Appell an das Publikum: Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687-1796 9783050082493, 9783050038803

Nach einer umfangreichen theoretischen Einführung wird auf der Grundlage von sieben Fallstudien die Funktion der öffentl

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Vorwort
Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1697-1796. Einleitung
1. Das traditionelle Bild der deutschen Aufklärung als Ergebnis der Kanonisierung von Parteiurteilen
2. Religion als Hauptpunkt der Aufklärung
2.1. Die theologische Herausforderung der Neuen Wissenschaft oder das erkenntnistheoretische Problem der christlichen Mysterien
2.2. Leibniz’ Théodicée als Weichenstellung fr die deutsche Aufklärung
2.3. Die theoretische Konstellation der deutschen Aufklärung
2.4. Die Entwicklung der deutschen Aufklärung aus der Perspektive ihrer öffentlichen Debatten
3. Die Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit als politischer Gegenmacht
3.1. Die politische Dimension der Aufklärung im protestantischen Raum des Alten Reiches
3.2. Die neuen Medien der bürgerlichen Öffentlichkeit
3.3. Der leitende Begriff von Öffentlichkeit
3.4. Das Auftauchen der Worte »Publikum« und »öffentlich« in den hier vorgestellten Debatten
3.5. Die Regeln der öffentlichen Debatte
3.6. Das Exempel Gottsched
»Händel mit Herrn Hector Gottfried Masio«. Zur Pragmatik des Streits in den Kontroversen mit dem Kopenhagener Hofprediger
1. Hector Gottfried Masius: Konfessionelles Engagement und politisches Kalkül
2. Johann Christoph Becmann: Mit gleicher Münze, oder: vom Patt der Argumente
3. Samuel Pufendorf: Beobachtung und Teilnahme
4. Christian Thomasius: Streit durch Aufklärung - Aufklärung durch Streit
4.1. Verlauf und Inhalt der Kontroverse: Brennende Bücher und zwei Thesen
4.2. Form und Zweck: Der Streit als Vorführung
4.3. Der Streit als Mittel der Durchsetzung und des Erwerbs von Erkenntnissen
Chronologie
Quellenverzeichnis
Der Skandal der Wertheimer Bibel. Die philosophisch-theologische Entscheidungsschlacht zwischen Pietisten und Wolffianern
1. Das absichtsvolle Vergessen der Wertheimer Bibel in der deutschen Geistesgeschichte
I. Teil. Die erste Phase der Entwicklung der öffentlichen Debatte seit dem Erscheinen der Wertheimer Bibel zur Ostermesse 1735
2. Das Erscheinen der Wertheimer Bibel als Erfolg einer Strategie der Öffentlichkeit
3. Zur theologischen und philosophischen Problemlage des Übersetzungsprojekts: Die Vorrede
4. Die »glücklichen Umstände« des Zustandekommens
5. Die politische Vorbereitung des Philosophischen Religionsspötters im Verfahren des evangelischen Elenchus als Inszenierung der öffentlichen Gegenreaktion auf die Wertheimer Bibel
6. Die Argumentationsstrategie des Philosophischen Religionsspötters: Eine Vorlage für das Eingreifen des weltlichen Arms
7. Schmidts strategischer Gebrauch des evangelischen Elenchus zur Erhaltung der Öffentlichkeit des Streits: Die vestgegründete Wahrheit
8. Die öffentliche Debatte kommt in Gang: Die Hamburgischen Berichte von gelehrten Sachen November 1735 bis Januar 1736
9. Lokale Auseinandersetzungen um den Erhalt der Öffentlichkeit in Wertheim
10. Die Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen vom Januar bis zum März 1736 und das Einschreiten der sächsischen Obrigkeit
II. Teil. Die zweite Phase der öffentlichen Debatte zwischen dem sächsischen Verbot im Januar 1736 und dem preußischen Verbot im Sommer 1736
11. Das sächsische Verbot in seiner Auswirkung auf die öffentliche Debatte: Die Rezension der Göttlichen Schrifien in den deutschen Acta eruditorum und Schmidts Zurückweisung
12. Die Wertheimer arbeitsteilige politische Reaktion auf das sächsische Verbot
13. Des Wertheimers Öffentliche Erklärung vor der ganzen evangelischen Kirche als öffentlich-politische Schrift, um die protestantischen Stände beim Reichstag zu Regensburg zu gewinnen
14. Der Rückgang der öffentlichen Debatte angesichts des sächsischen Verbots: Die Hamburgischen Berichte von Gelehrten Sachen von Februar bis zum Sommer unter der wechselnden Großwetterlage
15. Eine erste Welle von Widerlegungen der Wertheimer Bibel bis zum Sommer 1736 - theologische Argumentation und moralische Diskreditierung
16. Die Beantwortung, Schmidts Auseinandersetzung mit der Kritik - argumentativ und moralisch
17. Das Ringen um die Akzeptanz Wolffs am preußischen Hof und das preußische Verbot der Wertheimer Bibel als deren Preis im Sommer 1736
III. Teil. Die dritte Phase der öffentliche Debatte bis zum kaiserlichen Verbot im Januar 1737
18. Die öffentliche Nebendebatte der Langeschen Fraktion gegen Wolff: Die Wertheimer Bibel eine Frucht der Wolffschen Philosophie?
19. Die Wertheimer politische Reaktion auf das preußische Verbot im Sommer 1736
20. Reimarus’ Anerkennung der redlichen Absichten in den Hamburgischen Berichten, aber der dennoch drohende Verlust der Öffentlichkeit
21. Der Kontakt zu Gottsched und zur Leipziger Deutschen Gesellschaft als Ausweg aus der drohenden öffentlichen Isolation kommt zustande
22. Die Diskussion von Übersetzungsprinzipien in den Beyträgen zu einer Critischen Historie der deutschen Sprache ‚ Poesie und Beredsamkeit von einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig herausgegeben
IV. Teil. Die vierte und letzte Phase: Die Verlagerung der öffentlichen Debatte von der philosophisch-theologischen in die politisch-juristische Diskussion
23. Große Politik I: Das Kaiserliche Verbot, Verhaftung und Prozeß unter den Bedingungen der geltenden Reichsverfassung nach dem Westfälischen Frieden
24. Die Aktivitäten der Wertheimer hinsichtlich des Prozesses und der öffentlichen Debatte
25. Die Gründliche Vorstellung als politisch-öffentliche Reaktion der Wertheimer vor dem Reichstag, insbesondere vor dem Corpus evangelicorum
26. Die Affäre Fröreisen
27. Die Einschränkung der öffentlichen Debatte
28. Große Politik II: Wien - Ansbach - Bamberg - Regensburg - Berlin - Kopenhagen und die Aktivitäten der Wertheimer
29. Die Historischen Nachrichten als Ausdruck des anhaltenden Interesses eines breiten Lesepublikums an der öffentlichen Debatte um die Wertheimer Bibel
30. Ergebnisse der Untersuchung
Chronologie
Quellenverzeichnis
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Das Publikum als Garant der Freiheit der Gelehrtenrepublik. Die öffentliche Debatte über den Jugement de L’Académie Royale des Sciences et Belles Lettres sur une Lettre prétendue de M. de Leibnitz 1752-1753
1. Kritische Sichtung des Forschungsstandes
2. Der Jugement und seine Vorgeschichte
3. Die frühen öffentlichen Reaktionen auf den Jugement
4. Eine despotische Akademie?
5. Die erste Gegenreaktion des »Triumvirats« auf die Zeitungen
6. Ein erster Höhepunkt der öffentlichen Debatte: Der Appel au public
7. Die Popularisierung und Verbreitung der Argumente des Appel au public
8. Die Bibliothèque impartiale: Eine populäre Darstellung der wissenschaftlichen und rechtlichen Streitfragen
9. Die Lettres concernant le Jugement des »Triumvirats«
10. Das »Triumvirat«
11. Die Politisierung der Auseinandersetzung durch das Eingreifen des Königs
12. Der Dr. Akakia und seine öffentliche Verbrennung durch den Henker
13. Ein »Antitriumvirat«?
14. Samuel Königs Defense de l’Appel und Eulers Dissertations
15. Satirische Nachspiele und Sammlungen
16. Öffentliche Verlautbarung contra öffentliche Diskussion. Die öffentliche Debatte als Kampf um den öffentlichen Raum
Chronologie
Quellenverzeichnis
Lessing contra Cramer zum Verhältnis von Glauben und Vernunft. Die Grundsatzdebatte zwischen den Literaturbriefen und dem Nordischen Aufseher
1. Der Anlaß der Debatte: Lessings Rezension des Nordischen Aufsehers in den Literaturbriefen
2. Die Prominenz der Verfasser des Nordischen Aufiehers
3. Die grundlegende Bedeutung der von Lessing bestrittenen Positionen
4. Die ersten Reaktionen auf die Kritik der Literaturbriefe
5. Basedows Verteidigung des Nordischen Aufiehers und sein Versuch einer moralischen Vernichtung der Literaturbriefe
6. Die öffentliche Reaktion auf Basedows Angriff gegen die Literaturbriefe
7. Die Reaktion der Literaturbriefe
8. Die öffentlichen Reaktionen auf die zweite Serie der Literaturbriefe
9. Die öffentliche Debatte als Auseinandersetzung von Parteien
10. Der Zusammenhang der Schreibart mit der finanziellen Basis der Zeitschriften in dieser öffentlichen Debatte
11. Die Strategien des Überzeugens des Publikums
12. Nachwehen der öffentlichen Debatte
Chronologie
Quellenverzeichnis
»Was jetzt eben zu sagen oder noch zu verschweigen sei, müßt ihr selbst überlegen«. Publizistische Strategien der preußischen Justizreformer 1780-1794
1. Justizreformer und Öffentlichkeit - zur Kritik der Forschung
2. Das Engagement für die Prozeßreform
3. Die Präsentation des Gesetzbuch-Entwurfs
4. Amtliches und publizistisches Operieren der Justizreformer unter Friedrich Wilhelm II
Chronologie
Quellenverzeichnis
» ... man sollte itzt beständig das Publikum über diese Materie en haleine halten«. Die Debatte um »bürgerliche Verbesserung der Juden« 1781-1786
1. Zum Stellenwert der Debatte von 1781 bis 1786 im Verlauf der Auseinandersetzung um die Judenfrage
2. Preußisch-österreichische Voraussetzungen
3. Der Anlaß: Das elsässische Mémoire
4. Dohms Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden
5. Die Entfaltung der Debatte 1781/82
6. Mendelssohns Eingreifen
7. Gipfelpunkt des Reformplädoyers: Jerusalem
8. Dohm und seine Mitstreiter 1783-1786
9. Komplementäre Rezeptionen der Debatte: Ascher und Mirabeau
Chronologie
Quellenverzeichnis
Das Bahrdt-Pasquill. Ein publizistischer Streit zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung 1790-1796
1. Die Schauplätze der Debatte
2. Johann Georg Zimmermanns publizistische Angriffe auf die Aufklärungsbewegung und deren Gegenschriften (1788-1790)
3. Das Pasquill Doctor Bahrdt mit der eisernen Stirn (1790)
4. Die Verfasserfrage und die rechtliche Verfolgung des Pasquillanten (1790-1793)
5. Der publizistische Streit um das Bahrdt-Pasquill (1790-1796)
6. Die politisch-publizistische Polarisierung von Aufklärung und Gegenaufklärung am Beispiel des Bahrdt-Pasquills
Chronologie
Quellenverzeichnis
Anhang
Bildnachweis
Namenverzeichnis
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Appell an das Publikum: Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687-1796
 9783050082493, 9783050038803

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APPELL AN DAS PUBLIKUM

Ursula Goldenbaum

APPELL AN DAS PUBLIKUM Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687-1796 Mit Beiträgen von Frank Grunert, Peter Weber, Gerda Heinrich, Brigitte Erker und Winfried Siebers TEIL 1

Akademie Verlag

ISBN 3-05-003880-2

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2004 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übertragung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikrover-filmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Grube Design Satz: Werksatz Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer« GmbH, Bad Langensalza

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

VII

URSULA GOLDENBAUM

Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1697-1796. Einleitung

1

FRANK GRUNERT

»Händel mit Herrn Hector Gottfried Masio«. Zur Pragmatik des Streits in den Kontroversen mit dem Kopenhagener Hofprediger

119

URSULA GOLDENBAUM

Der Skandal der Wertheimer Bibel. Die philosophisch-theologische Entscheidungsschlacht zwischen Pietisten und Wolffianern

175

URSULA GOLDENBAUM

Das Publikum als Garant der Freiheit der Gelehrtenrepublik. Die öffentliche Debatte über den Jugement de L'Académie Royale des Sciences et Belles Lettres sur une Lettre prétendue de M. de Leibnitz 1752-1753

509

URSULA GOLDENBAUM

Lessing contra Cramer zum Verhältnis von Glauben und Vernunft. Die Grundsatzdebatte zwischen den Literaturbriefen und dem Nordischen Aufseher

653

PETER WEBER

»Was jetzt eben zu sagen oder noch zu verschweigen sei, müßt ihr selbst überlegen«. Publizistische Strategien der preußischen Justizreformer 1780-1794

729

GERDA HEINRICH

»... man sollte itzt beständig das Publikum über diese Materie en haleine halten«. Die Debatte um »bürgerliche Verbesserung der Juden« 1781-1786

813

BRIGITTE ERKER/WINFRIED SIEBERS

Das Bahrdt-Pasquill. Ein publizistischer Streit zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung 1790 - 1 7 9 6

897

Bildnachweis Namenverzeichnis Ausführliches Inhaltsverzeichnis

943 945 965

Vorwort

Gegenstand der vorliegenden Monographie ist die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung als einer besonderen und neu entstehenden Kommunikationsform. Anhand von sieben Fallstudien zu ausgewählten Debatten zwischen 1687 und 1796 werden dabei insbesondere die Form der öffentlichen Debatte, ihre Funktion als Movens bei der Konstituierung des öffentlichen Raumes und der Freiheit des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft, die kontextabhängige Veränderung der Argumentationsmuster und -Strategien und die Rezeptionsbreite dargestellt. Der idealisierenden Auffassung von der Aufklärung als einem allmählichen Prozeß beständiger Zunahme der Rationalität und der Ausweitung des öffentlichen Diskurses sowie der kontinuierlichen Erweiterung und Ausdifferenzierung der Medien und Institutionen der Öffentlichkeit wird ein neues Verständnis entgegengesetzt, das auch den agonalen und diskontinuierlichen Charakter der Diskurse der Aufklärung deutlich werden läßt. Die Idee zur Untersuchung öffentlicher Debatten der Aufklärung wurde angeregt durch die gegenwärtig andauernde Diskussion um die Werte der Aufklärung, um die Möglichkeiten des rationalen Diskurses bzw. deren Überschätzung. Die Kritik der Aufklärung, der Rationalität, des öffentlichen Diskurses hat vor allem in der Folge des französischen Poststrukturalismus seit dem Ende der 1960er Jahre die Werte der Aufklärung grundlegend in Frage gestellt. Von poststrukturalistischer Seite wird der Theorie kommunikativen Handelns eine harmonistische Sicht auf den rationalen Diskurs vorgeworfen; bereits das bei den Aktoren vorausgesetzte Ziel der Verständigung und die Absicht, den Opponenten überzeugen zu wollen, werden als »totalitär« denunziert. Denker, die sich bewußt in die Tradition der Aufklärung stellen, exemplarisch Habermas, halten dagegen am rationalen und öffentlichen Diskurses als Programm wie als Leistung der Aufklärung fest und verteidigen diesen unter Berücksichtigung und Verarbeitung der Kritik als notwendiges Moment einer demokratisch verfaßten Gesellschaft. Angesichts dieser theoretischen Diskussionen am grünen Tisch geht es den Autoren der vorliegenden beiden Bände um eine Untersuchung des wirklichen Diskurses, wie er in tatsächlich stattgefundenen öffentlichen Debatten zum Ausdruck kommt. Auf der Grundlage rekonstruierter Debatten war zu fragen: Wie ist unter den Bedingungen der Unfreiheit, der Zensur und einer herrschenden Meinungshoheit ein transzendentaler, unter Absehen von den Personen auf Wahrheit ausgerichteter öffentlicher Diskurs überhaupt möglich geworden? Inwiefern oder unter welchen Bedingungen vermochte allein eine kohärente Argumentation Vertreter der herrschenden Positionen überhaupt zum Einstieg in den öffentlichen Diskurs zu nötigen? Und konnte der Diskurs um Wahrheit von der publizistischen Strategie unberührt bleiben, die zunächst vor allem auf die Ermöglichung des öffentlichen Diskurses unter den gegebenen Bedingungen zielte, aber auch auf die Gewinnung des Publikums?

Vili

Vorwort

Gegenüber der skeptischen Auffassung von den Einschränkungen und Begrenzungen des Diskurses, seinen Ausgrenzungen und vorgegebenen Regeln stellt sich dagegen die Frage, wie es überhaupt zu gravierenden Veränderungen solcher Einschränkungen und Begrenzungen sowie zu ganz neuen Spielregeln des Diskures kommen konnte. Warum das Engagement einzelner Autoren, die mit ihren Publikationen ein persönliches hohes Risiko eingingen, den Bruch der geltenden Regeln und die Vorgabe neuer Regeln des Spiels möglich machen konnte. Die hier vorgestellten sieben Fallstudien lassen erkennen, daß die öffentlichen Debatten zwar sehr wohl durch rationale Argumente und deren »zwanglosen Zwang« der Uberzeugung bestimmt wurden, 1 aber ebenso auch durch Einschränkungen, Regeln und Begrenzungen des Zugangs zum Diskurs. 2 Texte aus Debatten erweisen sich als Dokumente der Interaktion von Individuen oder sozialen Gruppen, des absichtsvollen Handelns im Sinne der Durchsetzung praktischer Ziele gegenüber Gegnern und Kritikern dieser Ziele. 3 Auch zeigen sich die Texte einer öffentlichen Debatte als adressiert nicht an Opponenten, sondern an ein Publikum, das den eigenen Auffassungen gewonnen oder in seiner Parteinahme bestätigt werden soll. Das geschieht keineswegs nur durch Argumente 4 ; auch mit Witz, Ironie und Satire wurde das befreiende Lachen des Publikums gegenüber angemaßter Autorität initiiert. Die Argumentationsmuster richten sich dabei nach den gegebenen Möglichkeiten und Bedingungen in bestimmten politischen und kirchlichen Strukturen, setzen also die bestehenden Machtverhältnisse, Institutionen und Regeln voraus, die sie zugleich kritisieren. Argumentation wie publizistische Strategie der Autoren stehen daher nicht allein in ihrem Belieben, sondern werden auch konstituiert durch diesen Kontext, durch die vorgegebenen Regeln des geltenden Diskurses, in dem die Autoren den Geltungsanspruch ihrer Positionen behaupten wollen. Voraussetzung für den Erfolg der Aufklärer bei der Herstellung und Sicherung eines öffentlichen Raumes war der Rückgriff auf ein gemeinsames Netzwerk, so daß in den öffentlichen Debatten nicht nur einzelne Autoren, sondern immer durch gemeinsame Überzeugungen verbundene Gruppen bzw. Parteien erkennbar werden. 1

2

3

4

Habermas selbst räumte inzwischen längst eine idealisierende Sichtweise auf den mit der Aufklärung verbundenen Prozeß der Entstehung einer bürgerlichen kritischen Öffentlichkeit in seinem frühen Werk Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) ein. Vgl. Jürgen Habermas: Vorwort zur Neuauflage. In: Suhrkamp: Frankfurt/M. 1990 (stw891), S. 11-50, insbes. S. 1 2 - 1 5 . Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France, 2.12. 1970. Fischer: Frankfurt/M. 1991, S.27 u. S.33f. »Thus the problem facing an agent who wishes to legitímate what he is doing at the same time as gaining what he wants cannot simply be the instrumental problem of tailoring his normative language in order to fit his projects. It must in part be the problem of tailoring his projects in order to fit the available normative language.« (Quentin Skinner, The foundations of modem politicai thought, Cambridge University Press 1992, Bd. 1, S.XIIf.) »Für den Status eines Textes ist es nämlich keineswegs gleichgültig, ob er eine außergewöhnliche Schöpfung ist oder im Gegenteil ein Exemplar unter vielen eines weitverbreiteten literarischen Genres.« (Daniel Roche: Sozialgeschichte und Kulturgeschichte: Aktuelle französische Perspektiven. In: Alteuropa - Ancien Régime - Frühe Neuzeit. Probleme und Methoden der Forschung. Hg. Hans Erich Bödeker u. Ernst Hinrichs, Frommann-Holzboog: Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 123.)

Vorwort

IX

Auch inhaltlich stellt sich die traditionell unterschätzte deutsche Aufklärung aus der Perspektive ihrer öffentlichen Debatten in einem neuen Licht dar. Während ihr die übereinstimmenden Urteile der Literatur- und Geistesgeschichte seit dem frühen 19. Jahrhundert bis heute einen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend unpolitischen Charakter zusprechen, die Entstehung einer Öffentlichkeit entsprechend spät datieren und in ihrer Diskussion theologischer Themen ihre theoretische Zurückgebliebenheit gegenüber der französischen und englischen Aufklärung ausmachen, wird in der öffentlichen Debatte durch den Kontext der bekannten wie der vergessenen Texte der deutschen Aufklärung ihr eminent politischer Charakter und ihr hoher theoretischer Anspruch deutlich sichtbar. Schon in den frühen Debatten werden wie in der englischen Aufklärung die Grenzen der Souveränität und die Freiheit des Gewissens öffentlich diskutiert, wobei es zunächst ebenso wie bei Milton und Locke um die politisch garantierte Freiheit der Religion geht, die aber sogleich die Publikationsfreiheit einschließt. Die politische Brisanz dieser Diskussion wird noch in der hier vorgestellten öffentlichen Debatte der Judenemanzipation am Ende des Jahrhunderts deutlich. Zugleich bergen die scheinbar bloß poetologischen und ästhetischen Auseinandersetzungen seit Mitte des 18. Jahrhunderts eben die theoretischen Grundsatzfragen zum Verhältnis von Vernunft und Offenbarung, an denen sich noch die scheinbar überlegenen Vertreter der Klassik und des deutschen Idealismus abgearbeitet haben. Deren polemische Parteiurteile gegen die Aufklärung wurden seit dem frühen 19. Jahrhundert in der Literaturund Philosophiegeschichte unkritisch kanonisiert, woraus die bis heute geltende pauschale Abwertung der Leistungen der deutschen Aufklärung resultiert. Die Auswahl der Debatten wurde von dem Prinzip geleitet, daß es sich um öffentliche, d.h. allgemein interessierende und einem Laienpublikum zugängliche Debatten handeln sollte. Sie sollten über einen längeren Zeitraum (mindestens ein Jahr) von überregionaler Bedeutung gewesen sein. Kriterium fiir das Konstatieren einer Debatte war, daß in einem Zeitraum von weniger als 10 Jahren deutlich verstärkt zu einer strittigen Fragestellung publiziert wurde, wobei sich die Autoren der Beiträge aufeinander bezogen. Eindeutig konnte von einer Debatte immer dann gesprochen werden, wenn eigene Sammlungen von Streitschriften erschienen waren. Das ist bei vier der ausgewählten Debatten der Fall. Das Projekt dieser Untersuchung wurde zwei Jahre lang von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) als Teil eines Gesamtprojektes des Geisteswissenschaftlichen Zentrums für Europäische Aufklärung in Potsdam gefördert. Die Untersuchung von fünf Debatten wurde von Mitarbeitern einer Arbeitsgruppe dieses Zentrums (Goldenbaum, Heinrich, Weber) geleistet. Die Arbeit an zwei weiteren Debatten wurde von Wissenschaftlern anderer Institutionen (Grunert, Erker und Siebers) auf der Grundlage von bereits vorhandenen Vorarbeiten unternommen. Alle Untersuchungen folgten einer gemeinsamen Konzeption, die Ergebnisse wurden in der Arbeitsgruppe und unter den Autoren diskutiert. Der Versuch einer möglichst vollständigen Rekonstruktion der zu untersuchenden Debatten erwies sich generell als unerwartet aufwendig. Ungeachtet dessen lagen sechs der hier vorgelegten Darstellungen bereits Ende 1999 im Manuskript vor. Ein besonderes Problem stellte allerdings die Untersuchung und Rekonstruktion der Debatte zur Wertheimer Bibel dar, deren Umfang nunmehr fast die Hälfte dieser Monographie ausmacht.

X

Vorwort

Der Umfang jeder einzelnen Darstellung ist abhängig von der Intensität und regionalen Ausdehnung der Debatte und von der Zahl der in ihr produzierten Texte, aber er wird auch bestimmt von dem jeweils vorauszusetzenden Grad der Bekanntheit der Debatte, ihrer Teilnehmer, der zugehörigen Texte und des Kontextes. Im Extremfall der Debatte der Wertheimer Bibel mußten sowohl die Debatte und ihr Anlaß (die Bibelübersetzung), die außerordentlich zahlreichen Teilnehmer, die überbordende Menge an Texten und der komplizierte politischrechtliche Kontext dargestellt werden, ohne deren Kenntnis die Untersuchung der öffentlichen Debatte als solcher, ihre Darstellung sowie die Einsicht in ihre Bedeutung für die geistesgeschichtliche Entwicklung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht möglich sind. Weder die Intensität noch die politisch-rechtliche sowie die enorme philosophische, theologische und ästhetische Bedeutung dieser die Öffentlichkeit des ganzen Alten Reichs und seine politisch-rechtlichen Institutionen über vier Jahre von 1735 bis 1739 in Atem haltenden Debatte waren aufgrund des bisherigen Forschungsstandes zu vermuten. Die Untersuchung dieser bisher fast vergessenen Debatte hat daher nicht nur einen sehr viel größeren Umfang, sie hat auch weitaus mehr Zeit in Anspruch genommen, weshalb die Publikation dieser Monographie auf sich warten ließ. Das hat von den Autoren der bereits vorliegenden Manuskripte große Geduld erfordert — ich danke an dieser Stelle ihnen allen noch einmal für ihr Verständnis für diese Verzögerung und ihr Vertrauen in den erfolgreichen Abschluß des Projekts. Um die Untersuchung zur Debatte der Wertheimer Bibel abschließen zu können, habe ich schließlich Ende 1999 mein ursprüngliches Habilitationsvorhaben zu Leibniz auf Eis gelegt, das ich 1998 im Rahmen eines DFG-Projekts an der Technischen Universität Berlin in Angriff genommen hatte. Ich danke Herrn Prof. Dr. Hans Poser, daß er auf diese Entscheidung mit überaus großem Verständnis reagiert hat. Aus der Einsicht, daß ich das zunächst unüberschaubare Puzzle theologischer, philosophischer, politischer, publizistischer, juristischer und historischer Fakten erst einmal vollständig zusammensetzen und zur Darstellung bringen mußte, bevor ich mich auf die andere Arbeit konzentrieren konnte, akzeptierte er nicht nur diese Entscheidung, sondern schlug mir sogar vor, die Darstellung der Debatte um die Wertheimer Bibel als Habilitationsschrift einzureichen. Ich schulde der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Technischen Universität für ein Habilitationsstipendium zur Fertigstellung dieses Manuskripts im Jahr 2000 großen Dank. Die Untersuchung zur Debatte der Wertheimer Bibel sowie große Teile der Einleitung zur vorliegenden Monographie haben der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Technischen Universität Berlin als Habilitationsschrift vorgelegen, die im Juni 2001 angenommen wurde. Ich danke meinen Gutachtern Prof. Dr. Günter Abel, Prof. Dr. Hans Poser und Prof. Dr. Walter Sparn für ihre anregenden Kritiken und Kommentare, von denen ich fiir die vorliegende Fassung gern Gebrauch gemacht habe. Angesichts der Publikation möchte ich noch einmal den Teilnehmern eines lebendigen Werkstattgesprächs meinen herzlichen Dank aussprechen, das schon im Juli 1997 am Forschungszentrums Europäische Aufklärung zu unserem Projekt der öffentlichen Debatte der deutschen Aufklärung stattfand. Die als Kommentatoren zu fünf seinerzeit bereits vorliegenden Rohmanuskripten eingeladenen Teilnehmer Prof. Dr. Christof Dipper, Prof. Dr. Walter Sparn, Prof. Dr. Rudolph Vierhaus, PD Dr. Hans Erich Bödeker und PD Dr. Christoph

Vorwort

XI

Schulte brachten unserem Projekt sowohl hinsichtlich seiner methodischen Ausrichtung als auch der bereits erarbeiteten Ergebnisse großes Interesse entgegen. Die intensive Diskussion methodischer als auch inhaltlicher Fragen war fiir alle beteiligten Autoren der vorliegenden Monographie anregend, produktiv und vor allem sehr ermutigend. Herrn Sparn danke ich darüber hinaus für sein über all die Jahre anhaltendes Interesse an unserer Arbeit, für viele wertvolle kritische Hinweise und Anregungen, ganz besonders aber für seine wiederholte Ermutigung und Unterstützung zur erfolgreichen Fertigstellung des Gesamtmanuskripts. Von Herzen dankbar bin ich meiner Freundin Dr. Anne-Margarete Brenker für ihre beständige moralische Unterstützung, ihr anhaltendes inhaltliches Interesse und fiir mehrfaches Korrekturlesen. Auch ihre Hinweise zur neueren Forschung zum Alten Reich haben mir sehr geholfen. Herrn Dr. Rüdiger Otto danke ich fiir seinen Rat, die Gesandtschaftsberichte vom Reichstag zu Regensburg und von Wien an die Höfe in Berlin und Dresden einzusehen, um dadurch die politisch-juristische Dimension der Debatte der Wertheimer Bibel belegen zu können. Herrn PD Dr. Ernst Müller danke ich für die Diskussionen über die theologischen Implikationen der ästhetischen Aspekte der Debatte um die Wertheimer Bibel und der Debatte Lessings mit Klopstock und Cramer. Danken möchte ich Herrn Prof. Dr. Eberhard Knobloch für die Überprüfung des Manuskript zur Debatte des Jugement der Berliner Akademie hinsichtlich der Aussagen zur Geschichte der Mathematik und Mechanik. Dem MaxPlanck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und insbesondere Herrn Prof. Dr. Wolfgang Lefevre habe ich für die Möglichkeit zu danken, daß der Text über die Debatte des Jugement als Preprint 229 des MPI einem wissenschaftshistorisch interessierten Publikum bereits im Jahre 2002 zur Verfügung stand. Dem Akademie Verlag danke ich fiir die Aufnahme unseres Buches in sein Programm, seinem Lektor, Herrn Peter Heyl, fiir das unserem Projekt von Anfang an entgegengebrachte Interesse, das trotz langer Verzögerung und Umfangsverdopplung nicht nachließ. Dem Schreibbüro Yvonne Dietl danke ich für die gewohnt umsichtige Vorbereitung des Manuskriptes fiir den Satz. Nicht zuletzt danke ich auch dem zuverlässigen Setzer, Herrn Hellmudt Schulz, dessen sorgfältige Arbeit das Manuskript in nur wenigen Durchgängen zum Druck brachte. Die Feuerfarben Gelb und Rot der Einbände sollen zum Ausdruck bringen, daß es sich bei den hier vorgestellten öffentlichen Debatten nicht bloß um kühle intellektuelle Scharmützel, sondern um hitzig und mit Engagement geführte Kämpfe handelte, bei denen es nicht nur um Wahrheit, sondern zugleich um Macht, Positionen, Einfluß, aber auch um Toleranz und Freiheit ging. Berlin, im Mai 2004

Ursula Goldenbaum

URSULA GOLDENBAUM

Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1697-1796 Einleitung

1.

Das traditionelle Bild der deutschen Aufklärung als Ergebnis der Kanonisierung von Parteiurteilen

2. Religion als Hauptpunkt der Aufklärung (Kant) 2.1. Die theologische Herausforderung der Neuen Wissenschaft oder das erkenntnistheoretische Problem der christlichen Mysterien 2.2. Leibniz' Theodicee als Weichenstellung für die deutsche Aufklärung 2.3. Die theoretische Konstellation der deutschen Aufklärung 2.4. Die Entwicklung der deutschen Aufklärung aus der Perspektive ihrer öffentlichen Debatten Die Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit als politischer Gegenmacht Die politische Dimension der Aufklärung im protestantischen Raum des Alten Reiches Die neuen Medien der bürgerlichen Öffentlichkeit Der leitende Begriff von Öffentlichkeit Das Auftauchen der Worte »Publikum« und »öffentlich« in den hier vorgestellten Debatten 3.5. Die Regeln der öffentlichen Debatte 3.6. Das Exempel Gottsched

3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.

Indem die vorliegende Untersuchung den Anspruch erhebt, die öffentliche Debatte der deutschen Aufklärung zwischen 1 6 9 7 und 1 7 9 6 zum Gegenstand zu haben, setzt sie sich bewußt dem Vorwurf eines Anachronismus aus. Nach allgemeiner Uberzeugung der Aufklärungsforschung entstand eine »bürgerliche Öffentlichkeit« als »die Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute« in Deutschland überhaupt erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, 1 und zwar zunächst durch die Aufnahme von Ideen und Überzeugungen der englischen und französischen Aufklärung. 2 Obgleich die hier angeführte Definition bekanntlich von Jürgen Habermas stammt, aus seinem außerordentlich anregenden und deshalb bis heute vor allem in der geistesgeschichtlichen Forschung so überaus einflußreichen Strukturwandel

1

2

3

der Öffentlichkeit,3

ist diese zeitliche Einordnung sehr viel älter und

Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuauflage. Suhrkamp: Frankfurt/M. 1990, S . 8 6 (im folgenden: Habermas: Strukturwandel). Das Durcheinander von willkürlich herangezogenen Fakten aus der Geschichte Englands, Frankreichs und des »Deutschlands dieser Zeit« (was und wann im 18.Jahrhundert auch immer das sein soll), das sich vor allem im II. Kapitel von Strukturwandel der Öffentlichkeit findet, wird hier nicht mehr diskutiert. Es soll nur auf die klar zu erkennende Tendenz aufmerksam gemacht werden, daß aufgrund der einseitigen Orientierung der Darstellung an der ökonomischen und politischen Entwicklung Englands, Frankreichs und »Deutschlands« durchgängig eine qualitative Rückständigkeit der Deutschen hinsichtlich der Entwicklung zur »bürgerlichen Öffentlichkeit« ausgemacht wird. Um diese zu belegen, werden dann schon mal die Gottschedschen Deutschen Gesellschaften den von Fürsten gegründeten Sprachorden des 16.Jahrhunderts zugeordnet und - in unkritischer Nachfolge Ernst Manheims (Ernst Manheim: Aufklärung und öffentliche Meinung. Studien zur Soziologie der Öffentlichkeit im 18.Jahrhundert [Erstausgabe 1933]. Hg. Norbert Schindler (Kultur und Gesellschaft. Neue historische Forschungen, 4). Frommann-Holzboog: Stuttgart-Bad Cannstatt 1979) - ganz unzutreffend als Geheimgesellschaften begriffen, um sie noch nicht im Sinne einer bürgerlichen Öffentlichkeit, sondern als ihre bloße Antizipation gerade unter Ausschluß der Öffentlichkeit verstehen zu können. Vgl. S. 95 f. Diese Sichtweise ist seit den 1970er Jahren weithin vorherrschend geworden. - Die Bedeutung der Deutschen Gesellschaften für die Ausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit im protestantischen Raum des Alten Reiches wird sich jedoch in der hier vorgelegten Untersuchung bei der Darstellung ihrer Aktivitäten hinsichtlich der öffentlichen Debatte der Wertheimer Bibel faktisch erweisen. Vgl. insbesondere das 21. Kap. zu dieser Debatte in diesem Band. Vgl. die Bibliographie zum Begriff der Öffentlichkeit. In: Öffentlichkeit. Geschichte eines kritischen Begriffs. Hg. Peter Uwe Hohendahl unter Mitarbeit v. Russell A. Berman, Karen Kenkel u. Arthur Srum. Metzler: Stuttgart, Weimar 2000, S. 124-179. Vgl. auch die gründlichere Arbeit von Jürgen Schiewe: Entstehung und Wandel der Öffentlichkeit in Deutschland. Fernstudienbrief der Fernuniversität Hagen. 6 Kurseinheiten. Fernuniversität - Gesamthochschule - in Hagen. Fachber. Erziehungs-, Sozial- u. Geisteswiss., 1990. Zwar folgt auch Schiewe weitgehend dem an Habermas und Koselleck orientierten traditionellen Konzept der literarischen Geselligkeit, mit der die Deutschen sich erst einer

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Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1697-1796

bereits in den literatur- und philosophiegeschichtlichen Darstellungen seit dem 19. Jahrhundert nachzulesen, auf deren materiale Ergebnisse sich sowohl Ernst Manheim als auch Jürgen Habermas in ihren Untersuchungen zur Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit stützen. 4 Dagegen will die hier vorgelegte Untersuchung auf der Grundlage von sieben Fallstudien zu tatsächlich stattgefundenen öffentlichen Debatten zwischen 1 6 9 7 und 1 7 9 6 zeigen, daß die deutsche Aufklärung, und zwar seit ihren frühesten Anfängen am Ende des 17. Jahrhunderts, publizistische und politische Aktivitäten entwickelt hat, um ihre Positionen einem Publikum im genannten Sinne nahezulegen und dieses zur öffentlichen Diskussion einzuladen. Es wird zugleich deutlich werden, daß die deutsche Aufklärung sehr früh ihre eigenen authentischen Fragestellungen von öffentlichem Interesse entwickelt hat, die sich denn auch bis in die Diskussionen des frühen 19. Jahrhunderts durchgehalten haben. Darüber hinaus wird an den Ergebnissen deutlich, daß auch andere landläufige Urteile über die deutsche Aufklärung grundlegend in Frage gestellt werden müssen. So erfolgte die Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit in Deutschland keineswegs und ganz sicherlich nicht zuerst, wie weithin und ganz besonders in der literaturgeschichtlichen Forschung immer wieder behauptet wird, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Poesie

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politischen Öffentlichkeit genähert hätten, und auch sein Schwerpunkt liegt deutlich auf der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts, jedoch bezieht er bereits die Ergebnisse des Zeitungsforschers Martin Welke ein (vgl. dazu unten den Abschnitt zu den neuen Medien der Aufklärung im 3. Kap.) und gibt auch einen Überblick über die soziokulturellen Bedingungen für die Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit, wie sie inzwischen durch die historische Forschung bereitgestellt wurden. Die undifferenzierte und pauschale Auffassung von der Rückständigkeit »Deutschlands« und einer daraus abgeleiteten Abhängigkeit von den Ideen Englands und Frankreichs findet sich schon bei Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Bd. 3. Mit einem Vorwort von Karl Ludwig Michelet. In: Ders.: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. Hg. Hermann Glockner. Bd. 19. Frommann-Holzboog: Stuttgart-Bad Cannstatt 1959, S. 481-487; ebenso bei dem Hegelianer Hermann Hettner: Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert. Aufbau-Verlag: Berlin, Weimar 1979. 2 Bde. Bd. 1 (im folg. Hettner), S. 3 - 2 6 ; durchgängig bei Leo Balet: Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18.Jahrhundert. Heitz & Co: Straßburg, Leipzig, Zürich und J. Ginsberg: Leiden-Holland 1936, aufgrund der zu engen Bindung der Ideengeschichte an die ökonomische und politische Entwicklung, u. a. S. 3 9 - 4 3 . Nach 1970 könnte man die Liste beliebig fortsetzen. - Dabei bestreite ich natürlich nicht, daß sich England ökonomisch und politisch sehr rasch entwickelte und in engem Zusammenhang damit sehr früh, seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Formen einer bürgerlichen Öffentlichkeit ausbildete - Zeitschriften, Lesegesellschaften, Kaffeehäuser etc. Allerdings blieb dies zunächst vor allem auf London beschränkt. Die französischen Salons sind m.E. aber nicht ohne weiteres einer bürgerlichen Öffentlichkeit zuzurechnen, nicht nur, weil sie schon ihren Ort in aristokratischen Häusern hatten, sondern auch, weil sie noch nicht auf die Bildung eines bürgerlichen Publikums orientiert gewesen sind. Vor allem aber sollte angesichts der unterschiedlichen Entwicklung nicht übersehen werden, daß es auch im protestantischen Raum des Alten Reiches bereits zwei große Handelsstädte mit einem reichen Großbürgertum gab, in denen sehr früh - mindestens in den ersten beiden Jahrzehnten des 18.Jahrhunderts - Formen einer bürgerlichen Öffentlichkeit entstanden sind - also Kaffeehäuser, die Patriotische bzw. die Deutsche Gesellschaft, Lesegesellschaften, Zeitschriften und gelehrte Zeitungen, vor allem aber eine große im ganzen Alten Reich gelesene politische Tageszeitung - der Hamburgische Unpartheysche Correspondent.

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u n d K u n s t . A u c h emanzipierten sich die bürgerlichen Privatleute nicht zuerst moralisch u n d übten auch nicht erst in kleinen Lesezirkeln neue egalitäre F o r m e n ein, bevor sie sich a m E n d e des Jahrhunderts politisierten. 5 Schließlich artikulieren sie sich auch nicht erst in Moralischen Wochenschriften öffentlich, wie m a n i m m e r wieder lesen kann. 6 D i e Ent-

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Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Alber: Freiburg, München 1959, S. 11 f. - Auch Emst Manheim sieht die bürgerliche Öffentlichkeit aus privaten bzw. geheimen Gesellschaften entstehen. Vgl. E. Manheim: Aufklärung und öffentliche Meinung (wie Anm. 2), S. 98-122. - An diesen Autoren orientieren sich mehr oder weniger auch alle danach erschienenen Wörterbuchartikel zum Begriff »Öffentlichkeit«. Vgl. L. Hölscher: Artikel »Öffentlichkeit«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Bd. 6. Schwabe: Basel u. Wiss. Buchges.: Darmstadt 1984, Sp. 1134-1142; Barbara Füllgraf: Artikel »Öffentlichkeit«. In: Handlexikon zur Politikwissenschaft. Hg. Axel Görlitz. Rowohlt: Reinbek b. Hamburg 1973; Lothar Döhn: Artikel »Liberalismus«. In: Handbuch politischer Theorien und Ideen. Hg. Franz Neumann. Rowohlt: Reinbek b. Hamburg 1977, S. 9 - 6 4 , darin zum Begriff der »liberalen Öffentlichkeit« S. 4 3 - 4 7 .

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»Der Prozeß, in dem die obrigkeitlich-reglementierte Öffentlichkeit vom Publikum der räsonierenden Privatleute angeeignet und als eine Sphäre der Kritik an der öffentlichen Gewalt etabliert wird, vollzieht sich als Umfunktionierung der schon mit Einrichtungen des Publikums und Plattformen der Diskussion ausgestatteten literarischen Öffentlichkeit.« (Habermas: Strukturwandel (wie Anm. 1), S. 116.) Vgl. auch ebd. S. 105f. und S. 119ff. Diese Orientierung auf eine literarische Aufklärung findet sich der Sache nach wohl zuerst bei Hettner (wie Anm. 4), S. 235-309; natürlich auch bei Balet: Verbürgerlichung (wie Anm. 4), S. 187ff., S. 113-125, S. 307-347; und bei Manheim (wie Anm. 2), S. 100-107. Diese Sichtweise ist dann in der sozialgeschichtlich orientierten Literaturgeschichte durchgängig anzutreffen. Vgl. z.B. Franklin Kopitzsch: Artikel »Aufklärung«. In: Das Fischer-Lexikon Geschichte. Hg. Richard van Dülmen. Fischer: Frankfurt/M. 1990, S. 131-433, hier S. 133. Kopitzsch unterscheidet drei Etappen, die wissenschaftlich-literarische, die literarisch-publizistische und die breite, alle Lebensbereiche umfassende Reformbewegung, wobei erst in der letzten Phase Politik in der deutschen Aufklärung einen Platz hat. Vgl. auch Jochen Schulte-Sasse: Einleitung zu: Aufklärung und literarische Öffentlichkeit. Hg. Christa Bürger, Peter Bürger u. Jochen Schulte-Sasse. Suhrkamp: Frankfurt/M. 1980, S. 17-20. Die Darstellung von deutscher Aufklärung beginnt hier in typischer Weise mit den beiden gegenübergestellten Positionen von Gottsched und den Schweizern Bodmer und Breitinger. Typisch für diese Argumentation ist auch der neuere umfangreiche Aufsatz von Wolfram Mauser: Geselligkeit. Zu Chance und Scheitern einer sozialhistorischen Utopie um 1750. In: Aufklärung 4 (1989), H. 1: Entwicklungsschwellen im 18.Jahrhundert. Hg. Karl Eibl. Meiner: Hamburg, S. 5-36. Mauser diskutiert in typisch ideengeschichtlicher Weise, wenngleich er natürlich dem deutschen Aufklärungsschrifttum ein »geselliges«, auf sozial-politische Verständigung orientiertes Konzept zuspricht, einzelne, scheinbar willkürlich herausgegriffene Denker, Dichter, Philosophen zwischen Thomasius und Kant, um aus einzelnen herausgerissenen Aussagen von ihnen sowie Zitaten aus einigen Moralischen Wochenschriften seine These zu illustrieren, wonach das egalitäre Denken der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts um 1750 in die Krise geraten sei und einem genetisch-ganzheitlichen Denken Platz mache. Auf dieselbe beliebige Weise könnte man aber auch das Gegenteil belegen. Gipfel der Ignoranz ist aber die überraschende Feststellung, daß Montesquieu, Diderot, d'Alembert und Rousseau dem theoretischen Niveau der Moralischen Wochenschriften überlegen gewesen seien, aber - immerhin auch Klopstock schon am Wirken gewesen sei (S. 23). Allerdings wußten Diderot und Condillac noch, daß es in deutscher Sprache nicht nur Moralische Wochenschriften und Klopstock zu lesen gab, und sie waren sich bewußt, daß sie der Philosophie Christian Wolfis wichtige Ideen verdankten. D'Alembert anerkannte in Euler den größeren Mathematiker, Rousseau interessierte sich fiir Mendelssohn und Diderot für Lessing. Mein Widerspruch richtet sich aber nicht so sehr gegen diesen einzelnen Aufsatz,

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stehung der bürgerlichen Öffentlichkeit im protestantischen R a u m des Alten Reiches erfolgte vielmehr lange vorher, seit der Wende z u m 18. Jahrhundert, ablesbar bereits an der Entstehung der Zeitungen u n d Zeitschriften, den Kaffeehäusern u n d gemeinnützigen G e sellschaften in den großen Städten Leipzig u n d H a m b u r g , u n d an den bereits öffentlich erfolgenden Diskussionen auf d e m Gebiet des Rechts, der Politik, vor allem aber der T h e o logie. Näherhin ging es vor allem u m die B e s t i m m u n g der Grenzen von Politik u n d Kirche bzw. von Vernunft u n d O f f e n b a r u n g u n d d a m i t u m Toleranz und Religionsfreiheit, also u m ein eminent politisches T h e m a . Exemplarisch d a f ü r sind die Beiträge der deutschen Frühaufklärer Pufendorf, Leibniz u n d T h o m a s i u s , die keineswegs singuläre Erscheinungen waren. 7 D a b e i k n ü p f e n solche scheinbar bloß theologischen Auseinandersetzungen durchaus an jene seit der Reformationszeit gängigen theologischen Kontroversen an, in denen über die wahre A u f f a s s u n g der christlichen Religion gestritten wurde (und zwar zeitweilig mit einer so umfänglichen Produktion von Büchern verbunden, daß mit d e m N i e d e r g a n g solcher Kontroversen auch ein N i e d e r g a n g der Buchdrucker verbunden war). 8 Allerdings handelte es sich i m 16. u n d 17. Jahrhundert bei den Teilnehmern solcher Kontroversen fast ausschließlich u m T h e o l o g e n oder d o c h u m Gelehrte mit theologischer Bildung, die in professioneller Weise miteinander u m die A u f f i n d u n g der besseren A r g u m e n t e stritten u n d

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sondern gegen das in ihm in typischer Weise zum Ausdruck kommende »Geselligkeitskonzept«, durch das sich angeblich die deutsche Aufklärung zur bürgerlich-politischen Emanzipation zubereitete, und gegen die unkritisch kolportierte These von der geistigen Zurückgebliebenheit der deutschen Aufklärung. Kritisch gegenüber dieser weitverbreiteten Position von der Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit aus den »Erfahrungen einer intimisierten Privatsphäre« (Habermas: Strukturwandel (wie Anm. 1), S. 117), aus der literarischen Öffentlichkeit, die wiederum aus der Intimsphäre der Subjektivität hervorgehe (ebd., S. 119) und aus der Generalisierung und Durchsetzung bürgerlicher Moralität steht der von Otto Dann herausgegebene Sammelband: Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Beck: München 1981. Der Herausgeber betont ausdrücklich das Interesse der Lesegesellschaften nicht nur an literarischen oder moralischen Fragestellungen, sondern an den »öffentlichen Angelegenheiten«: »Von außen gesehen und im Vergleich zu anderen Gesellschaften der Epoche, war der private Charakter bei diesen Vereinen dominant. Doch schon die Rolle der Zeitungslektüre bei der Gründung erster Lesegemeinschaften deutet darauf hin, daß das Informations- und Diskussionsbedürfnis, das sich in den Lesegesellschaften manifestierte, schwergewichtig auf gesellschaftliche und politische Angelegenheiten ausgerichtet war. Auch eine Analyse der noch vielfach vorhandenen Bibliothekskataloge der Gesellschaften verweist eindeutig in diese Richtung.« (Ebd., S. 21.) »Das Volumen des Drucks ging zurück, sobald die gelehrten Kontroversen aufhörten; und selbst vermehrte Anstrengungen der Vermittlung machten den Verlust für die Drucker nicht wett. An den preußischen Druckereien zeigt sich der Stillstand in der gelehrten Öffentlichkeit geradezu drastisch. Zur Zeit des Osianderstreits in den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts ernährte die gelehrte Auseinandersetzung in dem kleinen Königsberg drei Druckereien [...]. Im letzten Viertel des 16.Jahrhunderts gab es nur noch eine einzige Offizin, und die Drucker Osterberger und Neycke konnten ohne ihre Kanzlistentätigkeit nicht mehr vom Buchdruck leben.« (Esther-Beate Körber: Öffentlichkeiten der frühen Neuzeit. Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen öffentlicher Kommunikation im Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618. De Gruyter: Berlin, New York 1998, S.251.)

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dabei bestimmten bekannten Strategien der gelehrten Kontroverse folgten. 9 Die vorherrschende Sprache der Streitschriften war denn auch noch das Lateinische. Entsprechend mußte der Kreis der Leser sehr beschränkt bleiben und erweiterte sich nur selten: »Erst wenn eine Kontroverse in der gelehrten Welt sehr tief gedrungen war und heftig bewegte, fühlten sich auch die nur lernend Beteiligten zur gemeinschaftlichen Parteinahme gedrängt.« 10 Daß aber eine solche Erweiterung des Interesses auf die Laienschaft und auf die Ungelehrten immer möglich war und wirklich auch vorkam, erklärt sich eben aus dem genuin öffentlichen

Interesse, das jedermann, also jeder Christ und zunehmend auch jede

Christin, an der wahren Religion nehmen mußten." Hinsichtlich der Bewertung solcher nur scheinbar rein theologischer Streitfragen tritt diese Untersuchung einem weiteren verbreiteten (Vor-) Urteil über die deutsche Aufklärung entgegen, wonach diese — im Unterschied zur englischen, aber vor allem zur französischen Aufklärung — zu theologisch und nur gemäßigt religionskritisch aufgetreten sei. Das wird zwar von theologischer oder von konservativer Seite mitunter wohlwollend vermerkt, 1 2 aber von liberalen oder gar linken Positionen im 19. und 20. Jahrhundert und auch von den meisten Aufklärungsforschern als ein entscheidender Mangel angesehen, und zwar sowohl als Mangel an Courage wie auch an theoretischer Tiefe und Konsequenz. 13 Aber nur einer

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Unter dem Artikel »Methode« in Zedlers Universal-Lexicon heißt es zur »Widerlegungs-Methode (Methodus polemica oder elentica)«: »ist der Vortrag einer Wahrheit, da dieselbe wider ihre Feinde gerettet wird. Solchem nach erfordert dieselbe, daß 1) die Feinde namhafft gemachet werden, 2) ihre Argumente aus richtigen Quellen aufrichtig angefuhret, derselben anscheinende Krafft entdecket und auf das höchste getrieben werden; endlich aber 3) dieselben mit tüchtigen Gründen widerleget werden. Dabey aber hat man mit allem Fleisse dahin zu sehen, daß man nicht den Zanck-Geist herrschen, und ihm die Direction der Feder überlasse: gleichwie man auch dahin zu sehen hat, daß man nicht mit denen Personen, sondern nur mit den Sachen selbst zu thun habe.« (Zedlers Universal-Lexicon. Bd. 20. Frankfurt, Leipzig 1739, Sp. 13-37.) Körber: Öffentlichkeiten (wie Anm. 8), S. 180. Das Kippen einer solchen Kontroverse in eine öffentliche Debatte ist in einer neuen Untersuchung des Pietismusstreits exemplarisch beschrieben worden. Vgl. Martin Gierl: Auf dem Boden des Streits. Die Pietismuskontroverse und die deutsche Frühaufklärung. Eine kommunikationsgeschichtliche Untersuchung. Diss. Göttingen 1994. Für diese weit verbreitete Auffassung hier zwei Beispiele: So unterscheidet der evangelische Kirchenhistoriker Klaus Scholder zwischen einer »Aufklärung gegen Theologie und Kirche« und einer »Aufklärung mit und durch die Theologie und Kirche«, die im protestantischen Deutschland zwischen 1740 und 1780 bestimmend gewesen sei. (Klaus Scholder: Grundzüge der theologischen Aufklärung in Deutschland. In: Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland. Hg. Franklin Kopitzsch. Nymphenburger: München 1976, S. 295) - Auch Horst Möller erkennt eine »religionsphilosophische Besonderheit der deutschen im Vergleich zur religionskritisch radikalen französischen Aufklärung« (Horst Möller: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Suhrkamp: Frankfurt/M. 1986, S.30). - In dieser Perspektive geht aber natürlich die eigentlich bestehende Besonderheit der französischen oder vielmehr der Pariser Aufklärung gegenüber der Aufklärung im gesamten protestantischen Europa verloren. Auch hier seien nur zwei typische Feststellungen zur Religionskritik der deutschen Aufklärung angeführt: »Die scharfen religionskritischen Tendenzen der deutschen Aufklärung, die allzuoft übereilt als atheistisch angeklagt wurden, entwickelten sich nur in geringer Zahl und meistens im Untergrund.«

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oberflächlichen Betrachtung, die die atheistischen oder deistischen Positionen der französischen Aufklärung willkürlich zum Maßstab einer Beurteilung nimmt, können die theoretischen Positionen der deutschen Aufklärung als gemäßigt oder gar zurückgeblieben erscheinen, bloß weil sie in der Tat mit christlicher Theologie oder Religion grundsätzlich kompatibel bleiben. Die ganz andere Form der Auseinandersetzung über den Standort der Vernunft gegenüber der Offenbarungsreligion im protestantischen Raum des Alten Reiches, in wieder anderer Weise auch in England, ist m. E. aber in theoretischer wie politischer Hinsicht vielmehr ein Resultat der weithin geltenden lutherischen (teilweise auch reformierten) Konfession und der damit verbundenen »protestantischen Freiheit«. Sowohl der ganz anders geartete theoretische Problemdruck, den der Aufstieg der Vernunft, der Wissenschaft und einer sich zunehmend autonom verstehenden Philosophie für die lutherische Dogmatik bedeutete, als auch die in der Folge des Westfälischen Friedens in der Reichsverfassung garantierte Toleranz der drei christlichen Kirchen stellten ganz andere theologische bzw. politische Prämissen für die theologische und philosophische Auseinandersetzung sowie für den Kampf um Toleranz dar und führten daher auch notwendig zu anderen Konsequenzen in der theoretischen Diskussion. Während die katholische Kirche die bedingungslose Anerkennung ihrer Autorität in theologischen wie kirchenpolitischen Fragen forderte, was vor allem unter den Bedingungen der absolutistisch untergeordneten gallikanischen Kirche nur Gehorsam oder trotzige Auflehnung bedeuten konnte, spielte die sogenannte protestantische Freiheit sowohl auf theoretischer Ebene innerhalb der lutherischen Kirche als auch auf politischer Ebene für die Institutionen des Reichs eine bedeutende Rolle. Dadurch wurde nicht nur ein weites Feld der Auseinandersetzung eröffnet, sondern sogar von allen Seiten die Darstellung ihrer jeweiligen Standpunkte eingefordert. Darin aber lag zugleich ein Moment der Nötigung zum öffentlichen Diskurs und zum Argumentieren aus Gründen, wie es für die deutsche Aufklärung prägend wurde. Dadurch wurde gewissermaßen dem erstaunlich raschen Erfolg der wolffianischen Philosophie vorgearbeitet. Die vorliegende Untersuchung vermag gegen diese hartnäckigen Vorurteile zu zeigen, daß die deutsche Aufklärung in ihrer intensiven Auseinandersetzung über den Standort der (Daniel Minary: Deutsche religionskritische Aufklärung als praktische Philosophie. In: Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag. H g . Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt. Niemeyer: Tübingen 1998, S. 4 1 9 ) . - Der marxistische Romanist Werner Krauss, der nicht nur für die Aufklärungsforschung der D D R , sondern auch für die sozialgeschichtlich orientierte literaturgeschichtliche Aufklärungsforschung der alten B R D außerordentlich einflußreich geworden war, ist in seinen Wertungen weniger zurückhaltend: »Die deutsche Aufklärung ist bekanntlich hinter ihrem französischen Vorbild auf dem letztlich entscheidenden Abschnitt zurückgeblieben. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts waren in Deutschland noch keine Voraussetzungen für die erfolgreiche Entfaltung einer materialistischen und atheistischen Weltanschauung vorhanden.« (Werner Krauss: Eine Verteidigungsschrift des Materialismus in der deutschen Aufklärung. In: Ders.: Studien zur deutschen und französischen Aufklärung. Rütten & Loening: Berlin 1963 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft, 16), S . 4 5 5 . ) - D a in dieser Sicht allein die französische, angeblich materialistische und atheistische Aufklärung Maßstab für fortschrittliches Denken wird, avanciert folgerichtig der Voltaire-Bewunderer Friedrich II. für den Marxisten Krauss zum »mit weitem Abstand aufgeklärtesten K o p f im Staate Preußen«. Vgl. ders.: Eine politische Preisfrage im Jahre 1780. In: Ebd., S. 63.

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Vernunft und ihr Verhältnis zur Offenbarungsreligion sehr wohl entschiedene und wohl begründete Kritik an den bestehenden zeitgenössischen Religionsauffassungen übte und auf dieser Grundlage bedeutende und bleibende Leistungen sowohl für die protestantische Theologie und Philosophie hervorgebracht hat als auch für die Durchsetzung von Toleranz und Religionsfreiheit. Nicht nur hinsichtlich der Begrifflichkeit, sondern auch der entscheidenden Fragestellungen und Lösungsansätze hat diese Auseinandersetzung den Aufstieg der deutschen Philosophie zu europäischer Geltung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts direkt vorbereitet,14 und zwar gerade in den Debatten, die wegen ihres »bloß« theologischen Charakters bisher weitgehend unbeachtet geblieben sind oder aber unter Absehung von ihrem theologischen Hintergrund in verkürzter Weise als poetologische Auseinandersetzung mißverstanden wurden. En passant wird sich auch erweisen, daß die deutschen Frühaufklärer couragiert und persönlich mit großem, mitunter gewagtem Einsatz in diesen Auseinandersetzungen aufgetreten sind. Nicht zuletzt wird mit der hier vorgelegten Untersuchung das hartnäckige Vorurteil vom unpolitischen Charakter der deutschen Aufklärung vehement bestritten. Aufgrund der gegebenen engen Bindung der Staaten an eine bestimmte Religionsauffassung mußte vielmehr jede Diskussion und Veränderung der Religion auch notwendig politische und juristische Kontroversen oder Konflikte zur Folge haben. Das gilt natürlich zunächst fiir die Legitimation der Realpolitik des 17. und 18. Jahrhunderts, wo man z. B. bei einem Religionswechsel des Herrscherhauses wegen der Gefahr religiöser Unruhen der Bevölkerung eine Politik der Konfliktvermeidung zu betreiben hatte.15 Auch kam es trotz der geltenden Toleranz der drei

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Daß die in der öffentlichen Debatte der Wertheimer Bibel umfassend diskutierte Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Glauben, die immer zugleich die Frage nach den Grenzen der Vernunft bedeutete, auch noch die grundlegende Frage Kants und der Deutschen Idealisten war, geht aus einer interessanten Untersuchung Horstmanns hervor. Vgl. Rolf-Peter Horstmann: Die Grenzen der Vernunft. Eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des Deutschen Idealismus. Anton Hain: Frankfurt/M. 1991. Z.B. war in Brandenburg bzw. Brandenburg-Preußen der 1624 aus politischen Gründen erfolgte Ubertritt des Herrscherhauses zur reformierten Religion, während die Bevölkerung ganz überwiegend lutherisch blieb, nicht ohne Konflikte abgegangen. Besonders in der Beamtenschaft, auch an der Frankfurter Universität, war es von da ab natürlich von Vorteil, reformiert zu sein, was zu zahlreichen Konversionen führte, aber auch zu Protesten der Lutherischen. Gegen die daraus erwachsenden theologischen Kontroversen richteten sich mehrfach kurfürstliche bzw. königliche Dekrete, die auf die Übereinstimmung hinsichtlich der christlichen Nächstenliebe abzielten. Auf diese Weise wurde die Universität in Frankfurt/Oder eine der ersten gemischt-konfessionellen Universitäten, was nicht ohne Kontroversen abging. Vgl. Günter Mühlpfordt: Die Oder-Universität 1506-1811. Eine deutsche Hochschule in der Geschichte Brandenburg-Preußens und der europäischen Wissenschaft. In: Die Oder-Universität Frankfurt. Beiträge zu ihrer Geschichte. Hg. G.Haase u. J. Winkler im Auftrag des Bezirkskomitees Frankfurt/Oder der Historiker-Gesellschaft d. DDR u. d. Rates d. Stadt Frankfurt/ Oder. Böhlau: Weimar 1983, S. 19-72, insbes. S. 53ff. - Auch konnte der lutherische Pufendorf trotz Schwierigkeiten im einzelnen doch königlicher Historiker am reformierten Hof werden. - Klagen wegen der Unterdrückung der protestantischen Untertanen durch katholische Fürsten und Obrigkeiten füllen dagegen die Protokolle des Ständigen Reichstages zu Regensburg. Vgl. Johann Jacob Moser: Reichsfama, Welche das Merckwürdigste von demjenigen, so sich ganz kürzlich auf dem Reichs-

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christlichen Konfessionen im Alten Reich immer wieder zu intoleranten Übergriffen gegen religiöse Minderheiten, die allerdings nicht einfach hingenommen werden mußten. Für Beschwerden über derartige Religionsbedrückungen stand vielmehr seit dem Westfälischen Frieden das Corpus evangelicorum beim Reichstag zu Regensburg zur Verfügung, eine besondere Versammlung der protestantischen Stände, die solche Religionsklagen gegenüber dem Reichstag und dem Kaiser vorbrachte, um auf Abhilfe zu dringen. Die deutschsprachigen theologischen Zeitschriften dieser Zeit berichten regelmäßig über solche theologisch-politischen Konflikte, über die entsprechenden Kontroversen der Theologen und die betreffenden politischen Entscheidungen der Potentaten und der Stände; auch dokumentieren sie die Religionsklagen betroffener Untertanen gegenüber dem Corpus evangelicorum beim Reichstag zu Regensburg öffentlich.16 Diese theologisch-politischen Konflikte erzeugten natürlich auch theologisch-politische Kontroversen im Sinne ihrer theoretischen Bewältigung. Nicht zufällig sind gerade die bekanntesten deutschen Frühaufklärer Pufendorf, Thomasius und Leibniz alle Juristen von Profession. Während in England und Frankreich die politisch-rechtliche Forderung nach Toleranz der drei christlichen Konfessionen, die die Diskussion seit dem Ende des 17. Jahrhunderts europaweit bestimmte, noch durch das ganze 18. Jahrhundert aktuell blieb, konnte es sich im Alten Reich nur noch um die politisch-rechtliche Durchsetzung der im Westfälischen Frieden bereits verbrieften Rechte der Untertanen auf Toleranz handeln. Auch existierten bereits die rechtlich-politischen Institutionen, die diese Rechte garantieren sollten. In England konnte eine derartige Toleranz gegenüber den Katholiken erst im Laufe des 18. Jahrhundert durchgesetzt werden, lange nachdem die drohende Rekatholisierung des Landes in den 1680er Jahren abgewendet und die protestantische Herrscherfolge gesichert war. Entsprechend war John Locke, der spätere Autor von A Letter concerning Toleration, der in den Jahren 1665/66 als Sekretär einer englischen Gesandtschaft zum Kurfürsten von Brandenburg nach Kleve reiste, sehr beeindruckt von der dort erfolgreich praktizierten brandenburgischen Politik der Toleranz.17 In Frankreich fand die Verfolgung der Hugenotten 1685 mit der Revokation von Nantes ihren vorläufigen Höhepunkt; aber noch 1763 sah sich Voltaire Convent an dem Kayserlichen und anderen Höfen, auch mit denen übrigen Ständen des Heiligen Römischen Reichs zugetragen. Theil 1—23. Frankfurt, Leipzig 1727—38, wo sich in fast allen Bänden, aber besonders in den frühen 30er Jahren des 18.Jahrhunderts die sogenannten »Religionsbeschwerden« finden lassen. - Vgl. dazu Gerhard Florey: Geschichte der Salzburger Protestanten und ihrer Emigration 1731/32 (Studien und Texte zur Kirchengeschichte und Geschichte. 1. Reihe, Bd. II). Böhlaus Nachf.: Wien, Köln, Graz 1977. 16

Vgl. z.B. den Abdruck des Churbrandenburgischen Edicts wider den Elenchum von 1664, durch das die Lutherischen zur Toleranz bzw. zum Stillschweigen gegenüber den Reformierten verpflichtet werden. Abdruck in: Fortgesetzte Sammlung von Alten und Neuen Theologischen Sachen, Büchern, Urkunden, Controversen, Veränderungen, Anmerckungen, Vorschlägen, u.d.g. Zur geheiligten Übung In beliebigem Beytrag Ertheilet Von einigen Dienern des Göttlichen Wortes. Mit Königl. Pohln. und Churf. Sächsischem Privilegio. Leipzig: Brauns Erben. Frühaufgelesene Früchte der Theologischen Sammlung von Alten und Neuen, worinnen nur die neuesten Bücher, Kirchen-Begebenheiten, u.s.f. vorkommen [...], 2. Beitrag. Auf das Jahr 1736, S. 51.

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Vgl. Rainer Specht: John Locke (Große Denker, 518). Beck: München 1989, S. 12.

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beim Fall Calas genötigt, die Frage der staatlichen Toleranz nichtkatholischer christlicher Konfessionen ins Zentrum einer großen Kampagne zu stellen. Dabei war auch er sich der im Alten Reich längst bestehenden Toleranz gegenüber den drei großen christlichen Konfessionen sehr wohl bewußt und verwies ausdrücklich darauf. 18 Auch andere Zeitgenossen haben die im Alten Reich bereits erlangte politisch-rechtliche Toleranz bewundernd zur Kenntnis g e n o m m e n . " Es ist daher kaum verwunderlich und keineswegs Ausdruck der Rückschrittlichkeit der deutschen Aufklärung, daß die entstehende bürgerliche Öffentlichkeit im protestantischen Raum des Alten Reiches nicht mehr die Argumente fur das staatliche Tolerieren der Konfessionen in einem Gemeinwesen zu diskutieren hatte, sondern sogleich die Denkfreiheit und damit natürlich auch deren - dem Schutz des Gemeinwesens wie der Toleranz geschuldete, also politisch begründete - Grenzen thematisierte. Es bestand ja ein mit Händen zu greifender Zusammenhang zwischen der Gewissensfreiheit der Lutherischen und Reformierten, die Bibel nach eigenem besten Wissen und Gewissen zu lesen und zu interpretieren, und der Freiheit, schlechthin nach bestem Wissen und Gewissen Urteile zu fällen. Es gab daher unter den deutschen Aufklärern keinen Zweifel daran, daß Denkfreiheit gewährt werden mußte, allerdings blieb es eine umstrittene Frage, wie und nach welchen Kriterien ihre Grenzen zu bestimmen seien. Einmütigkeit bestand aber zunehmend darüber, daß solche Grenzen überhaupt nur aus »öffentlichem« Interesse gesetzt werden konnten, insofern die innere Ruhe und Sicherheit des Gemeinwesens und damit der Untertanen durch die Folgen der Denkfreiheit nicht gefährdet werden durften. Diese Frage bestimmt die theoretischen Diskussionen zur Denkfreiheit seit dem späten 17. Jahrhundert im protestantischen Raum des Alten Reiches. 20 Die politische Einforderung der Denkfreiheit und die Delegitimierung ihrer Unterdrückung bildet denn auch in allen hier vorgestellten öffent18

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»Deutschland würde eine Wüste, mit Gräbern der Catholiken, Evangelischen, Reformirten, Anabaptisten, bedeckt seyn, die sich unter einander selbst erwürgt hätten, wenn der westphälische Friede nicht endlich die Gewissensfreyheit verschafft hätte.« (Voltaire: Abhandlung über die Religionsduldung, aus dem Franzosischen des Herrn von Voltaire übersezt, und mit einigen Anmerkungen begleitet. Fritsch: Leipzig 1764, S. 46.) Vgl. die positiven Verweise auf die konsens- und toleranzorientierte Verfassung des Alten Reiches bei William Penn in seinem Essay toward the présent and future peace of Europe, beim Abbé St. Pierre in seinem Traité pour rendre la Paix perpétuelle en Europe und bei Jean-Jacques Rousseau in seinem Fragment sur le projet de paix perpétuelle. Vgl. Karl von Raumer: Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance. Freiburg/Br., München 1953, S. 326-352. Vgl. Manfred Walther: Machina civilis oder von deutscher Freiheit. Formen, Inhalte und Trägerschichten der Reaktion auf den politiktheoretischen Gehalt von Spinozas Tractatus theologico-politicus in Deutschland bis 1700. In: Manfred Walther: L'hérésies spinozistes: La discussion sur le Tractatus theologico-politicus (1670-1677), et la réception immédiate du Spinozisme; actes du colloque internationale de Cortona, 1 0 - 1 4 avril 1991. Éd. par Paolo Christofolini. APA-Holland UP: Amsterdam, Maassen 1995, S. 184-221; gegenüber den Wolffianern vertraten noch die jüngeren Pietisten eine deutlich eingeschränktere Position. Vgl. Günter Gawlick: G. F. Meiers Theorie der Freiheit zu denken und zu reden. In: Aufklärung als praktische Philosophie, (wie Anm. 13), S. 281-295; ders.: Die ersten deutschen Reaktionen auf A. Collins' >Discourse of Free-Thinking< von 1713. In: Aufklärung 1 (1986), H. 1: Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit. Hg. Norbert Hinske, S. 9-25.

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liehen Debatten einen jeweils neben der eigentlichen Diskussion mitlaufenden Diskurs. Darüber hinaus kommt aber der politische Charakter der Auseinandersetzungen der deutschen Aufklärung auch in den rechtlich-politischen Maßnahmen zum Ausdruck, die von ihren Parteigängern zur Sicherung dieser Denkfreiheit ergriffen worden sind. Die politische Orientierung der deutschen Aufklärung und ihre Ausrichtung auf eine bürgerliche Öffentlichkeit wird aber auch an der relativ großen Zahl verfügbarer öffentlicher Medien erkennbar. So existierte schon seit den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts eine erstaunliche Zahl politisch-juristischer Fachzeitschriften, 21 die von Staatsbeamten und Juristen gelesen wurden und deren Zahl mit dem sich entwickelnden Absolutismus der einzelnen Staaten ständig anwuchs. Es gab politische Tageszeitungen, deren hohe Auflagen schon für das erste Drittel des 18. Jahrhunderts belegt sind, 22 theologische Fachzeitschriften, die bereits in deutscher Sprache theologische, aber auch theologisch-politische Fragen und Forderungen diskutierten, sowie gelehrte Zeitschriften in lateinischer, aber auch bereits in deutscher Sprache. 23 Vor allem aber gab es schon seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts den neuen Medientyp der Gelehrten Zeitungen aus Leipzig und dann auch aus Hamburg, die sich in deutscher Sprache und in kurzen Beiträgen an ein interessiertes, aber unakademisches Publikum wandten. Dieser für das frühe 18. Jahrhundert bereits zu konstatierende erstaunliche Fundus an öffentlichen Medien wird natürlich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts enorm erweitert, vor allem durch die Moralischen Wochenschriften und literarischmusischen Periodika, und bildet am Ende des Jahrhunderts ein kaum noch zu überblickendes Spektrum periodischer Publikationsformen, die Zahl der Zeitschriften und Zeitungen in Frankreich bis zur Revolution und auch in England weit überflügelnd. 24 Damit ent-

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Gestrich macht insbesondere darauf aufmerksam, daß sich zwar die für die Beurteilung der deutschen Aufklärung leider oft vorrangig betrachteten Moralischen Wochenschriften politischer Themen enthielten und auf ethisch-moralische Fragen orientierten, daß dies aber eben für »die weitaus größere Anzahl politisch-historischer Zeitschriften« nicht galt, »die sich gerade damit [mit Politik nämlich] beschäftigten« (Andreas Gestrich: Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 1994 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 103), S. 188). Vgl. unten den Abschnitt zu den neuen Medien der Aufklärung im 3. Kap. Siehe z. B. die Acta historico-ecclesiastica, in denen durchgehend Kirchennachrichten aus Europa und selbst aus Amerika berichtet werden, oder den Extract Königl. Preußl. Rescripti wegen der Evangelischen in Böhmen. Regenspurg, ad Rel. 26. d. d. 29.Junii 1735). In: Acta historico-ecclesiastica (im folg. AHE). Weimar 1735, Th. 4, S. 464f. In den Teilen 1 - 6 finden sich beliebig viele weitere Nachrichten zu Religionsbeschwerden im Salzkammergut, der böhmischen, ungarischen und Salzburger Protestanten, über deren Eingaben beim Corpus evangelicorum in Regensburg und etwaige Reaktionen einzelner protestantischer Fürsten. Außerdem wird aber auch über einen Versuch von Papst Clemens XVII. berichtet, Evangelische in Sachsen zum Katholizismus zu bringen. Es finden sich auch Nachrichten über die aktuellen französischen Religionsstreitigkeiten, über eine dänische Verordnung über die Juden sowie regelmäßige Berichte über erfolgte Judenkonversionen, über schwedische Edikte zu den Pietisten, und auch über Versuche zur Abschaffung der Testakte in England. - Alle diese Nachrichten betreffen jeweils religiöse bzw. kirchliche Themen, aber zugleich immer auch damit zusammenhängende politische Entscheidungen. Vgl. auch Anm. 16 oben. Vgl. unten den Abschnitt zu den neuen Medien der Aufklärung im 3. Kap.

1. Das traditionelle Bild der deutschen Aufklärung

13

wickelt die deutsche Aufklärung schon sehr früh eine bürgerliche Öffentlichkeit im Sinne der oben genannten Definition. Diese Thesen sollen natürlich durch die Ergebnisse der hier vorgelegten sieben Fallstudien umfassend belegt werden. Zuvor aber soll im folgenden 1. ein kurzer historischer Uberblick zur Entstehung der bis heute selbst bei gutwilligen Autoren geltenden Meinungen über die deutsche Aufklärung gegeben werden. Gegenstand eines umfangreichen 2. Kapitels ist sodann die Darstellung der keineswegs nur für die deutsche Aufklärung grundsätzlichen Bedeutung einer angesichts des wissenschaftlichen Paradigmenwechsels der Neuzeit notwendigen Neubestimmung des Verhältnisses von Glauben und Vernunft, die dann unter den konfessionellen und politisch-rechtlichen Bedingungen des Alten Reiches in dessen protestantischen Raum die besondere theoretische Konstellation der deutschen Aufklärung hervorbringt und damit auch fiiir deren theologische, philosophische, literarische, anthropologische, rechtliche, musiktheoretische Diskussionen im 18. Jahrhundert konstitutiv sein wird. 25 In einem 3. Kapitel wird schließlich auf dem Hintergrund der Ergebnisse der sieben Fallstudien die Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit, der politisch-rechtliche Charakter der deutschen Aufklärung seit ihren frühen Anfängen und ihre mobilisierende Wirkung ftir die Entwicklung der deutschsprachigen philosophischen, theologischen, rechtsphilosophischen, literarischen und ästhetischen Diskussion aufgezeigt. Zugleich werden die in den Debatten relevanten öffentlichen Medien und ihre jeweilige Zugehörigkeit zu den in den Debatten agierenden Parteien dargestellt. Abschließend werden einige allgemeine Überlegungen zur Herausbildung der Begriffe Öffentlichkeit und Publikum sowie zu den in den öffentlichen Debatten jeweils erarbeiteten Regeln des öffentlichen Streitens vorgelegt. Die Ergebnisse der sieben Fallstudien machen deutlich, daß die Untersuchung öffentlicher Debatten des 18. Jahrhunderts in besonderer Weise geeignet ist, die genannten Einseitigkeiten der Aufklärungsforschung zu vermeiden und vernachlässigte Momente der deutschen Aufklärung - vor allem ihre eigenständigen theoretischen Intentionen und Fragestellungen — deutlicher hervortreten zu lassen. Darüber hinaus aber scheint die öffentliche Debatte überhaupt ein geeigneter Forschungsgegenstand zu sein, um die Entstehung und Verbreitung sowie die Veränderung oder das Verschwinden von Ideen verstehen und nachvollziehen zu können.

1.

Das traditionelle Bild der deutschen Aufklärung als Ergebnis der Kanonisierung von Parteiurteilen

Das Hegeische Diktum über die deutsche Aufklärung mag hier wegen seines nachhaltigen Einflusses und seines systematischen Charakters für die gemeinsame Haltung all unserer großen Klassiker der Philosophie und Literatur sowie natürlich auch der Vertreter des Sturm

25

Vgl. dazu die Debatten »Händel mit Masius«, zur Wertheimer Bibel, Lessing contra Cramer, die Debatte zur Judenemanzipation und die zum Bahrdt-Pasquill.

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Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1 6 9 7 - 1 7 9 6

und Drang und der Romantik stehen: »Die deutsche Aufklärung, welche ohne Geist mit verständiger Ernsthaftigkeit und dem Prinzipe der Nützlichkeit die Ideen bekämpfte, streifte zunächst die Methode der Wolffischen Philosophie ab, behielt aber das Flache ihres Inhalts und brachte auch die Metaphysik zur letzten Leerheit herunter«. 26 Was aber bei aller berechtigten Kritik des großen Philosophen an seinen Vorgängern tatsächlich hinter dieser pauschalen Denunziation stand und ihn in seinem Urteil durchaus aggressiv und also wissenschaftlich unredlich werden ließ, geht aus der Fortsetzung unmittelbar hervor. Dort weist er nämlich ausgerechnet Friedrich Jacobi das »philosophische« Verdienst zu, zuerst »einen ganz anderen Gehalt der Philosophie erinnert zu haben«. Gelegentlich des von ihm inszenierten Spinoza-Streites habe er nämlich »dem vermittelnden Erkennen, welches er als bloßen Verstand auffaßte, den Glauben, d. i. die bloß unmittelbare Gewißheit der äußerlichen, endlichen Dinge sowie des Göttlichen, welches Glauben des Göttlichen er Vernunft nannte,« entgegengesetzt. 27 Die unmittelbare Gewißheit des Glaubens wird so als »philosophische« Leistung Jacobis der bloß auf die vermittelnde, diskursive Erkenntnis des Verstandes setzenden Aufklärungsphilosophie gegenübergestellt. 28 Mit dem Hinweis auf Spinoza wird zugleich auch die ausländische Philosophie zur Ursache der Neubelebung der vorher entleerten deutschen Philosophie erklärt, was noch ergänzt und bestätigt wird durch den Hinweis auf Hume und Rousseau als die angeblichen »Ausgangspunkte der deutschen Philosophie«. 29 Allerdings handelt es sich bei der mit dem Spinoza-Streit einsetzenden Verehrung des lange verfemten Philosophen, der nun von den Vertretern der deutschen Klassik und Romantik als der »göttliche«, »gottestrunkene« oder gar »allerchristlichste« Philosoph apostrophiert wurde, sowohl um einen Bruch mit der immer wieder bestrittenen religionskritischen Tradition der deutschen Aufklärung als auch um einen Bruch mit den theoretischen Intentionen Spinozas. 30 Keineswegs aber ist sie — wie gewöhnlich angenommen — ein Zei-

26 27 28

29 30

Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Bd. 3 (wie Anm. 4), S. 531. Ebd., S. 531 f. Die erkenntnisleitenden Interessen Jacobis im Spinoza-Streit hat Rolf-Peter Horstmann treffend dargestellt: »Jacobis eigene Position kann nun als eine solche beschrieben werden, die sich durch die radikale Preisgabe der in der Kantischen Philosophie vermuteten Prämissen einerseits und durch die Formulierung von zu den durch die Kantische Philosophie repräsentierten alternativen Rationalitätsstandards andererseits etabliert. Sie ist insofern - wenigstens hier - gar nicht primär von inhaltlichem Interesse, sondern sie bedarf der Aufmerksamkeit wegen dieser ihrer sozusagen >ideologiekritischen< Seite und der in ihr angelegten philosophischen Potentiale, die jedoch von Jacobi selbst eigentlich nie so recht ausgearbeitet worden sind.« (Horstmann: Die Grenzen der Vernunft (wie Anm. 14), S.63) Horstmann zitiert dort Jacobis seinerzeit in dieser Direktheit schon provokative These, wonach alle menschliche Erkenntnis von Offenbarung und Glauben ausgehe, die aber zum Grundbestand christlicher Lehre gehört und insbesondere vom Pietismus entschieden vertreten wurde. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Bd. 3. (wieAnm.4), S.461. Dagegen sehen die gründlichen Standardwerke zur deutschen Spinoza-Rezeption gerade von der theologischen Rezeption ab und geraten dadurch in das grundlegende Mißverständnis von einer Entdeckung oder gar grundlegenden Aufwertung Spinozas, die erst durch den Spinoza-Streit in der deutschen Philosophie erfolgt sei. Vgl. Max Grunwald: Spinoza in Deutschland. Berlin 1897 (Nachdruck:

1. Das traditionelle Bild der deutschen Aufklärung

15

chen dafür, daß man nun eine größere Toleranz gegenüber den zentralen Ideen Spinozas walten lassen wollte. Seit dem Spinoza-Streit bis hin zum Vormärz wurde vom politischem

Traktat gar nicht mehr gesprochen, und an seiner Ethica

Theologisch-

interessierte eben seit

dieser Spinoza-Begeisterung nur noch der erste und der letzte Teil. Dagegen hatte die deutsche Aufklärung zuvor Spinoza in ihrer Kritik und selbst noch in ihrer Verdammung ernst genommen und sich daher sehr intensiv mit den Argumenten Spinozas im Tractatus logico-politicus

theo-

auseinandergesetzt. 31 Das geht nicht nur aus den zahlreichen Widerlegungen

hervor, sondern wird auch in der öffentlichen Debatte der Wertheimer

Bibel

deutlich. Nicht

zuletzt ist die erste seriöse philosophische Widerlegung Spinozas in Deutschland Christian W o l f f zu verdanken, die erste philosophische und moralische Rettung Spinozas Moses

31

Scientia Verlag: Aalen 1986); Hermann Timm: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Bd. 1: Die Spinozarenaissance. Klostermann: Frankfurt/M. 1974; Martin Bollacher: Lessing. Vernunft und Geschichte. Untersuchungen zum Problem religiöser Aufklärung in den Spätschriften. Niemeyer: Tübingen 1978 (Studien zur deutschen Literatur, 56); David Bell: Spinoza in Germany from 1670 to the age of Goethe. Inst, for Germanic Studies: London 1984; Winfried Schröder: Spinoza in der deutschen Frühaufklärung. Königshausen & Neumann: Würzburg 1987. Christian Wolff war der erste deutsche Philosoph, der eine Widerlegung des ersten Teils von Spinozas Ethica verfaßt hatte, die ohne Beschimpfungen und Verketzerungen bloß mit philosophischen Argumenten auskam. Vgl. Chr. Wolff: Theologia naturalis methodo scientifica pertractata. Pars II. Renger: Frankfurt, Leipzig 1737, §§ 671-716. In: Chr. Wolff: Ges. Werke. Hg. Jean Ecole, Hans Werner Arndt u.a. Abt. II, Bd. 8. Olms: Hildesheim, New York 1981, S. 672-730. - Eine deutsche Übersetzung, Die natürliche Gottesgelehrteheit nach beweisender Lehrart abgefasset, besorgte der Wolffschüler Gottlieb Friedrich Hagen, in fünf Fortsetzungen: die ersten beiden Bände des 1. Teils erschienen 1742, der 3. Band 1743, der erste Band des 2. Teils 1744 und der zweite 1745 bei Renger in Halle. Unabhängig davon erschien eine Übersetzung jener Paragraphen, die die Widerlegung Spinozas enthielten, als Beigabe zu Schmidts Übersetzung von Spinozas Ethica, der »Sittenlehre«, die 1744 in Frankfurt und Leipzig erschien. Diese Übersetzung blieb bis zum Spinoza-Streit die einzige und wurde daher eine wichtige Quelle für die deutsche philosophische Diskussion. Vgl. dazu: Ursula Goldenbaum: Die erste deutsche Übersetzung von Spinozas »Ethik« durch Johann Lorenz Schmidt. In: Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte. Hg. Hanna Delf, Julius H. Schoeps u. Manfred Walther. Edition Hentrich: Berlin 1994, S. 107-125; vgl. auch Cornelia Buschmann: Wolffs »Widerlegung« der »Ethik« Spinozas. In: Ebd., S. 126-141. - Daß Spinozas Argumentationen trotz Gegnerschaft auch von der lutherischen Theologie nicht nur verunglimpft, sondern ernst genommen wurden, zeigt sich in verschiedenen Rezensionen, exemplarisch seien hier die Fortgesetzte Sammlung von Alten und Neuen Theobgischen Sachen, Büchern, Urkunden, Conroversien, Veränderungen, Anmerckungen, Vorsachlägen, u.d.g. (Leipzig 1746, S.740f.) und Siegmund Jacob Baumgartens Nachrichten aus einer Hallischen Bibliothek (Bd. 1, 1748, S. 47-58, S. 58-63, S. 69-74, S. 103-115 und S. 115f.) genannt. Für eine gründliche, systematisch interessierte Untersuchung zur Auseinandersetzung der lutherischen Orthodoxie mit Spinozas Argumentation siehe Walter Sparn: Formalis Atheus? Die Krise der protestantischen Orthodoxie, gespiegelt in ihrer Auseinandersetzung mit Spinoza. In: Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung (Wolffenbütteler Studien zur deutschen Aufklärung, 12). Hg. Wilhelm Schmidt-Biggemann u. Karlfried Gründer. Schneider: Heidelberg 1984, S. 27-63. - Eine interessante Darstellung insbesondere der theologischen Positionen gegenüber Spinoza im frühen 18. Jahrhundert bietet auch Rüdiger Otto: Studien zur Spinozarezeption in Deutschland im 18.Jahrhundert (Europäische Hochschulschriften, Reihe 22: Theologie, Bd.451). Lang: Frankfurt/M., Berlin, Bern u.a. 1994.

16

Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1 6 9 7 - 1 7 9 6

Mendelssohn und die erste deutsche Übersetzung der Ethica dem Wolffianer Johann Lorenz Schmidt, allesamt wichtige Vertreter der deutschen Aufklärung. Die in der Folge des SpinozaStreits einsetzende Abwertung der deutschen Aufklärung und des Rationalismus, die sich bekanntlich auch bei anderen Vertretern der Klassik und des Deutschen Idealismus findet, war aber bloß die Meinung einer Partei in einer laufenden Auseinandersetzung über das Verhältnis von Glauben und Vernunft. Sie wird dann jedoch von der Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts kanonisiert, wobei nicht nur die allgemeine (Ab-)Wertung, sondern auch einzelne, mitunter völlig unzutreffende Urteile fast durchgängig ungeprüft und kritiklos übernommen werden. 32 Diese negative Gesamtwertung des theoretischen Gehalts der Aufklärung samt der unzutreffenden Fehlurteile im Einzelnen hat sowohl den an der Aufklärung interessierten Vormärz, die 20er Jahre der Weimarer Republik als auch den sozialgeschichtlichen Paradigmenwechsel der Literaturgeschichte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts weitgehend unbeschadet überstanden, selbst dann, wenn sich viele Autoren pauschal — wie schon Hettner und Cassirer - zur Aufklärung bekannten. 33 So scheint der Literaturhistoriker Hermann Hettner in seiner Zeit in gewisser Weise eine Ausnahme zu bilden, weil er aufgrund seiner liberalen, dem Vormärz verbundenen Haltung der Aufklärung aufgeschlossen und interessiert gegenüberstand. Um so überraschender ist es aber, daß dies kaum etwas an seiner Bewertung der theoretischen Leistungen der deutschen Aufklärung änderte. Wenngleich sich der Junghegelianer, der im Vormärz sogar zu Feuerbachs religionskritischen Positionen übergegangen war, den Zielen der Aufklärung erklärtermaßen verbunden fühlte und sich deshalb in seiner Literaturgeschichte ausdrücklich vorgenommen hatte, »die alte geächtete Aufklärungsphilosophie wieder geschichtlich zu Ehren zu bringen«,34 gelangt er zuletzt doch zu keinem wesentlich anderen Urteil über den Gehalt

32

33

34

Dazu gehört z. B. die fast durchgängig in allen philosophie- wie literaturgeschichtlichen Darstellungen zur Aufklärung zu findende These, wonach die wolffianische Philosophie und in der Folge auch große Teile der deutschen Aufklärung aufgrund ihrer rationalistischen Positionen das Gefühl und die Leidenschaften unterbewertet oder unterschätzt hätten, die daher erst durch A. Baumgartens Ästhetik, den Hallischen Dichterkreis und Klopstocks Messias zu ihrem Recht gekommen wären. Dasselbe wird dann noch einmal über die Berliner Aufklärung und den Sturm und Drang behauptet. Es ist aber diese verkehrte Sichtweise, die die verkehrte Voraussetzung sowohl für Habermas' einseitige Idealisierung der Aufklärung als Zeitalter der Vernunft und der öffentlichen Kommunikation als auch für Foucaults Kritik an der in der Aufklärung angeblich angestrebten repressiven und totalitären Herrschaft der Vernunft und der Ausgrenzung von Leidenschaften und Lüsten darstellt. Allerdings ist es ein Verdienst der sozialgeschichtlich orientierten Literaturgeschichte seit den 1970er Jahren, nicht länger nur die wolffianische Philosophie und damit den Rationalismus, sondern auch die Literatur der Empfindsamkeit und den Sturm und Drang der Aufklärung als ihre verschiedenen Facetten zu subsumieren. Diese neue Sicht ist inzwischen, vor allem aufgrund der Arbeiten Gerhard Sauders, allgemein akzeptiert. Vgl. Peter-André Alt: Aufklärung. Lehrbuch Germanistik. Metzler: Stuttgart, Weimar 1996, S. 58 f. Vgl. auch Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. I: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974. - Jedoch bleibt auch nach dieser Revision die Empfindsamkeit dem Rationalismus als eine Richtung gegenübergestellt, die anders als dieser, das Gefühl thematisiert. Erler: Einführung zu Hettner (wie Anm. 4), S. XXXV.

1. D a s traditionelle Bild der deutschen A u f k l ä r u n g

17

ihrer t h e o r e t i s c h e n L e i s t u n g e n als H e g e l . 3 5 O h n e e i n e n e u e u n p a r t e i l i c h e U n t e r s u c h u n g d e r p h i l o s o p h i s c h e n A r g u m e n t a t i o n e n d e r W o l f f i a n e r z u u n t e r n e h m e n , r e p e t i e r t a u c h er n u r das d u r c h a u s u n z u t r e f f e n d e Urteil, das z u n ä c h s t seit d e n 2 0 e r J a h r e n des 18. J a h r h u n d e r t s die Pietisten, d a n n auch K a n t absichtsvoll in die Welt gesetzt hatten, w o n a c h sich die Wolffianer

n u r i m K r e i s e ihrer e n g e n B e g r i f f e d r e h e n u n d » d e m e w i g j u n g e n G o t t d e r s i n n l i c h e n

E r f a h r u n g ab [schwören]«.36 U n d wie H e g e l hält a u c h H e t t n e r das A n k n ü p f e n der deutschen P h i l o s o p h i e a n d i e F r a n z o s e n u n d E n g l ä n d e r f ü r d i e Q u e l l e ihrer e n d l i c h e n W i e d e r b e l e b u n g aus der seichten wolffianischen Schulphilosophie.37 Bei i h m

findet

sich sogar n o c h ein zu-

s ä t z l i c h e s k r i t i s c h e s M o m e n t g e g e n ü b e r d e r d e u t s c h e n A u f k l ä r u n g , i n s o f e r n er d i e a n g e b l i c h e A u t o r i t ä t s g l ä u b i g k e i t d e r W o l f f i a n e r u n d d i e p o l i t i s c h e K r a f t l o s i g k e i t d e s d e u t s c h e n Pietism u s beklagt. W ä h r e n d der englische Puritanismus m i t M i l t o n u n d der französische Jansenism u s m i t Pascal a u f g r u n d ihrer r e l i g i ö s e n E r n e u e r u n g s o g l e i c h d a s g a n z e S t a a t s w e s e n g e s t a l t e t bzw. s i c h d o c h a n allen V e r f a s s u n g s k ä m p f e n b e t e i l i g t h ä t t e n , w ä r e n d i e d e u t s c h e n P i e t i s t e n » ä n g s t l i c h u n d t a t s c h e u « g e b l i e b e n . 3 8 Speziell d i e s e p o l i t i s c h e E i n s c h ä t z u n g D e u t s c h l a n d s als H o r t der politischen R ü c k s t ä n d i g k e i t u n d der unpolitischen autoritätshörigen

deutschen

A u f k l ä r u n g w u r d e v o n d e n J u n g h e g e l i a n e r n i m V o r m ä r z in i h r e m K a m p f u m e i n e Politisier u n g d e r D e u t s c h e n u n d u m e i n e V e r f a s s u n g in P r e u ß e n g e t r a g e n ; sie f i n d e t s i c h d a h e r i n d e r s e l b e n W e i s e a u c h b e i K a r l M a r x u n d F r i e d r i c h E n g e l s , 3 9 w o r a u s d a n n ihre F o r t s c h r e i -

35

Dabei geht schon aus seinem eigenen ungeduldigen Bekenntnis gegenüber Gottfried Keller, sich bei der Arbeit an seiner deutschen Literaturgeschichte an Goethe und Schiller endlich erholen zu wollen (siehe Gotthard Erler: Einführung zu: Hettner (wie Anm. 4), S . X L I V ) , sein Überdruß an der Literatur der Aufklärung hervor. Sein Herausgeber unterstreicht in seiner Einführung aber zu Recht, daß Hettner, indem er den »überraschend glänzende[n] Aufstieg aus der kulturellen L ä h m u n g des deutschen Bürgertums nach der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges zur Klassizität von weltliterarischer Geltung« zum Grundgestus seiner Darstellung gemacht habe, darüber von seinen früheren authentischen Interessen an der Aufklärung abkomme und diese allein in Hinblick auf den nach ihr kommenden Höhepunkt deutscher Nationaldichtung, der Klassik verstehe. Vgl. ebd., S. XLVII.

36

Hettner (wie A n m . 4), S. 189.

37

Auf die Frage, worin der Keim jener »rettenden Verjüngung und Wiedergeburt« der deutschen Kultur, Bildung, Kunst und Philosophie lag, so daß Deutschland aus »dumpfen, zerrütteten, hoffnungslosen Meinungen, Sitten und Zuständen [...], aus diesem Verfall sich erlöste und in verhältnismäßig kurzer Zeit [...] die anderen vorgeschritteneren Länder nicht nur einholte, sondern sogar überflügelte«, antwortet Hettner mit dem Hinweis auf die »Ausländerei«: »Vornehmlich die Anregungen der eindringenden fremden Bildung waren es, welche das Erschrecken vor der eigenen Nichtigkeit, das Bedürfnis reicheren Geisteslebens, den M u t und die Tatkraft frischen Aufstrebens weckten.« (Hettner (wie A n m . 4), S . 2 1 . ) - In der Förderung der »Ausländerei« sieht Hettner denn auch das besondere Verdienst von Friedrich II., auch wenn dieser sonst für die deutsche Aufklärung nichts getan habe. Vgl. ebd. S. 26. - In dieser Sicht wird die seit dem Anfang des 18. Jahrhundert in deutschsprachigen Zeitschriften in Rezensionen und umfangreichen Auszügen betriebene Darstellung und Diskussion ausländischer, insbesondere auch englischer und französischer Aufklärungsliteratur vollkommen ignoriert. Friedrichs Orientierung auf die französische Literatur hat sicherlich das Interesse dafür verstärkt, aber daraus kann nicht geschlossen werden, daß es solches vorher nicht gab.

38

Ebd., S. 47.

39

Diese Übereinstimmung der Junghegelianer Marx und Engels mit Hettner und bis zu einem bestimmten Grad mit Hegel selbst k o m m t natürlich exemplarisch in der Deutschen Ideologie zum Aus-

D i e öffentliche Debatce in der deutschen A u f k l ä r u n g 1 6 9 7 - 1 7 9 6

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b u n g in der marxistischen G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g herrührt, die nach d e m Zweiten Weltkrieg in d e r A u f k l ä r u n g s f o r s c h u n g d e r D D R u n d seit 1 9 6 8 a u c h in d e r b u n d e s d e u t s c h e n A u f k l ä r u n g s f o r s c h u n g einflußreich g e w o r d e n ist.40 Insofern Hettners Urteil dieser besonderen a k t u e l l - p o l i t i s c h m o t i v i e r t e n I n t e n t i o n d e s d e u t s c h e n V o r m ä r z g e s c h u l d e t war, ist es l ä n g s t an der Zeit, solche verbreiteten Urteile mit neueren Forschungsergebnissen zu konfrontieren u n d zu berichtigen. A u c h Ernst Cassirer beklagt 1 9 3 2 , schon aus d e m Bewußtsein der akuten G e f ä h r d u n g d e r E r r u n g e n s c h a f t e n d e r A u f k l ä r u n g a n g e s i c h t s d e r p o l i t i s c h e n E n t w i c k l u n g in D e u t s c h l a n d , d i e i n z w i s c h e n fest e i n g e w u r z e l t e n V o r b e h a l t e g e g e n d i e L e i s t u n g e n d e r A u f k l ä r u n g : » M a n pflegt es als einen Grundmangel dieser Epoche anzusehen, daß ihr das Verständnis fur das geschichtlich-Ferne und Fremde abgegangen ist, daß sie, in naiver Selbstüberschätzung, ihre Maße zur unbedingten, zur alleingültigen und allein-möglichen N o r m erhoben hat und alle geschichtliche

40

druck, insbesondere in der seit Hegel zum Topos gewordenen Analogie zwischen der deutschen philosophischen Entwicklung und der französischen politischen Revolution. Typisch für diese Ubereinstimmung ist z. B. die folgende Einschätzung: »Dieser gute Wille Kants entspricht vollständig der Ohnmacht, Gedrücktheit und Misère der deutschen Bürger, deren kleinliche Interessen nie fähig waren, sich zu gemeinschaftlichen, nationalen Interessen einer Klasse zu entwickeln, und die deshalb fortwährend von den Bourgeois aller anderen Nationen exploitiert wurden. Diesen kleinlichen Lokalinteressen entsprach einerseits die wirkliche lokale und provinzielle Borniertheit, andrerseits die kosmopolitische Aufgeblähtheit der deutschen Bürger. Überhaupt hatte seit der Reformation die deutsche Entwicklung einen ganz kleinbürgerlichen Charakter erhalten.« Es folgen dann einige Ausführungen zur ökonomischen Rückständigkeit, um dann zu fragen: »Wo sollte politische Konzentration in einem Lande herkommen, dem alle ökonomischen Bedingungen derselben fehlten?« (Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 3. Dietz: Berlin 1969, S. 1 7 6 - 1 8 0 . ) Belege zur Rückständigkeit der deutschen Aufklärung aus der Aufklärungsforschung der D D R finden sich durchgängig. Besonders einflußreich war hier vor allem Werner Krauss, für den die französische, insbesondere die atheistische Aufklärung der absolute Maßstab jeder Beurteilung war. Vgl. z.B. seine Aufsätze Die früheste Reaktion auf Diderots Jugendwerke in Deutschland oder Über die Konstellation der deutschen Aufklärung, beide in: Werner Krauss: Studien zur deutschen und französischen Aufklärung (wie A n m . 13), S. 3 0 1 - 3 0 7 und S. 3 0 9 - 3 9 9 . - Wesentlich differenzierter und gründlicher in der Darstellung zur deutschen Aufklärung, vor allem in den Auflagen ab 1968, aber natürlich dennoch in derselben Überzeugung von der allgemeinen Rückständigkeit der Deutschen befangen, ist die Lehrbuchdarstellung für das Germanistikstudium: Erläuterungen zur deutschen Literatur. Band (1): Aufklärung. Hg. v o m Kollektiv für Literaturgeschichte im Volkseigenen Verlag Volk und Wissen unter Leitung von Klaus Gysi (Redaktionsschluß: 1. August 1956). Berlin 1958. Typisch für diese 1. Auflage ist die folgende grundlegende Feststellung, die darin in völliger Übereinstimmung mit Hettner und teilweise mit Hegel steht: »In Deutschland, wo im 18. Jahrhundert die Bedingungen der bürgerlichen Revolution fehlten, mußte die Aufklärung eine entsprechend modifizierte Form annehmen. Sie war einerseits auf Rezeption der progressiven Ideen der fortgeschrittenen Länder des Westens angewiesen, andererseits mußte sie - unter dem Zwang der deutschen Verhältnisse - die revolutionären Tendenzen der westeuropäischen Philosophie abschwächen. Die Rückständigkeit des Landes, die Schwäche und Ohnmacht der bürgerlichen Klasse spiegelten sich in der Zaghaftigkeit des Kampfes der deutschen Aufklärer wider.« ( S . 2 7 . ) - Die 2. sowie die 3. Auflage von 1968 und 1971, die unter Leitung von Kurt Böttcher und unter Mitarbeit des Gottsched-Forschers Werner Rieck überarbeitet wurden, bieten bereits eine wesentlich differenziertere und sehr aussagekräftige Darstellung, aber mit derselben Tendenz. Vgl. Einfuhrung zur 3. Auflage, S. 4 3 - 8 9 .

1. Das traditionelle Bild der deutschen Aufklärung

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Vergangenheit an ihnen gemessen hat. Aber wenn die Aufklärung von diesem Fehler nicht freizusprechen ist, so muß andererseits gesagt werden, daß er ihr über Gebühr vergolten worden ist. Denn eben jenen Stolz des >Besserwissensflachen Aufklärung< ist noch immer im Schwange.« 42 Aber ganz ähnlich wie schon bei Hettner setzen sich auch in Cassirers Darstellung - gegen das erklärte Wohlwollen gegenüber den emanzipatorischen Ansprüchen der Aufklärung und ihrem Geist der Toleranz - zuletzt doch wieder alle die alten Urteile durch, die es doch gerade in Frage zu stellen galt. Das ist allerdings auch nicht anders möglich, wenn z.B. die Diskussionen der deutschen Aufklärung zur Religion nur als Schritte auf dem Weg zu ihrer »>transzendentalen< Begründung und ihrer transzendentalen Vertiefung« durch Kant und eben wieder nicht sui generis, als Antworten auf die eigenen Fragen anerkannt werden können. 43 Indem die Begründung einer neuen Gläubigkeit bzw. Religiosität, wie sie in der deutschen Aufklärung durch Baumgarten erreicht worden sei — bloß als Voraussetzung für Kants Religionsphilosophie gesehen wird, gerät die zuvor geleistete theoretische Kritik an der traditionellen Begründung der Religion wie in anderen Darstellungen zur deutschen Aufklärung von vornherein aus dem Blickfeld. Es wird dabei wieder einmal außer acht gelassen, daß der Prozeß einer Neuorientierung der Religion auf die Religiosität seit dem Ende der 30er Jahre des 18. Jahrhunderts überhaupt erst in der Folge der umfassenden Diskussionen der Frühaufklärung zwischen Wolfflanern, Rüdigerianern, Pietisten und Orthodoxen initiiert wurde, die angesichts der dadurch zweifelhaft gewordenen traditionellen Religionsbegründung intensiv geführt worden sind. Aus einer Perspektive, die Kant (oder andere spätere philosophische Positionen) als Zielpunkt philosophischer Entwicklung ansieht, können die eigenständigen theoretischen Leistungen der Aufklärung, als Antworten auf die ihr eigentümlichen Fragen und mögliche Alternativen zu Kant, nicht erkannt werden. Allerdings gerät so auch das theoretische Problemfeld, das Kants philosophischen Ansatz bestimmen sollte und das durch die aktuelle deutsche Diskussion konstituiert wurde, aus dem Blick. Die hier dargestellte Sichtweise der Literatur- und Philosophiegeschichte auf die deutsche Aufklärung hält bis in unsere Zeit an, wenngleich sich in der Folge des großen Aufbruchs der sozialgeschichtlich orientierten Literaturgeschichte in der Bundesrepublik seit 41

42

43

Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Mohr: Tübingen 1932; Neue Ausg.: Mit einer Einleitung von Gerald Härtung und einer Bibliographie der Rezensionen von Arno Schubbach. Meiner: Hamburg 1998), S.XIV-XV. Ebd., S.XV. - Cassirer erklärt es ausdrücklich für »ein wesentliches Ziel« seines Buches, die Rede von der »flachen Aufklärung« endlich zum Schweigen zu bringen. Siehe ebd. Ebd., S . 1 8 0 f .

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Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1 6 9 7 - 1 7 9 6

d e m E n d e der 6 0 e r Jahre des 2 0 . J a h r h u n d e r t s u n d der marxistischen Aufklärungsforschung in der D D R in der N a c h f o l g e v o n W e r n e r Krauss ein grundlegender Paradigmenwechsel des F o r s c h u n g s p r o g r a m m s vollzogen hat. D a n a c h sollten sich die Literaturgeschichte u n d die Geistesgeschichte ü b e r h a u p t v o n einer bloßen Ideengeschichte u n d v o n der bloßen U n t e r s u c h u n g einzelner großer D i c h t e r u n d D e n k e r abwenden u n d sich statt dessen der A u f klärung als e i n e m G e s a m t p r o z e ß bürgerlicher E m a n z i p a t i o n z u w e n d e n . I m M i t t e l p u n k t des Interesses stand n u n die E r f o r s c h u n g der Institutionen u n d M e d i e n der Aufklärung, was inzwischen auch zu beachtlichen

u n d sehr aussagekräftigen

Ergebnissen gefuhrt

hat.44

W e n n g l e i c h die F o r s c h u n g i m R a h m e n dieses P r o g r a m m s sich v o r allem a u f die zweite H ä l f t e des 1 8 . J a h r h u n d e r t s , ja weitgehend sogar n u r a u f das letzte Drittel konzentrierte, verfugen wir heute über ein außerordentlich umfangreiches u n d empirisch abgesichertes W i s s e n über die Lesegesellschaften, C l u b s u n d Freimaurerlogen, Zirkel u n d Salons, über die g e h e i m e n u n d öffentlichen Gesellschaften, über Erziehungsprojekte, Cafes, über Zeitschriften u n d Z e i t u n g e n , insbesondere über die M o r a l i s c h e n W o c h e n s c h r i f t e n ,

über die Post

sowie über den B u c h h a n d e l . 4 5 D a s alles hat bis zu e i n e m b e s t i m m t e n G r a d e a u c h zu einer

44

Als Meilensteine in dieser Forschungsrichtung seien hier nur genannt: Hans Hubrig: Die patriotischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts. Beltz: Weinheim 1957; Franz Schneider: Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit. Luchterhand: Neuwied, Berlin 1966; Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Metzler: Stuttgart 1971; Gerd Mattenklott/Klaus Scherpe: Aspekte einer sozialgeschichtlich fundierten Literaturgeschichte am Beispiel von Lessings Mitleidtheorie. In: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972. Hg. Walter Müller-Seidel. Fink: München 1974, S. 2 4 7 - 2 5 8 ; Zur Sozialgeschichte der Literatur und Philosophie im Zeitalter der Aufklärung. Hg. Günter Schulz. Jacobi: Wolfenbüttel 1974 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 1); Franklin Kopitzsch: Einleitung: Die Sozialgeschichte der deutschen Aufklärung als Forschungsaufgabe. In: Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland. Zwölf Aufsätze. Hg. F. Kopitzsch. Nymphenburger: München 1976, S. 1 1 - 1 6 9 ; Hellmuth Kiesel/Paul Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Marktes in Deutschland. Beck: München 1977; Geheime Gesellschaften. Hg. Peter Christian Ludz. Schneider: Heidelberg 1 9 7 9 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 5); Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. Rolf Grimminger. Bd. 3: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1 6 8 0 - 1 7 8 9 . Hanser: München, Wien 1980; Aufklärung und literarische Öffentlichkeit. Hg. Christa Bürger, Peter Bürger u. Jochen Schulte-Sasse. Suhrkamp: Frankfurt/M. 1980; Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich. Hg. Otto Dann (wie Anm. 7); Rudolf Vierhaus: Aufklärung und Freimaurerei in Deutschland. In: Ders.: Deutschland im 18. Jahrhundert. Vandenhoeck & . Ruprecht: Göttingen 1987, S. 1 1 0 - 1 2 5 ; Markus Fauser: Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1991. Vgl. auch Wilhelm Voßkamp: Probleme und Aufgaben einer sozialgeschichtlich orientierten Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. In: Das achtzehnte Jahrhundert als Epoche. Hg. Bernhard Fabian u. Wilhelm Schmidt-Biggemann. KTO-Press: Nendeln 1978, S. 5 3 - 6 9 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 1), sowie den umfangreichen Forschungsbericht zu der ganzen Richtung von Gerhard Sauder: Sozialgeschichtliche Aspekte der Literatur im 18. Jahrhundert In: Int. Arch. f. Sozialgeschichte d. Lit. 4 (1979), S. 1 9 7 - 2 4 1 . Siehe auch die folgende Fußnote.

45

Vgl. dazu die Forschungsberichte aus historischer, philosophischer und germanistischer Sicht: Rudolf Vierhaus: Die Erforschung des 18. Jahrhunderts. Aktivitäten - Desiderate - Defizite. In: Das acht-

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1. Das traditionelle Bild der deutschen Aufklärung

A u f w e r t u n g der Leistungen der deutschen Aufklärung geführt, da sich in den

Unter-

suchungsergebnissen die g r o ß e Vielzahl der Zeitschriften u n d Z e i t u n g e n u n d v o r allem ihr wegen der Pluralität der Aufklärungszentren weit aufgespanntes informelles N e t z zeigte, das sich hinsichtlich der Breitenwirkung, der K o m p l e x i t ä t der K o m m u n i k a t i o n u n d der Ausweitung des Publikums bis in wenig gebildete Bevölkerungsschichten deutlich v o n der in d e n Pariser Salons u n d anderen kleinen Zirkeln konzentrierten französischen Aufklärung unterscheidet. M i t d e m neuen F o r s c h u n g s p r o g r a m m v e r b u n d e n w a r auch die F o r d e r u n g n a c h einer H i n w e n d u n g zu den v o n der traditionellen Literatur- u n d Philosophiegeschichte vernachlässigten D i c h t e r n u n d D e n k e r n , den s o g e n a n n t e n Minores.

Tatsächlich w u r d e n im Ergebnis

solcher U n t e r s u c h u n g e n Schicksale deutscher Intellektueller erinnert, die eine andere Seite deutscher G e s c h i c h t e repräsentieren u n d jedenfalls n i c h t problemlos als Stufe a u f d e m W e g z u m H ö h e p u n k t der Klassik oder der deutschen Philosophie angesehen werden k o n n t e n . E x e m p l a r i s c h dafür sind die Arbeiten v o n W a l t e r G r a b u n d seinen Schülern zu vergessenen Jakobinern, 4 6 Arbeiten zu den frühen Spinozisten oder anderen religionskritischen A u t o r e n 4 7 sowie zur jüdischen Aufklärung, deren besondere B e d e u t u n g für die deutsche Aufklärung in dieser Z e i t entdeckt w u r d e . 4 8 N i c h t zuletzt gehören in diese F o r s c h u n g s r i c h t u n g a u c h die

zehnte Jahrhundert. 19 (1995), S. 1 5 8 - 1 6 2 ; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Richtungen und Tendenzen in der deutschen Aufklärungsforschung. In: Ebd., S. 1 6 3 - 1 7 1 ; Lutz Danneberg, Michael Schlott, Jörg Schönert, Friedrich Vollhardt: Germanistische Aufklärungsforschung seit den siebziger Jahren. In: Ebd., S. 1 7 2 - 1 9 2 . 46

Kennzeichnend für diese Richtung war insbesondere das sprunghaft ansteigende Interesse an den in der deutschen Literaturgeschichte bis dahin völlig vernachlässigten deutschen Jakobinern Joachim Heinrich Campe, Georg Forster, Carl Gustav Jochmann, Georg Friedrich Rebmann u. a. Der folgende Titel könnte für diese Forschungsrichtung als Leitmotiv stehen - Helmut Peitsch: Georg Forsters >Ansichten vom Niederrhein«. Zum Problem des Übergangs vom bürgerlichen Humanismus zum revolutionären Demokratismus (Europäische Hochschulschriften, 1.230). Lang: Frankfurt/M., Bern, Las Vegas 1978; siehe auch Hans-Werner Engels: Karl Clauer. Bemerkungen zum Leben und zu den Schriften eines deutschen Jacobiners. In: Jahrbuch d. Inst. f. Deutsche Geschichte. Hg. Walter Grab. Bd. 2. Tel Aviv 1973, S. 1 0 1 - 1 4 4 ; Außenseiter der Aufklärer. Int. Kolloquium Halle 1992. Hg. Günter Härtung. Lang: Berlin, Frankfurt/M. u.a. 1995 (Bremer Beiträge, 14). - Die DDR-Forschung war aufgrund ihrer marxistischen Orientierung bereits seit den 50er Jahren an dieser Forschungsrichtung interessiert, die auch fruchtbare und bleibende Ergebnisse hervorbrachte. Vgl. Hedwig Voegt: Die deutsche jakobinische Literatur und Publizistik 1 7 8 9 - 1 8 0 0 . Rütten & . Loening: Berlin 1955; Gerhard Steiner u. Manfred Häckel: J . G . A. Forster. Ein Lesebuch für unsere Zeit. Thüringer Volksverlag: Weimar 1952. In dieser frühen Zeit wurden sowohl die große historisch-kritische Forster-Ausgabe unter dem Herausgeber Gerhard Steiner als auch eine einbändige Studientextausgabe in Angriff genommen.

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Vgl. Stefan Winkle: Die heimlichen Spinozisten in Altona und der Spinozastreit. Hamburg 1988 (Beiträge zur Geschichte Hamburgs, 34); Winfried Schröder: Spinoza in der deutschen Frühaufklärung (wie Anm. 30).

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Vgl. Eine vergessene Frühschrift zur Emanzipation der Juden. In: Bulletin für die Mitglieder der Gesellschaft der Freunde des Leo Baeck-Instituts. Tel Aviv. 4 6 (1969), S. 2 7 1 - 2 8 1 ; Horst Möller: Aufklärung, Judenemanzipation und Staat. Ursprung und Wirkung von Dohms Schrift Uber die bürgerliche

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Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1697-1796

gegen die traditionelle Goetheforschung gerichteten Arbeiten zu Karl Philipp Moritz sowie zu Jakob Michael Reinhold Lenz. 49 In dankenswerter Weise wurden so viele unbekannte, vergessene oder vernachlässigte Persönlichkeiten der deutschen Geistesgeschichte wieder ins Licht gerückt und damit das einseitige Bild einer auf ihren einzigen Höhepunkt der Klassik zustrebenden Nationalgeschichte der Literatur in vielen einzelnen Punkten korrigiert. Jedoch blieben diese Korrekturen letztlich nur marginal, bloße Ergänzungen zum weiter feststehenden Hauptstrang der Literaturgeschichte; die für sich jeweils sehr verdienstvollen und informationsreichen Forschungen haben bis heute nicht zu einer gegenüber dem 19. Jahrhundert veränderten Bewertung der theoretischen und kulturellen Leistungen der deutschen Aufklärer geführt. Wenngleich nämlich dieses sozialgeschichtliche Forschungsprogramm, das besonders die germanistische und romanistische Aufklärungsforschung der 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts kennzeichnete, inzwischen auf eine ertragreiche Arbeit zurückblicken kann, verlor sie mit ihrer einseitigen Orientierung auf den Prozeß, auf die Medien und Institutionen der Aufklärung, auf die Minores, sowie mit ihrer Wendung gegen eine Ideengeschichte auch einen entscheidenden Punkt der Aufklärung aus den Augen - eben ihre Ideen und ihre theoretischen Konzepte, wie sie zudem vor allem von den »großen« Autoren entwickelt worden waren. 50 Sofern aber in den inzwischen neu erarbeiteten und seither erschienenen »Sozial-

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Verbesserung der Juden. In: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv. Hg. Walter Grab. Beiheft 3. Tel Aviv 1980, S. 119-149; Jacob Toury: Der Aufbruch der Juden in die Wissenschaften. In: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv. Hg. Walter Grab. Beiheft 10. Tel Aviv 1985, S. 15-50; ders.: Mendelssohn und die Mendelssohnschüler im Bannkreis der Religionskritik. In: Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung. Hg. Karl Heinrich Rengstorf (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 11). Schneider: Heidelberg 1989, S. 197205; Begegnung von Deutschen und Juden in der Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Hg. Jakob Katz u. Karl Heinrich Rengstorf. Niemeyer: Tübingen 1994 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 10); Haskala. Die jüdische Aufklärung in Deutschland 1769-1812. Zusammengestellt von Christoph Schulte. In: Das achtzehnte Jahrhundert. 23 (1999), H. 2. Vgl. den Literaturbericht in: Hans Joachim Schrimpf: Karl Philipp Moritz. Metzler: Stuttgart 1980, S. 119 ff.; seit 1980 erscheint Neues aus der Wezelforschung bzw. seit 1998 das Wezeljahrbuch, seit 1991 das Lenzjahrbuch. Die Ausrichtung auf die Minores konnte zwar mitunter zur Erkenntnis über die Durchsetzung bestimmter Ideen in breiteren Kreisen fuhren, entging aber oftmals nicht der Gefahr, die »kleineren Geister« nicht aus deren eigenem Hintergrund darzustellen, sondern sie - oft in moralisierender Weise - als Gegenbilder zu den »Großen« zu behandeln. Das führte mitunter zu einer kleinlichen Abwertung der Großen, ohne unbedingt ein besseres Verständnis der originären Leistungen der Minores hervorzubringen. Typisch dafür ist die von Seiten der Moritz-Forschung durchgängig zum Programm erhobene Aufwertung von Moritz gegen Goethe, aber z.B. auch die von Barner unternommene Rechtfertigung von Klotz gegen die Kritik Lessings. Vgl. dazu Winfried Barner: Autorität und Anmaßung. Über Lessings polemische Strategien, vornehmlich im antiquarischen Streit. In: Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Hg. Wolfram Mauser/Günter Säße (Referate der Int. Lessing-Tagung in Freiburg/Br. 1991). Niemeyer: Tübingen 1993, S. 15-37. - In jedem Fall wurden die Urteile der traditionellen Geschichtsschreibung der Literatur, Philosophie und Theologie zu den großen Persönlichkeiten durch dieses Forschungsprogramm nicht grundlegend in Frage gestellt.

1. Das traditionelle Bild der deutschen Aufklärung

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geschiehten« der Literatur auch die »großen« Autoren des 18. Jahrhunderts nicht nur nicht ausgespart werden konnten, sondern nach wie vor ihren Hauptgegenstand bilden, enthalten diese Darstellungen überraschenderweise fast gleichlautende Einschätzungen der Leistungen der »Großen«, wie wir sie aus der traditionellen Literaturgeschichte längst schon kennen. Wie eh und je wird die Auseinandersetzung von Gottsched und den Schweizern als eine zwischen Verstand und Poesie dargestellt, die verstandesbetonte Aufklärung von Lessing, Mendelssohn und Nicolai dem poetischen Genie Klopstocks gegenübergestellt, der Sturm und Drang als Reaktion auf die rationalistische Einseitigkeit der Aufklärung verstanden und die Klassik als Vollendung der deutschen Literatur dargestellt.51 Dabei wird Lessing immerhin eine Sonderrolle zugesprochen, da man diesem »großen Denker« weder aufklärerische Flachheit vorwerfen noch seine religionskritischen Auseinandersetzungen als unhistorischen Deismus auslegen will. Das heißt, das grundlegende Verständnis der Ideen der deutschen Aufklärung, wie es sich seit Hettner herausgebildet hatte, änderte sich in dieser Sicht im Grunde gar nicht. Die alten Stereotype werden einfach übernommen, nur daß man im einzelnen zu einer Aufwertung vergessener Denker und ihrer Überlegungen kommt. Dabei handelt es sich insbesondere um - abweichend von dem Hauptstrom - religionskritische oder politisierte Denker der Aufklärung. Nach wie vor also gilt der Hauptstrom der deutschen Aufklärung als zu affirmativ gegenüber den bestehenden Verhältnissen, als zu unpolitisch und zu wenig religionskritisch. Entsprechend wird der Rückgang theologischer Literatur als Indiz für die Entstehung und Durchsetzung von Aufklärung, also als Angleichung an die französische Aufklärung angesehen, die anhand von Buchhandelsstatistiken nachgewiesen wird. Einem solchen Verständnis von Aufklärung konnten die öffentliche Debatten zu scheinbar rein theologischen Gegenständen aber erst gar nicht in den Blick geraten, wie etwa die scheinbar rein theologische Diskussion um den Souveränitätsbegriff zwischen Thomasius, Bekmann und Masius, die Debatte über die Wertheimer Bibel mit Hunderten von Beiträgen, der Streit zwischen den Literaturbriefen (Lessing, Nicolai) und dem Nordischen Aufseher (Klopstock, Cramer), alle in diesem Band behandelt, da sie thematisch natürlich vollständig unter der Theologie eingeordnet werden und damit gewissermaßen voraufklärerisch sein müßten. Auch die politische Dimension dieses und anderer Unternehmungen der deutschen Aufklärung, sofern sie theologische Themen betreffen, fallen auf diese Weise notwendig aus dem Blickfeld und bestätigen so zugleich die vorausgesetzten Annahmen. Anders als die Literaturgeschichte ist die deutsche Philosophiegeschichtsschreibung aufgrund ihrer in Deutschland traditionell engen Bindung an die Philosophie unbeschadet der »Kulturrevolution« der 68er wesentlich ideengeschichtlich bzw. problemgeschichtlich orientiert geblieben, weshalb nach wie vor nur philosophische Innovationen der Aufmerksamkeit 51

Vgl. Hansers Sozialgeschichte der Literatur (wie Anm.44). Bd. 3. Gerhard Sauder behandelt die Moralischen Wochenschriften (S. 2 6 7 - 2 7 9 ) , Christoph Siegrist Poetik und Ästhetik von Gottsched und Baumgarten (S. 2 8 0 - 3 0 3 ) , darunter natürlich auch Bodmer und Breitinger, Jochen Schulte-Sasse die Poetik und Ästhetik Lessings (S. 3 0 4 - 3 2 6 ) und seiner Zeitgenossen und Gerhard Sauder sodann den Geniekult des Sturm und Drang (S. 3 2 7 - 3 4 0 ) , nach den bewährten Mustern.

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Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1697-1796

würdig befunden werden. Historische Forschungen zu Institutionen oder Medien der aufklärerischen Philosophie wurden ohnehin der Kulturgeschichte überantwortet, Forschungen zu den vergessenen Minores (aber sogar auch zu bedeutenden Gestalten) der Geschichte der Philosophie, die mit ihren Überlegungen jenseits der großen Linien der philosophischen Entwicklung von Leibniz, Wolff, Baumgarten und Kant lagen, blieben noch lange Zeit marginal. 52 Allerdings hat sich seit den 60er Jahren auch hier das Bild allmählich geändert. Offenbar zunächst initiiert vor allem von der französischen Forschung zur clandestinen Literatur kam es auch in der Bundesrepublik zu umfangreichen Forschungen zur deutschen Frühaufklärung und ihrer clandestinen Literatur, wobei allerdings der fur die französische Literatur der Aufklärung zutreffende Begriff einigermaßen unreflektiert für die überwiegend nicht geheim zu nennenden Schriften der deutschen Frühaufklärung übernommen wurde. Es ist aber nicht zufällig, daß die unter diesem Titel subsumierten deutschen bzw. lateinischen, aber für ein deutsches Publikum bestimmten Schriften in Deutschland selbst produziert, veröffentlicht, öffentlich oder halböffentlich diskutiert oder doch wenigstens in deutschen Zeitschriften rezensiert wurden. 5 3 Die philosophiegeschichtliche Forschung in der

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Vgl. Max Grunwaldt: Spinoza in Deutschland (wie Anm. 30); sowie Gertrud Schubart-Fikentscher: Unbekannter Thomasius. Böhlaus Nachf.: Weimar 1954 (Thomasiana, 1). - Andere Beiträge sind aus der Kant-Forschung entstanden: u. a. Benno Erdmann: Martin Knutzen und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte der Wolfschen Schule und insbesondere zur Entwicklungsgeschichte Kants. L.Voss: Leipzig 1876; Heinz Heimsoeth: Metaphysik und Kritik bei Christian August Crusius. Ein Beitrag zur ontologischen Vorgeschichte der Kritik der reinen Vernunft im 18. Jahrhundert (Schriften der Königsberger Gel. Ges., geisteswiss. Klasse, 3. Jg., H. 3). Berlin 1926 (wiederabgedr. in Kant-Studien. Ergänzungsheft, 71, Köln 1956); Heinrich Schepers: Andreas Rüdigers Methodologie und ihre Voraussetzungen. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Schulphilosophie im 18. Jahrhundert. Köln 1959 (Kant-Studien. Ergänzungsheft, 78); Raffaele Ciafardone: Von der Kritik an Wolff zum vorkritischen Kant. Wolff-Kritik bei Rüdiger und Crusius. In: Christian Wolff 1679-1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hg. Werner Schneiders (Studien zum 18. Jahrhundert, 4). Meiner: Hamburg 1983, S. 289-305. Martin Pott und Winfried Schröder haben das große Verdienst, eine Editionsreihe beim Verlag Frommann-Holzboog in Angriff genommen zu haben, die die heute meist ganz vergessenen Texte dieser frühen religionskritischen deutschen Aufklärung sowie auch die ihrer Gegner wieder zugänglich macht. Vgl. Philosophische Clandestina der deutschen Aufklärung. Texte und Dokumente. Begründet von Martin Pott. Hg. Winfried Schröder. Frommann-Holzboog: Stuttgart-Bad Cannstatt 1992 ff. Allerdings halte ich die der Konzeption dieser Reihe zugrunde liegende unkritische Analogisierung der »francophonen littérature clandestine« und einer »ebenso in Deutschland zur Produktion und Distribution handschriftlich oder in illegalen Drucken verbreiteter (clandestiner) Texte« für problematisch. Die in diese Reihe aufgenommenen Texte (Abt. 1) haben einen Zugang zur Öffentlichkeit gefunden und sind auch von professioneller Seite rezensiert und widerlegt worden, vgl. die Schriften, die in der Abt. 2: Supplementa, zum Abdruck kommen. Die These, daß sich um diese provokativen Texte »öffentliche Debatten nicht frei entfalten konnten« (Verlagsprogramm Frommann-Holzboog. Gesamtverzeichnis 2000/02, S. 150), ist dennoch zutreffend, indem man den geringen Grad der Freiheit der Diskussion berücksichtigen muß; das schließt aber gerade nicht aus, daß solche öffentlichen Debatten tatsächlich stattgefunden haben, und zwar in einem ganz anderen Ausmaß als in Frankreich. Die Menge der Widerlegungsliteratur scheint mir gerade ein Indiz fur den erstaunlichen Grad an Öffentlichkeit gewesen zu sein. Uberhaupt wäre es dringend notwendig, eine Hermeneutik für die

1. Das traditionelle Bild der deutschen Aufklärung

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D D R widmete sich bereits seit den 50er Jahren besonders den vergessenen Atheisten und Materialisten der deutschen Aufklärung. 5 4 Die bundesdeutsche Philosophiegeschichte hat, teilweise auf Initiative der internationalen Aufklärungsforschung, seit den 60er Jahren mehrere große Editionsvorhaben zu bedeutenden Philosophen der Früh- und Hochaufklärung in Angriff genommen - zu Thomasius, Pufendorf, Reimarus und Christian Wolff. 5 5 Die schon zu Beginn des Jahrhunderts angefangene Leibniz-Akademieausgabe wurde fortgesetzt und intensiviert 56 und die in der Zeit des Nationalsozialismus abgebrochene MosesMendelssohn-Jubiläumsausgabe wurde wieder aufgenommen und ist heute beinah abgeschlossen. 57 Die Eigendynamik der solche langjährigen Editionen notwendig begleitenden Forschungen hat neue und materialreiche Darstellungen zur Philosophie der deutschen Früh- und Hochaufklärung hervorgebracht und damit auch ein neues Interesse an genuin philosophischen Fragestellungen der deutschen Aufklärungsphilosophie geweckt; überhaupt aber hat die Philosophiegeschichte wegen der Kompetenz zur Einbeziehung der deutschen Frühaufklärung, die ja mit Leibniz, Pufendorf, Thomasius und W o l f f vor allem Philosophie, insbesondere Rechtsphilosophie hervorbringt, den Beginn der Aufklärung in das Ende des

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Lektüre und für die Wirkungsmechanismen solcher Schriften zu entwickeln, die die geltenden Interpretationen einer herrschenden qualitativen Öffentlichkeit überschritten oder in Frage stellten. Vgl. Gottfried Stiehler: Gabriel Wagner (Realis de Vienna). In: Beiträge zur Geschichte des vormarxistischen Materialismus. Hg. G. Stiehler. Dietz: Berlin 1961, S. 63-123; Wolfgang Heise: Johann Christian Edelmann (1698-1767). Seine historische Bedeutung als Exponent der antifeudalen Opposition um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Eine Studie zur Geschichte der deutschen Aufklärung. Phil. Diss. Berlin 1954; Hermann Ley: Studie zur Geschichte des Materialismus im Mittelalter. Dt. Verlag der Wissenschaften: Berlin 1957; De tribus impostoribus (Quellen und Texte zur Geschichte der Philosophie). Hg. Gerhard Bartsch. Akademie-Verlag: Berlin 1960. Christian Thomasius. Ausgew. Werke. 24 Bde. Hg. Werner Schneiders. Reprint. Olms: Hildesheim, Zürich, New York 1993 (F.; Christian Wolff. Ges. Werke. Neu hg. v. Jean Ecole, Maurice Thomann, Hans Werner Arndt. 3 Abt., 89 Bde. Olms: Hildesheim 1973 ff. Die Abt. III (Dokumente) enthält zudem Werke der zeitgenössischen Wolffianer; Hermann Samuel Reimarus. Ges. Schriften. Veröff. d. Joachim-Jungius-Ges. d. Wiss. Hamburg. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 1982 ff.; Samuel Pufendorf. Gesammelte Werke. Hg. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Akademie Verlag: Berlin 1996 ff. Gottfried Wilhelm Leibniz. Sämtliche Schriften und Briefe. 8 Reihen. Berlin 1923 ff. Akademieausgabe (im folg. A mit Angabe von Reihe (röm. Ziffer) und Band (arab. Ziffer)) - Vgl. dazu Hans Poser: Editionen - Dinosaurier der Philosophie? Rez. zu: G.W.Leibniz. Sämtl. Schriften und Briefe. Hg. BBAW u. AdW Göttingen. Reihe VI: Philos. Schriften. Bd. 4: 1677-Juni 1690. Hg. Leibniz-Forschungsstelle Münster. Leiter: Heinrich Schepers. Akademie Verlag: Berlin 1999. In: Philosophische Rundschau. 47 (2000), S. 113-123. — Hans Poser ergreift die Gelegenheit des Erscheinens dieser überragenden editorischen Leistung des vierteiligen Bandes VI,4 der Edition von Leibniz' Philosophischen Schriften aus dessen intensivster philosophischer Schaffenszeit, um die heute vor allem angesichts knapper werdender öffentlicher Mittel immer wieder gestellte Frage nach der Bedeutung und der Funktion derartiger Editionen für die philosophische Arbeit der Gegenwart grundsätzlich zu diskutieren. Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe (im folg. JubA). Begonnen v. I.Elbogen, J. Guttmann, E. Mittwoch. Fortges. v. Alexander Altmann, Eva J. Engel in Gemeinschaft mit Michael Albrecht, Fritz Bamberger, H. Borodianski (Bar-Dayan), u. a. 27 in 38 Bänden. Frommann-Holzboog: Stuttgart-Bad Cannstatt 1972 ff.

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Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1697-1796

17. Jahrhunderts gesetzt. Daher erscheint die deutsche Aufklärung hier wenigstens in ihrem zeitlich ersten Auftreten auch weniger rückständig. 58 Nicht zuletzt haben auch die fortlaufenden Forschungen zum jungen Kant und seinen theoretischen Voraussetzungen für eine gesteigerte Aufmerksamkeit der Philosophiegeschichte gegenüber der deutschen Aufklärung und sogar der Frühaufklärung gesorgt, in denen neben Leibniz, Thomasius und Pufendorf sogar der Wertheimer mindestens am Rande Erwähnung findet." Allerdings folgen

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Für Schneiders beginnt die Aufklärung als »Antwort auf die religiöse und politische Grundsituation Europas [...] ansatzweise schon lange vor 1700, klar erkennbar dann in den 80er Jahren des ^ . J a h r hunderts, und zwar - nahezu gleichzeitig und voneinander unabhängig - in England, Frankreich und Deutschland«. Nachdem er die Unterschiede der Aufklärung in den einzelnen Ländern verdeutlicht hat, fährt er fort: »So wie die Aufklärung in England, Frankreich und Deutschland nahezu gleichzeitig begonnen hatte, so endete sie auch überall nahezu gleichzeitig, und zwar aufgrund der internationalen Situation, nicht nur aus national verschiedenen Gründen.« (Werner Schneiders: Das Zeitalter der Aufklärung. Beck: München 1997, S. 16 sowie S. 17.) Dieser Einschätzung würde ich mich gern anschließen, wenn die Niederlande nicht - wie fast immer - vergessen wären. - Zur neueren ThomasiusLiteratur vgl. Frank Grunert: Bibliographie der neueren Thomasius-Literatur. In: Christian Thomasius 1655-1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hg. Werner Schneiders. Hamburg 1989; zu Christian WolfF vgl. Gerhard Biller: Die Wolff-Diskussion von 1800 bis 1982. Eine Bibliographie. In: Christian WolfF 1679-1754 (wie Anm. 52), S. 321-345; zu Reimarus vgl. Peter Stemmer: Weissagung und Kritik. Eine Studie zur Hermeneutik bei Hermann Samuel Reimarus. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 1983, S. 177-180; zu Pufendorf vgl. Detlef Döring: Samuel Pufendorf (1632-1694). In: Klassiker des politischen Denkens. Bd. 2: Von John Locke bis Max Weber. Hg. Hans Maier und Horst Denzer. Völlig neu überarb. Ausg. der 5., geb. Aufl. Beck: München 2001 (Beck'sche Reihe, 1362), S . 3 1 - 4 0 ; bibliographische Angaben u.a. zur historisch-kritischen Pufendorf-Ausgabe und weiterfuhrende Hinweise zur jüngsten Forschungsliteratur auf S. 225f.; zu Mendelssohn vgl. Michael Albrecht: Moses Mendelssohn. Ein Forschungsbericht, 1965-1980. In: Dt. Vierteljahresschrift f. Lit.Wiss. u. Geistesgeschichte 57 (1983), S. 64-166.

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So sind die Arbeiten von Norbert Hinske (bzw. die von ihm angeregten Untersuchungen) zur Berliner Mittwochgesellschafi, zur Berlinischen Monatsschriß und zu Moses Mendelssohn ganz offenbar aus seiner Beschäftigung mit der Entwicklung des Denkens von Immanuel Kant hervorgegangen. Vgl. Norbert Hinske: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, in Zusammenhang mit Michael Albrecht hg. v. Norbert Hinske. Darmstadt 1973, 2. Aufl. 1977, 4. Aufl. 1990; Birgit Nehren: Aufklärung - Geheimhaltung - Publizität. Moses Mendelssohn und die Berliner Mittwochsgesellschaft. In: Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit. Hg. Michael Albrecht, Eva J. Engel u. N. Hinske. Niemeyer: Tübingen 1994; N. Hinske: Das stillschweigende Gespräch. Prinzipien der Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei Mendelssohn und Kant. In: Ebd., S. 135-156; Hinske wirft die Frage aber auch ausdrücklich in seiner Vorbemerkung zu seinem Band: Kant und die Aufklärung auf: N. Hinske: Kants Vernunftkritik - Frucht der Aufklärung und/oder Wurzel des Deutschen Idealismus? In: Aufklärung. Meiner: Hamburg. 7 (1992), H. 1, S. 3 - 6 . - Vgl. auch Josef Schmucker: Der Ausgangspunkt der moralphilosophischen Entwicklung Kants: die Morallehre der WolfFschule. In: Ders.: Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflektionen (Monographien zur philosophischen Forschung, 23). Meisenheim a.Gl. 1961, S. 2 6 - 5 1 . Benno Erdmann erwähnt in seiner Arbeit über den Lehrer Kants und dessen Einfluß auf diesen in einer interessanten Fußnote unter Berufung auf David Strauss sogar den Wertheimer, dessen Schicksal Reimarus zum Verbergen seiner deistischen Apologie veranlaßt habe. Vgl. Benno Erdmann: Martin Knutzen (wie Anm. 52), S. 41.

1. Das traditionelle Bild der deutschen Aufklärung

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diese ergebnisreichen Untersuchungen nach wie vor dem klassischen ideen- bzw. problemgeschichtlichen Modell. Es herrscht eine weitgehend innerphilosophische Erklärung vor, 6 0 wenngleich vereinzelt — sehr allgemein — auf die Bedeutung theologischer Fragestellungen 61 oder - schon öfter - literarischer oder naturwissenschaftlicher Diskussionen für die Entstehung bestimmter philosophischer Positionen verwiesen wird. 6 2 Hinsichtlich der Gesamtbewertung der Philosophie der deutschen Aufklärung ist zu sagen, daß die Philosophiegeschichte inzwischen über wesentlich differenziertere Urteile, ja überhaupt über größere und genauere Kenntnisse zur philosophischen Diskussion im Verlauf des 18. Jahrhunderts verfugt, insbesondere der Diskussion um die wolffianische Philosophie, 63 was aber nicht

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Dies trifft z.B. auf den groß angelegten Versuch von Panajotis Kondylis zu, der in seiner umfangreichen Monographie zur Philosophie der Aufklärung diese als einen Versuch darstellen will, »die Frage nach dem Verhältnis von Geist und Sinnlichkeit zu beantworten« (Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Klett-Cotta: Stuttgart 1981, S. 19). Er stellt aber das Grundsätzliche dieser angeblich letzten Fragestellung der Aufklärung sogleich selber in Frage, wenn er seine These durch ein offenbar umfassenderes Ziel von Aufklärung begründet: Die Grundfrage von Geist und Sinnlichkeit ergebe sich notwendig für die Aufklärung, weil »in der Rehabilitation der Sinnlichkeit eine ihrer wichtigsten weltanschaulichen Waffen im Kampfe gegen die theologische Ontologie und Moral bestand« (ebd.). Diese Sichtweise ist weithin vorherrschend, wird aber hier gerade bestritten. Gerade die Verteidiger der Religion gegen die Vernunft versichern sich einer vernunftunabhängigen Sinnlichkeit als autarker Begründungsbasis für Religion; das gilt für A. Baumgarten, G. F. Meier und auch für Klopstock). Die Aufwertung der Sinnlichkeit an sich kann aber keine Auskunft darüber geben, ob dies der Theologie nutzen oder schaden werde.

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Dies gilt per se für die Arbeiten von Günter Gawlick zum deutschen Deismus und zur deutschen Rezeption des englischen Deismus und des Freidenkertums sowie für die ausdrücklich dem Thema der Religion der Aufklärung gewidmeten Sammelbände Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung. Hg. Karlfried Gründer u. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Schneider: Heidelberg 1984 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 12); für Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung. Hg. Karlfried Gründer u. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Schneider: Heidelberg 1989 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 11); sowie für Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung. Hg. Henning Graf Reventlow. Harrassowitz: Wiesbaden 1985. - Von besonderem Interesse für das Verständnis der gegenseitigen Bezüglichkeit der Ideen sind aber die Hinweise von Rainer Specht übet die theologischen Hintergründe metaphysischer Entscheidungen, die sich in seinen ausgezeichneten Darstellungen zur philosophischen Entwicklung von René Descartes und John Locke finden. Die Bedeutung der neuzeitlichen Naturwissenschaft für die Entwicklung der Aufklärung ist weithin anerkannt. Für Mittelstraß fällt die Philosophie der Aufklärung sogar geradezu mit der neuzeitlichen Wissenschaft bei Galilei und Descartes zusammen, worauf noch zurückzukommen sein wird. Vgl. Jürgen Mittelstraß: Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie. De Gruyter: Berlin, New York 1970, S. 120. - Die Entstehung der Ästhetik als einer philosophischen Theorie der Kunst oder der Künste wird vielfach auf die Diskussionen und Anregungen der bildenden Künste und der schönen Literatur zurückgeführt, insbesondere auf die Querelles des anciennes et des modernes. Vgl. den Artikel »Ästhetik/ästhetisch« (Karlheinz Barck/Dieter Küche). In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bänden. Hg. Karlheinz Barck u. a. Bd. 1. Metzler: Stuttgart, Weimar 2000, S. 3 0 8 - 4 0 0 , hier S. 317f. Zu einer näheren Bestimmung des Verhältnisses von Wolff zu Leibniz sowie von Wolff zu seinen jüngeren Zeitgenossen Crusius und A. Baumgarten in der neueren Philosophiegeschichte vgl. Ursula

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heißt, daß sich die grundsätzliche Perspektive der Philosophen gegenüber der deutschen Aufklärungsphilosophie geändert hätte. Noch 1 9 9 2 kann Werner Schneiders zutreffend das Fortwirken der Hegeischen Einschätzung der deutschen Aufklärung konstatieren. 64 Sie gilt nach wie vor als bloße Vorgeschichte der erst mit Kant und dem deutschen Idealismus einsetzenden Philosophie auf der Höhe ihrer eigenen spekulativen Kraft und ist daher — anders als Kant und seine Nachfolger - ganz überwiegend Gegenstand der Philosophiegeschichte, 65 Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten. In: Studia leibnitiana supplementa. Bd. 9. Steiner: Wiesbaden 1972; Charles A. Corr: Christian Wolff and Leibniz. In: Journal of the history of Ideas 36 (1975), S. 241-262; Hans Poser: Zum Begriff der Monade bei Leibniz und Wolff. In: Studia leibnitiana supplementa. Bd. 14: Akten des II. Int. Leibniz-Kongresses 1972. Steiner: Stuttgart 1975, S. 383-395; H. Poser: Die Bedeutung der Ethik Christian Wolffs für die deutsche Aufklärung. In: Studia leibnitiana supplementa. Vol. 19: Theoria cum praxi. Zum Verhältnis von Theorie und Praxis im 17. und 18. Jahrhundert. Akten des III. Int. Leibniz-Kongresses. Bd. 1. Steiner: Stuttgart 1980, S. 206-217; Panajotis Kondylis: »Wolff und seine Gegner« und »Die antiintellektualistische Wirkung religiöser Strömungen und die wolffianisch inspirierte Reformtheologie. Gegensätze und Berührungspunkte«. In: Ders.: Aufklärung (wie Anm. 60), S. 545-575; H. Poser: Die Einheit von Teleologie und Erfahrung bei Leibniz und Wolff. In: Formen des teleologischen Denkens. Philosophische und wissenschaftshistorische Analysen. TUBDokumentation. Berlin 1981, S. 99-117; Klaus Erich Kaehler: Baumgartens ontologische Begründung der Monadenlehre und Leibniz' »Vernunft«. In: Studia leibnitiana supplementa. Bd. 26: Beiträge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz. Hg. Albert Heinekamp. Steiner: Stuttgart 1986, S. 126-138; Sonia Carboncini: Christian August Crusius und die LeibnizWolffsche Philosophie. In: Ebd., S. 110-125; Bruno Bianco: Freiheit oder Fatalismus. Zu Joachim Langes Kritik an Wolff. In: Zentren der Aufklärung: I. Halle: Aufklärung und Pietismus. Hg. Norbert Hinske. Schneider: Heidelberg 1989, S. 111-155 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 15); Joachim Lange (1670-1744). Der >Hällische Feind< oder: Ein anderes Gesicht der Aufklärung. Ausgew. Texte u. Dokumente zum Streit über Freiheit-Determinismus. Hg. Martin Kühnel. Hallescher Verlag: Halle 1996 (Schriftenreihe zur Geistes- und Kulturgeschichte. Texte und Dokumente); Magdalene Benden: Christian August Crusius. Wille und Verstand als Prinzipien des Handelns. Grundmann: Bonn 1972; Martin Krieger: Geist, Welt und Gott bei Christian August Crusius. Erkenntnistheoretisch-psychologische, kosmologische und religionsphilosophische Perspektiven im Kontrast zum Wölfischen System. Königshausen & Neumann: Würzburg 1993; Darius Koriako: Crusius über die Unmöglichkeit einer Letztbegründung der Logik. In: Studia leibnitiana. 31 (1999), S. 99-108. 64

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»Damit hat Hegel die Grundlage für eine Einschätzung der deutschen Aufklärung formuliert, die, mit unterschiedlichen Akzenten bis in die heutige Aufklärungsforschung hinein wirksam geblieben ist. Und unbestreitbar hat sie auch ein fundamentum in re. Aber es ist auch nicht zu leugnen, daß die deutsche Aufklärungsphilosophie durch Kant und Hegel, Klassik und Romantik so verschüttet worden ist, daß heute viele Fehlurteile auf schlichter Ignoranz beruhen.« (Werner Schneiders: Aufklärungsphilosophien. In: Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielfalt. Hg. Siegfried Jüttner u. Jochen Schlobach [Studien zum 18.Jahrhundert, 14]. Meiner: Hamburg 1992, S. 1-15, hier S. 1). »Angesichts der traditionellen Geringschätzung der Epoche zwischen Leibniz und Kant ist ein ursprüngliches, lebendiges Interesses an Wolff heute erst mühsam wiederzugewinnen. Doch bei näherem Zusehen erweist sich die Schlüsselfigur der deutschen Aufklärung durchaus als eine Denkerpersönlichkeit von Rang, die keineswegs nur aus musealen Gründen die Beschäftigung lohnt.« (Clemens Schwaiger: Christian Wolff. Die zentrale Gestalt der deutschen Aufklärungsphilosophie. In: Philosophen des 18.Jahrhunderts. Hg. Lothar Kreimendahl. Primus: 2000, S. 4 8 - 6 7 . )

I. Das traditionelle Bild der deutschen Aufklärung

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nur ganz selten Gegenstand eines systematisch philosophischen Interesses.66 Ist der irreführende Maßstab der literaturgeschichtlichen Forschung zur deutschen Aufklärung die französische Literatur gewesen, so war und ist der der philosophischen Forschung bis heute die kritische Philosophie Kants und seiner Nachfolger. Die durchgängige Geringschätzung der deutschen Aufklärung wegen ihrer mangelnden oder dogmatischen Religionskritik und ihrer im Vergleich zu Frankreich oder England unzureichenden Politisierung von Seiten einer liberalen oder linken Literaturgeschichtsschreibung oder aber auch die Betonung dieser »Besonderheiten« als Vorzug der deutschen Geistesgeschichte durch eher konservative Darstellungen haben beide zu einer Vernachlässigung der Ursachen und der Bedeutung dieser angeblichen Besonderheiten der deutschen Aufklärung gefuhrt, zu einer Vernachlässigung ihrer authentischen Fragestellungen und Konstellationen, unter denen die deutsche Frühaufklärung ihre Probleme formuliert und ihre Lösungsansätze verteidigt. Die immer wieder behaupteten Besonderheiten der deutschen Entwicklung verlieren sich aber durchaus, wenn man sich — in Orientierung an Kants berühmtem Aufsatz zur Aufklärung — klarmacht, daß sich in allen europäischen Ländern Aufklärung mit der Emanzipation der Vernunft gegenüber anderen Erkenntnis- und Handlungsbegründungen konstituiert und durchsetzen muß, die sich auf Religion, Tradition, Geschichte oder Autorität berufen. 6 7 Insofern die Kirche in besonderer Weise das Monopol über die Interpretation der Wahrheit im Rahmen der christlichen Religion innehatte, mußte Aufklärung mit ihrem Anspruch der Vernunft unausweislich mit diesem konkurrierenden

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Vgl. aber Hans Poser: Sprache, Zeichen, Wissenschaft. In: Zur Philosophie des Zeichens. Hg. Tilman Borsche u. Werner Stegmaier. De Gruyter: Berlin, New York 1992, S. 151-167; sowie Ulrich Ricken: Sprachtheorie als Aufklärung in Deutschland und Frankreich. In: Aufklärung als Mission/La mission des Lumières (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa, 1). Hg. Werner Schneiders. Hitzeroth: Marburg 1993, S. 258-276. Kants bekannte Definition von Aufklärung als Selbstdenken stellt die ihm entgegenstehende Macht der Tradition, der Autorität, der Religion etc. als Garanten der Erkenntnis und der Wahrheit in Frage. Insofern letztere durch die Kirche wie durch den Staat gestützt werden, setzt er den »Hauptpunkt der Aufklärung [...] vorzüglich in Religionssachen« - weil »in Ansehung der Künste und Wissenschaften unsere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund über ihre Untertanen zu spielen« (Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Kants's gesammelte Schriften. Hg. Kgl. Preuß. Akad. d. Wiss. (im folg. KAA) 1. Abt. Werke. 8. Bd. De Gruyter: Berlin, Leipzig 1923, S. 33-42, hier S.41). Das heißt, in Fragen der Religion sind die »Beherrscher« sehr wohl interessiert. Deshalb konstatiert er: »Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.« (Ebd., S. 36.) Erstrebenswert im Sinne der Stärkung der Aufklärung als ein In-Gang-Setzen des Selbstdenkens erscheint Kant ferner auch eine »Gesetzgebung«, die es den Untertanen erlaubt, »von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen, und ihre Gedanken über eine bessere Abfassung derselben [...] der Welt öffentlich vorzulegen« (ebd., S. 41). Hinsichtlich dieser Gesetzgebung bezieht sich Kant ausdrücklich auf das »glänzende Beispiel« des Entwurfs des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten, dessen von den Autoren angeregte öffentliche Debatte (in diesem Bd.) von Friedrich II. erlaubt worden war und bereits stattfand. Aber auch hinsichtlich der öffentlichen Debatte überhaupt als dem eigentlichen wirkungsvollen Vehikel von Aufklärung kann Kant bereits auf die lange Praxis der deutschen Aufklärung zurückblicken.

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Anspruch in Konflikt geraten. Das geschieht in Deutschland nicht anders als in Frankreich, in England, in den Niederlanden und in anderen europäischen Ländern. Es macht allerdings einen großen Unterschied, in welcher konkreten Form die Deutungshoheit der christlichen Religion und der Erkenntnis überhaupt dem Vernunftanspruch der Aufklärung gegenübersteht - welche politische Verfassung der jeweiligen Kirche intern und extern zur Durchsetzung ihrer Autorität in Erkenntnisfragen im Konfliktfall zur Verfügung steht. Es ist daher vor allem für die Periode der Frühaufklärung von enormem Gewicht, die konfessionellen Differenzen in dogmatischer Richtung, aber eben auch in den konkret-historischen politischen Strukturen für eine Beurteilung der Argumentationsmuster und der Publikationsformen der jeweiligen Aufklärung zu berücksichtigen. In dieser Perspektive würde der Vergleich m. E. schnell zeigen, daß die deutsche, überwiegend lutherische, und die englische, überwiegend einer gemäßigt reformierten Konfession im Rahmen der anglikanischen Kirche zugehörend, hinsichtlich ihrer Auseinandersetzung mit Problemen der Religion weit weniger auseinander als beide von der französischen Aufklärung entfernt sind, insbesondere der in Paris. Trotz solcher Unterschiede der Ausprägung von Aufklärung gilt aber, daß alle Vertreter der Aufklärung übereinstimmend um eine Sicherung der Vernunfterkenntnis und eines Handelns nach vernünftigen Parametern bemüht sind, die aber nach Möglichkeit im Einklang mit der herrschenden Religion gefunden werden soll. Nur da, wo die kirchliche Verfassung eine solche Orientierung auf die Vernunft gar nicht erlaubt, dort m u ß die Kritik an bestimmten der Vernunft widersprechenden Begründungen der Religion notwendig in eine generelle Ablehnung der Religion und der Kirche (Voltaire) oder aber in eine Zurücknahme dieses Anspruchs der Vernunft (Pascal) umschlagen. Daher scheint mir die französische, und näherhin die Pariser Aufklärung die eigentliche europäische Ausnahmeerscheinung zu sein. Dagegen konnten die protestantischen Deutschen, Engländer, Niederländer und Dänen ihre Aufklärung angesichts der vergleichsweise großen Freiräume in offener und öffentlicher Auseinandersetzung mit der die Deutungshoheit der Wahrheit beanspruchenden Kirche betreiben, sogar auch in ihrem jeweils eigenen Lande. Eine clandestine Literatur im engeren Sinne, also der Druck eigener Autoren im Ausland und die illegale Einfuhr dieser Schriften, existierte daher auch nur in Frankreich als Regelfall. Eine Berücksichtigung der Bedeutung der zeitgenössischen theologischen Positionen und kirchenpolitischen Strukturen für die Entwicklung der Ideen und Argumentationen der Aufklärung, insbesondere der Frühaufklärung, scheint mir daher für künftige Untersuchungen dringend notwendig und ist nur in ersten, allerdings sehr aussagekräftigen Anfängen geschehen. 68 Voraussetzung dazu ist das immer wieder beschworene, aber bisher noch unzureichend geleistete Überschreiten der Fachgrenzen. Bestes Beispiel für deren Notwendig-

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Vgl. Rainer Specht: Descartes mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. Rowohlt: Reinbek b. Hamburg 1966, insbesondere S. 39-40; sowie ders.: John Locke (wie Anm. 17), vor allem S.62f. u. S. 160-162; vgl. auch Horstmann: Die Grenzen der Vernunft (wie Anm. 14). - Wie aus dem Untertitel des Buches Eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des Deutschen Idealismus bereits hervorgeht, ist sein Gegenstand überhaupt das Verhältnis der vor allem theologischen Motive für die philosophischen Entscheidungen.

1. Das traditionelle Bild der deutschen Aufklärung

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keit ist die überraschende Entstehung der Ästhetik in Deutschland seit dem Ende der 30er Jahre des 18. Jahrhunderts. 69 Um z. B. die Entwicklung der Ästhetik als erkenntnistheoretischer Disziplin innerhalb der scheinbar rein wolffianischen Schule und auch die damit offenbar verbundene erstaunliche Versöhnung von wolffianischer Psychologie und protestantischer Schulmetaphysik bei dem jüngeren Pietisten Baumgarten zu verstehen, bedarf es aber m. E. einer hinreichenden Kenntnis des theologischen Problemdrucks, der gerade in jener Zeit sowohl auf den Wolffianern als auch auf den pietistischen Theologen lastete. Die vorliegende Untersuchung zur öffentlichen Debatte versteht sich daher auch als ein Beitrag zu der allseits geforderten interdisziplinären Forschung zur Aufklärung, will also die Uberlagerung philosophischer, poetologischer, theologischer und juristischer Fragestellungen in den wirklich geführten öffentlichen Debatten aufzeigen. Außerdem sollen auch die konkreten politischen und rechtlichen Bedingungen berücksichtigt werden, wie sie in den jeweiligen Territorien des Alten Reiches vorhanden waren, sowie auch die Bedingungen, die durch

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Die apodiktische Feststellung des bereits angeführten Artikels »Ästhetik/ästhetisch« (wie Anm. 62, S. 317), daß die neue Wissenschaft der Ästhetik in Deutschland »den Versuch einer Systematisierung im Kontinuum des europäischen Selbstbewußtseins im Zeitalter der Aufklärung« darstelle, ist schlicht unzutreffend. Die als Belege für dieses Kontinuum angeführten europaweit in den zwei Jahrzehnten um 1750 erschienenen Schriften sind sicher »zentrale Schriften« für die »Begriffsbildung der Ästhetik«, wie wir sie heute verstehen. Der vor allem an Wolffs Psychologie anknüpfende Vorschlag Baumgartens zu einer solchen Wissenschaft der Ästhetik als Erkenntnistheorie der unteren Seelenkräfte sowie die Darstellung ihrer Grundzüge ist im übrigen bereits im September 1735 in den Meditationes philosophicae de nonnullis adpoema pertinentibus veröffentlicht worden, also vor alle den Schriften, die im genannten Artikel für die Veranschaulichung eines »europäischen Kontinuums« angeführt werden. Darauf wird dort auf S. 323 dann auch verwiesen. - Die mit der Gründung der Ästhetik bei Baumgarten verbundene Aufwertung der undeutlichen Ideen erfolgte zuvor bereits bei Leibniz, der Descartes' Auffassung ablehnte, nur die klaren und deutlichen Ideen zuzulassen. Vgl. dazu Ursula Goldenbaum: Die »Commentatiuncula de judice« als Leibnizens erste philosophische Auseinandersetzung mit Spinoza nebst der Mitteilung über ein neuaufgefundenes Leibnizstück. Beilage: Leibniz' Marginalien zu Spinozas Tractatus theologico-politicus im Exemplar der Bibliotheca Boineburgica in Erfurt, also zu datieren auf 1670/71. In: Labora diligenter. Potsdamer Arbeitstagung zur Leibnizforschung vom 4.-6.7.1996. Steiner: Wiesbaden 1999, S. 61-127, insbesondere S. 91 f. (Studia leibnitiana Sonderhefte, 29). Schon Leibniz aber hat diese Aufwertung der undeutlichen Ideen und damit der sinnlichen Erkenntnis zur Verteidigung der Offenbarungsreligion und der christlichen Mysterien aufgeboten, gegen den von Spinoza erhobenen und ihm zu weit gehenden Anspruch der Vernunft. Eben das wiederholt sich bei Baumgarten, wenn er die Ästhetik als eine gegenüber der wolffianischen rationalen Erkenntnistheorie alternative Erkenntnistheorie vorschlägt. Die neue Wissenschaft hat mit einer Theorie der Künste also nur dadurch zu tun, daß die Poesie ebenso wie die Religion auf besondere Weise »das Gefühl«, die Einbildungskraft und also die sinnliche Erkenntnis anspricht. Wenn Wolff »die Baumgartensche Ästhetick sowol als die Meiersche« für »elendes Zeug« hält, hat er nicht ganz unrecht. Er verweist auch treffsicher auf den eigentlichen Zweck dieser »düsteren« (Gottsched) neuen Wissenschaft, nämlich die Bibel »ästhetisch« erklären zu wollen (J. C. C. Oelrich: Tagebuch einer gelehrten Reise 1750, durch einen Theil von Ober- und Niedersachsen. In: Sammlung kurzer Reisebeschreibungen. Hg. J.Bernoulli. Bd. 5. Berlin-Dessau 1782, S.62f.). - Von Baumgartens neuer Wissenschaft bleibt letztlich nur der Name und - durch Vermittlung von Kant - einige aus dem Programm dieser gescheiterten neuen Wissenschaft kommenden einzelnen Ideen.

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die bereits per Briefwechsel, Reisen sowie Zeitungen und Zeitschriften bestehenden stabilen Kommunikationsstrukturen zwischen den Aufklärungszentren und Aufklärern gegeben waren.

2.

Religion als Hauptpunkt der Aufklärung (Kant)

In seiner großen Untersuchung zur Geschichte der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft unter dem programmatischen Titel Neuzeit und Aufälärung vertritt Jürgen Mittelstraß den für die Aufklärungsforschung überraschenden Standpunkt, »daß die Geschichte der Philosophie im engeren (nicht geisteswissenschaftlichen) Sinne eine Epochenschwelle zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert nicht rechtfertigt«. 70 Folgerichtig avancieren in dieser Sicht schon Descartes und sogar Galilei zu den Begründern und »Vätern« der europäischen Aufklärung, sofern bereits deren Philosophieren das Selbstdenken verkörpere. Selbstdenken — als methodisch geleitetes autoritätsunabhängiges Denken wird so in Anlehnung an Kants bekannte Definition der Aufklärung konsequent zum Kriterium für Aufklärung gemacht. Nur »die ungeheure Breitenwirkung eines philosophischen Denkens, die Popularität, die dieses Denken im 18.Jahrhundert erreicht«,71 rechtfertigten es nach Mittelstraß, in der gängigen Weise vom 18. Jahrhundert als einer besonderen Epoche der Aufklärung zu sprechen. Damit aber werde eben auch das Feld der Philosophie zur Geisteswissenschaft hin verlassen, und das heißt wohl, die Aufklärung werde für die eigentliche Philosophie von da an uninteressant. Dieser Standpunkt ist selten so klar und offen ausgesprochen worden, liegt aber den meisten philosophiegeschichtlichen Darstellungen zur Aufklärung stillschweigend und vielleicht sogar unbewußt zugrunde. So jedenfalls wäre das angesichts so zahlreicher Literaturgeschichten der Aufklärung geradezu marginale Schrifttum zur Philosophie der Aufklärung zu erklären. Auch scheint mir in dem so begründeten philosophischen Desinteresse die Ursache der unübersehbaren Unklarheiten zum Begriff einer Philosophie der Aufklärung zu liegen; 72 selbst die wenigen ausdrücklich so benannten Philosophiegeschichten bieten letztlich ja nur eine Darstellung der Philosophie des 18. Jahrhunderts, ohne das 70 71 72

Mittelstraß: Neuzeit und Aufklärung (wie Anm. 62), S. 120. Ebd. Ahnlich, aber nicht sehr klar und entschieden heißt es bei Cassirer: »Weit mehr als es ihr selbst zu Bewußtsein gekommen ist, ist die Epoche der Aufklärung in diesem Bestand von den vorangehenden Jahrhunderten abhängig geblieben. Sie hat nur das Erbe dieser Jahrhunderte angetreten; sie hat weit mehr geordnet und gesichtet, entwickelt und geklärt, als sie wahrhaft neue, schlechthin-originale Gedankenmotive ergriffen und zur Geltung gebracht hat. [...] Auch dort, wo sie ein schon vorhandenes Gedankengut ergreift und bearbeitet, wo sie - wie dies insbesondere von ihrem naturwissenschaftlichen Weltbild gilt - lediglich auf dem Fundament weiterbaut, das das siebzehnte Jahrhundert gelegt hatte, gewinnt doch in ihren Händen all das, was sie erfaßt, einen veränderten Sinn und schließt einen veränderten philosophischen Sinn auf.« (Cassirer: Philosophie der Aufklärung (wie Anm. 41), S. IXf.) - Vgl. auch Cay von Brockdorff: Die deutsche Aufklärungsphilosophie. Reinhardt: München 1926 (Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen. Abt. VI: Die Philosophie der neuesten Zeit III); Kondylis bestimmt Aufklärung als den »Versuch oder vielmehr eine Vielfalt von Versuchen,

2. Religion als Hauptpunkt der Aufklärung (Kant)

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Spezifische einer »Philosophie der Aufklärung« näher bestimmen zu können. Max Wundt nennt das Kind denn auch bei diesem Namen: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung.73 Insofern das 18. gegenüber dem 17. Jahrhundert bis zu Kant tatsächlich vergleichsweise wenig grundsätzliche wissenschaftliche und erkenntnistheoretische Innovationen im Sinne eines philosophischen Paradigmenwechels hervorgebracht hat, ist Mittelstraß in seiner klar begründeten Ablehnung einer Epochenschwelle der Philosophie zum 18. Jahrhundert durchaus zuzustimmen. Sicherlich unterscheidet sich die philosophische Diskussion des 18. Jahrhunderts vom vorausgehenden Jahrhundert weniger durch die Auffassung von Wissenschaft, Experiment, Hypothese und Naturgesetz als vielmehr durch das Anschwellen von Wissenschaft und durch die Ausweitung der Gelehrtenrepublik aus kleinen Zirkeln und privaten Akademien, die ihre Kommunikation meist noch durch Briefwechsel ausreichend realisieren konnten, zu staatlichen Akademien und Universitätsinstituten und einer europäischen wissenschaftlichen Zeitschriftenkultur. Allerdings scheint mir die nun von Mittelstraß eingeräumte Ursache für eine geistesgeschichtliche Zäsur am Anfang des 18. Jahrhundert - die Verbreitung und Popularisierung des wissenschaftlichen Methodendenkens und damit des Selbstdenkens - auch nicht gegeben zu sein. Von einer Popularisierung von Wissenschaft, also einer Ausdehnung wissenschaftlichen Methodendenkens auf Ungelehrte, kann wohl frühestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gesprochen werden. Was aber seit dem Ende des 17. Jahrhunderts und über das ganze 18. Jahrhundert ein zunehmend allgemeines und damit öffentliches Interesse, somit auch eine Popularisierung erfährt, sind m. E. die bis dahin wegen ihrer Brisanz nur innerhalb der engen Zirkel der Gelehrtenrepublik geführten Diskussionen zur Rechtfertigung der Wissenschaft und Philosophie, der Vernunft oder des Selbstdenkens, gegenüber der Autorität des Glaubens und der Kirche. 2.1. Die theologische Herausforderung der Neuen Wissenschaft oder das erkenntnistheoretische Problem der christlichen Mysterien Als theoretische Fragestellungen sind diese nun in der Tat rasch »populär« werdenden Fragen zum Verhältnis der konkurrierenden Ansprüche der Vernunft und der Religion allerdings auch kein neuartiges Produkt des 18. Jahrhunderts, sondern entstanden bereits mit den ersten Anfängen neuzeitlicher Philosophie und Wissenschaft zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Weder Galilei und Gassendi noch Descartes und Pascal, weder Hobbes und Spinoza noch Leibniz, Locke und Newton, um nur einige der großen neuzeitlichen Philosophen und Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts zu nennen, haben ihre wissenschaftlichen und philosophischen Thesen ohne Rücksicht auf die durch die Kirche in Geltung gehalte-

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die Frage nach den Beziehungen von Geist und Sinnlichkeit zu beantworten«. Er räumt zwar ein, daß diese Frage zu allen Zeiten Gegenstand der Philosophie gewesen sei, er will aber zeigen, »daß im Zeitalter der Aufklärung das Problem der Sinnlichkeit auf eine besonders dringliche Weise gestellt wird« (Kondylis: Aufklärung (wie Anm. 60), S. 19). Max Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 1945.

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nen Sätze formuliert. Bekannt ist heute vor allem der Konflikt, in den Galilei und Kepler wegen des von ihnen verteidigten kopernikanischen Weltbildes gerieten, da dieses wegen des Widerspruchs zu einer Stelle der Hl. Schrift in allen drei christlichen Kirchen auf scharfen Widerstand stoßen mußte. 7 4 Galilei hatte sich außerdem auch mit dem Vorwurf des Atomismus auseinanderzusetzen. Da nach seiner Meinung den Atomen oder materiellen Korpuskeln nur die Qualitäten der Ausdehnung, Widerständigkeit und Bewegung objektiv zukamen, mußten die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Körper nur erst in unseren Sinnen hervorgebracht werden, die auf die je unterschiedliche Anordnung und Bewegung der Atome reagierten. Diese Auffassung führte nicht nur zu einer folgenreichen subjektiven Wende in der Erkenntnistheorie der Neuzeit, 75 da nach ihr die Erscheinungen von Körpern und ihren Eigenschaften erst in unserer sinnlichen Wahrnehmung hervorgebracht wurden, sondern auch zu einem eklatanten Verstoß gegen die Transsubstantiationslehre der katholischen Kirche, die seit der IV. Lateransynode 1 2 1 5 zum Dogma erhoben worden war, dessen Formulierung aber auf dem Tridentinischen Konzil gegen die Protestanten noch verschärft wurde und dessen Leugnung nun ausdrücklich unter Anathema gestellt wurde. 7 6 Aber auch andere in der traditionellen Dogmatik enthaltene christliche Mysterien waren auf atomistischer Grundlage nicht nur nicht zu verstehen, sondern ihre Möglichkeit war geradezu ausgeschlossen. Das galt fur die Menschwerdung Gottes, fur die Wieder-

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Insbesondere die Bibelstelle Jos 10,12-15, die einen durch göttlichen Befehl erreichten Sonnenstillstand berichtet und also eine gewöhnlich in Bewegung befindliche Sonne nahelegt, brachte die Anhänger des kopernikanischen Weltbilds in Schwierigkeiten mit dem biblischen Verständnis. Vgl. dazu Klaus Scholder: Ursprünge und Probleme der Bibelkritik im 17. Jahrhundert. Kaiser: München 1966, S.57f. Wenn die von uns wahrgenommenen Eigenschaften der Dinge ihnen nicht mehr an sich zukamen, sondern erst durch die Bewegung ihrer Atome auf unsere Sinnesorgane hervorgebracht werden sollten, so mußten unsere Sinnesorgane, unser Wahrnehmungsvermögen ins Zentrum der Erkenntnistheorie rücken, die sich daher auf das Erkenntnissubjekt orientieren mußte. Eben das geschieht ausdrücklich bei Thomas Hobbes (vgl. Elemente der Philosophie. Vom Körper. Üb. u. Hg. Karl Schuhmann. Meiner: Hamburg 1997. 4. Teil, S. 2 4 7 f f ) , der die empirische Physik auf einer Theorie der Sinneswahrnehmung aufbaut. Es ist daher auch kein Wunder, daß sich Kant in seiner Einleitung zur 2. Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft hinsichtlich seiner kritischen Wende auf Galilei berufen konnte. Vgl. KAA (wie Anm. 67), Abt. I, Bd. 3, S. 10. - Zur Erkenntnistheorie der Neuzeit vgl. Mittelstraß: Neuzeit und Aufklärung (wie Anm. 62), S. 168-240; Ursula Goldenbaum: Daß die Phänomene mit der Vernunft übereinstimmen sollen. Spinozas Versuch einer Vermittlung von geometrischer Theorie und experimenteller Erfahrung. In: Leibniz im philosophischen Diskurs über Geometrie und Erfahrung. Studien zur Ausarbeitung des Erfahrungsbegriffes in der neuzeitlichen Philosophie. Akademie Verlag Berlin 1991, S. 86-104; Jürgen Engfer: Empirismus versus Rationalismus. Kritik eines philosophiegeschichtlichen Schemas. Schöningh: Paderborn, München, Wien, Zürich 1996. Vgl. Quellen zur Geschichte des Papsttums und des Römischen Katholizismus. Hg. Carl Mirbt. Mohr: Tübingen 3. Aufl. 1911, S. 143 (IV. Laterankonzil (11.-30.11.1215)), sowie S. 2 2 5 - 2 2 9 (Sessio XIII (11.10.1551) des Tridentinischen Konzils). - Zur Bedeutung der tridentinischen Fassung für Galileis naturphilosophische Auffassungen vgl. Pietro Redondi: Galilei der Ketzer. Frankfurt/M., Wien 1989 (ital. Originalausg. Turin 1983), S. 211 ff.; Vgl. auch Pierre Costabel: L'atomisme, face cachée de la condamnation de Galilée? In: La vie des sciences. Comptes rendus, sèrie générale. Vol. 4, N. 4, S. 349-365.

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auferstehung und für die Dreieinigkeit. Wenn alle Körper allein aus Atomen und Bewegung bestehen sollten, aus deren unterschiedlicher Anordnung allein sich die Verschiedenheit in unserer sinnlichen Wahrnehmung ergab, so blieb weder Platz für sich wandelnde Substanzen beim Abendmahl noch konnte ein Körper auferstehen, dessen Teile und Atome längst in andere Körper und ihre Bewegung übergegangen waren. Dieses theoretische Konfliktpotential war aber nicht nur in Galileis Auffassungen enthalten, sondern war mit der sich seitdem rasch durchsetzenden mechanischen Naturphilosophie grundsätzlich verbunden, weshalb diese Fragen unter den Philosophen und Wissenschaftlern des 17. Jahrhunderts vielfach diskutiert wurden. 77 Solche Konflikte zwischen neuzeitlicher Philosophie und christlicher Offenbarung wurden lange Zeit als der Philosophie und Wissenschaft äußerlich, als geisteswissenschaftliche Probleme, dargestellt, als Auseinandersetzung zwischen den Philosophen und Wissenschaftlern einerseits und der kirchlichen Autorität andererseits, ein Eindruck, der sich durch die obrigkeitliche Verfolgung Keplers und die Verurteilung Galileis durch die katholische Kirche aufdrängte. Allerdings wurde in dieser Sichtweise das eigene theoretische Bedürfnis der betroffenen Philosophen und Wissenschaftler nach einer Ubereinstimmung ihrer durch die natürliche Vernunft erlangten Wahrheit mit der Wahrheit ihrer Religion unterschätzt, die für sie grundsätzlich außer Frage stand. Das aber bedeutet, daß sie mit der Hervorbringung neuer philosophischer und wissenschaftlicher Erkenntnisse aus eigenem inneren Bedürfnis immer zugleich auch deren mögliche Ubereinstimmung mit der christlichen Lehre prüfen und im Fall des Konflikts an einer theoretischen Vermittlung arbeiten mußten, wollten sie nicht ihre Erkenntnisse oder aber ihre Religion aufgeben. Der Konflikt von natürlicher Vernunft und Wahrheit des Glaubens war also keineswegs nur ein äußerlicher, sondern er wurde von den Philosophen und Wissenschaftlern des 17. Jahrhunderts auch mit sich selbst ausgetragen, da sie eine kohärente Lösung für sich finden wollten. Auf diese Weise finden die interessantesten theologischen Innovationen dieser Zeit gerade in den Schriften dieser theologischer Laien statt, der Philosophen und Naturwissenschaftler, ohne daß ihnen dies von ihren Kirchen gedankt worden wäre. Galilei versuchte daher von Anfang an, die in den offenbaren Differenzen seiner physikalischen und naturphilosophischen Neuerungen zur geltenden christlichen Dogmatik liegende grundsätzliche Herausforderung zu mildern — sowohl um der Unversehrtheit der christlichen Lehre und der kirchlichen Ansprüche willen, vor allem aber wegen einer Verteidigung des 77

Vgl. zur franzosischen Debatte zum Cartesianismus J.-R. Armogathe: Theologia Cartesiana. L'explication physique de l'Eucharistie chez Descartes et dorn Desgabets. La Haye 1977; Problems of Cartesianism. Hg. Th. M. Lennon, J. M. Nicholas u. J. W. Davis. Hg. Richard Popkin. Kingston and Montreal 1982 (McGill-Queen's Studies in the History of Ideas, 1). - Zu Leibniz vgl. Rosa Antognazza: Die Rolle der Trinitäts- und Menschwerdungsdiskussionen für die Entstehung des Leibnizschen Denkens. In: Studia leibnitiana 26 (1994), S. 5 6 - 7 5 ; David C. Fouke: Metaphysics and the Eucharist in the early Leibniz. In: Studia leibnitiana 24 (1992), S. 1 4 5 - 1 5 9 . - Siehe auch Ursula Goldenbaum: Philosophie im Spannungsfeld von Vernunft und Glauben. Das Beispiel des Briefwechsels von Samuel Clarke und Gottfried Wilhelm Leibniz. In: Aufklärung als praktische Philosophie (wie Anm. 13), S. 3 8 7 - 4 1 7 .

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erhobenen Anspruchs der Vernunft, der Wissenschaft u n d des Selbstdenkens, die doch nur in Koexistenz mit der Kirche vorstellbar waren. Als selbstdenkender Philosoph u n d als guter Katholik mußte Galilei den »scheinbaren« Widerspruch zwischen seinem A n s p r u c h der Vern u n f t und d e m der Kirche a u f Autorität in Sachen der Erkenntnis in Ü b e r e i n s t i m m u n g bringen. Dies schien ihm durch eine völlige T r e n n u n g der Erkenntnisgegenstände von Philosophie u n d T h e o l o g i e möglich zu sein, wie seine eigens dazu in zwei Versionen entworfene »Hermeneutik« der H l . Schrift belegt. D a ß seine Lettera a Madama Lorena

Christina

di

in einer lateinischen Ubersetzung als selbständiger D r u c k weite europäische Ver-

breitung fand, zeigt das große Interesse der Gelehrten dieser Zeit an dieser Problematik. 7 8 Galilei schlug der katholischen Kirche vor, sich aus allen naturwissenschaftlichen Fragen zurückzuziehen u n d sich auf die Seelsorge u n d die Frömmigkeit der G l ä u b i g e n zu konzentrieren, 7 9 was sich fast wie ein E x p o s é von Spinozas Theologisch-politischem

Traktat

liest.

D a b e i k n ü p f t e er an die alte Lehre an, wonach die Wahrheit der Vernunft nicht mit der Wahrheit der H l . Schrift, also die natürliche nicht m i t der schriftlichen O f f e n b a r u n g streiten könnte, da beide von G o t t herrührten. Aber bei Galilei handelte es sich nicht mehr u m einzelne (scheinbare) Widersprüche dieser Wahrheiten, die auf diese Weise ausgeräumt werden sollten, sondern u m die Aufrichtung einer allgemeinen Herrschaft der Vernunft, gegen die keine andere Wahrheit aufrechterhalten werden konnte. Ausdrücklich spricht er nämlich der natürlichen Vernunft den entscheidenden R a n g in allen Konfliktsituationen zu, da sie - i m Unterschied z u m G l a u b e n - über ihren Erkenntnisweg, die M e t h o d e , u n d über ihre Ergebnisse Rechenschaft ablegen u n d zu demonstrativer Gewißheit gelangen könnte. 8 0

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Galileis Brief an die Fürstin wurde in der von M. Bernegger ins Lateinische übersetzten Ausgabe des Dialogo, die 1635 in Straßburg erschien, veröffentlicht. Vgl. G.Galilei: Lettera a Madama Christina di Lorena, Granduchessa di Toscana 1615. In: Ders.: Delle Opere. Ed. naz. Firenze 1907. Bd. 5, S. 307-348; ders.: Lettera a D. Benedetto Castelli, 21 dicembre 1613. In: Ibid., S. 279-288. Gerade dieses aktive Engagement Galileis für eine klare Trennung von Theologie und Philosophie (Wissenschaft), wodurch er außer der Autonomie für die Philosophie auch die Autorität der christlichen Kirche retten wollte, verstärkte das Mißtrauen gegen ihn. Galilei »hielte [...] es für weise, wenn man es niemand gestattete, die Stellen aus der Schrift dafür zu verwenden und solcherart festzulegen, daß durch sie einige natürliche Schlüsse als wahr gelten sollen, über die uns durch deren Bedeutung und augenfällige sowie unabdingbare Beweise eines Tages das Gegenteil aufgezeigt werden könnte«. Er ist der Auffassung, »daß die Autorität der Heiligen Schrift einzig zum Ziele hat, die Menschen von jenen Artikeln und Lehren zu überzeugen, die, unerläßlich für ihr Heil und über jegliche menschliche Erkenntnis hinausgehend, ihnen durch keine andere Wissenschaft und kein anderes Mittel als durch den Mund des Heiligen Geistes selbst glaubwürdig gemacht werden konnten« (ebd., S. 172). - Vgl. zum Verhältnis der Auffassungen Spinozas und Galileis: Franco Biasutti: Galilei und Spinoza. Die epistemologische Grundlage der Religionskritik. In: Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte (wie Anm. 31), S. 26-38. Insofern die der neuzeitlichen Wissenschaft implizite Auffassung von Galilei sogleich in der offensten und entschiedensten Weise ausgesprochen wird, wie kaum noch einmal danach, sei die Stelle hier zur Gänze zitiert: »Da also die Schrift es an vielen Stellen nicht nur zuläßt, sondern geradezu notwendig macht, eine von der scheinbaren Bedeutung der Worte abweichende Auslegung zu geben, halte ich dafür, daß ihr in den Disputen über die Natur der letzte Platz vorbehalten sein sollte: denn da die

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Den Philosophen stünde daher der Gebrauch der ebenfalls von Gott stammenden natürlichen Vernunft frei, wobei sie über ihre Vorgehensweise und ihre Argumente Rechenschaft ablegen müßten. Im übrigen hätten sie sich in religiösen Heilsfragen der Kirche unterzuordnen. Sehr weitsichtig warnt Galilei vor einer drohenden selbstverschuldeten Verletzung der Autorität der Kirche für den Fall, daß sie ihre Auffassungen gewaltsam gegen die demonstrative Gewißheit der natürlichen Vernunft durchsetzen werde. Mit diesem Vorschlag einer völligen Trennung der Gegenstandsbereiche der Philosophie und Theologie war faktisch die Autonomie der natürlichen Vernunft behauptet und das Monopol der Kirche in der Erkenntnis der Wahrheit auf die Offenbarungsreligion und die Moral eingeschränkt worden, was die katholische Kirche zu Recht als einen Angriff auf ihre Deutungshoheit der Wahrheit schlechthin verstand und entsprechend ahndete. Das bedeutet, daß schon mit dem ersten grundsätzlichen Auftreten der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie der grundlegende Konflikt mit dem konkurrierenden Wahrheitsanspruch der Kirche aufbricht. Das Selbstdenken mußte an dem bis dahin behaupteten Monopol der Wahrheit notwendig seine Grenze finden und also in Konflikt damit geraten. Die neuzeitlichen Philosophen und Naturwissenschaftler, die in dieser kirchlichen Tradition sozialisiert und kulturalisiert wurden, sind sich dieses teils latent bleibenden, teils offen ausbrechenden Konflikts immer bewußt, auch wenn die von ihnen entworfenen Lösungen anders als bei Galilei ausfallen und im Extremfall (Pascal) sogar auch zu einer radikalen Entscheidung gegen die natürliche Vernunft und gegen das Selbstdenken und zu einer Unterwerfung unter die Autorität der Kirche führen können. Angesichts der bestehenden Deutungshoheit der Kirche über die Wahrheit ist es also nur auf den ersten Blick paradox, daß fast alle bedeutenden Philosophen und Naturwissenschaftler im 17. Jahrhundert - wie schon Galilei an theologischen Innovationen gearbeitet haben; sie taten dies, weil sie für sich selber nach einer eigenen theoretisch kohärenten Möglichkeit suchten, ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse aufrechtzuerhalten und dennoch mit ihrer Kirche in Ubereinstimmung bleiben zu können. Aber sogar die als Atheisten geltenden Hobbes und Spinoza liefern in ihren philosophischen Werken selbstverständlich mindestens Nachweise für die Übereinstimmung ihrer philosophischen Argumente mit den Aussagen der Hl. Schrift, im Sinne der schon von

Heilige Schrift und die Natur in gleicher Weise aus dem Göttlichen Wort hervorgegangen sind, jene als Einflößung des Heiligen Geistes, diese als gehorsame Vollstreckerin der göttlichen Befehle; und da ferner in den Schriften Übereinkunft besteht, viele Dinge dem Anschein und der Bedeutung der Worte nach anders zu sagen, als es die absolute Wahrheit wäre, um sich dem Verständnis der Menge anzubequemen; hingegen die Natur unerbittlich und unwandelbar und unbekümmert darum ist, ob ihre verborgenen Gründe und Wirkungsweisen dem Fassungsvermögen der Menschen erklärlich sind oder nicht, denn sie überschreitet niemals die Grenzen der ihr auferlegten Gesetze, scheint es, daß die natürlichen Wirkungen, die uns durch die Erfahrung der Sinne vor Augen gefuhrt werden oder die wir durch zwingende Beweise erkennen, keinesfalls in Zweifel gezogen werden dürfen durch Stellen der Schrift, deren Worte scheinbar einen anderen Sinn haben, weil nicht jeder Ausspruch der Schrift an so strenge Regeln gebunden ist wie eine jede Wirkung der Natur.« (Galileo Galilei: Brief an D. Benedetto Castelli vom 2 1 . 1 2 . 1 6 1 3 . In: G. Galilei. Schriften - Briefe - Dokumente. Hg. Anna Mudry. Berlin 1987. Bd. 1, S. 169f.)

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Galilei in Anspruch genommenen doppelten Wahrheit, um die Autonomie der Vernunft neben der Wahrheit göttlicher Offenbarung in der Hl. Schrift zu sichern. 81 Dabei waren ihre jeweiligen Lösungen keineswegs nur abhängig von ihren wissenschaftlichen Ergebnissen, sondern ebenso auch von ihren konfessionellen Voraussetzungen. Für das 17. und für das frühe 18. Jahrhundert bestimmten daher die theologischen, ja die konfessionellen Überzeugungen der Philosophen und Wissenschaftler auch ihr wissenschaftliches Weltbild und konnten unmittelbare Auswirkung auf philosophische Entscheidungen haben. Descartes arbeitete zeitlebens an einer Erklärung für die Möglichkeit der Transsubstantiation, der katholischen Auffassung vom Abendmahl, auf der Grundlage seiner mechanischen Philosophie; sein Werk wird dennoch 1 6 6 3 auf den Römischen Index gesetzt. 82 Pascal beginnt als cartesianischer Mathematiker und Mechaniker, bricht aber seine wissenschaftliche Arbeit ab, weil er die Infragestellung der Glaubenswahrheiten durch die natür-

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Hobbes widmet diesem Unternehmen mehrere Kapitel des 3. Teils seines Leviathan, mit der folgenden Begründung: »Ich habe bisher die Rechte der souveränen Gewalt und die Pflichten der Untertanen nur aus den Grundsätzen der Natur abgeleitet, Grundsätze, die die Erfahrung für wahr befunden oder, was die Anwendung von Wörtern betrifft, wahr gemacht hat, das heißt aus der uns durch Erfahrung bekannten Natur der Menschen und aus allgemein anerkannten Definitionen solcher Wörter, die für alles politische Denken wesentlich sind. Da ich aber nunmehr von der Natur und den Rechten eines christlichen Staates handeln werde, wobei viel von den übernatürlichen Offenbarungen des göttlichen Willens abhängt, muß Grundlage meiner Abhandlung nicht nur das natürliche Wort Gottes, sondern auch das prophetische sein.« (Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates. Üb. Walter Euchner. Hg. Iring Fetcher. Ullstein: Frankfurt/M., Berlin, Wien 1976, S. 285.) - Spinoza stellt seine philosophischen Prinzipien im Tractatus theologico-politicus gewissermaßen in der geläufigen theologischen Terminologie dar; so erscheint die Notwendigkeit der Natur im 4. Kapitel als göttliches Gesetz oder auch als göttlicher Ratschluß. Dabei ist solche Akkomodation der Terminologie nicht auf eine Täuschung über die wahren Absichten ausgerichtet, man geht vielmehr davon aus, verstanden zu werden. Es handelt sich vielmehr um ein Unterlaufen der Zensur und der Widerstände der herrschenden Kirche gegen die öffentliche Diskussion dieser Ideen. Ein Brief des Utrechter Philosophieprofessors Lambert van Velthuysen an J.Ostens vom 24.1.1671 (in: B.Spinoza. Briefwechsel. Hg. Manfred Walther. Meiner: Hamburg 1986, S. 193-198) zeigt, daß der Theologisch-politische Traktat Spinozas den Zeitgenossen, die mit dieser christlichen theologischen Tradition vertraut waren, völlig verständlich war. Keineswegs sah man in Spinozas Akkomodation an theologische Terminologien auch eine Akkomodation an orthodoxe Lehrmeinungen, vielmehr bringt Velthuysens konzentrierte Wiedergabe der Grundideen Spinozas ein klares Verständnis von dessen Position zum Ausdruck, die er gleichwohl als atheistisch ablehnt. Dies gegen die Darstellung von Leo Strauss, Spinoza habe seine nur Gleichgesinnten oder der Nachwelt bestimmte atheistische Lehre unter Akkomodationen an die orthodoxe Lehre verbergen wollen. Vgl. Leo Strauss: Anleitung zum Studium von Spinozas theologisch-politischem Traktat (1948). In: Texte zur Geschichte des Spinozismus. Hg. Norbert Altwicker. Wiss. Buchges.: Darmstadt 1971, S. 300-361, hier S. 342 ff.

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Vgl. auch Descartes' Rechtfertigung in dieser Frage in: René Descartes: Meditationen. Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen. Vierte Einwände (A. Arnauld) und Erwiderungen Descartes'. Meiner: Hamburg 1972, S. 197 f. Auch in seiner Korrespondenz, vor allem mit Mesland, Arnauld und Mersenne, kommt er immer wieder auf diese zentrale Frage zurück.

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liehe Vernunft nicht akzeptieren will. 83 Nicolaus Stensen, ein dänischer Cartesianer, aber aus der lutherischen Kirche, konvertiert in Rom zum katholischen Glauben, beendet aus denselben Gründen wie Pascal seine wissenschaftliche Arbeit als Anatom und Geologe und wird sogar Bischof. 84 Aber auch für die potentiellen zeitgenössischen Leser eines Textes gehörten theologisch-konfessionelle Grundmuster, von denen ihre je unterschiedliche Wahrnehmung bestimmt wurde, zu den Bedingungen der Möglichkeit einer Rezeption auch philosophischer und wissenschaftlicher Texte. In den Niederlanden und in England ist der Widerstand der reformierten und anglikanischen Kirche gegen die mechanische Philosophie weniger stark, da die Transsubstantiation als katholischer Aberglaube entschieden abgelehnt und eine symbolische oder geistige Präsenz des Herrn beim Abendmahl angenommen wird. Dennoch wird der als hoffärtig geltende Anspruch der Vernunft auch hier scharf bekämpft, wie die Auseinandersetzungen nicht nur mit Hobbes und Spinoza, sondern auch mit der cartesischen mechanischen Naturphilosophie der Zeit an holländischen und englischen Universitäten zeigen. 85 Ein wesentlicher Unterschied in der Vorgehensweise der Katholiken und Protestanten der Gelehrtenrepublik zur Vermittlung ihrer wissenschaftlichen Ergebnisse

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Biaise Pascal (1623-1662) legte bereits mit 16 Jahren eine Abhandlung über die Kegelschnitte vor, die Bewunderung erregte. Er führte mit seinem Vater Experimente zum Luftdruck durch, die der öffentlichen Bestätigung der mechanischen Philosophie zu dienen vermochten. Mit 21 Jahren entwickelte er eine Rechenmaschine, die seinem Vater für die Steuereintreibung diente. Die Familie Pascal bekannte sich zum Jansenismus, der dem Cartesianismus aufgeschlossen gegenüberstand. Als es 1656 zur Verfolgung der Jansenisten durch die Jesuiten und durch den französischen König kam, veröffentlichte Pascal anonym seine berühmten Lettres provençales, deren Autor von den Jesuiten und von der königlichen Polizei gesucht wurde. Schon zuvor hatte er sich als einer der »Herren von Port Royal« nahe dem gleichnamigen Kloster niedergelassen, nachdem er eine »lebendige Glaubenserfahrung« hatte. In seinen letzten Jahren, schon von Krankheit gezeichnet, arbeitet er an seinen Pensées, die eine Absage an den »Anspruch der Vernunft« beinhalten, die sich dem Glauben nach dem folgenden Grundsatz unterzuordnen habe: »Wenn man alles der Vernunft unterordnet, wird unsere Religion nichts Geheimnisvolles und Ubernatürliches haben. Wenn man gegen die Prinzipien der Vernunft verstößt, wird unsere Religion absurd und lächerlich sein.« (B. Pascal: Pensées. Édition établie d'après la Copie de référence de Gilberte Pascal. Ed. par Philippe Sellier. Bordas: Paris 1991, S. 238. - Eigene Üb. - U. G.)

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Nils Stensen (1638 in Kopenhagen - 1686 in Schwerin) studierte in Kopenhagen, Rostock, Amsterdam und Leiden Medizin und wurde ein berühmter Anatom. Während seiner Studienreise, die ihn nach Frankreich und Italien führte, trieb er geologische Studien, die ihn zum Begründer der modernen Geologie werden ließen. 1667 konvertierte er in Rom, wurde 1672 Königlicher Anatom in Kopenhagen, wandte sich jedoch 1675 gänzlich von der Naturwissenschaft ab, um sich zum Priester weihen zu lassen und sich ganz dem geistlichen Beruf zu widmen. Vgl. Hermán de Dijn: Adriaan Heereboord en het Nederlands Cartésianisme. In: Algemeen Nederlands Tijdschrift voor Wijsbegeerte 75 (1983), S. 56-69. - Für die Niederlande vgl. Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begr. v. Friedrich Uberweg. Völlig neu bearb. Ausg. Die Philosophie des 17.Jahrhunderts. Bd. 2: Frankreich und Niederlande. Hg. Jean-Pierre Schobinger. Schwabe & Co. Verlag: Basel 1993, S. 42-70, insbes. S. 5 4 - 6 0 , sowie S. 7 8 - 8 6 (Quellen u. Lit.). - Einen Überblick über die nur widerstrebende Rezeption Descartes' an den englischen und schottischen Universitäten im 17. Jahrhundert gibt die Darstellung zu den Philosophischen Lehrstätten in ebd. Bd. 3: England. Schwabe & Co. Verlag: Basel 1988, S. 3 - 3 4 , insbes. S. 11.

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mit dem geltenden Dogma ist die starke Orientierung der Protestanten am Text der Hl. Schrift, während die Katholiken sich vor allem mit der Autorität der Kirche und ihrer Interpretation auseinandersetzen müssen. So beschäftigt sich Newton intensiv mit den prophetischen Texten der Hl. Schrift und warnte vor deren Vernachlässigung, weil wir dadurch unfähig würden, den Antichrist zu erkennen. 86 Heute erscheinen uns alle theoretischen Versuche einer Rechtfertigung der Philosophie und Wissenschaft gegenüber der Religion bereits als außerhalb der eigentlichen Philosophie und Wissenschaft liegend. Wir können die ungeheure Differenz, in die die mechanischen Naturphilosophen zur christlichen Lehre notwendig geraten mußten, aber auch ihre je verschiedenen Ubereinstimmungen kaum noch erkennen. Erst auf diesem Hintergrund wird aber klar, wie weit sich nicht nur die berüchtigten Hobbes und Spinoza, sondern auch Descartes, Newton und Leibniz von der authentischen Lehre der christlichen Religion in ihrer jeweiligen konfessionellen Form entfernt hatten. Jedoch war diese Differenz gerade das Ergebnis ihres Bemühens, ihre wissenschaftlichen Ergebnisse gegenüber der Deutungshoheit ihrer Kirche zu verteidigen, indem sie wenigstens in Ansätzen oder Teilen eine wissenschaftskompatible Interpretation der christlichen Dogmatik vorlegten. Zugleich wird aber auch klar, warum entsprechend den konfessionell unterschiedlich gesetzten Schwerpunkten je unterschiedliche Momente der christlichen Religion gegenüber der Philosophie festgehalten wurden. Während für Leibniz eine göttliche Willkür unvorstellbar erschien, bestand für Newton eben darin die Allmacht und Freiheit Gottes als eines Königs und Herrn, weshalb die Aufgabe des Erhaltungssatzes für ihn anders als fiir Leibniz kein entscheidendes Argument sein brauchte. Während Newton bereit war, die Transsubstantiation und die Dreieinigkeit als katholischen Aberglauben aufzugeben und damit den Atomismus akzeptieren konnte, arbeiteten Descartes und Leibniz an einer Verteidigung dieser christlichen Mysterien und lehnten deshalb den Atomismus ab. Während Descartes seine Auffassungen jederzeit der Autorität der katholischen Kirche zu unterwerfen bereit war, suchten Newton und Leibniz nach einer Absicherung ihrer Auffassungen im Text der Hl. Schrift. Ungeachtet ihrer je verschieden angelegten Versuche einer Verteidigung der christlichen Religion ging es ihnen allen aber immer zuerst um die Verteidigung der neuen Philosophie und Wissenschaft, des Anspruchs der Vernunft, gegenüber der Kirche. Andernfalls wären ihre Bemühungen um Kompatibilität auch überflüssig gewesen.

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Vgl. zu Newtons Bestimmungen über das Verhältnis von Glauben und Vernunft: Fritz Wagner: Neue Diskussionen über Newtons Wissenschaftsbegriff. In: Sitzungsberichte der philos.-histor. Klasse der Bayrischen Akademie der Wissenschften. Jg. 1968. H . 4 , S. 1 - 4 2 ; F. E. Manuel: The religion of Isaac Newton. Oxford 1974; H.McLachan: The religious opinions of Milton, Locke and Newton. Manchester 1941 (2. Aufl. 1972).

2. Religion als Hauptpunkt der Aufklärung (Kant)

2.2. Leibniz' Théodicée

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als Weichenstellung für die deutsche Aufklärung

In allen diesen Diskussionen des 17. Jahrhunderts ging es nicht nur um einzelne physikalische Lehrsätze oder christliche Dogmen und ihre Vermittlung, sondern um die grundlegende Frage, wie die christliche Religion gegenüber dem universalen Anspruch einer autonomen Vernunft bestehen könnte. Ein besonderes erkenntnistheoretisches Problem bedeutete dabei der vernunftresistente Charakter der christlichen Mysterien, über deren Status daher bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts heftig gestritten wurde. Als göttliche Geheimnisse mußten die Mysterien der menschlichen Vernunft grundsätzlich unzugänglich bleiben, sollten sie nicht aufhören, Mysterien, Geheimnisse zu sein. Damit aber mußte der erklärte Anspruch der autonomen Vernunft auf die Erkenntnis der Wahrheit, eben das Selbstdenken neuzeitlicher Philosophie, an den christlichen Mysterien notwendig an eine Grenze stoßen, die nicht überschritten werden konnte und durfte. Im Verlauf dieser über das 17. und 18. Jahrhundert anhaltenden Diskussion wurde deutlich, daß die Anerkennung der christlichen Mysterien nur bewahrt bleiben konnte, wenn die Vernunft begrenzt würde. Während die Diskussion über die theologischen Folgelasten der physikalischen Innovation der Mechanik als der Neuen Wissenschaft in Frankreich, in den Niederlanden und in England unter konfessionell verschiedenem Vorzeichen schon seit den 1630er Jahren, insbesondere seit der Verurteilung Galileis 1632, intensiv geführt und von der Gelehrtenrepublik wie von den Kirchen mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wurde, trieb sich die deutsche lutherische Theologenschaft noch bis zum Ende des 17. Jahrhunderts in rein konfessionellen Kontroversen herum, da die Neue Wissenschaft nur erst in Jena (Erhard Weigel), Altdorf (Johann Christoph Sturm) und in Herborn bzw. Duisburg (Johann Clauberg) in Form eines vorsichtigen Cartesianismus Fuß fassen konnte. Jedoch hatte sich Leibniz aufgrund seiner frühen direkten Auseinandersetzungen mit katholischen und reformierten Positionen in Mainz und in Paris und damit auch mit den laufenden naturwissenschaftlich-theologischen Diskussionen in Frankreich, den Niederlanden und England bereits seit dem Anfang der 1670er Jahre bewußt gemacht, daß seine lutherische Kirche, anders als die reformierte, mit dem Aufkommen der mechanischen Naturphilosophie theologisch ganz ähnlich gelagerte Probleme bekommen würde wie die katholische Theologie. 87 Die reformierte Kirche und entsprechend auch große Teile der englischen Kirche lehnten die Transsubstantiation beim Abendmahl als mittelalterlich-katholischen Aberglauben und Verfälschung mit großer Entschiedenheit ab und interpretierten die Worte von Jesus Christus beim Abendmahl in bloß geistiger oder gar symbolischer Form. Daher hatten sie kein Problem mit der Substanzlosigkeit der modernen mechanischen Naturphilosophie, sondern nutzten die Argumente der mechanischen Philosophie sogar gegen den »katholischen Aberglauben«. Das vereinfachte die Verbreitung der cartesianischen Philosophie und Physik in den Niederlanden und

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Vgl. Ursula Goldenbaum: Transubstantiation, Physics and Philosophy at the Time of [Leibniz's] Catholic Demonstrations. In: The Young Leibniz and his Philosophy ( 1 6 4 6 - 1 6 7 6 ) . Ed. by Stuart Brown. Kluwer Academic Publishers: Dordrecht 1999, S. 7 9 - 1 0 2 .

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in England. Auch hinsichtlich der Dreieinigkeit war man in dieser Kirche - auch unter dem Einfluß der Sozinianer — zunehmend offen, Diskussionen darüber zuzulassen. 88 Die lutherische Auffassung vom Abendmahl war aber stärker an der Tradition der katholischen Kirche orientiert, was schon deswegen naheliegt, weil das Augsburger Bekenntnis ursprünglich einen letzten Vorschlag zur Einigung der Lutherischen mit den Römischen darstellte. Insbesondere bestanden die Lutherischen auf der Realpräsenz von Jesus Christus beim Abendmahl, die also keineswegs nur symbolisch oder geistig verstanden werden durfte. Zur Lösung dieses Problems erarbeitete Leibniz, der sich früh für die moderne mechanische Naturwissenschaft entschieden hatte und sie also durch das Aufzeigen ihrer Kompatibilität mit der Religion sichern wollte, schon in seiner Zeit in Mainz einen raffinierten Lösungsvorschlag, 89 der zugleich auch eine Lösung für die Mysterien der Auferstehung, der Dreieinigkeit und der Menschwerdung darstellen konnte. Seine damit verbundenen Überlegungen zur Vereinbarkeit von Theologie und Philosophie veröffentlichte er allerdings erst in der dann für die deutsche Aufklärung bis zum Deutschen Idealismus außerordentlich einflußreichen Theodicee (1710). Jedoch machte er von diesem Lösungsansatz schon in seinen Vorschlägen zur Reunion und seinem diesbezüglichen Briefwechsel ausgiebig Gebrauch, also im Rahmen einer gewissen überschaubaren Halböffentlichkeit. Leibniz hält an der protestantischen Auffassung fest, daß die Hl. Schrift die einzig authentische Quelle für die christliche Religion sein könne, wenngleich er mit den Helmstädter Ireneikern die in den ersten vier Jahrhunderten entwickelten Auffassungen der Kirche noch anerkennt. Für Leibniz wie dann auch für Christian Wolff besteht dabei kein Widerspruch zwischen einer philosophisch begründeten natürlichen Theologie und einer engen Bindung an den Wortlaut der Hl. Schrift. 90 Schon in seinen frühen Schriften, in der publizierten Nova Methodus'1 und in den erst im 20. Jahrhundert veröffentlichten Commentatiuncula de judice controversiarum92 unterscheidet Leibniz zwischen den durch die natürliche Vernunft erkennbaren und beweisbaren Wahrheiten wie der Existenz Gottes oder der Unsterblichkeit der menschlichen Seele und den Wahrheiten, die wir nur aus der Offenbarung Gottes in der Hl. Schrift erkennen können. Außerdem unterscheidet er zwischen den Wahrheiten, die für unser Heil unbedingt notwendig sind, und jenen, die nur die religiöse Praxis regeln, von denen aber unser Heil nicht abhängt. Allein für die heilsnotwendigen Wahrheiten, sofern sie nicht durch die natürliche Vernunft erkannt werden können, sei es notwendig, daß sie wört-

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Thomas C. Pfizenmaier: Was Isaac Newton an Arian? In: Journal of the History of Ideas. 58 (1997), S. 5 7 - 8 0 . Der Autor verneint die Frage trotz der Ablehnung der Trinität durch Newton und Clarke. Vgl. Ursula Goldenbaum: Transubstantiation, Physics and Philosophy (wie Anm. 87). Vgl. Christian Wolff: Theologia naturalis methodo scientifica pertractata. Renger: Halle 1736. Pars 1. Cap. II: De intellectu Dei. §§ 2 9 5 - 3 1 1 . In: Christian Wolff. Ges. Werke. II. Abt. Bd. 7.1. (wie Anm. 55). 1978, S. 2 9 1 - 3 1 1 . - Siehe auch die deutsche Ubersetzung in derselben Ausgabe. G. G. L. L. [Gottfried Wilhelm Leibniz]: Nova methodus discendae docendaeque jurisprudentiae. Zunner: Frankfurt 1667. In: A (wie Anm. 56) VI, 1, Nr. 10, S. 2 5 9 - 3 6 4 . Hier § 4, S . 2 9 4 ; sowie §§ 2 8 - 4 8 , S. 3 1 3 - 3 2 7 . Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Commentatiuncula de Judice Controversiarum. In: A (wie Anm. 56) VI, 1, Nr. 22, S. 5 4 8 - 5 5 9 , hier § 7, S. 549.

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lieh im Text der Hl. Schrift zu finden sein müßten. Leibniz' entschiedenes Plädoyer fur eine streng literale Interpretation, die in größter Übereinstimmung mit Luthers Auffassung steht, dient vor allem der Sicherung der Gewißheit der Erkenntnis religiöser Wahrheiten aus der Hl. Schrift gegen den von der katholischen Kirche erhobenen Einwand, daß die Interpretation der Hl. Schrift den Laien ohne Anleitung und Vorschrift der Kirche unverständlich sei.93 Und er spricht sich gegen die Sozinianer und die »Bedeutler«, d. h. die Reformierten, gegen eine nur figürliche Interpretation aus, wenn diese nur deswegen zur Anwendung kommen soll, weil die Aussage sonst der Vernunft widersprechen würde.94 Aber natürlich räumt Leibniz der christlichen Tradition einer figürlichen, mystischen Interpretation einiger Stellen der Bibel hinreichend Raum ein. Er fordert nur strenge Kriterien für die Zulassung einer solchen Interpretation, um nicht die Gewißheit der Offenbarungswahrheit der Beliebigkeit mystischer Deutungen oder aber historisch zufälliger Konzilbeschlüsse der katholischen Kirche aufzuopfern. Diesen Standpunkt vertritt er auch in der Théodicée,95 die für die Entwicklung der deutschen Aufklärung so überaus richtungweisend wurde. Dies gilt bekanntlich für die bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts dominierende Schule der Wolffianer, die sich erklärtermaßen in der Tradition von Leibniz sah, in gewisser Weise jedoch auch fur die jüngere Generation der Hallischen Pietisten, die an bestimmte Ideen von Leibniz anzuknüpfen versuchte. Leibniz entwickelt in seiner Metaphysik weiterhin die Trennung von natürlichen und übernatürlichen Regeln, nach denen sich die Welt bewegt. Gott habe die Welt so vollkommen hervorgebracht, daß sie gewöhnlich aus sich heraus reibungslos funktioniert, nach natürlichen Regeln, die unserer Vernunft zugänglich und erkennbar sind; nur in wenigen Ausnahmen, die Gott jedoch vorhergesehen habe, geschieht es, daß Gott seinem Heilsplan gemäß eingreift, nach uns unerkennbaren, übernatürlichen Regeln.96 Aufgrund der Seltenheit rät Leibniz aber, bei der wissenschaftlichen Untersuchung von Phänomenen niemals ohne Not von solchen übernatürlichen Ereignissen auszugehen, außer wenn wir aufgrund göttlicher Offenbarung in der Hl. Schrift von vornherein wüßten, daß es sich um solche 93

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»Wiederholt entwickelt Luther die Gefährlichkeit der allegorischen Deutungen, die jeden exegetischen Ertrag illusorisch machen. Der Widerwille gegen die exegetische Tradition steigert sich hie und da bis zur Verwerfung aller Commentare.« (Ludwig Diestel: Geschichte des Alten Testaments in der christlichen Kirche. Mauke's Verlag: Jena 1869. Neudruck: Zentralantiquariat d. DDR: Leipzig 1981, S. 244 f.) »Meine Auffassung ist, daß man sich lieber an die eigentliche Bedeutung des Textes halten soll, auch wenn sie für die Vernunft unwahrscheinlich, wenn nur möglich ist, und zwar wegen der Forderung des sprechenden GOTTES. Da dieser nämlich weise ist, wird er uns nicht Worte geben, durch die wir getäuscht werden können. Er gäbe sie uns aber, wenn jener Sinn, der mit dem Text nach den Regeln der Interpretation am meisten übereinstimmt (anderswo hergeholte Überlegungen beiseitegesetzt), falsch wäre.« (Leibniz: Commentatiuncula de judice. In: A (wie Anm. 56. - Eigene Übersetzung U. G.) VI, 1, Nr. 22, § 34, S. 553) Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Théodicée sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l'Homme et l'origine du mal. In: G. W. Leibniz. Die philosophischen Schriften. Hg. Carl Immanuel Gerhardt. 7 Bde. Bd. 6. Weidmannsche Buchhandlung: Berlin 1885, S. 63 (Discours préliminaire. § 21). Vgl. ebd., S. 6 4 (§ 23).

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handelte. Für Leibniz reduzieren sich daher Wunder, als übernatürliche Eingriffe Gottes, letztlich a u f die aus der H l . Schrift bekannten, aber uns unerkennbaren

Mysterien. 9 7

W ä h r e n d also die Wunder wie auch die Christologie in Leibniz' A u f f a s s u n g v o m Christent u m relativ zurückhaltend verteidigt werden, legt er a u f die Verteidigung der Möglichkeit solcher christlicher Mysterien als mit der menschlichen Vernunft kompatibel außerordentlich großen Wert. D e r G r u n d für seine vehemente u n d lebenslange Verteidigung der christlichen Mysterien gegen die Sozinianer, gegen die Naturalisten, gegen Spinoza, gegen Toland, gegen N e w t o n und Clarke, u n d schließlich auch gegen Pierre Bayle (alle offensichtlich mit reformiertem Hintergrund), ist von Leibniz schon früh benannt worden: die Mysterien bilden für ihn die spezifische Differenz des Christentums, während der vernunftresistente Teil christlicher Religion sich auch in anderen Religionen f a n d . 9 8 Überdies würde m a n , wollte m a n das C h r i s t e n t u m auf seinen vernünftig einsehbaren Lehrbestand reduzieren, bald bei Spinozas E m p f e h l u n g e n der Nächstenliebe a n g e k o m m e n sein. 9 9 Deshalb verbietet sich für Leibniz

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Vgl. ebd., S.265 (§ 249). In Gottscheds Übersetzung heißt es bei Leibniz: »Die Wunderwerke anlangend, von denen wir schon oben etwas gedacht haben, so sind sie vielleicht nicht alle von einerlei Art. Allem Ansehn nach, mag es viele geben, die Gott durch den Dienst einiger unsichtbarer Substanzen, als die Engel sind, verrichtet: wie der P. Malebranche gleichfalls dafür hält. Und diese Engel oder diese Substanzen, wirken nach den ordentlichen Gesetzen ihrer Natur, indem sie viel subtilere und hurtigere Körper haben als die, welche wir bewegen können. Und dergleichen Wunderwerke sind nur vergleichsweise Wunderwerke, und in Ansehung unserer: gleich wie unsere Werke bei den Tieren für Wunderwerke gelten würden, wenn sie ihre Anmerkungen drüber zu machen, fähig wären. Die Verwandlung des Wassers in Wein könnte vielleicht dergleichen Wunderwerk sein. Allein die Schöpfung, die Menschwerdung und einige andere Wirkungen Gottes, übersteigen alle Kräfte der Kreaturen, und sind wahrhaftige Wunder und Geheimnisse.« (Zitiert nach: Herrn Gottfried Wilhelms Freiherrn von Leibnitz Theodicee, das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freiheit des Menschen, und vom Ursprünge des Bösen. Nach der 1744 erschienenen Übersetzung Gottscheds hg. v. Hubert Horstmann. Akademie Verlag: Berlin 1996, S. 257.)

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Der Hegelianer Hettner weist ebenso wie der Junghegelianer Marx zutreffend darauf hin, daß es gerade »die Natur eines jeden religiösen Bekenntnisses [sei], sich für das allein wahre zu halten« (Hettner (wie Anm. 4), S. 55). - Bei Marx heißt es fast identisch: »Es widerspricht nämlich schon den allgemeinen Grundsätzen der Religion, ihre allgemeinen Grundsätze von ihrem positiven Inhalt und von ihrer Bestimmtheit zu trennen, denn jede Religion glaubt sich von den andern besondern eingebildeten Religionen eben durch ihr besonderes Wesen zu unterscheiden und eben durch ihre Bestimmtheit die wahre Religion zu sein.« (K. Marx: Bemerkungen über die neueste preußische Censurinstruction. In: Karl Marx/Friedrich Engels. Gesamtausgabe (MEGA), Abt. I, Bd. 1, Berlin 1975, S. 104.)

99

Folgende Stelle zur Seelenruhe hat Leibniz im Handexemplar Boineburgs von Spinozas Tractatus theologico-politicus (Amsterdam 1670) unterstrichen: »und weil das wahre Heil und die wahre Glückseligkeit in der wahren Seelenruhe bestehen und uns nur das die wahre Seelenruhe verleiht, was wir vollkommen klar erkennen. Daraus folgt ganz offenbar, daß wir über den Sinn der Schrift in bezug auf die Dinge, die zum Heil führen und zur Glückseligkeit notwendig sind, Gewißheit erlangen können.« (Zitiert nach der Üb.: B.Spinoza: Theologisch-politischer Traktat. Hg. Günter Gawlick. Meiner: Hamburg 1976, S. 130.) - Das Handexemplar Boineburgs mit Marginalien und Unterstreichungen von Leibniz befindet sich in der Wiss. Bibliothek Erfurt. Vgl. zu dessen Auffindung: Goldenbaum: Leibniz' Commentatiuncula (wie Anm. 69).

2. Religion als H a u p t p u n k t der A u f k l ä r u n g (Kant)

45

auch die Anwendung der Characteristica universalis auf die Mysterien.100 Da aber Leibniz die moderne mechanische Naturphilosophie nicht nur aufgrund ihrer Erfolge für unabdingbar ansah, sondern auch selber voller Begeisterung für ihre in kurzer Zeit erbrachten Leistungen auf allen möglichen Gebieten war, ja überhaupt (wenig lutherisch) zu den größten Anhängern der Vernunft gehörte, mußte es ihm selber zum existentiellen Problem werden, Vernunft und Mysterien in Ubereinstimmung zu bringen.101 Seine Lösung, die der Vernunft verschlossenen Mysterien mit dem Anspruch der Vernunft der Philosophie und Wissenschaft kompatibel zu machen, konnte natürlich nicht in einer vernünftigen Erklärung der Mysterien bestehen, da diese dadurch zur Auflösung gebracht worden wären. Sie besteht vielmehr in drei unterschiedlichen Strategien einer Verteidigung der christlichen Mysterien.102 Zum einen (gegen die Argumente der Sozinianer) sollten alle konkreten Einwände, die die Mysterien als der Vernunft widersprechend darstellten, dadurch widerlegt werden, daß ihre Voraussetzungen in Frage gestellt würden: Denn wer konnte irgendeine gültige positive Aussage über die Mysterien machen, wenn sie doch der menschlichen Vernunft verschlossen waren? Außerdem entwickelt Leibniz Über-

100

»Notandum autem est linguam hanc esse judicem controversiarum, sed tantum in naturalibus, non vero in revelatis, quia Termini mysteriorum Theologiae revelatae non possunt recipere analysin istam, alioqui perfecte intelligerentur, nec ullum in illis esset mysterium. Et quoties vocabula communia ex necessitate quadam transferuntur ad revelata, alium quendam induunt sensum eminentiorem.« (A IV, 4, Nr. 168, hier S. 800 f.) - »Es ist anzumerken, daß diese Sprache [die lingua universalis] der Richter in Streitigkeiten ist, aber nur über natürliche Dinge, nicht über offenbarte, weil die Begriffe der Mysterien der geoffenbarten Theologie diese Zerlegung nicht empfangen könnten, da sie andernfalls vollkommen verstanden würden und in ihnen kein Geheimnis mehr wäre. Sofern es notwendig ist, gewöhnliche Worte auf offenbarte Dinge zu beziehen, gewinnen sie eine andere, höhere Bedeutung.« (Eigene Übersetzung - U. G.) - Vgl. dazu Marcelo Dascal: Reason and the Mysteries of Faith: Leibniz on the Meaning of Religious Discourse. In: Marcelo Dascal: Leibniz. Language, signs and thought.A collection ofessays,Amsterdam, Philadelphia 1987, S. 9 3 - 1 2 4 . - Vgl. G . W . Leibniz: Annotatiunculae subitaneae a d T o l a n d i librum de Christianismo Mysteriis carente. Conscriptae 8.Augusti 1701. In: Leibnitii Opera omnia. Ed. Louis Dutens. Genf 1768. Bd. 5, S. 147 ff.

Gegenüber Arnauld bringt er seine Bedenken auf den Punkt: »Nichts ist wirksamer, den Atheismus oder doch den erstarkenden Naturalismus zu kräftigen und den bei vielen bedeutenden, aber heillosen [mali] Männern schon fast wankenden Glauben der christlichen Religion von Grund auf zu untergraben, als einerseits zu beweisen, daß die Mysterien des Glaubens von allen Christen immer geglaubt worden seien, und daß andererseits diese durch gewisse Beweise der rechten Vernunft als Hirngespinste erwiesen werden. Viele sind innerhalb der Kirche schlimmere Feinde als selbst die Häretiker. M a n m u ß befürchten, daß, wenn nicht der Atheismus, so doch der öffentliche Naturalismus und Mahumetanismus die äußerste der Häresien ist, dem ganz wenig an Dogmen und beinah nur Riten hinzugefügt werden, und wohl deswegen hat er den ganzen Orient erobert. Diesem nähern sich stark die Sozinianer, die jetzt in England und im Innern Deutschlands ihr Haupt erheben, und fast alles, was es an bedeutenden Köpfen gibt, auf subtile Art eingefangen haben.« (Leibniz an Arnauld im November 1671. In: A (wie A n m . 56) II, 1, Nr. 87, S. 171 (Üb. Hansulrich Labuske. U. G.) 102 y g [ u . Goldenbaum: Spinozas Parrot, Socinian Syllogisms, and Leibniz's Metaphysics: Leibniz's Three Strategies of Defending Christian Mysteries. In: American Catholic Philosophical Quaterly. Vol. 76, Fall 2002, Issue No. 4: Leibniz. Ed. by Donald Rutherford, S. 5 5 1 - 5 7 4 . 101

46

D i e öffentliche Debatte in der deutschen A u f k l ä r u n g 1 6 9 7 - 1 7 9 6

legungen zu einer Logik der Wahrscheinlichkeit, zu deren wichtigsten Prinzipien gehört, keine geltende Erkenntnis nur aufgrund von wahrscheinlichen Argumenten ohne den demonstrativen Nachweis ihres Widerspruchs und damit der Unmöglichkeit aufzugeben. Die Mysterien seien angesichts unserer gewöhnlichen Erfahrungen zwar unwahrscheinlich, aber niemand könne einen demonstrativen Beweis ihres inneren Widerspruchs und ihrer Unmöglichkeit antreten, weshalb wir sie nicht verwerfen dürften. Zum anderen suchte Leibniz (gegen die naturalistischen mechanischen Philosophen) eine Denkmöglichkeit fiir ein physikalisch-metaphysisches Verständnis der Mysterien aufzuzeigen, ohne aber zu behaupten, daß dies auch eine tatsächliche Erklärung fiir die von Gott erzeugten Mysterien wäre. Dieser Aufgabe dienen seine metaphysischen Überlegungen zu einer Philosophie des Geistes bzw. der Substanz, die der Welt der Körper und Bewegung bzw. der Phänomene zugrunde liegen würden. Schließlich bietet Leibniz auch noch eine dritte Strategie auf (gegen Spinozas Argument, daß wir nicht über etwas urteilen können, das wir nicht verstehen), und zwar eine grundsätzliche erkenntnistheoretische Aufwertung der undeutlichen Ideen, der ideae clarae et confasae.103 In dem bekannten Aufsatz Meditationes de veritate, de cognitione et de ideis (1684) unterscheidet Leibniz die Ideen nach ihrem unterschiedlichen Grad der Gewißheit für die menschliche Erkenntnis einerseits wie für das Auffinden und Feststellen der Wahrheit andererseits. Während es zu den ersten Prinzipien der cartesischen Philosophie gehöre, nichts zuzulassen, »was nicht klar und deutlich perzipiert werde«, 104 sondern bloß dunkel und undeutlich, wertet Leibniz die klaren, aber undeutlichen Ideen auf: 1 0 5 Solche undeutlichen Ideen seien zwar hinsichtlich ihrer Gewißheit eine nur sehr opake Erkenntnis, aber doch schon eine Art der Erkenntnis, und nicht nichts. Diese Erkenntnis kann deshalb zur Verteidigung der Mysterien dienen, weil »es zum Glauben nicht immer nötig ist zu wissen, was der wahre Sinn der Worte ist, wenn wir ihn nur erkennen [...] und nicht positiv verwerfen, sondern uns zweifelnd verhaken, auch wenn wir in eine andere Richtung neigen«. 106 Leibniz fährt fort: »Manchmal genügt es uns sogar zu glauben, daß jeder beliebige Sinn, der in ihnen enthalten ist, wahr ist, und zwar ganz

103 Y g | Goldenbaum: Leibniz' Commentatiuncula (wie A n m . 69), S. 9. 104

Leibniz an Arnauld, A (wie Anm. 56) II, 1, Nr. 87, S. 171 (unveröff. Ü b . Labuske. - U . G.).

105

Undeutlich [confosae] seien Ideen dann, »wenn ich nicht genug Merkmale getrennt aufzählen kann, eine Sache von anderen zu unterscheiden, obwohl jene Sache tatsächlich so viele Merkmale und Elemente [requisita] hat, in die ihr Begriff zerlegt werden könnte. So erkennen wir Farben, Gerüche, Geschmäcke und andere eigentümliche Gegenstände der Sinne zwar ausreichend klar wieder und unterscheiden sie voneinander, aber nur durch das einfache Zeugnis der Sinne, nicht jedoch durch aussagbare Merkmale« (G.W. Leibniz: Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen (1684). Zitiert nach: Leibniz: Philosophische Schriften und Briefe 1 6 8 3 - 1 6 8 7 . H g . Ursula Goldenbaum. Ü b . Hansulrich Labuske u. Gerhard Müller. Akademie Verlag: Berlin 1992, S. 2 8 - 3 6 , hier S. 29).

106

Leibniz schreibt im Original: »non Semper esse opus ad fidem, ut sciamus quis sensus verborum sit verus, d u m m o d o eum intelligamus, nec rejiciamus positive, sed circa eum nos habeamus dubitative, etsi alio inclineamus.« (Leibniz: Commentatiuncula. In: A (wie A n m . 56) VI, 1, Nr. 22, S. 550 (§ 21). - Ü b . Hansulrich Labuske. - U . G.)

2. Religion als Hauptpunkt der Aufklärung (Kant)

47

besonders in den Mysterien, bei denen die Ausübung nichts ändert, welcher Sinn auch immer es schließlich sei.« 107 Während Leibniz' frühe, jedoch außerordentlich problembewußte und reflektierende Entwürfe zur Verteidigung der Kompatibilität der Mysterien mit der Vernunft aus dem Anfang der 1670er Jahre unveröffentlicht blieben und nur einzelne Ideen daraus innerhalb der Zirkel der Gelehrtenrepublik sowie unter seinen politischen Partnern in Sachen einer Réunion der christlichen Kirchen im Umlauf waren, trat Leibniz 1 7 1 0 mit seiner in französischer Sprache verfaßten

Théodicée

in die öffentliche Diskussion über das Verhältnis von

Vernunft und Glauben bzw. über die Grenzen der Vernunft ein, die durch den reformierten Refugé Pierre Bayle mit immer neuen Argumenten in seiner Zeitschrift Nouvelles

République des lettres

(1684-1687)

wie in seinem

Dictionnaire

de

la

historique et critique

( 1 6 9 5 - 1 6 9 7 ) am Laufen gehalten wurde. 1 0 8 Die Spannung dieser europäischen Diskussion wird noch erhöht, als wenige Jahre später der Leibniz-Clarke-Briefwechsel veröffentlicht wird, in dem es ebenso um eine Klärung des Verhältnisses von Vernunft und Glauben geht, um die Vereinbarkeit philosophischer bzw. wissenschaftlicher Wahrheit mit der je konfessionell verschieden vorgestellten Wahrheit des Christentums. In dieser Debatte treffen so noch einmal Cartesianismus, Newtons Naturphilosophie und Leibniz' Metaphysik und damit zugleich jansenistisch-katholische, anglikanisch-reformierte und eine sehr gemäßigte lutherische Auffassung des Christentums direkt und in gegenseitiger Wahrnehmung zeitgleich aufeinander - es ist noch einmal eine europäische Diskussion.

107

108

»Imo sufficit interdum quod credamus: quicunque in iis sensus contineatur eum esse verum, idque inprimis in mysteriis in quibus praxis non variat, quisquis tandem sit sensus.« (Ebd.) Der Streit darüber, ob Pierre Bayle in seinen Veröffentlichungen die Zerstörung der christlichen Religion und den Atheismus befördern wollte und in diesem traditionellen Sinne ein Aufklärer genannt zu werden verdiente oder ob er vielmehr in Verteidigung der klassischen protestantischen Vernunftkritik fideistisch argumentierte, brach bereits zu seinen Lebzeiten aus und wird bis heute in der Forschung ausgetragen. Schon Voltaire verwies darauf, daß Bayles kritische Zweifel die Leser zwar direkt zum Unglauben führten, jedoch kein einziger religionskritischer Satz in seinen Schriften enthalten sei. Vgl. Voltaire: Lettres à S.A. Monseigneur le Prince de ***, sur Rabelais, et sur d'autres auteurs qui ont mal parlé de la religion chrétienne. Lettre VI, sur les Français, de Bayle. In: Œuvres complètes de Voltaire. T. 26: Mélanges, V. Paris 1879, S. 502. Bayles Freund und Glaubensgenosse Basnage de Beauval verweist aber zu Recht auf die Ubereinstimmung von Bayles Einwürfen mit der protestantischen Tradition. Jedoch räumt er einen starken Affekt in Bayles Kritik ein: »Die Mehrzahl der Theologen erschien ihm allzu sicher in ihren Urteilen, und er wünschte, daß man von zweifelhaften Dingen auch nur zweifelhaft spräche. Aus diesem Grund machte er sich ein boshaftes Vergnügen daraus, ihre Sicherheit zu erschüttern und ihnen zu zeigen, daß gewisse Wahrheiten, die ihnen sonnenklar erschienen, von so viel Schwierigkeiten umgeben sind und verdunkelt werden.« (Henri Basnage de Beauval: Éloge de Mr. Bayle. In: Histoire des Ouvrages des Savans. Décembre 1706, S. 547.) In jedem Fall schloß Bayle von der rational unerweisbaren Wahrheit auf die Forderung nach religiöser Toleranz und ist darin ein Aufklärer par excellence.

48

Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1697-1796

2.3. Die theoretische Konstellation der deutschen Aufklärung Zugleich ist es aber diese Debatte auf europäischer Ebene, die erstmals auch unmittelbar in alle betroffenen Nationalsprachen überfuhrt wird und also nicht nur die engeren Zirkel der Philosophen und Wissenschaftler, sondern den Kreis der Gelehrten überhaupt weit überschreitet und auf ein allgemeines und öffentliches Interesse stößt. Für den deutschsprachigen Raum des Alten Reiches ist es noch ein Novum, daß eine solche europäische Debatte über die Grundfrage des Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaft zum Glauben über die Gelehrtenrepublik hinaus so große Aufmerksamkeit findet und daß die dazu erschienenen Schriften in den kommenden Jahrzehnten eine beständig wachsende Rezeption erfahren. Daß bei

dieser

Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Vorschlägen von einer wirk-

lichen Popularisierung der Diskussion die Rede sein kann, geht schon aus der schnellen Übersetzung beider Haupttexte in verschiedene Nationalsprachen hervor, der

Théodicée

ebenso wie des Leibniz-Clarke-Briefwechsels. Der Briefwechsel wurde 1 7 1 7 ins Englische (in der Ausgabe von Clarke), 1 0 9 1 7 2 0 ins Deutsche 1 1 0 und ins Französische 111 (und 1 7 4 0 noch einmal ins Lateinische) übersetzt. 112 Die verschiedenen, noch in weiteren Auflagen erscheinenden Ausgaben werden außerdem noch mit zusätzlichen Dokumenten angereichert. Alle drei nationalsprachlichen Ausgaben wurden auch europaweit rezensiert: die Original-

Acta eruditorum durch Christian W o l f f sowie zu Beginn Nouvelles de la république des lettres von J. Bernard; Rezensionen der deutschen Ausgabe erschienen im Dezember 1 7 2 0 in den Deutschen Acta eruditorum und im gleichen Jahr in der Historie der Gelehrsamkeit, der französischen Ausgabe 1 7 2 1 im Journal des Scavants, in der Historie der Gelehrsamkeit, in den Deutschen Acta eruditorum und in den ausgabe im Oktober 1 7 1 7 in den des Jahres 1 7 1 8 in den

109

110

111

112

Clarke veröffentlichte den Briefwechsel 1717 in einer zweisprachigen Ausgabe. Dabei wurden die Briefe auf einer Seite jeweils in der Originalsprache, d. h. die Leibnizschen Briefe in französischer und die Clarkeschen in englischer Sprache gegeben, auf der anderen Seite jeweils die englische bzw. französische Übersetzung: A Collection of Papers, which passed between the late Iearned Mr. Leibnitz, and Dr. Clarke, in the Years 1715 and 1716. Relating to the Principles of Natural Philosophy and Religion. [...] By Samuel Clarke, London 1717. 1720 erschien eine deutsche Ubersetzung des Briefwechsels von Heinrich Köhler, mit einem Vorwort von Christian Wolff. Diese Ausgabe enthielt außerdem eine Antwort auf das letzte Schreiben Samuel Clarkes, das Leibniz nicht mehr hatte beantworten können, durch den Wolffianer Thümmig: Merckwürdige Schriften, welche auf gnädigsten Befehl Ihro Königl. Hoheit der Cron-Prinzeßin von Wallis Zwischen dem Herrn Baron von Leibnitz und dem Herrn D. Clarke über besondere Materien der natürlichen Religion in Franßöz. und Englischer Sprache gewechselt, und nunmehro mit einer Vorrede Herrn Christian Wolffens [...] nebst einer Antwort Herrn Ludwig Philipp Thümmigs auf die fiinffte Englische Schrifft, Wegen Ihrer Wichtigkeit in teutscher Sprache herausgegeben worden von Heinrich Köhlern. Frankfurt u. Leipzig 1720. 1720 kam in Amsterdam auch eine französische Ausgabe heraus, in der Übersetzung von de Coste, herausgegeben von Des Maizeaux: Recueil de diverses pièces sur la philosophie, la religion naturelle, l'histoire, les Mathématiques etc. par Mrs. Leibnitz, Clarke, Newton et autres Autheurs célèbres. Ed. par Des Maizeaux. Amsterdam 1720. Eine 2. Ausgabe erfolgte 1740. Viri illustris G. G. Leibnitii Epistolarum Pentas una cum totidem responsionibus D. Samueliis Clarkii [...] donavit et adjectis notis uberius illustravit Nicolaus Engelhardt. Groningen 1740.

2. Religion als Hauptpunkt der Aufklärung (Kant)

49

Memoires pour l'histoire des Sciences et des beaux Arts."3

Auch die

Théodicée

wurde zuerst

1 7 2 0 und dann 1 7 2 6 , 1 7 3 5 und 1 7 4 4 ins Deutsche 1 1 4 sowie zweimal ins Lateinische übersetzt. 115 In französischer Sprache erschienen noch zu Leibniz' Lebzeiten drei Ausgaben und bis zur Mitte des Jahrhunderts weitere drei. 1 1 6 Daß beide Werke aber in engem Zusammenhang standen, geht sowohl aus Leibniz' eigenen Bemühungen um eine englische Ubersetzung der

Théodicée

zum besseren Verständnis seiner Argumente gegen Clarke hervor als auch aus

der Tatsache, daß Clarke in seine Ausgabe des Briefwechsels Auszüge aus der Théodicée

auf-

genommen hat. 1 1 7 Das europaweite und langanhaltende öffentliche Interesse an diesen Texten ist aber nicht so sehr den darin diskutierten physikalischen Gegenständen und den unterschiedlichen physikalischen Standpunkten zu verdanken, sondern vielmehr den Fragen und Standpunkten zur Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Glauben. 1 1 8 Das enorme Interesse an diesem Problemkomplex und an den dazu in dieser Debatte erschienenen prominenten Schriften im deutschsprachigen Raum kommt noch zu Anfang der 1 7 4 0 e r Jahre in einer deutschen Übersetzung von Bayles

Dictionnaire

und der Leibnizschen

Théodicée

durch Gott-

sched zum Ausdruck, wobei Gottsched den inhaltlichen Zusammenhang zwischen diesen beiden Übersetzungsprojekten und dem Leibniz-Clarke-Briefwechsel selbst ausdrücklich unterstreicht. 119 Ein anschauliches Indiz dafür, daß mit dieser brisanten europäischen Diskussion über die bedenklichen theologischen Folgelasten der mechanischen Naturphilosophie in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts auch in Deutschland die Grenzen der Gelehrtenrepublik überschritten wurden und eine öffentliche Debatte in Gang kam, scheint

113

114

115 116

117

118

119

Ich stütze mich bei diesen Angaben auf die informative Zusammenstellung von Volkmar Schüller in seiner von mir hier zitierten Ausgabe der Leibniz-Clarke-Korrespondenz, da dieser Ausgabe auch zahlreiche Dokumente zur Vorgeschichte des Briefwechsels sowie zur Rezeption beigegeben sind. Vgl. Der Leibniz-Clarke-Briefwechsel. Üb. u. Hg. Volker Schüller. Akademie Verlag: Berlin 1991, hier S. 495 f. Essais de Theodicée oder Betrachtung der Gütigkeit Gottes, Der Freiheit des Menschen Und des Ursprungs des Bösen. Amsterdam [Hannover] 1720, 1726, 1735, 1744, 1763. Zur Frage der Ubersetzer der ersten drei Ausgaben vgl. die Anm. 9 zur neuen Ausgabe der Gottschedschen Ubersetzung von 1744. Hg. Hubert Horstmann (wie Anm. 97), S. 482. Köln 1716, Frankfurt u. Leipzig 1739 u.ö. In französischer Sprache erschien die Théodicée in Amsterdam noch zwei mal zu Leibniz' Lebzeiten 1712 und 1714, dann weitere drei Mal bis zur Mitte des Jahrhunderts. Daß im Anhang zum besseren Verständnis der Leibnizschen Position auch Auszüge aus Leibniz' Théodicée veröffentlicht waren, mag wohl auf die Anregung der Prinzessin von Wales zurückgehen. Sie wußte schon längst um die Bedeutung, die dieses Werk für Leibniz auch in dieser speziellen Auseinandersetzung mit Newton gehabt hatte, der deshalb auch gern eine englische Übersetzung initiiert hätte. Vgl. den Brief von Caroline an Leibniz vom 4./14.11.1715 in: Leibniz-Clarke-Briefwechsel (wie Anm. 113), S.212. Vgl. U. Goldenbaum: Philosophie im Spannungsfeld von Vernunft und Glauben. Das Beispiel des Briefwechsels von Samuel Clarke und Gottfried Wilhelm Leibniz. In: Aufklärung als praktische Philosophie (wie Anm. 13), hier S. 3 9 8 - 4 0 9 . Vgl. Johann Christoph Gottsched: Herrn Peter Baylens Historisches und Critisches Wörterbuch. Bd. 4. Breitkopf: Leipzig 1744. Vorrede, S. 5.

50

Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1697-1796

mir auch die »Warnung« »Quo ruitis?« des orthodoxen lutherischen Theologen und zugleich sächsischen Kirchenrats Valentin Ernst Löscher zu sein, die er in Fortsetzungen über fünf Jahre an seine »liebsten Söhne« richtet, nämlich an die Philosophie treibende akademische Jugend der evangelisch-lutherischen Universitäten. 120 Diese Warnung vor der »neuen Philosophie« besteht in einer umfassenden, durchaus interessanten und nicht unberechtigten Begründung für seinen entschiedenen Vorwurf an die neuzeitliche Philosophie und Wissenschaft, durch den unbegrenzten Anspruch der Vernunft dem christlichen Glauben seine existentiellen besonderen Grundlagen zu entziehen. Sein Anliegen begründet Löscher mit den ihn von allen lutherischen Universitäten erreichenden Zeugnissen der Resignation der Professoren gegenüber der Begeisterung der Studenten für die neuzeitliche Philosophie: »sie könnten sich den Begierden der Academischen Jugend nicht mehr wiedersetzen, sondern müsten dem Strohm nachgeben, und lehren, was man haben wolte, wenn ihre Auditoria nicht gantz leer bleiben solten«. 121 Ahnliche Klagen kann man seit den 1720er Jahren ebenso aus Leipzig und aus Jena hören. 1 2 2 Bei der 1 7 3 7 erfolgenden Gründung der Göttingischen Universität wird die Notwendigkeit einer Zulassung der wolffianischen Philosophie von dem Braunschweigischen Minister Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen gegen den Widerstand der Pietisten sogar damit begründet, daß ohne solche Zulassung die Studenten ausbleiben würden. Dabei pflegte Münchhausen gute Kontakte zu den Hallischen Pietisten, 123 während er der Wolffianischen Philosophie ausgesprochen ablehnend gegen120

121 122

123

[Valentin Ernst Löscher]: Qou ruitis? Treuhertzige Anrede eines bejahrten Lehrers, an die den Philosophischen Studiis ergebene Jugend, wegen der zur Herrschafft sich dringenden neuen Philosophie (16 Pensa). Erstes Pensum. In: Frühaufgelesene Früchte der Theologischen Sammlung von Alten und Neuen (wie Anm. 16). 1735, S. 7 0 - 8 4 , hier S. 71. - Die weiteren Beiträge der Serie erscheinen fortlaufend in den Jahren 1735-1742: 2. Pensum. In: Ebd., S. 118-142; 3. Pensum. In: Ebd., S. 227-244; 4. Pensum. In: Ebd. 1736, S. 29-50; 5. Pensum. In: Ebd., S. 132-145; 6. Pensum. In: Ebd., S. 3 3 0 346; 7. Pensum. In: Ebd. 1737, S. 16-31; 8. Pensum. In: Ebd., S. 260-273; 9. Pensum. In: Ebd. 1738, S.75-98; lO.Pensum. In: Ebd., S. 178-195; 11.Pensum. In: Ebd. 1739, S . 6 5 - 8 1 ; O.Pensum. In: Ebd., S. 152-167; 13. Pensum. In: Ebd. 1740, S. 68-76; 14. Pensum. In: Ebd., S. 236-252; 15. Pensum. In: Ebd. 1741, S. 164-177; 16.Pensum. In: Ebd. 1742, S . 6 5 - 7 8 . Ebd. 1. Pensum, hier S. 71. So schreibt der Leipziger orthodoxe Theologe Klausing dem sächsischen Kirchenrat Löscher über die dortige Situation: »Nebst dem [Prof. Gottsched] sind noch einige andre Magistri, welche entweder Wolffii oder Rüdigerii Philosophiam mit einer so freyen und frechen Art vortragen, und zwar alles teutsch, daß sie dabey der studirenden Jugend sehr schaden.« (Klausing an den sächsischen Kirchenrat Löscher am 20.1.1736 (SUB Hamburg, Sup. ep. 75; zitiert nach Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz' und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Abhandlungen der philologisch-historischen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 75- H. 4, S. 71 f.).) - Wie groß die Begeisterung der Jenenser Studenten für die Philosophie Wolfis gerade in der Studienzeit von Schmidt gewesen ist, geht auch daraus hervor, daß es zu Protestkundgebungen der Studenten kam, als sich der sonst allseits geachtete Budde 1724, nach der Vertreibung Wolfis aus Halle, im oben genannten angeforderten Gutachten gegen dessen Philosophie erklärte. Vgl. Alma mater Jenensis. Geschichte der Universität Jena. Hg. Siegfried Schmidt, in Verbindung mit Ludwig Elm u. Günter Steiger. Böhlau Nachf.: Weimar 1983, S. 93-100. »Bey Gelegenheit dieser Sache [der Wertheimer Bibel vor dem Reichstag] habe von den H. Doct. Langen vernommen, daß der Wolfenbütteische Geheimde Rath Herr von Münchhausen jüngsthin

2. Religion als Hauptpunkt der Aufklärung (Kant)

51

über stand, wie gerade aus seinem »Nachträglichen Votum über die Einrichtung der Universität« Göttingen vom 16. April 1733 klar zum Ausdruck kommt, in dem er seine Erlaubnis zur Lehre der wolffianischen Philosophie an der neuen Universität gewissermaßen malgré lui rechtfertigt: »Ob ich gleich die Persohn des Wolffen selbst zu vociren vielerley Bedenken finde, auch fur mich vor des Wolffens Philosophie keine sonderliche Hochachtung trage, indem selbige mehr subtilitatem als nützliche Wahrheiten in sich faszet; das ganze System harmoniae praestabilitatae gehet dahin, auf was Weise die Seele im Leibe würke und selbigen bewege, welches jedoch ein Geheimnisz der Natur ist, so man in diesem Leben schwerlich entdecken wird. Ich lasze dahin gestellet seyn, ob man nicht die tempora Scholasticorum wieder erleben werde, wann die Wolffianer auf denen Academien die Oberhand behalten, als welche gleich jenen ihre Zeit mit Untersuchungen zubringen, welche im gemeinen Leben gar geringen Nutzen haben. Weilen indesz diesze Wolffianische Philosophe überall so viele Anhänger und so grossen Beyfall gefunden, so würde man der neuen Academie ohnfehlbar Tort anthun, wenn man selbige nicht lehren laszen wolte.« 124

Löscher wußte also, wovon er sprach. Angesichts der ungeheuren intellektuellen Faszination, die die neue, in Deutschland in wolffianischer Form vorgetragene Philosophie in den 1720er und 1730er Jahren ganz offensichtlich auf die akademische Jugend ausübte, darunter auch auf die zahlreichen Theologiestudenten, konnte es ihm nicht um eine kurze scharfe Ermahnung gehen, sondern nur um eine nachhaltige überzeugende Argumentation, die womöglich ein Umdenken hervorrufen konnte, was selbst schon als negativer Ausdruck des enormen Erfolges der leibniz-wolffianischen Philosophie gegen autoritäres Denken in den 1730er Jahren angesehen werden darf. In 16 ausführlichen Pensa, die von 1735 bis 1741 in

den Frühaufgelesenen

Früchten der Theologischen Sammlung von Alten und Neuen als Fort-

setzungen erscheinen, zeigt sich Löscher denn auch keineswegs nur als eifernder orthodoxer Theologe, sondern auch als durchaus in der neuen Wissenschaft der Mechanik und der modernen Philosophie bewanderter, als verständnisvoller, aber besorgter Lehrer. Er begrüßt ausdrücklich die Leistungsfähigkeit der neuen Wissenschaft, die durch Galilei, Kepler, Roberval und Bacon hervorgebracht und von den Engländern neuerdings vorzüglich befördert worden sei, um desto mehr vor der allseits überhand nehmenden Übertragung des mechanischen Modells auf andere Gegenstände, insbesondere auf die Philosophie, zu warnen. Dabei ist es frappierend zu sehen, daß der orthodoxe lutherische Theologe selber einen Anspruch der Vernunft gegen die Wolffianer erhebt: die Wahrheiten der neuen Philosophie und Wissenschaft seien gegen die Vernunft gerichtet und beruhten auf Prinzipien, »welche anzunehmen man seiner Vernunfft große Gewalt thun, und sie viel härter tractiren muß, als immermehr in der bißherigen Philosophie geschehen ist, nur daß alles mechanisch heraus komme«. 125 Allerdings scheint hier mit Vernunft eben gerade der gesunde Menschenver-

124

125

bey ihn eingesprochen, derselbe nicht genugsam habe ausdrücken können, wie durch dieses schädliche Bibelwerck der Naturalismus und Atheismus sich ausbreite.« (Francke an den Grafen von Stolberg am 3 0 . 6 . 1 7 3 7 . In: FSt Halle C722: 28.) Emil F. Rössler: Die Gründung der Universität Göttingen. Entwürfe, Berichte und Briefe der Zeitgenossen. Göttingen 1855, S . 3 6 f . [Valentin Emst Löscher]: Qou ruitis? (wie Anm. 120). 3. Pensum (1735), S. 234.

52

Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1697-1796

stand und die Erfahrung angesprochen zu sein. Der Anfang solcher gefährlichen Entwicklung für die Philosophie sei von Descartes gemacht worden und von Hobbes und Spinoza auf die Logik und Ethik ausgedehnt worden. Aber sowohl die Logik als auch die Metaphysik seien »von höherer Art und Realität« »als der gantze Mechanismus«, weshalb »es also Wahrheiten gebe, welche sich nicht ausmessen und mathematisch tractiren lassen, und daß die mechanischen Concepten unter jenen stehen, und sich zuletzt darauf gründen müssen«.126 Insbesondere die Natur der Seele und der Geister könne durch den »Mechanismus« nicht verstanden werden. Aber, und hier setzt bereits die Kritik an Wolffs Kosmologie ein, die sich aber natürlich ebenso gegen Leibniz und andere neuzeitliche Philosophen richtet, auch die ganze Schöpfung könne nicht nach Regeln der Mechanik, als ein bloßes Uhrwerk, erklärt werden. Auf diese Weise würden die Engel und unsere Seelen in der Kosmologie »vergessen« werden. Entsprechend wird den Auffassungen von Newton und Clarke ein großes Lob zuteil, weil diese die Existenz von Geistern und Engeln rechtfertigten. Vor allem aber wird dann die universelle Geltung der zentralen Prinzipien der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft in Frage gestellt: daß sich keine andere Veränderung in den Körpern ereignet als solche der Figur, der Bewegung und der Ausdehnung, daß die Einzelkörper hinsichtlich ihrer Existenz voneinander abhängen oder daß alle Modifikationen der materiellen Dinge durch Bewegung vermittelt werden. Insbesondere verwahrt sich Löscher — gerade wie später auch Kant — gegen die »arbitrarias definitiones«. Es ist m. E. sehr aufschlußreich, daß der lutherische Theologe Löscher auch ausdrücklich auf Leibniz' Kontroverse mit Clarke (und mit Newton) eingeht, »so vor den Augen des gantzen Europa kund worden«, und dabei schon Leibniz die gefährliche Ansicht zuerkennt, daß alles im menschlichen Körper ganz mechanisch zugehe wie in einem Uhrwerk. Deshalb begrüßt er Clarkes (und also auch Newtons) Kritik an Leibniz, daß Gott fiir diesen nur noch »der allerkünstlichste Verfertiger einer unendlichen Machine werde, aber kein Regent, Vater und Helffer derselben heissen könne«.127 Der Theologe will keineswegs den Nutzen der mechanischen Wissenschaft bestreiten, da vieles in der Welt durchaus mechanisch vor sich gehe; er wehrt sich nur gegen den »Absolutismus mechanicus«,128 wonach alles mechanisch erklärt werden solle. Ganz ähnlich wie Newton ist auch er der Meinung, 129 daß sogar in den leblosen Dingen mehr als nur Masse und mechanische Bewegung sei, wie man in der Chemie sehen könne. Auch sei zwar selbst in den Lebewesen einiges mechanisch zu 126

Ebd., S. 230. Ebd., S. 237. 128 Ebd., S. 239. 129 Vgl. ebd., S. 239f. - Zu den alchimistischen Überlegungen Newtons vgl.: J.E. McGuire/P. Rattansi: Newton and the »Pipes of Pan«. In: Notes and records of the Royal Society 21 (1966), S. 108-143; P. M. Rattansi: Newtons alchemical studies. In: Science, medicine and society in the Renaissance. Hg. A. G. Debus. Bd. 2. New York 1972, S. 167-182; Ralph S. Westfall: Newton and the hermetic tradition. In: Ebd., S. 183-198; ders.: Alchemy in Newtons career. In: Reason, experiment and mysticism in the scientific revolution. Hg. M.L. Righini Bonelli u. W. R. Shea. New York 1975, S. 189-232; B. J. T. Dobbs: The foundation of Newtons alchemy, or »the hunting of the greene lyon«. Cambridge 1975. 127

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erklären, aber doch auch vieles auf die »Lebenskraft« zurückzuführen, die höherer Art sei. Sowohl die Freiheit 130 als auch die Macht Gottes werde durch den Mechanismus eingeschränkt oder unmöglich gemacht. Damit formuliert Löscher in seiner Abwehr der leibnizwolffianischen Philosophie also bereits vollständig jene Kritikpunkte, die gemeinhin erst der Spätaufklärung, der Romantik und dem Deutschen Idealismus zugesprochen werden. Löschers Stellungnahme als eine recht sachliche zeitgenössische Darstellung der Differenzen der neuzeitlichen mechanischen Philosophie zur orthodoxen lutherischen Lehre stellt in seiner klaren Sprache ein aussagekräftiges Zeugnis für das mindestens seit den 1720er Jahren auch im lutherischen Raum Deutschlands über die Gelehrten hinaus enorm angewachsene Bedürfnis nach einem vernunftkompatiblen Christentum dar, das aber eine Begrenzung der Vernunft zur Voraussetzung hatte. Die Frage des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung bzw. die Frage nach den Grenzen der Vernunft gehören seitdem zum vorzüglichen Hauptgegenstand der deutschen Aufklärung für das ganze 18. Jahrhundert, an dieser Frage scheiden sich schließlich auch die Pietisten und die Aufklärer im engeren Sinne, nachdem sie sich zunächst gegen die lutherische Orthodoxie verbündet hatten, und diese Fragestellung bleibt auch noch konstitutiv fiir den Deutschen Idealismus. Neben der von Leibniz vorgelegten und von den Wolffianern weitgehend übernommenen Konzeption, die seit den 1720er Jahren bis zum Spinoza-Streit in der philosophischen Diskussion dominant war, hielt sich jedoch auch eine konkurrierende vernunftkritische sensualistische und auf empirische Wissenschaft setzende Auffassung der protestantischen Schulphilosophie lebendig, die erst durch Kants kritische Wende obsolet wurde, indem er sie im Hegeischen Sinne aufzuheben vermochte. Diese eigenständige philosophische Schule knüpfte an die philosophischen Auffassungen von Christian Thomasius an und wurde von Andreas Rüdiger (1673-1731) systematisch begründet. 131 Sie wurde dann von August Friedrich Müller (1684-1761) fortgeführt, 132 der im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts in Leipzig noch über 200 Hörer hatte, in den 1730er Jahren von Adolph Friedrich Hoffmann und seit den 1740er Jahren von dem wegen seiner Wirkung auf Kant bekannteren Antiwolffianer Christian August Crusius (1715-1775). 1 3 3 Ihre philosophischen Auffassungen stehen denen der englischen Frühaufklärung um Locke nahe, indem sie aus traditionellem

130 131

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Vgl. vor allem Löschers 4. Pensum. In: Quo ruitis ? (wie Anm. 120). 1736, S. 29-50. Vgl. H.Schepers: Rüdigers Methodologie und ihre Voraussetzungen (wie Anm. 52). Dieser philosophische Ansatz richtet sich von vornherein gegen die Universalität der mathematischen Methode und orientiert wie die Argumentation der Pietisten auf eine strenge Differenz zwischen Gegenständen der Mathematik als menschlichen Schöpfungen und natürlichen Gegenständen als Schöpfungen Gottes, die durch den Menschen nur unvollkommen und nur aufgrund seiner sinnlichen Erkenntnis erfaßt werden könnten. Aus dieser Position wird wie bei Locke gegen die veritates aeternae und gegen die ideae innatae argumentiert. Vgl. ebd., S . 4 7 - 5 0 sowie S. 7 2 - 8 0 . - Siehe auch Ciafardone: Von der Kritik an Wolff zum vorkritischen Kant (wie Anm. 52). Vgl. den Artikel in Zedlers Universal-Lexicon. Bd. 57 (wie Anm. 9), Sp. 198 ff. Zu Crusius vgl. die neueren Arbeiten von Benden: Christian August Crusius (wie Anm. 63); Krieger: Geist, Welt und Gott bei Christian August Crusius (wie Anm. 63); Ciafardone: Von der Kritik an Wolff zum vorkritischen Kant (wie Anm. 52).

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protestantischen Mißtrauen gegen die grenzenlose Autonomie der Vernunft gerade die sinnliche, empirische und damit begrenzte Seite der menschlichen Erkenntnis gegen die Wolffianer unterstreichen. 134 Auf die überkommene Trennung von den drei geistigen Vermögen des Menschen - Verstand, Wille und Sinnlichkeit - aufbauend, lehnen sie die prästabilierte Harmonie und den ihr innewohnenden Determinismus der Leibniz-Wolffschen Schule ab und verteidigen die Freiheit als dem Menschen von Gott gegebene Wahlfreiheit. Vor allem betonen sie die grundsätzliche Differenz zwischen der mathematischen Erkenntnis, die nur auf von uns hervorgebrachte mathematische Gegenstände angewandt werden dürfe, und der Erkenntnis in den Naturwissenschaften und der Philosophie, als einer Erkenntnis realer Dinge, die von Gott erschaffen wurden. Diese Erkenntnis sei allein empirisch zu erlangen, da das Wesen dieser Dinge der verderbten menschlichen Vernunft unzugänglich sei; durch die Sinne und die Erfahrung könnten wir aber eine ausreichende Erkenntnis von ihnen erlangen. In dieser philosophischen Schule wird daher eine sensualistische Erkenntnistheorie und eine darauf aufbauende eigenständige Logik entwickelt. 135 Obgleich diese philosophische Schule zunächst ebenso wie die Schule der Wolffianer sowohl von der theologischen Orthodoxie als auch von den Hallischen Pietisten als gefährliche Neuerung verschrien wird, 136 avanciert sie seit der öffentlichen Debatte der Wertheimer Bibel, in die Adolph Friedrich Hoffmann - in genauer Verbindung mit Joachim Lange — auf seilen der Pietisten aktiv eingreift, zum einzigen wirksamen philosophischen Antidotum gegen die Faszination des Wolffianismus. Schon seit dem ersten großen Zusammenstoß von Pietismus und Wolffianismus 1723 wurde sie zunehmend auch von der antiwolffianischen pietistischen Partei, vor allem in Halle, rezipiert. 137 Die Aufwertung der Sinnlichkeit und der Empirie gegenüber der Vernunft und der demonstrativischen Wissenschaft bzw. der 134

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Specht weist zu Recht auf die sehr frühe Rezeption von Locke in der deutschen Philosophie hin, die anders als in Frankreich durch Voltaire - gerade nicht religionskritisch wirkte: »In Deutschland ist Lockes theoretische Philosophie früh gegenwärtig. Schon Christian Thomasius schreibt über sie und besitzt den Essay auf Französisch, was immer daraus folgen mag. Sein Lieblingsschüler Nikolaus Hieronymus Gundling in Halle beschäftigt sich ähnlich wie Franz Budde schon in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts mit Lockes Begriffen und erkenntnistheoretischen Positionen.« (Specht: John Locke (wie Anm. 17), S. 190.) - Kants Lehrer Martin Knutzen übersetzte Lockes Conduct of the Understanding (Königsberg 1755). - Zum Einfluß Lockes auf Kant vgl. Alois Winter: Selbstdenken Antinomien - Schranken. Zum Einfluß des späten Locke auf die Philosophie Kants. In: Aufklärung. 1 (1986), H. 1: Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit. Hg. Norbert Hinske, S. 2 7 - 6 6 . Vgl. Schepers: Rüdigers Methodologie und ihre Voraussetzungen (wie Anm. 52), S. 8 1 - 1 1 5 . Vgl. Döring: Leibniz und die Leipziger Aufklärungsphilosophie (wie Anm. 122), S.40f., S. 102-122. Der erste offene Ausbruch des Konflikts, der auf Betreiben des Hauptes der Hallischen Pietisten Joachim Lange am Berliner Hof zur Vertreibung des Philosophen aus Preußen führte, war veranlaßt

durch Wolffs provokante Rede über die praktische Philosophie

der Chinesen, in der er den empirisch

belegten Nachweis unternahm, daß eine Gesellschaft ohne christliche Religion allein aus vernünftiger Einrichtung der Gesellschaft durch Gesetzgebung harmonisch zu leben vermag. Vgl. dazu die gründliche Darstellung von Michael Albrecht in seiner Edition dieser Oratio und seiner Ubersetzung: Christian Wolff: Oratio de Sinarum philosophia practica/Rede über die praktische Philosophie der Chinesen. Üb., eingel. u. hg. v. M. Albrecht. Meiner: Hamburg 1985, S.IX-CI, insbes. S. XXXIILIII.

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mathematischen oder mechanischen Methode diente dabei der Verteidigung der Unterordnung der beschränkten menschlichen Vernunft unter den Glauben, durch den allein wir zum Absoluten zu gelangen vermögen. In dieser Auffassung standen die protestantischen Schulmetaphysiker — die Orthodoxen ebenso wie die Pietisten — dem englischen Empirismus Lockes und den theologischen Auffassungen Newtons und Clarkes sehr viel näher als dem Rationalismus von Leibniz und Wolff. Die früheste deutsche Locke-Rezeption findet sich daher nicht zufällig bereits in den 1 6 9 0 e r Jahren im pietistischen Halle und besonders bei Andreas Rüdiger. 138 Die Rezeption des englischen Empirismus und Sensualismus geschah also nicht erst in Anlehnung an die französische Aufklärung; sie diente vielmehr bereits der Verteidigung der traditionellen protestantischen Schulmetaphysik gegen die Philosophie der Modernen, d. h. gegen den Rationalismus von Leibniz und Wolff. Diese philosophische Schule vermochte zwar seit den 1720er Jahren niemals mehr auch nur annähernd die Ausstrahlung und Verbreitung der Wölfischen Philosophie zu erreichen, dennoch gewann sie als Lieferant antiwolffianischer bzw. antirationalistischer Argumente einigen Einfluß, wie man an der allmählichen Rezeption ihrer Argumentationsmuster in den Schriften von Pietisten, aber sogar von erklärten Wolffianern erkennen kann. Insbesondere Crusius vermag in den 1740er Jahren wenigstens in Leipzig noch einmal eine größere Auseinandersetzung mit Ernesti und in den 1750er Jahren kleinere Scharmützel mit Gottsched zu initiieren, die aber kaum überregionale Bedeutung gewannen. 1 3 9 Bekannt ist aber, daß auch Kant die antiwolffianischen Argumente dieser Schule gründlich studiert hat.

138

139

Zu Rüdiger vgl. die glasklare Darstellung von Schepers: Rüdigers Methodologie und ihre Voraussetzungen (wieAnm. 52). Johann August Ernesti (1707-1781) war ein Leipziger wolffianischer Theologe und mit Gottsched und den anderen Mitgliedern der Deutschen GeselbchafiFerdinand May, von Steinwehr, Lotter und Stübner - freundschaftlich verbunden; sie waren gemeinsam Mitglieder der oben genannten, 1731 gegründeten philosophischen Gesellschaft. Vgl. Döring: Leibniz und die Leipziger Aufklärung (wie Anm. 122), S.67. Zeitweilig wurde er von den Gottscheds als Abtrünniger angesehen, weil er 1739 in einer Disputation gegen die rationale Erkennbarkeit der Offenbarung polemisiert hätte, um sich als Theologe den Theologen anzudienen. Siehe ebd., S. 98. Jedoch wurde Ernesti an der Leipziger Universität seit den 1740er Jahren der führende aufgeklärte Kopf der Theologen und führte die »Montägige Predigergesellschaft« der aufgeklärten Theologen an, während Crusius das Haupt der »Donnerstägigen« Gegengesellschaft war (vgl. [Karl August Böhmel:] Einladung zur zweiten Säcularfeier des älteren Mondtägigen Predigercollegiums in Leipzig. Leipzig 1824, S.XVf. Zitiert nach Döring: Leibniz und die Leipziger Aufklärung (wie Anm. 122), S. 122)). - Treffend bemerkt Döring zu Crusius: »Den entschlossenen Widerstand gegen diese zerstörerischen Tendenzen seiner Zeit sieht der sendungsbewußte Crusius als Lebensaufgabe an.« (Ebd., S. 112.) Crusius wird aber in der ideengeschichtlichen Philosophiegeschichte nur hinsichtlich seiner philosophischen Argumente vorgestellt, meist auch nur in Hinblick auf Kants Rezeption einiger Argumente. Dabei wird allerdings übersehen, daß sich die Substanz dieser Argumente längst schon bei Andreas Rüdiger findet und fast nur das Verdienst der aggressiven Auseinandersetzung mit den Wolffianern Crusius selbst zugehört. Diese Sichtweise wird sicher auch dadurch begünstigt, daß Crusius, anders als sein Lehrer Hoffmann, »der Roß und Reiter deutlich nennt, [...] in seinen einschlägigen Veröffentlichungen weitgehend ohne Erwähnung irgendwelcher Personen« operierte (ebd., S. III). Dadurch entsteht für die späteren Leser, die den Kontext nicht übersehen, der Eindruck einer rein philosophischen Diskussion. Crusius

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Angesichts dieses zentralen Stellenwerts der Bestimmung des Verhältnisses der Vernunft zur Offenbarungsreligion scheint mir die Kantsche Bestimmung, wonach der Hauptpunkt der Aufklärung die Religion sei,140 in dem Sinne absolut zutreffend zu sein, daß vor aller theoretischen Ausarbeitung einer besonderen philosophischen, poetologischen, politischrechtlichen etc. Position das Verhältnis von Vernunft und Glauben geklärt werden mußte. Mindestens im deutschsprachigen Raum bleibt dieses Thema denn auch in allen philosophischen, literarischen, kunsttheoretischen und rechtlich-politischen Auseinandersetzungen des 18. Jahrhunderts der Hauptgegenstand und es wird noch bis ins 19. Jahrhundert intensiv diskutiert werden. Daß es diese Diskussion ist, die seit dem frühen 18. Jahrhundert den Rahmen der Gelehrtenrepublik überschreitet und allgemeines und öffentliches Interesse findet, wird auch daran deutlich, daß sie nun nicht mehr nur in den vielfältigen deutschsprachigen theologischen und gelehrten Zeitschriften stattfindet, sondern darüber hinaus auch in den »Zeitungen von gelehrten Sachen«, die sich ausdrücklich auch an ein größeres unakademisches Publikum richten. Seit den 1730er Jahren findet diese Diskussion dann auch in literarischen Journalen und zunehmend in den Moralischen Wochenschriften ihr Forum. Zu nennen sind vor allem die Acta historico-ecclesiastica (Weimar), die Frühaufgelesenen Früchte von Alten und Neuen (Dresden), die Deutschen Acta eruditionis (Leipzig), die Hamburgischen Berichte von gelehrten Sachen, die Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen, die Critischen Beyträge der Deutschen Gesellschafi in Leipzig, die Göttingischen Zeitungen von gelehrten Sachen, der Nordische Aufseher in Kopenhagen und die Literaturbriefe aus Berlin, um nur die bekanntesten Medien unterschiedlichen Typus aus der Zeit vor dem Siebenjährigen Krieg zu nennen, in denen solche Auseinandersetzungen geführt wurden bzw. über diese berichtet wurde. Durch das ganze 18. Jahrhundert zieht sich nun die Gegenüberstellung von Verteidigern der Autonomie der Vernunft, zunächst vor allem den Wolffianern, und den Verteidigern des Glaubens, die die Vernunft zu begrenzen suchten, wobei im Ergebnis der Debatte um die Wertheimer Bibel seit der Mitte der 1730er Jahre orthodoxe und pietistische Theologen verbündet auftreten. Der wolffianische Siegeszug an den deutschen Universitäten und insbesondere an den philosophischen Lehrstühlen kann seit den 1720er Jahren nicht mehr aufgehalten werden. Im Ergebnis der öffentlichen Debatte der Wertheimer Bibel kommt es zwar 1736 zu deren Verbot in Preußen, aber fast gleichzeitig erklärt der König die Wolffsche Logik zur Pflichtlektüre an den preußischen Universitäten.141 Allerdings ist in dieser Debatte setzte sich in seinem Haß gegen Leibnizaner, WolfFianer und übrige Fatalisten nicht nur in Schriften auseinander, sondern predigte auch regelmäßig in Leipzig gegen »den Mißbrauch der Vernunft >unter dem Scheine der Wahrheit« zur »Untergrabung des Gebäudes der Gottesgelahrtheit«< (ebd., S. 112). Er schreckte nicht davor zurück, in einer Predigt selbst die Bedrückungen durch die preußische Besatzung im Siebenjährigen Krieg auf die »fatalistische Philosophie« zurückzuführen (vgl. ebd., S. 113). Als Theologe richtete sich Crusius auch gegen die neue neologische Richtung und die kritische Bibelexegese und entwickelte eine neue prophetische Theologie in Anknüpfung an Johann Albrecht Bengel. 140 141

K A A ( w i e A n m . 67). 1. Abt. Bd. 8, S. 3 3 - 4 2 , hier S. 4 1 . Vgl. Carl Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiössoziale Reformbewegung. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 1971, S.434. - Vgl. auch S. 4 3 2 - 4 4 1 .

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die Gefahr einer grenzenlosen Vernunft in Hinblick auf die G r u n d l a g e n der christlichen Religion allen Seiten sichtbar geworden. D i e denkenden K ö p f e auf beiden Seiten, unter den Wolffianern wie unter den orthodoxen u n d pietistischen T h e o l o g e n , stellten sich daher im Ergebnis dieser intensiven theoretischen Auseinandersetzung der neuen u n d schwierigen Aufgabe, die Religion allein auf der O f f e n b a r u n g zu begründen u n d der Vernunft entsprechend Grenzen zu setzen, aber doch ohne sie in ihrer A u t o n o m i e im Felde der Wissenschaft zu beschränken. So oft in diesen Auseinandersetzungen einerseits die Überlegenheit der Offenbarungserkenntnis u n d des religiösen Gefühls über die Vernunft (bei A n e r k e n n u n g einer begrenzten Leistungsfähigkeit der Vernunft) und andererseits die A u t o n o m i e der Vern u n f t (ohne Verletzung der christlichen Religion) beschworen worden sind, so sehr hat das Bedürfnis nach einer neuartigen B e g r ü n d u n g der Religion in beiden Lagern u m sich gegriffen. Z u den wenigen D e n k e r n der deutschen Aufklärung, die sich dieser vorherrschenden Tendenz zur Begrenzung der Vernunft seit den 1750er Jahren konsequent widersetzten, gehörten insbesondere Lessing u n d M e n d e l s s o h n . 1 4 2 D e r Wolffianismus hat für seinen Sieg a m preußischen H o f über die Angriffe der Hallischen Pietisten seinen Preis zu zahlen. Ein entscheidender theoretischer Verlust u n d ein klares Zugeständnis an die Gegner ist der Verzicht vieler Wolffianer - nach d e m Vorbild des berühmten, aus d e m Halleschen Pietismus k o m m e n d e n Berliner Hofpredigers Reinbeck a u f die prästabilierte H a r m o n i e , wobei die philosophische Differenz über diesen Begriff zwischen Leibniz und W o l f f für diese Entscheidung ohne große B e d e u t u n g ist. 1 4 3 M i t der

142

In dem von Jacobi berichteten Gespräch beider erklärt Lessing gegen die von Jacobi vorgeschlagene Grenzziehung für die Vernunft sogar ausdrücklich: »Worte, lieber Jacobi, Worte! die Grenze, die Sie setzen wollen, läßt sich nicht bestimmen. Und an der andern Seite geben Sie der Träumerei, dem Unsinne, der Blindheit freies offenes Feld.« (Gotthold Ephraim Lessing. Sämtliche Schriften. Hg. Karl Lachmann. Dritte, auf's neue durchgesehene und vermehrte Auflage besorgt durch Franz Muncker. Leipzig 1904 (Nachdruck Berlin 1968). Bd. 8, S. 627 - im folg. LM mit Bandnr.); Mendelssohn als Jude braucht keine Grenze der Vernunft, da er keine Mysterien glauben mußte. Mendelssohn erklärte das zuerst öffentlich 1783 in Jerusalem-, »Es ist wahr: ich erkenne keine andere ewige Wahrheiten, als die der menschlichen Vernunft nicht nur begreiflich, sondern durch menschliche Kräfte dargethan und bewährt werden können. [...] Ich halte dieses vielmehr für einen wesentlichen Punkt der jüdischen Religion, und glaube, daß diese Lehre einen charakteristischen Unterschied zwischen ihr und der christlichen Religion ausmache. Um es mit einem Worte zu sagen: Ich glaube, das Judentum wisse von keiner geoffenbarten Religion, in dem Verstände, in welchem dieses von den Christen genommen wird.« (JubA (wie Anm. 57). Bd. 8, S. 156f.)

143 Während Gottsched dieses für Leibniz und Wolff - in verschiedener Weise - zentrale Theoriestück 1724 noch verteidigt hat, gab er es später zugunsten des influxus pbysicus auf. Vgl. Döring: Leibniz und die Leipziger Aufkläung (wie Anm. 122), S. 63, Anm. 229. Siehe auch S. 6 3 - 6 5 sowie S. 92-95. Stefan Lorenz sieht in diesem Standpunktwechsel Gottscheds und anderer Wolffianer m.E. ganz zu Recht ein Nachgeben gegenüber den Angriffen der Gegner nach 1724, inbesondere gegenüber dem beständigen Vorwurf des mit der prästabilierten Harmonie verbundenen Determinismus und Fatalismus. Vgl. Stefan Lorenz: De mundo optimo. Studien zu Leibniz' Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710-1791). Stuttgart 1997, S. 128-133, S. 161 ff. (Studia leibnitiana supplementa, 31). Schon Reinbeck hatte seinen »Übertritt« zu Wolff mit einer Absage an die Prästabilierte Harmonie verbunden. Dagegen gab Bilfinger, der gerade im Jahr der Vertreibung Wolffs aus Halle eine

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Aufgabe dieses zentralen Theoriestücks der Leibnizschen und Wolffschen Philosophie beugten sich diese Wolffianer — darunter der einflußreiche Gottsched - letztlich dem gegnerischen Vorwurf des Determinismus, wodurch sie ihre eigene philosophische Position natürlich außerordentlich schwächten. 144 Die Kritik an einem mit der prästabilierten Harmonie und dem Satz vom zureichenden Grunde verbundenen Fatalismus der Leibnizschen und auch Wolffschen Philosophie, durch den die Freiheit des Willens in Gefahr sei, sowie an der in dieser Hypothese enthaltenen mechanistischen Auffassung der Seele war von den Pietisten unter der geistigen Führung Joachim Langes schon seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts erhoben worden. 1 4 5

2.4. Die Entwicklung der deutschen Aufklärung aus der Perspektive ihrer öffentlichen Debatten Einer der gewöhnlichen Vorwürfe gegen die deutsche Aufklärung lautet, sie sei zu gemäßigt und zu sehr auf Religion und Theologie orientiert gewesen. Tatsächlich betreffen alle ihre frühen Debatten auf den ersten Blick »bloß« religiöse Themen. Allerdings verhält sich das in anderen Ländern Westeuropas keineswegs anders, wenn man sich die Schriften von John Milton, Pierre Bayle und John Locke näher ansieht, die alle ihre politischen Forderungen nach Toleranz und Religionsfreiheit im Rahmen von Religionsstreitigkeiten entwickelten. Ungeachtet dessen gelten diese Autoren unbestritten als entschiedene Verfechter der Idee der Toleranz und gar als politische Autoren. Nun hat vor einigen Jahren der Historiker Martin Gierl in seiner Arbeit über die Pietismuskontroverse und den Streiter Thomasius auf eine wichtige Veränderung des Charakters solcher scheinbar rein theologischen Kontrover-

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Stelle als Mitglied der Petersburger Akademie antrat, diesem Druck nicht nach, sondern blieb bei der Prästabilierten Harmonie. Von daher kann ich Dörings Kritik an der von Lorenz überzeugend vorgetragenen philosophischen Argumentation nicht nachvollziehen. - Auch Benno Erdmann zeigt diesen Verzicht als den typischen Kompromiß auf, der die merkwürdige Vereinbarkeit von Wolffianismus und Pietismus z. B. bei den beiden Lehrern Kants Friedrich Schultze und Martin Knutzen, aber selbst auch bei Alexander Baumgarten ermöglichte. Vgl. Benno Erdmann: Martin Knutzen (wie Anm. 52), S. 55-97. Zur Diskussion der Prästabilierten Harmonie bei Leibniz, Wolff und seinen Nachfolgern vgl. Mario Casula: Die Lehre von der prästabilierten Harmonie in ihrer Entwicklung von Leibniz bis A. G. Baumgarten. In: Studia leibnitiana supplementa, 14: Akten des II. Int. Leibniz-Kongresses 1972. Steiner: 1975, S. 397-414; M. Casula: A. G. Baumgarten entre G.W. Leibniz et Chr.Wolff. In: Archives de Philosophie 42 (1979), S. 547-574. »Es gehöret aber mit zu den schädlichen Dingen, wenn Mathematici sich nicht in ihren Schrancken halten, sondern die principia der Mechanic auf die Pneumaticam, oder die caussas liberas, appliciren.« (Joachim Lange: Historischer Vorbericht zu: Bescheidene und ausführliche Entdeckung der falschen und schädlichen Philosophie in dem Wolffianischen Systemate Metaphysico. Halle 1724, 5.) - Auch das sensualistische, oftmals schlechthin Locke zugesprochene Prinzip, »nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu« findet sich bei Lange als Argument gegen die rationalistische Erkenntnistheorie Wolffs. Vgl. ebd., S. 56 (7. Grundsatz, 4. Begründung). - Vgl. dazu: Bianco: Freiheit gegen Fatalismus (wie Anm. 63).

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sen um die Wende zum 18. Jahrhundert im protestantischen Raum des Alten Reiches aufmerksam gemacht:146 indem der Pietismus als eine Laienbewegung in Gegensatz zur Orthodoxie geriet, mußten sich die Verteidiger des Pietismus auf die deutsche Sprache ausrichten, um ihre Anhänger zu erreichen. Dadurch aber gerieten auch ihre Gegner in Zugzwang: wenn sie dasselbe Publikum erreichen wollten, mußten auch sie notgedrungen in deutscher Sprache argumentieren. Damit aber war unmittelbar eine enorme Ausweitung des teilnehmenden diskutierenden und lesenden Publikums verbunden, was selbstverständlich zu einer großen Steigerung der Auflagenhöhe der gedruckten Schriften wie auch - aufgrund der größeren Autorengruppe - zu einer Vervielfachung der verlegten Schriften, und damit zu einer außergewöhnlichen Konjunktur für die Buchdrucker und -händler führte.147 Obgleich also die Pietismuskontroverse als ein gelehrter Theologenstreit begann, veränderte sich der Charakter hinsichtlich der Sprache und damit auch des Umfangs der aktiven und passiven Teilnehmer, wodurch sich aber auch die Form der Auseinandersetzung neu gestaltete. In der nun öffentlich gewordenen Debatte zum Pietismus werden daher sogleich auch die neuen ungewohnten Formen der Debatte selber zum Gegenstand der Kritik und der Diskussion. Indem solchen Publikationen noch kein öffentlicher Raum selbstverständlich zur Verfügung stand, gerieten ebenso wie in den Niederlanden und in England zugleich religionspolitische Fragen in die weitere Diskussion; es wurde die Forderung nach Einhaltung der Toleranz gegenüber den christlichen Konfessionen, nach der protestantischen Freiheit, die Bibel nach dem eigenen Wissen und Gewissen lesen und interpretieren zu dürfen und nach dem jedem Gläubigen zugestandenen Recht, seine abweichenden Auffassungen der Gemeinde vorzutragen und zu rechtfertigen, erhoben und begründet. Als der Jurist Thomasius im Pietismusstreit die Verteidigung der Pietisten gegen die Vorwürfe der orthodoxen lutherischen Kirche übernahm, argumentierte er sowohl theologisch als auch rechtlich-politisch und reklamierte auf der Grundlage des Westfälischen Friedens die Freiheit der Religion und die protestantische Freiheit gegenüber der Orthodoxie. Auch bei der in diesem Band dargestellten öffentlichen Debatte zwischen Thomasius, Masius und Becmann stehen scheinbar »bloß« theologische Fragen im Vordergrund, und sowohl Masius als auch Becmann sind Theologen von Profession. Allerdings geht es um eine der typischen Fragen des in Europa von konfessionellen Kriegen geprägten 17. Jahrhunderts - um die theologisch-politische Frage, welche christliche Konfession die unumschränkteste Anerkennung der Souveränität des Fürsten am besten zu begründen vermag. Anlaß dieser theologischen Kontroverse war die politische Entscheidung des dänischen Königs, verfolgte Hugenotten aus Frankreich in sein Land aufzunehmen und damit eine andere Konfession in seinen Staaten zu tolerieren. Gegen diese politische Entscheidung richtete sich die die Kontroverse auslösende lateinische Schrift des lutherischen Theologen Masius. Indem dieser die Fähigkeit reformierter Untertanen zum Gehorsam gegenüber dem König aufgrund der politischen Erfahrungen in den Niederlanden und in England bezwei-

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Vgl. ebd., insbes. S. 3 5 4 - 3 6 6 . Vgl. ebd., S. 3 1 9 - 3 5 3 .

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feite, mußten sich die reformierten Theologen in anderen Staaten in ihrer Loyalität zu ihren Fürsten in Frage gestellt sehen. Entsprechend hatten sie eine solche politische Unterstellung zurückzuweisen, welcher Aufgabe sich der brandenburgische reformierte Theologe und Jurist Becmann in der traditionellen Form einer gelehrten lateinischen Widerlegung entledigte. Erst indem Thomasius diese gelehrte Kontroverse in seiner deutschsprachigen Zeitschrift ins Zentrum eines munteren Gesprächs gebildeter und interessierter Laien rückte, wobei er übrigens die rechtsphilosophische Begründung des Souveränitätsbegriffs von jeder theologischen Argumentation abkoppelte, veränderte er die Spielregeln der Diskussion grundlegend und öffnete diese zu einer öffentlichen Debatte. Die Publikation erfolgte in einer frei verkäuflichen Zeitschrift, Thomasius konnte also in Leipzig offensichtlich ein verlegerisches Interesse am freien Verkauf und ein kaufendes Publikum voraussetzen. Obwohl er in seinem fingierten Gespräch räsonierender Privatleute auch in der Sache Stellung bezog, wird die Auseinandersetzung vor allem durch die Formen, in denen sie geführt wird, zu einer exemplarischen und didaktisch perspektivierten Auseinandersetzung mit einer rückständigen Wissenschaftskultur. Freilich erweist sich der Freiraum öffentlicher Diskussion noch als eng begrenzt, denn der argumentativ und durch die Form der Diskussion in die Enge getriebene Theologe Masius wendet sich an seine Obrigkeit, um die Fortsetzung des öffentlichen Diskurses verbieten zu lassen. Doch stößt die Demonstration öffentlicher Macht auch sogleich an ihre Grenzen: Zunächst kann sich Thomasius bei seiner Forderung nach Toleranz auf das im Reich geltende Recht in der Folge des Westfälischen Friedens berufen. Als aber nach weiteren Protesten des dänischen Königs beim König von Sachsen endlich doch das Verbot der Fortsetzung der Debatte ausgesprochen wurde, wechselte Thomasius vom lutherischen Sachsen ins mehrkonfessionelle Brandenburg, um dort eine erfolgreiche Karriere an der neu gegründeten Hallischen Universität zu beginnen. Die in diesem Band umfangreichste Untersuchung der öffentlichen Debatte der Wertheimer Bibel, einer wolffianischen Übersetzung des Pentateuch, betrifft auf den ersten Blick ebenso »bloß« theologische Fragen, was vermutlich das Desinteresse und die Ignoranz gegenüber dieser immerhin über vier Jahre laufenden intensiven Debatte verursacht hat. Aber auch diese Debatte ist eng mit der Diskussion religionspolitischer Fragen verbunden, und sie bringt mehrere glänzende rechtlich-politische Traktate zur Begründung der Toleranz und der Religionsfreiheit hervor. Vor allem läßt diese den ganzen protestantischen Raum des Alten Reiches erfassende öffentliche Debatte zwischen Wolffianern und Pietisten den Prozeß der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die Eroberung des öffentlichen Raums gegenüber einer repräsentativen Öffentlichkeit, anschaulich deutlich werden. Diese Debatte ist von den Wertheimern bewußt als solche inszeniert worden und wurde von ihnen bis zu ihrer gewaltsamen Beendigung durch die Obrigkeiten des Alten Reiches (Verbot des Werkes in Sachsen, Preußen und dann im Reich sowie Verhaftung des Autors) und noch danach durch eine publizistische Strategie begleitet, die bewußt auf die Gewinnung des Publikums gerichtet war, wobei man sich vor allem auf die frei verkäuflichen gelehrten Zeitungen in Leipzig und Hamburg stützen konnte. Die publizistische Strategie war sowohl auf die öffentliche Darstellung theoretischer Argumente (im Sinne einer transzendentalen Publizität) als auch auf die öffentliche Berufung auf rechtliche und politische Institutionen

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(Westfälischer Frieden, Reichstag, Corpus evangelicorum, Reichskreise) ausgerichtet. Sie orientierte auf die Einhaltung der Regeln des Streitens, insbesondere des Elenchus, und richtete moralische Forderungen an die Teilnehmer des Streits (polemische Publizität). Dabei nutzte diese publizistische Strategie den Elenchus ausdrücklich sowohl zur Verteidigung der vertretenen Positionen als auch zur Verteidigung des öffentlichen Raumes und der Diskussion. Erst unter den durch die publizistische Strategie unter der Voraussetzung des Netzwerks der Aufklärer und eines entwickelten Buchmarktes hergestellten Bedingungen der Möglichkeit einer transzendentalen Öffentlichkeit wurde dann unter Absehung von der Person, allein auf der Basis von Argumenten über die Wahrheit gestritten. Die aktiven und passiven Teilnehmer an dieser Diskussion bildeten sich zum Publikum. Die inhaltlichen Spuren dieser öffentlichen Auseinandersetzung reichen bis in theoretische Diskussionen am Ende des 18. Jahrhunderts, was auf die überregionale und anhaltende Bedeutung dieser öffentlichen Debatte für die Philosophie, Theologie und Ästhetik, aber auch für die rechtlichpolitischen Auffassungen und die Forderung nach Toleranz und Zensurfreiheit verweist. Der in den intensiven Auseinandersetzungen der beiden Hauptparteien — der Wolffianer und der Pietisten — in den 1720er und 1730er Jahren erzeugte theoretische Problemdruck führte aber auch zum Entwurf neuer Konzeptionen für das Verhältnis von Vernunft und Glauben, die die theoretische Konstellation der deutschen Aufklärung noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bestimmen sollten. Dazu gehört (1) die neue, durch den Hallischen pietistischen Theologen Alexander Baumgarten begründete Ästhetik als einer Theorie der sinnlichen Erkenntnis, die auf einer erneuten Aufwertung der undeutlichen Idee beruhte. Wie oben dargestellt, hatte schon Leibniz in seiner frühen Auseinandersetzung mit Spinoza die undeutlichen Ideen gegenüber der cartesianischen Auffassung, wonach wir in der Philosophie keine anderen als klar und deutlich perzipierte Ideen annehmen dürften, entschieden aufgewertet. Leibniz ging es dabei um die Rettung der christlichen Mysterien, von denen wir keine klaren und deutlichen Ideen haben könnten, gegen Spinoza, der wegen der Unerkennbarkeit der Mysterien durch den Menschen forderte, sich jedes Urteils über sie zu enthalten, da wir sonst sprechen würden wie Papageien oder Automaten, also ohne Sinn und Verstand. Gerade an diese Aufwertung der undeutlichen Ideen zur Sicherung sinnvoller Rede über unerkennbare religiöse Ideen knüpfen beide Baumgarten-Brüder an.148 Wegen der Faszination ihrer vernünftigen Argumentation und unter dem Druck der allgemeinen Anerkennung für den Wolffianismus öffnen sich offenbar seit der Mitte der 1730er Jahre, also während der laufenden Debatte über die Wertheimer Bibel, auch die Hal-

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Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus/Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts. Üb. u. Hg. Heinz Paetzold. Meiner: Hamburg 1983, S. 9. Gleich im § 2 bestimmt Baumgarten die idea confusa (neben der idea obscurd), da sie durch den niederen Teil des Erkenntnisvermögens erworben werden, als sensitive Ideen, während die deutlichen Ideen durch den Verstand hervorgebracht würden. In den § § 7 - 9 wird dann die für die Begründung der Ästhetik als der Wissenschaft von der Erkenntnis durch die unteren Erkenntnisvermögen entscheidende Verbindung der sensitiven Ideen zum Gedicht und zur Poetik entwickelt. Siehe S. 11.

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lischen Pietisten der jüngeren Generation der wolffianischen Philosophie. Jedoch suchen sie den Gefahren einer unbegrenzten Vernunft für den Bestand der Mysterien und anderer der natürlichen Vernunft unbegreiflichen theologischen Lehren nach dem Vorbild von Leibniz durch eine Aufwertung der undeutlichen Ideen zu entgehen, die gemeinsam mit den dunklen Ideen als sinnliche Erkenntnis verstanden werden. Unter Berufung auf die Poesie des Alten Testaments bzw. auf die zum Gebet erforderliche Einbildungskraft, die nicht durch die Vernunft hervorgebracht werden könnten, unterstreichen sie die Bedeutung von poetischem Text, »verblümten Worten«, Gleichnissen, Tradition, Geschichte und sinnlicher Wahrnehmung.149 Die hervorgehobene Bedeutung des Gefühls für die Frömmigkeit war dabei ohnehin authentisches Erbteil des Pietismus. Aus dieser Perspektive kann man Alexander Baumgartens frühe Begründung der Ästhetik als einen erneuten Versuch ansehen, die christliche Religion in ihrer lutherischen Ausprägung gegen den — im Wolffianismus bis zu einem gewissen Grade erhobenen - unumschränkten Anspruch der Vernunft zu schützen, wobei die erste Urkunde dieser Entwickwohl nicht zufällig lung, die Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, gerade aus dem September 1735 stammt, als Joachim Lange von der Hallischen theologischen Fakultät der Wertheimer Bibel den offenen Krieg erklärte.150 Das Anliegen der Meditationes ist es, den Wahrheitsgehalt der Hl. Schrift, den mystischen oder figürlichen Sinn all der Stellen, die traditionell als Weissagungen von Jesus Christus gelten, sowie die Prophetien überhaupt, einer neuartig begründeten Erkenntnisform zuzuordnen, die unabhängig von der Vernunft ihre eigene Berechtigung und ihr eigenes, besonderes Erkenntnisvermögen zu entfalten vermag, ohne aber die Vernunft in ihrer Leistungsfähigkeit in Frage stellen zu wollen. In dieser Sichtweise ist es nur folgerichtig, daß Baumgarten in seiner frühen Schrift gerade die mit der Wertheimer Bibel problematisch gewordenen Themen behandelt: die Formen der figürlichen Rede,151 das Wunderbare und die Wunder,152 die Prophetie und die Weissagung,153 und nicht zuletzt auch die Berechtigung der rhetorischen Figur der Synekdoche, bei der das Individuum für die Art bzw. die Art für die Gattung genommen werden soll. 154 Alles dies avanciert damit zum Gegenstand einer Ästhetik als Theorie der sinnlichen Erkenntnis. 149

Schloemann arbeitet in seiner gründlichen Untersuchung vor allem S.J. Baumgartens Interesse für eine historische Textarbeit an der Hl. Schrift heraus. Vgl. Martin Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten. System und Geschichte in der Theologie des Übergangs zum Neuprotestantismus. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 1974, vor allem das III. Kap.; jedoch betont Schloemann auch die enge Beziehung des älteren Baumgarten zum Halleschen Dichterkreis (zu Meier, Pyra und S . G . Lange), also den Freunden seines jüngeren Bruders auch nach dessen Weggang nach Frankfurt. Vgl. ebd., S. 183-186.

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Vgl. in der Untersuchung der Debatte zur Wertheimer Bibel in diesem Band das Kap.: Die politische Vorbereitung des Philosophischen Religionsspötters im Verfahren des evangelischen Elenchus als Inszenierung der öffentlichen Gegenreaktion auf die Wertheimer Bibel. Siehe Alexander Baumgarten: Meditationes (wie Anm. 148), S. 57-65 (§§ LXX, LXXIX u. LXXXI). Ebd., S. 3 7 - 4 1 (§§ XLIII-LI). Ebd., S. 51 ff. (§§ LX-LXIV). Ebd., S . 6 7 ( § L X X X I V ) .

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Die moderne Sicht auf die Ästhetik als der Theorie des Schönen oder des Erhabenen oder als Theorie der Künste, wie sie sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts herausgebildet hat, verstellt den Blick auf den ursprünglichen Ort dieser Disziplin als einer der Logik gegenübergestellten Erkenntnistheorie des unteren Seelenvermögens, der Sinnlichkeit. 155 Die damit angestrebte Aufwertung der Sinneserkenntnis stand dabei durchaus auch im Widerspruch zur traditionellen Auffassung der christlichen Religion und Philosophie in orthodoxer wie pietistischer Ausprägung. 156 Sie stimmte in dieser Hinsicht sogar mit der leibniz-wolffianischen Philosophie überein, an deren Terminologie sie auch anknüpfte. 1 5 7 Jedoch war diese Orientierung der jüngeren Pietisten auf eine Erkenntnisquelle ausgerichtet, die, unabhängig von der Vernunft und doch in Übereinstimmung mit ihr, der Offenbarung eine solide Grundlage geben konnte, um sie nicht auf einen bloß willkürlichen Glauben an eine nur im wörtlichen Text der Hl. Schrift überkommene göttliche Botschaft stützen zu müssen. W ä h -

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Eine kompetente Darstellung der Baumgartenschen Ästhetik aus ihrer metaphysischen Grundlage, in hervorragender Kenntnis der leibnizschen und wolffianischen Voraussetzungen, bietet Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis (wie Anm. 63). - Vgl. dagegen die unklare Darstellung in den neueren literaturgeschichtlichen Arbeiten: Hans Rudolf Schweizer: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis. Eine Interpretation der Aesthetica A. G. Baumgartens mit teilweiser Wiedergabe des lateinischen Textes und deutscher Ubersetzung. Schwabe: Basel, Stuttgart 1973; Horst-Michael Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand. Zur philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung (Leibniz, WolfF, Gottsched, Bodmer und Breitinger, Baumgarten). Fink: München 1982 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, 63). Die Vertreter der neuen Wissenschaft der Ästhetik mußten sich denn auch für ihre Zuwendung zu den unteren Seelenkräften gegen »einige catonische Sittenlehrer« rechtfertigen, die beim Wort Sinnlichkeit »nichts weiter denken, als die Erbsünde, und dasienige, was die Schrift Fleisch nennt. Da nun das göttliche Gesetz die Creutzigung des Fleisches befiehlt, [...] so gefällt es diesen Herren, durch den Mischmasch ihrer Begriffe verleitet, die Ästhetick mit dem großen Banne zu belegen.« (Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Künste und Wissenschaften. Halle 1748. Teil 1, § 22.) Vgl. dazu Franke: Kunst als Erkenntnis (wie Anm. 63), S. 32. Angesichts der seit mehr als 200 Jahren allgemein herrschenden Vorurteile, wonach Poesie, Kunst und Gefühl erst in der Nachfolge der Schweizer, der Baumgartenschen und Meierschen Ästhetik, des Sturm und Drang etc. interessant geworden sind, existiert praktisch keinerlei Bewußtsein über Wolfis Ideen zur Kunst, zur Poesie und vor allem zum Theater. Immerhin bietet aber Christian Wolff in seiner Moralphilosophie und in seiner Politischen Philosophie eine gründlich argumentierende Rechtfertigung des Theaters, ja selbst der Komödie, als in Halle noch finsterste Sinnenfeindlichkeit herrschte. Vgl. Christian WolfF: »Deutsche Ethik«. In: WolfF. Ges. Werke. Abt. I, Bd. 4. (wie Anm. 55), § 168; sowie »Deutsche Politik«. In: Ebd. Bd. 5, § 328. Wenigstens den Zeitgenossen war das nicht unbekannt, nicht zuletzt, weil in Leipzig die große Theaterreform durch Gottsched und die Neuberin stattfand und weil es darüber hinaus die jungen Wolffianer in Leipzig waren, die Theaterstücke schrieben - u. a. Mylius und Lessing. Wenn solche Legitimation des Theaters bei Wolff und seinen Schülern heute oftmals gegenüber den Vertretern des Gefühls abgewertet wird, weil sie Kunst als bloßes Vehikel für den Transport vernünftiger Moral ansehen würden, so wird dabei vergessen, daß eben darin die Legitimationsfunktion dieses Arguments bestand. WolfF vermag recht wohl an anderer Stelle auch den Sinnesgenuß zu legitimieren. Andererseits ist eben die Poesie fiir Baumgarten, Meier, Pyra, S. G. Lange, die Schweizer und Klopstock zunächst nichts anderes als ein Vehikel, um Gottes Wort in einer neuen Dimension zu erschließen.

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rend der Schwerpunkt - nicht nur der theologischen - Beschäftigung mit der Hl. Schrift im Protestantismus bis dahin in einer fortgesetzten Interpretation und Untersuchung des Textes bestanden hatte, wandte man sich von diesem Zeitpunkt an dem poetischen Charakter der Bibel und insbesondere der hebräischen Poesie des Alten Testaments zu, ein Thema, das noch für Hamann und Herder, für die Romantik und die Klassiker der deutschen Literatur und Philosophie zentral bleiben wird und also einem originär christlichen, keineswegs aber einem unmittelbaren Interesse an den Juden und ihrer Kultur entsprang. 158 Die poetische Kraft als etwas die Rationalität Übersteigendes wird schlicht zum Refugium der göttlichen Offenbarung. Dieses Ergebnis wird faktisch auch durch die Untersuchungen von Carsten Zelle zu dem weniger bekannten pietistischen Hallischen Dichter Immanuel Jacob Pyra ( 1 7 1 5 - 1 7 4 4 ) bestätigt. 159 Pyra studierte von 1 7 3 7 bis 1 7 3 8 in Halle Theologie und war mit Samuel Gotthold Lange, dem Sohn Joachim Langes, eng befreundet. Er hörte schon bei Alexander Baumgarten Privatvorlesungen zur neuen Wissenschaft der Ästhetik. Daß er gerade um 1 7 3 7 an seiner Abhandlung über das Erhabene arbeitete und zugleich an einer Übersetzung des Pseudo-Longinus

Vom Hohen

ist sicher nicht zufällig. Zelle hält beide Unternehmungen

für die früheste in der deutschen Literatur und Ästhetik nachzuweisende Beschäftigung mit dem Begriff des Erhabenen in jenem neuen Sinn, wie er für die ästhetische Diskussion in den folgenden Jahrzehnten bis zu Kant zentral wurde, also abgekoppelt von der alten Rhetoriktradition. 160 Er kann aber dabei nicht verstehen, daß Pyra auf »den Nutzen einer

Bei Herder und Hamann sind Stellungnahmen zur hebräischen Poesie des Alten Testaments (bei Abneigung gegen rabbinische Literatur) und Kritik an aufgeklärter historischer Textkritik Legion, aber wie sehr dieses Muster sich am Ende des Jahrhunderts durchgesetzt hatte, zeigt sich in Goethes später Erinnerung an die Auseinandersetzung der Crusianer und Ernestianer in Leipzig während seiner Studienzeit. Erhabe sich damals zwar zur »klaren Partei« des Ernesti gehalten und ihre Grundsätze anzueignen gesucht, sich jedoch »zu ahnen erlaubt«, »daß dieser höchst löblichen, verständigen Auslegungsweise zuletzt der poetische Gehalt jener Schriften mit dem prophetischen verlorengehen müsse« (Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. Siegfried Seidel. 2 Bde. Insel: Leipzig 1977. Bd. 1, S. 299). - Anders als die Ahnung hat sich diese klare Wertung aber wohl erst später hergestellt. 159 Yg[ i j Py ra: Über das Erhabene. Hg. Carsten Zelle. Lang: Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1991 (Trouvaillen: Editionen zur Literatur- u. Kulturgeschichte, 10). - Meine im folgenden von Zelle abweichende Auffassung zur Bedeutung der Entdeckung des Begriffs des Erhabenen für die deutsche Geistesgeschichte des frühen 18.Jahrhunderts beruht jedoch auf der außerordentlich wichtigen Wieder-Entdeckung des oft unterschätzten Pyra durch Zelle. Mir geht es hier um den deutlich erkennbaren Zusammenhang von Pyras frühen Überlegungen zum Erhabenen im Umkreis des jüngeren Hallischen Pietismus mit der Debatte der Wertheimer Bibel. — Zu Pyra vgl. auch Ferdinand Josef Schneider: Das geistige Leben von Halle im Zeichen des Endkampfes zwischen Pietismus und Rationalismus. In: Sachsen und Anhalt 14 (1938), S. 139-166. iso Vgl. Zelle: Pyra (wie Anm. 159), S. 11. - Vgl. zu Kants Stellung in diesem Problemfeld einer Ästhetisierung der Religion den interessanten Aufsatz von Ernst Müller: Die verschleierte Isis< der Vernunft. Kants Ästhetik und die Depotenzierung der Religion. In: Dt. Ztschr. f. Philos. 47 (1999), S. 553— 571. Müllers Analyse konzentriert sich auf Kants Kritik der Urteilskraft, die er als nachträgliche Bearbeitung des von der KrV hinterlassenen Problems versteht, »daß der Naturbegriff zwar die Dinge 158

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>poetischen Theologie< verfiel«. Der Literaturhistoriker sieht daher allein den äußeren Druck als Ursache dafür an, die »Pressionen pietistischer Literaturfeindlichkeit«. Dadurch erkennt er zwar sicherlich richtig »das schlechte Gewissen«, das »den pietistisch auf Schule und Universität erzogenen und ausgebildeten Pyra immer wieder dazu zwang, die Dichtkunst in theologischer Hinsicht vor sich und den Instanzen seines Bildungsganges zu legitimieren«, auch gab es natürlich solche theologische Repression in Halle, 161 aber der eigentliche theologische Antrieb der Beschäftigung Pyras mit dem Begriff des Erhabenen, mit dem Wunderbaren und mit der Poesie gerät so aus dem Blick. Pyra erklärt ausdrücklich selbst, daß er zuerst nur wegen einer einzigen Stelle Interesse für Longins Abhandlung vom Erhabenen entwickelt hätte - nur wegen der Bewunderung dieses Heiden für das Erhabene der Worte Gottes »Fiat lux«. Allein wegen dieser Stelle habe er Longinus überhaupt erst gelesen.162 Es ist aber eben gerade diese Stelle des Longinus, die auch immer wieder in der öffentlichen Debatte der Wertheimer Bibel gegen deren Übersetzer angeführt wurde, weil dieser nämlich die »erhabenen Worte« des Alten Testaments durch eine bloß prosaische Beschreibung von Ereignissen ersetzt hatte, die der Absicht des selbständigen Wesens (also Gottes) gemäß gewesen seien: Die vielfältigen Berufungen der Kritiker auf den Heiden Longinus und seine Bewunderung für das erhabene »fiat lux« findet sich nicht nur bei den Pietisten, sondern auch schon in der frühen Kritik der vielgelesenen deutschen Acta eruditorum an der Wert-

in der Anschauung, nicht aber als Dinge an sich, der Freiheitsbegriff zwar die Dinge an sich, nicht aber in der Anschauung vorstellig machen kann«, weshalb »das Ubersinnliche [...] ein unzugängliches Feld für unser Erkenntnisvermögen« sei (S. 559). Müller zeigt auf, daß es Kant in seiner dritten Kritik um die Verortung des in der zeitgenössischen Gefühlsbegeisterung hervortretenden subjektiven Bedürfnisses nach einer anschaulichen Form des Ubersinnlichen ging, die die rationalen Voraussetzungen seiner Vernunftkritik jedoch nicht in Frage stellte. Der zentrale Begriff, der dieses Projekt tragen soll, sei Kants Begriff des Erhabenen, dessen Ambivalenz sich nach Müller bis in die Gegenwart erhalten habe: »Kants Begriff des Erhabenen ist so wirkungsvoll, daß der religiöse Ursprung der Figur in der nachfolgenden Philosophie kaum noch präsent ist. Systematisch ist jedoch die religionskritische Wende des Erhabenheitsbegriffs zugleich so tief in der transzendentalen Denkform verankert, daß in der nachfolgenden Philosophie das Erhabene immer dort wieder in Religion umzuschlagen droht, wo die Kantschen Grundlagen der reflektierenden Urteilskraft in Frage gestellt werden. Das gilt bis zur gegenwärtigen Renaissance des Erhabenen, die auf eine Erfahrung des >ganz Anderen< bzw. epiphaner Unmittelbarkeit zielt.« (S. 568.) 161

Zelle verweist darauf, daß Pyra im Herbst 1737 seine Informatoren-Stelle im Waisenhaus verlor und ermahnt wurde. Vgl. ebd., S. 18f. sowie die Zeittafel auf S. 113. Vgl. F.J.Schneider: Das geistige Leben von Halle (wie Anm. 159), S. 162f. - Aus dieser theologischen Repression gegenüber der neuen Strömung wird aber nur die Differenz zwischen der älteren und der jüngeren Generation der Pietisten in Halle deutlich. Während die jüngeren mit Alexander und Siegmund Jacob Baumgarten sowie Georg Friedrich Meier in der Poesie der Hl. Schrift und damit in der Poesie schlechthin die Möglichkeit einer Rettung des Wunderbaren und Erhabenen erkannten, vermochten die älteren darin nur eine Absage an die traditionelle Sinnenfeindlichkeit zu erkennen. Ungeachtet dessen gehörten beide Baumgartenbrüder seit der zweiten Hälfte der 30er Jahren zu den von Berlin aus protegierten jüngeren Dozenten der Hallischen Universität.

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Ebd., S. 19 sowie die entsprechende Anm. 142.

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heimer Bibel.163 Angesichts dessen wird klar, warum für Pyra und seine Hallischen Freunde gerade inmitten der noch andauernden öffentlichen Debatte der Wertheimer Bibel die Entdeckung der Poesie, des Wunderbaren und des Erhabenen für ein neues Verständnis der Hl. Schrift so bedeutsam werden konnte. Es ist in dieser Perspektive dann nicht mehr überraschend, daß gerade in den 1730er und 1740er Jahren »ästhetische Theorie, Poesie und Erlebnis in ein engeres Verhältnis traten, als sonst vielleicht üblich«. 164 Dasselbe gilt für die enorme und plötzliche Aufladung des doch längst bekannten Begriffs des Erhabenen in Anknüpfung an die Schrift von Longinus. Insofern diese Aufwertung der unteren Erkenntnisvermögen aber grundsätzlich in Übereinstimmung mit der wolffianischen Philosophie stehen sollte und scheinbar nur eine Modifikation ihrer Erkenntnistheorie bedeutete, schien von hier aus eine Vermittlung der streitenden Lager möglich. Vor allem die Grenzen der Vernunft schienen durch die ihr gegenübergestellte sinnliche Erkenntnis festgeschrieben werden zu können. Mit der Betonung der besonderen Erkenntnisleistungen der unteren Erkenntnisvermögen, der sinnlichen Erkenntnis, wurde aber natürlich zugleich auch der Empfindung des Schönen oder des Kunstwerks eine neue Bedeutung und zuallererst auch eine Rechtfertigung innerhalb der protestantischen Kirche gegeben. Wie widerspruchsvoll die pietistische Aufwertung der Sinnlichkeit in ihrer theologischen Intention dennoch war, ergibt sich bereits aus der nach wie vor problematischen Haltung zum Theater. 165 Aus genau dieser Problemlage von Ästhetik, Erkenntnistheorie und Theologie könnte sich auch ein theoretischer Zugang zu den Ursachen der Entstehung der deutschen Anakreontik (Pyra, S. G. Lange, Gleim) im Umkreis der Hallischen Universität ergeben, da diese Art einer »unschuldigen sinnenfreudigen Poesie« gerade die ästhetischen Überlegungen Baumgartens und Meiers unterstützte. Doch obgleich die gegenüber einer Theorie der rationalen Erkenntnis entwickelte Ästhetik als Theorie der sinnlichen Erkenntnis durchaus in Anknüpfung an Wolff, und zwar an

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In diesem Kontext ist auch die lange, in zwei Fortsetzungen erscheinende und übrigens prowolffianische Rezension von Heinekens Longinus-Übersetzung im Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten zu lesen. Siehe dazu die Untersuchung zur Debatte der Wertheimer Bibel in diesem Band. Zelle: Pyra (wie Anm. 159), S. 18. Zur allgemeinen Kunstfeindlichkeit des Halleschen Pietismus vgl. Wolfgang Martens: Pietismus und Rhetorik. Zu Hieronymus Freyers Oratoria. In: Ders.: Literatur und Frömmigkeit. Tübingen 1989, S. 7 6 - 1 8 1 ; ders.: Officina Diaboli. Das Theater im Visier des hallischen Pietismus. In: Zentren der Aufklärung I: Halle (wie Anm. 63), S. 183-208. Allerdings bezieht sich Martens auf den älteren Pietismus. - Zelle veröffentlicht einen Brief Samuel Gotthold Langes an Bodmer vom 26. 5.1745, in dem er die Unvereinbarkeit der Aufforderung, für das Theater zu schreiben, mit seiner pietistischen Position und insbesondere auch mit seiner Stellung als Prediger betont. In: Zelle: Pyra (wie Anm. 159), S. 34 (Fn. 135). - Aber noch Karl Philipp Moritz, dessen frühe ästhetische Überlegungen in der Literatur oftmals schon als eine Uberwindung Mendelssohns und Sulzers und als direkte Vorbereitung von Goethes Ästhetik angesehen werden, sollte hinsichtlich einer Feststellung seines ästhetischen Programms einmal an seinen Rezensionen der zeitgenössischen Theaterauffiihrungen angesehen werden, was die Urteile einigermaßen korrigieren würde. Vgl. Ursula Goldenbaum: Ästhetische Konsequenzen des Moritzschen »Spinozismus«. In: Tagungsband der Moritz-Konferenz. Hg. Anneliese Klingenberg u. Martin Fontius. Niemeyer: Tübingen 1995, S. 1 1 1 - 1 2 2 , insbes. S. 115f.

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seine Psychologie, erarbeitet wurde und mit den leibniz-wolffschen Begriffen arbeitete, waren weder Alexander Baumgarten noch Georg Friedrich Meier Wolffianer im eigentlichen Sinne, was die entschiedene Distanzierung Christian Wolffs von solchen Schülern verständlich macht. 166 In ihrer Philosophie waren vielmehr Wolffianismus und Pietismus einen merkwürdigen Kompromiß eingegangen, der zwar den kritischen Argumenten der aus der Tradition Rüdigers kommenden Philosophen wie auch denen der »alten« Pietisten und Orthodoxen den Wind aus den Segeln nahm und dem Wolffianismus durch diese Zusprechung von Unbedenklichkeit neuen Zulauf brachte — aber um den Preis einer außerordentlichen Schwächung der inneren Kohärenz der Leibnizschen wie Wölfischen Philosophie. Während an der protestantischen Schulmetaphysik im wesentlichen festgehalten wurde, rezipierte man aus der wolffianischen Philosophie neben seiner Logik vor allem seine Psychologie, d. i. Erkenntnistheorie, die allerdings stark modifiziert wurde. Dies gilt vor allem für die schärfere Trennung zwischen sinnlicher und rationaler Erkenntnis (bzw. von klaren und undeutlichen sowie klaren und deutlichen Ideen oder unterem und oberem Seelen vermögen). Aber auch die Auffassungen von der Freiheit des Willens sowie vom Verhältnis von Körper und Seele (physicus influxus) stehen der pietistischen und rüdigerianischen Tradition viel näher als der Wölfischen oder Leibnizschen Philosophie. Es ist sicher nicht zufällig, daß Kant in seinen Vorlesungen gerade an diese pietistisch überformten, »unechten« Wolffianer Baumgarten und Meier anknüpfen wird, dessen vordringliche Aufgabe erneut das Auffinden der Grenzen der Vernunft sein wird, die er der Vernunft aber nicht von außen setzen, weder durch ein externes Verbot (Leibniz) noch durch eine andere Erkenntnisart (Baumgarten), sondern aus ihr selbst zu entwickeln suchen wird. 167 Aber außer der Metaphysik und Erkenntnistheorie, in deren Rahmen die Ästhetik in Halle entstanden ist, wird (2) auch die Hallische Theologie selbst in der Person von Siegmund Jacob Baumgarten von den Auseinandersetzungen mit den Wolffianern entscheidend geprägt. Er konnte als 1735 frisch berufener Theologieprofessor die pietistischen Anstrengungen zur Niederschlagung der öffentlichen Debatte der Wertheimer Bibel gewissermaßen 166

Vgl. Oelrich: Tagebuch einer gelehrten Reise 1750 (wie A n m . 69), S. 6 2 f . - Von Baumgartens neuer Wissenschaft bleibt letztlich nur der N a m e und - durch Vermittlung von Kant - einige aus dem Programm dieser gescheiterten neuen Wissenschaft kommende einzelne Ideen.

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Nach Hinske hielt Kant seine Vorlesungen jahrzehntelang auf der Grundlage von Meiers Auszug aus der Vernunftlehre. Vgl. Norbert Hinske: Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik. D i e philosophische Bedeutung des Kantschen Logikcorpus. In: Aufklärung 7 (1992), H . 1: Kant und die Aufklärung (wie A n m . 59), S. 5 7 - 7 4 , hier S. 61. - Schepers schlägt den Bogen allerdings weiter, indem er zutreffend auf die ganze vorausliegende Diskussion verweist und feststellt: »Aus der Preisfrage der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1763 muß man den Nachhall der lebhaften Diskussion heraushören, die seit Beginn des 18. Jhs., vor allem an den mitteldeutschen Hochschulen, u m das Problem der mathematischen Methode geführt worden ist. Diese Diskussion hat sich niedergeschlagen in einer Fülle von zumeist vergessenen und schwer auffindbaren akademischen Abhandlungen, deren Daten bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen. [...] Eine historische Würdigung der Kantschen Preisschrift, und zugleich damit einer für die Motive seiner kritischen Fragestellung entscheidenden Phase seines Denkens, wird ansetzen müssen bei den Anfängen dieser Situation.« (Schepers: Rüdigers Methodologie (wie Anm. 52), S. 9.)

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in der Höhle des Löwen, an der Hallischen theologischen Fakultät, in allen ihren Dimensionen aus nächster Nähe erleben, sowohl in ihrem theoretischen Verlauf als auch als politisch geführten Kampf um die Macht und den Einfluß am preußischen Hof. Als Joachim Lange sich im September 1735 nach ausreichender Sondierung hinsichtlich der Stimmungslage in Berlin über den ganzen Sommer endlich entschließt, den Kampf gegen die Wertheimer Bibel und dadurch zugleich für ein endgültiges Verbot der Wolffianischen Philosophie aufzunehmen, betreibt er dieses Vorhaben sowohl durch öffentliche Schriften wie auch durch offizielle Denunziation im Namen der Hallischen theologischen Fakultät am Berliner Hof, wobei er sich jederzeit auf seine dortigen Kollegen, darunter auch auf Siegmund Jacob Baumgarten, stützen kann und wird. 168 Im September 1735 erscheint Langes hochpolemische und denunziatorische Schrift Der philosophische Religionsspötter, die den Auftakt zu der nun einsetzenden Widerlegungsflut wie auch zur obrigkeitlichen Verfolgung des Wertheimers darstellt. Im November desselben Jahres erscheint aber auch - pflichtgemäß im Rahmen des Elenchus - eine Dissertatio theologica de dictis Scripturae S. probantibus von dem jungen Hallischen Theologieprofessor Baumgarten, die sich gegen die Wertheimer Bibel und das darin geschehene Verschwinden der Weissagungen von Jesus Christus richtet.169 Dennoch zeigt sich in dieser von Amts wegen öffentlichen Schrift, wie berechtigt Langes Mißtrauen gegenüber Baumgartens frühen wolffianischen Neigungen trotz der Unterschrift Baumgartens unter die Anzeige der Fakultät gegen den Wertheimer beim Berliner Hof war. Wenngleich er nämlich entschiedene Kritik am Verschwinden der Weissagungen von Jesus Christus in der Ubersetzung des Wertheimers übt, da diese durch Jesus Christus und die Apostel als solche bestätigt worden seien, erweist er der mit der Übersetzung erbrachten wissenschaftlichen Leistung Schmidts in dieser öffentlichen Schrift ausdrücklich »einigen Respekt«.170 Es ist daher um so interessanter, daß sich Baumgarten geraume Zeit später, lange nach Abschluß der öffentlichen Debatte und nach dem Tod der Hauptkontrahenten (1744 Joachim Lange und 1749 Johann Lorenz Schmidt), in den von ihm herausgegebenen Nachrichten von einer Hallischen Bibliothek noch einmal, und zwar in auffallender Kritik an der von Halle aus initiierten obrigkeitlichen Verfolgung Schmidts, zur ganzen Angelegenheit

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Baumgartens Unterschrift findet sich als Gegenzeichnung auf dem Rundschreiben, mit dem Reinbecks Distanzierung von der Wertheimer Bibel bekannt gemacht wurde und auch unter der Anzeige der Halleschen Fakultät vom Februar 1737, die den preußischen König zur Anzeige des Werkes in Regensburg veranlassen sollte. Vgl. die Untersuchung zur Debatte der Wertheimer Bibel. Siegmund Jacob Baumgarten: Dissertatio theologica de dictis Scripturae S. probantibus. Halle 1735. Sinnhold verbreitet diese Tatsache in seiner Historischen Nachricht: »Sonst soll der Herr Prof. noch einigen Werth an dieser neuen Übersetzung finden.« (Historische Nachricht von der bekamen und verruffenen sogenannten wertheimischen Bibel, und was es mit derselben vor eine eigentliche Bewandnis habe, bey Gelegenheit des von Sr. Kaiserlichen Majestät dieserwegen emanirten allergerechtesten Edicts, so auf gnädigsten Befehl Sr. Churfürstlichen Gnaden zu Mayntz im Mertz-Monath 1 7 3 7 zu Erfurt öffentlich angeschlagen worde, [...] denenjenigen, so hiervon noch keine eigentliche Erkäntniß bisher gehabt, zum Besten aufgesetzt von M. Johann Nicolaus Sinnhold. Erfurt 1737 ff., I.T., S. 38.)

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äußert, und zwar bei Gelegenheit seiner Besprechung der Wertheimer Bibel und der Samlung derienigen Schriften des Wertheimers. In klarer Abgrenzung von Lange und entgegen den nach wie vor gültigen obrigkeitlichen Verboten urteilt er dort öffentlich über die Verteidigungsschriften des Wertheimers: »Aus Vergleichung dieser Schriften und Gegenschriften erhellet augenscheinlich, daß man dem Verfasser in einigen Stücken zu viel gethan habe, sonderlich durch Beschuldigung seiner Arbeit einer Religionsspötterey. Er redet mit zu vieler Ehrfurcht und Achtung von der Bibel, und schrenket seine Auslegung blos allein auf den, nach Grotii und anderer Vorurtheilen, bestirnten Wortverstand ein, als daß er in diesen Verdacht fallen solte. Seine Absicht kan daher besser gewesen seyn, als seine Schrift wirklich geraten.« 171

Indem er dem Wertheimer aber eine redliche Absicht einräumt, spricht sich Baumgarten als das neue einflußreiche und schulbildende Haupt der Hallischen Theologie nachträglich eindeutig gegen die obrigkeitliche Verfolgung abweichender Meinungen aus und billigt den Argumenten Schmidts eine sachliche, wenngleich kritische Diskussion zu, die dann in Halle unter seiner Leitung auch in umfassender Weise erfolgte. Die weitere Entwicklung der Hallischen Theologie zeigt jedenfalls, daß die theoretischen Argumente des Wertheimers dort seit der öffentlichen Debatte außerordentlich ernst genommen wurden und von dieser Zeit an nicht nur Baumgarten beschäftigen, sondern unausgesprochen die ganze neue Richtung der Hallischen Theologie prägen werden. Wenngleich Baumgarten bei seiner allmählichen Umwandlung der Theologischen Fakultät Halle aus dem Hort intoleranter Polemik in das Zentrum neologischer Aufklärungstheologie im deutschsprachigen Raum »jeden direkten Widerspruch zur orthodoxen Lehrtradition vermeidet«,172 gingen aus seiner Schule bekanntlich viele bedeutende Theologen und Philosophen der nächsten Generation hervor, die bereits in die Aufklärungstheologie und die Vorgeschichte des deutschen Idealismus gehören: zuallererst natürlich der schon genannte jüngere Bruder Alexander Baumgarten sowie dessen Mitstreiter Georg Friedrich Meier, weiterhin der wichtigste Vertreter der Hallischen Neologie Johann Salomon Semler, der theologische Mitautor der Nicolaischen Allgemeinen deutschen Bibliothek Friedrich Germaus Lüdke, der aus dem Lessingschen Fragmentenstreit bekannte Gottfried Leß, der wolffianische Theologe und Philosoph Johann August Eberhard173 und nicht zuletzt auch der früh verstorbene Thomas Abbt, Mitautor der Berliner Literaturbriefe. Man kann davon ausgehen, daß Siegmund Jacob Baumgarten seine in der Nachricht von einer Hallischen Bibliothek zuerst veröffentlichte veränderte Auffassung über den Wertheimer vor einer solchen öffentlichen Stellungnahme erst recht in privaten oder halböffentlichen Kreisen wie einem Semi-

[Siegmund Jacob Baumgarten:] Nachricht von einer Hallischen Bibliothek. Bd. 8 (1751), S. 1 - 1 0 (Die göttlichen Schriften) sowie S. 1 0 - 1 8 (Samlung derienigen Schriften), hier S. 17f. 172 Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten (wie Anm. 149), S. 37. 173 ygl e bd„ S. 21, Fußnote 34. - Schloemann beschreibt sehr differenziert die vorsichtige Balance Baumgartens zwischen Vernunft und Offenbarung, die seine Einordnung für die nachfolgenden Generationen so schwierig machte, ihn aber zu einer idealen, vermittlungsfähigen Übergangsfigur werden ließ. 171

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Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1 6 9 7 - 1 7 9 6

nar zum Ausdruck gebracht hat, was die seriöse Diskussion der Wertheimer Argumente für die Theologie ermöglichte. Schließlich kam es in der Folge der öffentlichen Debatte der Wertheimer Bibel zu einer dritten (3) theoretischen Innovation in der deutschen Aufklärung. Der ursprünglich eher der lutherischen Orthodoxie zuzurechnende berühmte Hamburger Professor Hermann Samuel Reimarus kam von den in der öffentlichen Debatte um die Wertheimer Bibel aufgeworfenen Fragen und Zweifeln nicht mehr los. Unter ihrem Eindruck entwickelte er sich seit 1736 sogar zum geheimen Deisten. Allerdings veröffentlichte er seine Apologie oder Schutzschrifi für die vernünftigen Verehrer Gottes bekanntermaßen nicht, sondern übergab das Manuskript der Hamburger Stadtbibliothek zur Verwahrung bis in aufgeklärtere Zeiten. 174 Erst Lessing brachte 1778 seine Auffassungen durch den Abdruck einiger Fragmente in die deutsche Öffentlichkeit und löste damit erneut eine öffentliche Debatte über das Verhältnis von Vernunft- und Offenbarungswahrheiten im deutschsprachigen Raum aus, den bekannten Fragmentenstreit,175 Die ernsthafte und anhaltende Auseinandersetzung von Reimarus mit den Argumenten des Wertheimers genau seit der Zeit der öffentlichen Debatte zur Wertheimer Bibel, in deren Folge Reimarus weit über die Schmidtschen Intentionen hinausging und zum Deisten wurde, ist von Peter Stemmer überzeugend nachgezeichnet worden. 176 Damit war ein dritter meinungsbildender Gelehrter im protestantischen Raum im Ergebnis dieser öffentlichen Debatte von der Aufrichtigkeit des Wertheimers überzeugt und darüber hinaus seinen Argumenten gewonnen worden, wenngleich dieser Sinneswandel erst spät zu einer Wirkung in der öffentlichen Diskussion kam. Die Entwicklung, die in Alexander Baumgartens Ästhetik als scheinbare Vereinigung des Wolffianismus mit dem Pietismus und in einer vorsichtigen Neologie des älteren Baumgarten ihren Anfang nahm, blieb trotz einzelner einflußreicher Interventionen - vor allem durch Lessing, durch ihn vermittelt auch durch Reimarus und schließlich durch Mendelssohn — bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in der deutschen Aufklärung vorherrschend, wobei neben einer in Grenzen autonomen Vernunft die Kraft des Glaubens betont wurde. Nach dem Entsetzen über die möglichen Konsequenzen einer grenzenlosen Vernunft, wie sie in der Debatte der Wertheimer Bibel deutlich zutage getreten war, schien diese theoretische Option einer nur in Grenzen autonomen Vernunft und eines jenseits der Vernunft begründeten Glaubens ein Mittelweg zu sein, um einerseits der Vernunft in der Naturwissenschaft ein hinreichend freies Feld ohne Bevormundung geben, sie aber andererseits im Die erste vollständige Ausgabe wurde von Gerhard Alexander herausgegeben und erschien erst 1 9 7 2 in zwei Bänden in Frankfurt/M. 175 Yg| dazu (J¡e ausgezeichnete Untersuchung von W. Kröger: Das Publikum als Richter. Lessing und die >kleineren Respondenten< im Fragmentenstreit. Nendeln 1979 (Wolfenbütteler Forschungen, 5). Kröger weist nach, daß es sich beim sogenannten Hauptgegner Lessings im Fragmentenstreit, dem Pastor Goeze in Hamburg, keineswegs um den Wunschpartner Lessings gehandelt hatte, der den Streit eigentlich in Richtung der aufgeklärten Neologen um Semler provozieren wollte. Diese schickten aber die >kleineren Respondenten< vor und hielten sich bedeckt, während Goeze, selbst Schüler von Siegmund Jacob Baumgarten in Halle, den Fehdehandschuh aufgriff. 176 Ygj Stemmer: Weissagung und Kritik (wie Anm. 58), insbes. S. 1 2 4 - 1 4 6 .

174

2. Religion als Hauptpunkt der Aufklärung (Kant)

71

Sinne einer Rettung der Mysterien und der Offenbarung sowie des freien Willens begrenzen zu können. Es ist klar, daß seitdem die Ästhetik und die Poesie eine entscheidende Funktion bei der Neubestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Glauben zu übernehmen hatten, wie dies auch an dem wachsenden Bedeutungszuwachs der Ästhetik in der deutschen Philosophie, Literatur und Kunst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ausklang des Deutschen Idealismus anschaulich klar wird. Schon die am Ende der öffentlichen Debatte der Wertheimer Bibel aufbrechende neue Debatte über das Wesen der Poesie zwischen dem Wolffianer Gottsched und den Schweizer Aufklärern Bodmer und Breitinger knüpfte direkt an die Position Alexander Baumgartens über die Bedeutung der Poesie als einer sinnlichen und nicht der Vernunft unterworfenen Erkenntnis an, wobei diese beiden reformierten Autoren sich des Zusammenhangs ihrer Option mit der Debatte der Wertheimer Bibel erklärtermaßen bewußt sind.177 Anders als die deutschen Autoren ist es ihnen - außerhalb des Reiches und damit des Verbots - auch erlaubt, den Wertheimer zu zitieren. Aus der neuartigen Poesiebegeisterung entsteht im pietistischen Halle im Umkreis der Baumgarten-Brüder auch die frühe Anakreontik,178 die ihre Berechtigung gegenüber der traditionellen Sinnenfeindlichkeit des Pietismus aus der Aufwertung der sinnlichen Erkenntnis als Instrument zu einer Begrenzung der Vernunft bezieht. Sie hat sich erledigt mit dem Auftritt des poetischen und religiösen Genies Klopstock, der bekanntlich sowohl in Halle als auch in Zürich als Einlösung des mit der Begründung der Ästhetik verbundenen philosophischen Programms einer Begrenzung der Vernunft

177

Bodmer und Breitinger veröffentlichten 1736 zuerst den Briefivechsel von der Natur des Geschmackes. (ND Metzler: Stuttgart 1967). 1740 erschienen die Critischen Abhandlungen

poetischen von dem

Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen, die Critischen Abhandlungen von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse sowie die Abhandlung zum

Charakter der teutschen Gedichte. 178 p y r a s t a n d _ ebenso wie Meier und der gemeinsame Freund Samuel Lange, dem Sohn von Joachim Lange, der Pfarrer in Laublingen war - seit Anfang der 1740er Jahre in einem Briefwechsel mit Bodmer und Breitinger. Vgl. Zelle: Pyra (wie Anm. 159), S. 8 9 - 1 1 4 . - Vgl. Theodor Verweyen: Halle, die Hochburg der Anakreontik. Uber das Konfliktpotential der anakreontischen Poesie als Kunst des sinnlichen Erkenntnistheokratischen Begründung der absoluten Fürstenmacht< kann also für Dänemark keine Rede sein.« Kersten Krüger: Absolutismus in Dänemark - ein Modell für BegrifFsbildung und Typologie. In: Ernst Hinrichs (Hg.): Absolutismus. Frankfurt/M. 1986, S.76.

130

Händel mit Hector Gottfried Masius

explizit als »theologische Frage« 42 qualifizierten Gegenstand des Streits auch seinerseits theologisch zu verhandeln. Thomasius' gerade nicht-theologische Ausführungen hielt Becmann als Antwort auf die Zumutungen des Kopenhagener Hofpredigers offenbar für unzureichend. Daher ist diese in der Chronologie der gesamten Kontroverse zweite Diskussion zumindest aus der Perspektive von Masius die wichtigere, sie hat er mit seinem principum

Interesse

provozieren wollen, und sie zu fuhren, ist er auch bereit. So konstatiert Masius

geradezu aufatmend in seinem Vorbericht zu seiner ersten Reaktion auf Becmann: »Nach Verfliessung drittehalb Jahr hat sich endlich ein Reformirter gefunden, der des D.Masii >Interesse Principum< hauptsächlich angreiffen, und seiner eigenen Lehrer harte Reden und gefährliche Hypothesen von der Weltlichen Obrigkeit verthädigen wollen.« 4 3 Die zuvor erschienenen Einlassungen von Christian Thomasius waren für Masius wohl in erster Linie nur Unverschämtheiten eines gänzlich Unberufenen, dem letztlich - wie noch zu zeigen sein wird — mit bloßen Argumenten nicht beizukommen war. Schon Anzahl und Umfang der in die Debatte eingebrachten Streitschriften belegen die Bedeutung, die Masius der Auseinandersetzung mit Becmann beigemessen hat: 1 6 9 0 - also in der Tat erst drei Jahre nach Erscheinen des Interesse

principum

- hatte Johann Christoph Becmann unter dem fingierten

Namen Hubertus Mosanus einen Bericht von der Reformirten Lehre von der weltlichen keit

erscheinen lassen. Kaum war Becmanns Bericht

mit der bereits erwähnten Schrift Das Treue Lutherthumb,

entgegengesetzet

der Schule Cal-

vini, woraufhin Becmann geradezu umgehend mit einem Fernern Bericht von der ten Lehre

von der Weltlichen

einer Unverzögerten 42

43

44

45

46

Obrigkeit45

Genemle=Wiederlegung

Obrig-

veröffentlicht, antwortete Masius

Reformir-

replizierte. Masius wartete seinerseits sogleich mit

des Fernern Berichts46 auf und schickte - weil

[Héctor Gottfried Masius:] Unverzögerte Generale =Wiederlegung Des Fernern Berichts, unter dem Nahmen Huberti Mosani gegen Masii Treues Lutherthumb herausgegeben, Als ein Prodromus der Specialen Wiederlegung, bestehend in dreyen Theilen, Als I. Eine Beantwortung der nichtigen Exceptionen des Mosani. II. Eine Rettung des theuren Lutheri und anderer Lutherischer Lehrer. III. Eine fernere Uberweisung dessen, was die Lutheraner und in Specie Masius in dieser Controversie behauptet, unter dem Titel: Pietas Calviniana erga Summum Magistratum. entworffen Von M.D.E.P.P. Copenhagen 1691, [S. 1]. [Héctor Gottfried Masius:] Das Treue Lutherthumb, entgegengesetzet der Schule Calvini, Womit des Vermummeten Huberti Mosani Bericht von der Weltlichen Obrigkeit, so er gegen Masii Interesse principum neulich herausgegeben widerleget wird. Sampt einem Catalogo Errorum Becmanniorum, und eines Reformirten Schreiben an einen guten Freund. Entworffen von M.D.E.P.P. Kopenhagen 1690, S. 1. [Johann Christoph Becmann:] Huberti Mosani Bericht von der Reformirten Lehre von der weltlichen Obrigkeit, sampt einer Ablehnung der in Hn. Hect. Godf. Masii Buche von dem Interesse der Fürsten bey der Evangelischen Religion Ihnen deßfalls aufgebürdeten Nachreden. Frankfurt an der Oder 1690. [Johann Christoph Becmann:] Fernerer Bericht von der Reformirten Lehre von der Wehl. Obrigkeit. Vorgestellet In einer kurtzen Widerlegung des Buches Welches Héctor Gottfried Masius Unterm Titul Des Treuen Lutherthums Wider die Evangelisch-Reformirte außgehen lassen: Worinnen klärlich dargethan, daß die Evangelisch-Reformirte in der schuldigen Treue und Gehorsam gegen die Hohe Obrigkeit keinem und in specie den Evangelisch-Lutherischen nichts nachgeben. Hierbey seynd zu finden A. Montani und B. Valensis Schreiben von dieser Materia. Franckfurt an der Oder o.J. [1691]. Masius: Unverzögerte Generale =Wiederlegung (wie Anm. 42).

1. Masius: Konfessionelles Engagement und politisches Kalkül

131

»das Engagement bey dem publico so viel grösser geworden« und »unsere Wiedersacher gewohnet sind, unser Stillschweigen, als ein Kenzeichen einer bösen Sache außzugeben« 47 wenig später eine sehr umfangreiche Speciale Berichts

Wiederlegung

des

Becmannischen

Fernern

hinterher. Weil Masius den Leser in der Vorrede versichert, »nach diesem ihn [d. i.

sein Gegner - F. G.] der gesunden Vernunfft und Gewissen, sampt dem Urtheil rechtgesinneter und unpassionirter Leute überlassen« 48 zu wollen, ist es wahrscheinlich, daß das

ebenfalls 1691 erschienene Erinnerungs-Schreiben an Hubertum Mosanum Wie er die Sache angreiffen müße, wo er Doct. Masii Treues Lutherthumb beantworten wolle49 bereits vor der Generalen

Wiederlegung

publiziert wurde. Becmann reagierte auf diese zuletzt genannte

Schrift mit einer Abfertigung50,

die er deswegen vergleichsweise knapp halten wollte, weil

»in den gantzen 17. Bogen [...] fast keine Realia, sondern nur continuirliche Injuriosa« 51 zu finden seien. Von der angekündigten Specialen

Wiederlegung

erwartete Becmann keine neuen

oder auch nur der Reaktion würdigen Argumente, sollte Masius aber »weiter schimpfen und schmähen«, so werde Becmann nach eigenem Bekunden »damit begnügt sein, was ich einmahl von einem [...] Officirer gehöret, wie er einen jungen unerfahrenen Menschen einen Hauffen Scheltworte außschreyen hörete; O sagte Er, dieser hat einen Hauffen ... im Leibe, wann die heraus seyen, wird er schon aufhören.« 5 2 Trotz dieser Ankündigung, die Kontroverse nicht weiter fortsetzen zu wollen, erschienen mit der Antwort

Eines zu Franckfurt

an

der Oder Studierenden An seinen Freund in Holstein53 und der Besseren Nachricht von des Berühmten Frantzösischen Theologi Herrn Jurieu Meinung54 zwei Texte, die nicht nur für Becmann Partei ergreifen, sondern sehr wahrscheinlich von ihm selbst geschrieben wurden. 5 5

47

48 49

50

51 52 53

54

55

[Héctor Gottfried Masius:] Das gründlich verthädigte treue Lutherthunb, entgegen gesetzet der Schule Calvini, In einer Specialen Wiederlegung des Becmannischen Fernern Berichts, von der Reformirten Lehre, von der Weltlichen Obrigkeit, Der Wahrheit zu Steuer und zur Rettung des Seel. Lutheri und anderer Lutherischer Lehrer, Sampt der Theologischen Facultät in Copenhagen Gewissenhafften Judicis von dieser Sache. Zum Druck befordert von M. D. E. P. P. Copenhagen 1691, [S. 2 f.]. Ebd., [S.4], [Héctor Gottfried Masius:] Erinnerungs-Schreiben an Hubertum Mosanum Wie er die Sache angreiffen müße, wo er Doct. Masii Treues Lutherthumb beantworten wolle. Kopenhagen 1691. [Johann Christoph Becmann:] Huberti Mosani Abfertigung Der unverzögerten Generalen Wiederlegung So Héctor Gottfried Masius Dessen Fernern Bericht Von der Reformirten Lehre Von der Hohen Obrigkeit entgegen gesetzet. Franckfurt an der Oder 1691. Ebd., ES. 1]. Ebd., S. 68. Antwort Eines zu Franckfurt an der Oder Studierenden An seinen Freund in Holstein, Auff dessen Schreiben Die von Hn D. Masio den Reformirten movirten Controversie betreffend. Ingleichen Eine kurtze Antwort Auf D. Masii Vernunfft- und Gewissens-Fragen. O. O. 1691. Bessere Nachricht von des Berühmten Frantzösischen Theologi Herrn Jurieu Meinung, Die Lehre der Reformirten von der Hohen Obrigkeit betreffend, Zu Ablehnung Einer kurtzen Schrifft, Welche vor wenig Tagen unter dem Namen Avis Sincere, wieder Denselben und Hub. Mosanum, in Faveur des Herrn Masii, im Deutsch-Französischen hervorgekommen, durch einen Freund d. Hn. Jurieu. Franckfurt an der Oder 1692. Vor allem die Kurtze Antwort aufD. Masii Vernunfft- und Gewissens-Fragen läßt sich ziemlich eindeutig als eine von Becmann selbst lancierte Reaktion auf die Speciale Wiederlegung identifizieren.

132

Händel mit Hector Gottfried Masius

Schließlich aber endete der Streit - wie vorauszusehen war - ohne eine abschließende Klärung der Sachfrage und vermutlich unter dem Druck einer verbreiteten, politisch motivierten Mißbilligung. Denn ein Streit unter den beiden protestantischen Konfessionen hielten die meisten Zeitgenossen angesichts der vom katholischen Frankreich angestrebten politischen Hegemonie für gefährlichen Unfug. In sachlicher Hinsicht kommt Masius in den gegen Becmann gerichteten Streitschriften nicht über seine im Interesseprincipum bezogenen Positionen hinaus. Das war von ihm auch nicht beabsichtigt und daher nicht zu erwarten, doch wird die anticalvinistische Polemik immerhin zielgerichteter vorgebracht. In ebenso wort- wie materialreichen Ausfuhrungen sucht Masius den Reformierten »gefährliche Sätze gegen die hohe Obrigkeit« nachzuweisen, die »mit der souverainen Oberherrschaft nicht bestehen können«, 56 er findet »gefährliche Sentiments« 57 und erkennt einen »esprit republiquani« 58 . Aufschlußreicher — wenngleich für das Genre nicht ungewöhnlich - ist die von Masius in Stellung gebrachte polemische Rhetorik. Sie richtet sich sowohl gegen den Kontrahenten als auch, und vermutlich sogar in erster Linie, appellativ an den Rezipienten, dem als »vernünftigen Leser« - zumindest der rhetorischen Übung nach - eine Richterfunktion zugewiesen wird. Die auf Auszeichnung der eigenen Auffassung und Herabsetzung der Gegenmeinung gemünzte Rhetorik arbeitet mit unterschiedlichen, strategisch eingebrachten Typen von Argumenten: Während im weiteren Sinne erkenntnistheoretische Argumente die inhaltliche Seite des Diskurses betreffen, zielen die den Modus disputandi kritisierenden Argumente vornehmlich auf die formalen und diskurstechnischen Voraussetzungen und Verfahren. Um beiden Typen von Argumenten gerade mit Blick auf die erwünschte Publikumswirkung das nötige Gewicht zu verleihen, werden sie von Masius durch moralische Wertungen ergänzt und überhöht. 59 Denn die von Becmann verfochtene theoretische Position stellt sich für Masius vornehmlich als praktisches Problem dar und muß daher nicht zuletzt mit moralischen Mitteln bekämpft werden. Die theoretische Widerlegung eines Satzes soll — nicht nur, aber auch - über die moralische Diskreditierung desjenigen geleistet werden, der ihn vertritt. Masius wirft also Becmann in einer eher erkenntnistheoretischen Perspektive vor, »gegen die Erfahrung« 60 sowie »gegen den Augenschein«61 und nicht zuletzt

56

58 59

60 61

Masius: Das Treue Lutherthumb (wie Anm. 43), Vorrede. Ebd., S. 87. Ebd., S. 91. Vgl. dazu Jürgen Stenzel, der in Zusammenhang mit dem typischen Angriffsziel polemischer Rede Aufwertung der eigenen und Abwertung der angegriffenen Position - von einem »rhetorischen Manichäismus« spricht: »Polemik folgt dem Schema eines säkularisierten Manichäismus, das die Beteiligten in die Extremregionen von Licht und Finsternis auseinandertreibt.« Jürgen Stenzel: Rhetorischer Manichäismus. Vorschläge zu einer Theorie der Rhetorik. In: Formen und Formgeschichte des Streitens - Der Literaturstreit. Hg. Franz Josef Worstbrock u. Helmut Koopmann (Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Bd. 2. Hg. Albrecht Schöne). Tübingen 1986, S. 7. Masius: Das Treue Lutherthumb (wie Anm. 43), [S. 1], Ebd., [S.4].

1. Masius: Konfessionelles Engagement und politisches Kalkül

133

aus Unwissenheit 62 Unwahrheiten zu verbreiten, und kritisiert aus einer eher formalen oder diskurstechnischen Sicht die Verkehrung des status controversiae 63 , eine lückenhafte Zitierweise 64 , sowie überhaupt einen Mangel an Klugheit und Besonnenheit 65 . Die beiden zuletzt genannten Vorwürfe beziehen sich zwar auf Insuffizienzen in Becmanns Vorgehensweise, doch handelt es sich im Kern bereits um moralische Argumente. Eindeutig moralische Qualitäten haben dagegen die Klagen, die Becmann der Unverantwortlichkeit 66 , der Boshaftigkeit 67 und der Gottlosigkeit 68 bezichtigen. Häufig genug sind alle drei Elemente in einem einzigen Vorwurf vereinigt. Die Behauptung, Becmann schmücke sich mit fremden Federn, 69 will dessen intellektuelle Integrität ebenso in Zweifel ziehen wie seine moralische; hinzu kommt, daß ein aufgedecktes und insofern ungeschickt angebrachtes Plagiat im Kontext eines Streits selbstverständlich diskursstrategische Nachteile mit sich bringt, so daß der Vorwurf noch zusätzlich eine diskurstechnische Kritik beinhaltet. Auch der angebliche Nachweis eines »Fehltrittes« 70 bindet durch die semantische Qualität des Begriffs den kognitiven Fehler in einen moralischen Horizont ein. Masius hat sich allerdings mit moralischen Vorhaltungen nicht begnügt, vielmehr versuchte er darüber hinaus, aus Becmanns Argumenten Tatbestände zu konstruieren, die konsequenterweise eine strafrechtliche Würdigung verlangten. So nimmt Masius den nur gelegentlichen Hinweis auf Christian Thomasius zum Anlaß, Becmann vorzuwerfen, er lasse »sich durch einen öffentlichen Pasquillanten den Weg bahnen« und mache sich durch die Billigung eines libellum famosum vor dem Gesetz der Mittäterschaft schuldig. 71 In anderen Zusammenhängen spricht Masius ausdrücklich von »crimina falsi« und »gröblichen« Angriffen auf »Hohe Häupter und Potentaten«, so daß Becmann »nicht nur seines gnädigen Herrn ernsthaffte Straffe, sondern auch aller redlichen Leute Haß« verdiene. 72 Vor allem die moralischen Verdikte machen deutlich, daß es Masius weniger um die Überzeugung seines Kontrahenten geht, als vielmehr um die Stimulierung des rhetorisch als Entscheidungsinstanz verschiedentlich angerufenen Lesers. Dieser wird als der eigentliche Adressat des Diskurses von Masius auf unterschiedlichen pragmatischen Ebenen zum Teilnehmer der Auseinandersetzung gemacht. So wird der Leser entweder direkt angesprochen 62

« 64 65 66 67 68 69 70

71 72

Masius: Unverzögerte Generale =Wiederlegung (wie Anm. 42), [S. 1], Ebd., [ S . l ] . Masius: Das Treue Lutherthumb (wie Anm. 43), S. 234. Ebd., [ S . l und 4], Ebd., [S. 1], Masius: Unverzögerte Generale =Wiederlegung (wie Anm. 42), [S. 1]. Ebd., [ S . l ] . Masius: Das Treue Lutherthumb (wie Anm. 43), [S. 1], [Héctor Gottfried Masius:] Anhang, worinnen erstlich vorgestellet wird Specimen Errorum Becmannianorum, als ein Prodromus eines grössern Beweises, daß Herr Joh. Christ. Becmann in allen Wissenschafften sich sehr gröblich versehen, auch zuweilen Päbstliche Hypotheses in seinen Moralibus angenommen; eiligst entworfFen von Th. C. R. E Dan auch eines Reformirten vernünftiges Urtheil von Herrn Becmanns Vornehmen. Copenhagen 1690, S . 3 7 . In: Ebd. Ebd., S . 3 . Masius: Unverzögerte Generale =Wiederlegung (wie Anm. 42), [S. 1].

134

Händel mit Hector Gottfried Masius

oder abstrakt »vernünfftigen Leuten« 73 subsummiert, die »verständig«74 und »aufrichtig«75 genug sind, um ein unparteiisches Urteil fällen zu können. Es versteht sich dabei von selbst, daß die intellektuellen und moralischen Zulänglichkeiten des Adressaten mit seiner Bereitschaft korrespondieren, Masius' Auffassung zu unterstützen. Das vom Adressaten erst noch zu fällende Urteil wird sogar ausdrücklich antizipiert, indem Masius einen zweifellos fingierten Text als fremde Stellungnahme in den Streit miteinbezieht. Es handelt sich um das im Anhang zum Treuen Lutherthumb publizierte »Schreiben« eines »Reformirten [...] an einen guten Freund«, das Masius nicht nur in sachlicher Hinsicht Recht gibt, sondern auch insofern moralisch unterstützt, als es von Becmann verlangt, seine anstoßerregenden »Irrthümer« zu korrigieren und öffentlich zu widerrufen. 76 Die selbst lancierte Stellungnahme eines Reformierten stellt den Versuch dar, die von dritter Seite erst noch zu leistende Entscheidung des Streits bereits vorab durch einen eigenen Text diskursiv zu besetzen und dabei dem Adressaten für die tatsächlich erst noch zu treffende Entscheidung ein weiteres, durchaus gewichtiges Argument an die Hand zu geben. Denn der hier suggerierte Umstand, daß selbst ein naturgemäß parteiischer Reformierter sich gezwungen sieht, bei aller prätendierten Wertschätzung für Becmann die Partei des dänischen Hofpredigers zu ergreifen, steigert selbstverständlich — ganz unabhängig von sachlichen Erwägungen - die Ungeheuerlichkeit der von Becmann vorgebrachten Auffassung. Stimuliert werden soll mit dieser Vorgehensweise nicht irgendein interessiertes Publikum, Masius zielt vielmehr — weil der Streit für ihn nach wie vor einer essentiellen politischen Frage gilt - auf eine Entscheidung des Souveräns als dem eigentlichen Adressaten des Streits. Und so formuliert er noch in der Vorrede zum Treuen Lutherthumb die folgende rhetorisch eingebrachte und geradezu machiavellistisch akzentuierte Erwartung: »Ich zweifle nicht, es werden hohe Häupter der Reformirten Kirche mit der Zeit selbst erkennen, daß für sie nicht grosse Sicherheit in Calvini Schule zu finden, und wie können sie dann anders, als allen ehrlichen Lutheranern gutes gönnen und wollen, die nechst der Ehre Gottes für die Ehre ihres Zepters, und der inviolablen Macht ihrer Regierung streiten, und gelernet haben zusammen zu setzen, was Petrus so genau verbindet: l.Epist. 2. V.17. Fürchtet Gott, ehret den König«77.

Die Beförderung dieser für die Lutheraner so günstigen Einsicht ist es, die Masius' Engagement motivierte.

73 74 75 76 77

Masius: Das Treue Lutherthumb (wie Anm. 43), S. 91. Ebd., S. 293. Ebd., S. 245. [Masius:] Eines Reformirten Schreiben an einen guten Freund. In: Ebd., S. 43. Ebd., [S.3].

2. Becmann: Mit gleicher Münze, oder: vom Patt der Argumente

2.

135

Johann Christoph Becmann: Mit gleicher Münze, oder: vom Patt der Argumente

Allem Anschein nach betritt Johann Christoph Becmann zunächst nur widerwillig die Arena der gelehrten Auseinandersetzung um das Interesse principum des dänischen Hofpredigers. Denn seine erste, gegen Masius gerichtete Schrift ist vom Umfang her eher knapp gehalten und erscheint - angesichts der Geschwindigkeit, mit der Streitigkeiten für gewöhnlich vonstatten gehen - erst relativ spät. Drei Jahre nach der Publikation der dänischen Konfessionsreklame und zwei Jahre nach ihrem Verriß durch Christian Thomasius sieht sich Becmann in der Verlegenheit, seine verspätete Reaktion mit einiger Umständlichkeit erklären zu müssen. Obwohl es - nach Becmanns eigenen Angaben - schon vor geraumer Zeit »einer vornehmen Hand gefallen« habe, von ihm eine Stellungnahme zu Masius' Traktat zu begehren, habe er sich bisher zu den Provokationen des lutherischen Hofpredigers nicht äußern wollen. Denn zum einen gestatte ihm sein Amt nicht, »sich in Streitigkeiten einzulassen« und zum anderen - so gibt er in Anspielung auf Thomasius vor - seien ihm »andere vornehme Leute« bereits zuvorgekommen.78 Nun aber, nachdem »der Herr D. Masius nicht nachgelassen der Reformirten Religion Verwandten allerhand aufrührische und zu einer unverantwortlichen Gegenwehr wider die hohe Obrigkeit führende Lehren beyzumessen«,79 will ihm Becmann aus Verantwortung für die eigene Kirche und im Dienste des Vaterlandes sowie aller Wahrheitsliebenden die mehrfach provozierte Antwort nicht mehr schuldig bleiben. Und so hofft er schließlich, »es werde, indem es etwas langsamer geschiehet, der Sache nichts nehmen; dann bey entstandenen Feuers-Brunsten finden auch die so späte kommen ihr Theil, welche, ob sie wohl nicht die erste ausschlagende Flamme dempffen, doch leichte Gelegenheit finden hier und dar verborgene Funcken zu tilgen, und dergestalt einem neuen Feuer zu wehren«.80 Dabei will er seine eigene Wortmeldung nicht als eine »blosse Streitschrifft«81 verstanden wissen, die auch in seinen Augen von vornherein dem Verdacht ausgesetzt ist, ein gefügiges Medium unredlicher Zwecke zu sein, vielmehr legt er Wert auf die diskurstechnisch günstigere Position eines moralisch unverdächtigen Verteidigers. Und dessen »vielfältig abgenöthigte Defensión« soll sich ausschließlich gegen die Ausstellungen des »Herrn Masio« richten, mit der Lutherischen Kirche will Becmann dagegen »gantz nichts« zu thun haben,82 zumal der von Masius vom Zaun gebrochene Streit aus (kirchen-)politischen Rücksichten »eine gantz unnöthige Sache« darstelle. Denn zum einen haben »die Wunden in beyderseits Kirchen kaum zu heilen angefangen«83 und zum anderen herrschen Zeiten, »da allen dreyen Religionen Hohe Potentaten näher in Alliance stehen als jemahls geschehen«. Und daher — so Becmann weiter — schickt es sich nicht »zu disputiren, ob eines Religion vor

78 79 80 81 82 83

Becmann: Huberti Mosani Bericht (wie Anm. 44), S. 1. Ebd., [S. 1], Ebd., S. 1. Ebd., [S. 1], Ebd. Ebd., S . 4 .

136

Händel mit Hector Gottfried Masius

der anderen ihm einen Vorzug in der Oberherrschaft gebe, vielweniger gegen den andern solche Facta hervor zu suchen, welche besser hätten mögen vergraben und vergessen bleiben«.84 Im übrigen ist er - zumindest rhetorisch - davon überzeugt, daß ihm der Beifall auch von lutherischer Seite »grossen Theils« sicher ist, und die von Masius vorgebrachten Ungereimtheiten, Verstümmelungen und Verdrehungen sind zwar »ultra humanum modum«, doch sieht Becmann in ihnen - noch geradezu moderat - eher eine unsittliche »crudelität« als eine justiziable »injurie«.85 Dies ändert sich in Becmanns Reaktion auf die von Masius umgehend in Druck gegebene Erwiderung: Der Ton in Huberti Mosani Neuerem Bericht von der Reformirten Lehre von der Weltlichen Obrigkeit wird ungleich schärfer. Denn Masius sei »mit seiner Replique in solche Extremität und so grausame injuriosa verfallen, daß schwerlich mehr eine privat-Feder selbige zu leschen fähig ist«.86 Obwohl Becmann vorgibt, nur gegen die »privat-Injurien« vorgehen zu wollen, die Masius der Reformierten Kirche und ihren Lehrern angetan habe, so ist doch auch bei ihm das Bemühen auffällig, Tatbestände zu konstruieren, die eine strafrechtliche Würdigung von Masius' Streitschriften nahelegen. In diesem Sinne gibt er gezielte Anregungen, damit die »publiquen Injurien« am Ende von denjenigen geahndet werden können, »welchen Gott die Macht« gegeben hat: Denn »diese allein werden auch wissen, diesen von Masio unnützlich erregten Streit Masse zu geben, und nicht gestatten, daß ein einiger passionirter Mann gantze Gemeinen und Länder impuné weiter verunglimpfen dürffe«. 87 Während Becmann seine erste Reaktion noch mit der Bitte schließt, Gott möge seinem Widersacher »den Geist des Verstandes und des Friedens«88 geben, hat er im Ferneren Bericht die Ebene christbrüderlicher Vermahnung längst verlassen. Der Text wird nun nicht mehr mit dem schönen Schein einer frommen Geste abgerundet, sondern endet, indem er einfach abbricht mit rhetorischem Aplomb: Die von Masius vorgebrachte Behauptung, der polnische König Permislaus sei seinerzeit von brandenburgischen Schützen ermordet worden, stilisiert Becmann zu einer Beleidigung seiner »gnädigsten Herrschaft Hohen Vorfahren«, die er für so schwerwiegend hält, daß er »die Feder drüber fallen lassen und abbrechen muß«.89 Was sich hier zunächst als ein bloßer rhetorischer Kunstgriff gibt, bewegt sich tatsächlich ganz auf der Linie von Becmanns Pönalisierungsphantasien. Denn nicht von ungefähr enden seine theoretischen Einlassungen mit einem Hinweis, der strafrechtlichen Maßnahmen einen denkbaren Ansatzpunkt geben könnte. Die Debatte wird an dieser Schwelle — zumindest potentiell - von der theologischen Theorie in die Praxis strafrechtlicher Sanktionen überführt. Mit dieser rhetorischen Zuspitzung auf den strafrechtlichen Diskurs ist die gelehrte Auseinandersetzung im Prinzip an ihr Ende gekommen, der Streit kann auf einer argumentativen Ebene nicht mehr sinnvoll fortgesetzt werden. Den-

84

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Ebd., [S. 1], Ebd. Becmann: Huberti Mosani Fernerer Bericht (wie Anm. 45), [S. 1], Ebd., [S.7]. Becmann: Huberti Mosani Bericht (wie Anm. 44), S. 108. Becmann: Huberti Mosani Fernerer Bericht (wie Anm. 45), S. 344.

2. Becmann: Mit gleicher Münze, oder: vom Patt der Argumente

137

noch ließ Becmann es sich nicht nehmen, mit einer knappen »Abfertigung« auf Masius' Generale Wiederlegung zu reagieren; und unter der Voraussetzung, daß zumindest die Kurtze Antwort auf D. Masii Vernunfft- und Gewissens-Fragen ebenfalls von Becmann stammt, hat er sogar noch einmal auf die Speciale Wiederlegung repliziert und damit - soweit absehbar das letzte Wort behalten. Sowohl in sachlicher wie in formaler Hinsicht blieben seine letzten Interventionen allerdings ohne jeden Ertrag. Seiner eigenen Einschätzung nach hat Becmann im Ferneren Bericht unter dem Eindruck von Masius' beleidigender Reaktion auf den ersten Bericht seine defensive Strategie aufgegeben. Zunächst war es ihm lediglich um eine dreifach gestützte Verteidigungslinie gegangen: 1. wollte er nur darlegen, »daß die Reformirten reine und gesunde Lehren von hohen Obrigkeit fuhren«; 2. ging es ihm um die Ablehnung von »Masii Auflagen und Einwürffe[n]« und 3. sollten ihm »die Unbefugnüß seiner Aufbürdungen aus seiner eigenen Religions-Verwandten Lehren und Factis« vorgeführt werden. Nun aber geht Becmann in die Offensive und will die gegen die Reformierten gerichteten Vorwürfe auf die Lutheraner ummünzen; immerhin habe Luther »ungemein harte Reden und Lehren wider die hohe Obrigkeit ausgeschüttet«, und dies sei von lutherischen Gelehrten akzeptiert und häufig genug in die Tat umgesetzt worden. 90 Obwohl sich Becmann an diese Zweiteilung seiner Strategie tatsächlich nicht gehalten hat, 91 ist er inhaltlich im Rahmen der mit ihr formulierten Programmatik — Zurückweisung und Umkehrung der Vorwürfe — geblieben. Das hat die Reichweite seiner Argumente naturgemäß sehr stark begrenzt, denn Becmann bleibt theoretisch auf die Vorgaben verwiesen, die Masius ihm liefert. So bleibt auch die vermeintlich offensive Umkehrung der Vorwürfe insofern letztlich in der Defensive, als Becmann die von Masius definierten theoretischen Grundlagen fraglos übernimmt und es ihm lediglich darum geht, den Druck auf die Reformierten durch einen systematisch genau gleichen Gegendruck auf die Lutheraner zu kompensieren. Diese unproduktive Spiegelbildlichkeit der Argumentation läßt sich an vielen Details studieren, besonders offenkundig wird sie freilich immer dann, wenn ein strategisch eingebrachter Vorwurf mit genau den gleichen Worten an die Adresse des Gegners zurückgegeben wird.92

90 91

92

Ebd., S. lf. Denn schon in seiner ersten Reaktion ist er bemüht, den Spieß einfach umzudrehen: »Hat also Herr Masius nicht Ursache gehabet der Reformirten Religion einer Sache halben zu blamiren, welche sich vielfach mehr bey seinen eigenen Religions-Verwandten findet. Ich wil nun aber weiter gehen und anzeigen, daß der Lutherischen Religions-Verwandte viel härter wider die hohe Obrigkeit schreiben, als jemahls ein Reformirter gethan.« Becmann: Huberti Mosani Bericht (wie Anm. 44), S. 70. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Becmann aus Gründen der Vorsicht für sich in Anspruch nimmt, sich lediglich mit Masius, nicht aber mit der gesamten lutherischen Kirche in eine Auseinandersetzung einlassen zu wollen, und Masius sofort mit dem Hinweis reagiert, dies sei eine »protestatio contraria facto, denn wer hat jemahlen in diesem Stück der Evangelischen Kirche mehr als Becmann auffgebürdet?« Was Becmann wiederum aufnimmt und seinerseits feststellt: »Masius praetendiret zwar hin und wieder, er habe nicht mit der Reformirten Kirche ins gesamt, sondern mit mir zu thun. Aber das ist protestatio facto contraria.« Masius: Das Treue Lutherthumb (wie Anm. 43), S. 10; Becmann: Huberti Mosani Fernerer Bericht (wie Anm. 45), [S. 4].

138

Händel mit Hector Gottfried Masius

Die Spiegelbildlichkeit der von Becmann angebrachten Argumente könnte im besten Falle zu der historisch anstehenden Einsicht fuhren, daß eben keiner Konfession in politischer Hinsicht irgendein Vorzug gebühre. Tatsächlich scheint Becmann diesen Ausgleich zumindest zeitweilig - angestrebt zu haben, denn vor allem in dem ersten Bericht betont er, daß die »Christliche Religion«, gleich welcher Konfession »die weltliche Obrigkeit am meisten etablire«.93 Und es findet sich bei Becmann sogar - und zwar mit Hinweis auf nicht-christliche Völker - die Erkenntnis, daß die »Obrigkeit« als ein »durch die gantze Menschliche Societät« gehendes »Universal-Werck« auch dann noch ihre Funktion und ihre Legitimation behalte, wenn sie selbst keinerlei Kontakt zur christlichen Religion unterhält. 94 Doch die Intensität, mit der er die spiegelbildliche Umkehrung der von Masius vorgebrachten Kritik tatsächlich durchführt, gibt den konfessionellen Ausgleich als denkbaren oder angestrebten Ertrag der Kontroverse wieder preis: Becmanns Verfahren führt argumentationstechnisch in eine nur noch von außen zu behebende Pattsituation und inhaltlich zu einer bloß calvinistisch gewendeten Reproduktion der von Masius so streitbar vorgetragenen Auffassungen des politischen Luthertums. Genau dieses Ergebnis macht die Debatte zwischen Becmann und Masius im Kontext des Gesamtkomplexes der Masius-Thomasius-Kontroverse so interessant. Denn die Unproduktivität der spiegelbildlich vorgebrachten Vorwürfe fuhrt plastisch vor Augen, daß - zumindest im Diskurs der politischen Theorie - die konfessionelle Auseinandersetzung nur noch von außen, und zwar durch einen radikalen Perspektivenwechsel zu überwinden war, der die politische Theorie von ihren theologischen Gehalten befreit. Insofern markiert die Debatte zu Beginn der Aufklärung eine historische Schwelle, die Becmann wohl ansatzweise erreichte, am Ende aber doch nicht überwinden konnte.

3.

Samuel Pufendorf: Beobachtung und Teilnahme

In seinem Briefwechsel mit Christian Thomasius und Adam Rechenberg hat Samuel Pufendorf wiederholt und ganz entschieden erklärt, sich unter keinen Umständen in die »Händel mit Masio« verwickeln lassen zu wollen.95 Gleichzeitig belegt allein schon die Regelmäßig-

93 94 95

Becmann: Huberti Mosani Bericht (wie Anm. 44), S. 4. Ebd., S. 79. Vgl. die Briefe an Rechenberg vom 18.11.1690, 16.12.1690, 2.5.1691 sowie die Briefe an Thomasius vom 2 4 . 3 . 1 6 9 1 und 21.10.1991. In: Pufendorf: Briefwechsel (wie Anm. 16). An Versuchen, Pufendorf für anti-calvinistische Vorstöße zu beanspruchen und womöglich zu einer anti-calvinistischen Stellungnahme zu provozieren, hat es tatsächlich nicht gefehlt. Siehe z. B. das Pufendof-Zitat, das Masius in Das Treue Luthertumb aufbietet: »Diesem nechst haben die Verständigen längst gemercket, daß die Natur dieser Religion zur Democratischen Freyheit geneigt sey. Denn nachdem einmahl das gemeine Volck in Geistlichen Sachen; wie auch von den Sitten zu urtheilen, zur Stimme zu gelassen, schiene es unbillig zu seyn, daß ein Fürst in Politischen Hauptsachen etwas beschliessen könne.« (S.280.) In einem an Thomasius adressierten Brief vom 21.10.1691 stellt Pufendorf dazu fest: »Sonsten giebt Masius auf Mosanum ziemlich feuer; ich wolte aber, daß er meinen nahmen aus

3. Pufendorf: Beobachtung und Teilnahme

139

keit, mit der Pufendorf zwischen 1688 und 1691 immer wieder auf die Auseinandersetzungen zwischen Masius und Becmann sowie zwischen Masius und Thomasius zu sprechen kommt, daß er den Kontroversen doch ein vergleichsweise großes Interesse entgegenbrachte. Und dieses Interesse beschränkte sich nicht auf die distanzierten Beobachtungen eines gänzlich Unbeteiligten: Pufendorf hielt sich zwar aus Gründen kluger Vorsicht möglichst im Hintergrund, doch war er zugleich bestrebt, seinen Einfluß in unterschiedlichen Hinsichten zur Geltung zu bringen. So war er bereit, seine Kontakte und Beziehungen zu den Höfen in Berlin und Kopenhagen zu nutzen, um Thomasius die nötige Rückendeckung zu verschaffen; darüber hinaus nahm er aber gern die sich bietende Gelegenheit wahr, den eigenen Vorstellungen öffentlich Gehör zu verschaffen, ohne sich tatsächlich aus der publizistischen Reserve locken zu lassen. In Pufendorfs brieflichen Stellungnahmen werden drei unterschiedliche Themenkreise sichtbar, die für den vorliegenden Zusammenhang von Interesse sind und denen er sich übrigens je nach Gesprächspartner in unterschiedlicher Gewichtung zugewandt hatte: 1. die Kritik an Masius, 2. die Kritik an Becmann und 3. die strategischen Hinweise zur Handhabung der Auseinandersetzung. Ad 1.) Verhältnismäßig unproblematisch sind seine kritischen Einlassungen zu Masius. Für Pufendorf steht völlig außer Frage, daß Masius »billig ein paar jähr im Schubkarren gehen solte, zur straffe, daß er nicht beßer bücher zu schreiben gelernet«.96 Dabei hält er die mit der Immediate-a-Deo-Konstruktion verbundene souveränitätstheoretische Frage offenbar eher für sekundär. Schlechterdings »lächerlich« sei der von dem Kopenhagener Hofprediger an Thomasius adressierte Vorwurf, letzterer habe durch seine Kritik an der Immediate-a-Deo-Vorstellung alle souveränen Fürsten beleidigt, »denn«, so fährt Pufendorf fort, »kein potentat von der weit glaubet sie selbst; und weis ja der könig von Dennemark wohl, auf was weiße könig Fridrich 3. Shl. zu der souverainité gelanget«.97 Ungleich gravierender aber ist der »schaden, so dem gemeinen Protestantischen wesen solcher Masiorum oder Matziorum unzeitiger eyfer verursachet«.98 Schon in seiner ersten Reaktion auf die »Händel mit Masio« betont Pufendorf, es sei ein »groß unglück für die Protestantische Kirche, daß man durch calumnien die gemüther immer mehr exacerbiret«.99 Es drängt sich allerdings gelegentlich der Eindruck auf, als hielte der Lutheraner Pufendorf die Position des Lutheraners Masius durchaus nicht in allen Stücken für verwerflich, denn noch bevor die Ausein-

dem gezencke weg ließ, und ich merke wohl, daß sie mich gerne auch mit hineinmengen wollen in eine sache, damit ich gantz nichts will zuthun haben. Denn ich improbire, daß Masius einen unnöthigen zank angefangen, und daß Mosanus in der defensión excediret.« Noch 1692 erschien ein anonymer Text, der mit Hilfe einer Zitatensammlung aus den Werken Samuel Pufendorfs die Position von Héctor Gottfried Masius zu stärken suchte: »Aus den Schrifften des Hr. Sam. Pufendorfii Kurtzer aber gründlicher Beweiss ... Daß der Calvinismus mit einer Monarchie incompatible sey, Zu Bekräftigung der Warheit die D. Masius ... vertheidiget, Und zu Joh. Chr. Becmans Confusion und Schande«. Vgl. den Kommentar von Detlef Döring in: Pufendorf: Briefwechsel (wie Anm. 16), S. 328 f. 96 97 98 99

Brief Brief Brief Brief

an an an an

Christian Christian Christian Christian

Thomasius Thomasius Thomasius Thomasius

vom vom vom vom

18. 5.1690. In: Pufendorf: Briefwechsel (wie Anm. 16). 28. 8.1689. In: Pufendorf: Briefwechsel (wie Anm. 16). 18. 5.1690. In: Pufendorf: Briefwechsel (wie Anm. 16). 30.12.1688. In: Ebd.

140

Händel mit Hector Gottfried Masius

andersetzung zwischen Thomasius und dem Kopenhagener Hofprediger richtig in Gang gekommen war, konzediert Pufendorf dem Verfasser des Interesse principum immerhin ein »nobel argumentum«, das er freilich »recht kahl elaboriret« habe und eben deswegen »billig eine castigation« verdiene. 100 Interpretiert man diese Äußerung mit Blick auf die in den Briefen an Rechenberg sich immer unverhohlener artikulierenden Vorbehalte gegen den Calvinismus, dann scheint Pufendorf im Grunde doch gewisse Sympathien für das politische Luthertum des dänischen Theologen gehegt zu haben. Der Kern seiner Kritik beträfe dann nicht so sehr den Sachgehalt von Masius' Polemik, nämlich den Hinweis auf den politischen Nutzen der lutherischen Konfession, als vielmehr seine abwegige Begründung und ihre den Konfessionsstreit erneut schürende Form. Diese Lesart wird durch den Umstand unterstützt, daß Pufendorf vor allem in seinen Briefen an Adam Rechenberg außerordentlich empfindlich auf die anti-lutherischen Ausstellungen des Reformierten Johann Christoph Becmann reagierte. Ad 2.) Gleich nach Erscheinen von Becmanns »tractat contra Masium« bemerkt Pufendorf in einem Schreiben an Christian Thomasius: »So lang er die Reformirten excusiret, habe ich nichts sonderlichs darnieder zusagen. Aber da er ad retorsionem komt, finde ich viel unnöthige und unvermuthete galle, die er mit großer grace hette auslaßen können.« Dennoch hält er Becmanns Reaktion offenbar insgesamt für gerechtfertigt: »Diese nasenstüber müßen wir verschlingen, für des lausichten Masij willen.« 1 0 1 Doch der Arger über den anti-lutherischen Gegenschlag und die damit verbundenen »harten« Angriffe gegen »den alten ehrlichen Lutherum« bleibt bestehen und gewinnt zunehmend an Gewicht. So hält Pufendorf zwar nach wie vor daran fest, daß Masius - wie es wenig später heißt - »im hauptwerck auch einen hauffen fauten« habe, »die wohl castigation bedürfften«, doch kann Pufendorf nach der Publikation von Masius' Becmann-Kritik eine gewisse Genugtuung nicht verhehlen: »Revera hat Becmann gute nasenstüber bekommen, die er auch verdienet hat.« 1 0 2 Als Adam Rechenberg ankündigt, mit einer eigenen Arbeit in die Kontroverse zwischen Masius und Becmann eingreifen zu wollen, begrüßt Pufendorf diese Initiative 103 und erklärt sich schließlich auch bereit, den Text vor seiner Veröffentlichung gegenzulesen. 104 Von der Erlaubnis, auch in den Text einzugreifen, hat er - nach eigenen Angaben - tatsächlich Gebrauch gemacht. Zwar hält er seine Eingriffe selbst für unwesentlich, 105 doch sind die Übereinstimmungen zwischen dem von Rechenberg unter dem Pseudonym Andreas Montanus

100 101 102 103

104 105

Ebd. Brief an Christian Thomasius vom 18. 5 . 1 6 9 0 . In: Ebd. Brief an Christian Thomasius vom 1 . 1 1 . 1 6 9 0 . In: Ebd. »Deßelben werthes vom 10. huius habe wohl erhalten, und ist mir sehr lieb, daß MhH sich erkläret selbst die feder anzusetzen, umb eine Handvoll erde zu werffen unter die Schwermenden bienen, oder vielmehr hummeln. Und kan man ein hauffen gute Sachen dabey sagen, wenn man ein wenig nachdencken will.« Brief an Adam Rechenberg vom 1 8 . 1 1 . 1 6 9 0 . In: Ebd. Vgl. den Brief an Adam Rechenberg vom 6 . 1 2 . 1 6 9 0 . In: Ebd. »Deßen angenehmes vom 13. huius nebst dem project der epistel habe wohl erhalten. Und weil MhH mir die freyheit gegeben, habe an ein und andern ort etwas erkühnet zu meinen, welches MhH nicht aber [?] vermercken wird.« Brief an Adam Rechenberg vom 1 6 . 1 2 . 1 6 9 0 . In: Ebd.

3. Pufendorf: Beobachtung und Teilnahme publizierten Send-Schreiben106

141

und einigen Überlegungen, die Pufendorf - noch vor Erhalt

des Entwurfs — Christian Thomasius mitgeteilt hatte, gravierend genug, 107 um Thomasius vermuten zu lassen, daß sich niemand anderes als Pufendorf selbst hinter dem Pseudonym verbirgt. 108 Thomasius muß seine Vermutung Pufendorf in einem nicht erhaltenen bzw. noch nicht aufgefundenen Brief mitgeteilt haben, denn in einem Schreiben vom 24. März 1 6 9 1 räumt Pufendorf die offensichtlichen Kongruenzen zwar ein, doch bestreitet er zugleich ganz energisch seine Autorschaft: »In Montani epístola habe ich gleichfals viel von meinen sentimenten gefunden. Es kann wohl gegangen seyn nach dem frantzösischen Sprichwort, les beaux esprits se rencontrent. Wenn ich meine feder hette ansetzen sollen, hette ich ein 3 ä 4 bogen nicht angesehen, und die materie recht ausgefiihret. Allein es sey ferne, daß ich mich in die händel menge, da man bey beyden theilen keinen danck verdienet. Und sehe ich, daß H. dr. Becman sub nomine Balthasaris Vallensis dem Montano geantwortet, ohne daß ich habe darauß einen geschmack empfinden können. Ich bleibe noch darbey, es stehet mir weder Masius noch Mosanus an.« 109 Daß das

Send-Schreiben

nicht nur als eine durchgreifende Masius-Kritik auftritt, sondern

sich ebensosehr gegen dessen reformierten Gegenspieler richtet, hat Becmann selbst pikiert zur Kenntnis genommen. In seinen unter dem fingierten Namen Balthasar Vallensis publizierten Gedancken über A. Montani Send-Schreiben Von des Herrn Masii und Huberti Mosani Streit-Schrifften sieht er in der Stellungnahme sogar eine geschickt camouflierte und den lutherischen Eiferer begünstigende Schützenhilfe, die dem Schein nach Unparteilichkeit vorgibt, faktisch aber Masius' Sache mit besseren Argumenten betreibt. 110 Tatsächlich hält der Verfasser des

Send-Schreibens

zwar die gesamte Kontroverse »bey so kümmerlicher Zeit«, »da

so wol der Civil- als Kirchen-Staat der Protestanten, wegen der gefährlichen Conjuncturen sehr trübe außsiehet«, für »unnöthiges Gezäncke«, 111 doch gibt er sich bei aller Toleranz als ein Lutheraner zu erkennen, der die Auffassung durchaus bestätigen kann, daß die »Potentaten lieber Lutherische Unterthanen haben, und ihre Lehre gerne in ihren Landen beybehal-

A. Montani Send-Schreiben an N.N. Von des Hn. Masii und Huberti Mosani Streit-Schrifften Uber die Frage? Was die Weltliche Obrigkeit für Interesse bey der Evangelischen Religion habe? O. O. 1691. 107 Vgl. zu den Übereinstimmungen Grunert: Zur aufgeklärten Kritik am theokratischen Absolutismus (wie Anm. 2), S. 57-59. ios Noch ¡ m zweiten Teil seiner 1724 erschienenen Gemischten Händel (wie Anm. 5) hält Thomasius fest, daß »man dahmals glaubte«, Pufendorf habe sich unter dem Schutz eines Pseudonyms in die Debatte eingeschaltet. Vgl. S. 275. 109 Brief an Christian Thomasius vom 24.3.1691. In: Pufendorf: Briefwechsel (wie Anm. 16). 110 »Diesem nach geruhen Eure Gnaden anfangs zu vernehmen, daß es mit diesem Schreiben des Herrn Montani gantz nicht die Beschaffenheit hat, die der erste Anblick vorgiebt, sein Sentiment auf beyde Controvertentes zu richten, auch zu dem Ende einige Positionen des Herrn Masii nicht gut heissen will; So ist es doch in der That nur ein subtilerer modus, den Reformirten etwas anzubringen, und was Herr Masius nur allzu plump hat vorgebracht, ihnen bonis modis anzuhengen und folgend diesen nicht zu sehr zu censuriren, als in seinem Übeln Unternehmen zu stärcken«. [Becmann:] B. Vallensis Gedancken über A. Montani Send-Schreiben Von des Herrn Masii und Huberti Mosani StreitSchrifften. O. O. 1691, [S. 2], 111 A. Montani Send-Schreiben (wie Anm. 106), S. 3f. 106

142

Händel mit Hector Gottfried Masius

ten« sollten. Denn auch wenn »die Lutherische Religion nichts praejudicirliches für den Weltlichen Staat in sich begreiffe«, so mache sie doch »fromme und treue Unterthanen [...], welche der Obrigkeit allen Gehorsam und respect« entgegenbringen. 112 Dennoch nimmt sich die Kritik an Becmann zunächst vergleichsweise moderat aus. Vorgehalten wird ihm nur, sich mit einer bloßen Verteidigung nicht zufrieden gegeben zu haben. Anstatt sich »in den terminis justae defensionis« zu halten, habe er »ziemlich über die Schnur gehauen« 113 und den lutherischen Angriff - argumentationstechnisch sehr dürftig 114 - mit anti-lutherischen Schmähungen pariert. Allerdings werden diese Schmähungen nicht als bloße Ungehörigkeiten zurückgewiesen, vielmehr wird ihr eigentliches (konfessions-)politisches Gewicht illustriert, indem sie mit Becmanns andernorts formulierter Verteidigung des obrigkeitlichen Religionszwanges in Verbindung gebracht wird. 115 Auf diese Weise nimmt das Send-Schreiben die Auseinandersetzung zum Anlaß, um mit Nachdruck vor den politischen Absichten zu warnen, die Becmann jenseits der mit Masius ausgetauschten Streitschriften in den Meditationes politicae offenbart hatte. Diese Warnung erhält ihre besondere Brisanz und ihre tatsächliche Funktion im Hinblick auf die konfessionelle Situation in Brandenburg, die Pufendorf immer wieder Anlaß zur Besorgnis gegeben hatte: Ein reformiertes Herrscherhaus stand hier einer mehrheitlich lutherischen Bevölkerung gegenüber. Weder Rechenberg noch Pufendorf konnte daran gelegen sein, daß sich die Situation der Lutheraner unter dem Einfluß der Becmannschen Propaganda verschlechterte, und weil ein anticalvinistischer Ausfall weder taktisch geraten war noch aus sachlichen Erwägungen in Frage kommen konnte, mußte der Widerspruch gegen die politischen Intentionen eines reformierten brandenburgischen Untertans mit einer gewissen Vorsicht und eher appellativ angebracht werden. Freilich ist der Adressat dieses Widerspruchs auch hier nicht der Debattengegner, sondern eher noch das Publikum und genauer die brandenburgische Landesobrigkeit. Denn an sie richtet sich das Send-Schreiben am Ende indirekt und doch appellativ, indem es rhetorisch die Gewißheit vorgibt, »eine hochvernünfftige, gerechte und genereuse Obrigkeit« 116 werde den anti-lutherischen Vorstellungen Becmanns keinerlei Raum geben. Die im Send-Schreiben artikulierte Kritik hielt Pufendorf — trotz der von ihm genutzten Gestaltungsmöglichkeiten - schließlich doch nicht für ausreichend, denn wenige Monate nach Erscheinen des Textes heißt es im Postskript zu einem Brief an Adam Rechenberg: »Ich hoffe aber, es werde ein vernünftiger, discreter und gelehrter Lutheraner sich finden, der diesem Mann die ohren reibet, ohne die gantzen Kirchen und Potentaten zu touchiren.« 117 112 113 114 115 116 117

Ebd., S.7. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 15. Ebd. Brief an Adam Rechenberg vom 2. 5.1691. In: Pufendorf: Briefwechsel (wie Anm. 16). Noch vor der Publikation des Send-Schreibens hatte sich Pufendorf erneut über Becmanns anti-lutherische Unbotmäßigkeiten beklagt: »dieser mann gönnet unser religion nichts guts, und ist werth, daß man ihm die ohren reibe«. Brief an Adam Rechenberg vom 31.1.1691. In: Ebd.

3. Pufendorf: Beobachtung und Teilnahme

143

Veranlaßt wurde diese Äußerung durch Becmanns Bemühen um eine Druckgenehmigung für seine zweite gegen Masius gerichtete Streitschrift. Denn bei dieser Gelegenheit kam Pufendorf doch noch, und zwar an exponierter und darum recht sensibler Stelle mit der Kontroverse in einen direkten Kontakt: Pufendorf wurde vom geheimen Rat um eine Stellungnahme gebeten und empfahl mit Blick auf die zu befürchtende Fortsetzung des nur für die »Papisten« nützlichen Streits, die verlangte Druckgenehmigung zu verweigern. Dabei räumte er ein, »daß Masius allerdings unrecht hette, daß er die Reformirte angegriffen, und daß man diesen nicht verdenken könte, daß sie ihre Kirchen und Doctores defendirten oder excusirten, so gut sie könten«. Becmann aber habe sich »aufs recriminiren« gelegt, und das sei »nicht allein wieder die raison und christliche liebe, sondern auch wieder des Churfiirsten interesse und befehl [...], der ihn nur permittiret die reformirte lehre und lehrer zu defendiren, nicht aber die unßrigen zu schelten«.118 Der hier auftauchende Hinweis auf einen kurfürstlichen Befehl deutet darauf hin, daß Becmann sich offenbar tatsächlich nicht bzw. nicht nur aus eigenem Antrieb in die Kontroverse begeben hatte, und dies macht auf Anhieb nur allzu verständlich, warum Pufendorf seine Hoffnung, Becmann möge in einem geeigneten Lutheraner seinen Meister finden, nur vertraulich mitteilt. 119 Denn es liegt auf der Hand, daß Pufendorf als Lutheraner an einem überwiegend durch Reformierte geprägten Hof unter keinen Umständen die Wertschätzung des brandenburgischen Kurfürsten verlieren durfte. Insofern konnte seine Stellungnahme nur moderat ausfallen, sie durfte eindeutig in ihrem Ziel sein, doch ließ sich dieses nur durch Argumente verfolgen, die von der politischen Interessenlage des Kurfürsten ausgingen. Durchaus fatal wäre es gewesen, wenn Pufendorf sich dem Verdacht ausgesetzt hätte, sein negatives Votum gründe auf prinzipiellen Vorbehalten gegenüber der reformierten Konfession.120 Derlei Rücksichten spielten im vertraulichen Briefwechsel mit Rechenberg freilich keine Rolle. Und so greift Pufendorf hier in seiner Kritik über Becmann hinaus und bindet dessen Mißbilligung an eine grundsätzliche Kritik des Calvinismus zurück. Offenbar zusätzlich gereizt durch seine in konfessioneller Hinsicht isolierte Position am Berliner Hof, 121 schreibt er am 29. August 1691:

1,8 119

120

121

Brief an Adam Rechenberg vom 2 . 5 . 1 6 9 1 . In: Ebd. »Ich bitte M h H wolle dieses, was ich so im vertrauen schreibe genührend mesuragiren, denn ich weis, an welchem ort ich lebe.« Brief an Adam Rechenberg vom 2. 5.1691. In: Ebd. Immerhin ist Pufendorfs negative Stellungnahme zu Becmanns Streitschrift bei Benjamin Ursinus, dem reformierten Hofprediger in Berlin, nicht eben auf Gegenliebe gestoßen. Vgl. dazu Pufendorfs Schreiben an Adam Rechenberg vom 2 9 . 8 . 1 6 9 1 , in: Pufendorf: Briefwechsel (wie Anm. 16), sowie Detlef Döring: Pufendorf-Studien (wie Anm. 15), S. 100. Siehe dazu etwa Pufendorfs Klage in einem Brief an Rechenberg vom 24.10.1691; es heißt dort im Hinblick auf die Stellensuche eines Lutheraners: »Bey uns hier ist wohl wenig zu hoffen. Denn nur der ruhige H . von Meinders unter den wirklich geheimbden räthen Lutherisch ist, der sein hauß voll von seinen freunden aus Westphalen hat. Die gantze Cantzley bestehet aus reformirten. Und werden data opera die lutherischen ausgeschlossen, und die reformirten Räthe brauchen auch secretairs von ihrer religion. Und ziehet sich von allen orten und enden was reformirt ist nach Berlin.« In: Pufendorf: Briefwechsel (wie Anm. 16).

144

Händel mit Hector Gottfried Masius

»Wenn Masius die historie vom vorigen und itzigen buche recht inne hette, so solte erm Dr. Becmanno so viel sagen, daß er genug daran haben solte. Die klugen Papisten gestehen selbst, daß wenn die reformation auf diese weise, wie sie Lutherus angefangen, were fort gesetzet worden, so were sie universal worden. Aber so fiihrete der böße feind die bildstürmerey und andere Calvinsche würmerey dazwischen. Daraus so viel bludtvergießen Niederlande und Frankreich entstunden. [...] Und woher ist die unruhe in Teutschland entstanden, als von denen Calvinischen consiliis. Denn wenn wir alle weren Lutherisch geblieben, wie wir von anfang warn, weren unsere Sachen in weit beßren Zustand. Aber durch der Calvinisten naseweisheit ist das schädliche Schisma in Teutschland eingerißen, welches unser gantzes wesen fast übern hauffen geworffen, und uns noch diese stunde schwächt. Zumahl ihr wesen und künsteln gar wohl hette unterwegen bleiben können, und alles was sie praeter Lutheri reformationem hinzugethan, theils irrig ist, theils nicht 3. heller werth ist. Und wolte ich wünschen, daß iemand dieses alles dem Becmanno recht wüßte unter die naße zureiben, samt den heimlichen gift, den er hin und wieder in seinen Schriften und reden wieder die unsrigen blicken lasset.« 1 2 2

Auf diese Weise erhält Pufendorfs Unmut über Becmanns Vorgehen eine neue Dimension, die zugleich sein bisheriges Engagement in ein neues Licht setzt: Denn nun wird Becmanns Fortsetzung und Forcierung der Konfessionsstreitigkeiten nicht länger aus einer ausgewogenen irenischen Perspektive kritisiert, vielmehr gibt Pufendorf zu erkennen, daß seine Kritik an Becmann über dessen aktuelle Streitigkeiten hinausgeht und sich zu einem nicht unwesentlichen Teil aus einer prinzipiellen Mißbilligung des Calvinismus speist. Dies geschieht freilich im Verborgenen, dafür aber mit beachtlicher Vehemenz, wobei allerdings bemerkenswert ist, daß sich Pufendorf in dieser pointierten Form nur gegenüber Rechenberg offenbart; Christian Thomasius wird von ihm - trotz aller Wertschätzung - nur bedingt ins Vertrauen gezogen; nicht einmal die Hintergründe des Send-Schreibens von Andreas Montanus mochte Pufendorf preisgeben. Seine nicht allein Thomasius gegenüber an den Tag gelegte Vorsicht beruhte sicher überwiegend auf im engeren Sinn politischen Rücksichten, die Pufendorf mit Blick auf seine Position in Berlin nehmen mußte, doch gab es auch im weiteren Sinn politische, wenn nicht gar theoretische Gründe, die ihn davon abhielten, seine lutherische Sicht auf die konfessionelle Konkurrenz allzu eindeutig zu exponieren. Denn Pufendorf war — wie Detlef Döring in seinen Pufendorf-Studien prä2ise nachzeichnet — seit dem Ende der siebziger Jahre immer wieder mit Überlegungen zu einer die Konfessionen verbindenden Fundamentaltheologie befaßt: Es ging ihm um eine »in formam justae artis« entwickelte Theologie, deren Glaubensartikel mit Hilfe der mathematischen Methode aus der Heiligen Schrift logisch zwingend und daher unwiderlegbar abgeleitet werden sollten. 123 Die Pläne sind Anfang der 90er Jahre konkreter geworden und mündeten schließlich in dem erst posthum erschienenen Jus feciale124. Angesichts dieser über die aktuellen Auseinandersetzungen hinausreichenden Ambitionen mußte Pufendorf befürchten, daß ein manifester Anticalvinismus die öffentliche Wahrnehmung und damit den nicht sehr wahrscheinlichen aber auch nicht unbedingt ausgeschlossenen Erfolg der Arbeit mindestens beeinträchtigen würde. Brief an Adam Rechenberg vom 29. 8 . 1 6 9 1 . In: Ebd. 123 Vgl. dazu ausführlich Döring: Pufendorf-Studien (wie Anm. 15), S. 76 und S. 85. 124 Yg[ z u r y o r _ u n ( j Entstehungsgeschichte sowie zum Inhalt und zur Bedeutung des Jus feciale: Ebd., S. 8 1 - 1 1 1 , sowie Simone Zurbuchen: Introduction. In: Samuel Pufendorf: The Divine Feudal Law: Or, lovenants with Manbind, Represented. Edited and with an Introduction by Simone Zurbuchen. Indianapolis 2002, S. I X - X I X . 122

3. Pufendorf: Beobachtung u n d Teilnahme

145

Ad 3.) Durch eigene Erfahrungen war Samuel Pufendorf zu einem versierten Streiter geworden, 125 der offenbar gerne bereit war, Thomasius und Rechenberg mit wertvollen Hinweisen zu einer aussichtsreichen Streitstrategie unter die Arme zu greifen. Im Prinzip hielt Pufendorf eine gelehrte Auseinandersetzung für ein probates Mittel, den eigenen wissenschaftlichen Ruhm zu befördern. Als Thomasius ihm - wie sich aus einem Schreiben vom 30. Dezember 1688 erschließen läßt - mitteilt, auf die gegen seine Philosophia aulica gerichtete Kritik eines Cartesianers reagieren zu wollen, ist Pufendorf sogleich dafür: »Daß ein Cartesianer sich an M h H machen will, halte ich für gut, imfall es ein witziger kerl ist. D e n n da bekomt man occasion viel dinge zu deduciren, und umb die wette zu raisonniren; und wenn es nur ehrlich zugehet, ist es der ordinarie weg berühmt zu werden.«

Allerdings - und das weiß Pufendorf aus eigener Anschauung sehr genau - findet der gelehrte Streit eben nicht immer, womöglich sogar eher selten als ein edelmütiges Ringen um die Wahrheit statt, wo am Ende nur der zwanglose Zwang des besseren Arguments den verdienten Sieg davonträgt. In diesen Fällen kommt es auf Vorsicht und kluges Agieren an. Die knappen Anweisungen, die Pufendorf in Zusammenhang mit der Montanus-Epistel auch aus eigenen Interessen - an Rechenberg richtet, zeigen Pufendorfs routinierten Umgang mit Streitigkeiten auf sensiblem Terrain. Abgesehen davon, daß er mit Bestimmtheit verlangt, in der Schrift nicht erwähnt zu werden, empfiehlt er gleich in mehrfacher Hinsicht ein indirektes Vorgehen: so sei es »minus invidiosum« und damit vorteilhaft, wenn man weder Wilhelm von Oranien und die dänischen Könige Friedrich III. und Christian V. noch den Kurfürsten Friedrich III. von Brandenburg nennen würde. Um dennoch argumentativ zu gehaltvollen Aussagen zu gelangen, könne man »es doch also circumscribiren, daß ein ieder mercken kann, weme man meinet«. 126 Auch hinsichtlich der Kritik an Becmann hält Pufendorf Vorsichtsmaßnahmen für angezeigt: Dessen eigentliche Intentionen sollten in einer kritischen Perspektive nur angedeutet werden, »ausdrückliche worte« wären nach Pufendorfs Auffassung besser zu vermeiden. Die Hintergründe für diesen Rat werden von Pufendorf nicht eigens erläutert, offenbar geht er davon aus, daß Rechenberg aller weiteren Erklärungen nicht bedürftig ist. Denn auf Anhieb sollte klar sein, daß eine direkte Attacke auf Becmann nicht nur eine - womöglich unerquickliche - Fortsetzung und Steigerung der Auseinandersetzung zur Folge hätte, sondern am Ende sogar den brandenburgischen Kurfürsten auf den Plan rufen könnte, der in der Lage wäre, mit der Androhung strafrechtlicher Sanktionen seinen Untertanen in Schutz zu nehmen. Die Initiativen, die wenig später sowohl der dänische König als auch der brandenburgische Kurfürst in der Kontroverse zwischen Masius und Thomasius ergriffen haben, machen deutlich, daß die strafrechtliche Fortführung einer ursprünglich gelehrten Auseinandersetzung durchaus befürchtet werden konnte.

125

126

Vgl. zu den mit und um Pufendorf geführten Auseinandersetzungen das reichhaltige Material, das Fiammetta Palladini zusammengestellt hat: Discussioni seicentesche su Samuel Pufendorf. Scritti latini: 1663-1700. Bologna 1978. Allein die von Pufendorf geführten Streitigkeiten dürften genügend Stoff für eine nahezu vollständige Phänomenologie des Streits im ausgehenden 17. Jahrhundert bieten. Brief an Adam Rechenberg vom 16.12.1690. In: Pufendorf: Briefwechsel (wie Anm. 16).

146

Händel mit Hector Gottfried Masius

Um daher vor unliebsamen Konsequenzen möglichst sicher zu sein und sich dennoch die Chance zu erhalten, die eigenen Vorstellungen unbekümmert zu äußern, hält Pufendorf als letzte Vorsichtsmaßnahme noch die Geheimhaltung der Autorschaft für ratsam: »Wenn es kann secretiret werden, daß man den autorem nicht erfehret, so kann man die judicia dorten desto freyer hören.« 127 Die literarischen Vorkehrungen reichen indessen regelmäßig dann nicht aus, wenn eine Streitigkeit jenseits der akademischen Selbstgenügsamkeit angesiedelt ist und in einer spannungsreichen Wechselwirkung zu ihrem politischen Kontext steht. In dem Augenblick werden strategische Maßnahmen notwendig, die ganz unabhängig vom Sachgehalt der Kontroverse Einfluß auf ihren Verlauf nehmen. Die Art und Weise, wie sich Samuel Pufendorf in der Auseinandersetzung zwischen Masius und Thomasius zugunsten des letzteren engagiert, macht in nuce den Konnex anschaulich, der zwischen dem Sachgehalt der Kontroverse einerseits und ihrem politischen Kontext andererseits existiert, wobei freilich sogleich zu bemerken ist, daß die Unterscheidung zwischen den beiden Momenten in der Regel nur in der Form einer heuristischen Idealisierung möglich sein dürfte, denn der Sachgehalt einer Auseinandersetzung wird wohl zu einem nicht unwesentlichen Teil — reflektiert oder unreflektiert - von den Bedingungen und Erfordernissen seines - im weitesten Sinne - politischen Kontextes bestimmt. Als Pufendorf noch im Dezember 1688 Thomasius' erste Reaktion auf das Interesse principum des dänischen Hofpredigers erhielt, begrüßte er - ein wenig knapp, aber immerhin doch eindeutig - die Initiative. Masius habe - wie oben bereits zitiert - »ein nobel argumentum recht kahl elaboriret« und eben deswegen »billig eine castigation« verdient. 128 Ein halbes Jahr später hatte sich die Situation bereits zugespitzt. Unter dem Pseudonym Peter Schipping war zu Beginn des Jahres 1689 ein Abgenöthigtes Gespräch von dem Bande der Reli-

gion und Societät, worinnen D. Masii interesse principum circa religionem Evangelicam gegen eines neulichen Scribenten Ernsthafte Gedanken verteidiget wird erschienen, und Thomasius hatte seinerseits geradezu umgehend reagiert, indem er in den Mai- und Juni-Ausgaben seiner Monatsgespräche den kompletten Text abdruckte und mit kritischen Noten versah. Daraufhin gelang es Masius, den dänischen König zu einer Beschwerde beim sächsischen Kurfürsten zu veranlassen: Thomasius habe sich, so heißt es in einem Schreiben vom 12. Juni 1689, »vermessentlicher Weise unterstanden«, Masius »mit groben Anzüglichkeiten anzufechten«, und »von der Majestät und gewalt, so alle Potentaten und Prinzen immediate von Gott haben, gantz verkleinerlich zu schreiben«. Daher solle Thomasius »exemplariter gestrafft« und dazu veranlaßt werden, seine »Scandaleuse Schrifft öffentlich zu revociren«. 129 Die Intervention des dänischen Königs veränderte auch in der Sicht Samuel Pufendorfs die Situation. Zwar wunderte er sich, »wie man S.k.M:tt von Dennemarck disponiret, daß sie sich so weit in die sache mit Masio interessiret«, doch habe man mit »einem stärckern zu fechten« und müsse

127 128 129

Ebd. Brief an Christian Thomasius vom 3 0 . 1 2 . 1 6 8 8 . In: Ebd. Zitiert nach Thomasius: Gemischte Händel. Andrer Theil (wie Anm. 5), S. 233.

3. Pufendorf: Beobachtung und Teilnahme

147

sich daher »aufs pariren legen«.130 Vorderhand mußte es im Interesse einer Schadensbegrenzung darum gehen, das Umfeld genauer zu sondieren. So kündigte Pufendorf noch im selben Schreiben an, seinen in dänischen Diensten stehenden Bruder Esaias um Hilfe zu bitten,131 und beruhigte Thomasius mit der Aussicht, im Notfall die Unterstützung des reformierten brandenburgischen Kurfürsten zu erhalten, denn diesem könne Thomasius »seine sache damit sehr plausibel machen, weil dieser Masius die reformirte religión so übers haupt beschuldigen wollen, als ob sie den Printzen etwas gefehrlich were: und daß er nicht umbhin gekönt, weil dieser Mann ein solch schön argumentum so elende tractiret, ihn ein wenig zu examiniren; und daß er potentaten darin mengen will, da er sich mit der feder defendiren sollen«.132 In jedem Fall aber rät Pufendorf eindringlich, auf weitere publizistische Initiativen zu verzichten. Nur wenn es gelänge, den »process auf die lange bank« zu ziehen, »verblutet sich das werck selbst«.133 Eine ideal typische Beilegung des Streits durch die argumentativ sachgerechte Überzeugung der einen Partei durch die andere war unter den gegebenen Bedingungen nicht möglich. Allerdings: Wenn auch die streitenden Parteien in der Regel den Anspruch erheben, die Auseinandersetzung durch den Austausch von Argumenten zu einem sachgerechten Konsens führen zu wollen, gehört ein solches Ende einer Debatte zweifellos zu den Ausnahmen. Viel eher mündet eine Auseinandersetzung in einer Art Diskurserschöpfung: Die Parteien haben sich und das Publikum ermüdet, der Streit verstummt, ohne daß eine von allen akzeptierte Lösung erreicht worden wäre. Auch der Kontroverse zwischen Becmann und Masius sagt Pufendorf ein derartiges Ende voraus: »Wenn sie sich gnugsam ausgeschändet haben, werden sie wohl aufhören.«134 Ein solches Debattenende muß nicht unbedingt einen Mangel an Produktivität indizieren, denn im Laufe der Auseinandersetzung wird sich das Publikum als der eigentliche Adressat einer Kontroverse längst ein Urteil gebildet haben, so daß sich entweder eine der konfligierenden Positionen jenseits der unmittelbar am Streit beteiligten Parteien durchzusetzen beginnt, oder aber beide Auffassungen werden durch eine dritte Sichtweise überwunden. Die Kontroversen zwischen Masius und Becmann und zwischen Thomasius und Masius lassen sich als Beispiele für beide Reaktionen lesen: während die zuerst genannte Debatte im Send-Schreiben durch eine dritte Position abgelöst wird, ist es — wie schon eingangs gezeigt wurde — Thomasius trotz aller Anfechtungen gelungen, sich gegen Masius durchzusetzen. Pufendorfs Hilfestellungen und Ratschläge in Fragen des Streits gingen freilich über den aktuellen Anlaß hinaus. Als Thomasius ihm mitteilt, das Erscheinen der zu einem veritablen Streitmedium ausgebauten Monatsgespräche einzustellen,135 kann Pufendorf nicht umhin,

130

Brief an Christian Thomasius vom 28. 8 . 1 6 8 9 . In: Pufendorf: Briefwechsel (wie Anm. 16).

131

»Ich schreibe heute Meinem bruder deswegen zu, ob er etwas bey der sache thun kann.« Ebd.

132

Ebd.

133

Ebd. Brief an Christian Thomasius vom 2 1 . 1 0 . 1 6 9 1 . In: Ebd.

134 135

Vgl. zur »Abdanckung des Autoris« Frank Grunert: Von polylogischer zu monologischer Aufklärung. Die Monatsgespräche von Christian Thomasius. In: Martin Fontius und Werner Schneiders (Hg.): Die Philosophie und die Belles-Lettres. Berlin 1997. S. 36 ff.

148

Händel mit Hector Gottfried Masius

diese Entscheidung ausdrücklich zu begrüßen. Zwar hält er »die Monate« für ein insgesamt nützliches und »anmuthig werck«, »allein«, so bemerkt Pufendorf in einem Brief vom 24. März 1691, »ich kan doch nicht anders als approbiren, daß M h H Rath dieser arbeit valediciret hat«. »Denn erstlich«, so fährt er fort, »erfordert es viel zeit und mühe, wenn man etwas sagen will, das die probe helt. Aber vornehmlich ist es einem particuliern [?], der seinen nahmen für sein buch setzet, schwer so vieler leute invidiam und haß auf sich zuladen, denen man die Wahrheit gesaget. Die Narren sind auch leute, ohne das sie so klug nicht seyn; und suchen solche sich auf alle weise zu revengiren.« 136 Und in einer solchen Situation könne häufig genug der Streit nicht mit den eigenen Mitteln ausgestanden werden, im Fall seiner schwedischen Auseinandersetzungen wären es allein »ehrliche patronen in Senat zu Stockholm« gewesen, die ihn davor bewahrt hätten, von seinen Widersachern »übern hauffen« geworfen zu werden. 137 Streitigkeiten konnten ohne die rechte Rückendeckung leicht zu einem unkalkulierbaren Risiko werden. Masius war unter der Aegide des dänischen Königs in Sicherheit, und Becmann wurde vom brandenburgischen Kurfürsten gedeckt. Für Thomasius dagegen, der im März 1690 Sachsen verlassen und sich in brandenburgische Dienste begeben hatte, konnte die Situation schwierig werden. Nachdem Masius im März 1691 die von Henkershand erfolgte Verbrennung der Monatsgespräche erwirkt hatte, intervenierte zwar der brandenburgische Kurfürst beim dänischen König, doch war man in Berlin, wie Pufendorf im Juni 1691 schreibt, über die ganze Affäre nicht eben erfreut. 138 Und so führte nicht zuletzt die Kontroverse mit Masius dazu, daß der brandenburgische Staatsmann und Geheime Rat Franz von Meinders Thomasius durch die Vermittlung Samuel Pufendorfs zu verstehen gab, er würde »wohl thun«, »wenn er etwas publiciren wollte, daß Er es zuvor anhero schickte. Welches auch wohl der sicherste weg were alle offensam zu decliniren.« 139 Damit wurde die Art und Weise, wie Thomasius seine gelehrten Auseinandersetzungen zu führen gewohnt war - zwar rücksichtsvoll, aber doch mit Nachdruck — mißbilligt, und zugleich ließ man die Gelegenheit nicht verstreichen, Thomasius die angezeigten Verhaltensmaßregeln mit auf den Weg zu geben: »Ihre meinung war, daß M h H wohl thun würde, wenn Er ins künftige seine neider oder von denen er dissentirte, mit weniger picquanterie angriffe, und sonderlich gantze collegia und faculteten verschonete. Denn wenn man gleich derselben dogmata refutieren möchte, und lehre errores anweisen; so were doch am besten, daß man damit dergestalt verführe, wie hiesiges landes religions edicta vermögen, daß man thesin und antithesin tractire, sine acerbitate, und ohne die person zu perstringiren. Und erwirkte solches nur haß und wiederwertigkeit, damit weder dem publico noch M h H gedienet werde.« 140

136 Brief an Christian Thomasius vom 2 4 . 3 . 1 6 9 1 . In: Pufendorf: Briefwechsel (wieAnm.16). 137 138

139 140

Ebd. »Der H . von Meinders sagte auch, sie weren fast embarassiret mit Masij wesen, der seinen brandt mit raison und exempel behaupten wollte«. Brief an Christian Thomasius vom 2 7 . 6 . 1 6 9 1 . In: Ebd. Ebd. Ebd.

4. Thomasius: Streit durch Aufklärung - Aufklärung durch Streit

149

Angesichts dieser Sachlage konnte Thomasius ganz unabhängig von dem inhaltlichen status controversiae nicht länger daran interessiert sein, den Streit mit Masius fortzusetzen. Weil er die Auseinandersetzung zumindest nicht in erster Linie gesucht hatte, um in einer strittigen Sachfrage zu einer Einigung zu kommen, war aus seiner Sicht die Fortsetzung der Kontroverse auch gar nicht notwendig: den von Thomasius beabsichtigten Zweck hatte der Streit genaugenommen bereits erfüllt.

4.

Christian Thomasius: Streit durch Aufklärung - Aufklärung durch Streit

Die Auseinandersetzung zwischen Christian Thomasius und seinem Kopenhagener Widersacher ist im Vergleich zur Masius-Becmann-Kontroverse weitaus komplizierter, konsequenzenreicher und daher — aus einer historischen Perspektive - zweifellos auch spannender. Denn während sich die eindimensionale Debatte über den politischen Vorrang eines bestimmten religiösen Bekenntnisses sowohl in ihren Zielen wie auch in ihren Mitteln eher dürftig ausnimmt, verfugen die Debattenbeiträge von Christian Thomasius über einen ungewöhnlichen Reichtum von inhaltlichen, formalen und strategischen Aspekten. Obwohl Thomasius seine Intervention selbstverständlich über die Notwendigkeit legitimiert, in einer wichtigen Sachfrage Stellung zu beziehen, 141 zeigen die unterschiedlichen - literarischen, diskursiven und selbst noch ikonographischen - Mittel seiner Stellungnahmen, daß ihm die Diskussion des sachlichen Problems zugleich als Vehikel für die Inszenierung eines grundlegenden Wandels dient. An Brisanz gewinnt die Auseinandersetzung freilich noch zusätzlich durch politische und juristische Verwicklungen, die Rechenberg und Pufendorf peinlichst zu vermeiden suchten und die Becmann und Masius einander immer nur rhetorisch androhten: Im eskalierenden Streit mit Christian Thomasius mochte Masius nämlich auf rechtliche Schritte nicht verzichten und erreichte in Kopenhagen die am 9. März 1691 erfolgte öffentliche Verbrennung der gegen ihn gerichteten Schriften. Und schließlich muß bei der Darstellung und der Analyse der Auseinandersetzung auch immer berücksichtigt werden, daß Thomasius' Motivation - selbstverständlich nicht nur, aber auch - von seinen durchaus nachvollziehbaren Karriererücksichten getragen wird. Der Streit mit Masius gehört - wie Thomasius in den Gemischten Händeln betont - biographisch in den Kontext 141

So heißt es im Mai-Heft der Monatsgespräche von 1689: »Und zwar habe ich mich mit des Herrn Masii Buch desswegen etwas länger aufgehalten, weil ich gespüret, daß dasselbige eine controversiam illustrem tractirete, von derer decision in etwas der Kirchen-Friede dependiret, und gewahrgeworden, daß man die Meinung des Herrn Masii hin und wieder als eine fromme und wahrhaftige Meinung recommendiret, da ich doch geglaubet, so klar und augenscheinliche Gründe zu erkennen, daß dieselbe unter denen Evangelischen Christen grosse Ursach zum Zwiespalt oder Zerrüttung gebe.« (S.311) Vgl. auch Monatsgespräche. Vorrede zu den Heften des Jahrgangs 1689, S. [38], sowie Gemischte Händel. Andrer Theil (wie Anm. 5), S. 209 f. Thomasius hat den Titel seiner zwischen 1688

und 1690 in Halle erscheinenden Freymüthigen

Lustigen und Ernsthafften iedoch Vernunfft- und Gesetz-

mäßign Gedancken und Monats-Gespräche immer wieder variiert. Im folgenden wird das Periodikum unter Angabe von Monat sowie Jahres- und Seitenzahl mit dem üblich gewordenen Kürzel Monats-

gespräche zitiert.

150

Händel mit Hector Gottfried Masius

seiner >Leipziger Streitigkeiten< u n d mußte m i t klugen Mitteln a u f eine Weise geführt werden, die die von längerer H a n d geplante Übersiedlung nach B r a n d e n b u r g möglichst beförderte. 1 4 2 Insofern hat sein Gegner durchaus nicht Unrecht, wenn er auf die Frage, was T h o masius bewogen habe, als Lutheraner »eine so unverschämte Schrifft gegen den D . M a s i u m herauszugeben«, mit einem denunziatorischen Unterton bemerkt: »Die Ursach ist leicht zu ermessen; dann außer dem, daß Momus alles ohn Unterscheid tadelt, und dieser ehrsüchtige Mensch allenthalben bekandt sein will, scheinets auch, die desparation habe ihn hierzu getrieben, umb denen Reformirten Herren die Cour zu machen; nachdem er bey Lutherischen nicht fortkommen können, darumb habe er gegen seine eigene Religion und deren Doctores, als ein zu Apostasie fertiger sich declariren müssen.« 143

4 . 1 . Verlauf u n d Inhalt der Kontroverse: Brennende Bücher u n d zwei T h e s e n Versucht man, die Auseinandersetzung zunächst von ihrem äußeren Hergang her in den Blick zu b e k o m m e n , dann läßt sich a u f der Basis der von T h o m a s i u s selbst gelieferten Darstellung i m zweiten B a n d der Gemischten philosophischen

und juristischen

Händeln

( 1 7 2 4 ) in groben

Z ü g e n der folgende Verlauf festhalten: N a c h d e m M a s i u s 1 6 8 7 sein Interesse principum religionem

evangelicam

publiziert hatte und T h o m a s i u s 1 6 8 8 in seinen

circa

Monatsgesprächen

einen boshaften Verriß folgen ließ, erschien A n f a n g des Jahres 1 6 8 9 als Reaktion darauf unter d e m N a m e n Peter S c h i p p i n g ein Gespräch pro M a s i o mit d e m Titel: Gespräch von dem Bande der Religion circa religionem Evangelicam

und Societät,

worinnen

gegen eines neulichen Scribenten

D. Masii

Ernsthafte

Abgenöthigtes

interesse

principum

Gedancken

vertheidi-

get wird. Unklar ist, o b diese Schrift M a s i u s selbst verfaßt hat oder nur ausdrücklich von ihm veranlaßt wurde, 1 4 4 in j e d e m Fall steht aber außer Frage, daß die Schrift m i t seiner Bil142 Ygj d a z u Lieberwirth: Christian Thomasius' Leipziger Streitigkeiten (wie Anm. 10), S. 158, sowie Werner Schmitz: Ein vergessener Rebell (wie Anm. 12), S.97. Daß Thomasius schon relativ frühzeitig versuchte, mit der Hilfe von Pufendorf in Brandenburg Fuß zu fassen, geht auch aus dessen Briefen hervor. Vgl. etwa die an Thomasius gerichteten Schreiben vom 16.10.1688, 10.4.1689, 7. 8.1689 und vom 28. 8.1689. In: Pufendorf: Briefwechsel (wie Anm. 16). 143

Peter Schipping: Abgenöthigtes Gespräch von dem Bande der Religion und Societät, worinnen D. Masii interesse principum circa religionem Evangelicam gegen eines neulichen Scribenten Ernsthaffte Gedancken vertheidiget wird. In: Monatsgespräche. Mai 1689, S. 332. Die Art und Weise wie Thomasius die Auseinandersetzung mit Masius führte, ist allerdings auch von anderen Zeitgenossen mit seinen weiteren Karrierewünschen in Zusammenhang gebracht worden. Dies geht aus einer Bemerkung hervor, die sich in einem Brief von Gottfried Wilhelm Leibniz an den Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels findet. Siehe das Schreiben vom 10. (?) Januar 1691, in: G.W.Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe (Akademieausgabe) I, 6, Nr. 76, hier S. 155. Auf diese Stelle bei Leibniz hat mich dankenswerterweise Ursula Goldenbaum aufmerksam gemacht.

144

Während Pufendorf in einem Schreiben vom 10.4.1689 Georg Christian Bremer, »eines Predigers Sohn aus Coppenhagen« für den Autor dieses »schandlosen scriptums pro Masio« hielt, war Thomasius der Ansicht, daß der »Text der Schippingschen Schrifft gnugsame indicia suppeditire, daß der Herr Masius seines [...] vielfältigen protestirens, unerachtet dieselbe, wo nicht selbst gemacht, doch zum wenigsten angegeben, und in discursu das meiste dazu suppeditiret.« Gemischte Händel. Andrer Theil (wie Anm. 5), S.226. Masius hatte in einem an Thomasius adressierten Brief behauptet, an

4. Thomasius: Streit durch Aufklärung - Aufklärung durch Streit

151

ligung erschienen ist. Als Thomasius den kompletten Text mit kritischen Noten versah und im Mai- bzw. im Juni-Heft seiner

Monatsgespräche

publizierte, hielt Masius die Mittel einer

rein gelehrten Auseinandersetzung für nicht mehr ausreichend und versuchte, mit der Hilfe des dänischen Königs seinen unbotmäßigen Gegner zur Raison zu bringen. Christian V. beklagte dann auch in einem Brief an den Kurfürsten von Sachsen vom 12. Juni 1 6 8 9 , daß Thomasius »sich vermessentlicher Weise unterstanden« habe, Masius »mit groben Anzüglichkeiten anzufechten«, und »von der Majestät und gewalt, so alle Potentaten und Prinzen immediate von Gott haben, gantz verkleinerlich zu schreiben«. Daher möge Thomasius »exemplariter gestrafft« und veranlaßt werden, seine »Scandaleuse Schrifft öffentlich zu revociren«, um Masius auf diese Weise Satisfaktion zu verschaffen. 145 Die ohnehin prekäre Situation in Sachsen spitzte sich weiter zu und wurde schließlich für Thomasius unhaltbar. 146 Dabei war die Auseinandersetzung mit Masius sicherlich nicht ohne Bedeutung, immerhin hatte sich der Kopenhagener Hofprediger zweimal erfolgreich mit Klagen an den Hof in Dresden gewandt, 1 4 7 doch verlor Thomasius die Gunst höfischer Kreise erst in dem Augenblick, als er in genauem Gegensatz zu den politischen Interessen Kursachsens die gemischtkonfessionelle Ehe zwischen Herzog Moritz Wilhelm von Sachsen-Zeitz und Prinzessin Maria Amalia von Brandenburg theologisch wie juristisch rechtfertigte. 148 Nachdem

145 146

147 148

Peter Schippings Schrift unbeteiligt zu sein, vielmehr sei sie »zwar nicht ipso inscio, aber doch invito gemacht worden«. (Ebd.) Gegenüber Georg Christian Bremer, der sich zumindest als Bote zwischen Leipzig und Kopenhagen verwenden ließ, gab Masius einen nicht weiter bekannten Herrn Eier als Verfasser der Schrift an (vgl. Gemischte Händel. Andrer Theil (wie Anm. 5), S. 217, 254). Zitiert nach Thomasius: Gemischte Händel. Andrer Theil (wie Anm. 5), S. 233. Nach eingehendem Aktenstudium zählt Ernst Landsberg für die Zeit von 1688 bis zum 10. März 1690 immerhin neun gegen Thomasius angestrengte Verfahren. Es handelt sich dabei im wesentlichen um Klagen, die von seinen orthodoxen Widersacher in Leipzig vorgebracht wurden. Landsberg: Zur Biographie von Christian Thomasius (wie Anm. 12), S. 4 ff. Vgl. ebd., S. 5. Vgl. Christian Thomasius: Rechtmäßige Erörterung der Ehe- und Gewissens-Frage, ob zwey Fürstliche Personen im Römischen Reich, deren eine der Lutherischen, die andere der Reformirten Religion zugethan ist, einander mit guten Gewissen heyrathen können? Thomasius hatte damit noch im Dezember 1689 auf eine anonym erschienene Schrift reagiert, die sich gegen die gemischtkonfessionelle Fürstenehe wandte und nur wenige Monate zuvor von dem Magdeburger Probst Philipp Müller lanciert worden war (»Fang des Edlen Lebens durch Frembde Glaubens-Ehe«). Daß Thomasius mit seiner Rechtmäßigen Erörterung in Brandenburg auf besonderes Wohlwollen stieß, sollte sich schon wenige Tage nach dem Erscheinen dieser politisch wohlkalkulierten Schrift zeigen. Dies geht aus einer am 25. Januar 1690 publizierten Zeitungsnotiz hervor, die Thomasius dem Wiederabdruck von Müllers Polemik im zweiten Teil seiner Auserlesenen deutschen Schriflen hinzufügt. Darin wird das Erscheinen eines »überaus schändlichen und auffrührischen Tractätleins« mitgeteilt, dessen dem »Instrumento Pacis und Religions-Frieden schnür stracks« zuwiderlaufender Inhalt bereits von dem Leipzigischen Juris-Consulto, Herrn Christian Thomasio »gründlich und wol widerleget worden« sei. Siehe in: Christian Thomasius: Auserlesene deutsche Schriften. Zweiter Teil. Ausgewählte Werke. Bd. 24. Hildesheim, Zürich, New York 1994, S. 104. Zu den zweifellos beabsichtigten Folgen von Thomasius' publizistischem Engagement vgl. Landsberg: Zur Biographie von Christian Thomasius (wie Anm. 12), S. 10f., Lieberwirth: Christian Thomasius' Leipziger Streitigkeiten (wie Anm. 10), S. 158f., sowie Peter Schröder: Christian Thomasius zur Einführung. Hamburg 1999, S. 13fF.

152

Händel mit Hector Gottfried Masius

das Oberkonsistorium in Dresden ihn in Reaktion auf die Klagen von Masius am 3. Februar 1690 dazu verpflichtet hatte, »weder in Leipzig noch andern Orten ohne vorhergehende Censur« etwas drucken zu lassen, 149 und ihn schließlich mit Reskript vom 10. März 1690 unter Androhung einer Strafe von 200 Reichstalern dazu aufforderte, sich »allen Profitirens, Lesens und Disputirens, es geschehe publice oder privatim, oder auf was Art und Weise es wolle; als auch aller Edirung einiger Schriften« 150 zu enthalten, sah sich Thomasius seiner Existenzgrundlage beraubt und siedelte im März 1690 in das nahegelegene kurbrandenburgische Halle über. Hier mochte er die Angelegenheit doch nicht so ohne weiteres auf sich beruhen lassen, und so widmete er seine gesammelten Monatsgespräche des Jahres 1689 — als Resümee seiner Vertreibung — »allen seinen grösten Feinden, insonderheit aber Herrn Hector Gottfried Masio«. Die Zueignungsschrift faßte Masius zu Recht als einen weiteren Affront auf, so daß er einen bereits im Juni 1689 erwirkten königlichen Befehl zur Verbrennung der inkriminierten Schriften nunmehr vollstrecken ließ: Am 9. März 1691 wurden - wie es in einer von Thomasius zitierten Zeitungsnotiz heißt - »Christian Thomasii Schmähe-Schrifften, welche er hiervor und nun wieder aufs neue gegen hiesigen Theologum, Herrn D. Masium herausgegeben, auf Ihrer Königl. Majestät ernsten Befehl [...] auf hiesigem Neuen Marckt durch des Büttels Hand cum infamia Autoris öffentlich in Gegenwart einer grossen Menge Leute verbrannt«. 151 Thomasius beschwerte sich daraufhin bei seinem neuen Landesherrn, dem Kurfürsten zu Brandenburg, und dieser ersuchte den dänischen König »Freund-Vetterlich und dienstlich, den Masium, als den Anfänger dieses gantz unnützen und unnöthigen Streits, dahin nachdrücklich anzuweisen, daß er so wohl fiir seine Person, als auch durch andere, alles fernem Schreibens in dieser materie sich enthalten solle, welches Wir denn zu urgiren, desto mehr Ursache haben, weil es in dieser Sache nicht um eine Theologische Controversie, sondern um Ehre und Redlichkeit Unserer Evangelisch-Reformirten GlaubensGenossen zu thun ist, welche Wir gleichwohl wieder diesen Mann vindiciren müssen, und nimmer zugeben können, daß dieselbe in öffentlichen Schrifften dergestalt angegriffen und gelästert werden sollen.«152 Nachdem Masius noch einmal seine Position ohne jedes Einlenken dem dänischen König gegenüber verteidigt hatte, 153 verlief die Sache mehr oder weniger im Sande, zumal Thomasius es nun doch für sinnvoller hielt, sich »mere passive« 154 zu verhalten. Ganz ohne eine publizistische Reaktion wollte Thomasius den Autodafe allerdings nun doch nicht lassen, und so erschien im Oktober 1691 Attilae Friedrich Frommholds Rechtsgegründeter Bericht, Wie sich ein ehrliebender Scribent zu verhalten habe, wenn eine auswärtige Herrschafft seine sonst approbirte Schrifften durch den Hencker verbrennen zu lassen, von einigen Passionirten verleitet worden. Obwohl Thomasius nur indirekt auf den zugrundeliegen-

149 150 151 152 153 154

Zitiert nach Thomasius: Gemischte Händel. Andrer Theil (wie Anm. 5), S. 270. Landsberg: Zur Biographie von Christian Thomasius (wie Anm. 12), S. 10. Zitiert nach Thomasius: Gemischte Händel. Andrer Theil (wie Anm. 5), S. 295 f. Zitiert nach ebd., S . 3 1 6 f . Vgl. ebd., S. 317f. Ebd., S. 323.

4. Thomasius: Streit durch Aufklärung - Aufklärung durch Streit

153

den Casus anspielt und ansonsten die Frage am Beispiel Luthers erörtert, konnte natürlich niemand über den tatsächlichen Gegner im Zweifel bleiben, und so hat Masius nicht von ungefähr erneut Anstoß genommen und 1 6 9 2 unter dem Namen Aetium Dietrich Ehren-

Vernunfftgegründeter Bericht, was von einem Scribenten zu halten, dessen Schrifften durch den Hencker verbrennet; darum, daß ehrlicher Leute guter Nähme muthwillig, und ohne alle ihm gegebene Ursach darinnen angegriffen und laediret worden. Auf eine neuerliche Reaktion hat Thomasius verzichtet, 155 und so fand die

hold mit der folgenden Schrift geantwortet:

von ihm als »Tragi-Comoedie« 156 bezeichnete Auseinandersetzung schließlich doch noch ihr Ende. Sachlich hat sich Thomasius allerdings auch weiterhin mit Masius' souveränitätstheoreti-

Institutiones iurisprudentiae divinae und in den 1 7 0 5 zum ersten Mal erschienenen Fundamenta iuris naturae et gentium, in denen er seine früheren Überlegungen zum Naturrecht revidiert und

schen Positionen auseinandergesetzt, und zwar in den verschiedenen Auflagen der

dabei auch seinen Streit mit Masius aus naturrechtlicher Sicht neu bewertet. Daß Thomasius die Auseinandersetzung durchaus nicht ftir eine Marginalie hielt, wird freilich nicht zuletzt durch die geradezu ermüdende Ausführlichkeit belegt, mit der er die Einzelheiten der Kontroverse noch Jahrzehnte später auf 1 5 0 Seiten in den

Gemischten Händeln

ausbreitet. Dabei

ist seine Darstellung übrigens alles andere als eine abgeklärte Rückschau des historischen Siegers. So läßt ihn seine neue und alte Empörung nicht davor zurückschrecken, mit einer gewissen denunziatorischen Lust und ohne jeden ersichtlichen argumentationstechnischen Ertrag in der Sache, »galante Historien« anzudeuten, in die Masius während seiner Studien

155

156

Mehr als 30 Jahre später will Thomasius die Gelegenheit dann doch nicht verstreichen lassen, die notwendigen Anmerkungen wenigstens in Kürze vorzubringen, und so stellt er in den Gemischten Händeln fest: »Ich wollte hertzlich gern den summarischen Inhalt dieser Schrifft dem geneigten Leser mittheilen, wenn ich einen dabey befunden hätte, oder selbst capable wäre, einen zu verfertigen. Nachdem aber dieselbe ohne einige Ordnung zusammen geschmieret war, wird man mit Fug dieses nicht prätendiren können. In Summa, es war darinnen nichts anders enthalten, als ein Mischmasch neu heraus geköckter straffbarer injurien und Narrenpossen, petitionum principii, Verdrehungen meiner Lehrsätze, offenbahrer Sophistereyen und offenbar tummer Erfindungen.« (S. 329.) Thomasius: Gemischte Händel. Andrer Theil (wie Anm. 5), S. 332. Als ein der »Masianischen TragiComoedie angehengtes Possenspiel« faßt Thomasius eine Schrift auf, die 1692 von Siegfried Bentzen zu Masius' Gunsten veröffentlicht wurde: Christianus minime Christianus, oder das Ebenbild Christiani Thomasii, darinn desselben leichtfertige Critique über vieler vornehmen und gelehrten Leute, insonderheit über des Herrn D. Masii Person und Schrifften, aus desselben Monats-Geschwätzen und liederlichen Gedancken entworffen, auch zugleich die beyden Fragen, als I. Von den Vorzug der wahren Evangelischen Religion vor allen andern, in der Lehre von Gehorsam gegen die hohe Obrigkeit: und II. Ob Gott eine unmittelbare Ursache der Majestät: aus denen Principiis der gesunden Vernunfft und der H. Schrifft erörtert, und contra Thomasii Sophismata vindiciret worden. Ratzeburg 1692. Thomasius hat auf diesen immerhin 406 Seiten umfassenden Traktat nicht mehr geantwortet. Für vertane Zeit hielt er die Widerlegung einer Schrift, die »ohnedem bey unpartheyischen Lesern keinen aestim finden würde«, außerdem wäre, so Thomasius, auch der Versuch vergeblich gewesen, Masius und seine Parteigänger zur Einsicht zu bewegen. Vgl. Thomasius: Gemischte Händel. Andrer Theil (wie Anm. 5), S. 343.

154

Händel mit Hector Gottfried Masius

in Gießen und eines Aufenthaltes in Frankreich verwickelt gewesen sein soll. 157 Auch wenn Thomasius seine Andeutungen vordergründig dazu benutzt, u m seinen Lesern vor Augen zu führen, wie edelmütig er seinerzeit darauf verzichtet habe, seine zufälligen Kenntnisse als Mittel der Kontroverse einzusetzen, so sind die 30 Jahre später angebrachten Hinweise doch konkret genug, um Masius zumindest lächerlich zu machen, wenn nicht gar moralisch zu diskreditieren - und dies alles post mortem, denn Masius war bereits 1709 verstorben. Die inhaltliche Seite der Auseinandersetzung läßt sich vergleichsweise knapp skizzieren; Thomasius selbst hat zwei Streitpunkte ausgemacht und dementsprechend zwei thetische Entgegensetzungen ins Feld geführt: »1. Daß Gott nicht causa immediata der höchsten Gewalt in gemeinem Wesen sey; 2. Daß die Reformirten Kraffic ihrer Religion und Glaubens-Bekäntnissen ihren Obern ja so treu seyn könten, als wir Lutheraner, und daß darinnen nichts enthalten sey, welcher den Respect und Gehorsam, den man der Majestät zu leisten schuldig ist, verletze.«158

Indem er die Argumente zur Untermauerung seiner Thesen aus seiner 1688 vorgelegten Naturrechtstheorie entwickelt, überfuhrt er die bei Masius und Becmann noch theologisch gefaßte Fragestellung in einen rein juristischen bzw. philosophischen Diskurs, der vorgeblich ohne theologische Anleihen auskommt und die genannten Probleme ausschließlich auf der Basis der »gesunden Vernunft« bearbeitet. 159 Gegen die souveränitätstheoretische Immediatea-Deo-Konstruktion macht Thomasius geltend, daß die höchste Gewalt erst durch den Herrschafts- und Unterwerfungsvertrag gebildet wird. Selbst das Paulus-Diktum aus dem Römerbrief, »Es ist keine Obrigkeit ohne von Gott, wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet«, dürfe nicht so verstanden werden, daß Gott die alleinige Ursache der höchsten Gewalt sei; zwischen der Willensäußerung Gottes und der konkreten Herrschaft liegen notwendigerweise menschliche Zwischeninstanzen. Schließlich ist es auch »Gottes Ordnung«, so argumentiert Thomasius anhand eines sehr drastischen Beispiels, »und kommt ursprünglich von Gott her, daß Viehe und Menschen ihr Geschlechte vermehren, aber deßwegen werden die mittelbahren Ursachen nicht ausgeschlossen«. 160 Weil die menschliche Herrschaft also ebensowohl Gottes Wille wie Menschenwerk ist, kann auch »einer von den Aposteln«, nämlich Paulus, »das weltliche Regiment Gottes Ordnung« nennen, »indem er auff dessen göttlichen Ursprung siehet«, und der andere, nämlich Petrus, kann »es unter die

Ebd., S. 283 ff. Thomasius: Allen meinen grösten Feinden. Insonderheit aber Herrn Héctor Gottfried Masio. (Vorrede zu den gesammelten Heften der Monatsgespräche des Jahrgangs 1689), S. [38]. 159 Vg[ z u ¿en beiden methodisch und theoretisch sehr unterschiedlich angelegten Naturrechtstheorien, die Thomasius 1688 und 1705 vorgelegt hat: Hinrich Rüping: Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasius-Schule. Bonn 1968; Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim, New York 1971; Peter Schröder: Christian Thomasius zur Einfuhrung (wie Anm. 148), S. 36ff.; sowie Frank Grunert: Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechtsund Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 2000, S. 169 ff. 1S0 Thomasius: Monatsgespräche. Juni 1689, S. 422. 157 158

4. Thomasius: Streit durch Aufklärung - Aufklärung durch Streit

155

menschlichen Ordnungen« rechnen, indem er sich »auff dessen absonderlichen Ursprung bezeucht«. 161 Die zweite Gegenposition wird von Thomasius seiner eigenen Ankündigung zum Trotz viel grundsätzlicher angelegt. Ihm geht es tatsächlich nicht um den Nachweis der politischen Zuverlässigkeit von Calvinisten, vielmehr streitet er ganz prinzipiell gegen jegliche politische Funktionalisierung der Religion. Dabei hält er es für eine »unanständige Sache«, wenn ein Theologe »seine Religion hohen Potentaten wegen des zeitlichen Interesses« 162 empfiehlt. Denn die wahre Religion ziele »auf das ewige Wohlseyn«, das »nicht nothwendig mit dem zeitl. verknüppft« ist. Insofern hindern »die falschen Religionen [ . . . ] wohl an der Seligkeit nach diesem Leben, aber dem zeitlichen Interesse sind sie selten zuwider«. 163 Allerdings wäre eine Religion dann nicht zu dulden, wenn sie den Staat zerrüttet. Weil der Schutz des Gemeinwesens auch in diesem Fall von der »gesunden Vernunfft« verlangt wird, ist das Verbot einer staatsgefährdenden Religion kein theologisches Problem, sondern lediglich eine Frage vernünftiger Politik. 164 So ist Thomasius im Gegensatz zu seinem Widerpart auch in diesem Punkt davon überzeugt, daß zwischen ihm und Masius »keine Controversia Theologica ventiliret worden« sei, »sondern Politica«. 165 4.2. Form und Zweck: Der Streit als Vorführung Letztlich spannender und vermutlich konsequenzenreicher dürfte die formale Seite der Beiträge sein, die Thomasius der Kontroverse beisteuerte, denn spätestens hier zeigt sich ganz unmißverständlich, daß es Thomasius um mehr ging als um eine bloße Sachentscheidung in einer Streitfrage. Dabei war die Auseinandersetzung fiir ihn allerdings nicht - bzw. nicht in erster Linie - eine günstige Gelegenheit, seine Leipziger Streitigkeiten mit einem weniger gefährlichen, weil in Sachsen nicht sehr einflußreichen Gegner fortzusetzen, und der Streit war ihm auch nicht - bzw. nicht ausschließlich — ein probates Mittel, seine Anstellung in Brandenburg vorzubereiten. Vielmehr muß die Auseinandersetzung inhaltlich und formal in den Kontext seines grundlegenden Reformprogramms gestellt werden und wird von da aus zu einem exemplarischen Datum in Thomasius' aufklärerischem Engagement für »Wahrheit« und »Tugend«. Der Streit mit Masius ließe sich so als ein Modell lesen, mit dessen Hilfe Thomasius sowohl die Ziele als auch die Mittel zur Realisierung seines Reformprogramms vorfuhrt. Bereits der publizistische Ort, an dem Thomasius seine Polemik gegen das Interesse principum plaziert, ist bemerkenswert und fiir den Gang der Auseinandersetzung ebenso folgenreich wie für ihre tatsächlichen Resultate. Denn indem Thomasius darauf verzichtet, mit 161

162 163

165

Thomasius: Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit. Halle 1709, S . 4 8 3 . (Autorisierte Übersetzung von: Institutiones Iurisprudentiae divinae. Frankfurt, Leipzig 1688.) Thomasius: Monatsgespräche. December 1688, S.779. Ebd., S. 733. Ebd., S. 734. Thomasius: Gemischte Händel. Andrer Theil (wie Anm. 5), S. 320.

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Händel mit Hector Gottfried Masius

einer lateinischen Abhandlung den formalen Vorgaben seines Gegenspielers zu entsprechen und statt dessen in den Monatsgesprächen auf Masius reagiert, wechselt er nicht nur das Medium des Streits, sondern unterstellt seinen Vollzug zugleich anderen Regeln. Und dies folgt aus dem pragmatischen Zweck und den formalen Mitteln dieses von Thomasius ausschließlich selbst verfaßten Periodikums. Denn bei den Monatsgesprächen handelt es sich nicht um eine Gelehrtenzeitschrift, die im Stile der Acta eruditorum über gelehrte Neuerscheinungen informiert, vielmehr wenden sie sich als »schertz- und ernsthaffte, vernünfftige und einfältige Gedancken über allerhand lustige und nützliche Bücher und Fragen« an ein allgemein gebildetes, aber nicht unbedingt gelehrtes Publikum. 166 Der Streit ist damit schon von vornherein keine exklusive Angelegenheit von zwei Kontrahenten mehr, sondern wird nun vor den Augen eines allgemeinen Publikums ausgetragen, das dadurch prinzipiell in die Lage versetzt wird, sich selbst ein Urteil zu bilden und dieses womöglich durch eigene Teilnahme in die Debatte einzubringen. Jeder weitere Schritt in der Auseinandersetzung mußte dieser veränderten Sachlage Rechnung tragen, jedes Argument gewann — wie überhaupt jede Äußerung — einen doppelten pragmatischen Wert, der nicht unberücksichtigt bleiben durfte: Es konnte nicht mehr ausschließlich um den Austausch von inhaltlichen Positionen gehen, vielmehr mußte jede Äußerung auch auf ihre im Prinzip sachunabhängige Publikumswirkung geprüft werden. Dieser betonte Publikumsbezug wird durch die Verwendung der deutschen Sprache bekräftigt, geradezu gesteigert wird er aber durch die Wahl der Textsorte. Denn indem Thomasius einen fiktiven Dialog als Medium seiner Kritik wählt, entwickelt er die beiden streitenden Positionen vor den Augen seiner Leserschaft, die er schließlich noch ausdrücklich dazu auffordert, sich ein eigenes Urteil zu bilden. So entsteht der Eindruck, daß Thomasius sich von vornherein gar nicht mehr an seinen Gegenspieler wendet, er versucht nicht als Gelehrter den irrenden Kollegen mit Hilfe von sachlichen und allgemein akzeptierten Argumenten zur Einsicht und damit zur Revision seiner Irrtümer zu bewegen. Thomasius will Masius nicht de lege artis widerlegen, vielmehr fuhrt er ihn und seine Auffassungen vor und macht ihn so zum Gegenstand eines Diskurses, an dem Masius deswegen keinen subjektiven Anteil mehr hat, weil das fiktive Gespräch genaugenommen nur noch als ein Mittel der Verständigung zwischen Thomasius und seinem Publikum fungieren soll. Daß es Thomasius um eine Verständigung mit seiner Leserschaft und dabei zugleich um mehr geht als um eine Einigung in einer Sachfrage, wird auch durch die literarische Gestaltung des fiktiven Gesprächs entschieden bekräftigt. Denn der Dialog realisiert als Diskurs über ein bestimmtes Problem zugleich alle aufklärerischen und wissenschaftsprogrammatischen Aspirationen des jungen Thomasius und wird dadurch zu einem anschaulichen Lehrstück seiner eigenen Konzeption. Das Gespräch findet statt zwischen einem jungen Theologen und einem »Cavallier vom Hofe«, der als »freundlicher und bescheidener Herr« beschrieben wird und allein schon deshalb die 166 Yg( z u r Genrespezifik: Herbert Jaumann: Bücher und Fragen: Zur Genrespezifik der Monatsgespräche. In: Friedrich Vollhardt (Hg.): Christian Thomasius (1655-1728) (wie Anm.2), S. 3 9 5 - 4 0 4 ; zur Intention und zur Struktur des Periodikums siehe: Grunert: Von polylogischer zu monologischer Aufklärung (wie Anm. 135), S. 2 1 - 3 8 .

4. Thomasius: Streit durch Aufklärung - Aufklärung durch Streit

157

Aufmerksamkeit auf sich zieht, weil er »etliche Bücher« 167 bei sich fuhrt. Obwohl in dem Dialog keine sachliche Einigung zwischen den Gesprächspartnern herbeigeführt wird, ist doch unübersehbar, daß der weltläufige Hofmann dem geschulten Theologen argumentativ überlegen ist. Allein schon durch diesen Umstand werden implizit - in den einzelnen Redesequenzen aber auch explizit — eine ganze Reihe von Uberzeugungen sowohl sichtbar als auch plausibel gemacht, auf die Thomasius besonderen Wert legte. So wird auf diese Weise ganz unabhängig vom eigentlichen Gegenstand des Diskurses der Vorzug klargemacht, den in Thomasius' Augen eine durch Erfahrung bereicherte »gesunde Vernunft« gegenüber der Borniertheit einer in den eigenen Traditionen befangenen Wissenschaftlichkeit genießt. Und damit ist nicht nur die für Thomasius typische Wertschätzung der Praxis zum Ausdruck gebracht, sondern zugleich die von ihm gerade in den Monatsgesprächen immer wieder mit Verve eingeklagte prinzipielle Gleichberechtigung der Diskursteilnehmer, denn indem der Hofmann offensichtlich über die besseren Argumente verfugt, kann er den Ausbildungsvorteil des Theologen kompensieren. Dadurch werden übrigens auch - und zwar besonders sinnfällig - die Kompetenzen der Theologie in Frage gestellt und ihre ausgreifenden Regelungsansprüche zurückgewiesen. Es läßt sich unschwer erahnen, daß ein solches Detail auch von Thomasius' Leipziger Widersacher ftir eine besondere Perfidie gehalten wurde. Charakteristisch für Thomasius' aufklärerischen Anspruch ist die am Ende des Dialogs direkt an den Leser adressierte und bereits auf Kant vorausweisende Aufforderung, von seiner »freyen Macht« Gebrauch zu machen, und »aus dem discurs dieser beyder zu urtheilen, wer unter ihnen am besten raisonniret habe«.168 Doch wird das Urteil nicht einfach eingefordert, sondern - und das spricht für ein bemerkenswertes pädagogisches Raffinement es wird durch eine Bewertung geradezu erzwungen, die im Text von der Erzählerfigur selbst vorgenommen wird. Indem der Erzähler sich ostentativ auf die Seite des im Prinzip unterlegenen Theologen stellt, votiert er gegen die Tendenz des Dialoges und damit gegen den ersten Eindruck des Lesers. Die Eindeutigkeit seines sozusagen gegen den Strich gefällten Urteils zwingt den Leser dazu, dem Votum zu widersprechen und sich aber gleichzeitig seines eigenen Urteils reflexiv zu vergewissern. Interessant ist dabei, daß der Sachgehalt dieses eigenen Urteils durch den Text mindestens nahegelegt wird, so wird durch das falsche Urteil des Erzählers das richtige Urteil des Textes im vorgeblich autonomen Urteil des Lesers bekräftigt und verfestigt. Am Ende akzeptiert der Leser das Urteil des Textes als sein eigenes. Thomasius' aufklärerisches Engagement zielt bei aller prätendierten Offenheit eines dialogisch inspirierten Selbstdenkens auch an dieser Stelle — zumindest in gewissen Grenzen — auf monologische Geschlossenheit - dies ist freilich im Rahmen einer Kontroverse nur allzu verständlich. Thomasius beläßt es jedoch nicht bei verbalen Stellungnahmen, sondern stellt den fraglichen Ausgaben der Monatsgespräche Kupferstiche voran, die mit ihren eigenen ikonographischen Mitteln noch einmal sehr sinnfällig dokumentieren, daß er weit mehr wollte als

167 168

Thomasius: Monatsgespräche. December 1688, S.705. Ebd., S. 797.

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Händel mit Hector Gottfried Masius

eine strittige Sachfrage durch eine angemessene Intervention zu klären. Dabei nimmt sich der erste Titelkupfer noch recht unspektakulär aus: Ohne erkennbare polemische Schärfe wird schlicht die Gesprächssituation abgebildet (vgl. Abb. 1). Die beiden Gesprächspartner sitzen in einer einfachen Gaststube einander gegenüber, beide sind - wie die Gesten andeuten - ernsthaft einander zugewandt und offenbar bereit, auf die Argumente der Gegenseite einzugehen. Eine bildlich angedeutete Bevorzugung einer der beiden Gesprächspartner läßt sich nicht ausmachen. Allenfalls könnte man in dem Umstand eine Wertung vermuten, daß der Theologe es sich auf der rechten Seite am warmen Ofen bequem gemacht hat, während ihm gegenüber der am Tisch sitzende Hofmann - fiir die Metaphorik der Aufklärung sehr bedeutsam - sowohl das Buch als auch das Licht in seiner Reichweite hat.169 Obwohl es prima facie den Anschein hat, als weise dieses erste Frontispiz als Abbildung des Gesprächs zwischen dem weitläufigen Hofmann und dem Theologen semantisch nicht über den folgenden Text hinaus, muß doch die Tatsache ernstgenommen werden, daß nicht das Thema des Gesprächs oder eine bestimmte These abgebildet wird, sondern das Gespräch selbst. Mit dieser Akzentuierung erhält die Form des Diskurses gegenüber seinem Inhalt ein eigenes, am Ende sogar dominierendes Gewicht. Der aktuelle Inhalt des Gesprächs tritt gegenüber der prinzipiellen Bedeutung seiner Form in den Hintergrund, weil hier das Gespräch ganz unabhängig von den Besonderheiten seines konkreten Inhalts — wohl aber mit dessen Hilfe — als ein ausgezeichnetes Medium von Erwerb und Vermittlung aufklärerischer Erkenntnisse propagiert wird.170 Den damit verbundenen innovativen Anspruch setzen die Kupferstiche zu Peter Schippings Gespräch pro Masio fort, indem sie ihn noch einmal wissenschaftsgeschichtlich, wenn nicht gar kulturhistorisch überhöhen. Die Frontispizien zu den Ausgaben der Monate Mai und Juni 1689 verzichten von vornherein darauf, eine primär sachliche Beziehung zwischen Text und Bild herzustellen. Sie wollen keine sachlich angemessene ikonographische Quintessenz der folgenden Texte sein, sondern erzählen vielmehr eine eigene Geschichte, deren semantisches Gewicht einmal mehr den eigentlichen Text überwiegt und ihn so zu einem bloßen Exempel eines viel weiter reichenden Anspruchs macht. Auf dem ersten Bild dieser kurzen Sequenz sind zwei dunkelgewandete Gelehrte zu sehen, die vor dem Thron der als Frau dargestellten Weisheit knien und ihr in theatralischem Ambiente mit der Ubergabe eines Schriftstücks huldigen (vgl. Abb. 2). Auf dem zweiten Bild (vgl. Abb. 3) wird diese Szene im Wortsinne entlarvt: Ein offenbar junger Mann in hellem modischem Gewand hilft der neuen, ebenfalls als Jüngling dargestellten Weisheit aus einer Truhe, die bereits auf dem vorangegangenen Kupfer zu sehen war.

169 Vgl z u r Lichtmetaphorik der Aufklärung Werner Schneiders: Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland. Hamburg 1990, S. 8 3 - 9 3 , sowie Ders.: Images of Light - before during and after the Age of Enlightenment. In: Roland Mortier (Hg.): Visualisation. Berlin 1999, S. 1 - 9 . 170 Vgl z u r Bedeutung des Gesprächs fiir das in den Monatsgesprächen realisierte Aufklärungskonzept: Grunert: Von polylogischer zu monologischer Aufklärung (wie Anm. 135).

4. Thomasius: Streit durch Aufklärung - Aufklärung durch Streit

159

Abb. 1. Aus: Ernsthaffte Gedancken, über etliche Ernsthafte Bücher und Fragen. An statt des Zwölften Monats oder Decemb. In einem Gespräch vorgestellet. Halle 1688.

160

Händel mit Hector Gottfried Masius

Abb. 2. Aus: Freymüthiger jedoch V e r n u n f t - und Gesetzmässiger Gedancken, Uber allerhand, fiirnemlich aber Neue Bücher Majus des 1689. Jahrs. Entworffen von Christian Thomas. Halle 1689.

4. Thomasius: Streit durch Aufklärung - Aufklärung durch Streit

Abb. 3. Aus: Freymüthiger Jedoch Vernunfft- und Gesetzmässiger Gedancken, Uber allerhand, fiirnemlich aber neue Bücher Junius des 1689.Jahrs. Entworffen von Christian Thomas. Halle 1689.

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Händel mit Hector Gottfried Masius

Die beiden älteren Gelehrten schrecken auf, einer verläßt sogleich die Szenerie, der andere eilt der alten Weisheit zur Hilfe. Diese aber verläßt den Thron, verliert ihre Maske und erweist sich als eine tatsächlich alte und daher unfruchtbare Frau. Dem Anspruch nach wird hier nichts geringeres in Szene gesetzt als ein wissenschaftshistorischer Paradigmenwechsel: Die tradierten Formen der damals überwiegend aristotelisch geprägten Gelehrsamkeit werden hier der Fruchtlosigkeit überfuhrt und von einer neuen, jungen und daher zukunftsträchtigen Weisheit abgelöst. Vergleicht man dieses Bild mit Thomasius' Selbstdarstellung auf dem Titelkupfer der ein Jahr zuvor erschienenen Philosophia aulica, dann kann kein Zweifel daran bestehen, daß sich Thomasius selbst als den Helden dieser epochalen Wendung stilisiert. Mit der Kontroverse zwischen Masius und Thomasius hat dies nur noch so viel zu tun, als die Position des Kopenhagener Hofpredigers und all seiner orthodoxen Kombattanten umstandslos einer überkommenen und nur noch unproduktiven Wissenschaftskultur zugeschlagen wird. Daß deren historisches Schicksal besiegelt ist, suggeriert Thomasius in einem letzten Titelkupfer, den er den gesammelten Monatsgesprächen des Jahres 1689 voransetzen ließ: Die Exponenten der veralteten Wissenschaftskultur - zugleich Thomasius' Feinde, denen er maliziös die gesamte Sammlung widmet - treiben schiffbrüchig im Meer, Thomasius, der Selbstdenker, hat dagegen das sichere Ufer erreicht und seine Schäfchen buchstäblich ins Trockene gebracht (vgl. Abb. 4). Die weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick sonderlich anspruchsvollen Darstellungen erlangen jedoch zusätzliche semantische Konturen, wenn man sie auf dem Hintergrund derjenigen Topoi interpretiert, auf die sie referieren. Denn Thomasius hat sich bei der Konzeption seiner Kupferstiche nicht den Zufälligkeiten einer regen Einbildungskraft überlassen, vielmehr ruft er geläufige Vorstellungen auf, die er zur Akzentuierung seiner innovativen Ansprüche gezielt modifiziert. Wenn er den von ihm betriebenen Paradigmenwechsel als ein theatralisches Bühnengeschehen inszeniert, bezieht er sich ganz augenscheinlich auf die gängige Theatrum-mundi-Vorstellung des Barockzeitalters. Doch während alle »barocken Deutungsversuche des theatrum mundi [...] in der Erkenntnis der vanitas mundi« 171 konvergieren, stellt Thomasius diese Vorstellung in eine aufklärerische Perspektive und grenzt die vom Topos verlangte theatralische Desillusionierung auf die von ihm kritisierte alte und nutzlose Form der Gelehrsamkeit ein. Der vanitas verfällt nicht mehr die Welt insgesamt, denn der Aufklärer bringt nun eine neue, der Zukunft konstruktiv zugewandte Sicht ein, die ihre Legitimität nicht zuletzt aus ihrer Fähigkeit bezieht, das Überkommene als illusionär zu entlarven. Insofern inszenieren auch die beiden Frontispizien durch Thomasius' Umgang mit dem ihm vorliegenden Bildmaterial in nuce nichts weniger als einen Epochenwechsel. Auch die besonderen semantischen Qualitäten des letzten Bildes lassen sich in einem hinlänglichen Umfang nur dann herausarbeiten, wenn man berücksichtigt, daß Thomasius den Untergang seiner Widersacher mit der von Lukrez bezogenen Metapher vom »Schiff-

171

Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 117.

4. Thomasius: Streit durch Aufklärung - Aufklärung durch Streit

163

Abb. 4. Aus: Freymüthige Jedoch Vernunft- und Gesetzmässige Gedancken Uber allerhand, fürnemlich aber Neue Bücher Durch alle zwölff Monat des 1689. Jahrs. Durchgefiihret und Allen seinen Feinden, insonderheit aber Herrn Hector Gottfried Masio zugeeignet Von Christian Thomas. Halle 1690.

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Händel mit Hector Gottfried Masius

bruch mit Zuschauer« 172 ausmalt. Während es nach Auffassung von Hans Blumenberg bei Lukrez »überhaupt nicht um das Verhältnis von Menschen geht, leidenden und nichtleidenden, sondern um das Verhältnis des Philosophen zur Wirklichkeit: um den Gewinn durch die Philosophie Epikurs, einen unbetreffbaren festen Grund der Weltansicht zu haben«, 173 so muß bei Thomasius durch den Kontext des Streits gerade dieses »Verhältnis von Menschen« als eine agonale Beziehung mitgedacht werden. Denn hier genießt der Zuschauer - falls und soweit es sich dabei um Thomasius selbst handelt - nicht nur die eigene Sicherheit, sondern offenbar auch den Schiffbruch seiner Widersacher, deren Nachstellungen er gerade mit Glück und eigener Kompetenz entronnen ist. Freilich erschöpft sich die Bedeutung des Bildes nicht in bloßer Schadenfreude, vielmehr ist der Schiffbruch seiner Widersacher notwendig, um didaktisch - wenn nicht gar pädagogisch - den Erfolg der eigenen Mittel, der Seenot zu entgehen, demonstrieren zu können. Denn Thomasius konstatiert nicht einfach den Schiffbruch auf der einen Seite und die Rettung auf der anderen, sondern indem er mit seinem Zeigefinger auf seine Stirn deutet, reklamiert er für sich Selbstdenken und Selbsterkenntnis und macht damit die geeigneten Mittel der Rettung namhaft. Und das bedeutet aber auch, daß die Seenot den Schiffbrüchigen selbst (moralisch) zugerechnet wird: Anstatt sich durch Selbstdenken vom »Idolum der Autorität« zu befreien und durch Selbsterkenntnis die eigenen Leidenschaften zu bezwingen, gehen Thomasius' Gegner in den Wogen ihrer Vorurteile und widrigen Passionen unter. Die Intention des Bildes richtet sich didaktisch an den Bildbetrachter, der auf diese Weise zu einem impliziten zweiten Zuschauer wird und damit die ursprüngliche lukrezische Konstellation eines Schiffbruchs mit Zuschauer entscheidend erweitert. Denn der zweite Zuschauer sieht natürlich mehr als der erste: er sieht zum einen den Schiffbruch und zum anderen den in Sicherheit befindlichen ersten Zuschauer. Und indem er beides aufeinander bezieht, realisiert er die didaktische Intention des Bildes. Daß Thomasius diese Denunziation seiner theologischen Gegner ausgerechnet mit der Hilfe einer Metapher bewerkstelligt, die er von einem berüchtigten Materialisten und Epikureer bezieht, verleiht dem Ganzen zweifellos noch eine besonders pikante Note. 4.3. Der Streit als Mittel der Durchsetzung und des Erwerbs von Erkenntnissen Die Art und Weise, wie Thomasius die Kontroverse mit Hector Gottfried Masius aufgenommen und fortgeführt hat, belegt anschaulich, daß Thomasius um Streit nicht verlegen war. Auseinandersetzungen galten ihm als ausgezeichnete Medien, die eigenen Positionen als Gegenpositionen zu formulieren, zu konturieren und schließlich durchzusetzen. Und dies trifft übrigens nicht bloß auf die frühe Phase seines Schaffens zu, Thomasius hat - wie Martin

172 ygi 'f L u c r e t i Cari De Rerum Natura. Ed. Carolus Buechner. Wiesbaden 1966, S. 46. Zum philosophischen Gehalt der Metapher siehe Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt/M. 1979. 173

Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer (wie Anm. 172), S. 28.

4. Thomasius: Streit durch Aufklärung - Aufklärung durch Streit

165

Gierl überzeugend darlegt - »nahezu sein gesamtes akademisches Leben lang gestritten«. 174 Dabei führt er den Streit nicht - und das zeigt auch die vorliegende Kontroverse - als ein »willkürliches Um-sich-Schlagen«, vielmehr handelt es »sich um ein planvolles Vorgehen«, 175 das zwar mit einer bemerkenswerten polemischen Energie realisiert wird, dabei aber nie die »Regeln der Klugheit« 176 aus dem Blick verliert. Das war auch nicht anders möglich, denn ansonsten hätte Thomasius den Streit als ein Medium der Wahrheitsdurchsetzung beschädigt. Daß der Streit aber notwendig und unumgänglich war und daher als Medium intakt bleiben mußte, ergab sich aus dem Anspruch, eine umfassende »Lebens- und Gesellschaftsreform« 177 durchzusetzen, die aus der wahren Weisheit einer gesunden Vernunft entwickelt wurde und sich von vornherein gegen die Irrtümer und die Tyrannei der traditionellen Schulgelehrsamkeit richtete. Allerdings ist auch bei weniger ausgreifendenden Ambitionen der Streit durch die bloße Behauptung einer Position im Kern immer schon mitgegeben und daher de facto unumgänglich, denn die Affirmation einer bestimmten Auffassung kann nur als Negation von anderen, bereits bestehenden Positionen gedacht werden. Und bei Thomasius ging es nicht darum, irgendwelche beliebige Positionen zu besetzen, vielmehr zielte sein Engagement auf die Kritik und die Ersetzung einer etablierten kulturellen und politischen Hegemonie, die seine Widersacher selbstverständlich nicht kampflos preisgeben wollten. 178 Daß dieser lebenslange Streit von Thomasius selbst nicht als schlagender Beweis für einen querulatorischen Charakter und damit als ein biographischer Makel angesehen wurde, läßt sich an seinem Bemühen ablesen, gegen Ende seines Lebens die eigene Vita als eine Folge von »Händeln« zu vergegenwärtigen: Die in vier Teilen erscheinenden Außerlesenen

Juristischen

Händel (1720 f.) 179 sind ebenso wie die sich anschließenden Gemischten

Philoso-

phischen und Juristischen Händel ( 1 7 2 3 - 1 7 2 6 ) 1 8 0 im wesentlichen seine »Lebenserinnerungen« 181 und stellen als Dokumente der Besinnung und Rechtfertigung zugleich ein entschlossenes Bekenntnis zum Streit dar.

Gierl: Pietismus und Aufklärung (wie Anm. 17), S. 424. Ebd., S. 467. 176 Thomasius: Gemischte Händel. Andrer Theil (wie Anm. 5), S. 3 1 1 . 177 Werner Schneiders: Vorwort. In: Christian Thomasius: Einleitung zur Vernunftlehre. Halle 1691. Reprint: Ausgewählte Werke. Bd. 8. Hildesheim, Zürich, New York 1998, S. IX. 178 Mit Recht bemerkt Gierl dazu: »Wahrheit wird im Streit errungen. Sie ist eine Frage geschickten Vorgehens. Denn das Feld der Gelehrsamkeit hat keine leeren Flächen besessen, auf denen Wahrheit sich einfach hätte abladen lassen. Neuen Wahrheiten steht der alte Irrtum entgegen.« Gierl: Pietismus und Aufklärung (wie Anm. 17), S. 468. 179 Christian Thomasius: Ernsthaffte, aber doch Muntere und Vernünftige Thomasische Gedancken und Erinnerungen über allerhand außerlesene Juristische Händel. Halle 1720 f. Vgl. zum Inhalt: Rolf Lieberwirth: Christian Thomasius. Sein wissenschaftliches Lebenswerk. Eine Bibliographie. Weimar 1955, S. 1 3 1 - 1 3 5 . 180 Christian Thomasius: Vernünfftige und Christliche aber nicht scheinheilige Thomasische Gedancken und Erinnerungen über allerhand Gemischte Philosophische und Juristische Händel. Erster bis Dritter Theil, Anhang. Halle 1 7 2 3 - 1 7 2 6 . Vgl. zum Inhalt: Lieberwirth: Christian Thomasius (wie Anm. 179), S. 1 4 0 - 1 4 2 . 181 Lieberwirth: Christian Thomasius (wie Anm. 179), S. 131. 174

175

166

Händel mit Hector Gottfried Masius

Angesichts der Bedeutung, die der Streit fiir das Œuvre von Thomasius hat, drängt sich zum Schluß die Frage auf, ob der Streit bei Thomasius lediglich ein pragmatisch eingesetztes Medium zur Durchsetzung einer zuvor gefundenen Wahrheit darstellt oder ob er bei der Auffindung und Formulierung der Wahrheit eine eigene erkenntnistheoretisch produktive Rolle spielt, mit anderen Worten: Gibt es eine Epistemologie des Streits, die den Streit als eigenständiges produktives Moment des Erkenntniserwerbs würdigt, oder beläßt es Thomasius bei einer bloßen Pragmatik des Streits, die ohne Einfluß auf den Inhalt nur als formales Mittel der Durchsetzung fungiert? Für eine sinnvolle Beantwortung der Frage muß zwischen der theoretischen Beschäftigung mit dem Streit einerseits und der manifesten Streitpraxis andererseits differenziert werden, denn eine Kongruenz zwischen Theorie und Praxis wird man nicht ohne weiteres unterstellen dürfen. Blickt man zunächst auf die von Thomasius gepflegte Streitpraxis und zieht man dabei die Kontroverse mit Masius als Beispiel heran, dann läßt sich feststellen, daß der Streit nicht als eine symmetrische Kooperation zwischen zwei dissentierenden Partnern angelegt ist, die in einem prinzipiell offenen Diskurs um den Erwerb einer womöglich noch gar nicht bekannten oder absehbaren Wahrheit konkurrieren. Das Ziel ist nicht ein am Ende des Prozesses zu erlangender Konsens, der den Dissens auflöst, indem er die widerstreitenden Positionen überwindet; Zweck des Streites ist vielmehr, den Gegner von einer bereits gefundenen und formulierten Erkenntnis zu überzeugen. Im gegebenen Fall geht es nicht einmal mehr um den eigentlichen Gegner, sondern nur noch um das Publikum, dem mit geeigneten Mitteln die Überlegenheit der eigenen Position demonstriert werden soll. Für Thomasius ist die Auseinandersetzung ein Mittel der Durchsetzung; und daran — so scheint es - hält er auch in seinen verschiedenen theoretischen Überlegungen zum Streit fest, die er mit Blick auf die Disputation vornehmlich in der Ausübung der Vernunftlehre, aber auch in der Introductio ad Philosophiam Aulicam oder den Cautelen in Erlernung der Rechts-Gelahrheit anstellt. Hier werden der Anspruch der Durchsetzung moralisch gerechtfertigt und die Durchsetzungsmittel moralisch gebunden. Denn »das Recht der gesunden Vernunfft« verpflichtet jeden einzelnen, seines »Nächsten Heil und Wolfahrt zu befördern« und dazu gehört insbesondere, die »Finsternis« seines »Verstandes zu vertreiben«.182 Das aber heißt, »daß in disputiren, man möge nun gleich seine eigene Meinung zu erweisen oder den gegenseitigen Irrthum darzu thun trachten, ein jeder den anderen, da er strauchelt, oder auf Abwege geräthet, bey Zeiten zu rechte weisen und auffrichten, oder wenn er seine Meinung nicht deutlich genung vorbringen kan, ihn auch hierinnen nach Vermögen helffen solle«.183 Allerdings geht es »unter denen Gelehrten« - und das weiß Thomasius aus eigener Erfahrung »insgemein« ganz anders zu, hier wird die »Warheit verdunckelt«, »die Irrthümer hartnäckigt verteydiget« und »die Disputirenden sind vergnügt und freuen sich, wenn nur ein jeder dem andern die Warheit so zusagen aus der Hand spielen könte«.184 Um dagegen den moralischen 182

183 184

Christian Thomasius: Ausübung der Vernunftlehre. Halle 1691. Reprint: Ausgewählte Werke. Bd. 9. Hildesheim, Zürich, New York 1998, S.74. Ebd., S. 269. Ebd., S.269f.

4. Thomasius: Streit durch Aufklärung - Aufklärung durch Streit

167

Zweck des Streits zu gewährleisten, fuhrt T h o m a s i u s moralische Regeln ein: »I. Disputire nicht u m b eiteler Ehre, sondern einzig u n d alleine u m b D a r t h u u n g der Irrthümer Willen. [ . . . ] D i e II. Lection ist folgende: Disputire a u f f e i n e friedliche, freundliche, und auffrichtige Weise, u n d enthalte dich aller feindseeligen, unfreundlichen u n d tückischen Mittel, als nemlich offenbarer Scheltworte, und betrüglicher Vernunfftschlüsse«. 1 8 5 W ä h r e n d die dritte Regel ein weiteres Mal die F o r m betrifft - »Wiederlege die Irrenden kurtz u n d deutlich« 1 8 6 - versucht T h o m a s i u s mit der vierten u n d letzten Regel eine inhaltliche Grenze zwischen streitfähigen u n d streitunfähigen Problembeständen zu ziehen: »IV. Wiederlege die Irrthümer die d e m menschlichen Geschlecht schädlich, daß ist, die unstreitig falsch oder sehr unwahrscheinlich sind.« 1 8 7 A u f diese Weise sollen alle G e g e n s t ä n d e von einem Streit ausgeschlossen bleiben, die »eines jeden Menschen eigener G u t a c h t u n g anheim gestellet sind, oder stetswehrend der Vernunfft unerkant bleiben« 1 8 8 u n d daher sachlich nicht lösbar sind, so daß sie als G e g e n s t ä n d e eines sinnvollen, auf K l ä r u n g von Wahrheit u n d Falschheit angelegten Streits ausscheiden müssen. Diese doppelte Moralisierung des Streits 1 8 9 steht bis in die einzelnen Regeln hinein vornehmlich i m Dienste einer einseitigen A u f k l ä r u n g fremder Irrtümer. A u c h wenn T h o m a s i u s mehrfach »das Disputiren durch Fragen u n d Antworten« als die beste D i s k u r s f o r m des Streits preist, 1 9 0 ist d a m i t nicht eine offene Dialogizität kooperativer Wahrheitsfindung gemeint, sondern ein Verfahren, »dadurch der Irrende gleichsam genöthiget wird, seinen Fehler zu erkennen, in d e m m a n ihn durch seine eigene Geständniß dahin bringet, daß er

Ebd., S. 274f. Ebd., S. 292. 187 Ebd. 188 Ebd., S. 294. Thomasius nennt ausdrücklich »die meisten Fragen von Geschmack, von der Güte der Dinge, von der Sprache der Engel, u.s.w.« (ebd.). 189 Yg] z u J e n ¡ m 18. Jahrhundert üblich werdenden Versuchen, das Streitgeschehen moralisch zu begrenzen: Günter Oesterle: Das »Unmanierliche« der Streitschrift. Zum Verhältnis von Polemik und Kritik in der Aufklärung und Romantik. In: Franz Josef Worstbrock und Helmut Koopmann (Hg.): Formen und Formgeschichte des Streitens (wie Anm. 59), S. 107-120. Zu Recht stellt Oesterle fest, daß die »beredten erkenntniskritischen, stilistischen und marktstrategischen Begründungen« für die Produktivität des Streites stets die »Anerkennung der Lust am Streit« aussparten: »Dieser hedonistische Affekt wird in der Aufklärung meist nur noch privat eingestanden, offiziell wird er verleugnet und verdrängt.« (S. 107 f.) So daß am Ende »die Lizenz für die Polemik in einer polemikfeindlichen Zeit [...] die Ethik« ist (S. 112). Ob dies jedoch zu einer moralisch angeleiteten Entpolemisierung der Kritik fuhrt - wie Oesterle behauptet (vgl. S. 111) - ist allerdings fraglich, gerade das Beispiel Thomasius könnte belegen, daß die moralische Streitbegrenzung immer die logische und daher unverzichtbare Voraussetzung für eine produktive Verletzung dieser Grenzen darstellt. Und erst diese Grenzüberschreitung realisiert die für den Streit typischen kommunikativen Effekte. Insofern ist der Streitdiskurs um willen seiner Produktivität immer darauf angewiesen, seine (moralischen) Regeln zu thematisieren. Die Lebhaftigkeit, mit der die Moral des Streitens propagiert wurde, markiert dabei übrigens die Funktionstüchtigkeit dieser Dialektik der Streitbegrenzung. 185

186

190

Thomasius: Ausübung der Vernunftlehre (wie Anm. 182), S.281, siehe auch: Christian Thomasius: Höchstnöthige Cautelen, Welche ein Studiosus Juris, der sich zur Erlernung der Rechts-Gelahrheit aufF eine kluge und geschickte Weise vorbereiten will, zu beobachten hat. Halle 1713, S. 220.

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Händel mit Hector Gottfried Masius

den Ursprung desselben zu begreiffen anfängt, und also durch eine süsse Gewalt getrieben entweder seinen Irrtum wiederruffen, oder sich selbst widersprechen, oder aus Scham stillschweigen muß«.191 Trotz dieser dem Anschein nach betonten Einseitigkeit des eigentlichen Streitzwecks macht Thomasius gleichwohl deutlich, daß er im Prinzip ein ganz anderes, nämlich auf kooperativen Erkenntniserwerb ausgerichtetes Streitideal vor Augen hat: Tatsächlich tritt er für eine Auseinandersetzung ein, in der eine »unerkandte Warheit« von allen Beteiligten mit »gleicher Begierde«192 gesucht wird; anstatt um eine bloße Durchsetzung bereits gewonnener Erkenntnisse geht es ihm um eine »Vereinigung die Warheit zu suchen, und mit gesambter Krafft zu ergreiffen«.193 Der Streit ist hier dem Potential nach ein erkenntnistheoretisch produktives Medium, das in einem kommunikativen Prozeß den streitenden Parteien zur gemeinsamen Auffindung einer Einsicht verhilft, über die bis dahin noch keiner der Disputanten verfugte. Unklar ist dabei allerdings, über welche epistemologische Qualität dieses kommunikative Geschehen genau verfugt: Vermittelt es den streitenden Parteien Erkenntnisse, die sie allein nicht hätten erzielen können, oder funktioniert es eher als Hilfe und Erleichterung im Prozeß des Erkenntniserwerbs? Die von Thomasius in der Ausübung der Vernunftlehre angeführten Hinweise legen nahe, eher letzteres anzunehmen. Eindeutig in diese Richtung fuhrt die folgende Feststellung: »Weise Leute disputiren mit einander, weil sie ihre Schwachheiten und Mängel erkennen, und begreiffen, daß auch der klügste Verstand eines Irrthums fähig sey, und daß durch anderer Hülffe man viel leichter etwas verborgenes finden könne, als wenn man solches alleine suchen wil«. 194

Wenn Thomasius aber das Sprichwort >Vier Augen sehen mehr als zwei< anfuhrt,195 dann ist der Befund doch nicht mehr ganz so eindeutig. Zwar kann das zweite Augenpaar im Prinzip nichts anderes sehen als das, was das erste bei entsprechend verändertem Blickwinkel nicht auch hätte sehen können. Doch wäre es möglich, daß das erste Augenpaar ohne den Einspruch des zweiten sein eigenes ursprüngliches Urteil bereits fiir die ganze Wahrheit hielte und auf eine Veränderung seines Blickwinkels verzichtete. In diesem Fall zwänge die Differenz zwischen den Urteilen der beiden Augenpaare zu einer Überprüfung und gegebenenfalls zu einer Korrektur des ersten Urteils. Die scheinbare Objektivität des ersten Urteils würde sich im Licht des zweiten als subjektiv begrenzt erweisen und die dadurch motivierte Revision würde im Ergebnis zu einer dem Erkenntnisobjekt angemesseneren Erkenntnis führen, die dem ursprünglichen Erkenntnissubjekt allein nicht zugänglich war und auch über das hinausgehen kann, was das zweite Erkenntnisobjekt in den Diskurs sachlich einbringt. So erzielt der Disput tatsächlich einen Zugewinn an Erkenntnis, der ohne ihn zwar nicht prinzipiell unmöglich wäre, unter Umständen aber doch unrealisiert bliebe. In jedem Fall ist deutlich, daß hier sich der Erwerb von Erkenntnissen ganz unmißverständlich einer 191 192 193 194 195

Thomasius: Ausübung der Vernunftlehre (wie Anm. 182), S. 2 8 1 . Ebd., S. 267. Ebd., S. 270. Ebd. Ebd., S. 267.

4. Thomasius: Streit durch Aufklärung - Aufklärung durch Streit

169

Kommunikation verdankt, die freilich nicht notwendigerweise Streit sein muß, aber eben auch Streit sein kann. 196 Seine auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht positive Einschätzung des Streits hat Thomasius auch in späteren Phasen seines Schafifens im Grundsatz nicht aufgegeben, zugenommen hat allerdings seine Skepsis hinsichtlich der praktischen Realisierbarkeit einer »ordentlichen« Disputation, denn »die Exempel davon« — so schreibt Thomasius in den Cautelen zur Erlernung der Rechts-Gelahrheit — »sind so rar, daß ich glaube die Alchymisten würden ihren Stein der Weisen mit leichter Mühe erfinden wann sie nur Holtz haben könnten von einer solchen Catheder, darauf? vielmahls wäre ordentlich disputiret worden«. 197 Ob Thomasius seine eigenen Streitigkeiten - nach kritischer Prüfung und unter Veranschlagung seiner auch in den Cautelen noch einmal bekräftigten Regeln 198 — zu den »ordentlichen« hätte rechnen dürfen, ist allerdings mehr als fraglich — dafür zählten sie aber ganz ohne Zweifel zu den produktiven.

196

197 198

Damit wird ein auf Kommunikation abstellendes Ideal des Erkenntniserwerbs greifbar, das in dieser Ausprägung vor allem für den frühen Thomasius charakteristisch ist. Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang etwa auf seinen an Kommunikation gebundenen Vernunftbegriff, wie er im vierten Kapitel des ersten Buches der Institutiones Jurisprudentiae divinae (1688) entfaltet wird, oder auf die in der Einleitung zur Hof-Philosophie (lat. 1688) gelieferte Definition der »Klugheit zu gedencken und vernunfftmäßig zu urtheilen«, es heißt dort: »Wir beschreiben demnach die Klugheit zu gedencken und vernunfftmäßig zu urtheilen folgender gestalt, nemlich daß sie sey eine Klugheit unsere Gedancken zu dem Ziel und Erlangung der Warheit zu richten, so wohl was die Natural- als MoralSachen betrifft, und solche wiederum anderen zu communiciren, der anderen ihre raisons wiederumb zu vernehmen, und mit denselben unsere Gedancken zusammen zu conferiren, und zwar solches mit einer Geschicklichkeit, Gerechtigkeit und Nutzbarkeit.« (S. 118 f.) Thomasius: Cautelen zur Erlernung der Rechts-Gelahrheit (wie Anm. 190), S. 219f. Vgl. ebd., S . 2 l 6 f .

Chronologie 1. Thomasius gegen Masius 1687

Dez. 1688

1689

Mai/Juni 1689

1689

10.3.1690

März 1690 1690

1690

9. 3.1691

In Kopenhagen erscheint die von dem Kopenhagener Hofprediger Hector Gottfried Masius verfaßte Denkschrift Interesse principum circa religionem evangelicam. Im Dezemberheft der Monatsgespräche publiziert Christian Thomasius in der Form eines Gesprächs eine ausführliche Kritik des Interesse principum. Unter dem Namen Peter Schipping wird von Masius eine Antikritik lanciert: Abgenöthigtes Gespräch von dem Bande der Religion und Societät, worinnen D. Masii interesse principum circa religionem Evangelicam gegen eines neulichen Scribenten Ernsthafte Gedancken vertheidiget wird. Thomasius druckt zusammen mit einem Kommentar den kompletten Text der Schippingschen Antikritik in den Mai- und Juni-Heften seiner Monatsgespräche ab. Auf Betreiben von Masius verlangt der dänische König vom Kurfürsten von Sachsen die exemplarische Bestrafung von Thomasius und den öffentlichen Widerruf seiner »scandaleusen Schrifft«. Nachdem Thomasius in genauem Gegensatz zu den politischen Interessen seines Landesherrn die gemischtkonfessionelle Ehe zwischen Herzog Moritz Wilhelm von Sachsen-Zeitz und Prinzessin Maria Amalia von Brandenburg theologisch und juristisch gerechtfertigt hatte, wird er vom Oberkonsistorium in Dresden zunächst dazu verpflichtet, »weder in Leipzig noch andern Orten ohne vorhergehende Censur« etwas drucken zu lassen. In einem Reskript wird Thomasius bei Strafe dazu aufgefordert, sich »allen Profitirens, Lesens und Disputirens, es geschehe publice oder privatim [...], als auch Edirung einiger Schriften« zu enthalten. Thomasius siedelt in das brandenburgische Halle über. Die gesammelten Hefte seiner Monatsgespräche des Jahres 1689 widmet Thomasius »allen seinen grösten Feinden, insonderheit aber Herrn Hector Gottfried Masio«. Die Zuschrift dieser Sammlung veranlaßt Masius, beim dänischen König den Befehl zur Verbrennung von Thomasius' »SchmäheSchrifften« zu erwirken. Einer Zeitungsnotiz zufolge werden die inkriminierten Schriften »von des Büttels Hand cum infamia autoris« öffentlich verbrannt. Thomasius beschwert sich beim Kurfürsten von Brandenburg, der sich dann

171

Chronologie

Okt. 1691

1692

1724

auch tatsächlich an den dänischen König wendet. Ohne weiteres Ergebnis wird Masius noch einmal bei seinem Landesherrn vorstellig. Thomasius reagiert auf das Autodafé mit Attilae Frommholds Rechtsgegründeten Bericht, wie sich ein ehrliebender Scribent zu verhalten habe, wenn ein auswärtige Herrschaft seine sonst approbierte Schrifften durch den Hencker verbrennen zu lassen, von einigen Passionirten verleitet worden. Masius repliziert noch einmal mit einer Schrift, die er unter dem Namen Aetium Dietrich Ehrenhold publiziert: Vernunfftgegründeter Bericht, was von einem Scribenten zu halten, dessen Schrifften durch den Hencker verbrennet; darum, daß ehrlicher Leute guter Nähme muthwillig, und ohne alle ihm gegebene Ursach darinnen angegriffen und laediret worden. Thomasius verzichtet auf eine neuerliche Reaktion und befaßt sich erst mehr als dreißig Jahre später — rückblickend und ausführlich — ein letztes Mal im zweiten Teil seiner Gemischten philosophischen und juristischen Händel (Halle 1724) mit der Auseinandersetzung.

2. Becmann gegen Masius 1690

1690

1691

1691

Mit einer rund dreijährigen Verspätung hat der reformierte Theologe, Historiker und Staatswissenschaftler Johann Christoph Becmann unabhängig von Christian Thomasius die Auseinandersetzung mit Hector Gottfried Masius aufgenommen. Zunächst erschien Huberti Mosani Bericht von der Reformirten Lehre von der weltlichen Obrigkeit, sampt einer Ablehnung der in Hn. Hect. Godf. Masii Buche von dem Interesse der Fürsten bey der Evangelischen Religion Ihnen deßfalls aufgebürdeten Nachreden. Masius hält unverzüglich mit einer noch im selben Jahr erschienenen Verteidigungsschrift dagegen: Das Treue Lutherthumb, entgegengesetzet der Schule Calvini, Womit des Vermummeten Huberti Mosani Bericht von der Weltlichen Obrigkeit, so er gegen Masii Interesse principum neulich herausgegeben widerleget wird. Sampt einem Catalogo Errorum Becmanniorum, und eines Reformirten Schreiben an einen guten Freund. Entworffen von M.D.E.RR Becmann antwortet mit einem Ferneren Bericht von der Reformirten Lehre von der Weltl. Obrigkeit [...] Worinnen klärlich dargethan, daß die Evangelisch-Reformirte in der schuldigen Treue und Gehorsam gegen die Hohe Obrigkeit keinem und in specie den Evangelisch-Lutherischen nichts nachgeben. Dagegen läßt Masius zunächst eine Unverzögerte Generale=Wiederlegung Des Fernern Berichts erscheinen.

172

Händel mit Hector Gottfried Masius

Becmann reagiert umgehend mit einer Abfertigung Der unverzögerten Generalen Wiederlegung. Woraufhin sein Widersacher zunächst ein Erinnerungs-Schreiben an 1691 Hubertum Mosanum publiziert, in dem er mit rhetorischen Anregungen aufwartet, die Becmann/Mosanus aufgreifen müsse, falls er »Doct. Masii Treues Lutherthumb beantworten wolle«. Kurz darauf veröffentlicht Masius »der Wahrheit zu Steuer und zur Rettung des Seel. Lutheri und anderer Lutherischer Lehrer« die schon früher angekündigte, umfangreiche Speciale Wiederlegung des Becmannischen Fernern Berichts. 1692 Obwohl Becmann schon in der Abfertigung Der unverzögerten Generalen Wiederlegung angekündigt hatte, sich weiterer Äußerungen zu enthalten, sind mit der Antwort Eines zu Franckfurt an der Oder Studierenden An seinen Freund in Holstein und der Besseren Nachricht von des Berühmten Frantzösischen Theobgi Herrn Jurieu Meinung noch zwei Texte erschienen, die fiir Becmann Partei ergreifen und sehr wahrscheinlich von ihm selbst verfaßt wurden. Der Streit endete - wie zu erwarten war und vermutlich unter politischem Druck - ohne ein die Sachfrage klärendes Ergebnis. 1691

3. Pufendorf gegen Masius und Becmann In zahlreichen Briefen an Christian Thomasius und Adam Rechenberg hat Pufendorf immer wieder betont, sich keinesfalls an den Kontroversen mit Masius beteiligen zu wollen. Dennoch hat er die Auseinandersetzungen sehr genau verfolgt und die Möglichkeiten indirekter Einflußnahme genutzt, und zwar durch freundschaftliche Ratschläge an Christian Thomasius und durch Eingriffe in einen Text, den Adam Rechenberg unter dem fingierten Namen Andreas Montanus 1691 publizierte (Montani, A.: Send-Schreiben an N.N. Von des Hn. Masii und Huberti Mosani Streit-Schrifften Uber die Frage? Was die Weltliche Obrigkeit fiir Interesse bey der Evangelischen Religion habe? O.O. 1691). Weil dieses Send-Schreiben sich - ganz im Sinne von Samuel Pufendorf — nicht nur mit Masius, sondern auch mit Becmann kritisch auseinandersetzte, sah sich Becmann noch im selben Jahr zu einer kurzen Entgegnung veranlaßt: B. Vallensis Gedancken über A. Montani Send-Schreiben Von des Herrn Masii und Huberti Mosani Streit-Schrifften.

Quellenverzeichnis [Anonym:] Antwort Eines zu Franckfurt an der Oder Studierenden An seinen Freund in Holstein, Auff dessen Schreiben Die von Hn. D. Masio den Reformirten movirten Controversie betreffend. Ingleichen Eine kurtze Antwort Auf D. Masii Vernunfft- und Gewissens-Fragen. O. O. 1691. [Anonym:] Bessere Nachricht von des Berühmten Frantzösischen Theologi Herrn Jurieu Meinung, Die Lehre der Reformirten von der Hohen Obrigkeit betreffend, Zu Ablehnung Einer kurtzen Schrifft, Welche vor wenig Tagen unter dem Namen Avis Sincere, wieder Denselben und Hub. Mosanum, in Faveur des Herrn Masii, im Deutsch-Französischen hervorgekommen, durch einen Freund d. Hn. Jurieu. Franckfurt an der Oder 1692. [Anonym:] Aus den Schrifften des Hr. Sam. Pufendorfii Kurtzer aber gründlicher Beweiss [...] Daß der Calvinismus mit einer Monarchie incompatible sey, Zu Bekräftigung der Warheit die D.Masius [...] vertheidiget, Und zu Joh. Chr. Becmans Confusion und Schande. O. O. 1692. [Becmann, Johann Christoph]: Huberti Mosani Bericht von der Reformirten Lehre von der weltlichen Obrigkeit, sampt einer Ablehnung der in Hn. Hect. Godf. Masii Buche von dem Interesse der Fürsten bey der Evangelischen Religion Ihnen deßfalls aufgebürdeten Nachreden. Frankfurt an der Oder 1690. Becmann, Johann Christoph: Fernerer Bericht von der Reformirten Lehre von der Weltl. Obrigkeit. Vorgestellet In einer kurtzen Widerlegung des Buches Welches Hector Gottfried Masius Unterm Titul Des Treuen Lutherthums Wider die Evangelisch-Reformirte außgehen lassen: Worinnen klärlich dargethan, daß die Evangelisch-Reformirte in der schuldigen Treue und Gehorsam gegen die Hohe Obrigkeit keinem und in specie den Evangelisch-Lutherischen nichts nachgeben. Hierbey seynd zu finden A. Montani und B. Valensis Schreiben von dieser Materia. Franckfurt an der Oder o. J. [1691]. [Becmann, Johann Christoph:] Huberti Mosani Abfertigung Der unverzögerten Generalen Wiederlegung So Hector Gottfried Masius Dessen Fernern Bericht Von der Reformirten Lehre Von der Hohen Obrigkeit entgegen gesetzet. Franckfurt an der Oder 1691. [Becmann, Johann Christoph:] B. Vallensis Gedancken über A. Montani Send-Schreiben Von des Herrn Masii und Huberti Mosani Streit-Schrifften. O. O. 1691. Bentzen, Siegfried: Christianus minime Christianus, oder das Ebenbild Christiani Thomasii, darinn desselben leichtfertige Critique über vieler vornehmen und gelehrten Leute, insonderheit über des Herrn D . Masii Person und Schrifften, aus desselben Monats-Geschwätzen und liederlichen Gedancken entworffen, auch zugleich die beyden Fragen, als I. Von den Vorzug der wahren Evangelischen Religion vor allen andern, in der Lehre von Gehorsam gegen die hohe Obrigkeit: und II. O b Gott eine unmittelbare Ursache der Majestät: aus denen Principiis der gesunden Vernunfft und der H. Schrifft erörtert, und contra Thomasii Sophismata vindiciret worden. Ratzeburg 1692. Masius, Hector Gottfried: Interesse principum circa religionem evangelicam ad Serenissimum ac Potentissimum Daniae Regem. Hafniae 1687. - , Orthodoxia Lutherana de origine imperii divina et immediata in Epist. ad Rom. XIII. v. 1.2. fundata. Hafniae 1688. [Masius, Hector Gottfried:] Schipping, Peter: Abgenöthigtes Gespräch von dem Bande der Religion und Societät, worinnen D. Masii interesse principum circa religionem Evangelicam gegen eines neulichen Scribenten Ernsthaffte Gedancken vertheidiget wird. O. O. 1689. - , Das Treue Lutherthumb, entgegengesetzet der Schule Calvini, Womit des Vermummeten Huberti Mosani Bericht von der Weltlichen Obrigkeit, so er gegen Masii Interesse principum neulich herausgegeben widerleget wird. Sampt einem Catalogo Errorum Becmanniorum, und eines Reformirten Schreiben an einen guten Freund. Entworffen von M. D. E. P. P. Kopenhagen 1690. Unverzögerte Generale =Wiederlegung Des Fernern Berichts, unter dem Nahmen Huberti Mosani gegen Masii Treues Lutherthumb herausgegeben, Als ein Prodromus der Specialen Wiederlegung, bestehend in dreyen Theilen, Als I. Eine Beantwortung der nichtigen Exceptionen des Mosani. II.

174

Quellenverzeichnis

Eine Rettung des theuren Lutheri und anderer Lutherischer Lehrer. III. Eine fernere Überweisung dessen, was die Lutheraner und in Specie Masius in dieser Controversie behauptet, unter dem Titel: Pietas Calviniana erga Summum Magistratum. entworffen Von M . D . E.P. P. Copenhagen 1691. - , Erinnerungs-Schreiben an Hubertum Mosanum Wie er die Sache angreiffen müße, wo er Doct. Masii Treues Lutherthumb beantworten wolle. Kopenhagen 1691. - , Das gründlich verthädigte treue Lutherthumb, entgegen gesetzet der Schule Calvini, In einer Specialen Wiederlegung des Becmannischen Fernern Berichts, von der Reformirten Lehre, von der Weltlichen Obrigkeit, Der Wahrheit zu Steuer und zur Rettung des Seel. Lutheri und anderer Lutherischer Lehrer, Sampt der Theologischen Facultät in Copenhagen Gewissenhaften Judicis von dieser Sache. Zum Druck befordert von M.D.E.P.P. Copenhagen 1691. - , Aetium Dietrich Ehrenhold: Vernunfftgegründeter Bericht, was von einem Scribenten zu halten, dessen Schrifften durch den Hencker verbrennet; darum, daß ehrlicher Leute guter Nähme muthwillig, und ohne alle ihm gegebene Ursach darinnen angegriffen und laediret worden. O.O. 1692. [Rechenberg, Adam:] Montanus, Andreas: Send-Schreiben an N. N. Von des Hn. Masii und Huberti Mosani Streit-Schrifften Uber die Frage? Was die Weltliche Obrigkeit für Interesse bey der Evangelischen Religion habe? O . O . 1691. Thomasius, Christian: Ernsthaffte Gedancken, über etliche Ernsthaffte Bücher und Fragen. An statt des Zwölfften Monats oder Decemb. In einem Gespräch vorgestellet. Halle 1688. - , Freymüthiger jedoch Vernunfft- und Gesetzmässiger Gedancken, Uber allerhand, fürnemlich aber Neue Bücher Majus des 1689. Jahrs. Halle 1689. - , Freymüthiger Jedoch Vernunfft- und Gesetzmässiger Gedancken, Uber allerhand, fürnemlich aber neue Bücher Junius des 1689. Jahrs. Halle 1689. - , Freymüthige Jedoch Vernunfft- und Gesetzmässige Gedancken Uber allerhand, fürnemlich aber Neue Bücher Durch alle zwölff Monat des 1689. Jahrs. Durchgeführet und Allen seinen Feinden, insonderheit aber Herrn Hector Gottfried Masio zugeeignet Von Christian Thomas. Halle 1690. [Thomasius, Christian:] Attilae Friedrich Frommholds Rechtsgegründeter Bericht, wie sich ein ehrliebender Scribent zu verhalten habe, wenn ein auswärtige Herrschafft seine sonst approbirte Schrifften durch den Hencker verbrennen zu lassen, von einigen Passionirten verleitet worden. O.O. 1691. Thomasius, Christian: Händel mit Herrn Hector Gottfried Masio. In: Ders.: Vernünfftige und Christliche aber nicht Scheinheilige Thomasische Gedancken und Erinnerungen über allerhand Gemischte philosophische und juristische Händel. Andrer Theil. Halle 1724.

URSULA GOLDENBAUM

Der Skandal der Wertheimer Bibel Die philosophisch-theologische Entscheidungsschlacht zwischen Pietisten und Wolffianern

1. Das absichtsvolle Vergessen der Wertheimer Bibel in der deutschen Geistesgeschichte I. Teil Die erste Phase der Entwicklung der öffentlichen Debatte seit dem Erscheinen der Wertheimer Bibel zur Ostermesse 1735 2. Das Erscheinen der Wertheimer Bibel als Erfolg einer Strategie der Öffentlichkeit 3. Zur theologischen und philosophischen Problemlage des Übersetzungsprojekts: Die Vorrede 4. Die »glücklichen Umstände« des Zustandekommens 5. Die politische Vorbereitung des Philosophischen Religionsspötters im Verfahren des evangelischen Elenchus als Inszenierung der öffentlichen Gegenreaktion auf die Wertheimer Bibel 6. Die Argumentationsstrategie des Philosophischen Religionsspötters: Eine Vorlage für das Eingreifen des weltlichen Arms 7. Schmidts strategischer Gebrauch des evangelischen Elenchus zur Erhaltung der Öffentlichkeit des Streits: Die vestgegründete Wahrheit 8. Die öffentliche Debatte kommt in Gang: Die Hamburgischen Berichte von gelehrten Sachen November 1735 bis Januar 1736 9. Lokale Auseinandersetzungen um den Erhalt der Öffentlichkeit in Wertheim 10. Die Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen vom Januar bis zum März 1736 und das Einschreiten der sächsischen Obrigkeit II. Teil Die zweite Phase der öffentlichen Debatte zwischen dem sächsischen Verbot im Januar 1736 und dem preußischen Verbot im Sommer 1736 11. Das sächsische Verbot in seiner Auswirkung auf die öffentliche Debatte: Die Rezension der Göttlichen Schriften in den deutschen Acta eruditorum und Schmidts Zurückweisung 12. Die Wertheimer arbeitsteilige politische Reaktion auf das sächsische Verbot 13. Des Wertheimers öffentliche Erklärung vor der ganzen evangelischen Kirche als öffentlich-politische Schrift, um die protestantischen Stände beim Reichstag zu Regensburg zu gewinnen 14. Der Rückgang der öffentlichen Debatte angesichts des sächsischen Verbots: Die Hamburgischen Berichte von Gelehrten Sachen von Februar bis zum Sommer unter der wechselnden Großwetterlage

Wertheimer Bibel

177

15. Eine erste Welle von Widerlegungen der Wertheimer Bibel bis zum Sommer 1736 - theologische Argumentation und moralische Diskreditierung 16. Die Beantwortung. Schmidts Auseinandersetzung mit der Kritik - argumentativ und moralisch 17. Das Ringen um die Akzeptanz Wolfis am preußischen Hof und das preußische Verbot der Wertheimer Bibel als deren Preis im Sommer 1736 III. Teil Die dritte Phase der öffentliche Debatte bis zum kaiserlichen Verbot im Januar 1737 18. Die öffentliche Nebendebatte der Langeschen Fraktion gegen Wolff: Die Wertheimer Bibel eine Frucht der Wolffschen Philosophie? 19. Die Wertheimer politische Reaktion auf das preußische Verbot im Sommer 1736 20. Reimarus' Anerkennung der redlichen Absichten in den Hamburgischen Berichten, aber der dennoch drohende Verlust der Öffentlichkeit 21. Der Kontakt zu Gottsched und zur Leipziger Deutschen Gesellschaft als Ausweg aus der drohenden öffentlichen Isolation kommt zustande 22. Die Diskussion von Ubersetzungsprinzipien in den Beyträgen zu einer Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit von einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschafi in Leipzig herausgegeben IV. Teil Die vierte und letzte Phase: Die Verlagerung der öffentlichen Debatte von der philosophisch-theologischen in die politisch-juristische Diskussion 23. Große Politik I: Das Kaiserliche Verbot, Verhaftung und Prozeß unter den Bedingungen der geltenden Reichsverfassung nach dem Westfälischen Frieden 24. Die Aktivitäten der Wertheimer hinsichtlich des Prozesses und der öffentlichen Debatte 25. Die Gründliche Vorstellung als politisch-öffentliche Reaktion der Wertheimer vor dem Reichstag, insbesondere vor dem Corpus evangelicorum 26. Die Affäre Fröreisen 27. Die Einschränkung der öffentlichen Debatte 28. Große Politik II: Wien - Ansbach - Bamberg - Regensburg - Berlin - Kopenhagen und die Aktivitäten der Wertheimer 29. Die Historischen Nachrichten als Ausdruck des anhaltenden Interesses eines breiten Lesepublikums an der öffentlichen Debatte um die Wertheimer Bibel 30. Ergebnisse der Untersuchung

Abb. 5. Vignette des Titelblattes zu: [Johann Lorenz Schmidt:] Die göttlichen Schriften vor den Zeiten des Messie Jesus. Der erste Theil worinnen Die Gesetze der Israelen enthalten sind nach einer freyen Ubersetzung welche durch und durch mit Anmerkungen erläutert und bestätiget wird. Wertheim. Gedruckt durch Johann Georg Nehr, Hof- und Canzley-Buchdrucker 1735 (Wertheimer Bibel)

1.

Das absichtsvolle Vergessen der Wertheimer in der deutschen Geistesgeschichte

Bibel

Obwohl die Diskussion um die Veröffentlichung der sogenannten Wertheimer

Bibel

und die

Aufregung um die Verfolgung und Flucht des Autors dieser Bibelübersetzung, Johann Lorenz Schmidt, die Zeitgenossen fast vier Jahre lang in Atem hielt und in den Jahren 1 7 3 6 bis 1 7 3 8 sogar Gegenstand des Reichshofrats zu W i e n und des beständigen Reichstags zu Regensburg wurde, weiß heute kaum noch jemand etwas mit diesem Titel anzufangen. Daß die Kirchen- und Dogmengeschichte dieser Ereignisse wegen ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der »wolffianischen Bibel« ungern gedachte und sie also eher stiefmütterlich behandelte, ist einsichtig 1 ; aber auch in der Philosophiegeschichte scheint man angesichts des scheinbar »bloß theologischen« Gegenstandes nur wenig Interesse für sie aufzubringen. 2

1

Tholuck fertigt die Wertheimer Bibel in offensichtlicher Feindseligkeit gegen alle Formen des Rationalismus in weniger als zehn Zeilen ab; in seinen Augen ist sie »weniger ein Produkt der Heterodoxie, als der Geschmacklosigkeit«, welche »in Wölfischer Manier auch das Deutliche noch verdeutlichen wollte«. Vgl. August Tholuck: Die Geschichte des Rationalismus. Erste Abtheilung: Geschichte des Pietismus und des ersten Stadiums der Aufklärung. Wiegandt u. Grieben: Berlin 1865, S. 144. Dieser Theologe, der die aggressive Kritik des orthodoxen sächsischen Theologen Löscher an den Wolffianern gern als eine solche der Einsicht und der tiefsten Herzenswärme ansehen will (S. 130), behandelt die Wolffianer schlechthin als kaltsinnige Philosophen oder aber z. B. den wolffianischen Theologen Siegmund Jakob Baumgarten als seelenlosen Bibelinterpreten (S. 141). Seine offenbare Abneigung geht so weit, daß er auch nicht vor persönlicher Diffamierung zurückschreckt. Ungeprüft übernimmt er die verleumdenden und denunzierenden Formulierungen des Jenenser Senats gegen den Wolffianer Carpov als feststehende Fakten, um mit Genugtuung feststellen zu können, daß Carpov sich also eine »gedoppelte Hure habe antrauen lassen«. Er behauptet dann sogar, daß Carpov wegen der ihm aus dieser moralischen Verfehlung zu Recht in Jena entstehenden Schwierigkeiten (und also nicht etwa wegen der massiven theologischen Verfolgung Langes und Walchs) 1737 in die Dienste des Weimarer Herzogs getreten sei, in dessen Gunst er gestanden habe (vgl. ebd., S. 133, die lange Fußnote 1). Aus den im Bericht des Senats mitgeteilten Beschuldigungen geht aber tatsächlich nur hervor, daß Carpov (wahrscheinlich wegen seines Wegzugs aus Jena und aufgrund seines Antritts der Rektorenstelle in Weimar) seine damalige Geliebte und Haushälterin Rosenhohin, mit der er bereits eine Tochter hatte, geheiratet hat. Daß sein Weggang nach Weimar aber gerade wegen seiner Auseinandersetzungen mit Joachim Lange und Walch zustande kam und seine Vertreibung aus Jena von Walch ausdrücklich betrieben wurde, geht aus dessen Brief und Bericht an Joachim Lange hervor. Darin verspricht Walch dem Kollegen, daß er nicht eher ruhen wolle, bis Carpov nicht die Stadt verlassen hätte (vgl. Walch an Lange am 24. 5.1736. In: FSt Halle. A 188b:390).

2

In philosophiegeschichtlichen Gesamtdarstellungen oder Lexika fehlt Schmidt meist völlig. Allerdings erschienen in den letzten Jahrzehnten mehrere kleinere Darstellungen von philosophischer Seite: Vgl.

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Wertheimer Bibel

Dabei hatte die Diskussion um die Wertheimer Bibel unmittelbare Auswirkungen auf die Diskussion um die Philosophie von Christian W o l f f und drängte die Wolffianer zunächst erneut in die Defensive. Vor allem aber würden die mit der Wertheimer Bibel noch einmal öffentlich diskutierte wolffianische Philosophie, die Bedeutung der mathematischen Methode, das Verhältnis von Vernunft und Glauben, grundlegende Fragen der Hermeneutik und auch der Semantik das Interesse von Philosophen, Sprachwissenschaftlern und Theologen an diesem Gegenstand rechtfertigen. Der deutschen Philosophie und Theologie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war diese große und an fast allen theologischen und philosophischen Fakultäten des protestantischen Raumes intensiv geführte Auseinandersetzung jedenfalls noch sehr gegenwärtig. A m Ende des Jahrhunderts geschah es jedoch, vor allem infolge der generellen Abwertung der Aufklärung in der deutschen Geschichtsschreibung, wie sie schon seit der deutschen Klassik und Romantik erfolgreich betrieben wurde, daß diese große öffentliche Debatte um die Wertheimer Bibel und die protestantische Freiheit zunächst in Mißkredit und dann in Vergessenheit geriet. 3 Soweit dieses Werk überhaupt noch zur Kenntnis geGünther Mühlpfordt: Die Jungwolffianer - Anfänge eines radikalen Wolffianismus. Zur Differenzierung und Wirkung der Wolffschen Schule. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 30 (1982). H. 1, S. 6 3 - 7 6 ; Peter Stemmer: Weissagung und Kritik. Eine Studie zur Hermeneutik bei Hermann Samuel Reimarus, Göttingen 1983, S. 9 2 - 1 4 6 ; Ursula Goldenbaum: Die erste deutsche Übersetzung der Spinozaschen »Ethik«. In: Spinoza in der deutschen Geistesgeschichte. Hg. von Hanna Delf, Julius H. Schoeps, Manfred Waither. Edition Hentrich: Berlin 1994, S. 107-125; Winfried Schröder, Aporien des theoretischen Liberalismus. Johann Lorenz Schmidts Plädoyer für »eine allgemeine Religionsund Gewissensfreyheit«. In: Aufklärung und Skepsis. Studien zur Philosophie und Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, Günter Gawlick zum 65. Geburtstag, in Verb, mit Hans-Ulrich Hoche und Werner Strube hg. von Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 2 2 1 - 2 3 7 . 3 Vgl. die wenig aussagekräftigen Artikel der RGG und der RE, die in den verschiedenen Auflagen immer wieder die trockene, »hausbackene« oder rationalistische bzw. naturalistische Sprache thematisieren, die alle Wunder, alles Wunderbare und alle Poesie ausschlösse. Das Vorurteil von der Poesielosigkeit der Bibelübersetzung, von Vertretern des Gefühlschristentums und von den Kritikern des theologischen Rationalismus in Umlauf gebracht, wird kritiklos kolportiert, ohne daß die ausdrückliche Erklärung Schmidts zur Notwendigkeit der Tilgung bildhafter Ausdrücke für sein Projekt überhaupt zur Kenntnis genommen wird. Schmidt ist sich der Poesielosigkeit seiner Übersetzung durchaus bewußt und hält daher auch andere Übersetzungen, insbesondere auch die Luthers für sinnvoll. Nur fiir sein Projekt des Auffindens einer unbezweifelbaren Aussage der HI. Schrift sollten alle bildhaften und mehrdeutigen Ausdrücke vermieden werden. Vgl. Artikel »Bibelübersetzungen«. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch in gemeinverständlicher Darstellung. 1. Aufl. Bd. 1. Tübingen 1909, Sp. 1166 (im folg. RGG). - Im Artikel »Schmidt, Johann Lorenz«. In: RGG. 2. Aufl. Bd. 5. Mohr: Tübingen 1931, Sp. 2 0 7 - 2 0 8 . - Artikel »Schmidt, Johann Lorenz«. In: RGG. 3. Aufl. Bd. 5. Mohr: Tübingen 1961, Sp. 1458. - Im Artikel »Bibelübersetzungen«. In: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. 3. Aufl. Hinrich: Leipzig 1897, S. 80 (im folg. RE). Dort wird die Wertheimer Bibel als »abgeschmackt breit und umschreibend« beschrieben; »dabei herrscht das naturalistische Interesse alles außerordentliche und wunderbare zu beseitigen« (ebd., S. 80). - In der Nachfolgerin der RE, der Theologischen Realenzyklopädie (de Gruyter: Berlin, New York 1977 ff.), wird die Wertheimer Bibel unter dem Artikel »Bibelübersetzungen« nicht mehr erwähnt noch findet sich ein Verweis auf einen Artikel »Schmidt« oder »Wertheimer Bibel«. - Im katholischen Standardnachschlagewerk Lexikon fiir Theologie und Kirche (2. Aufl. Herder: Freiburg 1957 ff.) findet sich ebenfalls kein einschlägiges Stichwort.

1. Das absichtsvolle Vergessen

181

nommen wurde, folgte auch die deutsche Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts weitgehend dieser Auffassung. Hettners Urteil gilt noch heute übergreifend für alle geistesgeschichtlichen Disziplinen: »Man kennt dieses merkwürdige Buch jetzt meist nur nach der dunklen und unbestimmten Überlieferung bösen Leumunds. Selbst Dogmen- und Kirchenhistoriker gehen scheu und ohne Prüfung an ihm vorüber.« 4 Ein historisch gerechtes Urteil findet sich wohl nicht zufällig zuerst bei Fritz Mauthner, der dem Autor in seiner des Atheismus

Geschichte

einen Platz in der Reihe der »wahren deutschen Aufklärer« bietet, obwohl er

seine Intention einer Verteidigung der christlichen Religion für aufrichtig hält. 5 Mauthner hebt auch erstmals das sprachwissenschaftliche Verdienst der Arbeiten des Wertheimers hervor. Unter den Theologen war es Emmanuel Hirsch, 6 der dem Wertheimer in seiner Ge-

schichte der neuern evangelischen Theologie nicht nur historische Gerechtigkeit widerfahren läßt, sondern auch den »bedeutenden theologischen Gehalt« 7 des Streites um die Bibel

Wertheimer

erstmals anerkannt und dargestellt hat. Überraschend unbefangen - und bisher noch

immer ohne Nachfolge — arbeitete er die eigentümliche theoretische Leistung von Johann Lorenz Schmidt für die Fortschritte protestantischer Theologie heraus. Angesichts der immer noch weit verbreiteten Geringschätzung der theoretischen Leistung dieser Übersetzung war die Geschichte des Werkes und seiner Rezeption in der deutschen Theologie und Philosophie und darüber hinaus bisher kaum erforscht. W i r haben ein 4

Hermann Hettner: Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert. Aufbau-Verlag: Berlin und Weimar 1979. Bd. 1, S. 196. Hettner widmet der Wertheimer Bibel als einer »sehr beachtenswerten Urkunde« der herrschenden Zeitströmung sogar einen eigenen Titel, vgl. ebd., S. 196-202. Aber auch er folgt kritiklos dem demagogischen Urteil von der Poesielosigkeit der Ubersetzung und bringt dafür die üblichen Textbeispiele, vgl. S. 196f. Hettner verteidigt also zwar im allgemeinen die Wertheimer Bibel als einen Versuch aufgeklärten Denkens, folgt aber in allen Einzelbeurteilungen letztlich den verbreiteten oberflächlichen oder gar der Parteilichkeit geschuldeten Urteilen, so u.a. über das angebliche »verächtliche Herabsehen auf die bisherige Erklärung der heiligen Schriften« bei Schmidt oder die Rückführung der Übersetzung allein auf die wolffianische Schule (vgl. S. 198 f.). Indem sich Hettner allein auf Sinnholds Historische Nachrichten (siehe Anm. 19) stützt, läßt er den Wertheimer 1738 in Ansbach in »eine noch strengere Haft« gefuhrt sein (aus der er ihn dann natürlich notwendig wieder entkommen lassen muß), obwohl diese Fehlmeldung selbst bei Sinnhold, vorher aber schon von den Acta historico-ecclesiastica korrigiert worden war.

5

Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. 3. Bd. Deutsche Verlagsanstalt: Stuttgart und Berlin 1922, S. 251-272. Emmanuel Hirsch: Geschichte der neuem evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Bd. 2. Bertelsmann: Gütersloh 1951, S. 4 1 7 - 4 3 7 (im folg. Hirsch). — Zur neueren theologischen Literatur zur Wertheimer Bibel seitdem vgl. Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Protestantisches Christentum im Zeitalter der Aufklärung. Mohn: Gütersloh 1965, S. 98-102. Auch Kantzenbach kolportiert übrigens wie Hettner die Geschichte von einer Verlegung des Gefangenen Schmidt von Wertheim nach Ansbach, von wo er dann angeblich floh (S. 100); er kennt aber doch Schmidts Schriften und stellt trotz seiner Kritik an Schmidts Rationalismus die christlichen Intentionen des Wertheimers adäquat dar. Trotz der insgesamt sachlichen und das aufrichtige Anliegen einer Rettung des Christentums bei Schmidt würdigenden Darstellung bleibt Kantzenbach in seiner Bewertung der theologischen wie der textkritischen Leistung Schmidts weit hinter Hirsch zurück. Hirsch (wie Anm. 6), S. 417.

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Wertheimer Bibel

Lebensbild des Verfassers der Wertheimer Bibel, das der protestantische Religionslehrer am Schweinfurter Gymnasium, Paul Friedrich Schattenmann, 1878 unter Nutzung von Quellen im Schweinfurter Stadtarchiv für den verfemten Sohn dieser Stadt verfaßt hat.8 Darüber hinaus lieferte der protestantische Theologe Gustav Frank 1890 eine aussagekräftige Darstellung des Prozesses gegen den Wertheimer vor dem Reichshofrat in Wien, wozu er die Akten in Wien auswertete.9 Von ihm stammt auch der Artikel in der ADB. Auf diesen beiden Aufsätzen beruhen weitgehend auch weitere biographische Wörterbuchartikel bis in die jüngste Zeit. Allen Darstellungen bzw. Beurteilungen zur Wertheimer Bibel und ihrem Verfasser, unabhängig von ihrer Sympathie oder Antipathie, war es jedoch bisher gemeinsam, daß die Entstehung und Veröffentlichung der Ubersetzung wie auch die Verfolgung des Übersetzers bis zu seiner Flucht — angeblich nach Holland - als ein ganz singuläres und gewissermaßen untypisches Ereignis in der deutschen Frühaufklärung geschildert werden, insofern die Geschichte eines einzelnen, isolierten, zumal gescheiterten, radikalen (überspannten) Wolffianers und Aufklärers im rückständigen Deutschland erzählt wird, der im Moment des Scheiterns von den wenigen Mitstreitern verlassen und dessen tragisches Schicksal angesichts seiner Verfolgung bedauert wird. 10 Dieser traditionellen Sichtweise, die auch in seltenen jüngeren Aufsätzen nicht aufgegeben bzw. in Frage gestellt wird," ist neuerdings vehement widersprochen worden. Der amerikanische Theologe Paul S. Spalding hat aufgrund der Auswertung von bisher ungesichtetem Archivmaterial zeigen können, daß der Wertheimer in jeder Phase der Entstehung und Veröffentlichung der Wertheimer Bibel wie auch seiner Verteidigung

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Paul Friedrich Schattenmann: Johann Lorenz Schmidt, der Verfasser der Wertheimer Bibelübersetzung (Programm der k. bayer. Studienanstalt Schweinfurt für das Schuljahr 1877/78). Schweinfurt 1878. Gustav Frank: Die Wertheimer Bibelübersetzung vor dem Reichshofrat in Wien. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte. XII. Bd., 2. H. Gotha 1890, S. 2 7 9 - 3 0 2 . Typisch dafür ist Hettners Darstellung. Schmidt wird von ihm als ein lauterer und aller Verfolgung trotzender Märtyrer dargestellt. Uber sein Umfeld heißt es dagegen mit großer Entschiedenheit, aber bei größter Ignoranz: »Wolffs Feinde wollten auf Anlaß dieses schreiendsten Beispiels gegen alle philosophische Neuerung Krieg fiihren; Wolffs Anhänger aber wollten für diese vermeintlichen Auswüchse alle Verantwortlichkeit und Mitleidenschaft ablehnen. Die befürwortenden Stimmen, welche sich zuerst geregt hatten, verstummten allmählich unter der allgemeinen Einschüchterung oder verstanden sich, wie die Herausgeber der Leipziger Gelehrten Zeitungen, sogar zu schmachvollem Widerruf. Rein und edelmütig blieb nur Mosheim, welcher, wie aus jenen von Schlegel herausgegebenen Briefen hervorgeht, schon am Anfang seine Bedenken nicht verhehlt hatte, sich aber dennoch von denen fernhielt, die hernach so emsig die Steine zur Steinigung herbeitrugen.« (Hettner (wie Anm.4), Bd. 1, S.200.) Diese Bewertungen Hettners sind ein schönes Beispiel, zu welchen Fehlurteilen eine auf den Kontext verzichtende Ideengeschichte zu gelangen vermag, die sich auf einige wenige Textstellen hin derartige moralische Absprechungen erlaubt. Die Tendenz, den Wertheimer als Einzelkämpfer auf verlorenem Posten, ohne Kontakte zu Gleichgesinnten darzustellen, ist aber überhaupt typisch für die wenigen Darstellungen. So schreibt auch Mühlpfordt über Schmidt und seine Ubersetzung: »Ging der Jenaer Tractatus philosophicus« aus einem Zirkel angriffslustiger junger Wolffianer hervor, als Fanfarenstoß einer Gruppe Gleichgesinnter, so war dieses gründliche philologische Werk die Tat eines einzelnen.« (Mühlpfordt, S. 73)

1. Das absichtsvolle Vergessen

183

und seiner letztendlichen Flucht in engem Kontakt zu (bürgerlichen und adligen) Mitstreitern gestanden hat, ohne die weder das Werk und seine Publikation noch die Verhinderung der Festungshaft und statt dessen die glückliche Flucht - und zwar nach Altona — möglich gewesen wären.12 Auf solche Verbindungen des Wertheimers z.B. zur Leipziger Aufklärung hatte zuvor auch schon Agatha Kobuch aufmerksam gemacht - allerdings nur unter dem eingeschränkteren besonderen Blickwinkel der Geschichte der sächsischen Zensur.13 Die hier vorgelegte Untersuchung der öffentlichen Debatte um die Wertheimer Bibel will genau daran anknüpfen: Im Zentrum unserer Untersuchung steht allerdings nicht in erster Linie die theologische und philosophische Leistung des Ubersetzungswerkes, auch nicht das aufregende und tragische persönliche Schicksal des Autors (dem Spaldings Studie vor allem eingehend nachgeht), sondern die Entstehung, Entfaltung und Unterdrückung der öffentlichen Debatte um die Wertheimer Bibel und der durch sie aufgeworfenen philosophischen und theologischen Fragen unter den Bedingungen einer sich gerade erst konstituierenden »bürgerlichen Öffentlichkeit«. Es geht hier also nicht mehr nur um die unmittelbaren Unterstützer des Wertheimers, die Untersuchung richtet sich vielmehr auf jenes breite interessierte, gelehrte und ungelehrte Publikum, das durch sein Interesse an den diskutierten philosophischen und theologischen Fragen, an dem Schicksal des Autors, an den Aktivitäten der Obrigkeiten und am Prozeß gegen den Wertheimer wie auch an seiner Flucht - und damit durch seine Nachfrage an gedruckten Nachrichten die Buchhändler auf den Plan rief. Vor allem die Gelehrten Zeitungen und die mehrfach aufgelegten »Historischen Nachrichten« lebten allein vom Verkauf, sie setzten also ein solches interessiertes Publikum bereits voraus. Es gab in jener Zeit nur wenige Zeitschriften und Zeitungen, die zudem nicht nur einer mehr oder weniger strengen Zensur in theologischen Sachen unterworfen waren, sondern auch von Gelehrten herausgegeben wurden, die entweder selber öffentliche Amter in Uni12

13

Paul S. Spalding: Im Untergrund der Aufklärung: Johann Lorenz Schmidt auf der Flucht. In: Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 4: Deutsche Aufklärung. Hg. Erich Donnert. Böhlau: Weimar, Köln u. Wien 1997, S. 135-154. Vgl. auch: Spalding: Seize the Book, Jail the Author. Johann Lorenz Schmidt and Censorship in Eighteenth-Century Germany. Purdue University Press: West Lafayette 1998; sowie ders.: Noble Patrons and Religious Innovators in Eighteen-Century Germany: The Case of Johann Lorenz Schmidt. In: Church History 65 (Sept. 1996), S. 376-388. Vgl. Agatha Kobuch: Zensur und Aufklärung in Kursachsen. Ideologische Strömungen und politische Meinungen zur Zeit der sächsisch-polnischen Union (1697-1763). Böhlaus Nachf.: Weimar 1988, S. 69-72. Allerdings ist ihr keineswegs zuzustimmen, daß keine Zensurmaßnahmen gegen Stübner und Steinwehr wegen der Wertheimer Bibel nachzuweisen sind (ebd., S. 71), vgl. die Akten des Universitätsarchivs Leipzig: Rep. I/XIX/I/43; Theol.Fak.60 (Censur theol. Bücher 1736-38); Rep.I/XIX/ 1/47 (Acta Hrn. WolfF Balthasar Adolph von Steinwehr und dessen in den Leipziger Gelehrten Zeitungen gar mit mercklichem Beyfall sich befleißigende Recension dero herauskommender der christlichen Religion nachtheiliger Schriften); Rep.I/XIX/I/48 (Acta Johann Christoph Gottscheden Prof. Publ. und M. WolfF Balthasar Adolphen von Steinwehr betr.); Rep. I/XIX/I/49 (Acta Die Censur und Approbation des Decani Facultatis Theologicae derer, in den gelehrten Zeitungen vorkommenden Nachrichten und Recensionen von Theologischen Sachen und Büchern, betr.).

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Wertheimer Bibel

versitäten oder in staatlichen bzw. kirchlichen Institutionen ausübten oder aber doch deren Unterstützung genossen. Angesichts dessen mag die Frage nach einer öffentlichen Debatte in diesem frühen Zeitraum der 1730er Jahre in Deutschland sogar als anachronistisch erscheinen. Wenn man auf die bloßen Publikationen in dieser Debatte schaut, so sieht man denn auf den ersten Blick auch eine überwältigende Zahl an Widerlegungsversuchen gegen den Wertheimer, dagegen kaum Beiträge zu seiner Verteidigung, darunter vor allem seine eigenen. Die wenigen existierenden theologischen und anderen wissenschaftlichen Zeitschriften stehen allein den Kritikern der Wertheimer Bibel zur Verfugung, während die Verteidigungsschriften des Wertheimers entweder separat gedruckt wurden — oder aber in Zeitungen, und zwar vor allem in den sogenannten Zeitungen von gelehrten Sachen in Leipzig und Hamburg. Die Rezensionen und Artikel in solchen Gelehrten Zeitungen wie auch in überregionalen Tageszeitungen wie dem Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten sind jedoch bisher in der Darstellung dieser Debatte, darüberhinaus auch der deutschen Aufklärung überhaupt, in ihrer außerordentlichen Bedeutung als ein ganz neues Medum der deutschen Frühaufklärung noch gar nicht berücksichtigt worden. Diese Gelehrten Zeitungen und auch die Gelehrten Artikel von anderen Zeitungen berichten jedoch seit dem Erscheinen der Wertheimer Bibel beständig über den Fortgang der Debatte, was unmittelbar auf ein lebhaftes Interesse ihrer Leser verweist. Insofern die Zeitungen keinerlei Institution oder Amt hinter sich hatten und im Unterschied zu den theologischen und anderen Fachzeitschriften allein vom freien Verkauf existierten, spiegeln ihre Schwerpunkte der Berichterstattung unmittelbar die Interessen ihrer potentiellen Käufer, wenngleich natürlich auch die Gelehrten Zeitungen bis zu einem bestimmten Grad der theologischen Zensur unterlagen und ihr Zugeständnisse machen mußten. Die Gelehrten Zeitungen wurden durchgängig in deutscher Sprache geschrieben und wandten sich erklärtermaßen gerade nicht an ein gelehrtes Publkum, wie der Name nahezulegen scheint, sondern an gebildete und an gelehrten Nachrichten interessierte Leser - an Kaufleute, Handwerker, Militärs, Juristen und Beamte etc. Während der öffentlichen Debatte über die Wertheimer Bibel erzeugten sie durch ihre ihrem eigenen Anspruch nach unparteische - Berichterstattung, durch Anzeigen, Auszüge und Besprechungen von erschienenen Büchern, durch den Abdruck von Stellungnahmen, durch Meldungen über die Berichte von Zeitschriften und über die von anderen Zeitungen, durch Berichte über obrigkeitliche Maßnahmen und schließlich auch über die Person und das Schicksal des Autors einen öffentlichen Raum, der weit über die gelehrte Fachwelt der Buchautoren und Buchleser hinausreichte und die Frage nach einer öffentlichen Debatte unter Anteilnahme eines breiten ungelehrten, wenngleich gebildeten Publikums rechtfertigt, wie im weiteren dargestellt werden soll. Die gewöhnlich von der Forschung herangezogenen zeitgenössischen Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Wertheimer Bibel aus dem 18. Jahrhundert, die nach dem Abschluß der öffentlichen Debatte erschienen, stellen dabei keinesweg den authentischen Verlauf der öffentlichen Debatte dar, sondern sind offensichtlich selber noch stark von ihrer eigenen je unterschiedlichen Parteinahme in der Debatte bestimmt. So stellt die oft - als scheinbar seriöse lehrbuchartige Darstellung - herangezogene Kirchen- bzw. Religionsgeschichte des

1. Das absichtsvolle Vergessen

185

Jenenser Theologieprofessors Walchs 1 4 die öffentliche Debatte über die Wertheimer

Bibel

nur noch als den persönlichen Konflikt des Johann Lorenz Schmidt mit der evangelischen Kirche bzw. auch mit der Obrigkeit dar; diesem Autor und entschiedenen Gegner des Wertheimers gilt dessen Ubersetzung als Verstoß gegen die Grundlehren der evangelischen Kirche und dessen Hartnäckigkeit in der Diskussion mit den evangelischen Theologen als verstockter Charakter. Letzteres bietet dann die Möglichkeit der Rechtfertigung einer Verfolgung durch die Obrigkeit. In dieser Sichtweise Walchs verlieren die Gelehrten Zeitungen und ihre Beiträge zugleich mit der Vernachlässigung der stattgefundenen öffentlichen Debatte entscheidend an Bedeutung und kommen kaum mehr zur Darstellung. A u f Walchs Religionsgeschichte beruhen aber leider auch die von der Forschung ebenso als zeitgenössische (und damit authentische) Darstellungen in Anspruch genommenen Artikel in lers

Universallexikonli

und in Jöchers

Gelehrtenlexikon16.

Zed-

In dem entsprechenden Band der

erst später veröffentlichten Kirchengeschichte Mosheims und Schlegels wird dagegen zwar das Anliegen des Wertheimers adäquat dargestellt, ebenso wie das Verfahren protestantischer Theologen verurteilt wird, 1 7 den bekennenden evangelischen Glaubensgenossen beim Reichshofrat in W i e n anzuzeigen, jedoch geht es auch hier nur noch um den Inhalt der theoreti-

14

15

16

17

Johann Georg Walch: Historische und Theologische Einleitung in die Religions-Streitigkeiten der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Bd. V.2. Jena 1739. § § LII-LXXVI, S. 1276-1374, hier § LXIX, S. 1343-1347. - Es ist deutlich erkennbar, daß Walch bereits gezielt daran arbeitet, die prowertheimischen Stellungnahmen der gelehrten Zeitungen in Leipzig und Hamburg möglichst in eine unbedeutende Abseitsposition zu stellen, siehe S. 1344, wo er sie in nur einem Absatz abfertigt. Vgl. die Artikel »Johann Lorenz Schmidt« und »Wertheimer Bibel« in: Johann H. Zedier: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. Bd. XXXVIII und LV, Sp. 4 1 1 - 4 1 5 und Sp. 5 9 5 - 6 6 2 . Vgl. den Artikel »Johann Lorenz Schmidt«. In: Allgemeines Gelehrten-Lexicon. 4. T. Hg. Christian Gottlieb Jöcher. Olms: Hildesheim 1961 (Leipzig 1751), Sp. 2 9 7 - 2 9 8 . In diesem Artikel werden auch alle Schriften Schmidts mit vollem Titel angeführt. Das kaiserliche Verbot gegen Schmidt wird mit den Worten benannt, daß »die Inquisition gegen denselben verhänget« worden sei. Der Artikel nennt bereits Holland als die erste Station der Flucht des Wertheimers, welche Nachricht von verschiedener Seite kolportiert wurde (Sp.298). Der Autor verweist auf Sinnhold als Quelle. Immerhin weiß er auch schon die anonym erschienenen Übersetzungen Schmidts anzuführen. »Das aber hätte kein Mensch denken sollen«, heißt es in Mosheim/Schlegels Kirchengeschichte, »daß ein protestantischer Gottesgelehrter, wie Lange, von dem Ubersetzer durch seine standhafte Vertheidigung aufgebracht, den Reichsfiscal in einer gelehrten Streitsache, die blos unter Protestanten ventilirt wurde, und gar kein Gegenstand der Gerichtsbarkeit des Reichshofraths war, zur Anklage aufrufen würde.« (Johann Lorenz von Mosheim: Kirchengeschichte des Neuen Testaments, aus desselben gesammten grössern Werken und aus andern bewährten Schriften mit Zusätzen vermehret und bis auf die neuesten Zeiten fortgesetzet von Johann Rudolph Schlegel. 6. Bd. Eckebrechtsche Buchhandlung: Heilbronn 1788. § 184, S. 3 3 6 - 3 5 0 , S.341 (im folg. Mosheim/Schlegel).) - Für diesen 6. Band hat Schlegel auf umfangreiches Material Mosheims zurückgreifen können, woraus er auch »einige wichtige, die Geschichte der wertheimischen Bibelübersetzung betreffende Briefe«, die Mosheim von dem Grafen Friedrich von Löwenstein-Wertheim erhalten hatte, als Nachtrag zu seiner Vorrede veröffentlichte, auf den Seiten VII-LVI.

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Wertheimer Bibel

sehen Auseinandersetzung, ohne daß die darum geführte öffentliche Debatte noch in die Darstellung einbezogen wird.18 Dagegen scheint mir die Tatsache, daß noch während der öffentlichen Debatte mehrere Historische Nachrichten zur Wertheimer Bibel veröffentlicht wurden und guten Absatz fanden, ein hinreichendes Indiz dafür zu sein, daß jedenfalls die Zeitgenossen die Auseinandersetzung um die Wertheimer Bibel als eine öffentliche Debatte um dieses Werk verstanden haben, weshalb sie eben allen Nachrichten und Berichten über den Wertheimer, sein Werk und sein Schicksal, aber auch den unterschiedlichen veröffentlichten Stellungnahmen zur Übersetzung selbst größtes Interesse entgegenbrachten.19 Wenn man darüber hinaus nicht nur auf die publizierten Schriften sieht, sondern sie in Beziehung zu anderen Dokumenten dieser Debatte setzt, zu den Korrespondenzen beteiligter Zeitgenossen, aus denen die trotz der Verbote intensive mündliche zeitgenössische Diskussion hervorgeht und auch eine spannungsvolle Differenz zur veröffentlichten Meinung, weiterhin zu den Zensur- und Prozeßakten in den unterschiedlichen Institutionen, der Stadt, der Universität, der Kirche, dem Land und dem Reich sowie den verschiedenen Gesandtschaftsberichten, aus denen man von den stattfindenden politischen Verhandlungen beim Reichshofrat in Wien sowie beim Ständigen Reichstag in Regensburg erfährt, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Wertheimer Bibel in einer ersten Auflage von 1.600 Exemplaren hergestellt worden ist und nur wenige hundert Exemplare der polizeilichen Konfiszierung in Frankfurt und Wertheim zum Opfer fielen,20 so wird erst deutlich, was für eine enorme Verbreitung dieses Buch erfahren hat, wie stark es die Gemüter bewegte, wie sehr also in dieser Debatte zentrale Fragen der Zeit aufgeworfen worden waren, weshalb sich kaum jemand eines Urteils enthalten konnte.21 An

18 19

20

21

Ebd., S. 3 3 6 - 3 5 0 . Acta historico-ecclesiastica, oder gesamralete Nachrichten von den neuesten Kirchenberichten. Teil 1, Anhang zum 1. Bd. Weimar 1736, S. 1 - 1 0 5 ; Bd. 2. Teil 7 (1737), S. 1 4 5 - 1 7 2 ; Teil 8 (1737), S . 2 8 1 310; Teil 9 (1737), S. 480-496; Teil 10 (1738), S. 608-663; Teil 11 (1738), S. 8 3 5 - 8 4 9 ; Teil 12 (1738), S. 1 0 0 0 - 1 0 1 5 ; 2. Bd.: Anhang zu den Actis historico-ecclesiasticis. Weimar 1738, S. 1 0 3 8 1152; 3. Bd., Teil 13 (1738): Weitere Nachricht von den itzigen Streitigkeiten wegen der wertheimischen Bibel, S. 1 3 6 - 1 5 6 ; Teil 16, Weimar 1739, S . 6 2 0 - 6 3 1 ; Teil 17 (1739), S . 7 8 1 - 7 9 5 ; 4.Bd. Anhang. Weimar 1740, S. 1 1 4 0 - 1 1 4 4 (im folg. AHE). - Johann Nicolaus Sinnhold: Ausführliche Historie der verrufifenen sogenannten Wertheimischen Bibel, oder derjenigen freyen Übersetzung der fünf Bücher Mosis, welche unter dem Titel: Die Göttlichen Schriften vor den Zeiten des Messie Jesus: Der erste Theil: worinne die Gesetze der Jisraelen enthalten sind; im Jahr 1735. zu Wertheim gedruckt worden. Nonne: Erfurt 1739 (im folg. Sinnhold). - Samlung derienigen Schriften welche bey Gelegenheit des wertheimischen Bibelwerks für oder gegen dasselbe zum Vorschein gekommen sind. Frankfurt und Leipzig 1738 [1737] [Hg. J. L. Schmidt], Nach Frank hat der Frankfurter Verleger Franz Varrentrapp 3 Ballen und 27 Stück der Wertheimer Bibel bei der Kanzlei des Magistrats abgeliefert. Vgl. Frank (wie Anm. 9), S. 285; Schattenmann berichtet von übrigen 71 Exemplaren, die in Wertheim beim Kammerrat Höflein requiriert wurden. Siehe Schattenmann (wie Anm. 8), S. 38. Vgl. Johann Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels vom Westfälischen Frieden bis zum Beginn der klassischen Literaturperiode (1648-1740). 2. Bd. Verlag des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler: Leipzig 1908, S.457 (im folg. Goldfriedrich). - Vgl. auch Spalding: Seize the

1. Das absichtsvolle Vergessen

187

dieser an nahezu allen Universitäten und an vielen höheren Schulen des protestantischen Raumes geführten Diskussion um die Wertheimer Bibel und die mit ihr verbundenen philosophischen und theologischen Grundsatzfragen, die darüber hinaus ein breites ungelehrtes Publikum bewegte und in der Folge die höchsten politischen und rechtlichen Gremien des Römischen Reiches in Anspruch nahm, kann geradezu exemplarisch vorgeführt werden, wie sich unter den Bedingungen der theologischen Zensur und unter den besonderen rechtlichen Bedingungen des Alten Reichs ein neues bürgerliches öffentliches Diskussionsforum ausbildete und wie sich tradierte und verfestigte Auffassungen und Weltbilder großer Menschengruppen, vor allem aber meinungsbildender Persönlichkeiten in einer solchen intensiven öffentlichen Debatte auflösen und neuen Argumenten Platz machen müssen. In diesem Prozeß verdienen die Gelehrten Zeitungen im folgenden unsere besondere Aufmerksamkeit, weil sie aufgrund des niedrigen Preises und der weiten Verbreitung einem viel größeren und insbesondere auch einem ungelehrten Publikum zugänglich waren, so daß viele Informationen über die Wertheimer Bibel, über ihren Inhalt und ihren Autor, über die Pro- und Kontra-Schriften und auch über die obrigkeitlichen Repressionsmaßnahmen erst durch diese Multiplikatoren in Umlauf kamen. Diese Debatte hat in Deutschland Epoche gemacht und war nicht nur für die Entwicklung der Theologie, sondern vor allem für die der Philosophie und Ästhetik in Deutschland von der größten Bedeutung. Es war eine zentrale Debatte der deutschen Frühaufklärung, auf der Grundlage der Positionen von Leibniz und Wolff 22 und unter der intensiven Rezeption des englischen Deismus, deren Ergebnisse noch lange die Orientierung der Philosophie und der Theologie der nachfolgenden Generationen bestimmten. Der enge Zusammenhang der Wertheimer Bibel mit der wolffianischen Philosophie führte zugleich zu einer erneuten öffentlichen und politischen Diskussion über ihre Zulassung oder ihr Verbot an den Universitäten des protestantischen Raums, was in einem besonderen Kapitel behandelt werden wird. Alexander Gottlieb und Siegmund Jakob Baumgarten23, Book (wie Anm. 12), S . 5 6 f . , S. 100, S. 102 f., S. 107, S. 138, S . 2 1 4 (Schätzung, daß ca. 1.000 Exemplare verkauft wurden!). - Zur Preisentwicklung aufgrund des Verbots Anm. 7 - 1 6 . - Zum Buchhändler Franz Varrentrapp bemerkt Goldfriedrich, daß er in engstem Kontakt zu seinem Vetter Weidmann in Leipzig stand. Vgl. ebd., S. 2 0 6 f. 22

23

Vgl. Christian Wolff: Vernünftige Gedancken von den Kräfften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkänntniß der Wahrheit (»Deutsche Logik«), Halle 1713. Neudruck in: Christian WolfF: Gesammelte Werke. Hg. Jean ficole, J. E. Hofmann, M. Thomann, H. W. Arndt. Abt. I: Deutsche Schriften. Bd. 1. Hildesheim u. New York 1965, insbesondere das 12. Kap.: Von Erklärung einer mit Verstände geschriebenen, und insonderheit der Heiligen Schrift, S. 2 2 8 - 2 3 1 . Die vermittelnde Stellung von Siegmund Jakob Baumgarten zwischen der herrschenden pietistischen Hermeneutik und den Übersetzungs- und Interpretationsprinzipien des Wertheimers an der Universität Halle beschreibt sehr differenziert Martin Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten. System und Geschichte in der Theologie des Übergangs zum Neuprotestantismus. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 1974, S. 2 2 3 - 2 4 2 , insbesondere S. 229, Fußnote 292. - Schloemann zeigt auch, wie Alexander Gottlieb Baumgarten durch seinen älteren Bruder an die Wolffianische Philosophie herangeführt wurde, dessen früheres ungünstiges Urteil über WolfF sich gerade in der Mitte der 1730er Jahre entscheidend abmilderte. Vgl. ebd., S. 35, insbes. Fußnoten 94 und 95.

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Wertheimer Bibel

Reimarus24 und Semler 25 , Lessing26, Mendelssohn27 und selbst noch Kant 28 werden ihre Auffassung über das Verhältnis von Philosophie und Religion, von Vernunft und Glauben in dem theoretischen Rahmen entwickeln, der durch die öffentliche Debatte um die Wertheimer Bibel und die dadurch aufgeworfenen Fragen aufgespannt wurde. In dieser Debatte

24

Vgl. die interessante Darstellung Peter Stemmers über die Bedeutung der Auseinandersetzung um die Wertheimer Bibel für die theologische Entwicklung von Reimarus: Weissagung und Kritik (wie Anm. 2), S. 124-146. Zusammenfassend meint Stemmer, daß Reimarus nach seiner anfänglichen öffentlichen Kritik in den Hamburgischen Berichten »1736 in der Auseinandersetzung mit der Wertheimischen Bibel« heimlich und unausdrücklich sein 1731 am Akademischen Gymnasium vorgetragenes, dogmatisch bestimmtes Konzept einer Auslegungswissenschaft verworfen und statt dessen in Ubereinstimmung mit Schmidt Grundpositionen einer kritischen, allgemeingültigen und vernünftig ausweisbaren Hermeneutik bejaht hat« (ebd., S. 147). - Vgl. auch ders.: Einleitung zu: Hermann Samuel Reimarus: Vindicatio dictorum Veteris Testamenti in Novo allegatorum 1731. Hg. P. Stemmer. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 1983, S. 7 - 1 9 .

25

Zum Einfluß der veränderten Auffassung Baumgartens über die Lehre von der Schrift und über die Hermeneutik auf seine Schüler, insbesondere auf Semler, vgl. Schloemann (wie Anm. 23), S . 2 1 4 242. S. 197-202 geht Schloemann auf die frühe Mitarbeit der Schüler Baumgartens an den Editionen der großen Übersetzungen, insbesondere der englischen Universal History from the earliest account of time to the present, ein, um die Bedeutung der historischen Arbeit Baumgartens für seine Schüler

aufzuzeigen. Die XJehersetzung der Algemeinen Welthistorie die in Engeland durch eine Geselschafl von Gelehrten ausgefertiget worden (17 Theile. Halle 1745-1758) wurde von Baumgarten herausgegeben. Die Edition wurde dann von Semler fortgeführt. - Es handelt sich gerade hierbei um das meistzitierte Werk des Wertheimers in seinen Verteidigungsschriften! - Wenn der Theologe Ernst Barnikol die »bahnbrechenden« theoretischen Leistungen des bekannten Aufklärungstheologen Semler hervorhebt, so könnte man diese allesamt mit größerem Recht Johann Lorenz Schmidt zusprechen - »methodische Kritik des biblischen Textes und des Kanons«, energische Unterscheidung von Textfamilien in den Varianten des Bibeltextes, das Verstehen der Abschriften und Drucke der Bibel als menschliche Arbeit, das Aufzeigen des geschichtlichen Werdegangs des Kanons, die doppelte Betrachtung der Hl. Schrift nach dogmatischen und nach dem zeitgenössischen und praktischen Sinn der Brauchbarkeit. Darum seien zahlreiche jüdische Vorstellungen im Neuen Testament zeitgeschichtlich bedingt und gehörten nicht zum universalen Christentum, »auch wenn Jesus und die Apostel sich hier der Denkweise ihrer Hörer und Leser >akkomodierten" Ebd., § 45, S. 62 f. 189

150

8.

Die Hamburgischen Berichte

November 1 7 2 5 bis Januar 1 7 3 6

243

Auf der anderen Seite hält sich Schmidt von seiner Seite auch darin demonstrativ an den Elenchus, indem er nach solcher grundsätzlichen und unverstellten Kritik und Verweisung Langes in einem besonderen Paragraphen sein Bedauern über diese Dimension der Auseinandersetzung zum Ausdruck bringt, die er aber in seiner Situation, angesichts der harten, unsachlichen und ihn vor allem auch bei der Obrigkeit denunzierenden Vorwürfe Lange nicht ersparen konnte. Ungeachtet dessen erklärt er dann seine Hochachtung für die Persönlichkeit und die Verdienste seines Kritikers außerhalb dieser Kontroverse. Schmidts grundlegende Verteidigung schließt mit einer emphatischen Lobpreisung der Wahrheit als unserem größten Schatz und ihrer Erkenntnis als unserem größten Vergnügen und dem Grund all unserer Glückseligkeit in diesem wie im andern Leben.

8.

Die öffentliche Debatte kommt in Gang: Die Hamburgischen von gelehrten Sachen November 1 7 3 5 bis Januar 1 7 3 6

Berichte

Während es so innerhalb kürzester Frist zum ersten schonungslosen und vielbeachteten Schlagabtausch der Hauptkontrahenten der kommenden Debatte kam, lief die Debatte auch in den Zeitungen und Zeitschriften an, vor allem in der Form von Rezensionen, aber auch von eingesandten Diskussionsbeiträgen. Während in dieser Debatte die Theologische Bibliothek und die Frühaufgelesenen Früchte von theologischen Sachen und andere theologische Fachzeitschriften den Theologen und allen anderen Professoren der Universitäten offenstanden, um die Position des Wertheimers zu bestreiten, wozu sich nun nach und nach die theologischen Fakultäten, Gymnasien, Konsistorien etc. genötigt sehen,192 stehen der Partei des Wertheimers vor allem die beiden schon genannten Zeitungen von gelehrten Sachen in Leipzig und Hamburg zur Verfügung, wie auch der Hamburgische Unpartheyische Correspondent sich um eine möglichst unparteiliche Berichterstattung bemühte. Die lateinischen Acta eruditorum und erst recht ihr deutsches Pendant stehen zwischen den streitenden Parteien und geben dem Angriff der Pietisten und Orthodoxen bald nach. Wie gering allerdings die Spielräume auch der Redakteure der freieren Gelehrten Zeitungen in Leipzig und Hamburg gewesen sind und welchen Grad an Unabhängigkeit und Courage ihre Redakteure aufweisen mußten, um nicht in die gegnerische Polemik einzustimmen, wird gerade an der unterschiedlichen Strategie der beiden Zeitungen und den entsprechend verschiedenen Folgen für sie anschaulich klar. Ohnehin ist es sicher nicht zufällig, daß es gerade die Gelehrten Zeitungen der beiden großen bürgerlichen Handelsstädte und der Hamburgische Unpartheyische Correspondent wagen, dem gemeinsamen Angriff der Hallischen Waisenhauspartei und der sächsischen Orthodoxie zu trotzen. Kirchner sieht in seiner gründlichen, noch heute gültigen Untersuchung zur Geschichte der deutschen Zeitschriften »in der gelehrten Zeitung einen besonderen Typus innerhalb des

192

Vgl. zur nötigenden Kraft des Elenchus die Einleitung, S. 1 1 2 f. Siehe dort auch die entsprechenden Anm.

244

Wertheimer Bibel

Zeitschriftenwesens«,193 und zwar aufgrund des zeitgenössischen Urteils aus dem frühen 18. Jahrhundert. Danach unterschieden sich die Gelehrten Zeitungen von den gelehrten Zeitschriften dadurch, daß sie eine Vielfalt von wissenschaftlichen Neuigkeiten meldeten, aus dem Leben der gelehrten Welt berichteten, anstatt lange Auszüge aus Büchern oder gar eigene Artikel abzudrucken. Zwar subsumiert Kirchner sie aus inhaltlichen Gründen dennoch unter die »Zeitschriften im heutigen Sinne«,194 räumt ihnen aber ein, nach dem Vorbild der Zeitungen entstanden und geformt und so auch von den Zeitgenossen wahrgenommen worden zu sein: »[D]ie damalige Zeit empfand einen berechtigten Unterschied zwischen >Journalen< oder >Monatsschriften< und den >Gelehrten ZeitungenGelehrten Zeitungen< ein- bis zweimal wöchentlich an bestimmten Tagen, die einzelnen Nummern trugen ein Erscheinungsdatum und hatten gewöhnlich einen Umfang von einem halben Bogen (= 8 Oktavseiten). Auch darin ahmten sie die Zeitungen nach, daß sie die einzelnen Berichte nach Ländern und Städten geordnet abdruckten. Ihren Inhalt bildeten teils allgemein interessierende Neuigkeiten aus der gelehrten Welt, teils kurze Referate über Novitäten auf dem Gebiete des wissenschaftlichen Buch- und Zeitschriftenwesens. Ihrem Wesen nach sind sie am ehesten den wissenschaftlichen Korrespondenzen zu vergleichen, ihr eigentümliches Arbeitsfeld war die Nachrichtenvermittlung, nicht wie bei den Monatsschriften die ausfuhrliche Kritik oder die Behandlung wissenschaftlicher Probleme in Aufsätzen.« 195

Tatsächlich lebten die Gelehrten Zeitungen ebenso wie die politischen Zeitungen von einer vielfältigen Korrespondenz; die Aufgabe des Redakteurs war nicht so sehr das Schreiben oder Redigieren von ordentlichen thematischen wissenschaftlichen Artikeln, sondern vielmehr die Auswahl und Redaktion von Briefen mit Berichten aus wissenschaftlichen Zentren und aus Verlagszentren Europas. Der Begründer der Hamburgischen Berichte von gelehrten Sachen, Johann Peter Kohl, indem er eben die Leser seiner eigenen vielfältigen wissenschaftlichen Korrespondenzen als Hauptinhalt seiner Gelehrten Zeitung versichert, sieht gerade darin auch die genaue Parallele zu den politischen Zeitungen: »Die gelehrte Correspondentz ist demnach, genau wie bey politischen Gazetten, die Haupt-Quelle aller Nachrichten, und sozusagen, die Seele einer gelehrten Zeitung.«196 Damit stand die Zeitung, die politische wie die Gelehrte Zeitung, gerade im Gegensatz zur Moralischen Wochenschrift, die oftmals sogar nur von einer Person zusammengeschrieben worden ist. Auch hinsichtlich der Erscheinungsdauer unterscheiden sich die Gelehrten Zeitungen (wie die politischen Zeitungen) Joachim Kirchner: Die Grundlagen des deutschen Zeitschriftenwesens mit einer Gesamtbibliographie der deutschen Zeitschriften bis zum Jahr 1790. l.Teil: Bibliographische und buchhandelsgeschichtliche Untersuchungen. Hiersemann: Leipzig 1928, S. 102. 194 Ebd., S. 100 f. "5 Ebd. 196 Zitiert nach: Holger Böning: Deutsche Presse. Biobibliographische Handbücher zur Geschichte der deutschsprachigen periodischen Presse von den Anfängen bis 1815. Bd. 1.1: H. Böning/Emmy Moepps: Hamburg. Kommentierte Bibliographie der Zeitungen, Zeitschriften, Intelligenzblätter, Kalender und Almanache sowie biographische Hinweise zu Herausgebern, Verlegern und Druckern periodischer Schriften. Von den Anfängen bis 1765. Frommann-Holzboog: Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, Sp. 412 (im folg. Böning/Moepps). 193

8. Die Hamburgischen

Berichte

November 1725 bis Januar 1736

245

durchaus von den kurzlebigen Moralischen Wochenschriften, die oftmals nicht länger als ein oder zwei Jahre herauskamen, 1 9 7 und also kaum ein größeres Publikum auf sich ziehen konnten. Die Zeitungen von gelehrten Sachen stellten also einen neuen Zeitungstyp im 18. Jahrhundert dar. Entgegen ihrem für uns irreführenden Titel wandten sie sich gerade nicht an ein »gelehrtes« Publikum, sondern an gebildete Leser schlechthin. Sie waren daher grundsätzlich deutschsprachig und zitierten allenfalls aus lebenden Sprachen, etwa aus dem Englischen und Französischen. In kurzen Beiträgen wurde von allgemein interessierenden Neuigkeiten aus der gelehrten Welt, und zwar aus allen Wissenschaften einschließlich der schönen Wissenschaften und freien Künste sowie der Geschichte und Theologie berichtet. Hier wurden nicht nur neue Buchproduktionen besprochen, sondern auch Stellungnahmen zu aktuellen Ereignissen oder Diskussionen des literarischen Lebens im weitesten Sinne abgegeben. Von den Zeitgenossen wurden sie gerade nicht als Zeitschrift oder Journal, sondern durchaus als Zeitung verstanden, im bekannten Sinne gedruckter Neuigkeiten, und zwar aus dem Reiche der Gelehrsamkeit. 198 Diese Gelehrten Zeitungen oder »Zeitungen von gelehrten Sachen«, ein bislang in der Forschung in ihrem eigentümlichen Charakter weitgehend unbeachteter Typ einer Zeitung des 18. Jahrhunderts, entstanden durch die Erweiterung und Verselbständigung des gelehrten Artikels der Zeitungen, erschienen meist ein- bis zweimal in der Woche und wurden in den Zeitungs-Expeditionen ausgegeben. Die erste in Deutschland in dieser Weise kreierte »Zeitung von gelehrten Sachen«, die als selbständige Zeitschrift oder Zeitung erschien, waren die seit 1715 publizierten Leipziger

Neuen Zeitungen

von gelehrten

Sachen. Ihr Begründer und erster Herausgeber war Johann

Burkhard Mencke ( 1 6 7 4 - 1 7 3 2 ) , gleichzeitig Herausgeber der Acta eruditorum. Er nutzte den günstigen Standort Leipzig, mit der Buchmesse und den neuesten Nachrichten über die europäischen Neuerscheinungen sowie mit der Universität und also mit Studenten oder Magistern, die sich durch das Schreiben von Rezensionen ein Zubrot verdienen konnten. Diese Gelehrte Zeitung hat sich bis ins 19. Jahrhundert gehalten und große Auflagen erlebt, so daß daraus auf das Bedürfnis eines stets wachsenden Publikums für solche allgemein interessierenden gelehrten Nachrichten geschlossen werden kann. 1 9 9 Die nächste einfluß197

198

159

Martens betont, daß die Moralischen Wochenschriften selten länger als ein Jahr erschienen, daß dies aber von Verleger wie Autor durchaus so gewollt gewesen sei. Vgl. Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1971, S. 118 f. Im zeitgenössischen Zedlerschen Universal-Lexicon werden die gelehrten Zeitungen denn auch als ein besonderer Typus, und zwar der Zeitungen, nicht der Zeitschriften vorgestellt. Vgl. das Stichwort Zeitung, in: Johann Heinrich Zedier: Grosses vollständiges Universal-Lexicon (wie Anm. 15). Bd. LXI, 1749, Sp. 899-923, insbes. Sp. 9 1 1 - 9 1 4 , wo die gelehrten Zeitungen besonders behandelt werden. Gelehrte Zeitungen sind danach »gedruckte Blätter, so in grossen, sonderlich aber in Universitäts-Städten, wöchentlich ein oder etliche mahl ausgegeben werden, und in welchen zu lesen, was merckwürdiges in dem Reiche der Gelehrten von Zeit zu Zeit vorfället« (Sp. 911). Sie werden überdies auch in der Zeitungs-Expedition ausgegeben. Kirchner schätzt noch für das Jahr 1785 eine Auflage von 1.000 Exemplaren, die aber bald darauf zu sinken begann. Vgl. Kirchner (wie Anm. 193), S. 28 f. Vgl. auch ders.: Die Grundlagen des

246

Wertheimer Bibel

reiche Gelehrte Zeitung dieses Charakters wurde mit den Hamburgischen

Berichten

von Ge-

lehrten Sachen im Umkreis des altehrwürdigen Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten

1732 gegründet, und bald darauf erschienen mit der Gründung der Göttinger Uni-

versität ab 1737 auch die heute bekanntesten Göttingischen Zeitungen von gelehrten Sachen bzw. die späteren Göttingischen gelehrten Anzeigen. Das Auffallende an diesen ersten Gelehrten Zeitungen ist die Stellung und Haltung ihrer Redakteure. Anders als die Herausgeber der Fachzeitschriften waren sie durch kein Amt an eine Körperschaft und deren Position gebunden. Sie waren daher auf keine Weise subventioniert, weder durch eine Institution noch durch eine Abnahmepflicht bestimmter Korporationen. Die Gelehrten Zeitungen lebten wie alle Zeitungen vom freien Verkauf; die Forderung eines Verlegers an seine Zeitungsredakteure richtete sich aber natürlich vor allem darauf, die Leser und potentiellen Zeitungskäufer zufriedenzustellen. Die Redakteure einer Gelehrten Zeitung hatten also eine relativ große Unabhängigkeit von Amtspersonen und damit auch Freiheit des Urteils, mußten aber den Geschmack des Publikums bedienen. Dazu war es vor allem nötig, sehr schnell und effizient die umfangreiche neuerscheinende wissenschaftliche Literatur im weitesten Sinne (von der Theologie über die Geschichte zur Mathematik bis zu den sogenannten schönen Wissenschaften) lesen, referieren und beurteilen zu können. Das war nicht ohne eine gewisse Bildung an Hohen Schulen möglich, erforderte darüber hinaus aber auch eine große geistige Beweglichkeit und methodische Vorgehensweise. Zieht man dieses Anforderungsprofil eines Redakteurs des gelehrten Artikels oder einer Gelehrten Zeitung in Betracht, erscheint der verblüffende Befund, daß seit den 20er Jahren Wolffianer als Redakteure diese Gelehrten Zeitungen geschrieben haben, wie auch schon vorher die gelehrten Artikel vieler Intelligenzblätter, weniger überraschend. Ihre Redakteure fühlten sich durchweg den Ideen der Aufklärung verbunden, so daß es also gar nicht zufällig war, daß auch der Wertheimer von ihnen die größte Unterstützung erfuhr. Die philosophische Neigung Kohls, der wie die Leipziger Redakteure der dortigen Gelehrten Zeitung bzw.

der des gelehrten Artikels des Hamburgischen

Unpartheyischen Correspondenten Stübner,

Steinwehr und Liscow zu den Wolffianern im weitesten Sinne gehörte, kommt schon in seiner Begründung zum Ausdruck, mit der er den Abdruck kurzer Stücke und Notizen rechtfertigt; er will »nicht nur große Wercke, sondern auch kleine Piecen, kurtze Programmata und nützliche Disputationes, unserm Journal einzurücken«, denn: »In dem LebensLauf des hochberühmten Hn. von Leibnitz wird man finden, daß seine Bibliothec grösten Theils aus lauter kleinen Piecen bestanden, und daß er in gewissen Stücken von kurtzen Ausführungen mehr gemacht, als aus gantzen Folianten, und grossen Wercken.« 200

200

deutschen Zeitschriftenwesens mit einer Gesamtbibliographie der deutschen Zeitschriften bis zum Jahre 1790, S. 54 sowie S. 101 f. Johann Peter Kohl: Notification [zu den Hamburgischen Berichten von gelehrten Sachen, Einblattdruck]. 2 4 . 1 0 . 1733. Zitiert nach Böning/Moepps (wieAnm. 196), S p . 4 1 5 .

8. Die Hamburgischen

Berichte

November 1725 bis Januar 1736

247

Auf den besonderen Charakter und den Einfluß der neuen Zeitungsgattung in Hamburg verweist Franklin Kopitzsch in seiner Geschichte Hamburgs. 2 0 1 Johann Peter Kohl, der Redakteur der im hier interessierenden Zeitraum wichtigsten Hamburger Gelehrten Zeitung, der

Hamburgischen Berichte von gelehrten Sachen,

war zugleich ihr Initiator ( 1 7 3 2 ) und ihr

Verleger. 1 6 9 8 in Kiel als Rektorssohn geboren, studierte er dort und in Rostock. 1 7 2 5 erhielt er eine Professur für Kirchengeschichte und die schönen Wissenschaften an der Petersburger Akademie der Wissenschaften, wo er aus gesundheitlichen Gründen schon 1 7 2 8 mit einer lebenslangen Pension entlassen wurde. Nach seiner Rückkehr besorgte er zunächst

1731 die Niedersächsischen neuen Zeitungen von gelehrten Sachen, um 1732 im eigenen VerHamburgischen Berichte zu gründen, die er bis 1 7 5 8 fortführte. 2 0 2 Die Zeitung er-

lag die

schien zweimal wöchentlich. Kohl stützte sich, wie auch die anderen Redakteure Gelehrter Zeitungen, auf eine umfangreiche gelehrte Korrespondenz, die er sowohl

innerhalb

Deutschlands als auch bis nach England und Holland mit vielen Gelehrten pflegte: »Die gelehrte Correspondentz ist demnach, so wie auch bey politischen Gazetten, die Haupt-Quelle aller Nachrichten, und so zusagen, die Seele einer gelehrten Zeitung. Fehlet es an der der, so fehlts auch gantz gewiß an täglichen Neuigkeiten, mangelt es aber darann, und kommt man bloß mit solchen Sachen, die etwa nur in demselben gantzen Jahr sich zugetragen, oder mit unaufhörlicher Erzehlung, der darinn nach und nach herausgegebenen Bücher aufgezogen [!], so mangelt es an einem wesentlichen Stücke des Journals, und dasjenige, was ein Tag-Buch seyn solte, wird zu einem JahrBuch oder Chronic.« 203

201

202

203

»Wenn einmal die hamburgische Publizistik auf ihre Inhalte und sprachlich-stilistischen Formen hin untersucht werden sollte, dann ist neben der Tagespresse und den Moralischen Wochenschriften eine weitere Gattung, die sich damals ausbildete, unbedingt mit einzubeziehen. Die gelehrten Zeitschriften, die Nachrichten, Artikel und Rezensionen aus den verschiedensten Wissenschaften brachten, fanden auch in Hamburg und dem Niedersächsischen Reichskreis Interesse und frühe Vertreter.« (Franklin Kopitzsch: Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona. 2., erg. Auflage. Verlag Verein f. Hamburgische Geschichte: Hamburg, 1990. l.Aufl. 1982, S.311f.) Zu Johann Peter Kohl vgl. auch ebd., S.312. Danach war Kohl zunächst der Nachfolger Weichmanns beim Niedersächsischen Correspondenten, eventuell schon 1729, sicher aber 1730. Er starb 1778 in Altona. Seine Bibliothek hat er dem Christianeum vermacht. Kohl war auch der Herausgeber der »Poesie der Niedersachsen«, was seinen Kontakt zum Kreis von Brockes und Hagedorn nahelegt. Notification. An die Herrn Gelehrten und Liebhaber der gelehrten Sachen. Einlageblatt vom 24. Oktober 1733 zu Werbezwecken für die Zeitung. Zitiert nach: Böning/Moepps (wie Anm. 196), Sp. 412. - Auf die umfangreiche internationale gelehrte Korrespondenz als die Grundlage seiner Hamburgischen Berichte weist der Redakteur und Herausgeber Johann Peter Kohl schon im Untertitel der Zeitung hin, der im ersten Jahrgang vollständig lautet: »Hamburgische Berichte von neuen Gelehrten Sachen, Auf das Jahr 1732. aus einer täglichen beglaubten Correspondentz mit den berühmt- und gelehrtesten Männern in Deutschland, Schweden und Dänemarck, und mit Beyhülffe verschiedener vornehmen Gönner und Freunde zu Paris, Londen und Amsterdam, Zum Aufnehmen der Gelehrsamkeit, und zur beliebigen Unterhaltung, mit unpartheyischer Feder ans Licht gestellet, und mit einem zureichenden Register versehen. Zitiert nach: Böning/Moepps (wie Anm. 196), Sp. 409. Vgl. dazu auch ebd., Sp. 4 1 6 - 4 1 8 .

248

Wertheimer Bibel

Außerdem arbeitete er mit mehreren Hamburger Intellektuellen gemeinsam an diesen Zeitungen und stand den aufgeklärten Zirkeln der Stadt, insbesondere dem Kreis um Hagedorn und Brockes nahe und damit natürlich auch der Redaktion des Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten.2^ Den gelehrten Artikel des Correspondenten schrieb Joachim Friedrich Liscow ( 1 7 0 5 - 1 7 6 4 ? ) , 2 0 5 geleitet wurde die Redaktion von Bartholt Joachim Zinck, dem Freund Brockes und Hagedorns. 206 Die Redakteure des Correspondenten standen aber in dieser Zeit auch in einer guten Beziehung zu Gottsched in Leipzig, dem sie zur Propagierung des gemeinsamen Anliegens ausdrücklich ihre Zeitungen zur Verfügung stellten. 207 A m 1 1 . November 1 7 3 5 wird in den

Hamburgischen Berichten von gelehrten Sachen

von

den Streitschriften beider Kontrahenten, Joachim Langes und Johann Lorenz Schmidts, in einer Nummer je eine Besprechung veröffentlicht. 2 0 8 Unter dem

Artikel Hamburg

wird

berichtet, daß der Redaktion von außerhalb zwei Artikel eingesandt worden seien, einer von Halle, der

Religionsspötter,

und ein anderer, die

Göttlichen Schriften

betreffend. Die Ankün-

digung zum Abdruck beider lautet ganz und gar »ausgewogen«: »Da uns vor wenigen Stunden eine zwifache, die neue wertheimische Bibelübersetzung betreffende Nachricht, deren die eine wieder, die zweite aber für sie ist, durch die Post eingeliefert worden: so halten wir es unserer Pflicht am gemässesten zu seyn, beide nacheinander, unverändert einzuschalten, und den unparteiisch richtenden das Urteil davon zu überlassen.« 209 Dann wird zuerst (!) unter dem

204

205

206

207

208 209

Artikel Halle

eine Rezension der Langeschen Schrift eingerückt, die ganz und gar

Auch der benachbarte Hamburgische Unpartheyische Correspondent brachte kurze Annotationen zu wissenschaftlichen Neuerscheinungen; so berichtete er z.B. am 17.2.1736 auch, daß der erste Beitrag der neuen Acta eruditorum Menckes die Wertheimer Bibel betreffe. Der damalige Redakteur des gelehrten Artikels war Joachim Friedrich Liscow (vgl. Böning/Moepps (wie Anm. 196), Sp. 178f.). Er stand u. a. im Briefwechsel mit Gottsched und war ihm verbunden. Joachim Friedrich Liscow ging 1722-1724 auf das Gymnasium in Lübeck, studierte seit 1724 (!) in Jena Theologie, wurde 1728 als Cand. Theol. Hauslehrer zu Waschow bei Wittenburg, und kam Mitte der 30er Jahre nach Hamburg, wo sein Universitätsfreund Hagedorn lebte. Ab 1732 war er bis 1764 (?) als Redakteur des Gelehrten Artikels des Hamburgischen Correspondenten, ab 1744 auch der Hamburgischen Freyen Urtheile tätig. Barthold Joachim Zinck (1718-1775) war 1735-1741 Hauslehrer bei Brockes in Ritzebüttel, 1744-1759 war er an den Freyen Urtheilen tätig, 1745-1767 übernahm er die Leitung des Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten. 1746-1773 wurde er Legationsrat bei der Hamburgischen Kurhannoevrischen Legation, 1758 heiratete er Sophia Maria Grund, die Tochter des Buchdruckers und Verlegers des Hamburgischen Correspondenten Georg Christian Grund und Wandelina Holles, wiederum der Tochter des Gründers dieser einflußreichsten deutschen Zeitung, Heinrich Hermann Holle. Sophia Maria Grund war eine Freundin von Eva König, der späteren Frau von Lessing. Georg Christian Grund war 1731-1757 Verleger der Zeitung. »Däfern sonst Eu. Hochedln. einige Aufsätze oder Nachrichten der Welt bekand gemacht wißen wolten; so biete mit aller Ergebenheit dazu den Raum in der Zeitung an, und schwöre Eu. Hochedl. In allen Stücken die aufrichtigste Verschwiegenheit.« (Liscow 1733 an Gottsched. In: UB Leipzig. Ms 0342 (Gottsched-Korrespondenz), II, 359r.) Hamburgische Berichte von gelehrten Sachen. N. 90, 11. 11.1735, Bd. III, S. 7 2 9 - 7 3 2 . Ebd., S. 729.

8. Die Hamburgischen

Berichte November 1725 bis Januar 1736

249

den Standpunkt Langes teilt: »Wem die Rettung der Ehre des wahren Gottes ein rechter Ernst ist, wird in gedachter Schrift des Hrn. Langens ein völliges Genüge finden, wie im Gegenteil das verwegene Unternehmen des sogenanten freien Bibelübersetzers bei allen rechtschaffenen Gemütern einen heftigen Abscheu erregen mus.« Dem Übersetzer wird eine willkürliche Übersetzungsweise vorgeworfen, die sich allein nach seiner Intention richte, die Bibel der wolffianischen Philosophie anzupassen. Er stelle auf diese Weise die Mittlerperson Jesu Christus sowie die Hl. Dreieinigkeit in Frage. Die Langesche These, wonach die Bibelübersetzung als originäres Ergebnis der wolffianischen Philosophie anzusehen sei, findet völlige Zustimmung, »weil der wertheimische Bibelübersetzer eine solche Sprache führet, die einen Bekenner derselben zu verrathen scheinet«. Die Rezension endet mit der denunziatorischen Schlußfolgerung gegen den Urheber dieser »mechanischen Philosophie«: »so kan es wohl seyn, daß die bisherigen alzu glimpflichen Urteile von deßen Vorhaben, der algemeinen Hochachtung für gedachte Weltweisheit zu eignen sind, wobei man aber dennoch iederzeit die abscheulichsten Verkehrungen der wichtigsten Schriftörter hat und verwerffen müßen.« 210 Man kennt also die früheren wohlwollenden Rezensionen in Leipzig und Hamburg. Im Anschluß daran findet sich unter dem Artikel Wertheim eine Besprechung der Göttlichen Schrifien, die offensichtlich von einem Parteigänger des Wertheimers verfaßt worden ist. Sie besteht beinah aus Zitaten der Vorrede der Übersetzung und beginnt gewissermaßen mit dem letzten Paragraphen der Schmidtschen Verteidigungsschrift Die Vestgegründete Wahrheit, wenn es heißt: »Die Wahrheit ist der größte Schatz, welchen das menschliche Geschlecht besitzet, und enthält den einigen Grund von der inneren Glückseligkeit desselben in sich. Sie gewährt aber diesen Nutzen nicht eher, als wenn sie mit Gewisheit erkant und zu Bewegungsgründen der menschlichen Handlungen gebraucht wird.«211 Diese Gewißheit sei in der Mathematik bereits seit langem erlangt worden, wo »nichts als deutliche Begriffe und ausgemachte Sätze« geduldet, und »mit vieler Sorgfalt von anderen, die blos wahrscheinlich sind«, unterschieden würden. Um dieser Gewißheit willen sei es notwendig, diese mathematische Lehrart auch auf die Theologie und insbesondere die Offenbarung, anzuwenden, um diese endlich aus allen Zweifeln zu ziehen: »Diese heilsame Absicht einigermassen zu befördern dienet folgendes Buch«, das die Voraussetzung bilde, »die götlichen Wahrheiten aus diesen Schriften zu samlen und in gewißen Klaßen abzuhandeln«, indem es »klare und deutliche Begriffe geben möchte, welche Er [der Übersetzer] zu dem Ende aus der Grundsprache mit äußerster Sorgfalt aufgesuchet hat«.212 Ahnlich wie schon in der Leipziger Rezension und auch schon in der Vorrede des Wertheimers selber wird dann die Funktion der Anmerkungen aus der Notwendigkeit der Abweichungen »von dem Ausdruck der Grundsprache« erklärt. Schließlich heißt es abschließend: »Wenn Er damit [mit dem AT und NT] zu Ende ist: so hoffet Er in dem Stande zu seyn, die götlichen Wahrheiten nach

210 211 212

Ebd., S. 729 f. Ebd.,S. 731 f., hierS. 731. Ebd., S. 732.

250

Wertheimer Bibel

der richtigen Lehrart abzuhandeln.«213 Auch finden sich wieder der Verweis auf das bereits erhaltene Lob von Seiten einiger Gelehrter und die Aufforderung, Zweifel und Anmerkungen zum Ubersetzungswerk mit der Aufschrift German an den Herrn Kammerrat Höflein in Wertheim zu senden. Sowohl die fast wörtlichen Übereinstimmungen mit der Leipziger Ankündigung des Werkes, mit der dortigen ersten Rezension durch Stübner als auch mit der Vorrede des Werkes selbst, insbesondere im Verweis auf die Zustimmung der Gelehrten und auf die prachtvolle Ausstattung und nicht zuletzt in der Einladung zu Diskussionsbeiträgen mit Nennung der Adresse, legen es einigermaßen nahe, daß hier in Hamburg ein Artikel nahezu wörtlich abgedruckt wurde, der mit großer Wahrscheinlichkeit auch an Stübner bei den Leipziger Zeitungen abgegangen war und diesem als Grundlage seiner eigenen Rezension gedient hatte. Der Absender solcher Briefe aber mußte in Wertheim selber sitzen und war wohl nicht Schmidt selber, sondern eher der Herr Kammerrat Höflein. Schon am 6. Januar drucken die Hamburgischen Berichte von gelehrten Sachen dann den Auszug aus einem Kommentar zu den beiden vorigen Artikeln ab, der ihnen wiederum von auswärts, und zwar schon im Dezember, eingesandt worden sei, unter dem Pseudonym Alethaeus Eusebius.214 Es ist bis heute nicht ausgemacht, wer sich hinter diesem Pseudonym verbarg, aber der erste Teil des Pseudonyms könnte — neben der wolfFianischen Gesinnung des Beitrags - auf die Gesellschaft der Aletophilen hindeuten, deren Mitglieder vor allem in Berlin, aber auch in Leipzig saßen.215 Johann Lorenz Schmidt hat glaubwürdig versichert, weder selbst der Autor dieses Beitrages zu sein, noch den Autor zu kennen. Die Kühnheit des Abdrucks (eines Auszuges) dieser unmißverständlichen Verteidigung der wertheimischen Bibelübersetzung und Abweisung der Langeschen Kritik kompensiert der Redakteur der Hamburger Gelehrten Zeitung dadurch, daß er einen extra bestellten Gegenbeitrag dazu setzt.216 Aletheus Eusebius erklärt, überhaupt erst wegen »zweier so verschiedener Urteile veranlaßt worden« zu sein, die Ubersetzung selber zu lesen, um dabei festzustellen, daß in der ganzen Vorrede nicht ein Begriff anzutreffen sei, der das Hallische Urteil rechtfertige. Vor allem verstünde er die Kritik an der historischen Darstellung der Entstehung des Christentums nicht, welche doch unbestreitbar gerade so wie beschrieben abgelaufen sei. Im übrigen könne er auch nicht erkennen, daß der Autor die Wahrheit der christlichen Religion leugne.

213 214 215

216

Ebd. Hamburgische Berichte von gelehrten Sachen. N. II, 6 . 1 . 1 7 3 6 , S. 9 - 1 2 . Mitglieder der Aletophilen in Berlin waen der Graf Manteuffel, der Probst Reinbeck, der Verleger Haude sowie Deschamps und Formey. In Leipzig gehörten Gottsched und seine Frau, Ludovici, May und andere Mitglieder des Gottsched-Kreises dazu. Siehe den entsprechenden Artikel in: Zedlers Universal-Lexicon (wie Anm. 15). Bd. LH, Sp. 947-954. Er wurde wahrscheinlich von einem Leipziger Mitglied der Aletophilen, dem Professor Ludovici, verfaßt. Vgl. dazu Döring: Beiträge zur Geschichte der Aletophilen in Leipzig (wie Anm. 123), S. 9 5 - 1 5 0 . - Vgl. auch Marianne Wehr: Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Frühaufklärung. 2 Bde. Diss. Karl-Marx-Universität Leipzig 1965, S. 1 3 1 - 1 6 0 . Hamburgische Berichte von gelehrten Sachen. N. II, 6. 1. 1736, S. 1 2 - 1 8 .

8. Die Hamburgischen

Berichte November 1725 bis Januar 1736

251

»So wolle die Vorrede nur sagen, sie [die Deisten etc.] hätten allerdings Recht, Beweis zu fordern, weil man von niemand etwas ohne Grund glauben solte. Es werde aber hierauf gezeiget, wie der Beweis zu führen sey. Summa die Vorrede bestehe aus lauter abgesonderten Begriffen, weil sie um der Feinde der Wahrheit willen geschrieben sey, und wer die Art Leute kenne, werde dergleichen Schreibart nicht tadeln.«

Von der Ubersetzung selbst urteilt unser Verfasser, »daß sie dem Sin der götlichen Scribenten ein weit helleres Licht gebe, als viele weitläufige Auslegungen«. Es folgt die Aufforderung, die Vorurteile bis zur Vollendung des Werkes zurückzuhalten, da ja der Autor ausdrücklich sage: »Indeßen mus man mir nicht Schuld geben, daß ich einen Satz leugnete, wenn nach meiner Auslegung ein Beweis für denselben wegfält.« Dieser nur zu eindeutigen Verteidigung des Wertheimers folgt dann die »Anmerkung«, »so ein hiesiger berühmter Gelehrter, welcher hiervon zu urtheilen volkommen geschikt, dabei auch als ein unparteiischer, Wahrheit und Frieden liebender M a n n bekant ist, auf unser Ersuchen, darüber ausgestellet hat«. Es wird hier wie auch später deutlich, daß es die bewußte Politik der Hamburger Redaktion gewesen ist, unter der Maxime der Unparteilichkeit überhaupt einen öffentlichen Raum für die Verteidigung des Wertheimers zu sichern und zu rechtfertigen. Der gewissermaßen die »Ausgewogenheit« der Berichterstattung herstellende Abdruck der harschen Anmerkung zu der vorigen Rechtfertigung stammt von dem berühmten Hermann Samuel Reimarus. Er gelangte später selbst, in seiner kritischen Untersuchung der Hl. Schrift und ihrer Geschichte, zu noch weiter reichenden Konsequenzen als der Wertheimer und wurde zum geheimen theoretischen Begründer des Deismus in Deutschland (wenngleich er selber die Öffentlichkeit mied und seine Schrift erst durch Lessing in die öffentliche Diskussion in Deutschland gebracht wurde). 2 1 7 Reimarus unterscheidet in seiner Anmerkung sogleich zwei zu untersuchende Fragen: »1. ob der wertheimische Dolmetscher von der Göttlichkeit der biblischen Bücher, und der geoffenbarten Religion eine schlimme Meynung geheget habe oder nicht? 2. wie viel Grund er zu seiner Ubersetzung und zu den Sätzen seiner Vorrede gehabt habe?« 2 1 8 Die erste Frage geht auf den Elenchus und auf die Berechtigung obrigkeitlicher Verfolgung, nur die zweite betraf den Inhalt von Schmidts Argumenten. Reimarus beantwortet die erste Frage mit überraschender Härte positiv, da er »nicht einsehen kan, warum nicht ein verkapter Collin, Woolston und Tindal eben dieses schreiben könnte?« Die Göttlichkeit der Schrift beweise der Übersetzer allein durch die bloße Tatsache, daß sie ein göttliches Ansehen gewonnen hätte, was ja auch durch natürliche Erklärungen hatte geschehen können; dadurch aber schwäche er das Argument der Göttlichkeit gerade ab. Auch der Verzicht auf die Darstellung der Bedeutung des Messias bei der Begründung des Christentums überlasse dieses einem bloß natürlichen Fortgang, der unter anderen Umständen auch anders hätte verlaufen können. Die ganze Anmerkung ist durchzogen von Argumenten, die dem Übersetzer ebenso wie seinem Verteidiger Alethaeus Eusebius ein »abgekartetes Spiel« unterstellen, bei dem sich

217 218

[H. S. Reimarus:] Anmerkung zu der vorigen Rechtfertigung. In: Ebd. Ebd., S. 12.

252

Wertheimer Bibel

beide die Bälle zuwerfen würden. Der abschließende Befund der Prüfung der ersten Frage lautet daher: » N u n wil wol weiter kein rechtfertigen helfen, daß man nicht offenbar sehen solte, wie sich eins zum andern schicke, wie eins mit Fleis u m des andern Willen gesetzet, und deswegen schwach vorgestellet sey, damit das andere desto stärker scheine. Folglich ist offenbar, welche Meinung der Wertheimische Dolmetscher von den biblischen Büchern und deren Inhalt hege. U n d brauche ich daher nicht, solches aus besondern Stellen seiner Ubersetzung noch weiter zu e r h ä r t e n . « 2 "

Damit bestritt ein weithin anerkannter Gelehrter in Deutschland, der anders als Lange, nicht als Ketzerverfolger berüchtigt war, dem Wertheimer von vornherein seine ehrliche Absicht und unterstellte ihm, seine Ubersetzung nur als Deckmantel für seine deistischen Argumente zu benutzen. Wenn diese Ansicht sich in der Diskussion durchsetzen würde, hätte sich die Schmidtsche Verteidigungsstrategie mit Hilfe des Elenchus erledigt gehabt, da die Voraussetzung für diesen ja gerade in der Gutwilligkeit und Aufrichtigkeit des Delinquenten und in seiner Bereitschaft zur Prüfung seiner Argumente bestand. Die zweite Frage nach der Stichhaltigkeit der Argumente beantwortet Reimarus in entschiedener Weise negativ: »Beweis ist in diesen allem gar nicht.« 220 Auch in diesem Teil der Anmerkung bietet er aber weniger eine Sachdiskussion, sondern stellt noch weiter den Charakter des Wertheimers in Frage, indem er ihm »eine dreiste Ruhmredigkeit« vorwirft — »wir sind scharfsinnige Gelehrte, unsere Wiedersacher können uns nicht antworten, wir haben schon den Sieg«. 221 Diese Verfehlung der Beantwortung der zweiten Frage scheint ihm dann bewußt zu werden, er zieht sich aber mit der Behauptung aus der Affäre, daß »hier vornehmlich von der Meinung des Verfaß, die Rede ist, die Richtigkeit derselben aber eine weitläufigere Prüfung erfordert«. Jedoch kommt er doch noch auf ein in der Tat zentrales Prinzip der Übersetzungsmethode des Wertheimers zu sprechen, auf dessen Umgang mit historischer und demonstrativer Erkenntnis. Falls der Übersetzer etwa meine, »was ich nicht als möglich begreife, daß glaube ich keinem zu, und was sich aus meinen, mir bekamen Wahrheiten nicht beweisen läßet, daß ist nicht wahr« (Schmidt hatte allerdings keinen dieser Sätze behauptet), so wäre dieses Prinzip allerdings zu verwerfen. Immerhin fordert Reimarus hier erst einmal eine deutlichere Erklärung, bevor ein abschließendes Urteil erfolgen könne, und er gesteht der Übersetzung zuletzt sogar »eine ziemlich gute teutsche Schreibart« zu. Auch könne »ein Verständiger wol sehen, woher sie hin und wieder genommen sey«. Jedoch führe sie nirgends, »geschweige in den streitigen Stellen, und wo der Verfaßer seinen eigenen Meinungen folget«, Beweis. Allerdings hatte der Wertheimer ja ausdrücklich noch keine theologische Lehre und also Interpretation darbieten, sondern mit seiner Übersetzung nur erst die Voraussetzung dazu geben wollen, weshalb seine Art der Rechtfertigung der Übersetzung an allen strittigen Stellen wohl ausgereicht und noch keines Beweises bedurft hätte. Reimarus bestreitet aber auch (und nicht überall zu Unrecht), daß der Übersetzer seinen eigenen Prinzipien konsequent gefolgt sei, und wirft 219 220 221

Ebd., S. 15. Ebd. Ebd., S. 16.

9. Lokale Auseinandersetzungen

253

ihm sogar vor, nur seinen eigenen Begriffen gefolgt zu sein statt der Bedeutung der Worte. Auch den historischen Kontext habe er - gegen seine erklärte Absicht - nicht in konsequenter Weise zum Verständnis des Textes herangezogen. Am Schluß warnt Reimarus ausdrücklich vor dem von Schmidt angekündigten Unternehmen, auf dieser Übersetzung ein »theologisches systema« aufzubauen, das nicht auf der Bibel, sondern auf des Verfassers Begriffen und Anmerkungen beruhen würde. 222 Ungeachtet solcher harter und die weitere öffentliche Diskussion wegen ihrer Denunziation der Intentionen des Autors auch gefährdender Einschätzung durch Reimarus erhielten die Leser durch dieses Stück der Hamburgischen Berichte doch wichtige Informationen. Wenngleich mit der Anmerkung des Reimarus das Antidotum zur Wertheimer Bibel gleich mitgeliefert wurde, präsentierte der vorausgehende Beitrag von Eusebius Alethophilus das Anliegen und das Projekt einer klaren und verständlichen Übersetzung der Hl. Schrift in zeitgenössischer Sprache in einer ausführlichen und gewinnenden Form, wobei die Unterstellungen deistischer Positionen zugleich ausgeräumt wurden. Angesichts der Konformität der Auffassungen von Reimarus mit der geltenden Lehrmeinung konnte die neue und abweichende Unternehmung des Wertheimers bei aufgeschlossenen Zeitgenossen auf einiges Interesse rechnen. Andernfalls hätte die Hamburger Gelehrte Zeitung ihre Berichterstattung auch sicher nicht so hartnäckig fortgesetzt.

9.

Lokale Auseinandersetzungen um den Erhalt der Öffentlichkeit in Wertheim

Als der Wertheimer Superintendent Firnhaber in seiner Ohnmacht, den Druck der Wertheimer Bibel nicht verhindern zu können, seine Predigten in der Wertheimer Stiftskirche dazu nutzt, gegen Schmidt und sogar auch gegen die jungen Grafen zu wettern und harte Vorwürfe zu erheben, wenden sich die beiden mit Schmidt und Höflein verbündeten Grafen am 5. Dezember 1735 mit einem »Dekret« an ihn, worin sie ihm die seit 1733 von seiner Kanzel erfolgenden Schmähungen gegen sie selbst und gegen Schmidt untersagen und ihm Amtsmißbrauch vorwerfen. 223 Das in Hinblick auf die gemeinsame Strategie der Wertheimer interessante Argument in diesem Dokument ist, daß sich die Grafen ebenso wie schon Schmidt in seiner Verteidigung gegen Lange auf den in der evangelischen Kirche um der Freiheit der Religion willen vorgeschriebenen Elenchus berufen und Firnhabers Vorgehen als dessen Verletzung darstellen. Er hätte nach Anweisung der Schrift die Gradus admonitionis beachten, also sie zuerst in aller Sanftmut befragen und ihnen seine Zweifel mit den erforderlichen Gründen vortragen müssen. Statt dessen hätte er sich Gründen versagt und wäre

222

223

Die Fortsetzung des Reimarus steht in: Hamburgische Berichte von Gelehrten Sachen auf das Jahr 1736, den 10.1., N.III, S. 17f. Vgl. Spalding: Seize the Book (wie Anm. 12), S. 3 7 - 4 0 sowie S.234, Anm. 22. Vgl. auch Schattenmann (wie Anm. 8), S. 17-20.

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Wertheimer Bibel

in anathematisierender Weise mit dem Elenchus immer weiter gegangen, wodurch natürlich das katholische Anathema assoziiert werden soll. 224 Firnhaber beschwert sich daraufhin erneut bei den Mitherrschaften, worauf diese den beiden jungen Grafen auch Vorhaltungen wegen ihrer scharfen Verweisung machen, da der Superintendent doch nur seiner Pflicht nachgekommen sei. Sie fordern zudem erneut, wegen der höheren Orts zu erwartenden Konsequenzen der Publikation eine Begutachtung der Göttlichen Schriften durch eine theologische Fakultät vornehmen zu lassen und bis dahin die Arbeit an der Übersetzung zu unterbrechen.225 Das blieben aber bloße Postulate. Die beiden Grafen verweigerten die Einholung des Gutachtens und wollten vielmehr das Urteil der Gelehrten über das bereits veröffentlichte Werk abwarten, da diese Übersetzung in keiner Weise auf eine Veränderung der Glaubensartikel oder Kirchensachen abziele, sondern allein den Text betreffe. Angesichts dieser Blockade seiner amtlichen Bemühungen antwortete Firnhaber nun mit einem anonymen Artikel in den Franckfitrtischen Zeitungen von gelehrten Sachen, worin er gegen Johann Lorenz Schmidt unbegründete Vorwürfe über sein Verhalten während seines Aufenthalts in Schweinfurt vor seiner Zeit in Wertheim erhob und seinen moralischen Charakter verdächtig zu machen suchte. Außerdem wurde der Kammerat Höflein als geistiger Kopf des Unternehmens denunziert.226 Gegen die moralische Verleumdung Schmidts wie Höfleins wandten sich die Grafen mit einer scharfen Anfrage an den Frankfurter Rat, er möge den Namen des anonymen Autors vom Verleger herausbringen und dann auf einen Widerruf dringen. Auf diese Weise wurde Firnhaber als Autor dieser Denunziation und dieses Verstoßes gegen den in der evangelischen Kirche um Schattenmann gibt von diesem Dekret die folgende erhellende Zusammenfassung: Firnhaber »habe sie seit anderthalb Jahren vor der Pfarrgemeinde mit vielen anstössigen, unleidentlichen Expressionen anzutasten gewagt, als hätten sie durch Beförderung der Bibelübersetzung ihre von Gott verliehene Gewalt missbraucht; nicht allein aber diess, er habe sich alle Mühe gegeben, ihr Vorhaben bei den Mitherrschaften auf das allergehässigste abzubilden, und das Werk zu hintertreiben; ferner habe er ihren Diener Schmidt auf schmähsüchtige Weise als einen Spötter der Wahrheit, fleischlichen Ausleger der heiligen Schrift, Hochmüthigen, der die göttlichen Dinge nach der verkehrten Philosophie und eingebildeten Weltweisheit abmessen wolle, charakterisieret, ohne die angegebenen Irrthümer durch tüchtige Gründe zu widerlegen, welches den gemeinen Haufen von der Andacht abgezogen und auf eine nichtswürdige Neugierigkeit geführt, bei denen von geübteren Sinnen aber die Wirkung gehabt, dass sie die fleischlichen Affecten bald erkannt und sich an dem unzureichenden Elencho geärgert hätten. Obwohl sie nicht gemeinet noch schuldig seien, ihr Verfahren vor ihm zu rechtfertigen, müssten sie ihm jedoch in Erinnerung bringen, dass als sie die neue Übersetzung selbst zu lesen angeboten, er ihnen die unanständige Antwort gegeben, er möchte nichts davon lesen, er ärgere sich nur darüber. Ebenso habe er auch nachher sein Amt nicht gegen sie beobachtet, da er sie, wie auch den Schmidt als Superintendens und Beichtvater, nach Anweisung der Schrift, wenn anders die Gradus der admonitionis hätten beachtet werden sollen, mit aller Sanftmuth hätte befragen und ihnen seine Zweifel mit den erforderlichen Gründen hätte vortragen, und nicht mit dem anathematisierenden Elencho immer weiter gehen sollen.« (Schattenmann (wie Anm. 8), S. 17f.; Hervorhebung U.G.) 225 Yg[ Schattenmann (wie Anm. 8), S. 19. - Siehe die ausfuhrliche Darstellung bei Spalding: Seize the Book (wie Anm. 12), S. 3 7 - 4 0 und S. 7 4 - 7 6 . 226 Yg| Schattenmann (wie Anm. 8), S. 20.

224

10. Die Leipziger Neuen Zeitungen

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vom Januar bis zum März 1736

der Freiheit der Religion willen vorgeschriebenen Elenchus bekannt. Er konnte allerdings zu keinem Widerruf gebracht werden. Immerhin blieb es in Wertheim und Umgebung bei der Patt-Situation, und es kam zu keiner Einschränkung der Publikationsmöglichkeiten Schmidts. Firnhaber veröffentlicht schließlich im Frühjahr 1737 in Frankfurt seine Predigten gegen die Wertheimer Bibel, wobei schon aus dem Titel hervorgeht, wie sehr diese Veröffentlichung nicht nur gegen die Übersetzung gerichtet war, sondern auch seiner eigenen Verteidigung gegen den Vorwurf der Unterlassung dienen sollte: Die gerettete Ehre und Würde

der heiligen Schrift, auf Veranlassung der zu Wertheim gedruckten freien Übersetzung der fünf Bücher Mosis aus 2 Petr. 1,19—21 und 1 Cor. 2,4—16 der christlichen Gemeinde zu Wertheim öffentlich vorgetragen, und zur Bezeugung seiner schuldigen Amtstreue durch den Druck tlargelegt. 10. Die Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen vom Januar bis zum März 1736 und das Einschreiten der sächsischen Obrigkeit Anfang Januar 1736 erscheint in den Leipziger Neuen Zeitungen

von Gelehrten Sachen eine

überaus unbefangene und kühne Besprechung der Verteidigungsschrift des Wertheimers gegen Lange, der Vestgegründeten Wahrheit.127 Diese schlägt den gewöhnlichen Urteilen über die deutsche Aufklärung als brav und vorsichtig geradezu ins Gesicht. In freimütigster Weise wird hier nicht nur klar Partei für den Wertheimer ergriffen, sondern auch offen und kritisch

mit dem Langeschen Philosophischen Religionsspötter umgegangen. Unter dem Artikel Wertheim heißt es dort: »Der Verfasser von der freyen Übersetzung der göttlichen Schriften, deren erster Theil vor einiger Zeit zu Wertheim herausgekommen ist, hat an Herr D. Langen in

Halle, einen seiner Gewohnheit nach so heftigen Gegner bekommen, daß er genöthiget worden, sich wieder den von demselbigen herausgegebenen so genannten philosophischen Religionsspötter in einer besondern Schrift zu vertheidigen.« 228 Der Rezensent läßt auch keinen Zweifel daran, wen er mit der folgenden sarkastischen und harschen Zurechtweisung meint: »Es wäre zu wünschen, daß diejenigen, welche bey ihrer gar zu großen Begierde, der Welt ohne Unterlaß mit Schriften zu dienen, sich an die Prüfung wichtiger und zusammenhangender Lehren wagen, sich auch mehr Zeit zum Denken nehmen könnten, und mit freyem und unverblendetem Verstände dieselben einzusehen sucheten. Es ist zwar freylich schwer, wenn man seine Fähigkeit dazu unter der Last so vieler Dinge ersticket hat, die bloß die Einbildungskraft, und das Gedächtnis beschäftigen; und noch dazu durch gewisse Schreckbilder, die man samt sich herum traget, so beunruhiget wird, daß man die reinesten und größesten Wahrheiten vor die ungeheuresten Meynungen ansiehet. Allein man darf sich auch nicht wundern, wenn man sodann von seinen streitbaren Bemühungen weder Sieg noch Ruhm davon träget.«

Das war angesichts der einflußreichen mächtigen Position von Joachim Lange, des einflußreichen Hauptes der Hallischen Waisenhauspartei, starker Tobak.

227 228

Die Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen. Leipzig, Januar 1736. N. IV, S. 28 f. Ebd., S. 28 (Hervorhebung - U. G.).

256

Wertheimer Bibel

Im folgenden nennt der Rezensent die Verteidigungsschrift gründlich und empfiehlt sie sogar zur Einleitung in das Übersetzungswerk selbst, wodurch viele auftretende Mißverständnisse sich von selbst erledigen würden. Der Inhalt wird im einzelnen referiert, Schmidts Darlegung seiner Regeln und Prinzipien werden erläutert und dessen scharfe Verwahrung gegen die Langesche »Anklage unverantwortlicher Dinge« gerechtfertigt, weshalb es unmöglich gewesen sei, »sich solcher Ausdrückungen gänzlich zu enthalten, welche dem Leser zu hart vorkommen möchten, deswegen er sich auch insbesondere vertheidiget«. 229 Die eindeutige Parteinahme für den Wertheimer und die völlige Ablehnung der Vorgehensweise und Argumentation Langes kommt noch einmal in dem in seiner Entschiedenheit herausfordernden Schlußsatz zum Ausdruck: »Übrigens ist kein Zweifel, daß das Glaubensbekäntniß des Verfassers, ingleichen die Art von den wichtigsten Dingen gründlich zu denken und zu schreiben, einem unpartheyischen Leser Genüge thun, und angenehm seyn werde.« 230 Das allein aber war ausreichend, um auf der Einhaltung des Elenchus bestehen zu können. Diese Leipziger Besprechung, die fast gleichzeitig wie die oben dargestellte Doppelbesprechung in den Hamburgischen Berichten erschien, verfolgt offensichtlich eine andere publizistische Strategie - statt taktierender Ausgewogenheit unmißverständliche und entschiedene Parteinahme. Ihr Autor war Wolf Balthasar Adolph von Steinwehr (1704—1771), 1725 Magister der Theologie an der Universität Wittenberg, 1728 Adjunkt der philosophischen Fakultät, seit 1732 an der Universität Leipzig und Mitglied der Deutschen Gesellschaft

ebenso wie Mitherausgeber der Beyträge zur Critischen Historie Der Deutschen Sprache und Beredsamkeit, die von einigen der Mitglieder der Gesellschaft herausgegeben wurden. Ab 1736 übernahm er als Nachfolger Stübners die Redaktion der Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen. Wir besitzen aus einem Schreiben Stübners an Schmidt vom 24. Februar 1736 gelegentlich der Erklärung seiner Niederlegung der Redaktion eine erhellende Beurteilung von Steinwehr. Darin heißt es: »Herr M . von Steinwehr verfertigt nach mir die Zeitungen, ein geschickter Mann, der mit noch mehr Freymüthigkeit, als ich gethan habe, urtheilen würde, wenn er dürfte. Die Recension der Vertheidigung gegen Hn. Langen kömmt alleine von ihm her.« 231 Allerdings hatte der frischgebackene Redakteur mit dieser einen Rezension zur ersten Verteidigungsschrift des Wertheimers zugleich seine letzte in dieser Sache geschrieben. Schon am 16. Januar 1736 ging die Anklageschrift des Dekans der theologischen Fakultät der Universität Leipzig, der Zensurbehörde für die Leipziger Zeitungen in theologischen Sachen, nach Dresden an den König. Anlaß ist eben die Steinwehrsche Rezension, angezeigt wird aber zugleich die Wertheimer Bibel selber. 232 Die Akten dieses Vorgangs sind in Leipzig und

229 230 231

232

Ebd., S. 29. Ebd. Stübner an Schmidt am 2 4 . 2 . 1 7 3 6 . In: Mosheim/Schlegel (wie Anm. 17), S. XLIX-LIII, hier S. LH. Die Anzeige hat die Theologieprofessoren Börner, Pfeiffer, Klausing und Deyling zu Autoren, die sich damit zunächst an ihren Dekan wenden, der sie dann an den Dresdner Hof abgehen läßt. Vgl. Universitätsarchiv Leipzig. Acta Theologische Fakultät 6 0 [Censur theol. Bücher ( 1 7 3 6 - 3 8 ) E5],

10. Die Leipziger Neuen Zeitungen

vom Januar bis zum März 1736

257

in Dresden wohl vollständig vorhanden, so daß davon im folgenden ausführlicher Gebrauch gemacht werden kann, um daran die Schwierigkeiten und Hindernisse sowie die Bedingungen insgesamt für eine öffentliche Debatte in jenen Jahren anschaulich zu machen. Die Leipziger Theologieprofessoren hatten also inzwischen das Übersetzungswerk auch gelesen (waren dazu wohl auch von Lange bzw. von Löscher angetrieben worden), 2 3 3 und sie hatten »bey dessen Durchsehung [...] mit großem Betrübnis wahrgenommen, wie darinnen hin und wieder der wahre Verstand der heiligen Schrift auf eine sehr freche Weise verfälschet, und insonderheit alles, was im Gesetze Mosis von Christo geschrieben steht, wieder die hiervon im Neuen Testamente befindlichen klaren Ereignisse, auf einen andern Sinn gedeutet, mithin die so furtrefflichen Mosaischen Sprüche und Weissagungen von der Person und dem Mittler-Amte Christi, wie nicht weniger auch die herrlichen Ereignisse von dem Geheimnisse der hl. Dreyeinigkeit aufs schändlichste verbessert, und nach denen verdammlichen Principiis und Meynungen, derer neuen Juden und Socinianer übersezet und erkläret, hierüber auch, und absonderlich in der Vorrede eine solche Irreligiosität gegen das heilige Wort Gottes bezeiget worden, daß wir diese neue Bibelübersetzung als ein zur Umreißung der christlichen Glaubens-Gründe und zur Fortsetzung des Naturalismi und Atheismi eingerichtetes und folglich ein höchst verdammliches Werck allerdings anzusehen haben. Wir haben nun dahero Euer königliche Maj.t. und Churfurstl. Durchlaucht, wie unserer Obhabenden Pflicht und Amte gemäß, ein solches allergehorsamst anzuzeigen und einzuberichten, im Gewissen uns verbunden erachtet. Also haben wir das allerunterthänigste Vertrauen, es werden Dieselbe Diese unsere pflichtschuldige Vorstellung in höchsten Gnaden an- und aufnehmen, und darumb zugleich flehentlich bitten, dero gerechten Ernst und Eifer wieder ein so irreligiöses, vieles Ärgernis,

2 r - 2 v sowie 3 r - 4 v . - Agatha Kobuch ist darin nicht zuzustimmen, daß keine Zensurmaßnahmen gegen Stübner und Steinwehr wegen der Wertheimer Bibel nachzuweisen sind (Agatha Kobuch (wie Anm. 13), S. 71); vgl. die Akten des Universitätsarchivs Leipzig: Rep. I/XIX/I/43; Theol. Fak. 60 (Censur theol. Bücher 1736-38); Rep. I/XIX/I/47 (Acta Hrn. Wolff Balthasar Adolph von Steinwehr und dessen in den Leipziger Gelehrten Zeitungen gar mit mercklichem Beyfall sich befleißigende Recension dero herauskommender der christlichen Religion nachtheiliger Schriften); Rep. I/XIX/I/48 (Acta Johann Christoph Gottscheden Prof. Publ. und M. Wolff Balthasar Adolphen von Steinwehr betr.); Rep. I/XIX/I/49 (Acta Die Censur und Approbation des Decani Facultatis Theologicae derer, in den gelehrten Zeitungen vorkommenden Nachrichten und Recensionen von Theologischen Sachen und Büchern, betr.). 233

Der Leipziger Theologieprofessor Klausing stand seit den 20er Jahren mit Löscher in regelmäßiger Korrespondenz, vgl. dazu Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz' und die Leipziger Aufklärung (wie Anm. 106), S. 76, S. 82 u. ö. In der Wertheimer Sache meldet Klausing schon am 20. Januar 1736, also unmittelbar nach Erscheinen der lobpreisenden Rezension der Vestgegründeten Wahrheit in den Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen, nach Dresden, daß der mit Gottsched familiär verkehrende Steinwehr »noch ärger« sei als der Professor (vgl. SUB Hamburg, Sup. ep. 75 (bei Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz' und die Leipziger Aufklärung (wie Anm. 106), S.76, Anm. 277)). - Seit der Wertheimer Affaire stand Klausing aber offenbar auch in regelmäßigem Briefwechsel mit Lange in Halle. Er berichtete z.B. über den Dresdner Aufenthalt von Gottsched und Steinwehr, die sich dort auf Anzeige der Leipziger Theologen zu verantworten hatten, am 7 . 1 0 . 1 7 3 7 (vgl. Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz' und die Leipziger Aufklärung, S. 76, Anm. 277), sowie am 31. Oktober 1737 (in: FSt Halle, A 188b:499) und am 9. November 1737 (in: SUB Hamburg Sup. ep. 75 (bei Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz' und die Leipziger Aufklärung (wie Anm. 106), S. 82)).

258

Wertheimer Bibel

Unheil und Schade anrichtendes Werk befehlen ließen, und allerhöchst verordnen, damit dasselbe in dero Landen gänzlich verbothen, und hierdurch vieler unschuldiger Seelen Verführung abgewandt werden möge.« 234 Außer dieser Bitte um ein obrigkeitliches Verbot der Wertheimer Bibel wird dann ebenso darum ersucht, die Leipziger Zeitungen einer erneuerten und strengen theologischen Zensur zu unterwerfen, um künftig keine Lobpreisungen solcher »Irreligiosität« in diesen Zeitungen erdulden zu müssen. Daß die Leipziger Zeitungen derartige Rezensionen überhaupt publiziert hätten, wird dabei selber schon als erste schreckliche Wirkung des verrufenen Buches dargestellt: »Weshalb denn Eurer kgl. Majestät und Churf. Durchl. wir hierbey allerunterthänigst nicht verhalten sollen, was maßen dieses höchstschädliche und zur Unterdrückung der geoffenbarten Religion abzielende Wertheimische Bibel-Werk bey einigen allhier solchen Beyfall gefunden, daß sie auch dasselbe öffentlich zu recommendiren und zu vertheidigen sich nicht entblödet; wie denn in denen Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen, welche hiesigen Ortes wöchentlich publiciret werden, nicht nur in dem LXXsten Stücke vorigen Jahres, p. 622, der obenmeldte Erste Theil desselben mit sonderbahren Elogia recensiret, die ärgerliche Vorrede vor überaus lesenswürdig ausgegeben, und die freye oder vielmehr frevelhafte Übersezung, der Ubersezung Lutheri vorgezogen, sondern auch, nach dem D. Joachim Lange, Theol. Prof. Ord. auf der Universität zu Halle, die frechen Schrift-Verdrehungen und offenbahren Erz-Verfälschungen in dem Ersten Theile des mehrbesagten Wertheimischen BibelWercks, und das hierunter verborgene mysterium iniquitatis, in einer diesfalls edirten Schrift gründlich gezeiget und an Tag geleget, in dem IV. Stücke ermeldter Zeitungen so den 12ten Januar jüngsthin herauskamen, die von dem Verfasser der Wertheimischen Ubersezung wider D. Langen, unter dem Titel Die festgegründete Wahrheit der Vernunfft und Religion herausgegeben Verteidigungsschrift völlig approbiret, und dem Religionsspötter ärgerlicher Weise das Wort geredet worden. Wir hegen auch diesfalls das allergnädigste Vertrauen, es werden Eure Königliche Maj.t. und Churf. Durchl. steuren, und nicht zulassen, daß in denen hiesigen Journalen, deren Verfasser von der Censur, welche in Ansehung aller Theologischer Schriften und Sachen, so alhier gedruckt werden, von Euer königl. Maj.t. unserer Facultät allergnädigst anvertraut ist, sich frey zu seyn düncken, dergleichen untheologische, der Ehre Gottes und seines Wortes höchstnachtheilige, und der Evangelischen Kirchen Ehre und Religion zuwider lauffende Judicia von Theologischen Büchern und Sachen ungescheut publiciret und gedruckt werden mögen.« 235 Fast gleichzeitig mit dieser Anzeige und der damit verbundenen Aufforderung der Theologen an den König, der weltliche A r m möge eingreifen, schreibt der Leipziger Theologieprofessor Heinrich Klausing auch noch besonders an den sächsischen Kirchenrat, den orthodoxen Theologen Valentin Ernst Löscher. In seinem Schreiben malt er die Gefahr einer ständig wachsenden Anhängerschaft der leibniz-wolffischen Philosophie als eine Gefahr für die Religion in den stärksten Farben und dringt in den Kirchenrat, seinen Einfluß am Hofe geltend zu machen, um die Obrigkeit zum Eingreifen zu bringen, da sonst alle Mittel bereits ausgeschöpft seien. 236 Auffallend ist, daß in diesem Brief nicht mehr die Leip234

235 236

Der Leipziger Dekan an den König in Dresden am 16. Januar 1736. Universitätsarchiv Leipzig (im folg. UA Leipzig). Theol. Fak. 60, 3r-4r. Ebd., 4r. Klausing an Loscher am 20. Januar 1736 (SUB Hamburg, Sup.ep. 75; zitiert nach Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz' und die Leipziger Aufklärung (wie Anm. 106), S. 71 f.

10. Die Leipziger Neuen Zeitungen ziger Zeitungen und die

vom Januar bis zum März 1736

Wertheimer Bibel

259

im Zentrum der Klage stehen, die doch Gegen-

stand der Anzeige waren, sondern der Leipziger Philosophieprofessor Gottsched als das Haupt der unaufhaltsam wachsenden »philosophischen Siintfluth, da die Wolffische und höchst gefährliche und schädliche Philosophie (nachdem die Rüdigeriana etwas gefallen und nur noch in dem Professore Müller lebt) hier, in Wittenberg und Jena fast alles zu überschwemmen gesucht [...]. Da ist jetzo insonderheit H. Professor Gottsched, der dieses unter die Jugend bringet cum magno applausu [...]. Nebst dem sind noch einige andre Magistri, welche entweder Wolffii oder Rüdigerii Philosophiam mit einer so freyen und frechen Art vortragen, und zwar alles teutsch, daß sie dabey der studirenden Jugend sehr schaden. [...] Es geschieht dadurch, daß viele, ja sehr viele, wenn sie eine Zeitlang hier gewesen, alle Religion, auch wol sensum veri Dei verlieren.« 237 Zugleich weist Klausing den sächsischen Kirchenrat auch auf eine geradezu familiare Bindung des Redakteurs von Steinwehr zum Professor Gottsched hin, damit dieser in die Nähe der inkriminierten und angezeigten Leipziger Zeitung gerückt werde. Auffallend sind überdies auch hier wie schon zuvor bei der Jenenser Universität die Hinweise auf den großen Einfluß der von der wolffianischen Philosophie begeisterten

magistri legentes,

der bereits

lehrberechtigten Magister, auf die Studenten. Dessen Bedeutung ist durch die Universitätsgeschichtsforschung, die sich ganz überwiegend auf die bekannten Namen der Lehrstuhlinhaber orientiert, oftmals unterschätzt worden. 2 3 8 Der König bescheidet das Ersuchen der Leipziger Theologischen Fakultät um staatliches Eingreifen prompt und im Sinne der Denunziation. Nach weniger als zehn Tagen, am 25. Januar 1736, werden mehrere Schreiben in dieser Sache nach Leipzig abgesandt. Zunächst geht

237

238

Ebd. - Vgl. auch die zahlreichen Akten gegen Gottsched und seinen Magister Steinwehr, wie in Anm. 232. So wird die Universitätsgeschichte Jenas an den Professoren Budde, Syrbius, Stolle, Struve, Walch, Köhler, Reusch, Darjes, Hamberger und Wiedeburg aufgereiht. Vgl. Alma mater Jenensis (wie Anm. 103), S. 103-125. Danach hat sich die Wolffianische Philosophie immer erst durchgesetzt, wenn sie die Lehrstühle erobert hat. - Dasselbe gilt erst recht für Notker Hammerstein: Christian Wolff und die Universitäten. Zur Wirkungsgeschichte des Wolffianismus im 18. Jahrhundert. In: Christian Wolff 1679-1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Mit einer Bibliographie der Wolff-Literatur. Hg. Werner Schneiders (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 4). Meiner: Hamburg 1983, S. 266—277. Hammerstein kommt daher zu dem Ergebnis, daß der Einfluß Wolfis auf die deutschen Universitäten für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts bisher sogar überschätzt worden sei. Darüber hinaus sucht er den wolffianischen Einfluß innerhalb der philosophischen Fakultäten dadurch zu marginalisieren, daß er auf ihre zumeist untergeordnete Bedeutung im Rang der Fakultäten verweist (dies galt übrigens nicht mehr für Halle!). Sogar bezeichnet er die »oberen Fakultäten« als »die eigentliche protestantische Universität« und spricht in fiir das 18.Jahrhundert anachronistischer Weise von der philosophischen Fakultät als der »artistischen« (S.269). Einem derart auf die bestehenden Institutionen, Lehrstühle und geltenden Lehrbücher fixierten Interesse müssen natürlich die einflußreichen »magistri legentes« ebenso entgehen wie die Studentenproteste an der Jenenser Universität angesichts der Gefahr eines Verbots der Lehre der wolffianischen Philosophie. Tatsächlich ist aber gerade der Einfluß von Carpov und seinem Schüler Darjes in den 1720er bzw. 30er Jahren entscheidend; die unter dem Einfluß von Wolff stehenden jungen und widerspenstigen »magistri legentes« bestritten einen großen Teil von Lehrveranstaltungen.

260

Wertheimer Bibel

ein Schreiben an den Magistrat der Stadt. Man habe in Erfahrung gebracht, daß im letzten Jahr eine neue deutsche Bibel unter dem Titel Die Göttlichen Messie Jesus. Der erste Theil worinnen Ubersetzung

Schriften

Die Gesetze der Israelen enthalten

welche durch und durch mit Anmerkungen

erläutert

vor den Zeiten

des

sind nach einer freyen

und bestätiget

wird, erschie-

nen sei, und trage »erhebliche Bedencken«, »solche distrahiren zu lassen«. Deshalb sei es des Königs »Begehr«, »ob diese Übersetzung bei denen Buchfiihrern und Buchdruckern in Leipzig anzutreffen, fleißig nachsuchen und die davon gefundenen Exemplare sogleich [ . . . ] confisciren [zu] lassen, auch die Einführung und ferneren Vertrieb derselben oder deren etwan künftig herauskommenden Continuationen bey 1 0 0 Talern Strafe [zu] untersagen«. 239 Ein weiteres königliches Schreiben ist direkt an den Bücherkommissar in Leipzig gerichtet. Darin heißt es: 2 4 0 »Würdiger, lieber, andächtiger und getreuer, haben wir in Erfahrung gebracht, welchergestalt in dem nächstabgewichenen Jahre von einer neuen teutschen Übersetzung der Bibel der erste Theil unter dem Titul: die Göttlichen Schriften vor den Zeiten des Messie Jesus. Der erste Theil worinnen Die gesetze der Israelen enthalten sind nach einer freyen Übersetzung welche durch und durch mit Anmerkungen erläutert und bestätiget wird zu Wertheim herausgekommen. Und wir solche zu distrahiren zu laßen erhebliches Bedencken tragen; Also ist es unser Begehr hiermit, ihr wollet: ob diese Übersetzung bey denen Buchfiihrern und Buchdruckern in Leipzig anzutreffen fleißig nachsuchen und die daraus gefundenen Exemplaria sogleich wegnehmen und confisciren lassen, auch die Einführung und ferneren Vertrieb derselben oder deren etwan künfig herauskommenden Continuationes bey 100 Thalern Strafe untersagen.«241 Die Antwort aus Leipzig erfolgt postwendend. Schon am 30. Januar meldet der Inspektor der Leipziger Bücherkommission an den Dresdener Hof, er »habe sowohl bey denen Buchhändlern als Buchdruckern allhier wegen der zu Wertheim gedruckten teutschen Übersetzung der Bibel fleißig Nachsuchung gethan, jedoch nicht ein einziges Exemplar angetroffen. In abgewichener Michaelismesse 1735 aber soll dem Vernehmen nach der Buch-

239

240

241

Stadtarchiv Leipzig. Acta commissionaris, Eine neue teutsche Übersetzung der Bibel, deren erster Theil zu Wertheim gedrucket worden, betr. A. 1736. XLVI.183, lr-v. Die Bücherkommission in Leipzig war eine landesherrliche, keine städtische Institution und unterstand dem sächsischen Kirchenrat. Ihr oblag die Aufsicht über den Buchhandel, die Erteilung von Privilegien und deren Kontrolle sowie die Verhinderung der Verbreitung von Schriften gegen die Religion, den Staat und die guten Sitten. Sie hatte ihren Sitz aber in Leipzig und setzte sich jeweils aus einem vom Kirchenrat ernannten Professor der Leipziger Universität, der das Direktorium und damit den Titel eines Bücherkommissars innehatte, und einem Vertreter des Stadtrates zusammen. Die Zensur wurde jedoch von den verschiedenen Fakultäten der Universität ausgeübt. Ungeachtet ihrer Unterstellung unter den sächsischen Kirchenrat zeigte die Leipziger Bücherkommission eine größere Toleranz als der Kirchenrat - um den Buchhandel nicht zu behindern und den Flor der Stadt zu befördern. Bis 1731 nahmen ausschließlich Theologen die Position des Bücherkommissars ein. Im hier interessierenden Zeitraum war der Professor der Beredsamkeit Johann Erhard Kapp ( 1 6 9 6 1756) Bücherkommissar. Vgl. auch Goldfriedrich (wie Anm. 21), S. 182ff. Friedrich August [...] an die Bücherkommission in Leipzig am 25.1.1736. Stadtarchiv Leipzig (im folg. StA Leipzig). Acta commissionis, Eine neue teutsche Übersetzung der Bibel, deren erster Theil so zu Wertheim gedrucket worden, betr. A. 1736. XLVL 183, 5r-v.

10. Die Leipziger Neuen Zeitungen vom Januar bis zum März 1736

261

händler von Frankfurth an Mayn Varrentrapp eine Partie Exemplarien auf hiesigem Plaz von besagter Übertragung der Bibel gebracht haben, welchem auch der Herr AccisRath Weidemann einige Exemplaria abgenommen«.

Es erklärte »aber derselbe, daß er gegenwärtig kein Exemplar mehr hätte, sondern dieselben und zwar [...] meistentheils bereits [...] auswärts distrahiret«. 242 Diese überraschende Auskunft kann sowohl bedeuten, daß in der Tat ein Jahr nach der Publikation alle nach Leipzig gelieferten Exemplare schon verkauft worden waren, wenngleich angesichts des einflußreichen Gottsched-Kreises in Leipzig und der Deutschen Gesellschaft kaum zu vermuten ist, daß die Exemplare »meistentheils [...] auswärts distrahiret« worden sind. Es kann aber auch heißen, daß die Buchhändler sich hüteten, die wertvollen Exemplare freiwillig herauszurücken und sich die Nachfrage eine Warnung sein ließen. Am 19. Februar erfolgt ein weiterer Bericht der Leipziger Bücherkommission nach Dresden, worin gemeldet wird, daß das königliche Reskript zum Verbot der Wertheimer Bibel bei 100 Talern Strafe allen Leipziger Buchhändlern bekannt gemacht worden sei; als Beleg dafür habe man sich das Reskript von ihnen allen unterzeichnen lassen.243 Allerdings stieg angesichts des Verbots wie gewöhnlich der Preis für ein Exemplar um ein Vielfaches, so daß der Frankfurter Verleger Varrentrapp sicherlich ein gutes Geschäft mit dieser Übersetzung ebenso wie mit den folgenden Verteidigungsschriften des Wertheimers gemacht haben wird: »Anfangs wurde das Exemplar um 2 fl. verkauft, nach dem Verbot bis zu 60 fl. bezahlt.«244 Auch der Leipziger Redakteur Stübner meint nach dem ersten sächsischen Verbot der Göttlichen Schriften: »Man will sogar aus der Erfahrung angemerket haben, daß selbst ein Buchführer sein Verlagsbuch nicht besser und häufiger verkaufe, als wenn er die Sache so karten kann, daß es confiscirt wird.« 245 Der König bescheidet aber auch noch das Ersuchen der Leipziger Theologen wegen einer strengeren Zensur der Gelehrten Zeitungen am selben Tag. Schon am 1. Februar haben die Leipziger Theologen das königliche Reskript in Händen, daß der Verfasser der Gelehrten Zeitungen seine der Wertheimer Bibel zugesprochenen »Elogia« widerrufen möge, und man ihn zu mehr »Behutsamkeit« ermahnen möge. Zugleich wird ausdrücklich angeordnet, daß künftig alle Rezensionen zuvor von der theologischen Fakultät zensiert werden müssen. 246

242

243

244 245 246

Johann Zacharias Treffurthen, Inspector in Leipzig am 30. Januar 1736 an den König. In: Ebd., 2r); vgl. auch das entsprechende Schreiben von Johann Erhard Kapp, Prof., Publ. und kgl. Bücherkommissar aus Leipzig am 1.2.1736, in dem dieser die Verfügung des Verbots an die Leipziger Buchhändler an den Dresdner Hof berichtete. In: Ebd., 4r-v). »Übrigens ist denen Buchfuhrern und Buchdruckern, die Einführung und fernerer Vertrieb [...] der Übersetzung der Bibel oder deren etwan herauskommenden Continuationen, bey 100 Thalern Strafe [...] untersagt worden.« (Bericht der Leipziger Bücherkommission an den Dresdner Hof, am 19.Februar 1736 nach Dresden abgegangen, samt dem von allen Leipziger Buchhändlern (u.a. Gleditsch, Teubner, Weidemann, Zedier, Breitkopf) gegengezeichneten Verbot der Wertheimer Bibel. In: Ebd., 6r-7r). Siehe Schattenmann (wieAnm. 8), S. 12, Anm. 1. Stübner an Schmidt am 24. 2. 1736. In: Mosheim/Schlegel (wie Anm. 17), S. LH. Friedrich August, König in Polen, Kurfürst von Sachsen etc. am 25.1.1736 an die Theologen der Universität Leipzig. In: Universitätsarchiv Leipzig (im folg. UA Leipzig). Rep. I/XIX/43, l r - lv, hier lv.

262

Wertheimer Bibel

A u ß e r d e m ergeht der Befehl, dieses königliche Reskript an der Universität öffentlich bek a n n t zu m a c h e n . E s ist nicht o h n e eine gewisse K o m i k , d a ß das Schreiben des Königs bein a h wörtlich wie die D e n u n z i a t i o n lautet u n d exakt an deren Verfasser zurückgeht, n u n aber versehen m i t der königlichen M a c h t des Befehls: »wir haben in denen in Leipzig herauskommenden gelehrten Zeitungen wahrgenommen, was maßen der Verfasser derselben dem zu Wertheim gedruckten Ersten Theil der Ubersetzung der Bibel große Elogia beygeleget, die Vorrede vor überaus lesenswürdig ausgegeben, auch die von dem Auetore mehrgenannter Übersetzung edirte VertheidigungsSchrift wider das von Dr. Langen dagegen in Druck publicirte Scriptum völlig approbiret. Nachdem wir nun solches nicht anders den mißfalig empfinden, Alß ist unser begehren hiermit, ihr wollet besagten Verfaßer obenerwehnter Gelehrten Zeitungen, daß er in dem nächstherauskommenden Stück derenselben solche Elogia revociren und in Zukunft in dergl. Sachen mehrere Behutsamkeit gebrauchen, auch alle Recensiones Theologischer Bücher von der Theologischen Facultaet [...] censiren, und außerdem nichts davon in die Zeitungen drucken lassen solle, namtlich andeuten, und damit denen nachgegangen werden möchte, gute Obhut führen.« 247 D i e Leipziger T h e o l o g e n lassen es sich n i c h t n e h m e n , dieses königliche Reskript Herausgeber der Neuen

Zeitungen

von gelehrten

Sachen

dem

Friedrich O t t o M e n c k e in aller F o r m

vor d e m versammelten Konzil zu eröffnen u n d ihn dazu vorzuladen. 2 4 8 D a ß dies eine besonders d e m ü t i g e n d e F o r m der Zurechtweisung u n d E r m a h n u n g war, geht s c h o n daraus hervor, daß M e n c k e wie auch seine Redakteure jedesmal in verschiedenster Weise versuchen, sich e i n e m solchen persönlichen Erscheinen zu entziehen. 2 4 9 Als n u n H o f r a t M e n c k e a m M o r g e n des 8 . F e b r u a r in der Universität erschien, w u r d e i h m das Königliche Reskript eröffnet u n d i h m in der Halböffentlichkeit des Universitätsgremiums der Befehl verlesen, der s o d a n n a u c h in der Universität veröffentlicht wurde: »daß er als Director derer Gelehrter Zeitungen in dem nechst herausgehenden Stücke dererselben die der zu Wertheim gedruckten Ubersetzung der Biebel beygelegten Elogia revociren und in Zukunft in dergl. Sachen mehrerer Behutsamkeit gebrauchen auch alle recensiones Theologischer Bücher der Theol. Fak. alhier censiren, auch außerdem nichts davon in die genannten Zeitungen drucken lassen solle. Worauf der Hr. Hofrath Mencke sich erklehrete, daß M . Stiebner vorhero, und anitzo M . Steinwehr Verfaßer solcher Gelehrten Zeitungen wären, da er es denn dahin richten wolle, daß in dem nächsten Stücke die [...] anbefohlene Revokation würckl. erfolgen, auch künftig bey denen Theologischen Büchern dieser Facultaet Censur erfordert werden solle. Er seines Ortes habe bisher alles auf den Censorem ankommen lassen, und wenn dieser dergl. Passagen in denen wenigen Stücken nicht hätte passiren lassen, hätte gegenwärtige allergnädigste Verm[ahnung] vermieden bleiben können.« 2 5 0

Ebd., l r - l v . 248 Y g j e bd., 2r. Und zwar wird er zum »8.2. früh, 10 Uhr, in loco concilii citiret und geladen«, wo »er in person erscheinen und der Publication und Expedition eines eingelangten allergn. Rescripts die Recensión der wertheimischen Bibel betr. gewärtigen solle«. 247

249

Auf der Rückseite dieser Vorladung hat Mencke geantwortet, er wisse schon, worum es ginge, er brauche also nicht deswegen zu erscheinen. Allerdings gelingt es ihm auf diese Weise nur, einige Tage zu gewinnen; nach dem vorliegenden Protokoll erschien er am 11. Februar 1736 persönlich vor dem Konzil, um sich das königliche Rescript vortragen zu lassen. Vgl. ebd., 4 r - 5 r . Ebd., 4 r - 5 r .

10. Die Leipziger Neuen Zeitungen

vom Januar bis zum März 1736

263

Mencke sagt also alles zu und versicherte zudem, das Stück, worinnen die Widerrufung erfolge, zu den Akten zu geben. In seinem Hinweis darauf, daß er seine Zeitungen sehr wohl der Zensur vorgelegt habe, wenngleich aufgrund ihres vielfältigen Charakters nicht den Theologen, darf man allerdings auch eine gewisse Widerständigkeit gegen die Maßregelung ausmachen. Die aus diesem bloßen Text des Protokolls scheinbar hervorleuchtende große Willfährigkeit Menckes gegenüber dem Konzil wird aber entschieden konterkariert durch die dann in den Zeitungen tatsächlich veröffentlichte und durch ihre nüchterne, unpersönliche Knappheit geradezu impertinente Notiz, die zwar umgehend, aber im Keller der letzten Seite unter dem schlichten Titel Erinnerung

abgedruckt wird:

»Nachdem man höhern Ortes davor gehalten, daß die in den 70 Stücke vorigen Jahres, und in dem 4 Stücke jetzigen Jahres unserer gelehrten Zeitungen, der zu Wertheim nur kürzlich herausgekommenen Probe einer neuen Bibel-Ubersetzung, beygelegten Lobsprüche, den Werth solcher Arbeit einiger massen übersteigen; Als hat man dem deshalben ergangenen allergnädigsten Befehle sich in Unterthänigkeit unterwerfen, und obgedachte Lobsprüche hiermit zurücke nehmen, auch die Beurtheilung derjenigen Streitigkeit, in welche der Verfasser solcher Ubersetzung mit Herrn D. Langen zu Halle gerathen, des Lesers eigner Untersuchung überlassen, übrigens aber sich erklären wollen, daß man künftighin alle Gelegenheit, derjenigen Schriften, so vielleicht vor oder wieder diese Ubersetzung zum Vorschein kommen möchten, Meldung zu thun, in diesen Zeitungen sorgfältigst vermeiden werde.« 251 M a n erklärte darin also erstens, daß man die Lobsprüche aufgrund des höheren Befehl zurücknehme, zweitens daß man den Streit Schmidts mit Lange der Meinung der Leser überlasse und drittens - daß man angesichts dieses höheren Befehls sich zur Wertheimer Sache gar nicht mehr äußern werde. 2 5 2 Das war kein Widerruf, sondern eine Vorführung der angemaßten Autorität der Obrigkeit — mehr Aufsässigkeit war fast nicht denkbar! Der zeitgenössische Kommentar des vormaligen Redakteurs Stübner zum Abdruck dieser

Erinne-

rung spricht es denn auch deutlich genug aus, daß es sich hier geradezu um eine waghalsige Widerständigkeit gehandelt habe: »Wie froh war ich nicht daher, als sich Hr. Menke ins Mittel schlug, und auf sich nahm, den W i d e r r u f zu thun? Es ist solcher von ihm auf eine

251 252

Neue Zeitungen von gelehrten Sachen. Leipzig, Januar 1736. Nr. XIV, S. 128. Ganz ähnlich argumentierte dann Kant angesichts der wegen seines Streits der Fakultäten ergangenen Kabinettsordre König Friedrich Wilhelm II. Diese verlangte von ihm in unklarer Weise, sich künftig nichts dergleichen zuschulden kommen zu lassen, worauf Kant antwortete: »Was den zweiten Punkt betrifft, mir keine dergleichen (angeschuldigte) Entstellung und Herabwürdigung des Christentums künftighin zuschulden kommen zu lassen, so finde ich, um als Ew. Majestät treuer Untertan darüber in keinen Verdacht zu geraten, das Sicherste, daß ich mich fernerhin aller öffentlichen Vorträge in Sachen der Religion, es sei der natürlichen oder der geoffenbarten, in Vorlesungen sowohl als in Schriften völlig enthalte und mich hiemit dazu verbinde.« Er schließt diese aufsässige Epistel übrigens mit der ganz vorschriftsmäßigen Formel: »Ich ersterbe in devotestem Gehorsam Ew. Königl. Majestät alleruntertänigster Knecht«. (Kant an den König Friedrich Wilhelm III. von Preußen am 12. Oktober 1794 (Entwurf). In: Immanuel Kant: Briefwechsel. Hg. Otto Schöndorfer. Eingel. Rudolf Malter u. Joachim Kopper. Meiner: Hamburg 1972, S. 6 8 2 - 6 8 5 , hier S.685.) - Die Leipziger Gelehrten Zeitungen wagten diesen Stil der Aufsässigkeit allerdings sogar öffentlich.

264

Wertheimer Bibel

Art geschehen, daß es ihm vielleicht noch Verantwortung bringen kan. H ä t t e ich ihn so gethan, so befürchtete ich m i c h einer nachdrücklichen Strafe.«

253

M i t dieser A b m a h n u n g der Gelehrten Zeitungen und der Vergatterung der Leipziger Buchhändler allein war es aber noch nicht getan. Wir haben in d e m langen Brief Stübners an S c h m i d t v o m Februar 1736, der schon zitiert wurde, ein unschätzbares zeitgenössisches Zeugnis von den Vorgängen in Leipzig, die auf die offen für den Wertheimer parteiergreifenden u n d seinen G e g n e r L a n g e herausfordernden Rezension folgten, vor allem von der persönlichen W a h r n e h m u n g des bedrückenden Charakters der M a ß n a h m e n durch die Betroffenen. Aus d e m Schreiben geht hervor, daß auch die beiden Rezensenten Stübner u n d Steinwehr wie M e n c k e vor das Konzil geladen wurden u n d sich zu verantworten hatten. Zugleich wird die praktische Auswirkung der königlichen Reskripte in Leipzig anschaulich: »Ich habe mir im Consilio Académico Perpetuo, darinnen ich selbst als Consiliarius mit sitze, vorwerfen lassen, daß der kein Christ seyn könne, der, wie ich, die Vorrede vor lesenswürdig ausgebe; und das von einem Philosophiae Professore. Ich habe [xax' ävöQOOTOv] gesagt, wenn sie so schlimm sey, so verdiene sie refutiret zu werden, und wenn sie refutirt werden solle, müsse sie zuvor gelesen werden: also sey und bleibe sie doch lesenswürdig. Es wird sich der Sturm schon mit der Zeit legen.« 254 Ungeachtet dieser Beruhigungsformel hat Stübner seine Tätigkeit bei der Z e i t u n g eingestellt u n d Leipzig und damit die Universität 1 7 3 6 verlassen. D e s weiteren schildert er in seinem Schreiben die überall sichtbaren W i r k u n g e n der königlichen Reskripte: »Gleich nach dem Befehle zum Wiederrufe lief die Confiscation bey der hiesigen Büchercommission ein. Sie ist in allen Buchläden bereits angekündigt, und sollten auf den ferneren Verkauf eines jeden Exemplars, wie verlautet, hundert Rthlr. Strafe gesetzet seyn. Ich habe mich sowohl in Dreßden, als hier entschuldigt, daß ich nicht wüßte, was ich mit gutem Gewissen widerrufen könnte: ich hätte ja nichts Gutes von dem Buche geschrieben, als daß einige Stellen mit dem Hebräischen besser übereinkämen, als in Lutheri Ubersetzung; das wollte ich aus der Sprachkunst, den Wörterbüchern und der Accentuation gegen jedermann behaupten; und daß diese Schreibart der jetzigen Art zu reden näher komme, wovon ich aus der Natur noch lebender Sprachen den Grund angezeigt hätte, warum solches nicht einmal anders seyn könnte: überhaupt müßte Hn. Hofrath Menken, in dessen Namen ich die Zeitungen verfertiget hätte, und der meine Recensión nunmehr für seine Arbeit gleichsam angenommen habe, und auch vertreten müsse, der Widerruf aufgelegt werden, wenn einer geschehen solle.« 255 D a ß Stübner seiner Vorladung vor den sächsischen Kirchenrat in Dresden unter B e r u f u n g auf die Verantwortung des sächsischen Hofrats M e n c k e zu entziehen suchte, scheint ihm selbst offensichtlich legitim gewesen zu sein, sonst hätte er darüber sicherlich nicht so offenherzig nach Wertheim berichtet. Aus seinem Bericht läßt sich auch der G r u n d dafür erkennen: Schließlich war der H o f r a t M e n c k e a u f g r u n d seiner ö k o n o m i s c h e n Potenz u n d seines

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Stübner an Schmidt am 24. Februar 1736. In: Mosheim/Schlegel (wie Anm. 17), S. X L I X - L . Ebd., S. LII. Ebd., S.XLIX.

10. Die Leipziger

Neuen Zeitungen

vom Januar bis zum März 1 7 3 6

265

gesellschaftlichen Einflusses weitaus mächtiger und unabhängiger als der Zeitungsschreiber und Wissenschaftler Stübner und konnte der theologischen Verfolgung bis zu einem gewissen Grade trotzen oder sie doch mindestens aushalten, ohne um seine Existenz furchten zu müssen. Jedoch bekennt sich Stübner trotz der gegen ihn unternommenen obrigkeitlichen Maßnahmen zu seiner Zustimmung zum Projekt der Wertheimer Bibel: »Sie werden mir hoffentlich zutrauen, mein Herr, daß ich mich nicht nur zum Scheine auf mein Gewissen berufen habe, nachdem ich aus Dero Vertheidigung gegen Hn. D. Langen die Unschuld Ihrer Absichten habe genauer und besser, als vorher, einsehen lernen.« 256 Für die in der Stadt Leipzig trotz des Verbots, der Verschärfung der Zensur, der Vorladungen vor das Konzil der Universität, der Strafmaßnahmen und nicht zuletzt der überall in den Buchläden aufgehängten und gut sichtbaren Plakate mit dem Verbot der Wertheimischen Bibel herrschende widersätzliche Stimmung, aber auch für die infolge der repressiven Maßnahmen bedrückende Atmosphäre ist die folgende Passage recht aussagekräftig: »Hier wünschen viele redliche Männer, die es aber nicht sagen dürfen bey den jetzigen Umständen, daß doch das Werk nicht ins Stecken gerathen, sondern allenfalls in Holland fortgedrucket werden möchte. Sonderlich sind hier viele nach der Widerlegung des Hn. Langens begierig. [...] Ich halte den Verdacht, darein Ihr Buch gerathen ist, vor ungegründet; aber wenn das Buch auch so gefährlich wäre, als man es ansieht, so kan man doch aus Holland alle, und noch weit gefährlichere Bücher haben, wenn man sich damit behängen will.« 257

Dieser Bericht erscheint angesichts dessen, was in diesen Jahren in den Beyträgen Zur Critischen Historie der Deutschen Sprache diskutiert worden ist, durchaus glaubhaft.258 Die vom Dresdener Hof ausgehenden Maßnahmen vermochten offenbar administrativ erfolgreich zu sein, den in Leipzig herrschenden Zeitgeist, bereits überwiegend geprägt von der wolffianischen Philosophie, vermochten sie nicht mehr zu verändern. Dies geht auch aus der Darstellung von Detlef Döring zur Entwicklung der Leibniz-Rezeption und damit des Wolffianismus in Leipzig während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hervor.259 Einige weitere Details dieses aussagekräftigen Berichtes Stübners an Johann Lorenz Schmidt scheinen aber noch Aufmerksamkeit zu verdienen. Zum einen erwähnt Stübner, daß Joachim Lange offenbar schon vor dem erfolgten Widerruf der Leipziger Zeitungen diesen in der zweiten Auflage des Religionsspötters verkündet hätte, also bereits vorher von dem königlichen Befehl gewußt haben muß. 260 Auch heißt es: »Hr. Lange soll in Dreßden nun viel Freunde haben.«261 Das aber bedeutete vor allem, daß nicht mehr nur der ehemalige Schüler Langes und nunmehrige Dresdner Hofprediger und sächsische Kirchenrat Bernhard Walther Marperger mit Lange in Übereinstimmung stand, sondern auch der alte

256 257 258 259

260 261

Ebd., S.XLIX. Ebd., S. LII. Vgl. das 2 1 . Kapitel. Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz' und die Leipziger Aufklärung (wie Anm. 106), S.35-101. Stübner an Schmidt am 24. Februar 1736. In: Mosheim/Schlegel (wie Anm. 17), S. LI. Ebd., S. LII.

266

Wertheimer Bibel

Erzfeind der Pietisten, der orthodoxe Sächsische Kirchenrat Löscher im Angesicht der Wertheimer Bibel die alten Streitigkeiten beendet und mit dem Repräsentanten der Hallenser Pietisten Joachim Lange Frieden geschlossen hatte. 262 Man kann diese neue Übereinstimmung gegen den gemeinsamen Gegner auch aus Löschers zustimmender Rezension des Langischen Religionsspötters in seiner Zeitschrift Frühaufgelesene Früchte der theologischen Samlung

von Alten und Neuen Sachen ersehen.263 Schließlich äußert sich Stübner angesichts des Verbots auch über die publizistische Taktik der Leipziger Gelehrten Zeitungen. Er ist offenbar der Auffassung, daß die ganze Angelegenheit des sächsischen Verbots überhaupt erst wegen des scharfen Angriffs des neuen Redakteurs Steinwehr auf Joachim Langes Religionsspötter ins Rollen gekommen ist, also die Taktik der offenen Parteinahme für den Wertheimer gegen Lange zu leichtsinnig gewesen ist: »Die Recension der Vertheidigung gegen Hn. Langen kömmt alleine von ihm her: aber diese hat auch die Sache rege gemacht. Denn da man zu meiner Recension des Buchs selbst noch geschwiegen hatte, so würde man wohl auch zu ihr noch länger geschwiegen haben, wenn diese nicht von neuem dazu gekommen wäre. Doch es ist einmal geschehen, wer kans ändern?«

Aus heutigem Uberblick kann aber eingeschätzt werden, daß zwar in der Tat das Verbot in Sachsen unmittelbar durch Steinwehrs Kritik der Neuen Zeitungen am Religionsspötter veranlaßt worden ist, allerdings in Halle wie wohl auch in Dresden schon längst ernsthaft an einem Verbot gearbeitet worden war. 264 Endlich ergeht am 27. Februar 1736, nachdem alle Berichte der theologischen Fakultät und der Bücherkommission über den Vollzug des Verbots der Wertheimer Bibel am Dresdener Hof eingegangen waren, der Befehl des Königs, es dabei bewenden zu lassen und nur noch einmal zur künftigen Messe besondere Aufmerksamkeit auf die Beachtung des Verbots zu richten. 265 Dementsprechend wird vom Inspektor der Leipziger Bücherkommission nach

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264

265

»So geht eine Auseinandersetzung, die durch drei Jahrzehnte hindurch leidenschaftlich gefuhrt worden war, zu Ende, ohne daß sie zu einer wirklichen Lösung gefuhrt hätte oder innerlich abgeschlossen gewesen wäre. Dieses Versiegen der Auseinandersetzung hat seinen Grund darin, daß eine neue Bewegung auf den Plan trat, der Rationalismus, der alle Kräfte in Anspruch nahm, und dessen Einfluß die ganze evangelische Kirche und in ihr bezeichnenderweise gerade der Pietismus erlag.« (HansMartin Rotermund: Orthodoxie und Pietismus. Valentin Ernst Löschers >Thimotheus verinuns« in der Auseinandersetzung mit der Schule August Hermann Franckes. Evangel. Verlagsanstalt: Berlin 1959, S. 116.) Frühaufgelesene Früchte der Theologischen Samlung von Alten und Neuen (wie Anm. 139). 1. Beitrag auf das Jahr 1736, S. 8 - 1 0 . Vgl. die politische Vorbereitung des Religionsspötters durch Joachim Lange über den Sommer 1735. Langes Schrift lag dem sächsischen Kirchenrat bereits für sein Gutachten vor. Zudem hatte Löscher in seinen Frühaufgelesenen Früchten bereits den Autor der Wertheimer Bibel samt seiner Adresse namhaft gemacht und die Obrigkeit zum Handeln aufgerufen. Vgl. das 5. Kap. sowie Anm. 140. Friedrich August in Dresden am 27. Februar 1736 (StA Leipzig. Acta commissionis, Eine neue teutsche Übersetzung der Biebel, deren erster Theil so zu Wertheim gedrucket worden, betr. A. 1736. XLVI. 183, lOr-v).

10. Die Leipziger Neuen Zeitungen

vom Januar bis zum März 1736

267

der Ostermesse noch einmal nach Dresden berichtet, daß man leider nichts habe finden können: »Habe bey der Insinuation derer Privilegien in denen Buchläden und insonderheit bey Franz Varrentrappen von Franckfurt am Mayn wegen des Wertheimischen Bibelwercks Nachsuchung gethan, aber nichts angetroffen, gedachter Varrentrapp aber [erklärte] dabey, daß die erste Auflage abgegangen und die andere bereits unter der Presse wäre. Weil, auch [...] in dem Meßcatalogo eine defensión von besagtem Bibelwerck, so von dem Autore entworffen worden bey [...] mehrgedachtem Varrentrappen zu haben seyn solte, habe auch disfalls darnach gefraget, welcher mir aber zur Antwort gegeben: es wäre diese Schrift bereits in Frankfurth abgegangen.« 266 Diese Auskunft weist auf eine zweite Auflage der Wertheimer

Bibel

hin, wofür sich aber sonst

keine Belege finden lassen. Aber keinesfalls braucht man den negativen Bescheid Varrentrapps gegenüber dem Bücherkommissar für bare Münze zu nehmen, wie wir aus anderen Berichten über Varrentrapp wissen. 267 Damit schien der »Sturm« in Leipzig tatsächlich beinah zur Ruhe gekommen zu sein. Allerdings war die renitente »Widerrufung« in den Leipziger Zeitungen noch nicht geahndet. Es war klar, daß Joachim Lange das nicht auf sich beruhen lassen würde; er hatte bereits die Selbstrezension der zweiten Auflage seines Religionsspötters richten

dazu genutzt, die freche Erinnerung

in den Hamburgischen

Be-

der Leipziger Zeitungen öffentlich zu tadeln. 268

Die Kommunikation zwischen Leipzig, Dresden und Halle nahm wohl noch einige Zeit in Anspruch, 2 6 9 aber am 13. April 1 7 3 6 wendete sich der König erneut an die Universität Leipzig, um »sein Begehr« zu verkünden: »Euch ist erinnerlich, was wir wegen derer von dem Verfaßer derer Gelehrten Zeitungen dem zu Wertheim gedruckten Ersten Theile der sogenannten freyen Übersezung der Bibel beygelegten großen Elogiorum untern 25. Jan. dieses Jahres anbefohlen. Nachdem wir nun die in dem 14.den

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269

Der Bücher-Inspector Johann Zacharias Treffurthen an den König zur Oster-Messe 1736. Ebd., l l r . Vgl. Goldfriedrich (wie Anm. 21), S. 457. »Nachdem hingegen der Verfaßer eines gewißen Artikels in den leipzischen Zeitungen von gelehrten Sachen, nach seinem auch sonst bekanten Grunde und Sinne, ein starkes patrocinium für das wertheimische Bibelwerk wieder diese demselben entgegen gesetzte Schrift, der philosophische Religionsspötter, geführet hatte; so bekömt er hierauf eine kurtze Abfertigung. Und dienet hietbey zur Nachricht, daß er darauf von Dresden einen ernstlichen Verweis bekommen habe, mit dem Befehl, im Druk öffentlich zu widerrufen, und seine jener Ubersetzung beigelegten Lobsprüche wider zurük zu nehmen. Welches er auch gethan hat, nemlich in dem 14. Stükke vom 16. Febr. p. 128. Ob er aber mit den eingerükten Worten, einiger massen, dem hohen Befehl, auf welchen er sich selbst beziehet, werde ein Genüge gethan haben, das stellet man hoher Beurtheilung anheim.« (Hamburgische Berichte, N. 22, 16. März 1736, S. 189.) Im Dresdner Archiv findet sich in der Wertheim-Akte die zweite Auflage des Religionsspötters abgeheftet (13r-45v) sowie der Aufsatz bzw. das theologische Gutachten Löschers über die Wertheimer Bibel (o. D. u. Unterschrift), das die Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen abdrucken mußten und das nachher immer wieder eine große Rolle zur Legitimation der obrigkeitlichen Verfolgung spielen sollte (54r-57r). Vgl. Hauptstaatsarchiv Dresden. Acta, Die Übersetzung einer teutschen Bibel, welche zu Wertheim herausgekommen und was dem anhängig betr. Oberconsistorium, anno 1736. 10742, No. 7, auf den angegebenen Blättern.

268

Wertheimer Bibel Stück angeregter Zeitungen beschehene Revocation sothaner Elogiorum nicht vor hinlänglich erachten, und dahero beygehenden Aufsatz denenselben förderlichst inseriren zu lassen der Nothdurfft befinden. Dieß ist unser Begehren hiermit, ihr wollet dem Verfaßer oberwehnter Zeitungen, daß er in dem nächstherausgehenden Stück dererselben sothanen Aufsatz von Wort zu Wort ohne die geringste Änderung einrücken lassen solle, andeuten, Uns auch, wie solches erfolget, mit Beyfügung eines Abdrucks davon unterthänigst anhero berichten.« 270

U m g e h e n d , m i t e i n e m Schreiben v o m 19. April, wird der H o f r a t M e n c k e also w i e d e r u m vor das Konzil der Universität zitiert, u m i h m erneut in aller F o r m diesen königlichen Befehl zu eröffnen, d a ß er einen aus D r e s d e n eingesandten Aufsatz, die Wertheimer

Bibel

betreffend, »Wort für W o r t « in seinen Z e i t u n g e n a b z u d r u c k e n h a b e . 2 7 1 Aber a m 5. M a i m u ß M e n c k e v o m R e k t o r erneut e r m a h n t werden, » b i n n e n 3 T a g e n v o n Z e i t der I n s i n u a t i o n d e n legi. Befehl v o m 13. April die zu W e r t h e i m g e d r u c k t e n Bibel beygelegten E l o g i a u n d deren R e v o c a t i o n betreffend, ein G e n ü g e « zu leisten u n d d a r ü b e r Bericht zu g e b e n . 2 7 2 Vielleicht hat M e n c k e dieses M a l versucht, die Zeit ftir sich arbeiten zu lassen, vielleicht hat er sie a u c h fiir interne D i s k u s s i o n e n gebraucht, wie m a n d i e s e m Befehl eventuell ausweichen k ö n n t e . Jedenfalls erfolgt erst a m 19. M a i M e n c k e s Vollzugsbericht: »Indem es Eurer Magnifizentz und sämtlichen hochansehnlichen Mitgliedern des Concilii perpetui gefallen, das vor einiger Zeit aus einem Hochwürdigen KirchenRathe wegen des Wertheimischen Bibel-Werkes an hiesiger Academie allergnädigst ergangenes Rescript, nebst dem beygefiigten, in hiesige Gelehrte Zeitungen einzurückender Aufsatz, mir in Schriften güthigst zu communiciren, und dabey anzudeuten, daß obgedachter Aufsatz in einem der nächsten Stücke der Gelehrten Zeitungen von Wort zu Wort und ohne die geringste Änderung durch den Druck bekannt gemacht werden solle; Als habe dem sämtlichen Judicio ich vor die mir gütigst erteilte Nachricht hierdurch gehorsamsten Dank abstatten, und zugleich in geziemender Ergebenheit berichten sollen, daß sowohl dem Allergnädigsten Rescript, als der von [...] Magnificentz hochwürdigen und hochwohlgeb. Herren, beygefiigten ernstlichen Erinnerung ich sogleich unterthänigste Folge zu leisten, mich verbunden erkannt, und der von einem Sachverständigen KirchenRath eingesandte schriftliche Aufsatz, durch mein Veranstalten, ohne das geringste Zuthun oder Weglassen, in dem jüngst gedruckten 36ten Stücke eingerückt worden, als welches Euer Magnificentz, Hochwürdige und Hochedelgebohrene Herren, aus dem hiro beyliegenden Stücke solcher Zeitungen, unter dem Artickel von Leipzig, mit mehreren zu ersehen belieben werden. Euer Magnificentz und sämtliche hohe Herren Beysitzer werden hieraus meine Bereitwilligkeit und Gehorsam abzunehmen, sich gütigst gefallen laßen; ich aber werde fernerhin in schuldigster Devotion verharren.« 273 A n d e r s als bei allen v o r a n g e h e n d e n B e s p r e c h u n g e n in S a c h e n Wertheimer sich diesmal entschieden, diese verordnete

E r k l ä r u n g unter d e m Artikel

Leipzig

Bibel

hatte m a n

erscheinen zu

lassen. I m m e r h i n hatte m a n zuvor erklärt, m a n w ü r d e n u n gar nichts m e h r v o n der Wertheimer Angelegenheit sagen — w e n n m a n n ä m l i c h nicht sagen k o n n t e , was m a n wollte. D i e 270

271 272 273

Der König an die Universität am 13. April, erhalten 16. April 1736. UA Leipzig. Rep. I/XIX//43, 7r—v. Ebd., 6r-v. Ebd., 12r-13r. Mencke an den Rektor am 19. Mai. Ebd., I4r-15r. Die Anlage des gedruckten Aufsatzes siehe 1 6 r 2rv.

10. Die Leipziger Neuen Zeitungen

vom Januar bis zum März 1736

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vorigen Nachrichten von der Wertheimer Bibel und den sie betreffenden Streitschriften waren aber alle unter dem Artikel Wertheim erschienen. Viel Spielraum ftir widerständige Handlungen war also nicht mehr geblieben, denn an dem abzudruckenden Aufsatz selber etwas zu ändern, war per ausdrücklichem Befehl untersagt.274 In dem Aufsatz des sächsischen Kirchenrats werden in 15 Punkten die Vergehen der Wertheimer Bibel aufgeführt, wobei man sich weitgehend an die Argumente des Langeschen Religionsspötters anlehnt.275 Der Übersetzer verfälsche den hebräischen Grundtext, indem er die Bibelstellen nicht in ihrem wahrem Verstand übersetze, wie sie von Jesus Christus selbst und von den Aposteln im Neuen Testament gegeben worden seien, womit die Weissagungen angesprochen sind. Indem keine Rede von Jesus Christus sei, vernichte der Übersetzer gerade die wichtigsten Glaubenspunkte, vor allem die Dreieinigkeit und den Gnadenbund, und entziehe ihnen jeden möglichen Beweis. Er gebe sogar weniger zu als die Juden in ihren deutschen Übersetzungen aus dem Hebräischen, und gehe hinsichtlich der Tilgung der Stellen über die Dreieinigkeit Gottes weiter als der Ketzer Servet. Besonders wird auch die säkulare Darstellung des Sündenfalls und der Wiederaufrichtung des menschlichen Geschlechts durch das Protevangelium moniert, »wodurch die nöthigsten und wichtigsten Grundlehren der geoffenbahrten Religion, nicht nur verdunkelt, sondern auch verleugnet werden«.276 An die systematische Darlegung der Kritik und die damit schon verbundene Unterstellung unlauterer Absichten des Übersetzers knüpft der sächsische Kirchenrat ausdrücklich die Rechtfertigung des Anrufens der weltlichen Gewalt an und macht zugleich das bereits erfolgte Verbot der Wertheimer Bibel in Sachsen sowie den Widerruf der Leipziger Gelehrten Zeitungen durch diese selbst bekannt. Nicht zuletzt gibt er mit dem Hinweis auf die Übereinstimmung aller drei im Reich anerkannten bzw. tolerierten Religionen in der entschiedenen Ablehnung der Wertheimer Bibel das entscheidende Argument für die obrigkeitliche Verfolgung auf der Ebene des Reichs: »Dies nun, und noch viele andere grobe Irrthümer und erschreckliche Greuel, werden den Königl. Pohlnischen Churfürstl. Sächßl. Kirchen-Rath in Dreßden bewogen haben, das Wertheimische Bibel-Werck, als allen drey Religionen im Römischen Reich höchst anstößig und ärgerlich, confisciren zu lassen; auch dessen fernere Einführung und Verkauffung in hiesige Lande, bey Hundert Reichs-Thaler Straffe ernstlich zu verbieten. Eben derselbe hat auch ein gerechtes und grosses Mißfallen daran gehabt, daß in denen Leipziger Gelehrten Zeitungen, im 70ten Stück des vorigen, und im 4ten des jetzigen Jahres, besagtes Bibel-Werck so hoch erhoben, so nachdrücklich angepriesen, und so eifrig vertheidiget worden, und man dabey die offenbahr Gottlose Vorrede für überaus lesenswürdig, die groben Irrthümer des Dolmetschers aber, für die reinsten und grossesten Wahrheiten, welche man für die ungeheuersten Meynungen ansehe, ausgegeben. Da auch die hierauf in dem l4ten Stück p. 128. eingedruckte kaltsinnige Erinnerung hochgedachten Kirchen-Rath gar keine Gnüge gethan, so hat derselbe solches hiermit öffentlich anzuzeigen, und dadurch jedermann für der Wertheimischen Seelen gefährlichen Schrifft-Verfälschung, und allen dahin einschlagenden irrigen Lehr-Sätzen ernstlich und eifrig zu warnen, gemessenst anbefohlen.«277 274 275 276 277

Königl. Rescript vom 13. April 1736. Ebd., 7r-v. Vgl. Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen. Leipzig May 1736. N. XXXVI, S. 3 2 5 - 3 2 8 . Ebd., S. 327. Als Protevangelium gilt die erste Weissagung von Jesus Christus in Gen. 3,15. Ebd., 328.

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Wertheimer Bibel

Dieses sächsische Verbot der Wertheimer Bibel bedeutete eine große Niederlage der Leipziger Wolffianer und hatte eine deutliche Verschärfung der theologischen Zensur in Sachsen und insbesondere auch in der Bücher- und Universitäts-Stadt Leipzig zur Folge, was auch die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft und der bekannte Wolffianer Gottsched mit seinen Anhängern in den nächsten beiden Jahren erfahren mußten. Ungeachtet dessen hatte diese Entwicklung auf die wolffianisch-aufgeklärten Positionen und den Widerspruchsgeist der

Leipziger Neuen Zeitungen

von gelehrten

Sachen offenbar keinen nachhaltigen Einfluß, was

nicht nur Auskunft über die Haltung des Redakteurs, sondern immer auch über die der Leser und Käufer gibt. Wenngleich dem Redakteur Steinwehr hinsichtlich der Berichterstattung über die öffentliche Debatte um die Wertheimer Bibel nunmehr die Hände gebunden waren, so machte er sich in der Folge, insbesondere seit dem Frühsommer 1736, um so mehr ein Vergnügen daraus, über die eintretenden Niederlagen von Joachim Lange gegen Christian WolfF mit großer Ausführlichkeit und Vollständigkeit zu berichten, wovon noch zu sprechen sein wird. 278

II. Die zweite Phase der öffentlichen Debatte zwischen dem sächsischen Verbot im Januar 1736 und dem preußischen Verbot im Sommer 1736 11. Das sächsische Verbot in seiner Auswirkung auf die öffentliche Debatte: Die Rezension der Göttlichen Schriften in den deutschen Acta eruditorum und Schmidts Zurückweisung Jedoch hatte das sächsische Verbot natürlich unmittelbare Auswirkungen auf die öffentliche Debatte. Ausgerechnet in den in Leipzig erscheinenden deutschen Acta eruditorum, herausgegeben von dem Theologen Christian Gottlieb Jöcher, der der erste erklärte Wolffianer in Leipzig überhaupt war, 279 erschien noch im Januar 1736 eine Besprechung der Göttlichen Schriften,280 deren Lektüre einen höchst widersprüchlichen Eindruck hinterläßt. Es scheint fast so, als ob sie nicht bloß von einem Autor stamme, sondern die kritischen Anmerkungen im nachhinein von einem zweiten Autor ergänzt worden wären, die in einem ganz anderen, und zwar weit distanzierteren Charakter abgefaßt sind. Zwar enthält auch der Haupttext der 278 Yg[ (jjj Kappel 18. Die öffentliche Nebendebatte der Langeschen Fraktion gegen WolfF: Die Wertheimer Bibel eine Frucht der Wölfischen Philosophie? 279

280

»Der erste Vertreter des WolfFianismus an der Universität ist, so besagen es jedenfalls mehrere zeitgenössische Mitteilungen, Christian Gottlieb Jöcher gewesen, ein Schüler J. B. Menckes und Mitarbeiter an der Redaktion der >Acta Eruditorum«, zu deren eifrigsten Rezensenten WolfF gehört.« Vgl. Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz' und die Leipziger Aufklärung (wie Anm. 106), S. 59. Döring fügt hinzu, daß Jöcher zunächst Schüler Rüdigers und A. F. Müllers gewesen war. Erzählung des ersten Theils der göttl. Schriften in den deutschen Actis eruditorum, 200 Theil. Leipzig 1736, S. 5 3 3 - 5 6 5 . Zitiert nach Samlung (wie Anm. 19), S. 187-206.

11. Das sächsische Verbot in seiner Auswirkung

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Besprechung in seiner Einleitung und in der Conclusio entschiedene Kritik der Übersetzung und der Ubersetzungsprinzipien, vor allem wird dem Übersetzer eine hinreichende Ehrfurcht vor dem Wort Gottes abgesprochen, jedoch besteht sie zum größten Teil aus einem ausführlichen, recht sachlichen und auf Information bedachten Referat der Vorrede des Wertheimers. Dagegen werden in den Anmerkungen nicht nur Einwände gegen die Übersetzung und ihre Prinzipien gemacht, sondern auch die Nähe des Übersetzers zur wolffianischen mathematischen Lehrart aufgewiesen und der Anspruch der Vernunft in Religionssachen grundsätzlich und energisch zurückgewiesen. 281 Gleich eingangs wird in der Besprechung die gewissermaßen moralische und damit den Elenchus tangierende Frage aufgeworfen, ob der Autor der Übersetzung — gegen seine ausdrückliche Versicherung — nicht die schuldige Ehrfurcht gegen Gottes Wort vermissen lasse, indem er eigenmächtig so viele zusätzliche Worte und Zeilen einfüge, Umstände erdichte bzw. weglasse, die Ordnung verändere etc. 282 Umständlich wird dann argumentiert, daß es schließlich auch keinem Bedienten erlaubt sei, bei der Veröffentlichung obrigkeitlicher Gesetze den Text der Gesetze zu ändern - nur um ihrer besseren Verständlichkeit willen. Der Übersetzer aber verdrehe die Worte der Grundsprache allein wegen der Erfordernisse des vernünftigen Vortrages und der Regeln der Wohlredenheit. Die Anmerkungen hält der Rezensent größtenteils für willkürliche Erklärungen, und in der Wertheimischen Forderung nach deutlichen Begriffen und nach der Einsicht ihres Zusammenhangs wird sogleich die mathematische Methode erkannt, die für unangebracht gehalten wird, wenn es sich darum handelt, »die Gedancken eines andern, der in einer todten Sprache geredet, zu eröffnen«. 283 Bevor der Rezensent nach dieser scharfen Ablehnung zu einem unerwartet sachlichen und ausführlichen Referat der Vorrede des Wertheimers übergeht, gesteht er dem Leser noch »gantz ohne Aberglauben, Vor-Urtheil für unsere Kirche, oder andere vorgefaßte Meinung, mit allen Verständigen eine sonderbare Hochachtung für des seel. Hrn. Lutheri Übersetzung« zu tragen, 284 die anders als z. B. Kanzleitexte aus derselben Zeit immer noch in einer schönen und geschickten Schreibart zu lesen sei. Immerhin wird dem Übersetzer - anders als bei Reimarus — trotz seiner Beschränkung der Geschichte der Hl. Schrift auf ihren natürlichen Gang eingeräumt, daß er damit noch nicht die »unmittelbare Vorsorge« Gottes ausschließe: »Zugeschweigen, daß man aus seinem gantzen Vortrag abnehmen kan, daß er die natürlich scheinende Einrichtung aller dieser Umstände [ . . . ] für ein besonderes Wunderwerk Gottes erkenne.« 285 In einer weiteren Anmerkung wird allerdings unter positiver Berufung auf Pierre Bayle (!) ausdrücklich gegen

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Ebd., S. 197. »Diese Beantwortung dürfte vermuthlich dem Hrn. Verfasser der gegenwärtigen so genannten Ubersetzung der H. Schrift sehr beschwerlich fallen. W i r werden nachgehends Gelegenheit finden, in einer besondern Anmerckung Erinnerung zu thun, ob derselbe, gegenwärtige Arbeit eine Ubersetzung zu nennen, berechtiget sey.« (Ebd., S. 188.) Ebd., S. 189. Ebd. Ebd., S. 191.

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Wertheimer Bibel

den Übersetzer gefordert, daß die Vernunft in Glaubenssachen zu schweigen habe, da man eben durch kleine Zugeständnisse in der Konsequenz der Vernunft zu viel einräumen müsse, und wie die Feinde der Offenbarung nichts weiter von dem göttlichen Wort annehmen werden, was sich nicht mit der Vernunft in Einklang bringen lasse. Schließlich wird — durchaus zu Recht - die in der Ubersetzung geschehene Verwandlung der Befehle Gottes zur Schöpfung der Welt in einen natürlichen Prozeß der Entstehung der Welt - wenn auch nach der göttlichen Absicht - moniert. Entsprechend wird auch der Titel einer freien Übersetzung für unzutreffend erklärt, weil der Übersetzer sich zu viele derartige Freiheiten genommen habe. Nicht ohne Rücksicht auf die Umstände des Übersetzers heißt es dazu: »es scheinet, daß er vielem Widerspruche würde vorgebeuget haben, wenn er lieber bey jener Benennung [Umschreibung], als bei dieser zu verbleiben, vor gut befunden«.286 Dies wäre schon deshalb schlüssiger gewesen, als er doch wohl seine Arbeit ohnehin mehr für Gelehrte geschrieben habe, die keine Übersetzung, wohl aber die Diskussion und Interpretation brauchen könnten, während »ohnstreitig vor den gemeinen Mann dieienige Übersetzung die beste [sei], welche am allerwenigsten von der Grundsprache abgehet«. Der einfältige und gemeine Mann lese die Bibel nicht, um ihre Übereinstimmung mit der Vernunft zu prüfen. Er liest sie und nimmt, was darinnen steht, an, »nicht, weil es der Vernunft gemäß ist, sondern weil es Gott gesaget«. Entsprechend hält der Rezensent es auch nicht für ausgemacht, daß eine vernunftgemäße Lehrart wie die mathematische auch die beste für den gemeinen Mann sei, der sich durch einen vernunftgemäßen, an den Regeln der Wohlredenheit orientierten Vortrag eines geschickten Weltweisen weit weniger überzeugen lasse als durch einen Prediger, der in der Vernunftlehre ganz ungeübt sei und sich vielmehr an der undeutlichen Erkenntnis des gemeinen Mannes orientiere. Nicht zuletzt sei eben darum die Hl. Schrift selber in ihrer Weise für den gemeinen Mann und nicht nach der besonderen Fassungskraft der Gelehrten geschrieben. Sogar wird an die Argumente Mosheims erinnert, der wegen der Blindheit und Verderbtheit des natürlichen Menschen sogar einige »unschuldige Kunstgriffe« im Sinne einer Akkomodation des göttlichen Wortes an die Ungläubigen und Ungebildeten für zulässig erklärt habe.287 Insbesondere wird gegen das Prinzip des Übersetzers, wonach die ersten Verfasser für sich verstanden werden müßten, der Einwand gebracht, »daß die Verfasser aller dieser Schrifften den Geist der Weissagung gehabt [hätten]; in welchem Falle von ihnen gantz anders, als von weltlichen Schriften zu urtheilen ist«.288 Dieser Einwand ist durchaus berechtigt, da ja der Verfasser der Wertheimer Bibel die Göttlichkeit der Hl. Schrift ganz im Sinne der geltenden Lehre in einem besonderen Geist der Weissagung und in einer besonderen göttlichen Inspiration sah. Dagegen begriff Spinoza, der in seinem Tractatus Theologico-politicus auch bereits das Prinzip, die ersten Verfasser der Hl. Schrift für sich zu verstehen, aufgestellt und durch-

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Ebd., S. 198. Es wird sogar auf die kurze Zeit zuvor erfolgte Besprechung der Mosheimschen Arbeit in den deutschen Acta eruditorum verwiesen. Ebd., S. 201. Ebd., S. 204.

11. Das sächsische Verbot in seiner Auswirkung

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gefuhrt hatte, 289 die Göttlichkeit der Hl. Schrift nicht mehr in einzelnen Textteilen oder Formulierungen oder gar in ihren materialisierten Formen, sondern nur noch in der zentralen Botschaft des Gehorsams gegen Gott und in der Liebe gegen den Nächsten. 290 Alle besonderen Formen, in denen dieser Gehorsam bzw. die Nächstenliebe gelehrt oder gefordert werde, stellten für Spinoza nur Akkomodationen an die Auffassungsgabe der jeweiligen Rezipienten der göttlichen Botschaft dar. Auf diese Weise kann er den Text der Schrift einer grundlegenden historischen Kritik unterziehen, Fälschungen oder verderbte Stellen sowie Widersprüchlichkeiten ausmachen, ohne damit je ihren göttlichen Charakter in Frage zu

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»Nam nihil est, quod speramus, ex mutua orationum collatione (quam unicam esse viam ostendimus ad verum sensum ex multis, quos unaquaeque oratio ex usu linguae admitiere potest, eruendum) hoc posse absolute fieri; cum quia haec orationum collatio non nisi casu orationem aliquam ¡Ilustrare potest, quandoquidem nullus Propheta eo fine scripsit, ut verba alterius aut sua ipsa ex professo explicaret; tum etiam quia mentem unius Prophetae, Apostoli, etc. ex mente alterius concludere non possumus, nisi in rebus usum vitae spectantibus, ut jam evidenter ostendimus; at non, cum de rebus speculativis loquuntur, sive cum miracula aut historias narrant.« (Spinoza: Tractatus theologico-politicus. Cap. 7 (wie Anm. 172), S. 47 f. - »Wir dürfen nicht hoffen, durch gegenseitige Vergleichung der Reden (der einzige Weg, wie ich gezeigt habe, um den wahren Sinn aus den vielen nach dem Sprachgebrauch möglichen zu ermitteln) dies unbedingt erreichen zu können. Denn eine derartige Vergleichung der Reden kann nur zufällig einmal eine Rede erläutern, da doch kein Prophet beim Schreiben die Absicht hatte, ausgesprochenermaßen die Worte eines anderen oder seine eignen zu erklären; vor allem aber kann man den Sinn eines Propheten, Apostels usw. aus dem Sinn eines anderen nicht erschließen, es sei denn in Dingen, welche die Lebensführung angehen, wie ich schon klar gezeigt habe, aber nicht, wenn es sich um spekulative Dinge handelt oder um Wundererzählungen und Geschichten.« (B. Spinoza: Theologisch-politischer Traktat. Hg. Günter Gawlick. Meiner: Hamburg 1976, S. 127.) Vgl. auch das ganze Caput 7, in dem Spinoza seine Methode der Schriftauslegung behandelt. - Peter Stemmer verweist auf die Übereinstimmung von Schmidt und später auch Reimarus mit Spinoza in dieser Auffassung. Vgl. Stemmer: Weissagung und Kritik (wie Anm. 2), S. 9 sowie S. 122 f.

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Spinoza erklärt in seinem Tractatus theologico-politicus, »qua ratione Scriptura, et quaecunque res muta, sacra et divina dici debeat« (Spinoza: Tractatus theologico-politicus (wie Anm. 172). Cap. 12, S.95) - »in welchem Sinne die Schrift und überhaupt ein totes Ding heilig und göttlich genannt werden kann« (B. Spinoza: Theologisch-politischer Traktat (wie Anm. 289), S. 197). Er ist der Auffassung, daß das Wort Gottes »non contineatur in certo numero librorum: et denique, Scripturam, quatenus ea docet, quae ad obedientiam et salutem necessaria sunt, non potuisse corrumpi« (»nicht in einer bestimmten Anzahl von Büchern besteht, und endlich, daß die Schrift, so weit sie das zum Gehorsam und zum Heile Nötige lehrt, nicht verfälscht werden kann«) (ebd.). - Vgl. Ursula Goldenbaum: Der historische Ansatz des Theologisch-politischen Traktats Baruch Spinozas als ein Ausweg aus den religionsphilosophischen Debatten des 17. Jahrhunderts. In: Religionsphilosophie. Europäische Denker zwischen philosophischer Theologie und Religionskritik. Hg. Thomas Brose. Echter Verlag: Würzburg 1998, S. 8 3 - 1 1 2 (Religion in der Moderne, 4). - Vgl. zur Auseinandersetzung der lutherischen Theologie mit Spinoza bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts Walter Spam: Formalis Atheus? Die Krise der protestantischen Theologie, gespiegelt in ihrer Auseinandersetzung mit Spinoza. In: Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung. Hg. Karlfried Gründer u. Wilhelm SchmidtBiggemann (Wolffenbütteler Studien zur deutschen Aufklärung, 12). Lambert Schneider: Heidelberg 1984, S. 2 7 - 6 3 sowie Rüdiger Otto: Studien zur Spinozarezeption in Deutschland im 18. Jahrhundert. Lang: Frankfurt a. M., Berlin, Bern, New York, Wien 1994, 1. Teil.

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stellen, der durch die überall klar zutage liegende Botschaft der Nächstenliebe gewahrt bleibt. Dagegen muß das Festhalten an der Auffassung von der göttlichen Inspiration aller Teile der Hl. Schrift sowie an der übergeordneten Bedeutung der christlichen Dogmatik über die historische textkritische Untersuchung notwendig in Widersprüche fuhren, wenn man zugleich den Text der Hl. Schrift den Prinzipien einer profanen Hermeneutik unterwerfen will. Abschließend bringt der Rezensent der deutschen Acta eruditorum ein langes Zitat aus dem in der Tat frappierenden Anfang der Ubersetzung, 1 Mose l, 2 9 1 um daran einzelne Anmerkungen zu knüpfen, betreffend die Interpretation der göttlichen Schöpfung von Erde und Wasser, Tag und Nacht, Pflanzen und Tieren in einer dem aktuellen Stand der Naturwissenschaft entsprechenden Weise sowie die Gestaltung der von der Lutherischen und anderen Ubersetzungen stark abweichenden Eigennamen. Die Rezension schließt mit dem dringenden Wunsche nach einer Unterbrechung der Arbeit, die »denen Gottes-Gelehrten wenig Verlust, denen Liebhabern der weltlichen Gelehrsamkeit keine Reue, und dem gemeinen Manne keinen Schaden verursachen wird«.292 Der Rezensent wünscht dem Autor aber Gesundheit und Kraft zu anderer Arbeit - was angesichts des widersprüchlichen Charakters der Rezension, die ohne die aggressive Polemik der Langeschen Besprechung und ohne explizit denunziatorische Hinweise auszukommen vermag, wohl nicht einmal ironisch zu verstehen war. Wenngleich sich die Rezension wegen ihrer verhältnismäßig sachlich vorgetragenen Kritik klar von der aggressiven Polemik anderer Kritiker unterscheidet, ist sie - in deutlichem Unterschied zur bisherigen Leipziger Unterstützung in den Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen — in ihrer Ablehnung unzweideutig. Diese ablehnende Rezension der Wertheimer Bibel, insbesondere die Unterstellung mangelnder Ehrfurcht vor dem Wort Gottes, welche einen Verstoß des Wertheimers gegen den Elenchus anzeigte, mußte Schmidt und seine Wertheimer Mitstreiter um so mehr überraschen, als man gerade aus Leipzig, und natürlich besonders aus dem Umkreis der Wolffianer bzw. Gottschedianer Unterstützung für das Unternehmen erwartete und bis dahin ja auch erhalten hatte. Wie Schmidt und Höflein allein durch den Brief Stübners wußten, gab es viel Zustimmung zu dem Wertheimer Projekt in Leipzig. Die neue Rezension in den deutschen Acta eruditorum atmete jedoch einen anderen Geist und stellte zudem die ehrlichen Intentionen des Autors in Frage, wenn sie unterstellte, er würde die Vernunft und die mathematische Lehrart über die Offenbarung stellen, vor allem aber, er würde der Hl. Schrift durch seine Übersetzung nicht genügend Ehrfurcht entgegenbringen. Entsprechend war Johann Lorenz Schmidt über diese Rezension einigermaßen schockiert und empört, weit mehr als über Langes Religionsspötter.293 Dies mag sich vor allem daraus erklären, daß er zum Zeitpunkt, da er die Rezension erhielt, noch keine Ahnung von dem

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D . i. § 1 der Übersetzung. Erzählung des ersten Theils der göttl. Schriften in den deutschen Actis eruditorum, 2 0 0 Theil. Leipzig 1736. Zitiert nach: Samlung (wieAnm. 19), S . 2 0 6 .

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Vgl. Spalding: Seize the Book (wie Anm. 12), S. 107f.

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11. Das sächsische Verbot in seiner Auswirkung

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sich in Sachsen zusammenbrauenden Unheil und dem schließlich erfolgenden Verbot der Wertheimer Bibel hatte. Er antwortete jedoch auf diese Besprechung sogleich mit seiner Vertheidigung der freyen Ubersetzung von den göttlichen Schrifien gegen die widrige Beurtheilung welche lezthin zu Leipzig in den deutschen Actis Eruditorum von derselben gegeben worden, und zwar immer noch sehr selbstbewußt und couragiert, sogar mit einiger Arroganz gegenüber dem neuen Leipziger Kleinmut.294 Gleich eingangs verbittet er sich die ehrenrührige Unterstellung mangelnder Ehrfurcht gegenüber Gottes Wort, indem er richtig darauf verweist, daß ja wohl nicht Luthers Ubersetzung, sondern immer noch der hebräische Text das Originaldokument sei. Im übrigen versichert er, in seiner Übersetzung jederzeit eine unbedingte Hochachtung für Gott beobachtet zu haben. Das Argument, er hätte weder für die Laien noch für die Gelehrten in dieser Weise übersetzen müssen, da für die gemeinen Leute bloß eine wortgenaue Übersetzung nötig sei und für die Gelehrten gar keine, pariert Schmidt mit einer ganz aufklärerischen, sogar volksaufklärerischen Zurechtweisung über die Ansprüche des gemeinen Mannes und mit einer rhetorischen Gegenfrage: »Glaubet er denn, es gehöre weniger Kunst darzu, gemeine Leute zu erbauen, als Gelehrte?«295 Und indem er dann eine Reihe schwerverständlicher, weil veralteter Ausdrücke der lutherischen Übersetzung anführt, setzt er noch nach: »Man siehet, daß der Herr Verfasser unter den Gelehrten die Gottesgelehrten, und unter dem gemeinen Volk die Ungeistlichen verstehet. [...] Weiß denn der Herr Verfasser nicht, daß eine genaue Ubersetzung weit schwerer zu verstehen ist, als eine freye? Frage er doch einmal die gemeinen Leute an seinem Orte, was sie sich für einen Begriff machen, wenn Luther saget: die Töchter treten einher im Regiment, 1 Mosch. 49:22? da die Schützen schrien zwischen den Schöpfern, Rieht. 5:11? und anderstwo mehr.« 296

Schließlich verweist er auf seine eigene Erfahrung im Umgang gemeiner Leute mit seiner Übersetzung, die er also wohl in Wertheim oder in Hasloch, einem kleinen Ort der Grafschaft, in dessen Kirche Schmidt mitunter predigen durfte, bereits ausprobiert haben dürfte: »Ich weiß es aus der Erfahrung, daß Leute Luthers Übersetzung, das ist die Bibel, indem sie sonst keine andere lesen konten, haben liegen lassen, weil sie solche nicht verstehen koenten; da sie hingegen die Meinige itzo mit vielem Vergnügen lesen.«297 Schmidt spricht schließlich den Verdacht offen aus (der vielleicht auch seine etwas gereizte und arrogante Schreibart erklärt), »daß gewissen Leuten daran gelegen ist, daß die Ungeistlichen in der Unwissenheit erhalten werden: und diese haben wahrhaftig Ursache,

294 Vertheidigung der freyen Übersetzung von den göttlichen Schriften gegen die widrige Beurtheilung welche lezthin zu Leipzig in den deutschen actis eruditorum (200 Theil, 533 Seite u. f.) von derselben gegeben worden. Wertheim, gedruckt durch Johann Georg Nehr, Hof- und Kanzley-Buchdrucker, 1736. - Die Vorrede ist datiert den 8. 2 . 1 7 3 6 . Diese Antwort umfaßt nur 8 Seiten. Die Schrift ist auch enthalten in: Samlung (wie Anm. 19), S. 2 0 7 - 2 1 7 . »5 Ebd., S. 5 (Samlung, S. 212). 296 Ebd., S. 4 f. (Samlung, S. 2 1 1 ) . 297 Ebd., S. 5 (Samlung, S. 2 1 1 f.).

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hierauf aufmerksam zu seyn«. 2 9 8 Die mathematische Lehrart wird von Schmidt — ganz in Übereinstimmung mit Christian WolfF - gerechtfertigt als eine nicht vom Gegenstand abhängige, sondern universale Methode des Überzeugens aus Gründen, 2 9 9 und er erklärt zugleich die Vernunft zum einzigen Mittel, die Wahrheit der Schrift zu verstehen: »Ich weiß von keinem andern Mittel, die Wahrheit zu erkennen, als unsern Verstand, und natürlicher Weise von keinen andern Regeln, denselben zu gebrauchen, als welche aus der Natur der Dinge fließen. [...] Wie will es denn der Verfasser machen, wenn er die göttlichen Schriften will verstehen lernen? Will er eine unmittelbare Erleuchtung darzu erwarten; so muß er ein Enthusiast werden: oder, will er auf menschliches Ansehen bauen: so muß er den ärgsten Zweifler abgeben.« 300 Ungeachtet dessen würde er keineswegs behaupten, daß man alles verstehen können müsse, um zu glauben, vielmehr hätte er in seiner Vorrede wie auch in der Vestgefiigten

Wahrheit

ausdrücklich betont, »daß man verbunden sey, auch solche Wahrheiten anzunehmen, die man weder einsehen noch erweisen könne«. 3 0 1 Schließlich verteidigt er auch noch sein Prinzip, wonach die ersten Verfasser für sich verstanden werden müßten, weil ihre Zuhörer sie sonst nicht hätten verstehen können. Er räumt gern ein, daß bestimmte Stellen den Charakter von Weissagungen haben könnten, falls ihnen durch eine mündliche und nicht auf uns gekommene Unterweisung zusätzliche Informationen beigegeben worden seien; dies aber könne keine Änderung seiner Übersetzung bewirken, die sich nur an den schriftlich überlieferten Text selbst zu halten habe und noch gar keine theologische Meinung vertrete. 3 0 2

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Ebd., S. 5 (Samlung, S. 212). Auf der folgenden Seite heißt es noch: »Soll man sich nicht bemühen, die Leute, so viel immer möglich, alle scharfsinnig zu machen? Es scheinet, er möchte die Ungeistlichen gerne alle in der Unwissenheit lassen.« (Ebd., S. 6 (Samlung, S. 213).) Vgl. den § 139: Von der Identität von philosophischer und mathematischer Methode. In: Christian WolfF: Discursus praeliminaris/Einleitende Abhandlung (wie Anm. 42), S. 160, 161 f., 163. Vertheidigung der freyen Übersetzung, S. 3 (Samlung (wie Anm. 19), S. 210). - Auch Spinoza würde zwar den hier zitierten Zeilen zustimmen, er geht aber von anderen Voraussetzungen aus. Für ihn ist allein die Botschaft der Hl. Schrift, gehorsam gegenüber Gott zu sein und das Gebot der Nächstenliebe zu erfüllen, von göttlichem bzw. heiligen Charakter. Daher sind weder die einzelnen Prophetien, Wundererzählungen und anderen Geschichten noch die Propheten oder Apostel als solche göttlicher Natur oder göttlicher Herkunft oder Inspiration, sondern nur insofern sie die Botschaft verkünden. Von daher kann Spinoza die Autoren der Hl. Schrift als gewöhnliche Menschen ansehen und ihre Texte einer profanen Hermeneutik unterwerfen. Vgl. Anm. 289. - Dagegen halten Leibniz und auch WolfF trotz aller Hochschätzung der Vernunft auch an einer anderen als der natürlichen Erkenntnis fest, die uns durch die Offenbarung als übernatürliche Wahrheit gegeben wurde. Indem Schmidt einerseits zu den methodischen Prinzipien Spinozas im Sinne einer profanen Hermeneutik fortschreitet, aber andererseits an der Göttlichkeit der Schrift im traditionellen Sinne, also an der göttlichen Inspiration des ganzen Textes festhält, muß er sich notwendig in Widersprüche verwickeln. - Zu Wolfis Positionen zur Offenbarungstheologie vgl. auch Mario Casula: Die Theologia naturalis von Christian WolfF: Vernunft und Offenbarung. In: Christian Wolff 1 6 7 9 - 1 7 5 4 (wie Anm. 238), S. 1 2 9 - 1 4 7 . Ebd., S. 3 (Samlung (wie Anm. 19), S. 210). »Allein, diese mündliche Erklärung können wir nicht brauchen, weil wir sie nicht haben.« (Ebd., S. 6 (Samlung, S.214).)

11. Das sächsische Verbot in seiner Auswirkung

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Im letzten Absatz der kurzen Verteidigungsschrift macht der Wertheimer noch einmal die im Rahmen des Elenchus wichtige Unterstellung 1. mangelnder Ehrfurcht gegen Gottes Wort zum Thema und hält 2. ausdrücklich fest, daß der Rezensent ihn verspotte, beides als Verstöße gegen den evangelischen Elenchus anprangernd. Indem er dann seinem Erstaunen über eine derartige Buchbesprechung in der für ihre sachlichen und gründlichen Urteile geachteten Zeitschrift Ausdruck verleiht, vermutet er die Ursache eines solchen offenbaren Skandals in einem von außen ausgeübten politischen Druck: »Vielleicht haben sie diesmal ihr Urtheil aus Furcht mehr nach dem Willen derer, welchen mein Buch aus gewissen Ursachen nicht anstehet, als nach eigener Überzeugung, einrichten müssen?« 303 Er will solche Vorgehensweise den Herausgebern deshalb nicht übelnehmen, ruft aber dennoch alle Verständigen auf, auf der Hut zu sein, »damit nicht gewisse Leute, welchen das Licht wehe thut, und welche, um ihres eigenen Vortheils willen, die Unwissenheit gerne unterhalten wollen, ihre Absichten, zu unwiederbringlichen Schaden des menschlichen Geschlechtes, erreichen«. 304 Ein klarer Appell, sich die bereits errungene Öffentlichkeit nicht durch Zurückweichen vor der Zensur wieder nehmen zu lassen. Es ist nicht überraschend, daß seine couragierte Replik niemals in den deutschen Acta eruditorum erschien, denen er sie zusandte, sondern allein in Wertheim bei Nehr separat gedruckt wurde und in der später von ihm herausgegebenen Samlung. Aus dem gedruckten Zeugnis der deutschen Acta eruditorum und ihrer Weigerung eines Abdrucks des Wertheimischen Widerspruchs aber abzulesen, daß die Herausgeber der Acta sich mit ihrer Rezension identifizierten und etwa von nun an gegen den Wertheimer stellten, wäre eine Fehleinschätzung. Wir haben zwei Stellungnahmen aus Leipzig aus dieser Zeit zur Verfugung, aus denen in anschaulicher Weise ersichtlich wird, wie eine solche Rezension unter den Bedingungen der sächsischen Zensur jener Tage zustande kommen konnte, woraus auch ihr auffallend widersprüchlicher Charakter zu verstehen ist. Der Wertheimer lag mit seiner Einschätzung durchaus richtig, daß allein der äußere Druck die Herausgeber der Zeitschrift zum Abdruck dieser Rezension gebracht hat. Stübner, der vormalige Rezensent der Leipziger Gelehrten Zeitungen, scheint sogar weniger über die deutschen Acta eruditorum als über Schmidts zu scharf vorgetragene Anmerkungen an die Herausgeber irritiert zu sein - über dessen offenbare politische Naivität angesichts der einsetzenden obrigkeitlichen Verfolgung. In seinem schon zitierten langen Brief vom 24. Februar 1736 berichtet er den Wertheimern über die wahren Gesinnungen des Herausgebers der deutschen Acta eruditorum Christian Gottlieb Jöcher, den er bei einem größeren Silvesteressen in Wittenberg gesprochen hatte. Bei dieser Gelegenheit hätte sich der Leipziger Professor offen kritisch gegen die Haltung des sächsischen Kirchenrats Löscher gegenüber der Wolffschen Philosophie geäußert und auch berichtet, »daß man ihm deßwegen zu Leibe gewollt, daß er meine Nachricht von der wertheimischen Bibel damals censirt hätte; er habe geantwortet, er müsse sich bey neuen Büchern, die er noch nicht gelesen habe, auch nicht sogleich durchlesen könne, auf den

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Ebd., S. 8 (Samlung, S. 217). Ebd.

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Wertheimer Bibel

Recensenten verlassen«. Dann aber folgt die hier unmittelbar relevante Aussage: »er werde stark angetrieben, das Buch auch in seinen deutschen Actis zu recensiren: er wisse selbst noch nicht, wie er es machen werde, dass er nicht Verstösse«. 305 Nicht nur Mencke, Steinwehr und Stübner, die beiden letzteren Angehörige der Universität, mußten sich wegen der Leipziger Gelehrten Zeitungen vor dem Konzil verantworten, sondern auch der Professor Jöcher hatte sich offenbar zu rechtfertigen. Eine solche Vorladung lief in der Form eines Verhörs ab, das gut einen ganzen Tag dauern konnte, wobei immer wieder dieselben Fragen gestellt wurden, keine Erklärung für ausreichend befunden wurde und für den Fall wiederholten Verstoßes die Streichung der Einkünfte angedroht wurde. 3 0 6 Daran wird deutlich, daß den Leipziger Wolffianern in jenen Tagen der Wind scharf ins Gesicht blies, während Schmidt in Wertheim trotz der vorhandenen örtlichen Widerstände nach wie vor in einer geschützten Enklave lebte. Entsprechend erklärt Stübner dem ihm etwas weltfremd erscheinenden Schmidt: »Der Hr. Jöcher, dessen Umstände Sie zu wissen verlangen, hätte, seinen übrigen Eigenschaften nach, keine so harte Antwort verdienet. Ich furchte, daß er dadurch gar von der guten Seite abgewendet werden dürfte. Er ist Doctor Theologiae und Professor Historiarum allhier, hat sonst mit grossem Applausu über T h ü m m i g s Institutiones Collegia philosophica gelesen, und mag ganz anders denken, als er geschrieben hat. Ist ein Theologus der Vernunft in der Welt gut, so ist er es gewiß. Aber man kan nicht immer, wie man will.« 3 0 7

Wenn Jöcher gegenüber Stübner Silvester 1735/36 davon gesprochen hatte, er müsse die Wertheimer Bibel in seiner Zeitschrift rezensieren, wisse aber noch nicht, wie er es ohne »zu verstoßen« erreichen könnte, so sprach er damit ein typisches Problem eines Autors unter den Bedingungen eingeschränkter Pressefreiheit an. Es wäre natürlich kein Problem für ihn gewesen, eine der Obrigkeit angesichts des bereits erfolgten Verbots angenehme, scharf abweisende und denunzierende Buchbesprechung abzudrucken; ein Autor hätte sich sogleich, zumindest auf Empfehlung von Lange in Halle, gefunden. Jöcher gehörte aber in Leipzig zu den überzeugten Wolffianern und leistete mit seiner Zeitschrift einen großen Beitrag zur Verbreitung der vernünftigen Lehr- und Denkart im Sinne Wolffs. Er genoß in dieser Funktion und wegen seiner Haltung Anerkennung. Wenn er eine solche denunziatorische Rezension abgedruckt hätte, so hätte er nicht nur seinem eigenen Anliegen widersprochen, sondern sich auch bei den gleichgesinnten Freunden und Anhängern Wolffs blamiert. Andererseits kam nach dem sächsischen Verbot eine offen zustimmende Rezension in der Art der Stübnerschen und von Steinwehrschen Besprechungen nicht mehr in Frage. Jöcher hatte also notwendig nach einem Mittelweg zu suchen, was in einer so polarisierten

In: Mosheim/Schlegel (wie Anm. 17), S. L. 306 Vgl. das erhaltene Protokoll des Verhörs Gottscheds in Dresden 1737. In: Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz' und die Leipziger Aufklärung (wie A n m . 106), S. 1 4 1 - 1 5 2 . - D o r t findet sich auch Gottscheds eigener Bericht über dieses Verhör abgedruckt, was als zeitgenössische Interpretation - wenn wir ihn gegen das Protokoll halten - die Einschätzung erleichtern kann. Vgl. ebd., S. 153.

305

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Stübner an Schmidt am 24. Februar 1736. In: Mosheim/Schlegel (wie A n m . 17), S. L.

12. D i e Wertheimer politische Reaktion

279

Situation in der Tat keine einfache Aufgabe gewesen sein kann. Auf diesem Hintergrund erscheint der ausgesprochen widersprüchliche Charakter der publizierten Rezension als verständlicher Kompromiß. Angesichts der harten Vorwürfe Schmidts in seinem Schreiben an Jöcher, reagiert dieser in seiner Antwort vom 22. April 1736 mit überraschend großem Verständnis und versichert ihn trotz der kritischen Rezension seiner Anerkennung: »So viel bezeuge ich, daß ich ein unveränderlicher Freund der Wahrheit bin und solche, wo ich sie finde, mit D a n k annehme, mich auch durch eine sorgfältige und langwierige Ü b u n g des Verstandes in den Stand zu setzen gesucht, mit eignen Augen zu sehen und zu unterscheiden, was richtig oder falsch sei.« 3 0 8 U n d dann folgt die interessante Erklärung der Jöcherschen Lösung für sein Dilemma: »Was das Ihnen nicht gefällige Excerpt anbelanget, so versichere ich aufrichtig, daß ich solches nicht selbst verfertiget, sondern dasselbe mit vielem Bedacht einem gewissen M a n n e aufgetragen. Ich zweifle, ob er etwas gegen dero Schrift erinnern werde.« 3 0 9

Jöcher hätte eine solche kritische Rezension nicht leicht selbst schreiben können, ohne sich geistig zu verrenken; deshalb hat er die Aufgabe also einem Kollegen zugedacht, dem eine Kritik an der Wertheimer Bibel leichter fallen mußte. Angesichts dieses gut belegten Beispiels über die Verfahrensweise eines nach dem sächsischen Verbot unter äußeren Zwängen stehenden wohlwollenden Herausgebers der deutschen Acta eruditorum ist es sicher glaubwürdig, wenn Stübner dem Wertheimer Ubersetzer trotz aller Mißhelligkeiten versichert, daß das Werk insgesamt eine gute Aufnahme gefunden habe und noch finde. Viele würden die Fortsetzung der Übersetzung wünschen und das Projekt befördern wollen, sie hätten aber Angst, das angesichts des Dresdener Verbots und der strengen Strafen öffentlich zu sagen. 310

12. Die Wertheimer arbeitsteilige politische Reaktion auf das sächsische Verbot Offenbar erfuhr Schmidt erst durch Stübners Brief aus Leipzig vom 3. Februar 1736, der am 11.Februar in Wertheim eintraf, 311 von dem sächsischen Verbot seines Werkes. Hatte er eben noch an Jöcher geschrieben, er vertraue fest darauf, daß seine Feinde die Obrigkeit nicht zum Eingreifen gegen seine Übersetzung bewegen könnten, da keine irrige Lehrmei308

Jöcher an Schmidt am 22. April 1736. In: Frank (wie A n m . 9), S. 291.

309

Ebd. »Erlauben sie mir, mein Herr, daß ich Ihnen bekenne, daß ich mich fast wundere, wie Dinge dieser Art Sie so sehr befremden können, als ich aus Ihrem letzten Schreiben wahrgenommen zu haben glaube. Dergleichen Zufälle haben Sie bey Ihrer Unternehmung beynahe voraussehen können. Hier wünschen viele redliche Männer, die es nicht sagen dürfen bey den jetzigen Umständen, daß doch das Werk nicht ins Stecken gerathen, sondern allenfalls in Holland fortgedrucket werden möchte. Sonderlich sind hier viele nach der Widerlegung des Hn. Langens begierig.« (Mosheim/Schlegel (wie A n m . 17), S. LI)

310

311

Vgl. Spalding: Seize the Book (wie Anm. 12), S. 106f., sowie die A n m . 41 auf S. 268.

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Wertheimer Bibel

nung in ihr zu finden sei und die höchsten Diener der Staaten, der Präsident des Reichshofrats in Wien Johann Wilhelm von Wurmbrandt ebenso wie der Wertheimische Geheime Rat Johann Friedrich von Frühauf, selbst denken und frei urteilen würden, 3 1 2 so sah er sich nun mit der Tatsache konfrontiert, daß die sächsische Obrigkeit den Argumenten seiner Gegner allerdings doch gefolgt war. Im Postskriptum seines Briefkonzeptes an Jöcher vom 11. Februar 1736 findet sich dann die unmittelbare, offenbar schockierte Reaktion Schmidts auf das sächsische Verbot. 313 An dieser ersten spontanen Reaktion ist auffallend, daß er sich - ganz genauso wie seine Gegner — sogleich bewußt wurde, daß die einzigen übergeordneten politischen Instanzen, an die er sich nun wenden könnte, der Reichshofrat in Wien bzw. der Ständige Reichstag in Regensburg waren. So, wie Joachim Lange gegen den Willen der Grafen von LöwensteinWertheim keinen Abbruch der Ubersetzung noch des Drucks in ihrem Lande erreichen konnte, ohne den Reichshofrat oder den Reichstag anzurufen, so konnte auch der Wertheimer mit seinen Verbündeten nichts gegen ein Verbot in Sachsen und gegen das zu befürchtende Verbot in Preußen und in anderen Staaten im Reich unternehmen - als sich eben an die für diesen Zeitraum in der geistesgeschichtlichen Forschung oft unterschätzten Reichsinstanzen zu wenden. 314 Auf diesem politischen Hintergrund erscheint Schmidts spontane Assoziation der eigenen Situation mit der Luthers vor dem Augsburger Reichstag nicht länger als Anmaßung oder Selbstüberschätzung, 315 sondern trifft exakt die politisch-rechtliche Sachlage. Vor allem aber geht aus solchen Überlegungen hervor, daß der Wertheimer in dieser Situation an eine solche Möglichkeit der Anrufung politischer und juristischer Instanzen sogleich gedacht hat, daß er also keineswegs gewillt war, sich auf den »privaten« Gebrauch der Vernunft im Rahmen einer öffentlichen Debatte zu beschränken, sondern zugleich seine Rechte und Freiheiten als Mitglied der evangelischen Kirche sowie als Untertan der Grafen von Löwenstein-Wertheim und des Reiches wahrzunehmen suchte. Aus seinem Brief geht schließlich auch hervor, daß sowohl der Kammerrat Höflein als auch die beiden Grafen von Löwenstein-Wertheim das Eintreten eines solchen Verbots und entsprechende mögliche politische und juristische Gegenmaßnahmen bereits bedacht hatten. 312

Vgl. ebd., S. 104 f. Dieses Urteil konnte nur der Kammerrat Höflein in dieser Sicherheit fällen, der mit den beiden hohen Beamten a m Wertheimer bzw. am Ansbacher H o f bekannt gewesen sein dürfte. Graf Johann Wilhelm von Wurmbrandt war 1727 Gesandter des Ansbacher Hofes in Wien. Vgl. Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648). 2. Bd.: 1 7 1 6 - 1 7 6 3 . H g . Friedrich Hausmann. Fretz & Wasmuth: Zürich 1950, S. 52.

313

Vgl. Spalding: Seize the B o o k (wie A n m . 12), S. 107f. Nach Neuhaus »hat der Immerwährende Reichstag als Institution der Reichsverfassung kaum das Interesse der Historiker gefunden. Gesamtreichische Aktivitäten des zu einem Gesandtenkongreß entwickelten Regensburger Reichstag fanden ihre Grenzen im notwendigen Konsens zwischen Kaiser und Reichsständen, der meistens nur in äußerst zeitraubenden Verhandlungen nach Überwindung zahlloser individueller Interessen zu erreichen war.« (Helmut Neuhaus: Das Reich in der frühen Neuzeit. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 42). Oldenbourg: München 1997, S . 7 5 )

314

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»In seiner hohen Meinung schrieb er einmal an seine Gönner, die oben erwähnten Grafen Johann Ludwig Vollrath und Friedrich Ludwig, über sein Vorhaben, es sei vielleicht nicht geringer als Luthers Religionsverbesserung anzusehen.« (Schattenmann (wie A n m . 8), S. 11)

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12. Die Wertheimer politische Reaktion Angesichts des sächsischen Verbots der Wertheimer

Bibel

machen sich also Schmidt, H ö f -

lein und die Grafen sogleich wieder an die Arbeit: vor allem schicken sie erneut Briefe in die Welt, um den Schaden möglichst zu begrenzen, ihre Position zu verteidigen und ihre Bereitschaft zur Fortsetzung der öffentlichen Auseinandersetzung im Sinne des Elenchus zu verkünden. Schmidt selbst folgt sogleich dem Rat Stübners, sich an den Oberhofprediger Marperger in Dresden zu wenden, der möglicherweise Argumenten zugänglich sei und den Einfluß des orthodoxen Kirchenrats Löscher begrenzen könnte. 3 1 6 In seinem Schreiben erläutert er dem sächsischen Oberhofprediger seine aufrichtigen Absichten einer Verteidigung der christlichen Religion durch seine Übersetzung und fordert ihn im Sinne des Elenchus auf, ihn mit Argumenten zu überzeugen statt die Übersetzung durch obrigkeitliche Gewalt zu unterdrücken: »Ich betheure gegen E. Hochwürden vor dem Allwissenden Gott, vor dessen Gericht ich stehe, daß ich mich in Ansehung meiner Absichten, in meinem Gewißen unschuldig befinde, daß ich mir keiner Irrthümer, noch der geringsten Abweichung von der ungeänderten Augspurgischen Confession bewußt bin, und daß ich mich auf alle Weise willfährig und geneigt erzeigen werde, mich von meinen [Irrthümern?] überfuhren zu lassen.« 317 Zuletzt versichert er den Hofprediger auch noch der Unterstützung seiner Übersetzung durch viele bedeutende Theologen und Philosophen in Deutschland, deren schriftliche Gutachten er in Händen halte und deren Veröffentlichung einige Verwunderung auslösen werde: »Was werden E. Hochwürden dencken, wenn ich dieselben versichere, daß ich verschiedener grosser Gottes-Gelehrter und Weltweisen Briefe aus Großen Chur- und Fürstlichen Ländern in Händen habe, welche mein Werck werth und schäzbar halten, und die Fortsezung desselben mit vieler Begierde wünschen? Und daß ich fast alle Post-Tage Briefe bekomme, worinnen man mir meldet, daß [dies?] die meisten und vornehmsten Gottes-Gelehrten, zumahl nach Lesung meiner Verantwortung gegen H. D. Langen, begrüßten, und sich mein Vorhaben gefallen ließen. Dergleichen ich im Stande bin in ziehmlicher Anzahl in Originali vorzuzeigen. Glauben E. Hochwürden nicht, daß ganz Teutschland erstaunen werde, wenn es dergleichen Verfahren vornimmt, zumahl wann ich gezwungen werde, obgedachte Zeugnisse der ganzen Welt öffentlich vorzulegen? Ich würde zu weit gehen, wenn ich sagte, daß eine solche Gewaltthätigkeit der berühmten Universitaet Leipzig, deren Scharfsinnigkeit und Einsichten bishero dem ganzen Deutschland zum Muster gedienet, nothwendig großen Eintrag thun müßte.« 318 Er kündigt ihm auch bereits an, notfalls den Ständigen Reichstag in Regensburg zur W a h rung seiner Rechte gegen die ungerechtfertigte Verfolgung anzurufen. »Glauben den E. Hochwürden daß auf solche Art das Vorhaben werde gehindert werden? Ich betheure gegen Dieselben, daß ich fest entschlossen bin, ein Vorhaben, welches ich den Göttlichen Absichten so sehr gemäs erachte, mit äussersten Kräfften zu befördern. Und ich glaube gewiß, daß

316 317

318

Vgl. Spalding: Seize the Book (wieAnm. 12), S.268, sowie A n m . 4 l . Schmidt an Marperger am 11. Februar 1736. In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden. Akten des Oberkonsistoriums. Acta, Die Übersetzung einer teutschen Bibel, welche zu Wertheim herausgekommen und was dem anhängig betr. A. 1736. 10742, No. 7, 9 r - 12v, hier 9v. Ebd., 9 v - 1 0 v (Hervorhebung - U.G.).

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Wertheimer Bibel mir die Mittel darzu durch Göttliche Vorsehung nicht fehlen werden. Wie ich denn auch die Freymüthigkeit habe, meine Sache erforderden Falls vor den beständigen ReichsTag zu vertheidigen, und zu behaupten.« 319

Schließlich hält der Wertheimer den sächsischen Kirchenmännern auch noch das Verfahren der Altdorfer Theologen vor, die trotz ihrer Kritik den Elenchus eingehalten und die Diskussion mit ihm empfohlen hätten. Er übersendet einen Auszug des Altdorfer Gutachtens als Anlage.320 Ungerührt von dieser energischen Eingabe entscheidet der sächsische Kirchenrat unter Beteiligung Marpergers, diesen Brief gar nicht zu beantworten, da sich schon ganze theologische Fakultäten mit der Angelegenheit beschäftigt hätten. Dieser Entscheidung, die auch mit dem Geheimen Rat des Königs abgestimmt wird, liegt denn auch der Auszug des Gutachtens der Altdorfer Universität bereits bei.321 Schmidt schreibt außerdem noch am selben Tag auch an Reinbeck und an den Stettiner Aletophilen Johann Wilhelm Gohr, der ihm in zustimmenden Sinne geschrieben hatte, 322 sowie an den Herausgeber der deutschen Acta eruditorum Jöcher, um sie alle angesichts der neuen Situation um Unterstützung zu bitten. 323 Über eine Reaktion Reinbecks ist nichts bekannt; angesichts des sonstigen Schweigens Reinbecks gegen Schmidt in dieser Zeit und wegen seiner eigenen durch die Wertheimer Bibel außerordentlich gefährdeten Situation ist eine solche wahrscheinlich ganz ausgeblieben. Ahnliches gilt für Christian WolfF. Jöcher bekennt sich zwar in seiner Antwort an Schmidt zu den Prinzipien der Vernunft und Wahrheit, rechtfertigt aber seine Zurückhaltung wie auch den Abdruck der kritischen Rezension mit der nach dem Verbot in Sachsen schwierigen Situation. Auch die Reaktionen anderer angeschriebener Gelehrter aus dem Frühjahr 1736 waren nicht ermutigend. Mosheim erklärt in seinen beiden Antwortschreiben vom 24. und 26. April 1736 an Höflein und an Schmidt unmißverständlich, daß er sich zwar an keiner Verfolgung beteiligen werde, aber auch keinesfalls zur Partei gerechnet werden möchte. 324 Darin zeigt sich die richtige Einschätzung Stübners, daß der Abt Mosheim »viel zu politisch sey, um 319 320

321 322

323

324

Ebd., lOv. Extract des Bedenckens der Theologischen Facultaet zu Altdorff de dato d. 4 Sept: 1735. In: Ebd., 12v. Das Oberkonsistorium an den Geheimen Rat am 14. März 1736. In: Ebd., 50r-v. Gohr war der Leiter der Societas Aletophilorum in Stettin. Vgl. Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz' und die Leipziger Aufklärung (wie Anm. 106), S. 105, Fußnote 398. Vgl. Spalding: Seize the Book (wie Anm. 12), S. 107 sowie Anm. 42 auf S. 268. Vgl. auch ebd., S. 125 und die Anm. 26 auf S. 276. Mosheim an Höflein am 24. April 1736. In: Mosheim/Schlegel (wie Anm. 17), S.XDC. Auch an Gottsched schreibt Mosheim: »Der arme wolfianische wertheimische Übersetzer jammert mich recht. Jeder, der nur zehen Grillen zusammenzählen kan, will an diesem geschickten Mann zum Ritter werden. Man hat mich auch in dieses und in das Wolfianische Lager [?] hängen wollen. Allein meine Seele komme nicht in diese Sache, ich habe dem guten Wertheimer das ganze Spiel vorher geweissaget. Allein er meinte, daß ich kein Prophet wäre. Jetzt ist er so fromm und sanftmüthig geworden, daß ich es kaum sagen kann. Er hat sich allerdings in vielen Dingen versehen: allein man könnte anders mit ihm verfahren.« (Mosheim an Gottsched am 26. Januar 1737. In: UB Leipzig. Ms 0342 (Gottsched-Korrespondenz), IV, 15v-16r.

12. Die Wertheimer politische Reaktion

283

sich einzumischen«. 325 Andererseits war diese Haltung durchaus aller Ehren wert, nachdem der Abt wegen einer Indiskretion des Verlegers Franz Varrentrapp über Mosheims direkten Kontakt nach Wertheim selber vom Vormund der Grafen von Löwenstein-Wertheim, dem Grafen von Hohenlohe-Langenburg aufgefordert worden war, sich wegen seiner angeblichen Unterstützung des Wertheimers beim Zustandekommen der Bibelübersetzung zu verantworten. 326 Varrentrapp hatte sich in seinem Verhör vor dem Frankfurter Magistrat im Frühjahr 1736 gegen den Verdacht des bewußten Vertriebes eines religionsfeindlichen Buches gewissermaßen durch eine Berufung auf den allseits anerkannten Theologen Mosheim verteidigt, als quasi einem geistigem Vater der Wertheimer Bibel.327 Angesichts der einsetzenden obrigkeitlichen Verfolgung forderte Mosheim die Wertheimer sogar dringend zur Unterbrechung der Übersetzung auf und warnte, sich zu weit in eine öffentliche Diskussion mit den Gegnern einzulassen; aus seinen Argumenten scheint deutlich genug die eigene Erfahrung einer Rechtfertigung der Übersetzung zu sprechen: »Ihre öffentlichen und noch zur Zeit stillen Widersacher sind scharfsichtig; und ich sorge, daß in den herausgegebenen Schriften schon verschiedene Sätze angebracht sind, die sich schwerlich ohne grossen Zwang mit andern, die theils in der Übersetzung, theils anderswo stehen, werden vergleichen und zusammenbinden lassen. Man sagt oft, wenn man sich vertheidiget, vieles, um sich zu retten, und denket nicht daran, wie es mit dem, was man sonst glaubet, nachmahls werde gereimet werden können.« 3 2 8

Reinbeck hatte sich ähnlich wie Mosheim zu rechtfertigen, nachdem er einen Brief des älteren Grafen Moritz Ludwig von Löwenstein-Wertheim erhalten hat, sicherlich auf Initiative Langes, mit der Aufforderung, sich wegen der Unterstützung des Wertheimers zu verantworten. Sein Antwortbrief vom 20. April 1736, in dem er sich von dem publizierten Werk weit distanziert und betont, nicht mit dem Autor bekannt zu sein, ist erhalten. Er habe vor der Publikation zwar eine Probe zugesandt bekommen und würde auch die darin vorgelegt Art der Übersetzung grundsätzlich nicht mißbilligen, jedoch hätte er bereits wegen des Wegfalls einiger Weissagungen gewarnt. Die Vorrede und die Anmerkungen wie auch den größeren Teil der Übersetzung hätte er erst jetzt kennengelernt und sei erschrocken, daß

325 326

327 328

Stübner an Schmidt am 24. Februar 1736. In: Mosheim/Schlegel (wie Anm. 17), S. L-LI. Mosheim schreibt daraufhin am 24. April 1736 an den Kammerrat Höflein: »Allein daran hat Hr. Varrentrapp und vielleicht noch jemand nicht wohl gethan, daß sie mich unter diejenigen gezehlet, die zu dieser Übersetzung ihren Rath und Beystand ertheilet. Ich bin deswegen von der hochgräfl. Vormundschaft zu Rede gestellet worden, und habe darauf redlich alles zurücke geschrieben, was mir von diesem ganzen Werke bewußt ist. Vielleicht wird dieser Brief zum Vorschein kommen, der den H n . Übersetzer von meiner Aufrichtigkeit und Bescheidenheit überfuhren, und aller Welt zeigen wird, wie wenig ich geneigt sey, jemanden zu kränken, aber auch zugleich dieses ungegründete Vorgeben wiederlegen wird.« (ebd., S.XIX-XX) - Der Brief hat sich im Nachlaß des Grafen von Langenburg-Hohenlohe tatsächlich erhalten. Vgl. Spalding: Seize the Book (wie Anm. 12), Anm. 7 zum 5. Kap., auf S. 264. Vgl. Goldfriedrich (wie Anm. 21), S. 457. Mosheim an German ä Wertheim am 26. April 1736, präs. 8. Juni 1736. In: Mosheim/Schlegel (wie Anm. 17), S.XXIV.

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Wertheimer Bibel

auch alle anderen Weissagungen verschwunden wären. Auch die Verteidigungsschriften hätten ihm kein Genüge getan, so daß er sich genötigt gesehen, in seiner Vorrede zum 3. Teil der Betrachtungen über die Augspurgische Confession eine Stellungnahme dazu abzugeben. Er kann diesem Brief bereits die entsprechenden druckfrischen Korrekturbögen beilegen.329 Angesichts der oben erwähnten intensiven Auseinandersetzungen um die Meinung des preußischen Königs über die wolffianische Philosophie und der scharfen Angriffe der Waisenhauspartei sieht sich Reinbeck offenbar nicht in der Lage, dem Wertheimer irgendeine weitere Unterstützung zukommen zu lassen, außer daß er sogar jetzt noch gegenüber dem Grafen festhält, daß »eine solche Art zu übersetzen an sich selbst ihren Nutzen haben könnte«. 330 Schließlich gibt auch Christian Wolff dem Kammerrat Höflein einen negativen Bescheid. Er zeigt sich zwar sehr interessiert, über die Ergebnisse einer geplanten gräflichen Intervention am preußischen Hof informiert zu werden,331 sieht sich aber angesichts seiner eigenen gefährdeten Position, die durch die Angriffe auf die Wertheimer Bibel und Langes und anderer Versuche, sie als notwendige Frucht seiner Philosophie zu verstehen,332 noch sehr viel schwieriger geworden war, nicht in der Lage, in diese öffentliche Debatte einzusteigen und womöglich die Partei des Wertheimers zu nehmen. Auch ist er einigermaßen skeptisch gegenüber dem Erfolg der politischen Interventionen zugunsten des Wertheimers: »Ich kan nicht leugnen, daß es mir bedenklich geschienen, den Richter selbst zu suchen, weil daselbst nicht allemal die gerechte Sache triumphiret, und derselbe öfters nur aufgebracht wird, einen Spruch zu thun, von dem er sich sonst enthalten würde.« 333 Der Kammerrat Höflein übernimmt es im weiteren, an den Redakteur und Herausgeber der anderen der Wertheimer Bibel aufgeschlossen gegenüberstehenden Gelehrten Zeitung, der Hamburgischen Berichte, an Johann Peter Kohl zu schreiben, um ihn zu einer entschiedeneren Öffnung seiner Zeitschrift für die öffentliche Debatte um das Bibelwerk zu bewegen,

329

Reinbeck an den Grafen Ludwig Moritz von Löwenstein-Wertheim am 20. April 1736. Zit. nach: Artikel Wertheimische Bibel. In: Zedlers Universal-Lexicon (wie A n m . 15). Bd. LV, Sp. 6 3 3 - 6 3 4 .

330

Ebd., Sp. 635. A m 6. Mai 1736 schreibt Wolff an Höflein: »Mich verlanget zu erfahren, was Ihro hochgräfliche Exzellenzen für eine Antwort von Sr. Königl. Majestät erhalten werden, und wie die Defensions-Schrift in Regenspurg [!] angesehen worden.« (Mosheim/Schlegel (wie A n m . 17), S. X X X I X )

331

332

Wolff schrieb bereits am 4. März 1736 an Höflein auf die Zusendung der Verteidigung Schmidts gegen Lange und gegen die deutschen Acta Eruditorum und die damit ergangene Aufforderung zur Intervention, daß man ihn überall, sogar in der Schweiz, selber für den Autor der Wertheimer Bibel halte oder doch für den Initiator, was ihm hinreichend eigene Schwierigkeiten bereite; das Gerücht werde von Lange kolportiert, u m die ihm ärgerliche veränderte Gesinnung des preußischen Königs gegen Wolff zu beeinflussen: » D e n n da er sich gewaltig darüber ärgert, daß S . K . M . in Preussen nun ganz etwas anders von mir persuadiret sind, als er mit seinen Consorten mich verleumdet, auch ihm scharf verboten worden, nicht weiter wider mich zu schreiben; so ist ihm dieses [die Wertheimer Bibel] ein gefundener Handel gewesen, auf mich loszuziehen.« (Wolff an Höflein am 4. März 1736. In: Mosheim/Schlegel (wie A n m . 17), S. X X X V I I . ) - Lange habe auch Löscher gegen Wolff aufgebracht.

333

W o l f f a n Höflein am 6. Mai 1736. In: Ebd., S . X X X I X - X L .

12. Die Wertheimer politische Reaktion

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worüber wir nur indirekt, aus dem überlieferten Antwortschreiben vom 20. Februar 1736 erfahren. Dieser Brief ist auch insofern interessant, als er fast gleichzeitig abgefaßt worden ist wie jener andere desselben Redakteurs auf eine dringliche Aufforderung von der anderen Partei, von Joachim Lange, der weiter unten zur Sprache kommen wird. Gegenüber Lange, der natürlich jede Veröffentlichung ftir den Wertheimer gänzlich unterbunden sehen will, verteidigt Kohl seine bisherige Veröffentlichungspolitik damit, daß er ihm einerseits die Unparteilichkeit des Blattes entgegenhält, ihm andererseits aber doch zusichert, keine direkten Stellungnahmen pro und kontra abzudrucken, obwohl ihn solche beständig erreichen würden. Allein die Rezensionen würden erscheinen müssen, um den Fortgang der Geschichte zu wahren. Wegen dieses Kompromisses, der in Langes Augen schon als Widerstand erscheinen mußte, hatte sich Kohl gegenüber Höflein in Wertheim jedoch wegen seiner defensiven Haltung in den Berichten zu verteidigen: »Ew. etc. ist mehr als zu bekannt, wie behutsam man in diesen Jahren verfahren und wie man fast alle Worte und Gedanken auf die Wagschale legen müsse, damit man den Herrn Theologis nicht Gelegenheit gebe, die sonst unschuldige Absicht verdächtig zu machen, ja oftmals öffentlich zu schaden. Wir leben hier an einem Orte, da man es in diesem Stücke gar leicht versehen und in die Censur der Herren Theologorum verfallen kann. Wo sonst irgend einer die Wahrheit und Unparteilichkeit liebet und hochschätzet, so sind es die bisherigen Verfasser der >BerichteDiktatur< des Reichstags den Sekretären der Gesandten diktiert wurden, in die Öffentlichkeit hinaus. Es kursierten in Regensburg viele Staatsschriften, Manifeste und Pamphlete, mit denen die Haltung der dort anwesenden Politiker beeinflußt werden sollte.« (Andreas Gestrich: Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 103). Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 1994, S. 96.) - Vgl. auch S. 96-100. Häufigstes Thema der Verhandlungen des Corpus evangelicorum waren die sogenannten Religionsbeschwerden. Sie häuften sich besonders nach der Vertreibung der Protestanten aus Salzburg 1732. Vgl. Sachs. Hauptstaatsarchiv Dresden. Abt. XVI, Nr. 1534. In dieser Akte der Gesandtschaftsberichte aus Regensburg an den Dresdner Hof finden sich die Register über die Protokolle und Relationes in Evangelicis 1726—1751• - Vgl. auch Johann Jacob Moser: Reichsfama, Welche das M e r k würdigste von demjenigen, so sich ganz kürzlich auf dem Reichs-Convent an dem Kayserlichen und anderen Höfen, auch mit denen übrigen Ständen des Heiligen Römischen Reichs zugetragen. Theil 1 - 2 3 . Frankfurt, Leipzig 1727-1738. In fast allen Bänden lassen sich die sogenannten »Religionsbeschwerden« finden. Neben den alles beherrschenden Klagen über die Bedrückung der Salzburger Protestanten wird übrigens im Bd. 20 (1736) auch der Streitigkeiten gedacht, zu denen es in der Wertheimischen Grafschaft aufgrund der Differenzen zwischen dem katholischen Fürsten von Löwenstein-Wertheim und den protestantischen Grafen von Löwenstein-Wertheim immer wieder kam: Obwohl zum Normaljahr 1624 noch alle Zweige der Dynastie protestantisch gewesen waren, beanspruchte der zum Fürsten avancierte katholische Herr von Löwenstein-Wertheim die Stadtkirche für den katholischen Gottesdienst und setzte katholische Prozessionen in der Stadt Wertheim gegen den Willen die lutherische Bevölkerung durch. Vgl. ebd. S.719f.

288

Wertheimer Bibel

ging es kaum je um inhaltliche theologische Auseinandersetzungen, sondern vielmehr um die mit dem Westfälischen Frieden und seither festgelegten Rechte der Protestanten im Reich, ihre Religion ausüben zu können. 344 Aus eben dieser politisch-rechtlichen Perspektive argumentiert auch Schmidts Öffentliche

Erklärung.

Außerdem aber sind wichtige formale

Indizien dafür, daß diese Schrift für den Ständigen Reichstag bzw. das Corpus

evangelicorum

bestimmt war, die knappe Darstellung auf 8 Seiten und vor allem das von den anderen Verteidigungsschriften Schmidts deutlich abweichende Folioformat, das aber für die Regensburger Veröffentlichungen üblich war und das die Wertheimer dann auch noch im Fall der bekanntermaßen an das Corpus

evangelicorum

gerichteten Gründlichen

Vorstellung

der

Streitig-

keit vom Herbst 1 7 3 7 benutzt haben. Obwohl es also aus der späteren Entwicklung durchaus wahrscheinlich ist, daß sich Schmidt bzw. die Grafen sowohl im Frühjahr 1 7 3 6 als auch im Herbst 1 7 3 7 an das Corpus

evangelicorum

gewandt haben, 3 4 5 ist es doch zu keinem förm-

lichen Beschluß der protestantischen Stände gekommen, wenigstens findet sich nirgends eine Spur davon. 3 4 6 Allerdings fand in der zweiten Hälfte des Jahres 1 7 3 6 wie auch des Jahres 1 7 3 7 gar keine Sitzung statt. 347

344 345

346

347

Vgl. oben Anm. 152. Die Grafen von Löwenstein-Wertheim können mit ihrem Anliegen, bevor sie sich an das Corpus evangelicorum beim Ständigen Reichtstag zu Regensburg wandten, zuvor auch an die Vertreter der im Fränkischen Kreis vertretenen protestantischen Stände herangetreten sein. Der aufgrund seiner »Pluralität« der in ihm agierenden Stände wohlorganisierte fränkische Kreis (er verfugte als einziger seit 1572 über eine eigene Polizeiordnung) wurde überwiegend durch protestantische Stände konstituiert, so daß der Ansbacher Markgraf dem anderen mächtigen kreisausschreibenden Fürsten, dem Bischof von Würzburg und Bamberg durchaus entgegentreten konnte. Vgl. Winfried Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (1383-1806). Geschichte und Aktenedition. Steiner: Stuttgart 1998, insbesondere S. 4 2 - 4 5 sowie S. 8 1 - 8 7 . In den publizierten Reichstagsabschieden findet sich jedenfalls keine Spur einer Thematisierung im Reichstag. Vgl. Moser: Reichsfama (wie Anm. 343). Dort wird allerdings im Bd. 23, im 8. Kap., S. 6 8 3 - 6 9 0 , eine recht neutrale Darstellung der obrigkeitlichen Verfolgung der Wertheimer Bibel gegeben, bei der die kaiserlichen Reskripte vom 15. Januar 1737 und vom 12. Mai 1737 zum Abdruck kommen. - Vgl. auch Eberhard Christian Wilhelm von Schauroth: Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Schreiben und anderer übrigen Verhandlungen des Corpus evangelicorum von Anfang jetzt fürwährenden Reichs-Convents bis auf die gegenwärtigen Zeiten, nach Ordnung der Materien zusammengetragen. Tom. I—III. Regensburg 1751/52. In den Gesandtschaftsberichten des Dresdner Hofes findet sich für das Jahr 1736 die Notiz: »bleiben bey 8 Monaten ausgesetzt«. Die letzten Sitzungen des Corpus evangelicorum fanden danach im März 1736 statt. (Loc.8260/3. Abt.XVI, Nr. 1534: Relationes aus Wien ... 1733-36. Berichterstatter: Freiherr von Zech bis Sommer 1736. Unter dem Titel »Protocoll« findet sich die Liste aller Evangelischen Conferenz-Protocolle bis 1751, in CLXI Bänden zusammengebunden. Die für die Wertheimer Bibel relevanten Sitzungen fanden danach an folgenden Tagen statt: 21. April 1736, 25. April 1736, 26. April 1736, 8. Mai 1736, 10. Mai 1736, 26. Mai 1736, 19.Januar 1737, 23. März 1737, 2. Juni 1737.

13. Des Wertheimers Öffentliche

Erklärung

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13. Des Wertheimers Öffentliche Erklärung vor der ganzen evangelischen Kirche als öffentlich-politische Schrift, um die protestantischen Stände beim Reichstag zu Regensburg zu gewinnen Es ist offensichtlich, daß sich Schmidt angesichts der weithin erscheinenden Verketzerungen und der in einem großen protestantischen Staat bereits erfolgten und in einem anderen drohenden obrigkeitlichen Verfolgung, ja angesichts des drohenden Verbots seines Werkes im Reich durch den Kaiser, dringend und in grundsätzlicher Weise in Hinblick auf seine Rechtgläubigkeit verteidigen mußte. Es ging nun nicht mehr nur um sachliche Differenzen und die Verteidigung seiner Positionen, nicht mehr um Zweifel an der Berechtigung seiner methodischen Prinzipien der Ubersetzung, sondern vor allen Dingen um die in Frage gestellte Lauterkeit seiner Absichten, wodurch sich eine obrigkeitliche Verfolgung seiner Person allererst rechtfertigen ließ. In seiner Verteidigungsschrift Öffentliche Erklärung vor der ganzen evangelischen Kirche, im typischen Folioformat der in Regensburg unter den Gesandten vertriebenen Publikationen, geht Schmidt gar nicht auf die bereits erfolgte sächsische obrigkeitliche Zensur- und Verbotsmaßnahme ein, sondern verteidigt sich grundsätzlich gegen den Verdacht der Unaufrichtigkeit seiner Bemühungen um die Rettung der christlichen Religion. Die für ihn außerordentlich gefährliche Unterstellung, er meine es nicht ehrlich mit der Verteidigung der christlichen Religion, sondern gebe diese Absicht nur vor, um unter diesem Deckmantel alle christlichen Grundwahrheiten zu unterminieren, setzte ja die weitere Einhaltung des evangelischen Elenchus außer Kraft, stellte den Betroffenen damit außerhalb der evangelischen Kirche und machte dadurch den Weg zur Verfolgung durch die Obrigkeit frei. Daß diese Meinung nicht nur von dem eifernden Lange, sondern auch von einem sächsischen Kirchenrat und selbst von einem anerkannten und durch sein ausgewogenes Urteil anerkannten Theologen von Rang wie Reimarus ausgesprochen worden war, machte die Sache schwierig genug. Schmidt beantwortete alle derartigen Unterstellungen deshalb mit einem geradezu feierlichen Bekenntnis zur Augsburger Konfession, seiner Öffentlichen Erklärung vor der ganzen

evangelischen Kirche die freye Ubersetzung der göttlichen Schriften betreffend, worinnen die unschuldigen Absichten dieses Werks erläutert und einige Schwierigkeiten gehoben werden durch den Verfasser desselben. Auch diese Verteidigungsschrift, die Vorrede ist am 17. März 1736 unterzeichnet, wurde beim Hof- und Kanzlei-Buchdrucker Johann Georg Nehr unter dem Schutz der beiden Wertheimischen Grafen gedruckt. Diese abermalige öffentliche Erklärung, die schon im Titel den Elenchus einforderte, indem Schmidt sich vor der ganzen evangelischen Kirche verantworten will, wie er auch seine unschuldigen Absichten als Voraussetzung für diesen Elenchus bekundete, erläutert noch einmal mit den schon bekannten Formulierungen die ehrliche Absicht des Übersetzers, den Text der Hl. Schrift gegen die wachsenden Zweifel der Deisten und Atheisten auf eine unumstößliche Weise zu übersetzen, so daß ihr nicht länger der Vorwurf der Unklarheit oder Dunkelheit gemacht werden könne. Die dazu am besten geeigneten Methoden seien die mathematische Lehrart sowie das Prinzip, den ersten Verfasser aus sich zu verstehen, wodurch gerade die Eindeutigkeit

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Wertheimer Bibel

des Textes gewahrt bleibe.348 Darüber hinaus unterstreicht Schmidt noch einmal - in der Tradition von Leibniz, daß die unverständlichen Stellen bzw. die Mysterien in der Hl. Schrift durchaus unverstanden bleiben könnten, wenn in ihnen nur kein Widerspruch aufzuweisen wäre; bis dahin aber könnten und müßten sie durchaus geglaubt werden. 349 Bevor der Wertheimer dann an die Auseinandersetzung mit einzelnen Gegenargumenten geht, versichert er noch einmal, daß er von mehreren angesehenen Gelehrten Zuspruch erhalten habe, die seine methodischen Prinzipien anerkannt und seine ehrliche Absicht verstanden hätten. Eine offenbar sehr nötige Versicherung.350 Er erklärt weiter, ursprünglich angenommen zu haben, einer Zuwendung zu den von seinen Kritikern aufgeworfenen theologischen Fragen nach der Wahrheit der Weissagungen, der Mittlerrolle des Erlösers sowie der Dreieinigkeit überhoben zu sein, weil er ja noch gar keine theologischen Interpretationen der Schrift zu geben beabsichtigte, sondern eine bloße Übersetzung des Textes. Jedoch sehe er sich nun angesichts des »Argwohns« einiger seiner Widersacher und des Drängens seiner Freunde genötigt, »solches auch zum Voraus zu leisten«.351 Solcher »Argwohn« hätte sich vor allem auf zwei Schwerpunkte gerichtet — auf den scheinbaren Wegfall aller Weissagungen und der Dreieinigkeit, da nirgendwo vom Hl. Geist oder von Jesus Christus die Rede wäre. Hinsichtlich des ersten Punktes legt der Übersetzer die schon in der Vest gegründeten Wahrheit in die Diskussion gebrachte »symbolische Lehrart« 352 ausführlich und anhand von Beispielen dar, die gewissermaßen auf eine nachträgliche Anwendung des Textes hinausläuft. Wenngleich er auf seiner Auffassung beharrt, daß sich im Text des Pentateuch selber keine ausdrücklichen Stellen finden, die eine Weissagung auf Jesus Christus beinhalten, so ist er doch einverstanden damit, daß Jesus Christus selbst und auch die Apostel die Wahrheit sprechen, wenn sie an einigen Stellen des Neuen Testaments ausdrücklich sagen, daß im Alten Testament von diesem Messias gesprochen worden sei. Dies sei dadurch möglich, daß sie bestimmten Stellen einen metaphorischen Sinn abgewinnen, ihnen eine bestimmte Anwendung geben würden, nach der jeweiligen Absicht, die sie verfolgten. Die hier vorgetragene Ansicht von einer »symbolischen Lehrart« der späteren Interpreten läuft also auf eine bestimmte Form der Akkommodation des göttlichen

348

Öffentliche Erklärung vor der ganzen evangelischen Kirche die freye Übersetzung der göttlichen Schriften betreffend, worinnen die unschuldigen Absichten dieses Werks erläutert und einige Schwierigkeiten gehoben werden durch den Verfasser desselben. Nehr: Wertheim 1736, unpag., vgl. [S. lf.] (im folg. Öffentliche Erklärung). 349 »Wenn ich in den göttlichen Schriften Begriffe und Sätze antreffe, welche ich nicht deutlich einsehen und mit andern Wahrheiten zusammen hängen kan: so erweise ich, daß ich solche keineswegs verwerfen oder für ungegründet halten müste; ich müste sie nur so annehmen, daß sie andern ausgemachten Wahrheiten nicht widersprächen. Hierdurch verwahre ich alle Glaubensgeheimnisse gegen die Einwürfe ihrer Widersacher, und schütze die christliche Religion gegen einen Vorwurf, wodurch man sie fast zu allen Zeiten umzustoßen getrachtet hat. Dieses sind meine Gründe, nach welchen ich bey den geoffenbarten Wahrheiten verfahre«. (Ebd., unpag. [S. 7].) 350 Ygj unpag. [S. 1] und noch einmal [S. 2]. 351

352

Ebd., unpag. [S. 2], Ebd., unpag. [S. 4],

13. Des Wertheimers Öffentliche Erklärung

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Wortes an eine je bestimmte Rezeptionsfähigkeit der anzusprechenden Gläubigen entsprechend der göttlichen Absicht unter bestimmten gegebenen Bedingungen hinaus. Zum anderen hält der Wertheimer es für wahrscheinlich, daß diese metaphorische Redeweise von Jesus Christus und den Aposteln auf einer schon zu Moses' Zeiten begonnenen mündlichen Tradition der Auslegung der Hl. Schrift beruhte, worauf er auch schon in seiner Vest gegründeten Wahrheit hingewiesen hatte: »Wenn Moses bey seinen Lebzeiten seiner Nation einen Begriff von dem Messie aus dieser Stelle [5 Mos. 18:15] geben will; so muß er eine mündliche Erklärung hinzu thun, und ihnen sagen, daß der Letzte von diesen Weissagern der Messie seyn werde. Gesetzt auch, daß Moses unter seinem Weissager den Messie nur allein verstünde: so müßte er dennoch ein weit Mehreres mündlich hinzu thun, wenn seine Zuhörer einen Nutzen daraus schöpfen solten.« 353 Auch hinsichtlich der als Weissagung geltenden Stelle 1 Mos. 28:14 besteht Schmidt zwar darauf, daß »das eigentliche Versprechen, welches Abraham von Gott geschiehet, [...] auf die Vermehrung und Glückseligkeit seiner Nachkommen« 354 gehe, weil im Text selbst nichts anderes zu lesen stehe, hat aber nichts gegen eine nachträgliche Interpretation des Textes in einem metaphorischen Sinne einzuwenden: »Wenn man aber unter Abrahams Nachkommen nur einen von denselben verstehet, welches nach der Grundsprache, wo es in der Mundart der Ebräer der Same heisset, geschehen kan; und die Glückseligkeit, welche sich die Nationen einander anwünschen, oder, wie es eigentlich lautet, sich untereinander segnen und gesegnet werden, von der Erlösung des Messies und der Erkäntniß desselben verstehet, dessen die Nationen in den künftigen Zeiten solten theilhaftig werden: so gibt diese Stelle einen Begriff von dem Messie.«355

Aber ungeachtet dessen gilt für Schmidt: »Wenn Gott Abraham in diesen Worten den Messie hat versprechen wollen, so hat er ihm die Stelle so auslegen müssen.« Denn: »Aus den bloßen Worten, wenn sie keine besondere Auslegung bekommen, kan man dieses unmöglich schließen«.356 In dieser Öffentlichen Erklärung besteht Schmidt also energisch auf den von ihm in der Ubersetzung gebrauchten Prinzipien und verteidigt sie mit Konsequenz. Er argumentiert aber strategisch geschickt, ganz anders als in der Vorrede zu seiner Übersetzung, um erst einmal das herrschende Selbstverständnis christlicher Theologie aufzubrechen und Bereitschaft zum Verständnis für sein Anliegen zu erlangen. Eine ganze Kaskade von Fragen wird den Gegnern gestellt, die anschaulich klar machen, wie willkürlich und ungerechtfertigt die traditionelle Interpretation der Weissagungsstellen ist: »Welcher unter uns würde wol heutiges Tages das Herz haben, unsern Geschlechtsvater Adham in der Eigenschaft, daß er das erste Verbrechen begangen und alle seine Nachkommen desselben theilhaftig gemacht, ein Vorbild des Messies zu nennen, wenn es nicht Paul ausdrücklich thäte, 353 354

355 356

Ebd., unpag. [S. 2 f]. Ebd., unpag. [S.3]. Luther übersetzte: »[...] und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden.« - Der Wertheimer übersetzt: »[...] mit dir und deinen Nachkommen werden sich die Nationen in der Welt segnen.« Ebd., unpag. [S.3]. Ebd.

292

Wertheimer Bibel Rom. 5:14? Wer solte es der ehernen Schlange ansehen, welche Moses in der Wüste auf göttlichen Befehl zur Heilung der gebissenen Jisraelen aufrichtete, 4 Mos. 21:8 u. f. daß man sich die Art des Todes des Messies und den Nutzen desselben darunter vorstellen solte, wenn solches der Messie nicht selbst an die Hand gegeben hätte, J o . 2 : 1 4 ? [...] Wo will man doch solche Stellen in Mose finden, in welchen der Tod des Messies mit deutlichen Worten voraus verkündigt würde?« 357

Ungeachtet dessen hält Schmidt es nicht der göttlichen Absicht entgegen, entsprechend der »symbolischen Lehrart«, »wenn die Gottesgelehrten eben dergleichen Vorstellungen unter der vorgewesenen Opferung Isaacs, der Sclaverey und der darauf erfolgten Erhöhung Josephs, und anderer Dinge mehr, von dem Messie machen; wie es denn auch glaublich ist, daß dergleichen schon von den alten Weissagern geschehen, ob uns gleich nichts davon aufgezeichnet ist«. 358 Die theologische Interpretation dieser Stellen könne sie also durchaus aus hinzukommenden Gründen - als Weissagungen etc. begreifen, nur stünden sie eben nicht als solche im Text. Schließlich verteidigt sich Schmidt grundsätzlich gegen den »ungegründeten Argwohn« gegenüber seiner Vorrede zu den Göttlichen Schriften, indem er seine strikte Texttreue gerade zum geeigneten Mittel des Arguments gegen die Deisten und Atheisten erklärt, so daß er von nichts anderem habe sprechen können, als von dem, was ausdrücklich in dem vorgelegten Übersetzungsteil auch im Text vorkäme. Da aber hier von Weissagungen und von Jesus Christus nichts geschrieben sei, so hätte er davon auch in seiner Vorrede noch nichts erwähnen wollen, um den Kritikern keine Handhabe zu geben. Daraus könne aber nicht abgeleitet werden, daß er die Weissagungen oder die Mittlerrolle Jesu Christi sowie die Dreieinigkeit leugnete. Auch habe er wegen seiner besonderen Absicht bei der Darstellung der Geschichte des Christentums und der Entstehung der Hl. Schrift nicht auf Wunder oder Erscheinungen zurückgreifen wollen, sondern den tatsächlichen Siegeszug und das Bestehen der Religion über eine so lange Zeit für sich sprechen lassen wollen, wodurch er aber eine derartige Interpretation doch nicht ausschließen wollte.359 In jedem Fall hält er seine Arbeit nach wie vor für einen seriösen Beitrag in der Auseinandersetzung mit den Religionszweiflern. Zugleich bietet er in schöner Klarheit seine Grundsätze religiöser Toleranz dar, die er selbst diesen verlorenen Seelen gegenüber einfordert, wobei er solche zugleich für sich selbst im Rahmen eines ordentlichen evangelischen Elenchus in Anspruch nimmt: »Ich halte es für sehr unbillig und unverantwortlich, andere zu zwingen, daß sie ihre Zweifel verbergen und dieselben im Gemüthe behalten müssen. Ich wolte viel lieber den andern noch dazu aufmuntern, daß er alles frey heraus sagen solte, was er einzuwenden hätte, und ihn so weit treiben, bis ihm gar keine Schwierigkeiten mehr beyfallen wolten. Dieses ist die einige Art, andere zu überzeugen, und die Religion auf einen vesten Fuß zu setzen.«360 Die Entstehung der Forderung nach der Freiheit des Denkens aus

'

3 7 358 355 360

Ebd., unpag. [S.4], Ebd., unpag. [S.4 f.], Vgl. ebd., unpag. [S. 6], Ebd., unpag. [S. 7].

13. Des Wertheimers Öffentliche

Erklärung

293

dem Geist der protestantischen Freiheit in der deutschen Frühaufklärung tritt hier deutlich zutage. 361 Schließlich erläutert Schmidt die Methode seiner Interpretation der christlichen Mysterien noch einmal in Anlehnung an die Leibnizschen Ideen der Th(odicee\ »Solange ich die Unmöglichkeit derselben nicht erweisen kan, so habe ich keinen genügsamen Grund, solche zu verwerfen [...]. Dieser Grundsatz setzet alle Wunderwerke der göttlichen Schriften ausser Gefahr angefochten zu werden: denn wer da weiß, was dazu gehöret, die Unmöglichkeit einer Begebenheit zu erweisen, der wird sich nimmermehr unterfangen, sich hieran zu wagen.« 3 6 2 Entsprechend sei auch mit allen anderen Begriffen und Sätzen der Hl. Schrift zu verfahren, die wir noch nicht deutlich einsehen und verstehen könnten, die wir nur so annehmen sollten, daß sie anderen ausgemachten Wahrheiten nicht geradezu widersprächen. Entsprechend seien auch die eigenen Geschichtsschreiber den anderen so lange vorzuziehen, solange diese nicht in sich widersprüchlich wären. Allerdings stellt der Wertheimer seine bis hier wohlverteidigte Kompatibilität mit der geltenden Lehre unmittelbar darauf wieder in Frage, wenn er apodiktisch erklärt, daß die allgemeinen Wahrheiten allerdings nach den »schärfsten Regeln der Vernunftlehre« aufgestellt werden müßten, denn »wir haben kein anderes Mittel die Wahrheit zu erkennen, als unsern Verstand«. 363 Sogar wenn man die zugleich behauptete Gleichwertigkeit von Gottes und dem menschlichen Verstand zu akzeptieren bereit sein wollte, gibt hier Schmidt dem natürlichen Verstand des Menschen mehr, als es der christlichen Religion zuträglich war. Die Offenbarung mußte doch für die christliche Theologie mindestens eine eben so wichtige Quelle der Erkenntnis sein, wenigstens in Hinblick auf die göttlichen Wahrheiten. Abschließend kommt Schmidt aber wiederum auf die Fragen des Elenchus, indem er die Form der an ihm geübten Kritik zurückzuweisen sucht. Er vergleicht diese anmaßende Art der Kritik, die den Gegner nicht verstehen und nicht mit ihm diskutieren, sondern bloß der 361

Vgl. den umfangreichen Vorbericht von Johann Lorenz Schmidt zu seiner Übersetzung von: Matthew Tindal: Beweis, daß das Christenthum so alt wie die Welt sey, nebst Herrn Jacob Fosters Widerlegung desselben. Beydes aus dem Englischen übersetzt. [Franz Varrentrapp:] Frankfurt u. Leipzig 1741. Dort ist zwar nur erst die Rede davon, »daß die Freyheit in Religionssachen fiir sich zu urtheylen, und seine Gedanken davon zu bekennen, rechtmäßig und notwendig sey« (S. 93). Aber damit ist zugleich eine Aufwertung der natürlichen Vernunft verbunden, denn diese Freiheit »ist zweckmäßig, weil Gott einem jeden Menschen zu dem Ende Verstand und Vernunft gegeben hat, daß er danach beurteilen solle, was zu seinem eigenen und anderen Besten dient«. Am Gegenstand der Religion diskutiert Schmidt in grundsätzlicher Weise den diskursiven Charakter menschlichen Erkennens, das sich gerade im Dialog, in der Kritik zu steigern vermag. Er will daher »durch Gegeneinanderhaltung der Einwürfe wider die christliche Religion, und die Antworten darauf Gelegenheit geben, die Wahrheiten sowohl der natürlichen als auch der geoffenbarten Religion, besser einzusehen. [...] Denn, wenn Dinge, die einander entgegen sind, neben einander gestellet werden, so werden sie dadurch in ein grösseres Licht gesetzet.« (S. 98) Das ist auch der Grund, warum Schmidt seiner Tindal-Übersetzung ebenso wie der weitaus wirkungsmächtigeren Übersetzung von Spinozas Ethik jeweils eine Widerlegung beigefugt hat, und zwar jedes mal eine seriöse und gehaltvolle Widerlegung. - Vgl. dazu Goldenbaum: Die erste deutsche Übersetzung der »Ethik« Spinozas (wie Anm. 54), S. 107-125.

362

Öffentliche Erklärung (wie Anm. 568), unpag. [S. 7]. Ebd.

363

294

Wertheimer Bibel

Verfolgung ausliefern will, in strategisch wohlüberlegter Weise mit dem »Gewissenszwang, welchen man an einer benachbarten Kirche so sehr tadelt« 364 und beklagt das bisherige Verhalten seiner Gegner als gegen den Elenchus und gegen die protestantische Freiheit gerichtet. Dabei wird er sehr deutlich in seiner anschaulichen Beschreibung der verschiedenen Schritte des Verfahrens gegen ihn: »Viele wollen sich nicht einmal die Mühe geben, die strittigen Dinge einzusehen. Weil sie sich einbilden, ich widerspräche unseren Glaubenslehren: so werden sie dadurch in einen heftigen Eifer gebracht, meine Ubersetzung als irrig auszuschreyen und zu verfolgen. Sie sind unbemühet, den angegebenen Widerspruch zu erweisen, sondern glauben das Recht zu haben, unmittelbar mit der Gewalt zu verfahren. Dieienigen, welche nicht gelernet haben, die Sittenlehre auszuüben, ob sie gleich andern viel davon vorsagen, bemühen sich, mit den entsetzlichsten Lästerungen und Schmähungen das ganze Vorhaben verhaßt zu machen. Durch dieses Verfahren erhalten sie andere, welche mehr Einsicht und Gottseligkeit besitzen, in der Furcht, daß sie nicht wagen dörfen, mit der Wahrheit hervor zu treten und dieselbe vertheidigen zu helfen: wie mir aus sicheren Nachrichten gar wol bekant ist. Ist dieses nicht eine offenbare angemaßte Gewalt und Tiranney?« 365

Schließlich kehrt er den Spieß sogar um und fragt seine Leser, ob nicht dieses Verfahren, das den evangelischen Elenchus und die protestantische Freiheit beiseitesetze, der wahren Religion viel mehr Schaden zufüge, indem jeder unvoreingenommen Denkende einen Abscheu dagegen bekommen müsse. Dagegen habe er das volle Vertrauen, daß die evangelische Kirche die Unschuld seines Werkes und seiner Absicht erkennen und dieses aus seinen eigenen Schriften und nicht nach Vorbehalten seiner Gegner beurteilen werde. Noch einmal bekennt er sich wie schon in der Vest gegründeten Wahrheit feierlich zur Augsburger Konfession, und erklärt seine Bereitschaft, jederzeit alle Einwände zu prüfen und deren Wahrheit anzunehmen. Seine Übersetzung habe nicht die geringste Veränderung in Religionssachen zur Folge, noch beabsichtige er die öffentliche bzw. amtliche Einführung seiner Ubersetzung. Deshalb erwarte er auch von den »hohen Vorstehern«366 der Kirche eher Förderung bei seiner ehrlichen Absicht als Verfolgung. Adressat dieser Versicherungen sind diesmal ganz offensichtlich die Obrigkeiten des Reiches.

14. Der Rückgang der öffentlichen Debatte angesichts des sächsischen Verbots: Die Hamburgischen Berichte von Gelehrten Sachen von Februar bis zum Sommer unter der wechselnden Großwetterlage Auch auf die Hamburgischen Berichte war die durch das sächsische Verbot veränderte Großwetterlage und natürlich auch das Anschreiben Langes an Kohl nicht ohne Wirkung geblieben. Nur spärlich wurde nun über die weitere Entwicklung der Auseinandersetzung um die Wertheimer Bibel berichtet, vor allem über kritische Beiträge dazu, dennoch immer beto-

3« Ebd. 365 Ebd. 366 Ebd., unpag. [S.8],

14. Wechselnde Großwetterlage

295

nend, daß man eine völlige Unparteilichkeit der Berichterstattung einzunehmen gedenke. So erscheint am 17. Januar eine parteiisch zustimmende Rezension zu dem Büchlein des Jenenser Theologieprofessors Johann Jacob Rus gegen die Wertheimer Bibel, der nach Meinung des Rezensenten »die gerechtesten Klagen über dieses Gotteslästerliche und gefährliche Buch« führe. 3 6 7 Während der Autor des Buches nur knapp referiert wird, ergreift der Rezensent die Gelegenheit, dem Leser selber zu erklären, daß über die Wertheimer Bibel das »Gemüt erzittern, und die Haare zu Berge stehen« müßten, weil — wie er Lange nachspricht - Gott selber zur Ursache des Bösen und der Sünde gemacht werde. Ausdrücklich erwähnt er den Wunsch des Jenenser Theologieprofessors, die weltliche Obrigkeit möge die geplante Fortsetzung der Bibelübersetzung verhindern, weil dieses Bibelwerk als das »ärgste Gift« anzusehen sei, als eine »vom Teufel angestiftete Arglistigkeit«. Am 24. Februar erscheint dann in der Gelehrten Zeitung eine nur ganz kurze Anzeige der zweiten Auflage des Langeschen Philosophischen Religionsspötters.368 Die Schrift, die ja bereits gelegentlich der ersten Auflage besprochen worden sei, wäre nun um eine dritte und vierte Sektion vermehrt worden. Während die dritte Sektion noch weitere einzelne Stellen der Übersetzung kritisch diskutiere, werde in der »vierten [...] von den, über das wertheimische Unternehmen, in der evangelischen Kirche bisher gefälleten, Urteilen gehandelt, alwo über diejenige Recension des wertheimischen Uebersetzers, welche in diesen Berichten ehemals mitgeteilet worden ist, zuförderst einige Anmerkungen gestellet, sodann die wolgesetzte Prüfung des ungenannten hamburgischen Gelehrten, welche den Berichten dieses Jahr einverleibet worden ist, von Wort zu Wort angeführet«.

Außerdem sei darin noch ein Auszug aus dem gegen die Wertheimer Bibel polemisierenden Weihnachts-Festprogramm der Jenenser Universität nebst deutscher Übersetzung enthalten und schließlich auch ein Schreiben des Grafen Ludwig Moritz von Löwenstein-Wertheim an Lange, in dem dieser sein Mißfallen über die Wertheimer Bibelübersetzung zum Ausdruck gebracht habe. Die Anzeige beschränkt sich auf die bloße Mitteilung des Inhalts und verzichtet auf jede Wertung. Am 16. März erfolgt dann aber eine erneute, und zwar diesmal ausfuhrliche und vollständig zustimmende Besprechung desselben Langischen Büchleins in seiner zweiten Auflage, mit einem ausführlichen Zitat Langes gegen die Anwendung der mathematischen Methode in der Philosophie und Theologie. 3 6 9 Inzwischen war offenbar etwas geschehen. Die Hamburgischen Berichte hatten Post aus Halle bekommen. Bereits am 7. März 1736 beantwortete der Hamburger Redakteur und Herausgeber dieser Gelehrten Zeitung Johann Peter Kohl einen Brief Joachim Langes. 370 Obgleich dieses Anschreiben Kohls in mancher Hinsicht einen recht willfährigen Eindruck

367

368 369 370

Hamburgische Berichte von gelehrten Sachen. N.V. 17.1. 1736, S. 3 3 - 3 5 , hier S.34. - Möglicherweise stammt die Rezension bereits von Bertram, dem engen Korrespondenten von Joachim Lange, der in Absprache mit diesem Beiträge für die Zeitung schreiben sollte und mehrere Schriften gegen die Wertheimer Bibel in der öffentlichen Debatte publiziert hat. Hamburgische Berichte. N. 16. 24. Februar 1736, S. 142. Hamburgische Berichte. N.22. 16.März 1736, S. 185-190. FSt Halle A188b:372, lr-2v.

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Wertheimer Bibel

macht, stimmt er doch nicht in die allgemeine Diffamierung des Wertheimers und seiner Intentionen ein, sondern macht - deutlich genug gegen die Strategie Langes — einen Unterschied zwischen dem Autor und seinem Werk, zwischen den Intentionen und den tatsächlichen Resultaten des Unternehmens. Er bedauert gleich eingangs den Autor der Bibelübersetzung, »daß er an ein, der Religion und ihm selbst so nachtheiliges Unternehmen, Hand angeleget, und eine nicht geringe Verwirrung und Ärgernis angestiftet hat«. 371 Im weiteren betont Kohl dann sogleich, daß man sich glücklich schätze, ein Werkzeug zur Verteidigung der »theure[n] Wahrheit christlicher Religion [...] wider die Verfälschungen und philosophischen« Verdrehungen für den Professor Lange zu sein. 372 Außerdem sieht Kohl sich offenbar durch Langes Anschreiben genötigt, die bisherige Veröffentlichungspolitik der Hamburgischen Berichte zur Wertheimer Bibel zu rechtfertigen. Seine oben bereits erwähnte Erklärung läßt jedoch an Eindeutigkeit durchaus zu wünschen übrig, was Joachim Lange sicherlich mißfallen haben dürfte. Er erklärt einerseits, daß man bemüht war und sein werde, »die betretenen Wege der Unpartheylichkeit ferner fortzugehen«, um Lange dennoch zu versichern, daß man darauf achten werde, den »Zunöthigungen, scheinbaren Vorstellungen derjenigen, die an diesem Bibelwerck Antheil haben, nicht den geringsten Platz, oder [...] Gehör zu geben«. 373 Es ist angesichts der mangelnden Dokumente der Diskussion jenseits der Öffentlichkeit interessant und wegen der üblichen Möglichkeit anonymer Beiträge auch glaubhaft, wenn Kohl an dieser Stelle berichtet: »Es sind zwar schon mehr, als einmal Vertheidigungen für die Wertheimische Übersetzung eingesandt worden. Man hat sie aber beständig abgewiesen, weil wir uns fest vorgenommen haben, nicht das geringste in defensionem einzusetzen, sondern die dahingehörige Schriften zur Historie, (damit [...] die Historie dieser Controverse in ihrer Connexion bleibe) zu berühren.« 374

Man hatte also in Hamburg inzwischen beschlossen, keine selbständigen Beiträge mehr aufzunehmen, sondern sich auf die Rezension der erscheinenden Schriften, allerdings auch der Verteidigungen, zu beschränken. Daß damit immer noch mehr Freiräume zur öffentlichen Diskussion blieben, als Lange akzeptieren wollte, konnte man übrigens schon in der bereits genannten Nummer vom 16. März nachlesen, die so willfährig Langes Forderungen zu folgen schien. 375 In seinem Brief meldet Kohl dann noch in größter Dienstfertigkeit die Besorgung einer von Lange übersandten antiwertheimischen Schrift zum Druck, um am Ende wiederum bedauernd zu erklären, daß er bei der wohl von Lange geforderten Veröffentlichung der lobenden Rezension der zweiten Auflage seines Religionsspötters durch »ein und ander Umstände« genötigt sei, »die einzige Passage von den Leipziger Zeitungen auszulassen«. 376 Hier scheint den Hamburger Redakteur eine Art Solidarität mit den Leipziger Kollegen bewogen zu haben, sich dem Abdruck zu verweigern. Ebd., lr. Ebd., lv. 373 Ebd., 2r. 374 Ebd., 2 r - v . 3 7 ' Hamburgische Berichte. N. 22. 16. März 1736, S. 190 ff 376 FSt Halle AI 88b:372, 2v. 371

372

14. Wechselnde Großwetterlage

29 7

Scheinbar handelt es sich in der schon genannten Nummer 22 vom 16. März 1736 mit der überaus lobenden und ungewöhnlich ausfuhrlichen, fünfseitigen Rezension der 2. Auflage des Religionsspötters aber um ein willfähriges und furchtsames Eingehen auf Langes Schreiben — bis man unter derselben, im deutlichen Abstand und in fetten Lettern vom übrigen Text abgehoben, den Namen ihres Autors lesen kann: D. Joachim Lange. 377 Man hatte also der Forderung Langes nach vollständigem Abdruck seiner Rezension nachgegeben, aber es bleibt dem Leser festzustellen: Eine Selbstlob Langes! Ein Autor, der seine eigene Schrift über Gebühr lobt. Die schon darin liegende Widersetzlichkeit der Hamburger wird aber noch in derselben Nummer unmißverständlich bestätigt. Unmittelbar unter Langes Namen erscheint nämlich unter dem Artikel Wertheim eine knappe nüchterne Besprechung sowohl der Kritik der Wertheimer Bibel in den deutschen Acta eruditorum samt der Verteidigung Schmidts dagegen, im Stil eines bloßen Referats von Argument und Gegenargument, ohne diffamierende Wertungen, in einem sachlichen und informativen Stil. Eingangs entschuldigt man sich natürlich umständlich, unter Berufung auf eine unparteiliche Berichterstattung, überhaupt Positionen des Wertheimers zur Veröffentlichung zu bringen: »Die dasige neue Ubersetzung der Bücher Mosis erfähret täglich neuen Widerspruch. Da wir nun einmal angefangen haben, die Historie dieser Streitigkeit in diesen Blättern mit zunehmen, müssen wir auch der letzteren aus Wertheim eingelaufenen Verantwortungsschrift einige Meldung thun. Sie heist: Verantwortung der freien Ubersetzung von den göttlichen Schriften [...] gegen die widrige Beurtheilung der dt. AE.« 3 7 8

Plötzlich, im Frühsommer 1736, wagen sich die Hamburgischen Berichte von gelehrten Sachen aber noch weiter vor. Am 5. Juni drucken sie eine Rezension einer Schrift eines »hochberühmte[n] Wittenberger Theologe[n] [Abicht]« ab, der statt wüster Polemik recht sachlich argumentiert und die Übersetzung an der vom Autor vorgegebenen Methode des Übersetzens und an den theoretischen Regeln der Interpretation mißt. Er legt den Finger auf die Wunde, indem er Leibniz' Theodicie selbst anfuhrt, um Schmidt »den Unterschied zwischen beständigen und ewigen Wahrheiten, die schlechterdings und geometrice nothwendig sind, und zwischen solchen Wahrheiten und Gesetzen der Natur, welche von dem Wohlgefallen Gottes dependiren, und welche wir aus der Erfahrung lernen«, 379 klarzumachen. Außerdem wird zweier Disputationen von M. Georg Laurentius Reitzius gedacht, in denen es um eine philologische Argumentation einzelner Stellen der Übersetzung geht, die ebenfalls einen sachlichen Eindruck machen. Zuletzt gibt der Rezensent auch noch ausdrücklich seinem Wunsch Ausdruck, »daß insonderheit der Punkt von den Weissagungen und der geforderten Verbindung der götlichen Wahrheiten unter sich und mit andern, von einem Gelehrten, der wider die, von dem Übersetzer so genannte, bestimmte Lehrart nicht eingenommen ist, und doch gegen die göttliche Offenbarung eine gebührende Hochachtung heget, mögte genauer untersuchet wer-

377 378 379

Hamburgische Berichte, XXII. 16. März 1736, S. 188 ff. Ebd., S. 190 ff. Hamburgische Berichte. N . 4 5 , 5. Juni 1736, S.410fF., hier S.411.

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Wertheimer Bibel

den«.380 Sowohl mit den abgedruckten Kritiken der Wertheimer Bibel als auch mit dieser Aufforderung laden die Hamburgischen Berichte geradezu zu einer Fortsetzung der öffentlichen Diskussion ein, und zugleich auch - ganz im Sinne des Wertheimers - zu ihrer Versachlichung. Am 8. Juni 1736 aber kommt selbst der Wertheimer wieder ausfuhrlich zu Wort - es wird ihm sogar eine ganze Nummer gewidmet.381 Schon auf der Titelseite prangt der Artikel Wertheiml Augenscheinlich scheint man deswegen keine Sorge wegen des Abganges gehabt zu haben, wohl eher im Gegenteil! Die Redaktion habe vom Verfasser der Wertheimer Bibel am 7. April — der Entschluß zum Abdruck hat offenbar zwei Monate gebraucht - ein Schreiben erhalten, zusammen mit seiner Öffentlichen Erklärung, »davon wir nicht unterlassen wollen um der Wahrheit desto freieren Lauf zu lassen, und unsern berühmten Theologis zu desto besserer Entdeckung derselben Gelegenheit zu geben, etwas beizubringen«.382 Im folgenden wird zunächst der Brief - offensichtlich gegen die Versicherung, die man Lange wenige Monate zuvor gegeben hatte, fast vollständig abgedruckt. 383 Dann wird Schmidts Dementi gebracht, er sei keineswegs — wie Lange in seiner eigenen Rezension behauptet hatte — der Autor der prowertheimischen Rezension im 2. Stück der Hamburgischen Berichte, die unter dem Pseudonym Aletheus Eusebius erschienen war.384 Weiterhin wird ein Argument Schmidts gegen die ihm unterstellte Mißachtung Luthers in ganzer Länge abgedruckt, die sich auf seine Verteidigung gegen die deutschen Acta eruditorum bezog, das Schmidt bereits an einen »gewissen Gelehrten nach Regensburg« gesandt hätte. 385 Schließlich folgt auch noch eine ausfuhrliche, vierseitige Rezension der Öffentlichen Erklärung, die vor allem ein sachliches Referat der Schmidtschen Argumentation bietet, eine Erläuterung seiner Regeln wie auch seiner aufrichtigen Intention einer Verteidigung der christlichen Wahrheiten gegen die Deisten. Das bedeutet angesichts der schwierigen öffentlichen Verbreitung der Verteidigungsschriften des Wertheimers eine enorme Steigerung der Publizität der Argumente Schmidts und besonders seines feierlichen Bekenntnisses zur christlichen Religion. 386 Außer wenigen kurzen Nachrichten auf der letzten Seite ist diese ganze Nummer der Hamburgischen Berichte ein einziger Artikel Wertheim, fast wie eine Festschrift zum 1. Jahrestag der öffentlichen Debatte um die Wertheimer Bibel. Mit der Nummer vom 8. Juni 1736 hatte sich die einflußreiche und überregional gelesene Hamburgische gelehrte Zeitung in aller Offenheit für den Wertheimer ausgesprochen, leider gerade zu einem Zeitpunkt, da sich das Blatt in Berlin wendete. Daß die Hamburgischen Berichte ausgerechnet im Juni 1736 den Argumenten des Wertheimers so großen Raum geben, erklärt sich wohl vor allem aus der momentan günstigen Entwicklung der Großwetterlage in Hinblick auf die Auseinander-

380 381 382 383 384 385 386

Ebd., S. 412. (Hervorhebung - U. G.). Hamburgische Berichte. Nr. 46. 8. Juni 1736, S. 4 1 7 - 4 2 4 (!). Ebd., S. 417. Ebd., S.417f. Ebd., S. 418. Ebd., S. 418ff. Siehe ebd., S. 4 2 0 - 4 2 4 .

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15. Erste Welle von Widerlegungen

Setzung um die Philosophie von Christian Wolff, die insbesondere von den Veränderungen am Berliner Hof abhängig waren. Angesichts der bis dahin betriebenen »Ausgewogenheit« der Berichterstattung zur

heimer Bibel

Wert-

und angesichts der Weigerung, direkt Stellung zu nehmen, mag es uns über-

trieben erscheinen, wenn es bereits in Schmidts Anschreiben an Kohl, also doch noch vor dieser ihm gewidmeten »Sondernummer« heißt: »Die unpartheiische Gewogenheit, welche e. H. gegen mich so wol als meine Gegner, in dero Berichten blicken lassen, und die Willfährigkeit, nach welcher sie meine Schriften darin bekant machen, verbindet mich, ihnen hiemit meine gehorsamste Dankbarkeit dafür zu bezeugen. Ich kene die Absicht der Berichte, und lobe die Unparteilichkeit derselben. Dahero wundere ich mich gar nicht, daß ich manchmal die giftigsten Ausdrücke meiner Feinde darin antreffe, zumal da ich sie öfters als Nachbarn von mir daselbst erblicke. Mein Trost bei allen den heftigen Lästerungen und Verfolgungen ist die Unschuld meiner Sache. Ich hoffe, meine Herren, Sie werden mich nirgends auf Betrug und unrichtigem Verfahren in meinen Schriften angetroffen haben, oder befinden, daß ich gegen meine Feinde unbillig bin. Ich gedencke gar oft an ienes: Sie wissen nicht, was sie thun. Ob aber ihr Verfahren, auch in dem Fal eines irrigen Gewissens mit den Regeln der Gottseligkeit überein komme, das werden erleuchtete Personen gar leicht sehen.« 387 Unter den gegebenen Umständen sollten wir jedoch Schmidts euphorische Bewertung der

Hamburgischen Berichte als die des Betroffenen ernst nehmen: die Hamburgischen Berichte waren inzwischen, nach der Maßregelung der Leipziger Neuen Zeitungen, die einzige Gelehrte Zeitung geworden, die es überhaupt noch wagte, seine Ver-

couragierten Haltung der

öffentlichungen bekannt zu machen oder wenigstens anzuzeigen.

15. Eine erste Welle von Widerlegungen der Wertheimer Bibel bis zum Sommer 1736 - theologische Argumentation und moralische Diskreditierung In dem nur wenige Jahre später 1 7 3 9 erschienenen Band von

Zedlers Universallexikon

heißt

es unter dem Artikel »Wertheimische Bibel« lapidar: »Bey den angeführten Umständen konnte es nicht anders seyn, als daß diese Wertheimische BibelÜbersetzung, so bald sie das Licht erblicket hatte, groß Aufsehens machte, und viele Bewegungen verursachte. Denn es sind nicht nur über zehen Verordnungen hoher Obrigkeiten dargegen ergangen; sondern auch über 120 Schrifften der Gelehrten, in einer Zeit von 4 Jahren, darwider herausgekommen, deren man nun die vornehmsten erzehlen, und also von dem darüber entstandenen Streite eine kurtze Historische Nachricht hier ertheilen will.« 388

387 388

Ebd., S. 417f. Artikel Wertheimische Bibel. In: Zedlers Universal-Lexicon. Bd. LV (wie Anm. 15), Sp. 617-637, hier Sp. 613. - Diese Zahlen sind allerdings aus Sinnholds »Beschluß« übernommen, der von insgesamt 120 zur Wertheimer Bibel erschienenen Schriften spricht, einschließlich der prowertheimischen Schriften. Vgl. Sinnhold (wie Anm. 19), S. 351.

300

Wertheimer Bibel

In der Tat handelt es sich um eine schwer überschaubare große Menge von Widerlegungsschriften mit unterschiedlichem Charakter und mit sehr ungleichem argumentativen Gehalt, mit unterschiedlicher Betonung entweder der inhaltlichen theologischen Argumentation oder der moralischen oder religiösen Denunziation. 389 Zedier zählt allein 5 3 selbständige Schriften auf. Sinnhold fuhrt etwa 1 1 0 Veröffentlichungen gegen den Wertheimer an, nicht gerechnet die Rezensionen und Auszüge, die selber nicht mit eindeutigen Parteinahmen sparen. In den

Acta historico-ecclesiastica

werden über 9 0 Schriften, darunter auch viele Bei-

träge zu Gelehrten Zeitungen besprochen. 390 Die meisten dieser Schriften sind allerdings erst im Jahre 1737, viele 1 7 3 8 und einige selbst noch 1 7 3 9 und 1 7 4 0 erschienen. Zu den ersten noch 1 7 3 5 und 1 7 3 6 erschienenen Widerlegungen gehörten wohl nicht zufällig Stellungnahmen von Theologen der Universi-

Religionsspötter Wertheimer Bibel

tät Halle, 391 von wo schon der wo aus im Januar 1 7 3 6 die

ausgegangen war, der Universität Leipzig, von beim sächsischen Kirchenrat angezeigt worden

war, 3 9 2 der Universität Jena, deren ehemaliger Student Johann Lorenz Schmidt schließlich war und deren Magister bekanntermaßen dem Wolffianismus verfallen waren, was in der zweiten Auflage von Langes

Religionsspötter

als Vorwurf deutlich genug ausgesprochen wor-

den war, 3 9 3 und der sächsischen orthodoxen Universität Wittenberg, die sich hinsichtlich ihrer Orthodoxie nicht von den Leipzigern überbieten lassen wollte. 3 9 4 Weiterhin meldeten 389

390

391 392 393

394

Hirsch konstatiert aber: »Dem ungeheurlichen Aufgebot entspricht nun keineswegs ein Reichtum von Gedanken. Es werden immer wieder die schon von Lange gestellten Fragen behandelt. Der ganze Kampf spitzt sich zu auf das Verhältnis des Wertheimers zur Wolffischen Philosophie und auf die Weissagungen von Christus im Mose. Höchstens, daß die allgemeine Verteidigung des göttlichen Ansehns der Schrift oder die der üblichen Auslegungsgrundsätze noch zu Worte kommt.« (Hirsch (wie Anm. 6), S. 433) Vgl. AHE. Teil 1, Anhang zum l . B d . Weimar 1736, S. 1-105; Bd. 2. Teil 7 (1737), S. 145-172; Teil 8 (1737), S. 2 8 1 - 3 1 0 ; Teil 9 (1737), S. 4 8 0 - 4 9 6 ; Teil 10 (1738), S. 6 0 8 - 6 6 3 ; Teil 11 (1738), S. 8 3 5 - 8 4 9 ; Teil 12 (1738), S. 1000-1015; 2. Bd.: Anhang zu den Actis historico-ecclesiasticis. Weimar 1738, S. 1038-1152; 3. Bd., Teil 13 (1738): Weitere Nachricht von den itzigen Streitigkeiten wegen der wertheimischen Bibel, S. 136-156; Teil 16, Weimar 1739, S. 6 2 0 - 6 3 1 ; Teil 17 (1739), S. 7 8 1 - 7 9 5 ; 4. Bd. Anhang. Weimar 1740, S. 1140-1144. Sigismund Jacob Baumgarten: Diss. de dictis Scripturae Sacrae probantibus. Halle Nov. 1735. Salomon Deyling: Vorrede zu: Observationes miscellaneas. Leipzig 1736. Johann Reinhard Rusens meditatio natalitia, exhibens breves in pentateuchum Wertheimiensem depravatum stricturas, & Praecipuorum quorundam locorum de messia vindicias. Jena 1735; Joachim Justus Rau: Vindiciae promissionum de messia, Abrahamo factarum, fideique ejus & justitiae, potissimum ab injuria, per interpretem pentateuchi Wertheimensia illata. Jena 1736; George Wilhelm Oberkampf (Adjunct der philos. Fac.): Disp. am 18.3.1736 De significatione verborum, quibus induratio Pharaonis inhistoria Mosaica exprimitur. Johann Georg Abicht: Anmerckungen über die freye Übersetzung des ersten Theils der göttlichen Schrifften, welche zu Wertheim gedruckt worden, worinnen die Gesetze der Israeliten enthalten sind, zu dem Ende aufgesetzet, daß man des neuen Übersetzers Absichten erkennen könne. 1735; ders.: Programma de angelorum potentia. 1736; George Lorentz Gottlieb Reizius: Observationes philologicas, in nonnulla Pentateuchi loca, a translatore Wertheimensi corrupta, Wittenberg 1736; Heinrich Gottfried Haferung: Diss. de mysteriis, neque comprehendi valentibus, neque tarnen rationi adversantibus. Wittenberg 1736.

15. Erste Welle von Widerlegungen

301

sich frühzeitig der Marburger reformierte Theologieprofessor Johann Christian Kirchmeier395 sowie von der Tübinger Universität sowohl der Kanzler PfafF als auch der Magister Johann Ulrich Steinhofen 396 Außer diesen Vertretern zumeist lutherischer Universitäten traten gegen die Wertheimer Bibel aber auch der für seine Polemik gegen die Katholiken bekannte Decanus Georg Ludwig Oeder in Feuchtwangen im Ansbachischen auf, unter dem Pseudonym Sincerus Pistophilus, der Rektor des Rudolstädter Gymnasiums Johann Gotthold Rosa und der Pastor und Inspector in Schulpforta, Johann Andreas Walter. Diese drei Kirchenmänner standen alle mit den Hallensern im Briefwechsel und fühlten sich wohl alle direkt von Joachim Lange und seinem von ihm flächendeckend versandten Religionsspötter aufgerufen, eine Stellungnahme zu der Wertheimer Bibel abzugeben. 397 Schließlich beeilte sich auch der Hofprediger und Kirchenrat in Aurich, Johann Friedrich Bertram, einer gerade fertiggestellten Schrift einen Anhang zur Wertheimer Bibel hinzuzufügen, um dem brieflich übermittelten Wunsch des Hallenser Hauptes der Pietisten nach Widerlegung des Wertheimers Genüge zu tun. Er wird sich in der Folge zu einem der aktivsten Parteigänger Langes entwickeln. 398 Zu den noch bis zum Sommer 1736 gegen die Wertheimer Bibel auftretenden Autoren gehörten aber auch die ihrer zeitgenössischen Reputation nach bedeutendsten und allgemein anerkannten Vertreter der lutherischen Theologie, die zumeist auch noch die wichtigsten theologischen Fakultäten im lutherischen Raum vertraten - der berühmte, Wolff bekanntermaßen nahestehende Oberhofprediger Reinbeck in Berlin, der Professor der Theologie Joachim Oporin von der neuen Reformuniversität Göttingen unter Mosheims Kanzlerschaft,399 der schon genannte Professor der Theologie und Kanzler der Universität Tübingen Christoph Matthäus PfafF sowie der pietistische Hof-Diacon und Herausgeber des Werkes des berühmten Pietisten Johann Jacob Rambach Christus in Mose, Johann Philipp Fresenius aus Darmstadt. 400 Aber auch Joachim Justus Rau, dessen lateinische Abschluß-

355

Johann Christian Kirchmeier: Diss. de studio prophetico sobrie instituendo. Marburg 1736. Christoph Matthias Pfaff: Theologisches Bedencken. Tübingen 1736; Disputatio de methodo theologiam tradendi demonstrativa. Juli 1736; Johann Ulrich Steinhöfer: Diss. historico-critica, de poena serpenti irrogata, ad Gen. III, 14.15. 1736. 397 Yg[ j j e ¡ n j e n Franckeschen Stiftungen erhaltene Korrespondenz Langes, wo sich regelmäßige Briefe aller dieser Kirchenmänner finden lassen. 398 Vgl v o n Johann Friedrich Bertram den Anhang zu seinen unter dem Pseudonym Johannes Eleutherus a Verimontibus veröffentlichten Schriftmäßigen und gründlichen Gedancken von der menschlichen Vernunfft, und so wohl alten, als neuen Welt-Weisheit, den verderblichen Ausschweifungen der gegenwärtigen Zeit entgegen gesetzet, und zum Dienst der studirenden Jugend ausgefertiget. 1736. 399 Joachim Oporin: Die alte und neue Richtschnur überzeugend und erwecklich zu predigen, 1736. 400 Johann Philipp Fresenius, Hof-Diakon zu Darmstadt: Vorrede zu Johann Jacob Rambach: Christus in Mose; oder Betrachtungen über die vornehmsten Weissagungen und Vorbilder in den fünff Büchern Mosis auf Christum, 2 T. 1736 u. 1737. - Fresenius sieht denn auch darin eine göttliche Fügung, daß »nun Gott nach seiner Weißheit die Umstände dieses gegenwärtigen Buchs also dirigiret hat, daß es fast zu gleicher Zeit mit der Wertheimischen Bibel-Verkehrung an das Licht tritt, damit die Kirche Gottes gegen das schädliche Gift in derselben hier eine Artzney haben möge« (zit. nach Samlung (wie Anm. 19), S. 237). 396

Wertheimer Bibel

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disputation zur Erlangung der Doktorwürde an der wolffianisch unterwanderten Jenenser Universität die Wertheimer Bibel in einem Abschnitt behandelt, gehörte bereits zu den bekannteren und anerkannten Autoren und durfte sich auf dem Titelblatt seiner publizierten Schrift immerhin bereits als designierter Professor der Theologie an der preußischen Königsberger Universität vorstellen.401 Damit war es Joachim Lange durch seine Aktivitäten also in recht kurzer Zeit gelungen, die wichtigen und einflußreichen Universitäten in Sachsen (Leipzig, Wittenberg), Preußen (Halle, Königsberg, nicht allerdings die reformierte bzw. gemischte Universität Frankfurt/O.), Thüringen (Jena), Braunschweig-Lüneburg (Göttingen) und Braunschweig-Wolfenbüttel (Helmstedt) sowie Hessen-Kassel (Marburg) und Württemberg (Tübingen) zu einer gemeinsamen theologischen Front gegen die Wertheimer Bibel aufzubringen, die sich bald noch verstärken sollte. Dabei wird aus mehreren Stellungnahmen deutlich, daß man sich - aufgrund des Elenchus — verpflichtet fühlte und auch verpflichtet war, seinen ablehnenden Standpunkt in klarer und eindeutiger Weise öffentlich zu machen, auch wenn die Argumente längst schon von anderen öffentlich ausgesprochen worden waren. Ausdrücklich fordert Fresenius: »Zum andern, ist ein jeder rechtschaffener Lehrer schuldig, sonderlich denen neuentstehenden Ärgernissen in der Kirche Gottes bey aller Gelegenheit aufs kräftigste sich zu widersetzen.«402 Und da er nur einige ausgewählte Punkte an der Wertheimer Bibel monieren wollte, sieht er sich sogar genötigt, ausdrücklich zu erklären: »Ich muß aber vorher erinnern, daß ich mir nicht vorgenommen habe, an diesem Orte alle falsche Principia, alle gottlosen Verdrehungen, und die gantze verwegene Aufführung des gedachten BibelVerkehrers zu untersuchen, und zu widerlegen, als welches in einer Vorrede viel zu weitläuftig wäre, und ein besonderes Werk erforderte«,

damit niemand annehme, alles übrige würde er etwa billigen. Er werde nicht in erster Linie die bei Schmidt verschwundenen Weissagungsstellen diskutieren und retten, »sondern ich werde nur seine Principia, oder Grund-Sätze, worauf solche Verkehrungen gebauet sind, umstossen, da dann das Gebäude von sich selbst wird nachfallen müssen«. 403 Entsprechend entschuldigt sich der Wertheimer Prediger und Superintendent Friedrich Jacob Firnhaber schon im Titel seiner veröffentlichten Predigten, daß er als nächster zuständiger Geistlicher aufgrund der rechtlichen Verfaßtheit der Grafschaft Wertheim den Druck des Werkes nicht verhindern konnte, so daß er kein anderes Mittel sah, als zumindest in Wertheim dagegen zu predigen.404 Der spätere Berichterstatter Sinnhold bescheinigt dem 401

Dagegen wurde dem Königsberger Wolffianer Coelestin Christian Flottwell, der deswegen mit dem antipietistischen Königsberger Oberhofprediger Johann Jacob Q u a n d t im August 1736 nach Berlin kam, im selben Jahr eine philosophische Professur in Königsberg versagt. Vgl. Wehr (wie A n m . 215), S. 117.

402

Fresenius, zitiert nach: Samlung (wie A n m . 19), S. 237.

403

Ebd. Friedrich Jacob Firnhaber: D i e gerettete Ehre und Würde der Heiligen Schrifft: auf Veranlassung der zu Wertheim gedruckten freyen Übersetzung der 5 Bücher Mosis ... der Christlichen Gemeinde zu Wertheim öffentlich vorgetragen, und zur Bezeugung seiner schuldigen Amts-Treue, dargeleget. 1737.

404

15. Erste Welle von Widerlegungen

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Wertheimer Prediger denn auch, »daß der Herr Superint. und mit ihm das evangel. Ministerium eccles. zu Wertheim nichts bey dieser Sache unterlassen, wass ihre Pflicht erfordert gehabt.«405 Wirklich habe man ihn nämlich »anfänglich beschuldigen wollen, als habe er dabey seine Amtstreue nicht gnugsam beobachtet; man hat sich auch gewundert, wie es möglich seyn können, daß dieses Werck ohne Vorwissen des Herrn Superint. gedruckt worden«. Die der Wertheimer Bibelübersetzung so »günstigen Umstände« mußten natürlich für den Superintendenten Firnhaber gerade ungünstig sein.406 Sogar der berühmte Reinbeck, der sich von der Hallenser Waisenhauspartei durch seine zunächst per Briefwechsel halböffentlich, 407 später durch Bertram auch allgemein öffentlich gemachte Mentorschaft gegenüber Schmidt in die Enge getrieben fühlt, 408 sieht sich offensichtlich genötigt, durch eine rasche Stellungnahme möglichst bald jeden Verdacht von sich abzuwenden, das Wertheimer Projekt durch eine zu milde Beurteilung über die ihm aus Wertheim zugesandten Auszüge der Übersetzung befördert zu haben. Er schickt deshalb sogar die noch feuchten Druckfahnen seiner Vorrede zu den Betrachtungen über die Augsburgische Confession an den durch Lange angestachelten Wertheimer Grafen Ludwig Moritz von Löwenstein-Wertheim, der über seine Beziehung zu Schmidt Rechenschaft von ihm gefordert hatte. Reinbeck will dem Grafen durch diese Stellungnahme versichern und belegen, daß seine eigene Position sich nur zu deutlich von der des Wertheimers unterscheide.409 Angesichts dessen, daß es also nicht so sehr auf die Originalität der Argumente als vielmehr auf eine eindeutige Stellungnahme gegen die Wertheimer Bibel ankam, überrascht es nicht, daß die theologischen Einwände der Gegner trotz der überbordenden Vielzahl an Publikationen, die dem Projekt der Wertheimer Bibel zu widersprechen suchten, weitestgehend übereinkommen: daß die Wertheimische Ubersetzung aufgrund falscher Prinzipien durchgehend die Weissagungen auf den Messias verschwinden lasse, wodurch in der Folge natürlich auch die Mittlerrolle des Erlösers und damit auch das Mysterium der Dreieinigkeit in Frage gestellt würden, da von einem Messias in diesem ersten Teil der Übersetzung überhaupt gar nicht die Rede sei. Immer wieder werden deshalb einzelne oder auch mehrere traditionelle Stellen der Hl. Schrift als Weissagungen gerechtfertigt oder bewiesen. Darüber hinaus finden sich auch Kritiken an den Übersetzungsprinzipien. Die Kritiken und Wider-

405 406 407 408

409

Sinnhold (wie Anm. 19), S. 123f. (Erste Fortsetzung. III. Cap. §4). Vgl. das 4. Kap. Vgl. oben Anm. 162-164. Bertram hat Reinbeck öffentlich denunziert in seiner Schrift Gewissenhafte Anmerckungen über die aus dem Deutschen ins Frantzösische übersetzte, und zu Leipzig edirte Schutz-Schrifft, damit ein gewisser Anonymus die Wolffische Philosophie wieder den kurtzen Abriß derselben, welchen D. Lange in Halle auf Königliche Ordre einschicken müssen, zu retten und zu schmücken gesucht. 1737, in quarto, p. 75. Er meldete dort, »man habe sichere Nachricht, daß ihm der Wertheimer die ersten Bogen seiner Ubersetzung in dem Manuscripte zugesendet, und sein Gutachten darüber verlanget; Worbey er zwar etwas erinnert haben solte, er müsse aber gar gelinde mit ihm umgegangen seyn, weil das Wercke gleichwohl zu dem Vorschein gekommen.« Vgl. oben Anm. 164.

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Wertheimer Bibel

legungen lassen sich aber doch, mit Ausnahme ihres theoretischen Anspruchs, nach zwei Kriterien unterscheiden: Zum einen darin, inwieweit sie die von ihnen kritisierten Positionen dem Wertheimer als bewußt gewollt bzw. als billigend in Kauf genommen unterstellen, zum anderen, inwiefern die Wertheimer Bibel wegen ihrer offenbar aus der wolffianischen Philosophie genommenen Übersetzungsprinzipien eine notwendige Konsequenz daraus sei. Aus diesem behaupteten Zusammenhang der Wertheimer Bibel mit der wolffianischen Philosophie entstand in der Folge eine Nebendebatte um die wolffianische Philosophie in ihrer Stellung zur christlichen Offenbarung, auf die noch einzugehen sein wird. 410 Sofern dagegen sogleich die Absichten des Übersetzers in Frage gestellt werden, wird an des Wertheimers Ehrfurcht am biblischen Text gezweifelt, man wirft ihm Arroganz gegenüber den einfachen gläubigen Christen vor, die die mathematische Lehrart nicht verstünden, oder man unterstellt seinen Bekenntnissen zur christlichen Religion schlechthin Unaufrichtigkeit, er müsse also notwendig einen schlechten Charakter haben. Eine deutliche Sprache spricht gerade in diesem Punkt der Artikel Wertheimische Bibel in Zedlers UniversalLexicon, das keineswegs einen neutralen Standpunkt in der Sache einnimmt. Gegen das erklärte Anliegen des Wertheimers, die christliche Religion durch seine Übersetzung zu verteidigen, heißt es dort: »Doch, daß er damit der Welt nur einen blauen Dunst vormachen wollen, zeigt seine unternommene Übersetzung der fünff Bücher Mosis gar deutlich. Wie mag er sagen, er sey ein EvangelischLutherischer Christ, da er das Ansehen der Heiligen Schrifft, und mit derselben die gantze Christliche Religin, zu unterdrucken, die Absicht gefuhret: Da man wohl siehet, wie er aus der Bibel ein philosophisches Buch machen, alle darinnen enthaltenen göttlichen Aussprüche der Vernunfft unterwerffen, von keinen Glaubens-Lehren und Geheimnissen etwas wissen, und andern weiß machen wollen, man habe keine andere, als nur eine natürliche und philosophische Religion, anzunehmen. [...] Die Quelle davon trifft man in seinem verderbten Seelen-Zustande, und zwar so wohl auf Seiten des Verstandes, als auf Seiten des Willens, an.« 411

Diese Art der Argumentation, die sich mehr oder weniger in den meisten der Widerlegungen finden läßt, stellt für Schmidt eine große Gefahr dar, weil die Zweifel an seiner redlichen Absicht seine Gegner von der Einhaltung des evangelischen Elenchus entlasten. Damit war die Grenze der protestantischen Freiheit im Umgang mit dem biblischen Text erreicht und der Eingriff der Obrigkeit, die Konfiskation des Buches, die Verfolgung des Autors und damit das Ende der öffentlichen Debatte gerechtfertigt. Im folgenden sollen unter den genannten Gesichtspunkten die frühen Stellungnahmen der wichtigen Theologen betrachtet werden. Der Wittenberger Theologieprofessor Abicht spricht die Intention seiner noch 1735 publizierten Widerlegung schon im Titel klar aus: Anmerckungen über die freye Übersezung

410 Ygj u n t e n Jas Kap. 18. Die öffendiche Nebendebatte der Langeschen Fraktion gegen Wolff: Die Wertheimer Bibel eine Frucht der WolfFschen Philosophie? 411

Artikel Wertheimische Bibel. In: Zedlers Universal-Lecicon. Bd. LV (wie Anm. 15), Sp. 601-602. Der Artikel beruht übrigens weitgehend auf Johann Georg Walch: Religions-Streitigkeiten (wie Anm. 14). Bd. V.2, §§ LII-LXXVI.

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des ersten Theils der göttlichen Schriften, welche zu Wertheim gedruckt worden [...] zu dem Ende aufgesezt, daß man des neuen Übersetzers Absichten erkennen könne. Die Hauptpunkte seines Widerspruchs werden in der Vorrede klar benannt. Er habe sogleich »einige Oerter« nachgeschlagen und die Übersetzung alsbald für zu frei befunden, weil 1. das Geheimnis der Dreieinigkeit an keiner Stelle aufscheine und 2. die Weissagungen auf den Messias nicht vorkämen (»weder der Weibes-Same, noch Abrahams-Same, noch Schilo«). 412 3. wird schließlich auch die erklärte Ubersetzungsregel des Wertheimers, wonach die ersten Verfasser aus sich verstanden werden müßten, moniert, da »die Apostel die Worte Mosis von Christo verstanden und ausgeleget« hätten. Er geht dann in sechs kurzen Kapiteln die strittigen Stellen aus den Büchern Mosis durch, aus denen »von alten Zeiten her« auf die drei Personen Gottes geschlossen worden sei. Jedoch hält sich Abicht eng an die Argumente Schmidts, seine Sprache und sein Diskussionsstil sind trotz deutlicher Ablehnung über weite Strecken relativ sachlich darstellend. Das schließt nicht aus, daß er Schmidts Erklärungen der Abweichung von wortwörtlicher Übersetzung in dessen Anmerkungen teilweise demagogisch zurückweist, obwohl er einräumen muß, daß Schmidt mit diesen Anmerkungen zum Ausdruck gebracht habe, daß ihm seine Abweichung bewußt gewesen sei und er Gründe hatte, dies zu tun. 413 Jedoch bringt Abicht auch sachlich zutreffende Argumente gegen den Wertheimer vor. Im 7. Kapitel führt er dann das Zeugnis der Apostel an, die sich auf die bekannten Bibelstellen als auf Weissagungen auf den Messias berufen hätten, nach Gal. 3,16 und Apg. 3 , 2 2 - 2 6 . Mit dem Argument, daß Gott als der einzige Autor der Hl. Schrift sich nicht widersprechen könne, konstatiert Abicht ganz orthodox: »Ich halte aber davor, es habe der Heil. Geist im Alten und Neuen Testament geweissaget. Im Alten Testament haben die Propheten verkündiget, welche Kennzeichen der Herr Messias an sich haben würde; im Neuen Testament bezeugen die Apostel, daß Jesus von Nazareth solche Kennzeichen an sich gehabt habe. Wer nun die Zeugnisse, welche die Apostel von Jesu erkläret, verwirft, der ist ein Jude, und kein Christe, welches ich vom neuen Übersetzer nicht vermuthen will.« 414

Im 8. Kapitel diskutiert Abicht aber noch die Forderung Schmidts, daß man die göttlichen Wahrheiten untereinander und mit anderen verknüpfen können müsse (»gleichwie die Philosophischen verbunden wären«), 415 wenn sie denn wahr seien, weshalb man den Freigeistern das Recht solcher Prüfung nicht absprechen könnte. Überraschend genug wohl auch für den Wertheimer bezieht er sich in seiner Widerlegung dieses Prinzips aber seinerseits auf Leibniz' Thiodicee. Erstens seien die offenbarten göttlichen Wahrheiten bereits untereinander verbunden und zweitens würden sich beide Arten von Wahrheiten nicht widersprechen. Zwar habe Bayle viele Argumente angeführt, die die Vernunft gegen die Glaubenslehre hervor-

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Samlung (wie Anm. 19), S. 220. Vgl. ebd., S. 2 2 0 - 2 3 2 . Diese Stellen betreffen wieder 1 Mose 15,6 (die Abraham zugerechnete Gerechtigkeit); 1 Mose 19,24 (Feuer auf Sodom); 1 Mose 2 2 , 1 8 (der Segen von Abrahams Samen); 1 Mose 4 9 , 1 0 (Vom Zepter von Juda); 5 Mose 18,15 (vom Moses gleichen Propheten). Ebd., S. 233. Ebd., S. 234.

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gebracht habe, jedoch habe der berühmte Leibniz dem Bayle gründlich geantwortet. Dann aber heißt es: »Es theilet der Herr Leibniz die Wahrheiten der Vernunft in zwey Classen: in die erste setzet er die beständigen und ewigen Wahrheiten, die schlechterdings und Geometrice nothwendig sind. In die andere setzet er die Wahrheiten und Gesetze der Natur, welche vom Wolgefallen Gottes dependiren, und welche wir aus der Erfahrung lernen.« 416

Während die geometrischen Wahrheiten genau mit den göttlichen offenbarten Wahrheiten übereinstimmten, so könnten die Erfahrungswahrheiten mitunter einen Schein des Widerspruchs gegen die offenbarten Wahrheiten an sich tragen, der aber nicht wirklich bestehe. »Eine Wahrscheinlichkeit aber hat keine Krafft eine wahrhafftig offenbahrte Wahrheit umzuwerfen.« 417 Abicht empfiehlt dem Wertheimer abschließend sogar eine gründlichere Lektüre von Leibniz, obwohl der Wertheimer eben diesen letzten Satz selber immer wieder vorgebracht hatte. Wenngleich dieser Kritiker also in der Diskussion der Prinzipien wie der einzelnen monierten Stellen der Ubersetzung recht sachlich argumentiert und durchaus auch interessante Einwände macht, so enthält die Schrift doch zugleich auch am Ende eines jedes Kapitels die obligatorischen Hinweise, die die schlechte Absicht des Wertheimers belegen sollen, was nur als Rechtfertigung der obrigkeitlichen Verfolgung verstanden werden kann. 418 An vielen Stellen sucht Abicht aus dem Text nachzuweisen, daß der Ubersetzer das Geheimnis der Dreieinigkeit wider besseres Wissen zum Verschwinden gebracht habe, nur weil er es nicht verstehen und mit seinem Verstand annehmen könnte. Den Grund für den Wegfall der Abraham zugerechneten Gerechtigkeit Gottes sieht Abicht sogar in einer sozinianischen Denkweise Schmidts. 419 In jedem Fall ist er auf den Nachweis aus, daß Schmidt nicht aus sprachlicher Ungenauigkeit auf theologische Fehldeutungen gelangt sei, sondern umgekehrt aus der Absicht einer Tilgung aller Weissagungsstellen und aller Geheimnisse aus der Hl. Schrift auf seine sprachlichen Eigenmächtigkeiten gekommen sei.420 Die durchaus zutreffende Berufung Abichts auf Leibniz läßt übrigens keine Rückschlüsse auf seine eigenen Positionen zu, da er sich bald darauf weitere Lorbeeren bei der Widerlegung von Leibniz'

416 417 418

419 420

Ebd. Ebd., S. 234 f. So sucht er z. B. die Ursache von Schmidts Tilgung des Plurals in 1 Mose 1,26, wo Gott in der Schöpfung spreche »Lasset uns Menschen machen«, oder in 1 Mose 3,22 (der Mensch ist geworden wie unsereiner) daraus zu erklären, »weil er [Schmidt] solche [die Vielheit der Personen Gottes] nicht begreifen können« (ebd., S. 222 f.). - Seine Antwort auf diesen unterstellten Zweifel an der unbegreifbaren Dreieinigkeit lautet ganz orthodox: »Allein wir glauben viel, das wir nicht begreifen können. [...] Kurz, wir glauben: Pater est fons Deitatis, Filius a patre est genitus, Spiritus S. ab utroque procedit. Und ob wir gleich in der geschaffenen Welt nicht drey Personen in einem Wesen finden; so folget doch daraus nicht, daß der Schöpfer nicht drey Personen in einem Wesen sey.« (ebd., S. 223) Ebd., S. 225. Ebd., S. 229, S. 2 3 0 f „ S. 232.

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Philosophie erworben hat. 421 Es ist übrigens ganz offensichtlich, daß Abicht seine Beiträge gegen die Wertheimer Bibel wie auch gegen den Wolffianismus durchaus auch im Sinne seiner eigenen Karriere verstand, um den Sprung von Wittenberg an die weitaus lebendigere und wohlhabendere Universität Leipzig zu schaffen. Dem sächsischen Kirchenrat Löscher schreibt er ganz unverblümt: »Wenn ich in Leipzig seyn könte u. publice disputiren solte, hofte ich viel Gutes zu schaffen.« 422 Der pietistische Theologe Johann Philipp Fresenius geht auf die Wertheimer Bibel bei Gelegenheit seiner Vorrede zu den von ihm herausgegebenen Betrachtungen über die Weissagungen und Vorbilder in den 5 Büchern Mosis auf Christum von Johann Jacob Rambach ein, und ist der Auffassung, daß sich beide Schriften gerade entgegenstehen, da die Wertheimer Bibel alle Weissagungen auf Jesus Christus ausschließen wolle. Für ihn gibt es überhaupt nur zwei Klassen von Leugnern der Weissagungen — verkehrte Toren, die die Gründe nicht geprüft hätten, oder »boßhafftige Schrift-Verkehrer« und »Feinde der Christlichen Religion«, zu welch letzteren er ohne Umschweife den Wertheimer als den unverschämtesten und gottlosesten rechnet.423 Er weist dann zunächst nach, daß in der Wertheimer Übersetzung die Weissagungen aus den Stellen 1 Mose 3,15 (Schlange), 1 Mose 12,3 (Abrahams Segen), 1 Mose 49,10 (Zepter von Juda), 5 Mose 18,15 (ein Prophet wie Moses) verschwinden, was ihm Beweis genug ist, daß Schmidt »Christum in Mosis Büchern nicht leiden könne; denn sonst würde er ihn gewißlich in den Haupt-Oertern gelassen haben, welche wir angefiihret, und welche der Heilige Geist selbst in den Schriften des neuen Testaments von Christo erkläret hat«. 424 Nachdem also gleich eingangs die böse Absicht des Wertheimers festgestellt ist, die das Versagen des Elenchus und das Eingreifen der Obrigkeit rechtfertigt, wendet sich Fresenius noch dem Prinzip der Wertheimischen Übersetzung zu, wonach die ersten Verfasser aus sich verstanden werden müßten. Auch hier nennt er es schon vor aller Untersuchung »die gifftige Quelle« der Verdrehungen der Weissagungen.425 In seiner Widerlegung dieser Übersetzungsregel geht er davon aus, daß die Aussprüche des Neuen Testaments ebenso göttlich seien wie die des Alten Testaments. Daraus leitet er ab, daß kein Widerspruch zwischen ihnen angetroffen werden könne und also sehr wohl Schrift durch Schrift und durchaus auch das Alte Testament durch das Neue Testament erklärt werden dürfe. Dem stellt er dann Schmidts eigene Begründung seiner Übersetzungsregel gegenüber, die er im folgenden zu widerlegen sucht.

421

Abicht schreibt an Löscher, daß er seine Widerlegung der Leibnizschen Philosophie nun drucken lassen wolle, die er dem Superintendenten zuvor zugesandt hatte. Vgl. Abicht an Löscher am 13. Dezember 1738. In: Max Grunwald: Varia zur Geschichte des Cartesianismus und Spinozismus. Aus der Wolfschen Briefsammlung. In: Archiv f. Geschichte der Philosophie. 10 (1896), S. 361-392, S. 3 6 1 - 3 9 2 , hier S. 375.

422

Ebd. Samlung (wie Anm. 19), S. 236. Ebd., S. 241 f. Ebd., S. 243.

423 424 425

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Zwar habe Moses, wie er durchaus zugebe, seinen Zeitgenossen etwas Verständliches sagen wollen, obwohl ihnen das Neue Testament noch nicht zur Verfügung stand, aber es habe eben Gott gefallen, »die Erkäntniß von dem Messia Stuffenweiß gehen zu lassen«426; entsprechend wurden am Anfang nur »erste Grund-Risse« 427 gegeben, eben in den Weissagungen und Vorbildern Mosis. Zugleich aber mußte darin etwas liegen, was für die künftigen klareren Zeiten bestimmt war, aber für die Zeitgenossen des Moses unverständlich bleiben mußte. Dabei geht er allerdings ebenso wie Schmidt fast selbstverständlich davon aus, daß es eine mündliche und eine schriftliche Offenbarung Gottes gegeben hat, wobei die mündliche Offenbarung mit dem Abschluß der Göttlichen Schriften aufgehört habe.428 Anders als der Wertheimer ist aber Fresenius der Auffassung, daß zwar die Zeitgenossen von Moses die schriftliche Offenbarung nur mit Hilfe der mündlichen Offenbarung verstanden hätten, daß wir aber, inzwischen ohne mündliche Offenbarung, auf andere Mittel zurückgreifen müßten, nämlich auf die inzwischen vorhandenen späteren göttlichen Schriften. Diese hätten mindestens eine größere Legitimation, zur Erklärung des Alten Testaments zu dienen, als die auf die bloße Vernunft angewiesene Erklärung der Begriffe aus ihrem Kontext, die oftmals nur zu Wahrscheinlichkeitsüberlegungen und keineswegs zu Gewißheit führe.429 Wenn daher Gott im Neuen Testament anzeige, daß gewisse Aussprüche des Alten Testaments im Sinne der Weissagung verstanden werden müßten, so würden diese also notwendig gerade diesen Verstand haben. Aus der Weigerung von Schmidt, die Bücher des Neuen Testaments zum Verständnis des Alten Testaments heranzuziehen, schließt Fresenius, daß Schmidt die Bücher des Neuen Testaments nicht für ebenso göttlich wie die des Alten Testaments halte und nur zum Schein an der Göttlichkeit der Schrift festhalte. Daher könne man ihn also zu Recht verdächtigen, ein Religionsspötter zu sein (wie von Lange geschehen). Wenn man sich fragt, warum der Wertheimer diese offen denunziatorische, wenngleich eine sachliche Diskussion seiner Argumente enthaltende Widerlegung dann in seine Beantwortung einbezogen hat, so wohl nicht nur wegen der großen Autorität dieses pietistischen Theologen, sondern vor allem wegen der ausführlichen Diskussion und Zustimmung zu der ihm so wichtigen mündlichen Offenbarung. Allerdings bot Fresenius im weiteren auch eine gefährliche Offenlegung und Interpretation der Wertheimischen Berufung auf die mündliche Tradition, auf einen »verblümten Verstand« und auf den »Kunstgriff« der Apostel, durch die er die Weissagungen auf den Messias retten wollte. Nach Fresenius würde der Wertheimer mit seiner Auffassung von dem Kunstgriff der Apostel diesen unterstellen, Moses' Autorität beim einfachen Volk für ihre Zwecke zu instrumentalisieren: »Weil sie nehmlich gemercket hätten, daß ihre Schüler viel auf Mosis Schriften hielten, so hätten sie gedacht: Wohlan, diese gute Meynung muß man sich zu Nutz machen; wir werden diese einfältigen Leute nicht besser von unserer Lehre überzeugen können, als wann wir sagen, daß Moses

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Ebd., S. 246. Ebd., S. 247. Ebd. Vgl. ebd., S. 249.

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schon von Christo und von der Christlichen Religion geweissaget habe. Zu dem Ende hätten sie einige Sprüche in Mose ausgesucht, die sich ziemlicher Massen zu ihrem Vorhaben hätten ziehen lassen, und hätten gesagt, daß solches lauter Weissagungen auf Christum seyen.«430

Diesen Verdacht mußte Schmidt unbedingt zurückweisen, um weiter auf dem Elenchus bestehen zu können; diese Darstellung unwidersprochen stehen zu lassen wäre einem Eingeständnis gleichgekommen. 4 3 1 Es gehörte ausdrücklich zu den Regeln des gelehrten Streitens, insbesondere auch des theologischen Streitens im Rahmen des Elfenchus, daß sachliche Argumente des Gegners widerlegt - oder aber wenigstens als unsachlich und daher der Widerlegung unwert zurückgewiesen werden mußten; bloßes Schweigen wurde einer Niederlage gleichgesetzt. Gegen die harte und voreingenommene Verurteilung der Wertheimer Bibel durch Fresenius, aber selbst auch gegen Abicht, hebt sich dagegen die Stellungnahme Reinbecks zur Wertheimer Bibel außerordentlich positiv ab, die dieser wie en passant in der Vorrede zum dritten Teil seiner Betrachtungen zur Augsburger Confession abgegeben hat. Des öfteren wurde Reinbeck in späteren Darstellungen zur Wertheimer Bibel vorgeworfen, er hätte die Ubersetzung zuerst in privaten Briefen lebhaft begrüßt und den Wertheimer ermutigt, um sich nach dem Erscheinen des Werks und dem Beginn der Verfolgung in der Öffentlichkeit zurückzuziehen und ablehnend zu äußern. 4 3 2 Das ist so nicht zutreffend. Reinbeck hat sich vielmehr in beiden Situationen außerordentlich differenziert geäußert. In seinem privaten Brief an Höflein vom 16. Juli 1733, in dem er sein Urteil über einen ihm zugesandten Auszug des Entwurfs abgegeben hat, finden sich in Zustimmung wie Ablehnung fast die gleichen Punkte genannt wie in der gedruckten Vorrede von 1736. Allerdings ist natürlich seine spätere öffentliche Stellungnahme durch einen sehr defensiven Charakter geprägt, da Reinbeck wegen des Wertheimers inzwischen selber in der Kritik steht. Um so mehr aber erstaunt seine offenbar ganz an Sachfragen interessierte und auch in der Kritik noch milde Diskussion der Wertheimer Übersetzung, die in der aufgeheizten Atmosphäre nach dem sächsischen Verbot in jedem Fall Courage verlangte. Ausdrücklich anerkennt Reinbeck gleich eingangs: »Ich kan diese Art zu übersetzen (wo man es anders eine Übersetzung eigentlich nennen kan), an sich selbst nicht tadeln.« 4 3 3 Gegen die vielstimmigen empörten Urteile, der Übersetzer wäre vom Grundtext abgegangen und hätte andere Worte gebraucht, also den heiligen Text verfälscht, so zuerst von Lange in die Welt gesetzt, verteidigt Reinbeck in eindeutiger Weise Schmidts Prinzip, Begriffe und nicht Worte zu übersetzen: »Es ist gewiß, daß, wenn

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432 433

Vgl. ebd., S. 256, im §30. In der Gründlichen Vorstellung wird denn auch angesichts der vielfältigen Vorwürfe gegen die Wertheimer Bibel ausdrücklich darauf verwiesen, daß »aber der Übersetzer allezeit widersprochen, und den Ungrund davon in öffentlichen Schriften deutlich gezeiget hat« (Gründliche Vorstellung der Streitigkeit welche über die im Jahr 1735 zu Wertheim herausgekommene freye Übersetzung der fiinf Bücher Moses von einigen Gottesgelehrten ist erreget worden. [Ohne Benennung des Verfassers, des Druckers und des Jahres.] Fol. 7. Bog. Zitiert nach: AHE. 2. Bd. 10. T., S. 608-663, hier S. 611). Vgl. oben Anm. 123. Samlung (wie Anm. 19), S.261.

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man aus einer Sprache alles nur von Wort zu Wort, wie ein Schüler in der Schule zu thun pfleget, übersetzen will, man zum öfftern gar keinen, geschweige denn einen richtigen Verstand heraus bringet.« Und fast in denselben Worten wie beim Wertheimer heißt es dann noch: »[E]ine jegliche Sprache hat auch ihre besondere Worte, die manchmal ihre eigene, und offt ziemlich weitläufftige Begriffe, in sich fassen; welche daher in einer andern Sprache nicht mit einem eintzeln Wort umgesetzet und ausgedrucket werden können, sondern man muß sie mit verschiedenen Worten umschreiben, damit die vorzustellende Sachen deutlich werden.« 434

Natürlich hat Reinbeck aber auch eine »Bedencklichkeit« gegen die Ubersetzung, insofern der Wertheimer »fast allemahl die Sache nur nach seinem Begriff, den er sich davon gemacht, mit seinen eigenen Worten vorgestellet hat« und dadurch »offt viel weniger sagt, als die Grund-Worte in sich fassen«. 435 Das betrifft natürlich vor allem die Weissagungsstellen bzw. jene, die die Dreieinigkeit oder doch Hinweise auf sie enthalten sollten; eben diese hatte er aber auch schon in seinem früheren Brief als problematisch angesehen. Er diskutiert die Übersetzung der wichtigsten traditionell als Weissagung auf den Messias verstandenen Stellen im Vergleich zur Lutherischen Fassung, und wünscht eine größere Nähe zum »Grundtext«, der die Weissagungen enthalten könne. Damit wendet sich Reinbeck bereits den Schmidtschen Verteidigungsschriften zu, die in einer Fußnote in vollem Titel angeführt werden, um deren zusätzliche Argumente für Schmidts Übersetzung einbeziehen zu können. Mit dieser Einbeziehung und so gewissermaßen einem Offentlichmachen der Schmidtschen Verteidigungsschriften bekennt sich Reinbeck deutlich zu einer sachlichen Diskussion der strittigen Fragen. Ausdrücklich erklärt er aber auch noch im Sinne des Elenchus, es sei »billig, daß wir ihn hören«. 436 Dieser wohlgesonnenen Haltung Reinbecks entspricht auch sein folgendes ausführliches Referat des öffentlichen Bekenntnisses Schmidts zur Augsburger Konfession, an welchem er »an und für sich nichts auszusetzen« 437 findet. Auch habe Schmidt selber die entscheidende Frage aufgeworfen, um die es eigentlich gehe, nämlich »wo denn nach seiner Übersetzung diejenigen Stellen, welche in Mose vom Meßia handelten, zu finden wären«. 438 Mit der Antwort des Wertheimers auf diese Frage ist Reinbeck allerdings nicht zufrieden. Ahnlich wie Fresenius sieht Reinbeck in Schmidts Vorschlag eines erst später von den Aposteln zuerkannten »verblümten Verstandes« der Worte, deren eigentlicher Verstand aber gar keine Weissagung enthalte, eine bloß nachträgliche Akkommodation, die er als »ein willkührliches Spiel-Werck guter Gedancken, die aber in dem göttlichen Ausspruch selbst nicht gegründet wären«, 439 ablehnt. Entsprechend liefert Reinbeck nun die Übersetzung und Auslegung der Stellen in einer Weise, daß sie die Weissagung auch dem bloßen Wortverstande nach enthalEbd. « 5 Ebd., 436 Ebd., 4 3 7 Ebd. 438 Ebd., 439 Ebd., 434

S. 263. S. 266. S. 267. S. 268.

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ten können, daß sie also von Gott von vornherein hineingelegt worden wären. Auch die von Schmidt in Anspruch genommene mündliche Tradition einer Auslegung der Worte des Pentateuch im Sinne der Apostel, also nach dem »verblümten Verstand«, sieht Reinbeck als bloß »willkührlich angenommene Sätze«440 und daher als unzureichend an. Reinbecks kritische Stellungnahme entzieht sich aber in einer sehr eindeutigen Weise allen Rufen nach weltlicher Verfolgung des Ubersetzers und stellt damit einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung der öffentlichen Debatte dar. Darüber hinaus geht er auf die Verteidigungsschriften des Wertheimers ein und stellt sich damit demonstrativ der theoretischen Diskussion. Wieder ganz anders klingt der Ton der sehr demagogischen Widerlegungsschrift des Göttinger Theologieprofessors Joachim Oporin, der sich mehrfach zum Verteidiger von Langes Religionsspötter aufwirft und dessen Argumente immer wieder repetiert. Oporin versucht, in dem Vorschlag des Wertheimers, durch die Anwendung der mathematischen Lehrart in der Theologie zu einem adäquateren Verständnis der Lehre der Schrift zu gelangen, eine umfassende Abwertung aller bisherigen Theologie aufzuweisen. Da es nach der Meinung des Wertheimers bisher also gar keinen überzeugenden Vortrag der göttlichen Wahrheiten gegeben hätte, würden alle gläubigen Christen fiir einfältige und dumme Leute erklärt. Durch diese demagogische Darstellung sucht Oporin offensichtlich alle diejenigen gegen den Wertheimer einzunehmen, die der mathematischen Lehrart nicht mächtig waren und sich dennoch fiir gute Christen hielten. Gegen »eine mathematische allgemeine Reformation«441 wendet Oporin dann nicht nur das Autoritätsargument ein, daß ja auch die Lutherische Reformation ganz ohne mathematische Beweise zustande gekommen sei, er bringt auch einen sophistischen Zweifel ad hominem in Anschlag, wenn er darauf verweist, daß durch die Wertheimer Bibel sogar ganz neue Streitigkeiten entstanden seien, daß also die mathematische Lehrart die christliche Lehre gerade nicht auf unbestreitbare gewisse Fundamente zu stellen vermöchte. Obwohl Oporin eingangs erklärt hatte, nur das angebliche Vorurteil Schmidts gegen die bisherige christliche Lehre zu widerlegen, spricht er sich im folgenden in derselben demagogischen Weise zu den verschiedensten strittigen Punkten der Wertheimer Bibel aus, ohne dabei einem erkennbaren roten Faden zu folgen. Sein Vortrag besteht aus einer Aneinanderreihung von Fehlschlüssen, die alle auf einer Petitio principii beruhen. Jedoch ist er schnell bereit, dem Übersetzer die schwärzesten Absichten zu unterstellen. Wie wenig Oporin das Argumentationsmuster Schmidts verstanden oder überhaupt zu verstehen versucht hatte, geht auf komische Weise daraus hervor, daß er die von Schmidt (und Fresenius) angenommene und von Reinbeck abgelehnte mündliche Tradition, in der den strittigen Stellen schon seit Moses' Zeiten eine Bedeutung als Weissagung in einem »verblümten Sinn« zugesprochen worden sei, als Argument gegen den Wertheimer aufbringen will: Der Übersetzer »gestehe« ja selbst, »daß man nicht erweisen könne, daß uns alle Arten des Vortrages der damahligen Lehrer schrifftlich seyn hinterlassen worden.«442 Allerdings bietet Oporin gerade 440 441 442

Ebd., S. 271. Ebd., S. 275. Ebd., S. 284.

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durch diesen Einwand dem Wertheimer die Möglichkeit, ihn in seiner künftigen Beantwortung als einen weiteren Anhänger der mündlichen Tradition gegen Reinbeck anzuführen. Die Doktordisputation von Joachim Justus Rau vom Juni 1736 unter dem Vorsitz von Walch scheint ganz allgemein einer Verteidigung der Weissagungen auf den Messias in den Schriften des Alten Testaments gewidmet zu sein und nur in einigen wenigen Paragraphen ausdrücklich auf die Wertheimer Bibel einzugehen. 443 Dennoch ist angesichts des Zeitpunkts der Disputation und der brieflichen Zusage der Unterstützung von Walch gegenüber Lange wohl anzunehmen, 444 daß sie durch die Wertheimer Bibel veranlaßt wurde; dieses Vorgeben war wohl eher einer argumentativen Strategie geschuldet, die theoretische Bedeutung des Wertheimers herunterzuspielen. Dies wird auch durch das Bemühen des Autors bestätigt, die theoretische Leistung des Wertheimers in jeder Weise lächerlich zu machen. In einer ersten Sektion aus verschiedenen Bibelstellen sucht Rau den Nachweis zu führen, daß die zum Heil notwendigen Lehren auch schon vor den Zeiten des Messias, also den Zeitgenossen von Moses und den Patriarchen, bekannt gewesen seien. Von daher besteht er darauf, daß die Erlöserrolle und die Gerechtigkeit Christi auch den Schlüssel zum Verständnis des Pentateuch bilden müsse. Erst später seien die authentischen Begriffe von Moses und den Patriarchen von den Juden verdorben worden. Für die evangelische Kirche seien allein diese ursprünglichen Begriffe von Bedeutung, während die Sozinianer gerade jene späteren Auffassungen der Juden zu Zeiten von Christus übernommen hätten. Er diskutiert dann insbesondere die Stelle des Versprechens Gottes gegenüber Abraham gegen die sozinianischen Argumente und gegen Clericus, dem er allerdings trotz großer Fehler und gefährlicher Irrtümer eine große Gelehrtheit und sichere Kenntnis der hebräischen Sprache zuerkennt. Erst dann, nach 13 Paragraphen, kommt er auf die Wertheimer Bibel zu sprechen, um festzustellen, daß Laurentius Schmidius sich des Werkes des Clericus bedient habe — aber weit unter dessen Niveau. Wenn Clericus die nichtigen Darstellungen der Juden annehme, so ahme ihn der Wertheimer wie ein Affe nach, wogegen er es sich in seiner durchgehend bezeigten Arroganz zur Schmach anrechne, der Lutherischen Version zu folgen. Während aber Clericus wie der große Apoll sei, so pflüge der Wertheimer nur mit dessen Kalb. 4 4 5 Im letzten Paragraphen dieser ersten Sektion setzt sich Rau dann doch mit den zwei von Schmidt genannten Ubersetzungsprinzipien auseinander, dem ersten, wonach die ersten Verfasser aus sich verstanden werden müßten, und dem zweiten, wonach einige Worte außer ihrem eigentlichen Verstände »durch einen Kunstgriff der Erfindungskraft« auch einen verblümten Verstand annehmen können. 446 Das erste Prinzip weist er vor allem unter Berufung auf den »einigen« Verfasser der Hl. Schrift zurück, sowohl des Alten als auch den Neuen Testaments, der deshalb der beste Interpret seiner eigenen früheren Schriften sein

443

444 445 446

Joachim Justus Rau: Disputano solemnis. Vindiciae promissionum de Messia Abrahamo factarum, fideique eius & iustitiae; potissimum ab iniuria per Interpretern Pentateuchi Wertheimiensis illata. [...] praeside Ioanne Georgio Walchio [...]. 6 . 6 . 1 7 3 6 Jena. Zit. nach Samlung (wie Anm. 19). Vgl. Walch an Lange am 24. Mai 1736. In: FSt Halle, A 188b:390. Samlung (wie Anm. 19), S. 303. Ebd., S. 3 0 4 - 3 0 6 .

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müsse. Im übrigen verweist er auch auf die göttliche Inspiration der einzelnen von Gottes Geist gelenkten Verfasser. Das zweite Prinzip erklärt er für eine Erfindung der Sozinianer und des Clericus, wonach die Apostel von einer Akkommodation der Lehre an den Geist ihrer Zeitgenossen Gebrauch gemacht hätten, also den überkommenen Texten des Alten Testaments einen verblümten uneigentlichen Verstand beigelegt hätten, der in den Worten selber nicht enthalten gewesen sei, um so ihren Zuhörern die neue Lehre als in ihren alten Auffassungen bereits enthalten anzuzeigen und sie zur Annahme geneigter zu machen. Diese Auffassung hält Rau fiir außerordentlich gefährlich, weil sich auf diese Weise die apostolische Lehre in Schall und Rauch auflöse. Eine solche Akkommodation, ein solcher »Kunstgriff der Erfindungskraft«, Textstellen als Metapher auf etwas anderes auszulegen, sei schließlich allüberall anwendbar, gänzlich arbiträr, und auf diese Weise könne man die Weissagung auf den Messias sogar auch in Homer und Hesiod suchen und finden. In der zweiten Sektion liefert Rau dann eine ausführliche Exegese der einzelnen schon genannten Bibelstellen und bestätigt ihren Weissagungscharakter, da die Interpretation des Wertheimers gegen eine solide Exegese nichts ausrichten könne. 4 4 7 In der dritten dogmatisch-polemischen Sektion behauptet und verteidigt der Autor dann fünf Lehrsätze der evangelischen Theologie, daß 1. die Auffassung vom künftigen Erscheinen des Messias bereits in der ältesten patriarchalischen Kirche in Blüte stand, 2. Christus den Patriarchen nicht allein bekannt, sondern auch bereits das Fundament ihres Heils gewesen sei, in dem sie Hoffnung und Vertrauen suchten, 3. das durch Abraham im Messias erwartete Heil allgemein gewesen sei, 4. die Rechtfertigungslehre schon den Patriarchen bekannt gewesen sei und 5. schon Abraham im Glauben an die Rechtfertigung die Vergebung der Sünden angenommen habe. Eine vierte Sektion trägt schließlich noch sechs predigtartige moralische Ermahnungen vor, der patriarchalischen Lebensweise und der Frömmigkeit Abrahams zu folgen, auch dadurch die enge Verwandtschaft des Alten und Neuen Testaments, der Lehre von Moses und von Jesus Christus, unterstreichend. Die hier vorgestellten Widerlegungsschriften sind durchaus repräsentativ. Sie unterscheiden sich zwar hinsichtlich des Elenchus, beurteilen die Intentionen des Wertheimers also entweder sanftmütig oder aber wie in den meisten Fällen sehr unduldsam, bringen aber kaum unterschiedliche Argumente zur Widerlegung hervor. Angesichts von so viel Redundanz scheint daher die Vielzahl der Widerlegungsschriften den einzelnen Autoren eher als öffentliche Demonstration ihrer je persönlichen antiwertheimischen Position. Ungeachtet dessen konnte selbst eine sehr demagogisch argumentierende Streitschrift nicht ohne ein Mindestmaß an Argumenten auskommen, die wiederum hinreichend waren, um dem Wertheimer zum Ausgangspunkt weiterer Repliken werden zu können. Solange der Wertheimer in der Lage war, solche Repliken zu veröffentlichen, ergab sich daher - durchaus gegen die Intentionen der Gegner - eine öffentliche Debatte über grundlegende Fragen. Denn den Widerlegungsschriften und den Erwiderungen des Wertheimers und seiner Anhänger folgten wiederum Rezensionen in Zeitungen und Zeitschriften. Gegen Ende der Debatte wurden

447

Ebd., S. 316.

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Wertheimer Bibel

alle diese Beiträge noch einmal in Historischen Nachrichten publik gemacht, z. T. mit einer zweiten Auflage, was auf ein außerordentlich breites Leseinteresse schließen läßt. Es ist daher für die Gegner eine außerordentlich unbefriedigende und auch ungewohnte Situation, daß sie trotz ihrer Aktivitäten und trotz immer neuer antiwertheimischer Widerlegungsschriften dem Wertheimer »nicht das Maul stopfen« 448 können, daß sie die Quelle der immer wieder argumentierenden veröffentlichten Antworten nicht verstopfen konnten.

16. Die Beantwortung. Schmidts Auseinandersetzung mit der Kritik argumentativ und moralisch Während Schmidt bis dahin - abgesehen von seiner vor allem für den Reichstag in Regensburg bestimmten Öffentlichen Erklärung — jeweils einzelne Kritiken seiner Übersetzung diskutiert bzw. widerlegt hat, entsprechend der polemischen Methode Punkt ftir Punkt abarbeitend, so gegen Lange, Reimarus, den anonymen Autor der deutschen Acta eruditorum und gegen das in den Leipziger Gelehrten Zeitungen unter obrigkeitlichem Zwang abgedruckte kirchenrätliche Gutachten, greift er im Sommer 1736 angesichts der nun anschwellenden und anders kaum zu bewältigenden Welle der publizierten Widerlegungen zu einer Diskussion der gesammelten Kritiken unter systematischen Schwerpunkten. Dies geschieht

in seiner Beantwortung verschiedener Einwürfe, welche von einigen Gottesgelehrten gegen die freye Ubersetzung der göttlichen Schrifien sind gemacht worden,449 Dabei sieht Schmidt diesmal weitgehend von einer Thematisierung der gegen ihn gerichteten moralischen Unterstellungen ab und ist deutlich darum bemüht, in geradezu didaktischer Weise, »die bisher gemachten Einwürfe auf eine begreifliche Art zu beantworten«. 450 Den »verständigen Männern« dankt er für die von ihnen vorgebrachten Zweifel, aber sogar auch jenen, die ihre »Einwürfe nicht ohne Heftigkeit und Bitterkeit« vorgebracht hätten. Er habe gelernt, sich auch mit ihren Argumenten in Gelassenheit zu beschäftigen. Alle jene Argumente, die der Mühe einer Widerlegung nicht wert seien, da sie auf bloßem Unverständnis gegenüber seiner Position beruhten, werden daher gleich eingangs kurz abgefertigt: daß er willkürliche Zusätze zum biblischen Originaltext gemacht oder eigenmächtig weggelassen, die Bedeutung der Worte verändert oder Unterscheidungen übersehen hätte. Derartige Einwände wären unter Benutzung von Wörterbüchern und Sprachlehren leicht aus 448

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Luthers Ausdruck vom »Maulstopfen« war ein gängiger Topos in der theologischen Kontroverstheologie. Beantwortung verschiedener Einwürfe, welche von einigen Gottesgelehrten gegen die freye Übersetzung der göttlichen Schriften sind gemacht worden: ausgefertiget durch den Verfasser derselben. Wertheim: gedruckt durch Joh. Georg Nehr, Hof- und Kanzley-Buchdrucker, 1736 (im folg. Beantwortung). Die Vorrede Schmidts zu seiner Beantwortung der von den genannten Autoren vorgebrachten Argumente ist den 19. Juni 1736 unterzeichnet, woraus deutlich wird, daß alle diese Schriften bis zu diesem Zeitpunkt erschienen waren, zuletzt Raus Disputation, die erst am 9. Juni in Jena abgehalten worden war. Ebd. Zitiert nach Samlung (wie Anm. 19), S. 369.

16. Die Beantwortung

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der Welt zu räumen. 4 5 1 Obgleich er in allen seinen Verteidigungsschriften argumentiert habe und auf die Einwände seiner Gegner eingegangen sei, würde ihm von vielen seiner Kritiker eine sachliche Diskussion verweigert. Da sie ihn nicht in der natürlichen Ordnung hätten widerlegen können, wäre man »bey der alten Art zu streiten [geblieben]: da man die Sätze des andern nach seinen Begriffen annimmt, dieselben mit den ungereimtesten und gefährlichsten Folgen belästiget, und auf den Vertheidiger derselben, als auf einen allgemeinen Feind losstürmet und solchen auf das heftigste verfolget«. 452 Insbesondere verwahrt er sich gegen die vielgelobte Inauguraldissertation des Jenensers Joachim Justus Rau wegen dessen Verunglimpfung und Spott. 4 5 3 Zuletzt richtet er an seine heftigeren Kritiker eine Ermahnung im Sinne des Elenchus: Du sollst nicht verfolgen, solange der Gläubige gutwillig ist und Argumenten zugänglich! Mit der systematischen Beantwortung der wichtigsten vorgebrachten Einwände geht der Wertheimer also im Sommer 1736, als sich am Berliner Hof die Wolken gegen Wolff aufzulösen scheinen, erneut in die Offensive. Im Zentrum seiner Argumentation steht seine theoretische Position hinsichtlich der vor allem strittigen Weissagungen des Alten Testaments. Mit der Sicherung der Weissagungen auf den Messias in den fünf Büchern Moses mußten sich zugleich auch die anderen in der Debatte zentralen Fragen nach der Mittlerrolle von Jesus Christus sowie nach der Dreieinigkeit erledigen. Insofern ist die Beantwortung weit weniger als die früheren Verteidigungsschriften eine (im heutigen Sinne) »polemische« Schrift, da sie sich gerade nicht gegen einzelne Gegner und ihren Diskussionsstil richtet, sondern vielmehr eine selbständige systematische Darlegung der eigenen Position bietet. Diese Konzentration auf die Darlegung der Gründe der eigenen Position schließt kleine Anmerkungen zu seinen Kritikern an entsprechender Stelle natürlich nicht aus. 454 Zuerst erklärt er noch einmal, in welcher Weise er eine Verknüpfung der Wahrheiten der offenbarten Religion mit anderen Wahrheiten für möglich hält, nämlich nach dem Leibnizschen Prinzip, wonach eine einmal angenommene Wahrheit so lange Geltung beanspruchen könne, wie sie nicht widerlegt worden ist bzw. wie kein Widerspruch des Satzes aufgewiesen werden könne: »Wer zugibt, daß die göttlichen Schriften ihren Ursprung von Gott haben: dem darf ich nur zeigen, daß der Satz, von welchem ich ihn überführen will, in denselben deutlich enthalten sey; so ist die Ueberzeugung auf einmal geschehen. Hieraus erkennet man, in welchem Verstände die Ueberzeugung auch alsdenn Statt hat, wo sich kein scharfer Beweis anbringen lasset, ia, wo wir nicht einmal im Stande sind, solchen zu geben. Wer also saget; man seye noch zur Zeit nicht im Stande, von der Wahrheit eines Satzes aus erwiesenen Gründen einen deutlichen Beweis zu führen: der spricht deswegen den Menschen nicht alle Ueberzeugung davon ab; so wenig, als man solche dem gemeinen Mann gänzlich absprechen kan.«455

451 452 453 454

455

Vgl. ebd., S. 366 f. Ebd., S. 368. Ebd., S. 389. In der Ausgabe der Beantwortung in der Samlung finden sich am Rande sogar ausdrücklich Hinweise auf die diskutierten Stellen und ihre Autoren. Beantwortung. Zitiert nach Samlung (wie Anm. 19), S. 373.

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Wie schon Leibniz nutzt auch Schmidt dieses Argument insbesondere zur Verteidigung der christlichen Mysterien. Auch im gewöhnlichen Leben und selbst in der Wissenschaft würde nicht jeder Obersatz bewiesen werden, sondern oftmals als wahr angenommen, solange er mit der Erfahrung übereinstimme oder weil man ihn auf Treu und Glauben von jemandem annehme. Solche Sätze könnten in Geltung bleiben, solange kein Widerspruch in ihnen gefunden werde. Auch wolle er keineswegs leugnen, daß schon lange vor der mathematischen Lehrart die Wahrheiten der Religion durch die Offenbarung bekannt gewesen seien und daß auch der gemeine Mann sie gekannt habe und kenne. Ungeachtet dessen müsse sich der Vortrag der Wahrheiten mit dem Wandel der Zeiten ändern, damit diese Wahrheiten auch unter veränderten Umständen verstanden werden könnten. Ein Text könne nicht Wort für Wort, sondern grundsätzlich nur nach dem Wortverstand übersetzt werden, da man sonst jeder Willkür das Feld freimache. Worte seien Zeichen für Begriffe; Worte, die nicht weiter erklärt werden, erweckten notwendig den Begriff, »den wir bereits von der Sache haben«. 456 Die Übersetzer müßten aber den Sinn treffen, der im Originaltext gemeint war: »Die Worte, mit welchen sie sich ausdrücken, müssen geschickt seyn, die gehörigen Worte in uns zu erwecken.« 457 Gott selbst könne nicht verlangen, daß wir andere Begriffe mit den Worten verbinden, als diese Worte notwendig in uns hervorrufen. Wenn daher einigen Worten außer ihrem eigentlichen Wortverstand noch ein anderer, »verblümter Verstand« beigelegt werden solle, so könne dies nicht ohne Grund, d. h. willkürlich geschehen, sondern müsse durch einen äußeren Grund angezeigt werden: entweder durch den Verfasser ausdrücklich oder durch einen Umstand, der es anzeige, oder aber notwendig durch die Beschaffenheit der Sache. Darüber hinaus aber müsse sich ein Übersetzer bemühen, die Begriffe möglichst wie die Verfasser zu verstehen, also nach ihrer zeitgenössischen Redensart. Nach dieser grundsätzlichen Darlegung der Prinzipien geht Schmidt dann auf einige der immer wieder diskutierten und »geretteten« Weissagungen im Pentateuch ein. Im Falle von 1 Mose 3,15 (nach Schmidts Übersetzung: des Weibes Samen soll der Schlange auf den Kopf treten), weist er die Argumente zurück, wonach traditionell unter des Weibes Samen der Messias und unter der Schlange der Teufel verstanden wird. Es sei im Text von nichts als einer natürlichen Schlange die Rede, und daß sie geredet habe, hätte die Menschen in jener Zeit noch nicht verwundern können, da sie noch nicht viel über die Tiere wissen konnten. Wir können aber keine anderen Erkenntnisse voraussetzen als die, so die Autoren des Berichtes bereits haben konnten, »denn wir müssen den Begriff suchen, wie sie sich solche machen konten, und nicht denienigen, welchen wir durch Hülfe anderer Erkäntniß itzo heraus bringen«. 458 Man dürfe nicht einmal etwas annehmen, was da sein könnte, wenn nicht aus dem Text »aus unwidersprechlichen Gründen gezeiget werden [kann], daß das, was man setzet, wirklich da sey«. Ohne einen Grund könne daher kein verblümter Verstand angenommen werden; erst wenn man im Text einen Widerspruch zur körperlichen, natürli456 457 458

Ebd., S. 374. Ebd., S. 373. Ebd., S. 3 7 7 ( § 4 ) .

16. Die Beantwortung Schmidts

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chen Schlange aufweisen könnte, dürfe man daher den Begriff der Schlange abändern. Des weiteren wird die ebenso oft diskutierte Stelle 1 Mose 12,3 (in Abraham sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden) vorgenommen und gezeigt, daß auch hier in den Worten selbst kein Grund vorliegt, unter der göttlichen Ankündigung des Segens Abrahams eine Weissagung auf den Messias aus Abrahams Hause zu verstehen. Es folgt dann 1 Mose 15,6 (Abraham glaubte Gott), wo Schmidt bei dem Versprechen Gottes in dem Samen nichts anderes als die Kinder und Kindeskinder Abrahams erkennen kann. 4 5 9 Zusammenfassend warnt der Ubersetzer: »Wenn dieses angehet, daß man mit den Worten zugleich solche Begriffe verknüpfet, welche dieselben für sich nicht in sich halten: so fället alle Gewißheit der Auslegung hinweg.« 460 Auch in der Stelle 5 Mose 18,15 (einen Propheten wie Moses wird Gott erwecken) vermag der Wertheimer den Worten nach keine Weissagung des Messias zu erkennen, da wir nicht wissen können, ob nicht schon einer der vielen Propheten vorher Moses ähnlich gewesen sei. Zwar stünde in 5 Mose 34,10—12, daß noch kein Prophet wie Moses erschienen sei, aber daraus könnten wir nicht schließen, daß dies auch später nicht der Fall gewesen sei. Schließlich kommt Schmidt noch auf einen ihm immer wieder entgegengehaltenen Einwand zu sprechen, daß nämlich die Apostel selber verschiedene Stellen des Alten Testaments auf den Messias gedeutet hätten und auch sogar berichtet würde, daß der Messias selber sie solche Auslegung gelehrt hätte. 461 Die Übersetzung Schmidts würde also den Messias und seine Apostel Lügen strafen, wenn er an seiner Leugnung der Weissagung in den betreffenden Stellen festhalte. Gegen diesen Einwand entwickelt der Wertheimer erneut sein Argument von der mündlichen Auslegung. Wie seine Kritiker Fresenius oder Rau ist auch er der Meinung, daß die göttlichen Schriften notwendig untereinander übereinstimmen müßten, da Gott ihr Urheber sei. Ungeachtet der Aussagen der Apostel und von Jesus Christus selbst fände sich aber in den Büchern Moses keine Weissagung auf den Messias, da die dort vorhandenen Worte für sich unmöglich solche Begriffe bei uns erwecken könnten. Eine willkürliche, nicht-literale Auslegung der Worte aber, so warnt Schmidt erneut, zerstöre jede Gewißheit der Auslegung der Hl. Schriften, da dann jede beliebige Auslegung möglich werde. 462 Es seien aber zwei Stellen, die den Aposteln zufolge vom Messias reden, die eine Gal. 3,16 (Nun ist die Verheißung Abraham zugesagt und »seinem Nachkommen«), die andere Apg. 3 , 2 2 - 2 6 (Mose hat gesagt [...] Einen Propheten wird Euch der Herr, Euer Gott, erwecken aus Euren Brüdern gleichwie mich...). Wenn nun die Apostel diese Stellen in Moses in dieser Weise verstanden hätten, so argumentiert Schmidt, dann sei es auch gewiß, daß auch die alten Israelen einen Begriff vom Messias darin gefunden haben müssen, auch wenn die Worte des Bibeltextes diese Bedeutung auf keine Weise hergäben. Jedoch verteidigt er seine Übersetzung dennoch und schlägt vor, einen anderen Grund außer den Worten anzunehmen, der die Apostel berechtigt habe, nach einem verblümten Verstand die« » Vgl. ebd., S. 387. Ebd. 461 Vgl. ebd., S. 391 ff im §10. 4 6 2 Vgl. ebd., S. 393. 460

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Wertheimer Bibel

ser Worte zu suchen, der jedoch bei heiligen Autoren nicht selten sei.463 Da ein solcher verblümter oder uneigentlicher Verstand aber nicht aus den bloßen uns schriftlich überlieferten Worten hervorgehe, so könne diese Bedeutung nur mündlich gelehrt und tradiert worden sein. Schmidt sieht viele Anzeichen für eine solche vorhanden gewesene mündliche Tradition der Lehre und Interpretation des Textes, vor allem in Moses' Einrichtung des Gottesdienstes: Obwohl auch dort mit keinem Wort vom Messias die Rede sei, lehrten die Apostel doch ausdrücklich, daß die Opfer eine Analogie auf die Aussöhnung des Messias für den Menschen bedeuteten. Dies aber hätten die alten Israelen allein durch eine zusätzliche, also mündliche Auslegung verstehen können, da es aus den Worten des Textes der Hl. Schrift in keiner Weise hervorgehe. Schmidt beruft sich dabei auf die anerkannten pietistisch-lutherischen Theologen seiner Zeit, die eine solche mündliche Auslegung gelehrt haben - auf Rambach 464 und auf Fresenius.465 Gegen Reinbecks und anderer Kritiker Einwand, seine Annahme mündlicher Belehrung über die Bedeutung der Weissagungsstellen im Alten Testament wäre ein Spielwerk und willkürlicher Auslegung ausgeliefert,466 bietet Schmidt ein ganzes Regelwerk auf. Eine solche Auslegung des »verblümten« Sinnes dürfe keineswegs willkürlich vorgehen, sondern sei nur erlaubt, wenn ein Bild geschickt sei, Dinge darzustellen, die mit der Hauptabsicht des Schöpfers zusammenstimmen. Dazu entwickelt er mehrere Kriterien, um die Auslegungswillkür der Sozinianer zu vermeiden. Ausdrücklich erklärt er: »Der eigentliche Verstand eines Worts ist die Vorstellung der Sache, wovon dasselbe ein Zeichen abgibt: der uneigentliche oder verblümte Verstand hingegen, ist derienige Begriff, wovon die vorgestellte Sache um ihrer Ähnlichkeit willen ein Zeichen ist. Weil nichts ohne zureichenden Grund geschiehet: so müssen gewisse und unumstößliche Merkmahle vorhanden seyn, wenn wir das Wort in einem verblümten Verstände nehmen sollen.«467

Schließlich bietet Schmidt in drei angefugten Erinnerungen dann auch noch je besondere Erklärungen 1. seiner Übersetzung des Beginns der Schöpfung, die auf das »erhabene Sprechen« Gottes, auf seinen »Befehl« verzichtet hat, um statt dessen eine natürliche Entstehung der Welt »gemäß der Absicht Gottes« an den Anfang der Schrift zu setzen,468 2. seines Be-

4

« Vgl. ebd., S. 394. 464 Vgl ebd., S. 395. - Siehe dazu: Rambach, Institutiones hermeneuticae sacrae. Ed. 1723. Libr. I, cap. 3, § 10, p.67. 465 Vgl. ebd., S. 397. - Siehe dazu: Fresenius: Vorrede zu: Rambach: Betrachtungen über die Weissagungen und Vorbilder in den 5 Büchern Mosis auf Christum. 1736. § 28, Bl. D4, Col. b, Num. 3466 Yg[ gbd^ s. 397-399. - Siehe dazu: Reinbeck: Vorrede zu: Betrachtungen zur Augspurgischen Confession. 3. Th. Berlin 1736, S. XXVII. 467 Ebd., S. 375. 468 Ebd., S. 412. - Schmidt bezieht sich hier auf den durchaus berechtigten Einwand von Fresenius wie auch schon der deutschen Acta eruditorum, daß selbst der »Heide Longin« in den Worten Gottes, mit denen er seinen Schöpfungsakt begleitet (Es werde etc.) etwas Erhabenes zu erkennen vermochte, das in der Übersetzung Schmidts aber wegbleibe, obwohl es im Grundtext stünde. In der Tat besteht die Schöpfung bei Schmidt in einer Beschreibung der Entstehung der Erde und des Weltalls, die allerdings - der Absicht des selbständigen Wesens gemäß sei. Von einem Willensakt Gottes ist nicht

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17. Das Ringen um die Akzeptanz Wolffs am preußischen Hof

griffes der uns unerkennbaren göttlichen Geheimnisse, die wir dennoch für wahr halten und mit anderen Wahrheiten verknüpfen könnten, und 3. schließlich seiner umschreibenden Übersetzung der im Originaltext direkten Beschreibung gewisser natürlicher Vorgänge bei der Menstruation bzw. der Zeugung. 469 Der Wertheimer schließt diese ganz auf die inhaltliche Argumentation ausgerichtete Verteidigungsschrift erneut - in Erwartung der Fortsetzung und weiteren Versachlichung der inhaltlichen Diskussion — mit dem frohen Bekenntnis zur Wahrheit: »Gott lasse die Unwissenden seine Wahrheiten erkennen, damit sie solche hoch schätzen lernen, und sich gegen dieselben auf die gebührende Art verhalten mögen.«

470

17. Das Ringen um die Akzeptanz Wolffs am preußischen Hof und das preußische Verbot der Wertheimer Bibel als deren Preis im Sommer 1736 Sowohl Stübner in Leipzig als auch Mosheim in Helmstedt wissen schon im Frühjahr 1 7 3 6 zu berichten, daß in Berlin heftig um die Meinung des Königs gekämpft wird. 471 Während die pro-wolffianischen Theologen Reinbeck und Roloff sowie der General Grumbkow den König gegen ein ausdrückliches Verbot der Wertheimer

Bibel,

vor allem aber für eine Akzep-

tanz der Philosophie Christian Wolffs zu gewinnen suchten, 472 nutzten die Vertreter der Waisenhauspartei in Berlin ihre »Canäle«, um Einfluß auf den König auszuüben, insbesondere durch den Grafen von Stolberg. 473 Joachim Lange hatte ja bereits im Dezember 1 7 3 5

die Rede. - Die Bemerkungen des »Heiden Longin« über die erhabene Sprache der Hl. Schrift werden übrigens in der späteren ästhetischen Diskussion zum Begriff des Erhabenen wieder aufgenommen. 465 Vgl. ebd., S. 4 0 7 - 4 2 8 . 470 Ebd., S. 407. 471 Vgl Stübner an Schmidt am 24. Februar 1736. In: Mosheim/Schlegel (wie Anm. 17), S. LI; Mosheim berichtet etwas verspätet nach Wertheim: »In Berlin sind verschiedene Bewegungen über dieses neue Bibelwerk entstanden, deren Ausgang noch sehr ungewiß ist.« (Mosheim aus H. an Höflein am 9. Februar 1737. In: Mosheim/Schlegel, S.XVII.) 472 Zu den Diskussionen um den Wolffianismus am Berliner Hof vgl. Hinrichs: Preußentum und Pietismus (wie Anm. 150), S. 3 8 8 - 4 4 1 ; Uta Janssens-Knorsch: Jean Deschamps, WolfF-Übersetzer und >AlethophiIe fran9ais< am Hofe Friedrichs des Großen. In: Christian WolfF 1679-1754 (wie Anm. 238), S. 2 5 4 - 2 6 5 . Weiterhin Cornelia Buschmann: Wolffianismus in Berlin. In: Aufklärung in Berlin. Hg. Wolfgang Förster. Akademie-Verlag: Berlin 1989, S. 73-101. Vgl. auch Goldfriedrich (wie Anm. 21), S. 4 6 6 - 4 7 1 . 473 Auch in Halle kann man in den Franckeschen Stiftungen eine rege Korrespondenz »de successu Berolinensi Tui itineris«, d. h. über die Bewertung der Reise Joachim Langes nach Berlin bzw. Potsdam vorfinden. So schreibt Reichenbach aus Berlin an Lange am 12. Mai 1736: »Es ist mir Eu. Hochwürden geehrtes Schreiben umso viel angenehmer gewesen, da unterschiedene Reden über dero letzte Abreise aus Potsdam gegangen, welche aber Ihr Schreiben schon zur Genüge widerleget. Haben denn Eu. Hochwürden, wie ich gerathen, der Wertheimischen Bibel gegen Ihro Maj. gar nicht

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Wertheimer Bibel

in seinem Schreiben an den Grafen Ludwig Moritz von Löwenstein-Wertheim gedroht, der preußische König werde wegen des religionsfeindlichen Buches durch seine Gesandten auf dem Reichstag den Kaiser anrufen. 4 7 4 Auch diese Variante eines rechtlichen Einschreitens wurde also von den Gegnern des Wertheimers früh ins Spiel gebracht. Es dauerte aber noch einige Zeit, bevor die Entscheidungen in Berlin fielen. Als Joachim Lange um eine Audienz beim König nachsuchte, und diese am 6. März 1 7 3 6 auch bewilligt erhielt, um dann Anfang April in Potsdam gegen W o l f f und die

Wertheimer Bibel

vortragen zu können, wurde

diese Nachricht sogleich triumphal in den Hallischen Zeitungen verkündet. 475 Allerdings sollte sich das Ergebnis dieser Vorsprache beim König, aufgrund welcher Lange schon gewonnenes Spiel glaubte, für ihn durchaus ambivalent gestalten. Im Ergebnis der Audienz im April 1 7 3 6 in Potsdam, 476 bei der es nach Auskunft Wolfis um seine Philosophie, sicherlich aber auch um die

Wertheimer Bibel

als »die notwendige Frucht dieser Philosophie« gegangen

war, kam es in der Folge zu der salomonischen Entscheidung des Königs, 477 daß sowohl Joachim Lange als auch Christian Wolff ihre Positionen schriftlich fixieren sollten, 478 um

gedacht!« (FSt Halle A 188b:413) Und Manitius erzählt von einem Gespräch mit einem Pastor Schumacher in Berlin, der meinte, »daß der Wolff verschiedene anstößige theses theils nur vor problema deducirt, theils besser erläutert habe, und nahm er Ew. Hochwürden fast übel, daß Sie mit alzu großer Heftigkeit dero oppositiones wieder den Wolff und seine affectus tractireten, welches wieder die Christliche Liebe und theologische moderation liefe, und mehr diesen Leuten zu schaden als die Liebe zur Wahrheit zum Zweck zu haben scheine, wie ihme denn auch dero Censur des Wertheimischen Bibelschreibers zu hart vorkam« (Manitius aus Berlin an Lange am 18. Mai 1736. FSt Halle, A 188b:397, lr). - Der Graf von Stolberg meldet am 27. Juni 1736, er habe einige Male Gelegenheit gehabt, mit dem König zu sprechen, habe jedoch das Schreiben Langes samt Einschluß wegen der Wolffschen Sache zu spät erhalten, den er daher dem König nicht habe zeigen können. Er verspricht, dies schriftlich zu tun (FSt Halle A 188b:398). Vgl. Spalding: Seize the Book (wie Anm. 12), S. 88 sowie die Fußnote 62 auf S. 260. »Sie stehet in dem 20. Stücke des 1736. Jahres von dem wöchentlichen Hallischen Anzeiger, auf der 313. u. f. Seite.« (Ludovici: Sammlung und Auszüge (wie Anm. 97), S. 126.) 476 »War so der Wolffianismus wie an der halleschen Universität so auch in Berlin in sichtlichem Vordringen, so faßte Joachim Lange noch einmal einen löwenhaften Entschluß: er wollte sich beim König persönlich in die Bresche werfen und noch einmal versuchen, dem Verderben mit Hilfe der allerhöchsten Autorität Dämme zu setzen. Er erbat und erhielt am 22. März 1736 die Erlaubnis zu einer Privataudienz beim König. Vom 6. bis 23. April war er in Potsdam.« Er »erreichte schon am 7.April eine Kabinettsordre an die Universität Halle«. Lange habe nach Berichten der Königin u.a. einen so starken Eindruck auf den König machen können, daß dieser allen, die sich zu Wolff hielten, Nasen und Ohren abschneiden wollte. Auch sei der Hofprediger Reinbeck zeitweilig in Ungnade gefallen. Der Königin und dem couragierten Engagement des Generals Grumbkow sei es zu verdanken gewesen, die schlimmsten Folgen des Langeschen Besuchs für die Wolffianer zu verhüten. Vgl. Hinrichs: Preußentum und Pietismus (wie Anm. 150), S. 4 3 6 - 4 3 9 . 477 Vgl das Königliche Commissions-Decret. In: Ludovici: Sammlung und Auszüge (wie Anm. 97). l.Theil, S. 1-13.

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Joachim Lange: Kurtzer Abriß derjenigen Lehrsätze, welche in der Wolffisschen Philosophie, der natürlichen und geoffenbahrten Religion nachtheilig sind, ja sie gar aufheben, und geraden Weges, obwohl bey vieler gesuchter Verdeckung, zur Atheisterey verleiten. Auf Ihro Königlichen Majestät in Preussen mündlich allergnädigst ertheilte Ordre verfasset. In: Ludovici: Sammlung und Auszüge (wie

17. Das Ringen um die Akzeptanz Wolfis am preußischen Hof

321

diese dann einer Kommission zur Entscheidung der Vorwürfe Langes vorzulegen. Für Wolff, dem der König nicht mehr zu befehlen hatte, übernahm zunächst Reinbeck stellvertretend die Aufgabe; 479 allerdings verfaßte Wolff auch umgehend eine eigene Stellungnahme. 480 Bis zu einem Ergebnis dieser Kommission aber, so lautete die ausdrückliche Ordre des Königs, sollte sich Joachim Lange jeder weiteren antiwolffianischen Polemik enthalten. Schon die Ankündigung der Einsetzung einer Kommission wurde allgemein, bei Freunden und Gegnern Wolfis, als deutliche Verschiebung zugunsten Wolfis und als großer Rückschlag für Lange angesehen; 481 erst recht freuten sich die Anhänger Wolfis über das Polemik-Verbot gegen Lange. Als dann am 5. Juni 1736 die Kommission eingesetzt wurde, gehörten ihr überwiegend die als tolerant und moderat oder gar als Anhänger Wolffs geltenden Berliner Theologen und Beamten Daniel Ernst Jablonski, Johann Arnold Noltenius, Johann Gustav Reinbeck und Johann Caspar Carsted an; ihr Vorsitzender wurde Samuel von Cocceji. Die Stellungnahmen fielen denn auch durchgängig positiv für Wolff aus, insofern sie der Wölfischen Philosophie bescheinigten, in Übereinstimmung mit der Religion zu stehen. Dies war der entscheidende Punkt für die Kommission, die - ungeachtet verschiedener Meinungen über die Philosophie Wolffs - allein seine Übereinstimmung mit der christlichen Religion überprüfen sollte. Die positive Antwort der Kommission wurde in den Gelehrten und anderen Zeitungen allgemein als klare Niederlage des bis dahin in der besonderen Gunst des Königs stehenden Hallenser Pietisten Lange und als deutlicher Sieg für Wolff gefeiert. Als im Sommer 1736 die auf Befehl des preußischen Königs verfaßten Schriften zur Wolffschen Philosophie vorlagen sowie auch das Gutachten der Kommission, nutzten die Wolffianer das günstige Resultat und veröffentlichten diese Schriften, das Gutachten sowie das königliche Schweige-

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Anm. 97). l.Theil, S. 1 4 - 3 8 . Darin sucht Lange die Wertheimer Bibel als eine Frucht der Philosophie Wolfis zu erweisen, die auf ihre Wurzel verweise. Diese von Ende April 1736 stammende Schrift wurde allerdings seine letzte Möglichkeit einer eigenen Stellungnahme in dieser Sache. [Johann Gustav Reinbeck:] Des Regierungraths Wolffens Vermuthliche Antwort auf D. Langens kurzen Abriß. In: Ludovici: Sammlung und Auszüge (wie Anm. 97). l.Theil, S. 3 8 - 5 5 . Reinbeck bezeichnet in der Mitte Mai vorliegenden Schrift den Vorwurf Langes, die Wertheimer Bibel sei eine Frucht der Wolffischen Philosophie, als einen gehässigen, nicht sachgemäßen Einwand »(argumentum ab invidia ductum)«. Christian Wolff: Ausführliche Beantwortung der ungegründeten Beschuldigungen Hrn. D. Langens, die er auf Ordre Ihro Königl. Majestät in Preussen entworffen. In: Ludovici: Sammlung und Auszüge (wie Anm. 97). 1. Theil, S. 5 6 - 1 2 0 . Wolff, dessen Schrift etwa Ende Mai vorgelegen haben muß, argumentiert ähnlich wie Reinbeck, indem er Langes Verknüpfung seiner Philosophie mit der Wertheimer Bibel in der Absicht gegründet sieht, die Gottesgelehrten dadurch gegen ihn aufzubringen. Die Wertheimer Bibel sei aber keine Frucht seiner Philosophie, sondern beruhe auf den altbekannten Argumenten von Hugo Grotius und Richard Simon sowie auf der hebräischen Sprache.

Die Neuen Zeitungen

von gelehrten Sachen in Leipzig wie auch die Hamburgischen

Berichte frohlocken

und rezensieren voller Genugtuung die nun in immer neuen Varianten publizierten Schriften. Vgl. das Kapitel 27: Die Einschränkung der öffentlichen Debatte - Rezensionen. - Dagegen schreibt der ehemalige Student Joachims Langes, Johann Friedrich Bertram, inzwischen Hofprediger in Aurich, am 6. August 1736 an den Hallenser Professor: »So bald ich von einer Commission etwas vernommen, habe mir sofort nichts gutes eingebildet.« (FSt Halle, A 188b:400)

322

Wertheimer Bibel

gebot fur Joachim Lange umgehend und mit großer Genugtuung. 4 8 2 Solche Sammelveröffentlichungen erschienen sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Auch wurden oft weitere diesem Ereignis zugehörige Dokumente beigefugt, in jedem Fall aber die Ordre des Königs über das künftig von Lange zu bewahrende Stillschweigen. Immer wieder werden die unglaublichen Ereignisse des Frühsommers am Berliner Hof in den Vorworten der Editionen der »kommissarischen« Schriften ausfuhrlich und mitunter detailreich erzählt und in den Besprechungen in den Zeitungen erneut nacherzählt, damit auch jeder von dem atemberaubenden Umschwung erfahre, der sich in Berlin ereignet hatte. Angesichts dieses »Tauwetters« für die Anhänger Wolffs scheint man, bei Freunden wie Gegnern Wolffs, auch eine Entspannung der Lage des Wertheimers erwartet zu haben, was sich exemplarisch in der oben dargestellten überraschenden Öffnung der Hamburgischen Berichte fur den Wertheimer ausdrückte. Offensichtlich reagierten sie mit dem Abdruck der prowertheimischen Dokumente am 8. Juni sehr schnell auf das Anfang Juni erfolgende königliche Dekret, nachdem sie diese zuvor etwa zwei Monate lang zurückgehalten hatten. Diese Nachrichten sprachen sich offenbar über das Netzwerk der Wolffianer innerhalb von Tagen zwischen den einzelnen Zentren herum. Diese weitgehende Entspannung für Christian Wolff und seine Philosophie im Ergebnis der Stellungnahmen der Berliner Kommission hatte aber für den Wertheimer durchaus keine mildernde Auswirkung; vielmehr scheint der König in der strengen Verfolgung dieses Werkes und seines Autors sogar eine gewisse Kompensation für seine neue Milde gegenüber dem Wolffianismus gesehen zu haben. Auf diese Weise konnte er den Hallenser Theologen demonstrieren, daß seine neue Politik einer Duldung gegenüber Wolff keineswegs ein Nachlassen seiner Frömmigkeit und Unduldsamkeit gegenüber Feinden der Religion bedeutete. Wohl nicht zufällig traf der König gerade in den Tagen vor der Einsetzung der Kommission zur Prüfung der Streitfragen zwischen Lange und Wolff am 5. Juni 1736 alle Anstalten, um mit Entschiedenheit gegen die Wertheimer Bibel und ihren Autor vorzugehen. Bereits am 27. Mai 1736 erging seine Ordre an »die Etats-Ministros General v. Borck und die v. Podewils und v. Thulemeyer«, nachdrücklich daran zu arbeiten, den weiteren Druck der Wertheimer Bibel aufzuhalten. 4 8 3 Am 2. Juni 1736 erging dann ein Schreiben der Minister an

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483

Die zuerst und schon im Mai 1736 erschienene französische Ausgabe der wichtigsten Schriften im Zusammenhang der Kommission waren die von dem Grafen von Manteufifel herausgegebenen, aber wohl in Zusammenarbeit mit anderen Aletophilen übersetzten Nouvelles pièces sur les erreurs prétendues de la philosophie de Möns. Wolf (1736). - Vgl. zur publizistischen Arbeit der Wolffianer mit diesem Ergebnis auch das Kapitel 27 in diesem Text: Die Einschränkung der öffentlichen Debatte - Rezensionen. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem. HA I, Rep. 13, Nr. 29, Fasz. 19. d. 14. Martii 1738. Acta betreffend die sogenannte Wertheimische Biblische Ubersetzung, und, die, wieder den Authorem davon, Nahmens Schmidt, angestellete Inquisition (im folg. Dahlem: Akte Wertheim. Diese Akte ist nicht durchpaginiert, sondern nur die einzelnen Stücke, dife wiederum in mehreren Einlagen liegen. Ich gebe daher in der Reihenfolge der Einlagen jeder Einlage eine Nummer und sodann wieder jedem der in einer Einlage enthaltenen Stücke, die dann blattweise zitiert werden. Es wird also z.B. heißen: Dahlem: Akte Wertheim. 6.1, lr. Falls jedoch die Einlegemappe

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17. Das Ringen um die Akzeptanz Wolfis am preußischen Hof

den Geheimen Rat und General Fiscal Gerbet in Berlin, 484 »daß derselbe denen hiesigen Buchhändlern die Einfuhr und Debitirung der so genannten Wertheimischen Bibel bey 1 0 0 Ducaten fiscalischer Straffe verbiethen, auch die exemplaria so davon bereits vorhanden seyn möchten, confisciren solle«. 485 Noch am selben Tag wurde der Befehl des Königs auch an alle preußischen Regierungen ausgefertigt, die aufzufindenden Exemplare der Wertheimer

Bibel

zu konfiszieren und den ferneren Verkauf zu verbieten sowie über den

Vollzug des Befehls zu berichten. 486 Dieser in Halle langersehnte königliche Befehl wird merkwürdigerweise erst Anfang Juli in den Hällischen Verbindung der nun also endlich verbotenen Wertheimer

Zeitungen Bibel

abgedruckt. 487 Ohne die

mit der wolffianischen Philo-

sophie mußte dieses Verbot in Halle auch in der Tat als ein Pyrrhussieg aufgefaßt werden, da er um den hohen Preis einer entschiedenen Befestigung der wolffianischen Hauptgegner in ihrer Position und ihrer Akzeptanz am preußischen Hof errungen wurde. Für die Wertheimer aber war das natürlich ein empfindlicher Schlag. Mit diesem Verbot der Wertheimer

Bibel

in den preußischen Landen, wenngleich doch erst mehr als ein Jahr

nach ihrem Erscheinen erreicht, war nun das zweite mächtige protestantische Kurfürstentum im Reich gegen die Bibelübersetzung in Aktion getreten, nachdem Sachsen bereits voraus gegangen war. Aber auch in den protestantischen freien Reichsstädten Nürnberg, Schweinfurt und Frankfurt a. M. waren im Frühjahr Verbote erlassen worden. 4 8 8 Obwohl dadurch die Wertheimer noch nicht unmittelbar tangiert oder gar gefährdet waren, verschlechterte sich doch das Kräfteverhältnis deutlich zu ihren Ungunsten, und es war abseh-

selber das Stück ist (in das alle anderen zugehörigen Stücke eingelegt wurden), wird nur die Nummer der Einlage genannt, z. B.: Dahlem: Akte Wertheim. 6., lr). - Diese Akte ist bisher in der Forschung noch nicht bekannt gewesen. Sie offenbart aber den bedeutenden Anteil des preußischen Hofes an der Verfolgung der Wertheimer Bibel und ihres Autors. 484 Nicht wie Spalding meint, erst am 15. Juni 1736. Vgl. Spalding: Seize the Book (wie Anm. 12), S. 128. 485 Thulemeyer an Gerbet am 2. Juni 1736. In: Dahlem: Akte Wertheim. 7., lr. 486 Yg[ J e n Wortlaut des Befehls an alle preußischen Regierungen vom 2. Juni 1736. In: Ebd. 7.3. 487 »Demnach unlängst ein Bibelwerck zum Vorschein kommen, unter dem Titel: Die göttlichen Schriften vor den Zeiten des Messie etc. Se. Königl. Maj. in Preußen aber die Einführung desselben in dero Landen und dessen Vertrieb, er sey öffentlich oder heimlich, bey 100. Goldgulden Strafe ernstlich verboten, als wird solches jedermann, sonderlich den Buchführern, und andern, so mit Büchern handeln, hiermit bekant gemacht, damit ein jeder sich der Einführung, auch öffentlichen und heimlichen Debits dieser Wertheimischen Bibel enthalten, wiedrigenfalls aber gewarten möge, daß die Exemplarian sollen confiscirt, und die nachgesezte Strafe ohnnachlässig von ihm beygetrieben werden.« (Wöchentliche Hallesche Anzeigen. N.XXVIII. 9. Juli 1736, S. 155. Zitiert nach: AHE Bd. 2. Teil 7: 1737 (24.4.), S. 161.) 488 Die Initiative dazu ging offenbar vom protestantischen kreisausschreibenden Fürsten im Fränkischen Kreis aus, dem Markgrafen von Ansbach. Er forderte die fränkischen Stände, also auch die Städte, zum Verbot und zur Konfiskation auf, nachdem ihm das schon erwähnte Altdorfer theologische Gutachten in Abschrift zugesandt worden war. Ob die Altdorfer Theologen ihm selber ihr vom Grafen von Hohenlohe-Langenburg angefordertes Gutachen an den Markgrafen geschickt haben oder vielmehr der Graf bzw. seine Beamten, ist ungewiß. Vgl. dazu Spalding: Seize the Book (wie Anm. 12), S.97f. sowie die Fußnoten 3 - 4 auf S. 263 f.

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Wertheimer Bibel

bar, daß es über kurz oder lang zu einer allgemeinen Unterdrückung oder gar Verfolgung des Werkes kommen würde. Insbesondere war dieses preußische Verbot aber eine Niederlage ihrer publizistischen Strategie, sich auf den evangelischen Elenchus, die protestantische Freiheit und auf deren Garantierung durch die Reichsgesetze zu berufen. Damit verschlechterten sich die Chancen auf einen Erfolg einer förmlichen Anrufung der protestantischen Stände, des Corpus evangelicorum, beim Ständigen Reichstag zu Regensburg, die Sache des Wertheimers wohlwollend zu prüfen. Vor allem aber wurde durch dieses weitere Verbot auch die Möglichkeit der Fortführung der öffentlichen Debatte entscheidend eingeschränkt. Schon das sächsische Verbot hatte zum Schweigen der Leipziger Gelehrten Zeitungen geführt und zu einer noch größeren Zurückhaltung der Hamburgischen Berichte. Das Verbot in Preußen hatte aber eine weitaus größere Bedeutung fiir den ganzen protestantischen Raum des Reiches und mußte die Zeitungsredaktionen ebenso wie die Anhänger Wolffs bzw. des Wertheimers von einer öffentlichen Parteinahme abschrecken. Auch die Verteidiger der wolffianischen Philosophie in Berlin schwenkten im Sinne einer Sicherung der erreichten Akzeptanz für die Wolffianische Philosophie verständlicherweise auf eine Argumentationsstrategie ein, die die Wertheimer Bibel gerade von jeder Beziehung mit Wolffs Philosophie freimachen wollte. Auch Wolff selber nahm entsprechend eine solche Position ein. 489 Die oftmals zu findenden moralischen Einwände gegen die Abkehr der Wolffianer von dem Projekt einer wolffianischen Bibelübersetzung verkennt allerdings den politisch-strategischen Charakter dieser Entscheidung, die selbst die Wertheimer zu akzeptieren vermochten. Abgesehen davon war es aber auch recht viel verlangt, sich in dieser Zeit, angesichts des zunehmenden Drucks und der durch die Polemik angeheizten aggressiven Stimmung gegenüber der Wertheimer Bibel und ihrem Autor, überhaupt differenziert über das Übersetzungsprojekt zu äußern, geschweige denn, es eindeutig zu begrüßen. Was schon eine nur vorsichtige Sympathiekundgebung für die Person Schmidts oder auch nur eine auf sachlicher Diskussion der Wertheimischen Posi-

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Am 6. Mai 1736 schreibt Wolff nach Wertheim: »Herr Lange ist erst kürzlich in Potsdam bey dem Könige von Preussen gewesen, und hat bey Sr. Majestät meine Philosophie gar sehr anzuschwärzen gesucht, als worinnen die feinsten principia atheismi zu finden wären, die ich mit Vorsatz auszubreiten suchte, um alle Religion über den Haufen zu werfen. Von der Wertheimischen Übersetzung der Bibel habe zwar nicht erfahren, was er vorgebracht: allein ich zweifele nicht, er werde es an seinen gewöhnlichen Lästerungen und Verleumdungen nicht haben fehlen lassen, zumalen da er siehet, er habe noch kein besseres Mittel gefunden, andere Theologos wider mich rege zu machen, als daß er ausstreuet, es wäre diese Übersetzung mein Werk.« (Wolff an Höflein am 6. Mai 1736. In: Mosheim/ Schlegel (wie Anm. 17), S. XXXIX) - Am 8. November 1736 verwies Wolff auch zu Recht darauf, daß er sich nicht besser gegen Lange verteidigen könnte, als wenn er die Wertheimische Bibel mit »anschwärzen hülfe«. Er bittet dennoch um Verständnis, daß er die beiden Kontroversen »nicht vermenget« sehen möchte: »Das wird mir der Herr Schmidt nicht übel nehmen, daß ich leugne, seyne Übersetzung sey in meiner Philosophie gegründet, da es der Wahrheit gemäß, daß er sie in dem Verstände der hebräischen Sprache und der deutschen Mundart gründet.« (Mosheim/Schlegel, S.XLIII) Vgl. auch das Kapitel 18: Die öffentliche Nebendebatte der Langeschen Fraktion gegen Wolff: Die Wertheimer Bibel eine Frucht der Wölfischen Philosophie?

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17. Das Ringen um die Akzeptanz Wolfis am preußischen Hof

tion bestehende kritische Stellungnahme für den Autor an Konsequenzen haben konnte, wurde am Fall des anerkannten Straßburger Theologen Fröreisen anschaulich deutlich, wovon noch zu sprechen sein wird. 4 9 0 Aber nicht nur hinsichtlich des geforderten Verbots der

Wertheimer Bibel

in Preußen

kommt der König den Forderungen Joachim Langes zu diesem Zeitpunkt endlich entgegen, er ist nunmehr auch bereit, durch eine Anzeige des Buches beim Reichsfiskal ein kaiserliches Verbot für das ganze Reich zu initiieren. Noch vom selben Tag, an dem das Verbot für Preußen erfolgte, vom 2. Juni 1 7 3 6 , stammt ein Schreiben der Minister im Namen des Königs an die preußischen Gesandten in Wien, an den beständigen Residenten Johann Friedrich Graeve und an den außerordentlichen Gesandten Christian von Brandt, mit dem Befehl, »alldort« eine »Verbiethung der so genannten Wertheimischen Bibel« auszuwirken, »damit deren fernerer Druck, von Ihro Kayserl. Mayt. untersaget, auch die Verkauffung der bereits gedruckten Exemplarien des ersten Theils, inhibiret werden möge«: »[...] wird Euch schon bekand seyn, was dergestalt zu Wertheim ein Bibel-Werck gedrucket wird, wovon der erste Thomus bereits Ao. Mss. unter dem Titul die göttlichen Schrifften vor den Zeiten des Messiae Jesus, heraus gekommen. Wann nun die Ubersetzung, deren man sich bey Abfaßung solchen Wercks gebrauchet, an vielen Orten sehr übel getroffen ist, absonderlich aber die, in den Büchern Mosis, von dem Messia enthaltene Verheißung fast gäntzlich und dergestalt entkräfftet sind, daß dergleichen unter den Christen nicht zu dulden, zumahl da schwache und einfältige Gemüther dadurch verleitet und irre gemacht werden können; des befehlen wir Euch hierdurch in Gnade, mit dem Reichs-Vice-Cantzler, Graffen von Metsch dieserwegen zu sprechen, und ihm anheim zu stellen, ob nicht durch Kayserl. Verordnung die continuation des Drucks und der Debit der von dem ersten Theil bereits vorhandenen Exemplarien, bey nahmhaffter Straffe zu verbiethen, auch der Reichs-Fiscal disfalls zu excitiren seyn möchte, indem es eine Sache ist, bey welcher, nicht blos und allein die Evangelische Kirchen, sondern auch die Römisch-Catholische selbst, da der Grund des allgemeinen christlichen Glaubens, angegriffen und in Gefahr gesetzet werden will, interessiret sind.« 491 Über die Ausfuhrung dieses Befehls wird ein Bericht gefordert. Schon am 27. Juni berichten von Graeve und von Brand aus Wien, 4 9 2 daß von Graeve beim Reichsfiskal vorstellig geworden sei und diesem sein »in Händen habendes Exemplar des Wertheimischen Biebel-Drucks« nebst der in den »Hällischen wöchentlichen Zeitungen« vom 14. Mai 1 7 3 6 befindlichen Zensur des Kursächsischen Kirchenrats kommuniziert und vorgetragen habe,

490 491

492

Vgl. weiter unten das Kap. 26: Die Affäre Fröreisen. Die Kabinettsminister Podewils, Thulemeier, Borck am 2. Juni 1736 im Namen des Königs an die preußischen Gesandten von Brand und Graeve in Wien: Betr. die von Ihnen alldort auszuwürckende Verbiethung der so genannten Wertheimischen Bibel, damit deren fernerer Druck, von Ihro Kayserl. Mayt. untersaget, auch die Verkauffung der bereits gedruckten Exemplarien des ersten Theils, inhibiret werden möge. Auf die Post am 5. Juni 1736. In: Dahlem: Akte Wertheim. 7.1., l r - v . Graeve und Brand am 27. Juni 1736 aus Wien an den König, präsentiert am 4. Juli 1736. In: Dahlem: Akte Wertheim. 7.4., l r - 2 r .

326

Wertheimer Bibel »daß der Auetor unter andern die in denen Büchern Mosis von dem Meßia enthaltene Weißagungen, von welchen Christus selbst in dem neuen Testament meldet: Moses habe von ihm geweissaget, gäntzlich zu entkräften suche, und daß überhaupt diese übel angefangene Übersetzung ein Werck sey, welches, da ihm nicht in Zeiten gesteuret werden sollte, den Grund des allgemeinen christlichen Glaubens in Gefahr setzen würde«. 493

Auch dem Reichsvizekanzler, dem Grafen von Metsch, habe man diese Unterlagen übergeben und habe ihm dasselbe vorgetragen, »nebst dem Erbiethen, daß, nöthigen falls, auch die Censur derer Jenaischen Theologen, und den eigens herausgegebenen Philosophischen Religions-Spötter des Doctoris und Professoris Theologiae, Langens, zu Halle hinzufügen könnte«. Der preußische Gesandte ist also nicht nur eifrig dabei, den königlichen Befehl auszuführen und ein kaiserliches Verbot in Wien zu erwirken; er tut sogar mehr als das, indem er dem Reichsfiskal ebenso wie dem Reichsvizekanzler eigene Materialien zur Verfügung stellt - die Wertheimer

Bibel

und die Zensur des sächsischen Kirchenrats, und zwar

nicht aus dem ersten Abdruck in den Leipziger, sondern aus der Hallischen Zeitung (!); außerdem werden auch die Stellungnahme der Jenenser Universität sowie Langes phischer

Religionsspötter

Philoso-

in Aussicht gestellt. Vermutlich sind diese Texte direkt aus Halle

oder über einen pietistischen Bundesgenossen in Berlin nach W i e n gelangt. Wenn es trotzdem noch eine Zeit dauert, ehe es zu einem Verbot der Wertheimer

Bibel

im Reich kommt,

liegt es also keineswegs am mangelnden Diensteifer der preußischen Gesandten, sondern an der mangelnden Effektivität des kaiserlichen Justizapparates. Über dessen umständliche Arbeitsweise weiß von Graeve nach Berlin zu berichten: »Der Reichs-Fiscal ist willig, sein Ambt zu thun; weil ihm aber, seit Absterben des Grafen von Stein, und Erhebung des Grafen von Hartig zum Reichs-Hof-Raths-Vice-Präsidenten, keine andere Commissarien, der Reichs-Hof-Raths-Ordnung gemäß, zugeordnet worden, mit welchen er über die Sache communiciren könnte, so hält er dafür: es müßte solches höherer Orten eingeleitet werden. Der Graf von Metsch, welchem man dieses ebenfalls hinterbracht, erbiethet sich, das seine, wie es ohnehin in seiner Ordnung an ihn gelangen müßte, gern beytragen zu wollen, weil er aber doch dem Reichs-Hof-Raths-Präsidenten nicht gern vorgreiffen mögte: so stünde mit selbigem gleichfalls die nöthige Arbeit zu nehmen. Solchernach ist heute dahin ebenfalls die oberwehnte Communication geschehen: und wird morgen zu vernehmen seyn, weßen sich selbiger äußern werde.« 494 Daß es ganz eindeutig weiterhin die Initiative und das beständige Drängen von preußischer Seite ist, das die langsam mahlenden kaiserlichen Mühlen in Wien gegen die Bibel

Wertheimer

in Gang setzt, geht aus der weiteren Korrespondenz zwischen den preußischen

Gesandten in Wien und dem Berliner Hof im Herbst 1 7 3 6 hervor. 495 Dabei erhellt aus

493 494 495

Ebd., Ir-v. Ebd., l v - 2 r . Spalding, der sich diesbezüglich nur auf die Akten des Reichshofrats zu Wien gestützt hat, urteilt also ganz zu Unrecht: »Indeed, the king of Prussia's appeals to the emperor seem to have played surprisingly little a role in the considerations of the aulic council's prosecutor, despite Schmidts later belief that they did. The earliest memoranda of the prosecutor himself indicate that he was aware of Protestant theological condemnations and the Saxon ban when he first advised prosecution of the book

17. Das Ringen um die Akzeptanz Wolfis am preußischen Hof

327

einem Schreiben Graeves zugleich auch, daß er von Halle aus beständig über die Ereignisse im Zusammenhang der

Wertheimer Bibel

auf dem laufenden gehalten wird und sich auf-

grund dieser Informationen sogar gegenüber dem preußischen König zum Anwalt der Langeschen Argumentationsstrategie macht, indem er immer wieder den engen Zusammenhang der

Wertheimer Bibel

mit der Wolffianischen Philosophie thematisiert. Nachdem er

in seinem Bericht vom 15. September 1 7 3 6 zunächst weitere Verzögerungen aufgrund einer mehr als sechswöchigen Abwesenheit des Reichsfiskals aus Wien meldet, weshalb wegen der

Wertheimer Bibel

wieder nichts unternommen worden sei, 496 außer daß er die Sache

nunmehr auch dem kaiserlichen Beichtvater Tennemann mitgeteilt habe, 497 heißt es übergangslos, fast, als wolle man die Worte der Autorität des Beichtvaters in den Mund legen: »Wie es scheinet, ist der Autor ein Wolffianer. Da nun, dem Vernehmen nach, Eure Königliche Majestät höchsterleuchtet gut gefunden: die zwischen dem Doctore, und Professore Langen, und gedachtem Wolff fürwaltende Streitigkeiten durch dero Ober-Hof-Predigern, Jablonsky, den Probst Reinbecken, und anderer tapfferer Männer gründlich untersuchen zu lassen, und selbiger nicht nur von der beschuldigten Atheisterey frey gesprochen; sondern auch wiederum nach Halle zu seiner vorigen Function vociret seyn solle, so wird doch nichts desto weniger dero allerhöchstes Urtheil über den Wertheimischen Bibel-Druck unveränderlich seyn, oder allenfalls uns allergnädigst nähere Instruction zugehen.« 498 Wenngleich die Nachricht über eine Rückberufung WolfFs nach Halle zu diesem frühen Zeitpunkt eher die Befürchtungen Langes als die Realität zum Ausdruck bringt, konnte der König nicht deutlicher auf den gemeinten Widerspruch zwischen seiner milden Vorgehensweise gegen W o l f f und Reinbeck einerseits und dem Verbot gegen den Wertheimer andererseits hingewiesen werden, was - bei anderer Bewertung - ja auch die anfängliche Erwartung der Anhänger WolfFs war. Der König antwortete ungeachtet dessen am 25. September 1 7 3 6 mit einer Affirmation seines vorigen Befehls:

496 497

498

and its author, but that only thereafter did he become aware of the Prussian king's appeals as well. It was more accurate of Schmidt and his allies to blame Joachim Lange as the ultimate investigator of the imperial ban, through writing and personal appeals that fueled the growing theological consensus against the Wertheim Bible.« (Spalding: Seize the Book (wie Anm. 12), S. 132) - Aus der Akte Wertheim geht aber vielmehr hervor, daß Schmidt und der Kammerrat Höflein sehr hellsichtig und völlig zu Recht Joachim Lange als spiritus rector der Verfolgung der Wertheimer Bibel durch den Reichshofrat in Wien erkannt haben, der sich natürlich in seinen Aktivitäten sowohl auf den sächsischen Kirchenrat als auch auf den preußischen König und viele seiner Beamten stützen konnte. Dahlem: Akte Wertheim. 7.8., l r - lv. Schreiben vom 15. September 1736 aus Wien von Brand und Graeve nach Berlin, präsentiert am 23. September. In: Ebd. Inliegend in 7.6., einem Schreiben vom königlichen Hof vom 25. September 1736 an Brand und Graeve, l r - v . - Der Beichtvater hätte gemeint, »daß diese freye Ubersetzung gefährlich sey; und nach Zurückkunft des Kayserlichen Hofes von Halbthurn werden weiter mit demselben communiciren« (lv). Ebd., lv.

328

Wertheimer Bibel »Lassen wir es allerdings unveränderlich dabei bewenden, was sich wegen Hemmung und Supprimirung der scandaleusen und wieder die Hauptgründe der Christlichen Religion streitenden so genannten Wertheimischen Biebelwercks hiebey allergnädigst anbefohlen und rescribiret wurde [...] unserer höchsten Intention gemäß, das benöthigte aldort zu urgiren und zu besorgen«. 459

In einem weiteren Schreiben aus W i e n vom 29. September 1 7 3 6 berichtet Graeve noch einmal über Verzögerungen wegen anhaltender Abwesenheit des Reichsfiskals, um dann zu melden, er habe »die drey ersten Theile des Probst Reinbecks, Betrachtungen über die Augspurgischen Confession [erhalten], und ersehe aus der Vorrede des dritten Theils, was nur benannter gelehrter vernünfftiger Theologus über die herausgekommene fünf Bücher Moses, und darinnen gäntzlich entkräfftete Mosaische Weissagungen von Christo, vor ein cordates Urtheil fället. Es soll auch selbiges dem Kaiserlichen Beichtvater, Tennemann, welcher heute, oder morgen, zurück erwartet wird, und dem Reichs-Fiscal, so bald solcher sich auch wieder hier einfindet, communiciret werden.« 500 Tatsächlich wurde Reinbecks Darstellung zu den Akten des Reichshofrats in Wien genommen. 5 0 1 Es ist aber nicht wahrscheinlich, daß Reinbeck sein Werk selber nach Wien gesandt habe. Als der Reichsfiscal in der zweiten Novemberwoche endlich nach W i e n zurückgekehrt war, nahm Graeve sogleich Gelegenheit, am 13. November mit dem Reichshofratspräsidenten, Graf von Wurmbrand, wegen der Wertheimer

Bibel gemäß den königlichen Ordres vom

2. Juni und vom 25. September 1 7 3 6 zu sprechen. Auch in diesem Gespräch bezeigte er einen für einen diplomatischen Beamten außergewöhnlichen theologischen Eifer, indem er dem Präsidenten seinem eigenen Bericht zufolge antrug, »daß man ihm alle in den Büchern Moses von der Weissagung von Christo handelnden Stellen, und deren Verfälschung vorlegen wolle«. 502 Graeve vergißt auch nicht zu berichten, zufrieden mit der Haltung des Präsidenten des Reichshofrats: »Er bezeugete aber, dergleichen ketzerische Schriften zum Höchsten zu verabscheuen, weil sie, den Menschen im Glauben irr zu machen, fähig wären: und verweise die Sache gedachten Fiscal. Auf Vermelden, wie er schon von allem informirt, und genugsam überzeugt wäre, daß sein Ambt hierunter zu beobachten wäre: nur aber sich entschuldigt, daß ihm noch keine Räthe wieder zu geordnet worden, mit denen er dergleichen causas Fiscales in Deliberation nehmen könne, erklärte sich der Graf von Wurmbrand: der Reichs-Fiscal mögte nur zu ihm kommen, so solle dem Werck schon gerathen werden, und dieses wird letzterer morgen beobachten.« 503 So weit war man allerdings schon einmal Ende Juni gekommen. Immerhin hatte man sich inzwischen auch weiterer katholischer Unterstützung versichert: »Der Kayserl. Beichtvatter, 499

500

501 502

503

Schreiben des Berliner Hofes nach Wien an Brand und Graeve vom 25. September 1736, denselben Tag auf die Post. In: Ebd. 7.6., lr. Schreiben Graeves und Brandts an den Berliner Hof vom 29. September 1736 aus Wien. In: Ebd. 7.9., l r - v . Siehe Frank (wie Anm. 9), S. 280 f. Graeve und Brandt aus Wien nach Berlin am 14. November 1736. In: Dahlem: Akte Wertheim. 7.11., l r - 2 r , hier Iv. Ebd.

329

17. Das Ringen um die Akzeptanz Wolfis am preußischen Hof

P. Tennemann, mit dem über dieses Sujet ich, von Graeve, gestern eine lange Conversation gehabt, will des Fiscalis Memoriale, wovon er sich Copiam ausbittet, selbst Ihro Kayserl. Majestät präsentiren«. 504 Von dem katholischen Theologen scheint man sich offenbar mehr Engagement in dieser Sache versprochen zu haben als von dem umständlichen Justizapparat. Dennoch dauert es noch bis zum 12. Dezember, bis endlich nach Berlin berichtet werden kann: »Ist nunmehro der Reichs-Fiscal, wieder den Auctorem der Wertheimischen sogenannten freyen Biblischen Übersetzung, würcklich bey Reichs-Hof-Rath einkommen, nachdem er vorher das Concept, auf mein, von Graeve, veranlaßen, dem Kayserl. Beichtvater, R Tönnemann, communiciret: und daßelbe dessen Approbation gefunden.« 505 W i e sehr der preußische Gesandte diese Angelegenheit zu seiner eigenen gemacht hatte, zeigt sich auf kuriose Weise auch darin, daß er sogar selber versuchen wollte, das Konzept des Reichsfiskals zu überarbeiten: »Ich ersehe aber bey dessen Durchgehung dennoch, daß ein, und anderes, besser gefaßet werden können, und sollen, und werde gedachtem Fiscali meine Gedancken darüber zusenden, um allenfalls einen kurzen Nachtrag daraus formiren zu mögen.« 5 0 6 Tatsächlich findet sich eine solche korrigierte Fassung, die in der Tat zutreffender in der Beschreibung des Hergangs ist, bei den Akten des Reichshofrats in Wien. 5 0 7 Die dem Kaiser am 10. Dezember 1 7 3 6 unterbreitete Anzeige des Reichsfiskals stützt sich nur erst auf Langes

trachtungen,

Philosophischen Religionsspötter,

Reinbecks Vorrede zu den

Be-

das Jenenser Gutachten und das sächsische Verbot mit der Begründung des

504

Graeve und Brandt aus Wien am 14. November 1736. In: Ebd. 7.11., lv. - Dort wird übrigens der folgende interessante Bericht über eine ungarische Ubersetzung der Hl. Schrift gegeben: »Der Kayserl. Beichtvatter [...] gedachte unter andern, er mögte wohl wißen, wie der Auetor der Wertheimischen Biebel mit denen Juden zu recht kommen wollte, wenn er die ersten Weissagungen altes Testaments von Christo entkräfftete: In allen im Reichsubsistirenden Religionen seyen genügsame biblische Übersetzungen vorhanden, daß man keiner neuen bedürffte, und das Volck irre mache, am allerwenigsten solle man solches Leuten, privata auetoritate zu thun verstatten: Er erinnerte sich dabey einer von einem reformirten Dorff-Geistlichen in Hungarn vor einiger Zeit unternommenen aber untersagter Version der heiligen Schrifft in Hungarischer Sprache, welcher das in der Offenbarung Johannis C. 13 beickte Thier, mit sieben Häuptern, auf den Kayser, und die sieben Churfiirsten, deuten wollen: Chur-Braunschweig, wie er im Scherz hinzusetzte, als ein neuer Churfiirst, habe daran nicht theil; worauf gar artig geantwortet werden können, wenn es convenable gewesen.« (Ebd., l v - 2 r )

505

Brandt und Graeve aus Wien an den Berliner Hof, den 12. Dezember 1736, präsentiert den 19. Dezember. In: Ebd. 7.9., l r - v , hier Ir. Ebd., l r - v . - Auch den Reichshofrat unterstützte Graeve nach seinem eigenen Bericht an den Berliner Hof im Interesse einer Beschleunigung des Prozesses in jeder Weise: »Dem Reichs-Hof-Rath, Freyherrn von Wucherer, habe mein Exemplar derer fünf Bücher Moses, sammt denen darüber gewechselten Schrifften, communiciren müssen, und hat er sich geäussert, daß er allerdings mit Ernst losgehen würde, so ferne er zum Referenten bestellet werden sollte, und, wie ich vernehme, solle mit gestriger Post der Bücher Commissarius aus Franckfurt am Mayn seinen Bericht gleichfalls dahin erstattet haben: daß seines Begriffs, dem debit dieses grundverderbl. Buches mit allem Nachdruck zu steuren.« (Ebd., lv) Vgl. Frank (wie Anm. 9), S. 283 f.

506

507

330

Wertheimer Bibel

sächsischen Kirchenrats als Begründung der Anzeige; sie fordert außerdem vom Buchdrucker Nehr noch erst die Nennung des in Halle längst bekannten Autors und wirft dem Fürsten statt den Grafen von Löwenstein-Wertheim vor, gemeinsame Sache mit dem BibelÜbersetzer zu machen. 508 Dagegen ergänzt und korrigiert der Reichsfiskal in einem Nachtrag vom 18. Dezember seine Anzeige dahingehend, daß er auf das längst ergangene Verbot und die Konfiskation der Wertheimer Bibel in allen preußischen Landen nachdrücklich verweist und sogar Kopien der königlichen Reskripte beilegt, den Autor definitiv als Schmidt benennt, und zutreffend die beiden jungen Grafen von Löwenstein-Wertheim als die eigentlichen Protektoren des Wertheimers bezeichnet. Entsprechend wird auch der Entwurf für das kaiserliche Reskript verbessert, als nunmehr die Grafen von Löwenstein-Wertheim benannt werden und bereits die sichere gefängliche Verwahrung des nun offenbar feststehenden Delinquenten Schmidt anbefohlen wird. In diesem, vom preußischen Gesandten Graeve also aktiv mitformulierten Wortlaut ergeht dann am 15. Januar das kaiserliche Reichskonklusum, mit dem Befehl: »Fiant Patentes in das ganze h. röm. Reich!« 5 0 9 Damit hat sich die Hallische Waisenhauspartei am Ende des Jahres 1736 auf politischem Wege in Sachsen, Preußen und auch im ganzen Reich weitgehend gegen die Wertheimer durchgesetzt - ohne auf die Argumente in der öffentlichen Debatte zu vertrauen. Damit schien die Fortsetzung der öffentlichen Debatte endlich unmöglich geworden.

III. Die dritte Phase der öffentliche Debatte bis zum kaiserlichen Verbot im Januar 1 7 3 7 18. Die öffentliche Nebendebatte der Langeschen Fraktion gegen Wolff: Die Wertheimer Bibel eine Frucht der Wölfischen Philosophie? Mit dem Verbot der Wertheimer Bibel war allerdings das eigentliche Ziel Joachim Langes und seiner Mitstreiter keineswegs erreicht worden, denn die publizistische und politische Verfolgung der Wertheimer Bibel sollte vor allem anderen dazu dienen, die religionsgefährdenden Folgen des Wolffianismus aufzuzeigen. Die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, daß die Auseinandersetzung mit der Wertheimer Bibel exemplarischen Charakter annehme und in eine grundlegende Auseinandersetzung mit den Wolffianern verwandelt werde, hatte Joachim Lange schon mit seinem ersten publizistischen Auftreten gegen die Übersetzung im Religionsspötter übernommen. Während dieser Auseinandersetzung hat er in der Tat alle Register gezogen, die ihm verhaßte Philosophie ein für allemal niederzuschlagen: Er verfaßte nicht nur eigene Streitschriften, sondern forderte die Kollegen anderer theologischer Fakultäten sowie den sächsischen Kirchenrat in (amtlichen) Briefen und öffentlich zur Widerlegung und Zurückweisung auf, er suchte die Wertheimischen Grafen von einer Unterstützung

5°8 Vgl. ebd., S. 2 8 0 - 2 8 3 . 509 Vgl. ebd., S. 284.

18. Die öffentliche Nebendebatte

331

Schmidts abzubringen, er denunzierte den Hofprediger Reinbeck wegen einer angeblichen Unterstützung der Übersetzung und setzte ihn damit unter Druck, er suchte Einfluß auf den preußischen König zunehmen, direkt und vermittelt durch den Grafen von Stolberg, und zwar sowohl mit dem Ziel eines preußischen Verbots als auch einer preußischen Anzeige beim Reichshofrat, er stellte durch Briefe an das sächsische Oberkonsistorium ein neues Bündnis zum Kampf und zur Zurückweisung des Wertheimers und seiner wolffianischen Hintermänner her, und er versorgte wahrscheinlich sogar den preußischen Gesandten von Graeve in Wien direkt mit aktuellen Nachrichten und Informationsmaterial, um so den Prozeß beim Reichshofrat gegen den Wertheimer in Gang zu setzen und zu beschleunigen. Ungeachtet dieser enormen und umfassenden politischen und publizistischen Anstrengungen scheint ihm im Sommer 1736 trotz des erfolgten preußischen Verbots der Wertheimer Bibel und der preußischen Anzeige beim Reichshofrat wieder nur ein grandioser Pyrrhussieg gelungen zu sein, insofern die Wolffianer davon weitgehend unberührt blieben. Im Gegenteil — in gewisser Weise schienen sie aus dieser Auseinandersetzung sogar rehabilitiert und gestärkt hervorgegangen zu sein: Wolff war von der königlichen Kommission ein Zeugnis der Unbedenklichkeit ausgestellt worden, dagegen hatte Lange vom König die Auflage erhalten, sich künftig aller polemischen Schriften gegen seinen Erzfeind Christian Wolff zu enthalten. Nachdem sich so die politischen Mittel als unzureichend erwiesen hatten, wegen der Wertheimer Bibel ein Verbot der wolffianischen Philosophie herbeiführen zu können, widmete sich Lange in der Folge der Aufgabe, durch eine Welle publizierter Schriften eine breite Akzeptanz für seine Überzeugung zu erlangen, daß man diese Übersetzung als eine Frucht der Wolffischen Philosophie anzusehen habe, weshalb folgerichtig auch die Quelle der religionsfeindlichen Wertheimer Bibel zu unterdrücken sei. Daß ihm selbst durch den König die Hände gebunden waren, konnte ihn doch nicht daran hindern, wie Christian Wolff ganz zu Recht befürchtete, andere Autoren ftir dieses Vorhaben zu gewinnen, »zumalen da er siehet, er habe noch kein besseres Mittel gefunden, andere Theologos wider mich rege zu machen, als daß er ausstreuet, es wäre diese Uebersetzung mein Werk«. 510 Immerhin hatte der König selber immer noch keine abschließende Entscheidung über Wolffs Philosophie getroffen und sein früheres Urteil gegen Wolff auch nicht aufgehoben. »Und dieses«, so urteilte Wolff angesichts der Aktivitäten seiner Gegner zutreffend, »machet Herrn Langen trotzig. Denn ob er zwar selbst nicht schreiben darf, so stiftet er doch andere an, die nach seiner Pfeife tanzen, und verleget ihre Lästerschriften mit beliebigen Zusätzen: wobey er allerhand Intriguen spielet, die einem ehrlichen Manne nicht anstehen. Die Zeit wird lehren, wie lange er noch Zeit hat, bis das Maaß der Bosheit erfüllet.« 511

510 511

Wolff an Höflein am 6. Mai 1736. In: Mosheim/Schlegel (wie Anm. 17), S.XXXIX. Wolff an Höflein am 8. November 1736. In: Ebd., S.XLIII. Wolff hat in diesem Brief insbesondere den Autor von Widerlegungsschriften der Wertheimer Bibel Sincer Pistophel im Auge. Er sei aber nicht gewillt, sich mit diesem »ungezogenen Schulmanne« einzulassen, »der von dem Hällischen Feinde zu lästern gedungen«. Es handelte sich dabei um den Rector Oeder in Ansbach, der als Sincerus Pistophel auch aktive antikatholische Polemik betrieb. Vgl. AHE. Anhang zum Bd. 1. 1737, S. 5 0 - 5 6 .

Wertheimer Bibel

332

Natürlich war die Auffassung über eine theoretische Übereinstimmung Schmidts mit W o l f f nicht aus der Luft gegriffen; tatsächlich beruhen die Übersetzungsprinzipien des Wertheimers wesentlich auch auf der Wölfischen methodischen Denkweise, auf der von ihm empfohlenen mathematischen Methode. W o l f f hatte denn auch beim Empfang des Auszugs aus dem ersten Teil der Übersetzung am 24. September 1 7 3 3 an den Kammerrat Höflein geschrieben: »Ich habe längst für nöthig erachtet, daß man die Begriffe, welche zu den biblischen Redensarten gehören, genau zu determiniren und in Deutlichkeit zu setzen suchte: allein es gehöret Verstand und Mühe dazu, an deren ersten es dem Autori nicht fehlet, das andere aber selbst seine Unternehmung bekräftiget. Wie die Tübinger ihre große Bibel herausgaben,512 war mein Wunsch, daß sich jemand finden möchte, der solche Anmerkungen machte, darinnen der Verstand durch Begriffe erkläret würde, wie ich in einem und dem andern dessen Möglichkeit in dem Capitel de usu Logicae in interpretanda Scr. s. in der lateinischen Logik gezeigt.« 513 Jedoch muß klar gesehen werden, daß Schmidt in seinem Unternehmen und in seinen methodischen Überlegungen bei aller Nähe zu W o l f f und zu Leibniz doch die von diesen noch bewußt beachteten und beibehaltenen Grenzen zwischen Vernunft und Offenbarung deutlich überschreitet, da er der mathematischen Methode eben keine Grenzen in ihrer A n wendung setzt und keine besondere Klasse von Wahrheiten der offenbarten Religion zulassen möchte. »Weil wir befinden, daß der menschliche Verstand Schranken hat: so müssen wir gestehen, daß es Wahrheiten gibt, welche uns unbekant bleiben; weil nehmlich dergleichen Begriffe und Sätze von den bekamen Wahrheiten so weit entfernet sind, daß unser Vermögen und Lebenszeit nicht zureichet, alle mittlere Begriffe und Sätze zu erfinden, wodurch wir zur Erkäntniß derselben gelangen müsten. So gehet es uns in der Naturlehre mit dem inneren Bau der Körper, welcher so versteckt ist, daß wir in der Erkäntniß desselben wol niemals zu Ende kommen werden. Allein, wir gehen zu

512

Das sog. Tübinger Bibelwerk beruhte auf der sog. Ernestinischen (nach dem sächsisch-gothaischen Herzog zu Weimar Ernst), Jenaischen (nach dem Arbeitsort der Hauptmitarbeiter), Weimarischen oder Gothaischen (nach dem Sitz des Herzogs), Nürnbergischen (nach dem Verlagsort) oder auch wegen der wertvollen Kupfer von sächsischen Fürsten und Fürstinnen - Kurfurstenbibel. Diese erschien 1640 nach vierjähriger Arbeit in reicher Ausstattung und für einen teuren Preis. Jede Gemeinde sollte nach dem 30jährigen Krieg wieder über eine ordentliche Bibel mit Karten und Bildern verfügen. 40 Theologen arbeiteten daran. Die Überarbeitung durch Christoph Matthias Pfaff (der auch in die Debatte über die Wertheimer Bibel eingreifen wird) und seinen Schwager Joh. Christian Klemm diente der dogmatischen Abschwächung und erschien 1730 in Tübingen im Folioformat unter dem Titel: Biblia oder die ganze heilige Schrift: mit Summarien, Anmerkungen, Nutzanwendungen. Tübingen 1730. Eine weitere Auflage kam in Speyer 1767-78 in 9 Bänden heraus.

513

Frank (wie Anm. 9), S. 288 f. Daß Wolff aber auch sogleich vor einer Veröffendichung warnte, kann man dort auch lesen: »Daß dergleichen Arbeit (wie die Wertheimische Übersetzung oder Paraphrasis der Bibel) nicht ohne Nutzen sein könne, bin völlig überführet: ob aber nicht viele dagegen bellen dürften, dafür will eben nicht gut sein.« (S. 288) - Vgl. Chr. Wolff: Philosophia rationalis sive logica (»Deutsche Logik«) (wie Anm. 22), 12. Kapitel: Von Erklärung einer mit Verstände geschriebenen, und insonderheit der Heiligen Schrift. §§ 1-12.

18. Die öffentliche Nebendebatte

333

weit, wenn wir eine gewisse Klasse von Wahrheiten machen, deren deutliche Erkäntniß wir dem ganzen menschlichen Geschlecht absprechen und als solche angeben wollen, welche die Kräfte unseres Vertandes überstiegen.« 514

Indem hier die Unerkennbarkeit der christlichen Mysterien nur auf die endliche Lebenszeit und deshalb zeitlich beschränkte Erkenntnisfähigkeit der Menschen zurückgeführt wird, vor allem aber eine besondere Klasse der Offenbarungswahrheiten geradezu geleugnet wird, spricht Schmidt die bei Wolff noch latenten Konsequenzen der Anwendung der philosophischen oder mathematischen Methode deutlich genug aus. Mit dieser offenen Radikalisierung des Wolffschen Programms für die Behandlung der christlichen Theologie anhand des zentralen und legitimierenden Textes der christlichen Religion geriet das bis dahin seit 1723/24 eingependelte labile Gleichgewicht zwischen den Fraktionen der Wolffianer, der orthodoxen protestantischen Theologen und der Pietisten außer Kontrolle. 515 Die Wolffianer hatten in den Augen ihrer Gegner eindeutig den ersten Schritt getan und deutlich überzogen. Es galt nun für diese, die entstandene Situation zu ihren Gunsten zu nutzen: also nicht nur gegen den einen »Radikalen« in Wertheim vorzugehen, um ihn von den gemäßigten und bereits etablierten Wolffianern zu separieren, sondern vielmehr dessen Zurückweisung zu nutzen, um die bereits errungene Akzeptanz der Wolffianer vor allem in Leipzig, Jena und neuerdings in Berlin zurückzudrängen, indem die genaue Verbindung und grundsätzliche Übereinstimmung der Wertheimer Übersetzung mit den wolffianischen Prinzipien aufgezeigt wurde. Entsprechend löste die Veröffentlichung der Wertheimer Bibel bei den Wolffianern trotz der dargestellten anfänglichen Begeisterung bei ihrem Erscheinen zunehmend Verwirrung aus. Sie hatten seit der Vertreibung Wolffs 1723 aus Halle, jenem ersten Pyrrhussieg Joachim Langes, beständig und ohne spektakuläre Ereignisse immer offensichtlicher an Einfluß gewonnen, vor allem in Leipzig durch den erfolgreichen und umtriebigen Gottsched und in Jena durch den Mathematikprofessor Wiedeburg, den Professor für Philosophie Stolle sowie durch viele Magistri legentes wie Jakob Carpov und Joachim Georg Darjes. Nicht zu vergessen ist die zunehmende Präsenz von Wolffianern auch außerhalb der Universitäten: in den Redaktionen der überregionalen und daher einflußreichen Gelehrten Zeitungen, in den Lehranstalten, Schulen und Pfarrämtern sowie in den anwachsenden staatlichen und städtischen Institutionen. Sogar hatte sich nun auch am Berliner Hof offenbar ein Umschwung zugunsten Wolffs vollzogen, der sich der langfristigen Arbeit Reinbecks und Manteuffels und der von ihnen gegründeten Aletophilen verdankte. 516 Diese erfolgversprechende langsame Entwicklung sah man nun wegen der unvorsichtigen offenen Herausforderung der

Die göttlichen Schriften (wie Anm. 32). Vorrede, S. 14f. Zur Radikalisierung wolffianischer Ideen vgl. Günter Mühlpfordt: Radikaler Wolffianismus. Zur Differenzierung und Wirkung der Wölfischen Schule ab 1735. In: Christian Wolff 1 6 7 9 - 1 7 5 4 (wie Anm. 238), S. 2 3 7 - 2 5 3 , insbes. S. 2 4 4 - 2 5 1 . 516 Vgl Buschmann: Wolffianismus in Berlin (wie Ajnm. 472), S. 8 1 - 9 3 , sowie Detlef Döring: Beiträge zur Geschichte der Aletophilen in Leipzig (wie Anm. 123), S. 95—150, hier zu den Berliner Aletophilen insbes. S. 9 9 - 1 0 5 - - Vgl. auch Janssens-Knorsch: Jean Deschamps (wie Anm. 238), S. 2 5 9 - 2 6 3 .

514 515

334

Wertheimer Bibel

Orthodoxie wie auch der Pietisten durch den Wertheimer gefährdet, obgleich man die Ubersetzungsprinzipien Schmidts bis zu einem bestimmten Grad durchaus teilte. In dieser Situation galt es aber zuallererst, den bis dahin mit großen Anstrengungen schon erreichten Bodengewinn gegen die Gegner zu verteidigen, weshalb die Wertheimer Bibel und ihr Autor trotz dieser weitgehenden inhaltlichen Übereinstimmung unter dem herrschenden Druck nicht mehr gerechtfertigt werden konnten. In dieser aggressiven Auseinandersetzung war eine differenzierte kritische Diskussion nicht mehr möglich. Vor allem aber sahen sich die etablierten und bekannten Hauptvertreter des Wolffianismus angesichts der rasch und grundsätzlich vorgetragenen Offensive Langes und seiner Mitstreiter plötzlich auch persönlich angegriffen, wie bereits gezeigt wurde. Entsprechend war man nach dem sächsischen und dann dem preußischen Verbot der Wertheimer Bibel um Schadensbegrenzung bemüht, tauchte ab, leugnete möglichst jeden Zusammenhang mit dem Wertheimer und leugnete insbesondere jede notwendige theoretische Ubereinstimmung mit den Prinzipien des Ubersetzers. Das ist von Biographen Schmidts besonders den bekannteren Persönlichkeiten Reinbeck, Mosheim und Wolff öfter als moralische Verfehlung zur Last gelegt worden, 517 wobei allerdings die tatsächlich bestehende Gefährdung für die bekannten Häupter des Wolffianismus nicht wahrgenommen oder doch erheblich unterschätzt wird. Man denke nur an die oben erwähnten, über einen ganzen Tag andauernden, demütigenden Vorladungen des Professors Gottsched und des Magisters Wolf Balthasar von Steinwehr an den Dresdner Hof bzw. vor das Universitätskonzil, wobei schon bei erheblich geringeren Zensurvergehen immer die Suspension der Professur oder die Sperrung des Gehalts angedroht werden konnte. Zum Verständnis der Positionen von Reinbeck, Mosheim und Wolff ist aber vor allem zu sagen, daß sie zwar in der Grundtendenz dem Unternehmen Schmidts aufgeschlossen gegenüberstanden, allerdings doch sehr problembewußt auf der entscheidenden Grenze zwischen natürlicher Religion, als der Vernunft zugänglich, und der Offenbarung, als allein durch die Hl. Schrift überliefert und dem Menschen auf andere Weise unzugängliche Wahrheit, unterschieden haben. So folgten sie zwar mindestens tendenziell auch dem Prinzip, einen Text nur aus sich selbst zu verstehen, die Begriffe eines gegebenen Textes auf ihre eindeutige Bedeutung in der Verwendung zu untersuchen, Eigennamen entsprechend der Aussprache in der Originalsprache zu schreiben oder im Original wenigstens im Kommentar anzugeben, um so geographische Kohärenz der Texte ermöglichen, chronologische Prüfungen unternehmen und zeitliche Kohärenzen ausmachen zu können. Allerdings verwahrten sie sich zu Recht gegen die Unterstellung, sie würden mit dem Wertheimer auch darin einig

517

Ein ähnlicher moralisierender unhistorischer Grundton findet sich auch bei Mühlpfordt. Er behauptet sogar: »Die wichtigste Trennungslinie innerhalb des wolffianischen Lagers aber war die nach Gesinnung und Haltung. Sie galt sowohl für das weltanschauliche (philosophisch-religiöse) als auch für das gesellschaftliche (politisch-soziale) Denken und Handeln. Hierin sind zwei Hauptzweige zu unterscheiden: gemäßigter und radikaler Wolffianismus.« (Günther Mühlpfordt: Die Jungwolffianer Anfänge eines radikalen Wolffianismus (wie Anm.238), S. 67.)

18. Die öffentliche Nebendebatte

335

sein, daß sie die Weissagungen des Alten Testaments auf Jesus Christus eliminieren oder aber die Offenbarungswahrheiten der Vernunft zugänglich machen wollten. Dagegen suchten die Gegner gerade diese scheinbar deutlich die Grenzen der Orthodoxie überschreitenden Auffassungen als bloße Konsequenzen wolffianischer Philosophie schlechthin darzustellen. Schon der Rezensent der für Schmidt so überraschenden Besprechung in den deutschen Acta eruditorum hatte ganz im Sinne von Langes Religionsspötter hervorgehoben: »So viel wir abnehmen können, folget derselbe in der Vernunfft-Lehre beständig denen von dem berühmten Herrn Regierungs-Rath Wolff gelegten Gründen; W i e er auch überhaupt dessen Vortrag von der Welt-Weisheit mehr, als andern Welt-Weisen, zugethan zu seyn scheinet.« 5 1 8 Natürlich schlössen sich auch die von dem Dresdner Kir-

chenrat Löscher herausgegebenen Frühaufgelesenen Früchte der Theologischen Sammlung von Alten und Neuen Sachen mentationsstrategie an:

dieser von Lange schon im September 1735 vorgegebenen Argu-

»Sonderlich aber ist unsere Kirche mit der gefährlichen Herrschsucht der neuen Wolffischen Philosophie geplagt worden, da so viele sich derselben unbedachtsam unterwerfen wollen, auch ansehnliche Lehrer ihre Dienste darzu angebothen haben. Herr Bülfinger hat die Harmoniam praestabilitatam unsers Leibes und der Seele von neuen schrifftlich behaupten wollen; Ein andrer berühmter Lehrer hat das meiste aus dieser Philosophie in seine beliebten Predigten über A.C. gebracht.515 [...] Zu Jena brach M. Darjes mit einer schändlichen Schafft wider die Lehre von der Heiligen Dreyeinigkeit herfür, welchen doch Herr Carpovius, ein Wolffisch Gesinnter, widerlegt hat, der aber indessen die Unschuld dieser Philosophie wider Herrn D. Langen noch immer durch gedruckte Bücher vertheidigt hat; Endlich kam der erste Theil des gantz hämischen Wertheimischen Bibel-Wercks heraus, p. 309 worwider sich aber redliche Männer alsbald gesetzet haben.«520

Aber erst seit dem Sommer 1736 erscheinen zunehmend jene besonderen Streitschriften, die sich speziell dem Nachweis des Zusammenhangs der Übersetzung mit der Wölfischen Methode widmen. Ihre Autoren stehen fast immer in direktem Kontakt zu Lange. Aus den in Halle erhaltenen Briefen an ihn kann man erkennen, wie er systematisch seine Ko-Autoren zu Streitschriften ermunterte, ihnen Belohnungen und Beförderungen in Aussicht stellte und seine genauen Argumentationswünsche an sie herantrug. Gerade die drei außerhalb Halles besonders aktiven Autoren, die in der Folge mehrfach an der Nebendebatte darüber teilnahmen, ob die Wertheimer Bibel eine Frucht der wolffianischen Philosophie sei, der unter dem Pseudonym Sincer Pistophel publizierende Ansbacher Schulmann Georg Ludwig Oeder, der Hofprediger Johann Friedrich Bertram in Aurich sowie der Leipziger Professor der Philosophie Adolph Friedrich Hoffmann hatten ihren Auftrag nebst genauen Anweisungen zur Argumentation offenbar direkt von Lange erhalten und berichteten jedenfalls entsprechend an ihn. Aber auch der Dresdner Oberhofprediger Marperger, der einen anonymen

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Die deutschen Acta eruditorum. 1. Abschnitt d. 200. Theils. Leipzig 1736, S. 543. Damit ist natürlich Reinbeck mit seinen Betrachtungen zur Augsburger Confession gemeint. Frühaufgelesene Früchte der Theologischen Samlung von Alten und Neuen (wie Anm. 139). 1. Beitrag auf das Jahr 1736, S. 8 - 1 0 .

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Wertheimer Bibel

Angriff auf Reinbeck wagte, dürfte sich nicht ohne Absprache mit Lange daran gemacht haben. 521 Natürlich werden aber auch in Halle selber solche Streitschriften produziert, so 1737 von Daniel Strähler, dem neu ernannten Professor der Philosophie und Protégé Langes, die Abgenöthigte Rettung der gerechten Sache wieder eines ungenannten Verfassers vermuthliche, und des Herrn R. R. Wolffi eigene Antwort, auf Herrn D. Joachim Langens Kurtzen Abriß der Wolffischen Philosophie unternommen, mit einem historischen Vorbericht und kurtzen Anhange von dem Wertheimischen Bibel- Werck als eine Frucht der Wolffischen Philosophie, ans Licht gestellet. Es handelt sich um eine Widerlegung von Reinbecks und Wolffs eigener Bestreitung einer Übereinstimmung der Prinzipien Schmidts mit seiner philosophischen Methode, die er in der vom König angeforderten Beantwortung des Langischen Abrisses der Wölfischen Philosophie unternommen hatte. Außerdem erscheint unter Aufnahme eine Wortspiels aus dem Religionsspötter eine anonyme Harmonia per influxum stabilita: d. i. Die durch einen erwiesenen Einfluß gewürckte Übereinstimmung der Wolffischen Philosophie mit dem Wertheimischen Bibel-Werck, nebst dem Abdruck, des Rom. Kayserl. und Königl. Preußis. Confiscations-Patents wider dasselbe, den neuen Philosophen von der argen, als der erwählten besten Welt, zur gewissenhaften Erwegung gezeuget, ebenfalls im Quartformat, deren Inhalt schon aus dem Titel klar hervorgeht. Letztere Schrift soll von einem Sohn Langes, dem Laublinger Pastor Samuel Gotthold Lange stammen. Die Abhandlung geht auch auf einzelne Lehrsätze Wolffs ein, um sodann deren Präsenz in der Wertheimer Bibel aufzuzeigen. Der von Lange offensichtlich ebenfalls mit dem Nachweis der Wertheimer Bibel als Frucht der wolffianischen Philosophie beauftragte 522 Leipziger Philosoph Adolph Friedrich Hoffmann (1703-1741) kam allerdings nicht aus der Partei der Pietisten, sondern aus der philosophischen Schule des Leipzigers Andreas Rüdiger (1673-1731). 5 2 3 Er hatte bereits 1729 Gedancken über Hn. Wolffens Logic oder sog. Philosophiam rationalem 524 veröffentlicht und ähnlich wie dann später der bekanntere Christian August Crusius (1715-1775) die Anwendung der mathematischen Methode in der Philosophie, erst recht in der Theologie, 521

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Marperger war Schüler Langes in Halle gewesen und stand mit ihm in regelmäßigem Briefwechsel. Vgl. unter Marperger das Absenderverzeichnis der Franckeschen Stiftungen (FSt) Halle. Mindestens sind die am Ende des Jahres erscheinenden Beweisthümer auf unmittelbaren Wunsch Langes zustande gekommen, wie aus dem Vollzugsbericht hervorgeht, wonach Lange schon längst gedrängt hätte, die Auseinandersetzung mit Wolff zu führen. Vgl. Hoffmann an Lange 21. September 1736, FSt Halle, A 188b:432. Zu der wolßkritischen philosophischen Schule von Andreas Rüdiger, Müller, Adolph Friedrich Hoffmann und Crusius vgl. Max Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung (wie Anm. 96), S. 230-264; Schepers: Rüdigers Methodologie und ihre Voraussetzungen (wie Anm. 28); Magdalene Benden: Christian August Crusius. Wille und Verstand als Prinzipien des Handelns. Grundmann: Bonn 1972; Raffaele Ciafardone: Von der Kritik an Wolff zum vorkritischen Kant. Wolffkritik bei Rüdiger und Crusius. In: Chistian Wolff 1679-1754 (wie Anm. 238), S. 289-305; vgl. zu ihrer Bedeutung in Leipzig auch Döring: Die Philosophie Leibniz' und die Leipziger Aufklärung (wie Anm. 106), S. 104-127. Friedrich Adolph Hoffmann: Gedancken über Hn. Wolffens Logic oder sog. Philosophiam rationalem. Leipzig 1729.

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und vor allem den Satz vom zureichenden Grunde als eine petitio principii zurückgewiesen. 525 Die Leibnizsche Auffassung der Welt als der besten aller möglichen Welten impliziere eine Beeinträchtigung der göttlichen Freiheit, insofern er zur Wahl der besten Welt genötigt werde. 5 2 6 Hoffmann gehörte in Leipzig durchaus zu den geachteten Gelehrten, jedenfalls bis zur 1736 in Leipzig und Frankfurt erfolgten Veröffentlichung seiner aggressi-

ven antiwolffianischen Auftragsschrift Beweisthümer derienigen Grund-Wahrheiten aller Religion und Moralität, welche durch die in der Wolffischen Philosophie befindliche Gegen-Sätze haben geläugnet

werden wollen. In einem Anhang lieferte er den »Nachweis« der genauen

Verwandtschaft zwischen der auf die Einführung des Naturalismus zielenden Wertheimischen Übersetzung und Wolffs Philosophie, was mit drei Argumenten bzw. Behauptungen erfolgte: 1. durch Wolff würden die Hauptsätze der Religion aufgehoben, worauf auch die Übersetzung Schmidts ziele, 2. kämen beide in Sätzen, Definitionen und Ausdrückungen überein und 3., der Übersetzer verwandle die Hl. Schrift, wo es nur ginge, in Wolffs Philosophie und verfälsche deswegen den Grundtext. Er sei ein moralischer Atheist, der sogar alle natürliche Religion verleugne. Mit dieser Schrift hatte sich Hoffmann gegenüber der Öffentlichkeit nicht mehr nur als Kritiker Wolffs, sondern als militanter Parteigänger Langes erzeigt, was ihm insbesondere bei seinen Leipziger Kollegen kaum Freunde gemacht haben dürfte. 5 2 7 Entsprechend berichtet er Lange nach Vollzug, er hätte nunmehr sein Versprechen »wahr erfüllt«, trotz der Zweifel Langes an ihm; er möge also mehr Vertrauen zu ihm haben. Hoffmann unterstreicht zudem das von ihm mit seiner Parteinahme eingegangene Risiko; alle seine Freunde hätten ihm immer wieder abgeraten, gegen den einflußreichen Hofprediger Reinbeck zu schreiben, »allein Sie haben mich dadurch nur umso eifriger gemacht«. 5 2 8 Besonders materialreich und anschaulich belegt aber der von Lange mit dem Hofprediger Bertram in Aurich zum Zwecke gezielter antiwolffianischer Streitschriften gepflegte Brief-

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Dabei liegt diesen nur scheinbar rein philosophischen Kritiken der theologische Problemhorizont nur zu deutlich zugrunde: »Da nun aber etwas unbegreifliches da ist, wovon wir uns keinen vollkommenen Begriff machen können, dem ungeacht etwas wahres seyn kann, als wie g. e. die Ewigkeit Gottes ist, so kan es auch seyn, daß etwas ohne zureichenden Grund sey, oder entstehen könne: und so ist der Gegensatz, daß nichts ohne zureichenden Grund seyn oder entstehen könne, nicht erwiesen.« (A. F. Hoffmann: Beweisthümer derjenigen Grund-Wahrheiten, Welche durch die in der Wolffischen Philosophie befindlichen Gegensätze ... über den Haufen geworfen werden wollen. Franckfurt u. Leipzig 1736, S. 65 f.) Vgl. ebd., S. 2 6 - 3 3 . Jedoch betont der Wolfifianer Ludovici trotz seiner Empörung wegen der aggressiv-polemischen Beweisthümer seinen Respekt gegenüber den anderen seriösen Werken des Kollegen, dem er offenbar auch eine gute Kenntnis der Wolffschen Schriften zutraut. Noch in einer Anmerkung zu dieser Schrift Hoffmanns schreibt Ludovici, daß er früher der akademische Freund Hoffmanns gewesen und noch jetzt zu einer Erneuerung der Freundschaft bereit sei, falls Hoffmann einlenke. Vgl. Döring: Die Philosophie Gottlieb Wilhelm Leibniz' und die Leipziger Aufklärung (wie Anm. 106), S. 104 u. S. 106. - Dagegen sind die Gottscheds entschiedene Gegner dieser Richtung. Vgl. ebd., S. 104 f. Hoffmann aus Leipzig an Lange am 21. September 1736 (FSt Halle, A 188b:432).

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Wertheimer Bibel

Wechsel die konzertierte Aktion öffentlicher Publikationen, der daher hier der Anschauung wegen zur Darstellung kommen soll. Dieser Briefwechsel mit dem ehemaligen Hallenser Studenten ist von Lange offenbar überhaupt nur deswegen angeknüpft worden. Das wird deutlich aus dem überschwenglichen ersten achtseitigen (!) Brief Bertrams, der sich für die Übersendung des Religionsspötters bedankt, vor allem aber dafür, daß sich sein alter und verehrter Lehrer Lange noch an ihn erinnert und ihn mit einer so wichtigen Aufgabe betraut. Er versichert sogleich, daß auch er sich natürlich der Gefahr der wolfflanischen Philosophie seit Jahren bewußt sei, alle Langischen Streitschriften dawider zugleich mit Wolffs Schriften gelesen habe, aber bisher wegen seines Kirchenamtes gar nicht gewagt habe, sich dagegen zu äußern.529 Er sieht sich aber nun sogleich zu einer Widerlegungsschrift im Sinne Langes ermuntert, wobei er sich der Argumente des Religionsspötters bedient hätte. Er berichtet dem verehrten einflußreichen Lehrer, daß dessen Schrift »allenthalben großes Aufsehen gemacht« und dadurch den Leuten erst die »Augen aufgegangen« seien.530 Besonders sei man empört, »daß die Leipziger Journalisten demselben noch das Wort geredet. Sie haben aber bey vielen, Ihren Credit dergestalt verlohren, daß Sie mit ihren panegyrischen Recensionen, welche sie für Wolfische Dinge zu schreiben pflegen, und die bereits sehr ekelhaft geworden, künftig umso viel weniger Gehör und Eingang finden werden.«531 Offenbar wurden also die Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen auch im Norden regelmäßig gelesen, denn Bertram weiß auch schon von der sächsischen Zensur, die erst Ende Januar abgedruckt worden war: »Man sieht aus der letzten gelehrten Zeitung, daß das Ober-Consistorium zu Dreßden ihnen die wohlverdiente Correction gegeben haben müsse.« In jedem Fall begrüßt Bertram Langes Unternehmen, den Religionsspötter sogar mit neuen Zugaben wieder herausgegeben zu haben. 532 Auch räsoniert der Hofprediger später über die politischen Folgen der Berliner Kommission und ihres Urteils für die Hallenser Waisenhauspartei: »So bald ich gehört, daß die bewußte [...] theologi Berol. sich für Wolffium, so weit herausgelassen, so habe sogleich besorget, daß dieses guten Einflus, in dortigen Academischen Statum, sonderlich ratione vera Facult. theol. haben würde.«533 Und er kommt zu dem fiir uns interessanten Ergebnis, das aus dem Munde dieses zeitgenössischen Wolff-Gegners besonders aussagekräftig ist: »Wolff hat auch dadurch, fast mehr gewonnen als mit allen seinen philosophischen Protestationen. Wenn ich seithero mit Studiosis Theol. od. auch Pastoribus geredet, so dieser Philosophie geneigt od. zugethan waren: so ist dis insgemein das erste gewesen, daß obgedachte beyde Herren Pröpste selbst die Wolffische Philosophie hochhielten.«534 Daß also die Kirchenmänner Reinbeck und Roloff sich mit ihrer anerkannten Autorität öffentlich auf die Seite Wolffs gestellt hatten, war nach dieser Einschätzung von größerer Wirkung für die

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Bertram aus Aurich an Lange am 28. Februar 1736 (FSt Halle, A 188b:367).

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Ebd., 2r.

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Ebd.

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Ebd., 2 r - v . Ebd., 2v.

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Durchsetzung seiner Philosophie als alle seine eigenen publizistischen Rechtfertigungsschriften. Zugleich aber kann es Bertram nicht unterlassen, angesichts der ihm übermittelten kritischen Bemerkungen Langes über den frisch berufenen Professor der T h e o l o g i e in Halle S i e g m u n d J a c o b B a u m g a r t e n , mit d e m Bertram wohl noch aus Studienzeiten persönlich bekannt gewesen sein dürfte u n d jedenfalls in Briefwechsel stand, von dessen wolffianischen N e i g u n g e n er aber erst neuerdings v o m Professor Juncker gehört hätte, auch seinerseits bei Lange anzuschwärzen: »Ich bedaure sehr, daß der Herr Prof. Baumgarten, sich diese Philosophie ebenfalls gefallen lasset. Hätte auch solches von ihm niemahls vermuthet. Es ist ein und andermahl schon geschehen, daß ich in Absicht auf unsere Stipendiaten, von dieser Materie etwas in meine, an ihn geschriebenen Briefe einfliessen lassen. Er hat auch nichts dagegen eingewendet, noch auch darauf repliciret. Es ist zwar an dem, daß die vom Wolfianismo inficirten Gemüther sich solten fragen und rathen lassen. Eine sehr hoffärtige Eigenliebe scheinet ihnen [...], quod sub rationis titulo venerantur zu seyn. Ich hoffe aber, daß der Prof. Baumgarten den etwa noch zu geschehenden Vorstellungen Gehör geben, und die Sache genauer untersuchen werde. Welches ich meines Orthes von Herzen wünsche. Es würde freylich sonsten [...] den dortigen heilsamen Absichten und Einrichtungen kein geringes Hindernis seyn. Von dessen Morale habe zwar schon verschiedenes gehöret, aber noch nichts gesehen. Einer unserer Stipendiaten will mir dieselbe finden. Da nun ein anderer, mit Nahmen Gossel in Patriam revertius, und also den 5 Marto zu Halle abgehen wird: So hätte mit selbigem sie zu überkommen.« 535 Natürlich ist der H o f p r e d i g e r auch voller Verständnis für Langes Klagen über m a n g e l n d e Zuhörer, die dieser an den beliebten B a u m g a r t e n verloren hatte, u n d er schmeichelt ihm hemmungslos: »Nicht wenig hat mich gewundert, daß Euer Hochwürden über Abgang der Auditorum in dero Lectionibus Exegeticis zu klagen haben. Zu unserer Zeit war es ganz anders. Ich habe zum öftern in dero Auditorio zu sizen keinen Raum mehr gefunden, sondern zufrieden seyn können, wenn ich dero Lectiones nebst vielen andren stehend anhören konnte. Als schon vor einiger Zeit, das Gerüchte hirvon ausgestreuet, haben ich und ein und anderer mehr, dero vormahliger Discipulorum, zu einander bisweilen gesaget: was mag wohl für ein Schwindel-Geist unter die ietzigen Studiosos Theol. zu Halle ausgegangen seyn, daß sie die so beliebt gewesene als gründliche Lectiones Exegeticos des Herrn D. Langens verlassen. Wir konnten uns um so viel weniger darein finden, da es bey Freunden und Feinden in Consensu ist, daß E. Hochwürden unter den Vornehmsten und besten Interpretibus unserer Kirche, so wohl der vorigen als ietzigen Zeiten einen grossen Rang haben. Ich sorge, daß [...] ein Excessiver Eckel an dem Wort Gottes und studio biblico einreisse, und daß man mit Verachtung des so klaren, süssen und herrlichen Mannas noch die Egyptische Fleisch-Töpfe u. noch die pseudophilosophische Zwiebel und Knoblauch sich heißhungrig [...]! Mein Gott! Was für LustGräber dürften nicht darauf folgen! Euer Hochwürden können sich nächstens damit trösten, daß Gott Ihn davor bey dero ietzt unter der feder habenden Bibelwerck ein desto grösseres und aufmercksameres Auditorum fast die ganze Evangel. Kirche verliehen.« 536

535 536

Ebd., 2v-3r. Ebd., 3r-v.

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Wertheimer Bibel

Im übrigen geht aus dem Brief nebenbei hervor, daß Bertram auch in Kontakt mit dem sächsischen Kirchenrat Löscher steht, von dem er direkt erfahren hat, daß sich die Wittenberger Fakultät ebenfalls gegen den »Wolffschen Unfug« 5 3 7 erklären werde. Die erste öffentliche Stellungnahme dieses begeisterten Verehrers Langes erscheint schon 1736, und zwar als Anhang zu seinen unter dem Pseudonym Johannes Eleutherus a Veri-

montibus veröffentlichten Schrifimäßigen und gründlichen Gedancken von der menschlichen Vernunfft, und so wohl alten, als neuen Welt-Weisheit, den verderblichen Ausschweifungen der gegenwärtigen Zeit entgegen gesetzet, und zum Dienst der studirenden Jugend ausgefertiget.538 Darin argumentiert er wie gewünscht, daß aus der heute üblichen mechanischen oder Wolffischen Philosophie mehrere Schriften hervorgekommen, die der christlichen Religion schädlich wären, darunter natürlich vor allem die Wertheimische Übersetzung der Göttlichen Schriften. Bald darauf berichtet er auch, daß er sich auftragsgemäß an die Hamburgischen

Berichte von gelehrten Sachen gewendet habe: »Weil Euer Hochwürden es gut finden u. verlangen, daß ich mich ent[schließen] soll, so habe ich mich endlich, wiewohl nicht [gern], dazu entschlossen, und deswegen einen eigenen Articul in die Hamburgische Berichte von Gelehrten Sachen einrücken lassen. An Wolffii Theologiam Naturalem [mich dieses Jahr] zu machen, [kann ich wegen] itzo sehr gehäufter Amts-Geschäfte um so viel weniger, da gedachtes Werk an die 6 Alphabete stark ist, und also viel Zeit u. Mühe erfordert«.539

Indem er sodann alle seine Amtsgeschäfte außer dem Predigen aufzählt, die ihn vom Schreiben abhalten würden, bedauert er ostentativ, keineswegs ein akademisches Leben fuhren zu können. Er hätte dazu allerdings genug Neigung gehabt, aber Gott habe es anders gefügt. Den Gedanken, daß er durchaus dafiir in Frage komme, legt er nahe, indem er berichtet, daß er in Giessen und auch in Göttingen bei vakanten Professuren zwar in Vorschlag gekommen sei, sogar von dem bekannten Rambach, es aber doch nicht dazu gekommen sei. Nunmehr habe man ihm allerdings in Hamburg eine Professur angetragen, die allerdings viel ruhiger wäre als eine akademische. 540 Einmal auf das akademische Leben gekommen, fügt er gleich noch seine Meinung über die gerade erschienene Widerlegung der Wertheimer Bibel durch den Göttinger Professor der Theologie Oporin an, der ihm an diesem Ort offenbar vorgezogen worden war: »H. Prof. Oporinus hat den Wertheimischen Interpretern in seiner alten und eintzigen Richtschnur erbaulich zu predigen, fein widerleget. Er scheinet ein recht guter Mann zu seyn: es kömt mir aber vor, als wenn er ein wenig affectire, und gerne alter Moshemius seyn wolte.«541

Wenige Wochen später berichtet er nach Halle, daß er — ohne die »Epistola regia«, das königliche Polemikverbot gegen Wolff, zu furchten - eine neue Widerlegung der Verteidigungsschrift Schmidts gegen Lange verfaßt habe, die er seinem Pseudo-Democritus ange537 538

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Ebd., 4v. Der Anhang dieses Werkes ist der Widerlegung der Wertheimer Bibel gewidmet. Sie wird darin als böse Frucht der Wolffischen Philosophie dargestellt, vgl. ebd., S. 425 ff. Bertram an Lange am 20. Juni 1736. In: FSt Halle, A 188b:399, lv. Ebd., 2r. Ebd.

18. Die öffentliche Nebendebatte

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fugt habe. »Es ist aber noch kein Verleger da, der das Werde zum Druck befördern will.« 5 4 2 (Es scheint fast, daß Bertram seinen Schriften durch Langes Fürsprache Verleger verschaffen will, indem er ihnen jeweils einen Anhang beifügt, der die Interessen Langes befriedigt.) In über die aus dem diesen besonders gegen Reinbeck gerichteten Gewissenhaften Anmerckungen

Deutschen ins Frantzösische übersetzte, und zu Leipzig edirte Schutz-Schrijft, damit ein gewisser Anonymus die Wolffische Philsophie wieder den kurtzen Abriß derselben, welchen D. Lange in Halle auf Königliche Ordre einschicken müssen, zu retten und zu schmücken gesucht argumentiert Bertram für Langes These und erkennt in der Wertheimer Bibel allerdings eine Frucht Wolfis. Darüber hinaus aber ist er sogar bereit zu einer öffentlichen Denunziation des Berliner Oberhofpredigers: Er »meldete [...] dabey, man habe sichere Nachricht, daß ihm der Wertheimer die ersten Bogen seiner Übersetzung in dem Manuscripte zugesendet, und sein Gutachten darüber verlanget; Worbey er zwar etwas erinnert haben solte, er müsse aber gar gelinde mit ihm umgegangen seyn, weil das Wercke gleichwohl zu dem Vorschein gekommen«. 543

Diese Information konnte er nur direkt aus Halle erhalten haben. Außerdem moniert er

Reinbecks Stellungnahme zur Wertheimer Bibel in seinen Betrachtungen über die Augspurgische Confession als »kaltsinnig gnung abgefasset«. 544 In einem weiteren Brief an Lange vom August 1736 zeigt sich Bertram auch unzufrieden über die Berufung des Wolffianers Riebow an die Universität Göttingen, die sich der Protektion Reinbecks verdanken solle, obwohl dieser doch kein Wolffianer heißen wolle. 545 Im weiteren moniert er dann an Reinbecks Auffassungen ausdrücklich, daß sie keinen Heilsplan enthalten. Überhaupt ärgere ihn, daß gerade aus der Hallischen Theologie ein Verteidiger Wolfis aufgestanden sei. Wäre der Berliner Hofprediger nicht aus Halle gekommen, so würden seine Ideen größtes Aufsehen erregen. So aber bleibe er in der Gunst des Königs, der ihm sein Salär sogar noch um 1.000 Rth. erhöht haben solle. Am 21. August kündigt Bertram dann in aller Eile drei Manuskripte an, die er am vergangenen Sonntag mit der Post abgesandt habe. 546 Zwei Tage später übersendet er die erste Hälfte eines weiteren Manuskripts, und will den Rest in acht Tagen schicken. 547 Wieder werden Details der Veröffentlichung angesprochen, die für die Strategie der Veröffentlichung von Interesse sind:

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Bertram an Lange am 10. Juli 1736. In: FSt Halle, A 1 8 8 b : 4 0 2 , 2r. Beigelegt ist ein lateinisch beschriebener Zettel mit Bemerkungen zur »epistola regia«. Gewissenhaften Anmerckungen über die aus dem Deutschen ins Frantzösische übersetzte, und zu Leipzig edirte Schutz-Schrifft, damit ein gewisser Anonymus die Wolffische Philosophie wieder den kurtzen Abriß derselben, welchen D. Lange in Halle auf Königliche Ordre einschicken müssen, zu retten und zu schmücken gesucht. Leipzig 1737, S. 75 ff. Ebd. Bertram an Lange am 10. Juli 1736. In: FSt Halle, A 188b:402. Bertram an Lange am 2 1 . August 1736. In: FSt Halle, A 188a:423. Bertram an Lange am 23. August 1736. In: FSt Halle, A 188a:420.

Wertheimer Bibel

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»1. Ich habe bey unserer Überlegung gut gefunden, Herrn Reinbeck noch nicht mit Nahmen zu nennen: ob etwa solche Ver[meidung] eine Gelegenheit mit abgeben könnte, daß der Mann noch in sich ginge. Das ist die Ursache, warum ich ihn auch honorifice tractiret, obgleich sonsten, wie mir düncket, der Sache selbst, auf die es am meisten ankömmt nichts vergeben [konte?]. 2. Meinen Nahmen habe ich nicht exprimirt: drum man sonst die Censur allhier pretendiret hätte, welches aber nicht nur Wochen, sondern Monate aufgehalten hätte. Er wird ohnedem nicht verborgen bleiben. Ich scheue mich auch nicht die gute Sache auch mit Verlust zeitlichen Interesses, so oft es erforderlich wird, durch Gottes Gnade öffentlich zu be[kennen?].« 548 Die anhaltende intensive Zusammenarbeit Bertrams mit Lange geht auch aus seinem Angebot hervor, Änderungen vornehmen zu lassen, selbst im Titel. Die von Lange offenbar nahegelegte Parallele zum Arianismus habe er noch auf ein anderes Mal verschoben, da sie verleumderisch auf die königliche Majestät hätte ausgelegt werden können. »Ex simili Causa habe v. Actis Potsd. et Berolinibus ultimis, gar keine Erwähnung gethan«, um »die Gemüther nicht rachgieriger und abgeneigter zu machen. Suo tempore kan alles nachgehohlet und eingebracht werden.« 5 4 9 Schon am 26. August, nur zwei Tage später, meldet Bertram die Fertigstellung und Übersendung des letzten Teils. Bei der nun bevorstehenden Veröffentlichung beschwört er fortwährend die für ihn damit verbundenen Gefahren von Seiten des einflußreichen Probst Reinbecks herauf, die er aber gern für die Sache der Religion auf sich nehmen wolle. In pathetischem Uberschwang schreibt er seinem Meister: »Und wenn die Welt voll philosophischer W ö l f e wäre« und wollte »mich verunglimpfen« - so würde er doch die Sache der christlichen Religion gegen sie alle verteidigen. Sodann will er seine »Epistolam AntiWolffianam« separat oder als Anhang zu einer anderen Schrift gedruckt sehen. 550 In einem Schreiben vom 28. August entwirft Bertram auf einem beiliegenden Zettel die genaue Anordnung des Titelblatts, woraus hervorgeht, daß er nunmehr sogar gewillt ist, sich öffentlich als den Autor dieser weiteren Streitschriften zu nennen. 5 5 1 Er hat vor, seinen Anhang gegen den Wertheimer in einem gegen Dippel gerichteten Werk als separate Schrift herauszugeben. 552 Die hier und im folgenden verhandelten einzelnen Aufsätze erscheinen dann jedoch in den

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552

Ebd., lr. Ebd., 2r. Bertram an Lange am 26. August 1736. In: FSt Halle, A 188a:421, lr. Am 28. August schlägt Bertram dann Lange das entsprechende Titelblatt vor: »Der Titel: Joh. Heinr. Bertrams, Hochfiirstl. Consist. u. KirchenRaths, Hofpredigers und Scholarchen, Schriftmäßige Vertheidigung, des von Mose beschriebenen SündenFalls der ersten Menschen. Worinnen gegen einen Pseudo-Democritum« [argumentiert werde]. In: FSt Halle, A 188a:422. »[...] da ich den Entwurf von einem Anti-Dippelium-Buch schon zu Papier gesetzt hatte, so fiel mir ein, ob es nicht geschehen könnte, daß das letzte Stück des [...] Versuchs, so gegen den Werth. Bibel-Schmid gerichtet ist ä part herauskäme. Es ist ein kleines [...], so ein Buch von 3 od. 4 Bogen machet. Solte es aber nicht geschehen können, weder daß es ä part, noch daß es zusammen mit dem übrigen dort herauskäme; so wollen Euer H. [...] so gut seyn und mir das Msc. mit den anderen Msk. als den Notis Anti-Reinbeccianos, durch H. Jurpr. Grischow wieder zu kommen lassen.« (Ebd.)

18. Die öffentliche Nebendebatte Schrifimäßigen

Gedancken,

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die in drei Teilen von 1 7 3 7 - 4 0 erscheinen werden und mehrere

Aufsätze zur Wertheimer Bibel enthalten.553 A m 2. November übersendet der eifrige Hofprediger Bertram dann erneut ein Manuskript an Joachim Lange, das er zusammen mit der »ideine [n] Pièce gegen den Wertheimischen Bibel-Übersetzer« in Oktav gedruckt sehen möchte. 554 Zur Fortsetzung seiner Streitschriften erbittet er auch die Göttlichen

Schriften

zurück, die ihm Lange wohl zuvor

schon einmal hat zukommen lassen. Seine bereits erschienene Streitschrift gegen Reinbeck hat ihm noch keine Schwierigkeiten eingebracht, im Gegenteil: »Hier hat man mich noch in Frieden gelassen, ja es haben viele unserer Prediger ihre Freude und Consensum gegen mich bezeugt. Idem, et fecit Candidat [...] Pr. Oporinus.« 555 Nicht zuletzt reagiert Bertram in der Folge auch auf verschiedene Widerlegungen seiner Schriften, so auf die von Ludovici. 556 Dabei vermag er außer seinen durchgehenden Schmähungen gegen Ludovici durchaus die Schwachpunkte der Wolffianer zu nutzen, wenn er ihnen diese polemischen Fragen vorlegt: »Wenn das Wertheimische

Bibelwerck

mit der Wolffischen Philosophie nichts zu thun

hätte, warum reden so manche Wolffianer dem Übersetzer doch noch auf besondere Art das Wort? Warum nennet der Herr Wolff gleich in seiner allerersten, und kurtzen Erklärung, die er auf den Langischen haupt eine Zanck-Schrifti

Abriß seiner Irtthümer einsendete, das Langische

Zeugnißdagegen

über-

Sie könte doch, in Ansehung des Übersetzers, keine Zanck-Schrift

heissen? Warum hat Herr M. Steinwehr,

der Verfasser der Leipziger Zeitungen, ein bekanter

Wolffianer, dieser Übersetzung in seinen Blättern die Stange also gehalten, daß er darüber einen Verweiß von dem Ober-Consistorio zu Dreßden einnehmen mußte?« 5 5 7 Auch sei offensichtlich, wie selbst Ludovici habe einräumen müssen, daß Schmidt überall die Wolffi-

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557

Vermischte theologische und philosophische Betrachtungen, ab 1737 in Bremen, in 1.Teil u.a.: Abgestreifte Feigenblätter des Wertheimer Bibelübersetzers (Widerlegung der Vestgegründeten Wahrheit, Abdruck der Schrift mit seinen Anm.en); 3. Teil: Bremen 1740: darin 6. Des Wertheimischen BibelÜbersetzers Entscheidung der bishero in Streit gezogenen Frage: Ob seine Übersetzung der funff Bücher Mosis eine Frucht der Wolffischen Philosophie sey, oder nicht; das 7 . - 9 . Stück gelten ebenfalls der Wertheimer Bibel. Bertram aus Aurich an Lange am 2. November 1736. In: FSt Halle, A 188a:419 (Kopie). Wieder liegt ein Zettel zur Gestaltung des Titelblatts bei, die zu berücksichtigen sei, falls sich ein Verleger finden sollte. Diesmal geht es um die Widerlegung der Schmidtschen Verteidigungsschrift. Ebd. Ludovici hatte sich zu verschiedenen Versuchen, Wolffs Philosophie für die Wertheimer Bibel verantwortlich zu machen, im 13. Kap. des 2. Bandes seines Ausführlichen Entwurfs einer vollständigen Historie der Wolffischen Philosophie geäußert. Vgl. Carl Günther Ludovici: Ausfuhrlicher Entwurf einer vollständigen Historie der Wolffischen Philosophie. 1., 2., und 3.Theil. Leipzig 1735, 1737 und 1738. In: Wolff: Ges. Werke (wie Anm. 556). 1977 (im folg. Ludovici: Ausführlicher Entwurf). Vgl. insbesondere die Vorrede vom 28. Dezember 1735 im ersten Band (1.1). Vgl. auch den Anhang des 2. Bandes (1.2): Von den vermeintlich argen Früchten der Wolffischen Weltweisheit, S . 4 7 2 504. Auf S.472 bezeichnet er die Wertheimer Bibel in durchaus mißverständlicher Weise als eine »wurmstichische Frucht« dieser Philosophie. Joh. Friedrich Bertrams abgedrungene Abfertigung einiger Wolffischen Historien- und Legendenschreiber, darinnen unterschiedliche, die Wolffische Streitigkeit betreffende, Umstände entdecket und erläutert werden. Bremen 1738, S. 58 f.

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Wertheimer Bibel

sehen Definitionen zugrunde lege. Zwar würden die Wolffianer »Schandenhalber, selbst mit beytreten und ihren Herrn Confratrem [Schmidt] verurtheilen helffen« und so »ihrer Puppe zugleich ins Gesicht« »speyen«.558 - »Aber wie kaltsinnig! wie mager! wie gezwungen!« 559 Schließlich triumphiert Bertram sogar: »Er [Schmidt] bekennet sich ja selbst für einen Wolffianer!« Aus dieser ausführlicher angeführten Korrespondenz ist nicht nur anschaulich zu ersehen, wie genau die Absprachen über die zu verfassenden Streitschriften erfolgten, hinsichtlich ihres Inhalts, ihrer Form sowie ihrer Verlage. Aus den Briefen Bertrams wie auch Hoffmanns (und Klausings) geht zudem hervor, daß man sich für sein Engagement in der Auseinandersetzung mit den Wolffianern auch eine gewisse Anerkennung und sogar Beförderung durch den einflußreichen Lange oder durch den Dresdner Kirchenrat versprach.560 Schwerer als die Angriffe Langes und seiner bestellten kleineren Autoren wog die Meinung des bekannten Jenenser Theologen Johann George Walch, der sich in seiner Einleitung in die Religions-Streitigkeiten in der Evangelischen Kirche klar auf die Seite der Hallenser Pietisten stellte, wenn er konstatierte, der Ubersetzer habe »durch die Wolffische Philosophie Anlaß bekommen, seine schändliche Bibel-Version zu unternehmen«.561 Durchaus zutreffend, wenngleich in dieser Debatte gefährlich für die Wolffianer, erkennt er die »Hauptquelle« der Übersetzung in »einer übermäßgen und mit einem philosophischen Stoltz verknüpften Erhebung der Vernunft«, »da man sich eingebildet, es müsse auch in göttlichen Wahrheiten, die unsere Seligkeit betreffen, alles begreiflich gemacht: definiret und demonstriret werden, daß wenn das geschehe, so sey eine Wissenschaft vorhanden«.562 Das aber sei gerade die Grundlage der wolffianischen Philosophie. Jedoch, und das bedeutet eine klare Rechtfertigung des Eingreifens der weltlichen Macht, übertreffe keiner den Wertheimer an Bosheit und Verwegenheit, auch wenn andere vor ihm auch schon die Weissagungen des Alten Testaments auf Jesus Christus geleugnet hätten.

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Ebd., S. 59. Ebd., S. 60, Fußnote (c). Bertram hat sogar konkret seine Neigung zu einer Professur ausgesprochen. Auch der Wittenberger Theologieprofessor Abicht hat sich in einem Schreiben für eine Leipziger Professur dadurch empfohlen, um von dort aus die Wolffianer besser bekämpfen zu können. Vgl. Anm. 421 u. 422. Vgl. die unverblümten Aufforderungen des Leipziger Theologieprofessors Klausing an Joachim Lange in Halle, zwei Vettern in ihrer Karriere zu befördern. Vgl. Klausing an Lange, o. D. In: FSt Halle, A 188b:498; Klausing an Lange am 31. Oktober 1737. FSt Halle, A 188b:499; sowie Klausing an Lange am 7. Oktober 1737. In FSt Halle, A 188b:500. - Klausing kann zwar den offenbar geäußerten Wünschen Langes zu einer Unterdrückung Ludovicis in Leipzig nicht nachkommen, verspricht aber, gegen die wolffianische Philosophie zusammenzuarbeiten: »Dem Prof. Ludovici kan ich nicht wehren, auch unsere Fakultät nicht, sonst solte es gewiß geschehen. Ich habe aber mit dem Herrn Oberhofprediger aus Dresden, welcher uns vor wenig Tagen besuchte, [...] Abrede genommen, daß mit der Zeit, hier und in Wittenberg, die philosophischen Wölfe sollen verbothen werden.« (In: FSt Halle, A 188b:498.) Walch: Religions-Streitigkeiten. Th. V. (wie Anm. 14). Zur Nebendebatte vgl. den § LXXI, S. 1 3 5 6 1363, hier S. 1359. Ebd., S. 1362.

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18. Die öffentliche Nebendebatte

Angesichts dieser auf der Instrumentalisierung der Wertheimer Bibel beruhenden Angriffe auf die wolffianische Philosophie, die nach den Verboten in Sachsen, Preußen und dann 1737 auch im ganzen Reich zunehmend gefährlicher wurden, sahen sich natürlich die Wolffianer genötigt, den behaupteten Zusammenhang immer wieder zu widerlegen und zurückzuweisen, wollten sie nicht Gefahr laufen, die Beschuldigungen zuzugeben. Schon in den herausgegeben von dem Jenur zwei Jahre lang erscheinenden Thüringischen Nachrichten, nenser Wolffianer Johann Andreas Fabricius, wird im Juni 1736 eine Verteidigung Wolfis gegen die von dem Jenenser Theologen Rau in seiner Inauguraldissertation behauptete Ubereinstimmung der Wertheimer Bibel mit Wolffs Philosophie publiziert. Da eine gewisse Ubereinstimmung nicht geleugnet werden konnte, bewertet der Autor diese als einen Mißbrauch der Wolffischen Philosophie, der keiner Philosophie erspart bleibe. 563 Bertrams erste Schrift wird in Jena im Sommer 1736 auch noch von Jacob Carpov, einem der wolffianischen Magister, in seiner Rettung der Wahrheit und Unschuld zurückgewiesen. Auch er erkennt in der Ubersetzung einen Mißbrauch der Wolffischen Philosophie. Darüber hinaus widmet sich in Berlin der Advokat beim Kammergericht Georg Friedrich Möller in mehreren Schriften der Widerlegung der antiwolffianischen Angriffe, was sicherlich nicht ohne Rücksprache mit den Berliner Aletophilen geschieht. In einem Send-

schreiben an Herrn Bertram, darinn ihm die Beantwortung seiner gewissenhaften

Anmerckun-

gen communiciret wird weist er die Angriffe auf Reinbeck zurück und verteidigt den Berliner Hofprediger unter Berufung auf dessen Kritik der Wertheimer Bibel-, er habe darin klar gezeigt, daß der Hl. Schrift durch die Ubersetzung Gewalt angetan werde. Auch gegen den Leipziger Parteigänger Joachim Langes, Friedrich Adolph Hoffmann, verfaßt er 1737 eine Widerlegung, die schon in ihrem Titel den barocken Titel von dessen Angriff auf Wolff

ironisch aufnimmt und überbietet: Ungrund der Hoffmannschen Beweisthümer derjenigen Grund-Wahrheiten aller Religionen und Moralität, welche (dem Vorgeben nach) durch die in der Wolffischen Philosophie befindliche Gegen-Sätze haben geläugnet, und übern Hauffen geworfen werden wollen, wobey zum Beschluß der Unfug in Verknüpfimg der Wolffischen Philosophie mit dem Wertheimischen Bibel-Werck, und dagegen die Übereinstimmung vieler in des sei. Joh. Arnds wahren Christenthum befindlichen Sätze mit denen Grund-Sätzen der Philosophie, kürtzlich gezeiget wird. In Leipzig geht Carl Günther Ludovici in seinem Ausfuhrlichen

Entwutff

einer

vollständi-

gen Historie der Wolffischen Philosophie und in seiner Sammlung und Auszüge der sämmtlichen Streitschriften wegen der Wolffichen Philosophie zur Erläuterung der bestrittenen Leibnitzischen und Wolffischen auf die Diskussion ein. 564 Er besteht darauf, daß es vor allem um eine Beurteilung der Ubersetzung als solcher gehen müsse, wogegen man zunächst von der Vorrede und den Anmerkungen absehen müsse. Die Ubersetzung habe aber gar nichts mit Wolff zu tun. Die Vorrede sei gottlos, stehe aber auch nicht mit Wolfis Philosophie in Verbindung. Allein einige philosophische Sätze in der Vorrede und in den Anmerkungen seien wolffisch, 563 564

Thüringischen Nachrichten. Juni: 1736. 6. St., S. 1 8 1 - 1 8 3 . Vgl. Ludovici: Sammlung und Auszüge (wie Anm.97). l.Theil, S. 1 6 7 f f . (§ 203), S . 3 0 0 f f . (§ 443), sowie Ausführlicher Entwurff (wie Anm. 556). Bd. 2, S. 4 6 9 ff. (§§ 520 ff.).

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Wertheimer Bibel

aber aus ihnen könne nichts Böses gefolgert werden. Sofern also schlimme Schlußfolgerungen gezogen würden, handle es sich um bloßen Mißbrauch, gegen den niemand geschützt wäre. Ludovici stimmt schließlich auch noch Reinbeck zu, wenn dieser den Angriff auf die Wertheimer Bibel dem Anti-Wolffianismus zuschreibe, dessen Anhänger diese Gelegenheit zur Unterdrückung der wolffianischen Philosophie ergreifen wollten. Allerdings hatte Ludovici ursprünglich mehr vor, er wollte eine Geschichte der Debatte um die Wertheimer Bibel schreiben, die sogar noch vor dem Frühjahr 1737, nämlich vor der

Veröffentlichung des 1. Teils der Sammlung und Auszüge eier sämmtlichen Streitschriften herauskommen sollte. 565 Diese frühe Ankündigung, mit der der Geschichtsschreiber der wolffianischen Philosophie Ludovici wohl mögliche Konkurrenten und andere Verleger abschrecken wollte, kam aber nicht zur Ausführung, nachdem die obrigkeitlichen Verbote einsetzten, wie Ludovici dann 1737 in der Vorrede zum ersten Band der Sammlung und Auszüge offenherzig berichtet: »Ich hatte mich schon der Ausarbeitung dieser Historie unterzogen, da allererst nachher der Verfasser des Bibelwercks zur Inquisition gezogen worden ist. Hier legte ich sogleich die Feder nieder und entschloß mich um eine vollständige Historie ausarbeiten zu können, meine Arbeit bis zu dem Ausgange dieses Processes zu verschieben.« 566

In Göttingen veröffentlicht der von Bertram wegen seiner Berufung an die neue Reformuniversität beneidete Georg Heinrich Riebov noch 1739 eine Zurückweisung der These, daß die Wertheimer Bibel eine Frucht der wolffianischen Philosophie sei, in seinem Bedencken

über die Frage: Ob eine strenge Lehr-Art eine Ketzerey, und der Gottseligkeit nachtheilig sey? Er übernimmt das schon von Wolff verwendete Argument, daß eine schlecht geratene Ubersetzung der Heiligen Schrift niemanden zum Ketzer machen könne, da es sich hier nur um sprachliche Kompetenzen handle. 567 Waren die bisher angeführten Kontroversen gewissermaßen Stellvertreterkriege innerhalb der Nebendebatte, so kam es doch 1737, nach dem kaiserlichen Verbot der Wertheimer Bibel auch zu einem scharfen anonymen Angriff des sächsischen Kirchenrats und Oberhofpredigers Marperger auf den preußischen Hofprediger Reinbeck, der die schon genannten Befürchtungen Reinbecks über die Machenschaften seiner Gegner berechtigt erscheinen läßt. Schon der Titel enthält die Behauptung, daß der bekannte Theologe in Berlin seinem

Werk der Betrachtungen

über die Augsburgische Konfession wolffianische Positionen zugrunde

gelegt habe, welche in der Konsequenz zu den Positionen des Wertheimers führen müßten:

Zufällige Gedancken, über eines vornehmen Theologi Betrachtungen der Augsburpischen Confeßion, die darin gebrauchte Wolffische Philosophie betreffend.568 Reinbeck antwortet selbst auf

5S5 Die Vorrede zum l.Theil der Sammlung und Auszüge ist vom 17.Mai 1737 datiert. Die Anm. 14 findet sich in: Ludovici: Sammlung und Auszüge (wie Anm. 97). 1. Theil, S. 13 f. Ebd. Vorrede. Unpag. [S. 7]. 567 y g l Georg Heinrich Riebov: Bedencken über die Frage: Ob eine strenge Lehrart eine Ketzerey, und der Gottseligkeit nachtheilig sey. Göttingen 1739. In Quarto, S . 2 7 f . 568 Frankfurt u. Leipzig 1737. 566

18. Die öffentliche Nebendebatte

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diese scharfe und offen denunziatorische Schrift und stellt das Vorgehen seines Gegners, selber anonym zu bleiben, ihn aber durch Nennung des Titels seines Werkes als Person namhaft zu machen, klar als Verstoß gegen die Regeln einer sachlichen Kontroverse heraus. 569 Zugleich sucht er auch diesmal den Versuch, den Zusammenhang Wolffs mit Schmidt zu erweisen, als bloße Instrumentalisierung der Wertheimer Bibel zur Unterdrückung Wolffs aufzuzeigen: »Es ist jetzo nicht ungewöhnlich, daß, wenn man gewisse philosophische Lehren recht verdächtig machen will, man dazu die im Römischen Reich verschriene sogenannte Wertheimische Bibel per argumentum ab invidia ductum gebrauchet.«570 Es fehle nur noch, daß der Autor ihn beim Reichsfiskal denunziere. Marperger antwortet diesmal unter seinem Namen, wiederholt jedoch seine Schlußkette zu einer Übereinstimmung Reinbecks mit Wolff und dann von Wolff mit dem Wertheimer; dabei berief er sich die Beweisthümer des Mediziners und Philosophen Adolph Friedrich Hoffmann aus Leipzig.571 Den Hinweis auf den Reichsfiskal aber interpretiert er als einen verwerflichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des reichsfiskalischen Prozesses gegen den Wertheimer. Auf diese Replik antwortet Reinbeck wieder mit einer umfangreichen und offensiven Entgegnung, in der er von den Gegnern Wolffs verlangt, daß sie aus den philosophischen Prinzipien des Philosophen einen einzigen Satz erweisen mögen, aus dem hervorgehe, daß die Bibel so wie in der Wertheimischen Fassung übersetzt werden müsse.572 Das allein aber sei der springende Punkt, von dem aus man erst zu einer Verdammung der Wolffischen Philosophie fortschreiten könne. Das aber habe Hoffmann nicht geleistet, wie zur Genüge aus dessen Widerlegung durch Möller hervorgehe. Gegen die Unterstellung, er habe die reichsfiskalische Aktion kritisieren oder ihrer gar spotten wollen, verwahrt er sich scharf. Und doch erklärt er an dieser Stelle in großer Freimütigkeit, was wohl viele in dieser Sache dachten: Er wünschte, daß von keinem einzigen Theologen gesagt werden könne, er hätte jemals den weltlichen Arm zur Ausfuhrung seiner Absichten mißbraucht oder zu mißbrauchen gesucht. Was an dieser öffentlichen Nebendebatte über die Wertheimer Bibel als notwendige Frucht der Wolffischen Philosophie anschaulich deutlich wird, ist das inzwischen erreichte Gleichgewicht der Kräfte. Alle die durchgängig sehr scharfen Angriffe auf die Wolffianer wurden mit Entschiedenheit und unter Nennung des Namens pariert. Dagegen wagen Bertram und der Hofprediger Marperger ihre ersten Angriffe wegen des königlichen Verbots jeder Polemik gegen Wolff zunächst nur unter Pseudonym. Auch aus den angeführten Briefen Hoffmanns und Bertrams geht hervor, daß es ihnen inzwischen keineswegs ungefährlich erschien, gegen die Wolffianer und insbesondere gegen den offenbar allgemein als

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Johann Gustav Reinbeck: Abfertigung eines Anonymi, welcher in seinen zufälligen Gedancken den ersten Theil seiner Betrachtungen über die Augspurgische Confeßion verschidener Grund-Irtthümer beschuldigt hat. Berlin 1737. Ebd., Vorrede, S. 30. Nöthige Beylage zu den zufälligen Gedancken, worinnen der sogenannten Abfertigung eines Anonymi gebührend begegnet wird. Frankfurt u. Leipzig 1737, S. 41. Fortgesetzte Abfertigung eines Anonymi, Berlin 1737. Vorrede, S. 31.

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einflußreich anerkannten Reinbeck zu schreiben. Im Gegenteil, man konnte sich nun offenbar schon durch Parteinahme für Wolff profilieren und etablieren. Der oben genannte engagierte Wolffianer und Leipziger Redakteur von Steinwehr erhielt 1737 eine außerordentliche Professur an der Universität Göttingen, der Wolffianer Georg Heinrich Riebov wurde ordentlicher Professor. Die öffentliche Nebendebatte erwies sich angesichts der veränderten politischen Kräfteverhältnisse, durch den Einfluß der beiden prowolffianischen Pröpste in Berlin am Hofe des Königs, als eine Debatte mit durchaus offenem Ausgang, in der keine Partei mehr in der Lage war, der anderen den öffentlichen Raum durch politische Mittel zu entziehen. Darin unterschied sie sich von der großen Debatte um die Wertheimer Bibel selbst, bei der die Wertheimer beständig um diesen öffentlichen Raum kämpfen mußten.

19. Die Wertheimer politische Reaktion auf das preußische Verbot im Sommer 1736 Doch zunächst soll der Blick wieder nach Wertheim im Sommer 1736 gehen, um zu sehen, wie man dort auf das preußische Verbot reagieren wird. Angesichts des befürchteten und nunmehr erfolgten Verbots der Wertheimer Bibel in allen preußischen Ländern gehen erneut Schreiben aus - wie gehabt an den Abt von Mosheim und an Christian Wolff, wie wir gewiß aus deren Antwortschreiben wissen. Vielleicht wendet man sich auch noch einmal an Reinbeck nach Berlin, wenngleich der inzwischen in seiner Vorrede zur den Betrachtungen zur Augsburischen Confession öffentlich gegen die Wertheimer Bibel Stellung genommen hatte. Die Antworten kommen jedoch spät und wiegeln ab. 573 Wolff selbst warnt, nachdem er einen großen Erfolg für seine Philosophie erringen konnte, vor den angekündigten politischen Interventionen der Wertheimer und bittet sie ausdrücklich, die öffentliche Debatte um die Wertheimer Bibel nicht mit seiner Auseinandersetzung mit Lange zu vermischen. Wolff rät den Wertheimern auch ab, sich an den Statthalter des Herzogs von Hessen-Cassel zu wenden, da man dort nicht anders über die Wertheimer Bibel denke als sonst überall. Er läßt Schmidt zwar grüßen und bedankt sich für die beiden übersandten Schutzschriften, 574 lehnt es aber ab, die Gelegenheit der Nebendebatte, ob die Wertheimer Bibel eine notwendige Frucht seiner Philosophie sei, zu ergreifen und sich mit Autoren diesbezüglicher Schriften auseinanderzusetzen. Er sei nicht gewillt, sich mit dem »ungezogenen Schulmanne« einzulassen, 575 der »von dem Hällischen Feinde zu lästern gedungen«. Er bemüht sich aber auch, seine Zurückhaltung gegenüber den Wertheimern politisch zu erklären und zu entschuldigen. Nicht zu Unrecht verweist er darauf, daß er es sich gegen Lange einfach machen könnte, wenn er »die Wertheimische Bibel mit anschwärzen hülfe«, was er aber — schon aus

Mosheim an Höflein am 26. September 1736. In: Ebd., S. XXVIII-XXIX. ' 7 4 Wolff an Höflein am 8. November 1736. In: Ebd., S. XLII-XLIII. - Vermutlich hat Wolff die öffentliche Erklärung und die Beantwortung in zwei verschiedenen Sendungen erhalten. 575 Wolff spricht hier von Oeder in Ansbach, der als Sincerus Pistophel gegen den Wertheimer publizierte und den Zusammenhang mit der Wolffischen Philosophie zu zeigen suchte. 573

19. Die Wertheimer politische Reaktion auf das preußische Verbot

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Inkompetenz - nicht tun werde. Umgekehrt erwartet er aber auch von den Wertheimern bzw. legt es ihnen mit seinem Brief nahe, daß »Herr Schmidt sehr weislich thut, daß er seine Controvers mit meiner nicht vermenget. Das wird mir der Herr Schmidt nicht übel nehmen, daß ich leugne, seyne Übersetzung sey in meiner Philosophie gegründet, da es der Wahrheit gemäß, daß er sie in dem Verstände der hebräischen Sprache und der deutschen Mundart gründet.« 576 Schließlich hätten schon Grotius und Richard Simon, vorher auch wohl Calvin an einigen Stellen, Christus nicht buchstäblich im Alten Testament finden können. Für Wolff ist die

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klarerweise nur ein Nebenschauplatz in seiner langanhalten-

den, kräftezehrenden und einmal sogar lebensgefährlichen Auseinandersetzung mit den Hallenser Pietisten. Angesichts dessen sucht er den Wertheimern seine politische Sicht der Situation zu erklären: »Die Commissions-Sache wegen meiner Philosophie in Berlin wird Euer Hochedeln bekannt seyn. Ob nun zwar der Bericht der Commission für mich auf das beste ausgefallen, so ist doch deswegen keine Decision vom König erfolget. Und dieses machet Herrn Langen trotzig. Denn ob er selbst zwar nicht schreiben darf, so stiftet er doch andere an, die nach seiner Pfeife tanzen, und verleget ihre Lästerschriften mit beliebigen Zusätzen: wobey er allerhand Intriguen spielet, die einem ehrlichen Manne nicht anstehen. Die Zeit wird lehren, wie lange er noch Zeit hat, bis das Maß der Bosheit erfüllt ist.« 577 Gegen die nun in Wertheim zu konstatierende Gefahr eines allseits drohenden Stillschweigens, Totschweigens gar, und die daraus notwendig folgende öffentliche Isolation unternimmt Johann Lorenz Schmidt schon am 18. Juli 1 7 3 6 den Versuch, einen ganz neuen Kontakt herzustellen - und zwar zu dem noch jungen, fast gleichaltrigen, aber schon etablierten und recht bekannten Johann Christoph Gottsched (1700—1766), Professor der Logik und Metaphysik an der Leipziger Universität. 578 Gottsched lehrte bereits seit einigen Jahren Wolfis und Leibniz' Philosophie und war außerdem bereits seit 1 7 2 4 als Herausgeber mehrerer überregional erfolgreicher Aufklärungszeitschriften hervorgetreten. Als Sekretär der

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Mosheim/Schlegel (wie Anm. 17), S. XLII. Ebd., S.XLIII. Zu Gottsched vgl. außer der sehr materialreichen und systematischen Auswertung der GottschedKorrespondenz durch Marianne Wehr (wie Anm. 40) und Theodor Wilhelm Danzel: Gottsched und seine Zeit. Auszüge aus seinem Briefwechsel zusammengestellt und erläutert. Olms: Hildesheim u. New York 1970, auch Gustav Waniek: Gottsched und die deutsche Literatur seiner Zeit. Leipzig 1897 (Reprint: Zentralantiquariat der DDR: Leipzig 1972) und Eugen Wolff: Gottscheds Stellung im deutschen Geistesleben. 2 Bde. Leipzig u. Kiel 1894/97. Als gründliche neuere Arbeit zu empfehlen ist Werner Rieck: Johann Christoph Gottsched: Eine kritische Würdigung seines Werks. Akademie-Verlag: Berlin 1972. Vgl. auch Detlef Döring: Johann Christoph Gottsched. Ausstellung in der Universitätsbibliothek Leipzig zum 300. Geburtstag. Verlag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. In Komm, bei Hirzel: Stuttgart u. Leipzig 2000, S. 69-112. Einen neuen, unbefangenen Blick auf die philosophische Bedeutung Gottscheds wirft Hans Poser: Gottsched und die Philosophie der deutschen Aufklärung. In: Gottsched-Tag. Wissenschaftliche Veranstaltung zum 300. Geburtstag von Johann Christoph Gottsched am 17. Februar 2000 in der Alten Handelsbörse in Leipzig. Hg. Kurt Nowak und Ludwig Stockinger. Verlag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. In Komm, bei S. Hirzel: Stuttgart u. Leipzig 2001, S. 51-70.

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Deutschen Gesellschaft zu Leipzig, deren Präsident übrigens der Abt Mosheim war, hatte Gottsched seit 1727 durch seine tatkräftige Organisation und eine ausgedehnte Korrespondenz für eine erhebliche Steigerung ihrer Aktivitäten und ihres Wirkungsradius gesorgt. Damit mußte er den Wertheimern in ihrer Zielstellung, die öffentliche Debatte am Laufen zu halten, geradezu als idealer Ansprechpartner erscheinen. Schmidt war schon vorher mit Männern aus dem Umkreis von Gottsched sowie mit Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Verbindung gekommen. Der schon mehrfach erwähnte Friedrich Wilhelm Stübner, seit dem September 1735 im Briefkontakt mit Schmidt, dem Kammerrat Höflein bzw. dem Grafen von Löwenstein-Wertheim, stand in Leipzig in einem engen Verhältnis zu Gottsched. 579 Das gilt erst recht für den anderen begeisterten Rezens-

enten der Wertheimer Bibel in den Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen Wolf Balthasar Adolph von Steinwehr, 580 von dem allerdings keine direkte Beziehung zu Schmidt belegt ist. Auch der Herausgeber der Leipziger Gelehrten Zeitungen Friedrich Otto Mencke stand dem Gottsched-Kreis nahe; Gottsched war schon mit seinem Vater befreundet und in seinen ersten Leipziger Jahren der Hauslehrer des Sohnes. 581 Darüber hinaus aber hatte sich Schmidt auch mit einem ehemaligen Studenten Gottscheds befreundet, inzwischen im nahe Wertheim gelegenen Kitzingen ansässig, das zum Erzbistum Würzburg gehörte — mit Johann Caspar Schneider. Schneider scheint nicht nur zu jenen Jurastudenten in Leipzig gehört zu haben, die - anders als die um ihre künftige Anstellung furchtenden Theologiestudenten - die Vorlesungen Gottscheds über Leibniz' und Wolfis Philosophie füllten 582 ; er scheint dort auch in engerem Kontakt zu Gottsched und seinem Kreis, besonders mit Steinwehr und May, aber auch mit der Neuberschen Theatertruppe gestanden zu haben. Das geht jedenfalls aus einem Brief Schneiders an Gottsched vom 2. März 1737 hervor. 583 579

Sie waren nicht nur Kollegen an der Philosophischen Fakultät der Leipziger Universität. Döring teilt mit, daß Gottsched, Stübner, von Steinwehr, Johann Friedrich May, Johann Georg Lotter u. a., die zugleich Mitglieder der Deutschen Gesellschaft waren, seit 1731 einer »philosophischen Gesellschaft« zugehörten und u. a. Gottscheds »Weltweisheit« hörten und diskutierten. Vgl. Döring: Die Philosophie Leibniz' und die Leipziger Aufklärung (wie Anm. 106), S. 67.

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Klausing, der von Steinwehr für »noch ärger« hält als Gottsched, berichtet Löscher am 20. 1 . 1 7 3 6 , daß beide in einem familiären Verkehr stünden. Siehe SUB Hamburg, Sup. ep. 75 (bei Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz' und die Leipziger Aufklärung (wie Anm. 106), S.76, Anm. 276). Vgl. Döring: Johann Christoph Gottsched (wie Anm. 578), S. 48 f. Zu Schneider vgl. die folgende Fußnote. - »Druck auf die Studierenden ist freilich auch schon vor jenem offenen Vorgehen gegen Gottsched ausgeübt worden. Jedenfalls berichtet Gottsched 1737, daß seine Vorlesungen zur Wolffischen Philosophie fast nur von Juristen oder Ausländern besucht würden, da man allgemein befürchte, in Sachsen kein Kirchenamt erhalten zu können, wenn man sich mit jener Philosophie beschäftigt hat.« (Döring: Die Philosophie Leibniz' und die Leipziger Aufklärung (wie Anm. 106), S. 72.) Gottsched schreibt dies an Reinbeck am 20. Juli 1737. Dieser Befund spricht auch klar gegen die Auffassung Hammersteins vom geringen Einfluß des Wolffianismus unter den Juristen. Vgl. Anm. 238.

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In einem Brief an Gottsched vom 2. März 1 7 3 7 bittet Schneider um Nachrichten über eine von Gottsched und von von Steinwehr versprochene Ubersetzung des Aristoteles und des Virgil ins Deutsche und berichtet: »Der Herr Neuber befindet sich mit seiner Gesellschaft noch itzo in Straßburg,

19. Die Wertheimer politische Reaktion auf das preußische Verbot

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Nicht zuletzt war es auch ein Mitglied der Deutschen Gesellschaft aus Stettin, das Schmidts Übersetzung Zustimmung signalisierte.584 Und schließlich war der von Anfang an als Mentor der Ubersetzung angesprochene und gegenüber den Wertheimern trotz aller Kritik immer loyal bleibende Abt von Mosheim der Präsident der Deutschen Gesellschaft. Von daher lag es durchaus nahe, daß Schmidt sich mit seinem Anliegen einer deutschen Übersetzung der Hl. Schrift nun auch an den faktischen Junior-Chef der Wolffianer und der Deutschen Gesellschaften wandte, damit zugleich aber auch an den führenden Kopf der Leipziger Wolffianer, die schon bis dahin die größte Unterstützung für ihn geboten hatten. Von dem tatsächlich vorhandenen freundlichen Interesse und der großen Hochachtung Gottscheds fiir die Wertheimer Bibel kann Schmidt z. B. über Stübner oder Schneider gehört haben. Jedenfalls hat diese Information wohl den Ausschlag dafür gegeben, daß Schmidt sich nun, in der zunehmend schwieriger werdenden Situation, an diesen Leipziger Professor und Kollegen Jöchers wendete. Daß Gottsched in der Tat eine hohe Meinung von dem Übersetzungswerk hatte, auch noch nach dem sächsischen Verbot, wissen wir u. a. aus seinem Brief an Götten vom 18. April 1736.585 Gottsched beschwichtigt sogar Göttens Zweifel und Befürchtungen gegen das Bibelwerk angesichts des erlassenen Verbots und empfiehlt nachdrücklich den Erwerb des Buches und eine gründliche Lektüre.586 Daß Gottsched die Wertheimer Bibel anfänglich sogar in seinen Vorlesungen öffentlich lobte, erfahren wir aus einem Brief seines entschiedenen Gegners, des Leipziger Theologen Klausing, den dieser im Januar 1736 anläßlich der Anzeige der Wertheimer Bibel und der lobenden Rezension in den Leipziger Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen an den sächsischen Kirchenrat Löscher geschrieben hatte. 587 Die öffentliche Fürsprache Gottscheds fiir die Wertheimer Bibel hatte sich jedenfalls bis nach Wertheim herumgesprochen, 588 so daß sich Johann Lorenz Schmidt in seinem ersten Anschreiben darauf berufen kann, wenn er sich erlaubt, dem Professor seine Beantwortung zu übersenden und damit eine Korrespondenz zu eröffnen: »Wenn das

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und habe ich noch unlängstens Briefe von ihm erhalten. Ich hoffe diese Gesellschaft auf künftigen Sommer gantz gewiß in Würtzburg anzutreffen: wie sich dann Hr. HofRath Ikstatt daselbst Mühe geben wird ihnen einen Zutritt an unserem Hofe zu verschaffen.« Im übrigen läßt er sich den Herren von Steinwehr und May untertänig empfehlen (UB Leipzig, Ms 0342 (Gottsched-Korrespondenz), IV (1737/38), 3 l r - v ) . Uber den preußischen Hofrat Johann Wilhelm Gohr, das Haupt der Aletophilen in Stettin, vgl. Döring: Die Philosophie Leibniz' und die Leipziger Aufklärung (wie Anm. 106), S. 105, sowie vor allem Spalding: Seize the Book (wie Anm. 12), S. 190-192. Gohr setzte sich danach auch später noch fiir den Wertheimer ein. Zit. nach Wehr (wie Anm. 215), S. 125 (N. 566). Obgleich wir Gottscheds Brief selbst nicht haben, geht doch seine positive Beurteilung der Wertheimer Bibel klar aus Göttens Antwort hervor: »Ich denke H. Schwier werde die Wertheimische Bibel ausforschen und mitbringen. Eur. Hochedln. sind der erste, der mir nicht das häßlichste davon gesagt. Das Altorfische Bedenken hat in soweit Grund, da durch Confiscationes der Kauf schädlicher Bücher selten gehemmt wird. Nach dem verbotenen trachten die meisten am ersten ...« (Wehr (wie Anm. 215), S. 125). Klausing an Löscher am 20. Januar 1736. SUB Hamburg. Sup. ep. 75; Angabe nach Döring: Die Philosophie Leibniz' und die Leipziger Aufklärung (wie Anm. 106), S. 72, Anm. 261. Vgl. Spalding: Seize the Book (wie Anm. 12), S. 112-116.

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Gerüchte, welches mir zu Ohren gekommen, nicht gantz falsch ist: So hat meine biblische Arbeit das Glück gehabt, bey Euer Hochedelgeb. einigen Beyfall zu finden.«589 Natürlich weiß Schmidt auch um die »ausnehmenden Verdienste« Gottscheds um die »Wolredenheit« und den »guten Geschmack«, insbesondere aber um dessen »Absicht, die natürliche Beredsamkeit auf die Kanzel zu bringen«. Er ist auch darin mit Gottsched ganz einig, »daß dieses noch zur Zeit mit schlechtem Fortgang geschehen kan, so lange dunkle und undeutliche Begriffe in der Gottesgelehrsamkeit herrschen, und so lange dieselbe noch nicht zu ihrer natürlichen Klarheit ist gebracht worden«. Eben dies zu ändern sei auch er mit seiner Bibelübersetzung angetreten. Aus der so benannten gemeinsamen Intention entwickelt Schmidt dann sein besonderes Anliegen an Gottsched: Er sucht Gottsched als Bündnispartner dafür zu gewinnen, ihn bei einem Projekt zu unterstützen, das ihm die verlorengehende Öffentlichkeit der Diskussion um die Wertheimer Bibel wiedergewinnen und damit die obrigkeitliche Verfolgung aufhalten soll. Schmidt, sicherlich gemeinsam mit Höflein und mit Unterstützung der Grafen, plant also im Sommer 1736, nach dem sächsischen und sogar unmittelbar nach dem preußischen Verbot der Wertheimer Bibel, gegen die anschwellende Welle der Widerlegungen des Übersetzungswerks, eine Sammlung von Schriften herauszugeben, welche für und wider seine Ubersetzung erschienen sind, um so die öffentliche Diskussion am Laufen zu halten und dadurch die Eindeutigkeit der Entscheidung für die Obrigkeiten zu erschweren: »Ich werde diesen Herbst eine vollständige Sammlung der Streitschriften drucken laßen«, schreibt Schmidt, »welche bey Gelegenheit meiner Ubersetzung zum Vorschein gekommen sind. Da wünschte ich nun, eine gründliche Abhandlung zu haben und dieser Sammlung mit beyzufugen.« Er entwickelt dann in seinem Brief auch recht genaue Vorstellungen, wie ein solcher Beitrag aus Leipzig aussehen müßte, woraus eine recht genaue Kenntnis der Auffassungen Gottscheds wie auch der Leipziger Beiträger hervorleuchtet. Schmidt erwartet eine Abhandlung, »worinnen ausgeführt und nachdrücklich erwiesen würde: Wie ungereimt es sey, bey der Gottesgelehrsamkeit eine besondre Sprache zu ftihren; was dieses für eine schlechte und unfruchtbare Erkäntniß wirke; wie nöthig allenthalben und noch viel mehr bey den göttlichen Wahrheiten ein natürlicher Ausdruck sey, und was daraus fiir Nutzen für die Menschen entstehe. Hiebey könte einige Anwendung auf meine biblische Arbeit gemacht, oder nach Gutbefinden, auch wol weggelassen werden.«590

Keinesfalls erwartet Schmidt einen solchen Beitrag vom Professor selber: »Wenn ich nicht zu viel bitte: So wollte ich E. Hochedelgeb. gehorsamst ersuchen, durch einen von dero Schülern eine solche Abhandlung unter dero Durchsicht verfertigen zu laßen: und diese wolte ich nachgehends ohne Meldung eines Namens oder Orts meiner Sammlung mit einverleiben.«591

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Schmidt an Gottsched am 18. Juli 1736. In: UB Leipzig, Ms 0342 (Gottsched-Korrespondenz), III, 43 lv. Der Brief ist in ein maschinenschriftliches Manuskript transkribiert in Wehr (wie Anm. 215), S. 125f., hierS. 125. UB Leipzig, Ms 0342 (Gottsched-Korrespondenz), III, 43lv. Ebd.

19. Die Wertheimer politische Reaktion auf das preußische Verbot

353

Ihm ist also wohl bewußt, daß die Erfüllung seiner Bitte angesichts des sächsischen Verbots einigen Mut erforderte, und er kommt dem Professor auch noch darin entgegen, »daß man bey einer solchen Abhandlung nicht nöthig hätte, die entstandenen Streitigkeiten zu berühren«.592 Im Bewußtsein der in seiner Bitte liegenden Zumutung für Gottsched heißt es abschließend in aller inzwischen gelernten Bescheidenheit: »Sölten aber Dieselben einiges Bedenken dabey finden: so hoffe ich doch, Sie werden mir meine gebrauchte Freyheit nicht übel nehmen, und es meinem Eifer für die Aufnahme der Wissenschaften zuschreiben, welche mich angetrieben, in meiner Sache einigen Beystand bey einem Gelehrten zu suchen, welcher an Einsicht und Fertigkeit in dem guten Ausdruck in Deutschland seines gleichen nicht hat.« 5 9 3

In der Tat besteht die größte sachliche Ubereinstimmung in den Auffassungen der beiden Männer, besonders in ihrer beider Intention, die Theologie in einer »natürlichen Sprache«, in klaren und deutlichen Begriffen vorzutragen, so daß sie jedermann verständlich sei. Beide sehen in der Dunkelheit der theologischen Sprache, in ihren unklaren und diffusen Begriffen die Ursache für die Willkürherrschaft verfolgender Theologen, aber auch für die der Religion drohenden Gefahren: daß sie einerseits der Schwärmerei und dem Aberglauben beim gemeinen Mann offenstehe, andererseits ungeschützt den Angriffen der Freigeister ausgesetzt sei. Solche Argumente Schmidts finden sich ganz ebenso in Gottscheds oft bloß als Werk zur Hebung der deutschen Sprache unterschätzten Ausfiihrlichen Redekunst, die gerade 1736 erscheint.594 Gegen solche Unterschätzung unterstreicht Marianne Wehr zu Recht: »Das scheinbar nur rhetorisch-erzieherischen Zwecken dienende Buch enthält Beiträge programmatischen Charakters. Es ist, wie der Untertitel sagt, geistlichen und weltlichen Rednern zugut< gedacht.«595 Die zentrale Botschaft dieses Werkes gehe dahin, »daß geistliche Reden keiner andern Regeln bedürfen, als die uns die Natur und gesunde Vernunft in der politischen Beredsamkeit vorschreibt«.596 Mit diesem Werk wird Gottsched zunehmend zu einer Leitfigur für viele junge, antiorthodoxe und antipietistische Theologen im protestantischen Raum, die teilweise schon im kirchlichen Dienst tätig sind oder aber in Erwartung solcher Stellen noch als Hofmeister und Lehrer arbeiten, was sich sowohl in einer ständigen Zunahme seiner Hörer als auch in der Ausweitung seines Briefwechsels zeigte.597 Je mehr er sich allerdings über den wachsenden Zulauf zu seinen Vorlesungen freuen kann, desto mehr wächst auch der Unmut und der Zorn der Orthodoxie wie der Pietisten. Schmidt hat also guten Grund, mit diesem Mann Kontakt aufzunehmen. Jedoch bleibt sein Brief vorläufig ohne jede Antwort.

592 593 594

595 596 597

Ebd., 432r. Ebd., 432r. Johann Christoph Gottsched: Ausfuhrliche Redekunst, nach Anleitung der alten Griechen und Römer, wie nach der neuen Ausländer; geistlichen und weltlichen Rednern zugut, in zween Theilen verfasset und mit Exempeln erläutert. Leipzig 1736. [2. (zensierte) Auflage 1739.] Wehr (wie Anm. 215), S. 114. Vgl. auch S. 1 1 5 - 1 1 8 . Ebd., S. 115. Vgl. ebd., S. 115-117.

354

Wertheimer Bibel

Schließlich aber wagt der Wertheimer in der zunehmend ausweglosen Situation einen ganz außerordentlichen Schritt - am 4. August 1 7 3 6 schreibt er selbst an den preußischen König, gegen den Rat Wolffs, wenngleich sicherlich nicht ohne Rücksprache mit seinen Wertheimer Verbündeten, und übersendet auch ihm seine Beantwortung

verschiedener

würfe, welche von einigen Gottesgelehrten gegen die freye Ubersetzung der götlichen sind gemacht

worden.

598

Ein-

Schriften

Der Brief zeugt von großem Selbstvertrauen und von der Aufrich-

tigkeit seiner Uberzeugung. Er spricht das preußische Verbot seiner Ubersetzung direkt an und stellt es dem König als ein Ergebnis der falschen Einrede seiner Feinde dar. Gegen diese erwartet er nun auch die Anhörung seiner Argumente durch den König: »Euer Königl. Maiestät sind von solcher Gnade, daß dieselben auch dem Geringsten einen Zutrit zu dero Königl. Thron verstatten: Und dieses erwirkt in mir das allerunterthänigste Vertrauen, allerhöchstdieselben werden erlauben, Gegenwärtiges zu dero Füßen zu legen. Die Confiscation meiner Ubersetzung der göttlichen Schriften welche in dero Königl. Landen letzthin erfolget, hat mich genugsam überführet, wie verhaßt meine Widersacher Eu. Königl. Mai. mein Werck und Vorhaben müssen vorgestellt haben. Die gegenwärtige Vertheidigungsschrift, welche ich hier beygeschlossen, wird die offenbare Unschuld meiner Sache darthun, weil ich darinnen meine Gegner aus ihren eigenen Zeugnissen widerlegt habe. Es gelanget also hiemit an Euer Königl. Mai. meine allerunterthänigste Bitte, allerhöchstdieselben wollen, nach dero allergerechtesten Intention die Wahrheit zu beschützen, sich von dero erlauchtesten Ministerio aus dieser Schrift [...] referiren laßen, und nach erkanter Unschuld meines Werks, dasselbe dero allerhöchsten Schutzes nicht unwürdig achten: damit nicht die unschuldige Wahrheit, zu Euer Königl. Mai. endlichem allerhöchsten Mißfallen, unterdrückt werden möge.« 599 Immerhin notiert der Staatsminister General von Borck zu diesem Brief, daß der König das Buch nicht mitgesandt habe, es hat also doch vielleicht noch einen interessierten Leser gefunden. Der preußische König, der erst wenige Tage zuvor gegenüber Graeve in W i e n seinen Befehl einer Anzeige des Werkes beim Reichsfiskal erneuert hatte, reagierte auf diese Ubersendung der Schmidtschen Beantwortung

überaus ungnädig und befahl seinen Ministern am

2 6 . September, sich an die Grafen von Wertheim-Löwenstein zu wenden, um dafür zu sorgen, daß er künftig von solchen Schreiben verschont bleibe. A m 2 9 . September geht das Schreiben des hohen Kabinettsministeriums auf den Weg nach Wertheim, unterzeichnet von den drei Kabinettsministern von Borck, von Podewils und von Thulemeier, mit folgendem Wortlaut: »Hochgebohrener Reichs-Graff. Wir mögen Euer Excellentz hiemit nicht verhalten, und ist aus der abschriftlichen Anlage zu ersehen, wasmaßen der aldort sich aufhaltende Candidatus Theologiae, Johann Lorentz Schmidt, sich unterfangen, Seiner Königl. Mjt., Unserem Allergnädigsten Herren, 598

599

Vgl. den inliegenden Brief Schmidts vom 4. August 1736 in: Schreiben im Namen des hohen Kabinettsministeriums von Borck, von Podewils und Thulemeier an den Grafen von Löwenstein-Wertheim vom 29. September 1736, denselben Tag auf die Post. In: Dahlem Akte Wertheim, 7.7., inliegend, l r - v . - Auffällig ist, daß das Schreiben dem König erst am 27. September 1736 präsentiert wird. Dies mag einer Sommerpause geschuldet gewesen sein, könnte aber auch darin begründet sein, daß man die Vorgänge in Wien abwarten wollte. Ebd., l r - v .

19. Die Wertheimer politische Reaktion auf das preußische Verbot

355

eine vermeynte Apologie, seines unter der Feder annoch habenden, und zum Theil bereits in den Druck gegebenen Biblischen Werckes, zuzusenden, ohnerachtet Ihm, seinem eigenen Geständnis nach, alschon bewußt ist, wie Seine Königl. Mt., solche Schrifften consideriren, und daß Sie dannenhero bewogen worden, selbige / als ein Werck so die kräftigsten Verheissungen von dem Heiland aller Welt fast gäntzlich verdrehet und dadurch von dem WesensGrund des Christentums und der Göttlichkeit übersiehet / in dero sämbtlichen Ländern zu verbiethen, und confisciren zu laßen. Höchsterwehnte Seine Königl. Mt., welche die Verwegenheit dieses Menschen sehr ungnädig empfunden, haben uns befohlen, Eure Excellentz von obiger Vorfallenheit zu benachrichtigen, und dieselbe in Dero höchsten Nahmen, zu ersuchen, erwehnten Schmidt, welcher den Nahmen eines Biebel-Verdrehers, wohl mit allem Fug sich zuziehet, / nicht allein in seinem gottlosen Vorhaben [...], sondern auch / sein straffbahres Unterfangen ernstlich zu verweisen, und Ihm anzudeuten, daß Seine Königl. Mt., er hinführo, mit seinem / temerairen Schrifften nicht weiter behellige / oder aber gewis gewärtige, daß Seine Königl. Mt. / wann Sie desselben Person habhafft werden solte, an Ihn, wegen Seiner Boßheit und Religions-Spötterey, ein starkes Excempel statuiren laßen werde.« 600

Man ist also am Berliner Hof einigermaßen indigniert über den Freimut des Wertheimers, mit dem sich dieser an den König gewendet hatte. Während Schmidt sich auf seine protestantische Freiheit berief und den König an seine Wahrheitspflicht gegenüber allen seinen Glaubensgenossen erinnerte wie auch an seine Pflicht, beide Seiten zu hören, hielt man die Wertheimer Bibel am Hofe offensichtlich für abgeschlossen, und zwar im Sinne der Hallenser Pietisten. Darüber hinaus war man aber auch überrascht und verärgert darüber, daß es der Kandidat der Theologie gewagt hatte, sich als einfacher Untertan der Wertheimer Grafen und des Kaisers selbstbewußt an eine fremde Obrigkeit zu wenden, um sie an ihre Pflichten zu erinnern. Entsprechend hielt man ihn auch keiner eigenen Antwort wert, sondern wandte sich mit einem Schreiben an die Obrigkeit des Wertheimers. Christian Wolff schien mit seinen Warnungen, den Richter selbst zu suchen, Recht zu behalten. Nach einer kurzen Phase der Euphorie im Juni und Juli 1736, angesichts der Niederlage Langes und der den Wolffianern günstigen Wendung am preußischen Hof, die Freunde und Gegner der Wertheimer Bibel zunächst auch als den Wertheimern günstig angesehen hatten, scheint die Entwicklung sich jetzt endgültig gegen sie zu kehren. Ungeachtet dessen arbeitet Schmidt dennoch den ganzen Sommer 1736 intensiv an einer neuen Veröffentlichung - an seiner Samlung derienigen Schriften welche bey Gelegenheit des wertheimischen Bibelwerks für oder gegen dasselbe zum Vorschein gekommen sind, um durch eine umfassende Präsentation aller ihm relevant erscheinenden herausgekommenen Schriften erneut die öffentliche Debatte anzufachen, die bisherigen Argumente präsent zu halten und zugleich neben den bereits erschienenen Schriften auch weitere unveröffentlichte, ihm privat zugesandte Schriften aus dem Manuskript zu publizieren. In Wertheim wird also weiter auf eine Strategie der Öffentlichkeit gesetzt.

600

Schreiben im Namen des hohen Kabinettsministeriums von Borck, von Podewils und Thulemeier vom 29. September 1736 an den Grafen [sie!] von Löwenstein-Wertheim, denselben Tag auf die Post. In: Ebd., 7.7., l r - v .

356

Wertheimer Bibel

2 0 . Reimarus' Anerkennung der redlichen Absichten in den Hamburgischen Berichten, aber der dennoch drohende Verlust der Öffentlichkeit A m 23. Oktober 1 7 3 6 erscheint jedoch - sogar auf dem Titelblatt (!) - in den

schen Berichten

eine ausfuhrliche Besprechung von Schmidts Beantwortung

Einwürfe, welche von einigen Gottesgelehrten gegen die freie Übersetzung der götlichen sind gemacht

worden.601

Hamburgi-

verschiedener

Schriften

In einer Fußnote noch auf der Titelseite wird ausdrücklich darauf

hingewiesen, daß der Autor dieser Besprechung derselbe sei wie der der früheren

Anmerkun-

gen - also der berühmte Reimarus. Die kritische Stellungnahme von Reimarus zu Schmidts Beantwortung

unterscheidet sich aber in einem wesentlichen Punkt sehr deutlich von der

früheren: Reimarus konzentriert sich diesmal vollständig auf die theologischen bzw. philosophischen Sachargumente und erwähnt bei aller sachlichen Kritik mit keinem W o r t die vorher von ihm doch so massiv unterstellten bösen Absichten des Wertheimers. Es handelt sich also gerade um einen solchen sachbezogenen Diskussionsbeitrag, wie ihn sich Schmidt schon in seiner Vorrede zur Übersetzung erbeten hatte. Diese veränderte Einstellung bei dem bedeutenden und einflußreichen Theologen gegenüber dem Wertheimer scheint sich offenbar der Uberzeugungskraft der Verteidigungsschriften des Wertheimers, insbesondere seiner Öffentlichen

Erklärung

zu verdanken, die ja auch Mosheim, Stübner und angesichts

der moderaten Kritik Reinbecks wohl auch diesen von seiner persönlichen Aufrichtigkeit zu überzeugen vermochte. 6 0 2 Schmidts sowohl in der Vestgegründeten in der Öffentlichen

Erklärung

Wahrheit

als auch

abgelegtes Glaubensbekenntnis mußte also sicherlich eine

große Wirkung auf die gutwilligen und an der Diskussion interessierten Zeitgenossen haben. 6 0 3

601 602

603

Hamburgische Berichte von gelehrten Sachen. 23. Oktober 1736. Nr. 85, S. 761-773. »Was Deselbe zur Erklärung der Vorrede und des darin gefälleten Urtheils über das Schicksal der heil. Schrift sowohl in der Vertheidigung gegen Hn. D. Langen, als in der Schrift an das hochlöbl. evangelische Corpus beygebracht haben, benimmt mir allen bösen Argwohn.« (Mosheim an Schmidt am 26. April 1736. In: Mosheim/Schlegel (wie Anm. 17), S.XXII.) - Stübner schreibt: »Sie werden mir hoffentlich zutrauen, mein Herr, daß ich mich nicht nur zum Scheine auf mein Gewissen berufen habe, nachdem ich aus Dero Vertheidigung gegen Hn. D. Langen die Unschuld Ihrer Absichten habe genauer und besser, als vorher, einsehen lernen.« (Stübner an Schmidt am 24. Februar 1736. In: Ebd., S. XLIX.) In den wenige Jahren später erscheinenden, von dem Hallenser Theologen Siegmund Jacob Baumgarten herausgegebenen Nachrichten von einer Hallischen Bibliothek ist ebenfalls von einer solchen Sinnesänderung über die redlichen Absichten des Wertheimers die Rede, als dort die Samlung derjenigen Schriften besprochen wird: »Aus Vergleichung dieser Schriften und Gegenschriften erhellet augenscheinlich, daß man dem Verfasser in einigen Stücken zu viel gethan habe, sonderlich durch seine Beschuldigung einer Religionsspötterey. Er redet mit zu vieler Ehrfurcht und Achtung von der Bibel, und schränket seine Auslegung bloß allein auf den nach Grotii und anderer Vorurtheilen bestimmten Wortverstand ein, als daß er in diesen Verdacht fallen solte. Seine Absicht kan daher besser gewesen seyn, als seine Schrift wirklich gerathen ist.« (Nachricht von einer Hallischen Bibliothek. Bd. 8, S. 10.)

20. Reimarus' Anerkennung der redlichen Absichten

357

Reimarus referiert recht sachlich die ersten Paragraphen der Beantwortung, 604 wenngleich er weiterhin ärgerlich darüber ist, daß der Übersetzer sich »erdreistet«, seine neue Übersetzung der bisher als Weissagung geltenden Stellen für ebenso unumstößlich zu halten wie die Existenz Gottes. Dann kommt er auf Schmidts Rettung der Weissagungen durch den verblümten Verstand der Worte und die Annahme von dessen mündlicher Auslegung zu sprechen. Er moniert daran, daß dafür nun aber das Zeugnis des Messias und seiner Schüler von vornherein als unverwerflich vorausgesetzt werde. 605 Außerdem hält er den Schmidtschen Erweis, daß die Worte Moses' hinsichtlich ihres verblümten Verstandes geeignet sind, den Messias und seine Wohltaten vorzustellen, für willkürlich und nur wahrscheinlich. Im folgenden läßt er sich aber auch ausführlich auf die wolffianische Begrifflichkeit ein

und diskutiert Schmidts Gebrauch der Begriffe notwendig, möglich, gewiß, ungewiß, wahrscheinlich, um dann im Verfahren einer immanenten Kritik zu seinen Schlußfolgerungen zu kommen. Erstens sei die Bedeutung von Worten wegen ihres Kontextes nicht schlechthin notwendig, weshalb der Gebrauch eines Wortes kein zwingender Grund fiir eine bestimmte Übersetzung sei, da immer auch ein anderer Gebrauch möglich wäre. Das gelte insbesondere bei einer toten Sprache, wo der bestimmte Gebrauch eines Wortes gar nicht mehr erweisbar sei. Darüber hinaus aber verweise erst die Wortzusammenstellung auf den je bestimmten Gebrauch und damit auf die Begriffe. Diese theoretischen Sätze werden dann ausführlich am Beispiel der Weissagungsstelle von der Schlange (1 Mose 3,15) durchexerziert, mit dem Ergebnis, daß es sich keineswegs um eine natürliche Schlange habe handeln können. Da Adam und Eva schon erwachsen und verständig gewesen wären, also fähig zu allgemeinen Begriffen, hätten sie das Sprechen der Schlange für verwunderlich und keineswegs für natürlich halten müssen, die Schlange also nicht fiir ein gewöhnliches Tier halten können. Gegen die in dieser Auseinandersetzung vorherrschende ablehnende Meinung über die mündliche Tradition, auch von Reinbeck, hält Reimarus dann aber überraschend fest: »Ich bin dahero nicht derienige, der dem Hn. Verfasser streitig machet, daß bei diesem allen eine mündliche Erklärung stat gefunden, ja nöthig gewesen sey, zum deutlichem Erkentnis dessen, was sie mit einiger Dunkelheit in den Worten selbst sehen konten. Dan die Begriffe sind durch diese Worte nicht genug bestirnt. Wie wäre es aber möglich, daß sie die Begriffe, so in unbestimten Worten liegen, selber bestimmen und einschränken könten, wan sie nicht entweder vorher schon bestirnte Begriffe durch mündlichen Unterricht bekommen hätten, welche aufzuwecken unbestimte Wörter zureichten, oder wan sie nicht nach dem Lesen hätte mehrern mündlichen Unterricht bei Mose, bei den Priestern und Leviten einziehen können.«606

Auch er beruft sich deswegen auf Autoritäten, obgleich die Sache als selbstverständlich dargestellt wird: »Daher dan auch längst ungescholtene Gottesgelehrte dergleichen mündlichen Unterricht wüllig zugestanden.«

604

605 606

Hamburgische Berichte von gelehrten Sachen. 23. Oktober 1736. Nr. 85, S. 761-764. Auf diesen Seiten erfolgt ein sachliches Referat der ersten 6 Paragraphen. Ebd., S. 764. Hervorhebung-U.G.

358

Wertheimer Bibel

Vor allem aber ist das folgende Zugeständnis als Zeichen seines Sinneswandels gegenüber den Absichten des Übersetzers interessant: »Wan dahero der Hr. Wertheimer für dieienigen schreibt, so der Schrift noch nicht glauben, so tadele ich auch nicht, daß er nicht mehr ausdrükt, als die Worte selbsten geben.« 607 Damit ist die grundsätzliche Berechtigung der Vorgehensweise Schmidts anerkannt, nichts als die Worte selbst zu übersetzen und keine spätere dogmatische Lehre vorauszusetzen, und ihm wird nicht länger Unaufrichtigkeit unterstellt. Reimarus erkennt nunmehr auch ausdrücklich die in der bisherigen Debatte als ketzerisch verschriene Auffassung des Wertheimers an, daß die Worte des Pentateuch tatsächlich an und für sich nicht mehr enthalten - eine zu diesem Zeitpunkt ungewöhnliche These. Er fährt dann aber einschränkend fort: »Aber das tadele ich, ausser dem, was an sich falsch ist, daß er die Begriffe auf der andern Seite in seiner Auslegung und Ubersetzung so bestirnt und einschränket, daß sie nunmehro das nicht bedeuten, was sie in der Taht in sich fassen: daß er den Worten alles Licht des Evangelii abspricht, weil sie nicht alle Klarheit und Deutlichkeit haben; hingegen alles von dem mündlichen Unterricht herholet, weil derselbe nicht gänzlich zu entbehren war. Daß er behauptet, die Worte könten das, was die christliche Lehre sagt, unmöglich bedeuten; folglich Christum und die Apostel, die sich auf Mosis Worte berufen, erst zu Lügnern macht, und darnach doch keinen andern Weg weis die christliche Lehre darzutuhn; als Christi und der Apostel Zeugnis als unverwerflich vorauszusetzen, welches ihm ia kein Spötter zugestehen wird. Und was sollen Spötter vom alten Testament selbst denken, wan sie hören Moses führe eine natürliche Schlange redend ein, und die sey der Grund alles bösen in der Welt gewesen? Niemand denkt so von Aesopo, und wir wollen Mosen so vorstellen?« 608 Diese Rezension unterscheidet sich nicht nur schlechthin durch den sachlichen Ton auffallend von der ersten, sondern vor allem durch ihre durchgehende Bereitschaft zur sachlichen Diskussion und damit zur Einhaltung des Elenchus. Die Kritik nimmt die Argumente des Gegners ernst und anerkennt wegen ihres immanenten Charakters sogar die methodischen Prinzipien des Wertheimers, deren Anwendung also nur noch diskutiert wird. Auch Stemmer weist auf den inhaltlich entscheidenden Sinneswandel von Reimarus im Verlauf des Jahres 1736 hin: »Reimarus hat spätestens 1736 kritischen Boden betreten und sich mit der Verwerfung grundlegender Prinzipien seiner Vorlesung von 1731, in der er der orthodoxen Tradition gefolgt war und eine nur für die biblischen Bücher gültige Hermeneutik entworfen hatte, auf die Seite des Wertheimers gestellt.« 609 Stemmer sieht die Ursache

607 606 605

Ebd., S. 771 f. Ebd. Stemmer: Weissagung und Kritik (wie Anm. 2), S. 137. - Angesichts dieses Sinneswandels von Reimarus im Verlauf seiner Auseinandersetzung mit den Argumenten des Wertheimers ist die Vermutung von Stemmer zu bestätigen, daß die Wertheimer Bibel eine entscheidende Veränderung in den Auffassungen dieses Theologen bewirkt hat. Es ist angesichts der Dringlichkeit der damit verbundenen Probleme auch ausgesprochen wahrscheinlich, daß es während des Altonaer Exils Schmidts zu persönlichen Gesprächen zwischen beiden gekommen ist. Beide mußten unter dem Eindruck der deistischen Kritik und der in der Debatte um die Wertheimer Bibel aufgebrochenen Folgefragen die Dringlichkeit einer Rettung der christlichen Religion gleichermaßen empfinden; beide stellten aufgrund ihres theologischen und vor allem bibelwissenschaftlichen Wissens füreinander ideale Gesprächspartner dar.

20. Reimarus' Anerkennung der redlichen Absichten

359

für diesen Sinneswandel des bekannten Theologen denn auch in seiner ernsthaften Auseinandersetzung mit den Prinzipien des Wertheimers. Diese Besprechung ist die letzte ausführliche Stellungnahme, die in den Berichten

Hamburgischen

zur Wertheimer Sache erscheint. Die Erwiderung Schmidts, die er sogleich am

2 8 . November 1 7 3 6 einsendet, wird schon nicht mehr veröffentlicht, er selbst nimmt sie aber später in seine

Samlung

auf. Wahrscheinlich ist bereits das kaiserliche Verbot in die

Zeit der langwierigen Überlegungen zum Entschluß des Abdrucks gefallen. Immerhin wird in Hamburg am 1 1 . Dezember noch eine weitere Verteidigungsschrift Schmidts, Sincer Pistophels Anmerkungen über die Vorrede des wertheimischen Bibelwerks mit einer kurzen Abfertigung derselben herausgegeben, angezeigt, die sich gegen die aggressiv-polemischen Anmerkungen des Sincer Pistophel richtete, unter welchem Pseudonym sich der schon erwähnte »ungezogene Schulmann« und in viele Kontroversen involvierte Pietist Oeder verbarg. 6 1 0 Sehr unbestimmt und zurückhaltend heißt es dazu: »Der Streit wegen der neuen wertheimischen Übersetzung wil sich noch nicht zur Ruhe legen: sondern scheinet erst recht in Bewegung zu kommen. Wenigstens sind fast in keiner der vorigen Schriften so viele Heftigkeiten gebracht worden als in folgender, wovon man für diesmal nur die Aufichrifi namhafi machen kan.«6n Anschließend wird zum Verständnis der Leser aber noch kurz der beiden dieser

Abfertigung

Wertheimer Bibel und der dazu geAnmerkungen Sincer Pistophels. Sodann wird darauf hingewiesen, daß vor allem auf S. 7 2 der Abfertigung in herausfordernder Weise auf eine Schrift Sincer Pistophels De sensu mystico verwiesen werde, was erwarten lasse, daß die heftige Kritik Sincer Pistophels

vorausgegangenen Schriften gedacht, der Vorrede der machten

»auffs neue grossen Widerspruch erfahren werde«. 612 Von dieser Zeit an beschränken sich die

Hamburgischen Berichte

aber endgültig darauf,

Rezensionen und kurze Anzeigen von Schriften zu publizieren, die die

Wertheimer Bibel \on

jetzt ab fast nur noch in widerlegender Weise betreffen. Die pro-wolffianische Neigung

610

611 612

Allerdings darf man sich solche hypothetischen Gespräche keinesfalls auf einer freundschaftlichen Ebene vorstellen, sondern muß sich der großen Differenz im Sozialstatus der beiden Männer bewußt werden, zwischen dem auf der Flucht seienden bzw. dem illegalen Habenichts Schmidt und dem Hamburger Großbürger und berühmten Professor Reimarus. Sowohl solche möglichen Gespräche als auch eine ebenso wenig belegte finanzielle Unterstützung für Schmidt durch Reimarus konnte daher nur in absoluter Diskretion erfolgen. Vgl. Stemmer: Weissagung und Kritik (wie Anm. 2), S. 1 0 2 146. - Dem Ursprung der Fama eines möglichen Kontakts geht Stemmer nur kurz in der allerdings langen Fußnote 3 auf S. 144 f. nach. Diese Schrift erschien in Frankfurt u. Leipzig 1736 und ist nicht in der Samlung enthalten. Vgl. den ausfuhrlichen Auszug in: AHE. Bd. 2. Teil 7. 1737, S. 160-164 (§ 80). Hamburgische Berichte. 11. Dezember 1736. Nr. 99, S. 894 f. (Hervorhebung - U. G.) Ebd., S. 895. - Allerdings ist es unwahrscheinlich, daß Schmidt selber der Autor dieser Schrift gewesen ist, da er in einem Brief von Gottsched von ihr als einer Schrift eines Freundes gegen einen anderen Gegner spricht. Vgl. Schmidt an Gottsched am 5. Oktober 1736. In: UB Leipzig, Ms 0342 (Gottsched-Korrespondenz), III, 474r. Der Brief ist in ein maschinenschriftliches Manuskript transkribiert in: Wehr (wie Anm. 215), S. 127.

360

Wertheimer Bibel

dieser Gelehrten Zeitung, die sie zeitweilig zum offenen Parteigänger des Wertheimers hat werden lassen, kommt nun vor allem in ihrer deutlichen Anteilnahme an der Nebendebatte zum Ausdruck. Hinsichtlich der Wertheimer Bibel ist ihre sympathetische Haltung nur noch an der Auswahl der Schriften bzw. an der Tendenz dieser Rezensionen zu erkennen.

21. Der Kontakt zu Gottsched und zur Leipziger Deutschen Gesellschaft als Ausweg aus der drohenden öffentlichen Isolation kommt zustande Schmidts erster Brief an Gottsched war ohne Antwort geblieben. Aber er ließ nicht locker. Es scheint, als wäre er erneut durch Dritte ermutigt worden, die mit Leipzig in Kontakt standen und ihn über die dortige Situation und die ihm offenbar recht günstige Stimmung auf dem Laufenden hielten. Am 5. Oktober übersendet Schmidt jedenfalls eine weitere Verteidigungsschrift an Gottsched, »eine Abfertigung eines andren Gegners, welche ein guter Freund von mir verfertiget hat. Wenn ich nicht gantz in meiner Hofnung fehle: So werde ich noch das Vergnügen haben, von Dero Gewogenheit schriftlich versichert zu werden.« 613 Und eingangs des Briefes hatte er sogar geschrieben, »er versichere sich gäntzlich« der Zustimmung Gottscheds zu den zuvor übersandten Verteidigungsschriften. Diese feste Überzeugung kann sich aus der gewußten theoretischen Übereinstimmung in der Sache speisen, da Schmidt die Schriften Gottscheds kannte, und im übrigen nur auf Berichte von Dritten zurückgehen. Auch diesmal erfolgt aber zunächst keine Antwort. Erst am 10. Januar 1737 schreibt Gottsched auf einmal doch nach Wertheim, 6 1 4 dankt für beide Briefe und für die beiden übersandten Verteidigungsschriften und versichert Schmidt seiner Zustimmung: »Ich habe dieselben mit Vergnügen gelesen und wünsche, daß sie bey andern so viel Beyfall finden mögen, als sie bey mir gewirket haben.« Ausdrücklich versichert er Schmidt seines Engagements für seine Sache, wenn er nämlich berichtet, daß er den Hoffmannschen Beweisthümern, die im Herbst 1736 gegen die Wertheimer Bibel veröffentlicht worden waren und in denen Hoffmann vor allem im Sinn Joachim Langes den notwendigen Zusammenhang der Bibelübersetzung mit der Wolffischen Philosophie nachweisen wollte, seine Zensur verweigert habe. Dieses Buch sei daher auch nicht in Leipzig erschienen. Gottsched ermutigt den Wertheimer dann sogar nachdrücklich, das Vorhaben einer vollständigen Übersetzung der Hl. Schrift trotz solchen Widerstandes nicht aufzugeben. Im übrigen habe er die ihm für Professor Jöcher beigelegten »Einschlüsse« an diesen übergeben. Gottscheds Brief aus dieser Zeit ist vor allem deshalb interessant, weil sich offenbar die Situation aus seiner Sicht zu ändern schien. Das Verbot des preußischen Königs an Joachim Lange, sich aller Streitschriften gegen Wolff zu enthalten, die Einladung Wolffs zu einer

613

614

D. i. sehr wahrscheinlich die eben genannte Abfertigung Sincer Pistophels. Vgl. auch zum Brief an Gottsched die vorige Anm. Vgl. Frank (wie Anm. 9), S. 292.

21. Der Kontakt zu Gottsched

361

erneuten Darlegung seiner Position gegen Langes Einwände, die Einsetzung der Kommission, das durch viele Zeitungen laufende Frohlocken über diese Wendung zugunsten der Wolffischen Philosophie und das große erleichternde Gelächter über die aggressive Pietistenpartei bei Erscheinen der Pietisterey im Fischbeinrock zur Michaelismesse 1736 (die anonyme Autorin war Luise Adelgunde Victoria Gottsched),615 welches Theaterstück in Sachsen und Preußen und auch in Hamburg ein großer Erfolg war, allerdings auch sofort verboten und konfisziert wurde, signalisieren einen deutlichen Stimmungsumbruch gegenüber der resignativen Situation nach dem sächsischen Verbot von Ende Januar 1736. Schon die Tatsache, daß der Leipziger Professor nunmehr wagte, den Kontakt zum Wertheimer aufzunehmen, aber auch sein stolzer Bericht über die verweigerte Zustimmung zu den Hofifmannschen Beweisthümern verweist auf eine gefestigte Widerständigkeit der Leipziger Anhängerschaft der Wolffianer, wobei diese Bezeichnung hier nicht im engen Sinn einer philosophischen Schule gebraucht wird, sondern als Bezeichnung der Anhänger der Vernunft, der klaren und deutlichen Begriffe, der mathematischen Lehrart als der Forderung nach einer Argumentation aus Gründen,616 Auch aus einer Antwort Mosheims vom 26. Januar 1737 auf ein Gottschedsches Schreiben vom 8. Januar geht hervor, daß Gottsched sich um Möglichkeiten für Schmidt bemüht hat. 617 Jedoch äußert sich Gottsched ungeachtet solcher vorbehaltlosen Zustimmung und ausdrücklichen Ermunterung doch mit keinem Wort zu der zuletzt von Schmidt geäußerten Bitte, einen Beitrag aus dem Leipziger Gottsched-Kreis für die als Veröffentlichung geplante Wertheimer Sammlung von Streitschriften zur Wertheimer Bibel zu liefern. Dieser erste Brief Gottscheds an Schmidt ist uns - Ironie der Geschichte - in den Akten des Reichshofrats zu Wien erhalten worden. Kurz nachdem sich nämlich der Leipziger Professor endlich — nach einem halben Jahr - zu einer Kontaktaufnahme zu dem verrufenen Wertheimer durchgerungen hatte, war das in Wertheim längst befürchtete Ereignis bereits eingetroffen: Am 15. Januar 1737 war das kaiserliche Patent zum Verbot der Wertheimer Bibel ergangen,618 »gerichtet an alle Kurfürsten, Fürsten, geist- und weltliche Prälaten, Grafen, Freie Herren, Ritter, Knechte, Landvoigte, Hauptleute, Pfleger, Verweser, Amtleute,

615

616

617

618

Vgl. Ernst Consentius: Frau Gottsched und die preußische Gesetzgebung. In: Preußische Jahrbücher. 112 (1903), S. 288-307. Vgl. Wehr (wie Anm. 215), S. 118f. Über die Durchsetzung der wolffianischen Denkweise bemerkt Hettner zutreffend: »Dies war der Sturz der Polyhistorie. Es entsprang die lebendige Einsicht, daß die Wissenschaft nicht bloß Wissen, sondern vor allem auch Denken sei. Vergleichen wir die wissenschaftlichen Zustände Deutschlands im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, so ist dieser großartige Fortschritt der vollgültigste Beweis für die unberechenbaren Segnungen, welche aus dieser philosophischen Gärung entsprangen. - Und doch würden wir die Bedeutung der Wölfischen Philosophie nur zum geringsten Teil ermessen, wollten wir unseren Blick auf den ausschließlich wissenschaftlichen Boden beschränken. Das Wichtigste ist, daß sie in alle Volksschichten drang und eine völlige Umstimmung des Lebens und der religiösen Gesinnung erweckte.« (Hettner (wie Anm. 4), S. 190.) Vgl. Mosheim an Gottsched am 26. Januar 1737. In: UB Leipzig, Ms 0342 (Gottsched-Korrespondenz), IV, 15v-16r. Es ist abgedruckt in: AHE. Bd. 2. Teil 7, S. 166-168 (§ 82).

362

Wertheimer Bibel

Landrichter, Schultheisse, Bürgermeister, Richter, Räte, Bürger, Gemeinden und alle Reichsunterthanen«; der Verkauf wurde bei Strafe von »10 Mark lötigen Goldes« verboten. Zugleich wurde befohlen, den Verfasser in sichere Verwahrung zu nehmen und ihn protokollarisch zu vernehmen. Eine besondere Instruktion erging deshalb an den katholischen Fürsten Karl Thomas von Löwenstein-Wertheim. 619 Außerdem wurde der Bücherkommission zu Frankfurt eine besondere Ordre zur Konfiskation des Werkes gesandt. 620 Gottscheds Brief kam erst am 28. Februar in Wertheim an und fiel prompt in die Hände der kaiserlichen Kommission, da Schmidts Verhaftung bereits am 22. Februar erfolgt war. Die Kommission gab den Brief zwar an den gefangenen Schmidt weiter, nahm aber doch zuvor eine Kopie davon zu den Akten. Umsichtig wie immer nimmt sich Kammerrat Höflein sofort der Sache an und sendet auf dem Wege über den schon genannten Freund des Wertheimers, Johann Caspar Schneider im nahegelegenen Kitzingen, schon am 2. März 1737 eine Nachricht über die Verhaftung Schmidts und über den Vorfall mit dem Brief an den Leipziger Professor, um ihn wegen eventueller Folgen zu warnen. Der Brief ist als Abschrift in einem Brief Schneiders an Gottsched erhalten: »Herr Professor Gottsched hat unter dem 1 Oten Januar an gedachten Herrn Schmidt geschrieben; er sollte sich an Fortsetzung seines [Werkes] durch die Herren Kläffer (er meint den D. Hofmann in L: [d. i. ein Kommentar Schneiders]) nicht abhalten lassen, dessen Brief ist gleichfalls den 28. Febr. hir eingelaufen und der Commission geliefert worden. Ich wollte«, betont Höflein, »daß es dieser Herr wüßte, damit er sich darauf einstellen könte.« 621

Am 7. März schreibt Schneider seinen Brief an Gottsched. Schneider ist der schon genannte frühere Student von Gottsched in Leipzig. Er läßt daher die Gelegenheit trotz des traurigen Anlasses nicht vorübergehen, seine ganze Verehrung und Dienstfertigkeit für den Professor zum Ausdruck zu bringen, woraus zugleich erhellt, daß er denselben Überzeugungen anhängt wie sein Wertheimer Freund Schmidt. 6 2 2 Höflein berichtet in seinem Schreiben an Schneider, das dieser fast wörtlich für Gottsched abschreibt, »daß der Hällische Erzfeind dieses Mannes es endlich dahin gebracht, daß derselbe von dem Gerichtsfiscal bey Ihro Kaiserl. Majest. [...] angegeben und auf specielle Commission an Ihro Durchlaucht den Fürsten zu Löwenstein arretiret, zugleich auf die sämtliche noch vorräthige Exem-

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Vgl. dazu Frank (Anm. 9), S. 285. Ebd. Schneider an Gottsched am 7. März 1737, worin die Abschrift des Briefes von Höflein an Schneider vom 2. März 1 7 3 7 enthalten ist. UB Leipzig, Ms 0 3 4 2 (Gottsched-Korrespondenz), IV (1737/38), 2 9 r - 3 1 v , hier 30v. Er wage auch deshalb an den Professor zu schreiben, weil dieser ihm beim Abschied in Leipzig selber die Erlaubnis dazu gegeben habe; dann fährt er fort: »Ich schätze es für eine der größten Glückseligkeiten, und ich werde es auch beständig davor schätzen, daß ich oftmahls die Ehre genossen habe bey Euer Hochedelgebohrnen einen Zuhörer abzugeben. Was ich bey Ihnen für Nutzen und Vortheil erworben habe, werde ich nimmer mehr genugsam verdanken können.« Im weiteren bietet er umständlich seine Dienste an, um sich für erworbenen Kenntnisse erkenntlich zeigen zu können. Erst dann bringt er die Abschrift des brisanten Höflein-Briefes, der an ihn gerichtet ist (ebd., 2 9 r - 2 9 v ) .

21. Der Kontakt zu Gottsched

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piare von der neuen Übersetzung der 5 B. Mos: so wohl hier als zu Frankffurt confisciret und weggenommen worden. Der liebe unschuldige Mann sitzet nun unter einer Wache von Grenadieren in dem hiesigen fürstlichen Schlosse und seufzet über die Bosheit unserer Theologorum, welche die Inquisition [!] in unserem D. Reich wieder einführen wollen. Das beste ist noch dieses, daß Ihro Kayserl. Maj. allergnädigst befohlen haben, ihn zur Gnüge zu hören, und sich verantworten zu lassen: dieses ist auch schon geschehen, und Herr Schmidt hat sich bereits männlich vertheidiget; so daß früh schon die Acta nach Wien abgegangen; nach dem JurisConsultes bereits vor 8 Tagen ein Memoriale ad Caesarem abgehen laßen und eine relaxation des Arrest geboten haben.« 623

Zugleich nimmt Höflein aber diese Gelegenheit einer Einflußnahme auf den berühmten Gottsched durch dessen ehemaligen Schüler Schneider wahr, um in bewegenden Worten in ihn zu dringen, doch ja endlich mit seiner Meinung an die Öffentlichkeit zu gehen: »Mich dünkt, die Herren Theologi, welche dem Herrn Schmidt geneigt sind, sollten ohne Scheu herfürtreten und ihn vertheidigen helfen dazumahlen man im Stande ist, seine Unschuld selbst auf das Gründlichste darzuthun und es auch bereits gethan hat. Was ist es nöthig zu heucheln und den Mantel nach dem Wind zu hängen? Es ist eine Gewissens- und Religionssache, bey welcher man sich die so theure und erworbene libertatem sentiendi, in so ferne die Glaubens-Lehren ungekränkt bleiben, nicht darf nehmen lassen. Hr. D. Fröreisen zu Straßburg hat sich in diesem Stück rechtschaffen bezeiget, und nichts zurück behalten. Dahero auch sein Bedenken ein großes zur Defensión des Hr. Schmidt beytragen muß.« 624

Es gehe nicht mehr um einzelne Positionen des Wertheimers oder seiner Gegner. In dieser Situation handelt es sich um die Verteidigung der gegen die Römische Kirche und ihre Inquisition so schwer errungenen protestantischen Glaubensfreiheit, weshalb nun alle wohlgesinnten protestantischen Theologen aufgerufen sind, öffendich Stellung zu beziehen. Zugleich wird an das Mitgefühl und an die Solidarität mit dem »lieben unschuldigen Mann« appelliert, der den etablierten Kollegen Theologen durch seine »männliche Verteidigung« längst ein heroisches Beispiel gegeben habe. Am 13. April ist Schmidt, nachdem die Verhöre durch die kaiserliche Kommission abgeschlossen waren, die Verteidigungsschriften Schmidts und die Akten der Kommission am 19. März nach Wien gesandt worden waren, selber in der Lage, auf Gottscheds Brief zu antworten. 625 Er versichert den berühmten Professor des »besonderen Glücks«, das dieser ihm mit seinem gewogenen Schreiben bereitet habe, das die Hochachtung »für dero Einsichten und Redlichkeit« noch vergrößert habe. Dann berichtet er unter Berufung auf die vorige Nachricht von seinem Schicksal über die fiskalische Anklage durch den kaiserlichen Reichshofrat. Auch Schmidt, wie schon Höflein, sieht völlig zutreffend in Lange den Spiritus rec-

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Ebd., 29v-30r. Ebd., 29v-30v. - Fröreisens Brief sachlich-kritischer Brief zur Wertheimer Bibel war als Auszug inmitten der Gründlichen Vorstellung (vgl. AHE. 2. Bd., 10. Teil, S. 6 0 8 - 6 6 3 , hier S. 655) wie auch schon vollständig in der Vorrede zur Samlung (unpag.) abgedruckt worden, was dem Straßburger Theologen erhebliche Schwierigkeiten und einen öffentlichen Widerruf einbringen sollte. Vgl. dazu das 26. Kapitel zu Fröreisen. Schmidt an Gottsched am 13. April 1737. In: UB Leipzig, Ms 0342 (Gottsched-Korrespondenz), IV (1737/38), 52v.

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tor der Anzeige und begründet das zu Recht mit dem Wortlaut der Anklage, die die größte Ähnlichkeit mit dem Philosophischen Religionsspötter hätte. Insbesondere in den Vorwürfen einer »arglistigen Verfälschung des Grundtextes« und einer »ganz verkehrten Auslegung der wahresten Grundsätze christlicher Lehre auf eine fast unerhörte und recht erstaunliche Weise« sieht Schmidt die »Langesche Schreibart«. Außerdem aber habe man in Wertheim »auch von Wien die Nachricht, daß der königl. Preuss. Agent [von Graeve] den Fiscal excitirt habe.« Wie schon Höflein gegenüber Schneider und also indirekt auch gegenüber Gottsched unterstrichen hatte, so betont auch Schmidt in fast gleichlautenden Worten die große Gunst des kaiserlichen Patents, daß er nämlich ausdrücklich die Möglichkeit erhalten habe, sich in Schriften zu verteidigen: »Das beste war, daß Kaiserl. Maj. in dero Patent einfließen ließen: man solle mich gnüglich hören. Ich hatte also die Freyheit, in verschiedenen Schriften meine Vertheidigung zu führen und meine Unschuld darzuthun, worauf denn die Acta den 19. März nach Wien abgegangen sind.«626 Den Hauptteil des Briefes aber macht Schmidts Antwort auf ein kritisches Gutachten von Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft über den Gebrauch der Eigennamen in seiner Bibelübersetzung aus, das ihm nun offenbar aus Leipzig zugesandt worden war. Die Ausarbeitung seiner Argumente gegenüber diesem Gutachten findet sich dann auch in der erst im Herbst 1737 veröffentlichten Samlung derienigen Schriften welche bey Gelegenheit des wertheimischen Bibelwerks für oder gegen dasselbe zum Vorschein gekommen, in der darin unter der Nr. 34 befindlichen Abhandlung wegen der Schreibart, deren sich der Übersetzer in seinen Schriften bedienet.627 Für diese Zuordnung der Autorschaft des kritischen Gutachtens zur Leipziger Deutschen Gesellschaft spricht auch die Einleitung der Herausgeber der Samlung, in der auf eine »Gruppe von Wolgesinnten« als Autoren verwiesen wird, die diese Einwände wegen der Schreibart vorgebracht hätten. Wenngleich dieses Gutachten von den Leipzigern bzw. von Gottsched offensichtlich nicht für eine Publikation freigegeben worden war, jedenfalls selber nicht in die Samlung aufgenommen wurde, gab es dem Wertheimer doch die Möglichkeit, auf die sachlichen Einwände öffentlich in seiner Samlung zu antworten. In seinem Brief dankt Schmidt dem Leipziger Professor denn auch überschwenglich für die Zusendung des durchaus kritischen Gutachtens: »Für das scharfsinnige Urtheil dero berühmter deutscher Gesellschaft von meiner Übersetzung, welche mir E. Hochedelgeb. gütigst mittheilen wollen, bin ich derselben mit ergebenstem Dank verbunden. Ich versichere, daß mir nichts Angenehmeres widerfahren kann, als wenn mir Gelegenheit gegeben wird, von so geübten Meistern unserer Sprache zu lernen.« 628

Er beruft sich in seiner Erwiderung auf verschiedene berühmte Autoren, die sich hinsichtlich der Ubersetzung von Eigennamen mit starker Veränderung in langen Zeiträumen geäußert haben und Argumente pro und contra ihrer Übertragung in die Gegenwartssprache sowie eine Anpassung an die Übersetzungssprache vorgebracht hätten. 626 617 628

Ebd. Samlung (wieAnm. 19), S. 502-519. Schmidt an Gottsched am 13. April 1737. UB Leipzig, Ms 0342 (Gottsched-Korrespondenz), IV (1737/38), 53r.

21. Der Kontakt zu Gottsched

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»Wofern eine Nation eine künftige Geschichte schreibt: So ist es billig, daß man dieselben mit ihren gewöhnlichsten Namen in der Welt [also mit den je gegenwärtig gebräuchlichen Bezeichnungen der Orte, Personen, Denkmäler etc.] anfuhrt. Hingegen, wenn man mir ein Stück aus der alten Geschichte vorzutragen hat und noch darzu eine Übersetzung aus einer Urkunde macht, so scheint dieses nicht so wol erlaubt zu seyn; weil man oft die Ähnlichkeit mit der Urkunde verloren und gegen die Regeln der Wahrscheinlichkeit neue Namen in die alten Zeiten einfuhren würde. [...] Und diese Regel wird durch die ganze Geschichte hindurch beobachtet. Man stelle sich vor, daß man eine alte Inscription übersetzen sollte: in diesem Falle müßte man doch wol die alten Namen der Städte und Länder behalten.«

Schmidt will also keine allgemeingültige Regel für alle Übersetzungen angeben, sondern macht die Behandlung der Eigennamen von der Zielstellung der jeweiligen Übersetzung abhängig. Bei seiner Verteidigung der Beibehaltung der zeitgenössischen Eigennamen bei der Übersetzung der Hl. Schrift als einer alten Urkunde beruft sich Schmidt insbesondere auf die Autoren der gerade zu erscheinen beginnenden Universal History,629 die »so sehr auf die Reinigkeit und die Regeln der Sprache sehen«; »und eben diese wollen haben, daß man die Buchstaben der Ebräer ganz genau nach der itzigen Mundart ausdrücken, und z. E. Solet anstatt Seph schreiben soll.«630 Das heißt, daß man zwar die alten, zeitgenössischen Eigennamen der Originalsprache beibehalten soll, jedoch nach ihrer mündlichen Aussprache in dieser Originalsprache, die allerdings nur nach der gegenwärtigen ausgerichtet werden könne. Man solle also die Eigennamen nach deren mündlicher Aussprache, nicht aber nach ihrer Schreibweise in der Ursprungssprache in die Zielsprache übersetzen: »Der Herr Graf Altieri setzt [...] bey Ausdrückung der eigenen Namen in seiner Mundart blos die Aussprache zum Grunde, und dies mit Gutbefinden der berühmten Accademia della Crusca.« 631 Altieri sehe einen guten Grund für diese Vorgehensweise darin, daß »die Rede eher als die Schrift ist, und diese blos noch Zeichen von ihr seyn sollen«. An diesen in semiotischer Hinsicht bedeutungsvollen Passagen dieses Briefes und erst recht an der späteren Abhandlung Schmidts über die Eigennamen wird deutlich, wie eng in den philosophischen und erkenntnistheoretischen Diskussionen jener Zeit theologische Grundfragen eingebunden waren. Schließlich bittet Schmidt den hochverehrten Professor noch inständig, ihm auch noch das offenbar versprochene Gutachten der Deutschen Gesellschaft über seine umstrittenen Anmerkungen zur Wertheimer Bibel zuzusenden, da er begierig sei, von diesen scharfsinnigen Männern zu lernen. Aber der Briefwechsel kam schon im Sommer 1737 wieder ins Stocken, was angesichts des nun bekannten kaiserlichen Gutachtens und auch der nun einsetzenden

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A Universal History from the earliest account of time to the present. London 1736fF. - Vgl. zur Bedeutung und zum historischen Hintergrund dieses Werkes die Leipziger gleichnamige Diss. von F. Borkenau-Pollak von 1925. - Die Universalgeschichte erschien 1736 gerade auf dem Höhepunkt der öffentlichen Debatte, und der Wertheimer beruft sich in seinen späteren Verteidigungsschriften und in diesem Brief an Gottsched auf sie. Schmidt an Gottsched am 13. April 1737. UB Leipzig, Ms 0342 (Gottsched-Korrespondenz), IV (1737/38), 53v. - Schmidt gibt die Angabe zu Universal History: Vol. I, p. 55, not *. Ebd., 53v-54r. - Schmidt fuhrt dann die folgenden Seiten der Universal History an: Tom I, p. 31, 63, 155, 159,167.

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eigenen Schwierigkeiten Gottscheds und Steinwehrs 6 3 2 in Dresden zu dieser Zeit sowie der zunehmenden Spannungen in der Leipziger

Deutschen Gesellschaft

nicht verwundert. 6 3 3 A m

18. Juni 1 7 3 7 meldet sich Schmidt dennoch erneut bei Gottsched und überschickt ihm dieses Mal eine Kantate, die er »letzthin auf hohen Befehl«, und zwar nach den Regeln von Gottscheds

Versuch einer Kritischen Dichtkunst vor die Deutschen

in seinem Gefängnis an-

gefertigt habe. Anlaß könnte die Hochzeit einer der Wertheimer Prinzessinnen im Sommer 1 7 3 7 gewesen sein. Gottsched wird diesmal als ein »großer Meister in der Dichtkunst« zur Beurteilung des poetischen Werkes aufgefordert. Ansonsten berichtet der gefangene Schmidt, in seiner Prozeßsache sei alles still. 634 Auch sein Freund Schneider wendet sich am 26. Juni noch einmal an Gottsched und berichtet diesem über die große moralische Kraft, mit der der Gefangene um der Sache der Wahrheit willen sein Schicksal ertrage, damit offenbar auf das Mitgefühl und die tätige Unterstützung des Leipziger Professors zielend. 635 A m 19. August antwortet Gottsched endlich doch noch, inzwischen selbst schon von den Leipziger Theologen verfolgt und in Erwartung der Reaktion aus Dresden. Angesichts ihrer erfolgreichen Intervention gegen die

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und die Leipziger Gelehrten Zei-

tungen sowie deren Redakteur Steinwehr am Dresdener Hof wagten diese sich nun auch an den einflußreichen Universitätsprofessor, dessen Ausftihrliche

Redekunst

von 1 7 3 6 schon längst

ihren Unmut erregt hatte. A m 10./II.Juli 1 7 3 7 erfolgte ihre Anzeige gegen ihn beim Dresdener Hof. Gottsched hätte sich angemaßt, »von denen geistlichen Reden und Predigten in einem eigenen Haupt-Stücke [...] zu handeln und hiezu gemäße Regeln vorzuschreiben, unter dem Vorgeben, daß dieses das Werck einer Politischen Redekunst sey, und denen Gottesgelehrten nicht zukäme, die Homiletick zu lehren, gleichwie es das Werck eines weltlichen Schneiders sey, schwarze Priester-Röcke zu machen, und man keine geistlichen Schneider habe, die Mäntel und Chorhemden der Kirchen-Bedienten zu verfertigen«. 636 632 Ygl Zensurakten des Universitätsarchivs Leipzig: Rep. I/XIX/I/43; Theol. Fak. 60 (Censur theol. Bücher 1736-38); Rep. I/XIX/I/47 (Acta Hrn. Wolff Balthasar Adolph von Steinwehr und dessen in den Leipziger Gelehrten Zeitungen gar mit mercklichem Beyfall sich befleißigende Recension dero herauskommender der christlichen Religion nachtheiliger Schriften); Rep. I/XIX/I/48 (Acta Johann Christoph Gottscheden Prof. Publ. und M. WolfF Balthasar Adolphen von Steinwehr betr.); Rep. I/XIX/I/49 (Acta Die Censur und Approbation des Decani Facultatis Theologicae derer, in den gelehrten Zeitungen vorkommenden Nachrichten und Recensionen von Theologischen Sachen und Büchern, betr.). »In der deutschen Gesellschaft bestehen Spannungen fort, die nur scheinbar beigelegt worden waren. Schließlich wirkte wohl der Druck des immer selbstherrlicher werdenden Seniors belastend auf eine Vielzahl der Mitglieder. Anders kann es nicht erklärt werden, daß man Gottsched die von ihm erwartete Rückenstärkung verweigerte, als er von einem der Mitglieder unfair angegriffen wurde. Überraschend ist das allgewaltige Haupt der Sozietät daraufhin zurückgetreten und hat zugleich die Gesellschaft verlassen.« (Döring: Gottsched (wie Anm. 578), S. 83f.) - Vgl. auch Ernst Kroker: Gottscheds Austritt aus der Deutschen Gesellschaft. In: Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft. Bd. 9 (1902), S. 3 - 5 7 . 634 Schmidt an Gottsched am 18. Juni 1737. In: UB Leipzig, Ms 0342 (Gottsched-Korrespondenz), IV (1737/38), lOlr-v. «5 Zitiert nach Wehr (wie Anm.215), S. 129f. 636 UA Lpz. Theol. Fak. 60. [Censur theologischer Bücher 1736-38)], 23r-23v.

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21. Der Kontakt zu Gottsched

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Zudem behaupte Gottsched, ein geistlicher Redner solle »die Sittenlehre mehr aus der Vernunft, als aus der Schrifft, einzuschärffen suchen«. 637 A m 12. September 1 7 3 7 erhielt nun auch Gottsched vom Pedell der Universität den königlichen Befehl, am 25. Oktober »zu rechter früher Zeit in Person« am Dresdner Hof zu erscheinen, wo ihm eine »Vorhaltung« gemacht werden sollte. 638 Das lange und demütigende Verhör in Dresden hat seine repressive Wirkung sicher nicht verfehlt, 6 3 9 auch wenn Gottsched selber zunächst einen eher erleichterten Bericht an seinen befreundeten Aletophilen in Berlin, Graf von Manteuffel, schreibt. 640 Darüber hinaus hatte er am 25. Februar 1 7 3 8 auf königlichen Befehl auch noch einmal vor dem Universitätskonzil in Person zu erscheinen, um dort »der Publication und Expedition eines allergnädigsten Rescripts [zu] gewarten«, womit er nicht mehr gerechnet hatte. 641 Der so innerhalb der Universität öffentlich vorgetragene, den Professor demütigende königliche Befehl in Auswertung der Dresdener Vorhaltung lautete auf eine künftige

theologische

Zensur seines rhetorischen Werkes durch die Leipziger Fakultät, also Gottscheds

Kollegen und Erzfeinde, und untersagte ihm bei Strafe seiner Suspension eine Neuauflage der Schrift ohne Einhaltung der von diesen vorzuschlagenden streng vorgeschriebenen Ä n derungen. 642 Der Redakteur Steinwehr wurde von den Leipziger Theologen wegen einer weiteren Rezension in demselben Schreiben auch angezeigt und mußte sich ebenfalls zu einer Vorhaltung in Dresden einfinden. 6 4 3 637 638

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Ebd. UA Lpz. Rep. I/XIX/I/48. Acta Johann Christoph Gottscheden, Prof. Publ. und M.Wolf Balthasar Adolphen von Steinwehr 1737-38, lr. Vgl. Protokoll über das Verhör Gottscheds vor dem Oberkonsistorium am 25. September 1737. Sachs. Hauptstaatsarchiv Dresden. Loc. 10752. Acta M. Wolff Balthasar Adolph von Steinwehr zu Leipzig betr. 1737, 20r-33r. Abgedr. in: Döring: Die Philosophie Leibniz' und die Leipziger Aufklärung (wie Anm. 106), S. 141-152 (Quellenanhang). - Wenn Danzel sich angesichts der in Gottscheds späterem Briefwechsel mit Manteuffel deutlich aufscheinende Ängstlichkeit und Vorsicht des Professors mokiert, angesichts einer geplanten Publikation des Grundrisses einer Lehrart ordentlich und erbaulich zu predigen, die zumal in Berlin und anonym und auch erst 1740 erscheinen sollte, so hat er eben die theologische Brisanz eines solchen Eingriffs in die Kompetenz der Theologie in der damaligen Zeit nicht zu sehen vermocht. Vgl. Danzel: Gottsched und seine Zeit (wie Anm. 578), S. 4 0 - 4 7 . Gottsched an von Manteuffel am 3. Oktober 1737. UB Leipzig, Ms 0342 (Gottsched-Korrespondenz), IV (1737/38), 170r-171v. - Der Brief ist im Auszug abgedruckt bei Döring: Die Philosophie Leibniz' und die Leipziger Aufklärung (wie Anm. 106), S. 153 (Quellenanhang). - Daß Gottsched nach überstandenem Verhör mit dem Ergebnis ganz zufrieden war, nämlich mit der bloßen Auflage, die monierten Stellen in einer Neuauflage wegzulassen, scheint ganz plausibel, wenn man die Drohung, ihn zu suspendieren, bedenkt. UA Leipzig. Rep. I/XIX/I/48. Acta Johann Christoph Gottscheden, Prof. Publ. und M. Wolff Balthasar Adolphen von Steinwehr 1737-38, 9r. Ebd., lOr-lOv. Ebd. - Von Steinwehr entschuldigte sich zunächst mit der Leipziger Messe und den dadurch anfallenden Beschäftigungen und erhielt einen späteren Termin. Bei seinem Verhör verteidigte er sich recht erfolgreich dahingehend, daß seine Rezension durch die theologische Zensur gegangen sei, so daß er sich nichts vorzuwerfen hätte. Die Theologische Fakultät hatte deswegen eine königliche tadelnde Nachfrage erhalten. Der auffallende Gleichmut von Steinwehrs angesichts des Verhörs mag

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Gottscheds Brief an Schmidt vom August ist wiederum sehr wohlwollend, bietet aber diesmal eine ausfuhrlichere und grundsätzlichere Kritik, wie leider nur aus dem darauf antwortenden Schreiben Schmidts vom 16. September 1737 deutlich wird. 644 Schmidt dankt zunächst fiir die fortdauernde Gewogenheit Gottscheds und gesteht freimütig, daß er bei der Einrichtung seiner Bibelübersetzung in der Tat gar keine politischen Rücksichten, insbesondere nicht auf die Theologen genommen habe. Gottsched scheint also wie schon zuvor Mosheim versucht zu haben, dem Wertheimer politisch-taktische Ratschläge zu geben. Schmidt gibt Gottsched auch recht, wenn dieser ihm offenbar - wie Mosheim - vorwirft, daß die Ubersetzung »ganz anders müßte eingerichtet werden«, um die Gottesgelehrten und andere Leute, die nicht in der mathematischen Lehrart bewandert seien, zu gewinnen. Schmidt gesteht nun, »daß ich bey meiner Arbeit nicht im geringsten auf alle diese Personen gesehen habe«.645 Es folgt dann aber zur Erklärung seiner naiven Vorgehensweise eine sehr erhellende Darstellung seiner Intentionen, deren Aufrichtigkeit durch die Privatheit eines Briefes an einen Gleichgesinnten gesichert ist. Die Ursache fiir seine Einrichtung der Übersetzung sieht er darin, daß er seine »Sache auf feste Gründe setzen wolte, und wol wußte, daß die Gottesgelehrten nicht im Stande seyn, davon zu urtheilen«. 646 Deshalb habe er geglaubt, »sie würden entweder, wie sie es bishero bey der Wölfischen Weltweisheit gethan, sich in meine Sache nicht mischen, oder bey ihren Anfällen nicht fortkommen und zu Schanden werden. Erste Gründe, dachte ich, müßten bey dem Heutigen wachsenden Verstand die Menschen doch endlich aushalten.« Schmidt will sich daher nur »die Verständigen und Redlichen zu Richtern« vorgestellt haben, »und bey diesen gedachte ich mit meinen Gründen auszukommen, und [...] mich dahero, mit Zeugnissen zu behelfen. Die Anmerkungen solten, meinen Gedanken nach, die Übersetzung bey [jenen] rechtfertigen, und Leute von gemeinen Verstand sollten dieselbe aus dem Grund des Zeugnisses der Verständigen fiir gültig ansehen, ohne auf die Anmerkungen zu sehen, und ihnen zu Gefallen wolte ich hernach eine Auflage ohne Anmerkungen besorgen. Ich arbeitete oft in meinem Sinne sonderlich für Gottesgelehrte, welche zugleich Weltweise sind.«647

Er sieht inzwischen vollkommen ein, sicher auch wegen gleichlautender Vorhaltungen Mosheims, 648 daß seine Vorgehensweise politisch außerordentlich naiv gewesen ist und sucht seinen Fehler gutzumachen:

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sich auch aus seiner schon bevorstehenden Berufung an die Universität Göttingen erklären, wodurch er der sächsischen Obrigkeit entraten konnte. Vgl. auch den freundlich anteilnehmenden Brief Reinbecks an Gottsched vom 22. März 1737: »Übrigens ist mir leid, daß man mir hier hat sagen wollen, der Herr von Steinwehr habe wegen recension der Wertheimischen Bibel einigen Verdruß bekommen.« (In: ÜB Leipzig, Ms 0342 (Gottsched-Korrespondenz), IV (1737/38), 39r.) Schmidt an Gottsched am 16. September 1737. ÜB Leipzig, Ms 0342 (Gottsched-Korrespondenz), IV (1737/38), 148r-150v. Ebd., 148r. Ebd. Ebd., 148v. Mosheim hatte gleich zu Anfang bereits die Wirkung einer Publikation der Wertheimer Bibel kalkuliert: »Dieser neue Übersetzer hat, wie ich sehe, viele neue und von dem gemeinen Wege sehr

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»Allein, da die unwissenden Geistlichen noch zur Zeit bei den Regenten die Oberhand haben: so haben E. Hochedelgeb. vollkommen Recht, daß, um ihrentwillen die Zeugnisse nöthig sind. Ich habe dahero in der beygelegten Schrift, Gründliche Vorstellung genannt, mich derselben bedient, und solche Zeugnisse angeführt, welche vielleicht [Kraft] genug haben werden, um meine Unschuld bey den gegenwärtigen Verfolgungen zu retten.« 649

Schließlich kommt Schmidt aber auf seine Anmerkungen zu sprechen, über die ihm Gottsched wohl selber geschrieben hatte, ohne aber das verlangte Gutachten der Deutschen Gesellschaft zu schicken. In dieser Frage ist der Wertheimer deutlich weniger nachgiebig und verteidigt seine Fassung mit guten Argumenten: »Inzwischen glaube ich, daß die gegenwärtige Einrichtung der Anmerckungen auch ihren guten Nutzen hat und auf gewisse Weise unentbehrlich ist. Einmal mußten sie zu meiner rigorosen Versicherung dienen, daß meine Übersetzung mit der Grundsprache übereinstimme, welches ich ohne einen förmlichen Erweis nicht erlangen kan. Eben zu der Absicht sind sie auch nöthig für die Weltweisen und Gottesgelehrten, welche beides zugleich sind. Und meine Gegner würden ohne dieselben unfehlbar geschrien haben: ich hätte eine ganz andre Bibel aus meinem Kopf gemacht und gäbe dieselbe fiir Gottes Wort aus, da sie doch itzo aus den Anmerckungen so viel erkennen, daß ich eine Gleichgültigkeit zwischen beyden behaupte, welche sie vielleicht an manchen Orten wenigstens klar einsahen. Über dieses haben auch die Anmerckungen und die darinnen gegebenen Erklärungen den Nutzen, daß die geoffenbarten Wahrheiten dadurch noch und noch mit den Gründen der Wissenschaften verbunden werden, wie man in der Weltweisheit die Wahrheiten auch unter die gemeinen Begriffe zu bringen sucht, welches unumgänglich nöthig ist, wenn man eine gründliche Gottesgelehrsamkeit ausarbeiten will, und sich sonst bey der großen Anzahl der göttlichen Schriften, sonderlich in einer solchen Menge figürlicher Begriffe, auf einmal fast unmöglich thun läßt. Diese Verbindung, wovon ich hier rede, ist das Hauptstück, worauf die Wahrheit unserer Religion beruht, und wodurch aller Naturalismus, Deismus, etc. über den Haufen geworfen und der

abweichende Meinungen. Gingen diese neuen Erklärungen bloß auf solche Stellen, worin eben der Haupt-Beweiß von den Grundlehren unsrer Kirche nicht gesuchet wird, so hätte die Sache nicht viel zu bedeuten. Man würde den Zorn der Leute, die durchaus nichts neues dulden wollen, überstehen: und die bescheidenen und vernünftigen würden entweder gar nicht oder doch mit Glimpf ihr Gutachten sagen. Aber es lässet, als wenn diese Übersetzung denen Oettern, die alle Lehrer unsrer Kirchen für Gründe des Glaubens ansehen, die Kraft zu beweisen nehmen werde. [...] und ich mutmasse, daß bey denen Propheten und in den Psalmen viele solcher Auslegungen vorkommen werden, die sowohl den friedfertigen, als den hitzigen Lehrern unsrer Kirchen kein geringes Aergerniß und Anstoß geben könnten. Daher ist zu befürchten, daß sich beide Theile gegen diese neue Erklärung vereinigen, und dieselbe für Socinianisch und der geoffenbahrten Warheit höchstschädlich ausgeben möchten. Indeß sind der Streitigkeiten genug in unsrer evangelischen Gemeine! Und wir haben alle Ursache dahin zu sehen, daß unsre Wiedersacher nicht neue Gelegenheit bekommen, unsre Kirche als ein verworrenes Babel auszuschreyen, worin alles, was noch so gewiß, umgestossen und zerrüttet wird.« (Mosheim an Höflein am 6. Juli 1733. In: Mosheim/Schlegel (wie Anm. 17), S. IVII.) - Mosheim schlägt deshalb vor, die Arbeit nicht zu veröffentlichen oder doch nur »eine klare und deutliche Auslegung der Bibel« zu liefern. - Auch später mahnt er Schmidt, die Übersetzung ruhen zu lassen, um die hitzigen Gemüter nicht noch mehr aufzubringen. Vgl. Mosheim an Schmidt am 26. April 1736. In: Ebd., S. XXIII. 649

Schmidt an Gottsched am 16. September 1737. UB Leipzig, Ms 0342 (Gottsched-Korrespondenz), IV (1737/38), l49r.

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Wertheimer Bibel ewige Streit zwischen Vernunft und Offenbarung muß gehoben werden. Dieses sind die Dinge, worauf ich denke, und wozu ich mich und andre durch meine Anmerkungen gerne zubereiten wolte.« 650

Zuletzt gibt Schmidt auch noch einen Bericht zum aktuellen Stand seines Prozesses. Er hat einige Hoffnung in seiner Sache, wegen einer inzwischen vor allem auf Betreiben Höfleins zustande gekommenen Verbindung zum Ansbacher Hof (wo dessen Bruder Kanzleisekretär war). Zwar sei vom Reichshofrat am 12. Juli 1737 aus Wien ein »excitatorium« an das fränkische Kreisausschreibamt ergangen, d. h. an die beiden kreisausschreibenden Fürsten von Bamberg und von Ansbach, wonach diese seine Auslieferung an den Ort einer Gerichtsverhandlung betreiben sollten. Der protestantische kreisausschreibende Markgraf Karl Wilhelm Friedrich von Brandenburg-Ansbach habe jedoch »für nöthig befunden, an die mächtigsten protestantischen Stand zu schreiben«, »um dieselben um dero Beystand in dieser Sache, welche die Religionsfreyheit angeht, anzuflehen«. Schmidt kann sogar schon über positiv erfolgte Antworten berichten, weshalb er davon ausgeht, daß die Sache nun endlich vor das Corpus evangelicorum beim Ständigen Reichstag nach Regensburg gebracht werde, »welches sich meiner annehmen und den Proceß von dem Reichshofrath abzuführen trachten wird«. Sogar scheine sich inzwischen die Auffassung des preußischen Königs gewandelt zu haben, der ja durch seine Anzeige beim Reichsfiskal erst den Prozeß beim Reichshofrat zu Wien ausgelöst hatte. Schließlich legt Schmidt erneut eine Verteidigungsschrift für Gottsched bei, die Gründliche Vorstellung, die diesmal dem Corpus evangelicorum und »dem gesamten Reichstag« in Regensburg zur Unterrichtung dienen sollte. 651 Schmidt setzt inzwischen offenbar alle Hoffnung, aus seiner Gefangenschaft zu kommen, auf die politische Entscheidung des Corpus evangelicorum, die gerichtliche Untersuchung an einen protestantischen Ort zu ziehen, um einen fairen Gerichtsprozeß zu garantieren. Dieses Ziel soll durch die Initiative des Ansbacher Hofes unter den protestantischen Höfen des Reiches bewirkt werden. Die von Schmidt für die protestantischen Stände verfaßte Schrift gilt also erklärtermaßen einer politischen »repräsentativen Öffentlichkeit« und nicht nur der »privat-bürgerlichen Öffentlichkeit« des Buchmarktes, worauf im folgenden Kapitel näher eingegangen wird. Klar ist aber, daß beide Öffentlichkeiten für ihn in einem engen Zusammenhang stehen und er auf beiden Feldern agiert. 652 Indem er nämlich abschließend gegen Gottsched

650 651 652

Ebd., I49v. Ebd., 150r. Das widerspricht gerade der übrigens nicht erst durch Habermas und Koselleck aufgekommenen, aber durch sie bestärkten Meinung, die bürgerliche Öffentlichkeit habe sich zunächst in literarischen Zirkeln und Gesellschaften, also in unpolitischen »Nischen« jenseits einer »repräsentativen Öffentlichkeit« der politschen Macht vorbereitet, wobei die bürgerliche Öffentlichkeit erst zur Durchsetzung kommt und politisch wird mit dem Abdanken der vorausgehenden repräsentativen Öffentlichkeit des ständischen und des absolutistischen Staates. Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuauflage: Suhrkamp: Frankfurt/M. 1990; sowie Reinhard Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (zuerst: Freiburg, München 1959). Suhrkamp: Frankfurt/M. 1973; Ernst Man-

22. Übersetzungsprinzipien in den Beyträgen

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Historie

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die Folgen seiner Wertheimer Bibel bedauert, die daraus für die Wölfische Philosophie entstanden seien, ist er doch im Grunde überzeugt, daß der erfolgreiche Ausgang seines Prozesses durch die Intervention des Corpus evangelicorum auch Nutzen für die Anerkennung und allgemeine öffentliche Zulassung von Wolffs Philosophie bringen werde: »Vielleicht bringt ihm mein Sieg wieder Vortheil. [ . . . ] Ich glaube, die Gegenparthey wird bey diesem Streiche ziemlich geschwächt werden, weil ihre Verbindungen und Bosheit nunmehro öffentlich an den Tag kommt.« 6 5 3 Trotz der so endlich gelungenen Verbindung zu Gottsched und zur Deutschen Gesellschaft in Leipzig und trotz ihrer offensichtlichen inhaltlichen Ubereinstimmung in wesentlichen Positionen zum Verhältnis von Glauben und Vernunft, natürlicher Religion und Offenbarung und über die Notwendigkeit, die Sprache auch in der Theologie klar und deutlich zu gestalten, bricht damit der Briefkontakt in der Folge ab, was angesichts der sich nun beschleunigenden Vorgänge der theologischen Verfolgung gegen Gottsched und Steinwehr von Seiten des sächsischen Kirchenrats und der in Leipzig zugleich wachsenden Spannungen in der Deutschen Gesellschaft sowie des Prozesses gegen den Wertheimer nicht unerklärlich ist. Jedoch scheinen die Kontakte der Wertheimer nach Leipzig deshalb nicht abgerissen zu sein.

22. Die Diskussion von Ubersetzungsprinzipien in den Beyträgen zu einer Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit von einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig herausgegeben Indizien dafür, daß sie in Gottsched und in seinem Kreis geeignete Ansprechpartner finden würden, konnten »die Wertheimer« aber auch schon zuvor anhand der Lektüre der Beyträge

zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit gewinnen, die von »einigen Mitgliedern« der Deutschen Gesellschaft seit 1732 in Leipzig herausgegeben wurden. Diese Zeitschrift begann mit einem Band programmatischer Beiträge zur deutschen Spra-

653

heim: Aufklärung und öffentliche Meinung. Studien zur Soziologie der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert (Erstausgabe 1933). Hg. Norbert Schindler. Frommann-Holzboog: Stuttgart-Bad Cannstatt 1979 (Kultur und Gesellschaft. Neue historische Forschungen, 4). Vgl. dazu auch die Einleitung S . 9 9 106. Dieser Auffassung ist von Historikerseite aufgrund von empirischen Befunden bereits sehr ernsthaft widersprochen worden: Vgl. insbesondere Gestrich: Absolutismus und Öffentlichkeit (wie Anm. 342); sowie Esther-Beate Körber: Öffentlichkeiten der frühen Neuzeit. Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen öffentlicher Kommunikation im Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618. De Gruyter: Berlin u. New York 1998. - Ungeachtet dessen wird diese These von germanistischer Seite nach wie vor vertreten, vgl. Öffentlichkeit. Geschichte eines kritischen Begriffs. Hg. Peter Uwe Hohendahl unter Mitarbeit v. Russell A. Berman, Karen Kenkel u. Arthur Srum. Metzler: Stuttgart-Weimar 2000. Schmidt an Gottsched am 16. September 1737. UB Leipzig, Ms 0342 (Gottsched-Korrespondenz), IV (1737/38), 150v.

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che, der dem Oberhofprediger am Dresdner Hof und sächsischen Kirchenrat Bernhard Walther Marperger mit einer überraschenden Begründung gewidmet war: Da in monarchischen Staaten anders als in der Demokratie die Kunst der Beredsamkeit vom Marktplatz verschwunden wäre, so hätte sie ihre Heimstatt auf der Kanzel der christlichen Kirche gefunden, weshalb es nunmehr insbesondere der Kirche obliege, ihre Ausbildung zu befördern. Schließlich hätte es Gott gefallen, seine Botschaft nicht durch Gewalt und durch das Schwert zu verbreiten, sondern durch Überzeugung, durch das Wort, so daß eben auch darum der Kirche am meisten an einer Ausbildung der Beredsamkeit auf der Kanzel gelegen sein müsse. 654 Ein vielbeachtetes Thema dieser Beyträge war neben anderen Sprachdiskussionen natürlich auch das Ubersetzen von Texten in die deutsche Sprache - gleich das allererste Stück von Gottscheds Freund Johann Georg Lotter handelt ganz allgemein »Von Deutschen Übersetzungen der meisten alten lateinischen Scribenten«. 655 In den folgenden Stücken sind die des Spinozismus verdächtigten Johann Georg Wächter 656 und Theodor Ludwig Lau 657 mit Aufsätzen zur deutschen Sprache und auch mit Übersetzungen vertreten; es findet sich Gottscheds Besprechung der deutschen Übersetzung von Miltons Verlorenem Paradies (durch Bodmer) 658 und eine von Ovids Metamorphosen;659 Winckler schrieb zwei Abhandlungen über die Schönheit der deutschen Sprache in Absicht auf ihre Bedeutung sowie über die Vorteile, die die deutsche Sprache erkennen lassen würde, wenn man den Unterschied der deutschen Wörter hinsichtlich ihrer Bedeutung berücksichtigen würde. Im 2. Stück wird einer Schrift des sächsischen Kirchenrats Valentin Ernst Löscher gedacht, es werden weitere Beiträge zur deutschen Sprache, ihrem Wortschatz, ihrer grammatischen Struktur, ihren Eigenheiten und ihrer Geschichte veröffentlicht, sowie Vorschläge zur Aufrichtung weiterer Deutscher Gesellschaften vorgetragen. Schon im dritten Stück erscheint ein umfangreicher und als solcher programmatischer Auszug der von Leibniz' Sekretär Eckhard posthum 1717 veröffentlichten Leibnizschen Collectanea Etymologica, der im sechsten Stück fortgesetzt 654 Yg] Beyträge zu einer Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit von einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig herausgegeben. 1. Bd. 1. St. Widmung für Bernhard Walther Marperger, Oberhofprediger und Kirchenrat (unpag.). Breitkopf: Leipzig 1732 (im folg. Beyträge). 655 Ebd., S. 1 ff. 656 Auszug aus: Johann Georg Wächters Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1727. In: Beyträge. 4. Bd. 13. St. 1735, S. 4 9 - 7 4 . - Dazu heißt es von den Herausgebern nur lakonisch, man sei lange willens gewesen, einen Auszug aus diesem gelehrten und trefflichen Buch zu geben und tue dies nun endlich. 657 Herrn Theodor Ludwig Lau, Schreiben an den Herausgeber dieser Beyträge. In: Beyträge. 4. Bd. 13. St., S. 2 3 6 - 2 5 7 . 658 Das verlustigte Paradeis, aus Johann Miltons, Zeit seiner Blindheit in Englischer Sprache abgefaßtem unvergleichlichen Gedichte, in unser gemein deutsch übertragen und verlegt durch E. G. V. B. In: Ebd. 1. Bd. 1. St., S. 1 - 5 4 . - Johann Miltons Verlust des Paradieses, in ungebundener Rede übersetzt. In: Ebd. l . B d . 4.St., S. 8 5 - 1 0 4 . 659

Anmerkungen über die von Meister Albrecht verdeutschten Metamorphoses des Ovidius. In: Ebd. l.Bd. 6. St., S. 1 1 8 - 1 2 9 .

22. Übersetzungsprinzipien in den Beyträgen zu einer Critischen Historie

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wird. 660 Darin wird auch auf Schriften Claubergs und Bisterfelds aufmerksam gemacht, die die Wurzeln der deutschen Sprache aus philosophischen Gründen ableiteten. Im 10. Stück werden von Gottsched 1734 Thomasius' kleine deutsche Schriften besprochen. 661 Im 9. Stück, das etwa im Frühsommer 1734 herauskam, erschien sogar ein umfangreicher und grundlegender Aufsatz des Subconrectors zu Halberstadt Georg Venzky unter dem Titel Das Bild eines geschickten Übersetzers.662 Den Sinn einer Übersetzung sieht der Autor, der sich auf seine eigenen Erfahrungen im Übersetzen aus dem Englischen beruft, 663 interessanterweise nicht schlechthin in der Übertragung einer Sprache in eine andere, sondern definiert das Ziel einer Übersetzung ganz allgemein dahingehend, »daß so wohl Unwissende, als auch in der Grundsprache einer Schrift ungeübte eben die Sachen in einer ihnen bekannten Sprache mit grösserem Nutzen und Vergnügen lesen können.« 664 Darunter würden also auch Übersetzungen aus einer Fachsprache in eine populäre Schreibweise oder aus einer Mundart in die Hochsprache und umgekehrt fallen. Der Autor beruft sich ausdrücklich auf Luther als einen bedeutenden Übersetzer bzw. Dolmetscher, der sich auch selbst über die Arbeit des Übersetzens geäußert habe. Venzky unterscheidet die Übersetzung nicht nur von der zu übersetzenden Originalschrift, sondern außerdem von einer Umschreibung oder einer Erklärung des Originaltextes, wobei er gerade jene Bestimmungen diskutiert, die dann auch Johann Lorenz Schmidt in der Vorrede zu seiner Bibelübersetzung thematisiert. Eine Übersetzung folge dem Original zwar auch nicht Wort für Wort, aber doch Satz für Satz, wohingegen eine Umschreibung die ursprüngliche Schrift mit mehr Worten und nötigen Erläuterungen wiedergebe und eine »Erklärung« die Worte und Sachen des Originaltextes sogar deutlicher mache als dieser selbst, die Zusammenhänge der Sachen aufzeige und Gründe anführe. Jedoch könne eine glückliche Übersetzung mitunter die Stelle des Originals, der Umschreibung und der Erklärung einnehmen, wenn der Verstand des Originals deutlich und vollständig ausgedrückt würde, die Verwandlung aus einer verworrenen Schreibart in eine angenehme und deutliche gelungen sei, also dunkle Worte durch deutlichere, nachdrücklichere und geschicktere Worte ersetzt worden wären, »zumal wenn kurzgefaßte und gründliche Anmerkungen angehängt werden«. 665 Im weiteren unterscheidet Venzky Arten des Übersetzens danach, ob man dem Text auf dem Fuße folge, dabei allerdings auch die Eigenarten der Sprachen beachten müßte, ob man den Verstand des Vorbildes ausdrücke, aber bei Worten und Sachen sich einer größeren Freiheit bediene, ob man auch wohl neue Sachen hinzufüge oder (anstößige Sachen) weglasse und schließlich ob man Anmerkungen dazusetze. Die erste Art seien die natürlichsten Übersetzungen, die zweite die freyen Übersetzungen, die dritte die vermehrten, die vierte die

Ebd. 1. Bd. 3. St., S. 3 5 7 - 4 1 1 , sowie 2. Bd. 6. St., S. 293-308. Bd. 3. 10. St., S. 3 4 8 - 3 5 9 . 662 Ebd. 3. Bd. 9. St., S. 5 9 - 1 1 4 . 663 Venzky hat u. a. Shaftesbury übersetzt. Vgl. Wehr (wie Anm. 215), S. 9 9 - 1 0 2 . 664 Beyträge. 3. Bd. 9. St., S. 63. « 5 Ebd., S. 64 f. 660 661

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verstümmelten und die fünfte schließlich die mit Anmerkungen erläuterten oder die vollständigsten Übersetzungen. Bei dieser Einteilung wird allen Arten ihr besonderer Nutzen zugesprochen, aber »unserer heutigen gebräuchlichsten Art zu übersetzen«, treulich nach dem Wortverstande zu übersetzen und Anmerkungen hinzuzusetzen, der größte Vorzug eingeräumt, weil dabei Verstümmelungen und Zusätze vermieden würden. 666 Zugleich werden aber Ubersetzungen, die sich allein an die Worte halten und ohne Beachtung der Eigenart der Sprachen bloß Wort für Wort übersetzen, als dunkle und falsche, daher verwerfliche Übersetzungen überhaupt abgelehnt. 667 Ausdrücklich kommt der Autor auch auf das Bibelübersetzen zu sprechen, wobei sein Bericht über die Vielzahl der geglückten und mißglückten Versuche die absolute Stellung der Lutherischen Übersetzung einigermaßen relativiert.668 Auch sogar in dem folgenden Lob auf die Lutherische Bibelübersetzung wird klar, daß es sich auch bei dieser um eine menschliche und daher verbesserbare Arbeit handle, wenn auch die bisher bestgelungenste: »Ob es nun zwar alle menschliche Kräfte übersteiget, die Schrift also zu übersetzen, daß sie dem Originale völlig gleich wäre, in dem es ja bey menschlichen Schriften nicht wohl möglich ist: So ist doch Luthers Ubersetzung so beschaffen, daß die Welt keine Übersetzung gesehen, die mit dieser an Zierlichkeit und Genauigkeit überein käme, wie L. Oslander geurtheilet hat, und die desfalls angewandte grosse Mühe hoffen läßt, davon sein Brief vom Dollmetschen nachzusehen ist. Und ob sie gleich noch könnte verbessert werden, wie die Franzosen, Engelländer, Herr Steenbock in Dannemark. und Herr Franke u. Triller unter uns versuchet haben: so verbiethen doch die häufigen Abdrücke und die zu besorgende Verwirrung eine durchgängig geänderte Übersetzung.« 669

Obwohl sich also der ganze Beitrag wie eine stillschweigende Rechtfertigung der Übersetzungsprinzipien des Wertheimers liest, zu einem Zeitpunkt, da die Übersetzung bereits fertiggestellt und an ausgewählte Gutachter versandt, aber noch nicht veröffentlicht ist, wird doch mit diesem Satz jedwedes grundlegend neues Übersetzungsvorhaben abgelehnt. Venzky formuliert bei dieser Gelegenheit die je besonderen Anforderungen an einen Übersetzer der unterschiedlichen Textarten wegen der unbedingt vorauszusetzenden Kenntnis des historischen Kontextes:

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Ebd., S. 66. Ebd., S. 67. »Man hat geistliche, man hat weltliche Bücher, übersetzet. Es sollte fast scheinen, daß von der heil. Schrift mit Übersetzen der Anfang gemachet worden wäre. Schon dreyhundert Jahre vor Christi Geburt, ward das Alte Testament auf des berühmten Egyptischen Königs, Ptolomäi, Befehl und Veranstaltung aus dem Hebräischen ins Griechische übersetzet, davon Humfr. Prideaux in seinem gelehrten Werke von der Übereinstimmung der Schrift mit weltlichen Scribenten, am gründlichsten gehandelt hat. Fast zu ebender Zeit ward es von Onkelos und Jonathan ins Chaldäische Übersetzt, bis auch unser theurer Luther im Jahre 1522, anfieng sie in unsere Sprache einzukleiden, worauf die anderen abendländische Übersetzungen gefolget sind.« (Ebd., S. 78 f.) Ebd., S. 79 (Hervorhebung - U. G.).

22. Übersetzungsprinzipien in den Beyträgen zu einer Critischen Historie

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»Als wer theologische Bücher übersetzen will, der muß die Grundsprachen, die Alterthümer der Griechen und Hebräer verstehen. Wer die alten Scribenten übersetzen will, der muß ihre Fabeln, Erdichtungen, Göttergedichte, Kriegesverfassungen, Regierungsformen, Alterthümer, Gebräuche und die alte Erdbeschreibung, samt der Historie wissen. Der Mangel der Wissenschaft bey vielen Übersetzungen ist eine Ursache vieler Fehler, oder wohl gar mancher Mißgeburten von Übersetzungen.«670 Unter Berufung auf den Hallenser pietistischen Theologen Johann Jacob Rambach fügt Venzky auch die im Fall der Übersetzung der Hl. Schrift besonders nötige Anrufung des Hl. Geistes und Beistands Gottes hinzu. 671 Für alle Textsorten aber gelte, daß man sich mit dem Verfasser und seinem Gegenstand vertraut machen sollte, mit dem Lebenslauf des Autors, dem Ort seiner Studien, seinen Bedienungen und Würden, den Begebenheiten und Anfechtungen in seinem Leben, mit seinen übrigen Schriften und mit seinen Meinungen, Tugenden und Fehlern, Neigungen, Affekten und Leidenschaften. 672 Außerdem müsse man sich auch mit der ganzen Einrichtung des zu übersetzenden Werkes vertraut machen, mit seiner Lehrart und seinen Auffassungen, wobei es hilfreich sei, den vom Verfasser angeführten weiteren Autoren nachzugehen. Ais Autorität für alle diese Empfehlungen wird der berühmte, aber umstrittene Bibelhermeneutiker Hermann von der Hardt angeführt. 673 Venzky warnt angehende Übersetzer davor, wegen des Ansehens zu übersetzender Autoren zu respektvoll zu sein, man möge vielmehr ohne alles Vorurteil, ohne Ansehen der Person den allgemeinen Regeln folgen. »So viel als möglich ist, folget man dem Originale auf dem Fusse nach; wo aber keine wörtliche Übersetzung möglich ist, ist man nur bemühet, den Verstand zu treffen.« 674 Keinesfalls, und wieder wird die Autorität von der Hardts bemüht, dürfe knechtisch Wort fiir Wort übersetzt werden, wenn dadurch der eigentliche Verstand nicht getroffen oder die eigentümliche Terminologie des Autors verletzt werde. Bei größeren Dis-

670 671 672 673

674

Ebd., S. 94. Ebd., S. 96. Ebd., S. 98. Hermann von der Hardt (1660-1746) war ein zu seiner Zeit wegen seiner umfassenden Gelehrtheit hochberühmter Theologe. Er studierte an der Universität Jena die orientalischen Sprachen, insbesondere das Hebräische. Während des Ausbruchs der Pest ging er 1680 nach Hamburg, um bei dem dortigen berühmten Orientalisten Esra Edzard Hebräisch und Chaldäisch zu studieren. 1683 erlangte er in Jena die Magisterwürde und habilitierte sich. 1686 ging er nach Leipzig, neigte dem Pietismus zu, ging einige Zeit nach Dresden zu Spener. 1688 wurde er Geheimsekretär des Herzogs Rudolf August von Braunschweig, der ihm die Leitung seiner Privatbibliotheken in Braunschweig und Wolfenbüttel übertrug. Er erhielt eine Professur der orientalischen Sprachen an der Universität Helmstedt und wurde Propst des Klosters Marienberg. Seine Schriften sind außerordentlich zahlreich, darunter die damals ganz neuen Grammatiken der hebräischen und chaldäischen Sprache. Trotz seiner theologischen und sprachlichen Bildung waren seine Absichten stark von seinen mystisch-religiösen, weniger von wissenschaftlich-kritischen Neigungen geprägt. Eine Auflistung seiner über 200 Schriften bietet RathlefF: Geschichte Jeztlebender Gelehrten. l.Teil, S. 105-150; 4.Teil, S . 4 3 7 - 4 6 4 . Vgl. den Anfang dieser Auflistung in: G.W.Götten: Das Jetztlebende gelehrte Europa. 3.Teil. 3.St. Deetz: Celle 1740, S. 4 8 4 - 5 5 3 , sowie ebd. 4. St., S. 6 8 9 - 7 0 8 . Beyträge. 3. Bd. 9. St., S. 105.

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krepanzen müßten eben Anmerkungen hinzugefügt werden.675 Auch das entspricht genau den Prinzipien des Wertheimer Übersetzers. Venzky legt großen Wert auf die Verständlichkeit des Textes in der Zielsprache und beruft sich dazu wiederum auf die Autorität Rambachs, der fordere, die fremde Sprache eines Verfassers so zu übertragen, »daß er eigentlich scheine, unser Landsmann gebohren, nicht geworden zu seyn«.676 Das ist eben der Geist, aus dem auch die Wertheimer Übersetzung entstanden ist, wodurch auch die pietistischen Wurzeln des Wertheimers und die partielle Übereinstimmung der pietistischen Orientierung auf den Text der Bibel mit dem wolffianischen Streben nach klaren und deutlichen Begriffen, das Bestreben nach dem bestmöglichen Verständnis der Schrift, deutlich hervortreten. Gerade der Beitrag Venzkys, noch unbelastet von der folgenden Debatte, belegt, daß das Wertheimer Projekt unmittelbar aus den aktuellen Fragestellungen der Zeit entstanden ist und keineswegs das singuläre Werk eines skurrilen Einzelgängers darstellte. Im selben Stück erscheint auch noch Joh. Michael Hennens Vorschlag von Herausgebung der vier Evangelisten in die deutschen und deutschartigen Ubersetzungen, in Form einer polyglotten Ausgabe mit den Sprachen Gothisch, Angelsächsisch, Hochdeutsch, Plattdeutsch, Holländisch, Engelländisch, Schwedisch und Isländisch. Das Anliegen Hennens wird in dem dadurch gegebenen Vergleich der Gemeinsamkeit und der Verschiedenheiten der germanischen Sprachen gesehen, woraus Rückschlüsse über die Natur der Sprache gezogen werden könnten.677 Im elften Stück wird dann eine Ausgabe von des Willerami in Canticum Canticorum Paraphrasis gemina, prior Rhythmis Latinis, altera veteri lingua Francica,etc., Des Abts Willerams gedoppelte Auslegung des Hohen Liedes Salomonis, einmal in lateinischen Reimen, hernach in der alten fränkischen Sprache abgefasset; nebst verschiedenen Gelehrten Anmerkungen abermals herausgegeben von D. Johann Georg Scherzen, ö f f . Lehrer der Rechte zu Straßburg. Ulm 1726, in den Critischen Beyträgen besprochen.678 Willeram wird dafür gerühmt, nicht bloß eine Übersetzung des Hoheliedes geben zu wollen, sondern eine »Umschreibung (Paraphrasin)«. Ebenso wird er gelobt, nicht »den platten Worten« gefolgt zu sein, sondern »mehr dem Verstände [...] nachgegangen« zu sein.679 Auch an diesen Beiträgen wird deutlich, daß der Wertheimer mit seinen in der Vorrede seiner Bibelübersetzung wie auch in seinen in den folgenden Verteidigungsschriften vorgetragenen Regeln des Übersetzens ganz im Diskussionsspektrum des Leipziger Gottsched-Kreises bzw. auch der Deutschen Gesellschaften steht. Die Termini einer »freien Übersetzung«, einer »Umschreibung« oder »Erklärung«, die Forderung nach deutlichen Begriffen, nach einer Übersetzung nach dem Wortverstande statt knechtischer Bindung an die wortgetreue Übertragung »Wort für Wort«, die Empfehlung von Anmerkungen, die die Übersetzungsentscheidungen kommentieren sollen - all das gehört in diesem Kreis ebenso zum Gemeingut wie in Wertheim.

675 676 677 678 679

Ebd., S. 107. Ebd., S. 110. Ebd., S. 1 8 6 - 1 8 9 . Ebd. Bd. 3. 11. St., S. 3 7 1 - 3 8 7 . Ebd., S. 377.

22. Übersetzungsprinzipien in den

Beyträgen zu einer Critischen Historie

m

Zu den »Beyträgern« gehörten dieselben Personen, die mit Gottsched in Leipzig nicht nur in der Deutschen Gesellschaft, sondern auch in einer »philosophischen Gesellschaft« zusammenarbeiteten, seine »guten Freunde« Johann Georg Lotter, Wolf Balthasar von Steinwehr, Friedrich Wilhelm Stübner, Johann Friedrich May, Johann Heinrich Winkler und Johann August Ernesti.680 Einige wie Georg Venzky oder Heinrich Christian Lemcker hatten bereits ihre Stellen außerhalb Leipzigs angetreten. Schon durch diese personelle Übereinstimmung, aber vor allem durch die auf der Hand liegende inhaltliche Ubereinstimmung wird klar, daß die Wertheimer Bibel mit ihrem Erscheinen notwendig zum intensiven Gesprächsstoff dieses Kreises werden mußte. Im Zentrum dieses Leipziger Diskussionkreises standen gerade solche Themen, die das Verhältnis von Religion und Vernunft, von Offenbarung und Philosophie betrafen.681 Die von Gottsched in einem Vortrag in der Philosophischen Gesellschaft behandelte Frage, »[o]b man die geoffenbarte Theologie in mathematischer Lehrart vortragen könne«, kann als grundlegendes Thema aller gemeinsamen Diskussionen in dieser Zeit angesehen werden. Es ist also nicht verwunderlich, daß auch die Autoren der beiden vom sächsischen Kirchenrat als zu positiv befundenen Rezensionen in den Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen, Stübner und von Steinwehr, zu diesem Kreis gehörten. Angesichts dieser thematischen und personellen Zusammenhänge drängt sich die Frage nach einer möglichen Stellungnahme der Mitglieder der Deutschen Gesellschaft oder der »philosophischen Gesellschaft« in den Critischen Beyträgen zur Wertheimer Bibel geradezu auf, zumal eine solche dem Wertheimer durch Gottsched auch in Aussicht gestellt wurde. Die Tatsache, daß sich angesichts des sächsischen Verbots keine ausdrückliche Thematisierung des inkriminierten Buches in den Critischen Beyträgen findet, sollte dabei nicht vorschnell zum Abweisen der Frage führen. Es zeigt sich nämlich, daß die Leipziger Wolffianer keineswegs völlig verstummt sind, wie man aus der ängstlichen Haltung der deutschen Acta eruditorum oder dem trotzigen Selbstverzicht der Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen hinsichtlich einer weiteren Berichterstattung über die Wertheimer Bibel angesichts der Zensurmaßnahmen annehmen könnte. Zunächst aber erscheint noch Ende 1735, also noch vor dem sächsischen Verbot, mit dem 4. Beitrag des 13. Stücks der Critischen Beyträge eine deutliche, wenngleich nur implizite Parteinahme für die Wertheimer Bibelübersetzung. Das Mitglied der Deutschen Gesellschaft Lemcker entrüstet sich hier scheinbar gegen einen katholischen Autor und fuhrt gegen ihn den im lutherischen Sachsen ganz unnötigen Beweis, daß Luther kein Sprachverderber im Deutschen sey.682 (Bei diesem Lemcker, dem Konrektor an der Michaelisschule in

680 Yg[ Döring: Die Philosophie Leibniz' und die Leipziger Aufklärung (wie Anm. 106), S. 67 f. 681 »In allen diesen Texten bildet die Erörterung des Verhältnisses zwischen Glaube, Wissen, Offenbarung und Philosophie eine zentrale Fragestellung.« (Ebd., S. 67.) - Döring verweist auch darauf, daß in diesem Kreis auch Gottscheds Weltweisheit diskutiert wurde. In späteren Auflagen dieses Werkes habe Gottsched auch mehrere Abhandlungen aufgenommen, die er als Frucht dieser Diskussionen bezeichnete, darunter »Beweis, daß diese Welt die beste sey« und »Ob man die geoffenbarte Theologie in mathematischer Lehrart vortragen könne«. 682

Beyträge. 4. Bd. 13. St., S. 7 4 - 8 4 .

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Lüneburg, wird übrigens Schmidt auf seiner späteren Flucht ins Altonaer Exil Station machen. 683 ) Gegen die Beschuldigung Luthers führt Lemcker den großen Nutzen vor Augen, den die deutsche Sprache durch die Lutherische Bibelübersetzung erfahren habe und hält es geradezu für ein Zeichen der göttlichen Vorsorge, daß die deutsche Sprache in so kurzer Zeit zur Beförderung des großen Reformations-Werkes verbessert werden konnte, was durch Luthers Übersetzung der Bibel, vor allem aber durch ihre beständige weitere Verbesserung bewirkt worden sei, die Luther von der ersten Auflage bis an seinen Tod 20 Jahre später geleistet habe, wie aus dem Vergleich der verschiedenen Auflagen ersichtlich sei. In seiner Argumentation geht es Lemcker also nicht so sehr um eine pauschale Lobpreisung des Reformators, er setzt vielmehr dessen bei den Lesern der Critischen Beyträge ja ganz unbestrittene Autorität ein, um die Luther-Übersetzung in ihrer absoluten Geltung zu relativieren - insofern ja Luther selbst an ihr immer noch etwas zu verbessern fand. Luther habe deshalb »zur Aufnahme unsrer deutschen Sprache ein grosses beygetragen«, weil er, »wie klar erwiesen ist, sich jederzeit bemühet, seine Uebersetzung zu bessern, und mit derselben dem guten Geschmacke und der Mundart der Sprache immer näher zu kommen. Daß also seine Ubersetzung der Bibel mit eben solchem Rechte ein Grundbuch kan genennet werden; als es gewiß ist, daß er mit Hülfe verschiedener grosser und gelehrter Männer den größten Fleiß an dieses Buch, vor allen seinen andern Schriften, angewendet.« 684

Angesichts dessen war also nicht einzusehen, warum nicht auch künftig große und gelehrte Männer weiterhin an der Verbesserung der Übersetzung arbeiten sollten. Daß es Lemcker bei diesem hohen Lob des Reformators eben um diese relative, historische, zeitbedingte statt um eine von der lutherischen Orthodoxie angenommene absolute Vollkommenheit der Übersetzung ging, wird auch aus der abschließenden Formulierung deutlich, daß Luther es »zu einer merklichen Vollkommenheit nach den damaligen Zeiten gebracht« hätte. 685 Es ist unschwer zu erkennen, daß dieser kleine Aufsatz, der sich scheinbar bloß gegen den papistischen Verleumder des Reformators richtet, in Wahrheit eine Legitimation weiterer seriöser Arbeit an der deutschen Bibelübersetzung darstellt. Das 14. Stück, das erste von nur zwei 1736 (!) erschienenen Critischen Beyträgen, enthält eine Besprechung einer Übersetzung des Neuen Testaments 686 und bietet darin eine fast satirische Behandlung der Einwände gegen jene hermeneutischen Prinzipien und Übersetzungsregeln, die auch von Johann Lorenz Schmidt befolgt und in der öffentlichen Debatte bis dahin gegen ihn bestritten worden waren. Zwar wird der Sack geschlagen, jedoch ist der gemeinte Esel nur zu deutlich zu erkennen. Man wisse nicht, wer Herr Johann Jacob Junckherrott gewesen und wem es just drei Jahre zuvor eingefallen sei, diese Übersetzung zum Druck zu befördern; aber sicher sei in jedem Fall,

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Vgl. Spalding: Im Untergrund der Aufklärung (wie Anm. 12), S. I40f. sowie S. 144f. Beyträge. 4. Bd. 13. St., S. 84. Ebd. Das Neue Testament des Herren Jesu Christi, eigentlich aus dem griechischen Grundtext gedollmetschet und in das Teutsche übersetzet durch weyland Johann Jacob Junckherrott. Gedr. 1732. Zu haben bey Schäffer in Offenbach. In: Beyträge. 4. Bd. 14. St., S. 3 1 6 - 3 3 1 .

2 2 . Übersetzungsprinzipien in den Beyträgen zu einer Critischen

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»daß er ungemein geschickt gewesen, die deutsche Sprache durch unzähliche neugebackene W ö r t e r zu bereichern, die ordentliche Wortfügung durch eine dem griechischen gleichkommende Setzung zu zerlästern, und mit Wörtern, die deutsch seyn sollen, so unverständlich zu reden, daß Jacob Böhme mit seinen phantastischen Ausdrückungen noch eher kan verstanden werden, als ein einiger Satz aus dieser Dollmetschung.« 687

In der Tat ist diese Ubersetzung durch eine mehr als wörtliche Texttreue (da nämlich um der getreuen Wiedergabe selbst etymologischer Zusammenhänge von Wörtern im Griechischen deutsche Entsprechungen in Form von neuen Worten und Wortkombinationen gebildet werden) ein anschauliches und per se lächerliches Beispiel dafür, wie eine zu knechtische Anlehnung an den Wortlaut des Urtextes zu einem völligen Unverständnis der Übersetzung fuhren muß. Um diesen komischen Effekt den Lesern anschaulich vorzufuhren, wodurch faktisch die kritischen Einwände von Schmidts Gegnern gegen dessen Übersetzungsprinzipien ad absurdum gefuhrt werden, braucht der Rezensent nur einzelne besonders unverständliche Passagen aus dieser wörtlichen, allzuwörtlichen Übersetzung vorzutragen und die Lutherische Variante dagegen zu halten, um erst dadurch anzuzeigen, um welche - aus der Übersetzung schlechthin unerkennbare - Textstelle es sich überhaupt handelt. Wenn dem Wertheimer immer wieder vorgeworfen wurde, er habe zu frei übersetzt, indem er mitunter andere und auch mehr bzw. weniger Worte als im Grundtext gebrauche, so wird nun gezeigt, was knechtisches Kleben an den Worten für das Verständnis bedeuten kann, was es heißt, immer dasselbe Wort der Quellsprache durch immer dasselbe Wort der Zielsprache zu ersetzen. 688 So gebe der Übersetzer den Ausdruck ¿vyaoi'Qiu), cö', »wo der Lateiner gratias ago u. der Deutsche ich sage Dank oder ich danke sagen würde«, durch »ich stelle mich für das Wohl zu Dank« wieder, um dadurch den griechischen Ausdruck wortgetreu bis in den etymologischen Ursprung wiederzugeben; dem entspreche dann das Substantiv »Für das Wohl zu Dank Gestelletwerdung«, was zu deutsch eine schlichte »Danksagung« sein sollte. Interessant in Hinblick auf die Wertheimer Bibelübersetzung ist die Übersetzung des griechischen ,ayytXoc,' durch das deutsche Wort »Ankünder«, das mindestens eine herausfordernde Parallele zu Schmidts »Boten« hat. Junckherrotts Übersetzung der »Botschaft« ist entsprechend die »Angekündetwerdung«. 689 Bevor dann Beispiele für ganze Sätze dieser kuriosen Übersetzung gebracht werden, u. a. die Verse 11 und 12 aus dem 7. Kapitel des Römerbriefes, wird der Leser zu Recht gewarnt: »Ein jeder versehe sich mit einem recht ernsthaften Gesichte, damit er einen Satz ohne Lachen durchlesen könne.« Dann folgt als Beispiel der wahrhaftig unverständliche Worthaufen: »Dann die Sünde da hinaufgerütschetwerdung da abhin habende genommen dahin durch der da hinaufgehung da einhin hat verführet mich da aushin auch durch derselben mich hat getödtet da abhin bey dem geführetwerden da aufhin. Also beydes die zwar gesetztwerdung gesetzlich fest heilige auch die da hinaufgehung da einhin heilige auch gute.« 690

687 688 689 690

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

317 320. 320-322. 327.

380

Wertheimer Bibel

Der Beitrag über diesen höheren Unsinn hat sicherlich zu einem großen Gelächter unter Wolffianern und Sympathisanten des Wertheimers gesorgt. Resümierend heißt es dann, daß man an solchen Übersetzungen sehe, wie unsinnig die Forderung nach wortwörtlicher Übersetzung sei, da dabei der Verstand der Rede völlig untergehe, weshalb eine wirklich gute Übersetzung auf nichts als eine Übertragung der Begriffe durch »gleichgültige« Wörter, also durch Wörter, die die Begriffe in der Zielsprache ebenso wiedergeben wie die Wörter der Quellsprache. In völliger Übereinstimmung mit den Schriften des Wertheimers heißt es dann in aller Entschiedenheit: »Ein jeder vernünftiger Mensch, der nur irgendwie weis, was eine gute Übersetzung ist, wird gestehen, daß diejenige die vollkommenste und beste Übersetzung sey, welche den richtigen Ausdruck der Begriffe zur Absicht hat, und sich so wenig von der Sprache ihres Originals entfernet, als es ihr die Eigenschaft derjenigen Sprache erlaubet, in die sie übersetzt wird. Ein geschickter Übersetzer wird Ausdrückungen wählen, die seiner Sprache eigenthümlich sind, ob sie gleich zuweilen von dem Grundtexte etwas abzugehen scheinen. Er darf sich kein Gewissen machen, ein einiges Wort nach Beschaffenheit der Sachen an drey oder vier verschiedenen Stellen, wo es immer einen andern Verstand hat, auf drey oder viererley Art auszudrücken, wenn er in seiner Sprache kein gebräuchliches Wort finden kan, das aller dieser Begriffe fähig ist.« 6 "

Die von den Gegnern der Wertheimer Bibel immer wieder vorgebrachte Respektlosigkeit des Übersetzers gegen Luther und seine unübertreffliche Bibelübersetzung wird aber sogar unter pathetischer Berufung auf die Autorität des Übersetzers Luther beantwortet, mit dem man darin völlig übereinstimme und also auch mit ihm zu »gestehen« hätte — nicht Wort fiir Wort, sondern nach dem Verstände zu übersetzen: »Gewiß, wenn wir noch niemals unsre Hochachtung fiir des seligen D. Luthers Übersetzung der Bibel bezeuget hätten; Und wenn wir so blind wären, und nichts von der Richtigkeit des Ausdrucks, der Schönheit, Zierlichkeit und Reinigkeit der deutschen Sprache darinnen erblickten: So würden wir itzo bey der Vergleichung dieser und seiner Übersetzung gezwungen werden, ihr einen unschätzbaren Werth beyzulegen. Wir geben es zu, und Lutherus gesteht es selbst, daß er nicht von Wort zu Wort übersetzt, sondern den Verstand des Grundtextes mit guten deutschen Redensarten ausgedrücket habe. Es kan seyn, daß er dabey die eine und oder die andere Nebenidee eines Wortes hindan setzen müssen, und daß ein gewisser Nachdruck in seiner Übersetzung hier und da fehlet, den man in dem Grundtexte antreffen möchte. Dieß benimmt aber der Übersetzung im geringsten nichts. Genug, daß er den Hauptbegriff, den ein jedes Wort an dieser oder einer andern Stelle hat, auf das schönste im Deutschen wieder zu erwecken gewußt hat.« 692

Nichts anderes getan zu haben erklärte aber immer wieder der Wertheimer in seinen Verteidigungen. Solche Passagen waren allen an der Sache interessierten Zeitgenossen, Freunden und Feinden nur zu leicht als Parteinahme fiir den Wertheimer und seine Übersetzung verständlich, obgleich beide mit keinem Wort erwähnt werden. Diese geschickte Strategie der Argumentation brachte daher offenbar einige Auseinandersetzungen in Leipzig hervor, wovon noch zu sprechen sein wird, wenngleich wir keine genauen Nachrichten darüber haben. 691 692

Ebd., S.319f. Ebd., S. 319 (Hervorhebung - U. G.).

22. Übersetzungsprinzipien in den Beyträgen zu einer Critischen

Historie

381

Im 16. Stück der Critischen Beyträge, dem ersten im Jahre 1737, das im Frühjahr erschien, wendet sich ein Leser aus Helmstedt (sollte diese sonst unübliche Angabe des Ortes auf den berühmten Abt Mosheim, der ja Präsident der Deutschen Gesellschaft war, deuten?) mit einem langen Leserbrief vom 17. Januar 1737 an die Herausgeber, in dem er sich über eine der zahlreichen moralischen Wochenschriften beschwert, die neuerdings von einem zwanzigjährigen, offenbar ganz ungebildeten jungen Mann herausgegeben werde, der den Glauben an Gespenster rechtfertige und zugleich die mathematische Lehrart lächerlich mache. 6 9 3 Es handelte sich um den Freydenker des Thomasianers und also Gegners der mathematischen Methode Johann Ernst Philippi, dem in Göttingen wegen seiner Zeitschrift Lehr- und Publikationsverbot erteilt worden war. 6 ' 4 Der Leserbriefschreiber bittet die »Beyträger«, die wegen ihres patriotischen Eifers für Deutschland und ihrer gründlichen Einsicht in dessen Gelehrsamkeit »wo nicht von allen, dennoch von den meisten Verständigen, in zweifelhaften Fällen für Richter erkannt werden«, gegen solche Verderber des Geschmacks und der Vernunft in ihren Blättern vorzugehen. Diese hohe Wertschätzung hatten die Herausgeber zu dieser Zeit sicherlich recht nötig. Denn schon dem folgenden 17-, dem erst Ende 1737 erscheinenden zweiten Stück des Jahres 1737, schicken die »Beyträger« eine ungewöhnliche Vorrede an die Leser voraus, in der sie, nicht aus eigenem Antrieb, sondern sozusagen aus gegebenem Anlaß, weil nicht alle für die Beiträge einzelner zur Verantwortung gezogen werden sollten, die Autoren fast aller bis dahin anonym erschienenen Beiträge in einer Liste auffuhren, jeweils mit Titel und Stellung! 6 9 5 - Johann George Lotter, nachmaliger Professor zu Petersburg; - Magister Johann Heinrich Winkler, i. V. Collega an der Leipziger Thomasschule; - Johann Christoph Friedrich Ernesti, Pfarrer und Inspector zu Gehren in Thüringen; - Ernst Steinbach, Doktor der Arzneikunst in Breslau; - Wolf Balthasar Adolph von Steinwehr, A. M.; —Johann Simon Buchka, Conrector zu Hof; - Johann Gottlieb Krause, Prof. der Historie zu Wittenberg; - Johann George Schellhorn, Prediger zu Burach und Hardt bey Memmingen; - George Venzky, Subkonrektor zu Halberstadt; - August Wilhelm von Schwicheldt, Königlich Großbrittanischer Appellationsrath in Zelle; - Jacob Friedrich Lamprecht, Praktischer Jurist in Hamburg; - Magister Johann Joachim Schwabe, aus Magdeburg; - Christian Gottlieb Ludewig, Dr. med. zu Leipzig; - Gottfried Behrndt, Hochadliger Alvenslebener Amtmann; - Heinrich Christian Lemker, Konrektor der Michaelisschule in Lüneburg; -Johann Jacob Bodmer, Professor der Historie zu Zürich; - George Friedrich Bärmann, A. M. aus Leipzig und —Johann Jacob Brucker, Consistorialis, Scholarcha und Pastor zu Kaufbeyern. Außer diesen genannten Autoren, fast alle wohlbestallte Männer, hätten aber auch »einige gelehrte Männer, die außer der Gesellschaft sind« und den Herausgebern teilweise selber «*> Ebd. 4. Bd. 16. St., S. 611-644. 694 Vgl. dazu Wehr (wie Anm. 215), S. 50 u. 148, sowie Beyträge. Bd. 2, Anm. 95 auf S. 379. 695 Critische Beyträge. 5. Bd. 17. St. Vorrede (unpag.).

382

Wertheimer Bibel

auch unbekannt wären, Beiträge zugesandt. Aber mit einigem Trotz heißt es zu ihnen: »Ja wenn wir sie gleich kenneten, so würden wir sie doch allezeit verschwiegen zu halten verbunden seyn, so lange sie sich nicht bekannt gemacht wissen wollten.« Im übrigen gelte für alle Autoren, daß ein jeder für seine eigenen Beiträge einzustehen habe. Es geht aus den Zensurakten in Leipzig nicht hervor, ob dieses plötzliche Aufdecken der Autoren gegen Ende des Jahres 1737 auf eine direkte obrigkeitliche Aufforderung hin erfolgte oder aber von Gremien der Universität nahegelegt worden war. Jedoch ist wohl klar, daß die Herausgeber nicht von sich aus auf diesen Einfall gekommen waren, sondern damit auf eine konkrete Anforderung reagierten. Möglicherweise diente die Nennung der zahlreichen Autoren, von denen zudem viele außerhalb Sachsens in einer ordentlichen Stellung waren, und die quasi angedrohte künftige Nennung berühmterer Autoren auch der Abwehr einer weiteren Verfolgung, wie sie die Gelehrten Zeitungen bereits erfahren hatten. Noch 1737 folgt jedenfalls im 17. Stück ein weiterer Beitrag unter Nennung des Autorennamens: Johann Jacob Bruckers Abhandlung von einigen alten deutschen Ubersetzungen der heil. Schrift.696 Brucker geht — ganz ähnlich wie Schmidt in seiner Vorrede - davon aus, »[d]aß, je wichtiger ein Buch ist, und je mehr es zur Glückseligkeit der Menschen beyträgt, desto wichtiger und schätzbarer auch eine richtige Übersetzung davon sey«.697 Da uns die Bibel zu unserer wahren Glückseligkeit gegeben worden ist und wir ohne diesen Unterricht diese Glückseligkeit nicht finden werden, 698 will er einige deutsche Übersetzungen der Hl. Schrift vorstellen. Solche Übersetzungen hätten überhaupt zur Verbesserung der deutschen Sprache beigetragen, vor allem die Übersetzung Luthers.699 Die drei im folgenden betrachteten alten deutschen Übersetzungen würden vor allem um ihrer Seltenheit und ihres würdigen Alters vorgestellt. Es handelt sich dann zunächst um Die gantze Heylige Geschrifft, genandt die Bibel, die ohne Benennung des Jahres in Augsburg herausgekommen sei. Es werden Überlegungen über das wahrscheinliche Erscheinungsjahr (zwischen 1470 und 1477) und den Drucker angestellt und ein Exemplar in Augsburg nachgewiesen.700 »Es hält aber diese deutsche Bibel völlig die Ordnung und Verfassung der alten lateinischen Übersetzung, Vulgata genannt, daher auch die Bücher der h. Schrift, sowohl was fiir göttlich und richtig angenommen, als auch was fiir menschlich und dem göttlichen Ursprünge nach unbewiesen gehalten wird, das ist canonisch und apocryphisch, in eben der O r d n u n g untereinander stehen, wie sie der Verfasser der lateinischen Übersetzung geordnet hat.« 701

Der Übersetzer hätte auch den Büchern deutsche Namen gegeben und eine andere Einteilung als die gebräuchliche vorgenommen. So stünde für das 1. Buch Mosis »Buch der Geschöpf«, fiir das 2. Buch Mosis »Buch des Ausgangs«, für das 3. »Buch der Leviten«, für das 4. »Buch der Zal«, und fiir das 5. »Buch der andern Ee (Gesetze)«; die Bücher der Chronik

696 697 698 699 700 701

Ebd. 17. St., S. 9 - 4 8 . Ebd., S.9. Ebd., S. 10. Ebd., S . l l . Ebd., S. 22 f. sowie S.25. Ebd., S. 25.

22. Übersetzungsprinzipien in den Beyträgen zu einer Critischen

Historie

383

wären hier »Bücher der Esrung, Nachlese« genannt, das Hohelied heiße »Buch des Lobgesangs«, das Buch Jesus Sirach sei »Buch der geistlichen Zucht« betitelt, und die Apostelgeschichte, die erst nach den Paulinischen Sendbriefen eingefügt sei, hätte den Titel »Buch der Wirkung der heyligen zwelff Botten«. Außer dieser ungewohnten Ubersetzung der Buchtitel und der abweichenden Einteilung beruhe die Übersetzung auch nicht auf den Grundtexten, sondern nur auf dem lateinischen Text der Vulgata. 702 Und hier folgt der erste kritische Kommentar Bruckers, der keineswegs nur gegen diese unzureichende (lateinische) Übersetzungsvorlage gerichtet ist, sondern sogleich wieder die »Wort-fiir-Wortgesunde Philosophie* Eulers in seiner Michanique analytique weiter kommen als dieser.« (Eduard Winter: Die Registres der Berliner Akademie der Wissenschaften 1746-1766. Dokumente für das Wirken Leonhard Eulers in Berlin. Berlin 1957 [im folg. Registres], S. 54.) 148 Yg[ [Leonhard Euler:] Rettung der göttlichen Offenbahrung gegen die Einwürfe der Freygeister. Berlin 1747. Diese Schrift richtete sich keineswegs gegen französische Libertins, Atheisten oder Deisten, sondern insbesondere gegen die aus der leibniz-wolffianischen Philosophie folgende Abwertung der Offenbarung. - In einem Brief an Goldbach erläutert er seine Position als ausdrücklich gegen die Wolffianer gerichtet, wobei auch die Spitze gegen die lebendige Kraft der Monaden nachvollziehbar wird: »Es ist an dem, daß mein letzter Schluß nur auf diejenigen geht, welche die Seele für eine besondere Substanz, dabei aber doch für materiell halten, wobei ich insonderheit auf einige mir bekannte Wolffianer gesehen, welche glaubten, daß die Immaterialität der Seele von ihrem Meister nicht genugsam erwiesen worden. Nach den Lehrsätzen dieses Philosophi haben dieselben 146

558

Jugement de L'Académie Royale

lieh die mit der Debatte um die 1736/37 verbotene Wertheimer

Bibel

verbundene Diskussion

über die Frage verfolgen können, ob diese Übersetzung des Pentateuch ein notwendiges Resultat der wolffianischen Philosophie gewesen ist. 149 Der theologische Haß scheint mir in der Tat immer noch eine gute Erklärung dafür zu bieten, daß Euler nicht nur gegenüber Samuel König, sondern überhaupt immer dann, wenn es gegen W o l f f und Leibniz ging, alle Regeln des Anstandes und der wissenschaftlichen Redlichkeit zu vergessen schien oder aber sie in allen diesen Fällen fiir überflüssig hielt. 150 W i e sehr Euler aus den Regeln der wissenschaftlichen Redlichkeit ausscheren konnte und zu welch unfairen Methoden er zu greifen vermochte, wenn es um die verhaßten Wolffianer bzw. Leibnizianer ging, das wurde schon wenige Jahre vorher bei Gelegenheit der Preisfrage der Akademie von 1 7 4 7 in aller Öffentlichkeit deutlich, da Euler sich, als Direktor der mathematischen Klasse einigermaßen unzuständig, zum Mitglied der Kommission der ganzen Akademie über diese philosophische Preisfrage ernennen ließ 1 5 1 — wegen der großen Bedeutung der Frage. In dieser Funktion trug er fiir die Formulierung einer antileibnizianischen Preisfrage Sorge. 152 Bei der Auswahl der Preisträger erfüllte er dann klar die Kriterien der Befangenheit, als er noch während des laufenden Verfahrens selbst mit einer gedruckten Schrift zu dieser Frage an die Öffentlichkeit ging und so gewissermaßen mit seiner antiauch ganz recht zu zweifeln, dann wann die Körper und ihre Elementen mit so vielerlei tätigen und auf Veränderung ihres Zustandes abzielenden Kräften begäbet sind, so ist nicht abzusehen, wie die Kraft zu Gedenken davon ausgeschlossen werden soll. Diese Leute geben also ohne Schwierigkeit zu, daß zum Gedenken eine tätige Kraft, seinen Zustand zu verändern, erfordert werde, und in Ansehung derselben glaube ich, daß mein Beweis Stich hält. [...] Es deucht mich aber, sobald man zugibt, daß in der Materie außer der vi inertiae keine andere Kraft befindlich, das Vermögen zu Gedenken notwendig ausgeschlossen werden müsse.« (Euler an Goldbach am 23.6.14.7. 1747. In: Euler und Goldbach. BriefWechsel 1729-1764. Hg. Adolf Juskevic u. Eduard Winter. Berlin 1965. Nr. 117, S. 274f. (im folg. Euler und Goldbach.) Euler bezieht sich auf seine Schrift Enodatio quaestionis: utrum materiae facultas cogìtandì tribuipossit nec ne?Exprincipiis meehanieispetita. In: Leonhard Euler: Opuscula varii argumenti. Berlin 1746.) 149 Vgl. den Beitrag zur Debatte über die Wertheimer Bibel in diesem Band. 150 Mir scheint die Darstellung von Otto Spiess immer noch unübertroffen zu sein, vgl. insbes. S. 1 1 4 121. Sehr genau belegt Winter seine mit Spiess übereinstimmende Einschätzung, daß »die Maßlosigkeit des Angriffs Eulers gegen Wolff und dessen Philosophie« allein »von »seinem theologischen Ausgangspunkt« zu verstehen sei, vgl. Régistres (wie Anm. 147), S. 4 4 - 4 8 , Zitat S. 47. Siehe auch Fellmann (wieAnm. 146), S. 70-73. 151 Vgl. Harnack (wie Anm. 4). 1/1, S. 4 0 2 - 4 0 9 . 152 Ygi Eulers Mitteilung über die Aufgabenstellung der Akademie an Christian Goldbach am 3-/14.6.1746. In: Euler und Goldbach (wie Anm. 148). Nr. 106, S.251-255, hier S.253. Die Frage lautete: »On demande, qu'en commençant par exposer d'une manière exacte et nette la doctrine des Monades, on examine si d'un coté elles peuvent être solidement réfutées et détruites par des argumens sans réplique; ou si de l'autre on est en état, après avoir prouvé les Monades, d'en déduire une explication intelligible des principaux phénomènes de l'Univers, et en particulier de l'origine et du mouvement des corps« (Harnack (wie Anm. 4). II, S. 305). - Abgesehen davon, daß Leibniz selber nur einen hypothetischen Anspruch für die Wahrheit der Monadologie erhoben hatte, war eine solche aggressive Forderung nach unwiderleglichen Beweisen für die Metaphysik von vornherein ein überspanntes Unternehmen.

10. Das »Triumvirat«

559

leibnizianischen Position die von der Akademie gewünschte Antwort vorgab. 153 Schließlich setzte er in der Kommission den Autor einer allgemein — selbst von ihm später — als unwürdig erachteten Preisschrift mit klarer Tendenz gegen Leibniz als 1. Preisträger durch. 154 Nicht nur die Wolffianer protestierten damals dagegen; auch d'Alembert kritisierte in einem Brief an Maupertuis dieses Verfahren als offensichtliche Kabale. 155 Solch wissenschaftlich unred-

153 Yg[ Leonhard Euler: Gedanken von den Elementen der Körper. Berlin 1746. 154 Ygj Harnack (wie Anm. 4). 1/1, S. 402-409. Der Preisträger wurde Johann Heinrich Gottlob von Justi (gest. 1771), dessen bewegte Biographie ihn später noch einmal als Denunzianten von Moses Mendelssohn in der Debatte der Literaturbriefe und des Nordischen Aufiehers auftreten läßt (vgl. in diesem Band). Sein Geburtdatum ist nicht genau bekannt. Erst 1720 wird er als Chorschüler in Jena erwähnt, wo er entschiedene Unterstützung des dortigen Prof. Zinks erfuhr, sich dann zu den preußischen Truppen als Soldat im Österreichischen Erbfolgekrieg meldete, gefangen nehmen ließ, den Österreichern wiederum entwischte und in Halle sowie ca. 1751 in Leipzig auftauchte. Er heiratete, ging dann nach Wien, erhielt das Versprechen einer Professur, wechselte zur katholischen Religion, heiratete zum zweiten Mal, arbeitete im Bergwerkswesen, wurde zum Berg- u. Finanzrat ernannt, ging dann nach Erfurt, wechselte wieder zur protestantischen Religion und wurde 1755 an die Universität Göttingen berufen. 1755 war er Oberpolizeykommissär mit dem Titel eines Bergrates, hielt Vorlesungen über Staatsökonomie und Naturgeschichte, arbeitete an den Göttingischen Gelehrten Zeitungen mit, verließ jedoch 1757 Göttingen, tauchte 1758 in Kopenhagen kurzzeitig als Kolonieninspektor auf, ging wieder an den Oberrhein, wurde dort wegen seiner Kritik an der Verminderung des Gehalts der Münzen in einem seiner Werke durch den König von Preußen auf die Festung Breslau verbracht, kam aber bald frei und kam Anfang 1760 als kgl.-preuß. Berghauptmann und Oberaufseher aller königlichen Bergwerke nach Berlin. 1768 wird er seines Posten entsetzt und stirbt als Gefangener in der Festung Küstrin am 20.7.1771. 1748 gewann er durch Eulers Einfluß das Preisausschreiben gegen die Monaden, mit der Preisschrift Nichtigkeit und Ungrund der Monaden (Halle 1748), die er mit einem durch Euler unrechtmäßig besorgten Privileg der Akademie in der Druckerei in Halle ohne das übliche Universitätsprivileg vor der Akademieveröffentlichung drucken ließ, was für zusätzliche Empörung sorgte. In Abwehr der gegen seine Schrift wie gegen sein Vorgehen erscheinenden kritischen Schriften veröffentlichte er im selben Jahr /. H. G. von Justi, Ihro Hoheit der verwittweten Herzogin zu Sachsen-Eisenach Rath, zeiget in dieser Schrift die Nichtigkeit aller Einwürfe und unhöflichen Anfalle, welche wider seine Untersuchung der Lehre von den Monaden und einfachen Dingen zum Vorschein gekommen sind, und leget denen Unpartheyischen den Ungrund der Lehre von den Monaden und einfachen Dingen fernerweit klar vor die Augen (Frankfurt u. Leipzig 1748). In der folgenden AkademieveröfFentlichung findet sich in einem Avertissement von Maupertuis ein sanfter Tadel zu der ungewöhnlichen Vorgehensweise Justis. Vgl. Johann Heinrich Gottlob Justi: Untersuchung über das System der Monaden. In: Dissertation qui a remporté le prix de l'Académie des sciences. Berlin 1748. 155

Noch d'Alembert erinnert sich 1751 gelegentlich einer Beschwerde in eigener Sache mit einiger Empörung an Eulers Voreingenommenheit, wie sie in der Preisvergabe an Justis Preisschrift zum Ausdruck gekommen sei. Die sei so schlecht gewesen, »qu'il n'est pas difficile de voir que c'est par cabale qu'il a obtenu le prix; aussi ce jugement n'a-t-il point fait d'honneur aux commissaires, ou du moins à ceux qui ont été pour Mr Justi, et donc quelques uns sont connus.« (d'Alembert an Euler am 10.9. 1751. In: Leonhardi Euleri Opera omnia. Ser. 4 A: Commercum epistolicum. Bd. 5. Nr. 29, S. 311 f., hier S. 312.) Euler sah sich am 21.9.1751 genötigt, wegen dieser Beschuldigungen von Seiten d'Alemberts einen langen Rechtfertigungsbrief an Maupertuis zu schreiben, um alle Vorwürfe abzuweisen und die Schuld auf den jungen Grischow zu lenken. Vgl. Euler an Maupertuis am

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liches Verhalten Eulers stößt ja immer wieder deshalb auf Erstaunen unter den Wissenschaftshistorikern, weil er in anderen, rein wissenschaftlichen Auseinandersetzungen oftmals mit geradezu erstaunlicher Gelassenheit aufgetreten ist. Nur bei der antileibnizianischen Preisfrage von 1747, bei der Debatte um Samuel König 1752 und noch einmal bei der anderen antileibnizianischen Preisfrage von 1753/55, also immer wenn es um die Bekämpfung der leibniz-wolffischen Philosophie ging, legte er alle Regeln wissenschaftlicher Redlichkeit beiseite. Darüber hinaus aber scheint Euler offenbar auch von Hause aus sehr autoritätsorientiert gewesen zu sein. Das geht schon aus seiner Abneigung gegen seinen Schweizer Landsmann Samuel Henzi hervor, dem früheren Besitzer des umstrittenen Leibniz-Briefes, der am 17. Juli 1749 in Bern hingerichtet wurde, wegen der mit anderen, darunter Samuel König, unternommenen Einforderung der in der Berner Verfassung garantierten Bürgerrechte vom patrizischen Senat. Während Lessing in eben diesen Jahren ein Heldendrama über Henzi in Hexametern in Angriff nimmt und ihm zwei seiner kritischen Briefe widmet,156 die Vossische Zeitung in ihrer auffällig ausführlichen Berichterstattung Partei für die Berner Aufrührer genommen hat — durch ihren Redakteur Mylius,157 spricht Euler sehr abschätzig über »ce fameux Henzi«, auf dessen Urteil man nichts geben könne.158 Auch ist es das Verdienst Eulers gewesen, daß sich das Verhältnis zwischen ihm und Maupertuis nach anfänglicher Distanz sehr rasch verbesserte und nach der hier vorgestellten Debatte bis zum Tode von Maupertuis sogar ein so enges Vertrauensverhältnis wurde, daß Euler praktisch schon zu Lebzeiten von Maupertuis die Leitung der Akademie übernahm. Dies gelang Euler offensichtlich durch eine vorbehaltlose Unterstützung des Präsidenten in wissenschaftlichen wie in wissenschaftspolitischen und -organisatorischen Fragen und auch durch seine zuverlässige und umsichtige Umsetzung der Entscheidungen, was sowohl aus den erhaltenen Papieren der Akademie aus dieser Zeit159 wie aus dem Briefwechsel mit Maupertuis deutlich wird.

1 . 9 . 1 7 5 1 . In: Leonhardi Euleri Opera omnia. Ser. 4 A: Commercium epistolicum. Bd. 5. Nr. 86a, S. 1 8 6 - 1 8 8 , hier S. 187f. - Alle Welt wußte ganz offensichtlich, wer von den Kommissionsmitgliedern den prononciert antileibnizianischen Preisträger für 1 7 4 7 (und dann noch einmal für 1755) durchgesetzt hatte. Vgl. auch den Brief von Christian Wolff über Eulers Unterstützung von Justi noch in der nachfolgenden Auseinandersetzung, der von Stefan Lorenz mit 14 anderen WolfF-Briefen an Formey aus diesen Jahren neu herausgegeben und kommentiert werden wird (vgl. Anm. 77). 156 Vgl. LM 5 (wie Anm. 71), S. 9 7 - 1 2 2 . 157 Die Berichte der Vossischen Zeitung vom 8 . 7 . bis zum 8 . 8 . 1 7 4 9 sind in Rillas Lessing-Ausgabe als Erläuterung zum Lessingschen Henzi-Drama zusammengestellt worden. Siehe Gotthold Ephraim Lessing: Gesammelte Werke. Hg. Paul Rilla. Berlin 1954. Bd. 2, S. 5 1 7 - 5 2 9 . 158 Yg[ JUgement, S. 13. In der deutschen Ubersetzung heißt es »beruffener Henzy« (Vollständige Sammlung (wie Anm. 3), S. 70). 159 »Eulers Tätigkeit als Akademiemitglied, als Direktor der mathematischen Klasse, als Mitglied der Kalenderkommission und der ökonomischen Kommission, als Leiter der Akademieverwaltung während der Abwesenheit des Akademiepräsidenten P.-L. M. de Maupertuis und als Hauptinitiator bei der Herausgabe von Landkarten durch die Akademie hat einen umfangreichen Niederschlag in Form von wissenschaftlichen Abhandlungen, Gutachten, Sitzungsprotokollen und dienstlichem Schriftwechsel gefunden. Die durch das Spezialinventar erschlossenen Schriftstücke von, an und über

10. Das »Triumvirat«

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Ein eklatantes Beispiel fur vorauseilenden Gehorsam Eulers scheint mir zu sein, daß er bereit war, den Präsidenten über die Absicht des Berliner Akademiemitglieds Grischow zu informieren, ein Angebot der Petersburger Akademie anzunehmen, was - auf Betreiben Maupertuis' - zunächst sogar zu dessen Verhaftung führte. 160 Das gilt entsprechend auch fur das Verhältnis Eulers zu Friedrich. Sein bekannter Brief an Friedrich II. vom Herbst 1743, der von Harnack als Ausdruck der Ungeduld hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit der noch in Gründung befindlichen Akademie angesehen wird, 161 ist eigentlich eine einfühlsam verpackte Erinnerung an die nach zwei Jahren noch ausstehende Zahlung des zugesagten Reisegeldes von 500 Talern, das Euler zunächst ebenso wenig wie die ihm zugesagte Pension162 ausgezahlt wurde: »pour mériter cette grâce, je tâcherai de tot mon pouvoir de rendre à la Nouvelle Société tous les services, dont je suis capable«.163 Um künftig eine Pension beanspruchen zu können, will er zur Beschleunigung der Akademiegründung und zu ihrer fruchtbaren Arbeit aktiv beitragen. Hinsichtlich des Verhältnisses zu Maupertuis lese man nur die dringenden Bitten Eulers von 1748, seine mathematische Arbeit Réflexions sur quelques loix générales de la Nature, in der er auch über das Prinzip der kleinsten Aktion handelt, nicht etwa als Kritik des Prinzips zu lesen, sondern als absolute Unterstützung der Auffassung des Präsidenten. Dabei hatte Maupertuis doch ganz recht gesehen, daß es sich in Eulers Darstellung nicht nur um Minima, sondern auch um Maxima handelte.164 Euler selber ist es, der Maupertuis sugge-

L. Euler dokumentieren, daß dieser seit seiner Ankunft in Berlin großen Anteil an der Entwicklung der Berliner Akademie zu einer der bedeutendsten wissenschaftlichen Einrichtungen des 18. Jahrhunderts hatte.« (Wolfgang Knobloch: Einleitung zu Knobloch (wie Anm. 69), S. 8.) 160 Ygi £ u l e r a n Maupertuis vom 8.11. 1750. In: Leonhardi Euleri Opera omnia. Ser. 4 A: Commercium epistolicum. Bd. 6. Nr. 77, S. 171 f. Wenn die Herausgeber in ihrem Kommentar (Fußnote 7 zu dem Brief, S. 172) schreiben, Euler hätte sich nicht vorstellen können, daß Maupertuis so schnell und »beaucoup plus brutalement« als erwartet reagieren würde, sollte man bedenken, daß er Maupertuis und seinen cholerischen Charakter lange kannte und daß Verhandlungen mit der Russischen Akademie in jener Zeit immer auch politische Bedeutung haben mußten. In einem weiteren Brief, nachdem er von der Verhaftung Grischows durch einen Unteroffizier und drei Soldaten erfahren hat, ist Euler vor aller Bitte um Milde und Beschleunigung der Untersuchung darum bemüht, seinen Namen aus der Angelegenheit herauszuhalten. Am Ende kommt er nochmals darauf zurück und bittet eindringlich, ihn nicht in die Untersuchung einzubeziehen. Zugleich gibt er weitere Informationen, die Grischow belasten. Vgl. Euler an Maupertuis am 12.11. 1750. In: Ebd. Nr. 79, S. 173 f. 161 162

163

164

Vgl. Harnack (wie Anm. 4). 1/1, S. 261 f. Vgl. Euler an Friedrich II. vom September 1741 und an einen Unbekannten aus dem Jahre 1741. In: Leonhardi Euleri Opera omnia. Ser. 4 A: Commercium epistolicum. Bd. 6. Nr. 2, S. 297 f., sowie Nr. 2a, S. 298. Siehe den Brief Eulers an Friedrich vom 19.10. 1743. In: In: Leonhardi Euleri Opera omnia. Ser. 4 A: Commercium epistolicum. Bd. 6. Nr. 9, S. 305 f., Zitat S. 305. Vgl. die lange Briefserie von Euler an Maupertuis, in der er 1748 darum bemüht ist, den Präsidenten zu überzeugen, daß seine eigenen mathematischen Überlegungen ganz und gar mit dem von Maupertuis entdeckten Prinzip der kleinsten Aktion übereinstimmen. Auch der Hinweis auf Maupertuis' apriori gefundene Lösung im Unterschied zu seiner a posteriori erlangten findet sich bereits. Vgl. die Briefe vom 2 6 . 4 . 1 7 4 8 (Nr. 35, S. 102), vom 2 3 . 3 . 1 7 4 8 (Nr. 36, S. 102f.), vom 8 . 5 . 1 7 5 2 (Nr. 37,

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riert, er hätte seine eigene Entdeckung allein durch die Anwendung des Maupertuisschen Prinzips gefunden. Dieser Tatbestand, daß Euler - angesichts des von Maupertuis betriebenen Plagiatsstreit mit Samuel König - seine eigene Priorität völlig zurückstellt, ist in der Wissenschaftsgeschichte immer wieder diskutiert worden. Der erste, der auf Eulers Anspruch aufmerksam gemacht hat, war allerdings, wie oben erwähnt, der Zeitungsschreiber Christlob Mylius in seinen Rezensionen in den Hamburgischen Freyen

Urtheilen.

Hinsichtlich des Ver-

hältnisses von Euler und Maupertuis muß auch Helmut Pulte einräumen, daß Euler sich gegenüber seinem Präsidenten durchaus unkritisch verhielt: »In einem Punkt allerdings akzeptiert er Königs Kritik stillschweigend: Er läßt in seinen späteren Formulierungen des dynamischen Wirkungsprinzips auch ein Maximum der vis vivd)

der Aktion (nach Königs Auffassung:

zu, wenngleich er Königs Begründung verwirft und an einer gewissen Bevorzu-

gung des Minimums festhält.« 165 Gerade in der Möglichkeit der Maxima,

die nur in den Eulerschen Repliken eine Kleinig-

keit ist, kam aber die theoretische Differenz Königs und Maupertuis' am anschaulichsten zum Ausdruck und wird deshalb in der öffentlichen Debatte über den Machtmißbrauch der Berliner Akademie zum Erkennungszeichen, wenn man angesichts der Kompliziertheit der wissenschaftlichen Streitfrage diese auf ein pro oder contra Maxima reduziert. 1 6 6 Indem

165

166

S. 104f.), vom 9 . 5 . 1 7 5 2 (Nr. 38, S. 107f.), vom 4 . 6 . 1 7 5 2 (Nr.42, S. 113f.), vom 8 . 6 . 1 7 5 2 (Nr. 43, S. 115-117) und vom 14.6. 1752 (Nr. 44, S. 118) in: Leonhardi Euleri Opera omnia. Ser. 4 A. Bd. 6: Commercium epistolicum cum Pierre-Louis Moreau de Maupertuis et Frédéric II. Ed. Pierre Costabel, Eduard Winter, Asot T. Grigorijan, Adolf P. Juskevic. Bd. 6. Basel 1986. Das heißt also, lange vor dem Streit mit König war Euler nicht nur bereit, Maupertuis die Priorität zu überlassen, sondern hat sie ihm förmlich aufgedrängt. Insofern ist Pultes Ansatz sicherlich zuzustimmen, wonach Euler auch aus theoretischer Uberzeugung die Partei von Maupertuis gegen König ergriffen hat, wenngleich sich dadurch noch nicht erklären läßt, daß Euler auch in der außerwissenschaftlichen Rechtsfrage die Machtmittel des Präsidenten unterstützt und gerechtfertigt hat. Pulte (wie Anm. 19), S. 219. Im weiteren konstatiert Pulte ausdrücklich die theoretische Zurückhaltung Eulers gegenüber seinem Präsidenten: »Wenn also im Zusammenhang mit Eulers Anerkennung des dynamischen Wirkungsprinzips von Maupertuis ein >Vorwurf< angebracht ist, kann es sich nur darum handeln, daß Euler in seinen späteren mathematischen Arbeiten keine weitere Klärung der möglichen Variationsbedingungen angestrebt oder geleistet hat: eine solche Klärung hätte insbesondere eine Auseinandersetzung mit Maupertuis' Behandlung des inelastischen Stoßes erfordert, wo die vis viva-Erhaltung verletzt ist, d. h. keine Ortsfunktion der Geschwindigkeit existiert.« (Ebd., S. 202.) Die Maxima, als die auch den Laien erkennbare deutliche Differenz in den Auffassungen von König und Maupertuis, spielen in den späteren Satiren eine große Rolle, anschaulich z. B. in dem handschriftlich verbreiteten, dann aber noch, angeblich 1758, gedruckten Myliusschen Gassenhauer: »Entscheidung des Streits über das Minimum. In diesen aufgeklärten Tagen / hört man so viel gelehrtes sagen / De Maximis et Minimis. / Man sieht, nebst den Cathederleuten, / Monarch und Schüler drüber streiten, / den aus dem x, den aus dem fis. / Des Streites End ist noch nicht nah; / Jedoch die ungelehrten Damen, / Trotz dem durchs Kleinste größten Namen! / Sind alle für die Maxima.« (Zitiert nach: Carl Kaulfiiss-Diesch: Maupertuisiana. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 39 (1922), S. 5 2 5 - 5 4 6 , hier S. 543 [im folg. Kaulfuss-Diesch].) Den Nachweis der Autorschaft von Mylius wie auch den Nachweis des gedruckten Titels in der Deutschen Staatsbibliothek liefert Kaulfuss-Diesch, S. 5 4 0 - 5 4 6 .

10. Das »Triumvirat«

563

Euler diese Maxima letztlich einräumt, steht er eben im Grunde doch nicht auf der Position von Maupertuis. Helmut Pulte hat in einer interessanten Arbeit die theoretischen Intentionen von Maupertuis und Euler herausgearbeitet,167 um zu zeigen, daß diese allein hinreichend seien, um die grundsätzliche Gegnerschaft von Euler gegen König, seine Verbindung mit Maupertuis und eben auch den Verzicht auf seine Priorität zu erklären. Dadurch sollen die bisher zur Erklärung und Entschuldigung des Eulerschen Verhaltens angeführten Gründe, seine Sorge als Familienvater um seine Pension,168 falls er sich mit Maupertuis überwürfe, sowie sein metaphysisch-theologischer Haß auf die Leibnizianer, hinfällig werden. Allerdings sind die von Pulte genannten innerwissenschaftlichen Argumente selber auch metaphysisch: Während Samuel König als Leibnizianer das vis wivz-Prinzip als grundlegend für die Dynamik habe darstellen wollen, wäre es Euler und auch Maupertuis gerade um die Grundlegung einer einheitlichen Naturphilosophie durch das Aktionsprinzip zu tun gewesen.169 Diese unterschiedlichen Intentionen waren aber auf beiden Seiten metaphysischen Positionen geschuldet. Vor allem aber - wenn man mit Pulte davon ausgeht, daß Euler und Maupertuis »gute Gründe für die Zurückweisung der Thesen Königs hatten«170, stellen sich ja die Fragen erst recht: warum sie es a) mit dem bis dahin unerhörten Mittel eines Jugement der Akademie tun mußten, in dem Samuel König als der bewußten Fälschung überfuhrt verurteilt wurde, warum sie b) zu diesem Zweck Druck auf die Akademisten in Berlin ausüben mußten und vor allem c), warum Maupertuis diesen Jugement mit der Bitte an die Prinzessin von Oranien versandte, Samuel König jede öffentliche Erwiderung und Rechtfertigung zu einem so unerhörten Vorwurf zu verbieten. Der Skandal, der die öffentliche Debatte auslöste, der dann in der Folge zu der Flut von Streitschriften und Satiren über den Akademiepräsidenten und die Akademie fuhren sollte, bestand ja überhaupt nicht in der Differenz wissenschaftlicher Überzeugungen. Der Skandal für die europäische aufgeklärte Öffentlichkeit, wie er sogleich in den deutschen und holländischen Zeitungen und Zeitschriften thematisiert und dann auch im Appel au public europaweit öffentlich gemacht wurde, lag ja allein in diesem Mißbrauch von Machtmitteln! Darüber hinaus kann ich die von Pulte behauptete böswillige »Ablenkung«171 durch Samuel König von der »eigentlichen« Frage der Priorität nicht erkennen, da König in

167 168

169

170 171

Vgl. Pulte (wie Anm. 19), S. 2 0 0 - 2 0 4 , 2 1 6 - 2 2 5 . »So geht es, wenn ein großer Gelehrter zugleich ein kleinlicher und ängstlicher Haus- und Familienvater ist. Freilich, sein Sohn Johann Albert wurde nach einigen Jahren Mitglied der Berliner Akademie.« (Kneser (wie Anm. 19), S. 29.) »Auf dieser naturphilosophischen Ebene wird der Universalitätsanspruch Maupertuis' und insbesondere die Anwendung des Wirkungsprinzips auf Stoßprozesse für Euler wesentlich: Seine Rückführung aller Kräfte auf die Undurchdringlichkeit erfordert auch die universelle Gültigkeit des Wirkungsprinzips, die sich zunächst [...] beim Stoß manifestieren muß.« (Pulte (wie Anm. 19), S. 204.) Ebd., S. 224. So aber Pulte (ebd., S. 223). In der Fußnote 102 ebd. heißt es entsprechend: »Euler wirft daher König nicht ohne Grund vor, er wolle einerseits Maupertuis' Prinzip als falsch erweisen und andererseits Leibniz zum Urheber genau dieses Prinzips erklären.« König geht es aber bei der

564

Jugement de L'Académie Royale

seinem dem Jugement vorausgehenden Aufsatz gar keine Priorität des Aktionsprinzips für Leibniz in Anspruch genommen hatte, sondern durch das Zitat nur darauf verweisen wollte, daß Leibniz im Zusammenhang mit dem Begriff der lebendigen Kräfte ein weitaus umfassenderes Konzept zum Kraftbegriff besessen habe, als er je veröffentlicht hätte; dieses könnte in produktiver Weise ausgearbeitet werden, bei möglicher Integration des Prinzips der kleinsten Aktion, allerdings nicht in der Fassung von Maupertuis. Vor allem aber geht aus dem von Samuel König im Appel au public veröffentlichten Briefwechsel mit Maupertuis ganz klar hervor, daß der Präsident selber keineswegs, wie Pulte meint, 172 von Anfang an die Prioritätsfrage für die eigentliche hielt, sondern diese überhaupt erst nach Königs Mitteilung, er verfuge nur über eine Abschrift des Leibniz-Briefes, im Herbst 1751, d.h. ein halbes Jahr später, zur »eigentlichen« Frage erhob. Zuvor hatte er aber schon mehrfach, in Gesprächen sowie im Brief vom 28. Mai, versichert, er würde auf Königs inhaltliche Kritik in der Sache eingehen. Der Aufsatz von König war immerhin schon bei Königs Berlinaufenthalt im Herbst 1750 Gesprächs- und Streitthema. 173 Man kann diesen Tatbestand an den Briefen von Maupertuis und später von Formey nachvollziehen,174 er wird aber erst recht anschaulich klar aus den Briefen von Samuel König an Albrecht von Haller, und zwar aus der Zeit vor dem Jugement. Diese Briefe haben für mich aufgrund des außerordentlich engen Vertrauensverhältnisses zwischen den beiden Männern (König verdankte Haller nach seiner Verbannung aus Bern eine Empfehlung nach Holland; der von ihm verehrte Haller hat sich aber auch lange bemüht, dem verbannten und in der Fremde oft unter Krankheit leidenden König die Rückkehr in die Heimat zu ermöglichen) eine hohe Glaubwürdigkeit. Als König den Brief von Maupertuis vom 28. Mai 1751 erhalten hat, mit der Ankündigung, daß Maupertuis ihm nächstens auf seine Kritik antworten wolle, schreibt er frohgemut an Haller, er sehe dieser Replik mit großer Zuversicht entgegen, da er nicht glaube, daß Maupertuis seine Argumente entkräften könne. Es ist keine Rede von dem Leibniz-Brief oder gar von einem Plagiat, es geht König allein um eine kritische wissenschaftliche Diskussion des von Mau-

Anfuhrung des Leibniz-Zitats nicht um dessen Priorität hinsichtlich des Aktionsprinzips, er wirbt vielmehr um größere Aufmerksamkeit gegenüber einem noch unausgeloteten Leibnizschen Kraftbegriff, den dieser wegen der schlechten Aufnahme des ersten Teils seines Specimen dynamicum nicht mehr zur Darstellung und Veröffentlichung gebracht hätte. 172 »Für Maupertuis sind diese Argumente von Beginn der Auseinandersetzung an nebensächlich; ihm geht es um die Authentizität des fraglichen Leibnizbriefes.« (Pulte (wie Anm. 19), S. 218.) 173 Auch wenn Maupertuis den Aufsatz damals offensichtlich nicht gelesen hatte, war ihm doch im Gespräch mit König klar geworden, daß es sich um eine inhaltliche Kritik seines Aktionsprinzipes handeln würde. Es ging auch in Debatten hoch her, wie Formey berichtet. Vgl. Formey: Souvenirs (wie Anm. 63), S. 177. König selbst schreibt über seine Diskussionen mit Maupertuis in Berlin, dieser würde nach wie vor an Newtons Priorität gegenüber Leibniz bei der Infinitesimalrechnung festhalten. Vgl. Anm. 29. 174 Vgl. das Appendice des Appel (wie Anm. 30), S . 3 - 4 0 . - Vollständige Sammlung (wie Anm. 3), S. 198-243.

10. Das »Triumvirat«

565

permis formulierten Prinzip der immer kleinsten Aktion. 175 Dagegen ist König im Herbst, nach dem Empfang der Briefe Formeys (Maupertuis hielt es nun gar nicht mehr fur nötig zu antworten), offensichtlich wirklich überrascht und entsetzt, daß Maupertuis die ganze Sache unter der Hand aus einem wissenschaftlichen Streit in ein förmliches Verfahren wegen Plagiats zu verwandeln suchte. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch seine resignierten Hinweise auf die von ihm in den Wind geschlagenen Warnungen, die er im Sommer 1750 in Paris erhalten habe. 176 Samuel König empfand also das Vorhaben von Maupertuis sofort als einen Wechsel des Gegenstandes mitten in einer schon laufenden Diskussion. Wenngleich die Argumente von Pulte trotz weitgehender Vernachlässigung der Position und der Argumente Samuel Königs für die wissenschaftliche und metaphysische Position Eulers wie auch Maupertuis' im einzelnen durchaus Neues bringen und interessante Beiträge zu ihrem besseren Verständnis darstellen, vermögen sie den Anspruch einer vollständig hinreichenden Erklärung des Verhaltens Eulers in dieser Auseinandersetzung mit Samuel König keineswegs zu leisten. Dieses Erklärungsbedürfnis entsteht ja eben nicht dadurch, daß man Euler bisher in der Wissenschaftsgeschichte zu Unrecht ein Wissen über die Unverzichtbarkeit der vis viva-Erhaltung bei der Formulierung seines eigenen Prinzips unterstellt hat, sondern vielmehr angesichts des von Pulte nur mit einem Nebensatz und einer Fußnote abgetanen Mitwirkens von Euler an der Einsetzung von »Machtmitteln« gegen Samuel König, wobei die von Pulte gesetzten Anführungsstriche klar euphemistischen Charakter besitzen. Angesichts der Frage, warum Euler sich zu einem solchen Machtmißbrauch hergegeben hat, können aber innerwissenschaftliche Argumente allein nicht weiterhelfen. Euler hat in dem Verfahren gegen König auch nicht nur »mitgemacht«, sondern aktiv daran mitgewirkt. Die von ihm verfaßte Begründung des Jugement ist in Rücksprache mit dem Präsidenten geschrieben worden, und zwar in Auswertung der zuvor aus Basel zugesandten, von Euler persönlich transkribierten und von Merian abgeschriebenen LeibnizBriefe. Es ist bezeichnend fur die parteiische Haltung Eulers und für seinen daraus resultie175

176

König am 2 8 . 5 . 1 7 5 1 aus Den Haag an von Haller: »Maupertuis va écrire contre moi au sujet de m o n Mémoire inséré dans les actes de Leipsic, et je me flatte très-fort que je n'aurai pas du dessous.« (Mittheilungen (wie Anm.38). 1845. Nr. 4 6 - 4 9 , S. 60.) »Vous n'auriez pas êu justice de Maupertuis, avec lequel je suis brouillé comme Vous sans retour, depuis j'ai écrit sur la moindre action d'une manière différente de la sienne. Comme on me l'a prédit à Paris, la chose arrive, il veut se tirer d'affaire par intrigue en tâchant de changer notre dispute dans une sorte de procès en forme, qui doit être décidé devant son académie: pour cet effet il m'a fait adresser une citation péremptoire, qui me somme d'alléguer mes raisons dans l'espace de quatre semaines, sous peine de passer condemnation sur le fond de la cause et les incidents. Cela est bien plaisant; je n'ai pas daigné faire reponse à un si plaisant mandement, outre que la situation où je me trouve ne me permet point de m'occuper de ces sortes de controverses à l'heure qu'il est. [Der von Samuel König sehr verehrte Prinz von Oranien war zu diesem Zeitpunkt verstorben.] Il pose en fait qu'il s'agit de savoir si c'est lui qui est le premier inventeur de la découverté de la moindre action ou Mr. de Leibnitz; et moi je dis qu'il s'agit de savoir si cette découverté est quelque chose ou rien du tout ou du moins toute autre chose que ce que lui a cru qu'elle fut. Le meilleur est de n'avoir rien à démêler avec ces sortes d'esprits là.« (König an von Haller am 23. 11. 1751. In: Ebd., S. 65.)

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J u g e m e n t de L'Académie Royale

renden Mangel an Logik in der Arbeit mit historischen Quellen, daß er aus seinen eigenen Schwierigkeiten mit der Transkription der Leibniz-Briefe an Jakob Hermann einen weiteren starken Beweis fiir eine Fälschung basteln wollte, der sogar noch stärker sein sollte als das Nichtvorhandensein weiterer Äußerungen von Leibniz zum Gegenstand im Briefwechsel mit Bernoulli.'77 Allein die Leichtigkeit, mit der Formey die von Euler ausgelassenen, angeblich unlesbaren Stellen vervollständigen konnte, der bei einem Besuch von Maupertuis zufällig auf die Eulersche unvollkommene Transkription stößt, scheint dieses in Eulers Augen so unerhört »starke« Argument verhindert zu haben.178 Es handelte sich also nicht nur um einen mächtigen und despotischen Präsidenten, dem Euler sich wie alle anderen Akademiemitglieder fugte, sondern wir haben uns eine kleine Arbeitsgruppe, eben das »Triumvirat«, vorzustellen, die in gemeinsamer Gegnerschaft zu den Leibnizianern das Vorgehen gegen Samuel König planten und durchführten. Dabei ging es gerade nicht um einen wissenschaftlichen Meinungsstreit, sondern um seine Verhinderung. Formey hatte offenbar keinen aktiven Anteil daran, sondern mußte nur als Sekretär und offizieller Briefschreiber fiir die Akademie mitwirken. Die übrigen Akademisten scheinen vor vollendete Tatsachen gestellt worden zu sein.179 Euler scheint sich angesichts der Vorherrschaft des von ihm vehement abgelehnten, weil zum Determinismus und Atheismus führenden Wolffianismus in Deutschland bewußt und längerfristig als nur für diesen Streit mit dem Präsidenten Maupertuis verbündet zu haben, um das Prinzip der kleinsten Aktion als eine Alternative gegen Leibniz' Theorie der lebendigen Kräfte als der Grundlage seiner Monadologie und seiner Physik aufzustellen. Darin hatte Euler auch Samuel König richtig verstanden: Auch diesem ging es ja nicht schlechthin um einzelne Fragen wie die Minima und/oder Maxima, sondern um die zentrale Frage, inwieweit nicht das Prinzip der lebendigen Kräfte das umfassendere gegenüber dem der kleinsten Aktion (in geänderter Fassung) sein müsse. Das Prinzip der kleinsten Aktion bedeutete für Euler und auch für Maupertuis eine physikalische Einlösung einer metaphysischen Alternative zur Leibnizschen Monadenmetaphysik auf der Basis des Prinzips der 177

»II me semble que j'ai asses mal réussi dans le déchiffrement de la Lettre de Leibniz, vu qu'il y a encore plusieurs mots que je n'ai pu deviner, et un passage dont je ne sais pas où le placer. Les lignes qui semblent rayer sont des renvois qui servent à rapporter ce qui est écrit sans ordres au texte. L a preuve qu'on en peut tirer pour la fausseté du passage cité par Koenig me paroit aussi convaincante que celle que j'ai prise du silence dans les lettres ecrites à M r Bernoulli, et je ne sais pas si celle-cy n'a point plus de force. Car M r Koenig pourrait dire que feu M r Leibniz ayant parlé une fois dans une lettre à M r Hermann de ce principe, n'avoit pas jugé nécessaire d'en parler pour la seconde fois, au lieu que cette répliqué ne trouve pas lieu envers Bernoulli; cependant je pourrais toujours joindre cette nouvelle preuve à l'autre, et elle servira à la renforcer.« (Euler an Maupertuis am 3 1 . 3 . 1 7 5 2 . In: Leonhardi Euleri opéra omnia. Ser. 4 A: C o m m e r c i u m epistolicum. Bd. 6. Nr. 97, S. 201.)

178

Vgl. dazu Formey: Souvenirs (wie A n m . 63), S. 180 f.

179

Offensichtlich hatte aber Formey die bevorstehende Gefahr für Samuel König durch die Berliner Akademie gegenüber Christian Wolff in einem Brief vorsichtig angedeutet, wie aus dessen erstaunter Rückfrage vom 1751 hervorgeht. Ich verdanke die Einsicht in unveröffentlichte Wolff-Briefe an Formey aus dem fiir diese Debatte wichtigen Zeitraum der freundlichen Erlaubnis von Stefan Lorenz, der eine Veröffentlichung vorbereitet. Vgl. A n m . 77.

10. Das »Triumvirat«

567

lebendigen Kräfte. Weit entfernt also, ein bloßes Mitwirken Eulers an dem Jugement erklären oder entschuldigen zu wollen, bin ich vielmehr der Auffassung, daß Euler mindestens ebenso wie Maupertuis einen entschieden aktiven und treibenden Anteil an dieser Angelegenheit genommen hat. 180 Zum Glück für Maupertuis! Samuel König hatte mit seiner Freude über die erwartete Unzulänglichkeit der Antwort von Maupertuis nämlich in einer Hinsicht schon recht: In der folgenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung war Maupertuis offensichtlich auf die mathematische Unterstützung Eulers angewiesen; alle wissenschaftlichen Beiträge zur Verteidigung von Maupertuis stammen von Euler. Insofern scheint mir die zeitgenössische Erklärung des Eulerschen Verhaltens durch Mylius vollkommen zutreffend, wenn er am 22. August 1752 an von Haller schreibt: »Hr. Euler hat seinen Namen aus dem Haß gegen Leibnitz und aus interessierter Gefälligkeit gegen den H n . v. M. und gar nicht aus Hochachtung gegen denselben, hergegeben.« 181 Darüber hinaus aber hat sich Eulers Unterstützung für den Präsidenten in der Folge im wahrsten Sinne des Wortes bezahlt gemacht, und insofern halte ich auch das traditionelle Argument des »sorgenden Familienvaters« nicht fiir völlig verfehlt. 182 Das zeigt sich in auffallendster Weise an seiner Gehaltsentwicklung. Er war zwar 1740 mit dem Versprechen von 1600 Reichstalern nach Berlin eingeladen worden, 183 erhielt diese Pension aber nicht von der Akademie, sondern aus der »Caisse generale des Domaines«, 184 und wohl nicht sehr regelmäßig. 185 Von Seiten der Akademie erhielt er - erst nach dem Tode des alten Direktors der mathematischen Klasse de Vignoles - seit 1745 eine jährliche Pension von 100 Reichstalern als Direktor. Diese Pension wurde 1747 auf 150 und 1748 auf 200 Reichstaler erhöht. 186 180

181

Eine treffende Beschreibung des Verhältnisses von Euler zu Maupertuis gibt m. E. Eduard Winter: »Euler ist durchaus der Führende in dieser Verbindung und er sucht den Einfluß, den er auf Maupertuis hat, auch mit vollem Erfolg für die Entwicklung der Akademie geltend zu machen. Diese heimliche Präsidentschaft läßt Euler die Tatsache verschmerzen, daß ein Gelehrter unter seinem wissenschaftlichen Niveau, wenigstens nach seiner Meinung, über ihm an der Spitze der Akademie stand.« (Registres (wie Anm. 147), S. 39.) Winter beruft sich dafür auf einen Brief Daniel Bernoullis vom 7 . 7 . 1 7 4 5 an Euler, aus dem schon hervorgeht, daß Maupertuis nicht so sehr aufgrund seiner wissenschaftlichen Meriten, sondern aufgrund seiner Wertschätzung bei Hofe für die Akademie einen Vorteil bedeuten wird, sowie auf einen Brief Eulers an Goldbach vom 4 . 7 . 1 7 4 4 . - Vgl. auch Fellmann (wie Anm. 146), S. 8 2 - 8 4 .

Consentius (wie Anm. 40), S. 5 4 0 - 5 4 4 . Allerdings ist Winter zuzustimmen, wenn er unterstreicht, daß die »materielle Erkenntlichkeit [...] nur eine Zugabe fiir das Eintreten Eulers [war], das aus weltanschaulicher Überzeugung erfolgte.« (Registres (wie Anm. 147), S. 59.) 183 Das ursprüngliche Verhandlungsangebot von Friedrich offerierte 1 0 0 0 - 1 2 0 0 Reichstaler. Vgl. Hamack (wie Anm. 4). 1/1, S.257, Fußnote 1. 184 Ygj £ u l e r a n Maupertuis am 2.11. 1750. In: Leonhardi Euleri opera omnia. Ser. 4 A: Commercium epistolicum. Bd. 6. Nr. 75, S. 168. 185 Vgl. Euler an Maupertuis am 26.4. 1748. In: Ebd. Nr. 35, S. 101. 186 In der Zeit der Verhandlungen der Neuorganisation der Akademie 1743/44 will Jordan Akademiemitgliedern wie Euler, die bereits Pension von anderer Seite, z. B. der Petersburger Akademie, beziehen, gar keine weitere zahlen, ebenso Schmettau, vgl. Knobloch II (wie Anm. 69). Nr. 15 u. 16, 182

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J u g e m e n t de L'Académie Royale

Im November 1750 (nach der Abreise von Samuel König) geschieht dann etwas Merkwürdiges: Maupertuis hat dafür gesorgt, daß die Eulersche Pension künftighin direkt aus der Akademiekasse zu zahlen ist. 1 8 7 Euler scheint damit sehr einverstanden und bedankt sich sogar überschwenglich. Vielleicht erhoffte Euler durch diese Änderung der bloßen M o d a litäten eine größere Zahlungsgewißheit, die er gegenüber Maupertuis vor allem auch leichteren Herzens erinnern konnte? A m 30. Januar 1751 ordnete jedenfalls der Präsident an, daß für Leonhard Euler eine Pension von 1 6 0 0 Reichstalern auf den Gehaltsetat der Akademie gesetzt werde (außer den schon vorher von der Akademie gezahlten 2 0 0 Rt. jährlich) sowie eine Pension von 100 Rt. fiir einen geschickten Mechaniker. Diese S u m m e von 1 7 0 0 Talern wird exakt auf Kosten einiger Gehälter des Theatrum anatomicum

zusammen-

gestellt. 188 D a m i t ist Euler von nun an aber auch ebenso wie die anderen pensionsempfangenden Akademisten von den Entscheidungen des Präsidenten abhängig. A m 17. Juli 1752, also nach d e m Beschluß des Jugement, seinem Druck und seiner Versendung in rotem Saffianleder und Goldschnitt, erhält Euler von Maupertuis - als Anerkennung für seine M ü h e bei der Herausgabe von Landkarten — auch noch eine Gratifikation von 2 0 0 Rt. 1 8 9 1753 kauft er sich auch das Sommerhaus in Charlottenburg. Vor der Abreise von Maupertuis aus Berlin im April 1753 wird Euler mit königlicher Billigung die Leitung der Verwaltung der Akademie übertragen. 1 9 0 Während Maupertuis' Reise nach Frankreich kümmerte sich Euler nicht nur u m die laufenden Angelegenheiten der Akademie, sondern auch u m den fortlaufenden D r u c k der Streitschriften gegen Samuel König auf bestem Papier, natürlich alle auf Kosten der Berliner Akademie. 1 9 1 Für seine erfolgreiche Vertretung in der Leitung der Akademie erhält er dann nach Rückkehr Maupertuis' erneut eine Gratifikation von 2 0 0 Rt. (auch Merian und der in der Affare trotz seiner wolffianischen Position folgsame Akademiesekretär Formey bekommen eine Gratifikation von 100 Rt.). U n d nach seiner Rückkehr aus Frankreich »schlägt« Maupertuis am 28. November 1754 Eulers ältesten Sohn Johann Albert zur Aufnahme in die Akademie »vor« (ohne daß dieser bereits entsprechende Leistungen vorzuweisen hatte), und dieser wird auch prompt am 6. Dezember aufgenommen. 1 9 2 Schon ab Ostern 1756 erhält dieser eine Pension von 2 0 0 Reichstalern (!) im

S. 31 f. Ab 2 . 6 . 1745 erhält Euler eine Pension der Akademie von 100 Talern im Jahr, vgl. ebd. Nr. 51, S. 39. Ab 1 . 1 . 1 7 4 7 erhält er 150 Taler im Jahr, vgl. ebd. Nr. 146, S. 61. A m 7 . 6 . 1 7 4 8 erhöht sich seine Pension dann auf 2 0 0 Taler im Jahr, vgl. ebd. Nr. 180, S. 68. Euler bedankt sich am 3 0 . 1 1 . 1750 aufwendig dafür bei seinem Präsidenten und hält diese Lösung fiir seine Familie für günstiger, aber auch fiir die Akademie, welch letzteres auch die Herausgeber nicht zu erklären vermögen. Siehe Leonhardi Euleri opera omnia. Ser. 4 A: C o m m e r c i u m epistolicum. Bd. 6. Nr. 83, S. 179. 188 Yg[ j j e Aufstellung in Akademiearchiv. X V I . Nr. 223, Bl. 22, mit den Gehaltsquittungen von Euler in Akademiearchiv. X V I . Nr. 2 2 4 , Bl. 2 5 - 2 8 .

187

189

Knobloch II (wie A n m . 69). Nr. 390, S. 108.

190

Ebd. Nr. 446, S. 119 f.

191

Ebd. Nr. 4 2 4 , 4 2 5 , S. 115; Nr. 4 3 9 , S. 118; Nr. 4 4 4 , S. 119; Nr. 4 5 6 u. 4 5 7 , S. 122; Nr. 4 8 0 , 4 8 1 u. 4 8 3 , S. 125f.; Nr. 6 1 5 , S. 141; Nr. 730, S. 158.

192

Ebd. Nr. 391 u. 392, S . 3 8 6 f .

10. Das »Triumvirat«

569

Jahr, 193 während das Akademiemitglied Sulzer noch immer gar nichts bekommt. Bei der nächsten Reise des Präsidenten, von der er nicht mehr zurückkehren wird, erteilt er Euler am 18. Januar 1758 die Vollmacht, alle Fragen völlig selbständig und ohne Rückfrage bei ihm zu entscheiden. 194 Eulers stillschweigende Direktion über die Akademie datiert im Grunde also seit der Affäre mit Samuel König, da sich Maupertuis kaum je wieder richtig erholt hat und häufig abwesend war, und sie dauert bis zur Einsetzung der ökonomischen Kommission 1765, deren Aktivitäten und Interventionen in seine stillschweigende Direktion ihn letztlich bewegen, nach Petersburg zurückzugehen. Auch Merian, der Dritte im Bunde, hat in dieser Affäre durch seine eifrige Parteinahme für den Präsidenten und seinen Baseler Landsmann Euler seine bis zu seinem Lebensende erfolgreiche Position an der Akademie begründet. 1 9 5 Wenngleich wissenschaftlich von ihm nicht viel zu berichten ist, findet sich sein Name überaus häufig in den Akademieberichten: Er hielt neben Formey wohl die meisten Fest- und Gedenkreden in der Akademie. 1 9 6 In jedem Fall hatte Merian damals nicht das Vermögen, über den wissenschaftlichen Streit zwischen Maupertuis und König zu urteilen. Er besorgte im Zusammenhang mit dieser Affäre Abschreibarbeiten von Leibniz-Briefen, die ihm bezahlt wurden, wie aus den erhaltenen Quittungen der Akademie hervorgeht, 197 und hat sich wohl auch sonst Maupertuis und seinem Baseler Landsmann Euler in dieser Zeit nützlich gemacht, wie er ja nach Eulers Lettre diesem die Leipziger und Hamburger Zeitungen gebracht hatte und sich dadurch das Recht erwarb, der dritte Briefschreiber neben den berühmten Académiciens zu werden. Es klingt auch durchaus glaubhaft, was Mylius, wenngleich nicht ohne einigen Ärger über die ewige Bevorzugung der »Franzosen«, an Haller über diesen jungen M a n n berichtet: Merian sei »ein Mensch, dessen Verdienste ich noch nicht erkannt, ob ich ihn gleich sehr oft spreche«, jedoch habe ihn Maupertuis »ordentl. zum Mignon und Spion bey der ganzen Akademie« bestellt. 198 Für einen solchen Mann mußte eine Akademie gute Verwendung haben, die sich anmaßte, eine »Befragung« der Akademiemitglieder durchzufuhren, ob sie etwa einen Briefwechsel nach Hamburg unterhielten und so möglicherweise die Quelle für den Hamburgischen Rezensenten bildeten. Merian käme auch in Frage als Autor der scharf antileibniziani-

193 194 195

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197

198

Akademiearchiv. XVI. Nr. 228, Bl. 97 u. 98. Knobloch, II, Nr. 1068, S. 200. Johann Bernhard Merian wurde 1752/53 Vizesekretär, 1 7 5 7 Akademiebibliothekar, nach dem Tod von d'Argens 1771 Direktor der Philologischen Klasse, nach dem Tod von Formey 1 7 9 7 Ständiger Sekretär der Akademie. Vgl. Werner Hartkopf: Die Berliner Akademie der Wissenschaften. Ihre Mitglieder und Preisträger 1 7 0 0 - 1 9 9 0 . Berlin 1992, S. 238. Harnack (wie Anm. 4). III, S. 185f. Unter dem Namen Merians finden sich (ähnlich wie bei Formey) außer seinen Vorträgen von kaum herausragender Bedeutung 9 Éloges auf verstorbene Akademiemitglieder und 13 »Discours prononcées« zu den verschiedenen »Anniversaires« der Akademie. Vgl. Knobloch II (wie Anm. 69). Nr. 519, S. 130. Siehe die Quittung über 3 0 , 1 0 Reichstaler für Abschreibarbeiten von Merian im Akademiearchiv. XVI. Nr. 225, Bl. 255. Dort bescheinigt Euler am 2 0 . 9 . 1 7 5 3 : »Diese Ausgaben sind auf expresse ordre des Hr. Presidenten gemacht worden.« Consentius (wie Anm. 40), S. 5 4 0 - 5 4 4 .

570

Jugement de L'Académie Royale

sehen, aggressiv-satirischen Schrift im Journal

des Sfavans

vom April 1 7 5 3 . 1 9 9 Immerhin

geht aus den Quittungen des Akademiearchivs hervor, daß er im März 1 7 5 3 Geld für den Druck eines Werkes für die Akademie erhalten habe. 200 In jedem Fall erhält Merian seit dem letzten Quartal des Jahres 1 7 5 2 auf Anweisung des Präsidenten eine jährliche Pension von 1 0 0 Reichstalern. 201 Die Gehaltsentwicklung, besonders wenn sie — wie hier im Fall der Akademie - allein von der Entscheidung eines Mannes abhängig ist, ist meist aussagekräftiger als alle Selbstzeugnisse. Auch Formey, dem die Loyalität gegenüber seinem Präsidenten offenbar doch recht schwergefallen ist (er wollte seinen Namen auch nicht zu den Stimmen des

Jugement

geben und wurde erst nach drei Tagen »überzeugt«), 202 erhält unmittelbar nach dem ment,

Juge-

dem Druck und der Versendung eine Gehaltserhöhung. 203

1 1 . Die Politisierung der Auseinandersetzung durch das Eingreifen des Königs Mitte November204 erscheint dann eine Lettre d'un académicien

de Berlin à un

académicien

de Paris bei Etienne de Bourdeaux in Berlin, »Libraire du Roy & de la Court«, sich selbst als eine Replik auf (Voltaires) anonyme Reponse

ausweisend, auf deren Argumente allerdings

überhaupt nicht eingegangen wird. Es handelt sich vielmehr um eine Kombination einer 199 Ygi Mémoire sur les Monades. In: Journal des Sçavans. Additamentum de l'Edition de Hollande. April 1753. Bd. 166, S. 4 3 3 - 4 7 5 . 200

201

202

203

204

Am 13.3.1753 erhält Merian aus der Akademiekasse 36 Eçus fur 12 »Bottes de papier« für den Druck eines Werkes fur die Akademie. Vgl. Akademiearchiv. XVI. Nr. 225, Bl. 251. »En vertu des ordres du Roy Monsieur, vous employerez désormais sur l'Etat de l'Académie M. Merian pour Cent Eçus de pension Annuelle: Et luy payerez le Quartier de cette pension à l'échéance du Quartier où nous sommes. [...] Maupertuis«. Datiert den 11.12.1752 (Akademiearchiv. XVI. Nr. 224, Bl. 109). »Formey même ne voulut pas signer la sentence et le tyran Maupertuis l'y contraignit au but de 3 jours. Il n'y a point d'exemple d'une persécution pareille, et d'un despotisme semblable.« (Best.D5195 [wie Anm. 2].) Voltaire mag hier nicht den zuverlässigsten Zeugen abgeben, vorstellbar aber ist der Vorgang sicherlich, wenn man die Freundschaft Formeys für König und Christian Wolff bedenkt, aber auch den Umstand, daß alle seine näheren Freunde aus der französischen Gemeinde an der Akademie, die Brüder Achard und Francheville, gar nicht an der Abstimmung teilgenommen hatten. »En vertu des ordres du Roy M. Koehler employera désormais dans l'Etat des Pensions M. Formey sur la pied de Six Cent Ecus, à commencer dés le Quartier Courrant. Fait à Berlin ce le Juin 1752. Maupertuis.« (Akademiearchiv. XVI, Nr. 224, Bl. 40.) »J'ai attendu jusqu'ici dans le silence pour voir ce que ferait votre Académie, et s'il ne se trouverait personne qui répondrait aux libelles qu'on a fait imprimer contre vous; mais comme tout le monde est demeuré muet, j'ai élevé ma voix et je n'ai pas voulu qu'il soit dit qu'un homme de mérite fut affronté impunément. Je crois qu'on aurait pu répondre mieux que je ne le fais, et qu'il y avait beaucoup des choses à dire qui me sont échappées; cependant j'ai cru que les sentiments que je fais paraître pour vous ne vous seraient peut-être pas désagréables. Je vous envoie le manuscrit, on

11. Politisierung der Auseinandersetzung

571

wahrhaft: wüsten Schmähschrift gegen Samuel König, gegen den anonymen Autor der Réponse und gegen die Zeitungsschreiber, mit einer überbordenden Lobpreisung auf Maupertuis. Pauschal geht es gegen die ewigen gelehrten Streitigkeiten der Gelehrten, die meistens durch Neid und Mißgunst entstehen, in denen kleine Geister die großen durch Schmähungen verfolgen. Solches wäre nun auch »nôtre illustre Président« geschehen, »sa supériorité, son genie, ses profondes connoissances, ont révolté l'amour propre de Monsieur König«.205 Der Autor maßt sich an, die Mediokrität Königs gegenüber Maupertuis genau zu kennen, der, weil er sich nicht auf das wissenschaftliche Niveau des Präsidenten hätte begeben können, die wissenschaftliche Entdeckung des Präsidenten durch den Verweis auf Leibniz in Frage stellen wollte. Ausdrücklich wird gesagt, daß Samuel König die Leibnizfragmente [sie!] selbst produziert habe, dann behauptend, er hätte vergessen, woher er sie habe. Dadurch habe sich Maupertuis genötigt gesehen, seine Ehre durch Anrufung der Akademie wiederherzustellen, was durch den Jugement nun auch geschehen sei. König, irritiert wegen des Fehlschlags, die Bewunderung Europas für Maupertuis zu verringern, hätte deshalb gemeinsame Sache mit den verächtlichsten Zeitungsschreibern gemacht, um - durch sie gedeckt den Kampf fortzusetzen. Als einen der schlimmsten Schreiber bezeichnet der Autor den »Académicien de Berlin«, den Autor der Reponse. Maupertuis sei zu sehr Philosoph, um sich dadurch aufbringen zu lassen, »mais, nous autres Académiciens, nous devons nous élever contre un furieux, qui, sans pouvoir mordre Monsieur de Maupertuis, pourroit blesser nôtre Corps«. Das ist eine offensichtliche Aufforderung an die anderen Akademiemitglieder! - In den Augen aller Nationen müsse klar sein, daß es unter den Akademikern keinen so entarteten Sohn gebe, der seinen Arm gegen seinen Vater erhebe. Es folgt dann eine Lobpreisung auf Maupertuis, um dessen Ruhm Berlin und St. Malo stritten, der die größten Verdienste ftir die Wiederbelebung der Berliner Akademie habe, der fruchtbar in seinen Werken sei und von aller Welt bewundert werde. Die Gegner Maupertuis' werden eines unwürdigen Charakters bezichtigt, der sich auch darin zeige, daß sie, obwohl der Präsident krank sei, die Auseinandersetzung fortführten. - Dieses unsägliche Machwerk, das alle Kriterien einer Schmähschrift erfüllt, von persönlicher Verleumdung bis zu Ignoranz der Sachverhalte, stammt vom Philosophen-König selber, der, ohne sich über die Angelegenheit anders kundig zu machen als durch seinen Präsidenten, völlig kritiklos und ganz einseitig Partei ergreift. Die Geschichtsschreiber Friedrichs vermeiden daher jede genauere Inhaltsangabe zu diesem Pamphlet und suchen es als notwendige Parteinahme fiiir den kranken Präsidenten zu l'imprime actuellement.« (Friedrich an Maupertuis am 7 . 1 1 . 1 7 5 2 aus Potsdam. In: Briefwechsel Friedrichs des Großen mit Grumbkow und Maupertuis (wie Anm. 14), S. 281.) - An dieser Stelle wird wieder einmal deutlich, daß die Datierung des Briefs Voltaires an die Nichte Denis vom 1 5 . 1 0 . 1 7 5 2 nicht zutreffend sein kann, wenn er bereits über Rezensionen der königlichen Broschüre spricht. Z u r nachträglichen Herstellung oder doch Änderung der Voltaireschen Briefe an Madame Denis, die daher nicht länger als authentische Zeitzeugnisse gelesen werden dürfen vgl. Magnan (wie Anm. 5), S. 1. - In der Vossischen Zeitung wird das Erscheinen der anonymen Broschüre am 14. 11. 1752 angezeigt. 205

Lettre d'un académicien de Berlin à un académicien de Paris. Zitiert nach: Maupertuisiana (wie Anm. 48), S.53f.

572

Jugement de L'Académie Royale

rechtfertigen, auf diese Weise doch einräumend, daß diese grundlosen und bösartigen Beschuldigungen des Königs nicht ganz den Regeln der Kritik entsprechen würden. Sehr rasch — schon am 24. November 1752 erscheint aber eine Rezension dieser anonymen Lettre in den Hamburgischen Freyen Urtheilen, sehr wahrscheinlich wieder von Mylius, die nicht hinter dem Berg hält. Es ist nicht klar, ob ausgerechnet der über die Akademie wie über die »Szene« Berlins immer rasch und gut informierte Berliner Zeitungsschreiber wirklich nicht geahnt hat, von wem diese Lettre stammte. 206 Vielleicht sah er angesichts der völlig inkompetenten und parteiischen Darstellung und der Beschimpfung der Zeitungsschreiber den Autor wiederum in dem von ihm verachteten jungen Merian — auch die Akademie ließ ja mitunter bei Bordeaux drucken. Jedenfalls geht der Rezensent mit einer angesichts des königlichen Autors geradezu atemberaubenden Unbefangenheit mit dieser Schrift um, die »wirklich so was schlechtes« sei, daß sie unter allen erschienenen und noch erscheinenden »die schlechteste Figur machen« wird! 2 0 7 »Es ist ohne dem ein Bastard von einer Streitschrift«, da man nicht erkenne, ob das ganze eine Ironie oder wirklich eine ernstgemeinte Verteidigung für Maupertuis sein solle. Aber »auf eine so abgeschmackte, unverschämte und alles Maaß übersteigende Art gelobet zu werden, ist viel ärger, als ordentlicher Weise geschimpft zu werden«. Gegen die paternalistische Behandlung der Akademiemitglieder »als armselige Creaturen« und ihres »Vaters« Maupertuis meint der Rezensent, daß nicht einmal »Pythagoras sich so eine pedantische Souverainität über seine Schüler kann angemaßt haben als hier den Akademisten zugeschrieben wird«. Uber den Gehalt der Argumente heißt es nur kurz abfertigend und durchaus zutreffend: »Doch dieser Brief sey nun Scherz oder Ernst; so ist doch daraus klar, daß der Verfasser keinen Begriff von der Streitigkeit des Hn. von Maupertuis mit dem Hn. Prof. König hat, oder er hat vorsätzlich und boshafter Weise gelogen.« Und er erinnert durch verschiedene Fragen an die Gehaltlosigkeit der Darstellung dieser Lettre. Uber diesen entschieden unbefangenen Ton urteilte Voltaire später: »Les jounalistes d'Allemagne [...] en [die Lettre des Königs] ont parlé librement, comme de l'essai d'un ecolier qui ne sait pas un mot de la question.« 208 Diese ausdrückliche Anerkennung des großen Mutes der deutschen Journalisten aus dem Munde des französischen Aufklärers, nachdem er die deutschen Aufklärer in Berlin, Leipzig und Gotha kennengelernt hatte, ist bemerkenswert. Wenige Wochen später erscheint jedoch eine zweite Auflage der Lettre d'un académicien de Berlin, zwar wieder anonym - aber diesmal doch sicherheitshalber gedruckt mit dem königlichen Adler - , der König hat gesprochen, so daß 206

207 208

Am 12.12. 1752 schreibt Mylius an von Haller: »Die Lettre d'un Academicien de Berlin ä un Academicien de Paris, worinnen Maupertuis fast vergöttert und Hr. König fast infam gemacht werden, ist hier auf des Hn. von Maupertuis Befehl ins Deutsche übersetzt worden. Verwegene Leute, welche aber gewisse Nachricht haben wollen, versichern, daß dieser Brief von dem Lobredner des la Mettrie [d. i. Friedrich II.] gemacht sey.« (Mylius an Albrecht von Haller am 12. 12.1752. In: Consentius (wie Anm. 40), S. 546.) Freye Urtheile. 91. St. 2 4 . 1 1 . 1 7 5 2 , S. 735. Best.D5067 (wie Anm. 2). Auch hier stimmt wie auch bei anderen Briefen an die Nichte die Datierung nicht, da die Lettre Friedrichs, von der die Rede ist, erst nach dem 10. 11. 1752 veröffentlicht wurde. Er bleibt aber wichtig als Sicht Voltaires aus der Retrospektive.

11. Politisierung der Auseinandersetzung

573

die Schwelle für einen Widerspruch nun viel höher zu liegen kommt. Man darf aber sicher sein, daß diese Entdeckung des Autors die Wirkung der kühnen Myliusschen Rezension nur noch erhöhte. 209 Als Antwort auf Friedrichs Lettre d'un académicien de Berlin à un académicien de Paris erschien dann wiederum eine Lettre d'un académicien de Paris à un académicien de Berlin. Darin geht der anonyme Autor, Voltaire, ausgesprochen sanftmütig auf Friedrichs schlimmes Pamphlet ein. Er erzählt eine Geschichte, wie er und die ganze Pariser Akademie in eben denselben Vorurteilen gegen Samuel König befangen gewesen wären, dann aber ein Engländer (für Voltaire Symbol für Unparteilichkeit und Freiheit des Geistes, übrigens der schon bekannte Marquis von L**N**) hinzukam und sie alle durch Fragen und Argumente des Appel verunsichert habe, um sie dann dadurch zu beschämen, daß sie diesen in der Tat noch gar nicht gelesen hätten. Dies hätte er nun nachgeholt, um dadurch auf die Seite Königs überzutreten, wegen der klaren Überzeugungskraft dieses Appel. Diese Lektüre empfehle er nun auch dem Berliner académicien, um zu einem adäquateren Urteil gelangen zu können, während ja die (Vor-)Urteile seiner früheren Lettre sich allein seinem parteiischen Wohlwollen gegenüber Maupertuis verdankten, der aber dabei sehr überschätzt würde. Letztendlich wird vor allem dazu aufgefordert, beide Seiten zu hören, und den Appel au public zur Kenntnis zu nehmen. Die mit der Einmischung des Königs einhergehende Politisierung der Debatte, die Ubertragung der Kritik an der angemaßten Autorität und dem Despotismus des Präsidenten auch auf den preußischen König zeigt sich anschaulich an zwei Publikationen, die beide den Éloge von Friedrich auf den materialistischen Philosophen La Mettrie enthalten. Im Sommer 1752 erscheint zunächst, mit angeblichem Druckort Berlin, tatsächlich in Leiden, ein neuer Druck dieses königlichen Éloge, allerdings begleitet von einem kommentierten Verzeichnis der Werke La Mettries, aus dem hervorgeht, daß sie alle bloß Variationen von zwei Grundwerken des Philosophen sind, von denen eines auch noch auf eine Hallersche Vorlage zurückgehe, die in ironischer Absicht zur pornographischen Darstellung parodiert worden sei. Den Schluß dieser Ausgabe bilden zwei den deutschen Aufklärern nur zu gut bekannte Briefauszüge, die eben diese Parodie betreffen - die Beschwerde Albrecht von Hallers gegenüber Maupertuis als Akademiepräsidenten über den Akademiker La Mettrie und die nichtssagende Antwort des Präsidenten an den großen Gelehrten. 210 Diese Ausgabe richtet 205

210

Der französische Gesandte in Hamburg meldet noch am 1 . 1 . 1 7 5 3 darüber nach Paris, daß der Hamburger Zeitungsschreiber von des Königs Lettre mit so wenig »menagement« gesprochen habe, »que si elle partoit d'un particulier; O n doit supposer qu'il a ignoré qui en étoit l'Auteur« (Magnan (wie Anm. 5), S. 320). Die Hamburgischen Berichte von gelehrten Sachen, nach ihrem Herausgeber Peter Kohl die »Kohlblätter« genannt, bringen im Januar 1753 eine deutlich respektvollere Anzeige, die zur klaren Parteinahme der Lettre fiir den Präsidenten meint, daß diesem »auch die mehrersten Recht geben«. Im übrigen wird einfach daraus zitiert (Hamburgische Berichte. Januar 1753, S. 78f.). Z u dieser Zeitschrift vgl. Böning/Moepps, Sp. 4 0 8 - 4 1 9 , hier Sp. 410. Vgl. den Brief Albrecht von Hallers an Maupertuis vom 10. 11. 1751. In: Maupertuis et ses correspondants. Lettres inédites du Grand Frédéric, du prince Henri de Prusse, de La Beaumelle, du Président Hénault, du Comte de Tressan, d'Euler, de Kaestner, de Koenig, de Haller, de Condillac, de l'Abbé d'Olivet, du Maréchal d'Ecosse etc. [...] par M. L'Abbé A. le Sueur. Montreuil-sur-Mer 1896, S. 207.

574

Jugement de L'Académie Royale

sich klar gegen Maupertuis und seine Verteidigung der Unverschämtheiten seines Landsmannes gegen den beleidigten deutschen Gelehrten. Als Herausgeber kämen daher fast alle deutschen Verteidiger Albrecht von Hallers in Frage, von Lessing und Mylius in Berlin 2 1 1 über Kästner in Leipzig und Lichtenberg in Göttingen, die Schrift ist aber wohl dem Kreis um Samuel König zuzuordnen. Eine Rezension, die noch Ergänzungen mit derselben Tendenz zum Kommentar enthält, erscheint in der

Bibliothèque impartiale Ende 1 7 5 2 und könnte von Mylius oder Lessing

stammen. 2 1 2 Beide haben nämlich schon im Juni 1 7 5 1 in der seit diesem Jahr monatlich erscheinenden Beilage der

Vossischen Zeitung, dem Neuesten aus dem Reiche des Witzes, die

aufdringlichen Versuche La Mettries, Haller durch pornographische Parodien auf seine religiös-empfindsamen Liebesgedichte lächerlich zu machen, witzig und geistvoll zurückgewiesen. 213 Die Kritik richtete sich vor allem gegen die ungerechtfertigte Verhöhnung Albrecht von Hallers und endet in dem empörten Ausruf: »Ich weiß nicht, was der für eine Stirne haben muß, welcher sich fremde Gedanken auf eine so unerlaubte Art zueignet? Was für eine Beleidigung gegen einen tugendhaften Dichter, seine unschuldigen Empfindungen unter priapische Ausrufungen vermengt zu sehen! Es ist das zweite Unrecht, welches dem Herrn von Haller durch den Herrn de La Mettrie geschieht.« 214 Das erste Unrecht hatte in der provokanten Zueignungsschrift im L'homme brecht von Haller bestanden. In den Berliner ebenfalls ein Schreiben

machine

an Al-

Critischen Nachrichten erscheint in dieser Zeit

an deren Verfasser, in dem ein detaillierter Nachweis gefuhrt wird,

daß dieses Werk nur ein neuer Aufguß eines anderen La Mettrieschen Werkes ist. 215 Diesen

Eloge du sieur de La Mettrie [...] avec le catalogue de ses ouvrages et deux lettres qui

le concernent216 211

212 213

214 215 216

bestellt Voltaire übrigens schon am 11. August 1 7 5 2 bei der Gräfin von

Anschaulich wird das an einem Kommentar der Lichtenbergschen Sudelbücher deutlich: »Jedermann sollte vor dem Entschluß zittern die verwirrte Phantasie eines Freundes mit dessen Güte des Herzens zu entschuldigen, seitdem Kästner uns diese traurige Entschuldigung, womit Maupertuis dem Lamettrie ein Almosen zu geben gedachte, so vortrefflich ins Deutsche übersetzt hat. Ein gutes Herz, verwirrte Phantasie, Das heißt auf deutsch ein Narr war Lamettrie. NB überall erst Ernst und Gründlichkeit und dann die Sarkasmen.« (Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher. Heft F 741. In: Ders.: Schriften und Briefe. 1. Bd. Zweitausendeins: Frankfurt/M. 1994, S. 565. Vgl. auch Abraham Gotthelf Kästner: Vermischte Schriften. l.Teil. Altenburg 1773 (2. Aufl.), S. 248. Der diesen Vers enthaltende Band ist übrigens Maupertuis gewidmet gewesen.) Bibliothèque impartiale für November/Dezember 1752. T. VI. Troisième partie, S. 451 f. Das Neueste aus dem Reich des Witzes (Beilage zur Vossischen Zeitung). Juni 1751. Zitiert nach LM 4 (wie Am. 71), S. 279. Ein gewisser Respekt fur die Konsequenz des Denkens und auch des Lebens dieses materialistischen und wenig tugendhaften Philosophen findet seinen Ausdruck auch im Nachruf auf den verstorbenen La Mettrie im gelehrten Artikel der Vossischen Zeitung, der lange vor dem Eloge des Königs erschien. Diese kurze Würdigung des bekämpften La Mettrie liest sich beinah ein bißchen familiär, spielt mit dessen eigener Terminologie und erfüllt die »französische« Forderung nach »Witz« mit gekonnter Ironie. Ebd., S. 4 2 3 - 4 2 8 . Vgl. ebd., S. 270-273. Eloge du sieur de La Mettrie [...] avec le catalogue de ses ouvrages et deux lettres qui le concernent. [Leiden] Berlin 1752.

11. Politisierung der Auseinandersetzung

575

Bentinck, und er wiederholt seine Bitte am 15. August und noch einmal am 25. August. 217 Das heißt, es ist ihm dringend, und es interessiert ihn. Und - am 5. September 1752 schickt er ihn dem König, der immerhin einigen Wert auf die Anwerbung von Albrecht von Haller für seine Akademie gelegt hatte, der hier offensichtlich durch La Mettrie düpiert und durch Maupertuis mit größter Gleichgültigkeit beschwichtigt worden war. Daß diese Schrift Voltaires Interesse erregt hat, könnte aber auch ein Ausweis dafür sein, daß er sich im Zusammenhang mit der Verteidigung Königs bereits der besonderen Problemlage der deutschen Aufklärer zugewandt hatte, da allein die beiden Briefauszüge Albrecht von Hallers und Maupertuis' im Anhang zum bekannten Eloge auf La Mettrie Neuigkeitswert haben konnten. Zu Anfang des Jahres 1753 erscheint dann aber in den Niederlanden ein gemeinsamer Druck der beiden »Eloges« von Friedrich auf La Mettrie und Jordan zusammen mit seiner anonym gedruckten »Lettre« zur Verteidigung von Maupertuis. 218 Die Veröffentlichung unter dem Titel (drei) Éloges zu Anfang des neuen Jahres richtete sich damit aber nicht mehr gegen Maupertuis, sondern war unter den gegebenen Umständen offensichtlich in der Lage, der Reputation ihres Autors, des »aufgeklärten« Königs, zu schaden, dessen parteiisches Lob des beleidigenden La Mettrie und des despotischen Präsidenten beim deutschen Publikum große Bitterkeit hervorgerufen hatten. Voltaire, der inzwischen nach einem Krach mit dem König in Berlin im Ungewissen über seinen königlichen Abschied festsaß, ist allerdings nicht gerade begeistert über diese direkte Herausforderung Friedrichs. Er beschwört Samuel König, diese Schrift zu unterdrücken. Er könne gar nicht erkennen, was diese Zusammenstellung mit der laufenden Debatte zu tun habe. In der Tat berührt die Veröffentlichung der Eloges vor allem spezifische Interessen der deutschen Aufklärer. Nur aus ihrer besonderen Sicht erschließt sich der latente Protest gegen den König: vom Protest gegen die Bevorzugung der Franzosen und der Ablehnung der französischen Freigeisterei am Hofe bis hin zum quasipolitischen Protest gegen den Despotismus des Akademiepräsidenten wie des Königs in dieser Debatte. Während in Berlin die Spannung angesichts der persönlichen Einmischung des Königs steigt und die Situation an der Akademie selbst unerträglich zu werden beginnt, 219 erscheinen mit Druckorten in Leipzig, Leiden und London nun immer neue Beiträge zur Debatte, die zunehmend einen ironischen Ton oder sogar satirischen Charakter annehmen. Samuel König weiß nicht, wer die Autoren sind, schreibt er an Haller. 220 Im Novemberheft, als es

217 Yg[ Martin Fontius: Voltaire in Berlin. Zur Geschichte der bei G. C. Walther veröffentlichten Werke Voltaires. Berlin 1966, S. 100 (im folg. Fontius). 2 1 8 Eloges de trois Philosophes. De ses mains toujours chastes/11 écrit dans leur fastes/Quelques noms immortels. Ode d. R. d. P. London [Leiden] 1753. 2 1 9 Sulzer meldet an Künzli am 10. 11. 1752: »Weil Maupertuis alle Gewalt in den Händen hat, und man nicht sehr laut gegen ihn reden darf, so ist die Verbitterung im Geheimen desto stärker, und dieses thut der Akademie großen Schaden [...].« (Hirzel (wie Anm. 53), S. 55 f.) Und noch am 3 0 . 3 . 1753 schreibt er an Bodmer: »Die Akademie wünscht sehr, daß diese Unruhen einmal vorbei seyn möchten. Aber so viel ich sehe, wird der Krieg heftiger werden, als er jehmals gewesen ist.« (Briefe der Schweizer (wie Anm. 80), S. 197.) 220 »Quant à la lettre du marquis de L. etc., ayez la bonté de ne pas la mettre sur mon compte; jusqu'ici j'en ignore l'auteur, aussi bien que Vous; je n'y ai donc aucune part absolument, non plus qu'à la

5 76

Jugement de L'Académie Royale

durch Zeitungen, aber auch durch Königs Appel wie durch die Voltairesche Reponse längst bekannt war, veröffentlicht endlich auch Gottscheds Neustes aus der anmuthigen Gelehrsamkeit m Leipzig den Brief aus Utrecht vom 15. August im französischen Original als Beitrag zur laufenden Debatte 221 — mit der Mitteilung über das Ersuchen von Maupertuis an die Prinzessin von Oranien und den Herzog von Braunschweig, Samuel König Stillschweigen in dieser Sache aufzuerlegen. Hinzugefugt wird die Nachricht, daß dies zwar beim regierenden Fürsten von Braunschweig-Wolfenbüttel beinah gelungen, jedoch durch die Prinzessin von Oranien abgewendet worden sei. Am Schluß des Briefes heißt es voller Empörung: »Si Mr. de Maupertuis souhaite que Mr. Koenig se taise, le Public ne le souhaite point, il attend trop de Mr. Koenig & il serait fâché qu'il du se taire.«222 Und dann folgt die Aufforderung, »de l'instruire le Public des démarchés de Mr. Maupertuis«, 223 um ein solches Verbot der Verteidigung für König auch künftig zu verhindern. Dafür war Gottsched ein wenig spät, dennoch ist sein Urteil eindeutig — Maupertuis habe seine politische Macht mißbraucht, um seine wissenschaftliche Meinung durchzusetzen. Auch hier wieder der problemlose Abdruck eines französischen Briefes in einer deutschen Zeitschrift. Es erscheint in dieser Zeit auch eine Lettre d'un savant à le Marquis de L** N**, darin das wenige Lob, das der »Marquis« gegenüber der »Marquise« immerhin noch zwei früheren Schriften von Maupertuis gezollt hatte, als unverdient zurückgewiesen wird. Maupertuis hätte an der Lapplandreise kein Verdienst gehabt, das über das seiner Mitreisenden hinausgehe; weder sei die Idee von ihm gewesen, noch wären die wichtigsten Arbeiten auf der Reise von ihm durchgeführt worden. Auch seine Arbeiten zur Nautik könnten keinerlei Originalität beanspruchen, sondern wären anderen als den Seeleuten schon unter dem Namen der Trigonometrie bekannt. 224 Der Extrait d'une lettre de Berlin du 12. Novembre 1752 ist erneut eine witzige Satire auf Maupertuis' Eigenliebe. Man wirft, ähnlich wie schon in der Lettre de Marquis de L** N**, Samuel König vor, eine Entdeckung anzugreifen, die dem Autor notwendig lieb und teuer sein mußte, da man aus ihr nicht nur den einzigen Gottesbeweis, sondern auch alles, was in lettre d'un académicien de Berlin à un académicien de Paris, laquelle se trouve dans nos journeaux et est venue de Berlin indubitablement. O n ne peut pas empêcher ces sortes d'écrits avec les meilleures intentions du monde. [...] Le roi de P., à la réquisition de Maupertuis, a fait défendre et enlever les exemplaires de la lettre du marquis de ** 'la marquise. Voilà un autre pas de clerc de notre président.« (König an von Haller am 10.11.1752. Zitiert nach: Mittheilungen (wie Anm. 38). 1845. Nr. 4 6 - 4 9 , S. 78f.) 221

Eine Kopie des Maupertuisschen Anschreibens an die Prinzessin von Oranien hat König an Albrecht von Haller übersandt, aus dessen Nachlaß sie gedruckt vorliegt. Siehe ebd., Anm. 34, beginnend auf S. 6 9 - 7 2 . - Ein anderer Brief de Jonges an Gottsched vom 15.8. 1752 aus Utrecht befindet sich noch in der Universitätsbibliothek Leipzig. Ms 0342. Bd. 17, Bl. 409r. 222 Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. Windmonat 1752. Nr. XI, S. 793. 223 Ebd., S . 7 9 3 f . 224 Yg[ L e t t r e d ' u n savant à le Marquis de L** N**. Zitiert nach: Maupertuisiana (wie Anm. 48), S. 1 3 - 1 6 . (Vollständige Sammlung (wie Anm. 3), S. 4 1 3 - 4 1 5 ) . - Vgl. dazu Mary Terall: Representing the Earth's Shape. The Polemics Surrounding Maupertuis's Expedition to Lapland. In: ISIS 83 (1992), S. 2 1 8 - 2 3 7 .

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der Philosophie von Bedeutung sein kann, ziehen könnte. König hätte sich daher die Folgen des Maupertuisschen Argers selber zuzuschreiben. Schon an dem roten Saffianleder, dem Goldschnitt und dem Elephantenpapier, womit die Prachtausgaben des Jugement verschickt worden wären, hätte König sehen müssen, daß Maupertuis es ernst meinte und seine Entdeckung nicht einfach aufgeben würde. Es finden sich besondere Spitzen gegen Merian als ein bloßes Werkzeug in den Händen des Präsidenten, welcher jenen dafür bereits zum Vice-Sekretär »erschaffen« habe und ihm eine Pension von 100 Talern zahle. Auch sonst werden Details aus dem Akademiealltag berichtet, aus der die autokratische Herrschaft des Präsidenten hervorleuchtet. Insbesondere werden der frühere Kurator von Schmettau, Voltaire, die Professoren Grischow und Passavant genannt, die berichten könnten, »combien il est dangereux de lui déplaire, ils se ressouviendront avec effroi des orages qu'il peut exciter contre ceux qui sont assez mal avisés pour ne pas se soumettre aveuglément à son despotisme«. 225 Außerdem werden hier die Argumente gegen eine Originalität der früheren Werke Maupertuis', die auch in der besonderen Lettre d'un Savant à Marquis de L ** N** vorgetragen werden, aufgenommen, und schließlich wird noch die besondere Freundschaft von Maupertuis mit dem den deutschen Aufklärern so verächtlichen La Mettrie hervorgehoben. Als Antwort auf die drei Lettres concernant le Jugement des »Triumvirats« erschien auch noch eine Lettre d'un académicien de Berlin à un académicien à London, in der man sich darüber mokiert, daß die Autoren der drei Lettres während ihrer Hundstagsferien nicht mehr zustande gebracht hätten, als die Zeitungsschreiber vor allem durch den Herrn Merian beschimpfen zu lassen. Die klaren und einleuchtenden Argumente des Appel au public ignorierend, würden sie des Appel nur in einer Nachschrift gedenken, um darin König auch bloß die Verführung oder Bezahlung der Zeitungsschreiber zu seinen Zwecken vorzuwerfen. Die in den drei Briefen wiederholte Versicherung, die ganze Akademie stünde hinter dem Urteil, wird entschieden bestritten, da »toute cette capitale est informée qu'un des Membres, dont le nom se trouve aussi sur la liste des prétendus Consentans, a protesté contre le Jugement en pleine assemblée«. 226 Als Beleg wird ein außerordentlich detaillierter Bericht der aufregenden Akademiesitzung vom 13. April gegeben. Die Authentizität dieses Berichts wird vor allem dadurch wahrscheinlich, daß die Frage, inwiefern es eine Verweigerung, aber nach Sulzers späterer Erklärung keine »förmliche« Protestation in dieser Sitzung gab, aus dieser Darstellung des Verlaufs nachvollziehbar wird. Nachdem Euler sein Exposé »avec une emphase merveilleuse« vorgetragen hätte, habe der Vizepräsident von Keith die Frage gestellt, ob nicht alle diesem Urteil beipflichten wollten. Betretenes Schweigen sei die Antwort gewesen, worauf der Kurator erst die einzelnen Akademisten persönlich nacheinander abgefragt hätte. Die überraschten académiciens hätten sich durch ein Kopfnicken aus der

225

226

Extrait d'une lettre de Berlin du 12. Novembre 1752. Zitiert nach: Maupertuisiana (wie Anm.48), S. 10. Extrait d'une lettre d'un académicien de Berlin à un Membre de la société Royale de Londres. Zitiert nach: Ebd., S. 3 - 7 , hier S. 5 (»da diese ganze Residenzstadt weis, daß eines ihrer Mitglieder, dessen Namen ebenfalls auf der Liste der vorgeblichen Einstimmenden steht, in öffentlicher Versammlung wider den Urteilsspruch protestirt hat«). (Vollständige Sammlung (wie Anm. 3), S. 336.)

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Jugement de L'Académie Royale

Affäre zu ziehen gesucht, bis die Reihe an Sulzer — Monsieur Z. 227 — kam. »Cet Académicien moins timide que les autres, ne trouva point à propos de dissimuler son sentiment; il osa parler, & avec une franchise qui lui fait beaucoup d'honneur, il déclara qu'il ne pouvoit approuver ce.«228 Uber diese unerwartete Situation entrüstet, habe der entsetzte Vizepräsident nun Sulzer angeschrien, »Hélas, Monsieur! Que faites-vous? Un si grand homme! Ah! ...«, um dann mit dem Befragen der einzelnen fortzufahren. Dieser Vorgang wurde aber unterbrochen, da sich die Akademisten plötzlich von ihren Plätzen erhoben hätten, anfingen zu reden und zu diskutieren, ohne daß es noch einmal gelungen wäre, die Ruhe wiederherzustellen, so daß alle auseinandergingen. Ungeachtet dessen seien alle anwesenden Akademiemitglieder auf die Liste der Einstimmigkeit gesetzt worden, und mehr noch, auch sogar die drei Gäste der Akademie, darunter zwei bloße Studenten aus Zürich, wurden dazugesetzt, da der Mathematiker Euler »est accoutumé à regarder en toute chose à la quantité plutôt qu'à la qualité«229 und deshalb die Vermehrung der Stimmen für die Bestätigung des Urteils geeignet gefunden hätte. Die Schrift zeigt auch darin eine große Vertrautheit mit den Verhältnissen und Vorkommnissen an der Akademie, als über Eulers erste Reaktion auf den Titel des Königschen Appel au public dessen Ausruf berichtet wird: »Un Appel au Public! Qu'est-ce que le Public? C'est la Poisonnerie, pour en écouter les sentimens des Poissonnières, ses Juges, qui composent le Public.«230 Angesichts des aristokratischen Geistes, mit dem Euler in seiner Lettre an Maupertuis die Zeitungsschreiber beschimpft und verleumdet hat, mit dem er ihnen - zu Unrecht — jede Urteilskraft und -berechtigung absprach, klingt auch dieser Bericht glaubwürdig. Nicht zuletzt lief in Berlin in dieser Zeit auch am Hofe ein handschriftlicher Brief von Voltaire an Samuel König vom 17. November 231 um, in dem er noch einmal ausführlich und in ganz ernsthaftem Ton referierte, warum ihn die Argumente Königs im Appel überzeugt hätten, nachdem er anfänglich selber von der Berechtigung des Jugement der Berliner Akademie ausgegangen war. Zugleich erklärte er, warum er trotz seiner persönlichen Ablehnung der Leibnizschen Philosophie die Partei Königs ergreife, nämlich wegen des unerhörten Verfahrens der Akademie bzw. ihres Präsidenten, worüber sich das ganze »Europe littéraire« mit ihm empöre.

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231

In der deutschen Übersetzung steht »Herr S.«, vgl. ebd. Extrait d'une lettre d'un académicien de Berlin à un Membre de la société Royale de Londres. Zitiert nach: Maupertuisiana (wie Anm. 48), S. 6. Ebd., S. 7. Ebd. (»Eine Beruffung an das gemeine Wesen? Was ist das für ein gemeines Wesen? Das wird wohl der Fischmarkt seyn! Man trage also seine Beruffung auf das gemeine Wesen, auf den Fischmarkt; um zu hören, was die Fischweiber, diese Richter, die das gemeine Wesen ausmachen, dazu sagen werden.«) (Vollständige Sammlung (wie Anm. 3), S. 339.) Voltaire an König am 17. 11. 1752. Best.D5076 (wie Anm. 2).

12. Dr. Akakia

und seine öffentliche Verbrennung

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12. Der Dr. Akakia und seine öffentliche Verbrennung durch den Henker Erst jetzt, mehr als ein halbes Jahr nach dem Jugement, mitten in die nun schon durch immer neue Schriften aufgeheizte Stimmung platzt Anfang Dezember die beißende Satire

Diatribe du Docteur Akakia, médecin du Pape (angeblicher Druckort Rom), die scheinbar mit der Streitfrage gar nichts mehr zu tun hat, in der weder vom Jugement noch vom Appel die Rede ist und in der auch keine Namen der Kontrahenten genannt werden. Ihr Autor war, wie sich sehr schnell herumsprach, niemand anders als Voltaire. Die Schrift kam nur heimlich und nur in wenigen Exemplaren mit der Post nach Berlin; sie war wieder einmal bei Luzac in Leiden gedruckt. Am 18. Dezember berichtet Christian Wolff an Gottsched über das Erscheinen und den Inhalt der Schrift und weiß auch den Autor schon vom Hörensagen. 232 Voltaire hatte ursprünglich sogar versucht, den Dr. Akakia in Berlin bzw. Potsdam drucken zu lassen. Als bei Manuskriptübergabe in der Potsdamer Druckerei der Witwe Naumann nach der Zensur gefragt wurde, legte Voltaires Sekretär das für dessen Bolingbroke erteilte königliche Privileg vor. Die Sache flog aber am 25. November, noch während des Drucks, durch eine Denunziation eines zufällig dazu kommenden anderen Autors auf, des »capitaine des ingénieurs Simon Lefebvre, membre de l'académie grâce à Maupertuis«, 233 worüber Voltaire allerdings umgehend informiert wurde. Möglicherweise hat Voltaire dann die Flucht nach vorn angetreten und Friedrich die Satire en passant vorgelesen. Darüber konnte der Monarch wohl noch lachen, forderte aber Voltaire auf, das Manuskript ins Feuer zu werfen, und ließ sich insbesondere mündlich und schriftlich versprechen, daß diese Satire niemals im Druck erscheinen würde. 234 Am 27. November, nachdem der König wohl von der Absicht des heimlichen Druckes erfahren hatte, mußte Voltaire jedenfalls, vermutlich nach einem Gewitter von Seiten Friedrichs, in Potsdam eine vom König vorbereitete und sehr hart formulierte Erklärung unterschreiben, die er nur durch einen längeren eigenhändig formulierten Zusatz abzumildern vermochte. 235 Er sollte unterzeichnen, nichts mehr gegen niemand zu schreiben, weder gegen die französische Regierung, noch gegen Minister, noch gegen andere Souveräne oder aber »gens de lettre illustres«, was unterstellte, er hätte

Wolff an Gottsched am 1 8 . 1 2 . 1 7 5 2 . In: UB Leipzig. Ms 0342. Bd. 17, Bl. 616r. 233 Vg] Fleischauer (wie Anm. 5), S . 7 6 f . Vgl. auch: Briefwechsel Friedrichs des Grossen mit Voltaire. Hg. Reinhold Koser u. Hans Droysen. Bd. 2. Leipzig 1909, S. 388. 234 Nach Friedrichs eigenem Bericht, im milderen Licht der Erinnerung, scheint diese Begebenheit samt mündlichem und schriftlichen »Versprechen« Voltaires vor dem Auffliegen des heimlichen Drucks der Satire in Potsdam vorgefallen zu sein, was auch mit den erst am 29. und 30. 1 1 . 1 7 5 2 erfolgten Verhören von Francheville und dem Faktor Bolte der Witwe Naumann zusammenstimmen würde. Vgl. Friedrichs II. Erzählung betreffend den Streit zwischen Voltaire und Maupertuis (nach de Catts Bericht), wo es verniedlichend heißt: »Der Spitzbube hatte mir feierlich versprochen, daß er diese Schmähschrift, in der übrigens viel Geist, viel Wahrheit und viel guter Witz steckte, nicht würde drucken lassen, ja er hatte mir dieses Versprechen sogar schriftlich gegeben, und was thut der Schlingel? Er schickt sie ruhig zum Drucker.« (Zitiert nach: Harnack (wie Anm. 4). II, S. 303.) 232

235

Voltaire an Friedrich am 27. 1 1 . 1 7 5 2 . Best.D5085 (wie Anm. 2).

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dies alles bisher getan. Des weiteren sollte er sich verpflichten, und dies bezog sich auf das in täuschender Absicht gebrauchte Druckprivileg, keine Briefe Ihrer Majestät zu mißbrauchen und seine Verhaltensweise entsprechend den Verpflichtungen eines Kammerherren seiner Majestät auszurichten. Trotz der offensichtlich angespannten Situation hat Voltaire so viel Nerven behalten, den königlichen Text zum einen durch die kluge Versicherung zu ergänzen, überhaupt niemals gegen die französische Regierung oder Frankreich geschrieben zu haben, zum anderen aber der Erklärung beinah den Charakter eines Briefes zu geben, indem er sogar jetzt noch die dringende Bitte an den König richtete, endlich den Appel au public zu lesen, wenngleich er, Voltaire, sich unterwerfe und die Debatte vergessen werde. Vom folgenden Tage ist ein Brief Voltaires an den Engländer Everard Fawkener überliefert, in dessen emphatisch bekundeter Sehnsucht nach dem freien England der gerade erlebte Schrecken durch den absolutistischen König noch nachzuschwingen scheint.236 Im übrigen leugnete Voltaire, irgend etwas mit dem Druck des Dr. Akakia zu tun zu haben, was ihm aber nur noch einen ruhigen Sonntag verschaffte.237 Am Montag, dem 29. November, und am folgenden Tag wurden erst der Faktor Bauer der Witwe Naumann in Potsdam, auf dessen Aussage hin dann Voltaires Sekretär Francheville zum Verhör bestellt, in dessen Verlauf schließlich klar wurde, daß Voltaire selbst den Auftrag zum Druck erteilt hatte. 238 Friedrich hat die ganze noch nicht fertig gedruckte Potsdamer Auflage (von nur etwa 60 Exemplaren) 239 aufheben und vernichten lassen, so daß kein Exemplar davon auf uns gekommen ist.240 Zugleich hat er Voltaire noch einmal verwarnt, unbedingt Sorge dafür zu

236

»It is very likely j shall take a little journey, suppose my bad health will permitt. Would to god! My journey was to London, and that j could renew to you my tender respect, my friendship and my gratitude.« (Best.D5086 [wieAnm.2].)

237

Vgl. Fleischauer (wie Anm. 5), S. 7 8 f .

238

Der Wortlaut des Protokolls lautet, Francheville, Sekretär von Voltaire, habe im Beisein des Faktors Bauer, der Witwe Naumann und des Tambour Bolte folgendes ausgesagt: »Es sey das Billet, so er gebracht, einmahl von des Königs eigener Hand, darauf sollte u. müßten sie drucken, wobey sein Herr, Mr. De Voltaire bestellen ließ, nicht ein Stück mehr zu drucken, widrigenfalls aber [...] sollte die Druckerey geschlossen und sie alle nach Spandau gebracht werden.« (Geh. Staatsarchiv Dahlem: Rep. XLVII: Friedrich II., C: Voltairiana, Nr. 6, Bl. 2r) Auf 3r und 4r finden sich das Geständnis Franchevilles vom Vortag sowie das vom Faktor Bauer vom 30. November 1752.

239

Vgl. Hans-Peter Jaeck: Kammerherr und König. Voltaire in Preußen. Berlin 1987, S. 2 8 0 . Am Montag, dem 2 9 . 1 . 1752, berichtet Friedrich seinem Akademiepräsidenten: »Après bien des perquisitions et un détail assez ennuyeux, je me suis emparé du Kaiaka [sic], que j'ai brûlé, et j'ai annoncé à l'auteur que sur le champ il fallait sortir de ma maison ou renoncer au métier infâme de faiseur de libelles, de sorte que vous devez être tranquillisé de totes les façons.« (In: Briefwechsel Friedrich des Großen mit Grumbkow und Maupertuis (wie Anm. 14), S. 284.) Und am 10. 12. versichert Friedrich dem offensichtlich zu Recht zweifelnden Maupertuis: »Ne vous embarrassez de rien, mon cher Maupertuis, l'affaire des libelles est finie. J'ai parlé si vrai à l'homme, je lui ai si fort lavé la tête que je ne crois pas qu'il retourne, et je connais son âme lâche, incapable de sentiments d'honneur; je l'ai intimidé du côté de la bourse, ce qui a fait tout l'effet que j'en attendais, je lui ai déclairé enfin nettement que ma maison devait être un sanctuaire et non une retraite de brigands [...].« (Ebd., S. 285.)

240

12. Dr.Akakia und seine öffentliche Verbrennung

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tragen, ausländische Drucke zu verhindern. 241 Tatsächlich aber hatte Voltaire das Manuskript längst nach Leiden zum Druck befördert und konnte oder wollte nun diesen Auftrag nicht mehr aufhalten. Als dann seit Mitte Dezember ungeachtet der königlichen Gegenmaßnahmen die ersten Exemplare mit der Post nach Berlin kamen, teils gezielt an bestimmte Personen geschickt, 242 teils mit den Zeitungen an die Buchhändler (aber nur in geringer Menge und daher sehr teuer), gerät der König außer sich. 243 Seit dieser Zeit herrschte eisiges Schweigen zwischen dem König und Voltaire. Formey berichtet in seinen Erinnerungen über »la plus vive indignation ä V.«. 244 Friedrich geht am 8. Dezember nach Berlin, ohne wie gewöhnlich Voltaire auch dazu einzuladen. Darauf macht dieser sich bald darauf auch nach Berlin auf, um dort aber nun im Hause Franchevilles, des Vaters seines Sekretärs, am Gendarmenmarkt Quartier zu nehmen und sich zugleich beim französischen Gesandten als Bürger Frankreichs unter dessen Schutz zu stellen. 245 Am 23. Dezember gibt der König Ordre zur öffentlichen Verbrennung der Schrift durch den Scharfrichter auf allen öffentlichen Plätzen Berlins sowie zur öffentlichen Bekanntmachung des Urteils in den Zeitungen. 246 Der Befehl zu diesen Maßnahmen war keineswegs selbstverständlich, etwa als berechtigte Reaktion auf die Widerborstigkeit Voltaires, der die Gastfreundschaft des Königs mißbraucht hätte, wie dies mitunter dargestellt wird. Nicht nur war Preußen unter Friedrich II. für seine liberale Handhabung der Zensur weithin bekannt und hielt sich der König selbst viel darauf zugute; sowohl eine öffentliche Bücherverbrennung als auch eine öffentliche »Kundmachung« hatten besondere Funktionen in der Strafverfolgung und stellten besondere Grade der Strafe und der Abschreckung dar: »Solcherart wird auch die Urteilsverlesung eigens hervorgehoben.« 247 Derartige amtliche »Kundmachungen« wurden erst seit den 30er Jahren zunehmend durch die Zeitungen übernommen, stellten aber auch dann keine bloßen Mitteilungen dar, wie auch schon aus der Gleichförmigkeit der Bekanntmachung deutlich werden sollte. 248 Am 24. Dezember 1752 werden die beschlagnahmten Exemplare auf mehreren öffentlichen Plätzen Berlins vom Scharfrichter verbrannt, so auf dem Neumarkt, aber auch auf dem Gendarmenmarkt, sozusagen unter den Fenstern von Voltaire. Die Bekanntmachung 241 242 243

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Vgl. Magnan (wie Anm. 5), S. 505f. Formey: Souvenirs (wie Anm. 63), S. 270f. Maupertuis scheint den Akakia nach einem Trostbrief von Friedrich vom 2 1 . 1 2 . 1752 am Montag, dem 18. 12., erhalten zu haben. Friedrich hatte darin noch einmal versprochen, das wäre das letzte Mal gewesen. Vgl. Briefwechsel Friedrich des Großen mit Grumbkow und Maupertuis (wie Anm. 14), S.285. Formey: Souvenirs (wie Anm. 63), S. 271. Vgl. Fleischauer (wie Anm. 5), S.79, sowie den Brief von La Touche an Saint-Contest vom 15. 1. 1753. In: Magnan (wie Anm. 5), S.321. Voltaire am 1 . 1 . 1 7 5 3 an Friedrich. BestD.5132 (wie Anm. 2). Vgl. dazu Hermann Rafetseder: Buchhinrichtungen. Öffentliche Schriftenverbrennungen durch Henkershand als Extremfälle der Zensur. In: »Unmoralisch an sich ...«. Zensur im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. Herbert G. Göpfert u. Erdmann Weyrauch (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, 13). Harrassowitz: Wiesbaden 1988, S. 8 9 - 1 0 3 , hier besonders Fußnote 17. Vgl. ebd.

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der königlichen Ordre über das Autodafé in der königlichen Residenzstadt erscheint am 26. Dezember in allen preußischen Zeitungen. Der Name Voltaires als des Autors der »infamen Broschüre, betitelt Diatribe«, sollte dabei ausdrücklich genannt sein. Auch in der lange von Mylius redigierten Vossischen Zeitung vom Dienstag, dem 26. Dezember 1752, heißt es: »Am Sonntage des Mittags, wurde eine schändliche Schmähschrift La Diatribe &c. betittelt, durch die Hand des Scharfrichters, an verschiedenen Orten öffentlich verbrannt. Man sagt, daß der Herr von Voltaire Verfasser davon sey. Sie ist wider den Herrn von Maupertuis, Präsidenten der hiesigen Königl. Akademie der Wissenschaften.«249 Maupertuis genießt das außergewöhnlich harte Vorgehen des Königs gegen seinen berühmten Widersacher außerordentlich und beschreibt den großen Auflauf an Zuschauern bei diesem Spektakel mit großer Befriedigung als klare Zustimmung zu diesem Ereignis. 250 Der umtriebige Christlob Mylius aber hat inzwischen — vielleicht mit Unterstützung anderer junger Leute - den Dr. Akakia schon ins Deutsche übersetzt, handschriftlich vervielfältigt und Spottverse unter Angabe bekannter Melodien hinzugefugt, die am ersten Weihnachtsmorgen auf den Straßen Berlins ausgelegt werden, denn er verfugte nicht einmal über ein falsches .Drwivkprivileg.251 Außerdem versandte er seine deutsche Ubersetzung (wahrscheinlich mit den bekannten Knittelversen) an einzelne Personen und ließ diese das Porto zahlen, so an den ihm befreundeten, in dieser Debatte wegen Eulers Beteiligung aber recht zurückhaltenden Abraham Gotthelf Kästner 252 und - mit einiger Frechheit - sogar an Leonhard Euler selbst. 253 249

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Vossische Zeitung. St. 55. Die Spenersche Zeitung vom selben Tag lautet ebenso. Die Gazette d'Utrecht vom 2.1.1753 unterdrückt den Namen des Autors, folgt aber dem Urteil über den Charakter der Schrift. »Dimanche passé son libelle fut brûlé par la main du bourreau sous la potence, et dans toutes les places publiques. Cette exécution beaucoup plus infamante encore qu'elle n'est en France, a été faite par ordre exprès du roi au grand applaudissement de tous les honnêtes gens, et même de la place on vit arriver de toutes parts des gens en fiacre pour se chauffer à ce feu.« (Maupertuis an François Augustin Paradis de Moncrif am 30.12. 1752. BestD5126 [wie Anm. 2].) So berichtet die Gazette de Cologne am 9.1. 1753. Die Zeitung bietet sogar für die von Mylius anhand eines deutschen Volksliedes angegebene Melodie fur seine längere »Ballade« zum Dr. Akakia ein passendes französisch-holländisches an. Vgl. Magnan (wie Anm. 5), S. 321. Siehe auch KaulfussDiesch (wie Anm. 166). Kästner verfügte jedenfalls über ein vollständiges handschriftliches Exemplar, wenn er Nicolai am 26.4.1791 berichtet: »Daß der Acacia in Leiden gedruckt ist, bin ich geneigt zu glauben durch Samuel Königs Besorgung, Maupertuis zum Poßen. Christlob Mylius, der Maupertuis nicht gut war hat auf die Verbrennung ein Bänkelsängerlied gemacht, das er geschrieben in Berlin ausstreuen ließ mir schickte er es nach Leipzig, ich weiß nicht ob ich es noch habe, aus dem Gedächtnisse aber kann ich die letzte Strophe herschreiben: Drum merket dieß ihr lieben Leut / In dieser letzt betrübten Zeit / Sonst kosts euch Wams und Hosen / Geht klüglich um mit Spott und Hohn / Schimpft Gott und die Religion / Nur schonet die Franzosen. Ganz im Zusammenhang war der letzte Gedanke nicht weil Franzosen gegen Franzosen waren«. (Handschrift der Staatsbibl. Berlin. Preuß. Kulturbesitz; Nicolais Briefsammlung.) Zitiert nach: Consentius (wie Anm. 40), Anm. 2 auf S. 783. »Noch habe beygelegt eine teutsche Übersetzung der Schandschrift Akakia, welche mir mit der Post zugeschickt worden und 6 gg. Porto gekostet.« Vgl. Euler an Schumacher am 13./24.2. 1753. In: Juskevic/Winter (wie Anm. 21). Teil 2, S. 304.

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Die durch diese drastische Abschreckungsmaßnahme des Königs zugunsten von Maupertuis hervorgerufene Furcht konnte jedoch das ungeheure Lachen nicht aufhalten, das die in jeder Hinsicht vollkommene Satire des Dr. Akakia auslöste, durch die Maupertuis einer unsterblichen Lächerlichkeit übergeben wurde, wie man bis heute an allen Maupertuis-Darstellungen sehen kann. 254 Das Lachen des Publikums, sogar oder erst recht in Berlin selbst, gewann seine befreiende Kraft gerade aus dem angestauten Unwillen und auch dem Zorn über die angemaßte Autorität des Akademiepräsidenten und über die von ihm ausgehenden Versuche, die Gegner durch politische Machtmittel zum Schweigen zu bringen. Die Diatribe des Dr. Akakia beruht auf der genialen satirischen Idee, die Maupertuisschen Lettres einem jungen Mann zuzuschreiben; auf diese Weise konnte man alle Kritik an ihnen von jeder Schärfe freihalten und statt dessen in einem väterlich-besorgten, aber auch gönnerhaften Ton argumentieren. Man wird im Text keine Beleidigungen oder Verleumdungen finden. Die guten Ratschläge fiir den etwas überspannten »jungen Mann« konterkarieren vorzüglich die angemaßte Autorität und Eitelkeit des Präsidenten der Akademie. Die Komik des Textes kam auf diese Weise je mehr zum Tragen, desto besser die Leser selber mit den präsidialen Methoden von Maupertuis bekannt waren. Der besondere Witz dieser satirischen Grundidee des Akakia liegt aber darin, daß sie sich auf einen ureigenen Gedanken von Maupertuis selber berufen kann: Ganz unabhängig von Leibniz sei nämlich der »junge Mann« zu der Auffassung gelangt, daß die Reife unseres Lebens erst mit dem Tode erreicht sei, und danach wäre Maupertuis in der Tat noch nicht reif und also - ein junger Mann ! Die Diatribe des Dr. Akakia ist eigentlich nur der Titel des ersten von insgesamt drei Teilen der Satire, deren zweiter in einem angeblichen Decret der römischen Inquisition und deren dritter in einem Jugement des Professeurs du Collège de la Sapience in Rom besteht. In seiner Diatribe erstattet Dr. Akakia zunächst Anzeige gegen einen jungen Autor, der sich den Namen eines Präsidenten angemaßt habe. Das gehe klar daraus hervor, daß die von ihm unter dem Titel eines Präsidenten veröffentlichten Lettres fast wörtlich das wiederholten, was ein wirklicher Präsident bereits in seinen Œuvres publiziert habe und wohl nicht selber einfach repetieren würde. (Die auffallende Ubereinstimmung der Lettres mit den Œuvres, die von Maupertuis beide 1752 publiziert worden waren, war bereits in einer Rezension angemerkt worden.) 255 Der eigentliche Anlaß seines Beschwerdeschreibens sei aber die schlechte Behandlung der Arzte durch den jungen Mann, der verlange, daß nur die erfolgreichen Bemühungen bezahlt und ansonsten die Bezahlungen zurückverlangt werden sollten. Nicht einmal einem Philosophen, der absurde Dinge behaupte, würde vom Schatzmeister der Akademie etwas vom Gehalt abgezogen. Als solche absurden Behauptungen aber werden 254

255

Vgl. Brunei: Maupertuis (wie Anm. 144), S. 8. Callot beginnt seine Darstellung mit Vorwürfen an Voltaire, der die unverdiente und immer noch anhaltende schlechte Meinung nicht nur Uber Maupertuis, den Menschen, sondern auch den Wissenschaftler initiiert habe. Siehe Callot: Maupertuis (wie Anm. 144), S. 11-13. Das Vorwort von Rostand ist im gleichen Ton geschrieben, vgl. ebd., S.7-9. Beeson widmet einer solchen Rechtfertigung sogar einen eigenen Abschnitt, vgl. Beeson: Maupertuis (wie Anm. 144), S. 1. Natürlich trägt auch hier Voltaire mit seinem Dr. Akakia an der miserablen Reputation von Maupertuis die Schuld. Vgl. Journal des Sçavans. März 1753. Bd. 166, S. 10-24, hier S. 10.

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gerade Beispiele aus Maupertuis' Lettres angeführt, zur Freude der Leser mit genauen Seitenangaben in den Fußnoten. Der alte Dr. Akakia wundert sich dann, warum der »junge Mann« sich trotz seiner Studien in Montpellier so wenig in der Geschichte der Medizin auskenne; er halte seinen Vorschlag, die Leichen von Verbrechern zu obduzieren, fur neu und nie ausgeführt. Seine Ignoranz kompensiere der junge Arzt durch eine reiche Einbildungskraft, wofür wiederum einige der phantastischsten Ideen von Maupertuis angeführt werden. Der »junge Mann« verlange die Spezialisierung der Ärzte auf jeweils eine Krankheit, was ebenso wäre, als ob man für jede zu beichtende Sünde einen anderen Priester verlangen wollte. Als Beispiele solcher Sünden werden die dem Publikum schon längst bekannten »Sünden« Maupertuis' vorgestellt: übersteigerter Ehrgeiz, verdeckter Neid unter einer harten herrschsüchtigen Miene und Intrigantentum. Der »junge Mann« schlage zur Verlängerung des Lebens, wobei er von den biblischen Altersangaben von 800—900 Lebensjahren ausgehe, das zur Konservierung von Eiern bewährte Mittel vor, weshalb Akakia gratuliert und die Anmeldung als Urheber »par sentence criminelle de quelque Académie« nahelegt. Akakia schließt, daß aus seinem Bericht klar hervorgehe, daß, falls es sich bei dem Autor der Lettres um einen Präsidenten handeln würde, es nur der von Bedlam - den Londoner Irrenhäusern sein könne; sie rührten daher unzweifelhaft von dem »jungen Mann« her, der sich nur den Namen eines in ganz Europa weisen und geachteten Mannes geborgt habe, eben eines großen Mannes. Auch der Titel eines »großen Mannes« bezieht sich unmittelbar auf einen wirklichen Vorfall. Das im Juni 1752 (!) frisch gebackene Akademiemitglie Prémontval unternahm (sicher nicht aus eigenem Antrieb) um den Jahreswechsel 1752/53 einen kuriosen Vermittlungsversuch: Er besuchte Voltaire, nur um ihm zu sagen, daß doch auch Maupertuis ein großer Mann wäre, worauf Voltaire sich ironisch gegen das »auch« verwahrte, denn - er wäre keineswegs ein großer Mann, da er weder die Erde abgeplattet hätte noch mit dem König speise. 256 Es folgt dann in Kürze das angebliche Decret de l'inquisition de Rome, worin die untersuchten Werke des durch Akakia angezeigten Unbekannten als ketzerisch und schlechtklingend verdammt werden. Unter Anathema wird auch gleich die Cosmologie gestellt, da deren Autor es gegen die Hl. Schrift fur einen Fehler der Vorsehung halte, daß die Spinnen die Fliegen fräßen (Maupertuis' Kritik der Physikoteleologie), und nur die Formel »Z gleich Bc geteilt durch A plus B« (das Prinzip der kleinsten Aktion) als Gottesbeweis gelten lasse. Diese Zeichen seien klar diabolischer Herkunft. Da man aber kein Wort von der Physik, Mathematik, Dynamik, Metaphysik etc. verstehe, habe man die Œuvres des »jungen M a n nes« den Professoren des College zur Prüfung vorgelegt. 256

Dies ist eine Anspielung auf Voltaires Antwort an Prémontval, über den am 16.1. 1753 an Gottsched berichtet wird, daß er im Ton eines Don Quichottes Voltaire aufgefordert habe: »Avouez, Monsieur, que Maupertuis est un grand homme dans son genre, et après une minute de pause il y ajouta: Et vous êtes aussi un grand homme dans le vôtre.« Voltaire habe sich darauf erhoben und überrascht ausgerufen: »Monsieur, comment serais-je un grand homme? M. de Maupertuis est un grand homme, lui qui applâtit la terre et mange avec le Roi.« (UB Leipzig. Ms 0342. Bd. 19, BI. 36.) Vgl. auch die unveröffentlichte Satire Evangile sehn saint Marschall in Magnan (wie Anm. 5), S. 335-342, in der ebenfalls auf den »großen Mann« angespielt wird.

12. Dr.Akakia

und seine öffentliche Verbrennung

Abb. 6. Maupertuis mit den Insignien seiner Lappland-Expedition, die den empirischen Nachweis der Abplattung der Erde erbringen sollte.

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In dem nun folgenden Jugement dieser Professoren aber geht es erst richtig zur Sache. Gleich im ersten Satz werden die Stoßregeln des »jungen Mannes« für harte Körper für kindisch und eingebildet erkannt, da es keinen bekannten vollkommen harten Körper gebe (das ist die Position der Leibnizianer), wohl aber recht harte Geister, auf die zu wirken man vergeblich versucht habe. Die Behauptung, daß das Produkt aus Weg und Geschwindigkeit immer ein Minimum sein müsse, sei falsch, da es manchmal auch ein Maximum sei, wie Leibniz gemeint habe und wie es auch bewiesen sei. Der »junge Mann« scheine also nur die Hälfte der Leibnizschen Idee übernommen zu haben, weshalb er immerhin von dem Vorwurf des Plagiats freigesprochen werde. Dann kommt man in 10 Punkten zum Examen der Lettres, um darin Festlegungen zum Verfahren vorzuschlagen und in geradezu väterlichem Ton ironische Empfehlungen auszusprechen, um den unbekannten »jungen Mann« wieder auf die rechte Bahn zu führen. Hinsichtlich der Maupertuisschen Ideen über die Möglichkeit der Vorsehung bei allen Menschen erklärt man ihm die Differenz von prévoyance und prévision, welch letztere nicht für profane Zukunftsaussagen zur Verfügung stehen könne. Derartige Irrtümer könne aber der »junge Mann« leicht korrigieren, denn der Inquisitor werde es nicht sehr komisch finden, daß jeder Mensch ein Prophet werden könne. Andere Hinweise betreffen Maupertuis' Behauptung, wonach wir durch das Gedächtnis mehr verlören als gewännen, seine Reflexion über die Existenz des Steins der Weisen, die vorgeschlagenen Experimente mit Riesen, die Erzeugung von Aalen aus Mehl, die Bohrung eines Lochs zum Mittelpunkt der Erde etc. Interessanterweise wird auch die große Verachtung des »jungen Mannes« für die Deutschen, insbesondere für Leibniz getadelt, die den Professoren ungerecht und undankbar erscheint. Zwar habe der »junge Mann« geglaubt, etwas nach Leibniz zu erfinden, aber man versichere ihm, daß nicht er (sondern die Deutschen) das Pulver erfunden hätten. Im letzten Punkt ersucht man Dr. Akakia um einige Medikamente, um den Geist des »jungen Mannes« zu erfrischen, und fordert den »jungen Mann« auf, vor weiteren Werken eine Universität aufzusuchen und bis dahin bescheidener aufzutreten. Zuletzt wird die Ansprache gegenüber dem »jungen Mann« jedoch ernsthafter: Falls jemals wieder ein Physiker nach Lappland geschickt werde, um zu verifizieren, was Newton durch seine erhabene Gravitationstheorie entdeckt habe, und er werde dazu mitgenommen, so möge er sich nicht mehr an die Spitze seiner Kollegen setzen und sich nicht allein beim Abplatten der Erde malen lassen wie den Atlas, der die Erde trägt. Wenn künftig ein Studienfreund über einige Dinge anderer Ansicht sei, insbesondere ihm einen Brief von Leibniz zeige, der seinen Auffassungen widerspreche, so möge der Candidat nicht überall herumschreien, es wäre eine Fälschung etc. Er solle die Kritik des Studienfreundes künftig nicht für eine Verletzung der akademischen Majestät und den Freund nicht zu seinem Feind erklären. Er solle auch fürderhin nicht seinen Irrtum über einen ganz unwichtigen Punkt der Dynamik für eine wunderbare Entdeckung ausgeben. Auch möge der Candidat sich mit der Forderung nach Klärung des Nachlasses eines bereits Toten künftig bis auf die Zeit seiner Prophezeiungen zurückhalten. Auch solle er niemandem die Freiheit einer gerechten Verteidigung verbieten, sondern bedenken, daß ein Mann, der einen anderen entehren will, weil er recht hat, sich selber entehrt. Daher solle er vor allem auch nicht verlangen, daß nur

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gedruckt werde, was er erlaube. Schließlich schlagen die Professoren am Ende einen ernsthaften Ton an, wenn sie erklären, was ein Gelehrter an Intrigen gewinne, das verliere er an Genie. Man hätte schon viele junge Leute gesehen, die mit viel Talent Hoffnungen wecken, aber mit dem Schreiben von Sottisen geendet hätten, »parce qu'ils ont voulu être des Courtisans habiles au-lieu d'être d'habiles écrivains, parce qu'ils ont substitué la vanité à l'étude, & la dissipation qui affoiblit l'esprit au recueillement qui le fortise; on les a loués & ils ont cessé d'être louables«. 257 Man kann sich gut vorstellen, daß dieser Akakia ein durchschlagender Erfolg war, auch wenn vielleicht die Angaben von Voltaire übertrieben sein mögen, wonach in Paris eine Woche lang täglich 6000 Stück (!) dieser satirischen Broschüre verkauft worden seien. 258 In Paris und in Berlin war Maupertuis mit seinem auffahrenden Charakter nur zu bekannt, weshalb die Schrift an diesen Orten ihre dankbarsten Leser finden mußte. In Berlin waren zwar alle maupertuiskritischen Schriften aus dieser Debatte verboten, was die Verbreitung sehr einschränkte, aber dafür die Neugier vergrößerte und die Preise hochtrieb. 259 Die im Verlauf der Debatte weithin bekannt gewordene Anmaßung des Präsidenten, einen Kollegen mundtot machen zu wollen, der ihn nur wissenschaftlich kritisiert hatte, ließ die Satire auf einen fruchtbaren Boden fallen. Sie war den deutschen Intellektuellen in Berlin und an anderen Orten aus dem Herzen gesprochen. Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit nennt den Dr. Akakia »das rechte Nachspiel, oder die Burlesque von der ganzen Komödie«. 260 Die Witzigkeit der Schrift wird sehr gelobt, besonders die Professoren des Collegiums sapientiae behandelten die Maupertuisschen Lettres »auf so eine Art, daß man es niemals bereuen wird, es gelesen zu haben«. 261 Der Bezug auf die Lettres von Maupertuis wird ausdrücklich hergestellt und kein Zweifel daran gelassen, daß die Klage des »Dr. Akakia« sich gegen niemand anders als den Akademiepräsidenten richte. In Leipzig war die 1. Auflage der Vollständigen Sammlung aller Streitschriften, natürlich einschließlich des Dr. Akakia, so schnell ausverkauft, daß bereits zwei Monate später eine neue und sehr erweitere Ausgabe herausgebracht werden konnte. 262

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Diatribe du Docteur Akakia, Médecin du Pape. Rome [Leiden] 1752. Zitiert nach: Maupertuisiana (wie Anm. 48), S. 18f. »On a vendu à Paris six mille Akakia en un jour; & le plus orgueilleux de tous les hommes est le plus bafoué.« (Voltaire an Formey am 1 7 . 1 . 1753 (Best.D5163 [wie Anm. 2]) sowie Formey: Souvenirs (wie Anm. 63), S. 288.) »Je fus le premier qui le reçut; & je conserve l'exemplaire« (Formey: Souvenirs (wie Anm. 63), S. 270). Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. Leipzig. Hornung [Februar] 1753. 3. Bd., S. 97. Ebd., S. 98. »Da der Versuch, den man von dieser Sammlung der Streitschriften vor ein paar Monathen gemachet, so wohl aufgenommen worden; daß man bey weitem nicht alle Liebhaber mit der ersten, etwas kleinen Auflage befriedigen können: so hat man zu einer vollständigen Sammlung davon schreiten, und den völligen Rechtshandel beyder streitenden Parteyen, in Deutschland bekannter machen wollen.« (Nachricht zu der zweyten Auflage. Zu: Vollständige Sammlung (wie Anm. 3). Leipzig 1753, o. S.)

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Besondere Attraktivität erreichte der Dr. Akakia aber nicht nur durch seine wirklich kunstvolle satirische Gestaltung, sondern natürlich auch durch seine öffentliche Verbrennung durch die Hand des Scharfrichters auf königlichen Befehl. Ausgerechnet in Preußen, wo es die Theologen schon lange nicht mehr erreichen konnten, daß die von ihnen monierten Schriften verboten und konfisziert, geschweige denn vom Henker verbrannt worden wären, ausgerechnet auf Befehl des »aufgeklärten« Königs wurde auf Berlins Plätzen eine Satire verbrannt, die nicht etwa eine Majestät beleidigt oder die Religion profanisiert hatte, nein - nur ein autoritärer Akademiepräsident war der Lächerlichkeit preisgegeben worden. Sogar in Göttingen, wo die Debatte bis dahin zwar aufmerksam beobachtet wurde, man sich aber mit Besprechungen der Streitschriften vorsichtig zurückgehalten hat, löst diese öffentliche Verbrennung endlich Bewegung aus. Anläßlich der nun erfolgenden Besprechung des Dr. Akakia und seiner Verbrennung kann man sich nach einer kurzen Erzählung des »Plots« dieser Satire nicht der Frage enthalten: »Solte der petit homme a longue queue nicht eben so würdig gebrannt haben, da er eine Reyhe nicht so wohl von Ironien, als von Verläumdungen ist?« 263 Diese Frage, so unverständlich sie dem Unbeteiligten scheinen mag, richtete sich klar an den Präsidenten Maupertuis und betraf eine Schrift von La Mettrie, die eine Satire auf Albrecht von Haller sein sollte und allerdings sehr verletzende Verleumdungen und höhnische Beleidigungen enthielt. 264 Auf Hallers briefliche Beschwerde über diese Satire an Maupertuis als den Präsidenten des Akademiemitglieds La Mettrie hatte der ihm aber nur geantwortet, La Mettrie sei ein Wirrkopf, habe aber ein gutes Herz. Dieses Wort als Entschuldigung für die rüden Angriffe gegen Haller hatte unter den deutschen Aufklärern seinerzeit einige Empörung ausgelöst und war entsprechend bekannt - man kann es bei Kästner, Lichtenberg, König, Lessing und Mylius erwähnt finden.265 Es kommt auch noch einmal in dieser Debatte vor. Angesichts dieser harten, durch Friedrich selbst in Preußen bereits anachronistisch gewordenen, staatlichen Maßnahme einer öffentlichen Verbrennung der vergleichsweise harmlosen und ohne jede Verleumdung auskommenden Satire am Heiligabend 1752 gegen Maupertuis, der sich selber bekanntermaßen geweigert hatte, einen anderen großen Gelehrten vor Satire zu schützen, erscheinen in Göttingen nun in rascher Folge Rezensionen zu allen bis dahin ausgelassenen Streitschriften bis hin zum Akakia selbst. Außer der Rezension des Appel am 1. Januar erscheinen am 4. Januar auch eine Besprechung der Lettres concer-

nant le Jugement und der Lettre d'un academicien

de Berlin ä un academicien

de Paris sowie

der Lettre d'un Marquis mit vorsichtiger, aber doch eindeutiger Parteinahme für König. Zum Appel versichern sie noch einmal ihre »völlige Unpartheylichkeit«, da man mit beiden

263 Göttingische Gelehrte Zeitungen. 24. St. 2 2 . 2 . 1 7 5 3 , S. 212f., hier S. 2 1 3 . 264 Yg[ La Mettrie: Le petit homme i la longue queue. O. O. o. J. 8°. Der sehr seltene Titel, der damals wegen der geschmacklosen Provokation Albrecht von Hallers viel Unwillen hervorrief, ist nicht aufgeführt in: Roger E. Stoddard: Julien Offray de La Mettrie, 1 7 0 9 - 1 7 5 1 : A Bibliographical Inventory. In: An Offprint from The Papers of the Bibliographical Society of America. Vol. 86. Dezember. New York 1992. 265

Vgl. Anm. 196 und 198.

12. Dr. Akakia

und seine öffentliche Verbrennung

589

Parteien in guter Verbindung stehe; deshalb wolle man sich auf ein bloßes Referat ohne Kommentar beschränken »und bloß dieses hinzufügen, daß wir in dem ganzen Werke eine gewisse mit Mäßigung gemischte Stärke antreffen, die unseren Wunsch noch lebhaffter macht, daß die ganze Streitsache niehmals hätte rege werden mögen«. 266 Das war sicherlich Parteinahme genug: Das bloße Referat der Argumentation des Appel über immerhin zwei Seiten erscheint ohnehin schon als Fürsprache für König (weshalb wohl auch einmal in Klammern erinnert wird, daß dies Herr König sage). Die Schreibart der von König publizierten Leibniz-Briefe erscheint dem Rezensenten durchaus leibnizisch und indem Königs Forderung an Maupertuis, auf die Hauptfrage der Streitigkeit zu kommen, kritiklos referiert wird, scheint man auch über das strittige Problem, was denn diese Hauptfrage sei, mit König einig. Aus Anlaß der Lettres concernant le Jugement de l'Academie will man am 4. Januar zwar eine Annäherung der Standpunkte konstatieren, insofern Euler offensichtlich von der Anschuldigung einer Fälschung durch Samuel König zurückgetreten sei, Herr König im Appel aber seinerseits ausdrücklich einen Plagiatsvorwurf von seiner Seite zurückgewiesen habe. Wenn überhaupt, sei der Leibniz-Brief also von jemand anders untergeschoben, allerdings klinge er sehr leibnizisch, und es wäre sehr wahrscheinlich, daß Henzi den Brief von Bourguet, der in derselben Stadt gewohnt habe und als Sammler von Leibniz-Briefen bekannt gewesen sei, erhalten habe. Vor der Entdeckung des Herrn Präsidenten habe ja auch niemand ein Motiv fiir eine Fälschung haben können und — endlich sagt der Rezensent es rund heraus, »daß wir nemlich den Brief für ununtergeschoben ansehen«. 267 Die anderen im Appel aufgeworfenen Fragen, insbesondere die nach der Rechtmäßigkeit des Akademieurteils und der Briefe an die Prinzessin von Oranien wegen des Stillschweigens Königs, werden nur angeführt, man begehre aber nicht, sie zu beantworten. Von der Lettre d'un academicien de Berlin ä un academicien de Paris (Friedrich II.) wird nur gesagt, sie sei »eine Art Widerlegung« der Reponse (Voltaires) und zugleich eine sehr eifrige Verteidigung des Herrn Präsidenten, »worinn wieder seine Gegner die Titel Imposteur, effronte, scelerat und dergleichen nicht gespart werden«, 268 welche Verwendung von Schimpfworten der Rezensent zu kommentieren nicht für nötig hält. Auch die Lettre des »Marquis« wird am 4. Januar unter dem Erscheinungsort London kurz angezeigt. Gleich der erste Satz ist eine Rechtfertigung dieser Satire: »Die Heftigkeit der in Berlin, zumahl von Herrn Merian gebrauchten Ausdrücke, ist die beste Entschuldigung für diejenigen, die hier gleichfalls ziemlich stark und ziemlich zahlreich wieder den Hrn. Präsidenten angetroffen werden.« 269

Die Schrift erzähle die Streitsache mit durchgehend bitterer Ironie aufs Neue, mache aber zu Recht deutlich, daß im Jugement allerdings »nicht nur das Fragment als unecht, sondern auch der Herr König als schuldig an dessen Unterschiebung angesehen worden ist«, was von 266 267 268 269

Göttingische Gelehrte Zeitungen. 2. St. 1 . 1 . 1 7 5 3 , S. 1 2 - 1 5 , hier S. 12. Ebd. 3. St. 4. 1. 1753, S. 1 8 - 2 1 , hier S. 19f. Ebd., S. 20. Ebd., S. 2 1 .

590

Jugement de L'Académie Royale

Euler bestritten worden war. Abschließend werden beide Seiten zu mehr Zurückhaltung aufgefordert. Schließlich folgt am 22. Februar endlich auch die schon genannte Besprechung des Dr. Akakia, »wegen des Aufsehens, das diese Schrift verursacht hat«. 270 Man sieht, daß die öffentliche Verbrennung des Akakia in Göttingen gewissermaßen alle Schleusen geöffnet hat und sich die Besprechungen der wichtigen Streitschriften nun auf einmal Bahn brachen. Aber auch sonst scheint die öffentliche Verbrennung einer Broschüre durch Henkershand im Herrschaftsbereich des »aufgeklärten« Monarchen, meist erst ab Januar in den Zeitungen berichtet, außerhalb Preußens zu einer Aufgabe der bis dahin noch gewahrten Zurückhaltung geführt zu haben und verspätete Rezensionen zu veranlassen. Das in Leipzig erscheinende Neueste aus dem Reiche des Witzes bringt im Februar 15 Seiten allein über die zu dieser Debatte erschienenen Schriften - teils als bloße Anzeige, teils als Referat, aber die zweiseitige Reponse von Voltaire sogar vollständig als erste deutsche Übersetzung aus dem Französischen. Man beruft sich auf die bereits erfolgten unparteiischen Rezensionen des Jugement und des Appel, mit denen die gelehrte Streitigkeit angehoben hätte, die allerdings noch mit großer Hitze fortgesetzt werde. Dann werden im folgenden die Lettres concernant

le Jugement271 von Anfang Oktober, die Reponse d'un académicien de Berlin à un académicien de Paris272 vom September (die zwar schon früher veröffentlicht, deren Folgen aber größer als vorher gedacht gewesen wären, und deren Autor im übrigen auch Voltaire sei, immerhin ein Landsmann und früherer eifriger Verehrer von Maupertuis) und schließlich die Lettres

[sic] d'un académicien de Berlin à un académicien de Paris273 vom November (die eine Antwort auf diese Reponse sei, die den Autor offenbar in Harnisch gebracht habe) besprochen. Über die Schrift des Königs heißt es (dessen Autorschaft war nach so langer Zeit selbstverständlich auch in Leipzig bekannt), er lobe zwar die Freiheit der Gelehrtenrepublik und verachte zu Recht die gelehrten Streitigkeiten, man sehe aber wohl, daß er dieses Laster nur Samuel König zuschreibe, dagegen ein »rechter Bewunderer« von Maupertuis sei. Die einseitige Lobpreisung Friedrichs, wonach Maupertuis die besten Gelehrten allererst nach Berlin geholt hätte, wird durch eine trockene Aufzählung aller schon vorher dort tätigen Mitglieder konterkariert. Schließlich werden noch einige Bezeichnungen der Lettre gegen den Autor der Reponse und gegen die Zeitungsschreiber angeführt, um dann in aller Unschuld zu fragen: »Wir wissen nicht, ob dieses nicht auch Schimpfworte sind?« 274 Womit die Klagen dieses Autors gegen die zänkischen Gelehrten auf ihn selbst zurückfallen müssen. Auch diese, nunmehr sogar im vollen Bewußtsein des königlichen Autors verfaßte Rezension zeugt nicht von dem vielbeschworenen Untertanengeist der deutschen Aufklärung.

Weiterhin wird dann die Lettre de Mr. le Marquis de L** N** à Mme la Marquise A** G**

270 271

272 273 274

Ebd. 24. St. 22. 2. 1753, S. 2 1 2 f „ hier S. 213. Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. 3. Bd. Leipzig. Hornung 1753, S. 8 5 - 9 9 , hier S. 8 6 - 9 0 . Ebd., S. 9 0 - 9 3 . Ebd., S. 9 3 - 9 6 . Ebd., S. 96.

591

12. Dr.Akakia und seine öffentliche Verbrennung

sur le Procès von etwa Oktober, mit dem angeblichen Druckort London kurz besprochen, 275 die ebenso spaßhaft sei, als die übrigen ernst gewesen sind. Der Verfasser wird dafür gelobt, angesichts der »sauersehenden Gesichter« während der Streitigkeit, nunmehr »gleichsam im Lachen einigen Begriff von der gantzen Sache bey [zu] bringen«. 276 Zitiert wird auch hier der schon oben bei Gelegenheit der Freyen Urtheile angeführte überzeugende Syllogismus, mit dem »bewiesen« werde, daß Maupertuis recht habe. Dann wird herausfordernd mitgeteilt: »ob es gleich in Berlin verboten worden; so ist es doch in Leipzig, Halle, und Hamburg bisher leicht zu haben gewesen.« 277

Auch die Leipziger Neuen Zeitungen

von gelehrten

Sachen reagieren am 4. Januar zuerst

auf die oben angesprochene viel frühere Lettre d'un Marquis. Man findet sie »aufgeweckt, munter und satyrisch, geschrieben«, so daß sie Maupertuis und Euler recht empfindlich werden möchte, jedoch hält man diese satirische Schreibart für vollauf gerechtfertigt wegen der ungerechten und ausfallenden Schmähungen der Autoren der Lettres concernant le Jugement gegen die - und hier zeigt man sich also betroffen - Leipziger und Hamburger Zeitungsschreiber. Aus dieser Schrift könnten jene aber sehen, »daß es auch noch andere wackere Leute gebe, [...] welche von dem Urtheile ihrer Academie wider den Herrn König anders denken, als sie es wollen gedacht haben«, daß es — ein gewisses Publikum gebe, welches sich unterstehe, zu sagen: es habe, um mit dem Verfasser dieses Schreibens zu reden, ein ungemessener Hochmuth und eine übermäßige Einbildung von sich selbst den Herrn Maupertuis bewogen, diesen ganzen Lärmen um nichts zu machen«. 278 Im weiteren wird dann genüßlich aus der Schrift zitiert, um mit der Angabe zu schließen, daß die Schrift in der Weidmannschen Buchhandlung in Leipzig zu kaufen sei. Am 29. Januar kommt endlich auch der Dr. Akakia, »für dessen Verfasser man den Herrn Voltaire angegeben«, 279 und seine öffentliche Verbrennung durch den Scharfrichter zur Besprechung, wobei Interna zu den Berliner Strafmaßnahmen mitgeteilt werden: »Man will wissen, daß sie vorher erst insgeheim in Potsdam gedruckt, aber auch daselbst sogleich zernichtet worden«. Im folgenden wird die Schrift als eine »bittere Satire« gegen Maupertuis gekennzeichnet, dessen Lettres betreffend, im übrigen wird ihr Inhalt scheinbar ohne Wertung kurz wiedergegeben, wobei das Witzige der Schrift deutlich genug wird. Erst am 5. April, 280 bei Gelegenheit der Anzeige der Éloges, die ja als dritten Teil die

königliche Lettre d'un académicien de Berlin à un académicien de Paris enthält, kommt überhaupt die ganz frühe Voltairesche Reponse [sie] de l'Academicien de Paris à l'Academicien de Berlin in Leipzig zur Besprechung. Die königliche Lettre sei bereits in deutscher Übersetzung aus den gesammelten Streitschriften bekannt, weshalb man auch darauf nicht weiter eingehe. Die Voltairesche Lettre wird sogleich als Antwort darauf und als eine sachliche und

275 276 277 278 279 280

Ebd., S. 96f. Ebd., S. 96. Ebd., S. 97. Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen. Leipzig 4 . 1 . 1753. Nr. 2, S. 17f. Hervorhebung - U. G. Ebd. 2 9 . 1 . 1 7 5 3 . Nr. 9, S. 75. Ebd. 5.4.1753. Nr. 28, S. 257-260.

592

Jugement de L'Académie Royale

didaktisch gezielte Darstellung der Debatte im Sinne des Appel au public eingeordnet - mit der ganzen Geschichte der ursprünglichen Parteinahme für Maupertuis durch den Autor und die ganze Pariser Akademie, dem hinzukommenden unparteiischen Engländer und der daran anschließenden eigenen Lektüre des Appel mitsamt der überzeugenden Wirkung. Die Schrift zeige die Voreingenommenheit der ihr vorausgehenden [königlichen] Lettre gegen König und für Maupertuis auf und korrigiere all die dadurch darin entstandenen Unrichtigkeiten. Im Januar erscheint aber dann in verschiedenen deutschen Zeitungen auch das einigermaßen absurde Dementi Voltaires, der Autor des Dr. Akakia gewesen zu sein. Der in ganz Deutschland gelesenen Hamburgische Unpartheyische Correspondent druckt es am 23. Januar 1753 unter dem Artikel von Berlin. 281

13. Ein »Antitriumvirat«? Dieses Dementi Voltaires kommentiert Mylius in einem Brief an Albrecht von Haller mit den triumphierenden Worten: »Nun soll gar die Welt glauben, er habe die Diatribe nicht gemacht. Ich weis es zum wenigsten gewiß.« 282 Daraus klingt außer der Zeugenschaft über Voltaires Autorschaft am Dr. Akakia auch der Stolz des Insiders, der mit dem großen Voltaire im Bunde war, mit ihm erfolgreich gemeinsame Sache gemacht hat, um dem Despoten Maupertuis eine Niederlage vor der europäischen Öffentlichkeit zu bereiten und seine unerträgliche angemaßte Autorität ins Wanken zu bringen. Eine Woche später berichtet Mylius erneut und im selben Ton: »Ich bin gestern wieder bey dem Hn. von Voltaire gewesen, welcher noch immer sehr mißvergnügt ist, ob man gleich aus den öffentlichen Zeitungen schließen sollte, daß alles wieder hergestellt wäre. [...] Die Frau Gräfin von Bentinck war auch da, und wir stellten gleichsam ein Antitriumvirat vor. Bey dieser Dame habe ich auch heute zumittage gespeiset.«283

Dieses Wort vom »Antitriumvirat« ist in der Literatur mitunter als eine Selbstüberschätzung des jungen und unbekannten Journalisten angesehen worden. 284 Für Mylius ebenso wie für den Adressaten Albrecht von Haller war es jedoch einfach nur der einleuchtende Gegenbegriff zum bereits geläufigen »Triumvirat« von Maupertuis, Euler und Merian, gegen dessen Anschlag auf die Freiheit der Gelehrtenrepublik sich in Berlin also gleichsam ein »Antitriumvirat« gebildet hatte, und zwar gleichsam im doppelten Sinne: Zum einen bestand es nur aus zwei Männern und dafür noch einer Frau, zum anderen aber war es eigentlich nur die Berliner Dependance und also nur Teil einer europäischen Kooperation gegen das Berliner »Triumvirat«. Und schließlich hatte sich dieses »Antitriumvirat« erst recht spät in der Debatte zusammengefunden.

Hamburgischer Unpartheyischer Correspondent. 2 3 . 1 . 1 7 5 3 . Nr. 12. 282 Mylius an von Haller am 2 1 . 1 . 1753. In: Consentius (wie Anm. 40), S. 547. 283 Mylius an von Haller am 3 0 . 1 . 1 7 5 3 . In: Ebd., S. 548. Hervorhebung - U. G. 284 Vgl. Fontius (wie Anm. 217), S. 50. 281

593

13. Ein »Antitriumvirat«?

Voltaire und Mylius stellten sich anfänglich gänzlich unabhängig voneinander auf die Seite Samuel Königs und fanden jeweils Mittel und Wege, seine Verteidigung zu organisieren. Voltaire war bereits seit seiner gemeinsamen Zeit mit Madame de Chatelet in Cirey mit Samuel König bekannt, nicht immer auf gute Weise, 2 8 5 im Zusammenhang mit dem Jugement

hatte er den Kontakt zu Samuel König neu hergestellt. Christlob Mylius, der

als junger Naturforscher bereits über eine beträchtliche Korrespondenz nach Paris, London und in die Niederlande verfugte, hatte erst mit der Zusendung seiner ersten Rezension des Jugement

in den Hamburgischen Freyen

Urtheilen

an Samuel König einen regelmäßigen

Briefwechsel mit diesem aufgenommen. 2 8 6 Jedoch hatte er gute Beziehungen zu seinem Lehrer Abraham Gotthelf Kästner in Leipzig (möglicherweise auch mit anderen Bekannten aus seiner Leipziger Zeit und aus dem Gottsched-Kreis), mit dem Berliner Astronomen Johann Kies und stand seit 1 7 5 1 in regelmäßigem Briefkontakt mit Albrecht von Haller, die alle mit Samuel König bekannt waren und mit ihm in Verbindung standen. Sowohl Voltaire als auch der junge Journalist und Naturforscher Mylius waren in diesen Jahren offenbar intensive Leser von Maupertuis - beide als Rezensenten 2 8 7 und Mylius sogar als deutscher Übersetzer der Cosmologie.

Mylius war der Autor der am 15. August

285

Emilie de Chatelet beschwert sich gegenüber Johann Bernoulli über das unhöfliche Benehmen ihres Mathematiklehrers Samuel König. Vgl. Chatelet an Johann Bernoulli vom 15.9. 1739. In: Châtelet: Les Lettres de la Marquise du Châtelet. Publ. par Théodore Besterman. 2 Bde. Genf: Institut et Musée Voltaire. Bd. 1, S. 376. - Später beklagte sich Emilie bei Maupertuis über den in einem Brief von König an sie erhobenen Vorwurf, seine Exzerpte für ihre Institutions de Physique (Paris 1740) benutzt zu haben. Vgl. Chatelet an Maupertuis am 22.10.1740. In: Ebd., Bd. 2, S. 32. Wenn daraus, wie z. B. bei Ruth Hagengruber, abgeleitet wird, Samuel König hätte beständig mit Plagiatsvorwürfen um sich geworfen, so wird dabei übersehen, daß König nie einen Plagiatsvorwurf gegen Maupertuis erhoben hat. Zugleich wird die briefliche Bemerkung gegenüber Emilie einigermaßen überbewertet, da König vor allem ihr mangelndes Verständnis der »lebendigen Kräfte« und der Metaphysik monierte. Vgl. die weder hinsichtlich der mathematisch-physikalischen noch der historischen Fakten seriöse Darstellung von Ruth Hagengruber, die vor allem das Loblied der großen Emilie singt: Emilie de Chatelet an Maupertuis: Eine Metaphysik in Briefen. In: Pierre Louis Moreau de Maupertuis. Eine Bilanz nach 300 Jahren. Hg. Hartmut Hecht. Berlin, Baden-Baden 1999, S. 187-206, insbes. S. 195 f.

286

Am 26. September kann Mylius aufgrund seines Engagements fur König bereits an von Haller melden: »Ich habe alles dem Hrn. Pr. König schon vor 8 Tagen selbst berichtet, welcher mir letztlich durch den Canal des holländischen Gesandten ein Compliment machen Hess; welches ich für ein gutes Zeichen halte. Ich habe ihn in meinem Brief zugleich um Vorsprache bei der Prinzessin Gouvernante gebethen. Seine in London zu druckende Schrift wird grausam Lärmen machen.« (Mylius an Haller am 26.9. 1752. In: Geiger (wie Anm. 91), S. 371.) Vgl. Voltaire: Les œuvres de Monsieur de Maupertuis. In: Journal des Sçavans. Bd. CLXIII. September 1752, S. 524—541. Vgl. Mylius: Versuch einer Cosmologie von dem Herrn von Maupertuis. Aus dem Französischen üb. [von Christlob Mylius]. Nicolai: Berlin 1751. In: Vossische Zeitung. 44.St. 13.4.1751. Nachdruck in: Von gelehrten Sachen. Im Jahrgang 1751 der Berlinischen Privil. Zeitung. Hg. Bruno A. Wagner. l . T . Berlin 1889 (Berliner Neudrucke, 5), S. 4 3 - 4 5 . Wenn einige Autoren diese fur den gelehrten Artikel ungewöhnlich lange Rezension als eine Lobpreisung des Präsidenten ansehen und sie nicht vielmehr als eine sacht ironische Vorführung des in seinem Anspruch maßlosen Präsidenten erkennen, scheint dies schlicht auf mangelnde Lektüre zurückzuführen zu sein.

287

594

Jugement de L'Académie Royale

erschienenen Besprechung des Jugement der Akademie in den Hamburgischen Freyen Urtheilen, die unter den deutschen Stellungnahmen die schärfste Kritik darstellte und das Berliner »Triumvirat« an der Akademie sehr verärgerte. Voltaire war der Verfasser der im September erschienenen und angesichts des berühmten Autors sogleich europaweit bekannten Reponse, der entschiedenen Verurteilung des Verfahrens der Akademie gegen Samuel König. Ungeachtet dieses Gleichklangs ihrer Positionen pro König und contra Maupertuis und seine Akademie sowie ihrer beider Bereitschaft, sich für König zu engagieren, war es angesichts des außerordentlich großen Unterschieds im sozialen Status und der nicht sehr intensiven Kommunikation zwischen deutschen und französischen Aufklärern in Berlin keineswegs selbstverständlich, daß der berühmte Voltaire und der junge deutsche Zeitungsschreiber Mylius sich zu einer Zusammenarbeit fanden.288 Daß es dennoch dazu kam, ist wohl nicht zuletzt auf eine Empfehlung Samuel Königs zurückzuführen, der beiden von Den Haag aus über den potentiellen Verbündeten in Berlin berichtet haben könnte. Für das Zustandekommen dieses Kontakts in Berlin sorgte dann offensichtlich die eng mit Voltaire befreundete Gräfin von Bentinck, die seit Anfang August aktiv den Kontakt zu Mylius suchte.289 Daß aber Mylius erst auf dem ersten Zusammentreffen, zu dem die Gräfin ihn eingeladen hatte, beredet worden sei, seine Rezension gegen den Jugement zu veröffentlichen, und so eigentlich Voltaire der geistige Vater der Mylius-Beiträge in den Freyen Urtheilen wäre, wie die Voltaire-Forschung nahelegen möchte,290 scheint mir mehr als abwegig zu sein. Die Rezension von Mylius war bereits am 8. August nach Hamburg abgeschickt; vor allem aber war Mylius selbständig genug, seine Auffassungen allein zu entwickeln. Ein anfängliches Zögern von Mylius, sich in dieser Sache - wenngleich anonym — zu exponieren, scheint sich vielmehr daraus zu erklären, daß er nicht vorhatte, seine unmittelbar bevorstehende Expedition nach Ostindien zu gefährden, die von ihm auf Initiative von Euler und Sulzer noch vor Beginn der ganzen Auseinandersetzung in die Wege geleitet und vorbereitet worden war und für deren Durchführung er sich auch der Unterstützung Albrecht von Hallers versichern konnte. Vor einer öffentlichen Parteinahme, die ihn not288 Ygi U r s u l a Goldenbaum: Im Schatten der Tafelrunde. Beziehungen der jungen Berliner Zeitungsschreiber Mylius und Lessing zu französischen Aufklärern. In: Studien zur Berliner Aufklärung. In: Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien. Hg. U. Goldenbaum u. Alexander Kosenina. Wehrhahn: Hannover 1999, S. 6 9 - 1 0 0 . 285 Vgl. Mylius an von Haller am 8. 8.1752. Siehe Consentius (wie Anm. 40), S. 539. 290 So eine typisch romanistische Unterschätzung der deutschen Aufklärung: »Tatsächlich gibt es einige Anhaltspunkte, die auf die Möglichkeit hindeuten, daß man in Voltaire den geistigen Vater der in der Hamburger Zeitschrift veröffentlichten Artikelserie zu sehen hat. Daß der Schluß seiner ersten öffentlichen Stellungnahme unverkennbar auf den gleichen Ton gestimmt ist wie die Artikel der iFreyen Urtheile« könnte Zufall sein. Wie aber erklären, daß auch einem La Beaumelle, der schon im Frühjahr Berlin verlassen hatte, der »gazetier d'Hambourg< bekannt war. Hier kann nur die Gräfin Bentinck die Informationsquelle gewesen sein. Mit ihr tritt Voltaires engste Verbündete während der Berliner Zeit in den Gesichtskreis.« Vgl. Fontius (wie Anm. 217), S. 49f. Bei dem >Gazetier d' Hambourg< handelt es sich aber nicht um Mylius, sondern eben um den Hamburger Zeitungsschreiber der Freyen Urtheile bzw. des Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten Liscow, möglicherweise auch um Zinck. Vgl. die Anm. 30 u. Anm. 307.

13. Ein »Antitriumvirat«?

595

wendig zumindest mit Euler und Maupertuis in Konflikt bringen mußte, suchte Mylius daher erst einmal herauszufinden, inwieweit einem Engagement für Samuel König eine mindestens stillschweigende Akzeptanz Albrecht von Hallers zuteil werden könnte. Noch am 20. Juni 1752, unmittelbar nach der Publikation des Jugement, heißt es im Brief von Mylius an von Haller vorsichtig tastend: »Daß der Herr Euler sich, aus Gefälligkeit gegen den Hn. von Maupertuis, welcher sogar die ganze

Akademie seine vielleicht nicht ganz gerechte Sache verfechten läßt, den Hn. Prof. König im Haag zum Feinde gemacht hat, ist mir deswegen sehr unangenehm, weil ich mir durch diese beyden Männer gute Recommendationen nach Surinam versprach.« 291

Nachdem ihm aus Göttingen offenbar ein wenigstens vorsichtig ermutigender Bescheid von seinem Mentor zugekommen war, schreibt er diesem schon am 1. August, seiner Sache nun bereits sicher, in deutlichen Worten: »[...] da der Hr. Prof. König auch Dero Freund ist, so wird der Schaden leicht ersetzt werden, den mir, wie ich glaubte, das Verfahren der hiesigen Akademie gegen ihn zuziehen würde. Der Herr von Maupertuis hat sich hierdurch bey sehr vielen äußerst verhaßt gemacht; und die Akademie leidet auch sehr darunter. Denn die Welt weis nicht, wie sehr wenige Mitglieder ihr Ja von Herzen dazu gegeben, und daß der Hr. v. M. die ordentlichen Mitglieder nicht anders tractiret, als ein Oberster seine Soldaten. Denn hier ist alles despotisch.« 292

Mylius wird oft unterschätzt, was vor allem daran liegt, daß er eigentlich nur den Germanisten ins Blickfeld gerückt ist - in der Lessing-Forschung, wo er als unsteter und etwas oberflächlicher Jugendfreund des großen Dichters kaum je Interesse wachgerufen hat.293 Christlob Mylius hatte in Leipzig vor allem bei Kästner Philosophie, Medizin, Naturwissenschaft und Mathematik studiert und war nach dem Erwerb eines Accessit bei der 1746er Preisfrage der Berliner Akademie über den Ursprung der Winde, bei der der erste Preis an d'Alembert gegangen war,294 mit der festen Absicht nach Berlin gegangen, sich dort um eine bezahlte Stelle in der naturwissenschaftlichen Klasse der königlichen Akademie zu bemühen. Darin war er auch durch seinen Leipziger Lehrer Kästner bestärkt worden, der in

291 292 293

294

Consentius (wie Anm. 40), S. 538. Hervorhebung - U. G. Ebd., S. 538 f. Eine Ausnahme bilden die Arbeiten von Ernst Consentius, vor allem die hier vielfach genutzten, von ihm edierten Myliusbriefe, aber auch seine umfangreiche kritische Diskussion der Autorschaft von Lessing und Mylius an den zahlreichen von ihnen gemeinsam »bestückten« Berliner Zeitungen und Zeitschriften, mit der er einer allzu breiten Vereinnahmung dieser Beiträge in die LessingAusgabe durch Franz Muncker wehren wollte. Vgl. Ernst Consentius: Lessing und die Vossische Zeitung. Leipzig 1902. - Ein anderer wichtiger Beitrag zu Mylius ist die oben bereits genannte Dissertation von Rudolf Trillmich über Mylius. Es handelt sich um die 2. Preisfrage der Akademie von 1746: Déterminer l'ordre et la loi que le vent devrait suivre si la terre était environnée de tous côtes par l'océan. Vgl. dazu Harnack (wie Anm. 4). 1/1, S. 399. Daß Mylius das Accessit erhalten hatte, also seine Schrift mit der ersten Preisschrift von d'Alembert in Berlin gedruckt worden war, geht aus den Empfehlungsschreiben von Kästner und Euler für Mylius hervor, vgl. hier die folg. Anm. 295 und 297.

596

Jugement de L'Académie Royale

Briefen an Maupertuis auch mehrfach seine Empfehlungen fur Mylius wiederholt hat. 295 Den Zeitpunkt seines Eintreffens in Berlin hatte Mylius bereits so geplant, daß er eben zur Beobachtung einer Sonnen- und einer Mondfinsternis von der Berliner Akademiesternwarte zurechtkam 2 9 6 und dabei dem berühmten Euler, dem Direktor der mathematischen Klasse, und Kies, dem Akademieastronomen, assistieren konnte. Er vermochte Euler durch seine naturwissenschaftlichen und mathematischen Kenntnisse auch zu überzeugen, wie aus dessen Empfehlungsschreiben für Mylius an die Petersburger Akademie hervorgeht. 297

295

Das kommt ausdrücklich in Kästners Empfehlungsschreiben für Mylius an Maupertuis zum Ausdruck: »C'est M. Mylius de qui je veux parler, Monsieur. Il a eu l'honneur de vous faire la révérence. Il fait sa principale étude de l'Astronomie et de l'histoire naturelle: Voici tout ce que sa diligence embrasse, si l'on peut embrasser plus que le sistème du monde en gros et ses créatures terrestres en détail. Si mon homme se porte de bon coeur à ses études, c'est ce que vou jugerés, Monsieur, par ce trait qu'il est allé, l'année 1748, expressément à Berlin pour y voir l'éclipsé anulaire du soleil. Un écrit allemand sur la cause des vents réguliers que l'Académie royale a jugé digne de l'accessit ne doit pas faire mal juger de son habilité. Pour l'histoire naturelle il ne ménage certainement se pas et il est observateur également attentif et laborieux. Il est vray que comme il y a dans toutes choses un bonheur à qui l'assiduité ne saurait suppléer, il a eu le déplaisir (car c'étoit un pour lui tout indifférent que cela aurait été pour beaucoup d'autres) de voir que j'ai trouvé ici trois sortes de polypes, quand il n'en a pu trouver aucune qu'àprès moi. Nous avons été compagnons dans quelques voiages philosophiques à Freyberg et ce sera l'homme à qui il faudra s'adresser pour savoir quelles pierres on trouve aux environs de Berlin: au moins il m'a déjà envoie une espèce de lapis filtrum qu'il y a trouvé. Cela suffit, Monsieur, ce n'est pas mon dessein de vous persuader que cet homme-là est digne de votre faveur, je ne souhaite que de vous engager à juger s'il en est digne.« (Kastner an Maupertuis am 16. 5.1752. In: Maupertuis et ses correspondants (wie Anm. 210), S. 290. Hervorhebung - U. G.) Am 7. August 1751 wird Mylius noch einmal als recht guter Ubersetzer der Maupertuisschen Cosmologie empfohlen. Vgl. ebd., S. 301.

296

Siehe die vorige Anm. Euler empfiehlt Mylius, »welcher sich mit großem Fleiß auf die Mathematic und Astronomie geleget und seit einiger Zeit das hiesige Observatorium frequentirt hat. Man könnte ihn wohlfeyl haben und daher versichert seyn, daß aus ihm in kurzer Zeit ein sehr geschickter Astronomus würde.« (Euler an Schumacher am 18./29.12. 1749. In: Juskevic/Winter (wie Anm. 21). Teil 2, S. 185.) Am 10./21.2. 1750 ergänzt Euler seine Empfehlung auf Anfrage Schumachers: »Herr Mylius ist 26 Jahr alt und in der Oberlausitz gebohren. Er hat in Leipzig die Medicin studirt, sich aber hauptsächlich auf die mathematischen und physischen Studia gelegt. H. Prof. Hebenstreit kennet ihn sehr wohl und könnte von seinen übrigen Umständen Nachricht ertheilen. Seit einigen Jahren hält er sich hier auf und hat bißher immer den astronomischen Observationen fleißig beigewohnet, um aber seinen Unterhalt zu haben, so hat er bißher die hiesigen Rüdigerischen [nachmals Vossischen] Zeitungen geschrieben, wovon insonderheit die gelehrten Artickel großen Beyfall gefunden. Er hat sehr vielerley geschrieben, woraus man von seiner Fähigkeit urtheilen kann, als 1. Eine Abhandlung von der Atmosphaere des Monds, 2. Eine teutsche Schrifift über die Ursach der Winde, welche der bey der Academie allhier herausgegebenen Sammlung der besten über diese Frage eingelauffenen Pieces mit beygedruckt ist. 3. Die Wochenschrift, der Naturforscher genannt, 4. Verschiedene Abhandlungen in dem Hamburgischen Magazin, wobey sich sein Nähme befindet, 5. Eine besondere Abhandlung von den Saamenthierchen, in Hamburg gedruckt, 6. In den Leipziger Belustigungen verschiedene Stücke. Weil die meisten oder alle von diesen Schafften in Petersburg seyn werden, so finde ich nicht nöthig, dieselben zu überschicken. Wann die Sach auf den H. Mylius ankäme, so wünschte er in die Conditionen, so

297

13- Ein »Antitriumvirat« ?

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Da Mylius sogleich sah, daß er ohne französische Sprachkenntnisse bei Maupertuis keine Chance einer Förderung haben würde, beschäftigte er sich intensiv mit dem Studium der Sprache,298 Lessing bescheinigte ihm große Fortschritte darin.299 Auch seine Übersetzungen bestätigen seine sprachliche Kompetenz: Er übersetzte in seinen Berliner Jahren mehrere mathematische bzw. naturwissenschaftliche Werke ins Deutsche, darunter die Anfangsgründe der Algebra von Clairaut und wohl nicht ganz zufällig auch die Cosmologie von Maupertuis. Aber all seine Anstrengungen und auch die Kästnerschen Empfehlungen bei Maupertuis brachten ihm keinen Erfolg, so daß der bettelarme und hochbegabte Mann sein Brot notgedrungen weiter als Zeitungsschreiber und als Zeitschriftenherausgeber verdienen mußte. Schon in Leipzig hatte er in dieser Tätigkeit einige Routine gewonnen, als einer der zahlreichen Gottschedianer, und hatte sich dabei mit Spöttereien gegen Albrecht von Haller auch unrühmlich hervorgetan. In Berlin versuchte er, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden und legte sich auf wissenschaftliche Zeitschriften. Der gelehrte Artikel der Berlinischen privilegierten (Vossischen) Zeitung (damals noch bei Rüdiger, dem Schwiegervater von Voß) ist überhaupt erst von Mylius - vor allem als Rezensionsorgan - eingerichtet worden und fand nach Eulers Urteil allgemeinen Beifall. Außerdem leitete er bis zu seiner Abreise aus Berlin auf Empfehlung von Sulzer die gelehrte Beilage der »Konkurrenzzeitung« von Haude & Spener, die Critischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit. Vor allem aber die Physikalischen Belustigungen wurden als wissenschaftliche Zeitschrift sehr geschätzt und nicht nur in der Vossischen Zeitung, sondern auch im Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten öfter lobend besprochen. Auch Euler hat ja die Myliusschen Aufsätze daraus in seinem Empfehlungsschreiben nach Petersburg vollständig als ernstzunehmende wissenschaftliche Aufsätze aufgeführt. Von Sulzer und Euler wurde gemeinsam mit Mylius im Sommer 1751 das Projekt entwickelt, eine wissenschaftliche Expedition mit Mylius nach Ostindien zu senden,300 auf der Grundlage der Finanzierung durch eine private Gesellschaft, deren Mitglieder ihre besonderen Aufträge - vor allem die Beschaffung bestimmter Naturalien für deren Kabinette - der

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dem H. Haubold accordirt worden, zu tretten, um sich in der Praxi Astronomica in Engelland noch besser perfectioniren zu können, sonsten wollte ich selbst nicht rathen, daß ihm die erste Professio Astronomica aufgetragen würde. Zur zweyten aber wäre er vollkommen geschickt und würde sich dabei in kurzer Zeit auch zur ersten habilitiren.« (Ebd., S. 189f.) »Hier sind die Gelehrten die letzten, an welche bey H- und reichen Leuten gedacht wird, man müßte denn Franzosen und Gelehrte für einerlei halten [...].« (Mylius an von Haller am 2 0 . 8 . 1751. Zitiert nach: Consentius (wie Anm. 40), S. 531.) »Unter den erstem [Übersetzungen] verdienen ohne Zweifel die Kosmologie des Hrn. von Maupertuis, und des Hrn. Clairaut Anfangsgründe der Algebra die vorzüglichste Stelle. Beyde Werke zu übersetzen, ward etwas mehr als die bloße Kenntnis der Sprache erfordert; einer Sprache in der er übrigens seine Briefe am liebsten abzufassen pflegte.« (G. E. Lessing, Vorrede zu: Chr. Mylius, Vermischte Schriften, ges. v. G. E. Lessing. Berlin 1754, S.XXXV. In: LM 6 (wie Anm. 71), S . 3 9 2 408, hier S.405.) Lessing verweist zugleich auf den großen Briefwechsel von Mylius über die Grenzen von Deutschland hinaus, vgl. S. XXXVI bzw. S. 405, darunter mit Réaumur (der an der KönigAffäre Anteil nahm).

300

Vgl. Mylius an Haller am 20. 8 . 1 7 5 1 . In: Consentius (wie Anm. 40), S. 531.

298

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Jugement de L'Académie Royale

Expedition übergeben konnten. Mit der Vorbereitung dieser Reise war Mylius daher seit dem Sommer 1751 intensiv beschäftigt, und in diese Zeit fällt auch sein Versuch, sein Verhältnis zu Albrecht von Haller auf einen neuen und guten Fuß zu stellen. Mylius beginnt 1751 mit der Ubersendung des ersten Bandes seiner Physikalischen Belustigungen einen regelmäßigen Briefwechsel mit Albrecht von Haller, in dem er ihn über die wissenschaftlichen wie auch »wissenschaftspolitischen« Ereignisse in Berlin und besonders an der Akademie informiert, darunter auch über die bereits dargestellten Aktivitäten La Mettries gegen von Haller. Bald berichtet er auch über die geplante Expedition nach Ostindien, bittet von Haller um sein Urteil und seine wissenschaftliche Unterstützung, ersucht ihn außerdem auch um die Übernahme der Schirmherrschaft über die Gesellschaft für die Expedition, u m durch seine wissenschaftliche Reputation die Attraktivität und Seriosität des Unternehmens zu befördern. Albrecht von Haller tut beides, er veröffentlicht das Memorandum vollständig in den Göttingischen Gelehrten Zeitungen vom 21. September 1752 und übernimmt die Schirmherrschaft; aber er tut sogar noch mehr - in derselben Nummer melden die Göttin-

gischen Gelehrten Zeitungen : »Auch ist der unermüdete Hr. Christlob Mylius, welcher die Reise nach America zu Ergäntzung der Natur-Geschichte vornehmen wird, deren einigemahl in unsern Blättern gedacht ist, wegen dieser löblichen Bemühung und seiner übrigen Verdienste und Geschicklichkeit, zum Correspondenten der königl. Societät aufgenommen.«301

Diese Ernennung zum korrespondierenden Mitglied der Göttingischen Akademie ist für den jungen Mylius eine nicht zu unterschätzende Rückendeckung, vor allem aber eine endlich erreichte Anerkennung seiner naturwissenschaftlichen Bemühungen. Außer seinen Beiträgen für die Hamburgischen Freyen Urtheile und vielleicht auch für die Bibliothèque impartiale hat Mylius wahrscheinlich gemeinsam mit der Gräfin auch selber satirische Versuche zur Debatte unternommen, wie das im Nachlaß der Gräfin Bentinck befindliche französische Manuskript von deutscher Hand belegt, das nicht von ihrer Hand geschrieben wurde. 3 0 2 Satiren zu verfassen war ihm ja auch keineswegs eine neuartige Beschäftigung; sogar seine Rezension der Maupertuisschen Thesen in der Vossischen Zeitung 303 war in einem für Berliner Verhältnisse gewagt ironischen Ton geschrieben. In jedem Fall

301

302

303

Vgl. den Bericht über die Sitzung der Göttingischen Akademie, in: Göttingische Gelehrte Zeitungen. 93. St. 21.9. 1752, S. 933-937. Die Mitteilung über die Aufnahme von Christlob Mylius in diese Akademie findet sich S. 937. André Magnan weiß nicht, wer der Verfasser des von ihm im Nachlaß der Gräfin gefundenen L'Evangile selon saint Marschall sein könnte. Vgl. Magnan (wie Anm. 5), S. 335. Mylius kommt als Verfasser jedoch sehr gut in Frage, aufgrund seiner anerkannten Französischkenntnisse, die aber natürlich auch orthographisch nicht die eines Muttersprachlers sein können, aufgrund seiner stadtbekannten satirischen Fähigkeiten, wegen seiner Kontakte zur Gräfin und seiner Zusammenarbeit mit ihr und Voltaire. Insbesondere spricht aber fur Mylius die Vorliebe für die Nutzung biblischer Vorlagen für seine Satiren. Vgl. die Berlue remarquable weiter unten und die von ihm gewählten Motti. Die Rezension enthält sogar bereits einige der Topoi, die später in den Satiren auftauchen. Der Rezensent verweist zunächst darauf, daß einige der Abhandlungen schon gedruckt sind. In der Vorrede zeige Herr von Maupertuis »das Vorzügliche« seiner Arbeit an und fertige verschiedene Gegner ab, worauf

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13. Ein »Antitriumvirat« ?

hat Mylius aber im weiteren Verlauf die in den bekannten Voltaireschen Satiren verarbeiteten internen Informationen über die Akademie und über die berühmte Sitzung beigetragen und konnte auch filr Voltaire die wissenschaftliche Streitigkeit erschöpfend erläutern. Auch Samuel König erhielt die internen Akademieinformationen offensichtlich von Mylius. Dieser übersetzte dann auch den Akakia

und verbreitete ihn zusammen mit spottenden Knittel-

versen auf den Straßen Berlins, besorgte die Ubersetzung der späteren Satire Séance

mémo-

und war um den Druck beider Schriften in Göttingen bemüht, um sie Samuel König

rable

mitzubringen. 3 0 4 Es ist daher außerordentlich wahrscheinlich, daß auch die Berlue quable,

remar-

die weiter unten zu besprechen sein wird, von Mylius verfaßt und von ihm auf

seinem Weg nach Leipzig in Wittenberg zum Druck gebracht wurde. Dem berühmten Voltaire, dessen Prominenz in der zeitgenössischen Diskussion über den Jugement vor allem in Frankreich ein entscheidendes Gewicht zugunsten Samuel Königs bedeutete, werden immer wieder die kleinlichsten Motive für seine öffentliche Parteinahme für Samuel König unterstellt. W i e schon erwähnt, wollen besonders die deutschen Historiker den G r u n d für Voltaires Engagement fur Samuel König allein in einer angeblichen Todfeindschaft zwischen Voltaire und Maupertuis sehen, können sich dabei allerdings ausschließlich auf Aussagen von Friedrich, Maupertuis und Euler stützen, 305 und zwar aus der

eine Einleitung folge. Uber Maupertuis' Gottesbeweis heißt es dann lapidar: »Es ist eine althergebrachte Mode unter den Weltweisen, daß derjenige, welcher in einem so wichtigen Puñete, als dieser ist, einen neuen Beweiß zu entdecken das Glück hat, alle bekannte Beweise auf der schwächsten Seite vorstellet«, was angesichts dessen, daß nicht nur Philosophen Gott glauben sollen, in Frage gestellt wird, »da es gleichviel ist, auf welche Art ich überzeugt bin, daß ein Gott ist«. Der Rezensent hätte daher dafür gehalten, »auch die geringsten Beweise dieser großen Wahrheit, soweit zu treiben als möglich, nicht aber sie auszumerzen«. Herr Maupertuis aber zeige das Gegenteil und beweise es »auf eine ihm würdige Art«, »worauf ein Abriß des Weltbaues folgt, in welchem alles in einer reitzenden Kürze verbunden ist, was die größten Naturforscher vor ihm in dieser Materie entdeckt haben«. (Mylius: Versuch einer Cosmologie von dem Herrn von Maupertuis. Aus dem Französischen üb. [von Christlob Mylius]. Nicolai: Berlin 1751. In: Vossische Zeitung. 44. St. 13.4.1751. Nachdruck in: Von gelehrten Sachen. Im Jahrgang 1751 der Berlinischen Privil. Zeitung, S . 4 3 - 4 5 . - Da die Rezension von Muncker auch in die Lessing-Ausgabe aufgenommen ist, vgl. auch LM (wie Anm. 71). Nachtragsband, S. 135. Es ist allerdings wegen des Aufenthaltes von Lessing 1751 in Wittenberg und auch wegen des naturwissenschaftlichen Gegenstandes unwahrscheinlich, daß Lessing ihr Autor war, was aber hier wegen der bekannten Freundschaft und Übereinstimmung in solchen Fragen von keiner Bedeutung ist.) 304

305

Vgl. das Billett von Mylius an Hollmann von seinem Aufenthalt in Göttingen am 8 . 4 . 1 7 5 3 . Zitiert nach: Consentius (wie Anm. 40), S. 782. So schreibt Euler am 19./30. 12.1752 an Schumacher, daß Maupertuis gegenüber Voltaire »niemals den geringsten Anlaß zu einigem Wiederwillen gegeben, außer daß er, da er [...] sehr gefährlich krank gewesen und V[oltaire] sich die feste Hoffnung gemacht, die Praesidentenstelle zu bekommen, wiedrum besser werden worden«. (Juskevic/Winter (wie Anm. 21). Teil 2, S. 297f.) Friedrich gibt seiner Wut über Voltaire in einem Brief an die Markgräfin Wilhelmine von Bayeuth vom 12.4. 1753 Ausdruck: »voici la vérité de son histoire. Il s'est comporté ici comme le plus grand scélérat de l'Univers. Il a commençé par vouloir brouiller tout le monde par des mensonges et des calomnies infâmes, dont il ne rougit pas; après quoi il s'est mis à écrire des libelles contre Maupertuis, pour chagriner le dernier, pour le rendre ridicule, et avoir la présidence de notre Académie; tout cela avec nombre

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J u g e m e n t de L'Académie Royale

Zeit unmittelbarer Betroffenheit. Alle drei waren also Partei und mußten ein Interesse haben, Voltaire niedrige Beweggründe zu unterstellen.306 Wenn Voltaire dem Akademiepräsidenten keine besonderen Sympathien entgegenbrachte, so war das umgekehrt nicht anders. Aus solcher gegenseitiger persönlicher Abneigung allein aber die Entscheidung Voltaires ableiten zu wollen, die Verteidigung Königs zu übernehmen, um Maupertuis bei so guter Gelegenheit der Lächerlichkeit preiszugeben, scheint mir geradezu absurd, insbesondere wenn in diesem Fall gar keine Erklärungsnot besteht. Zum einen stand Voltaire in keinem besonders guten persönlichen Verhältnis mit Samuel König. Er kannte ihn aus einem mehrjährigen Zusammenleben in Cirey, wo König als Mathematiklehrer der Madame de Châtelet wirkte und bereits dort in undiplomatischer Weise heftige Diskussionen um Leibniz und Newton provozierte. Wenngleich Voltaire sich von der Leibnizschen Metaphysik schon damals distanziert hatte, was er ja dann auch während der Debatte zum Ausdruck brachte, so wußte er dennoch um die Redlichkeit des Menschen Samuel König, wenngleich dieser in seinen Augen keine besonders guten Manieren besaß. Aber seine persönliche Bekanntschaft hätte Voltaire nicht zur öffentlichen Stellungnahme für König veranlaßt. Der Grund war allein Maupertuis' Anmaßung, die freie Diskussion durch politische Machtmittel unterdrücken und seinen Gegner mundtot machen zu wollen. Ein derartiges Engagement Voltaires gegen angemaßte Autorität ist in seinem Leben keineswegs singulär gewesen, er hat sich oft genug für die Verteidigung und den Schutz von unschuldig angegriffenen Menschen und gegen den Mißbrauch der Macht eingesetzt. Dafiir, daß Voltaire in dieser Debatte wirklich von der Sache Königs überzeugt war, spricht in meinen Augen vor allem sein ständiges Bemühen, beinah bis zuletzt, Friedrich dazu zu bringen, den in der Tat überzeugenden Appel au public wenigstens zur Kenntnis zu nehmen. Sogar noch in dem ihm von Friedrich abgenötigten »Bekenntnis« vom 27. November kommt er darauf zurück. In völligem Widerspruch mit dieser traditionellen deutschen Lesart des Voltaireschen Engagements ist es die vorherrschende Uberzeugung besonders der französischen VoltaireForschung, Voltaire habe sich nur eingemischt, um den Bruch mit Friedrich und damit seinen Abgang aus Preußen zu ermöglichen. Dazu müßte aber überhaupt erst gezeigt werden, woher Voltaire seit Juli 1752 hätte wissen können, daß es ihm, trotz seines offensichtlichen Bemühens darum, nicht gelingen würde, den König von der Berechtigung der d'intrigues que je supprime [...]. A peine suis-je arrivé à Berlin, que l'Akakia y paraît et s'y débite; sur quoi je le fais brûler par les mains d u bourreau. Voltaire, au lieu de s'en tenir là, double et triple la dose, en écrivant contre tous le monde.« Vgl. Œuvres de Frédéric le Grand. Berlin. T. 27. 1 . 1 8 5 6 , S.226f. 306 £> e r v o n Maupertuis erhobene Verdacht, Voltaire wolle eine besondere Akademie der Belles lettres gründen, um deren Präsident zu werden, kann sich allein auf eine Briefstelle stützen, das Aktivitäten des Neffen des Kurators der Akademie von Arnim, des Astronomen Kies und der Gräfin Bentinck erwähnt, die ein verständliches Interesse daran haben konnten, der Diktatur Maupertuis' zu entrinnen. Es gibt weder ein Indiz dafür, daß dies auf Voltaires Initiative geschah, noch daß Voltaire dies irgendwie ernstgenommen oder positiv darauf reagiert hätte. Vgl. Abraham Wilhelm von Arnim an die Gräfin Bentinck am 2 4 . 1 2 . 1 7 5 0 . In: Magnan (wie A n m . 5), S. 2 7 4 f .

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Königschen Sache zu überzeugen, was in der Folge ja erst zum Bruch gefuhrt hat. Darüber hinaus scheint es mir aber offensichtlich, daß Voltaire seinen Abgang aus Preußen durch sein Zerwürfnis mit dem König gerade außerordentlich erschwert hat. Man lese die Briefe Voltaires aus dem Januar 1753 (ohne die später frisierten Briefe an seine Nichte), dann wird man die Angst Voltaires spüren, daß es zu einer leicht möglichen Koinzidenz des Unwillens des französischen Königs und des Ärgers Friedrichs gegen ihn hätte kommen können.307 Um so mehr beschwört Voltaire den französischen Gesandten, ihn als französischen Bürger anzusehen und ihm den Schutz der französischen Krone zu gewähren - gegen wen, wenn nicht gegen Friedrich? Wie weit die Willkür und der Machtmißbrauch dieses Königs im Zorn auf Voltaire gehen konnte, wurde noch an der Verhaftung Voltaires in der freien Reichsstadt Frankfurt am Main brutal klar.308 Wenngleich es sicherlich richtig ist, daß Voltaire angesichts der Verschärfung des Konflikts seit dem Spätherbst 1752 seine finanziellen Verhältnisse ordnete und seinen Abgang recht überlegt vorbereitete, ist der Rückschluß auf einen Eingriff Voltaires in die Debatte seit September 1752 mit der Absicht, diesen Abgang vorzubereiten, nicht zu belegen und einigermaßen weit hergeholt, insbesondere da seine Verteidigung von Samuel König aus seinem allgemeinen Engagement für Gedankenfreiheit wie auch aus seiner persönlichen Bekanntschaft mit diesem Mann ganz natürlich erscheint. Voltaires Interesse für die Angelegenheit ist aber mindestens seit Juli 1752 wahrscheinlich. Bereits am 27. Juni 1752 hat er zwei Pakete mit Manuskripten an die Gräfin Bentinck übersandt, die davon eines an Michel Rei, Verleger und Herausgeber des Journal des sçavans in Amsterdam, und das andere an Samuel König im Haag besorgen sollte.309 Dabei hat es sich vermutlich noch um seine Rezension der Œuvres von Maupertuis gehandelt, die im Frühjahr 1752 ebenso wie das Siècle Voltaires im Verlag Walther in Dresden erschienen waren. Auf die Zusendung des Jugement durch den Akademiesekretär Formey an das Akademiemitglied Voltaire antwortet dieser bereits am 1. Juli einigermaßen sarkastisch, er hätte es längst in den Journalen gelesen310 und bietet daher an, er könne das Bändchen bei Bedarf auch zurückschicken. Nach einem kurzen Themenwechsel heißt es plötzlich, scheinbar zusammenhanglos: »Je vous dirai en passant que quelquefois ceux qu'on avait pris pour des aigles, ne sont que des coqs d'Inde; qu'un orgueil despotique, avec très peu de science, & beaucoup de ridicule, est bientôt reconnu & détesté de l'Europe savante, &c.&c.&c.«, um dann wieder Artigkeiten auszutauschen. Den Brief erinnert Formey noch in seinen Souvenirs d'un citoyen?u Mit seiner Meinung über den Jugement der Akademie gegen Samuel 307 Vgl die dramatische Nachzeichnung dieser Phase der Ungewißheit in Furcht und Hoffnung von Christiane Mervaud anhand der Voltaire-Briefe aus dieser Zeitspanne: Mervaud (wie A n m . 5), S. 2 3 3 . 308

Zur Verhaftung Voltaires in Frankfurt am Main vgl. ebd., S. 2 3 4 - 2 5 3 . Die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des königlichen Vorgehens gegen Voltaire in der Freien Reichsstadt wird natürlich traditionell in der Voltaire-Forschung anders gesehen als in Untersuchungen zu Friedrich und zur preußischen Geschichte. Die dabei diskutierten Details interessieren hier aber weiter nicht.

309

Best.D4923 (wie A n m . 2).

310

B e s t . D 4 9 3 4 (wie A n m . 2).

311

Vgl. Formey: Souvenirs (wie A n m . 63), S. 2 7 6 f.

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Jugement de L'Académie Royale

König hält Voltaire auch in anderen Briefen gegenüber dem Sekretär der Akademie nicht zurück.312 Am 1. Juli berichtet Voltaire der Gräfin Bentinck über ein Manuskript, das ihm zur Übersendung an Samuel König sowie zur Veröffentlichung in einer holländischen oder deutschen Zeitschrift übergeben worden wäre, und bittet um Erledigung dieser Sendung, da er selber angeblich keinen Kontakt weder zu Journalen noch zu König habe.313 Falls die Schrift ihr gefalle, deren vorherige Lektüre er ihr anbietet, könne sie sie auch kopieren und zirkulieren bzw. verschicken lassen, insbesondere nach England, allerdings ohne seinen Namen dabei zu nennen. Am 15. August erinnert er an diese bestellte Sendung, da der Adressat in Haag, also Samuel König, am 1. August noch nichts erhalten hätte.314 Im September erscheinen dann Rezensionen Voltaires zu Maupertuis' Œuvres in der Bibliotheque raison«A»315 - vor allem aber auch die knappe Reponse jeweils im Septemberband des Journal des Sçavans und der Bibliotheque raisonnée, die den Jugement unmittelbar thematisiert und europaweit für Aufsehen sorgen wird.316 Die dritte im Bunde, die für ihre Zeit hochgebildete Gräfin Charlotte Sophie von Bentinck, die sich seit August 1750 in Berlin aufhält, um vom preußischen Hof politisch-diplomatische Unterstützung zur Regelung ihrer Besitzverhältnisse nach ihrer Scheidung im Jahre 1740 zu erwirken, hatte in Berlin Zutritt zum Hof und wurde für Voltaire, dessen persönliche Bekanntschaft sie schon vor ihrer Berliner Zeit im Jahre 1743 gemacht hatte, mit seinem Eintreffen in Berlin eine wichtige Vertraute an diesem Ort.317 Sie pflegte offensichtlich auch regelmäßige Kontakte zu einigen Mitgliedern der Akademie, insbesondere zu Maupertuis, aber auch, offenbar vermittelt durch den Baron Abraham Wilhelm von Arnim, den Neffen des Kuratoren Georg Detlef von Arnim, zum Astronomen Kies, wie aus ihrem Briefwechsel hervorgeht.318 Allerdings kühlte das Verhältnis zu Maupertuis wegen ihrer guten Beziehung zu Voltaire in der Folge ab. Sie scheint vor allem die sichere Beförderung der offenbar durch den König kontrollierten Post Voltaires geleistet zu haben,319 wie auch die Beschaffung von Informationen.

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Vgl. Best.D4982 aus dem August und Best.D5014 vom 12.9.1752 (wie Anm. 2). Best.D4932 (wie Anm. 2). Im folgenden Brief nennt er den Namen des Herausgebers des Journal des sçavans ausdrücklich. Vgl. Best.D4935 (wie Anm. 2). Den Autor der Schrift kenne er nur flüchtig, aber die Sache interessiere ihn, da sie weise und wahr scheine. Best.D4978 (wie Anm. 2). Vgl. Bibliotheque raisonnée. Juli, August u. September 1752. Bd. 49.2. Art. 10 u. 11, S. 158-209, und ebd. Oktober, November u. Dezember 1752. Bd. 49.2. Art. 13, S. 431-439. Journal des sçavans. September 1752. S. 559-561. Bibliotheque raisonnée. Juli-September 1752, Art. 13. S. 227f. Vgl. auch Fleischauer (wie Anm. 5), S. 59. Zur Gräfin Bentinck vgl. Magnan (wie Anm. 4), S. 365-398. Vgl. ebd., S. 274 f. Voltaire war sich bewußt, daß seine Post kontrolliert wurde. Demonstrativ schreibt er am 12.3. 1753 an Samuel König: »Vous avez donc reçu, monsieur, mon paquet du mois de janvier le 2 mars, et moi j'ai reçu le 11 mars vôtre Lettre du 2. Je vous écris naturellement par la poste, n'écrivant rien que je

13. Ein »Antitriumvirat«?

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Ihr eigenes Interesse an der Debatte ist - außer ihrer aktiven Kontaktaufnahme zu Mylius im August - zum ersten Mal im September 1752 nachweisbar, da sie bei einem großen dreiwöchigen Fest im Schloß Oranienburg aus Anlaß der Hochzeit des Prinzen Heinrich als Budikerin auftrat, die schöne Ideen und Projekte verkaufte. In ihrem Nachlaß fand sich unter den Manuskripten von ihrer Hand eine Beschreibung dreier solcher dort anzubietender, recht komisch erscheinender Projekte - die Durchbohrung der Erdkugel, die Gründung einer lateinisch sprechenden Stadt sowie eine durch den König befohlene Klausur der Akademiemitglieder ohne Essen und Trinken solange, bis sie der Welt offenbaren, was uns Leibniz mit seinen Monaden hat sagen wollen. 320 Die beiden ersten Projekte beziehen sich auf die original Maupertuisschen Ideen, die dann in den Satiren Dr.Akakia und in der Séance mémorable noch für Furore sorgen sollten, dagegen spielt das dritte Projekt offensichtlich auf die durch Euler aufgrund seiner Feindschaft gegen die WolfFianer veranlaßte klar antileibnizianische Preisfrage von 1747 an, bei der es zu einer allgemein als ungerechtfertigt angesehenen Preisvergabe kam, deren Autor aber den angeblichen Nachweis der Unmöglichkeit von Monaden geführt hatte. Gegen die oben bereits vorgestellte unkorrekte und parteiische Vorgehensweise der Akademie erschienen in den Folgejahren bereits mehrere kritische Schriften, und besonders in Berlin soll die Beweisbarkeit bzw. Widerlegbarkeit der Monaden angesichts der gegenwärtigen dahinter stehenden Parteien Stadtgespräch gewesen sein. 321 Der Auftritt der Gräfin war offensichtlich ein Erfolg; sowohl Mylius 3 2 2 als auch Voltaire haben davon gehört, ohne selber daran teilgenommen zu haben. 323 An diesen Projekten der Bentinck fällt nicht nur die genaue Kenntnis der Auseinandersetzungen über die Leibnizschen Monaden sowie der Maupertuisschen Cosmologie auf, sondern auch, daß eine solche »Budike« im September 1752 mit großem Erfolg am Hof aufgeführt werden und also doch wohl auch auf allgemeines Verständnis rechnen konnte, was

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ne pense, et ne pensant rien que n'avoue à la face du public.« (Best.D5230 [wie Anm. 2].) Am selben Tag wendet er sich an Friedrich: »Sire, J'ai reçu une lettre de Koenig toutte ouverte. Mon cœur ne l'est pas moins.« (Best.D5231) Ebd., S. 3 1 0 . »In den zwei Jahren ( 1 7 4 5 - 1 7 4 7 ) bis zur Preisverleihung wurde mal für und gegen die Monadenlehre öffentlich in anonymen Broschüren auf's Lebhafteste gestritten. In scharfer Bekämpfung schritt Euler Allen voran. Er veröffentlichte seine Dissertation >Considerations sur les éléments des corps, dans lesquelles on examine la doctrine des monades et l'on d'covre la véritable essence des corpsRecherches sur les élémens de la matières die Wolff selbst vor dem Druck durchgesehen hat. Die Akademie nahm die Concurrenz diesmal so wichtig, dass sie die Entscheidung nicht der philosophischen Klasse überliess [...]. »Ganz Berlin räsonnirte«, sagt Merian, >Gott weiß wie!< und blickte mit Spannung auf das Ergebnis; aber weit über Berlin hinaus, in der gebildeten Welt nahm man lebhaft Anteil.« (Harnack (wie Anm. 4). 1/1, S. 4 0 2 f.) Vgl. auch die Darstellung zu Euler im Abschnitt zum Triumvirat. Nach der Rückkehr der Gräfin aus Oranienburg Ende September gibt es erneut ein Treffen mit Mylius, dessen Anlaß die von ihm vorbereitete Forschungsreise nach Amerika ist, an deren Finanzierung zu beteiligen sie versprochen hat. Vgl. Mylius an Haller. In: Geiger (wie Anm. 91), S. 369. Voltaire hat am 25. 9 . 1 7 5 2 schon von den Oranienburger Maupertuis-Parodien gehört und macht der Gräfin seine Komplimente. (Best.D5021 [wie Anm. 2].)

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Jugement de L'Académie Royale

bestätigen würde, diese Streitigkeiten von Maupertuis seien Stadtgespräch gewesen. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, von wem die Gräfin bei ihrer »Projektbudike« die entscheidenden Hinweise erhalten hat. Sicherlich hat sie die Rezension von Voltaire für das Journal des Sçavans lesen können, da sie diese auf Bitte Voltaires nach Amsterdam expediert hat. Angesichts ihrer Kontaktaufnahme mit Mylius Mitte August hat sie aber auch mit diesem über Maupertuis' befremdliche Ideen lachen und mit ihm zusammen die »Budike« erfinden können. Mylius war bekanntermaßen gewandt im Französischen, kannte sich in der Leibnizschen Philosophie und in der modernen Mathematik und Naturwissenschaft aus, verfügte außerdem über Witz und Ironie und vermochte so einen unterhaltsamen Ratgeber für die Gräfin abzugeben. Wann es zu einer Zusammenarbeit und zu einer direkten Bekanntschaft der drei Berliner Akteure gekommen ist, läßt sich nur schwer ausfindig machen. 324 In jedem Fall ist der Brief Voltaires an Mylius vom Dezember 1752 ein deutlicher Beleg dafür, daß beide Männer bereits seit einiger Zeit in Beziehung standen und einander vertrauten. Die darin geäußerte Bitte um Zusendung von Stücken aus der Debatte, die Voltaire — kurioserweise - nicht mehr habe, führt auch die Myliussche Rezension vom 24. November in den Hamburgischen Freyen Urtheilen auf die Lettre des Königs an, die dann auch Teil der Maupertuisiana wurde. In der Tat mußte spätestens diese klare Zurückweisung des parteilichen Pamphlets Friedrichs Voltaire begeistert und sein Interesse am Autor hervorgerufen haben. Angesichts dieser in jedem Fall gegenüber dem Beginn der Debatte späten Berliner Kooperation spricht Mylius zu Recht nur gleichsam von einem »Antitriumvirat«, da die Berliner, einschließlich des berühmten Voltaire, in dieser öffentlichen Debatte nicht allein standen. Sie waren vielmehr nur Teil einer Kooperation, die sich seit der Publikation des Jugement europaweit darum bemüht, gegen den institutionellen Machtspruch der Königlichen Akademie über Samuel König, gegen den Versuch des »Triumvirats«, ihn mundtot zu machen und gegen die Okkupation des öffentlichen Raumes durch die offiziösen Verlautbarungen eines Jugement, eine GegenöfFentlichkeit herzustellen und zu ermöglichen. Es ist erstaunlich und wird bis heute unterschätzt, daß nicht nur die Moralischen Wochenschriften, die bekannten Organe der Aufklärung, sondern gerade die viel kurzfristiger erscheinenden deutschsprachigen Zeitungen in der besonderen Situation der deutschen

324 Vielleicht deuten schon Voltaires Bitte um Ubergabe eines »Inliegenden« an den »Nachbarn« der Gräfin vom 25. September auf Mylius, da Voltaire sich in diesem Brief auch das erste Mal ausdrücklich zum »Thema« äußert, indem er Königs Appel seine Anerkennung ausspricht und zugleich sein Vergnügen über den Erfolg des Auftritts der Bentinck in Oranienburg bekundet. In diesem Brief erwähnt Voltaire auch zuerst die Broschüren, an denen die Buchhändler künftig noch gut verdienen würden, die aber nicht alles sein könnten: »II faut encore être poli.« Vgl. Best.D5021 (wie Anm. 2). Ebenso könnte sein Brief vom 11. Oktober an die Bentinck Mylius meinen, wenn er darin über den Besuch eines von ihr empfohlenen jungen Mannes berichtet, er würde dessen Lob singen. Im selben Brief ist die Rede von der Königschen Angelegenheit, insbesondere von einem durch die Post versandten Brief eines Joncour [de Jonge aus Utrecht] und der Nachricht in der Gazette de Cologne, die Briefe von Maupertuis an die Prinzessin von Oranien betreffend. Vgl. Voltaire an Bentinck am 11. 10.1752. Best.D5040 (wie Anm. 2).

13. Ein »Antitriumvirat«?

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Vielstaaterei eine wichtige Rolle in der Erzeugung einer neuen und besonderen Öffentlichkeit bzw. einer Gegenöffentlichkeit gespielt haben und spielen konnten. Insofern die verschiedenen Länder — Sachsen, Preußen, Braunschweig wie auch die Freie Stadt Hamburg — jeweils ihre eigene Zensur ausübten, entstanden für die deutschsprachige Literatur eigenartige Freiräume, die in dieser Debatte weidlich genutzt worden sind. Die Voraussetzung zur Realisierung dieser Freiräume war jedoch — angesichts der Verlagerung der im eigenen Land verbotenen kritischen Beiträge ins Ausland — ein rasch und zuverlässig funktionierendes Informationsnetz der an dieser Gegenöffentlichkeit interessierten Beteiligten zu den einzelnen Standorten der Publizität, also vor allem zu Leipzig, Hamburg, Göttingen und Berlin, und natürlich auch nach Leiden und in den Haag. Für die hier behandelte Debatte hat ein solches Informationsnetz offensichtlich bestanden, wobei zum Teil an bestehende Kontakte angeknüpft werden konnte, zum Teil auch neue Verbindungen hergestellt worden sind. Leider scheinen die nachgelassenen Papiere von Samuel König nicht auf uns gekommen zu sein; wie schon aus den erhaltenen Antwortbriefen hervorgeht, würden die Briefe von Mylius aus Berlin, auch von Albrecht von Haller aus Göttingen und sicherlich von den Leipzigern an Samuel König genauere Rückschlüsse auf die Art der Samuel König vermittelten Informationen erlauben. 325 Wenn man sich daher den Kreis der in dieser Debatte auf Seiten Königs agierenden Teilnehmer ansieht, so wird sogleich klar, daß es sich hier nicht um eine kleine Gruppe von Akteuren handelte wie im Fall des »Triumvirats«; schon die Broschüren, Zeitungsartikel und Rezensionen wie auch die Satiren gegen Maupertuis stammen aus einem relativ großen Kreis von Autoren - in den Niederlanden, in Leipzig und in Göttingen, in Berlin, Hamburg und Leipzig, unter denen es sicher eine gewisse Abstimmung über die unterschiedliche Vorgehensweise und die Argumentation gegeben hat, mindestens aber eine gegenseitige Information über Neuigkeiten, wie aus den uns bekannten Briefen bereits deutlich genug wird. Wenn man jedoch die aktiven Teilnehmer an dieser Debatte in den Blick bekommen will, kann es nicht nur um die Autoren der Streitschriften, Satiren und Rezensionen gehen, es müssen dazu vielmehr auch alle diejenigen gerechnet werden, die an diesem Informationsnetz mitgewirkt und damit den Autoren zugearbeitet haben. Dazu gehören aber sicher-

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Bei meiner Suche in verschiedenen Archiven in den Niederlanden konnte ich zwar ein Nachlaßverzeichnis im Gemeindearchiv in D e n H a a g und auch den Auktionskatalog für die Bibliothek Samuel Königs, seine S a m m l u n g wissenschaftlicher Geräte und seine Insektensammlung in der Bibliothek der Buchhändler in der U B Amsterdam ausfindig machen, allerdings sind darin Manuskripte oder Briefschaften leider nur summarisch aufgelistet. Etliche der Papiere von König gingen an seinen Schüler Anton Brugmans, der daraus noch einiges herauszugeben versprach, was aber nicht geschah. Einen Nachlaß Brugmans habe ich leider nicht finden können. Für die freundliche Unterstützung bei meiner leider nicht sehr erfolgreichen Suche nach Briefschaften Königs im Sommer 1996 in Den Haag, Leiden, Amsterdam und Leeuwarden möchte ich mich bei den Mitarbeitern der Koninklijke Bibliotheek Den Haag, des Allgemen Rijksarchiev D e n Haag, des Koninklijke Huisarchiev Den Haag, der Sectie Militaire Geschiedenis der Landmacht in Den Haag, des Gemeindearchivs Den Haag, der Provincialen Bibliotheek Friesland in Leeuwarden, der U B Leiden und der U B Amsterdam sehr herzlich bedanken, denen ich viele Hinweise verdanke.

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lieh auch die Herausgeber und Redakteure der genannten Zeitungen und Zeitschriften, die den Abdruck von kritischen Beiträgen selbst noch bei angedrohten Prozessen ermöglichten.326 Richtet man den Blick auf diese Zeitungsschreiber und -herausgeber, vor allem in Hamburg, Leipzig und Berlin, so wird in überraschender Weise deutlich, zu welch enormem Einfluß es die wolffianische Denkungsart seit den 20er Jahren gebracht hat, vor allem durch die Ausbildung an den philosophischen Fakultäten der Universitäten Jena und Leipzig. Ich spreche dabei nicht über einen Einfluß der wolffianischen Philosophie im engeren Sinne, sondern über die Propagierung einer Denkungsart, die die Unabhängigkeit der Urteilsbildung forderte. Nicht länger sollte sich das Urteil nach dem Herkommen oder nach der Autorität richten, sondern sich an der Richtschnur methodisch vorgehender Vernunft bilden. Dem klaren Denken sollte eine entsprechend deutliche und natürliche Sprache entsprechen, weshalb auch die Sprachgesellschaften und besonders die von Gottsched in Leipzig sehr geförderten und sich an vielen Orten im protestantischen Deutschland ausbreitenden Deutschen Gesellschaften in diesem Sinne wirkten. Gottsched erreichte durch sein außerordentliches Organisationstalent und durch sein meinungsbildendes Zeitschriftenimperium in Leipzig, daß die neue Denkungsart, die sich auf Wolfis Philosophie berief, weit über die philosophische Lehre der Universität hinaus in diesen Gesellschaften verbreitet und auch praktisch eingeübt wurde, in der Vortragstätigkeit ihrer Mitglieder und ihrer Beurteilung. In einem immensen Briefwechsel blieb er mit seinen ehemaligen Schülern auch nach dem Studium in Kontakt und gab ihnen moralische Unterstützung zur Fortsetzung ihrer aufklärerischen selbständigen Tätigkeit an ihren neuen Wirkungsstätten als Gerichtsassessoren, Konrektoren, Hofmeister oder Sekretäre an den Höfen. Sowohl der Hamburgische Unpartheyische Correspondent und die Freyen Urtheile in Hamburg, die Vossische und die Spenersche Zeitung in Berlin, erst recht die Leipziger Zeitungen wurden redigiert und geschrieben von Absolventen der Jenenser und Leipziger Universitäten, die sich alle irgendwann als WolfFianer verstanden haben und mit Gottsched im Briefwechsel standen. Und mit Kästner kam auch der für die hier behandelte Debatte relevante Rezensent der Göttingischen Gelehrten Zeitungen aus der wolffianischen Schule. In Hamburg schrieb Joachim Friedrich Liscow (1705—1764 ?)327 den gelehrten Artikel des Unpartheyischen Correspondenten}2* Der Correspondent wird verantwortlich geleitet von

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327

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»Mit dem Verklagen hat es keine Noth. Ich habe deswegen hinlängliche Nachricht aus Hamburg eingezogen.« (Mylius an von Haller. In: Geiger (wie Anm. 91), S. 371.) Johann Friedrich Liscow ging 1722-1724 auf das Gymnasium in Lübeck, studierte seit 1724 in Jena Theologie, wurde 1728 als Cand. Theol. Hauslehrer zu Waschow bei Wittenburg und kam Mitte der 30er Jahre nach Hamburg, wo sein Universitätsfreund Hagedorn lebte. Etwa ab 1732 war er bis 1764 als Redakteur des Gelehrten Artikels des Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten, später auch der Hamburgischen Freyen Urtheile tätig. Barthold Joachim Zinck (1718-1775) war 1735-1741 Hauslehrer bei Brockes in Ritzebüttel, 1744-1759 war er an den Freyen Urtheilen tätig, 1745-1767 übernahm er die Leitung des Hamburgischer Unpartheyischen Correspondenten. 1746-1773 wurde er Legationsrat bei der Hamburgischen Kurhannoveranischen Legation, 1758 heiratete er Sophia Maria Grund, die Tochter des Buchdruckers und Verlegers des Hamburgischen Correspondenten Georg Christian Grund und Wandelina

13. Ein »Antitriumvirat«?

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Bartholt Joachim Zinck, dem Freund Brockes und Hagedorns. Liscow war außerdem Redakteur der Freyen Urtheile. Beide Männer hatten in Jena studiert, wo seit den 1720er Jahren die wolffianische Philosophie vor allem durch die sogenannten magistri legentes großen Einfluß gewonnen hatte, 329 beide standen auch einige Zeit in engerem Kontakt zu Gottsched, dem sie zur Propagierung des gemeinsamen Anliegens ausdrücklich auch ihre Zeitungen zur Verfügung stellten: »Däfern sonst Eu. Hochedln. einige Aufsätze oder Nachrichten der Welt bekand gemacht wißen wolten; so biete mit aller Ergebenheit dazu den Raum in der Zeitung an, und schwöre Eu. Hochedl. In allen Stücken die aufrichtigste Verschwiegenheit.« 330

Wenngleich Gottsched seit der Mitte der 40er Jahre — vor allem aufgrund seiner zunehmend autoritären Haltung - mehr und mehr Anhänger verlor, darunter auch Liscow und Kästner, blieben diese doch erst recht den durch ihn weithin propagierten Grundsätzen eines kritischen und selbständigen Denkens treu. Auch der Berliner Zeitungsschreiber Mylius ist während seines Studiums in Leipzig einer der Schreiber der Gottschedschen Zeitschriften gewesen, hat sich aber schon seit 1746 mehr und mehr von ihm gelöst. Erst recht stehen die Leipziger Zeitungen in bestem Einvernehmen mit dem Gottschedkreis bzw. werden von ihm selber herausgegeben. 331 Obwohl also zu Beginn der 50er Jahre sowohl die Hamburger Liscow, Zinck und Hagedorn, der Leipziger Kästner und die Berliner Mylius und Lessing längst in Distanz zu dem nun selber autoritär gewordenen Gottsched getreten waren, standen sie untereinander in gutem Einvernehmen hinsichtlich der genannten unabhängigen Denkungsart unter Berufung auf Wolff wie auch hinsichtlich ihrer Kritik an angemaßter Autorität. Es ist daher nicht erstaunlich, daß Mylius bei Einsendung seiner in deutlichen Worten geschriebenen Kritiken zur Debatte auf großes Entgegenkommen der Hamburger Zeitungsmacher rechnen konnte und sich gegenüber der Berliner Akademie sogar triumphierend auf ihre Unabhängigkeit berief. Es waren diese viel gelesenen Zeitungen, Nachrichtenblätter mit ihrem gelehrten Artikel als auch die nach dem Vorbild der Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen in verschiedenen Städten entstehenden gelehrten Zeitungen in Hamburg, Göttingen und seit den 50er Jahren auch in Berlin, die weit über ihre Region hinaus meinungsbildend wirkten und einen gemeinsamen Diskurs der deutHolles, wiederum der Tochter des Gründers dieser einflußreichsten deutschen Zeitung, Heinrich Hermann Holle. Sophia Maria Grund war eine Freundin von Eva König. Der Verleger beider Zeitungen war 1731-1757 Georg Christian Grund. 329 Yg[ ¿¡ e Untersuchung zur Debatte der Wertheimer Bibel in diesem Band. 330 UB Leipzig. Gottsched-Korr. Bd. 2 (1733), S.359r. Vgl. zur Entwicklung der Beziehungen Gottscheds nach Hamburg, sowohl zu J. F. Liscow als auch zu den Brüdern Hagedorn, Marianne Wehr: Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Frühaufklärung. Masch.Schr. Diss. Karl-Marx-Universität Leipzig 1965, S. 4 6 - 5 4 . 331 Seit 1732 bis 1754 war Friedrich Otto Mencke (1708-1754) Besitzer und Herausgeber der Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen, die sein Vater 1715 gegründet hatte. Er studierte in Leipzig und Wittenberg Jura, wurde 1735 zum polnischen und kursächsischen Hof- und Justizrat ernannt, stand 1 7 3 5 - 3 7 gemeinsam mit seinen wolffianischen Zeitungsschreibern und Gottsched die Auseinandersetzung um die Wertheimer Bibel (siehe in diesem Band) durch und gehörte nicht erst seit 1743 als Ratsherr zu den Honoratioren der Stadt Leipzig.

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J u g e m e n t de L'Académie Royale

sehen Aufklärung ermöglichten.332 Dieses längst bestehende einigermaßen dichte Kommunikationsnetz deutscher Aufklärer wurde in dieser Debatte in den Dienst einer Gegenöffentlichkeit in der Sache Samuel Königs gestellt, weil der Jugement die gemeinsame Denkungsart kritischen und selbständigen Denkens in ihrem Grund verletzte. Hinzu kam sicherlich, daß sich Samuel König nicht nur eben dieser wolffianischen Denkungsart verpflichtet hatte, sondern sich selber aufgrund der Sprache zur deutschen Aufklärung rechnete. Angesichts des auf diese Weise zustande kommenden Übergewichts deutscher Aufklärer, und zwar keineswegs nur lupenreiner Wolffianer, in der öffentlichen Debatte um Samuel König läßt sich vielleicht auch die auffällige Wendung Voltaires hinsichtlich der Anerkennung bzw. des Interesses für die deutsche Kultur und Geschichte in dieser Zeit verstehen. Voltaire war in dieser öffentlichen Debatte, die er keineswegs ausgelöst hatte, deren Wirkung er aber natürlich durch seinen großen Namen enorm verstärkte, in Kontakt zu einer Gruppe deutscher Aufklärer geraten, deren Kenntnisse und Courage er ebenso schätzenlernte wie die von ihnen bereits erzeugte Infrastruktur der Aufklärungsbewegung, das Kommunikationsnetz und die damit gegebenen Publizitätsmöglichkeiten. Mehrfach finden sich solche anerkennenden Äußerungen Voltaires in dieser Zeit, nicht nur gegenüber Gottsched und - kritisch — gegenüber Maupertuis.333 Am Ende der Akakia-Affäre in Berlin spricht Voltaire dem deutschen Aufklärer Mylius ausdrücklich seinen Dank und seine Hochachtung aus: »C'est avec la même sincérité que je vous jure que je suis plus sensible à la générosité de votre amitié, qu'à tout ce ridicule dont j'espère rire si je peux me bien porter.«334 Mylius verläßt am 28. Februar Berlin in Richtung Leipzig, obgleich er eigentlich dringend in Göttingen erwartet wird, und hält sich sogar zwei Wochen dort auf. Nicht nur hat er sich in Leipzig mit seinem Lehrer Kästner,335 dem vorsichtigen Rezensenten der Göttingischen Gelehrten Anzeigen, sondern sogar noch einmal mit Gottsched getroffen, mit dem er 332

»Während die Zeitschriften zwar mehr als 8 0 0 0 0 bis 85 000 akademisch Gebildeten, jedoch maximal die etwa 3 0 0 0 0 0 zu anspruchsvollerer Lektüre überhaupt Fähigen erreichten, wurden die Zeitungen von einem zehnfachen Publikum rezipiert, das bis in die ungebildeten Schichten reichte und Analphabeten einschloß, die sich vorlesen ließen.« (Brigitte Tolkemitt: Der Hamburgische Correspondent. Zur öffentlichen Verbreitung der Aufklärung in Deutschland. Tübingen 1995, S. 3.) Die größte überregionale Verbreitung erreichten die Hamburger Zeitungen, natürlich vor allem der Hamburgische Unpartheyische Correspondent, vgl. ebd. S. 10 f. Zur Verbreitung der Wolffschen Philosophie bzw. der daran orientierten Denkart durch die Zeitung vgl. ebd., S. 15 sowie S. 9 9 - 1 0 7 .

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Entsprechende Belege für eine solche gewachsene Sensibilisierung Voltaires finden sich u. a. in den Satiren L'art de bien argumenter und Traité du paix. Vgl. auch Theodor W. Danzel: Gottsched und seine Zeit. Auszüge aus seinem Briefwechsel. Leipzig 1848, S. 6 3 - 6 9 (im folg. Danzel). Dort findet sich auch Voltaires Brief an Wolff vom 6 . 4 . 1753 abgedruckt.

Fontius erklärte diesen Brief zu Recht als an Mylius gerichtet, wie aus den bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts gedruckten Briefen an Albrecht von Haller hervorgeht. Vgl. Fontius (wie A n m . 217), S. 50. Siehe B e s t . D 5 0 9 0 (wie A n m . 2). 335 Y g j d i e Tagebucheintragung von Mylius über seinen Leipzig-Aufenthalt, gedruckt bei Ernst C o n sentius: Lessing und die Vossische Zeitung. Leipzig 1902, S . 2 1 f . In dieser Arbeit sucht der Autor nachzuweisen, daß zu viele Stücke der von Mylius und Lessing geschriebenen Zeitungen aus wenig überzeugenden stilistischen Gründen der Lessingausgabe zugeschlagen wurden, und er greift zum Nachweis der Myliusschen Anteile häufig auf das Archiv in Bern zurück.

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14. Königs Defense de l'Appel und Eulers

Dissertations

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ja noch am Ende seiner Leipziger Zeit gebrochen und den er in den Berlinischen Zeitungen hart genug angegriffen und verspottet hatte. In dieser Debatte aber wurde infolge einer zunehmenden Polarisierung der Parteien pro und contra König oder vielmehr pro und contra Freiheit des Denkens die abgebrochene Verbindung im Sinne der gemeinsamen Sache der Verteidigung der Freiheit des Denkens gegen angemaßte Autorität noch einmal hergestellt. Auch Voltaire, der am 17. März 1753 Berlin und am 26. März Potsdam verläßt, ging erst einmal nach Leipzig; er suchte dort zunächst Gottsched auf und sah ihn fast täglich während seines Leipziger Aufenthalts. Gottsched wohnte nämlich im Hause von Breitkopf, in dem sich die Druckerei befand, deren Einrichtung von Gottsched organisiert worden war.336 Bei Breitkopf wurde auch das Siècle Louis XIV. gedruckt. In diesem Haus wurden von Voltaire und den Gottscheds dann die Anstalten für eine abschließende publizistische Offensive gegen das Berliner »Triumvirat« getroffen, das die Freiheit der Gelehrtenrepublik stürzen wollte. Es kam zu einem Neudruck des Dr. Akakia, von Voltaire ergänzt zu einer Histoire de Dr. Akakia, zur Publikation all der weiter unten noch vorgestellten Satiren, zu einer von Luise Adelgunde Victoria Gottsched zusammengestellten und ins Deutsche übersetzten umfangreichen Sammlung der meisten Streitschriften um den Jugement der Berliner Akademie, die noch im März 1753 erschien und europaweit für Aufsehen sorgte. Eine zweite Auflage erschien wenige Monate später. Von Leipzig aus wendet sich Voltaire durch Vermittlung Gottscheds dann sogar direkt an Christian Wolff, um auch noch den Vater der deutschen Aufklärer, einst von Friedrich so hoch geschätzt, zu einem öffentlichen Bekenntnis in dieser Debatte zu bewegen.337

14. Samuel Königs Defense de l'Appel und Eulers Dissertations Kurz bevor die aktiven Parteigänger Samuel Königs Voltaire und Mylius Berlin verließen, erschien wohl im Februar die Defense Samuel Königs; Mylius hat erst am 30. Januar den ersten Bogen erhalten338 und die erste mir bekannte Rezension erschienen am 8. März 336

337

338

Vgl. den Brief der Gottschedin vom 4.4. 1753. In: Danzel (wie Anm. 333), S. 338. Vgl. zur Druckerei von Breitkopf ebd., S. 68. Voltaire drängt Gottsched, Wolff aufzufordern, sich öffentlich in der Debatte zu äußern: »Non possum solus bellum gerere.« (Voltaire an Gottsched am 6.4.1753. Best.D5252 [wie Anm. 2].) Dagegen ist umgekehrt Wolff gegenüber Voltaire (oder diplomatisch gegen Schumacher) offenbar sehr auf der Hut, wenn er an Schumacher in Petersburg schreibt: »Der seltsame Streit zwischen dem Präsidenten der Akademie zu Berlin und dem Rath und Prof. König in Holland wird bey Ihnen auch wohl nicht unbekannt seyn, da er aller Orten so groszes Aufsehen macht. Doch wollte ich wünschen, dasz er niemahlen wäre erreget worden, da insonderheit sich einige darein gemenget, die nur auf eine Prostitution ihre Absicht gerichtet, und ist mir insonderheit nicht lieb, dasz Hr Euler sich dabey gleichfals so vergehet. Ich wollte, dasz die Gelehrten doch die Moral beszer lernten, und dieselbe beszer practicirten.« (Nr. 92 in: Briefe von Christian Wolff aus den Jahren 1719-1753. Ein Beitrag zur Geschichte der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg. St. Petersburg 1860, S. 156.) »Ich bin gestern wieder bey dem Hn. von Voltaire gewesen, welcher noch immer sehr mißvergnügt ist, ob man gleich aus den öffentlichen Zeitungen schließen sollte, daß alles wieder hergestellt wäre.

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Jugement de L'Académie Royale

1753. König nennt sich diesmal als Autor und gibt ausdrücklich die neuen Beschuldigungen von drei vereinigten Gegnern als Grund seiner Verteidigungsschrift an, die ihm ein »Triumvirat« zu bilden scheinen. Hier erfahren wir das erste Mal definitiv, daß dieser immer wieder in der Debatte vorkommende Titel von Samuel König und seinen Parteigängern bewußt in seiner historischen Bedeutung gebraucht wurde; er sagt nämlich von diesem neueren »Triumvirat« ausdrücklich, daß es auf den Umsturz der Regeln der Ordnung und der Rechte der Freiheit des Denkens aus wäre. Die Bezeichnung »Triumvirat« spielt also bewußt und ausdrücklich auf den Sturz der Republik und die Usurpation der Macht durch Cäsar und sein Triumvirat an, nur daß es diesmal um die Freiheit der Gelehrtenrepublik ging. Ungeachtet dessen richtet König seine Defense allein an den Präsidenten Maupertuis, um diesem als dem Repräsentanten der Anklage erhebenden Institution seine vor allem formalrechtlichen Argumente vorzutragen, wonach der Jugement aufgehoben werden müsse, und zwar sogar bei Unentschiedenheit der inhaltlichen Gründe, da im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden sei. Er verwahrt sich gegen die Unterstellung, auch nur eine von den gegen Maupertuis erschienenen Schriften verfaßt oder veranlaßt zu haben, weder in Deutschland noch anderswo. Die Beschimpfungen von Seiten der »Freunde« des Präsidenten gegen die Verteidiger Königs als »mes clients & très-dévoués esclaves« seien unsinnig, da er weder freie Stellen noch Pensionen zu vergeben habe; er könne für die Schriften anderer nicht verantwortlich gemacht werden, die sich selber verteidigen könnten. Allein die Verteidigung seines Appel, der ähnlich wie die anderen Schriften gegen den Jugement beschimpft worden sei, gedenke er im folgenden zu unternehmen. Zunächst weist er entschieden den einigermaßen hilflosen Versuch Leonhard Eulers zurück, den Jugement von seiner Begründung im Exposé zu trennen, um so den Vorwurf der Fälschung aus dem Akademieurteil zu tilgen. König wäre danach vom Jugement gar nicht betroffen und nie als Fälscher beschuldigt worden, es ginge darin allein um die Echtheit des Leibniz-Briefes. Dagegen zeigt König, daß das Exposé Eulers, dessen Verlesung der Abstimmung vorausgegangen und dessen Text mit dem Urteil zusammen gedruckt und versandt worden war, sehr wohl Bestandteil des Jugement war. Die Als er erfuhr, daß ich die Ehre Dero besondern Gewogenheit habe, so trug er mir folgendes Compliment an Ew. Hochwohlgeb. auf: [...] Die Frau Gräfin von Bentinck war auch da, und wir stellten gleichsam ein Antitriumvirat vor. Bey dieser Dame habe ich auch heute zumittage gespeiset [...].« »Was sie mir sonst von der Bosheit des M. gesagt, m u ß ich bis zur mündlichen Unterredung versparen. Man sieht wohl, daß dieser unbändig hochmüthige Mann alle große Männer, todte und lebendige, mit Gewalt stürzen will, um allein von der Nachwelt verehrt zu werden. Aber die Mittel, welche er hierzu anwendet, werden ihm gerade das Gegentheil zu wege bringen. Gedachte Dame hat mich aber versichert, daß seine Actien schon wieder sehr gefallen sind, und daß er wohl keine Visiten en Domino mehr bekommen dürfte. Man wird vermuthlich bald fur ihn sehr nachtheilige Folgen der Verbrennung des Akakia sehen. In Leipzig wird eine Ubersetzung davon mit spöttischen Zusätzen gedruckt. Aus Holland werden wir bald die Seance memorable, eine ebenso bittere Satire, wie der Akakia, bekommen. Hr. K. hat mir schon den ersten Bogen von seiner Defense de l'Appel au Public geschickt. Sie wird sehr bescheiden, aber auch sehr nachdrückl. seyn. Er hat mir auch aufs neue seine Hülfe heilig versprochen, und er freut sich recht auf meine Ankunft.« (Mylius an von Haller am 30. 1. 1753. In: Consentius (wie Anm.40), S.548f.)

14. Königs Defense de l'Appel u n d Eulers Dissertations

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Akademie beziehe sich ja auch im Jugement im engeren Sinne darauf, »que les conclusions que Mr. Euler a tirées à la fin de son Rapport, doivent être censées justes & valables dans toute la force des termes où elles sont exprimées«.339 Und in eben diesen Schlüssen Eulers in seinem Exposé, das nun auf einmal nicht mehr zum Jugement gehören solle, werde König als derjenige genannt, der Briefe vorenthalten und den Leibniz-Brief erdichtet habe, und zwar ausdrücklich, um Maupertuis seine neue Entdeckung zu nehmen. Nicht zuletzt habe aber die Akademie im Jugement auch erklärt, sie wolle auf Wunsch des Präsidenten keine schlimme Strafe gegen König erlassen. - Wieso aber könne man ihm gegenüber auf eine Strafe verzichten, wenn er doch von den Vorwürfen gar nicht betroffen sei? Ein anderer Punkt, dessen Klärung Samuel König offensichtlich ein wichtiges Anliegen war, betraf die Frage nach der eigentlichen Streitsache. Euler hatte in seinem Brief aus den Lettres concernant le Jugement im Zusammenhang mit der bereits genannten Umdeutung seines Exposés, wonach Samuel König gar nicht beschuldigt worden sei, auch noch behauptet, der Jugement würde sich nicht auf das Prinzip der kleinsten Aktion beziehen, es betreffe allein und ausschließlich die Echtheit des Leibniz-Briefes. König bezeige daher »une disposition peu éloignée de la fraude, en voulant perpétuellement brouiller la Question, & la tourner sur des recherches qui n'y ont aucun rapport«.340 Dagegen zeigt König aus dem Text des Jugement auf, daß dieses gerade voraussetze, daß es sich beim Prinzip der kleinsten Aktion um eine neue und hochbedeutsame Entdeckung von Maupertuis handle und daß zugleich der zitierte Leibniz-Brief eben dieses Prinzip auch enthalte. Auf andere Weise hätte man niemals zu den Konsequenzen gelangen können, zu denen sich die Akademie entschlossen hätte: ein Plagiat könne nur an einer wertvollen Erfindung bzw. Entdeckung begangen werden. Wenn er dagegen im folgenden zeige, »1. Que votre prétendue découverte d'une loi générale de la nature n'est point réelle. 2. Quelle n'est nullement glorieuse. 3. Que les deux seules choses qui y sont bonnes, ne vous appartiennent pas. 4. Que le Fragment de Mr. de Leibnitz ne la contient point«,341 so wäre er gerade dadurch auch von jedem gegen ihn erhobenen Verdacht frei, da dieser ja eben auf den genannten Voraussetzungen beruhe. »Posez, s'il vous plait, pour un moment qu'elle n'est en effet qu'une chimère. Est-ce que pour cette chimère vous auriez voulu me faire le Procès que vous m'avez intenté ?«342 Und so kann Samuel König gerade aus dem Versuch Eulers, aus dem Jugement der Akademie gegen Samuel König ein bloßes Zertifikat der Unechtheit des zitierten Leibniz-Briefes zu machen, gute Argumente gewinnen, um auf die für ihn von Anfang an bestehende inhaltliche Streitfrage zurückzukommen, nämlich auf seine Kritik des Maupertuisschen Prinzips der kleinsten Aktion. Da die Echtheit des LeibnizBriefes überhaupt nur von Bedeutung sein kann, wenn es sich in diesem Brief um dasselbe Prinzip und zugleich um eines von Bedeutung handele, müsse eben dieser Nachweis jetzt auch erbracht werden, denn er, König, habe eben das ja von vornherein bestritten gehabt.

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Samuel König: Defense de l'Appel au Public: ou Reponse aux Lettres concernant le Jugement de l'Academie de Berlin, adressée à Mr. de Maupertuis. Leiden 1753, S. 10. Ebd., S. 20. Vgl. Jugement, S. 25. Défense, S. 23 f. Ebd., S. 25.

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Jugement de L'Académie Royale

Gegen den beständigen Vorwurf Eulers, König könne das Original des Briefes nicht aufweisen, und dessen daraus vorschnell gezogene Schlußfolgerung der Unechtheit des Briefes, fragt er diesen, was er eigentlich unter der Echtheit einer Quelle verstehe und »dans quelle Jurisprudence Mr. Euler a-t-il appris ce principe, que la production de l'Original d'un écrit est le seul & l'unique moyen d'en établir l'authenticité ?« 343 Deutlich genug und nicht ohne Ironie wird darauf angespielt, daß Euler offensichtlich gar nicht gelernt hätte, historische Kritik anzuwenden, weshalb in den Lettres concernant le Jugement auch die methodische Darlegung historisch-kritischer Prinzipien so übereinstimmend als Verdächtigung der Religion interpretiert werden konnte. König erklärt dann die Prinzipien historischer Quellenkritik, wendet sie auf den vorliegenden Fall an, um dann zu schließen, daß nach allen bisher vorgebrachten Argumenten seiner Gegner der Leibniz-Brief mit ungemindert großer Wahrscheinlichkeit, wenngleich (wie schon bisher) keiner völligen Gewißheit, für einen solchen gelten könne; und daß jedenfalls er selbst bei einer Bewertung seines Verhaltens nach diesen Regeln in jedem Fall von jedem Verdacht einer Erdichtung dieses Briefes oder des Fragments frei sei. Im Gegenzug wirft er dann die Fragen auf, warum, wenn denn die Beschaffung der Urschrift seinen Gegnern so entscheidend gewesen wäre, sie die Nachforschungen nicht ihm überlassen hätten, wie es nach dem rechtlichen Charakter, den sie der ganzen Angelegenheit gegeben hätten, korrekt gewesen wäre, da allein er (nach ihrer Interpretation) an einem Auffinden des Originals interessiert sein konnte und warum sie diese Forderung an ihn erst nach vier Monaten eigener erfolgloser Suche mit staatlicher Unterstützung gerichtet hätten, als klar war, daß sich nichts finden lassen würde? 344 König kommt noch einmal auf die Zuständigkeit der Akademie zu sprechen, ein Urteil über ihn als Fälscher zu fällen. Maupertuis hätte Euler gelobt, weil er »avec l'évidence qui vous [Euler] est propre«345 diese Berechtigung der Akademie erwiesen hätte. Er, König, habe deswegen noch einmal den Brief Eulers nachgesehen, aber keineswegs Evidenz in seinem Fehlschluß gefunden. Dessen Argument ziele schlicht darauf, daß, wenn die Akademie ebenso oder sogar besser in der Lage sei wie Rechtsgelehrte, über die Echtheit des Fragments zu urteilen, so könne man sich über ihr Urteil eben nicht beschweren. Auf diese Weise würde aber wohl die Fähigkeit zu einer Handlung mit der Berechtigung dazu verwechselt. Abgesehen davon, daß er - außer in Eulers Fall - auch die fachliche Kompetenz der an dem Urteil teilhabenden Akademiker bezweifelt habe, müßte Maupertuis gegen die Darstellung des Appel erst einmal zeigen, daß die Berliner Akademie eine Gerichtsbarkeit habe; auch dann aber dürfte sie jedenfalls in diesem Fall nicht richten, da sie selber Partei sei. Eindrucksvoll schließt König seine Schlußkette mit den Worten: »Je me plains de ce que faisant semblant de traiter de bagatelle une affaire, qui intéresse mon honneur, vous tächez d'en donner au Public une fausse idée, pour justifier la procedure injuste dans laquelle vous avez entrepris de m'enlacer, & l'imcompétence du prétendu Tribunal, devant lequel vous m'avez traduit.« 346 343 344 345 346

Ebd., S. 27. Hervorhebung - U. G. Vgl. ebd., S. 30. Ebd., S. 36. Ebd., S. 40.

14. Königs Defense de l'Appel und Eulers Dissertations

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Im übrigen versichert er noch einmal, daß er niemals im Sinn gehabt habe, den Leibniz-Brief als eine Vorwegnahme des Prinzips der kleinsten Aktion zu lesen, und auch niemals geglaubt habe, Maupertuis hätte sein Prinzip von Leibniz genommen. Und damit wirft König ein Argument in die Waagschale, das bis heute für jeden Kriminalisten bei der Beurteilung eines Verbrechens von entscheidender Bedeutung ist und das in der Tat auch in der Diskussion der Wissenschaftshistoriker über diese angebliche oder wirkliche Fälschung des Leibniz-Briefes bis heute relevant geblieben ist: König fragt nach dem Motiv, das er hätte haben sollen, Maupertuis zu einem gelehrten Dieb machen zu wollen? Und er fragt, warum er in solchem Falle seine Abhandlung ausgerechnet mit einem Leibniz-Zitat beschließen sollte, in dem etwas ganz anderes stehe als das Maupertuissche Prinzip der kleinsten Aktion. Schließlich zeigt König noch einmal, daß er im Appel keineswegs gemeint habe, daß Leibniz und auch nicht s'Gravesande, Engelhard oder Wolff das Prinzip der kleinsten Aktion im Sinne von Maupertuis bereits als allgemeines Prinzip formuliert hätten, daß allerdings bei allen diesen Männern bereits in Richtung der Formulierung eines allgemeinen Prinzips gearbeitet worden wäre. Und er zeigt, daß die Verallgemeinerung von Maupertuis gerade unzutreffend sei. Diese sachliche Widerlegung des Eulerschen Argumentation wird mit zwei Stellen aus Eulers Lettre beschlossen, die logisches Unvermögen belegen, woraus König schließt: »II semble que le ressentiment qu'a excité en vous la persuasion où vous avez été qui je vous accusois de ce crime littéraire, ait fascineé vos yeux tout autant que ceux de Mr. Euler.« 347 Das gelte erst recht fur das Argument einer Religionsverdächtigung, dessen sich alle drei Briefschreiber gegen ihn bedient hatten. König kommt dann noch einmal auf die berüchtigten Briefe von Maupertuis an die Prinzessin von Oranien zu sprechen. Der Präsident hatte dieses Ansinnen in seinem Brief an Euler dadurch zu rechtfertigen gesucht, daß König sich ja durch das Aufweisen des Originals von dem Verdacht hätte befreien können und deshalb keiner Rechtfertigung bedürfte. Dagegen zeigt König erneut, daß Maupertuis durch ihn selbst schon seit dem Juni 1751 sehr genau wußte, daß ihm kein Original zur Verfugung stünde, so daß die Perfidität dieses Maupertuisschen Arguments für sich selbst spreche. Seit dem Appel au public kenne aber auch die interessierte Öffentlichkeit diese Briefe. Ganz zuletzt kann König es sich nicht versagen, auf die Beteuerungen der Lettres concernant le Jugement, die Akademie habe das Urteil einstimmig gefällt und alle Akademiemitglieder stünden immer noch dahinter, mit der von allen Despoten gefürchteten Mitteilung zu antworten, »mais la renommé en a publié de tout autres choses«. 348 Man wisse schließlich, zählt König auf, daß ein Akademiemitglied schon in der Sitzung protestiert habe und dadurch Unruhe und Auflösung dieser Sitzung bewirkt worden sei, man wisse auch, daß zwei der Unterzeichneten bloße reisende Studenten aus Zürich gewesen seien, die nur zur Vergrößerung der Zahl auf der Liste stünden, aber ihrer Verwunderung später Ausdruck gegeben hätten. Diese wie andere Nachrichten, die man sich inzwischen in den Gesellschaften zur Erheiterung erzähle, vermittelten durchaus nicht den Eindruck einer geschlossenen und würdigen Sitzung und eines einmütigen würdi347 348

Ebd., S. 55. Ebd., S. 62.

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Jugement de L'Académie Royale

gen Urteils. Schließlich erklärt König sich jedoch bereit, Maupertuis die Hand zu reichen und den Streit zu vergessen, wenn die Philosophen und die Geometer, das Publikum, ihr Urteil gesprochen hätten. Bis dahin werde er um seiner Ehre willen seine Unschuld zu erweisen suchen. Er legt dem stolzen Präsidenten nahe, seine Ehre dadurch vor aller Welt wiederherzustellen, daß er das ungerechte und absurde Urteil aufheben lasse. Er hätte wohl die Sache von vornherein mißverstanden, sich dann aus Arger übereilt, jetzt endlich aber könne er dieses Mißverständnis zu seiner eigenen Ehre einräumen. Schon am 8. März 1753, also sogleich nach ihrem Erscheinen, erfolgt diesmal auch in den Göttingischen Gelehrten Zeitungen pünktlich eine Rezension der Defense von Samuel König, und nunmehr scheint man dort die unparteiliche Zurückhaltung endgültig aufgegeben zu haben. Die Anfang Januar noch vorsichtig zum Ausdruck gebrachte Hoffnung auf eine Annäherung der Standpunkte ist verschwunden, man folgt klar Königs Argumentation, der in seiner Defense insistiert, daß der Jugement ihm Fälschung vorgeworfen habe und der daher dessen Rücknahme fordert. Im gleichen Stück wird auch kurz die Lettre d'un Académicien de Berlin à un Membre de la société Royale de Londres besprochen mit der Erzählung der Sitzung der Berliner Akademie, wonach der Jugement keineswegs einmütig gefällt worden sei, sondern ein Mitglied, »dessen Nähme uns bekannt ist«, »offenbar dem Urtheile wiedersprochen« habe, worauf die Gesellschaft »unter einem allgemeinen Gemurmel« aufgebrochen sei, ohne überhaupt zu einer förmlichen Abstimmung gekommen zu sein. Überdies seien die Namen von zwei Schweizer Studenten »zu ihrer eigenen Verwunderung« auf der Liste. 349 Diese Besprechung in den anerkannten Göttingischen Gelehrten Zeitungen erschien fast gleichzeitig mit den Erklärungen, die Sulzer in den Berliner Zeitungen abgab, wonach er keineswegs einen förmlichen Protest eingelegt hätte. Die Eindeutigkeit der Parteinahme der Rezension fïir König ist vermutlich auch ein Ergebnis des Zusammentreffens von Kästner, dem wahrscheinlichen Rezensenten, mit Mylius, der am 2. März in Leipzig eingetroffen war. Diesmal antwortete die Berliner Gegenpartei umgehend. Wieder übernimmt es der berühmte Euler, der bedeutendste Mathematiker des Jahrhunderts, den Präsidenten zu verteidigen, obwohl sich Samuel König in seiner Defense ausdrücklich an Maupertuis gewandt und sogar ihn persönlich zur Beantwortung seiner Fragen aufgefordert hatte. Euler, der schon zuvor seine mathematischen Überlegungen bewußt zur Verteidigung des Maupertuisschen Prinzips der kleinsten Aktion eingesetzt hatte, tat dies aber nicht nur dem Präsidenten zu Gefallen, sondern weil er offenbar in diesem Prinzip tatsächlich eine Alternative gegen die Leibnizschen lebendigen Kräfte und das mit ihnen verbundene metaphysische Konzept der Monaden sah. Noch im Monat März erscheinen zwei Dissertationen von Leonhard Euler im Separatdruck, die später im Jahr auch noch als Akademieveröffentlichung publiziert wurden. 350 Nur in einem Additamentum zu dieser Ausgabe - wie gehabt - geht Euler

Göttingische Gelehrte Zeitungen. 3 0 . St. 8. 3 . 1 7 5 3 , S. 2 7 8 . 350 Yg[ Leonhard Euler: Sur le principe de la moindre action. In: Histoire de l'Académie Royale des sciences et belles lettres pour l'année 1 7 5 1 . Berlin 1 7 5 3 , S. 1 9 9 - 2 1 8 , sowie ders.: Examen de la dissertation de M . le Professeur Koenig inserée dans les Actes de Leipzig pour le mois de Mars 1 7 5 1 . Ebd., S. 2 1 9 - 2 4 5 . 349

14. Königs

Defense de l'Appel und

Eulers Dissertations

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auf die gerade erschienene Defense Samuel Königs ein. Die erste Dissertation, das Examen de la dissertation de Mr. le professeur Koenig, stellte überhaupt die erste inhaltliche Reaktion auf den bereits im März 1751 in den Acta eruditorum erschienenen Aufsatz Königs dar, in dem dieser das Maupertuissche Prinzip der kleinsten Aktion einer Kritik unterzogen hatte. Sie wurde am 21. Dezember 1752, also wenige Tage vor der öffentlichen Verbrennung des Dr. Akakia auf den Berliner Plätzen, in der Akademie vorgetragen. Die andere Dissertation sur le principe de la moindre action kam am 22. Februar 1753, nach der Abreise der beiden Parteigänger Samuel Königs und nach dem Erscheinen seiner Défense zum Vortrag. Es ist auffallend, daß diese beiden Dissertationen in den Mémoires für das Jahr 1751 (!) zum Abdruck gekommen sind, was zu Trugschlüssen fuhren kann und auch schon geführt hat. 351 Im Vorwort des Separatdrucks von 1753 3 5 2 hält Euler noch einmal ausdrücklich daran fest, daß der Streit, den - nach seiner Ansicht — Samuel König der Akademie aufgenötigt habe, allein um die Echtheit des Leibniz-Fragments gehen könne, weshalb er mit seinem früheren Exposé bereits alles Notwendige dazu gesagt zu haben glaubte. Nur wegen der beständigen Stellungnahmen der Schriftsteller, die, wie er ironisch meint, den Aufsatz Königs in den Acta eruditorum vom März 1751 in Zeitungen und Zeitschriften (!) geradezu als ein neues Hauptwerk der Mechanik behandelten, 353 wegen des Beharrens von Samuel König auf seiner Kritik an den Beweisen des Präsidenten, insbesondere aber, da dieser sogar öffentlich eine Antwort auf seine Einwürfe gefordert habe, gehorche er nunmehr und wolle die 8 oder 9 Fragen Königs (an Maupertuis) beantworten. Euler sagt hier also ausdrücklich, daß er sich nur wegen der anhaltenden öffentlichen Kritik der Schriftsteller in den Zeitungen veranlaßt sehe, doch noch auf die wissenschaftlichen Argumente Königs zu antworten. Gleich in der Vorrede spricht Euler nun, natürlich in kritischer Absicht gegen König, den Hauptpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung an, den er also sehr wohl verstanden hat: König sei alarmiert, daß das Prinzip der lebendigen Kräfte durch andere Prinzipien ersetzt werden könnte, da er die Anwendung des Prinzips der lebendigen Kräfte sogar noch über Leibniz hinaus ausdehnen wolle: Nicht nur die Mechanik oder die Wissenschaft von den Körpern, fest oder flüssig, sondern auch sogar die Theorie des Gleichgewichts, die Statik oder Dynamik bzw. Hydrodynamik umschließe, solle auf das Prinzip der lebendigen Kräfte gegründet werden. Wenngleich ich im folgenden keine Darstellung der mathematisch-physikalischen Auseinandersetzung zu geben vermag, die nicht Gegenstand dieser Untersuchung war, sollen doch die wichtigsten Argumentationsmuster vorgestellt werden, um den durchaus unsachlichen und emotional betroffenen Charakter der Eulerschen Argumentationsstrategie hier

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353

So hat Pulte in seinem Literaturverzeichnis diese Schriften Eulers nicht unter dem gemeinsamen Publikationsjahr 1753 aufgeführt, sondern unter dem Jahr, da sie in der Akademie angeblich gelesen wurden - 1751! Er folgt damit der Regel, daß gewöhnlich die Veröffentlichung zwei Jahre nach der Lesung erfolgte. Vgl. Pulte (wie Anm. 19), S. 278. Leonhard Euler: Dissertation sur le principe de la moindre action, avec l'examen des objections de Mr. Le Professeur Koenig faites contre ce principe. Berlin 1 7 5 3 (Nachdruck: Leiden 1753). Ebd., S. 4 1 .

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J u g e m e n t de L'Académie Royale

vorzustellen, die wegen der Aggressivität und der Arroganz des großen Mathematikers für die öffentliche Debatte relevant wurde. Sulzer klagt gleich nach Erscheinen des Bändchens: »Die Akademie wünscht sehr, daß diese Unruhen einmal vorbei seyn möchten. Aber so viel ich vorsehe, wird der Krieg heftiger werden, als er jemals gewesen ist; denn der Herr Euler hat eine Schrift drucken lassen, die nicht nur Herrn König persönlich, sondern auch alle unpartheiische Kenner der Materie, davon die Rede ist, äusserst aufbringen wird. Ich habe alle meine Kräfte nötig, u m bei der Sache die Neutralität zu beachten.« 3 5 4

In der Tat sind die beiden Dissertationen wie auch das Additamentum

keineswegs in einem

klaren und sachlichen Stil verfaßt, wie er immer an Euler gelobt wird, sondern folgen einer recht demagogischen Argumentationsstrategie, was beim unbefangenen Leser die Lauterkeit der Absichten des Autors eher fragwürdig erscheinen läßt: »Die Polemik gegen den unglücklichen König ist ganz rabulistisch; kurz, der große M a n n bietet ein trauriges Schauspiel moralischer Schwäche, die auch die Qualität seiner wissenschaftlichen Arbeit schwer schädigt.« 3 5 5 Die erste Dissertation will in einem ersten Schritt zeigen, daß das Prinzip der kleinsten Aktion von Maupertuis zuerst gefunden worden ist, sei es nun wahr oder falsch; erst in einem zweiten Schritt soll dann auch dessen Wahrheit erwiesen werden. Euler bietet zunächst eine scheinbar umfassende Darstellung der Geschichte des Prinzips der Sparsamkeit der Natur seit der Antike, u m dann zu zeigen, daß alle diese Versuche nichts mit der Fassung von Maupertuis zu tun hätten. Wenn er dann - schon recht bald — in die Neuzeit gelangt, ist es ihm zunächst darum zu tun, die Vorschläge von Fermat, Descartes und Leibniz neu zu bewerten. Der Mathematiker und Physiker (nicht aber Philosoph) Fermat habe die wirkliche Lösung für den Fall der Lichtbrechung gefunden, der alle, die nicht zur Sekte Descartes' gehörten, scheinbar auch Leibniz, gefolgt seien. Dagegen sei der Philosoph Descartes, voreingenommen von seiner Metaphysik (!), zu einer absurden Kritik an dieser Lösung gelangt. Die Übereinstimmung des Philosophen Leibniz mit Fermat bestehe aber nur scheinbar, denn in Wahrheit folge er, der Metaphysiker (!), eigentlich der cartesischen Auffassung, insofern er den Widerstand in dichteren Medien auch für geringer annehme. In jedem Fall aber sei der Vorschlag von Leibniz, weder den kürzesten Weg noch die kürzeste Zeit zum Maßstab für ein Sparsamkeitsprinzip der Natur zu erklären, sondern »la route plus facile« gar keine sinnvolle Lösung, da nicht klar sei, was der jeweils entgegenstehende Widerstand sei und oder wie man ihn berechne. Z u d e m scheine Leibniz sein Prinzip zwar für universell zu halten, habe es aber niemals auf einem anderen Feld angewendet als auf d e m des Lichts oder auch nur die Berechnung danach gelehrt. Diese Berechnungen aber seien meistenteils nicht nur schwierig, sondern gar unmöglich, besonders im Fall der H i m melskörper, wo der Widerstand des Mediums gleich null sei. Deshalb sei das Leibnizsche Prinzip auf nichts als das Licht anwendbar und also nicht universell wie das von Mauper-

354

Sulzer an Bodmer am 3 0 . 3 . 1 7 5 3 . In: Briefe der Schweizer (wie A n m . 80), S. 197.

355

Kneser (wie A n m . 19), S. 29.

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tuis. Es ist deutlich, daß hier eine interessierte Lesart von Leibniz' Verteidigung der Finalursachen anhand der Untersuchung der Verbreitung des Lichts vorliegt,356 noch ganz von der Frage abgesehen, ob und inwieweit Leibniz Vorleistungen zum Prinzip der kleinsten Aktion oder gar dieses selbst erbracht hat. 357 Euler mokiert sich im folgenden darüber, daß Christian Wolff in dieser Frage nicht seinem großen Lehrer Leibniz, sondern Fermat folge. Schließlich kommt er auf den angeblich bei König auftretenden Widerspruch zurück, der als »un partisan de Leibnitz« das Prinzip der kleinsten Aktion Leibniz zusprechen wolle und es zugleich doch für falsch halte.358 Der Grundgedanke der ganzen Schrift besteht in der durchgängigen denunziatorischen Gegenüberstellung von willkürlich spekulierenden Metaphysikern und exakt vorgehenden Mathematikern, wobei er natürlich sich und Maupertuis als Mathematiker, dagegen Samuel König wie auch Leibniz als Metaphysiker einordnet. (Er ignoriert dabei geflissentlich, daß Maupertuis sein Prinzip in der metaphysischen Klasse vorgestellt hatte.) Während sich die Metaphysiker mit vagen Begriffen begnügten und nichts erklärten, so wie auch Leibniz keine Erklärung gebe, was er mit route plus facile eigentlich meine, würden allein die Geometer exakte Darlegungen bieten. 359 König scheine sich daher gar nicht für die Eulerschen mathematischen Entdeckungen zu interessieren, denn er führe seine Beweise nicht metaphysisch, sondern mathematisch. Damit kommt er auf seine eigenen Untersuchungen der von mehreren Zentren angezogenen Körper und ihr Verhältnis zu Maupertuis' Prinzip der kleinsten Aktion zu sprechen. Er betont, daß in allen von ihm betrachteten Fällen die Summe der Produkte von Masse, Weg und Geschwindigkeit der Körper in den aufeinanderfolgenden Momenten en général ein Minimum gewesen sei.360 Dieses Produkt aber sei gerade die Aktion im Sinne von Maupertuis. Während er selbst aber seine Berechnungen nur a posteriori gewonnen habe, durch die Berechnung von beobachteten Fällen, sei Maupertuis a priori auf das Prinzip gestoßen, das daher universelle Geltung besitze, die es aus allen bis-

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358 359 360

Vgl. G.W. Leibniz: Abhandlung über Metaphysik, §§ 19-22. In: Philosophische Schriften und Briefe 1683-1687. Hg. Ursula Goldenbaum. Akademie Verlag: Berlin 1992, S. 196-204. Helmholtz, Couturat und Kneser sind klar der Auffassung, daß es bei Leibniz unmittelbare Vorarbeiten für die philosophische und mathematische Formulierung des Prinzips der kleinsten Aktion gebe. Vgl. Hermann v. Helmholtz: Zur Geschichte des Prinzips der kleinsten Aktion. In: Wissenschaftliche Abhandlungen. Bd. 3. Leipzig 1895, S.252; Louis Couturat unterstreicht: »il y a toute la distance qui sépate un aphorisme théologique d'un axiome mathématique« (La logique de Leibniz. Paris 1901, A n m . 2 auf S.230). Vgl. auch Kneser (wie Anm. 19), S. 18-21. Immerhin räumt sogar der Maupertuis-Biograph Brunet, der die Priorität von Maupertuis hinsichtlich des Prinzips der kleinsten Aktion bis ins letzte längst erledigte Detail des Abschreibfehlers hinein und mit den interessierten Formulierungen Eulers verteidigt, aufgrund der Argumente und Leibniz-Zitate von Couturat und Kneser ein, daß Leibniz »anticipe brillamment sur la méthode qui, entre les mains d'Euler et de Lagrange, ouvrira des voies fécondes« (Pierre Brunet: Etude historique sur le principe de la moindre action. Paris 1938, S. 19). Euler: Dissertation, S. 21. Ebd., S. 23. »[...] qu'en général dans le mouvement de tous les corps attirés vers des centres de forces, si ä chaqué instant l'on multiplie la masse du corps par l'espace parcouru & par la vitesse.« (Ebd., S. 28.)

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herigen Vorleistungen heraushebe. Das Prinzip von Maupertuis sei daher über jede Kritik erhaben, allen Entdeckungen überlegen, die bisher in der Dynamik gemacht worden seien, es bilde das neue Fundament der Dynamik und der Hydrodynamik.361 Dagegen sei das von König vorgeschlagene Prinzip unfruchtbar und in der mathematischen Anwendung wegen des zu komplizierten Aufwandes undurchführbar. Euler vermag auch in seiner zweiten Abhandlung letztlich keine expliziten Fehler Königs auszumachen; er weist Königs Kritik an Maupertuis sogar mit dem Argument zurück, sie sei deshalb unberechtigt, weil dieser mit den Prinzipien der Dynamik ebenso in Ubereinstimmung stehe wie König, weshalb zwischen ihnen gar kein Streit sein könne. 362 Dennoch spricht er in langen polemischen Passagen mit großer Häme immer wieder von den enormen Irrtümern und der Verdrehung der Methoden bei Samuel König. Auf vielen Seiten macht er sich vor allem darüber lustig, daß König bestritt, daß im Zustand des Gleichgewichts die Aktion ein Minimum werde, da sie bzw. die lebendige Kraft dann vielmehr gleich Null sein müsse. Uber mehrere Seiten hinweg variiert Euler seine höhnischen Lobpreisungen über ein angeblich von König neuentdecktes Prinzip, dessen Entdeckung diesem über Hunderte von Jahren vorbehalten geblieben sei, wenngleich es nicht so gründlich verborgen gewesen sei, daß nicht jeder Anfänger es sehen könne.363 Diese angebliche Königsche Entdeckung, daß die Aktion im Gleichgewichtszustand gleich null wäre, sei so evident, daß noch niemand sie als Entdeckung beansprucht hätte außer eben der »große Mathematiker« König. Für Euler ist das eine bloße Tautologie: wenn die lebendigen Kräfte vergehen, wird die Bewegung gleich null sein, wo keine Bewegung mehr ist, dort wird es keine lebendigen Kräfte mehr geben. Mit diesem ironischen Redeschwall überspielt er aber die eigentliche Pointe von Königs Einspruch, der die von Euler und Maupertuis beanspruchte Universalität des Prinzips der kleinsten Aktion gerade deswegen bestritt, weil im Gleichgewichtszustand eben von gar keiner Aktion mehr die Rede sein könne, weil sie eben gleich null wäre. Im weiteren gibt Euler sogar zu, daß Königs Prinzip vielleicht anwendbar sei, es wäre jedoch wesentlich schwieriger zu handhaben als das von Maupertuis. Damit wirft er erneut stillschweigend seine eigenen mathematischen Überlegungen als bloße Konsequenz der Maupertuisschen Prinzipien in die Waagschale zugunsten des letzteren. Schließlich will er Königs Bestreitung einer Action im Gleichgewicht durch die Behauptung entkräften, daß dies dem unterschiedlichen Gebrauch des Terminus Action bei König und Maupertuis geschuldet sei. Maupertuis verstehe zwar unter Aktion das Produkt aus Masse, Weg und Geschwindigkeit, was aber nur scheinbar der Bestimmung der lebendigen Kraft ähnlich sei. Auch den Begriff der lebendigen Kräfte würden die beiden Kontrahenten in unterschiedlichem Sinn gebrauchen, weshalb Action bei Maupertuis etwas ganz anderes als die lebendige Kraft sei.364 Allerdings erklärt Maupertuis selbst etwa zur gleichen Zeit

361 362 363 364

Vgl. ebd., S. 32-35. Euler: 2. Abh., S. 50. Ebd., S. 4 4 - 4 7 , S. 51-53. Ebd., S. 53-55.

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gegenüber d'Arcy, auf die Frage, was fur ihn denn der Begriff der Aktion sei, er hätte den Begriff von Leibniz genommen. 365 Nicht zuletzt aber, und darauf spielte natürlich auch Sulzer an, wenn er von Angriffen gegen die Person Königs spricht, wirft Euler nun Samuel König ausdrücklich ein mehrfaches Plagiat an seinen eigenen mathematischen Arbeiten und an denen Daniel Bernoullis vor: König habe in seiner Maupertuis-Kritik in den Acta eruditorum von 1751 die von Euler in seinen 1744 in den Additamenta zur Methodus inveniendi Lineas Curvas veröffentlichten Formeln benutzt und habe diese in seinem Aufsatz nicht hergeleitet. Euler behauptet nun, König habe die Kraft der Formeln nicht verstanden und sich dadurch vor den Augen der Gelehrten als Plagiator erwiesen.366 Wortwörtlich hätte er einen von Euler erbrachten, auf Bernoulli fußenden Beweis übernommen. Die Formeln aber, deren er, Euler, sich bedient habe, würden auf dem Maupertuisschen Prinzip der kleinsten Aktion beruhen. Sie könnten dagegen nicht mit dem neuen Prinzip Königs in Übereinstimmung gebracht werden. 367 In seinen eigenen Berechnungen mit diesen Formeln sei er auch jedesmal auf ein Minimum ¿er Aktion gestoßen, während König behaupte, es wäre immer (!) ein Maximum. 368 Aber das hatte König eben nie gesagt, sondern nur bestritten, daß es immer ein Minimum wäre. Abgesehen von der sophistischen Art der Diskussion und Widerlegung der Sachargumente Königs kommt der Haß Eulers gegen den Leibnizianer auch in den polemischen Passagen am Ende zum Ausdruck, wo er König noch einmal bescheinigt, seine Art des Argumentierens und Beweisens sei nicht an den Normen der Mathematiker ausgerichtet, sondern an denen der Metaphysik: »il paroit trop attaché aux spéculations métaphysiques, pour pouvoir avec succeès retirer son esprit de ces subtiles abstractions, & l'appliquer à des idées populaires & matérielles, telles que celles qui sont l'objet de la Mécanique«.369 Die Wissenschaftsgeschichte hat diesen Vorwurf lange Zeit beifällig und kritiklos kolportiert, ohne in ihrem positivistischen und metaphysikkritischen Selbstverständnis zu bemerken, daß hier zwei Mathematiker streiten, die beide einen metaphysischen bzw. theologischen Hintergrund haben und bestimmte metaphysische Intentionen verfolgen. Eulers Erwiderung auf die Defense Königs im Additamentum betont ähnlich wie schon sein Postscriptum der Lettres concernant le Jugement, daß die Publikation der vorliegenden Akademievorlesungen gerade in Vorbereitung war, als die gegnerische Schrift erschien, man 365

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Maupertuis antwortet auf die Frage von d'Arcy, wie er zu seinem Begriff der Action gelangt sei, er hätte viele Gründe, »mais pour trancher court avec M. d'Arcy, je puis dire que ce n'est pas mon affaire. Leibnitz & ceux qui l'ont suivi, ont appelé ainsi le produit du corps par l'espace & par la vitesse; j'ai adopté une définition établie, contre laquelle on n'avoit point disputé, & que je n'avois aucune raison de changer; voilà ce qu'il me sufïiroit de répondre« (Maupertuis: Reponse à un Mémoire de M. d'Arcy inséré dans le Volume de l'Académie Royale des Sciences de Paris pour l'Année 1749. In: Histoire de l'Académie Royale des Sciences et Belles lettres pour l'année MDCCLII [gemeint ist aber trotz des verständlichen Druckfehlers (vgl. Anm. 330) 1751]. Berlin 1753, S . 2 9 3 298, hier S. 295). Euler: 2. Diss., S. 6 2 - 6 6 . Ebd., S. 70. Ebd. Ebd., S. 74.

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daher nur in einer Nachschrift darauf eingehen würde, damit den Gegner formal keiner selbständigen Erwiderung würdigend. Euler hält sich dann länger daran auf, daß König in der Defense »gestehe«, den Adressaten des umstrittenen Leibniz-Briefes nicht mit Gewißheit zu kennen, sondern nur - wegen der übrigen an Hermann gerichteten Briefe, die er zusammen mit dem umstrittenen von Henzi erhalten hätte - vermutet zu haben, daß dieser auch der Adressat dieses Briefes sei. Das gilt Euler sogleich als Verstärkung des Verdachts der angeblich bereits erwiesenen Unechtheit des Briefes, obwohl dadurch kein neuer Sachverhalt ins Spiel gekommen ist. Im weiteren werden König ungeheuerliche mathematische Irrtümer vorgeworfen; dieser halte alles, was er träume, für einen Beweis.370 Deshalb möge er künftig Wissenschaften treiben, die keiner exakten Beweise bedürften, d. h. Metaphysik. 371 König benehme sich, als ob er über das Reich der Wahrheit herrsche,372 und in diesem Stil geht es seitenlang fort. In einem Brief Samuel Königs an eine Persönlichkeit in Berlin, dessen Abschrift er zugleich an Wolff übersandt hat, wovon dieser wiederum eine Abschrift an Gottsched schickte, ist uns dessen persönliche Reaktion auf diese Dissertationen aufbewahrt worden: »Ich kann mir nicht vorstellen wie die passion gelehrte Leute so weit verleiten kann, daß der eine sonder die geringste Überlegung alles hinschreibt was ihm einfällt, der andere aber sonder einige Untersuchung alles billiget was dem ersteren auß der Feder fließt. Ich will von den Schimpfworten keine Meldung thun, die werden wohl von sich selbst dahin zurück kehren, von wannen sie gekommen sind. [...] Aus dem anhange allein kann man genugsam sehen wie weit dieser Academicus sich zu vergehen fähig ist.« 373

Im übrigen versichert König hinsichtlich der Sache selbst, »mehr als jemals im stände zu seyn, alles was Hr. Euler in diesem Werk vorgebracht mit den bündigsten Beweisen zu wiederlegen«. Er kündigt eine lateinische Abhandlung an, mit der er sich aber nun etwas Zeit lassen wolle.374 Nicht gegen die Veröffentlichung Eulers schlechthin, aber doch gegen das Additamentum, erschien wieder sehr rasch eine kleine Erwiderung von nur 15 Seiten unter dem Titel La Berlue remarquable des deux Philosophes, Les plus clair-voyans de ce siecle, von einem Anonymus verfaßt, der sich Student zu Wittenberg nennt. Der leichte und witzige Ton, der Rückgriff auf die bereits hinreichend ironisierten Lettres des Präsidenten, die Verwendung der Bezeichnungen von Lieutenant für Euler und Capitain für Maupertuis könnten auf Mylius als Autor deuten, der vielleicht auf seinem Weg nach Leipzig zwischen dem 28. Februar und dem 370 371 372 373 374

Ebd., S. 84. Ebd., S. 88. Ebd., S. 84. Auszug eines Schreibens Königs vom 12.4.1753. UB Leipzig. Ms 0342. Bd. 18, Bl. 263r-v. »Ich verspreche mir nicht viel von mir selbst, und ich habe es niehmal wagen dörfen der weit große Bücher vorzulegen; allein so weit geht mein Vertrauen auf die einsieht deß Zusammenhangs der Wahrheiten dieser art; die ich viele Jahre lang sehr genau untersuchet, daß ich kein bedencken trage auch nach wiederholter Durchlesung obengemeldten Buches von Hr. Euler nochmahls zu erklären und zu versichern, daß der gantze Proceß für mich soll verlohren seyn, wenn ich nach dem Urtheil kunstverständiger Richter, in Untersuchung der Hauptsache werde unterliegen.« (Ebd.)

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2. März die Schrift in Wittenberg, bereits außerhalb der preußischen Hoheit, zum Druck hätte geben können. In jedem Fall ist der Autor ein guter Kenner der bisherigen Debatte und der Physik bzw. Mathematik, kennt er doch offenbar die Streitschriften und Satiren ebenso gut wie die mathematisch-physikalischen Arbeiten der Kontrahenten. Auf dem Titelblatt ist der Druckort Wittenberg angegeben. In jedem Fall ist diese Schrift nicht wie fast alle anderen Satiren in Leiden zuerst bei Luzac gedruckt, sondern erst später, bei der Zusammenstellung der Maupertuisiana dort nachgedruckt worden. Dennoch scheint König sie vor dem Druck gesehen zu haben, wie er bereits am 12. April 1753 an Wolff berichtet.375 Wie der Titel schon sagt, wird eine große Blendung, nämlich der Verlust der Sehkraft bei den genannten Philosophen, beklagt, der aus deren offensichtlichem Unvermögen ersichtlich sei, den Text Samuel Königs richtig lesen zu können. Während die Mediziner noch nicht sicher seien, ob die Ursache dieses Unglücks in einem Uberlaufen der Galle oder aber im zu häufigen Gebrauch des von Maupertuis in den Lewes empfohlenen Opiums liege, stehe der Fakt selber fest, denn Euler wie Maupertuis könnten nicht das geringste lesen. Zum Beweis stellt man in zwei Spalten die Argumente Königs und deren verzerrte Wiedergabe durch Euler gegenüber, mit Kapitälchen für die falsch gelesenen Fachbegriffe, um dann zu schließen, daß die Augen dieser Philosophen nicht besser seien als die von Don Quichotte und Sancho Pansa, die statt einer Windmühle ein riesiges Ungeheuer gesehen hätten. Im weiteren wird dann angesichts des »Lesefehlers« choc statt changement darauf verwiesen, daß im System ihres Gegners diese beiden Begriffe keineswegs identisch seien; ebenso wird erklärt, in welcher Weise König die Begriffe Phoronomie und Dynamik gebraucht, um auf diesem Hintergrund noch einmal die Kritik Königs in knappen Worten zu erklären. Angesichts des Festhaltens von Maupertuis allein an vollkommen harten Körpern wird wieder ironisch darauf hingewiesen, daß solche sich wahrscheinlich nur in den vollkommen harten Körpern der Riesen Australiens finden (von denen Maupertuis in seinen Lettres einige zu sezieren vorschlägt), so daß man für die weitere Diskussion der Stoßgesetze vollkommen harter Körper erst auf deren Sektion zu warten hätte. Wieder ernsthaft wird dann Maupertuis versichert, er sei nicht berechtigt, seine mathematischen Rechnungen ohne Umschweife auf die Bewegungsgesetze der natürlichen Körper auszudehnen, da er weder das Prinzip der Gleichheit von actio und reactio noch ein äquivalentes Prinzip eingeführt habe. Dann wird noch einmal die Königsche Ansicht der von Euler und Maupertuis gegenübergestellt und erklärt, um dann erst über Eulers Stil der Argumtentation im Additamentum zu sagen, daß darin Samuel König sehr schlecht behandelt worden sei. Indem der Autor schließt, daß König völlig in Übereinstimmung mit der Wahrheit argumentiert habe, hofft er zugleich, dies möge den Herren Philosophen nach seiner erneuten Erläuterung von Königs Begriffen nun klar geworden sein, andernfalls aber - und nun fällt der Autor wieder in die bereits ein-

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»Ein junger Mensch, deßen Aufsatz mir gestern gezeigt worden, wird ihm in wenigen Tagen die in diesen wenigen Blättern begangenen Fehler so gründlich vor die Augen legen daß ich in diesem Stück nichts werde nöthig haben etwas hiezu zu thun.« (Abschrift eines Briefes von König, die er am 1 2 . 4 . 1752 an WolfF sandte. UB Leipzig. Ms 0342. Bd. 18, Bl. 263r. Danzel erwähnt diesen Brief als Beilage des Briefes von Wolff an Gottsched [siehe Danzel (wie Anm. 333), S. 63].)

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geführte satirische Terminologie des Dr. Akakia - sei ihre Metamorphose in (blinde) Maulwürfe nicht mehr zweifelhaft, weshalb sie beginnen könnten, das von Maupertuis in den Lettres vorgeschlagene und inzwischen berühmte Loch zum Mittelpunkt der Erde zu graben, in welchem sie dann plötzlich nach der Formel von Euler verschwinden müßten, wenn sie eine gewisse Tiefe erreicht hätten.376 Um ihnen dieses Schicksal zu ersparen, gibt ihnen der Autor aber noch vier gute Ratschläge: »1. De ne plus vous exposer au grand jour.« 377 Dieser vieldeutige Satz könnte im gegebenen Kontext auch meinen, keine feierlichen Sitzungen wie die vom 13. April 1752 mehr durchzuführen. »2. de ne plus vous mettre en colère; 3. de renoncer à l'usage de l'opium; 4. d'avaler deux grains de sel avec un grain d'ellebore, dans un verre d'eau fraîche, avant que d'écrire.« Falls aber die beiden Philosophen diese Ratschläge mißachteten, werde sich der Geist des frechen Autors exaltieren und ihnen prophezeien (wieder in Anspielung auf die Lettres von Maupertuis), daß für sie lebenslang das Prophetenwort gelten werde: »Et dedit eis spiritum soporis: oculos ut non cernant, et aures ut non audiant, usque ad hodiernum diem.« 378 Diese kleine und anonyme Broschüre findet noch im Sommer 1753 ihren Widerleger, der zudem ihren Autor persönlich gekannt zu haben scheint. Dieser ebenfalls anonyme Autor einer Reponse à la Berlue remarquable de l'Étudiant de Wittemberg Philosophe du siècle à venir stellt sich selber als einen Studenten Christian Wolfis in Halle vor; die Schrift ist aber ohne Angabe eines Druckorts erschienen. Der Autor will eine Widerlegung des Studenten aus Wittenberg vortragen, versichert aber zuvor ausdrücklich, daß er keineswegs ein Gegner der wolfischen Schule sei, sondern in Halle bei dem großen Meister selbst studiere, weshalb man ihm durchaus auch Sympathien für den Professor König zutrauen könne. Er will sich nur mit den schlechten Argumenten des Wittenbergers auseinandersetzen. In der Tat hebt diese Schrift in einem für die Parteigänger von Maupertuis, denn als eine solche entpuppt sie sich schnell genug, auffallend ruhigen und sachlichen Ton an; die ironische Fiktion eines WolfF-Studenten wird aber leider nur kurze Zeit durchgehalten. Gegen den Wittenberger Studenten wie gegen König wird der Vorwurf erhoben, die Problemstellung von Maupertuis beständig zu verdrehen, um dadurch zu einer erschlichenen Gleichsetzung des Minimums der lebendigen Kraft und des Minimums der Aktion zu gelangen. König scheine seine Vorgehensweise mit dem Vorwand zu begründen, daß die beiden Problemstellungen durch dieselben Gleichungen beschrieben würden, eine Logik großer Männer, der man nicht folgen könne. Einige Seiten weiter wird schon aggressiver von »la logique de ces Messieurs« gesprochen, deren Unglück darin bestehe, »que ni raison ni logique, rien ne les favorise«.379 Nach-

376

377 378 379

In der Fußnote wird auch die Stelle bei Euler angegeben, wo die Auffassung vertreten wird, daß ein fallender Körper bis zum Erreichen des Erdmittelpunkts seine Bewegung stetig beschleunigt, um dann plötzlich zu verschwinden: »Ex quo sequitur postquam corpus in centrum pervenerit, nusquam amplius reperiri sed quasi annihilari. Euleri Mechanica. Tom. I. Pag. 276. Item 315.« (Berlue remarquable. Wittenberg 1753, S. 16.) Berlue remarquable, S. 16. Ebd., S. 16. Reponse d'étudiant d'Halle. O. O. 1753, S. 17.

14. Königs Defense de l'Appel und Eulers Dissertations

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dem im weiteren gegen König »klar bewiesen« wird, daß der Stoß allerdings in die Problemstellung von Maupertuis gehöre sowie seine Prinzipien klar und präzise entwickelt seien, während König beständig die Probleme und Prinzipien vermenge, wird die Frage der harten bzw. elastischen Körper als unwesentlich abgetan, da Maupertuis' »solution tire sa force, non pas de ce que les corps sont durs, mais uniquement de ce qu'après le choc ils se meuvent ensemble«.380 Die von dem Studenten zur Verteidigung Königs behauptete Verwirrung der Termini bei Maupertuis sei keine, sondern entspreche der üblichen Fachsprache, weshalb Eulers Beweise gegen König ihre Kraft behielten. Die einzige Ursache für die unzulässige Vermengung vom Minimum der Aktion mit dem Minimum der lebendigen Kräfte durch König liege in dessen befremdlicher Definition der lebendigen Kräfte, die nur in Worten bestehe, aber nicht den Sachen entspreche. In dieser Art von Definition läge gerade die Falle fur Studenten wie den aus Wittenberg, der, voll von solchem scholastischen Vokabular und gewohnt, Worte für Sachen zu nehmen, in Irrtümer verfalle; dagegen schätzten die Studenten in Halle die lebendige Kraft eines Körpers nach der, die dieser habe, statt nach der, die er nicht habe, wie ja auch bei einer Schlägerei zwischen Studenten nur die Treffer zählten. Die für den Autor daraus folgende Überlegenheit der Hallenser Studenten verdanke sich aber ohne Zweifel dem Einfluß des großen Genies, dem großen Doktor der Doktoren, dem erhabenen und grundlegenden Wolff, woraus man die Berechtigung des »gewissen Tons« gegen den Wittenberger ableitet. Dieser nun offen abfällige Ton gegen Wolff zerstört aber vollends die am Beginn des Textes fingierte Schülerschaft, was insbesondere durch die hämische Zuschreibung der Schlägerqualitäten der Hallenser Studenten auf den Einfluß Wolffs bestätigt wird.381 Der Ton wird im weiteren sogar persönlich und aggressiv. Angesichts der behaupteten Unverschämtheit des Wittenberger Studenten, mit der dieser die Herren Euler und Maupertuis behandelt hätte, deren Mechanik seine Fassungskraft übersteige, empfiehlt man ihm, sich darauf zu beschränken, seiner Berufung zu folgen, Laternen zu zerschmeißen und sich mit der Nachtwache zu prügeln. Er solle sich hüten, in einer Welt zu erscheinen, die für Nachtvögel wie ihn nicht gemacht sei. Er möge künftig weder die Mechanik noch die Propheten zitieren, da er weder das eine noch das andere verstehe, er möge sich seine Exklamationen für den öffentlichen Platz aufheben, wo er die von Dr. Akakia geraubten Rezepte verkaufen könne, er könne dann exaltieren, um in eigener Person die Wirkung seiner Drogen vorzuführen. Man wisse, er wohne in einem vierten Stock, was ihn hinsichtlich seiner Frechheit entschuldige, weshalb man seine Entgleisungen auf eine Nervenkrankheit zurück380 381

Ebd., S. 19. Dies ist offenbar eine Anspielung auf einen studentischen Tumult an der Halleschen Universität, wovon die Nachricht bis zum König vorgedrungen war. Die Information war nach Meinung Christian Wolffs auf Betreiben Samuel Gottlieb Langes an Danckelmann gegeben worden, der den Philosophieprofessor gern dafür verantwortlich machen wollte. Wolff befurchtet in seiner Darstellung des Sachverhalts gegenüber Formey in Berlin sogar, daß Lange jun. erneut - wie zuvor sein Vater unter dem vorigen König - seine Vertreibung aus Halle betreibe. Der unveröffentlichte Brief Wolffs vom 1.9.1750 wurde mir freundlicherweise von Stefan Lorenz zugänglich gemacht, vgl. Anm. 77.

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fïihre und ihn an Dr. Akakia verweise. Wenngleich kein Name genannt wird, rufen solche gezielten persönlichen Apostrophierungen doch den Eindruck hervor, daß hier unter der Gürtellinie persönliche Beleidigungen vorgebracht werden, statt sachlich zu argumentieren. Es sieht so aus, als ob der Vizepräsident seinen einstigen mißratenen Assistenten abkanzeln wolle. 382 Wenngleich also der Auftakt dieser Kritik den Eindruck einer witzigen Satire auf den Studenten aus Wittenberg hervorruft, endet diese Broschüre zuletzt als ein Pamphlet. Während die Eulerschen Dissertationen wegen des Sulzerschen Zeugnisses bereits vor dem 31. März 1753 erschienen sein müssen, war die Berlue remarquable sicherlich noch im Frühsommer desselben Jahres publiziert worden. Die in Leiden bei Luzac erscheinende Bibliothèque impartiale bringt im Band für Juli/August 1753 eine Besprechung sowohl des inzwischen beim selben Verleger nachgedruckten Separatdrucks der beiden Euler-Dissertationen einschließlich des Additamentum als auch der Berlue. Obwohl ausdrücklich erklärt wird, daß man unmöglich alle die kleinen Streitschriften rezensieren könne, die inzwischen über die Kontroverse erschienen seien, hält man außer den Argumenten Eulers auch die der Berlue fur würdig, weil sie jeweils den Grund der ganzen Diskussion berührten. Die Besprechung ist von vorbildlicher unparteilicher Sachlichkeit. Die Argumentation Eulers wird in größtmöglicher Kohärenz, sogar unter Verzicht auf eine Kritik an der nicht ganz korrekten Darstellung der Auffassungen von Leibniz durch Euler, referiert, und nur in wenigen eckigen Klammern bringt man in großer Zurückhaltung Bedenken gegen die Argumentation Eulers an. So z. B. wendet man gegen seine Behauptung, daß Leibniz das Prinzip der kleinsten Aktion überhaupt gar nicht gekannt habe, da er nur durch puren Zufall im Fall der Lichtbrechung darauf gestoßen sei, vorsichtig ein, daß Euler und Maupertuis aber doch selbst im strittigen Brieffragment das Prinzip der kleinsten Aktion sehen wollten, während König dies gerade bestritten hätte. Gegen Eulers Behauptung, daß Wolff selber nicht Leibniz, sondern Fermât gefolgt sei, wird gefragt, wieso eine Auffassung dadurch falsch werde, weil Wolff ihr nicht folge. Der Rezensent diskutiert darauf sehr sachlich die Gegenargumente Eulers, kommt aber zu dem Schluß, daß diese nicht hinreichend erklären, wieso das Prinzip von Maupertuis für universell gelten könne. Der Invektiven Eulers gegen König wird überhaupt nicht gedacht, allerdings wird der Plagiatsvorwurfs gegen König benannt. Das Additamentum wird bloß als eine Antwort auf die Défense angezeigt. Über die Berlue heißt es, daß sie eine Antwort auf Eulers Additamentum darstelle und die mangelnde Aufmerksamkeit Eulers und Maupertuis' durch eine Gegenüberstellung der Textpassagen von König und ihrer Referierung durch Euler anschaulich erweise. Auch auf die Erläuterung der unterschiedlichen Begriffe der Kontrahenten durch den Wittenberger Studenten wird verwiesen. Im weiteren werden aus der kurzen Broschüre einige zentrale Argumente einfach zitiert, insbesondere auch die gegen Euler gerichteten Schlußfolgerungen. Wenngleich also die Bibliothèque impartiale auch diesmal deutlich Partei für Samuel

382

Die Beschreibung paßt zu anderen Berichten, die wir von dem umtriebigen Mylius haben, der in der Tat im 4. Stock in einer Dachkammer wohnte. Der anonyme Autor, vielleicht Euler selbst, hat vermutlich Mylius als den Autor der ersten Studenten-Broschüre angenommen, nachdem ihm Mylius als Verteidiger Königs bekannt geworden war.

15. Satirische Nachspiele und Sammlungen

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König ergreift, ist die Rezension doch in einem erfreulich sachlichen Ton verfaßt, der eigene Zweifel anführt, aber die innere Kohärenz der Argumentation der rezensierten Schrift der Gegenpartei korrekt wiedergibt. Die Nouvelle Bibliothèque Germanique bringt dann in den Bänden für Juli, August und September sowie für Oktober, November und Dezember 1753 zwei Teile einer Besprechung

zum Band 7 (1751) der Histoire de l'Académie Royale des Sciences & Belles Lettres, in dem sich bereits - obgleich erst Ende 1752 bzw. Anfang 1753 in der Akademie gelesen - die Beiträge von Euler über Samuel Königs Kritik an Maupertuis finden. Hier findet sich bereits die später in der Wissenschaftsgeschichte quasi klassisch gewordene Formulierung, daß es nicht so wichtig sei, wer in der Geschichte das Prinzip zuerst ausgesprochen habe, sondern wer es zuerst exakt erkennen lasse. Dieses war nach der Auffassung von Euler allein Maupertuis. Im folgenden wird nur kurz des Examens der Dissertation Königs gedacht, wobei letztere als Anlaß der Kontroverse zwischen Maupertuis und König gekennzeichnet wird. Es gehe Euler zum einen um die Beantwortung der Frage, ob das Prinzip Königs tatsächlich zur Bestimmung aller Zustände des Gleichgewichts ausreichend sei, zum anderen darum, ob in diesem Fall das Prinzip von Maupertuis außer Kraft gesetzt werde. Erwähnt wird auch, daß Euler in einem Additamentum auf die Defense von König antworte. Während diese Aufsätze nur kurz annotiert werden, wird gelegentlich der Besprechung eines weiteren Aufsatzes von Beguélin, Recherches sur l'Existence des Corps durs, eine ausführliche Erörterung von etwa acht Seiten über dieses der Kontroverse zwischen König und den Leibnizianern mit Maupertuis und Euler zugrundeliegende Problem eingefügt, die die Auffassung von der möglichen Existenz der vollkommen harten Körper verteidigt.

15. Satirische Nachspiele und Sammlungen Parallel zu diesem Treffen der Hauptkontrahenten in der wissenschaftlichen wie öffentlichen Debatte, Samuel König und Leonhard Euler, erscheinen im Frühjahr 1753 weitere Satiren. Die noch im Dezember von Voltaire nach Leiden expedierte Séance mémorable ist eine sehr kurze und witzige Satire; sie verwertet ähnlich dem Dr. Akakia die Argumente der Maupertuisschen Lettres, um sie zur satirischen Darstellung einer angeblichen Akademiesitzung vom 1. Oktober 1753 zu gebrauchen. Auch hier werden alle Bezüge zu Maupertuis' Lettres in den Fußnoten exakt nachgewiesen. Der besondere Spott gilt neben dem Präsidenten dem ViceSecretär, also Merian, der seine Abhandlung über das »Cogito ergo sum« nach dem von Maupertuis empfohlenen und wohl an Merian während der Sitzung experimentell vorgeführten Gebrauch des Opiums verfaßt hätte. Es werden jedoch keine Namen genannt. Mylius hat eine Ubersetzung dazu angefertigt und ist sehr bemüht, sie nach seinem Weggang aus Preußen drucken zu lassen. 383 Sie erscheint aber auch in deutscher Ubersetzung in der Vollständigen Sammlung der Gottschedin. Die Satire wird am 23. April in den Göttin-

383 Mylius an Hollmann am 8.4. 1753. In: Consentius (wie Anm. 40), S. 782.

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gischen Anzeigen im gleichen Stück wie der Dr. Akakia angezeigt; man verweist auf ihre Ähnlichkeit damit und auf die darin enthaltene Kritik an den Argumenten Eulers, Maupertuis' und »eines Vice-Secretärs« (d. i. Merian). 384 LArt de bien argumenter en Philosophie, reduit en Pratique par un vieux Capitaine de Cavallerie, travestí en Philosophe besteht nur aus einem Briefauszug von Maupertuis, der Voltaire nach dessen Abreise aus Potsdam tatsächlich einen wütenden Brief nachgesandt hatte, und der Antwort von Voltaire, ist also auf Ende März/Anfang April zu datieren. Man kann daraus das cholerische Temperament von Maupertuis und die ironische Überlegenheit Voltaires erkennen. Maupertuis' Brief enthält in diesem Druck nur wenige Zeilen, mit denen er Voltaire warnen will, seine Aktivitäten in der Auseinandersetzung zwischen ihm und Samuel König fortzusetzen. Seine Gesundheit sei gut genug, Voltaire überall zu finden und seiner vollständigsten Strafe zuzuführen. Diesem Briefauszug fügt Voltaire nur ein Wort hinzu, um Maupertuis' Warnung lächerlich zu machen: »Tremblés.«385 — Zittern Sie! - In seiner Antwort erklärt er Maupertuis' Verhalten als eines Präsidenten und eines Christen unwürdig, gratuliert ihm aber zu seiner wiederhergestellten Gesundheit, die er selber noch nicht erlangt habe. Angesichts von Maupertuis' Entschlossenheit, ihn zu ermorden, erinnere er ihn daran, daß sein Freund La Beaumelle ihm, Voltaire, versprochen habe, ihn bis in die Hölle zu verfolgen, auch wenn das Loch, das Maupertuis nach einer Idee seiner Lettres bis zum Zentrum der Erde zu graben gedenke, noch nicht einmal begonnen sei. Nach einer anderen Idee daraus warnt Voltaire, Maupertuis müsse doch vorhersehen können, daß er, falls er nach Leipzig käme, dort wenig geliebt sein würde und vielmehr Gefahr liefe, nicht entsprechend seiner Würde als Präsident behandelt zu werden. Er selbst sei kaum satisfaktionsfähig, liege im Bett und könne ihm nur seine Klistierspritze oder den Nachtopf an den Kopf werfen. Nach der Drohung Maupertuis' werde er aber vielleicht Pistolen ins Bett mitnehmen, woran er den Hinweis anschließt, daß es für Maupertuis traurig sei, daß ausgerechnet die von ihm verachteten Deutschen das Schießpulver und den Buchdruck erfunden hätten. Der Titel der Schrift selber spielt auf eine frühere Position von Maupertuis als Capitain in der französischen Armee an, der sich nun also als Philosoph verkleidet habe. Auf der Rückseite des Titels findet sich die auf die Debatte mit Samuel König anspielende Versicherung, daß das Publikum auf die Echtheit dieser beiden Briefe rechnen könne, da man imstande sei, die Originale vorzuweisen. Hinzugefügt ist ein in den Leipziger Zeitungen veröffentlichter Steckbrief, in dem 1 000 Dukaten (angewiesen auf den Fonds der von Maupertuis noch zu bauenden lateinischen Stadt) ausgelobt werden, wenn jemand das Erscheinen des gefährlichen Mörders an den Toren Leipzigs anzeige. Die Beschreibung Maupertuis' ist witzig genug, trifft aber vor allem, wenn es heißt: Er habe »le visage plein & l'esprit plein de lui méme«.386 Eine besonders amüsante, weil genau auf die sachliche Auseinandersetzung bezogene Satire, bereits in ironischer Gelassenheit außerhalb des Machtbereichs des Präsidenten und 384 385 386

Göttingische Gelehrte Zeitungen. 30. St. 23.4.1753, S. 464. L'Art de bien argumenter en Philosophie. Hambourg 1753, S. 3. Ebd., S. 8.

15. Satirische Nachspiele und Sammlungen

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des Königs geschrieben, ist als »Vergleichskontrakt« der streitenden Parteien verfaßt. Das

erste Erscheinen des Traité de Paix conclu entre Mr. de Maupertuis et Mr. le Professeur Koenig fällt wohl in den April und damit in die Zeit des Aufenthalts von Voltaire in Leipzig, 387 da die zweite Auflage der Sammlung aller Streitschriften ihn bereits - in deutscher Ubersetzung — enthält. 388 Wenn man jedoch angesichts des Titels annimmt, hier würde nun eine Balance der beiden streitenden Parteien gesucht und die Ironie gleichmäßig ausgeteilt, ist man im Irrtum. Zwar werden die Monaden nicht gerade sehr seriös diskutiert, der Spott über ihre schlechte Behandlung in der Akademie gilt aber klarerweise den Antileibnizianern. Bei dieser Satire gibt es auffallende Abweichungen der deutschen Ubersetzung von dem französischen Original, als hätten die Leipziger Übersetzer sich immer dann selbständig gemacht, wenn es sich um die Ehre bzw. die exakte Darstellung von Leibniz und Wolff gehandelt hat. Auch enthält die Leipziger deutsche Fassung nicht die angebliche Erklärung von Euler, die in den in Leiden erschienenen Maupertuisiana enthalten ist. In der deutschen Fassung nimmt Maupertuis gleich anfangs alle seine Beschuldigungen gegen Samuel König zurück, »der doch niemals etwas voraus gesetzet hat, als Monaden, und die vorherbestimmete Harmonie«. 389 Im zweiten Satz gibt der Präsident der Gelehrtenrepublik ihre Freiheit zurück. In weiteren 12 sehr komisch zu lesenden Sätzen zieht er auch alle Ideen aus seinen Lettres zurück, die durch die Satiren darauf bekannt geworden sind - von der lateinischen Stadt über das Loch bis zum Mittelpunkt der Erde bis hin zur Erlaubnis, die Ärzte zu bezahlen. Zuletzt verspricht der Präsident auch noch, die Deutschen nicht mehr zu verachten, und er gesteht, daß nicht nur Copernicus, Kepler, Leibniz, Wolff, Haller, Mascov (der Name dieses Gottschedianers taucht nur in der Leipziger deutschen Fassung auf!) und Gottsched (in der französischen Fassung heißt es »les Gottscheds«) auch Leute sind, sondern daß er selber bei den Bernoullis etwas gelernt habe und noch zu lernen gedenke. In der Erklärung des Professors aus dem Haag, verlesen von Formey, heißt es dagegen nur, er bekenne, eine geringere Einbildungskraft als der Präsident zu haben, besitze aber ein gutes Herz (das ist fast die Formulierung von Maupertuis in seiner Entschuldigung fur La Mettrie gegenüber Haller!), er hätte Europa niemals durch einen Irrtum des Präsidenten verwirren wollen, nehme zur Buße gern eine Professur in der lateinischen Stadt an, und würde selbst dann den ganzen Tag lateinisch sprechen, wenn es dem Präsidenten schwerfallen würde. Schließlich verspricht er, ebensoviele Monaden in die Akademie einzuliefern wie der Präsident australische Riesen bringen werde. Damit endet die deutsche Fassung bereits. Die französische Fassung des »Friedensschlusses« ist datiert auf den l . J u n i 1753, als Druckort ist Berlin angegeben; 390 der Grundbestand des Textes stimmt mit der deutschen Leipziger Fassung der zweiten Auflage der Vollständigen Sammlung überein. An 6. Stelle ist

Das heißt nicht, daß er nicht schon in Berlin entstanden sein kann. 388 Vergleich zwischen dem Herrn Präsidenten v. M*** und dem Herrn Prof. K**. In: Vollständige Sammlung (wie Anm. 3), S. 5 0 3 - 5 0 8 . 389 Ebd., S. 503 f. 350 Traité de Paix. Berlin [Leiden] 1753. Am l.Juni befand sich Mylius in Hamburg und Voltaire in Frankfurt. 387

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aber ein längeres Versprechen eingefügt, wonach Maupertuis in Zukunft vor einer Behandlung der Paarung und der Foeten Anatomie studieren wolle. Am Ende sind noch drei weitere Versprechen hinzugefügt: 16. verspricht der Präsident, sich zu bemühen, den drei großen Prinzipien der deutschen Philosophie, dem Satz vom Widerspruch, dem Kontinuitätsprinzip und dem Satz vom zureichenden Grunde keine Gewalt mehr anzutun, sich also auch keine Widersprüche in seinen Schriften mehr zu erlauben. 17. gelobt er, da er nichts lese und die Bücher von Christian Wolff sehr dick seien, über den Inhalt derselben nichts mehr zu beschließen und hierdurch seine Macht als Präsident einzuschränken, 18. empfiehlt er aber den jungen Leuten, die von ihm abhingen, Wolff zu lesen, bevor sie ihn verachteten. Er selbst wird durch die Lektüre der kleinen Logik Wolfis ein Beispiel geben, da er in seiner Jugend bei der französischen Armee keine Gelegenheit gefunden habe, »d'entendre parler de ces choses-là«.391 Dann folgt, vorgetragen durch Maupertuis, die Erklärung des »Lieutenant-Général Leonhard Euler«, die wegen der scharfen Satire und der Kenntnis der Details überrascht. Dieser räume 1. ein, er habe niemals Philosophie studiert, denn er hätte das unter dem Einfluß des Präsidenten für unnötig gehalten; er werde sich aber künftig mit dem Ruhm zufrieden geben, unter allen Mathematikern Europas in einer gegebenen Zeit die längste Rechnung aufschreiben zu können; 2. nicht mehr Euklid zu widersprechen, wie es ihm manchmal passiert sei; 3. erröte er und werde immer erröten, daß er, obwohl er der Phoenix der Algebraisten sei, sich dem gesunden Menschenverstand und den gewöhnlichsten Begriffen widersetzt habe, als er schloß, daß ein Körper, der gegen einen Mittelpunkt durch Kräfte angezogen wird, die kontinuierlich seine Bewegung vergrößern, wenn er auf seinem Flug am stärksten angehalten wird, manchmal unmittelbar umkehrt, ohne irgendeine Ursache, und daß er manchmal sogar blitzartig vergeht, was noch wunderbarer sei. 4. wird er, um die deutschen Philosophen ein wenig zu besänftigen, keine irrtümlichen Formeln mehr behaupten und bittet alle Logiker um Pardon, da er eher seinen Rechnungen glauben wollte als dem logischen Urteil. Ebenso wird er vor der nächsten dreitägigen Rechnung eine Viertelstunde über das anzuwendende Prinzip nachdenken. 6. wird er die Beweise Samuel Königs künftig besser lesen, bevor er sie widerlegt, und Maupertuis versichert, das jedesmal vor seiner Unterschrift zu prüfen. Unter 7. wird zugesagt, daß Merian nicht mehr über das Cogito schreiben werde und auch kein Opium mehr bekomme, um die Natur der Seele zu entdecken, wobei der Verlust an Ruhm ihm aus der Akademiekasse ersetzt werden soll. Zum Zeichen ihres aufrichtigen Wunsches nach Frieden wollen »tous le trois« sogar ihren Erzfeind Voltaire darin einschließen und keine staatlichen Machtmittel mehr gegen ihn einsetzen und nicht mehr verlangen, daß er vor ihnen zittere. Danach folgt dann wieder die Erklärung Königs, die in dieser Fassung auch etwas länger ausgefallen ist. Hinzu gekommen ist vor allem das Versprechen, nichts mehr zu zitieren, wenn er keinen Notar, vier Zeugen guten Leumunds und die originale Handschrift aufbringen könne. Der Einfachheit halber gestehe er auch, daß eine Schrift, von der kein Original mehr zu finden ist, gefälscht ist, ohne deshalb an der Religion zu zweifeln. Während 391

Ebd., S. 10.

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also dem »Triumvirat« harte Eingeständnisse getreu der Kritik ihrer Gegner abverlangt werden, ist es klar, daß Königs angebliche Zugeständnisse vielmehr weitere Satiren auf Maupertuis, Euler und Merian sind. Im 5. und letzten Punkt des Professors findet sich dann aber der programmatische Satz, wonach die Streitenden aller Parteien nun erst einsehen, daß sie damit hätten beginnen sollen, womit das Publikum aufgehört habe - nämlich mit dem Lachen.392 Das außerordentliche Interesse des Publikums an dieser Debatte zeigte sich aber nicht nur in diesen zahlreichen Broschüren, deren Verleger damit offenbar großartige Geschäfte machen können, sondern insbesondere in den Sammlungen der Streitschriften und ihrem guten Absatz. Die erste Auflage der Vollständigen Sammlung aller Streitschriften, die neulich über das vorgebliche Gesetz der Natur, von der kleinsten Kraft, in den Wirkungen der Körper, zwischen dem Herrn Präsidenten von Maupertuis zu Berlin, Herrn Professor König in Holland, und andern mehr, gewechselt worden. Unpartheyisch ins Deutsche übersetzet erscheint etwa Ende März 1753. 393 Es ist interessant, daß die Herausgeber zur Begründung ihrer Ubersetzung bereits das interessante Phänomen thematisieren, daß die Debatte zwar zu einem erheblichen Teil auf deutschem Boden geführt, auch ursprünglich in deutscher bzw. lateinischer Sprache begonnen wurde, dennoch zunehmend in französischer Sprache fortgesetzt worden sei, so daß es notwendig geworden sei, durch eine vollständige Ubersetzung aller Schriften die Debatte auch den weniger auf das Französische als Gelehrtensprache orientierten Zeitgenossen zugänglich zu machen. In der Tat ist die bis dahin unkommentiert gebliebene Zweisprachigkeit der Debatte, das schnelle Reagieren der deutschen Zeitungen auf das französische Jugement und den Appel, aber auch das Reagieren des französischen Appel und der Lettres concernant auf die deutschsprachigen Zeitungen etc. ein interessantes Phänomen; nicht nur scheinen den Autoren beide Sprachen mindestens passiv zugänglich gewesen zu sein, vielmehr deutet der mehrfache Abdruck auch französischer Beiträge in deutschen Zeitungen bzw. Zeitschriften darauf hin, daß man auch mit einem französisch lesenden deutschen Publikum rechnete, das an dieser Debatte interessiert war. Des weiteren enthält die Vorrede zwei interessante Hinweise auf den guten Abgang der Streitschriften. In Paris seien an einem Tage 6000 Stück des Dr. Akakia verkauft worden, aber auch in Leipzig immerhin 500 Stück in einer Woche. Während die Pariser Angabe wohl wieder auf Voltaire zurückgeht, der von 6000 Stück täglich über eine Woche gesprochen hatte, ist die Angabe für Leipzig durchaus glaubwürdig. Abgesehen davon, daß die Gottscheds durch ihre enge Verbindung zum Verleger Breitkopf einen genauen Überblick über die Auflagenhöhe gehabt haben, ist auch die rasche zweite Auflage ein Zeichen für die Richtigkeit der Angaben. Auch dieses große Leserinteresse wird als Grund für die Not-

352 393

Ebd., S. 18. Daraus ergibt sich auch die genauere und einsichtigere Datierung des Briefes Best.D5026 (wie Anm. 2) von Voltaire an d'Argens, für den im Kommentar ca. der 1. Oktober angenommen wird. Er muß aber nach dem Erscheinen der ersten Ausgabe der Leipziger Sammlung der Streitschriften (1. Rezension am 16. 3.), und noch vor der Abreise von Voltaire aus Potsdam am 2 6 . 3 . 1 7 5 3 verfaßt sein, also zwischen dem 16. und dem 26. 3.1753.

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wendigkeit angesehen, daß auch die sprachunkundigen »ehrlichen Deutschen« eine Schrift, »die so begierig gekaufet und gelesen wird«, kennenlernen können. Die erste Rezension davon ist bereits am 16. März 1 7 5 3 im Hamburgischen ischen

Correspondenten

Unparthey-

zu lesen: »Die Streitigkeiten, die zwischen dem Hrn. Maupertuis und

dem Hrn. König obwalten, sind noch nicht vergessen. W i r haben die Streitigkeiten nunmehr sogar [...] deutsch erhalten.« 394 Es werden dann die enthaltenen Schriften aufgezählt, wobei gelegentlich der Rezension der Mémoires

Berlin 1748, im Neuen Büchersaale

de l'Académie

Royale

der schönen Wissenschaften

von 1 7 4 6 , erschienen in

und Künste395 recht kritisch

gegen Gottsched die Bemerkung erfolgt: »Denn daselbst hatte der Recensent dem Herrn Maupertuis gesagt, sein Principe de la moindre action läge schon in dem Satze der Alten: Deus & natura nihil faciunt frustra. Allein es läßt sich noch immer behaupten, daß wenigstens des Herrn Maupertuis Principium mehr als dieses sagt.« 396 Die zweite Auflage erscheint dann etwa im Mai, denn auch hier reagiert der Correspondent

Unpartheyische

sogleich am 29. Mai, 3 9 7 wobei dieser Rezensent nun schon einigen Überdruß

angesichts der nicht enden wollenden Debatte erkennen läßt und auch Ubersetzungsfehler aufgrund mathematisch-physikalischer Inkompetenz moniert. 3 9 8 Die Herausgeber hatten in

Hamburgischer Unpartheyischer Correspondent. Nr. 42. 16.3. 1753. Unter dem Artikel Leipzig. Siehe Vollständige Sammlung (wie Anm. 3), S. 4 4 - 5 1 . 396 w e i t e r heißt es in diesem sanft kritischen Ton gegen Gottsched: »Denn in den gegenwärtigen Sätzen der Alten will die Natur alles Vergebene vermeiden, und jederzeit das Kleinste entweder das minimum temporis, oder das minimum spatii, oder sonst noch ein anderes minimum seyn kan; Maupertuis aber bloß von dem minimo actionis redet, so ist sein Grundsatz freylich weit enger und eingeschränkter, als der vorherbemeldete Grundsatz der alten. Gesetzt aber, dieses gienge nun nicht an, so glaubt doch der Herr Vorredner, daß der Maupertuissche Satz wenigstens ganz offenbar in diesem Leibnitzischen liege: Sapientis non est vires adhibere superfluas. Daß aber dieses ganz verschiedene Dinge sind, werden alle diejenigen zugeben, welche wissen, daß actio und vis noch sehr weit voneinander abstehen; und zwar so, daß, wenn gleich die vires gleich sind, dennoch die von ihnen hervorgebrachten actiones weit voneinander unterschieden.« (Hamburgischer Unpartheyischer Correspondent. Nr. 42. 16. 3. 1753. Unter dem Artikel Leipzig.) 397 Hamburgischer Unpartheyischer Correspondent. Nr. 84. 29. 5. 1753. Unter dem Artikel Leipzig. 398 »Man hat hier eine zweyte und vermehrte Auflage der sogenannten vollständigen Sammlung der zwischen dem Hn. v. Maupertuis, Hn. König und andern über das vorgebliche Gesetz der Natur von der kleinsten Kraft in den Wirkungen der Körper bey Breitkopf [...] erhalten, welche in allen zusammen 21 Stück in sich begreifet, und sich mit dem satyrischen Vergleiche zwischen Hn. von Maupertuis und dem Hn. König beschließet. Da die Gegner des Hn. v. Maupertuis noch nicht müde werden, schon allzu oft wiederholte Spöttereyen immer zu wiederholen, so kann diese Sammlung nur bis auf die Zeit, da sie herausgekommen ist, vollständig seyn. Indeß ist sie unstreitig sehr dienlich, deutsche Leser zu belustigen, ob sie wol von dem, was eigentlich den Streit veranlasset hat, vom Gesetze des Kleinsten daraus schwerlich werden zulänglich beurtheilen lernen; es ist aber solches auch wol die Absicht wackerer Gelehrten, die kein Französisch können, nicht, denn dazu müssen sie etwas mehr Meßkunst verstehen, als insgemein diese braven Leute wissen, und man ist ihnen deswegen wohlbedächtig mit dem mathematischen in Hn. Königs Abhandlung, die den Streit erregte, nicht verdrießlich gefallen, statt deren, die andern verschiedenen lustigen Schriften ohnstreitig angenehmer seyn werden. Einige Kleinigkleiten bey den Ubersetzungen werden leicht zu entschuldigen 394

395

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ihrer »Nachricht wegen der zweyten Auflage« darauf verweisen können, daß die Nachfrage schon nach wenigen Monaten eine neue und um aktuelle Schriften erweiterte Auflage notwendig gemacht habe. Zugleich wurden auch einige dem Jugement vorausgehende Schriften zum Gegenstand eingefügt. Am Ende erklärt man, die Streitigkeiten nun nicht weiter verfolgen zu wollen, da es Zeit wäre aufzuhören. 399 Am 31. Mai bringen auch die Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen eine Besprechung. 400 Abgesehen von diesen beiden Auflagen der Vollständigen Sammlung aller Streitschriften, der deutschen Übersetzung der zumeist französisch geschriebenen und auch bereits in dieser Sprache von deutschen Lesern rezipierten und auch rezensierten Streitschriften, erschien offensichtlich auch eine französische Variante noch während des Aufenthalts von Voltaire in Leipzig. Am 23. April 1753 zeigen die Leipziger gelehrten Zeitungen an, daß beim Verlag Breitkopf, dem Gottschedschen Hausverlag, eine Histoire de Dr. Akakia erschienen sei, worin alle Streitschriften bis hin zum Friedensschluß enthalten seien, sowie eine Erzählung, wie es zu den verschiedenen Stücken gekommen sei. Es handle sich »um eine sehr scharf gesalzene Satire«. 401 Auf dreieinhalb Seiten wird dann recht genüßlich noch einmal die ganze Geschichte des Kranken aus St. Malo erzählt, um es dann der Neugier der Leser zu überlassen, selber nachzulesen, »was Akakia für lustige Anstalten dagegen gemacht, und wie er ihm geantwortet habe«. 402 Im Sommer bringt schließlich Luzac in Leiden eine zweite erweiterte Auflage des Appel heraus, sowie im Anschluß daran eine weitere Sammlung von Streitschriften unter dem Titel der Maupertuisiana, mit einer Darstellung von Don Quichotte und Sancho Pansa im Kampf mit den Windmühlenflügeln. Interessant ist, daß im Briefverkehr von König, Wolff und Gottsched die Übernahme dieser Vignette des Verlags von Luzac auch fur die Leipziger Sammlung nahegelegt wird. 403 Luzac ist aber auch im direkten Briefwechsel mit Gottsched

seyn; z. E. daß auf der 415ten Seite die Beugung der Strahlen ist gesetzet worden, wenn es die Beugung des Halbmessers von dem Werkzeuge seyn soll; daß auf der 503ten Seite gesagt wird: Herr K. habe nie was voraus gesetzet als Monaden, wenn es erdichtet heissen soll. Auf der 405ten Seite wird wol daß ihr Unterschied einer Nulle gleich ist bedeuten sollen, daß ihre Differentialgröße nichts ist. In dem 17ten stücke aber 7 l 4 t e S. ist es im Originale falsch, daß Hr. Bouguer des Hn. von Maupertuis Examen désintéressé (woran man wol noch zweifeln darf, ob es vom Hn. v. Maupertuis sey) kritisiert habe. Es ist degré du Meridien entre Paris & Amiens &c.« (Ebd.) 399 400 401 402 403

Vollständige Sammlung (wie Anm. 3). Nachricht wegen der zweyten Auflage, o. S. Neue Zeitungen von gelehrten Sachen. Nr. 44. 3 1 . 5 . 1 7 5 3 , S. 3 9 9 f . Neue Zeitungen von gelehrten Sachen. Nr. 33. 2 3 . 4 . 1 7 5 3 , S. 3 0 1 - 3 0 4 , hier S. 3 0 1 . Ebd., S. 304. Wolff schreibt in einem Brief, der sich o. D. zwischen denen vom 24. und 2 7 . 4 . 1 7 5 3 eingeheftet findet, an Gottsched: »Noch eines, Herr König, der sich bestermaßen empfehlen läßet, hat Bey folgendes in seinem Schreiben an mich beschlossen, um es Ew. Hochedelgebohren zu überschicken, damit Sie es bestmöglich in Leipzig publiciren lassen. Er schickt auch zugleich den Kupferstich, womit Luzac seine französische Collection auf dem Titelblatte auszeren will, ob Sie wirklich vor gut befinden möchten, auch etwas dergleichen auf Ihre Collection zu setzen, welches ich aber bey den jetzigen critischen Umständen nicht rathen will, da es besser ist, daß man Alles bey Seite setzet, was zu einer Partheylichkeit könnte Anlaß geben. Jedoch überlasse ich es Ihrer Überlegung. Es ist auch

632

Jugement de L'Académie Royale

bemüht, seine Sammlung um möglichster Vollständigkeit willen mit der Vollständigen Sammlung abzugleichen, und bietet auch umgekehrt an, von seiner Seite fehlende Stücke zu übersenden. 404 Noch am 29. Oktober werden die angeblich in Hamburg, tatsächlich aber in Leiden erschienenen Maupertuisiana in den Leipziger gelehrten Zeitungen angezeigt, die allerdings nur noch einmal darauf verweisen, daß es sich um eine Sammlung der Streitschriften aus der Debatte über den Jugement der Berliner Akademie gegen Samuel König handele, die bereits einzeln alle in diesem Blatt besprochen worden seien. Auch hier gibt man nunmehr der Hoffnung auf eine Beschließung dieses »Lustspiels« 405 in der Gelehrtenrepublik Ausdruck. Auch Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit widmet dem Erscheinen der Maupertuisiana noch einmal acht Seiten. 406 Man beginnt mit der Erklärung der Vignette, die Don Quichotte und Sancho Pansa im Kampf mit den Windmühlen zeige, aus dem Munde des Ritters sei ein Tremblez! zu hören, nach Sancho Pansa werfe ein Schalksnarr mit Steinen - um die Deutung des Bildes aber sei man »unbekümmert«. Im weiteren wird ausführlich aus der der Sammlung vorausgesetzten Nachricht zitiert, ohne mit der Erklärung der Hintergründe der Entstehungsgeschichte gänzlich zufrieden zu sein; man konstatiert auch das Fehlen einiger Stücke, die in der deutschen Sammlung stehen, wie auch umgekehrt einige hinzugekommene. Schließlich werden die Änderungen und Ergänzungen des Friedensschlusses aufgezählt und in deutscher Ubersetzung abgedruckt. Zuletzt macht man auf eine neue Nachricht aufmerksam, wonach die Tochter Henzis die Abschriften der Leibniz-Briefe, die ihr Vater von Bourguet genommen habe, einem holländischen Kaufmann verkauft habe, dessen Namen und Aufenthaltsort Samuel König ausfindig machen wolle. Die öffentliche Debatte hört also auf mit Satiren und Burlesken, die ihren Erfolg aus der Begeisterung des Publikums beziehen, daß den Mächtigen ihre Grenzen gezeigt werden, daß die Verbote des Akademiepräsidenten, gegen ihn zu schreiben, überschritten werden, daß statt dem vom König verbrannten Dr. Akakia immer wieder andere Satiren entstehen und überall außerhalb Preußens verkauft werden, heimlich und also besonders teuer natürlich auch in Preußen. Die Kraft des Lachens gegen die angemaßte Autorität hatte bereits Samuel König, noch vor dem Erscheinen der ersten Satire, in seinem Appel au public für eine natürliche Reaktion des Publikums auf alle Versuche angesehen, an die Stelle von Gründen »les efforts de sa Ligue, le credit de Gens en place, la protection des Grands« zu setzen: »le

eine neue Auflage vom Appell gemacht worden, zu welcher einige wenige Dinge gefügt, die von Gewichte sind. Wofern Sie dieselben noch nicht haben, will er Ihnen die Blätter, worauf die Vermehrung stehet, durch die Post zusenden, wenn Sie es ihm schreiben. Es kann ja dieses wohl auch als ein Anhang zu Ihrer Collection kommen. Da Luzacs seine vor der Messe wohl nicht nach Leipzig kommen wird, so ist darauf nicht zuwarten, ob ich es gleich erwarten kann.« (Danzel (wie Anm. 333), S. 62.) 404

405 406

Vgl. auch Luzac an Gottsched am 20.2. 1753. U B Leipzig. Ms 0342, Bd. 18, Bl. 115r, sowie Luzac an Gottsched am 13.7.1753. Ebd., Bl. 398r. Neue Zeitungen von gelehrten Sachen. Leipzig, den 29. 10. 1753. Nr. 87, S. 781. Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. Windmonath. N . 8. Leipzig 1753, S. 8 1 2 - 8 5 7 .

1 6 . Öffentliche Verlautbarung contra öffentliche Diskussion

633

public en rit: il juge l'Auteur; & de son Jugement il n'y a point d'appel«. 407 Dazu paßt, daß Voltaire nach dieser großen Auseinandersetzung mit angemaßter Autorität die Erkenntnis formuliert: »There is always an element of the absurd in tyranny.« 408

16. Öffentliche Verlautbarung contra öffentliche Diskussion. Die öffentliche Debatte als Kampf um den öffentlichen Raum Daß, auch nachdem in der entscheidenden Frage des Rechts bzw. Unrechts der Berliner Akademie, über Meinungen Urteile zu fällen, alle Argumente ausgetauscht waren, immer wieder neue Satiren erscheinen konnten und daß die Buchhändler offenbar noch bis zum Sommer 1753 mit den Sammlungen der Streitschriften ein gutes Geschäft gemacht zu haben scheinen, verweist auf das anhaltende Interesse eines größeren Publikums an dieser Debatte. Denn während Maupertuis, Euler, Merian und selbst der König ihre Streitschriften auf Kosten der Akademie ausgehen ließen, konnten Autoren und Buchhändler, die in dieser Debatte gegen das Berliner »Triumvirat« auftraten, bei der Veröffentlichung ihrer Schriften nur auf den Erfolg beim Verkauf rechnen. Ohne einen solchen Verkaufserfolg hätten sie höchstens kleinere Beiträge in Zeitschriften unterbringen können, wie Voltaire seine allererste Reponse im Journal des sçavans veröffentlichen ließ oder Mylius seine kleineren Besprechungen der Streitschriften in den Hamburgischen Zeitungen. Es ist wohl auch nicht zufällig, daß die einzige längere Serie zur Diskussion der strittigen wissenschaftlichen und rechtlichen Fragen nur in der Bibliothèque impartiale stattfand, der Zeitschrift, die bei Luzac in Leiden erschien, also bei dem Verleger, der durch den Druck fast aller Satiren sicherlich am meisten an der Debatte verdient hat. Auch Breitkopf in Leipzig hätte nicht innerhalb von zwei Monaten eine neue und sogar erweiterte Auflage von der Vollständigen Sammlung machen können, wenn es nicht momentan eine große Nachfrage gegeben hätte. In der Tat dringt die Meldung von dieser Ausgabe sogar bis nach Paris. Joseph-Jérôme de Lalande klagt am 25. Dezember 1752 aus Paris gegenüber Gottsched: »L'affaire de M . Maupertuis contre König va toujours ce me semble de plus en plus mal, Voltaire s'en est mélé, il a desja écrit plusieurs lettres et j'ai le chagrin de voir que presque tout le monde est contraire a ce fameux Jugement de l'académie par lequel on avoit pretendu consacrer la memoire de la condemnation d'une démarche hazardée et tout au moins suspecte.« 409

Melchior Grimm, ein früherer Gottschedschüler, der berühmte Berichterstatter der Corresponance litteraire, wendet sich im Sommer 1753 mit dringenden Bitten an seinen alten Lehrer, ihm umgehend die Sammlung der Maupertuisiana zu schicken, da ihn (als Experten 407

Appel (wie A n m . 30), S . 4 8 . »[...] die Gewalt der Rotten, das Ansehen vornehmer Männer, und den Schutz der Großen einzuführen: Das gemeine Wesen lachet hierzu; es beurtheilet den Schriftsteller: und von seinem Urtheilsspruche kann man sich nicht weiter berufen.« (Vollständige Sammlung (wie A n m . 3), S. 1 2 9 . )

408

Best.D5093 (wie A n m . 2) (ca. 1 . 1 2 . 1 7 5 3 ) . U B Leipzig. Ms 0 3 4 2 . Bd. 17, B1.642. Vgl. auch: Magnan (wie A n m . 5 ) , S . 3 1 8 .

409

Jugement de L'Académie Royale

634

für D e u t s c h l a n d ) ganz Paris deswegen bedränge. Besonders der zweite Brief, in d e m m i t t e n im französisch geschriebenen B r i e f die W o r t e »mit der reitenden Post« auftauchen, für die m a n bereit sei, teures G e l d zu zahlen, w e n n das B u c h n u r schnell n a c h Paris gelange, läßt anschaulich werden, wie sehr die Streitigkeit das G e s p r ä c h der Pariser Salons b e s t i m m t e , n o c h w ä h r e n d der Zeit des Aufenthalts v o n M a u p e r t u i s d o r t . 4 1 0 Angesichts dessen m a g zwar die A n g a b e Voltaires, m a n verkaufe den Dr.Akakia

in Paris zu 6 0 0 0 Stück täglich (!), aus

Interesse übertrieben sein, aber d a ß es einen V e r k a u f in einer derartigen G r ö ß e n o r d n u n g v o n dieser sicher n i c h t teuren B r o s c h ü r e gegeben hat, ist gewiß a n z u n e h m e n . A u c h heute ist an dieser kleinen u n d für den T a g geschriebenen B r o s c h ü r e kein M a n g e l an E x e m p l a r e n in Pariser Bibliotheken. 4 1 1 In j e d e m Fall gab es in Paris mindestens seit d e m E i n t r i t t v o n Voltaire ein außerordentliches Interesse an der Auseinandersetzung, was a u c h an den regelm ä ß i g e n handschriftlichen »Zeitungen« aus Paris, die sich im N a c h l a ß der Gräfin B e n t i n c k erhalten haben, h e r v o r g e h t . 4 1 2 E s w a r diese g r o ß e W i r k u n g , die Voltaires Satiren in Paris entfalteten, die M a u p e r t u i s dazu antrieben, i m April, kurz n a c h d e m Voltaire Berlin verlassen hatte, n a c h Paris zu gehen, u m d o r t die s c h l i m m s t e n Auswirkungen der öffentlichen D e b a t t e a u f seine wissenschaftliche R e p u t a t i o n zu mildern zu s u c h e n . 4 1 3 I m F e b r u a r 1 7 5 3 w a r ja bereits eine Stellungn a h m e der Pariser A k a d e m i e fur Samuel K ö n i g bekannt g e w o r d e n , in F o r m einer Akkla-

410

Melchior Grimm erwähnt den Streit zwischen Voltaire und Maupertuis zuerst in einem Schreiben vom 2 9 . 6 . 1 7 5 3 an Gottsched: »Chez nous arrive de tems en tems des brochures de vos cantons, au sujet de la scandaleuse querelle de Voltaire et de Maupertuis. Vous avés vu sans doute le prémier à Leipzic et vous devés etre au fait de beaucoup de choses que nous ne scavons pas à fonds.« (UB Leipzig. Ms 0 3 4 2 . Bd. 17, Bl. 327r. Am 2 2 . 7 . heißt es dann aber dringlicher: »J'attens de vos nouvelles avec impatience [...]. On dit qu'on vient d'imprimer à Leipsic un recueil de tout ce qu'on a fait contre M . de Maupertuis sous le titre de Maupertuisiana. La grâce que j'ai à vous demander, est de vouloir bien m'envoyer ce recueil par le prémier Courier (reitende Post) à mon adresse. Vous m'obligerés infiniment, Monsieur, de ne point manquer le prémier ordinaire, on m'a prié très instamment de me procurer cette nouvelle suite, de la scandaleuse querelle qui en fait le sujet. Vous aurés la bonté de me marquer tous les fraix que je vous cause et par ces emplettes et par les posts de lettres et j'aurai l'honneur de vous les faire embourser sur le champ par un homme d'affaires de M . le Comte de Prise. Je voudrais bien aussi avoir le Supplement du siècle de Louis mais cela sera par une occasion plus commode et moins chere, l'autre est trop pressante pour en attendre une meilleure.« ( U B Leipzig. Ms 0 3 4 2 . Bd. 18, B1.403r.) - Da keine Angabe des Jahres auf dem Brief steht, weiß Suchier (Wolfram Suchier: Gottscheds Korrespondenten. Berlin 1912, S. 34) das Jahr nicht anzugeben. Der Brief kann aber nur im Sommer 1753 geschrieben sein.

411

Best.D5163 (wieAnm.2). Vgl. auch Fleischauer (wieAnm.5), S . 9 4 - 9 9 . Vgl. Nouvelles à la main. In: Magnan (wie Anm. 5), Nr. 81, S. 311 f.; Nr. 83, S . 3 1 3 f . ; Nr. 86, S. 3 1 5 f.; Nr. 88, S . 3 1 7 .

412

413

Seit dem 12. April 1752 ist Maupertuis mit Friedrich im Gespräch über eine Reise nach Paris »malgré la belle saison« und begründet dies mit seiner schlechten Gesundheit. Briefwechsel Friedrich des Großen mit Grumblow und Maupertuis (wie Anm. 14), vgl. S. 2 7 2 . Man vgl. aber seinen Brief nach der Ankunft aus Paris an den Abbé Prades vom 2 5 - 5 . 1 7 5 3 , in dem er voller Triumph berichtet, daß sein Feind nicht vor ihm nach Paris gekommen ist, da es ihm verboten sei, und, indem er es andern überlassen will, davon zu sprechen, wie schlecht angesehen Voltaire in Paris sei, hat er es schon ausgesprochen. Ebd., S . 2 9 4 .

16. Öffentliche Verlautbarung contra öffentliche Diskussion

635

mation der französischen Akademie fïir eine Kritik d'Arcys an Maupertuis' Prinzip der kleinsten Aktion. 4 1 4 Auch notierte G r i m m in seiner Correspondance

littéraire,

daß weder die

Moralphilosophie noch die Kosmologie von Maupertuis in Paris einen guten Eindruck gemacht hätten. 4 1 5 Und Diderot hatte sich in L'interpretation

de la nature

sogar über die

merkwürdige Philosophie von Maupertuis lustig gemacht, 4 1 6 wie der sie unter dem Pseudonym Baumann, angeblich Professor an der Universität Erlangen, in einer lateinischen Schrift bekannt gemacht hatte. 4 1 7 In Paris wußte alle Welt, daß sich dahinter Maupertuis verbarg. Schließlich hat sich sogar d'Alembert, der sich zwar mit seinem Stichwort in der Encyclopédie418

L'Action

kritisch gegen die Leibnizianer gestellt hatte und der Eulerschen

Interpretation des Prinzips der kleinsten Aktion gefolgt war, dann im entsprechenden Artikel Cosmologie

gegen die in der Maupertuisschen Cosmologie

gegebenen Vorstellungen

ausgesprochen. 419 Aber nicht nur Maupertuis wurde durch die große öffentliche Reaktion weiter in Atem gehalten, die in Deutschland, Holland und Paris offenbar durch keine obrigkeitliche Gewalt

Die Pariser Akademie des Sciences et belles lettres hatte am 7 . 2 . 1753 per Akklamation dem Vortrag d'Arcys zugestimmt, der eine Kritik des schon von Samuel König kritisierten Aufsatzes von Maupertuis darstellte und allgemein als Unterstützung von Samuel König angesehen wurde. Vgl. auch Magnan (wie Anm. 5), S.334f. Vgl. auch Voltaires triumphierende Mitteilung darüber an Formey in: Best.D5223 (wie Anm. 2). 415 Vgl. Correspondance littéraire, philosophique et critique par Grimm, Diderot, Raynal, Meister, etc. Revue sur les texts originaux. Par Maurice Tourneux. T. 1 Paris 1877, S. 384, sowie T. 2, S. 103. 416 Vermutlich erklären sich so auch die immer wieder als rätselhaft thematisierten Eingangswort »Jeune homme, prends et Iis.« - »Junger Mann, nimm und lies.« Aus dem unmittelbaren Bezug zur Behandlung des jungen Mannes durch Dr. Akakia - Diderots Schrift erschien 1754 - wäre Maupertuis selber damit gemeint. Vgl. Denis Diderot: L'interprétation de nature. In: Œuvres complètes de Diderot. Ed. J. Assézat. T. 2. Paris 1875, S. 7. 417 Yg[ D Baumann [d. i. Maupertuis]: Dissertatio inauguralis metaphysica, de universali naturae systemate, pro gradu doctoris habita. Erlangen 1751. Die französische Ubersetzung erschien mit dem Druckort Berlin, tatsächlich aber in Paris, 1754 unter dem Titel Essai sur la formation des corps organisés. 418 D'Alembert: L'Action. In: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Nouvelle impression en facsimilé de la première édition de 1751-1780. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966. Vol. 1, S. 119f. 419 D'Alembert: Cosmologie. In: Ebd. Vol. 4, S. 2 9 4 - 2 9 7 . Zu d'Alembert in dieser Debatte vgl. die gründliche Darstellung bei Schramm (wie Anm. 19), S. 146-167. Insbesondere bei der Beurteilung der Haltung von d'Alembert muß man sich jedoch immer dessen eingedenk sein, daß dieser nicht nur als Mitglied und als Preisträger der Berliner Akademie Rücksichten zu nehmen hatte, sondern auch mit Maupertuis als dem von ihm verehrten ersten Newtonianer in Frankreich befreundet war. Auch konnte er als Newtonianer und philosophischer Skeptiker der leibniz-wolffianischen philosophischen Position nicht mehr viel abgewinnen. Von daher ist zwar Schramm völlig zuzustimmen, daß unter den zeitgenössischen Fachurteilen dasjenige von d'Alembert unparteiisch erscheint (S. 154), jedoch entspricht sein Lob für Maupertuis, dieser habe niemals auf die gegen ihn erhobenen Beleidigungen erwidert, ganz und gar nicht den Tatsachen, schon deshalb nicht, weil es gar keine Beleidigungen gab, außer von Seiten des Triumvirats einschließlich Maupertuis' (vgl. Schramm (wie Anm. 19), S.154f.). 414

636

Jugement de L'Académie Royale

zu stoppen war, auch Leonhard Euler konnte sich schließlich der Nötigung zu einer Antwort auf die beständigen Vorwürfe in der öffentlichen Debatte nicht entziehen. Auch wenn Euler dieses Publikum in seinem Ärger über die Unbotmäßigkeit Königs und der Zeitungsschreiber verächtlich als »Fischmarkt« titulierte und immer wieder die Zeitungsschreiber als inkompetente Werkzeuge in den Händen der Buchhändler oder des Gegners beschimpfte, war es eben die durch nichts zum Aufhören zu bringende öffentliche Debatte, die Euler und Maupertuis allererst dazu nötigte, dem »verurteilten« Samuel König überhaupt zu antworten. Das galt nicht nur hinsichtlich seiner Klagen gegen die Unrechtmäßigkeit des Jugement, sondern ebenso für die wissenschaftlichen Antworten auf Königs Fragen. Euler unterstreicht es selber mehrfach, daß ihn allein die »Schriftsteller«, die »Schreiberlinge«, dazu veranlaßt hätten, endlich etwas entgegenzusetzen. In dieser Hinsicht war die öffentliche Debatte schon allein deswegen ein Erfolg, weil der vornehme Gegner, der sich der Diskussion verweigert hatte und erklärtermaßen dabei bleiben wollte, sogar durch staatlichen Druck seine Kritiker mundtot zu machen versucht hatte, gezwungen werden konnte, sich auf diese Diskussion einzulassen. Aber weit darüber hinaus war die Debatte auch darin ein Erfolg für die deutsche Aufklärung, daß der Präsident Maupertuis in dieser Debatte öffentlich als die Verkörperung angemaßter Autorität bloßgestellt und dafür einer unsterblichen Lächerlichkeit preisgegeben worden war. Es gibt bis heute keine Biographie zu Maupertuis, die daran vorbeigehen kann und nicht darum bemüht sein muß, ihn in dieser Frage einigermaßen zu rechtfertigen. 420 Auch Euler hat in dieser Debatte einige Blessuren davongetragen, wenngleich er sich im Schutz der Frontgestalt Maupertuis' einigermaßen geschickt im Hintergrund halten konnte. Der größte Erfolg dieser öffentlichen Debatte aber bestand darin, trotz der staatlichen Unterdrückung aller Kritik in dieser Frage, der sich Maupertuis und Euler innerhalb Preußens bedienen konnten und auch weidlich bedient haben, und trotz deren Vorteils einer Finanzierung aller ihrer Aktivitäten durch staatliche Gelder, dennoch einen öffentlichen Raum für die Vertretung der kritischen Positionen hergestellt zu haben. Diese öffentliche Auseinandersetzung über den Jugement begann aber keineswegs, wie das oft reduziert dargestellt wird, erst mit den Satiren des berühmten Voltaire, die ja nicht vor November 1752 erschienen, sondern schon mit den ersten kritischen öffentlichen Reaktionen auf den Jugement seit Juni 1752, d. h. sofort nach der Drucklegung des Jugement in den Zeitungen. Die von Maupertuis offensichtlich gar nicht erwartete Kritik am Verfahren der Berliner Akademie erfolgte zuerst in deutschen Zeitungen, allerdings außerhalb Preußens, und damit außerhalb des Einflußbereiches des Akademiepräsidenten. Wie erfolgreich es gelang, eine kritische Gegenöffentlichkeit zu dem gewissermaßen ex o f f i c i o gesprochenen Jugement herzustellen, wird anschaulich am Ärger des Präsidenten und seiner Verbündeten Euler und Merian vor allem über die »Hamburger und Leipziger Zeitungen«. Diese Debatte war also von Anfang an kein herrschaftsfreier Dialog über wissenschaftliche Fragen, in der es nur um metaphysische oder wissenschaftliche Universalprinzipien

420

Siehe Anm. 245.

16. öffentliche Verlautbarung contra öffentliche Diskussion

637

oder gar bloß um die Echtheit des Leibniz-Briefes gegangen wäre. Abgesehen davon, daß es keineswegs nur Samuel König, sondern erst recht Leonhard Euler um eine metaphysischtheologische Position ging, spielte gerade in dieser Debatte die Verfügungsgewalt über politische Macht eine enorme Rolle. Das kommt gerade in den Formen der Auseinandersetzung, nicht so sehr in den Argumenten selber zum Ausdruck. So trat Maupertuis immer als »notre illustre President« auf und wurde von Euler in seinen Schriften grundsätzlich so tituliert, der Jugement wurde nicht bloß als eine gemeinsame Auffassung von Mitgliedern der Akademie, sondern als ein offizielles Dokument der Königlichen Akademie beschlossen, ausgefertigt und in die Welt geschickt. Man nutzte seine Stellung am Preußischen Hof, um Briefe an die Obrigkeiten von Samuel König zu versenden, die diesen daran hindern sollten, gegen Maupertuis zu schreiben. Allein schon in der Begründung dafür, wonach Maupertuis sich ja auch nicht zu König geäußert hätte, kommt deutlich zum Ausdruck, daß der Jugement mit Maupertuis als Person allein hinsichtlich der Veranlassung der Auseinandersetzung zu tun haben sollte; der Vorgang selber aber sollte allein von der Akademie als Institution getragen sein. Darüber hinaus wurde der Jugement als eine offiziöse Verlautbarung an Fürsten, Wissenschaftler und an die wissenschaftlichen Zeitschriften und auch an die Zeitungen versandt. Bei all diesen Aktivitäten griff man auf die Akademiekasse zurück, wobei kurioserweise sogar die Lettre Friedrichs aus dieser bezahlt wurde. Als Akademie konnte man sich auch sicher sein, daß nicht nur die ordentlichen und pensionsabhängigen Mitglieder in Berlin sich des Widerstandes enthielten, sondern auch, daß die auswärtigen Mitglieder und natürlich auch die, die es noch werden wollten, sich mit Kritik zurückhalten würden. Maupertuis suchte sich offenbar bei seinem Aufenthalt in Paris sogar dadurch Anerkennung zu verschaffen, daß er Berufungen an die Akademie nach Berlin veranlaßte. Zu den Berufenen aus dieser Zeit gehören neben Montesquieu auch die in Paris meinungsbildenden d'Holbach und Helvetius, deren Berufung dann ausgerechnet Euler, der Bekämpfet der Freigeister, auf den Akademiesitzungen in Berlin verkünden mußte. Auch bei einer Beurteilung der Positionen d'Alemberts sollte berücksichtigt werden, daß er in einem engen Kontakt zur Berliner Akademie und besonders zu Maupertuis und bei aller Spannung auch zu Euler gestanden hat, ja daß ihn schon zu Lebzeiten von Maupertuis ein erstes Angebot der Präsidentschaftsnachfolge bei dessen Ableben erreichte. Ein Bruch mit dem Newtonianer wäre fur d'Alembert angesichts der Gegenpartei der Cartesianer an der Pariser Akademie selbst dann keine einfache Alternative gewesen, wenn er sich in wissenschaftlicher Ubereinstimmung mit König befunden hätte. D'Alemberts Auffassung folgt aber weder König noch Maupertuis und auch Euler nur soweit, als die mathematischen Gleichungen reichen. Er verweigert sich allen metaphysischen Spekulationen. »Diplomatische« Rücksichten muß man aber auch für die großen wissenschaftlichen Zeitschriften annehmen, wie das Journal des Sçavans, das zwar die Reponse von Voltaire druckte, aber im April 1753 auch eine umfangreiche Satire auf die Monaden, allerdings noch ohne direkten Bezug zu dieser Debatte. 421 Die Pensionsvergabe der Akademie, die 421

Mémoire sur les Monades de Mr. Leibnitz. In: Journal des sçavans [Addit. de l'Edit. de Holl.]. Bd. CLXVI. April 1753, S. 4 3 3 - 4 7 5 .

638

Jugement de L'Académie Royale

Schaffung des neuen und bezahlten Postens eines Vizesekretärs für den willfährigen Merian, die von Euler angeführte Befragung der Akademiemitglieder nach ihrem Briefverkehr nach Hamburg, Sulzers offensichtlich abgenötigtes Dementi in den Zeitungen sprechen eine deutliche Sprache, wie systematisch das »Triumvirat« seine institutionelle Macht zur Abweisung seiner Gegner nutzte. Erst recht war die Einmischung des Königs, das Auftauchen seines Siegels und die scharfe Verurteilung Samuel Königs aus seinem Munde nicht gerade ermutigend fiir eine kritische Gegenöffentlichkeit. Hinzu kommen noch die Verbote für alle kritischen Publikationen in dieser Debatte in Preußen, die Verbrennung des Dr. Akakia, die »Kundmachung« dieser Maßnahme, die Maßregelung Voltaires schon in Potsdam durch Verhöre, durch die Verweigerung seines Abschieds über fast drei Monate, erst recht die Maßregelung bei seiner Ankunft in Frankfurt am Main und nicht zuletzt das mindestens allgemein von den Zeitgenossen für glaubhaft gehaltene Gerücht einer Verhaftung von Mylius und seiner Verbringung nach Spandau.422 Auf der anderen Seite können Samuel König wie auch Voltaire nur immer wieder versichern, keine Pensionen und Stellen an der Akademie vergeben zu können, um desto mehr die holländische und englische Pressefreiheit zu preisen, der sie tatsächlich auch die Möglichkeit einer enormen Erweiterung ihres Handlungsspielraums verdanken. Darüber hinaus verdient aber auch die selbstbewußte Berufung auf die Pressefreiheit in Hamburg durch Christlob Mylius Beachtung, die ganz im Gegensatz zu der traditionellen und einseitigen These von der ängstlichen und gemäßigten deutschen Aufklärung steht. Aber darüber hinaus begegnen uns im Verlauf dieser Debatte auch zahlreiche Zeugnisse für ein großes Selbstbewußtsein der deutschen Aufklärung, wenn in den Zeitungen mit schöner Selbstverständlichkeit die Rechte Königs und der Gelehrtenrepublik verteidigt werden, ganz unabhän422

Glaubhaft schon deshalb, weil Maupertuis damit schnell bei der H a n d war. Der Fall des Akademiemitglieds Grischow, den Maupertuis wegen seiner Absicht, an die Petersburger Akademie zu wechseln, verhaften ließ, kam schon zur Sprache, aber auch ein Mädchen wurde auf seine Initiative nach Spandau verbracht, dem er bis dahin für ein oder zwei Kinder Unterhalt zahlte. Sie mußte dann allerdings aus der H a f t entlassen werden, was Maupertuis am liebsten durch Friedrich verhindert hätte. Vgl. Maupertuis an Friedrich am 16. 11. 1755. In: Briefwechsel Friedrichs des Großen mit Grumbkow und Maupertuis (wie Anm. 14), S. 310f. Daher wäre es für niemand überraschend gewesen, daß Maupertuis bei einer Entdeckung von Mylius als Rädelsführer dessen Verhaftung veranlaßt hätte. Jedenfalls wird Mylius bald nach seiner Abreise aus Leipzig gewarnt, ja nie mehr preußisches Gebiet zu betreten. Er fühlte sich daher erst sicher, als er die Niederlande erreicht hatte. Vgl. Mylius an Hollmann am 10.4.1753. In: Consentius (wie Anm. 40), S. 783. Sogar Voltaire in Leipzig scheint sich wegen Mylius Sorgen gemacht zu haben: Es gehe das Gerücht, Mylius sei gefangen worden und sitze in Spandau, von daher sei eine weitere Publikation der Maupertuisiana erst möglich, wenn er und Mylius in Sicherheit wären. Er schreibt an Gottsched am 19.4.1753: »je vous supplie, Monsieur, d'ajouter à touttes vos bontez celle d'empecher absolumens bretkopf d envoyer a Berlin des akakia avant la foire ils y seroient infailliblement saisis. Vous savez dailleurs l'aventure de milius. empechez je vous en conjure bretkopf de faire cette enorme sottise, vous savez qu'il faut absolument que je parte.« Auf einem Zettel heißt es noch: »Monsieur milius n'est poins en hollande, on dit que maupertui lui fait arrêter en chemin sur une accusation d'affaires d'état, la chose n'est que trop vraisemblable.« (UB Leipzig. Ms 0342. Bd. 18, Bl. 234r u. 336r. - Vgl. Danzel (wie Anm. 333), S.64f.)

16. Öffentliche Verlautbarung contra öffentliche Diskussion

639

gig von seiner wissenschaftlichen Auffassung. D a s spricht auch für ein erstaunlich selbstverständliches Rechtsbewußtsein in der deutschen Aufklärung u n d für eine klare Abweisung jedweder Art angemaßter Autorität. Es sind die deutschen (und natürlich holländischen) Zeitungen, die sofort, lange vor Voltaire gegen den M a c h t m i ß b r a u c h des Berliner Präsidenten protestieren u n d die Verteidigung des ungerecht Beschuldigten übernehmen. In dieser D e b a t t e zeigt sich auch, d a ß die o f t nur als bloße Rückständigkeit apostrophierte deutsche Kleinstaaterei auch geeignet war, die Zensur der jeweils anderen deutschen Länder zu unterlaufen u n d damit Freiräume bestanden für eine kritische Öffentlichkeit. Allerdings bildete der so in D e u t s c h l a n d gegebene »Pluralismus« staatlicher Zensur nur erst die Möglichkeit für die H e r a u s b i l d u n g einer kritischen Öffentlichkeit, die erst durch die öffentliche Kritik, durch die Redakteure der Z e i t u n g e n u n d Zeitschriften realisiert werden mußte. D a ß in allen Zentren der deutschen A u f k l ä r u n g die Redaktionen bereits v o n Zeitungsschreibern besetzt waren, die sich einer solchen kritischen Öffentlichkeit verpflichtet fühlten, ist ein Zeichen dafür, daß die A u f k l ä r u n g in D e u t s c h l a n d bereits wichtige Positionen der Verbreitung ihrer Ideale erobert hatte. Zugleich ist daraus ersichtlich, d a ß es bereits ein an kritischer Öffentlichkeit interessiertes P u b l i k u m gab, denn sonst hätte m a n weder Zeitungen u n d Zeitschriften noch Broschüren verkaufen können. D i e Kritiker des Jugement mußten nolens volens a u f die Mobilisierung eines Publikums vertrauen, u n d zwar eines Publikums, das groß g e n u g war, u m durch sein Kaufinteresse die Buchhändler zur Teiln a h m e an dieser D e b a t t e zu motivieren. In dieser Frage ist besonders der erfahrene Voltaire o h n e Illusionen, u n d natürlich wird auch dieser Aspekt eine Rolle bei seiner E n t s c h e i d u n g gespielt haben, Satiren zu schreiben. I m Ergebnis dieser U n t e r s u c h u n g erweist es sich, daß die Affäre Samuel K ö n i g contra M a u p e r t u i s keineswegs eine persönliche Angelegenheit zwischen d e m großen »aufgeklärten« K ö n i g u n d d e m berühmten Voltaire gewesen ist, es war auch z u m wenigsten eine wissenschaftliche Diskussion, w o r a u f bereits E d u a r d Winter hingewiesen hat: »[DJenn es war keineswegs ein Privatstreit des Präsidenten [...], sondern es ging hier um eine grundsätzliche Auseinandersetzung, die deswegen auch mit dem >Königstreit< [...] keineswegs abgeschlossen war.« 423 G e g e n den in dieser grundsätzlichen Auseinandersetzung v o n Seiten Maupertuis' u n d Eulers unter Beihilfe von Merian u n d mit Unterstützung des K ö n i g s erfolgten M a c h t m i ß b r a u c h entwickelte sich die erste erfolgreiche u n d gleichberechtigte Z u s a m m e n a r b e i t europäischer Aufklärer für die Freiheit der öffentlichen D i s k u s s i o n u n d gegen den D e s p o t i s m u s , ohne die es nicht einmal eine wissenschaftliche Diskussion gegeben hätte. D a b e i ging es für die europäische aufgeklärte Öffentlichkeit, n a c h d e m sich Friedrich persönlich in diese Sache eingemischt hatte, keineswegs mehr allein u m den despotischen Akademiepräsisidenten. D a s große öffentliche E c h o dieser europäischen D e b a t t e in Frankreich, den Niederlanden, E n g l a n d , Italien, vor allem aber in d e n protestantischen Ländern des Alten Reiches für die Rechte Samuel K ö n i g s hatte nichts mehr mit d e m eigentlichen Anlaß der Auseinander-

423

Régistres, S. 55.

640

Jugement de L'Académie Royale

Setzung zu tun, weder mit einem Leibniz-Brief noch mit der Kritik des Leibnizianers Samuel König an den naturphilosophischen Auffassungen des prominenten Akademiepräsidenten Maupertuis, sondern richtete sich gegen das Verfahren dieses Präsidenten, seine Akademie dazu zu nötigen, eine wissenschaftliche Frage per Beschluß zu seinen Gunsten zu entscheiden, statt sie der öffentlichen wissenschaftlichen Diskussion zu überlassen. Indem Friedrich der Große sich unkritisch und parteiisch auf die Seite seines Akademiepräsidenten stellte, wurde er in diese rechtlich-politische Kritik der europäischen Aufklärer am Despotismus eingeschlossen. Daher hatte diese öffentliche Debatte nicht zuletzt auch Folgen für das Prestige Friedrichs als einem aufgeklärten König. Dieser hatte sich öffentlich, in völliger Unkenntnis sowohl der wissenschaftlichen wie der rechtlichen Diskussion, unkritisch und autoritär auf die Seite seines Präsidenten gestellt und hatte seine politische Macht zur Unterdrückung der Gegner des Präsidenten eingesetzt. Er war daher im Ergebnis dieser Debatte, durch das eindringliche Öffentlichmachen der ungerechten Handlungsweise der königlichen Akademie, der angemaßten Autorität des Präsidenten und durch das große Gelächter, dem sie ausgesetzt worden war, ebenso betroffen. Der europaweite Despotismusvorwurf gegen Maupertuis als dem Präsidenten der Königlichen Akademie galt also mehr oder weniger ausgesprochen auch dem König. Die ohnmächtige Wut Friedrichs, der Voltaire noch weiter verfolgen ließ, zunächst durch seine in der Vossischen Zeitung erschienenen Lettres au public, die Lessing übersetzt hat, und die unbeteiligten Lesern ohne Kenntnis der vorausgegangenen Debatte völlig unverständlich bleiben, 424 dann aber auch durch die Verhaftung Voltaires in Frankfurt, erklärt sich wohl auch durch die harten Konsequenzen des Voltaireschen Abgangs aus Berlin fiir ihn selbst und für seine öffentliche Reputation in Europa. Sanssouci verwaist mit dem Verlust Voltaires: La Mettrie war schon 1751 gestorben, Maupertuis kehrte nur für kurze Zeit nach Berlin-Potsdam zurück und auch d'Argens und Algarotti nehmen bald ihren Abschied. Die so berühmte Tafelrunde hat also nie länger gedauert als die knapp drei Jahre von 1750 bis 1752, und der Major von Kleist berichtet denn auch, daß eben seit dieser Zeit das Exerzieren Friedrichs massiv zugenommen habe. 425

424 Yg[ di e drei von Lessing übersetzten Lettres au public Friedrichs, deren Titel offenbar an den Appel au public erinnert. Nachdruck in: Gottfried Ephraim Lessings Übersetzungen aus dem Französischen Friedrich des Großen und Voltaires. Hg. Erich Schmidt. Berlin 1892, S. 3-24. 425

»Wir sind noch niemals so viel mit Exercieren angegriffen worden als dieses Jahr [...]. Der König fällt itzo noch mehr als sonst aufs Militaire, weil er durch den Verlust Voltairens, Maupertuis und aller seiner Freunde mehr ennuis als ehedem hat«. (Kleist an Bodmer am 22. 5.1753. Zitiert nach: Korff: Voltaire (wie Anm. 4), S. 600.)

Chronologie 15.4.1744 1744 1744 1747 1748

Ende 1750

30.1. 1751 März 1751 13.4.1752

Juni 1752

18.6. 1752 22.6.1752 11.7.1752

Juli 1752 Juli—Dez. 1752

August 1752 15.8.1752

Maupertuis trägt zum Prinzip der kleinsten Aktion an der Pariser Akademie vor. Eulers Methodus inveniendi Lineas Curvas erscheint. Cosmologie von Maupertuis erscheint. Preisfrage der Akademie zu Monaden. Maupertuis' Les Loix du Mouvement & du Repos, déduites d'un Principe de Métaphysique, die eine scharfe Kritik an Leibniz und Wolff enthalten, erscheinen in der Histoire de l'Académie. Mündliche Auseinandersetzung zwischen Maupertuis und Samuel König in Berlin über Les Loix du Mouvement & du Repos sowie über Leibniz und Wolff. Eulers Pensionszahlung wird auf Anordnung von Maupertuis von der Akademiekasse übernommen. Publikation von Samuel Königs Kritik an Maupertuis in den Acta eruditorum. Vollversammlung der Berliner Akademie, Beschluß des Jugement de L'Académie Royale des Sciences et Belles Lettres sur une Lettre prétendue de M. de Leibnitz, worin Samuel König beschuldigt wird, Maupertuis durch das Zitieren eines gefälschten Leibniz-Briefes des Plagiatsvorwurfs bezichtigt zu haben. Druck und Versendung des Jugement durch die Akademie. Abdruck des Jugement im Journal des sçavans sowie in den Mémoires der Berliner Akademie. Samuel König gibt unter Protest gegen das Jugement sein Patent über die Mitgliedschaft in der Berliner Akademie zurück. Kritische Rezension des Jugement in den Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen, hg. von Friedrich Otto Mencke. Die Spenersche Zeitung in Berlin, in deren Verlag Haude & Spener wie alle Publikationen der Akademie auch der Jugement erschien, publiziert eine respektvolle und deutlich zustimmende Anzeige des Jugement. Kritische Rezension des Jugement in den Göttingischen Gelehrten Zeitungen (wahrscheinlich von Kästner). Die Leidener Bibliothèque impartiale des Verlegers Luzac bringt eine umfassende und fortlaufende Besprechung der Diskussionsbeiträge zur Debatte, einschließlich der wissenschaftlichen Aufsätze. Kritische Rezension des Jugement in Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. Kritische Rezension des Jugement in den Hamburgischen Freyen Urtheilen (von Mylius).

642 18.8.1752

8. 9. 1752

September 1752

12./13.9.1752

15. u. 19.9.1752 Ende Sept. 1752

19.10.1752 27.10.1752 November 1752 Mitte Nov. 1752 24.11.1752 Herbst 1752

Mitte Nov. 1752

27.11.1752 Ende Nov. 1752 Anfang Dez. 1752

Jugement de L'Académie Royale In der Gazette de Cologne erscheint der Auszug eines Schreibens von einem Herrn de Jonge aus Utrecht über die von Maupertuis an die Obrigkeiten Samuel Königs versandten Schreiben, durch die dieser zum Schweigen veranlaßt werden sollte. In den Berlinischen Relationen erscheint ein anonymer Brief (von Euler), der sich gegen die Kritik der gelehrten Zeitungen am Jugement verwahrt. Voltaires Reponse d'un académicien de Berlin à un académicien de Paris erscheint zugleich im Journal des sçavans und in der Bibliothèque raisonnée. Samuel Königs Appel au publicVommx. mit der Post nach Berlin, enthaltend die Darstellung des vorausgegangenen wissenschaftlichen Streits, seinen Briefwechsel mit Maupertuis und Formey sowie die in seinem Besitz befindlichen Abschriften von Leibniz-Briefen. Abdruck und anonymer Kommentar zum Statement der Berlinischen Relationen in den Hamburgischen Freyen Urtheilen, von Mylius. Die drei Lettres conçernant le jugement von Euler, Maupertuis und Merian erscheinen, in denen die Leipziger und Hamburger Zeitungsschreiber geschmäht werden; in einem Appendix weist Euler bereits Samuel Königs Appel au public zurück. Die Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen rezensieren den Appel au public zustimmend. Die Hamburgischen Freyen Urtheile rezensieren den Appel au public zustimmend. Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit druckt Brief de Jonges aus Utrecht ab (s. oben). Die Lettre d'un académicien de Berlin à un académicien de Paris erscheint. Der anonyme Autor ist Friedrich II. In den Hamburgischen Freyen Urtheilen erscheint eine scharfe und ironische Kritik der Lettre. Es erscheinen in rascher Folge: Lettre d'un savant à le Marquis de L**N**, Extrait d'une lettre de Berlin du 12 Novembre 1752 und Lettre d'un académicien de Berlin à un académicien à London. Voltaire läßt seine Satire auf Maupertuis, die Diatribe du Docteur Akakia, médecin du Pape, in Potsdam mit einem falschen kgl. Privileg zum Druck befördern. Voltaire wird denunziert, von Friedrich II. zur Rede gestellt und zum Unterzeichnen einer Erklärung genötigt. Voltaire repliziert auf die Lettre des Königs mit seiner anonymen Lettre d'un académicien de Paris à un académicien de Berlin. Die 2. Auflage von Friedrichs Lettre d'un académicien de Berlin à un académicien de Paris erscheint mit kgl. Siegel.

Chronologie

643

8.12.1752

Die Hamburgischen Freyen Urtheile rezensieren die inzwischen publizierten Satiren auf Maupertuis und Euler. Friedrich II. geht ohne Voltaire nach Berlin. Voltaire geht nach Berlin und nimmt Quartier im Hause Franchevilles, des Vaters seines Sekretärs, am Gendarmenmarkt; er unterstellt sich dem Schutz des französischen Gesandten.

Mitte Dez. 1752

Voltaires Satire auf Maupertuis, die Diatribe du Docteur Akakia, méde21.12.1753

cin du Pape, erscheint in Leiden und erreicht auch Berlin. Euler liest in der Akademie sein Examen de la dissertation

de Mr. le

professeur Koenig. 23.12.1752

24.12.1752 25.12.1752

Anfang 1753

1.1.1753 4.1.1753

4.1.1753 29.1.1753 23.1.1753

Befehl des Königs zur öffentlichen Verbrennung des Dr. Akakia auf den öffentlichen Plätzen Berlins durch den Scharfrichter sowie zur öffentlichen Bekanntmachung dieses Befehls in den Zeitungen. Öffentliche Verbrennung des Dr. Akakia u. a. auf dem Gendarmenmarkt, unter den Fenstern Voltaires. Eine deutsche Übersetzung des Dr. Akakia mit beigefügten Spottversen auf Maupertuis wird durch Mylius auf den Straßen Berlins handschriftlich verbreitet. In Leiden erscheinen die Éloges, enthaltend die Éloges des Königs auf La Mettrie und Jordan sowie gewissermaßen als dritten Éloge seine

Lettre d'un académicien de Berlin à un académicien de Paris. Rezension des Appel au public in den Göttingischen Gelehrten Zeitungen. Besprechung der Lettres concernant le Jugement, der Lettre d'un académicien de Berlin à un académicien de Paris und der Lettre d'un Marquis in den Göttingischen gelehrten Zeitungen. Die Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen rezensieren die Lettre à un Marquis. Die Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen rezensieren den Dr. Akakia. Voltaires Dementi über seine Autorschaft am Dr. Akakia erscheint im

Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten und in anderen Zei18.2.1753 22.2.1753

tungen. Mylius geht von Berlin nach Leipzig.

Die Göttingischen Gelehrten Zeitungen rezensieren den Dr. Akakia. Euler trägt in der Akademie seine Dissertation

Februar 1753

sur le principe

de la

moindre action vor. Das Neueste aus dem Reiche des Witzes bringt 15 Seiten Rezensionen zu Streitschriften zur Debatte.

Februar 1753 8.3.1753

Erscheinen von Samuel Königs Defense de l'Appel au Public.

Eine Rezension der Defense erscheint in den Göttingischen Zeitungen.

Gelehrten

644 17.3.1753 26.3.1753

März 1753

Ende März 1753

16.3.1753 5.4.1753

März/April 1753

23.4.1753 April 1753 Anfang Mai 1753 29.5.1753 31.5.1753 Sommer 1753

Jugement de L'Académie Royale Voltaire geht nach Potsdam zu Friedrich und erhält von ihm seinen Urlaub. Voltaire geht nach Leipzig und hält sich dort mehrere Wochen auf. Es kommt zur Zusammenarbeit mit Gottscheds, die im Haus des Verlegers Breitkopf wohnen, der auch das Siècle de Louis XIV druckt. Publikation der Histoire de D. Akakia, einer Erweiterung der Satire sowie einer deutschen Sammlung fast aller Streitschriften der Debatte. Euler publiziert separat sein Examen de la dissertation de Mr. le professeur Koenig und seine Dissertation sur le principe de la moindre action; beide Schriften werden später auch in den Mémoires der Berliner Akademie fur 1751 (!) veröffentlicht. Publikation der Vollständigen Sammlung aller Streitschrifien, die neulich über das vorgebliche Gesetz der Natur, von der kleinsten Kraft, in den Wirkungen der Körper, zwischen dem Herrn Präsidenten von Maupertuis zu Berlin, Herrn Professor König in Holland, und andern mehr, gewechselt worden. Sulzer läßt in Berliner Zeitungen erklären, er habe nie förmlich gegen den Jugement protestiert. La Berlue remarquable des deux Philosophes, Les plus clair-voyans de ce siècle, vermutlich von Mylius verfaßt, erscheint. Im Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten erscheint eine Rezension der Vollständigen Sammlung. Die Éloges, die als dritten Teil die königliche Lettre d'un académicien de Berlin à un académicien de Paris enthalten, werden in den Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen besprochen, zugleich auch die vorhergehende Voltairsche Reponse de l'Academicien de Paris à l'Academicien de Berlin. Weitere Satiren erscheinen: Séance mémorable; LArt de bien argumenter en Philosophie, réduit en Pratique par un vieux Capitaine de Cavallerie, travesti en Philosophe; Traité de Paix conclu entre Mr. de Maupertuis et Mr. le Professeur Koenig. Die Göttingischen Gelehrten Zeitungen rezensieren die Séance mémorable. Die Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen rezensieren die Histoire de D. Akakia. Die 2. Auflage der Vollständigen Sammlung erscheint in Leipzig. Der Hamburgischer Unpartheyische Correspondent rezensiert die 2. Auflage der Vollständigen Sammlung. Rez. der 2. Auflage der Vollständigen Sammlung in den Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen. Erscheinen der Reponse à la Berlue remarquable de l'Étudiant de Wittemberg Philosophe du siècle à venir, wahrscheinlich von Euler verfaßt. Die 2. Auflage des Appel au public erscheint in Leiden.

Chronologie

Juli/August 1753

Juli-Dez. 1753

Oktober 1753 29.10.1753

645 Die Maupertuisiana, eine weitere fast vollständige Sammlung der Streitschriften dieser Debatte, erscheinen in Leiden. Die Bibliothèque impartiale rezensiert Eulers Examen de la dissertation de Mr. le professeur Koenig und seine Dissertation sur le principe de la moindre action sowie La Berlue remarquable des deux Phibsophes. Die Nouvelle Bibliothèque Germanique bringt eine Besprechung zum Band 7 (1751) der Histoire de l'Académie Royale des Sciences & Beiles Lettres mit den Dissertationen Eulers. Rezension der Maupertuisiana in Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. Rezension der Maupertuisiana in den Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen in Leipzig.

Quellenverzeichnis 1. Ungedruckte Quellen BERLIN Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz

Berlin-Dahlem.

Rep. XLVII: Friedrich II., C: Voltairiana, Nr. 6. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW). XVI. Nr. 223, Nr. 224, Nr. 225, Nr. 228. LEIPZIG Universitätsbibliothek Leipzig. Ms 0342 (Gottschedkorrespondenz). Bd. 2, 17, 18, 19. KRAKÖW Universität Krakow und Biblioteka Jagiellànska 15 Briefe von Christian Wolff aus der Varnhagen van Enseschen Sammlung der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Transkribiert und kommentiert von Stefan Lorenz (Berlin). Unveröffentlichtes Ms. (Ich danke Stefan Lorenz fur die freundliche Erlaubnis, daß ich schon vor der geplanten Veröffentlichung sein Manuskript benutzen konnte.)

2. Zeitungen und Zeitschriften Die Zeitungen und Zeitschriften werden mit den verwendeten Jahrgängen bzw. Nummern

angeführt.

Bibliothèque impartiale. Luzac: Leiden 1752. Bibliothèque raisonnèe des Ouvrages des Savans de l'Europe. Wetstein: Amsterdam Bd. 49. Oktober 1752, 1753. Correspondance littéraire, philosophique et critique par Grimm, Diderot, Raynal, Meister, etc. Revue sur les texts originaux. Par Maurice Tourneux. T. 1 u. T. 2. Garnier: Paris 1877. Freye Urtheile u. Nachrichten zum Aufnehmen der Wissenschaften und der Historie überhaupt. Grund: Hamburg. 1752, 1753. Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen. Göttingen. 1752, 1753. Hamburgische Berichte von gelehrten Sachen. Hamburg. 1752, 1753. Hamburgischer Unpartheyischer Correspondent. Hamburg. 1752, 1753. Histoire de l'Académie Royale des Sciences de Berlin pour l'année 1746. Haude et Spener: Berlin 1748. Journal des Sçavans. Amsterdam 1752, 1753. Neue Zeitungen von gelehrten Sachen. Leipzig 1752, 1753. Das Neueste aus der anmutigen Gelehrsamkeit (Hg. Christoph Gottsched). Breitkopf: Leipzig. Bd. 1 u. 2 (1752), Bd. 3 (1753). Das Neueste aus dem Reich des Witzes (Beilage zur Vossischen Zeitung. Hg. G. E. Lessing). 1751 (Zitiert nach LM 4, siehe dort). Nouvelle Bibliothèque Germanique, ou Histoire Littéraire de l'Allemagne, de la Suisse, & des Pays du Nord, Par Mr. Samuel Formey. Mortier: Amsterdam 1752, 1753.

Quellenverzeichnis

647

3. Autoren Briefe von Christian Wolff aus den Jahren 1719-1753. Ein Beitrag zur Geschichte der Kaiserlichen Académie der Wissenschaften zu St. Petersburg. Eggers: St. Petersburg 1860. Briefwechsel Friedrichs des Großen mit Grumbkow und Maupertuis (1731-1759). Hg. Reinhold Koser. Hirzel: Leipzig 1898. Briefwechsel Friedrichs des Grossen mit Voltaire. Hg. Reinhold Koser u. Hans Droysen. Bd. 2. Hirzel: Leipzig 1909. Châtelet, Emilie de: Les Lettres de la Marquise du Châtelet. Pubi, par Théodore Besterman. 2 Bde. Institut et Musée Voltaire: Genf 1958. Commercium epistolicum D. Johannis Collins et aliorum de analysi promota. Jussu Societatis Regiae in lucem editum. Tonson & Watts: London 1722. Copie de la lettre de M. de Maupertuis à Voltaire, de Berlin, du 3 April 1753. Bourdeaux, Libraire du Roy et de la Cour: Berlin o. J. [1753]. D'Alembert, Jean le Rond: Art. Cosmologie. In: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Nouvelle impression en facsimilé de la première édition de 1751-1780. Frommann-Holzboog: Stuttgart-Bad Cannstatt 1966. Vol. 4, S. 294-297. - Art. L'Action. In: Ebd. Vol. 1, S. 119f. D. Baumann [d.i. Maupertuis]: Dissertatio inauguralis metaphysica, de universali naturae systemate, pro gradu doctoris habita. Erlangen 1751. - Die franz. Übersetzung erschien mit dem Druckort Berlin, tatsächlich aber bei Prault [usw.] in Paris 1754 u. d.T. Essai sur la formation des corps organisés. Die Berliner und die Petersburger Akademie der Wissenschaften im Briefwechsel Leonhard Eulers. Teil 1. Hg. A. P. Juskevic u. Eduard Winter. Akademie-Verlag: Berlin 1959. Euler, Leonhard: Methodus inveniendi Lineas Curvas. Bousquet: Lausanne & Genf 1744. - Gedancken von den Elementen der Cörper: in welchen das Lehr-Gebäude von den einfachen Dingen und Monaden geprüfet und das wahre Wesen der Cörper entdecket wird. Haude & Spener: Berlin 1746. [Euler, Leonhard:] Rettung der göttlichen Ofifenbahrung gegen die Einwürfe der Freygeister. Haude & Spener: Berlin 1747. Euler, Leonhard: Introductio in Analysin infinitorum. Bousquet: Lausanne 1748. [Euler, Maupertuis, Merian:] Lettres conçernant le Jugement de l'academie. Berlin 1752. Euler, Leonhard: Dissertation sur le principe de la moindre action [in der Akademie vorgetragen 1751]. In: Histoire de l'Académie Royale des sciences et belles lettres pour l'année 1751. Haude & Spener: Berlin 1753, S. 199-218. - Dissertation sur le principe de la moindre action, avec l'examen des objections de Mr. Le Professeur Koenig faites contre ce principe. Michaelis: Berlin 1753 (Nachdruck Luzac: Leiden 1753). - Examen de la dissertation de M. le Professeur Koenig inserée dans les Actes de Leipzig pour le mois de Mars 1751 [in der Akademie vorgetragen im Dezember 1752]. In: Histoire de l'Académie Royale des sciences et belles lettres pour l'année 1751. Haude & Spener: Berlin 1753, S. 219-245. [Euler, Leonhard:] Reponse à la berlue remarquable de l'étudiant de Wittemberg philosophe du siècle à venir par un étudiant d'Halle. O. O. 1753. Euler, Leonhard: Leonhardi Euleri Opera omnia. Ser. 4 A: Commercium epistolicum cum d'Alembert et al. Bd. 5. Hg. Charles Blanc, Emil A. Fellmann, Asot Grigorijan, Walter Habicht, Adolf P. Juskevic, Galina P. Matvievskaja, Ernst Trost. Birkhäuser: Basel 1980. - Leonhardi Euleri Opera omnia. Ser. 4 A: Commercium epistolicum cum Pierre-Louis Moreau de Maupertuis et Frédéric II. Bd. 6. Ed. Pierre Costabel, Eduard Winter, Asot T. Grigorijan, Adolf P. Juskevic. Birkhäuser: Basel 1986. Extrait d'une Lettre d'un Académicien de Berlin, à un Membre de la Société Royale de Londres. O. O. o.J. Extrait d'une Lettre de Berlin du 12. Novembre 1752. O. O. o.J.

648

Jugement de L'Académie Royale

Formey, Jean-Henri-Samuel: Souvenirs d'un citoyen. De la Garde: Berlin 1789. [Friedrich II.:] Eloge du sieur de La Mettrie [...] avec le catalogue de ses ouvrages et deux lettres qui le concernent. [Hg. anonym], Berlin [Leiden] 1752. -

Lettre d'un académicien de Berlin à un académicien de Paris. Bourdeaux: Berlin 1752 (2. Aufl. 1752).

-

Eloges de trois Philosophes. De ses mains toujours chastes/ Il écrit dans leur fastes/ Quelques noms immortels. Ode d. R. d. P. [Hg. anonym]. London [Leiden] 1753.

Friedrich II.: Lettres au public. Berlin 1753. Nachdruck in: Gottfried Ephraim Lessings Ubersetzungen aus dem Französischen Friedrich des Großen und Voltaires. Hg. Erich Schmidt. Hertz: Berlin 1892. -

Œuvres de Frédéric le Grand. T. 27.1. Berlin 1856.

Jugement de l'Academie Royale des Sciences et Belles-Lettres. Sur une Lettre pretendue de Mr. Leibnitz. Berlin 1752 (lat./frz.). Justi, Johann Heinrich Gottlob, Ihro Hoheit der verwittweten Herzogin zu Sachsen-Eisenach Rath, zeiget in dieser Schrift die Nichtigkeit aller Einwürfe und unhöflichen Anfälle, welche wider seine Untersuchung der Lehre von den Monaden und einfachen Dingen zum Vorschein gekommen sind, und leget denen Unpartheyischen den Ungrund der Lehre von den Monaden und einfachen Dingen fernerweit klar vor die Augen. Frankfurt, Leipzig 1748. -

Nichtigkeit und Ungrund der Monaden. Halle 1748.

-

Untersuchung über das System der Monaden. In: Dissertation qui a remporté le prix de l'Académie des sciences. Haude & Spener: Berlin 1748. Kästner, Abraham Gotthelf: Vermischte Schriften. 1. Teil. Richter: Altenburg 1773 (2. Aufl.). - Briefe aus sechs Jahrzehnten 1 7 4 5 - 1 8 0 0 . Behr: Berlin-Steglitz 1912. König, Samuel: De Universali Principio Aequilibrii et motus, in Vi viva reperto, deque nexu inter Vim vivam & Actionem, utriusque Minimo, Dissertatio. In: Acta eruditorum. März 1751, S. 1 6 2 - 1 7 6 . [König, Samuel:] Appel au public du Jugement de L'Academie Royale de Berlin sur un Fragment de Lettre de Mr. De Leibnitz, cité par Mr. Koenig. Appendice, contenant les Lettres ecrites par Mess, de Maupertuis & Formey d'une part, & Mr. Koenig de l'autre. &c. Luzac: Leiden 1752 (2. Aufl. 1753). König, Samuel: Defense de l'Appel au Public: ou Reponse aux Lettres concernant le Jugement de l'Academie de Berlin, adressée à Mr. de Maupertuis. Luzac: Leiden 1753. [König, Samuel:] Berufung auf das gemeine Wesen [Appel au public, dt.]. In: Vollständige Sammlung, siehe dort. L'Art de bien argumenter en Philosophie, réduit en Pratique par un vieux capitaine de cavallerie, travesti en philosophe. Hambourg 1753. La Mettrie, Julien Ofifray de: Le petit homme à la longue queue. O . O . o. J . Leonhard Euler und Christian Goldbach. Briefwechsel 1 7 2 9 - 1 7 6 4 . Hg. Adolf Juskevic u. Eduard Winter. Akademie-Verlag: Berlin 1965. Lessing, Gotthold Ephraim: Vorrede zu: Chr. Mylius, Vermischte Schriften. Hg. G . E . Lessing. Berlin 1754. In: L M 6, S. 3 9 2 - 4 0 8 (siehe LM). -

Sämtliche Schriften. Hg. Karl Lachmann. Dritte, auf's neue durchgesehene und vermehrte Auflage besorgt durch Franz Muncker. Nachdruck de Gruyter: Berlin 1968 (abgekürzt LM).

Lettre de Mr. le Marquis de L** N " à Madame la Marquise A** G** sur le procès intenté par Mr. Moreau Maupertuis, contre Mr. König, devant l'academie royale de Berlin. À Londres 1752. Lichtenberg, Georg Christoph: Sudelbücher. Heft F 7 4 1 . In: Ders.: Schriften und Briefe. 1. Bd. Zweitausendeins: Frankfurt/M. 1994. L M , siehe Lessing. Maupertuis, siehe auch unter Euler und D. Baumann. Maupertuis, Pierre Louis de: Les Loix du Mouvement & du Repos, déduites d'un Principe de Métaphysique. In Histoire de l'Académie Royale des Sciences et Belles lettres. Année M D C C X L V I . Haude & Spener: Berlin 1748, S. 2 6 7 - 2 9 4 .

Quellenverzeichnis

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Reponse à un Mémoire de M . d'Arcy inséré dans le Volume de l'Académie Royale des Sciences de Paris pour l'Année 1749. In: Histoire de l'Académie Royale des Sciences et Belles lettres pour l'année MDCCLII. Haude & Spener: Berlin 1754, S. 2 9 3 - 2 9 8 . Maupertuis et ses correspondants. Lettres inédites du Grand Frédéric, du prince Henri de Prusse, de La Beaumelle, du Président Hénault, du Comte de Tressan, d'Euler, de Kaestner, de Koenig, de Haller, de Condillac, de l'Abbé d'Olivet, du Maréchal d'Ecosse etc. [...] par M. L'Abbé A. le Sueur. Montreuilsur-Mer 1896. Maupertuisiana. Hambourg [Leiden] 1753. Mémoire sur les Monades. In: Journal des Savans. Additamentum de l'Edition de Hollande. April 1753. Bd. 166, S. 4 3 3 - 4 7 5 . Merian, siehe unter Euler. Mylius, Christlob: Versuch einer Cosmologie von dem Herrn von Maupertuis. Aus dem Französischen üb. [von Christlob Mylius]. Nicolai: Berlin 1751. [Mylius, Christlob:] Rez. zu: Versuch einer Cosmologie von dem Herrn von Maupertuis. Aus dem Französischen üb. Nicolai: Berlin 1751. In: Vossische Zeitung. 44. St. 13.4.1751. Nachdruck in: Von gelehrten Sachen. Im Jahrgang 1751 der Berlinischen Privil. Zeitung. Hg. Bruno A. Wagner. 1. T. Paetel: Berlin 1889 (Berliner Neudrucke, 5), S. 4 3 - 4 5 . - La Berluë Remarquable des deux Philosophes, Les plus clair-voyans de ce Siècle. Par un Étudiant en Philosophie de l'Université de Wittenberg. Wittemberg 1753. Schreiben des Herrn Marquis von L** N** an die Frau Marquisin von A** G**, über den von dem Herrn Moreau Maupertuis, wider Herrn Königen von der königlichen Akademie angesponnenen Proceß. In: Vollständige Sammlung (siehe dort). Schreiben des Hn. T** an den Hn. S**. In: Vollständige Sammlung (siehe dort). Schreiben eines Mitgliedes der Akademie der Wißenschaften zu Berlin an ein Mitglied der Akademie der Wißenschaften zu Paris. O. O. und o. J. Séance mémorable. O. O. und o. J. Traité de paix conclu entre Mr. Le President de Maupertuis et Mr. Le Professeur Koenig. Berlin [Hambourg] 1753. Vollständige Sammlung aller Streitschriften, die neulich über das vorgebliche Gesetz der Natur, von der kleinsten Kraft, in den Wirkungen der Körper, zwischen dem Herrn Präsidenten von Maupertuis zu Berlin, Herrn Professor König in Holland, und andern mehr, gewechselt worden. Unpartheyisch [von Luise Adelgunde Victoria Gottschedin] ins Deutsche übersetzet. Breitkopf: Leipzig 1753 (2. Aufl. 1753).

In der zweiten Auflage dieser Sammlung sindfolgende -

ins Deutsche übersetzte Schriften

enthalten:

Die Gesetze der Bewegung und der Ruhe aus einem metaphysischen Grundsatze hergeleitet vom Herrn Maupertuis. Auszug aus dem neuen Büchersaale der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Herrn Sam. Königs Abhandlung de Universali Principio aequilibri & motus, aus den Actis Erud. Lips. Urtheil der königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin über einen vorgeblichen Brief des Herrn von Leibnitz. Auszug aus den leipziger gelehrten Zeitungen. Auszug aus den hamburgischen freyen Urtheylen. Beruffimg auf das gemeine Wesen von dem Urteilsspruche der königlichen Akademie der Wissenschaften. Anhang, die Briefe enthaltend, welche die Herren von Maupertuis und Formey an einer, und Herr König an der andern Seite, miteinander gewechselt haben. Auszug aus dem Londoner Magasin françois. Drey Briefe, den Urteilsspruch der Akademie betreffend. Auszug eines Schreibens von einem Akademisten zu Berlin, an ein Mitglied der königlichen Societät zu London.

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Jugement de L'Académie Royale

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Antwort eines Mitgliedes der Akademie zu Berlin, an ein Mitglied der der Akademie zu Paris.

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Schreiben eines akademischen Mitgliedes zu Berlin, an ein akademisches Mitglied zu Paris. Antwort des parisischen Akademisten an den Akademisten zu Berlin.

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Schreiben des Herrn Marquis von L. N. an die Frau Marquisin A. G.

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Auszug eines Schreibens aus Berlin den 12. Nov. 1751.

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Schreiben eines Gelehrten an den Herrn Marquis L. N. Vertheidigung der Beruffung auf das gemeine Wesen; oder Antwort auf die Briefe, den Urtheilsspruch betreffend.

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Diatribe des Doktors Akakia, päbstlichen Leibarztes, Decret der Inquisition, und Bericht der Professoren zu Rom, wegen eines vorgeblichen Präsidenten.

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Die merkwürdige Versammlung.

- Vergleich zwischen dem Herrn Präsidenten von Maupertuis, und dem Herrn Professor König. [Voltaire:] Rez. zu: Les œuvres de Monsieur de Maupertuis. In: Journal des Sçavans. Bd. CLXIII. Septembre 1752, S. 5 2 4 - 5 4 1 . -

Reponse d'un académicien de Berlin à un académicien de Paris. À Berlin le 18 Septembre 1752. In: Journal des Sçavans. Bd. 163. Septembre 1752, S. 5 5 9 - 5 6 1 .

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Histoire du Docteur Akakia et du Natif de St. Malo. O . O . 1753. Diatribe du docteur Akakia, Médecin du Pape. Decret de l'inquisition; et Rapport des professeurs de Rome, au sujet d'un prétendu président. Rome [Leiden] 1753.

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T h e diatriba o f Doctor Akakia, the pope's physician; the decree o f the inquisition, and the report o f the professors o f Rome in regard to a pretended président. Rome 1753.

Voltaire: Correspondence and related documents. Definitive Edition by Theodore Besterman. In: The complète works of Voltaire. Institute et Musée Voltaire. Les Delices. Bd. I - L I (Bd. 8 5 - 1 3 5 ) . Genf 1 9 6 8 - 7 7 . -

L'Akakia de Voltaire. Edition critique (Studies on Voltaire, 30). G e n f 1964.

4. Gedruckte Quellen in Dokumentationen Bernoullis Archiv zur neuern Geschichte, Geographie, Natur- und Menschenkenntniß. Bd. 5. Beer: Leipzig (1786/87). Boening, Holger: Deutsche Presse. Biobibliographische Handbücher zur Geschichte der deutschsprachigen periodischen Presse von den Anfängen bis 1815. Bd. 1.1: Ders./Emmy Moepps: Hamburg. Kommentierte Bibliographie der Zeitungen, Zeitschriften, Intelligenzblätter, [...] sowie biographische Hinweise zu Herausgebern, Verlegern und Druckern periodischer Schriften von den Anfängen bis 1765. Frommann-Holzboog: Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, Sp. 5 0 3 - 5 1 0 (Hamburgische Freye Urtheile) und Sp. 1 7 7 - 2 2 0 (Hamburgischer Unpartheischer Correspondent). Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Gessner. Aus Gleims litterarischem Nachlasse. Hg. Wilhelm Körte. Gessner: Zürich 1804. Briefe eines Berliner Journalisten aus dem 18. Jahrhundert. Mitgeteilt von Ernst Consentius. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. Fromme: Leipzig, Wien. 10 (1903), S. 5 1 8 - 5 4 9 sowie S. 7 7 6 787. Danzel, Theodor W.: Gottsched und seine Zeit. Auszüge aus seinem Briefwechsel. Dyck: Leipzig 1848. Geiger, Ludwig: Ein Brief von Chr. Mylius an Haller. In: Vierteljahresschrift für Litteraturgeschichte 3 (1890), S. 3 6 7 - 3 7 3 . Harnack, Adolph von: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 3 Bde. Reichsverlag: Berlin 1900. Kabitz, Willy: Über eine in Gotha aufgefundene Abschrift des von Samuel König in seinem Streit mit Maupertuis und der Akademie veröffentlichten, seinerzeit fur unecht erklärten Leibnizbriefes. In: Sitzungsberichte der Kgl. Preuss. Ak.d. Wiss. Jg. 1913. 2. Hbbd. (Juli-Dezember). Berlin 1913, S . 6 3 2 638.

Quellenverzeichnis

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Kaulfuss-Diesch, Carl: Maupertuisiana. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen. 39 (1922), S. 5 2 5 - 5 4 6 . Leonhard Eulers Wirken an der Berliner Akademie der Wissenschaften 1741-1766. Spezialinventar. Regesten der Euler-Dokumente aus dem Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der D D R . Bearb. Wolfgang Knobloch. Akademie-Verlag: Berlin 1984. Lessing, Gotthold Ephraim: Gesammelte Werke. Hg. Paul Rilla. Aufbau: Berlin 1954. Bd. 2, S. 5 1 7 - 5 2 9 [dokumentiert politische Beiträge der Vossischen Zeitung]. Magnan, André: Dossier Voltaire en Prusse (1750-1753). Voltaire Foundation at the Taylor Inst.: Oxford 1986 (Studies on Voltaire, 244). Mittheilungen der naturforschenden Gesellschaft in Bern. Haupt: Bern 1845. Nr. 43, 44, 46, 47, 48 u. 49. Suchier, Wolfram: Gottscheds Korrespondenten. Gottsched-Verlag: Berlin 1912. Trillmich, Rudolf: Christlob Mylius. Ein Beitrag zum Verständnis seines Lebens und seiner Schriften. Diss. Phil. Leipzig 1914, Beilagen. Wieland und Martin und Regula Künzli. Ungedruckte Briefe und wiederaufgefundene Actenstücke. Hg. Ludwig Hirzel. Hirzel: Leipzig 1891. Winter, Eduard: Die Registres der Berliner Akademie der Wissenschaften 1746-1766. Dokumente für das Wirken Leonhard Eulers in Berlin. Akademie-Verlag: Berlin 1957.

URSULA GOLDENBAUM

Lessing contra Cramer zum Verhältnis von Glauben und Vernunft Die Grundsatzdebatte zwischen den Literaturbriefen und dem Nordischen Aufseher

1. Der Anlaß der Debatte: Lessings Rezension des Nordischen Aufiehers in den Literaturbriefen 2. Die Prominenz der Verfasser des Nordischen Aufiehers 3. Die grundlegende Bedeutung der von Lessing bestrittenen Positionen 4. Die ersten Reaktionen auf die Kritik der Literaturbriefe 5. Basedows Verteidigung des Nordischen Aufiehers und sein Versuch einer moralischen Vernichtung der Literaturbriefe 6. Die öffentliche Reaktion auf Basedows Angriff gegen die Literaturbriefe 7. Die Reaktion der Literaturbriefe 8. Die öffentlichen Reaktionen auf die zweite Serie der Literaturbriefe 9. Die öffentliche Debatte als Auseinandersetzung von Parteien 10. Der Zusammenhang der Schreibart mit der finanziellen Basis der Zeitschriften in dieser öffentlichen Debatte 11. Die Strategien des Überzeugens des Publikums 12. Nachwehen der öffentlichen Debatte

Lessing gilt längst als der große Streiter, der in zahlreichen Debatten der deutschen Aufklärung Partei ergriffen und selber oft genug solche öffentlichen Debatten ausgelöst hat. Seine Streitschriften bilden einen quantitativ wie qualitativ erheblichen Bestandteil seines Werkes, und sie sind Gegenstand vieler Untersuchungen geworden. Dabei wurden vor allem in den letzten Jahrzehnten auch methodisch neue Fragestellungen diskutiert, so vor allem die Frage nach dem Handlungscharakter seiner verbalen Auseinandersetzungen sowie die nach den Strategien seiner Streitschriften. 1 Ganz überwiegend wird Lessing bescheinigt, daß die »Kühnheit und Unerschrockenheit seines Auftretens« zu Veränderungen in Richtung auf Freiheit und Toleranz geführt haben, daß er gegen angemaßte Autorität 2 und Zensur 3 das

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Bruno Markwardt: Studien über den Stil G. E. Lessings im Verhältnis zur Aufklärungsprosa. VI. Studie: Die Kampfprosa (Das Werden der Kampfprosa: Frühformen). In: Wiss. Ztschr. der Univ. Greifswald. Gesellschafts- u. sprachwiss. Reihe 3 (1953) 4, S. 159-180; Werner Gaede: Die publizistische Technik in der Polemik Gotthold Ephraim Lessings. Phil. Diss. Masch.schr. Berlin 1955, 143 S.; Norbert W. Feinäugle: Lessings Streitschriften. Überlegungen zu Wesen und Methode der literarischen Polemik. In: Lessing Yearbook 1 (1969), S. 126-149; Dan L. Flory: Lessing, Mendelssohn, and »Der Nordische Aufseher«: a Study in Lessings Critical Procedure. In: Lessing Yearbook 7 (1975), S. 127-148; Winfried Barner: Lessing und sein Publikum in den frühen kritischen Schriften. In: Edward P. Harris, Richard E. Schade (Hg.): Lessing in heutiger Sicht. Bremen, Wolfenbüttel 1977, S. 3 2 3 - 3 4 3 (im folg. Barner: Lessing und sein Publikum); Wolfram Mauser: Toleranz und Frechheit. Zur Strategie von Lessings Streitschriften. In: P. Freimark, F. Kopitzsch, H. Slessarev (Hg.): Lessing und die Toleranz. Detroit, München 1986, S. 276-290 (im folg. Mauser: Toleranz und Frechheit); Klaus L. Berghahn: »Zermalmende Beredsamkeit«. Lessings Literaturkritik als Polemik. Ein Essay. In: Lessing Yearbook 24 (1992), S. 2 5 - 4 3 ; Winfried Barner: Autorität und Anmaßung. Uber Lessings polemische Strategien, vornehmlich im antiquarischen Streit. In: Streitkultur. Strategien des Uberzeugens im Werk Lessings (Referate der Internationalen Lessing-Tagung in Freiburg i.B. 1991). Hg. Wolfram Mauser, Günter Säße. Tübingen 1993, S. 15-37 (im folg. Barner: Autorität und Anmaßung); Wolfram Mauser: Streit und Freiheitsfähigkeit. Lessings Beitrag zur Kultur des produktiven Konflikts. In: Ebd., S. 3—14; Hans-Georg Werner: Der Streit und die Toleranz bei Lessing. In: Formen und Formengeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Hg. Franz Josef Worstbrock, Helmut Koopmann. Tübingen 1986 (Albrecht Schöne [Hg.]: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen GermanistenKongresses Göttingen 1985. Bd. 2), S. 152-159.

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So Barner: Autorität und Anmaßung (wie Anm. 1), S. 36. »Lessings Biographie liest sich wie eine leidvolle Probe auf das Exempel eines freimütig-offenen, die eigene Existenz nicht schonenden, aber auch Irrwege riskierenden Denkens.« (Mauser: Streit und Freiheitsfähigkeit (wie Anm. 1), S.4.) Bereits Heine stellte diesen Aspekt der Freiheit und Unabhängigkeit der Lessingschen Kritik in den Mittelpunkt seiner Lessing-Darstellung, vgl. Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: H. Heine: Säkularausgabe. Werke - Briefwechsel - Lebenszeugnisse. Hg. von den Nat. Forschungs- u. Gedenkstätten d. klass. dt. Literatur in Weimar u. dem CNRS in Paris. Bd. 8. Bearb. v. Renate Francke. Akademie-Verlag: Berlin 1972, S. 186-191.

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Lessing contra Cramer

aufklärerische Programm Kants, seine Vernunft öffentlich zu gebrauchen, praktizierend vorweggenommen habe. Andererseits sind — trotz allem Respekt gegen den großen Lessing — schon von Zeitgenossen 4 wie auch in der späteren Forschung vorsichtige bis entschiedene Vorbehalte gerade gegen seine Streitbarkeit bzw. gegen seine »Streitkultur« vorgebracht worden, die das Verhältnis von polemischem A u f w a n d Lessings zur erzielten theoretischen bzw. polemischen W i r k u n g für inadäquat erklären. So werden Zweifel angemeldet, inwieweit seine Kontroversen tatsächlich »zur Klärung in der Sache« 5 beitragen konnten. Es wird beklagt, daß Lessing sich in seinen Debatten mit mediokren Gegnern auseinandergesetzt habe; außerdem seien auch die Gegenstände seiner Auseinandersetzungen oft nur unbedeutend gewesen. Folgerichtig wird sogar — nicht ohne stillen Vorwurf an Lessing — seine verschwendete Energie bedauert. 6 Zu Recht konstatiert daher W i n f r i e d Barner, daß das zeitgenössische Herdersche Urteil über die sogenannten »Klotzhändel«, die »zu armselige Dinge« und »zu armselige Leute« 7 betroffen hätten, in der Lessing-Rezeption »Karriere gemacht« 8 hat und weithin verallgemeinert wurde. Dies k o m m t auch in dem bekannten Ausruf Heines zum Ausdruck: »Ja, Polemik war die Lust unseres Lessings, und daher überlegte er nie lange, ob auch der Gegner

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seiner

würdig

war.« 9 Aber diese von Heine durchaus positiv gewertete Lust am

»Sprechen Sie auch den Herrn Lessing? Ich sollte es denken, ob er gleich den Herrn Lange vernichtiget hat - Vergeben Sie ihm das, da er uns Horatzen gerettet hat [...].« (Friedrich Wilhelm Zachariae an Gleim am 10.12.1754. In: Lessing. Dokumente zur Wirkungsgeschichte 1755-1968. Teil 1. Hg. Edward Dvoretzky. Göppingen 1971 [Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 38], S. 7 [im folg. Lessing: Dokumente zur Wirkungsgeschichte].) Immerhin ist in dieser zeitgenössischen Bemerkung auch der Anlaß der vernichtenden Kritik genannt, die Langeschen Übersetzungen des Horaz. Barner zahlt weitere zeitgenössische Urteile auf, vgl. Barner: Autorität und Anmaßung (wie Anm. 1), S. 16f. »Die Kühnheit und Unerschrockenheit seines Auftretens haben mehr bewirkt, als seine Kontroversen an Klärung in der Sache zustande bringen konnten.« (Mauser: Streit und Freiheitsfähigkeit (wie Anm. 1), S. 4.) Kurios wird dieser Vorwurf, wenn Lessing in oberlehrerhaftem Ton Vorschläge gemacht werden, was wichtiger gewesen wäre als Streitschriften: »Lessings zahlreiche publizistische Streitzüge kosteten ihn viel Zeit und Energie, und manchmal fragt man sich, ob Aufwand und Ergebnis nicht in einem disproportionalen Verhältnis zueinander stehen. Seine polemische Feder richtete sich gegen viele kleine Geister, die er so verewigte, obwohl weder die Personen noch die Gegenstände so viel Aufmerksamkeit verdient hätten. Aber indem er sich auf die journalistischen Tagesgeschäfte einließ, was mit dem erbärmlichen Brotberuf eines freien Schriftstellers notwendig zusammenhing, blieb Wichtigeres auch unerledigt: Über die Polemik gegen Gottsched versäumte er, Grundsätzlicheres über Shakespeare zu schreiben; statt sich über den Lyriker Dusch zu ärgern, hätte er Klopstock mehr Aufmerksamkeit widmen können - vom jungen Goethe, den er verkannte, ganz zu schweigen; weniger Klotz-Polemik wäre vielleicht Winckelmann zugute gekommen; und so interessant der Fragmentenstreit auch war, eine Spinoza-Abhandlung wäre wichtiger gewesen.« (Berghahn: »Zermalmende Beredsamkeit« (wie Anm. 1), S. 39.) Kant, Schiller und Winckelmann hätten sich dagegen den wichtigeren Fragen der Epoche zugewandt. Herders Sämmtliche Werke. Hg. Bernhard Suphan. 15. Bd. Weidmann: Berlin 1888, S. 499 (im folg. Herders Sämmtliche Werke). Barner: Autorität und Anmaßung (wie Anm. 1), S. 35 f. Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (wie Anm. 3), S. 187. Heine spricht auch von den »winzigen Schriftstellerlein«, die sich in den Lessingschen Werken »nun für ewige

Lessing contra Cramer

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Streiten als solchem, als Lessings polemisches Naturell apostrophiert, wird i m m e r öfter mit einem gewissen U n b e h a g e n thematisiert: Lessing sei zu streitsüchtig, 1 0 er attackiere den Gegner, er sei mitunter ungerecht, es gehe i h m nicht bloß u m die Sache, sondern er suche den Gegner zu vernichten, 1 1 er maße sich in seiner Art zu streiten mitunter selber Autorität an, 1 2 j a oftmals heilige ihm der Zweck die Mittel. 1 3 D i e Schärfe des Tons in Lessings Streitschriften wurde sogar auch schon z u m Anlaß g e n o m m e n , nach einer kompensatorischen Funktion dieser Streitbarkeit zu fragen. 1 4 Barner bezweifelt sogar, daß Lessing in seinen

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Zeiten, wie Insekten, die sich in einem Stück Bernstein verfangen« haben und so »durch seine Polemik [...] der wohlverdienten Vergessenheit entrissen« worden wären (ebd.). In Hinblick auf die Klotzhändel meint Barner, das »Willentliche, ja Forcierte des Streitsuchens [...] vor allem bei Lessing mit Händen [...] greifen« zu können (Barner: Autorität und Vernunft (wie Anm. 1), S. 31). Er beschreibt Lessings Schreibart als Gewaltrhetorik und moniert eine Verwendung billiger Grobianismen und persönlicher Anzüglichkeiten in seinen Streitschriften gegen Klotz. Auch Berghahn tadelt: »Man kann, auch wenn man die gerechte Sache verficht, auf schreckliche Weise recht haben; will sagen: der Wahrheitssucher Lessing, der polemisch für sie streitet, kann auch inhuman werden, indem er seine Gegner zu Opfern seiner Polemiken macht.« (Berghahn: »Zermalmende Beredsamkeit« (wie Anm. 1), S. 39.) »The opponents [...] were being distorted as persons while their ideas were being criticized. It was not even necessary for the distortion to be intentional because characterization is already a form of distortion.« (Flory: Lessing, Mendelssohn, and »Der Nordische Aufseher« (wie Anm. 1), S. 142.) Ebenso Berghahn, immerhin Lessing noch das Ziel der Wahrheit einräumend: »Aber manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der lautere Lessing eine grausame Lust daran hatte, seine Gegner um der Wahrheit willen zu vernichten.« (Berghahn: »Zermalmende Beredsamkeit« (wie Anm. 1), S. 39.) Barner konstatiert für die Klotzhändel, »daß zu dieser fälligen Decouvrierung und Destruierung angemaßter Autorität ein beträchtliches Stück gewalthaft vorgehender eigener Autoritäts-Anmaßung gehörte.« (Barner: Autorität und Anmaßung (wie Anm. 1), S. 37.) »Lessing constructed his arguments according to his purpose, even if it sometimes meant being unfair to an opponent.« (Flory: Lessing, Mendelssohn, and »Der Nordische Aufseher« (wie Anm. 1), S. 127.) Und noch nachdrücklicher heißt es: »He had a clear primary purpose in writing, but it was not just literary - it was to discredit Cramer and his friends for their insults to Kauke, Nicolai and Mendelssohn. It became necessary to seek out the errors which would then substantiate the forgone conclusion that Cramer's writings were of poor quality. [...] Whenever it was decided that an author or a work needed to be criticised, it was understood that the means justified the end. According to this formula Lessing named his opponents or tried to guess their identity, and rebutted their arguments individually, juxtaposing their quotations and his refutations of them. Even more important, he prejudiced his argument by creating a framework of generalizations [...] in universal terminology, thereby giving himself the freedom to define the generalizations further in any terms he chose.« (S. 141 f.) Auch Berghahn will das erkennen: »Offensichtlich braucht Lessing einen angesehenen Widersacher, mit dem sich zu streiten lohnt, und die Polemik ist ihm Mittel zum Zweck, um zum Kern des behandelten Problems vorzustoßen und sich seine eigene Meinung zu bilden.« (Berghahn: »Zermalmende Beredsamkeit« (wie Anm. 1), S. 27.) »Sind Lessings Fehden >Ersatzhandlungen