Naumann, C.: Hoseas Erben. Strukturen der Nachinterpretation im Buch Hosea, Stuttgart 1991. Neef, H.D.: Die Heilstraditionen Israels in der Verkündigung des Propheten Hosea, Berlin/New York 1987. Nissinen, M.: Prophetie, Redaktion und Fortschreibung im Hoseabuch, Kevelaer und Neukirchen-Vluyn 1991. Pfeiffer, H.: Das Heiligtum von Bethel im Spiegel des Hoseabuches, Göttingen 1999. Rudnig-Zelt, S.: Hoseastudien, Göttingen 2006. Rudolph, W.: Hosea, KAT 13/1, Gütersloh 1966. Schäfer-Lichtenberger, C.: JHWH, Hosea und die drei Frauen im Hoseabuch, EvTh 55, 1995, 114–140. Schmidt, L.: Bemerkungen zu Hosea 1,2–9 und 3,1–5, in: FS H.D. Preuß, Stuttgart 1992, 155–165. Schmidt, W.H: Einführung in das AT, Berlin/New York 51995. Schmitt, H.-C.: Der Kampf Jakobs mit Gott in Hos 12,3 ff. und in Gen 32,23 ff., in: Theologie in Prophetie und Pentateuch. Gesammelte Schriften. Hg.v. U. Schorn und M. Büttner, Berlin/New York 2001, 165–188. Sweeney, M.A.: The Twelve Prophets I-II, Collegeville (Minn.) 2000. Utzschneider, H.: Hosea. Prophet vor dem Ende, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1980. Wacker, M.-T.: Figurationen des Weiblichen im Hoseabuch, Freiburg 1996. Wolff, H.W.: Dodekapropheton 1: Hosea, BKAT 14/1, Neukirchen-Vluyn 21965. –: Hoseas geistige Heimat, in: Gesammelte Studien zum AT, München 21973, 232–250. Yee, G.A.: Composition and Tradition in the Book of Hosea, Atlanta 1987. Zenger, E. u. a.: Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 72008.
Die prophetischen Bücher
§ 36
Joel
36.1.
Aufbau des Joelbuches
375
Das Joelbuch setzt sich aus den zwei Teilen Joel 1,1–2,17 und Joel 2,18–4,21 zusammen (Joel 3,1–5 und 4,1–21 werden in Septuaginta und Vulgata allerdings als 2,28–32 und 3,1–21 gezählt). Teil I berichtet von der Klage angesichts einer Heuschreckenplage und Dürre (1,2–20) und angesichts eines heuschreckengleichen Heeres (2,1–17). Teil II enthält dann die göttliche Antwort auf die Klage: 2,18–27 kündigt reiche Ernte an. 3,1–5 verheißt die Geistausgießung und die Rettung vor den Schrecken des Tages Jahwes auf dem Zion. 4,1–3.9–21 spricht vom zukünftigen Völkergericht im Jerusalemer Tal Joschafat (4,4–8 bilden einen spätnachexilischen Prosanachtrag, der speziell Kritik an Tyrus, Sidon und den Philistern übt). I.
II.
36.2.
1,1–2,17 1. 1,2–20 2. 2,1–17
Klage angesichts von Heuschrecken und Dürre angesichts eines Heeres
2,18–4,21 1. 2,18–27 2. 3,1–5 3. 4,1–3.9–21
Antwort Jahwes reiche Ernte Geistausgießung Völkergericht (4,4–8 Prosanachtrag)
Einheit des Buches
Gegen die in der Forschung mehrfach vertretene These, in Joel 1–2* liege eine Grundschicht vor, die durch Joel 3–4 (+ Teilen von Joel 1–2) eschatologisch überarbeitet sei, spricht, dass die göttliche Antwort von 2,18 ff. und die Klagen von Joel 1–2* von Anfang an aufeinander bezogen sind. Auch das durchgängige Vorkommen des Motivs des „Tages Jahwes“ (2,1; 3,4; 4,14) spricht für die Einheitlichkeit von Joel 1– 4* (eine spätere Einfügung liegt nur in dem Prosatext 4,4–8 vor).
376
36.3.
Die Schriften des AT
Entstehungssituation
Charakteristisch für das Joelbuch ist, dass es in starkem Maße auf andere Prophetenbücher durch Zitate, Anspielungen u. ä. Bezug nimmt. Das Buch stellt somit ein Beispiel für prophetische Schriftauslegung (vgl. vor allem die Aufnahme der Tag-Jahwe-Vorstellungen von Am 5,18–20; Jes 2,6ff; 13,6–13; Zef 1,14–18; Obd 15–18 etc.) in eschatologischer Perspektive dar und wird daher aus nachexilischer Zeit stammen. Mit dem Heiligtum (1,14; 2,17) dürfte der nachexilische Tempel gemeint sein. Anders als bei den vorexilischen Schriftpropheten werden dabei Tempelkult und Priester hoch eingeschätzt (1,9.13f.; 2,14 ff.). Da in 2,6ff. Jerusalem wieder mit Mauern dargestellt wird, muss das Joelbuch nach Nehemia (445–433 v. Chr.) datiert werden. Meistens denkt man an die Zeit um 400 oder die Jahrzehnte danach. Als Entstehungsort kommt am ehesten Jerusalem in Frage.
36.4.
Theologie
Thema des Joelbuches ist die in der früheren Prophetie bereits vorgeprägte Vorstellung vom „Tag Jahwes“. Die Neuinterpretation, die es dieser Vorstellung gibt, bezieht sich zum einen auf den Gegenwartsbezug dieser Erwartung: Wie 2,1 ff. zeigt, bricht der „Tag Jahwes“ schon in gegenwärtigen Erfahrungen an. Zum andern fasst das Joelbuch die bisherigen prophetischen Jahwetag-Erwartungen insofern zusammen, als es darauf hinweist, dass der Tag Jahwes für Israel sowohl Gericht als auch endgültiges Heil bedeuten kann (Jeremias). Das Israel von Jahwe angebotene Heil wird vorbereitet durch eine Geistausgießung (3,1–5), die alle Mitglieder des Gottesvolkes erfasst ohne Unterschied des Alters, des Geschlechts und des sozialen Standes (3,1 f.: „Danach werde ich meinen Geist ausgießen auf alles Fleisch. Eure Söhne und eure Töchter werden Propheten sein. Eure Alten werden Träume haben. Eure jungen Männer werden Visionen schauen. Auch über die Knechte und über die Mägde werde ich in jenen Tagen meinen Geist ausgießen“). Jedes Mitglied des Gottesvolkes, das in dieser Situation Jahwe anruft, wird gerettet werden (3,5; vgl. auch Apg 2,17–21). Ausgeschlossen aus dieser Rettung beim Gericht des Tages Jahwes bleiben nach 4,1–21* noch die Völker.
Die prophetischen Bücher
36.5.
377
Ausgewählte Literatur
Bergler, S.: Joel als Schriftinterpret, Frankfurt a. M. 1988. Crenshaw, J.L.: Joel, AncB 24C, New York 1995. Dahmen, U./Fleischer, G.: Die Bücher Joel und Amos, NSKAT 23/2, Stuttgart 2001. Deissler, A.: Zwölf Propheten: Hosea – Joël – Amos, NEB, Würzburg 1981. Jeremias, J.: Artikel Joël/Joëlbuch, TRE 17, 1988, 91–97. –: Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, ATD 24/3, Göttingen 2007. Kaiser, O.: Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des AT 2, Gütersloh 1994. Kutsch, E.: Heuschreckenplage und Tag Jahwes in Joël 1 und 2, in: Kleine Schriften zum AT, Berlin/New York 1986, 231–244. Müller, H.-P.: Prophetie und Apokalyptik bei Joël, ThViat 10, 1965/66, 231–252. Nogalski, J.: Redactional Processes in the Book of the Twelve, Berlin/New York 1993. Plöger, O.: Theokratie und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 31968. Prinsloo, W.S.: The Theology of the Book of Joël, Berlin/New York 31985. –: The Unity of the Book of Joel, ZAW 104, 1992, 66–81. Rudolph, W.: Joël – Amos – Obadja – Jona, KAT 13/2, Gütersloh 1971. –: Wann wirkte Joel?, in: FS L. Rost, Berlin/New York 1967, 193–198. Schmidt, W.H.: Einführung in das AT, Berlin/New York 51995. Seybold, K.: Art. Joel/Joelbuch, RGG4 4, 2001, 511–512. Smend, R.: Die Entstehung des AT, Stuttgart 41989. Wolff, H.W.: Dodekapropheton 2: Joël und Amos, BKAT 14/2 (1969), Neukirchen-Vluyn 31985.
§ 37
Amos
37.1.
Der Aufbau des Amosbuches
Dem Aufbau des Amosbuches liegt das zweigliedrige eschatologische Schema zugrunde: A. B.
Gericht: 1,2–9,6 Heil: 9,7–15
Der Gerichtsteil gliedert sich seinerseits in drei Blöcke: I. II. III.
Völkerzyklus: 1,3–2,16* Sammlung von Einzelworten: 3–6* Visionenzyklus: 7,1–9,6*
378
Die Schriften des AT
Der Völkerzyklus setzt sich in seiner ursprünglichen Gestalt aus fünf Sprüchen zusammen (gegen Damaskus, Gaza, Ammon, Moab, Israel). In gleicher Weise besteht auch der ursprüngliche Visionenzyklus aus fünf Gesichten des Amos. Dagegen ist die Sammlung von Einzelworten Am 3–6 durch zwei parallele Teilüberschriften (3,1; 5,1) in zwei ungefähr gleich lange Teile gegliedert: 3,1a („höret dies Wort, das Jahwe gegen euch geredet hat, ihr Israeliten“) versteht dabei das Folgende als Jahwerede gegen das Gottesvolk, während 5,1 („höret dies Wort, das ich gegen euch als Totenklage anhebe, Haus Israel“) Prophetenrede ankündigt, die die Totenklage über den Staat des Nordreichs („Haus Israel“) anstimmt. Aufgenommen wird dieses Motiv der Totenklage durch die beiden mit hoj „wehe“ (zur Herkunft von hoj aus der Totenklage vgl. oben § 30.1.2.2.) eingeleiteten Abschnitte 5,18 ff. („weh denen, die den Tag Jahwes herbeiwünschen“) und 6,1 ff. („weh … den Sorglosen auf dem Berg Samarias“). Eine Zweiteilung findet sich auch in dem Heilsabschnitt 9,7–15: 9,7–10 kündigen zunächst an, dass das kommende Unheil ein Läuterungsgericht sein wird. Dann beschreiben 9,11–15 die für die Endzeit zu erwartende Heilssituation für Königtum (V. 11–12) und Volk (V. 13–15).
37.2.
Bearbeitungen des Amosbuches
Die heutige Gestalt des Amosbuches verdankt sich einer Reihe von mehr oder weniger umfangreichen Redaktionen: 37.2.1. Weitgehend anerkannt ist, dass der Schluss des Amosbuches in 9,11–15 auf nachexilische heilseschatologische Bearbeitungen zurückgeht. Davon stammen wohl 9,12–13 bereits vom Redaktor des Zwölfprophetenbuches (vgl. Nogalski). So weist die Edomthematik von V. 12 voraus auf das Obadjabuch, während die Beschreibung der paradiesischen Fruchtbarkeit in V. 13 einen Rückbezug auf Joel 4,18 darstellt. Ob auch Am 9,11.14–15 auf den gleichen spätnachexilischen Redaktor zurückgehen, ist angesichts ihrer zurückhaltenderen Heilserwartungen („Wiedererrichtung der zerfallenen Hütte Davids“ und „Wiederaufbau des gelobten Landes“) nicht sicher. 37.2.2. Vor der spätnachexilischen heilseschatologischen Bearbeitung wird von der Mehrheit der Forschung für die exilisch-nachexilische Zeit eine deuteronomistische Redaktion des Amosbuches angenommen. Auf sie wird aus dem Heilsabschnitt des Amosbuches (9,7–15) bereits die Ankündigung eines Läuterungsgerichtes zurückgeführt (9,7–10).
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Die wichtigsten Belege für eine Redaktion des Amosbuches finden sich im Völkersprüchezyklus. Hier fallen die Sprüche gegen Tyrus (1,9 f.), Edom (1,11 f.) und Juda (2,4 f.) aufgrund einer Reihe von Besonderheiten im Kontext der übrigen fünf Völkersprüche auf: So fehlt in ihnen die in Am 1,5.8.15; 2,3 belegte Schlussformel „spricht Jahwe“. Außerdem ergibt sich in ihnen eine Verkürzung der Strafansage; demgegenüber wird in den sekundären Texten durchweg der Schuldaufweis erweitert (vgl. schon 1,9b.11b). Am bemerkenswertesten ist der Schuldaufweis von Am 2,4b („weil sie die Weisung Jahwes verwarfen und seine Satzungen nicht bewahrten: ihre Lügen[götter] ließen sie in die Irre gehen, denen [schon] ihre Väter nachgelaufen waren“). Hier liegt eindeutig dtr. Terminologie vor. Ziel dieser Redaktion ist es, die Leser des Amosbuches nach dem Untergang des Südreiches auf Judas zentrale Verfehlungen als Ursache der Katastrophe hinzuweisen: die Ablehnung des geoffenbarten Willens Jahwes („Tora“ und „Satzungen“) und die Orientierung an den Götzen der anderen Völker („hinter den Göttern herlaufen“). Von daher dürfte auch Am 5,26 (Polemik gegen die Verehrung der Götter Sakkut und Kewan) der dtr. Redaktion zuzuordnen sein. Schließlich ist wahrscheinlich auch der aus Am 3,3–8 herausfallende Prosasatz 3,7 „Denn der Herr Jahwe tut nichts, ohne zuvor seinen Ratschluss seinen Knechten, den Propheten, enthüllt zu haben“ wegen seiner dtr. Sprache (vgl. vor allem Propheten als „Knechte Jahwes“) dieser Redaktion zuzuweisen. 37.2.3. Ebenfalls auf die exilisch-nachexilische Zeit gehen wohl die Doxologien des Amosbuches (4,13; 5,8; 9,5f.; vgl. auch das das Amosbuch einleitende Motto 1,2) zurück. Sie bildeten vielleicht ursprünglich einen zusammenhängenden Hymnus. Mit ihnen erkennt die – zu Bußgottesdiensten (vgl. den eventuell anzunehmenden Zusammenhang zwischen 4,13 und dem Umkehrgedicht 4,6–12; so Wolff und Jeremias) versammelte – Gemeinde in der Form einer Gerichtsdoxologie (vgl. Jos 7,19) die Gerechtigkeit der von Amos angekündigten Strafe Jahwes an (Horst). Dass in diesen Hymnen die Schöpfertätigkeit Jahwes im Mittelpunkt steht, könnte gleichzeitig dem Prophetenwort eine eschatologische Bedeutung zuschreiben (vgl. hierzu Koch). 37.2.4. Über die Geschichte des Amosbuches in der Zeit von der Mitte des 8. bis zum Beginn des 6. Jh. v. Chr. gibt es in der gegenwärtigen Forschung kaum Konsens. Jedenfalls wird man die Texte, die Hans Walter Wolff einer vor 735 in Juda anzusetzenden „Amos-Schule“ zuwies (vgl. vor allem den Fremdbericht von Am 7,10–17 mit 7,9; 8,3 mit 8,4–14; auch 5,14 f.), wohl später zu datieren haben (Jörg Jeremias denkt für 7,9–17 und 8,3–14 an die Zeit des Propheten Jeremia). Für den Beginn der Sammlung der Amosworte lässt sich bestenfalls sagen, dass mit ursprünglich drei getrennten Sammlungen zu rechnen ist: Am 3–6*: die
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Die Schriften des AT
Worte des Amos; Am 1–2*: die Völkersprüche und Am 7–9*: die Visionsberichte (anders Fritz, für den die Völkersprüche und die Mehrzahl der Visionsberichte nicht von Amos stammen).
37.3.
Die Person des Amos
Nach der Überschrift des Amosbuches (1,1) stammte Amos aus dem südöstlich von Bethlehem gelegenen judäischen Ort Tekoa (ca. 17 km südlich von Jerusalem). Aus dem gleichen Ort kam die in der Geschichte von der Thronfolge Davids (2Sam 14,2) erwähnte „weise Frau“ (Tekoa als Ort mit Weisheitstradition?). In 7,14 nennt sich Amos einen „Rinderhirten“ und einen „Maulbeerfeigenritzer“. Da in Tekoa (in der Höhe von 825 m über N.N.) keine Maulbeerfeigen gedeihen, ist zu vermuten, dass Amos auch am Toten Meer bzw. in der Jordansenke liegende Plantagen besaß (falls die Angaben von 7,10–17 als historisch zuverlässig anzusehen sind; anders Levin). In 7,14 wird gleichzeitig betont, dass Amos sich nicht als ausgebildeter Nabi oder Nabischüler versteht, sondern allein durch die göttliche Beauftragung aus seinem bürgerlichen Beruf herausgerufen wurde.
37.4.
Ort und Zeit des Auftretens
Allein von seinem göttlichen Auftrag her wird auch das Auftreten des Judäers Amos im Nordreich verstanden. Als konkreten Ort der Verkündigung des Amos nennt der Fremdbericht von 7,10–17 das Reichsheiligtum von Bethel. Da in 4,1–3 und 6,1–7* Bewohnerinnen und Bewohner von Samaria angeredet werden, ist außerdem ein Auftreten des Amos in Samaria zu erschließen. Am 1,1 (vgl. auch 7,9–11) ist zu entnehmen, dass Amos zur Zeit des israelitischen Königs Jerobeam II. (787–747) aufgetreten ist. 6,13 („die ihr euch freut über Lodabar, die ihr sagt: Haben wir nicht mit eigener Kraft uns Karnajim genommen?“) dürfte dabei auf militärische Erfolge im Ostjordanland (Lodabar liegt in Gilead, Karnajim in Basan) zurückblicken, wie sie 2Kön 14,25 für die Zeit Jerobeams II. dokumentiert (vgl. dazu oben § 5.5.4.). 4,1 und 6,1–6 deuten außerdem darauf hin, dass die Zeit des Amos eine Periode des Friedens und gesteigerten Wohlstandes darstellt, was an die zweite Hälfte der Regierungszeit Jerobeams II. denken lässt. Meist wird daher damit gerechnet, dass Amos im Jahrzehnt zwischen 760 und 750 aufgetreten ist. Am 1,1 spricht davon, dass die Verkündigung des Amos „zwei Jahre vor dem Erdbeben“ stattgefunden hat. Dies schließt ein mehrjähriges Auftreten des Amos aus. Amos hat offensichtlich nur relativ kurze Zeit im Nordreich gewirkt, bevor
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seine prophetische Tätigkeit durch das in Am 7,10–17 berichtete Vorgehen des Betheler Priesters Amazja beendet wurde. Aufgrund von Am 7,10 ff. ist zu vermuten, dass Amos ausgewiesen wurde. Für einen Märtyrertod des Amos (Abschnitt 2 der Vitae Prophetarum aus dem 1. Jh. n. Chr.) spricht nichts.
37.5.
Die geistige Heimat des Amos
Nachdem über die Biographie des Propheten Amos nur wenig in Erfahrung zu bringen ist, hat die Forschung versucht, seine „geistige Heimat“ aufgrund der traditionsgeschichtlichen Bezüge seiner Botschaft zu erschließen. Vor allem Hans Walter Wolff meinte, für Amos starke Beziehungen zur sog. „Sippenweisheit“ nachweisen zu können. Dazu macht Wolff auf weisheitliche Redeformen wie didaktische Frage (3,3 ff.), Weheruf (5,18; 6,1), gestaffelter Zahlenspruch (1,3.6.13; 2,1.6), Mahnrede (5,4 f.) und weisheitliche Themen (das „Gerade“, Betonung des Rechts, Eintreten für die Armen, Kritik verschwenderischen Lebens) bei Amos aufmerksam (vgl. hierzu auch unten § 52.2.). Andererseits hat Ernst Würthwein z. T. für die gleichen inhaltlichen Bezüge Parallelen im alten israelitischen Recht (vor allem im Bundesbuch Ex 20,22–23,19) aufgezeigt (vgl. z. B. Am 2,8 mit Ex 22,25; Am 2,7 mit Ex 21,7 ff.). Demgegenüber hat Hans Heinrich Schmid darauf hingewiesen, dass Amos sich offensichtlich weder der altisraelitischen Rechtstradition noch einer israelitischen „Sippenweisheit“ (vgl. hierzu auch unten § 53.4.) in besonderer Weise verpflichtet weiß, sondern auf die in Israel allgemein geteilten sittlichen Normen zurückgreift, die sich daher sowohl im Recht als auch in der Weisheit widerspiegeln können. Solche allgemein anerkannten Normen meint Amos (vgl. auch Jesaja und dazu oben § 31.3.4.4.), wenn er von „Recht und Gerechtigkeit“ (5,24) spricht.
37.6.
Die Botschaft des Visionenzyklus
Im Folgenden sollen die zentralen theologischen Aussagen der ältesten Amosüberlieferung dargestellt werden. Da uns die Botschaft des Amos in der durch die ältesten Tradenten geformten Gestalt vorliegt, ist sie uns nur in der im Südreich niedergeschriebenen Fassung zugänglich. Man wird allerdings davon ausgehen können, dass diese Tradentenkreise sich um möglichst große Treue gegenüber dem prophetischen Wort bemüht haben. So spricht einiges dafür, dass sich die Grunderfahrung des Propheten Amos durchaus noch in dem Ich-Bericht des Visionenzyklus spiegelt.
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Die Schriften des AT
Der Visionenzyklus setzt sich aus fünf Visionen zusammen, in denen – einerseits die Visionen 1 (Vernichtung der Ernte durch Heuschrecken: 7,1–3) und 2 (Feuer, das Grundflut und Ackerland frisst: 7,4–6) und – andererseits die Visionen 3 (Zinnwaffe in der Hand Jahwes: 7,7–8) und 4 (Obstkorb: 8,1–2) jeweils ein Paar bilden. Als Höhepunkt folgt dann die abschließende Einzelvision 5 (Jahwe auf dem Altar: 9,1– 4; anders Waschke). Während im ersten Visionenpaar noch die Möglichkeit der Fürbitte durch den Propheten besteht (7,2: „Verzeih doch!“; 7,5: „Lass ab!“) und diese Fürbitte auch Erfolg hat, lehnt Jahwe im zweiten Visionenpaar die Zurücknahme des kommenden Gerichts ausdrücklich ab (7,8: „Siehe, ich will die Zinnwaffe legen an mein Volk Israel und ihm nichts mehr übersehen“; 8,2: „Gekommen ist das Ende für mein Volk Israel, ich will ihm nichts mehr übersehen“). Nachdem das zweite Visionenpaar die Unabwendbarkeit des Gerichts verdeutlicht hat, betont Vision 5 zum Abschluss die Unentrinnbarkeit des göttlichen Gerichts (vgl. in 9,1 die Rede Jahwes auf dem Altar [in der textkritischen Rekonstruktion von Jeremias]: „Schlagen will ich das Säulenkapitell, dass die Schwellen beben! Ihr aller Leben endet im Beben, und was von ihnen übrig bleiben sollte, töte ich mit dem Schwert. Keiner unter ihnen kann fliehen, keiner unter ihnen sich retten …“).
37.7.
Die Zukunftserwartung und die Frage nach der Intention der Botschaft der ältesten Amosüberlieferung
Die älteste Amosüberlieferung kennt offensichtlich keine konkrete Heilserwartung. Die Vorstellung von einer Heilswende, wie sie 9,11–15 vertritt, geht auf die spätnachexilische heilseschatologische Bearbeitung des Amosbuches zurück; auch das Verständnis des Gerichts als Läuterungsgericht in 9,7–10 stellt eine exilisch-nachexilische Einfügung der dtr. Redaktion dar. Schwierig zu beurteilen ist das Mahnwort 5,14 f. („Suchet das Gute und nicht das Böse, damit ihr am Leben bleibt, … vielleicht wird Jahwe … doch gnädig sein dem Rest Josefs“). Dieser Text scheint dem Mahnwort von 5,4 „Suchet mich, so werdet ihr leben“ zu entsprechen. Allerdings eröffnet in 5,4 f. dieses Mahnwort nicht wie in 5,14 f. für einen Rest die Möglichkeit des Heils. Vielmehr wird darauf hingewiesen, dass das Suchen der Heiligtümer von Bethel und Gilgal nicht Leben ermöglicht. Auch macht die alte Amostradition in Am 3,12 ebenfalls darauf aufmerksam, dass eine Rettung der Israeliten nur in der Form möglich sein
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wird, „wie ein Hirte aus dem Maul des Löwen zwei Wadenbeine oder ein Ohrläppchen rettet“. Hier liegt somit die Vorstellung von einem Rest Israels vor, dessen Funktion nur darin besteht, das Ende Israels zu bezeugen. Es ist wohl kaum möglich, Am 5,4 und 3,12 einer älteren und Am 5,14 f. einer jüngeren Schicht der ältesten Amostradition zuzuweisen (anders Wolff, Jeremias). Eher wird man von einer nicht ganz ausgeglichenen Spannung in der ältesten Amostradition auszugehen haben, durch die darauf aufmerksam gemacht wird, dass auch in der unbedingten Unheilsbotschaft des Amos die Freiheit Gottes, seine Lebensverheißung zu realisieren, nicht aufgehoben ist. Die Frage, ob Amos unbedingtes Gericht angekündigt habe (so besonders Wolff, W.H. Schmidt, Jeremias vor allem unter Berufung auf den Visionenzyklus 7,1–8; 8,1–2; 9,1–4) oder ob er die Möglichkeit sieht, durch das Suchen von Jahwe noch das Leben zu retten (so besonders Fohrer, u. a. mit Hinweis auf 5,4 und auch 5,14 f.), braucht daher nicht alternativ beantwortet zu werden. Die älteste Amosüberlieferung vertritt beides: Sie spricht sowohl vom nicht mehr aufhebbaren Gericht Jahwes als auch von der bleibenden Gültigkeit der Forderung, Jahwe zu suchen und das Gute zu tun, um zu leben.
37.8.
Sozialkritik
Auf diesem Hintergrund stellen die sozialkritischen Äußerungen des Amosbuches sowohl den Aufweis der Schuld des Volkes angesichts des nicht mehr aufhaltbaren Gerichts als auch den Hinweis auf die bleibende Forderung Jahwes nach „Recht und Gerechtigkeit“ (5,24) dar. Im Einzelnen kritisiert die älteste Amosüberlieferung dabei folgende Verhaltensweisen: 1. 2.
3. 4.
Das Beugen des Rechts im Tor (5,10.12.15). Die unangemessene und unmenschliche Handhabung der im israelitischen Recht vorgesehenen (vgl. Ex 21,2 ff.; Dtn 15,12 ff.) Institution der Schuldknechtschaft (2,6: Verkaufen des Armen wegen eines Paares Sandalen). Die Ausbeutung der Armen zur Finanzierung eines luxuriösen Lebens der Oberschicht (4,1; wohl auch 6,1–6*). Sexuelle Ausnutzung von abhängigen Frauen (2,7: „ein Mann und sein Vater gehen zum gleichen Mädchen“; vgl. Ex 21,7 ff.).
384
Die Schriften des AT
Bemerkenswert ist, dass hierbei zwar vor allem die Besitzenden der Oberschicht kritisiert werden, dass aber trotzdem in 2,6 von den Verbrechen Israels als Ganzem gesprochen werden kann. Aus einer jüngeren Schicht der Amostradition dürfte dagegen die in Am 8,4 ff. überlieferte Kritik an wirtschaftlichen Straftaten stehen wie das Fälschen von Maßen und Gewichten (V. 5) und das somit auf betrügerische Weise erreichte Aufkaufen der Armen (V. 6).
37.9.
Kultkritik
Charakteristisch für die älteste Amosüberlieferung ist die Ablehnung der Heiligtümer von Bethel und Gilgal (5,5: „Suchet nicht Bethel und geht nicht nach Gilgal“). Begründet wird diese Ablehnung damit, dass beim Gottesdienst in Bethel und Gilgal „Verbrechen begangen“ werden (4,4: „Kommt nach Bethel – um Verbrechen zu begehen, nach Gilgal – um Verbrechen noch zu vermehren“). Um welche „Verbrechen“ es sich dabei handelt, zeigt der „negative Kultbescheid“ (Würthwein; vgl. dazu oben § 30.1.2.2.) von Am 5,21–27*: Jahwe lehnt den Gottesdienst der Israeliten ab, weil sie sich im Alltag nicht an Recht und Gerechtigkeit orientieren: Es kann keinen intakten Gottesdienst und kein intaktes Gottesverhältnis geben, wenn dadurch gleichzeitig ein ungerechtes Verhältnis zu den Mitmenschen gerechtfertigt wird (vgl. zu diesem Verständnis von Kultkritik auch den Befund bei Jesaja oben § 31.3.4.5.).
37.10. Kritik der Erwählungssicherheit In der Amosüberlieferung wird das prophetische Verständnis von „Erwählung“ besonders deutlich: „Erwählung“ bedeutet hier nicht ein Privileg, sondern eine besondere Verantwortung, wie dies vor allem Am 3,2 formuliert: „Euch allein habe ich erkannt unter allen Sippen der Erde, daher ahnde ich an euch alle eure Verschuldungen“. Dieses Verständnis der Stellung Israels unter den Völkern liegt genauso in dem Völkerspruchzyklus 1,3–2,16* vor: Nachdem Jahwe den Völkern (Damaskus, Gaza, Ammon, Moab) die Strafe für ihre sozialen Vergehen („Dreschen“ von Gilead, Auslieferung von Gefangenen an Edom, Aufschlitzen der Schwangeren Gileads, Verbrennen der Gebeine des Königs von Edom) angekündigt hat, endet der Zyklus mit der besonders harten Strafankündigung an das Nordreich Israel wegen seiner sozialen Vergehen.
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Aufgrund dieser Gemeinsamkeit der Schuld zwischen Israel und den Völkern ist es Israel nach Am 5,18–20 verwehrt, vom Gerichtstag Jahwes den Sieg Israels über die Völker zu erwarten (5,18: „Wehe denen, die sich sehnen nach dem Tag Jahwes! Was soll euch denn der Tag Jahwes? Er ist Finsternis und nicht Licht“). An dieses Erwählungsverständnis der ältesten Amosüberlieferung knüpft die dtr. Redaktion an, wenn sie in Am 9,7 Kuschiten, Philister und Aramäer mit Israel gleichstellt. Israel hat trotz der Herausführung aus Ägypten durch Jahwe keinen Anspruch auf Jahwes Heil. Dass Israels Erwählung weiterbesteht, ist allein ein Akt der Gnade Jahwes.
37.11. Ausgewählte Literatur Ackroyd, P.R.: A Judgment Narrative between Kings and Chronicles. An Approach to Am 7,9–17, in: G.W. Coats/B.O. Long (Hg.), Canon and Authority, Philadelphia 1977, 91–109. Beyerlin, W.: Bleilot, Brecheisen oder was sonst? Revision einer Amos-Vision, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1988. Dahmen, U./Fleischer, G.: Die Bücher Joel und Amos, NSKAT 23/2, Stuttgart 2001. Deissler, A: Zwölf Propheten: Hosea, Joel, Amos, NEB, Würzburg 1981. Ernst, A.B.: Weisheitliche Kultkritik: Zur Theologie und Ethik des Sprüchebuches und der Prophetie des 8. Jh., Neukirchen-Vluyn 1994. Fleischer, G.: Von Menschenverkäufern, Baschankühen und Rechtsverkehrern, Frankfurt a. M. 1989. Fohrer, G.: Einleitung in das AT (begründet von E. Sellin), Heidelberg 121979. Fritz, V.: Die Fremdvölkersprüche des Amos, VT 37, 1987, 26–38. –: Amosbuch, Amos-Schule und historischer Amos, in: FS O. Kaiser, Berlin/New York 1989, 29–43. Gese, H.: Komposition bei Amos, in: Atl. Studien, Tübingen 1991, 94–115. –: Das Problem von Am 9,7, in: Atl. Studien, Tübingen 1991, 116–121. Horst, F.: Die Doxologien im Amosbuch, in: Gottes Recht, München 1961, 155–166. Jeremias, J.: Der Prophet Amos, ATD 24/2, Göttingen 1995. –: Hosea und Amos, Tübingen 1996. Kaiser, O.: Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des AT 2, Gütersloh 1994. –: Kult und Kultkritik im AT, in: FS O. Loretz, Münster 1998, 401–426. Kellermann, U.: Der Amosschluß als Stimme deuteronomistischer Heilshoffnung, EvTh 29, 1969, 169–183. Kessler, R.: Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus, Tributarismus, antike Klassengesellschaft. Theorien zur Gesellschaft des alten Israel, EvTh 54, 1994, 413–427. Koch, K.: Die Rolle der hymnischen Abschnitte des Amosbuches, ZAW 86, 1974, 506–537. –: Die Profeten 1, Stuttgart 19872.
386
Die Schriften des AT
– u. a.: Amos. Untersucht mit den Methoden einer strukturalen Formgeschichte, Kevelaer/ Neukirchen-Vluyn 1976. Lang, B.: Sklaven und Unfreie im Buch Amos (II 6; VIII 6), VT 31, 1981, 482–488. Levin, C.: Amos und Jerobeam I., in: Fortschreibungen. Gesammelte Studien zum AT, Berlin/New York 2003, 256–264. –: Das Amosbuch der Anawim, in: Fortschreibungen. Gesammelte Studien zum AT, Berlin/New York 2003, 265–290. Markert, L.: Art. Amos/Amosbuch, TRE 2, 1978, 471–487. Mathias, D.: Beobachtungen zur fünften Vision des Amos (9,1–4), in: FS W. Vogler, Berlin 1999, 150–174. Nogalski, J.: Literary Precursors in the Book of the Twelve, Berlin/New York 1993. Reimer, H.: Richtet auf das Recht! Studien zur Botschaft des Amos, Stuttgart 1992. Rottzoll, D.U.: Studien zur Redaktion und Komposition des Amosbuches, Berlin/New York 1996. Rudolph, W.: Joel – Amos – Obadja – Jona, KAT 13/2, Gütersloh 1971. Schart, A.: Die Entstehung des Zwölfprophetenbuchs. Neubearbeitungen von Amos im Rahmen schriftübergreifender Redaktionsprozesse, Berlin/New York 1998. Schmid, H.H.: Amos, in: Altorientalische Welt in der atl. Prophetie, Zürich 1974, 121–44. Schmidt, W.H.: Die deuteronomistische Redaktion des Amosbuches, ZAW 77, 1965, 168–173. –: Einführung in das AT, Berlin/New York 51995. Schottroff, W.: Der Prophet Amos, in: W. Schottroff/W. Stegemann (Hg.), Der Gott der kleinen Leute, München/Gelnhausen 21979, 39–66. Smend, R.: Das Nein des Amos, in: Die Mitte des AT. Exegetische Aufsätze, Tübingen 2002, 219–237. –: Die Entstehung des AT, Stuttgart 41989. Uehlinger, C.: Der Herr auf der Zinnmauer. Zur dritten Amos-Vision (Am VII 7–8), BN 48, 1989, 89–104. Utzschneider, H.: Amazjaerzählung (Am 7,10–17) zwischen Literatur und Historie, BN 41, 1988, 76–101. Waschke, E.J.: Die fünfte Vision des Amosbuches (9,1– 4) – Eine Nachinterpretation, ZAW 106, 1994, 434–445. Weimar, P.: Der Schluß des Amos-Buches, BN 16, 1981, 60–100. Weippert, H.: Amos. Seine Bilder und ihr Milieu, in: H. Weippert u. a., Beiträge zur prophetischen Bildsprache in Israel und Assyrien, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1985, 1–29. Willi-Plein, I.: Vorformen der Schriftexegese innerhalb des AT, Berlin/New York 1971. Wolff, H.W.: Dodekapropheton 2: Joël und Amos, BKAT 14/2, Neukirchen-Vluyn 1969. –: Amos’ geistige Heimat, Neukirchen-Vluyn 1964. Würthwein, E.: Amos-Studien, in: Wort und Existenz, Göttingen 1970, 68–110. Zenger, E.: Die eigentliche Botschaft des Amos, in: FS J.B. Metz, Mainz 1988, 394–406. – u. a.: Einleitung in das AT, Stuttgart 72008.
Die prophetischen Bücher
§ 38
Obadja
38.1.
Aufbau der Obadjaschrift
387
Das nur ein Kapitel umfassende und damit die kürzeste Schrift des AT darstellende Obadjabuch zerfällt in die folgenden zwei Abschnitte: 1. V. 2–15* 2. V. 16–21
Gerichtsankündigung gegen Edom Ankündigung des Völkergerichts und des Heils für Zion und Israel
Die beiden Teile sind formal durch den Übergang von der Anrede an „Edom“ („Du“-Stil) zur Thematisierung des Schicksals Israels („Ihr“ in V. 16) und der Völkerwelt markiert.
38.2.
Entstehung der Schrift
Der Kern des Büchleins liegt in den V. 2–14*+15b vor, wobei V. 2–5* wahrscheinlich die Vorlage für Jer 49,7–22 darstellen. Meist wird dieser Kernbestand auf einen „Kultpropheten“ Obadja (Auftreten bei exilischen Klagefeiern in Jerusalem?) zurückgeführt, der ihn unter dem Eindruck der Erfahrungen von 587 v. Chr. (Eroberung Jerusalems durch Fremde, Verrat der Fluchtwege durch die Edomiter an die landesunkundigen Babylonier, Abfangen von Flüchtlingen durch die Edomiter) verfasst habe. Dabei sei an die Zeit zwischen 587 und 550 v. Chr. zu denken. Die Inbeziehungsetzung des Gerichts über Edom mit dem Tag Jahwes und seinem Völkergericht in V. 15a.16–18 könnte eventuell auf Fortschreibungen im Rahmen der Entstehung des Zwölfprophetenbuchs zurückgehen (vgl. Joel; Amos 5,18–20; Zef 1). Auf eine möglicherweise anzunehmende Redaktion im Rahmen der Bildung des corpus propheticum deuten die in dem Prosazusatz von V. 19–21 vorliegenden Vorstellungen von der Restitution (Groß-)Israels einschließlich der Gola und dem Anbruch der Königsherrschaft Jahwes (vgl. Sach 14,9).
388
38.3.
Die Schriften des AT
Theologische Bedeutung
Bestimmend für den Kernbestand der Obadjaschrift ist der in V. 15b formulierte Grundsatz des Tun-Ergehens-Zusammenhangs, der sich hier zunächst gegen Edom richtet: „Wie du getan hast, wird dir getan werden, deine Tat kehrt auf dein Haupt zurück.“ V. 15a.16–18 weisen allerdings darauf hin, dass das gerechte Gericht Jahwes allen Völkern gilt, wobei V. 16a weiß, dass sich dieses Gericht auch gegen Israel richten kann. Für das theologische Verständnis der Obadjaschrift ist zentral, dass es hierbei nicht um menschliche Vergeltung geht, sondern um die Erfüllung des Wortes Jahwes, der nicht nur ein Gott des Gerichts, sondern auch ein Gott der Gnade ist („auf dem Berg Zion wird es Verschonung geben“, V. 17a). Besonders deutlich wird dies in dem abschließenden redaktionellen Zusatz von V. 19–21, der als Ziel der Botschaft der Obadjaschrift formuliert, dass die Königsherrschaft Jahwe gehören wird (V. 21).
38.4.
Ausgewählte Literatur
Barton, J.: Joel and Obadiah, OTL, London 2001. Ben Zvi, E.: A Historical-Critical Study of the Book of Obadiah, Berlin/New York 1996. Bosshard, E.: Beobachtungen zum Zwölfprophetenbuch, BN 40, 1987, 30–62. Deissler, A.: Zwölf Propheten II: Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, NEB, Würzburg 1984. Dietrich, W.: Art. Obadja/Obadjabuch, TRE 24, 1994, 715–720. Jeremias, J.: Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha. ATD 24/3, Göttingen 2007. Kellermann, U.: Israel und Edom. Studien zum Edomhaß Israels im 6.–4. Jh. v. Chr., Habil. Schrift Münster 1975. Köckert, M.: Art. Obadja/Obadjabuch, RGG4 6, 2003, 442–444. Nogalski, J.: Redactional Processes in the Book of the Twelve, Berlin/New York 1993. Renkema, J.: Data Relevant to the Dating of the Prophecy of Obadia, in: J.C. de Moor/ H.F. van Rooy (Hg.), Past, Present, Future. The Deuteronomistic History and the Prophets, Leiden 2000, 251–262. Rudolph, W.: Joel – Amos – Obadja – Jona, KAT 13/2, Gütersloh 1971. Snyman, S.D.: Cohesion in the Book of Obadiah, ZAW 101, 1989, 59–71. Steck, O.H.: Der Abschluß der Prophetie im AT, Neukirchen-Vluyn 1991. Struppe, U.: Die Bücher Obadja und Jona, NSKAT 24/1, Stuttgart 1996. Wehrle, J.: Prophetie und Textanalyse. Die Komposition Obadja 1–21 interpretiert auf der Basis textlinguistischer und semiotischer Konzeptionen, St. Ottilien 1987. Weimar, P.: Obadja. Eine redaktionskritische Analyse, BN 27, 1985, 35–99.
Die prophetischen Bücher
389
Weippert, M.: Studien und Materialien zur Geschichte der Edomiter auf Grund schriftlicher und archäologischer Quellen, Diss. Tübingen 1971. Wolff, H.W.: Dodekapropheton 3: Obadja und Jona, BKAT 14/3, Neukirchen-Vluyn 1977.
§ 39
Die Jona-Novelle
39.1.
Aufbau der Novelle
Anders als die anderen atl. Prophetenbücher enthält das Jonabuch eine lehrhafte Prophetenerzählung in der Form einer Novelle. Sie gliedert sich in zwei Teile, die ihrerseits wieder in zwei Szenen zerfallen. I.
II.
39.2.
Jon 1–2 Jonas Flucht vor dem prophetischen Auftrag an Ninive 1. Jon 1 Auf dem Schiff nach Tarschisch 2. Jon 2 Im Bauch des Fisches Jon 3–4 Jonas Zorn über Jahwes Gnade 1. Jon 3 Die Ausführung des prophetischen Auftrags an Ninive und die Umkehr der Niniviten 2. Jon 4 Jonas Anklage gegen Jahwe und die Antwort Jahwes
Entstehung
Im Hinblick auf die Wachstumsgeschichte von Jon 1– 4 gibt es in der neueren Forschung keinen Konsens (vgl. nur die unterschiedlichen Entstehungstheorien von L. Schmidt, Weimar und Krüger). Größere Anerkennung hat nur die These gefunden, dass der Dankpsalm 2,3–10 erst nachträglich zugefügt ist (Wolff); allerdings sehen eine Reihe neuerer Arbeiten (vgl. Gese, Lux) auch den Psalm als Bestandteil der ursprünglichen Erzählung. Angesichts der zahlreichen Anspielungen auf andere atl. Bücher (vgl. vor allem die Umkehrtheologie von Jer 18,7 f. in Jon 3, die Formel von der Barmherzigkeit Jahwes von u. a. Ex 34,6 in Jon 4,2, den Todeswunsch von 1Kön 19,4 in Jon 4,3) muss jedenfalls mit einer nachexilischen Entstehung gerechnet werden. Dabei deutet die Aufnahme griechisch-mythologischer Stoffe (vgl. nur die Vorstellung vom Verschlungenwerden des Herakles oder des Perseus durch ein Seeungeheuer) wohl am ehesten auf die frühhellenistische Zeit um 300 v. Chr.
390
Die Schriften des AT
Vom Propheten Jona, dem Sohn Amittais, berichtet ansonsten das 2. Königsbuch (14,25): Nach ihm gehört Jona zu den Heilspropheten des 8. Jh. (als sein Heimatort wird hier Gat-Hefer in Sebulon genannt; vgl. Jos 19,13) und hat dem nordisraelitischen König Jerobeam II. (787–747 v. Chr.) die Rückeroberung des Ostjordanlandes von Lebo-Hamat bis an das Salzmeer geweissagt. Aufgrund dieser zeitlichen Ansetzung des Propheten wird das Buch Jona auch zwischen dem Amos- und dem Michabuch in das Zwölfprophetenbuch aufgenommen.
39.3.
Theologische Bedeutung
Das Jonabuch will als theologische Lehrerzählung darauf aufmerksam machen, dass der Gott Israels als der Schöpfergott ein Gott der Gnade ist (4,2). Er will – anders als sein Prophet Jona – die Sünder zur Umkehr bewegen und wird dann als Gott der grenzenlosen Liebe zur ganzen Schöpfung sich der angedrohten Strafe gereuen lassen (3,9 f.).
39.4.
Ausgewählte Literatur
Deissler, A.: Zwölf Propheten II: Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, NEB, Würzburg 1984. Gese, H.: Jona ben Amittai und das Jonabuch, in: Atl. Studien, Tübingen 1991, 122–138. Golka, F.W.: Jona, Calwer Bibelkommentare, Stuttgart 1991. –: Art. Jona/Jonabuch, RGG4 4, 2001, 567–569. Höffken, P.: Das Ende des Jonabuches. Eine Anmerkung zu Jona 4,11, ThZ 56, 2000, 289–297. Jeremias, J.: Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, ATD 24/3, Göttingen 2007. Kaiser, O.: Wirklichkeit, Möglichkeit und Vorurteil. Ein Beitrag zum Verständnis des Buches Jona, in: Der Mensch unter dem Schicksal, Berlin/New York 1985, 41–53. Krüger, T.: Literarisches Wachstum und theologische Diskussion im Jona-Buch, BN 59, 1991, 57–88. Lux, R.: Jona. Prophet zwischen „Verweigerung“ und „Gehorsam“. Eine erzählanalytische Studie, Göttingen 1994. Magonet, J.: Form and Meaning. Studies in Literary Techniques in the Book of Jonah, Sheffield 21983. Rudolph, W.: Joel – Amos – Obadja – Jona, KAT 12/2, Gütersloh 1971. Sasson, J.M.: Jonah, AncB 24B, New York 1990. Schmidt, L.: „De Deo“. Studien zur Literarkritik und Theologie des Buches Jona, des Gesprächs zwischen Abraham und Jahwe in Gen 18,22 ff. und von Hi 1, Berlin/New York 1976. Simon, U.: Jona.Ein jüdischer Kommentar, Stuttgart 1994.
Die prophetischen Bücher
391
Steffen, U.: Die Jona-Geschichte. Ihre Auslegung und Darstellung im Judentum, Christentum und Islam, Neukirchen-Vluyn 1994. Struppe, U.: Die Bücher Obadja und Jona, NSKAT 24/1, Stuttgart 1996. Vanoni, G.: Das Buch Jona. Literar- und formkritische Untersuchungen, St. Ottilien 1978. Weimar, P.: Literarische Kritik und Literarkritik. Unzeitgemäße Beobachtung zu Jon 1,4–16, in: FS J. Schreiner, Würzburg 1982, 217–235. –: Jon 4,5. Beobachtungen zur Entstehung der Jonaerzählung, BN 18, 1982, 86–109. –: Jonapsalm und Jonaerzählung, BZ 28, 1984,43–68. Witzenrath, H.H.: Das Buch Jona. Eine literaturwissenschaftliche Untersuchung, St.Ottilien 1978. Wolff, H.W.: Studien zum Jonabuch (1975). Mit einem ausführlichen Anhang von J. Jeremias, Neukirchen-Vluyn 22001. –: Dodekapropheton 3: Obadja und Jona, BKAT 14/3, Neukirchen-Vluyn 1977. Zobel, H.-J.: Art. Jona/Jonabuch, TRE 17, 1988, 229–234.
§ 40
Micha
40.1.
Der Aufbau des Michabuches
Für die Gliederung des Michabuches ist die Abfolge von Unheils- und Heilsankündigung von entscheidender Bedeutung: Traditionell teilt man das Buch in die drei Sammlungen 1–2; 3–5 und 6–7 auf, wobei die Sammlungen jeweils mit Heilsankündigungen abgeschlossen werden (2,12–13; 4,1–5,14; 7,8–20). Da jedoch 2,12f. keine sehr markante Unterbrechung des ersten Unheilsankündigungsteiles (Mi 1–3) darstellt, ist es besser, von zwei Teilen des Michabuches (Mi 1–5; 6–7) auszugehen, die sich jeweils in einen Unheils- und Heilsabschnitt (Mi 1–3 und 4–5; Mi 6,1–7,7 und 7,8–20) untergliedern. Teil I enthält zunächst einen Unheilsabschnitt (Mi 1–3*), der auf eine vorexilische Komposition (das Heilswort von der Sammlung Israels 2,12 f. stellt allerdings eine exilisch-nachexilische Einfügung dar) zurückgehen dürfte. Ihm folgt der Heilsabschnitt Mi 4–5, der Worte aus exilisch-nachexilischer Zeit aufnimmt: Zu nennen sind hier vor allem die Ankündigung der Völkerwallfahrt zum Zion in 4,1–5, die auch in Jes 2,2–4 vorliegt, und die messianische Weissagung vom Zukunftsherrscher aus Bethlehem in 5,1–5*. Teil II des Buches, Mi 6–7, der in seiner Gesamtheit aus nachexilischer Zeit stammen dürfte, beginnt mit einem Unheilsabschnitt (6,1–7,7) der Gottes Rechtsstreit mit seinem Volk mit Geschichtsrückblick, Anklage und Strafankündigung enthält (darin in 6,8 die Kurzformel der göttlichen Forderung: „Es
392
Die Schriften des AT
ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Jahwe von dir fordert: Nichts anderes als Recht üben, Gemeinschaftssinn lieben und in Ehrfurcht wandeln mit deinem Gott“). Den abschließenden Heilsabschnitt (7,8–20) bildet eine prophetische Liturgie, in deren Zentrum in 7,11–13 eine Heilsankündigung für die Stadt Jerusalem steht.
40.2.
Die alte Michaüberlieferung
Da der zweite Teil des Michabuches (Mi 6–7) erst aus nachexilischer Zeit stammt und auch die Heilsankündigungen von Mi 4–5 sich erst der Botschaft der exilisch-nachexilischen Prophetie verdanken, liegt die alte auf den Propheten des 8. Jh. zurückzuführende Überlieferung ausschließlich in der Unheilsankündigung und in der Sozialkritik von Mi 1–3* vor (so seit Stade, anders Ben Zvi, der in Mi 1–3* mit keiner alten prophetischen Überlieferung rechnet).
40.3.
Person, Zeit und Ort des Auftretens des Propheten
Aus der alten Michaüberlieferung lassen sich folgende Angaben zur Person des Propheten entnehmen: Micha tritt etwa gleichzeitig mit Jesaja im Südreich auf. Er stammt jedoch nicht aus Jerusalem, sondern aus Moreschet-Gat im judäischen Hügelland, der Schefela (vgl. 1,1.14; Jer 26,18). 3,9 ff. setzt allerdings voraus, dass er auch in Jerusalem aufgetreten ist. Ob er dies als „Ortsältester“ (Wolff) getan hat, dürfte nicht mehr nachzuweisen sein. Als Zeit des Auftretens Michas gibt 1,1 die Regierungsjahre der judäischen Könige Jotam, Ahas und Hiskia (ca. 750–697) an. Mi 1,2–7 („Ich mache Samaria zu einem Trümmerhaufen“ V. 6) dürfte allerdings erst ein nachexilisches vaticinium ex eventu (Kessler) darstellen. 1,10–16 ist wohl auf die Situation des assyrischen Feldzugs gegen Jerusalem im Jahre 701 v. Chr. bezogen (Elliger). Beachtenswert ist auch, dass Jer 26,17–19 das Wort Michas, das die Zerstörung Jerusalems ankündigt, in die Zeit Hiskias (725–697) datiert. Micha ist also wohl in der Zeit zwischen ca. 740 und 700 v. Chr. aufgetreten. Eine genauere Eingrenzung ist kaum möglich.
Die prophetischen Bücher
40.4.
393
Die Sozialkritik
Der zentrale Kritikpunkt am Sozialverhalten besteht bei der alten Michaüberlieferung im Vorwurf des Rechtsbruchs (3,1–4; 3,9–12). In ähnlicher Weise wie bei Jesaja (5,8ff.) wird jedoch auch die Habgier der Oberschicht nach Haus- und Grundbesitz angegriffen (2,2): „Sie begehren Felder und rauben (sie), Häuser und nehmen (sie). Sie unterdrücken einen Mann und sein Haus, einen Menschen und seinen Erbbesitz.“ In besonderer Weise gilt die Kritik Michas den Führungsschichten Judas und Jerusalems (3,9.11), zu denen auch Priester und Propheten gehören (3,11). Vor allem wendet er sich dabei gegen Propheten (3,5–8), die auf Bestechung hin Heil weissagen. Schließlich stellt Micha – ähnlich wie Amos und Jesaja – auch das Erwählungsbewusstsein Israels in Frage, das sich in dem in 3,11 zitierten Ausspruch der „Häupter des Hauses Jakob“ äußert: „Ist nicht Jahwe in unserer Mitte? Unheil kommt nicht über uns!“
40.5.
Gerichtsankündigung
Angesichts dieser Schuld Israels kündigt die alte Michaüberlieferung die Zerstörung Jerusalems an (vgl. Mi 3,12: „Darum wird euretwegen Zion zum Feld umgepflügt, Jerusalem zum Trümmerhaufen und der Tempelberg dem Wild des Waldes übergeben werden“). Diese Ankündigung hat vor allem deswegen großen Eindruck hinterlassen, da man angesichts der Anwesenheit Jahwes im Tempel von Jerusalem damit rechnete, dass kein Unheil über Jerusalem kommen könne (3,11). So wird in Jer 26,18 f. auf dieses Wort Michas Bezug genommen. Dadurch soll Jeremia, der wegen seiner Ankündigung des Untergangs Jerusalems und des Tempels angeklagt ist, entlastet werden. Gleichzeitig versteht Jer 26 dieses Wort Michas als einem Aufruf zur Umkehr, dem man in der Zeit Hiskias gefolgt ist und durch den die von Jahwe geplante Zerstörung Jerusalems abgewendet werden konnte. Auch wenn Jer 26,18 f. keine Aussage über die ursprüngliche Intention von Mi 3,12 entnommen werden kann, so zeigt die Jeremiastelle doch, dass man später die Unheilsankündigung Michas als Umkehrruf interpretiert hat.
394
40.6.
Die Schriften des AT
Ausgewählte Literatur
Ben Zvi, E.: Micah, FOTL 21B, Grand Rapids (Mich.)/Cambridge 2000. Deissler, A.: Zwölf Propheten II: Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Würzburg 1984. Elliger, K.: Die Heimat des Propheten Micha, in: Kleine Schriften zum AT, München 1966, 9–71. Fohrer, G.: Micha, in: Studien zu atl. Texten und Themen, Berlin/New York 1981, 53–68. Fritz, V.: Das Wort gegen Samaria Mi 1,2–7, ZAW 86, 1974, 316–331. Jacobs, M.R.: The Conceptual Coherence of the Book of Micah, Sheffield 2001. Jeremias, J.: Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, ATD 24/3, Göttingen 2007. Kessler, R.: Micha, HThKAT, Freiburg 1999. –: Art. Micha/Michabuch, RGG4 5, 2002, 1201–1203. Lescow, T.: Micha 6,6–8. Studien zu Sprache, Form und Auslegung, Stuttgart 1966. –: Redaktionsgeschichtliche Analyse von Micha 1–5, ZAW 84, 1972, 46–85. –: Redaktionsgeschichtliche Analyse von Micha 6–7, ZAW 84, 1972, 182–212. –: Worte und Wirkungen des Propheten Micha, Stuttgart 1997. Metzner, G.: Kompositionsgeschichte des Michabuches, Frankfurt a. M.1998. McKane, W.: Micah: Introduction and Commentary, Edinburgh 1998. Oberforcher, R.: Das Buch Micha, NSKAT 24/2, 1995. Otto, E.: Art. Micha/Michabuch, TRE 22, 1992, 695–704. Renaud, B:. Structure et attaches littéraires de Michée IV-V, Paris 1964. –: La formation du livre de Michée, Tradition et actualisation, Paris 1977. Rudolph, W.: Micha – Nahum-Habakuk – Zephanja, KAT 13/3, Gütersloh 1975. Stade, B.: Bemerkungen über das Buch Micha, ZAW 1, 1881, 161–172. –: Streiflichter auf die Entstehung der jetzigen Gestalt der atl. Prophetenschriften, ZAW 23, 1903, 153–171. Utzschneider, M.: Michas Reise in die Zeit, Stuttgart 1999. Wagenaar, J.A.: Judgment and Salvation. The Composition and Redaction of Micah 2–5, Leiden 2001. Werner, W.: Micha 6,8 – eine atl. Kurzformel des Glaubens?, BZ NF 32, 1988, 232–248. Willi-Plein, I.: Vorformen der Schriftexegese innerhalb des AT. Untersuchungen zum literarischen Werden der auf Amos, Hosea und Micha zurückgehenden Bücher im hebräischen Zwölfprophetenbuch, Berlin/New York 1971. Willis, J.T.: The Structure of Micah 3–5 and the Function of Micah 5,9.14 in the Book, ZAW 81, 1969, 191–214. Wolff, H.W.: Dodekapropheton 4: Micha, BKAT 14/4, Neukirchen-Vluyn 1982. –: Wie verstand Micha von Moreschet sein prophetisches Amt?, in: Congress Volume Göttingen 1977, Leiden 1978, 403–417. Zapff, B.M.: Redaktionsgeschichtliche Studien zum Michabuch im Kontext des Dodekapropheton, Berlin/New York 1997.
Die prophetischen Bücher
§ 41
Nahum
41.1.
Aufbau des Nahumbuches
395
Das Buch setzt sich aus zwei Teilen zusammen: Teil I (1,2–2,3) enthält eine mit dem Zitat eines alphabetischen (Aleph-Kaph) Hymnus 1,2–8 eröffnete Disputationsrede, die die Hymnusaussage „Jahwe als Richter über seine Feinde und als Burg für die auf ihn Vertrauenden“ zum Thema hat (vgl. Drohwort an König von Assur in 1,14 und Verheißung an Juda in 1,12f. und auch in 2,1–3*). Teil II (2,4–3,19) kündigt den Untergang Ninives in 3 Drohworten (2,4–14; 3,1–7; 3,8–19*) an. Aufbauschema: 1,1 I. 1,2–2,3 II. 2,4–3,19
41.2.
Überschrift Disputationsrede Ankündigung des Untergangs Ninives
Entstehung des Buches
Alte auf den Propheten Nahum zurückzuführende Überlieferung liegt wohl nur in den Drohworten gegen Ninive in Teil II (2,4–3,19) vor. Die These von Jörg Jeremias, dass 1,11.14; 2,2f.; 3,1–5.8–11 ursprünglich gegen das eigene Volk gerichtete Nahumworte darstellten, erweist sich als nur schwer verifizierbar. 1,12–2,3* dürfte auf den Untergang Judas voraussetzende exilisch-frühnachexilische Bearbeitungen zurückgehen (vgl. auch die Beziehung zwischen 2,1 und Jes 52,7). Der Hymnus 1,2 ff. ist dann erst in nachexilischer Zeit (um 400 v. Chr.) an den Beginn des Buches gestellt worden (Seybold).
41.3.
Der Prophet Nahum
Über den Propheten Nahum teilt das Nahumbuch nur mit (1,1), dass er aus Elkosch stammt, dessen Lage unbekannt ist. Wenn es sich bei den Drohworten gegen Ninive in 2,4–3,19 nicht um vaticinia ex eventu handelt, sondern um zukunftsbezogene Prophezeiungen (Seybold), dann muss Nahum vor 612 v. Chr. aufgetreten sein: 3,8–19* setzt die Eroberung der ägyptischen Hauptstadt Theben durch die Assyrer im Jahre 663 v. Chr. voraus. Normalerweise rechnet man daher damit, dass Nahum um 650 v. Chr. gewirkt hat.
396
41.4.
Die Schriften des AT
Theologische Bedeutung
Die Prophezeiungen des Untergangs Ninives (2,4–3,19) sind im Rahmen des Gesamtbuches als Ankündigung des Gerichtes Gottes über die Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Weltmächte (vgl. Dan 2 und 7) verstanden. In diesem Sinne will das Nahumbuch zum Vertrauen auf die Macht Jahwes (vgl. 1,7 f.) aufrufen.
41.5.
Ausgewählte Literatur
Becking, B.: Divine Wrath and the Conceptual Coherence of the Book of Nahum, SJOT 9, 1995, 277–296. Deissler, A.: Zwölf Propheten II: Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, NEB, Würzburg 1984. Elliger, K.: Das Buch der zwölf Kleinen Propheten II: Die Propheten Nahum, Habakuk, Zephanja, Haggai, Sacharja, Maleachi, ATD 24/2 (1949), Göttingen 81982. Fabry, H.-J.: Nahum, HThKAT, Freiburg 2006. Floyd, M.H.: Minor Prophets 2, FOTL 22, Grand Rapids (Mich.) 2000. Gunkel, H.: Nahum 1, ZAW 13, 1893, 223–244. Hieke, T.: Der Anfang des Buches Nahum, BN 68, 1993,13–17; 69, 1993, 15–20. Jeremias, J.: Kultprophetie und Gerichtsverkündigung in der späten Königszeit Israels, Neukirchen-Vluyn 1970. Keller, C.A.: Die theologische Bewältigung der geschichtlichen Wirklichkeit in der Prophetie Nahums, VT 22, 1972, 399–419. Koeckert, M.: Art. Nahum/Nahumbuch, RGG4 6, 2003, 28–31. Nogalski, J.: The Redactional Shaping of Nahum 1 for the Book of the Twelve, in: P.R. Davies/D.J.A. Clines (Hg.), Among the Prophets, Sheffield 1993, 193–202. Perlitt, L.: Die Propheten Nahum, Habakuk, Zephanja, ATD 25/1, Göttingen 2004. Renaud, B.: La composition du livre de Nahum, ZAW 99, 1987, 198–219. Roberts, J.J.M.: Nahum, Habakkuk, and Zephaniah, OTL, London 1991. Rudolph, W.: Micha – Nahum – Habakuk – Zephanja, KAT 13/3, Gütersloh 1975. Schulz, H.: Das Buch Nahum. Eine redaktionskritische Untersuchung, Berlin/New York 1973. Seybold, K.: Profane Prophetie. Studien zum Buch Nahum, Stuttgart 1988. –: Nahum – Habakuk – Zephanja, ZBKAT 24/2, Zürich 1991. Spronk, K.: Acrostics in the Book of Nahum, ZAW 110, 1998, 209–222. –: Nahum, Historical Commentary on the OT, Kampen 1997. Sweeney, M.A.: Concerning the Structure and Generic Character of the Book of Nahum, ZAW 104, 1992, 364–377.
Die prophetischen Bücher
§ 42
Habakuk
42.1.
Aufbau des Habakukbuches
397
Das Buch gliedert sich in drei Abschnitte:
I.
1,1 1,2–2,5 1. 1,2–4 2. 1,5–11 3. 1,12–17 4. 2,1–5
II. III.
42.2.
2,6–20* 3,1–19
Überschrift Klagen des Propheten und Antworten Jahwes Klage über Gewalt in Juda Göttliche Ankündigung der Chaldäer als Strafwerkzeug („Reitervision“) Klage über die Gewalt der gottgesandten Chaldäer Göttliche Ankündigung des Endes aller Gewalttätigen und des Lebens der Gerechten Fünf Weherufe gegen die Babylonier Theophaniepsalm (mit neuer Überschrift 3,1: „Gebet des Propheten Habakuk“)
Entstehung des Buches
Mit alter Habakuküberlieferung ist vor allem in den Weherufen 2,6–20* zu rechnen. Dabei spricht einiges für die These von Jörg Jeremias und Eckart Otto, dass die Weherufe erst durch die exilische Einfügung von 2,6a.8.10b.13–14.17(.18–20) auf die Babylonier bezogen wurden: Ursprünglich enthielten sie Sozialkritik Habakuks an innerjudäischer Unterdrückung und Gewaltanwendung (vgl. auch Dietrich). Auch in Hab 1,2–2,5* ist ein auf Habakuk zurückgehender Kernbestand anzunehmen, der die Babylonier als Strafwerkzeug Jahwes gegen die soziale Unterdrückung in Juda ankündigt (vgl. vor allem die „Reitervision“ in 1,5–11; anders Seybold, der die ursprüngliche „Reitervision“ auf „skythische Reitervölker“ bezieht). In der Exilszeit wurde dann die Prophetie Habakuks zu einer Gerichtsankündigung gegen Babylon uminterpretiert (vgl. u. a. die jetzt in 1,12–17 vorliegende Klage gegen Babylon und die oben genannten Zusätze in 2,6–20). Durch die Zufügung des Theophaniepsalms Hab 3 ist schließlich in nachexilischer Zeit die Botschaft des Habakukbuches universalisiert und eschatologisiert worden (vgl. Otto).
398
42.3.
Die Schriften des AT
Der Prophet Habakuk
Die im Kernbestand des Habakukbuches vorliegende Erwartung der Babylonier als Strafwerkzeug gegen die soziale Unterdrückung in Juda ist am ehesten in der Regierungszeit Jojakims (608–598 v. Chr.) vorstellbar. Auf jeden Fall setzt die alte Habakuküberlieferung die erste Einnahme Jerusalems durch Nebukadnezar 597 v. Chr. noch nicht voraus. Weitere – historisch allerdings nicht verwertbare – Aussagen über Habakuk finden sich in der Septuaginta: In den Danielerzählungen der LXX wird als Quelle für die Geschichte von Bel und dem Drachen in der Überschrift die Prophezeiung des Habakuk, des Sohnes des Jesus aus dem Stamme Levi, angegeben. Außerdem berichten V. 33–39 dieser deuterokanonischen Erzählung, dass der in Juda lebende Prophet Habakuk durch den Engel Jahwes nach Babylon entrückt wird, um Daniel in der Löwengrube Essen zu bringen.
42.4.
Theologische Bedeutung
Im Mittelpunkt sowohl der Verkündigung des Propheten Habakuk als auch der exilischen und nachexilischen Bearbeitungsschichten des Habakukbuches steht die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts der Erfahrung innerweltlicher Ungerechtigkeit. Die Verheißung von 2,4: „der Gerechte bleibt durch seine Treue am Leben“ ist dabei allerdings nur als eschatologische Hoffnung festzuhalten (vgl. 2,3 und auch Röm 1,17).
42.5.
Ausgewählte Literatur
Albertz, R.: Die Exilszeit, Stuttgart 2001. –: Exilische Heilsversicherung im Habakukbuch, in: FS P. Weimar, Münster 2003, 1–20. Andersen, F.I.: Habakkuk, AncB 25, New York 2001. Deissler, A.: Zwölf Propheten II: Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, NEB, Würzburg 1984. Dietrich, W.: Habakuk – ein Jesajaschüler, in:„Theopolitik“. Studien zur Theologie und Ethik des AT, Neukirchen-Vluyn 2002, 255–269. Elliger, K.: Das Buch der zwölf Kleinen Propheten II: Die Propheten Nahum, Habakuk, Zephanja, Haggai, Sacharja, Maleachi, ATD 24/2 (1949), Göttingen 81982. Floyd, M.H.: Minor Prophets 2, FOTL 22, Grand Rapids (Mich.) 2000. ZAW 98, 1986, 400–415. Gunneweg, A.H.J.: Habakuk und das Problem des leidenden sdjq, . Haak, R.D.: Habakuk, Leiden 1992.
Die prophetischen Bücher
399
Jeremias, J.: Kultprophetie und Gerichtsverkündigung in der späten Königszeit Israels, Neukirchen-Vluyn 1970. Jöcken, P.: Das Buch Habakuk. Darstellung seiner kritischen Erforschung mit einer Beurteilung, Bonn 1977. Koenen, K.: Heil den Gerechten – Unheil den Sündern! Ein Beitrag zur Theologie der Prophetenbücher, Berlin/New York 1994. Otto, E.: Die Stellung der Wehe-Worte in der Verkündigung des Propheten Habakuk, ZAW 89, 1977, 73–107. –: Art. Habakuk/Habakukbuch, TRE 14, 1985, 300–306. –: Die Theologie des Buches Habakuk, VT 35, 1985, 274–295. –: Art. Habakuk/Habakukbuch, RGG4 3, 2000, 1360–1362. Perlitt, L.: Die Propheten Nahum, Habakuk, Zephanja, ATD 25/1, Göttingen 2004. Roberts, J.J.M.: Nahum, Habakkuk, and Zephaniah, OTL, London 1991. Rudolph, W.: Micha-Nahum-Habakuk-Zephanja, KAT 13/3, Gütersloh 1975. Seybold, K.: Nahum – Habakuk – Zephanja, ZBKAT 24/2, Zürich 1991. Sweeney, M.A.: Structure, Genre and Intent in the Book of Habakkuk, VT 41, 1991, 63–83.
§ 43
Zefanja
43.1.
Aufbau des Zefanjabuches
Das Zefanjabuch ist nach dem dreigliedrigen eschatologischen Schema (anders zuletzt Floyd und Irsigler) aufgebaut:
I. II. III.
1,1 1,2–2,3 2,4–3,8 3,9–20
Überschrift Vor allem Drohworte gegen das Gottesvolk Vor allem Drohworte gegen Fremdvölker Heilsworte für Israel und die Völker
Teil I kritisiert dabei den Gestirn- und den Baalskult in Juda und Jerusalem (1,4–6*), die Gewalt und den Betrug, die durch die Beamten und den Königshof verübt werden (1,8–9*), und kündigt wegen dieser Vergehen das Gericht des „Tages Jahwes“ (1,14–16*) an. In Teil II richten sich die Fremdvölkersprüche im Einzelnen gegen die Philister (2,4–7*), gegen die Moabiter und Ammoniter (2,8–11*), gegen die Kuschiter (2,12*) und gegen die Assyrer (2,13–15*). 3,1–8 enthalten Sprüche gegen Jerusalem, gegen das in 3,8 Jahwe die Völker versammelt. Ziel des Versammelns der Völker ist allerdings jetzt, dass Jahwe seinen Zorn auf „sie“ (= die Völker) ausgießen kann (ursprünglich wohl „ihr“ = die Jerusalemer).
400
Die Schriften des AT
Die Heilsworte in Teil III kündigen in 3,9 f.*. zunächst die Wandlung der Völker zu Jahweverehrern an (vgl. 2,11), dann sprechen 3,11–13 von einem „Rest Israels“, der aus Armen und Geringen bestehen wird, außerdem ruft 3,14 f. zur Freude über Jahwes Königsherrschaft auf. Schließlich verheißen 3,16–20 Jahwes Gegenwart in Jerusalem, die Sammlung der Exulanten und die zukünftige Ehrenstellung Israels unter den Völkern.
43.2.
Entstehung des Buches
Mit alter Überlieferung, die auf den Propheten Zefanja zurückzuführen ist, ist am ehesten in den Teilen I (1,2–2,3*) und II (2,4–3,8*) zu rechnen (anders Ben Zvi, der zwar altes vorexilisches Spruchgut annimmt, das aber in keiner Beziehung zu einem Propheten Zefanja steht). Von einem vordeuteronomistischen Zefanjabuch 1,3–3,8* geht Marco Striek aus. Heilserwartungen sind der Zefanjaüberlieferung wohl erst in exilisch-nachexilischer Zeit zugewachsen. Dabei dürfte die Hoffnung auf einen aus „Armen“ bestehenden Rest Israels (3,11–13) sich der frühnachexilischen Redaktion des Zefanjabuches verdanken. Auf nachexilische protoapokalyptische Bearbeitungen sind wohl die Nachträge in 3,16–20 und auch die heilsuniversalistischen Verse in 2,11 und 3,9–10 zurückzuführen.
43.3.
Der Prophet Zefanja
Nach Zef 1,1 hat der Prophet zur Zeit des Königs Josia (639–609) gewirkt. Aufgrund der Kritik am Götzendienst in Juda (1,4–6*) nimmt man an, dass er in der Zeit vor der Josiareform (622 v. Chr.) aufgetreten ist (anders Seybold, der an die spätjosianische Zeit denkt). Auch vermutet man, dass die Nichterwähnung des Königs in der Kritik am Jerusalemer Hof (1,8–9) auf die frühen Regierungsjahre des als Achtjährigen gekrönten Königs hindeute. Daher wird Zefanjas Wirkungszeit normalerweise um das Jahr 630 v. Chr. angesetzt. Wegen seiner guten geographischen Kenntnis Jerusalems (vgl. 1,10 f.*) hält man Zefanja meist für einen Jerusalemer. Als Ururgroßvater Zefanjas nennt 1,1 Hiskia. Die Vermutung, dass Zefanja ein Nachkomme des judäischen Königs Hiskia sei, ist jedoch durch nichts zu begründen (vgl. zur Häufigkeit des Namens Hiskia u. a. 1Chr 3,23; Neh 7,21; 10,18). Auch ist seinem Vaternamen „Kuschi“ keine ausländische Abstammung zu entnehmen.
Die prophetischen Bücher
43.4.
401
Theologische Bedeutung
Wie Jesaja versteht Zefanja den „Tag Jahwes“ als Gericht über menschlichen Hochmut (1,16), wie er sich in besonderer Weise bei der Jerusalemer Oberschicht und ihrem Sozialverhalten (vgl. nur 1,8–9; 1,10–11) zeigt. Die frühnachexilische Buchredaktion erwartet daher die aus Gnade geschehende Rettung eines „Restes Israels“, der aus „Armen und Geringen“ bestehen wird (3,11–13). Besonders beachtenswert ist, dass die spätnachexilische Bearbeitung des Buches damit rechnet, dass auch die Völker zu Jahweverehrern (2,11 und 3,9–10) und damit mit zu Angehörigen des durch Jahwes Gnade geschaffenen Gottesvolkes werden.
43.5.
Ausgewählte Literatur
Beck, M.: Der „Tag YHWHs“ im Dodekapropheton, Berlin/New York 2005. Ben Zvi, E.: A Historical-Critical Study of the Book of Zephaniah, Berlin/New York 1991. Deissler, A.: Zwölf Propheten III: Zefanja – Haggai – Sacharja – Maleachi, NEB, Würzburg 1988. Dietrich, W.: Die Kontexte des Zefanjabuches, in: „Theopolitik“. Studien zur Theologie und Ethik des AT, Neukirchen-Vluyn 2002, 224–238. Edler, R.: Das Kerygma des Propheten Zefanja, Freiburg 1984. Elliger, K.: Das Buch der zwölf Kleinen Propheten II: Die Propheten Nahum, Habakuk, Zephanja, Haggai, Sacharja, Maleachi, ATD 24/2 (1949), Göttingen 81982. Floyd, M.H.: Minor Prophets 2, FOTL 22, Grand Rapids (Mich.) 2000. House, P.R.: Zephaniah. A Prophetic Drama, Sheffield 1988. Irsigler, H.: Gottesgericht und Jahwetag. Die Komposition Zef 1,1–2,3 untersucht auf der Grundlage der Literarkritik des Zefanjabuches, St. Ottilien 1977. –: Zefanja, HThKAT, Freiburg 2002. Krinetzki, G.: Zefanjastudien, Frankfurt a. M./Bern 1977. Lohfink, N.: Zefanja und das Israel der Armen, BiKi 39, 1984, 100–108. Neef, H.-D.: Vom Gottesgericht zum universalen Heil. Komposition und Redaktion des Zephanjabuches, ZAW 111, 1999, 530–546. Nogalski, J.D.: Zephaniah 3. A Redactional Text for a Developing Corpus, in: FS G.H. Steck, Berlin/New York 2000, 207–218. Oeming, M.: Gericht Gottes und Geschicke der Völker nach Zef 3,1–13, in: Verstehen und Glauben. Exegetische Bausteine zu einer Theologie des AT, Berlin/Wien 2003, 219–230. Perlitt, L.: Die Propheten Nahum, Habakuk, Zephanja, ATD 25/1, Göttingen 2004. Roberts, J.J.M.: Nahum, Habakkuk, and Zephaniah, OTL, London 1991. Rudolph, W.: Micha – Nahum – Habakuk – Zephanja, KAT 13/3, Gütersloh 1975.
402
Die Schriften des AT
Ryou, D.H.: Zephania’s Oracles against the Nations, Leiden 1995. Scharbert, J.: Zefanja und die Reform des Joschija, in: FS J. Schreiner, Würzburg 1982, 237–253. Seybold, K.: Satirische Prophetie. Studien zum Buch Zefanja, Stuttgart 1985. –: Nahum – Habakuk – Zephanja, ZBKAT 24/2, 1991. Spieckermann, H.: Dies irae: Der atl. Befund und seine Vorgeschichte, VT 39, 1989, 194–208. Striek, M.: Das vordeuteronomistische Zephanjabuch, Frankfurt a. M. 1999. Vlaardingerbroek, J.: Zephaniah, Historical Commentary on the OT, Leuven 1999. Weigl, M.: Zefanja und das „Israel der Armen“. Eine Untersuchung zur Theologie des Buches Zefanja, Klosterneuburg 1994. Weimar, P.: Zefanja – Aufbau und Struktur einer Prophetenschrift, UF 29, 1997, 723–774.
§ 44
Haggai
44.1.
Aufbau des Haggaibuches
Das Buch Haggai setzt sich aus vier Abschnitten zusammen, die jeweils mit einer Zeitangabe (bezogen auf die Regierungsjahre des Perserkönigs Darius) und der Wortereignisformel eingeleitet werden. I.
II.
1,1–15a
Mahnung zum Tempelbau (in 1,12–15a: Erzählung über die Aufnahme des Tempelbaus durch den Statthalter Serubbabel und den Hohenpriester Jeschua)
1,15b + 2,1–9 Weissagung der eschatologischen Herrlichkeit des neuen Tempels (mit Schätzen, die von den Völkern zum Zion gebracht werden)
III.
2,10–19
Deutung der Grundsteinlegung des Tempels als Ende der Unreinheit des Volkes und als Beginn der Segenszeit
IV.
2,20–23
Weissagung des eschatologischen Königtums Serubbabels
Bemerkenswert ist, dass die Abschnitte I und III einander zugeordnet sind: In beiden Abschnitten wird das Jahwewort mit „So hat Jahwe Zebaot gesprochen“ (1,2 und 2,11) eingeleitet. Entsprechendes gilt für die Abschnitte II und IV: In beiden beginnt das Jahwewort mit „Sprich zu Serubbabel“ (2,2 und 2,21).
Die prophetischen Bücher
44.2.
403
Entstehung des Buches
Zu unterscheiden sind im Haggaibuch die Worte Haggais von dem Rahmen (vgl. dazu 1,1–3*.12–15*; 2,1–2*.4–5*.10–11*.20*.23b), der wahrscheinlich auf eine dem Chronisten nahestehende Komposition zurückgeht (Beuken). Umstritten ist die These von Tim Unger, dass auch 2,10–14 (priesterliche Tora von der ansteckenden Unreinheit) zu dieser chronistischen Redaktion gehöre und die Tempelgründung der Samaritaner auf dem Garizim zur Zeit Alexanders des Großen ablehne. Überhaupt ist die neuere Forschung zurückhaltend gegenüber einer Beziehung von 2,10–14 auf die Samaritaner (Koch, Steck). Nicht sicher nachzuweisen ist auch die häufig vertretene Auffassung (vgl. noch Wolff), dass 2,15–19 (Grundsteinlegung des neuen Tempels als Wende zum Segen) ursprünglich hinter 1,15a gestanden habe.
44.3.
Die Person des Propheten
Über die Herkunft Haggais finden sich im AT keine Aussagen (außerhalb des Haggaibuches wird er nur in Esr 5,1; 6,14 zusammen mit Sacharja als Befürworter des Baus des Zweiten Tempels erwähnt). Nach den redaktionellen Notizen in 1,1 und 2,10.20 sind Haggais prophetische Offenbarungen in der Zeit vom 29.8.520 und dem 18. 12. 520 ergangen.
44.4.
Theologische Bedeutung
Haggai verkündet die Botschaft, dass das von den früheren Propheten erwartete Heil eintreten werde, wenn der neue Tempel aufgebaut ist (1,4–11; 2,1–9*; 2,15–19). Ihm gelingt es dadurch, sowohl den persischen Kommissar Serubbabel (Enkel des Davididen Jojachin) als auch den Hohenpriester Jeschua zum Beginn des Tempelneubaus zu bewegen (1,12–14). Schließlich kündigt Haggai in 2,20–23 dem Serubbabel die endzeitliche messianische Würde an, nachdem Gott selbst durch Zerschlagung der Kriegswerkzeuge der Völker das eschatologische Friedensreich geschaffen hat (vgl. oben § 31.7.7.1.). Auch wenn sich Haggai mit dieser Naherwartung geirrt hat, ist es ihm doch gelungen, in der Krisensituation der frühen Nachexilszeit an der Hoffnung auf Gottes eschatologisches Eingreifen festzuhalten.
404
44.5.
Die Schriften des AT
Ausgewählte Literatur
Beuken, W.A.M.: Haggai – Sacharja 1–8. Studien zur Überlieferungsgeschichte der frühnachexilischen Prophetie, Assen 1967. Beyse, K.-M.: Serubbabel und die Königserwartungen der Propheten Haggai und Sacharja, Stuttgart 1972. Deissler, A.: Zwölf Propheten III: Zefanja – Haggai – Sacharja – Maleachi, NEB, Würzburg 1988. Elliger, K.: Das Buch der zwölf Kleinen Propheten II: Die Propheten Nahum, Habakuk, Zephanja, Haggai, Sacharja, Maleachi, ATD 14/2 (1949), Göttingen 81982. Floyd, M.H.: Minor Prophets 2, FOTL 22, Grand Rapids (Mich.) 2000. Galling, K.: Serubbabel und der Hohepriester beim Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem, in: Studien zur Geschichte Israels im persischen Zeitalter, Tübingen 1954, 127–148. Kessler, J.: The Book of Haggai. Prophecy and Society in Early Persian Yehud, Leiden 2002. Koch, K.: Haggais unreines Volk, in: Spuren hebräischen Denkens, Neukirchen-Vluyn 1991, 206–219. Mason, A.: The Purpose of the ‚Editorial Framework‘ of the Book of Haggai, VT 27, 1977, 413–421. Meyers, C.L.:Art. Haggai/Haggaibuch, RGG4 3, 2000,1374–1376. –/Meyers, E.M.: Haggai – Zechariah 1–8, AncB 25B, New York 1987. Petersen, D.L.: Haggai and Zechariah 1–8, OTL, London 1985. Reventlow, H. Graf: Die Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi, ATD 25/2, Göttingen 1993. Rudolph, W.: Haggai – Sacharja 1–8 – Sacharja 9–14 – Maleachi, KAT 13/4, Göttingen 1976. Sauer, G.: Serubbabel in der Sicht Haggais und Sacharjas, in: FS L. Rost, Berlin 1967, 199–207. Seybold, K.: Die Königserwartung bei den Propheten Haggai und Sacharja, Jud 28, 1972,69–78. Steck, O.H.: Zu Haggai 1,2–11, ZAW 83, 1971, 355–379. Unger, T.: Noch einmal Haggais unreines Volk, ZAW 103, 1991, 210–225. Wolff, H.W.: Art. Haggai/Haggaibuch, TRE 14, 1985, 355–360. –: Dodekapropheton 6: Haggai, BKAT 14/6, Neukirchen-Vluyn 1986.
Die prophetischen Bücher
§ 45
Protosacharja (Sach 1–8)
45.1.
Aufbau von Sach 1–8
405
Sach 1–8 wird wie Hag 1–2 durch einen aus einer Zeitangabe (bezogen auf die Regierungsjahre des Darius) und der Wortereignisformel bestehenden Einleitungssatz gegliedert, und zwar in die folgenden unterschiedlich langen Abschnitte: A B
1,1–6 (Oktober/November 520): 1,7–6,15 (15. Februar 519):
C
7,1–8,23 (7. Dezember 518):
Umkehrpredigt Komposition aus Visionen und Einzelworten Fastenfrage
A und C bilden dabei den Rahmen um den sich vor allem aus 8 Visionen zusammensetzenden Mittelteil B: Vision I: Vision II: Vision III: Vision IV:
1,8–15 2,1– 4 2,5–9 3,1–7
Reiter Hörner und Schmiede Mann mit Messschnur Der Hohepriester Jeschua vor dem himmlischen Gericht Vision V: 4,1–6a.10b–14 Leuchter zwischen zwei Ölbäumen Vision VI: 5,1– 4 Fluchbeladene fliegende Schriftrolle Vision VII: 5,5–11 Frau im Kornmaß Vision VIII: 6,1–8 Wagen Zwischen die Visionen eingefügt sind die Einzelworte 1,16 f.; 2,10–17; 3,8–10 (an Jeschua); 4,6aß–7 + 8–10a (an Serubbabel). Abgeschlossen wird die Komposition von 1,7–6,15 mit der Zeichenhandlung einer symbolischen Krönung Jeschuas in 6,9–15.
45.2.
Entstehungsgeschichte des Buches
Wie im Haggaibuch geht auch in Sach 1–8 der Rahmen von 1,1; 1,7 und 7,1 auf einen dem Chronisten nahestehenden Redaktor zurück (Beuken). Auf ihn dürfte auch die Umkehrpredigt von 1,1–6, die im Widerspruch zur unbedingten Verheißung der Nachtgesichte von 1,7–6,8* steht, zurückzuführen sein (wahrscheinlich auch 7,7–14 und 8,9–17). Im Widerspruch zu den wohl dem Propheten Sacharja zuzuschreibenden sieben Nachtgesichten steht auch die Vision IV (der Hohepriester Jeschua vor dem
406
Die Schriften des AT
himmlischen Gericht: 3,1–7): Hier fehlt anders als in den sonstigen Visionen der Deuteengel („angelus interpres“), so dass der Visionär zum unbeteiligten Zuschauer wird. Auch der Bericht von der Krönung des Hohenpriesters Jeschua in 6,9–15 dürfte in der vorliegenden Form nicht der Symbolhandlung Sacharjas entsprechen: Wie 6,13b zeigt, ist hier ursprünglich eine neben dem Hohenpriester stehende Person zum „Messias“ gekrönt worden (Serubbabel?, vgl. auch oben § 31.7.7.).
45.3.
Die Person Sacharjas
Nach 1,1 und 7,1 fällt die Wirksamkeit Sacharjas in die Zeit zwischen dem Oktober/November 520 und dem Dezember 518. Esr 5,1 und 6,14 sehen Sacharja als Zeitgenossen Haggais an, der mit ihm zusammen den Wiederaufbau des Tempels durchgesetzt hat. Nach Neh 12,16 ist Sacharja offensichtlich Priester gewesen. Umstritten ist, ob die Nennung des Vaternamens Berechja in 1,1 und 1,7 auf eine Verwechslung mit dem in Jes 8,2 erwähnten Sacharja zurückgeht; Esr 5,1; 6,14 bezeichnen den Propheten von Sach 1–8 nämlich als „Sohn des Iddo“.
45.4.
Die Botschaft Sacharjas
Die Verkündigung Sacharjas ist vor allem den sieben Nachtgesichten zu entnehmen, die wohl in ihrem Grundbestand auf den Propheten zurückgehen (vgl. Formulierung in 1. Person). Während die Reitervision (1,8–15) zeigt, dass die Welt äußerlich noch in Ruhe ist, weist Vision II (vier Hörner und vier Schmiede, 2,1– 4) auf die göttliche Unterwerfung der Weltmächte hin. Vision III (2,5–9: Mann mit Messschnur) wendet sich Jerusalem zu und erklärt, dass die heilige Stadt keine Mauer haben und von Jahwes „Herrlichkeit“ allein beschützt werden wird. Im Mittelpunkt der sieben Nachtgesichte steht die Messiaserwartung der Vision von 4,1–6a.10b–14: Neben dem Leuchter, der die Allgegenwart Jahwes symbolisiert, stehen zwei Ölbäume, die die beiden Ölsöhne (= „Gesalbten“) Israels versinnbildlichen: Hier wird für die wohl als unmittelbar bevorstehend angesehene Heilszeit mit einer Gewaltenteilung zwischen einem politischen und einem priesterlichen Messias gerechnet (vgl. auch 6,13). Die beiden folgenden Visionen 5,1–4 (fluchbeladene Schriftrolle) und 5,5–11 (Frau im Kornmaß) kündigen die Beseitigung des Bösen aus der israelitischen Gemeinde an: Durch die Fluchworte wird die Gemeinde von Übeltätern gereinigt. In entsprechender Weise wird die durch die Frau im Kornmaß symbolisierte Gottlosigkeit außer Landes (nach Babylon) gebracht.
Die prophetischen Bücher
407
Schließlich stellt die letzte Vision 6,1–8 in Kontrast zur ersten Vision 1,8–15 den baldigen Anbruch der Heilszeit in Aussicht. Die vier Wagen bringen Gottes Botschaft in die vier Richtungen der Welt hinaus, wobei die den Geist Jahwes in das Nordland bringenden Wagen wohl die babylonische Gola zu einer allgemeinen Rückkehr bewegen wollen. In diesem Zusammenhang ist jedoch auch zu beachten, dass nach 2,15 (vgl. auch 8,20–22) sich in der Heilszeit viele Völker Jahwe anschließen und zu seinem Volk gehören werden.
45.4.
Ausgewählte Literatur
Bauer, L.: Zeit des Zweiten Tempels – Zeit der Gerechtigkeit. Zur sozio-ökonomischen Konzeption im Haggai – Sacharja – Maleachi – Korpus, Frankfurt a. M. 1992. Beuken, W.A.M.: Haggai – Sacharja 1–8. Studien zur Überlieferungsgeschichte der frühnachexilischen Prophetie, Assen 1967. Beyse, K.-M.: Serubbabel und die Königserwartungen der Propheten Haggai und Sacharja, Stuttgart 1972. Deissler, A.: Zwölf Propheten III: Zefanja – Haggai – Sacharja – Maleachi, NEB, Würzburg 1988. Delkurt, H.: Sacharjas Nachtgesichte. Zur Aufnahme und Abwandlung prophetischer Traditionen, Berlin/New York 2000. Elliger, K.: Das Buch der zwölf Kleinen Propheten II: Die Propheten Nahum, Habakuk, Zephanja, Haggai, Sacharja, Maleachi, ATD 24/2 (1949), Göttingen 81982. Floyd, M.H.: Minor Prophets 2, FOTL 22, Grand Rapids (Mich.) 2000. Galling, K.: Die Exilswende in der Sicht des Propheten Sacharja, in: Studien zur Geschichte Israels im persischen Zeitalter, Tübingen 1964, 109–126. Gese, H.: Anfang und Ende der Apokalyptik, dargestellt am Sacharjabuch, in: Vom Sinai zum Zion, München 31990, 202–230. Hanhart, R.: Dodekapropheton 7.1: Sacharja 1–8, BKAT 14/7.1, Neukirchen-Vluyn 1998. Jeremias, C.: Die Nachtgesichte des Sacharja, Göttingen 1977. Lux, R.: Prophetic und Zweiter Tempel, Tübingen 2009. Meyers, C.L./Meyers, E.M.: Haggai – Zechariah 1–8, AncB 25B, New York 1987. Petersen, D.L.: Haggai and Zechariah 1–8, OTL, London 1985. Reventlow, H. Graf: Die Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi, ATD 25/2, Göttingen 1993. Rudolph, W.: Haggai – Sacharja 1–8 – Sacharja 9–14 – Maleachi, KAT 13/4, Gütersloh 1976. Sauer, G.: Serubbabel in der Sicht Haggais und Sacharjas, in: FS L. Rost, Berlin 1967, 199–207. Schöttler, G.: Gott inmitten seines Volkes. Die Neuordnung des Gottesvolkes nach Sacharja 1–6, Trier 1987. Seybold, K.: Die Königserwartung bei den Propheten Haggai und Sacharja, Jud 28, 1972, 69–78. –: Bilder zum Tempelbau. Die Visionen des Propheten Sacharja, Stuttgart 1974. –: Die Bildmotive in den Visionen des Propheten Sacharja, in: Die Sprache der Propheten. Studien zur Literaturgeschichte der Prophetie, Zürich 1999, 216–232.
408
Die Schriften des AT
Uehlinger, C.: Die Frau im Efa (Sach 5,5–11). Eine Programmvision von der Abschiebung der Göttin, BiKi 49, 1994, 93–103. Wallis, G.: Die Nachtgesichte des Sacharja. Zur Idee einer Form, in: J.A. Emerton u. a. (Hg.), Congress Volume Göttingen 1977, Leiden 1978, 377–391. Woude, A.S. van: Serubbabel und die messianischen Erwartungen des Propheten Sacharja, ZAW 100, 1988 Suppl., 138–156.
§ 46
Deutero- und Tritosacharja (Sach 9–11 und 12–14)
46.1.
Aufbau von Sach 9–14
Wie auch das Maleachibuch werden Sach 9–11 und 12–14 jeweils mit der Überschrift „Ausspruch. Wort Jahwes“ eingeleitet. Ähnlich wie beim Jesajabuch bezeichnet die atl. Forschung die beiden Anhänge an das Sacharjabuch als Deutero(9–11) bzw. Tritosacharja (12–14). Beide Anhänge unterscheiden sich auch dadurch, dass Sach 9–11 poetisch geformt ist, während es sich bei Sach 12–14 überwiegend um Prosa handelt. Sach 9–11 (Deuterosacharja) läßt sich in vier Teile gliedern: I. II. III. IV.
9,1–8
Wort über Israels Nachbarvölker (Prophetie im Rückblick auf den Alexanderzug) 9,9–17 Ankündigung des kommenden Friedens (mit Weissagung eines „armen“Messias in 9,9f.) 10,1–11,3 Drohworte gegen die Hirten der Völkerwelt 11,4–17 Hirtenallegorie gegen die Führer der Jahwegemeinde
Sach 12–14 (Tritosacharja) setzt sich aus drei Abschnitten zusammen: I.
II. III.
12,1–13,6 Verheißung von Jerusalems Rettung vor dem Völkerkampf und von seiner Reinigung von Götzendienst und ekstatischer Prophetie (darin 12,9-14: Klage über den „Durchbohrten“). 13,7–9 Ankündigung des Todes des Hirten und der Läuterung des Restes Israels 14,1–21 Verheißung des Tages Jahwes (mit Rettung vor dem Völkerkampf nach Eroberung Jerusalems) und der Gottesherrschaft über die ganze Erde.
Die prophetischen Bücher
46.2.
409
Entstehungsgeschichte von Sach 9–14
Sach 9 ff. geht nicht auf die gleiche Hand zurück wie die Grundschicht von Sach 1–8: Während in Sach 1–8* ein Bezug auf den Propheten Sacharja und die Situation von 520–518 v. Chr. vorliegt, verstehen Sach 9,1 und 12,1 den Inhalt von Sach 9–11 und 12–14 als anonyme Prophetie. Auch bilden weder die deuterosacharjanischen (Sach 9–11) noch die tritosacharjanischen Texte (Sach 12–14) jeweils eine einheitliche Schicht: Dies zeigen die gesamtisraelitischen Vorstellungen von 9,1–11,3 gegenüber den judazentrierten von 11,4–17 bei „Deuterosacharja“ und die unterschiedlichen Anschauungen vom endzeitlichen Völkerkampf in Sach 12 und 14 bei „Tritosacharja“. Bei Sach 9–14 handelt es sich somit um Fortschreibungen von Sach 1–8, die sukzessiv in der nachexilischen Zeit entstanden sind. Dabei dürften die Texte von Sach 9–11 („Deuterosacharja“) im letzten Drittel des 4. Jh. v. Chr. und am Beginn des 3 Jh. v. Chr. entstanden sein. Für die Texte „Tritosacharjas“ (Sach 12–14) legt sich demgegenüber eine Abfassung im Laufe des 3. Jh. v. Chr. nahe.
46.3.
Theologische Bedeutung von Sach 9–14
Wirkungsgeschichtlich sind vor allem die eschatologischen Vorstellungen von Sach 9–14 von Bedeutung: Sowohl die deuterosacharjanischen als auch die tritosacharjanischen Texte rechnen dabei wie Sach 1–8 mit einer Teilhabe auch der nichtisraelitischen Völker am endzeitlichen Heil (vgl. 9,7 und 14,16). Noch wichtiger ist in Sach 9–11 die messianische Vorstellung von Sach 9,9 f.: Hier wird ein „armer“, ohnmächtiger König der Heilszeit erwartet, der durch das „Verkünden des Friedens“ gegenüber den Völkern ein Weltreich des Friedens schaffen wird (vgl. auch oben § 31.7.8.). Auch in Sach 12–14 liegt in 12,9–14 ein „messianischer Text“ vor (vgl. die besondere Erwähnung des Hauses David in 12,12). Bei der die Haltung Jerusalems verwandelnden Klage über den „Durchbohrten“ geht es offensichtlich um eine Erfüllung von Jes 52,13–53,12: Der leidende Gottesknecht wird in Sach 12,9–14 als „messianische“ Gestalt verstanden, durch deren Leiden das Gottesvolk mit seinem Gott versöhnt wird (vgl. auch Joh 19,37).
46.4.
Ausgewählte Literatur
Deissler, A.: Zwölf Propheten III: Zefanja – Haggai – Sacharja – Maleachi, NEB, Würzburg 1988. Elliger, K.: Das Buch der zwölf Kleinen Propheten II: Die Propheten Nahum, Habakuk, Zephanja, Haggai, Sacharja, Maleachi, ATD 24/2 (1949), Göttingen 81982.
410
Die Schriften des AT
Floyd, M.H.: Minor Prophets 2, FOTL 22, Grand Rapids (Mich.) 2000. Kunz, A.: Ablehnung des Krieges. Untersuchungen zu Sacharja 9 und 10, Freiburg 1998. Larkin, K.: The Eschatology of Second Zechariah, Kampen 1994. Lutz, H.-M.: Jahwe, Jerusalem und die Völker. Zur Vorgeschichte von Sach 12,1–8 und 14,1–5, Neukirchen-Vluyn 1968. Meyers, C.L./Meyers, E.M.: Zechariah 9–14, AncB 25C, New York 1993. Otzen, B.: Studien über Deuterosacharja, Kopenhagen 1964. Petersen, D.L.: Zechariah 9–14 and Malachi, OTL, London 1995. Reventlow, H. Graf: Die Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi, ATD 25/2, Göttingen 1993. Rudolph, W.: Haggai – Sacharja 1–8 – Sacharja 9–14 – Maleachi, KAT 13/4, Gütersloh 1976. Saebø, M.: Sacharja 9–14. Untersuchungen von Text und Form, Neukirchen-Vluyn 1969. Steck, O.H.: Der Abschluß der Prophetie im Alten Testament. Ein Versuch zur Frage der Vorgeschichte des Kanons, Neukirchen-Vluyn 1991. Tai, N. Ho Fai, Prophetie als Schriftauslegung in Sach 9–14, Stuttgart 1996. Willi-Plein, I.: Prophetie am Ende. Untersuchungen zu Sach 9–14, Köln 1974.
§ 47
Maleachi
47.1.
Aufbau des Maleachibuches
Das Maleachibuch setzt sich aus sechs Disputationsworten zusammen, die jeweils vier Elemente enthalten (1. Behauptung, 2. Bestreitung dieser Behauptung durch die Angeredeten, 3. Entfaltung und Begründung der Behauptung, 4. Folgerungen). Im einzelnen geht es bei den sechs Disputationsworten um folgende Themen: I.
1,2–5
II.
1,6–2,9
III.
2,10–16
IV.
2,17–3,5
V.
3,6–12
VI.
3,13–21
Jahwes Liebe zu Israel im Gegensatz zu seinem Gericht über Edom Gerichtsankündigung gegen die Priester wegen minderwertiger Opfer Anklage gegen das Volk wegen Mischehen und Ehescheidung Ankündigung eines Läuterungsgerichts an den Leviten und am Volk (vor allem an den Unterdrückern der sozial Schwachen) Segensverheißung für den Fall der Umkehr (Aufhören der Missernten bei vollständiger Ablieferung des Zehnten) Ankündigung des Gerichtstages Jahwes mit Rettung der Gerechten und Vernichtung der Gottlosen
Die prophetischen Bücher
411
Ein Epilog (3,22–24) mahnt zum Gedenken an die Tora des Mose und kündigt das Kommen Elias vor dem Gerichtstag Jahwes an.
47.2.
Entstehungsgeschichte des Buches
Auf eine späte Redaktion geht auf jeden Fall der Epilog 3,22–24 zurück (anders Floyd), der wahrscheinlich als Abschluss des Kanonteils „Nebiim“ (Ende des 3. Jh. v. Chr.; vgl. Bosshard/Kratz) oder sogar der beiden Kanonteile „Tora und Nebiim“ formuliert wurde (vgl. die Rückbezüge von V. 22 auf Jos 1,7 und Dtn 5,1f. und die von V. 23f. auf 1Kön 18f.).Wahrscheinlich stellt jedoch auch bereits 3,13–21 mit der Vorstellung von einer Scheidung von Gerechten und Gottlosen im Endgericht (vgl. Jes 65f.) eine (aus der Zeit um 300 stammende?, Steck: um 240–220 v. Chr.?) Fortschreibung der in Mal 1,2–3,12* vorliegenden Grundschicht des Maleachibuches dar. Darüber, welche Verse innerhalb von 1,2–3,12 sekundär sind, gibt es in der neueren Forschungsdiskussion (vgl. Steck, Bosshard/Kratz, Kaiser, Zenger) kaum übereinstimmende Auffassungen. Auch die Vorstellung von einer universalen Jahweverehrung in 1,11 gehört wohl zu einer jüngeren Schicht. Ob die Grundschicht des Maleachibuches auf einen Propheten des 5. Jh. v. Chr. zurückzuführen ist (Elliger, Rudolph, Deissler, Reventlow) oder ob es sich hierbei um eine Fortschreibung von Sach 1–8 (Bosshard/Kratz, Steck; vgl. auch Utzschneider) handelt, ist in der neueren Forschung umstritten. Der Name „Maleachi“ in der Überschrift von 1,1 („Ausspruch. Wort Jahwes an Israel durch Maleachi“) deutet nicht unbedingt auf einen Personennamen. Vielmehr dürfte „mein Bote“ hier aus 3,1 („ich sende meinen Boten“) entnommen sein (Elliger). Das Buch Maleachi scheint daher ebenso von einem Anonymus zu stammen wie die Anhänge Sach 9–11 und 12–14.
47.3.
Theologische Bedeutung
Das Maleachibuch ruft gegen alle Zweifel zum Vertrauen auf die prophetischen Verheißungen Jahwes auf. Es macht die Realisierung dieser Verheißung allerdings vom Gehorsam gegenüber den göttlichen Geboten abhängig. Dabei richtet sich die Kritik zum einen gegen die Priester, die die Opfer nicht rechtmäßig verwalten (1,6–2,9), aber auch gegen das den Zehnten nicht vollständig abliefernde Volk (3,6–12). Anders als bei den klassischen Propheten wird hier die Notwendigkeit der Erfüllung der kultischen Pflichten stark betont. Allerdings wird
412
Die Schriften des AT
im Maleachibuch auch die Sozialkritik der klassischen Propheten (vgl. 3,5) aufgenommen. Auch sonst spielen ethische Gebote eine wichtige Rolle: So fordert Mal 2,10–16 Treue gegenüber der Frau der Jugend.
47.4.
Ausgewählte Literatur
Bauer, L.: Zeit des Zweiten Tempels – Zeit der Gerechtigkeit. Zur sozio-ökonomischen Konzeption im Haggai – Sacharja – Maleachi – Korpus, Frankfurt a. M. 1992. Boecker, H.J.: Bemerkungen zur formgeschichtlichen Terminologie des Buches Maleachi, ZAW 78, 1966, 78–80. Bosshard, E./Kratz, R.G.: Maleachi im Zwölfprophetenbuch, BN 52, 1990, 27–46. Deissler, A.: Zwölf Propheten III: Zefanja – Haggai – Sacharja – Maleachi, NEB, Würzburg 1988. Elliger, K.: Das Buch der zwölf Kleinen Propheten II: Die Propheten Nahum, Habakuk, Zephanja, Haggai, Sacharja, Maleachi, ATD 24/2 (1949), Göttingen 81982. Floyd, M.H.: Minor Prophets 2, FOTL 22, Grand Rapids (Mich.) 2000. Hill, A.E.: Malachi, AncB 25D, New York 1998. Kaiser O.: Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des AT 2: Die prophetischen Werke, Gütersloh 1994. Krieg, M.: Mutmaßungen über Maleachi, Zürich 1993. Lescow, T.: Das Buch Maleachi. Texttheorie – Auslegung – Kanontheorie, Berlin/New York 1993. Meinhold, A.: Die theologischen Vorsprüche in den Diskussionsworten des Maleachibuches, in: FS H.J. Boecker, Neukirchen-Vluyn 1993, 197–209. –: Maleachi, BKAT 14/8, Neukirchen Vluyn 2006. Petersen, D.L.: Zechariah 9–14 and Malachi, OTL, London 1995. Pfeiffer, E.: Die Disputationsworte im Buche Maleachi, Ev Th 19, 1959, 546–568. Renker, A.: Die Tora bei Maleachi, Freiburg 1979. Reventlow, H. Graf.: Die Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi, ATD 25/2, Göttingen 1993. Rudolph, W.: Haggai – Sacharja 1–8 – Sacharja 9–14 – Maleachi, KAT 13/4, Gütersloh 1976. Schmitt, A.: Wende des Lebens. Untersuchungen zu einem Situations-Motiv der Bibel, Berlin/New York 1996. Steck, O.H.: Der Abschluß der Prophetie im AT. Ein Versuch zur Frage der Vorgeschichte des Kanons, Neukirchen-Vluyn 1991. Utzschneider, H.: Künder oder Schreiber? Eine These zum Problem der „Schriftprophetie“ auf Grund von Maleachi 1,6–2,9, Frankfurt a. M.1989. –: Art. Maleachi/Maleachibuch, RGG4 5, 2002, 711–713. Wallis, G.: Wesen und Struktur der Botschaft Maleachis, in: FS L. Rost, Berlin 1967, 229–237. Zenger E. u. a.: Einleitung in das AT, Stuttgart 72008.
Die prophetischen Bücher
47.5. 1. 2.
3. 4.
5.
6.
7. 8.
9. 10. 11. 12.
413
Repetitionsthemen zu den Prophetenbüchern (§ 30–47) Die Gattungen der prophetischen Überlieferung, ihr ursprünglicher Sitz im Leben, ihre Verschriftlichung und deren Intention. Die Prophetenbücher: Ihre Struktur, ihr redaktionelles Wachstum und die ihnen zugrunde liegende alte prophetische Überlieferung und deren Sitz im Leben. Der Prophet Jesaja: Person, Perioden des Auftretens, zentrale Inhalte seiner Botschaft und die Entstehung von Jes 1–39. Das Deuterojesajabuch Jes 40–55: Aufbau, Entstehungssituation, Gattungen seiner Verkündigung und zentrale Themen seiner Heilserwartung. Der Prophet Jeremia: Person, Perioden seines Auftretens, zentrale Inhalte seiner Verkündigung und die Stadien der Entstehung des Jeremiabuches. Das Ezechielbuch: Aufbau, formale Besonderheiten, Entstehung, zentrale theologische Aussagen und das Problem des historischen Ezechiel. Das Hoseabuch: Aufbau, Entstehung und zentrale theologische Aussagen. Der Prophet Amos: Herkunft, Situation des Auftretens, zentrale Inhalte seiner Botschaft und die literarische Schichtung des Amosbuches. Die Sozialkritik der atl. Prophetie (von Amos bis Maleachi). Kultkritik in der atl. Prophetie (vor allem bei Amos, Jesaja, Hosea, Jeremia, Ezechiel). Eschatologische Erwartungen der atl. Prophetenbücher und ihr Zeitbezug. Die Erwartungen eines Heilsherrschers in den atl. Prophetenbüchern und ihre historischen Bezüge.
414
Die Schriften des AT
Kapitel 4: Lied- und Psalmendichtung
§ 48
Die Entstehung des Psalters
48.1.
Der Aufbau des Psalters
Die Bezeichnung des Psalmenbuches mit „Psalter“ bzw. „Psalmen“ geht auf die LXX zurück, die von psaltérion bzw. psalmoi spricht. In der Hebräischen Bibel wird die Schrift als „Buch der Preisungen“ (sepær tehillîm) bezeichnet. Im Masoretischen Text umfasst der Psalter 150 Psalmen, die LXX überliefert dagegen noch einen 151. Psalm, den David nach seinem Kampf mit Goliat verfasst haben soll. Diesen Psalm enthalten neben 4 weiteren Psalmen auch syrische Handschriften (zu ihnen vgl. van der Woude). Dass auch diesen Psalmen hebräische Originale zugrunde liegen, ist durch die Psalmenhandschrift aus der Höhle 11 von Qumran erwiesen. Auch in der Zählung weicht die LXX (und ihr folgend die Vulgata) vom MT ab: Sie fasst Ps 9 und 10 und Ps 114 und 115 zu je einem Psalm zusammen und zerlegt dafür Ps 116 und Ps 147 in je zwei Psalmen. In der überwiegenden Zahl der Fälle besitzt daher der Psalm in der LXX eine um eins niedrigere Ziffer als im hebräischen Text: Ps 11–113 MT entsprechen Ps 10–112 LXX, und Ps 117–146 MT entsprechen Ps 116–145 LXX. Gegliedert ist der Psalter in fünf Bücher (Buch I: Ps 1– 41; Buch II: Ps 42–72; Buch III: Ps 73–89; Buch IV: Ps 90–106; Buch V: Ps 107–150), wodurch der Psalter analog zum Pentateuch gestaltet wird (vgl. Midrasch Tehillim zu Ps 1,1: „Mose gab Israel die fünf Bücher, und David gab Israel die fünf Bücher der Psalmen“). Dabei orientiert sich diese Einteilung des Psalters an den Doxologien 41,14; 72,18f.; 89,53; 106,48, die den Schluss eines Psalters bilden. Auch ist Psalm 150 insgesamt („Lobet Jahwe in seinem Heiligtum“) als Schlussdoxologie des ganzen Psalters verstanden. Allerdings gehen möglicherweise die ersten zwei Doxologien nicht auf den die Büchereinteilung vornehmenden Endredaktor, sondern auf ältere Psalmensammlungen zurück. So schließen Ps 41,14 und Ps 72,18 f. jeweils Sammlungen von Davidpsalmen (Ps 3–41 und Ps 51–72) ab, worauf vor
Lied- und Psalmendichtung
415
allem 72,20 mit der Schlussnotiz „zu Ende sind die Gebete Davids, des Sohnes Isais“ hindeutet (anders Kratz).
48.2.
Dem Psalter vorgegebene Sammlungen
Dass der vorliegende Psalter die Zusammenfassung ihm bereits vorgegebener Psalmensammlungen darstellt, zeigt sich vor allem an der Doppelüberlieferung mehrerer Psalmen. So lag Ps 14 („Die Toren sprechen in ihrem Herzen: Es ist kein Gott“) dem Redaktor des Psalters sowohl in der Davidpsalmensammlung Ps 3–41 als auch im „Elohistischen Psalter“ Ps 42–83 (hier als Ps 53) vor. Gleiches gilt für das Psalmstück 40,14–18, das gleichzeitig im „Elohistischen Psalter“ als Ps 70 („Eile, Gott, mich zu erretten“) in eigenständiger Gestalt überliefert wird. Schließlich gibt Ps 108 („Mein Herz ist bereit, dass es singe und lobe“) eine Zusammenstellung der beiden Psalmenstücke aus dem „Elohistischen Psalter“ Ps 57,8–12 und 60,7–14 wieder. Aufgrund dieses Befundes ist mit zahlreichen kleineren Psalmensammlungen zu rechnen, die in einem komplexen Kompositionsprozess zum heutigen Psalter zusammengefügt worden sind. Dieser komplexe Kompositionsprozess wird vor allem an der Entstehung von Ps 42–83, dem sog. „Elohistischen Psalter“, deutlich (vgl. besonders Millard). Bei diesen Psalmen ist eine Redaktion zu erkennen, durch die oft „Elohim“ an die Stelle von „Jahwe“ gesetzt wurde (vgl. u. a. Ps 53 und Ps 70 mit den oben genannten Parallelen Ps 14 bzw. Ps 40,14–18). Allerdings hat diese Redaktion ihrerseits auf ihr bereits vorliegende Sammlungen zurückgegriffen. So liegt in Ps 42–49 eine Sammlung von Korachitenpsalmen vor; bei Ps 51–72* (ohne Ps 66–67; 71–72) handelt es sich um „Davidpsalmen“, und Ps (50+)73–83 enthält eine Zusammenstellung von „Asafpsalmen“. Nach der „elohistischen“ Redaktion sind offensichtlich an den „Elohistischen Psalter“ noch die Korachitenpsalmen Ps 84; 85; 87; 88 und die auf die Sänger Heman und Etan zurückgeführten Psalmen 88 und 89 (zusammen mit dem Davidpsalm 86) als Anhang angefügt worden. Auch in anderen Teilen des Psalters ist ebenfalls mit dem Psalter vorgegebenen Sammlungen zu rechnen. Vor allem zu nennen sind hier der Davidpsalter Ps 3–41* und die Wallfahrtsliedersammlung von Ps 120–134. Innerhalb dieser Sammlungen sind die Einzelpsalmen durch planvolle Anordnung und durch Stichwort- und Motivverkettung in größere – theologisch beachtenswerte – Sinnzusammenhänge gebracht worden (vgl. u. a. Zenger).
416
48.3.
Die Schriften des AT
Die Verfasserangaben der Psalmen
In den – wohl sekundären – Psalmenüberschriften wird ein Großteil der Psalmen bestimmten Personen oder Gruppen zugeordnet. Diese Zuweisung durch die Präposition le dürfte bei David die Verfasserschaft meinen, wie die Angabe der Situationen im Leben Davids in Ps 3; 7; 18; 34; 51 etc. beweist; in gleicher Weise ist auch Ps 90,1 („von Mose“) bzw. Ps 72,1; 127,1 („von Salomo“) zu verstehen (anders Kleer, der das le mit „im Blick auf“, „in Erinnerung an“ übersetzen will). Wahrscheinlich sind auch die Zuordnungen zu den Sängergeschlechtern der „Asafiten“ (Ps 50; 73–83) und „Korachiten“ (Ps 42–49; 84–85; 87–88) als Verfasserangaben zu interpretieren. Zwar berichten erst die Chronikbücher von den „Asafiten“ (vgl. 1Chr 15,17 ff.) und von den „Korachiten“ (vgl. 2Chr 20,19; aber auch 1Chr 9,19, wo die „Korachiten“ die Aufgabe von „Schwellenhütern“ am Tempel wahrnehmen) als „Sängergeschlechtern“. Doch weist das Vorhandensein von „Asafiten“ in der sogenannten Liste der Heimkehrer aus der Gola (Esr 2,41) möglicherweise darauf hin, dass es sich bei den Asafiten bereits um ein vorexilisches Sängergeschlecht am Jerusalemer Tempel gehandelt hat.
48.4.
Die poetische Formung der Psalmen
Die bei allen atl. Psalmen vorhandene poetische Strukturierung ist auf der Ebene der Verse vor allem an dem sogenannten Parallelismus membrorum zu erkennen. Dabei unterscheidet man einen synonymen Parallelismus, bei dem in den beiden Halbstichen eines Verses der gleiche Gedanke in zwei verschiedenen Formulierungen wiederholt wird (vgl. z. B. Ps 1,2 der Gerechte „hat Lust am Gesetz Jahwes, / und er sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht“). Beim antithetischen Parallelismus wird zur Erläuterung des ersten Halbstiches im zweiten Halbstich ein gegenteiliges Verhalten gegenübergestellt (vgl. z. B. Ps 1,6 „Jahwe kennt den Weg der Gerechten, / aber der Gottlosen Weg vergeht“). Ein Nebeneinander zweier Halbstichen, bei dem der zweite Stichos den ersten gedanklich weiterführt, hat man in der Forschung als „synthetischen Parallelismus“ bezeichnet (vgl. z. B. Ps 23,1 „Jahwe ist mein Hirte, / mir wird nichts mangeln“). Auch ist gelegentlich mit 3 Stichen eines Verses zu rechnen, bei denen eine „treppenförmige“ Steigerung der Gedanken („klimaktischer Parallelismus“) zu beobachten ist (vgl. z. B. Ps 1,1: „Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen, / noch tritt auf den Weg der Sünder, / noch sitzt, da die Spötter sitzen“). Beachtenswert ist, dass sich die Form des klimaktischen Parallelismus bereits in der ugaritischen Poesie findet und von dort wohl auch in Ps 93,3 f. übernommen worden ist.
Lied- und Psalmendichtung
417
Sehr viel schwieriger zu erkennen ist die Strophengliederung der Psalmen. Ein einigermaßen sicheres Indiz für das Vorhandensein von Strophen stellt nur der Kehrvers dar: vgl. z. B. die Dreigliederung von Ps 46 durch den Refrain in V. 8 und 12: „Jahwe Zebaot ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz“. Häufig ist in den Psalmen auch ein „chiastischer“ (konzentrischer) Aufbau zu erkennen (vgl. z.B. den „chiastischen“ Wechsel von „Sprechen von Jahwe in 3. Person“ und von „Anrede Jahwes in 2. Person“ in Ps 23). Hinzuweisen ist auch auf die Rahmung von Psalmen durch gleichlautende Aussagen (vgl. in Ps 8 V. 2a mit V. 10).
48.5.
Zu ausgewählter Literatur vgl. § 49.11.
§ 49
Die Psalmengattungen und ihr Sitz im Leben
49.1.
Die formgeschichtliche Psalmenforschung
Für die neuere Psalmenforschung hat Hermann Gunkel die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein sachgemäßes Verständnis der Psalmen von den Psalmengattungen und ihrem Sitz im Leben auszugehen hat. Gunkel sieht eine Psalmengattung vor allem durch 3 Merkmale bestimmt: 1. 2. 3.
einen gemeinsamen „Schatz von Gedanken und Stimmungen“, eine gleiche „Formensprache“ und einen gleichen „Sitz im Leben“.
Dabei geht Gunkel davon aus, dass die meisten Psalmengattungen ihren „Sitz im Leben“ in gottesdienstlichen Begehungen haben. Allerdings rechnet er gleichzeitig damit, dass die jetzt vorliegenden Psalmen sich nicht unbedingt kultischer Herkunft verdanken, sondern z. T. als nachkultische „geistliche Lieder“ zu verstehen sind, die sich jedoch ursprünglich im Kult beheimateter Psalmengattungen bedienen.
49.2.
Hymnus
49.2.1. Als Psalmengattung, „die am leichtesten zu erkennen ist“, bezeichnet Hermann Gunkel den Hymnus. Als „Sitz im Leben“ dieser Gattung ist der Festkult an heiliger Stätte anzunehmen, zu dem sich die Israeliten sowohl bei den
418
Die Schriften des AT
jahreszeitlich bedingten Festen als auch bei Feiern anlässlich nationaler Rettungserfahrungen (vgl. u. a. Ex 15,20 f.) versammeln. 49.2.2. Zu erkennen sind „Hymnen“ vor allem an der Hymneneinführung mit der Aufforderung zum Jubeln im Plural Imperativ (vgl. vor allem hallelû „rühmt!“: Ps 112,1; 117,1; aber auch „singt“ in Ps 96,1; 98,1; Ex 15,21). Daneben finden sich aber auch Einleitungen mit dem Kohortativ Plural (vgl. nur Ps 95,1) oder mit dem Kohortativ Singular (vgl. nur Ps 111,1). Schließlich rechnet Gunkel sogar mit Hymnen ohne Einführung (vgl. Ps 114). Typisch für die Formensprache des Hymnus ist außerdem, dass in der Einleitung dem Gottesnamen häufig Appositionen (vgl. nur Ps 18,2 f.: „Jahwe, meine Stärke …, mein Fels, meine Burg …) beigegeben werden. Besonders zu nennen sind hier die dem Gottesnamen beigefügten Partizipien (vgl. nur Ps 136,3 ff.). Das auf die Einführung folgende Hauptstück wird meist mit kî „denn“ eingeleitet: Das Hauptstück will die einführende Lobaufforderung begründen und gleichzeitig den eigentlichen Inhalt des Lobgesanges angeben. Gelegentlich findet sich auch ein besonderer Hymnenschluss (vgl. nur Ps 97,12). Allerdings können für ihn kaum feste Formgesetze bestimmt werden. 49.2.3. An dieser Darstellung der Psalmengattung „Hymnus“ hat Claus Westermann Kritik geübt: Bei Gunkel würde zu formal argumentiert und die inhaltlichen Unterschiede zwischen den als Hymnen bezeichneten Psalmen zu wenig beachtet. Jedenfalls müsse bei diesen Psalmen stärker zwischen berichtenden Lobpsalmen (z.B. Ex 15,21) und beschreibenden Lobpsalmen (z.B. Ps 113) differenziert werden: Während das beschreibende Lob (vgl. hebr. hillel) sich auf Gott „im Ganzen seines Handelns und Seins“ richte (vgl. z.B. Ps 113,5–6), beziehe sich das berichtende Lob (vgl. hebr. hôd¯ah) auf „ein einmaliges, eben geschehenes Tun Gottes“. Gleichzeitig dürfte das „Danklied (des Einzelnen)“ nicht – wie bei Gunkel – von diesen Lobpsalmen getrennt werden. Wie Ex 15,21 sei nämlich auch das Danklied des Einzelnen als auf eine einmalige Rettungstat Gottes bezogenes „berichtendes Lob“ anzusehen. 49.2.4. Gegenüber der Kritik Westermanns hat Frank Crüsemann Gunkels Differenzierung zwischen Hymnus und Danklied des Einzelnen verteidigt. Seiner Meinung nach ist an den – von formalen Kriterien ausgehenden – Unterscheidungen Gunkels festzuhalten. Für sie spricht vor allem, dass Hymnen mit ihrer Beheimatung im Festkult und Danklieder des Einzelnen mit ihrem Bezug auf eine Toda-Feier (vgl. unten 49.3) einen völlig unterschiedlichen „Sitz im Leben“ haben. Gleichzeitig findet sich bei Crüsemann jedoch auch eine Gunkel weiterführende Differenzierung des Hymnus.
Lied- und Psalmendichtung
419
49.2.4.1. Unterschiede in der Beschreibung der Formmerkmale des Hymnus bei Gunkel aufnehmend differenziert er zwischen drei Untergattungen des Hymnus: I. II. III.
Imperativischer Hymnus (vgl. Ex 15,21 „singt Jahwe“; 117,1 „lobt Jahwe“ etc.) Jahwe anredender Hymnus des Einzelnen (vgl. Ps 8,2b mit #a¯ ˇsîr¯ah [text. emend.] „… ich will besingen deine Hoheit am Himmel.“) Partizipialer Hymnus (vgl. Jes 51,15; Am 4,13; 5,8; 9,5f. und als Teil eines imperativischen Hymnus Ps 136,4–6)
49.2.4.2. Eine Präzisierung gegenüber Gunkel stellt auch die Beobachtung dar, dass das den Hauptteil des Hymnus einleitende kî nicht mit „denn“, sondern mit „ja“ wiederzugeben ist: Der Hauptteil enthält die Durchführung des Gotteslobes, nicht nur eine Begründung der Aufforderung zum Lob Gottes. 49.2.4.3. Schließlich gibt es nach Crüsemann im AT keine ursprüngliche Gattung „Danklied des Volkes“: Ps 124 und 129, die Gunkel als Belege für diese Gattung ansah, sind als späte künstliche Gebilde zu beurteilen, in denen Elemente des Dankliedes des Einzelnen auf das Volk übertragen sind. Eine Gattung „Danklied des Volkes“ ist im AT auch nicht zu vermuten, da der Dank nach einer erfahrenen Rettung des Volkes durch die Gattung des Hymnus seinen Ausdruck fand (vgl. nur Ex 15,21).
49.3.
Danklied des Einzelnen
49.3.1. Belege Als deutlich von den Hymnen zu unterscheidende „Danklieder des Einzelnen“ sind vor allem folgende Psalmen anzusehen: Ps 18 (Danklied eines Königs); 30; 66,13–20; 116; 118 (vgl. Jes 38,10–20; Jona 2,3–10; auch außerhalb des MT Sir 51,1–12). 49.3.2. Aufbau Typisch für das „Danklied des Einzelnen“ („Toda“) ist – wie Crüsemann nachgewiesen hat – die „doppelte Sprechrichtung“. Das Danklied wendet sich einerseits dankend an Jahwe, andererseits bekennt es die Rettung vor der im Heiligtum versammelten Gemeinde. Es enthält daher im Normalfall die beiden Elemente:
420
Die Schriften des AT
I. II.
Dank an Jahwe: in 18,2–3 und in 30,2–4 als Anrede an Jahwe Bericht vor der Gemeinde über die Rettung: in 18,4–7 mit Rede von Jahwe in 3. Person (anders 30,7–13, wo Jahwe in der 2. Person angeredet wird).
Dieser Bericht über die Rettung gliedert sich meist in die vier Teile: II.1 II.2 II.3 II.4
Rückblick auf die Not Bericht über Anrufung Jahwes (Zitat des Klageliedes in 30,10 f.) Bericht über Erhörung Jahwelob als Folge der Rettung.
49.3.3. Sitz im Leben Wie vor allem Ps 116 zeigt, ist das Danklied, die Toda, mit der Darbringung von Opfern verbunden. Vermutlich bezieht sich auch der „Rettungsbecher“ (116,13) auf ein Trankopfer („Libation“). Auf jeden Fall spricht Ps 116,17 vom Schlachten eines „Dankopfers“. Dass sich dieses Toda-Opfer im Rahmen der im Heiligtum versammelten Gemeinde vollzieht, zeigt außerdem Ps 116,14.18 („ich erfülle Jahwe meine Gelübde vor all seinem Volk“). Zu denken ist hier wohl an eine Opfermahlzeit (vgl. auch Ps 22,27), an der der Gerettete zusammen mit der im Heiligtum versammelten Gemeinde teilnimmt und durch die er nach der vorhergehenden Isolationserfahrung (durch Krankheit oder Verfolgung) wieder in die Mahlgemeinschaft der Jahwegemeinde aufgenommen wird. 49.3.4. Das „Ich“ der „Individualpsalmen“ Bei dem „Ich“ der Danklieder und der Klagelieder des Einzelnen ist zu berücksichtigen, dass es sich hierbei nicht um ein biographisch zuzuordnendes „Ich“ handelt. Vielmehr spricht in den atl. Individualpsalmen ein „exemplarischer“ Einzelner, in den die Erfahrungen verschiedener Personen einfließen, wie dies auch bei dem „Ich“ der kirchlichen Agenden der Fall ist.
Lied- und Psalmendichtung
49.4.
421
Klagelied des Einzelnen
49.4.1. Belege Um die Rettung aus der Not, von der das Danklied des Einzelnen berichtet, bittet das Klagelied des Einzelnen, das die Hauptgattung des atl. Psalters darstellt (vgl. Ps 3; 5; 6; 7; 13; 22,1–22a etc.; insgesamt ca. 40 Belege im Psalter). 49.4.2. Aufbau Der normale Aufbau eines Klageliedes des Einzelnen lässt sich am deutlichsten in Ps 13 erkennen. I. II.
Anrufung Jahwes („Jahwe“ in V. 2) Klage (V. 2–3; dabei zu unterscheiden Klage über „Gott“: V. 2 Klage über „Ich“: V. 3a Klage über „Feind“: V. 3b) Eingeleitet wird die Klage häufig mit einer Frage: „Warum?“ (Ps 22,2) bzw. „Wie lange?“ (Ps 13,2)
III.
Bitte (V. 4–5; dabei zu unterscheiden Bitte an „Gott“: V. 4a Bitte für „Ich“: V. 4b Bitte gegen „Feind“: V. 5) als eigentliches „Herzstück der Gattung“ (Gunkel)
IV.
Vertrauensbekenntnis (V. 6a). Dieses Element kann auch zwischen „Klage“ und „Bitte“ stehen.
V.
Lobgelübde (V. 6b).
49.4.3. Stimmungsumschwung Ein besonderes Problem des Aufbaus der atl. Klagelieder des Einzelnen stellt die am Ende vieler dieser Psalmen geäußerte Erhörungsgewissheit dar, die im Widerspruch zu den Äußerungen von Angst und Verzweiflung stehen, die den Hauptteil des Klagepsalms bestimmen. Zur Erklärung dieses Stimmungsumschwungs hat die Forschung eine Reihe von Theorien entwickelt, von denen hier drei kurz referiert werden sollen:
422
Die Schriften des AT
1. Artur Weiser hat die Klagepsalmen, an deren Ende von einer bereits erfolgten Erhörung gesprochen wird (vgl. Ps 6,9–11; 13,6) als Danklieder verstehen wollen, die das vor der Erhörung gesprochene Klagelied wiedergeben, um so die Größe des Heilshandelns Gottes deutlicher zu machen. Die oben dargestellte andere Struktur der Danklieder des Einzelnen spricht jedoch eher gegen diese These Weisers. 2. Hermann Gunkel und Joachim Begrich verstehen den Stimmungsumschwung als Folge eines Erhörungsorakels, das nach dem Klagegebet von einem Priester ausgesprochen wurde (möglicherweise aufgrund einer Opferschau). Zwar seien entsprechende Erhörungsorakel in den Psalmen nicht erhalten, doch bediene sich Deuterojesaja (vgl. oben § 31.4.3.1.1.) in seinen mit „Fürchte dich nicht“ eingeleiteten Heilsorakeln (vgl. u. a. Jes 43,1 ff.) dieser Form (vgl. auch Klgl 3,57). 3. Aufgrund des Fehlens jeglichen Hinweises auf ein Heilsorakel in den Psalmen, lehnt Rudolf Kilian die Annahme einer priesterlichen Erhörungszusage ab. Seiner Meinung nach ist die Erhörungsgewissheit als zukunftsbezogene Vertrauensäußerung zu verstehen. Auch setzen nach ihm die Lobgelübde das Noch-Ausstehen der Erhörung voraus. 49.4.4. Sitz im Leben und Untergattungen des Klagelieds des Einzelnen Die Klagelieder des Einzelnen sind wohl z. T. im „offiziellen Tempelkult“ und z. T. in der „persönlichen Frömmigkeit“ der Familie gebetet worden. Mit einem Gebet im familiären häuslichen Bereich ist vor allem bei Krankenpsalmen zu rechnen (vgl. besonders das Gebet Hiskias auf dem Krankenbett in Jes 38,2 ff.). Als primär auf Krankheitserfahrungen bezogene Klagelieder des Einzelnen sind nach Klaus Seybold vor allem Ps 38; 39 und 88 anzusehen. Als weitere Untergattung des Klagelieds des Einzelnen ist nach den Arbeiten von Hans Schmidt und Walter Beyerlin mit „Gebeten von Rechtssuchenden“ zu rechnen. Zu ihnen gehören wohl u. a. Ps 3; 7; 26. Diese Gebete erwarten eine Rettung aus der Verfolgungssituation offensichtlich durch ein Gottesurteil (Ordal) im Rahmen eines sakralen Gerichtsverfahrens am Tempel (vgl. vor allem Dtn 17,8 ff.; 1Kön 8,31 f.; auch Num 5,11 ff.). Schließlich hat die altkirchliche Tradition aus den Klageliedern 7 Bußpsalmen ausgesondert, in deren Mittelpunkt die Bitte um göttliche Sündenvergebung steht: Ps 6; 32; 38; 51; 102; 130; 143. Werner H. Schmidt hat – jedenfalls für Ps 130 – wahrscheinlich gemacht, dass hier z.T. nicht mehr ein ursprünglicher kultischer Sitz im Leben vorliegt, sondern eine nachkultische theologische Reflexion über die Sündhaftigkeit des Menschen.
Lied- und Psalmendichtung
49.5.
423
Klagelied des Volkes
49.5.1. Belege Als typische Belege für Volksklagelieder werden üblicherweise Ps 44; 74; 79; 80; 83 genannt. 49.5.2. Aufbau Das Klagelied des Volkes weist im Großen und Ganzen die gleichen Elemente wie das Klagelied des Einzelnen auf: I. II. III. IV. V.
Anrufung Jahwes (statt „Gott“ ursprünglich „Jahwe“ in Ps 79,1) Klage (79,1b–5) Bitte (79,6–12) Vertrauensbekenntnis (79,13a; auch vor der Bitte und als Rückblick auf Gottes früheres Heilshandeln: 80,9 ff.) Lobgelübde (79,13b)
49.5.3. Sitz im Leben Als Anlass für eine Volksklage werden in 1Kön 8,33–40 militärische Niederlagen, Dürre und Hungersnöte und Seuchen genannt. Bei diesen Gegebenheiten versammelt sich das Volk zu einer öffentlichen gottesdienstlichen Klagefeier, bei dem Fasten und andere Selbstminderungsriten die Bußgesinnung zum Ausdruck bringen. In 2Chr 20,3 ff. wird dem Volk nach einer solchen kollektiven Klage eine durch einen Kultpropheten übermittelte göttliche Antwort zuteil. Ein entsprechender Befund ist jedoch für die Volksklagelieder der Psalmen nicht belegt.
49.6.
Vertrauenspsalm
Bei den Vertrauenspsalmen handelt es sich um Gebete, bei denen das Element des Vertrauensbekenntnisses der Klagelieder des Einzelnen und des Volkes verselbständigt worden ist. Entsprechend kann zwischen Vertrauenspsalmen des Einzelnen (vgl. Ps 23; 27) und Vertrauenspsalmen des Volkes (vgl. Ps 46; 125) differenziert werden. Angesichts des Befundes, dass sich die Struktur dieser Psalmen aus der Isolierung eines Einzelelementes der kultischen „Klagelieder“ erklärt, ist ein direkter Kultbezug der Gattung „Vertrauenspsalm“ nicht wahrscheinlich zu machen.
424
Die Schriften des AT
49.7.
Weisheitspsalm
Schwer einem kultischen Sitz im Leben zuzuordnen ist auch die Gattung „Weisheitspsalm“. Auch lässt sich bei den Weisheitspsalmen kaum eine durchgehende formale Struktur feststellen. Einige dieser Weisheitspsalmen enthalten „Weisheitssprüche“ (Ps 127,1–2+3–5; 133), einige sind als „Makarismen“ (#aˇsrê „wohl dem“) eingeleitet (vgl. Ps 1; 112; 119; 128), einige sind als (alphabetisches) Akrostichon aufgebaut (vgl. u. a. Ps 37; 112; 119). Thematisch zusammenstellen lassen sich die sog. Torapsalmen (Ps. 1; 19,8–15; 119) und die sog. Lehrgedichte zur Theodizeeproblematik (Ps 37; 49; 73).
49.8.
Königspsalmen
49.8.1. Gattung? Nur im weiteren Sinne eine Gattung stellen auch die Königspsalmen dar. Gemeinsam ist ihnen nur, dass sie auf kultische Situationen bezogen sind, in denen der König im Mittelpunkt steht. Dabei kann durchaus auf andere Psalmengattungen zurückgegriffen werden (vgl. nur das Danklied des Einzelnen Ps 18 und das Klagelied des Einzelnen Ps 89,47–52). 49.8.2. Klassifikation nach königlichen kultischen Akten Angesichts der Tatsache, dass die Königspsalmen wohl in einer nachexilischen „messianischen Relecture“ vorliegen (vgl. u. a. Waschke; Saur), kann der ursprüngliche „Sitz im Leben“ in kultischen Akten des vorexilischen judäischen (auch nordisraelitischen? vgl. Ps 45?) Königtums nur schwer bestimmt werden. Doch spricht einiges dafür, dass mit folgenden königlichen Feiern zu rechnen ist, denen die ursprünglichen Königspsalmen zugeordnet waren: I. II. III. IV. V.
Königliche Thronbesteigung bzw. Jahrestag der Thronbesteigung (Ps 2*; 21*; 72*; 101*; 110*) Hochzeit des Königs (Ps 45*) Königlicher Bittgottesdienst vor Auszug in den Krieg (Ps 20*; 144,1–11*) Königlicher Dankgottesdienst nach militärischem Sieg (Ps 18*) Königliche Klagefeier nach militärischer Niederlage (Ps 89,47–52*)
Ob sich hinter Ps 132 eine königliche Feier des Stiftungstags des Heiligtums als ursprünglicher „Sitz im Leben“ erschließen lässt, muss offen bleiben.
Lied- und Psalmendichtung
49.9.
425
Jahwe-Königs-Psalmen
49.9.1. Thronbesteigungspsalmen? Sigmund Mowinckel hatte die von ihm als „Thronbesteigungspsalmen“ bezeichneten Psalmen 47; 93–99 einem in Analogie zum babylonischen Neujahrsfest (Akitu-Fest) verstandenen „Thronbesteigungsfest“ zugeordnet. Doch ist man heute im Hinblick auf einen einheitlichen kultischen Sitz im Leben dieser Psalmen zurückhaltend geworden (vgl. Jeremias). Angesichts der Tatsache, dass Ps 47; 95; 96; 98 imperativische Hymnen darstellen, spricht einiges für einen ursprünglichen Bezug dieser Psalmen auf den atl. Festkult. Dabei ist wohl an einen besonderen Kultakt zu denken, der dem Preis des Königtums Jahwes gewidmet war. Diesem Kultakt dürften sowohl die das Königtum Jahwes feiernden „imperativischen Hymnen“ (Ps 47; 95; 96; 98) als auch die mit Jahwæh m¯alak „Jahwe ist König (geworden)“ eingeleiteten „Themenpsalmen“ zuzuordnen sein (Jeremias). Auch bei der möglichen Übersetzung „Jahwe ist König geworden“ (so auf jeden Fall ursprünglich in Ps 47,9) ist nicht an einen „Inthronisationsruf“ (so Mowinckel) zu denken, sondern an die „Vergegenwärtigung einer Seinsaussage durch eine Geschehensaussage“ (Janowski). 49.9.2. Datierung Während Sigmund Mowinckel 1922 alle diese Psalmen für vorexilisch hielt, herrschte um 1950 (vgl. u. a. Kraus 1951) zunächst ein nachexilisches eschatologisches Verständnis vor (Abhängigkeit der Thronbesteigungspsalmen von der Botschaft Deuterojesajas in Jes 52,7). Neuerdings hat sich Jörg Jeremias dafür eingesetzt, dass es sich bei Ps 93 und Ps 47 um vorexilische atl. Übernahmen kanaanäischer Vorstellungen vom Königtum Gottes (unter Rückgriff auf El- und Baal-Traditionen) handelte, während bei den übrigen Jahwe-Königs-Psalmen exilisch-nachexilische Fortentwicklungen des Motivs von Königtum Jahwes vorlägen (bei Ps 96 und 98 in Aufnahme von Jes 52,7; in Ps 97 in Auseinandersetzung mit hellenistischen Götzenbildvorstellungen). Allerdings stellt sich die Frage, ob nicht auch Ps 47 eschatologisch zu interpretieren ist und von daher auch exilisch-nachexilisch angesetzt werden muss. Dafür spricht, dass 47,6 („aufsteigt ‚Jahwe‘ unter Jubelgeschrei“) sich kaum auf eine Ladeprozession, sondern eher auf die eschatologische himmlische Thronbesteigung Jahwes beziehen lässt (vgl. Janowski).
426
Die Schriften des AT
49.10. Exkurs: Zionspsalmen und Zionstheologie 49.10.1. Vorisraelitische Geschichte von Zion und Jerusalem Mit „Zion“ wird im AT ursprünglich die Zitadelle der jebusitischen Kanaanäerstadt Jerusalem bezeichnet (vgl. 2Sam 5,7), die nach der Eroberung durch David „Davidstadt“ genannt wurde (5,9). Nach dem Bau des Jerusalemer Tempels wandert der Name „Zion“ an den Ort des Heiligtums und bezeichnet fortan die Stadt Jerusalem als Stätte des Tempels. Erst in nachntl. Zeit (ab dem 3./4. Jh. n. Chr.) wird der Name auf den Südwesthügel Jerusalems, auf dem die Tradition das Davidgrab und den Abendmahlssaal lokalisiert, übertragen. Der Name der Kanaanäerstadt „Jerusalem“ („Gründung des Gottes Schalem“) ist seit dem 18. Jh. v. Chr. in den ägyptischen Ächtungstexten belegt. In der Spätbronzezeit stand Jerusalem unter ägyptischer Oberhoheit und wird im 14. Jh. v. Chr. in den Briefen von Amarna als „Urusalim“ genannt. Es ist damit zu rechnen, dass im AT eine Reihe von kanaanäischen religiösen Traditionen, die im vorjudäischen Jerusalem beheimatet waren, rezipiert worden sind. Zum einen finden sich im AT Gottesnamen, die in einer besonderen Beziehung zu Jerusalem stehen. Zum andern sind kanaanäische Traditionen in den „Zionspsalmen“ (Ps 46; 48; 76; vgl. auch Ps 84; 87; 122) zu erkennen. 49.10.2. Vorisraelitische Jerusalemer Gottesnamen Aufgrund des Namens „Jerusalem“ (vgl. auch „Schalem“ in Gen 14,18 und Ps 76,3) ist damit zu rechnen, dass der aus Ugarit bekannte Gott „Schalim“ in einer besonderen Beziehung zu der Kanaanäerstadt stand. Da mehrere Namen von Jerusalemern (Melchi-Zedek: Gen 14,18; Ps 110,4; Adoni-Zedek: Jos 10,1.3; vgl. auch Zadok: 2Sam 8,17) ein theophores Element „Zedek“ aufweisen, ist auch eine besondere Bedeutung eines Gottes „Zedek“ (vgl. hebr. sædæq „Gerechtigkeit“) zu erschließen (vgl. auch Jes 1,26: Jerusalem . als Stadt des sædæq). . Schließlich gibt die allerdings spätnachexilische Melchi-Zedek-Überlieferung von Gen 14, 17–24 (vgl. zum Problem des Alters dieser Überlieferung u. a. Niehr und Spieckermann) an, dass in Jerusalem der Gott El Eljon verehrt worden sei. Beachtenswert ist, dass auch in Ps 46,5; 87,5 (zwei Zionspsalmen) der Gott Jerusalems als Eljon bezeichnet wird (vgl. auch Num 24,16; Dtn 32,8; Jes 14,14; Ps 82,6; 107,11 und zur Identifikation von Eljon mit Jahwe Ps 7,18; 47,3; 57,3; 97,9: „Jahwe Eljon“).
Lied- und Psalmendichtung
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49.10.3. Kanaanäische Traditionen der Zionspsalmen Dass es – wohl schon in vorexilischer Zeit – Psalmen mit der Bezeichnung „Zionslied“ gegeben hat, zeigt der Gebrauch dieser Bezeichnung im Exilspsalm Ps 137 (V. 3). Nach Hermann Gunkel und Joachim Begrich gehören zu dieser Psalmengruppe zum einen – aufgrund des Bezugs zu Zion/Jerusalem – Ps 84; 87 und 122. Zum andern sind dieser Gruppe – wegen der gemeinsamen mythischen Motive – auch Ps 46 (hier fehlt jede explizite Erwähnung von Zion und Jerusalem); 48 und 76 zuzuordnen. Beachtenswert ist, dass es sich bei einem Großteil der Zionspsalmen um Psalmen der Korachiten handelt (vgl. besonders Ps 46; 48; 84; 87). Wahrscheinlich ist das nachexilische levitische Sängergeschlecht der Korachiten als Verfasserkreis der Zionspsalmen anzusehen (Wanke). Ob noch ein vorexilisches Stadium dieser Psalmen rekonstruiert werden kann, ist angesichts der stark divergierenden Rekonstruktionen (Goulder und Seybold rechnen mit einem auf das Heiligtum von Dan bezogenen Vorstadium, Hossfeld/ Zenger mit einer Grundschicht aus dem Jerusalem des 7. Jh.) zweifelhaft. Ps 46; 48 und 76 zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass in ihnen auf folgende – uns aus den Ugarit-Texten bekannten – kanaanäische Vorstellungen Bezug genommen wird: 1. das Verständnis Zions als Götterberg des Zaphon (des Nordens) in Ps 48,3: Hier ist die in Ugarit (vgl. u. a. KTU 1.4 IV 19 = TUAT III, 1158) belegte Vorstellung von der Wohnung des Gottes Baal auf dem Berg „Zaphon“ (vgl. hierzu im AT auch noch Jes 14,13) auf Jahwe und den Jerusalemer Tempelberg übertragen. 2. die Lage der Gottesstadt (Jerusalem) am „Paradiesstrom“ in Ps 46,5: Da es in Jerusalem keinen „Strom mit seinen Bächen“ gibt (vielmehr nur die relativ unbedeutenden Wasser der Gichon- und der Rogelquelle), dürfte auch diese Vorstellung aus der kanaanäischen Mythologie entnommen sein. Zu denken ist hier vor allem daran, dass nach den Ugarit-Texten der Göttervater El seinen Wohnsitz „an den beiden Strömen der Ober- und der Unterwelt“ (vgl. u. a. KTU 1.4 IV 21 f. = TUAT III, 1158) hat. Große Bedeutung erlangt die Vorstellung eines von Jerusalem ausgehenden „paradiesischen“ Stroms in der eschatologischen Prophetie des AT (vgl. u. a. Ez 47,1–12; Jo 4,18; Sach 14,8). 3. das Einbezogensein der Gottesstadt (Jerusalem) in den „Chaoskampf gegen das Meer“ in Ps 46,4–7: Angesichts des Fehlens eines direkten Bezuges Jerusalems zum Meer muss der hier geschilderte „Meereskampf“ auch wieder auf kanaanäische Mythologie zurückgehen, wobei sich als Parallele der in den Ugarit-Texten berichtete Kampf Baals gegen den Gott Jam (Meer) nahelegt (vgl. vor allem KTU 1.2 = TUAT III, 1118–1134 und dazu Kaiser). 4. Völkerkampfmotiv in den Psalmen 46; 48 und 76: In Ps 46,6–7; 48,4–6; 76, 4–7 findet sich die Vorstellung, dass Völker bzw. Könige, die nicht näher be-
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Die Schriften des AT
schrieben sind, gegen Jerusalem ziehen, jedoch von Jahwe zurückgeschlagen werden, so dass Jerusalem als nicht einnehmbare „Zuflucht“ erfahren wird. Ein entsprechender Völkerkampf wird auch in der eschatologischen Prophetie des AT erwartet (vgl. Jes 8,9 f. 17,12–14; Jo 4,9–11; Mi 4,11; Sach 12,2–9). Unterschieden werden muss das Völkerkampfmotiv dabei von folgenden Vorstellungen (Lutz): a. der prophetischen Auffassung, dass Jahwe Völker als seine Werkzeuge gebraucht, um ein kriegerisches Strafgericht über sein Volk bzw. seine Stadt zu bringen (vgl. Jes 5,26–29; 29,1–3; Sach 14,2) b. dem Motiv des von Jahwe ausgehenden Kriegs gegen die Völker (vgl. Mi 5,14) c. dem Motiv vom Feind aus dem Norden (vgl. Jer 4–6). Alle diese Vorstellungen unterscheiden sich vom Völkerkampfmotiv dadurch, dass bei ihnen der Angriff der Völker auf Jerusalem und die Rettung Jerusalems durch Jahwe nicht im Mittelpunkt stehen. Umstritten ist in der Forschung die Herkunft des Völkerkampfmotivs: a. Odil-Hannes Steck und Fritz Stolz vertreten die Auffassung, dass es sich beim Völkerkampfmotiv um eine bereits aus dem vorisraelitischen Jerusalem stammende kanaanäische Tradition handelt. Diese These lässt sich jedoch durch außerbiblische Belege nicht erhärten. b. Häufig vertreten wird die Annahme, dass das Völkerkampfmotiv – wegen der Vorstellung von der Nichteroberbarkeit Jerusalems – bereits vorexilisch (d. h. vor der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier 597 und 587 v. Chr.) entstanden sein müsse. Dabei stellt man sich meist vor, dass sich die Völkerkampfvorstellung durch eine „Historisierung“ der kanaanäischen Chaoskampftradition gebildet habe. Jörg Jeremias bringt diese Historisierung zudem mit der Übernahme der Tradition der Heiligen Lade in Verbindung. Teilweise wird auch angenommen, dass bereits die Botschaft Jesajas (vgl. u. a. Jes 28,15) das Völkerkampfmotiv voraussetze. Andererseits wird damit gerechnet, dass die Vorstellung der Nichteroberbarkeit Jerusalems von der Erfahrung des Jahres 701 (Nichteroberung Jerusalems nach der Belagerung durch den Assyrerkönig Sanherib) abhängig und das Völkerkampfmotiv somit erst spätvorexilisch anzusetzen ist (Hossfeld/Zenger). c. Besonders zu nennen ist die These von Gunther Wanke (vgl. schon Hermann Gunkel), dass das Völkerkampfmotiv erst nachexilisch entstanden und daher eschatologisch zu verstehen ist. Für diese These spricht, dass das Völkerkampfmotiv außerhalb des Psalters nur in der nachexilischen eschatologischen Prophetie belegt ist. Zudem bildet das Motiv eines anonymen Völkersturms gegen Jerusalem wohl die traditionsgeschichtliche Weiterentwicklung der jeremianischen Erwartung eines Feindes aus dem Norden (Jer 4–6) und
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der in Ez 38 f. überlieferten exilischen Weissagung einer Invasion Palästinas durch kleinasiatische Völkerschaften unter der Führung des Gog von Magog und ihres gottgewirkten Untergangs im Heiligen Land. Auch ist die Erfahrung der Nichteroberbarkeit von Jerusalem im Jahre 701 v. Chr. offensichtlich auch über die Eroberungen von 597 und 587 v. Chr. hinaus lebendig geblieben. 49.10.5. Das Motiv der Völkerwallfahrt Dafür, dass es in nachexilischer Zeit zu einer Inbeziehungsetzung von Völkerwelt und Zion/Jerusalem kam, spricht auch die Vorstellung von einer „Völkerwallfahrt zum Zion“, die vor allem für die früh-nachexilische persische Zeit belegt ist (vgl. zuletzt Kessler). Dafür sprechen besonders Hag 2,1–9 und auch Sach 8,20–22 und Jes 60. Auch die Vorstellung eines im Anschluss an die Völkerwallfahrt entstehenden universalen Friedensreiches (Jes 2,2–4 par. Mi 4,1–3) gehört wohl in die Perserzeit. Allerdings findet sich das Völkerwallfahrtsmotiv auch noch in hellenistischer Zeit (vgl. Sach 14,16).
49.11. Ausgewählte Literatur 49.11.1. Zur Psalmenforschung Barth, C.: Concatenatio im ersten Buch des Psalters, in: FS E.L. Rapp, Meisenheim 1976, 30–40. –: Die Errettung vom Tode in den individuellen Klage- und Dankliedern des AT (hg. v. B. Janowski), Zürich 21987. Becker, J.: Israel deutet seine Psalmen. Urform und Neuinterpretation in den Psalmen, Stuttgart 1966. –: Wege der Psalmenexegese, Stuttgart 1975. Begrich, J.: Das priesterliche Heilsorakel, in: Gesammelte Studien zum AT, München 1964, 217–231. Beyerlin, W.: Die Rettung der Bedrängten in den Feindpsalmen der Einzelnen auf institutionelle Zusammenhänge untersucht, Göttingen 1970. Boecker, H.J.: Psalmen, in: H.J. Boecker u. a., AT, Neukirchen-Vluyn 51996, 179–199. Brueggemann, W.: The Message of the Psalms. A Theological Commentary, Minneapolis 1984. Crüsemann, F.: Studien zur Formgeschichte von Hymnus und Danklied in Israel, Neukirchen-Vluyn 1969. Emmendörfer, M.: Der ferne Gott. Eine Untersuchung der atl. Volksklagelieder vor dem Hintergrund der mesopotamischen Literatur, Tübingen 1998. Fohrer, G.: Psalmen, Berlin/New York 1993.
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Die Schriften des AT
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Lied- und Psalmendichtung
§ 50
Die Klagelieder (Threni)
50.1.
Aufbau des Threnibuches
433
Die in der hebr. Überlieferung mit #êk¯ah „ach“ (nach dem Beginn des Buches 1,1; vgl. auch 2,1; 4,1) überschriebene Schrift (der Titel „Klagelieder“ findet sich in LXX und V, aber auch im babylonischen Talmud: bBaba batra 14b: qînôt) setzt sich aus fünf Liedern zusammen, deren jeweilige Begrenzung mit der Kapiteleinteilung übereinstimmt. Alle 5 Gedichte orientieren sich in ihrem Aufbau am Alphabet und weisen daher jeweils 22 Strophen (Klgl 1– 4) bzw. Verse (Klgl 5; der alphabetische Bezug besteht hier nur in der Verszahl) auf: In Klgl 1–3 handelt es sich dabei um 3reihige, in Klgl 4 um 2reihige Strophen, die jeweils mit einem neuen Buchstaben des Alphabets beginnen (in Klgl 3 fangen sogar alle drei Zeilen der Strophe mit dem gleichen Buchstaben an: bemerkenswert ist allerdings, dass Klgl 2–4 die Buchstabenfolge p -_ voraussetzen, nur Klgl 1 hält sich an die gewöhnliche Folge: _-p). Im Hinblick auf die verwendeten Gattungen lässt sich nur Klgl 5 eindeutig als „Volksklagelied“ bestimmen. Die übrigen Klagelieder enthalten Gattungsmischungen: Primär stellen Klgl 1, 2 und 4 dabei „Leichenlieder“ (über Jerusalem) dar, die Grundstruktur von Klgl 3 bildet ein Klagelied des Einzelnen, doch gehen die Lieder jeweils in andere Formen über.
50.2.
Entstehung des Threnibuches
Die unterschiedliche Buchstabenfolge in Klgl 1 auf der einen und Klgl 2–4 auf der anderen Seite ist wohl als Indiz für eine Mehrzahl von Verfassern zu werten (vgl. u. a. Meyer). Auch findet sich die Auffassung, dass Jeremia der Verfasser der Klagelieder sei, noch nicht in der hebr. Textüberlieferung. Sie ist erst für die LXX (Klgl 1 LXX) bezeugt (vgl. jedoch auch den babylonischen Talmud bBaba batra 15a) und hat sich möglicherweise im Anschluss an 2Chr 35,25 gebildet. Gemeinsam ist Klgl 1–5 jedoch der Rückbezug auf die Zerstörung Jerusalems von 587 v. Chr. (anders noch Rudolph, der Klgl 1 schon nach der ersten Eroberung Jerusalem von 597 v. Chr. datieren wollte). Auch wird in der Forschung allgemein mit einer Entstehung der Klagelieder in Palästina (im Umkreis Jerusalems) gerechnet. Strittig ist der terminus ad quem der Entstehung der Lieder: Die Mehrheitsmeinung geht davon aus, dass die Lieder noch in der Exilszeit vor dem Kyrusedikt von 538 v. Chr. gedichtet wurden, eine Minderheit vertritt die Auffassung,
434
Die Schriften des AT
dass Klgl 1–5 nicht vor dem 4. Jh. abgeschlossen vorlagen (vgl. u. a. Kaiser mit dem Hinweis, dass Klgl 3 bereits den Gegensatz zwischen einer eschatologisch gesinnten Minderheit und einer antieschatologisch eingestellten Mehrheit des Gottesvolkes erkennen lässt). Die Formunterschiede zwischen den einzelnen Liedern deuten eventuell auf ursprüngliche Eigenständigkeit hin. Allerdings finden sich auch Hinweise dafür, dass Klgl 2 Vorlage für Klgl 1 und 4 war (vgl. Brandtscheidt, Kaiser, Levin). Die spätere Sammlung der Lieder könnte mit ihrer gottesdienstlichen Verwendung in Klagefeiern zusammenhängen, an denen der Katastrophe von 587 v. Chr. gedacht wurde (vgl. bereits Sach 7,3.5; 8,19).
50.3.
Theologische Bedeutung
Wie das Dtr. Geschichtswerk versuchen auch die Klagelieder die Katastrophe von 587 v. Chr. als Folge des Zornes Jahwes (2,1 ff.; 3,43 ff.) über die Schuld des Volkes Israel (1,8.13f.; 3,42; 4,6; 5,7.16) zu verstehen. Dabei wird hier ebenso wie im Dtr. Geschichtswerk die Kritik der Schriftpropheten aufgenommen – vor allem die an den Heilspropheten (vgl. 2,14; 4,13) und an der Bündnispolitik (vgl. 4,17; 5,6f.). Gleichzeitig verweisen die Klagelieder auf Jahwe als einzigen Tröster (1,9.16 f. 21; 2,18). Sie sind dabei bestimmt von der allerdings nur zurückhaltend geäußerten Hoffnung, dass Jahwe sein Volk nicht auf ewig verstoßen wird (3,31; 4,22; 5,21 f.).
50.4.
Ausgewählte Literatur
Albrektson, B.: Studies in the Text and Theology of the Book of Lamentations, Lund 1963. Berges, U.: Klagelieder, HThKAT, Freiburg 2002. Boecker, H.J.: Klagelieder, ZBKAT 21, Zürich 1985. Brandscheidt, R.: Gotteszorn und Menschenleid. Die Gerichtsklage des leidenden Gerechten in Klgl 3, Trier 1983. Emmendörfer, M.: Der ferne Gott, Tübingen 1998. Gerstenberger E.S.: Der klagende Mensch, in: FS G. von Rad, München 1971, 64–72. –: Psalms Part 2 and Lamentations, FOTL 15, Grand Rapids (Mich.) 2001. Groß, H.: Klagelieder, NEB 14, Würzburg 1986, 3–42. Johnson, B.: Form and Message in Lamentations, ZAW 97, 1985, 58–73. Kaiser, O.: Die Klagelieder, in: ATD 16/2, Göttingen 31981, 291–386. Kraus, H.J.: Klagelieder (Threni), BKAT 20, Neukirchen-Vluyn 41983. Levin, C.: Art. Klagelieder Jeremias, RGG4 4, 2001, 1394–1396.
Lied- und Psalmendichtung
435
Meyer, I.: Die Klagelieder, in: E. Zenger u. a., Einleitung in das AT, Stuttgart 42001, 430–435. Michalowski, P.: The Lamentation over the Destruction of Sumer and Ur, Winona Lake 1989. Plöger, O.: Die Klagelieder, in: HAT 1/18, Tübingen 21969, 127–164. Römer, W.H.P.: Klagelieder in sumerischer Sprache, in: TUAT 2, Gütersloh 1986/91, 691–712. Rudolph, W.: Das Buch Ruth – Das Hohe Lied – Die Klagelieder, KAT 17/1–3, Gütersloh 1962. Wanke, G.: Art. Klagelieder, TRE 19, 1990, 227–230. Westermann, C.: Die Klagelieder. Forschungsgeschichte und Auslegung, NeukirchenVluyn 1990.
§ 51
Das Hohelied
51.1.
Aufbau des Buches
Obwohl das Hohelied eine Sammlung einzelner Liebeslieder enthält, lässt sich eine Komposition des Aufbaus erkennen. Dabei ist zwar kein inhaltlicher Gedankenfortschritt feststellbar (das Nebeneinander von Erfüllungs- und Trennungserfahrungen der Liebenden bleibt bis zum Schluss erhalten), doch wird das Buch durch die beschwörende Anrede der Frau an die Töchter Jerusalems mit der Aufforderung, ihre Liebe zu unterstützen (2,7; 3,5; 5,8; 8,4), wohl in vier Teile und einen Schlussabschnitt gegliedert (vgl. Rendtorff; auch Heinevetter). A. B. C.
1,2–2,7 Wechselseitige Liebeserklärungen von Frau und Mann 2,8–3,5 Liebeserklärungen der Frau 3,6–5,8 Liebeserklärungen des Mannes (4,1–12; 5,1) mit chorischen Rahmenelementen (3,6–11 und 5,2–8). D. 5,9–8,4 Liebeserklärungen der Frau (5,9–6,3 gegenüber dem Chor), des Mannes (6,4–7,10) und wieder der Frau (7,11–8,4 vor allem gegenüber dem Mann) Schluss: 8,5–14 Wechselseitige Liebeserklärungen von Frau und Mann mit der Feststellung über die Liebe: „Die Liebe ist stark wie der Tod“ (V. 6).
436
51.2.
Die Schriften des AT
Entstehung des Buches
Die in der sekundären Überschrift des Buches (Hld 1,1) vertretene Abfassung des Hld durch Salomo wird durch den Inhalt des Hld nicht bestätigt: Vielmehr sprechen die Erwähnungen Salomos in Hld 1,5; 3,7.9.11 und vor allem 8,11 f. gegen eine Verfasserschaft Salomos. Eher dürfte hier – wie es auch in neuzeitlichen arabischen Liedern belegt und bis heute im Judentum üblich ist – der Bräutigam mit dem König (1,4.12; 6,8f.) und dabei auch mit dem König Salomo (3,11) verglichen werden (Wetzstein). Wie die Sprache zeigt, stammen die jetzt vorliegenden Lieder des Hld aus spätnachexilischer Zeit (vgl. die durchgehend gebrauchte Relativpartikel ˇsæ; das persische Lehnwort #appiryôn „Tragsessel“ in 3,9). Angesichts einer gewissen Verwandtschaft mit der alexandrinischen Bukolik (vgl. Müller, Heinevetter) ist dabei am ehesten an die frühhellenistische Zeit (3. Jh. v. Chr.) zu denken. Die mehrfach vorkommende Anrede an die „Töchter Jerusalems“ deutet auf eine Entstehung im Bereich Jerusalems. Die in das Hld aufgenommenen Lieder greifen zwar auf volkstümliche Überlieferungen zurück, stellen aber in der vorliegenden Form Kunstlieder aus dem Kreis der nachexilischen Weisheit (Würthwein) dar. Die dabei benutzten Gattungen sind am detailliertesten von Friedrich Horst beschrieben worden. Besonders klar erkennbar ist das „Beschreibungslied“ (vgl. arab. wasf), wie es in . 4,1 ff.; 6,4 ff.; 7,1 ff. und auch auf den Mann bezogen in 5,10 ff. vorliegt. Zu nennen sind außerdem: das „Bewunderungslied“ (1,9–11; 1,15–17; 2,1–3; 4,9–11; 6,4–7.10; 7,7–10), die „Selbstschilderung“ (1,5 f.; 8,8–10), das „Prahllied“ (6,8 f.; 8,11 f.) und das „Sehnsuchtslied“ (1,2–4; 2,4f.; 7,12 f.; 8,1 f.; 8,6 f.). Dass die Darstellung der geliebten Frau oder des geliebten Mannes auf Vorstellungen zurückgreift, die sich ansonsten als Attribute von altorientalischen Göttinnen und Göttern finden, spricht nicht für eine ursprüngliche Herkunft des Hld aus der kultdramatischen Darstellung einer „Gotteshochzeit“ (so zuletzt Schmökel); vielmehr haben Liebende immer die Bedeutung der oder des Geliebten als „göttlich“ erfahren und beschrieben (Keel). Auch bilden Liebeslieder immer eine ersehnte Wirklichkeit ab, so dass es nicht sinnvoll erscheint, das Hld mit den atl. rechtlichen Bestimmungen zum Verhältnis der Geschlechter in Übereinstimmung zu bringen und seine Lieder ausschließlich auf die Situation der Hochzeit zu beziehen (so Würthwein). Andererseits lassen sich aus dem Hld auch keine Rückschlüsse auf eine nur begrenzte Gültigkeit des atl. Eherechts ziehen (gegen Gerleman).
Lied- und Psalmendichtung
51.3.
437
Theologische Bedeutung
Die jüdische und christliche Auslegung des Hld war bis in die Neuzeit hinein bestimmt von der allegorischen Deutung, die das Verhältnis von Mann und Frau im Hld auf das Verhältnis von Jahwe und Israel (vgl. schon in der Prophetie Hos 1–3; Jer 2; Ez 16; 23; auch Jes 5) bzw. auf das Verhältnis von Christus zur Kirche bzw. zur Seele des Glaubenden bezieht. Für diese Deutung bietet allerdings der Text des Hld keinen Anhaltspunkt. Auch spricht nichts dafür, dass erst durch die allegorische Deutung das Hld in den Kanon aufgenommen wurde (vgl. hierzu vor allem Rudolph). Kanonisiert worden ist das Hld offensichtlich wie auch Spr und Koh als Salomoschrift. Dies spricht dafür, dass das Buch unter schöpfungstheologischen Gesichtspunkten, wie sie die atl. Weisheitsliteratur bestimmen, kanonische Bedeutung erhalten hat. Jedenfalls dürfte auch Hld 8,6 MT (anders LXX) die im Hld geschilderte erotische Liebe als Gabe Jahwes verstehen, die Tod und Chaosmächte überwindet: „Stark wie der Tod ist die Liebe, Leidenschaft wie die Unterwelt fest. Ihre Gluten sind Feuergluten, eine Jahweflamme“ (Übersetzung nach Müller).
51.4.
Ausgewählte Literatur
Bosshard-Nepustil, E.: Zu Struktur und Sachprofil des Hohenlieds, BN 81, 1996, 45–71. Bühlmann, W.: Das Hohelied, NSKAT 15, Stuttgart 1997. Exum, J.C.: A Literary and Structural Analysis of the Song of Songs, ZAW 85, 1973, 47–79. Fox, M.V.: The Song of Songs and the Ancient Egyptian Love Songs, Madison (Wisconsin) 1985. Gerleman, G.: Ruth. Das Hohelied, BKAT 18, Neukirchen-Vluyn 1965. Heinevetter, H.-J.: „Komm nun, mein Liebster. Dein Garten ruft Dich!“ Das Hohelied als programmatische Komposition, Frankfurt a. M. 1988. Herrmann, W.: Gedanken zur Geschichte des altorientalischen Beschreibungsliedes, ZAW 75, 1963, 176–197. Horst, F.: Die Formen des althebräischen Liebesliedes, in: Gottes Recht. Gesammelte Studien zum Recht im AT, München 1961, 176–187. Kaiser, O.: Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des AT 3: Die poetischen und weisheitlichen Werke, Gütersloh 1994. Keel, O.: Deine Blicke sind Tauben. Zur Metaphorik des Hohen Liedes, Stuttgart 1984. –: Das Hohelied, ZBKAT 18, Zürich 21992. Krinetzki, G.: Hoheslied, in: NEB, Würzburg 1980. Müller, H.-P.: Die lyrische Reproduktion des Mythischen im Hohenlied, ZThK 73, 1976, 23–41. –: Das Hohelied, in: ATD 16/2, Göttingen 41992, 1–90.
438
Die Schriften des AT
–: Travestien und geistige Landschaften. Zum Hintergrund einiger Motive bei Kohelet und im Hohenlied, ZAW 109, 1997, 557–574. Murphy, R.E.: The Song of Songs, Hermeneia, Minneapolis 1990. Nissinen, M.: Love Lyrics of Nabu and Taˇsmetu, in: FS O. Loretz, Münster 1998, 585–634. Otto, E.: Art. Hohes Lied, RGG4 3, 2000, 1838–1840. Rendtorff, R.: Das AT. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 41992. Reventlow, H. Graf/Kuhn, P./Köpf, U./Vincent, J.M.: Art. Hoheslied, TRE 15, 1986, 499–514. Rudolph, W.: Das Buch Ruth – Das Hohe Lied – Die Klagelieder, KAT 17/1–3, Gütersloh 1962. Schmökel, H.: Heilige Hochzeit und Hoheslied, Wiesbaden 1956. Wetzstein, J.G.: Die syrische Dreschtafel 4. Die Tafel in der Königswoche, Zeitschrift für Ethnologie 5, 1873, 270–302. Würthwein, E.: Zum Verständnis des Hohenliedes, ThR NF 32, 1967, 177–212. –: Das Hohelied, in: HAT 1/18, Tübingen 21969, 25–71.
51.5. 1. 2. 3. 4. 5.
Repetitionsthemen zur atl. Psalmen- und Lieddichtung: Die Gattungen der atl. Psalmen, ihr Sitz im Leben und ihre theologische Bedeutung. Poesie und poetische Formen im AT. Klagetexte im AT (vgl. dazu auch § 32). Zionstheologie in den Psalmen und in den Prophetenbüchern. Die Vorstellung vom Königtum Gottes im AT (vgl. dazu auch § 3; 25 und 31).
Weisheitsliteratur
439
Kapitel 5: Weisheitsliteratur
§ 52
Die israelitische Weisheit und ihre Gattungen
52.1.
Das Phänomen „Weisheit“
Die atl. Bücher „Sprüche“, „Hiob“ und „Kohelet“ werden meist unter dem Titel „Weisheitsliteratur“ zusammengefasst. Der Begriff „Weisheit“ (håkm¯ah) bezieht sich im AT jedoch zunächst nicht auf einen Bereich, der sich primär in literarischer Produktion zeigt. Vielmehr meint „Weisheit“ die Fähigkeit, aufgrund von Erfahrung die Ordnungen der Wirklichkeit zu erkennen, wobei diese Fähigkeit sich zunächst nicht auf Theorie, sondern auf Alltagspraxis bezieht. „Weise“ findet man in Israel daher zunächst im Beamtentum (vgl. nur Jes 3,3 mit dem parallelen Gebrauch von „Ratgebern“ und „Weisen“). „Weisheit“ kann sich aber auch in handwerklicher Kunstfertigkeit äußern, wie sich dies beispielsweise bei Bezalel, dem mit der Herstellung des Begegnungszeltes beauftragten Kunsthandwerker (Ex 31,2 ff.; 35,30 ff.) zeigt. Auch Frauen, die in der Lage sind, die Ritualordnung der Totenklage durchzuführen, werden als „weise“ bezeichnet (Jer 9,16). Die in diesen praktischen Erfahrungen gewonnenen Erkenntnisse haben nun sowohl in Israel als auch im Alten Orient den Weg zur schriftlichen Fixierung gefunden. Dabei kann man sowohl in der ägyptischen als auch in der mesopotamischen Weisheit zwischen literarischen Formen von sogenannter „Naturweisheit“ und von sogenannter „Lebensweisheit“ unterscheiden. Während letztere in Sammlungen von sich primär auf den ethischen Bereich beziehenden „Lebenslehren“ tradiert wird, werden die Erkenntnisse über die Phänomene der Natur in „Namenslisten“ (Onomastika) zusammengestellt. Dass es auch in Israel Naturweisheit gegeben hat, ist vor allem 1Kön 5,13 zu entnehmen, wo davon berichtet wird, dass Salomo von „Bäumen“, „Tieren des Landes“, „Vögeln“, „Gewürm“ und „Fischen“ gedichtet hat. Mit Albrecht Alt dürfte diese Angabe auf Onomastika zu deuten sein. Allerdings sind uns im AT keine direkten Zeugnisse solcher israelitischen Listenwissenschaft erhalten (vgl.
440
Die Schriften des AT
jedoch Hi 38 ff. als möglicherweise indirektes Zeugnis und ebenfalls die Naturdarstellungen der nachatl. apokalyptischen Schriften und dazu von Rad). Was uns im AT an Weisheitsliteratur erhalten ist, sind nahezu ausschließlich Zeugnisse der „Lebensweisheit“, die wie die ägyptischen und mesopotamischen Lebenslehren „ethische Verhaltensregeln“ einschließlich des hinter ihnen stehenden Menschen- und Gottesverständnisses thematisieren. Vor allem zu nennen sind hier – wie bereits erwähnt – das Buch der „Sprüche“ und das des Kohelet. Aufgrund der altorientalischen Parallelen wird man außerdem auch das Buch „Hiob“ der Weisheitsliteratur zuordnen können, auch wenn in ihm in größerem Maße nichtweisheitliche Redegattungen verwendet sind.
52.2.
Die Redegattungen der atl. Lebensweisheit
Der ethischen Zielsetzung der Lebensweisheit wird am stärksten die Gattung des Mahnwortes gerecht. Es ist meist im Imperativ oder im Iussiv der 2. Person Singular formuliert und wird in der Regel mit einem kî-Satz begründet. Ein auch im NT (Jak 4,13 f.; Mt 6,34) zitiertes Beispiel findet sich in Spr 27,1: „Rühme dich nicht des morgigen Tags, denn (kî) du weißt nicht, was ein Tag bringt“. Auch die Aussageworte, die formulieren, „wie es in der Welt zugeht“, wollen mit diesen Beobachtungen primär das ethische Verhalten beeinflussen, indem sie auf negative bzw. positive Folgen bestimmter Verhaltensweisen aufmerksam machen. Dabei finden sich im Sprüchebuch unterschiedliche Untergattungen des Aussageworts. So liegt in Spr 25,23 „Nordwind bringt Regen, und heimliches Geschwätz schafft saure Gesichter“ ein Sprichwort vor. Formal davon zu unterscheiden ist der sog. „Komparativspruch“ („Besser als“-Spruch), wie ihn Spr 25,24 belegt: „Besser in einer Ecke des Daches wohnen als in einem ganzen Haus mit einer zänkischen Frau“. In Spr 26,11 findet sich schließlich ein Vergleichsspruch: „Wie ein Hund, der zu seinem Gespei zurückkehrt, ist ein Tor, der seine Dummheit wiederholt“. Zu den Aussageworten zu rechnen sind auch die Zahlensprüche, wie sie vor allem in Spr 30,15–31 vorliegen. Meist handelt es sich hierbei um „gestaffelte Zahlensprüche“ (vgl. u. a. 30,18 f.: „Drei sind mir zu wunderbar und vier verstehe ich nicht: Des Geiers Weg am Himmel, der Schlange Weg auf dem Felsen, der Weg eines Schiffes mitten im Meer und der Weg eines Mannes mit einer Frau“. Ein „einfacher Zahlenspruch“ ist in 30,15a belegt: „Der Blutegel hat zwei Töchter, die heißen: Gib her, gib her (hab hab)!“ Neben diesen meist nur ein bis zwei Verse umfassenden Gattungen der Spruchweisheit liegen in Spr 1–9 längere Lehr- und Mahnreden vor. Auch im Ko-
Weisheitsliteratur
441
heletbuch ist mit umfangreicheren Reflexionen zu rechnen, die teilweise auf kleinere Spruchgattungen Bezug nehmen: So sind beispielsweise in Koh 7,1–14 sechs Komparativsprüche zu einer neuen thematischen Einheit verbunden.
52.3.
Zu ausgewählter Literatur siehe unten § 53.
§ 53
Das Buch der Sprüche
53.1.
Aufbau
Das Proverbienbuch setzt sich aus folgenden sieben Sammlungen zusammen: A. B. C. D. E. F. G.
53.2.
Spr 1–9
Sprüche Salomos, des Sohnes Davids, des Königs von Israel Spr 10,1–22,16 Sprüche Salomos Spr 22,17–24,22 Worte von Weisen Spr 24,23–34 Auch diese sind Worte von Weisen (Anhang zu C oder zu B+C) Spr 25–29 Auch diese sind Sprüche Salomos, die die Männer Hiskias, des Königs von Juda, gesammelt haben Spr 30 Worte Agurs, des Sohnes des Jake, aus Massa Spr 31 Worte an Lemuel, den König von Massa, die ihn seine Mutter lehrte
Verfasserschaft durch Salomo
Im Widerspruch zu den Überschriften einiger in Spr aufgenommener Sammlungen (vgl. 22,17 und 24,23: Worte von Weisen; 30,1: Worte Agurs; 31,1: Worte an Lemuel, die ihn seine Mutter lehrte) wird in 1,1 das Sprüchebuch als ganzes auf Salomo zurückgeführt. Hinter dieser Zuweisung von Spr an Salomo steht die Auffassung, dass Salomo den exemplarischen Weisen des AT darstellt und gleichzeitig seine Weisheit als von Gott inspiriert (vgl. 1Kön 3,12) anzusehen ist. Die Vorstellung von Salomo als „exemplarischem Weisen“ geht dabei zurück auf die Überlieferung von 1Kön 5,12, nach der Salomo 3000 Sprüche und 1005
442
Die Schriften des AT
Lieder und außerdem von Bäumen, Landtieren, Vögeln, Gewürm und Fischen gedichtet habe. Mit der letzteren Angabe (5,13) dürfte an einen Beitrag Salomos zur Naturweisheit in Form von Onomastiken (Namenslisten) gedacht sein (vgl. oben § 52.1.). Mit Sprüchen und Liedern sind wohl die Gattungen der Lebensweisheit gemeint, wie wir sie im Proverbienbuch finden. Dass man Salomo in der atl. Überlieferung als den Repräsentanten der Weisheit verstand, dürfte darauf zurückgehen, dass mit seiner Regierungszeit (vgl. oben § 4.3.4.) die Weisheit eine besondere Bedeutung erhielt: Im Zusammenhang der durch Salomo vorgenommenen Konsolidierung des Davidischen Reiches hat sich Salomo wohl für eine Art Ausbildung der Beamtenschaft im Hinblick auf Aufgaben in der Diplomatie, im Außenhandel und im Kulturimport eingesetzt und dazu die Ausbreitung von „Weisheit“ in seinem Reich gefördert (ob er zu diesem Zweck Weisheitsschulen errichtet hat, wie häufig angenommen wird, ist allerdings unsicher).
53.3.
Die einzelnen Sammlungen des Proverbienbuches
53.3.1. Nachexilische Sammlungen Die das Proverbienbuch rahmenden Sammlungen A. (Spr 1–9) und F. (Worte Agurs: Spr 30) + G. (Worte an Lemuel: Spr 31) dürften erst nachexilischen Ursprungs sein. Spr 30 scheint nicht nur die nachexilische Vorstellung von einer göttlichen Inspiration der Weisheit zu vertreten, sondern auch bereits eine verbindliche Sammlung von Gottesworten vorauszusetzen, denen nichts hinzugefügt werden soll (30,5 f.; vgl. Meinhold und Gunneweg). Für späte Entstehung von Spr 31 spricht u. a., dass das Lob der tüchtigen Hausfrau in 31,10–31 hier als Lob der personifizierten Weisheit verstanden wird (Meinhold). In die nachexilische Zeit dürften auch Spr 1–9 (Hauptthemen: Spr 5–7*: Warnung vor der „fremden Frau“; Spr 8–9; auch 1,20–33: Selbstempfehlung der personifizierten „Weisheit“) gehören (anders Kayatz, Lang). Zwar sind die längeren Lehr- und Mahnreden von Spr 1–9 auch schon in vorexilischer Zeit denkbar, doch lässt sich die Vorstellung einer personifizierten Weisheit, wie sie in Spr 8 vorliegt, kaum vorexilisch verorten (Spr 8,22 ff. „Weisheit als erstes Schöpfungswerk Gottes“ stellt wohl gegenüber Hi 28 „Gott allein kennt die Stätte der Weisheit“ ein jüngeres Traditionsstadium dar). Umstritten ist, ob Spr 1–9 eine eigenständige Sammlung bildet oder schon als Prolog für das gesamte Sprüchebuch konzipiert wurde. Jedenfalls ist Spr 1,1–7 als Überschrift über das ganze Buch zu verstehen (Motto: Jahwefurcht als Anfang der Weisheit).
Weisheitsliteratur
443
Noch nicht endgültig geklärt ist auch, ob mit einer durchgehenden Redaktion des Sprüchebuches zu rechnen ist (vgl. vor allem das Vorkommen von JahweSprüchen an Wendepunkten der Buchkomposition und dazu McKane, Meinhold und Whybray). Jedenfalls ist auch mit bereits vorexilischen Jahwe-Sprüchen zu rechnen. 53.3.2. Vorexilische Sammlungen 53.3.2.1. Die „salomonische“ Sammlung (B. 10,1–22,16) Diese von der Forschung meist als ältestes Element des Sprüchebuches angesehene Sammlung zerfällt – wie zuletzt Ruth Scoralick gezeigt hat – in die beiden Teilsammlungen Bl Spr 10,1–15,32 und B2 Spr 16,1–22,16 (15,33 ist redaktionelle Klammer zwischen den beiden Teilsammlungen). Während in B1 der Gegensatz zwischen dem Gerechten (Weisen) und dem Frevler (Toren) bestimmend ist und ein überwiegend ländlicher Lebensbereich (Ackerbau, Viehzucht) vorausgesetzt wird, ist für B2 stärker von einem städtischen Hintergrund (Handwerk, Handel, Gegensatz arm-reich bei kritischer Bewertung des Reichtums) auszugehen. Auch dominieren Themen wie „Jahwe und der König“, „Beherrschung des Wortes“, „Wahrung des Rechts“, so dass an eine Unterweisung für königliche Beamte (Skladny) gedacht werden kann. Jedenfalls spricht in den beiden Teilsammlungen von B nichts gegen eine vorexilische Entstehung (vgl. auch Scherer, der mit einer am Jerusalemer Königshof des 8. Jh. lokalisierten Redaktion der Sammlung rechnet). 53.3.2.2. Die „hiskianische“ Sammlung (E. Spr 25–29). Nach der redaktionellen Überschrift handelt es sich bei Spr 25–29 um Sprüche, die von den Männern (= Beamten?) Hiskias gesammelt wurden. Da in ihr ähnliche Themen (häufig differenziert man im Anschluss an Skladny in Spr 25–27 „Bauern- oder Handwerkerspiegel“ und Spr 28–29 „Regentenspiegel“) wie in Spr 10,1–22,16 angesprochen werden, kann auch bei ihr mit vorexilischer Entstehung gerechnet werden. Auch gegen die Rückführung der Sammlung der Sprüche auf Kreise am Königshof Hiskias spricht nichts (anders Kaiser). 53.3.2.3. Die „ägyptisierende“ Sammlung (C. 22,17–24,22) Zu 22,17–23,11 liegen in der aus dem 12. Jh. v. Chr. stammenden ägyptischen „Lehre des Amenemope“ enge Beziehungen vor. Bemerkenswert ist, dass – wie Diethard Römheld nachgewiesen hat – die ägyptische Lehre (möglicherweise über eine kanaanäische Zwischenstufe?) übernommen wurde, ohne dass die die Lehre des Amenemope bestimmende „persönliche Frömmigkeit“ rezipiert
444
Die Schriften des AT
wurde. Dies dürfte dafür sprechen, dass die ägyptische Lehre in einer Zeit übernommen worden ist, in der in Israel die traditionelle Sittlichkeit noch als unangefochten empfunden wurde (mittlere Königszeit). Auch in 23,12–18 ist mit Beziehungen zur ägyptischen Weisheit zu rechnen (die Ähnlichkeit zwischen 23,13 f. und dem aramäischen Achikarspruch 82 „Verschone deinen Sohn nicht mit der Rute, sonst kannst du ihn nicht bewahren vor dem Bösen; wenn ich dich schlage, mein Sohn, stirbst du nicht …“ ergibt sich dagegen aus einer allgemein altorientalischen weisheitlichen Anschauung). 53.3.2.4. Anhang (D. 24,23–34) Von der Thematik (vgl. u. a. 24,30–34: Warnung vor Faulheit) her spricht nichts dagegen, dass diese an die ägyptisierende Sammlung angehängten Sprüche auch bereits aus der Königszeit stammen.
53.4.
Sitz im Leben der „Spruchweisheit“
Umstritten ist, ob die Spruchweisheit Israels aus der mündlichen Volksweisheit (Westermann, Golka) bzw. „Sippenweisheit“ (Wolff, Gerstenberger) erwachsen oder auf die mit der Beamtenausbildung verbundene höfische Weisheit (Hermisson, Preuß) zurückzuführen ist. Dass die Gattung des Sprichworts bzw. der Mahnworte auch außerhalb der höfischen Weisheit zuhause ist, dürfte nicht zu bestreiten sein. Doch lässt sich die literarische Sammlung und die kunstvolle Stilisierung der Spruchweisheit nur für den höfischen Bereich nachweisen. So gehörten in Ägypten und Mesopotamien Weisheitslehren und Spruchsammlungen in den Zusammenhang der Schreiberausbildung für die staatliche Verwaltung. Für Spr 25ff. wird dies auch für den atl. Kontext bezeugt (vgl. die „Männer Hiskias“ als Sammler von Weisheitssprüchen in Spr 25,1). Schließlich deutet auch die Form der Lehrrede (Spr 1–9) auf einen Ursprung im Unterricht von Weisheitslehrern hin (vgl. nur die durchgehende Anrede „mein Sohn“ in 1,8.10.15; 2,1; 3,1 etc.).
53.5.
Theologische Bedeutung
53.5.1. Offenbarungsverständnis Die Weisheit des Sprüchebuches unterscheidet sich von anderen Teilen des AT dadurch, dass sie nicht auf der Grundlage göttlicher Offenbarung argumentiert, sondern die eigene Beobachtung des Weisen in den Mittelpunkt stellt. So warnt beispielsweise Spr 24,30 ff. vor der Faulheit, indem der Abschnitt auf die Erfah-
Weisheitsliteratur
445
rung verweist, dass das Lebensprinzip „Sich-Ausruhen“ zu Armut und Mangel führt. Trotzdem nimmt die israelitische Weisheit indirekte göttliche Autorität für sich in Anspruch: Sie rechnet mit einer mittelbaren Kundgabe Gottes durch die Ordnungen der Schöpfung, wie dies vor allem durch die nachexilischen Lehrreden Spr 1–9 expliziert wird. So weist Spr 3,19 darauf hin, dass Jahwe die Erde „in Weisheit“ gegründet hat (vgl. auch Ps 104,24). Auch leitet die personifizierte Weisheit in Spr 8 f. ihre Autorität davon ab, dass sie als erstes Geschöpf Gottes bei der Schöpfung bereits anwesend war (vgl. Spr 8,27: „Als er die Himmel bereitete, war ich da.“). 53.5.2. Menschenverständnis Diesem schöpfungstheologischen Ansatz entsprechend, steht in der Weisheit nicht der Mensch als Glied des Gottesvolkes im Mittelpunkt des Interesses. Die spezifischen Erfahrungen des Gottesvolkes in der Geschichte bleiben daher weitgehend ausgeblendet. Vielmehr konzentriert sich die atl. Weisheit auf den Menschen in seinen alltäglichen Bezügen und den sie bestimmenden Ordnungen der allgemein menschlicher Erfahrung. Für die ethische Orientierung sieht die atl. Weisheit dabei den Tun-ErgehenZusammenhang als grundlegend an. So weist der Anfang der Sammlung 10,1–22,16 gleich darauf hin, dass Jahwe das Verlangen des Gerechten sättigt, während er die Gier der Gottlosen zurückstößt (10,3). Die hier vermittelte Grunderfahrung macht deutlich, dass es sich lohnt, nach Gerechtigkeit und Weisheit zu streben, da Leben ihr Lohn ist, während Gottlosigkeit und Torheit unzeitigen Tod heraufbeschwören. Allerdings versteht schon die ältere Weisheit den Tun-Ergehen-Zusammenhang nicht als Automatismus (vgl. Hausmann), vielmehr denkt sie an Mächte, Instanzen und Institutionen, die den Zusammenhang von Tun und Ergehen garantieren. Auch im AT wird wie in Ägypten mit einer solchen „konnektiven Gerechtigkeit“ (Assmann) gerechnet. Außerdem macht atl. Weisheit darauf aufmerksam, dass menschlicher Erkenntnis die Führungen Jahwes ein Geheimnis bleiben: „Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber Jahwe allein lenkt seinen Schritt“ (Spr 16,9). Zum Problem wird diese Souveränität Jahwes gegenüber dem Tun-Ergehen-Zusammenhang jedoch erst im Hiob- und im Koheletbuch.
446
53.6.
Die Schriften des AT
Ausgewählte Literatur
Alt, A.: Die Weisheit Salomos, in: Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel 2, München 1953, 90–99. Assmann, J.: Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 21995. Baumann, G.: Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1–9. Traditionsgeschichtliche und theologische Studien, Tübingen 1996. Camp, C.V.: Wisdom and the Feminine in the Book of Proverbs, Sheffield 1985. Clines, D.J.A./Lichtenberger, H./Müller, H.-P.(Hg.): Weisheit in Israel, Münster 2003. Cook, J.: #iˇsˇsa¯ h z¯ar¯ah (Proverbs 1–9 Septuagint): A Metaphor for Foreign Wisdom?, ZAW 106, 1994, 458–476. –: The Septuagint of Proverbs, Leiden 1997. Crenshaw, J.L.: Education in Ancient Israel. Across the Deadening Silence, New York 1998. Ernst, A.B.: Weisheitliche Kultkritik: Zur Theologie und Ethik des Sprüchebuches und der Prophetie des 8. Jh., Neukirchen-Vluyn 1994. Fuhs, H.F.: Sprichwörter, NEB, Würzburg 2001. Gammie, J.G./Perdue, L.G. (Hg.): The Sage in Israel and the Ancient Near East, Winona Lake (Indiana) 1990. Gerstenberger, E.: Wesen und Herkunft des „apodiktischen Rechts“, Neukirchen-Vluyn 1965. Gese, H.: Lehre und Wirklichkeit in der alten Weisheit, Tübingen 1958. Gilbert, M. (Hg.): La Sagesse de l’Ancient Testament (1979), Leuven 21990. Golka, F.: Die Königs- und Hofsprüche und der Ursprung der israelitischen Weisheit, VT 36, 1986, 13–36. –: Wisdom by (the) people for (the) people. Eine Antwort an J.A. Loader, ZAW 112, 2000, 78–79. Gunneweg, A.H.J.: Weisheit, Prophetie und Kanonformel. Erwägungen zu Proverbia 30,1–9, in: FS H.D. Preuß, Stuttgart 1992, 253–260. Hausmann, J.: Studien zum Menschenbild der älteren Weisheit, Tübingen 1995. Hermisson, H.-J.: Studien zur israelitischen Spruchweisheit, Neukirchen-Vluyn 1968. Janowski, B.: Die Tat kehrt zum Täter zurück. Offene Fragen im Umkreis des „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“, in: Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des AT 2, Neukirchen-Vluyn 1999, 167–191. Kaiser, O.: Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des AT 3: Die poetischen und weisheitlichen Werke, Gütersloh 1994. –: Gottes und der Menschen Weisheit. Gesammelte Aufsätze, Berlin/New York 1998. Kayatz, C.: Studien zu Proverbien 1–9. Eine form- und motivgeschichtliche Untersuchung unter Einbeziehung ägyptischen Vergleichsmaterials, Neukirchen-Vluyn 1966. Koch, K.: Sädäq und Macat. Konnektive Gerechtigkeit in Israel und Ägypten, in: J. Assmann/B. Janowski/M. Welker (Hg.), Gerechtigkeit, München 1998, 37–64. Köhlmoos, M.: Art. Weisheit/Weisheitsliteratur II. AT, TRE 35, 2003, 486–497. Krispenz, J.: Spruchkompositionen im Buch Proverbia, Frankfurt a. M. 1989.
Weisheitsliteratur
447
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448
Die Schriften des AT
§ 54
Das Buch Hiob
54.1.
Aufbau
Das Hiobbuch gliedert sich in zwei Bestandteile: Den Rahmen bildet die Prosaerzählung 1,1–2,13 (Prolog) und 42,7–17 (Epilog). Im Zentrum des Buches steht die sog. „Hiobdichtung“ (3,1– 42,6), die sich aus folgenden Teilen zusammensetzt: I.
II. III. IV.
54.2.
3–28:
Dialog zwischen Hiob (Reden in 3; 6 f.; 9 f.; 12–14; 16f.; 19; 21; 23 f.; 26 f.) und den drei Freunden Elifas von Teman (4 f.; 15; 22), Bildad von Schuach (8; 18; 25) und Zophar von Naama; 11; 20). Dabei:
3 4–14 15–21 22–28
Klage Hiobs 1. Redegang 2. Redegang 3. Redegang (mit „Lied von der Weisheit“ Hi 28 als Erweiterung der Hiobrede Hi 27)
29–31 32–37 38,1– 42,6
Herausforderungsrede Hiobs Elihureden Gottesreden mit 2 Antworten Hiobs (40,3–5; 42,1–6)
Die Entstehung des Hiobbuches
54.2.1. Die Rahmenerzählung Dass die beiden Himmelszenen der Hioberzählung (1,6–12; 2,1–7) erst exilischnachexilisch entstanden sind (vgl. zur Satansgestalt Sach 3,1ff.; 1Chr 21,1ff.), ist weitgehend anerkannt. Inwieweit eine vorexilische Rahmenerzählung noch literarkritisch rekonstruierbar ist (vgl. u. a. L. Schmidt: 1,1–5.13–20a.21a.22; 42,11–17*; ähnlich Kaiser) oder ob nur noch überlieferungsgeschichtliche Rückschlüsse auf mündliche Vorstufen möglich sind, ist in der gegenwärtigen Forschung umstritten. Jedenfalls stellt die Rahmenerzählung Hiob als gottergebenen Dulder dar, dessen Gottergebenheit am Ende zur gesteigerten Wiederherstellung des Glückes Hiobs führt.
Weisheitsliteratur
449
54.2.2. Die Hiobdichtung Nach der in der Hiobforschung überwiegenden Meinung stellen die Elihureden (Hi 32–37) keinen ursprünglichen Bestandteil der Hiobdichtung dar: Sie unterbrechen den Zusammenhang zwischen Hiobs Herausforderung an Gott (Hi 29–31) und der im Anschluss daran erwarteten Antwort Gottes (Hi 38 ff.). Auch wird Elihu weder vorher noch in 42,7 ff. erwähnt. Zudem fehlt hier gegenüber den anderen Freundesreden eine Antwort Hiobs. Theologisch stellen die Elihureden vor allem die Deutung des Leidens als Erziehungsmaßnahme Gottes heraus (33,14–22; 36,8–15; vgl. aber auch schon 5,17). Nicht zur ursprünglichen Hiobdichtung gehört wohl auch das Lied von der Weisheit (Hi 28,1–27; einen noch späteren Zusatz bildet 28,28 mit einer anderen, Spr 1,7 zitierenden Weisheitsdefinition): Sein Hinweis auf die Unerkennbarkeit des Ortes der Weisheit passt weder in die Argumentation Hiobs noch in die der Freunde. Möglicherweise verdanken sich im sog. „dritten Redegang“ der Hiobdichtung (Hi 22–28) auch die Bildadrede (25) und die Hiobrede 26 (mit Teilen von Hi 24* und 27*) redaktionellen Zusätzen (Witte). Häufig wird auch die zweite Gottesrede (40,6–41,26) auf eine spätere Redaktion zurückgeführt (vgl. dazu zuletzt van Oorschot). Entstanden ist das Hiobbuch wohl dadurch, dass der Verfasser der ursprünglichen Hiobdichtung die Rahmenerzählung (allerdings wohl nur in ihren Grundbestandteilen) vorfand und auf ihrer Grundlage die Hiobdichtung mit dem Theophanieabschnitt (Hi 38 ff.*) verfasste und sie in die Rahmenerzählung hineinkomponierte. Terminus ad quem für die Entstehung des Hiobbuches stellt die Zeit Jesus Sirachs (um 180 v. Chr.) dar, dem nach Sir 49,9 (hebr.) offensichtlich ein Hiobbuch vorlag. Terminus a quo bildet aufgrund der in der Dichtung vorausgesetzten geistigen Situation (Theodizeeproblematik) die frühe Nachexilszeit. Eine genauere Eingrenzung erweist sich dabei als schwierig, so dass üblicherweise die Hiobdichtung ins 5.–3. Jh. v. Chr. angesetzt wird.
54.3.
Der Traditionsbezug der Formen der Hiobdichtung Hi 3,1– 42,6*
Bestimmend für die Thematik der Hiobdichtung ist die Weisheitstradition: Wie beim weisheitlichen Sprüchebuch steht der Tun-Ergehen-Zusammenhang im Mittelpunkt. Doch geht das Hiobbuch – ähnlich wie das Koheletbuch – von der Infragestellung dieses Zusammenhangs aus, so dass die Theodizeefrage das Buch beherrscht (vgl. Ps 37; 49; 73 und schon in der mesopotamischen Weisheit die
450
Die Schriften des AT
Dichtungen des sog. „Sumerischen Hiob“, der sog. „Babylonischen Theodizee“ und des „Ludlul b¯el n¯emeqi“ und dazu TUAT III, 102–135. 143–157). Bei den „Streitreden“, ist wohl mit Beeinflussung durch Formen des Rechtslebens („Gerichtsreden“) zu rechnen (Richter). Gleichzeitig greift die Hiobdichtung jedoch auch auf Formen der Psalmenüberlieferung zurück: So weisen die Hiobreden Bezüge zum Klagelied des Einzelnen auf, und der Theophanieabschnitt greift auf Elemente des Hymnus zurück (vgl. vor allem Westermann).
54.4.
Die Theologie der Hiobdichtung
54.4.1. Die theologische Position der Freunde Hiobs Die Freunde Hiobs sind als Vertreter der weisheitlichen Auffassung vom Tun-Ergehen-Zusammenhang dargestellt, der mit Leiden als Folge von Sünde rechnet. Dabei dürfen die Freunde nicht im Sinne eines sich über die Erfahrung hinwegsetzenden Vergeltungsdogmatismus verstanden werden: So rechnen sie nicht mit einem unmittelbaren Zusammenhang von Tun und Ergehen, sondern – wie u.a. 4,6–11 zeigt – damit, dass Gerechtigkeit letztendlich zu heilvollem Leben führt. Auch ist Leiden nicht unbedingt direkte Folge von bereits geschehener Sünde, sondern kann als pädagogische Maßnahme Gottes zur Warnung vor Sünde verstanden werden (5,17), wobei auch mit unbewusster Sünde des Menschen zu rechnen ist. Leiden dient ihrer Meinung nach daher auch dazu, die Menschen an ihre allgemeine Sündhaftigkeit zu erinnern (4,17: „Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott?“). Das Problem der Haltung der Freunde ist nicht eine falsche weisheitliche Theologie.Vielmehr besteht es darin, dass ihre Theologie die Einzelerfahrung des Leidens Hiobs nicht ernst nimmt. 54.4.2. Die Auffassung Hiobs Ähnlich differenziert muss auch die Auffassung Hiobs verstanden werden. Hiob stellt den Tun-Ergehen-Zusammenhang in Frage, weil er sein Leiden nicht auf Sünde zurückführen kann, während andererseits Gottlose nicht vom Leiden betroffen werden (21,7–21). Vor allem geht es dabei jedoch um Hiobs Gotteserfahrung: Ihm erscheint Gott als dämonischer Verfolger, der den Gerechten wie den Gottlosen umbringt (9,22 ff.) und auch Hiob selbst zerbricht (19,6 ff.). Dass hierbei nicht nur die weisheitliche Theodizeefrage, sondern auch die Klage des Einzelnen die Hiobdichtung bestimmt, wird daran deutlich, dass Hiob an den Gott, den er anklagt, gleichzeitig auch als einzigen Retter (Goel: „Erlöser“) appellieren kann (16,19–21; 19,25–27).
Weisheitsliteratur
451
54.4.3. Die Antwort der Gotteserscheinung (Hi 38 ff.*) In dieser doppelten Hinsicht muss auch die Antwort der Gottesreden auf die Anklage Hiobs interpretiert werden. Einerseits kommen Hiobs Fragen in der Gottesbegegnung zur Ruhe, wie vor allem Hi 42,5 zeigt. „Vom Hörensagen hatte ich von dir gehört, nun aber hat mein Auge dich gesehen“. Neben diesem „existentiellen“ Verständnis der Gotteserscheinung (Westermann) muss Hi 38ff.* jedoch auch „problemorientiert“ interpretiert werden: Hi 38ff.* widerlegen mit ihrem Hinweis auf die das Chaos bekämpfende Macht Gottes des Schöpfers den Vorwurf Hiobs, Gott behandele Gottlose und Gerechte gleich, so dass die Schöpfung ein Chaos sei. Ottmar Keel hat dabei die These aufgestellt, dass zur Entkräftung des Vorwurfs Hiobs die 1. Gottesrede (Hi 38 f.) auf die altorientalische Vorstellung von Gott als „Herrn der Tiere“ zurückgreife, während die 2. Gottesrede (Hi 40 f.*) Gott im Sinne der ägyptischen Mythologie als „Kämpfer gegen die Chaostiere“ (Behemot, Leviatan) verstehe. Inwieweit sich aus diesen Beobachtungen Argumente für eine Ursprünglichkeit der 2. Gottesrede (so Keel) gewinnen lassen, ist allerdings umstritten.
54.5.
Ausgewählte Literatur
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Die Schriften des AT
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Weisheitsliteratur
§ 55
Das Buch Kohelet
55.1.
Aufbau
453
Eingeleitet wird das Koheletbuch durch die Überschrift 1,1 („Dies sind die Worte Kohelets, des Sohnes Davids, der König in Jerusalem war“), die in 12,8 aufgenommene Rahmung von 1,2 („Eitelkeit der Eitelkeiten, sprach Kohelet, Eitelkeit der Eitelkeiten, alles ist eitel!“) und den Prolog über die „Wiederkehr des Gleichen“ in 1,3–11. Ein erster Traktat (1,12–3,15) weist grundlegend auf die „Bedingtheit des Menschen und die Undurchschaubarkeit Gottes“ (Lohfink) hin, wobei die „Königstravestie“ (1,12–2,26) „die Frage, ob es einen bleibenden Gewinn für den Menschen gibt, … von der Warte des … weisesten und reichsten Königs Israels“ bedenkt (Kaiser) und 3,1–15 auf das Ausgeliefertsein an die Unverfügbarkeit der „fallenden Zeit“ (Zimmerli) aufmerksam macht. Im Anschluss daran und durch die Formel „alles/dies ist … Haschen nach Wind“ (1,14.17; 2,11.17.26 und 4,4.6.16; 6,9) mit 1,12–3,15 verbunden, stellt 3,16–6,10 Überlegungen zum sozialen (3,16–4,16) und ökonomischen (5,7–6,10) Beziehungsfeld des Menschen an, in deren Zentrum in 4,17–5,6 Ratschläge für das religiöse Verhalten (Opfer, Gebet, Gelübde) stehen. In 6,11–8,17 finden sich Reflexionen über traditionelle Weisheiten, die zeigen, dass der Mensch nicht herausfinden kann, was für ihn gut ist (zur Wendung des „Nicht-Herausfinden-Könnens“ vgl. 7,14.24; 8,17). 9,1–11,8 enthalten Reflexionen, die auf das Nichtwissen des Menschen (vor allem im Hinblick auf das, was nach ihm kommt) hinweisen (vgl. die Aussage über das Nicht-Wissen des Menschen in 9,1.5.10.12; 10,14.15; 11,2.5.6). Als Nachwort folgen in 11,9–12,7 die Aufforderung zur Freude in der Jugend angesichts der Lasten des Alters und der abschließende Teil der Rahmung in 12,8 (vgl. 1,2: „Eitelkeit der Eitelkeiten, sprach Kohelet, alles ist eitel!“). Schließlich finden sich noch zwei Nachträge (Epiloge), die man allgemein auf spätere Herausgeber des Koheletbuches zurückführt: Der erste Epilog (12,9–11) rühmt Kohelets Weisheit und betont, dass sie ihm von Gott eingegeben wurde (12,11). Der zweite Epilog (12,12–14) versucht, die Rechtgläubigkeit Kohelets dadurch zu erweisen, dass er als zentrale Botschaft des Koheletbuches die Aufforderung zur Gottesfurcht und zum Halten der Gebote Gottes angesichts des künftigen Gerichtes Gottes herausstellt. Der Aufbau des Koheletbuches zeigt, dass es sich bei ihm um keinen thematisch geschlossenen Traktat handelt (ein solcher liegt nur in 1,12–3,15 vor). Dennoch
454
Die Schriften des AT
stellt das Buch nicht nur eine aufgrund von Stichwortassoziationen zusammengestellte Sammlung von Reflexionen dar, seine Struktur verdankt sich vielmehr einer bewussten Komposition, die in dem oben dargestellten Aufbau noch in den Grundzügen erkennbar wird.
55.2.
Entstehungsgeschichte
Die Überschrift 1,1, die das Buch auf den „Sohn Davids, des Königs in Jerusalem“, und damit auf Salomo zurückführt, scheint aus 1,12ff. hergeleitet zu sein. Ihr Autor missversteht das Gedankenexperiment der Königstravestie 1,12–2,26 und meint ihr eine Verfasserangabe für das gesamte Koheletbuch entnehmen zu können. Allerdings benutzt das Koheletbuch die Königsfiktion ausschließlich in den ersten beiden Kapiteln. Möglicherweise geht diese Umdeutung der Königstravestie von 1,12–2,26 auf eine salomonische Verfasserschaft des Koheletbuches in 1,1 auf den Verfasser des 2. Epiloges des Koheletbuches (12,12–14) zurück, dem es auch sonst um die Inbeziehungsetzung des Koheletbuches mit anerkannten Traditionen des AT geht. Die ursprüngliche Überschrift dürfte daher nur von den „Worten Kohelets“ gesprochen haben: qohælæt (vgl. neben 1,1 auch 1,2.12; 12,9 f. und 12,8; 7,27) ist part. fem. qal von qhl (einem im AT im qal sonst nicht belegten Verb, das von qhl „Versammlung“ abgeleitet ist) und bezeichnet wohl jemanden, der in einer Versammlung auftritt (zu der Femininform vgl. im übrigen sopæræt Esr 2,55; Neh 7,57 „Schreiber“; vgl. auch Esr 2,57; Neh 7,59). Die LXX übersetzt daher sachgemäß ekklesiast¯es „Versammlungsredner“ (vgl. auch Luther „Prediger“). Auch zeigt der in 12,8 vor qohælæt stehende Artikel, dass Kohelet nicht nur als Eigenname, sondern als Appellativ verstanden ist. Diese ursprüngliche Überschrift (ohne den Königstitel) könnte auf den Verfasser des 1. Epiloges (12,9–11) zurückgehen, dem möglicherweise auch die Rahmung des Koheletbuches mit der Zusammenfassung der Lehre Kohelets („Eitelkeit der Eitelkeiten, … es ist alles ganz eitel“) verdankt wird. Bei diesem Verfasser des 1. Epiloges denkt man meist an einen Schüler Kohelets. Kohelet dürfte daher wie dieser Schüler in der Mitte des 3. Jh., also in der Ptolemäerzeit, anzusetzen sein. Für diese späte Datierung Kohelets spricht vor allem, dass die Sprache des Buches das späteste Hebräisch im AT darstellt (mit vielen Aramaismen und auch persischen Lehnworten: u. a. pardes in 2,5). In das 3. Jh. v. Chr. weist auch, dass Koh den Pentateuch kennt (vgl. 5,3 f. mit Dtn 23,22–24). Für die Ptolemäerzeit spricht auch die in Koh vorausgesetzte Gesamtlage (Frieden, straffe Verwaltung; vgl. Hengel). Möglicherweise liegt auch in der Auffassung Kohelets von „Zeit und Zufall“ (vgl. 9,11) ein Einfluss der helle-
Weisheitsliteratur
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nistischen Schicksalsvorstellung vor. Aufgrund des Rückgriffs auf den „König über Israel in Jerusalem“ in 1,12 denkt man allgemein an Juda, wenn nicht an Jerusalem, als Ort des Wirkens Kohelets. Weniger eindeutig als Kohelet und der 1. Epilogist dürfte der Verfasser des 2. Epiloges (12,12–14) anzusetzen sein. Neben 12,12–14 (Betonung rechtgläubiger Lehre) stammt von ihm wohl auch die Kommentierung von 11,9a („Freue dich, Jüngling, in deiner Jugend, lass deinem Herzen wohlsein in deinen Jugendtagen. Geh, wohin dein Herz dich weist und deine Augen dich locken“; Übersetzung hier und im folgenden nach Michel 1988) mit dem Satz 11,9b („Wisse aber, dass Gott dich wegen all dessen ins Gericht führen wird!“), eventuell auch 11,10b; 12,1a. Norbert Lohfink hat die Vermutung geäußert, dass dieser 2. Epilogist in die Vorgeschichte der Auseinandersetzung rechtgläubiger und hellenistischer jüdischer Kreise in den 70er und 60er Jahren des 2. Jh. v. Chr. gehört (vgl. dazu oben § 13.2.) und damit ein gutes halbes Jahrhundert nach Kohelet zu datieren ist.
55.3.
Theologische Bedeutung
55.3.1. Menschen- und Zeitverständnis Wie die Hiobdichtung (vgl. oben § 54.4.) geht auch Kohelet von der Erfahrung aus, dass die Wirklichkeit dem Tun-Ergehen-Zusammenhang nicht entspricht (vgl. u. a. 8,10–15, besonders 8,14: „Es gibt auch Gerechte, denen es ergeht, wie es Frevlern ergehen sollte, und es gibt Frevler, denen es ergeht, wie es Gerechten ergehen sollte“). Ein Erfolg von Tugenden ist daher nicht vorauszusagen, sondern von Zeitpunkt und Zufall abhängig (9,11: „Und erneut betrachtete ich unter der Sonne: Nicht die Schnellen machen das Rennen, nicht den Helden gehört der Sieg im Krieg, auch nicht den Weisen Nahrung und auch nicht den Verständigen Reichtum und auch nicht den Wissenden Ansehen, sondern Zeitpunkt und Zufall kann alle treffen“). So kommt es bei Kohelet zum Verlust der bisher geltenden Ordnungserfahrungen. Dabei stellt Kohelet die Existenz von Ordnungen nicht grundsätzlich in Frage. Vielmehr weist er nur darauf hin, dass die von Gott gesetzten Ordnungen dem Menschen nicht erkennbar sind. Dies betont er vor allem in dem Gedicht von den „fallenden Zeiten“ (3,1–15), die „nicht in der Verfügungsgewalt des Menschen stehen, sondern unbeeinflussbar über ihn ‚herfallen‘“ (Michel). Relativiert werden alle menschlichen Anstrengungen und Tugenden vor allem durch die Todeserfahrung (9,1–10; vgl. vor allem 9,2 f.: „Nur dies steht allen bevor: einerlei Geschick, und zwar dem Gerechten wie dem Frevler … Das ist etwas Schlimmes bei alledem, was unter der Sonne geschieht, daß einerlei Geschick alle trifft … und ihr Ende bei den Toten ist“). Dabei geht Kohelet davon aus, dass es
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Die Schriften des AT
für den Menschen – ebenso wie für das Vieh – keine Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod gibt (3,16–22; vgl. besonders 3,19–21: „Denn was das Geschick der Menschen und was das Geschick des Viehs anlangt: einerlei Geschick haben sie. Wie der eine stirbt, so stirbt auch der andere; einerlei ‚Geist‘ haben sie beide, und einen Vorzug des Menschen vor dem Vieh gibt es nicht, denn alles ist vergänglich. Alle gehen zu demselben Ort. Alles ist aus Staub entstanden, und alles kehrt wieder zum Staub zurück. Wer weiß denn, ob der Geist des Menschen nach oben steigt und ob der Geist des Viehs nach unten zur Erde hinabsteigt?“). 55.3.2. Gottesverständnis Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass das Menschenverständnis Kohelets am Schöpfungsglauben festhält. So weist das Gedicht über die „fallenden Zeiten“ darauf hin, dass „Gott alles schön gemacht hat zu seiner Stunde“ (3,11a). Allerdings ist der Mensch nicht imstande, die von Gott geschaffene Ordnung zu erkennen (3,11b: „ohne dass der Mensch das Werk, das Gott tut, von Anfang bis Ende herausfinden kann“). Allerdings wird man den Gott Kohelets nicht als bloßen „Urhebergott“ (so Müller) verstehen dürfen: Vielmehr ist für Kohelet Gott „Herrscher über die Zeiten und Geber jeden Glücks“ (Kaiser; vgl. nur 3,1–15): „in und hinter den Zeiten, denen sich die Menschen ausgeliefert sehen, ist Gott selbst wirksam“ (Mildenberger). Doch bleibt Gottes Setzung unerkennbar, so dass der Mensch Gott immer nur in Distanz erfährt (5,1: „Überstürze dich nicht mit deinem Munde und dein Herz beeile sich nicht, eine Angelegenheit vor Gott zu bringen. Denn Gott ist im Himmel, und du bist auf der Erde – darum seien deiner Worte wenig!“). Eine unmittelbare Gottesbegegnung wie am Schluss der Hiobdichtung wird bei Kohelet nicht mehr als Möglichkeit betrachtet. Entscheidend ist jedoch, dass Kohelet trotzdem „an der Verantwortlichkeit des Menschen vor Gott festhält“ (Kaiser). 55.3.3. Ethik Die Aufgabe des Menschen besteht nach Kohelet darin, dass er „Gottesfurcht“ (vgl. 3,14) übt, die bedeutet, sich mit den beschränkten Möglichkeiten des Menschseins zu „bescheiden“ (vgl. 7,16–18: „Sei nicht allzu sehr gerecht und bemühe dich nicht um Weisheit im Übermaß – wozu willst du dich selbst veröden? Sei aber auch nicht allzu sehr Frevler und sei kein Tor: wozu willst du zur Unzeit sterben? Gut ist, wenn du an dem einen festhältst, aber auch von dem anderen deine Hand nicht fern hältst. Ja, wer Gott fürchtet, entgeht dem allen“). Aus dieser gottesfürchtigen Bescheidenheit erwächst nach Kohelet die Fähigkeit, die Gaben entgegenzunehmen, die Gott für den Menschen in seiner beschränkten Situation bestimmt hat (3,12–13): „Ich erkannte: Es gibt nichts Gutes in ihrer (der
Weisheitsliteratur
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Menschen) Verfügungsgewalt, außer sich zu freuen und sichs gut sein zu lassen, solange man lebt. Und auch, dass ein Mensch essen und trinken kann und Gutes genießen kann bei seiner Mühe: auch das ist eine Gabe Gottes“. Im Gegensatz zu den hellenistischen Philosophen vertritt Kohelet die Auffassung, dass der Mensch nicht durch eigene Anstrengung, und zwar durch die Entwertung alles Unverfügbaren, glücklich werden kann, sondern dass die Erfahrung von Glück allein durch Gott ermöglicht wird (Schwienhorst-Schönberger; vgl. 2,24). In gleicher Weise kann Kohelet Freude und Genuss auch als den „Teil“ bezeichnen, den Gott dem Menschen als seine Gabe (vgl. 3,13) zugewiesen hat (9,9): „Genieße das Leben mit einer Frau, die du liebst, alle Tage deines sinnlosen Lebens, die er dir gibt unter der Sonne … Ja, eben das ist dein Teil im Leben und bei deiner Mühe, mit der du dich unter der Sonne abmühst“. Die Folgerung, die Kohelet „aus der Unverfügbarkeit und Unerkennbarkeit der durch Gott bestimmten Zeiten“ zieht, ist somit die, „daß sich der Mensch auf das, was jetzt da ist, einlassen und in seiner Gegenwart bleiben soll“ (Mildenberger).
55.4.
Ausgewählte Literatur
Backhaus, F.J.: „Denn Zeit und Zufall trifft sie alle“. Studien zur Komposition und zum Gottesbild im Buch Qohelet, Frankfurt a. M. 1993. –: „Es gibt nichts Besseres für den Menschen“ (Koh 3,22). Studien zur Komposition und zur Weisheitskritik im Buch Kohelet, Bodenheim 1998. Brandscheidt, R.: Weltbegeisterung und Offenbarungsglaube. Literar-, form- und traditionsgeschichtliche Untersuchung zum Buch Kohelet, Trier 1999. Braun, R.: Kohelet und die frühhellenistische Popularphilosophie, Berlin/New York 1973. Fischer, A.: Skepsis oder Furcht Gottes? Studien zur Komposition und Theologie des Buches Kohelet, Berlin/New York 1997. Fischer, S.: Die Aufforderung zur Lebensfreude im Buch Kohelet und seine Rezeption der ägyptischen Harfnerlieder, Frankfurt a. M. 1999. Fox, M.V.: Qohelet and his Contradictions, Sheffield 1989. Galling, K.: Der Prediger, in: HAT 1/18, Tübingen 21969, 73–125. Hengel, M.: Judentum und Hellenismus, Tübingen 21988. Hertzberg, H.W.: Der Prediger, in: KAT 17/4–5, Gütersloh 1963, 19–238. Kaiser, O.: Der Mensch unter dem Schicksal. Studien zur Geschichte, Theologie und Gegenwartsbedeutung der Weisheit, Berlin/New York 1985. –: Die Botschaft des Buches Kohelet, in: Gottes und der Menschen Weisheit. Gesammelte Aufsätze, Berlin/New York 1998, 126–148. –: Kohelet, Stuttgart 2007. –: Vom offenbaren und verborgenen Gott, Berlin/New York 2008.
458
Die Schriften des AT
–: Dekonstruktion und Rekonstruktion prophetischer Eschatologie im Qohelet-Buch, in: FS D. Michel, Berlin/New York 1996, 107–129. –: Kohelet (Prediger), BKAT 19 Sonderband, Neukirchen-Vluyn 2000. Lange, A.: Weisheit und Torheit bei Kohelet und in seiner Umwelt, Frankfurt a. M. 1991. Lauha, A.: Kohelet, BKAT 19, Neukirchen-Vluyn 1978. Lohfink, N.: Kohelet, NEB, Würzburg 1980; 41993. –: Studien zu Kohelet, Stuttgart 1998. Loretz, O.: Qohelet und der Alte Orient. Untersuchungen zu Stil und theologischer Thematik des Buches Qohelet, Freiburg 1964. Lux, R.: Der „Lebenskompromiß“ – ein Wesenszug im Denken Kohelets? Zur Auslegung von Koh 7,15–18, in: FS H.D. Preuß, Stuttgart 1992, 287–297. Michel, D.: Qohelet, EdF 258, Darmstadt 1988. –: Untersuchungen zur Eigenart des Buches Qohelet. Mit einem Anhang von R.G. Lehmann: Bibliographie zu Qohelet, Berlin/New York 1989. Mildenberger, F.: Biblische Dogmatik 3: Theologie als Ökonomie, Stuttgart 1993, 331–345. Müller, H.-P.: Wie sprach Kohälät von Gott?, VT 18, 1968, 507–521. –: Neige der althebräischen „Weisheit“, in: Mensch – Umwelt – Eigenwelt. Gesammelte Aufsätze zur Weisheit Israels, Stuttgart 1992, 143–168. Schoors, A. (Hg.): Qohelet in the Context of Wisdom, Leuven 1998. Schwienhorst-Schönberger, L.: „Nicht im Menschen gründet das Glück“ (Koh 2,24). Kohelet im Spannungsfeld jüdischer Weisheit und hellenistischer Philosophie, Freiburg 21996. – (Hg.): Das Buch Kohelet. Studien zur Struktur, Geschichte, Rezeption und Theologie, Berlin/New York 1997. –: Zehn Jahre Kohelet-Forschung (1987–1997), ThRev 94,1998, 363–376. –: Art. Predigerbuch, RGG4 6, 2003, 1579–1583. Seow, C.-L.: Ecclesiastes, AncB 18C, New York 1997. Vonach, A.: Nähere dich um zu hören. Gottesvorstellungen und Glaubensvermittlung im Koheletbuch, Berlin/Bodenheim 1999. Zimmer, T.: Zwischen Tod und Lebensglück. Eine Untersuchung zur Anthropologie Kohelets, Berlin/New York 1999. Zimmerli, W.: Das Buch des Predigers Salomo, ATD 16/1, Göttingen 31980.
55.5. 1. 2. 3.
Repetitionsthemen zur Weisheitsliteratur Der Tun-Ergehen-Zusammenhang und seine Infragestellung in der atl. Weisheitsliteratur. Das Gottes- und Menschenverständnis der atl. Weisheitsliteratur. Die Sinnkrise im Hiob- und im Koheletbuch: Gemeinsamkeiten und Unterschiede.
Das apokalyptische Buch
459
Kapitel 6: Das apokalyptische Buch
§ 56
Das Buch Daniel
56.1.
Aufbau
56.1.1. Das in hebräischer und aramäischer Sprache überlieferte Danielbuch gliedert sich in folgende zwei Teile: I.
Dan 1–6 Die Geschichten Daniels (Daniel in 3. Person) 1 Erziehung des jungen Daniel und seiner drei Freunde am Hof Nebukadnezars 2 Nebukadnezars Traum von den vier Weltreichen und der Errichtung der Gottesherrschaft 3 Die Rettung der drei Freunde Daniels aus dem Feuerofen 4 Nebukadnezars Traum vom abgehauenen Weltenbaum (3,31–4,34) 5 Belsazars Gastmahl mit Entweihung der Tempelgeräte und „Menetekel“-Inschrift (5,1–6,1) 6 Die Rettung Daniels aus der Löwengrube
II.
Die Gesichte Daniels (Eigenberichte Daniels) 7 Vision von den vier Tieren und vom Menschensohn 8 Vision vom Kampf zwischen Widder und Ziegenbock 9 Deutung des Jeremiawortes von „den siebzig Jahren“ durch Gabriel 10–12 Offenbarungen über die Endzeitgeschichte von Kyros bis Antiochus IV und die Totenauferstehung
Bemerkenswert ist, dass Dan 2,4b-7,28 aramäisch und 1,1–2,4a; 8,1–12,13 hebräisch überliefert sind.
460
Die Schriften des AT
56.1.2. Zusätze im griechischen Danielbuch Bei den Texten, die das griechische Danielbuch zusätzlich enthält, handelt es sich zum einen um Einfügungen in Dan 3: 3,24–50 3,51–90
(LXX und Vulgata): Das Gebet des Asarja (LXX und Vulgata): Der Lobgesang der drei Männer im Feuerofen.
Zum andern liegen in der griechischen Überlieferung folgende eigenständige Erzählungen vor, die in der Vulgata hinter Dan 12 eingefügt werden: 13,1–64
(Vulgata): Rettung der Susanna durch Daniel (in der auf Theodotion zurückgehenden Textüberlieferung ist die Susannaerzählung wegen des noch jugendlichen Alters Daniels dem übrigen Danielbuch vorangestellt) 14,1–22 (Vulgata): Daniel und die Priester des Bel 14,23–42 (Vulgata): Daniel und der göttlich verehrte Drache. Diese Erzählungen dürften noch im 2. Jh. v. Chr. entstanden sein (Plöger). Etwas später sind wohl die Einschaltungen in Dan 3 eingefügt worden, zuerst wahrscheinlich der Gesang der drei Männer und dann das Gebet Asarjas. Rainer Albertz vermutet im übrigen hinter Dan 4–6 LXX eine überlieferungsgeschichtliche Vorstufe zum aramäischen Teil Dan 2–7.
56.2.
Entstehung
Zur Erklärung der Entstehungsgeschichte des Danielbuches wird in der gegenwärtigen Forschung vor allem die sog. „Aufstockungshypothese“ (vgl. zu ihr Koch) vertreten. Nach ihr stand am Anfang der Entwicklung des Danielbuches eine in Aramäisch abgefasste Sammlung der Danielerzählungen von Dan 1–6*. In einer ersten Redaktion ist ihr vor allem die ebenfalls aramäisch verfasste Menschensohnvision von Dan 7* angefügt worden. Eine zweite Redaktion erweitert dieses aramäische Danielbuch dann um die hebräisch abgefassten Visionen Dan 8–12, übersetzt Dan 1,1–2,4a ins Hebräische und fügt in Dan 2 und Dan 7 den Bezug auf Antiochus IV. ein (vgl. Hölscher, Kratz). Gelegentlich wird auch die Auffassung vertreten, dass das hebräisch vorliegende Kapitel 1 sich erst dieser letzten Redaktion verdankt (vgl. die Spannungen zwischen 1,19 und 2,25, Lebram). In Dan 9,4–19 (Gebet Daniels, das den im übrigen Danielbuch vermiedenen Jahwenamen gebraucht) liegt möglicherweise ein einzelner noch späterer Zusatz vor.
Das apokalyptische Buch
56.3.
461
Datierung
56.3.1. Im Hinblick auf die letzte Redaktion des hebräisch-aramäischen Danielbuches ist sich die neuere Forschung darin weitgehend einig, dass sie aus der Zeit nach der Entweihung des Jerusalemer Tempels unter dem Seleukidenkönig Antiochus IV. (vgl. hierzu oben § 13.2.) im Dezember 168 v. Chr. stammt (vgl. Dan 11,31). Wahrscheinlich wird in 11,34 („während sie verfolgt werden, wird ihnen eine kleine Hilfe zuteil“) bereits der Makkabäeraufstand von 167 v. Chr. vorausgesetzt. Dagegen ist dem Endverfasser des Danielbuches der Tod des Antiochus IV. 164 v. Chr. in Parthien noch nicht bekannt (vgl. 11,40 ff.), wahrscheinlich auch noch nicht die Neueinweihung des Tempels durch Judas Makkabäus im Dezember 165 v. Chr. 56.3.2. Die ursprüngliche Legendensammlung von Dan 1–6* ist schwieriger zu datieren. Da in ihr 1,21 und 6,29 auf einen vom babylonischen bis zum medischen und persischen Reich reichenden Zusammenhang verweisen, spricht einiges dafür, dass Dan 1–6* (hinter Dan 4 steht, wie aufgrund des in Qumran bezeugten „Gebetes Nabonids“ 4QOrNab zu vermuten ist, die jüdische Adaptation einer babylonischen Naboniderzählung) noch in der Perserzeit entstanden ist (Kratz). Lediglich in dem wohl als sekundär anzusehenden Stück 2,39–44* liegt (die Vorstellung von vier an Wert abnehmenden Zeitaltern findet sich dagegen schon bei Hesiod und im Avesta) die die hellenistischen Reiche voraussetzende Lehre von den vier Weltherrschaften vor, wie sie auch die Vision von Dan 7 bestimmt. Die um die Menschensohnvision von Dan 7 erweiterte aramäische Fassung Dan 1–7* stammt jedenfalls erst aus hellenistischer Zeit (3. Jh., eventuell aus der Zeit Antiochus III. [223–187; so Lebram]).
56.4.
Träger der Danielüberlieferung
Als Träger der jetzt vorliegenden Danielüberlieferung sind aufgrund von 11,33.35; 12,3 die dort genannten „Verständigen“ anzunehmen. Diese gehören wohl zum weisheitlich gebildeten Milieu der spätnachexilischen Schriftgelehrsamkeit, die neben dem Studium der Schrift (Dan 9) auch auf astronomisch-astrologische (Dan 8), geschichtliche und geographische Kenntnisse (Dan 11) und damit auch auf außerisraelitische Traditionen zurückgreift (das traditionsgeschichtliche Verhältnis zu den Danielgestalten in den Ugarittexten KTU I. 17–19 und Ez 14,14.20; 28,3 ist allerdings bisher noch nicht hinreichend geklärt) und dabei in apokalyptischen Ausdrucksformen eine toraorientierte Theologie entwickelt. Wahrscheinlich gehörten diese Schriftgelehrten zu den gesetzestreuen
462
Die Schriften des AT
und eschatologisch orientierten Kreisen, die in den Makkabäerbüchern als „Asidäer“ (1Makk 2,42; 2Makk 14,6) bezeichnet werden. Nach 1Makk 7,13 haben sie nur vorübergehend mit der makkabäischen Bewegung zusammengearbeitet (vgl. auch Dan 11,34).
56.5.
Theologische Bedeutung
56.5.1. Bei Dan 1–12 handelt es sich um das einzige apokalyptische Buch des AT. Typisch für die atl.-jüdische Apokalyptik ist die Lehre von dem Anbruch eines die gegenwärtige Weltzeit beendenden Neuen Äons, wie sie vor allem im Traum Nebukadnezars von der aus verschiedenen Metallen bestehenden Statue, die ohne Zutun von Menschenhand von einem Stein zerstört wird (Dan 2; vgl. bes. V. 34), und in der Vision Daniels von der Ablösung der durch Tiere symbolisierten Reiche durch die Herrschaft des Menschensohns (Dan 7) zum Ausdruck kommt. Das in diesem Zusammenhang entwickelte Vier-Reiche-Schema macht dabei deutlich, dass die Geschichte einem von Gott festgelegten Plan folgt. Auch die Deutung der 70 Jahre der Weissagung von Jer 25,11 f.; 29,10 (bezogen auf die Dauer des Exils) auf 70 Jahrwochen bis zum Beginn der Gottesherrschaft soll den Lesern des Danielbuches Gewissheit über das Vorliegen eines göttlichen Geschichtsplans vermitteln (9,1–3.21–27). 56.5.2. Mitgeteilt wird dieser himmlische Geschichtsplan in Träumen und Visionen, für deren Deutung meist ein Engel (angelus interpres) notwendig ist (vgl. 7,16; 10,5–12,13; auch 4,10–14.20). In 8,15–26 und in 9,21–27 trägt der Deuteengel den Namen Gabriel. Außerdem rechnet das Danielbuch mit Völkerengeln (vgl. 10,13.20). Für Israel tritt dabei der Engelfürst Michael ein (12,1; vgl. 10,13.21). In 3,25–28 und 6,23 werden auch einzelne verfolgte Israeliten durch Engel gerettet. 56.5.3. Ein mit den Wolken des Himmels kommendes himmlisches Wesen stellt auch die Gestalt „wie ein Menschensohn“ (7,13 f.) dar, der nach der Vision von Dan 7 in der Endzeit die ewige Herrschaft übertragen wird. Nach der Deutung in 7,18 repräsentiert sie die kollektive Größe der „Heiligen des Höchsten“ (während in der späteren apokalyptische Literatur und im NT darunter eine Einzelgestalt verstanden ist). Mit ihrem Reich ist zunächst die Herrschaft Gottes durch die Engel (vgl. zu diesem Verständnis der „Heiligen“ 4,10.14.20) gemeint. Auf der Erde wird dabei die Herrschaft dem Volk der Heiligen des Höchsten (= Israel) übertragen (7,27).
Das apokalyptische Buch
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56.5.4. Für die Zeit vor dem Anbruch der Gottesherrschaft rechnet das Danielbuch mit dem Auftreten eines „Anti-Jahwe“ (Haag), der mit Antiochus IV. (175–164 v. Chr.) identifiziert und in Dan 7,8 als „kleines Horn“ dargestellt wird. Ihm wird nicht nur zugeschrieben, dass er das Gottesvolk und seine heiligen Einrichtungen bekämpft, sondern auch, dass er den Allerhöchsten lästert und das himmlische Heer angreift (vgl. 7,20–22.24–26; 8,9–12.23–25; auch 11,30–45). Diese Vorstellungen werden dann in die ntl. Auffassungen vom „Antichrist“ (2Thess 2,1–12; Offb 13) aufgenommen. 56.5.5. Grundlegende Bedeutung für das NT hat vor allem die in Dan 12,1–3 vertretene Vorstellung von der Auferstehung der Toten erhalten. Anders als im Auferstehungsbild von Ez 37,1–14* geht es hier nicht nur um die Wiedererstehung des Volkes Israel nach der Exilszeit, sondern um ein individuelles Auferwecktwerden nach dem Tode. Allerdings wird hier die Auferstehung der Toten noch auf Israel begrenzt. Dabei werden auch – wie 12,1 feststellt – nicht alle, sondern nur „viele“ Israeliten auferstehen. Im Tode bleiben die Sünder, die schon in diesem Leben ihre Strafe gefunden haben (vgl. Äth Henoch 22,8–14). Dagegen werden die Gottlosen, die in ihrem Leben ungestraft davon gekommen sind, zu ewiger Schande auferstehen. Vor allem aber werden die in den Glaubensverfolgungen treu Gebliebenen zum ewigen Leben und ewigen Glanz erweckt werden (12,2 f.; vgl. die ähnlichen Vorstellungen in 2Makk 7,9–36; 12,44f.). Über das Danielbuch hinausgehend spricht das NT dann von einer allgemeinen Totenauferstehung zum Jüngsten Gericht (vgl. nur Offb 20,11–15).
56.6. Exkurs: Das Todesverständnis des AT 56.6.1. Das Todesverständnis der Umwelt des AT Die Umwelt des AT rechnet üblicherweise mit einer Fortdauer des „Menschen“ nach dem Tode. Besonders deutlich ist dies in der ägyptischen Religion, in der der Totenkult eine zentrale Bedeutung besitzt: Der Sicherung der Fortexistenz über den Tod hinaus dienen dabei u. a. folgende Maßnahmen: a. b. c. d.
Grabbau (vgl. Pyramiden, Königsgräber, Beamtengräber) Mumifizierung der Leiche Totenspeisung Totenliteratur zur Orientierung der Toten im Jenseits (Pyramidentexte im Alten Reich, Sargtexte im Mittleren Reich, das den Mumien beigegebene Totenbuch im Neuen Reich)
464
Die Schriften des AT
e.
Gewinnung von Unsterblichkeit durch Eingliederung des Toten in die Götterwelt (Identifizierung des Toten mit Osiris, Mitfahren des Toten mit dem Sonnengott Re in der Sonnenbarke). Auch kennt die ägyptische Religion seit dem Ende des Alten Reiches die Vorstellung eines „Jenseitsgerichts“.
Wesentlich negativer wird das Leben nach dem Tod in Mesopotamien dargestellt. So nennt das Gilgamesch-Epos (Taf. VII Kol. IV; vgl. auch Taf. XII) die Unterwelt „Haus der Finsternis“. Gleichzeitig wird sie als ein staubiger Ort geschildert. Auch beschreibt das Epos die Toten als geflügelte vogelgestaltete Wesen. Andere mesopotamische Überlieferungen stellen die Unterwelt als eine siebenfach ummauerte Stadt dar. Allerdings kennt man auch hier Totenspeisung für die verstorbenen Ahnen der Familie. Die Pflege des Totengeistes gewährt Schutz und Segen. Außerdem kann man sich mit Orakelanfragen an die toten Ahnen wenden. Ähnliche Vorstellungen finden sich in den syrischen Ugarit-Texten. Auch hier wird die Unterwelt als eine unter der Erde befindliche schlammige Stadt geschildert. Den Eingang zur Unterwelt identifiziert man dabei mit dem „Schlund“ des Gottes Mot. Zudem werden auch in Ugarit die als rapiu’ma („die Heilenden“) bezeichneten vergöttlichten (königlichen) Ahnen kultisch verehrt (vgl. besonders die „Beschwörung der Schatten“ in KTU 1.161). 56.6.2. Das Verständnis der Scheol (Totenreich) im AT Sterben wird im AT als „Hinabfahren in die Scheol, in das Totenreich“ dargestellt (vgl. u. a. Gen 37,35). „Scheol“ ist wohl von der Wurzel ˇs’h „wüst/öde sein“ abzuleiten (so Koehler, anders u. a. Wächter) und beschreibt somit die – unter dem Urozean liegende – Unterwelt (vgl. Hi 26,5 f.) als „Ödland“. Die die Scheol bewohnenden Schatten der Toten werden als „Rephaim“ (vgl. Spr 9,18; Jes 14,9; Hi 26,5 f.; auch Jes 26,14.19; Ps 88,11; Spr 2,18; 21,16) bezeichnet, d. h. mit einem Begriff, der offensichtlich in Verbindung mit der Vorstellung der Ugarit-Texte von den rapi’uma (die „Heilenden“ als Bezeichnung der vergöttlichten Ahnen) steht (vgl. Liwak, Rouillard). Die Mehrzahl der atl. Texte geht davon aus, dass die Totenschatten in keiner Beziehung zu Jahwe mehr stehen: Die Toten loben Jahwe nicht mehr (Jes 38,18; Ps 6,6). Auch wird von den Toten festgestellt, dass Jahwe ihrer nicht mehr gedenkt (Ps 88,6) und keine Wunder mehr an ihnen tut (Ps 88,11). Die Scheol wird jedoch nicht erst im biologischen Tod erfahren, vielmehr sprechen die atl. Beter (vgl. u. a. Ps 18,6; 30,4; 88,4) davon, dass sie sich bei Krankheit, Verfolgung und anderen Grenz- und Sinnlosigkeitserfahrungen bereits in der Scheol und damit in der Gottesferne befinden.
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56.6.3. Atl. Abgrenzungen gegenüber dem Totenkult Wie vor allem die Erzählung von Sauls Befragung des toten Samuel mit Hilfe der Hexe von Endor (1 Sam 28) zeigt, hat es auch in Israel Kontaktaufnahmen mit den sich in der Scheol befindenden Schatten der Toten gegeben. Im Zusammenhang der Totenbefragung spielt dabei das in der Forschung sehr unterschiedlich gedeutete hebr. Wort Ob eine zentrale Rolle (vgl. Lev 19,31; 20, 6.27; Dtn 18,11; 1Sam 28,3.7–9 u. ö.): Erklärt wird das Wort zum einen (vgl. vor allem Tropper) als „Totengeist“ eines vergöttlichten Ahnen (vgl. hebr. #a¯ b „Vater“), zum andern (vgl. vor allem Ebach und Rüterswörden) als Bezeichnung einer „Totenbeschwörungsgrube“ (vgl. akkad. apu), die den Kontakt zur Unterwelt herstellt (das immer gleichzeitig mit Ob gebrauchte hebr. Wort jidde oni „Wissender“ wird in diesem Zusammenhang auf eine den Toten repräsentierende Tonfigur bezogen). Diese im vorexilischen Israel üblichen Formen von Totenkult werden sowohl im Deuteronomium (vgl. Dtn 18,11 und auch die Distanzierung von der Totenspeisung in Dtn 26,14) als auch im Heiligkeitsgesetz (vgl. Lev 20,27) verboten und mit der Todesstrafe bedroht. Gleichzeitig wird in der priesterlichen Gesetzgebung jeder Kontakt mit einem Toten als verunreinigend beurteilt, so dass nach einem solchen Kontakt eine Reinigung durch das kultisch hergestellte Reinigungswasser (vgl. Num 19) notwendig wird. 56.6.4. Akzeptanz der Todesgrenze In der Priesterschrift wird der Vorstellung entsprechend, dass man in seinen Nachkommen weiterlebt, der Alterstod positiv beurteilt: So wird hier von den Erzvätern berichtet, dass sie „alt und lebenssatt“ sterben (Gen 25,8; 35,29; vgl. auch für Hiob Hi 42,17 und für David 1Chr 29,28). Gleichzeitig ist der Tod in der Priesterschrift als „Versammeltwerden zu den Vätern“ (im Familiengrab?) verstanden (vgl. Gen 25,8; 35,29; 49,33; auch Num 20,24 und Dtn 32,50). Ein negatives Urteil fällt das AT nur über den frühzeitigen Tod, der als göttliche Strafe dargestellt wird (vgl. 1Sam 2,32: Strafankündigung an das Haus Elis, dass kein Nachkomme Elis alt werden wird, und auch die Klage Davids über den frühzeitigen Tod Abners in 2Sam 3,33: „Musste Abner sterben, wie ein Gottloser stirbt?“). Belege für eine andere Bewertung der Todesgrenze finden sich erst aus nachexilischer Zeit, in der das individuelle Lebensschicksal stärker bewusst wird (vgl. Ez 18).
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Die Schriften des AT
56.6.5. Die Überwindung der Todesgrenze in der Nachexilszeit In einigen nachexilischen Texten des AT kommt es – aufgrund einerseits der Vorstellung der Alleinmächtigkeit Jahwes und andererseits der Gerechtigkeit Gottes – zu Aussagen von der Herrschaft Jahwes auch über das Totenreich und von einem Leben mit Jahwe auch jenseits der Todesgrenze. 56.6.5.1. Die Macht Jahwes über die Scheol Die spätnachexilische eschatologische Erweiterung von Ps 22 (V. 28–32) macht deutlich, dass sich die Königsherrschaft Jahwes nicht nur auf alle Völker der Gegenwart und Zukunft bezieht, sondern auch die einschließt, „die in der Erde schlafen“ (V. 30). Im Gegensatz zu den oben genannten Aussagen von Jes 38,18 und Ps 6,6 wird hier erwartet, dass auch die Toten Jahwe anbeten werden. Ebenfalls in nachexilischer Zeit rechnet Ps 139,8 damit, dass Jahwes Gegenwart auch in der Scheol zu erfahren ist (vgl. als Vorstufe dazu die doch wohl noch vorexilisch anzusetzende Ankündigung von Am 9,2, dass Jahwe den vor ihm Flüchtenden zum Gericht auch aus der Scheol herausholen kann, ebenso wie er in Ps 30,4 den Beter aus der Scheol zu retten vermag). 56.6.5.2. Gottesgemeinschaft nach dem Tod in den Theodizeepsalmen Angesichts der Erfahrung des diesseitigen Glückes der Gottlosen äußern die beiden Theodizeepsalmen Ps 49 und 73 die Hoffnung auf eine Gottesgemeinschaft jenseits des Todes. In beiden Psalmen wird der Hoffnungslosigkeit der Gottlosen angesichts des Todes die Erwartung entgegengestellt, dass Jahwe den Gerechten nach dem Tode zu sich „entrücken“ (lqh) wird. Dabei wird auf die Vorstellung von der Entrückung Elias (2Kön 2,3 ff.) und Henochs (Gen 5,24) zurückgegriffen und diese auf eine postmortale Entrückung (Ps 49,16; 73,24) uminterpretiert. Inwieweit hier bereits der Glaube an die Entrückung einer „unsterblichen Seele“ (unter Hinweis auf „Näfäsch“ in Ps 49,16; vgl. für dieses „Näfäsch“-Verständnis Äthiopischer Henoch 9,3; 22,3) vorliegt (Lang, Witte), ist den beiden Texten nicht eindeutig zu entnehmen. Ps 73, 23–26 zeigt jedenfalls, dass die Erwartung der den Tod überdauernden Gottesgemeinschaft unter Rückgriff auf unterschiedliche Vorstellungen (u. a. V. 23: Vorstellung von der göttlichen Handergreifung des Königs; V. 26: Vorstellung von Gott als Erbanteil der Leviten) zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Kellermann). Deutlich ist auch, dass die Hoffnung auf eine Überwindung der Todesgrenze ihren Grund in der Gerechtigkeit Gottes hat.
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56.6.5.3. Die Auferstehungshoffnung Um die Gerechtigkeit Gottes geht es auch bei der Hoffnung auf eine Auferstehung der Toten im apokalyptischen Daniel-Buch aus der Zeit der Religionsverfolgung unter Antiochus IV. Epiphanes (175–164 v. Chr.; vgl. hierzu oben § 13.2.). Das in Ez 37,1–14* gebrauchte Bild von der Wiedererstehung des Volkes Israel nach dem Exil wird hierbei auf eine Auferstehung einzelner toter Israeliten bezogen (zur Neuinterpretation von Ez 37 im Sinne dieses neuen Verständnisses vgl. u. a. Bartelmus und Wahl). Da es bei der Auferstehung um Gottes Gerechtigkeit gegenüber Israel geht, beschränkt sie sich auf eine zum ewigen Leben führende Auferstehung der gerechten Israeliten, die sich in der Verfolgung standhaft erwiesen haben. Dagegen werden die gottlosen Israeliten, die in ihrem bisherigen Leben ungestraft geblieben sind, zur ewigen Schande auferstehen. Nicht an der Auferstehung teilnehmen werden nach Äth Henoch 22,8–14 die Gottlosen, die schon ihre Strafe erfahren haben. Aufgenommen ist diese Erwartung einer Auferstehung der toten Israeliten in redaktionellen Zusätzen zur sog. Jesajaapokalypse Jes 24–27 (anders Scholl). So wird dem Volksklagelied von Jes 26,7–18, das festgestellt hatte: „Tote werden nicht lebendig, Schatten stehen nicht auf“, das an Israel gerichtete göttliche Heilsorakel 26,19 zugefügt: „Leben sollen deine Toten, meine Leichen auferstehen … Denn Tau der Lichter ist dein Tau, so dass die Erde Schatten gebiert“. In gleichem Sinne zu verstehen ist der Zusatz in der Ankündigung des Freudenmahls auf dem Zion Jes 25,6–8: „Vernichten wird er (Jahwe) den Tod für immer“(V. 8a).
56.7.
Ausgewählte Literatur
56.7.1. Zum Danielbuch Albertz, R.: Der Gott des Daniel, Stuttgart 1988. Bauer, D.: Das Buch Daniel, NSKAT 22, Stuttgart 1996. Beyerle, S.: Die Wiederentdeckung der Apokalyptik in den Schriften Altisraels und des Judentums, VuF 43/2, 1998, 34–59. Collins, J.J.: The Apocalyptic Vision of the Book of Daniel, Missoula 1977. –: Daniel with an Introduction to Apocalyptic Literature, FOTL 20, Grand Rapids 1984. –: Daniel, Hermeneia, Minneapolis (Mn.) 1993. –: Art. Daniel/Danielbuch, RGG4 2, 1999, 556–559. Collins, J.J./Flint, P.W. (Hg.): The Book of Daniel. Composition and Reception. 1+2, Leiden 2001. Day, J.: The Daniel of Ugarit and Ezekiel and the Hero of the Book of Daniel, VT 30, 1980, 174–184. Engel, H.: Die Susanna-Erzählung. Einleitung, Übersetzung und Kommentar zum Septuaginta-Text und zur Theodotion-Bearbeitung, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1985.
468
Die Schriften des AT
Gese, H.: Das Geschichtsbild des Danielbuches und Ägypten, in: Atl. Studien, Tübingen 1991, 189–201. –: Die dreieinhalb Jahre des Danielbuches, in: FS K. Koch, Neukirchen-Vluyn 1991, 399–421. –: Das medische Reich im Geschichtsbild des Danielbuches – eine hermeneutische Frage, in: FS H.-D. Preuß, Stuttgart 1992, 309–320. Goldingay, J.E.: Daniel, OTL, London 1998. Haag, E.: Die Errettung Daniels aus der Löwengrube, Stuttgart 1983. –: Daniel, NEB, Würzburg 1993. Hellholm, D. (Hg.): Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East, Tübingen 1983. Hengel, M.: Judentum und Hellenismus, Tübingen 31988. Hölscher, G.: Die Entstehung des Buches Daniel, ThStKr 92, 1919, 113–138. Kaiser, O.: Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des AT 2: Die prophetischen Werke, Gütersloh 1994. Koch, K.: Das Buch Daniel, EdF 144, Darmstadt 1980. –: Deuterokanonische Zusätze zum Danielbuch, Kevelaer und Neukirchen-Vluyn 1987. –: Daniel, BKAT 22/1 (Dan 1–4), Neukirchen-Vluyn 2005. –: Weltgeschehen und Gottesreich im Danielbuch und die iranischen Parallelen, In: FS S. Herrmann, Stuttgart 1991, 189–205. –: Art. Daniel-Zusätze, RGG4 2, 1999, 560. Kratz, R.G.: Translatio Imperii, Neukirchen-Vluyn 1991. Kvanvig, H.S.: Roots of Apocalyptic, Neukirchen-Vluyn 1988. Lebram, J.C.: Art. Apokalyptik/Apokalypsen II. AT, TRE 3, 1978, 192–202. –: Das Buch Daniel, ZBKAT 23, Zürich 1984. Müller, H.-P.: Magisch-mantische Weisheit und die Gestalt Daniels, UF 1, 1969, 79–94. –: Mantische Weisheit und Apokalyptik, in: Mensch – Umwelt – Eigenwelt. Gesammelte Aufsätze zur Weisheit Israels, Stuttgart 1992, 194–219. Müller, K.: Studien zur frühjüdischen Apokalyptik, Stuttgart 1991. Noth, M.: „Die Heiligen des Höchsten“, in: Gesammelte Studien zum AT, München 31966, 274–290. Plöger, O.: Theokratie und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 31968. –: Das Buch Daniel, KAT 18, Gütersloh 1965. –: Zusätze zu Daniel, JSHRZ I/1, Gütersloh 1973, 63–87. Porteous, W.: Das Buch Daniel, ATD 23, Göttingen 21968. Schmitt, A.: Die griechischen Danieltexte („q’“ und o’) und das Theodotionproblem, BZ 36, 1992, 1–29. Stahl, R.: Von Weltengagement zu Weltüberwindung. Theologische Positionen im Danielbuch, Kampen 1994. Steck, O.H.: Weltgeschehen und Gottesvolk im Buche Daniel, in: Wahrnehmungen Gottes im AT, München 1982, 262–290. Woude, A.S. van der (Hg.): The Book of Daniel in the Light of New Findings, Leuven 1993.
Das apokalyptische Buch
469
56.7.2. Zum Todesverständnis des AT Assmann, J.: Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München 2001. Bartelmus, R.: Ez 37,1–14, die Verbform weqatal und die Anfänge der Auferstehungshoffnung, ZAW 97, 1985, 366–389. Barstad, H.M.: Art. Sheol, DDD, 1995, 1452–1457. Barth, C.: Die Errettung vom Tode in den individuellen Klage- und Dankliedern des AT. Neu hg. v. B. Janowski, Zürich 21987. Berlejung, A./Janowski, B. (Hg.): Tod und Jenseits im alten Israel und in seiner Umwelt, Tübingen 2009. Bloch-Smith, E.: Judahite Burial Practices and Beliefs about the Dead, Sheffield 1992. Dietrich, W./Vollenweider, S.: Art. Tod II. Altes und Neues Testament, TRE 33, 2001, 582–600. Ebach, J./Rüterswörden, U.: Unterweltsbeschwörung im AT, UF 9, 1977, 57–70; 12, 1980, 208–220. Eberhardt, G. D.: JHWH und die Unterwelt, Tübingen 2007. Fischer, A. A.: Tod und Jenseits im Alten Orient und im AT, Neukirchen-Vluyn 2005. Fohrer, G.: Das Geschick des Menschen nach dem Tode im AT, in: Studien zu atl. Texten und Themen, Berlin/New York 1981, 188–202. Gese, H.: Der Tod im AT, in: Zur biblischen Theologie, Tübingen 21983, 31–54. Görg, M.: Israels Unterweltsbegriff und seine Herkunft, in: Aegyptiaca Biblica, Wiesbaden 1991, 35–42. Hossfeld, F.-L./Zenger, E.: Die Psalmen I: Psalm 1–50, NEB, Würzburg 1993. –: Psalmen 51–100, HThKAT, Freiburg 2000. Irsigler, H.: Ps 73 – Monolog eines Weisen, St. Ottilien 1984. –: Die Suche nach Gerechtigkeit in den Psalmen 37, 49 und 73, in: Vom Adamssohn zum Immanuel, St. Ottilien 1997, 71–100. Janowski, B.: Die Toten loben JHWH nicht. Psalm 88 und das atl. Todesverständnis, in: F. Avemarie/H. Lichtenberger (Hg.), Auferstehung – Ressurection, Tübingen 2001, 3–45. Kaiser, O.: Der Prophet Jesaja Kapitel 13–39, ATD 28, Göttingen 31983. –/Lohse, E.: Tod und Leben, Stuttgart 1977. Kellermann, U.: Überwindung des Todesgeschicks in der atl. Frömmigkeit vor und neben dem Auferstehungsglauben, ZThK 73, 1976, 259–282. Kilian, R.: Jesaja II (Jes 13–39), NEB, Würzburg 1994. Koehler, L.: Atl. Wortforschung: Sche#o¯ l, ThZ 2,1946, 71–74. Lang, B.: Life after Death in the Prophetic Promise, in: Congress Volume Jerusalem 1986, Leiden 1988, 144–156. –: Art. Leben nach dem Tod I. AT, NBL II, 1995, 599–601. Lebram, J.-C.: Das Buch Daniel, ZBKAT, Zürich 1984. Liwak, R.: Art. rep¯a #îm, ThWAT 7, 1993, 625–636. Maag, V.: Tod und Jenseits nach dem AT, in: Kultur, Kulturkontakt und Religion, Göttingen 1980, 181–202. Perlitt, L.: Der Tod im AT, in: Allein mit dem Wort, Göttingen 1995, 206–221.
470
Die Schriften des AT
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56.8. 1. 2.
Repetitionsthemen Charakteristika der atl. Apokalyptik im Danielbuch. Die atl. Vorstellungen vom Tod und vom Leben nach dem Tod und ihre jeweiligen theologischen Intentionen.
Namen und Sachen
471
Register zu „Grundzüge der Geschichte Israels“
1.
Namen und Sachen
Abdon 112 Abigajil 38 f. Abimelech 33 Abjatar 42–44 Abner 31 f. 39 Abraham 97 Absalom 43 Achisch von Gat 39 Adadnarari lII. 60 f. Adonija 43 f. Ägypten 26–28. 44. 47. 50. 53. 70. 73–75. 84–87. 92 f. 101 f. 120. 124. 128. 134f. 137–139. Ahab 56–58 Ahas 52. 72–74 Ahasja von Israel 58 f. Ahasja von Juda 71 Ahikam 121 Ahinoam 38 f. Ajalon 112 akephal 27 Akra 140–142 Akzessionsjahr 52 Alexander der Große 134. 137 f. Alexander Jannäus 142 Am Haarez 69 f. 119 Amalekiter 25. 39. 90 Amara-West 89 Amarna 21. 102 Ammoniter 35. 41. 44. 69. 129. 131 Amnon 43 Amos 50 f. 61. 84
Amphiktyonie 113–117 Anat-Betel 135 Anatot 44 Annalistische Quellen 35 f. 50. 67 Antigoniden 138 Antiochus III. 139 Antiochus IV. Epiphanes 139–142 Antiochus V. 141 f. Antrittsjahr 52 Apiru 85. 102. 105 Araber 129 Aramäer (Syrer) 41f. 45. 55–57. 60f. 70–73 Aristobul I. 142 Aristobul II. 142 Arscham 134 f. Artaxerxes I. 128 f. 131 f. Artaxerxes II. 131 f. Artaxerxes-Erlass 132 Asarhaddon 68 Asarja (=Usija) 72 Ascham-Betel 135 Aschdod 28. 74 f. 103. 129 Aschkelon 28.75 Aseka 120 Asser 47. 113 Assur (Stadt) 76 Assurbanipal 68. 76 Assuruballit II. 76 Assyrer 56 f. 60–64. 72–78 Astyages 123 Atalja 57. 69 f. 71 f. Aufstiegserzählung 26. 35
472
Register
Baal-Schamem 141 Baal-Zebub 59 Babylon 64. 138 Babylonier 119–124 Bagoas 129. 133–135 Barak 111 Bascha 54 f. Baschan 91 Batseba 43 Beerscheba 97 Belsazar 123 Benaja 42 f. 45 Benjamin 47. 113 Beschneidung 122 Bethel 51. 54. 60. 97. 114f. Bet-Schean 112 Bilha 113 Coelesyrien 138 Chanukka-Fest 141 Cheruben 46 Chronologie 51 f. Damaskus 45. 56. 60 f. 72 f. Dan (Stamm) 113 Dan (Heiligtum) 50 f. 54 f. 59 f. 83 Darius I. 228 Darius II. 134 Darius III. 137 f. David 26. 31. 35–44 Debir (Allerheiligstes) 46 f. Debora 111 f. Deboralied 106 Delaja 133 Delphi 114 Demetrius I. 142 dimorphic society 107 Dina 113 Doeg 32 Dor 63. 112 Edomiter 41. 45. 69. 95 Ehud 111 Ekron 28. 75
Ela 55 Elasa 142 Elia 58 f. Elisa 58 Elephantine 134 f. Elhanan 37 Eliden 42 Eljaschib 130 elliptical sites 107 Elon 112 Ephraim 26. 29 f. 47. 103. 113 Erzväter 95–99 Esau 95. 114 Eschbaal 32. 39 f. Esra 131–133 Ewil-Merodach (= Awil-Marduk) Ezechiel 121 f. Ezjon-Geber 44. 69. 71 Gad 91. 113 Garizim 134 Gat 28. 39. 60. 69. 74 Gaugamela 158 Gaza 28 Geba 68 f. Gebira 59. 71 Gedalja 121 Gerschom 83 Geschem 129 Geser 45. 112 Gibbeton 55 Gideon 111 Gilead 31–33. 47. 63 Gilgal 114 f. Gobryas (= Ugbaru) 124 Gola 121–123 Goliat 28. 37 Gosan 64 Goschen 85 Greuel der Verwüstung 141 Gymnasion 140 Hadadeser 56 Haggai 125
122 f.
Namen und Sachen
Halach 64 Hamat 41 f. 56. 64 Hananja 120 Haran 76. 96 f. Hasael 57. 60. 70 f. Hasmonäer 141 f. Hazor 45. 51. 102 f. Hebron 97 Heschbon 91 Hiram von Tyrus 42. 44 Hiskia 52.74–76. 83 Hofra (= Apries) 120 Horma 91 Hoschea (König) 63 f. Hosea 50. 68. 83 f. Hulda 72 Hyrkan II. 142 Ibzan 112 Isaak 97 f. Isebel 57. 59 Ismael 114 Israel (Name) 13. 27. 39. 106 Issachar 47. 113 Issus 132 Ittobaal 57 Jabesch in Gilead 31. 33 Jahu 135 Jahwe (Herkunft) 88–90 Jahwename 89 Jakob 95. 97 f. Jaïr 112 Jason 139 f. Jeftah 111 f. Jehu 58–60 Jehuiden 59–61 Jeremia 67. 120–122 Jericho 69 Jerobeam I. 53 f. Jerobeam II. 61 Jerusalem 37. 119–121. 138–142 Jesaja 50. 84 Jeschua 125
Jibleam 112 Jischmael ben Netanja 121 Joab 40. 42–44 Joahas von Israel 60 Joahas von Juda 119 Joasch von Israel 60 Joasch von Juda 69 f. Johannes Hyrkan I. 134. 242 Jojachin 119 f. 122. 124 Jojakim 119 Jonadab ben Rechab 58 Jonatan 32 f. 38 Jonatan (Hasmonäer) 142 Joram von Israel 59 Joram von Juda 57. 69 Joschafat 69–71 Josef (Haus) 47. 53 Josef (Stamm) 113 Joseph ben Tobija 138 f. Josia 76–78 Josua 105 f. Juda (Staat) 39–47. 67–78 Juda (Stamm) 113 Juda (Verwaltungsbezirk) 128 f. 133 Judas Makkabäus 141 f. Kabul 42 Kadesch (-Barnea) 90 f. Kambyses 124. 134 Kanaanäer 28. 55–58 Karkar 56 f. Karkemisch 77 Karnajim 61 Keniter 83. 92. Kirjat-Jearim 41 Königtum 29–33 Königin-Mutter 59. 71 Kragenrandkrug 104 Kreti und Pleti 42 Krösus 123 Kuschan 92 Kuschitin 92 Kuta 64 Kyaxares 76
473
474
Register
Kyrus II. 123 f. Kyrus-Edikt 124 Laban 97 Labaschi-Marduk 123 Lachisch 75. 102. 120 Ladeerzählung 26. 28. 35. 41 Landnahme der Israeliten 91. 100–107 Lea 113 Lebo Hamat 61 Levi 113 f. 116 Leviten 130 Libna 75 Lodabar 61 Lysias 141 f. Machir 113 f. Mahanajim 97 Mamre 97 Manasse (Stamm) 103. 113 Manasse von Juda 76 Marduk-Priesterschaft 123 Mari 96. 102 Mattatias 141 Mazkir 42. 45 Megiddo 45. 51. 63. 77. 102f. 112 Menahem 52. 61. 63 Menelaus 140–142 Merenptah 22. 85 f. 101 Mescha-Stele 13. 50. 56. 69 Micha 50. 84 Michal 38 Midianiter 83. 89. 92 f. Mirjam 87. 90 f. Mischehen 130. 132 Mitregentschaft 52 Mizpa 121 Moabiter 41. 69 Modeïn 141 Mose 82–95. 105 Moseberg 87 f. Mosegrab 91 f. 93 Mosename 92
Nabonid 123 f. Nabopolassar 76 Nabot 58 Nadab 54 Naftali 47. 55. 113 Nahor 114 Nathan 43 Nathanweissagung 41. 69 Nebo 91 Nebukadnezar 77. 119 f. 123 Necho II. 76 f. 119 Nehemia 128–132 Nehemiadenkschrift 129–131 Neriglissar 123 Ninive 75 f. Nippur 121 f. Nomaden 95 f. 106 f. Obadja (Minister Ahabs) Ofir 44. 71 Og 91 Omri 55 f. Omriden 55–60. 71 Oniaden 138–140 Onias II. 138 Onias III. 139 f. Otniël 11 Parmenio 138 Paneion 138 f. Parther 138 Pekach 63 Pekachja 52. 63 Philister 28. 41. 55. 103 Phönizier 42. 44. 57. 75 Pitom 85 Pnuël 53. 97 Pompejus 142 Psusennes 44 Ptolemäer 138 f. Ptolemäus V. 138 Rahel 113 Rama 69
58
Namen und Sachen
Ramot-Gilead 57 Ramses II. 85 Ramses III. 26 f. Ramsesstadt 85 Rechabiter 58 Rehabeam 44. 70 Reichsautorisation (bei Persern) Reson 45 Rezin 72 Richter, Große 111 f. Richter, Kleine 30. 112 f. Römer 139. 142 Roxane 138 Ruben 91. 113
132
Sabbat 122. 130 Sacharja 125 Salmanassar III. 13. 50. 56. 60 Salmanassar V. 51. 64 Salome Alexandra 142 Salomo 43–47 Samaria 56. 60. 64. 121. 129. 133f. Samuel 30. 37 Sanballat 129–131 Sanherib 68. 75 Sargon II. 31. 64. 74 Saul 30–33. 37–39 Schaalbim 112 Schabaka 74 Schafan 121 Schallum von Israel 61 Schamgar 111 Schamschi-Adad V. 60 Schasu 22. 89. 102. 107 Scheschbazar 124 Schilfmeer 87 Schischak (=Scheschonq I.) 22. 47. 50. 53. 70 Sebulon 113 Secharja 61 Seevölker 27 f. 42. 103 segmentär 27 Seïr 88 f. Seleukiden 138–142
Seleukus IV. 139 Serubbabel 124 f. Siamun 44 Sichem 53. 97. 114f. 121 Sidon 57 Sihon 91 Silo 28. 41. 114 f. Siloa-Inschrift 68. 75 f. Siloa-Tunnel 68. 75 f. Silpa 113 Simeon 113 Simon (Hasmonäer) 142 Simri 55 Simson 111 Sippengesellschaft 27. 29–30 Sisera 111 So 63 f. Soleb 89 Staatenbildung 28–32 Susa 128 Synoikismos 129 f. Taanach 112 Tamar (Tochter Davids) 43 Tamar (Festung) 45 Tell Dan 21. 50 Tema 123 Tempel (von Jerusalem) 46. 69. 73 f. 76–78. 120–122. 124f. 132 f. 139–142. Tempelgemeinde (Jerusalemer) 132 Thermopylen 114 Thronfolgeerzählung 35 Tibni 55 Tiglatpileser III. 51. 63. 72 f. Tirza 53 Tobija 129. 131 Tobiaden 138 f. Tola 112 Transeuphratene 129 Tyrus 44. 57. 137 Ur in Chaldäa 96 Usija (=Asarja) 72
475
476
Register
Vierraumhaus Xerxes
103 f.
Zedekia 120 Zefanja 67 f. Zeus Olympios Ziklag 39 Zoba 41
128
Zadok 42–44 Zadokiden 140. 142
2.
141
Ausgewählte Bibelstellen
Genesis 12, 1–3.7 20 21, 22–34 26 26, 1–3a 28, 13–15 29, 31–30, 24 34 35, 16–20 47, 4 ff. 49, 5–7
98 101 101 101 98 98 113 116 113 84 f. 116
Exodus 1, 11 ff. 2, 16–22 3, 1 ff. 14, 1–3 14, 5a 15, 21b 17, 1 ff. 17, 8–16 18, 12 19, 10–19 24, 3–8
85 92 88 86 f. 85 16. 87. 90 90 90 88 f. 88 f. 89
Numeri 11 12, 1 13, 22–24 20, 1 ff. 21, 1–3
90 92 91 90 91
21, 4–9 21, 21–35 26, 5–51 32 33, 11–36
76. 83 91 113 91 88
Deuteronomium 26, 5–9 33, 2 34, 1 ff.
97 88 91
Josua 1–12 9, 14 13, 3 24
100 f.105 27 28 114 f.
Richter 1, 1–2, 5 1, 27–33 4, 11 5 9 10, 1–5; 12, 7–15 19–21
101 41. 101 92 106 33 112 114 f.
1Samuel 1–3 4, 1 ff. 7, 15–17 9, 1–10, 16 11, 1–15
26 26. 28. 35. 41 30 25. 30 25. 31. 33
Ausgewählte Bibelstellen
13, 1 13, 2 ff. 13, 19–22 14, 1 ff. 14, 50–52 15 16–31 + 2 Sam 1–5 16, 1–13 16, 21–23 17 18, 3 18, 6–9 18, 20–27 21, 8 22, 2 22, 3 23, 7 ff. 25, 1 25, 2 ff. 27 29 30 31
32 32 28 f. 25. 32 31 f. 25. 30 26. 35 26. 37 31 f. 37 22. 28. 37 38 38 38 32 38 39 39 30 38 f. 28 f. 39 29. 39 39 33
2Samuel 1, 19–27 2, 4 2, 8–11 3, 12–15 3, 33 f. 4, 1 ff. 5, 1–3 5, 6–9 5, 6–25 6 6, 23 7 8 8, 16–18 9–20 + 1Kön 1–2 10–12 13 15–19 16, 7 f.
37 f. 39 32 f. 39 f. 38 37 f. 40 40 40 41 26. 35 38 41. 69 35. 41 f. 36. 42 f. 35 35 43 43 40
20, 23–26 21, 19 23, 8–39 24, 7 24, 18–25
36. 42 f. 37 36 42 46
1Könige 1, 5 ff. 1, 35 4, 2–6 4, 7–19 5, 9–14 5, 15–32 5, 27 f. 6, 6–8, 13 9, 10–14 9, 15 ff. 9, 15 9, 20–22 9, 26–10, 29 9, 26–28 10, 16 ff. 10, 28 f. 11, 1–3 11, 26–28.40 12, 1–20 12, 25 12, 26–32 14, 25 f. 15, 10.13 15, 16–22 16, 24 16, 27 16, 31–33 20 21 22
43 25 36 36. 47 46 42. 46 47 36 42 36 37 47 37 44 36 44 44 36. 47 53 53 54 50 71 68 f. 56 56 57 f. 57. 60 58 57
2Könige 1 3, 2 6, 24–7, 20 8, 7–15 8, 28
58 f. 59 57. 60 60 57
477
478
Register
9 f. 9, 25 f. 10, 13 10, 32 f. 11, 1–20 11, 18.20 12, 18 f. 13, 14–19 14, 19–21 14, 23–25 14, 28 15, 8–31 15, 29 16, 2–4 16, 10–16 17, 1 ff. 17, 22 f. 18–20 18, 4 18, 8 20, 5 20, 20 21, 23 f. 22–23 23, 8 25, 27–30
58 f. 58 59. 71 60 71 f. 69 f. 60 61 69 f. 61 61 61 63 72 f. 73 63 f. 54 75 76. 83 75 99 68. 75 f. 69 77 f. 68 122
Jesaja 1, 7–9 7 f. 7, 1 ff. 8, 11–15 20, 1–5 28–32 38, 5
75 72 63 13 74 75 99
Jeremia 7, 12–14 22, 15 f. 29, 5 ff. 35, 5 ff. 48, 45 f.
28 78 122 59 91
Ezechiel 1–3
122
Hosea 1, 3–4 5, 8–6, 6 11, 1 12, 14
59 72 84 83 f.
Amos 4, 1–3 6, 1–6 6, 13 9, 7
61 61 61 28
Psalmen 132, 13 137
41. 69 122
Daniel 5, 1 ff.
123
Esra 2, 68 f. 5, 13–15 6, 3–5 6, 15 7, 12–26
122 124 124 125 132 f.
Nehemia 1–7.* 12 f.* 7, 69–72
129–131 122
1 Chronik 8, 33 9, 39 10–29 + 2 Chr 1–9
33. 39 33. 39 36
2 Chronik 11, 5–12 26, 16–21
67 72
Ausgewählte Bibelstellen
479
480
Register