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German Pages 398 [400] Year 2018
Dorothee Schmitt Das Selbstaufhebungsargument
Quellen und Studien zur Philosophie
Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler und Michael Quante
Band 136
Dorothee Schmitt
Das Selbstaufhebungs argument
Der Relativismus in der gegenwärtigen philosophischen Debatte
ISBN 978-3-11-058264-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-058426-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-058288-8 ISSN 0344-8142 Library of Congress Control Number: 2018944645. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich 2015 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn verteidigt habe. Der Erfolg dieser Arbeit wäre ohne die Unterstützung vieler Personen nicht möglich gewesen, denen ich an dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank aussprechen möchte. Meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Markus Gabriel, danke ich für die immer inspirierende und herausfordernde Zusammenarbeit. Ohne seine unzähligen Anregungen und Gedanken zu möglichen Angriffspunkten der vorliegenliegenden Arbeit und weit darüber hinaus, wäre nicht nur diese Arbeit ärmer, sondern auch mein philosophischer Horizont kleiner. Meinem Zweitgutachter, Herrn Prof. Dr. Michael Forster, danke ich für seine andauernde Unterstützung und dafür, dass er seinen Enthusiasmus für das Thema des Relativismus mit mir geteilt hat und mir mit seinem umfangreichen Wissen zur Seite stand. Mein Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Luca Castagnoli, bei dem ich während der Erstellung der vorliegenden Arbeit einen Forschungsaufenthalt an der Durham University verbringen durfte, während dessen ich von seiner beeindruckenden Aufmerksamkeit für Details und argumentative Subtilitäten profitieren konnte. Für die vielen wertvollen Diskussionen während der Erstellung der vorliegenden Arbeit gilt mein Dank meinen Kommilitonen und Freunden Philip Freytag, Abby Rutherford und insbesondere Marius Bartmann, der nicht nur mein unnachgiebigster Kritiker war, sondern auch durch seine andauernde Unterstützung einen unersetzlichen Beitrag zu dem Zustandekommen dieser Veröffentlichung geleistet hat. Dem Evangelischen Studienwerk Villigst danke ich für die Förderung dieser Arbeit durch ein Promotionsstipendium und die Finanzierung eines Forschungsaufenthaltes an der Durham University. Bonn, im Februar 2018
https://doi.org/10.1515/9783110584264-001
Dorothee Schmitt
Inhalt Einleitung . . .. .. . . .. .. . .. ..
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Viele Relativismen, eine Definition? 14 Globaler und lokaler Relativismus 16 21 Eingrenzung des Bereichs der zu behandelnden Theorien Die Rationalitätsdebatte 23 Der Relativismus und das Ziel einer konsistenten Theorie 32 Der epistemische Relativismus 39 43 Der Relativismus als semantische Theorie Indexikalischer und echter Relativismus 45 Anwendung auf andere Theorien 47 50 Globale Formen des Relativismus Ein gemeinsames Phänomen 55 Relativistische Interpretationen und absolutistische 56 Ausweichversuche .. Ein Kontrast zum semantischen Relativismus 62 .. Annäherung an die Unterschiede der globalen Relativismen 65 68 .. Bedeutungsrelativismus ... Vorläufer 70 .... Inkommensurabilität 71 .... Whorfs Erbe 81 83 .... Carnaps Erbe ... Davson-Galle 85 .. Der alethische Relativismus 87 ... Meiland 88 ... Goodman 91 .. Der metaphysische Relativismus 95 ... Rappaport, Lynch und die drei globalen Relativismen 97 ... Putnam 101 .. Noch einmal alethischer Relativismus 103 . Der logische Relativismus 107 .. Ansatzpunkte für eine relativistische Theorie der Logik 108 .. Bueno 111 ... Drei Formen des Pluralismus 111 .... Pluralismus der reinen Logik 111 .... Theoretischer Pluralismus 112
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... .... .... ... .. . .. .. ... ... ... .. . .. .. .. .. ..
Inhalt
Gründe für den Pluralismus 119 119 Unterbestimmtheit Non-apriorism als Erkenntnistheorie der Logik 122 Ist Buenos Pluralismus ein Relativismus? 135 Quine 137 143 Rahmen Wittgensteinʼsches Caveat 144 147 Große und kleine Rahmen Individuierung 147 Subjektivismus 150 151 Große Gruppen als Träger Offene und geschlossene Rahmen 156 Relativismusdefinitionen 162 163 Siegel Boghossian 167 Hales 175 183 Bennigson Kölbel 186
Selbstaufhebung 190 194 . Platons Argument .. Protagorasʼ Position 194 .. Erste Annäherung an das Argument 198 202 .. Relativierungen .. Burnyeats Brücke 203 ... Ein Problem für die Identifizierung 206 ... Ein Rettungsversuch 207 .. Castagnoli 210 ... Emilsson 211 ... Der entscheidende Schritt 213 ... Warum keine Erklärung? 215 ... Dialektischer Kontext 217 .. Bedeutung für die gegenwärtige Debatte 221 .. Normative Distanz 224 . Formale Überlegungen zur Selbstaufhebung 227 228 .. Pragmatische Selbstaufhebung .. Absolute Selbstaufhebung 232 .. Operationale Selbstaufhebung 242 .. Ad Hominem 245 .. Operational-pragmatische Selbstaufhebung 251
Inhalt
.. . .. .. . .. .. .. .. . .. .. ... ... .. .. .. ... ... ... Schluss
Fazit
257 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus Selbstaufhebungsargumente gegen den epistemischen Relativismus 258 Siegels UVNR-Argument und der epistemische 258 Relativismus 264 Tollefsen und die Sprache des Relativismus Selbstaufhebungsargumente gegen den Bedeutungsrelativismus und den metaphysischen Relativismus 269 269 Davidson gegen conceptual schemes Harrisʼ Weiterführung 275 Zwischenfazit 278 279 Albedahs Kritik der absolutistischen Reste bei Kuhn Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus 286 286 Siegels NSBF-Argument Putnams antirelativistische Argumente 293 Wittgensteins Privatsprachenargument und der Relativismus 294 300 Kulturrelativistischer Solipsismus Lockies Argument gegen den reflexiven Relativismus 304 Modallogische Semantiken als Modelle relativistischer 316 Theoriebildung Der Diskussionsbeitrag des Relativisten ist irrelevant 340 Relative Wahrheit als machtlos 340 Der Wert relativer Prämissen 349 Kann der Relativist den Absolutisten überzeugen? 355 362
Bibliographie Index
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IX
Einleitung Man könnte fast sagen, das Selbstaufhebungsargument gegen den Relativismus sei so alt wie dieser selbst. Seit seiner ersten uns erhaltenen Formulierung als explizit philosophischer These, in Platons Dialog Theaitetos, ist der Vorwurf der Selbstaufhebung der ständige Begleiter des Relativismus. Dieser historische Zusammenhang ist es allerdings nicht, der in dieser Arbeit aufzuarbeiten sein wird. Vielmehr interessiert hier sein systematisches Gegenstück, das sich vielleicht folgendermaßen fassen lässt: Für den Relativismus lauert hinter jeder Ecke ein absolutistischer Kritiker, der ihm Selbstaufhebung nachzuweisen sucht. So zahlreich und vielfältig relativistische Theorien sind, so zahlreich und vielfältig sind auch die Selbstaufhebungsargumente, die gegen sie vorgebracht werden. Argumente, die von der lediglich relativen Wahrheit des alethischen Relativismus auf seine (absolut gedachte) Falschheit schließen, finden sich ebenso wie solche, die den ethischen Relativismus aufgrund seines eigenen relativen Status zu widerlegen suchen. Dies ist mit Sicherheit einer der Gründe, warum, trotz der langen Geschichte der Auseinandersetzung, kein Ende derselben in Aussicht scheint. Zwar beziehen sich die Proponenten von Selbstaufhebungsargumenten gerne aufeinander und vor allem auf den ersten unter ihnen, Platon, trotzdem unterscheiden sich ihre Argumente bei genauerem Hinsehen deutlich – und das nicht nur dort, wo es sich durch Unterschiede in den von ihnen kritisierten Theorien erklären lässt, auch gegen ein und dieselbe Spielart des Relativismus lassen sich häufig die unterschiedlichsten Formen von Selbstaufhebungsargumenten finden. Die vorliegende Arbeit versucht, dieses Durcheinander übersichtlicher werden zu lassen. Nicht durch eine Einteilung von Selbstaufhebungsargumenten in schematische Gruppen – obwohl natürlich typologische Mittel zu einer groben Einteilung und als Werkzeuge konkreter Analysen und Vergleiche zum Einsatz kommen werden – sondern durch eine möglichst genaue Betrachtung konkreter Selbstaufhebungsargumente, der Thesen, gegen die sie sich richten, und natürlich ihrer Erfolgsaussichten gegen dieselben. Was die Debatte zusätzlich kompliziert ist, dass – von absolutistischer Seite – der selbstaufhebende Charakter des Relativismus häufig für geradezu selbstverständlich gehalten wird, er gilt als Gemeinplatz der Philosophie. Diese Ansicht wird hier natürlich nicht geteilt – dies würde eine Untersuchung von vornherein überflüssig machen – und wird auch nicht durch die Untersuchung bestätigt werden. Vielmehr wird sich herausstellen, dass selbst sehr starke Formen des Relativismus – allen voran der alethische Relativismus – nicht als solche bereits selbstaufhebend sind. https://doi.org/10.1515/9783110584264-002
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Einleitung
Wo die Selbstaufhebung des Relativismus für offensichtlich gehalten oder erklärt wird, wird in der Regel kein spezifisches Selbstaufhebungsargument genannt und oft nicht einmal angegeben, welche Form von Relativismus genau gemeint ist. Dies ist nicht nur deswegen ein Problem, weil relativistische Thesen in vielen unterschiedlichen Stärkegraden und Reichweiten auftreten, so dass auf stärkere oder umfassendere Theorien ausgerichtete Argumente gegenüber schwächeren oder weniger umfassenden Formen des Relativismus leicht ins Leere laufen. Vielmehr hat, wie bereits erwähnt, der Begriff des Selbstaufhebungsarguments selbst eine ausgesprochen heterogene Extension. So wie er in dieser Arbeit verstanden wird, haben Selbstaufhebungsargumente zwei wichtige Gemeinsamkeiten: Sie alle bauen auf irgendeiner Form von Selbstbezüglichkeit der fraglichen Position auf, und sie alle versuchen, daraus Konsequenzen für die fragliche Position zu ziehen, die diese als unhaltbar herausstellen sollen. Beide Aspekte lassen erheblichen Raum für Variationen. So kann die Selbstbezüglichkeit z. B. in direkter oder indirekter Weise verwendet werden – etwa dort, wo die relativistische These in einem Selbstaufhebungsargument nicht auf sich selbst, sondern auf die absolutistische Gegenthese angewandt wird. Auch die Beweisziele von Selbstaufhebungsargumenten unterscheiden sich erheblich voneinander: Während manche versuchen, dem Relativismus (absolute) Falschheit nachzuweisen, wollen andere z. B. ‚nur‘ die Unbegründbarkeit des Relativismus etablieren. Dabei wird die folgende Untersuchung unter anderem zeigen, dass Selbstaufhebungsargumente mit schwächeren Beweiszielen häufig bessere Erfolgsaussichten haben als solche mit stärkeren Ansprüchen. Das heißt natürlich, dass die erfolgversprechendsten Selbstaufhebungsargumente diejenigen sind, die dem Relativismus im Endeffekt am wenigsten entgegenzusetzen haben, also z. B. lediglich etablieren, dass er in einem bestimmten diskursiven Rahmen nicht erfolgreich vertreten werden könne. Die Probleme, die stärkere Selbstaufhebungsargumente typischerweise befallen, lassen sich grob in zwei Gruppen unterteilen: Erstens scheitern viele daran, dass sie den Relativismus schlicht falsch charakterisieren und damit – wenn sie denn etwas widerlegen – dies nicht der Relativismus ist; und zweitens beruhen viele Selbstaufhebungsargumente auf mehr oder weniger versteckten Voraussetzungen, die relativistische Theoretiker explizit ablehnen. Dass Selbstaufhebungsargumente für diese Schwierigkeiten anfällig sind, hängt mit der ihnen eigenen Struktur zusammen, in der – ironischerweise – gerade ihre einzigartige Stärke gesehen wird. Darauf, wie genau dieser Zusammenhang aussieht, wird noch näher einzugehen sein. Hier ist es zunächst wichtig festzuhalten, dass Erwartungshaltung und Realität im Bereich der Selbstaufhebungsargumente extrem auseinanderklaffen. Der Anspruch vieler Selbstaufhebungsargumente bzw. ihrer Verfasser ist es, eine schnelle,
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wirkungsvolle und saubere Widerlegung der kritisierten Position gefunden zu haben, ohne sich mit deren Feinheiten auseinandersetzen zu müssen. Bei einem genaueren Blick auf die Argumente wird aber in der Regel schnell deutlich, dass nicht klar ist, ob die Formulierung der Position, von der sie ausgehen, dieser auch angemessen ist, oder dass sie mehr voraussetzen, als auf den ersten Blick offensichtlich ist. Um nun die Zulässigkeit solcher Formulierungen und Voraussetzungen zu prüfen, muss man gerade in diejenige Auseinandersetzung einsteigen, die durch die Verwendung des Selbstaufhebungsarguments eigentlich kurzgeschlossen werden sollte, nämlich diejenige um die Details konkreter relativistischer Theorien, ihrer Motivationen und ihrer Argumentationsstruktur. Eines der Ziele dieser Arbeit ist zu zeigen, dass die Debatte zwischen Absolutismus und Relativismus auf diesem Gebiet stattfinden sollte, anstatt die immer wiederkehrenden Versuche fortzuführen, den Relativismus durch immer neue Formulierungen des Selbstaufhebungsvorwurfs auszuschalten und die Auseinandersetzung mit der Theorie und ihrer Herleitung zu vernachlässigen. Der Versuch, diesen Teil der Debatte zu überspringen, ist aussichtslos, da die Frage nach der Effektivität konkreter Selbstaufhebungsargumente immer wieder auf ihn zurückführt. Diese schwerwiegenden Probleme auf dem Bereich der Selbstaufhebungsargumente haben zur Folge, dass hier eine Frage, die viele Absolutisten beschäftigt, in entgegengesetzter Richtung gestellt werden muss: Während der Absolutist sich fragen muss, warum der Relativismus, obwohl er offensichtlich selbstaufhebend ist, eine solche Anziehungskraft besitzt, dass er immer wieder neue Verfechter findet, muss nunmehr die Anziehungskraft der als fehlerhaft zu bewertenden Selbstaufhebungsargumente erklärt werden. Diese Aufgabe kann und sollte nicht darin bestehen, zu zeigen, dass Selbstaufhebungsargumente Recht behalten, und daraufhin die eigene Auffassung von Relativismus zu modifizieren, wie Steven Hales es tut.¹ Denn es wird, wie gesagt, gezeigt werden, dass ein Großteil der Selbstaufhebungsargumente, die hier vorzustellen sein werden, tatsächlich schwerwiegende Fehler enthalten. Die meisten setzen entweder die Wahrheit des Absolutismus bereits voraus, oder sie beruhen auf Zuschreibungen von Thesen, die bei weitem nicht alle relativistischen Theorien teilen. Einer der Gründe für die ungebrochene Anziehungskraft antirelativistischer Selbstaufhebungsargumente ist mit Sicherheit die Natur der versteckten Voraussetzungen, die sich in vielen Selbstaufhebungsargumenten finden. Dabei handelt es sich in der Regel um sehr grundlegende Festlegungen in Bezug auf sehr grundlegende Konzepte, wie z. B. das der Wahrheit. Es ist kein Zufall, dass, wie Castagnoli feststellt, Selbstaufhebungsargumente besonders gern gegen stark
Vgl. Hales (2006), 103; Kölbel (1999).
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revisionistische Thesen vorgebracht werden.² Es steht zu vermuten, dass diese Voraussetzungen den Verwendern entsprechender Argumente schlicht nicht als solche präsent sind; sie sind vermutlich nie hinterfragt worden und werden erst durch die im Selbstaufhebungsargument auftauchende Inkohärenz als substantielle Annahmen sichtbar. Das heißt auch, dass die Beschäftigung mit antirelativistischen Selbstaufhebungsargumenten, trotz der erheblichen Schwierigkeiten, die viele von ihnen haben, durchaus lohnenswert ist. Denn diese Argumente bringen tiefliegende Vorannahmen an die Oberfläche und erlauben uns, uns explizit mit ihnen auseinanderzusetzen. Dem Relativisten zeigen sie auf, welche Annahmen, die er unter Umständen auch selbst noch mit sich trägt, mit seiner Theorie unvereinbar sind. Dadurch erlauben sie es ihm, die kohärenten Theorieoptionen im Bereich des Relativismus von inkohärenten Theoriegebilden abzugrenzen. Auf der anderen Seite wird der Absolutist in die Lage versetzt, explizit die Frage zu stellen, ob der Relativismus es denn wirklich wert sein kann, diese Annahmen aufzugeben und gegebenenfalls offen für sie zu argumentieren. Hierin findet die vorliegende Arbeit eine weitere Aufgabe: den theoretischen Gewinn, der selbst mit scheiternden Selbstaufhebungsargumenten verbunden sein kann, herauszustellen. Neben dem, zugegebenermaßen in erster Linie für den Relativisten nützlichen, Erkenntniszuwachs bzgl. der Grenzen kohärenter relativistischer Theoriebildung lassen sich auch für relativismuskritische Positionen anschlussfähige Ergebnisse finden, wenn man eine Frage stellt, die ebenfalls eine zentrale Rolle in dieser Arbeit spielen wird: Was genau ist es, das relativistische Theorien anfällig für Selbstaufhebungsargumente macht oder erscheinen lässt? Immerhin handelt es sich um eine ausgesprochen vielfältige Theorienfamilie, in der sich manche Ausprägungen – man denke vor allem an unterschiedliche Bereichsrelativismen wie etwa einen ästhetischen und einen moralischen Relativismus – inhaltlich nicht oder kaum überschneiden. Der entscheidende Faktor scheint angesichts dessen in der Struktur relativistischer Theorien zu liegen – dem x ist relativ auf y (was immer genau dies bedeuten mag). Um diese (manchmal nur scheinbare und manchmal tatsächliche) Anfälligkeit für Selbstaufhebungsvorwürfe zu erklären, wird in der Diskussion von Platons Selbstaufhebungsargument gegen Protagoras das Konzept der normativen Distanz eingeführt werden. Knapp gesagt lautet die hier vertretene These, dass relativistische Theorien dann anfällig für Vorwürfe der Selbstaufhebung sind, wenn in ihnen kein Raum für normative Distanz vorgesehen ist. Normative Distanz bezeichnet dabei eine Unterscheidung zwischen dem, was in eine Diskussion,
Siehe Castagnoli (2010), 353 f.
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eine Überlegung o. Ä. eingebracht wird, und deren Ziel. Sie kann unterschiedlich instanziiert werden, z. B. durch die Unterscheidung von Wahrheit und Fürwahrhalten oder durch die Unterscheidung zwischen Gerechtfertigtem und Ungerechtfertigtem. Einige relativistische Theorien, z. B. subjektivistische, haben Schwierigkeiten damit, Raum für eine solche Unterscheidung zu schaffen, und dies macht sie anfällig für Selbstaufhebungsargumente. Allerdings – und dies hängt mit dem vorhin erwähnten Punkt zusammen, dass Selbstaufhebungsargumente mit schwächeren Beweiszielen aussichtsreicher sind als solche mit besonders hochgesteckten – behalten selbst gegen sie nur solche Selbstaufhebungsargumente uneingeschränkt Recht, die auf eine Unfähigkeit, die relativistische These diskursiv zu verteidigen o. Ä., hinauswollen. Stärkere Selbstaufhebungsargumente gegen Theorien, die unter einem Mangel an normativer Distanz leiden, sehen zwar zunächst plausibler aus als starke Selbstaufhebungsargumente gegen solche, die dieses Problem nicht haben, aber die (absolute) Falschheit relativistischer Thesen lässt sich auf diesem Wege nicht etablieren. Stärkere Selbstaufhebungsargumente können auf diesen Mangel hinweisen – und insofern verbirgt sich hinter ihnen bisweilen eine legitime Kritik, was sie durchaus wertvoll und hilfreich macht – aber nichtsdestotrotz verfehlen sie ihr selbstgestecktes Beweisziel. Wie bereits erwähnt, werden Selbstaufhebungsargumente gerne als eine Form der Argumentation mit ganz besonderen Stärken betrachtet. Steven Bartlett z. B. betrachtet das Selbstaufhebungsargument als besonders ‚reine‘ Form der Argumentation, da es einzig auf der zu widerlegenden Position selbst als seiner alleinigen Prämisse aufbaut und keine darüber hinausgehenden Annahmen verwendet.³ Träfe dies auf ein erfolgreiches Selbstaufhebungsargument zu, verliehe es diesem ein Maß an Unausweichlichkeit, welches gewöhnlicheren Gegenargumenten nicht zukommt. Dort kann der kritisierte Theoretiker grundsätzlich die Prämissen des Gegners anzweifeln bzw. verwerfen, um an der eigenen Position festzuhalten. Dieser Ausweg wäre bei einem Gegenargument, das einzig die eigene Position zur Voraussetzung hat, versperrt. Aber natürlich bedeutet dies andererseits, dass die Prämisse des Selbstaufhebungsarguments eine angemessene Formulierung der zu kritisierenden Position sein muss, wenn denn das Selbstaufhebungsargument nicht vollkommen ins Leere laufen soll. Selbstaufhebungsargumente, die Missverständnisse oder sogar Strohmänner zum Ausgangspunkt haben, reden gegen Theorien an, gegen die es sich insofern nicht anzureden lohnt, als niemand diese Theorien tatsächlich vertritt. Die Theorien existieren schlicht nicht als Debattenbeiträge und müssen
Siehe Bartlett (1988), 225 – 231.
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somit auch niemandem ausgeredet werden. Nun ist es aber leider so, dass gerade die Relativismusdebatte vor Fehlcharakterisierungen der zu debattierenden Theorien wimmelt – und das schlägt sich natürlich auch in den Ausgangspunkten, die für Selbstaufhebungsargumente gewählt werden, nieder. Viele antirelativistische Selbstaufhebungsargumente verfehlen somit ihr Ziel, ‚den Relativismus‘ zu widerlegen, da sie schlicht an der Realität relativistischer Theoriebildung vorbei argumentieren. Das bedeutet übrigens nicht notwendigerweise, dass das Problem des Arguments bereits in der Formulierung der relativistischen These, mit der es anhebt, sichtbar wird. Es ist ebenso möglich, dass die Fehlinterpretation der zu kritisierenden Position erst in den Schlüssen, die aus ihr gezogen werden, manifest wird – dass also bestimmten Ausdrücken, die in der relativistischen These vorkommen, ein Gehalt beigelegt wird, den sie im Munde des Relativisten nicht haben. Hier findet ein fließender Übergang zu dem zweiten für Selbstaufhebungsargumente typischen Problem statt, nämlich zu dem des Einbringens absolutistischer Vorannahmen als versteckte Voraussetzungen. Auch diese werden in der Regel erst dadurch sichtbar, dass der Absolutist in seinem Selbstaufhebungsargument einen bestimmten Ausdruck in identifizierbar absolutistischer Weise verwendet, indem er also z. B. Folgerungen aus einer Zuschreibung von Wahrheit zieht, die nur unter Voraussetzung einer absolutistischen Konzeption von Wahrheit tatsächlich folgen. Der Unterschied zum Problem der Fehlinterpretation der relativistischen These liegt darin, dass diese dem Relativisten in der Regel eine zu radikale These unterstellt, also z. B. Relativität mit Arbitrarität gleichsetzt, während das Einbringen versteckter Voraussetzungen eher in einem (oft inkohärenten) absolutistisch eingefärbten Verständnis der relativistischen These resultiert. Eigentlich sollte es nicht überraschen, dass selbst Selbstaufhebungsargumente einen gewissen Hintergrund an (im besten Falle geteilten) Annahmen benötigen, um zu funktionieren, daran ist auch zunächst nichts Schlimmes – obwohl es natürlich die Auffassung von Selbstaufhebungsargumenten als einzig auf der zu kritisierenden Theorie basierend bedroht. Offensichtlich ist es z. B., dass sie logische Schlussregeln voraussetzen müssen. Aber auch außerlogische Voraussetzungen müssen in diesem Hintergrund präsent sein, um die in Selbstaufhebungsargumenten gemachten Ableitungsschritte zu sanktionieren, wie z. B. Annahmen darüber, dass Ausdrücke wie „wahr“, „gerechtfertigt“ etc. einen bestimmten konzeptuellen Gehalt haben bzw. in einer bestimmten Art und Weise verwendet werden. Spätestens hier kann es nun insofern zu Problemen kommen, als es sich dabei gerade um jene umstrittenen Konzepte handelt, die der Relativist vollkommen anders interpretiert als sein absolutistischer Gegenspieler. Der Punkt ist hier
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keinesfalls, dass der Relativist diese Ausdrücke einfach anders meint als der Absolutist und sein Verständnis dasjenige des Absolutisten ‚überstimmen‘ sollte, da es seine Theorie ist, über die das Selbstaufhebungsargument spricht. Die Situation ist vielmehr oftmals tatsächlich die, dass Ausdrücke wie „wahr“ in Selbstaufhebungsargumenten in einer Art und Weise verwendet werden, die explizit in relativistischen Theorien gemachten Aussagen entgegenläuft. Somit können diese Argumente die Falschheit (oder Unbegründbarkeit etc.) der fraglichen Position aber nicht nachweisen, sie setzen sie vielmehr voraus. Anders gewendet: Was solche Argumente demonstrieren, ist nicht die Falschheit o. Ä. des Relativismus, sondern vielmehr seine Unvereinbarkeit mit dem Absolutismus – ein Ergebnis, das wenig überraschen dürfte. Zu dem Ergebnis, dass viele moderne Selbstaufhebungsargumente bzw. Auffassungen von Selbstaufhebungsargumenten dieser Schwierigkeit erliegen, kommt auch Luca Castagnoli in seinem Buch Ancient Self-Refutation: The Logic and History of the Self-Refutation Argument from Democritus to Augustine, wenn er moderne und antike Selbstaufhebungsargumente kontrastiert.⁴ Laut Castagnoli ist es ein Vorteil antiker Selbstaufhebungsargumente, dass diese explizit an einen bestimmten dialektischen Kontext gebunden sind, während ihre modernen Gegenstücke zwar ebenfalls auf Vorannahmen beruhen (müssen), dies aber verschleiern. Diese Situationsbeschreibung könnte eigentlich für den Relativisten gar nicht besser ausfallen, scheint sich in ihr doch anzudeuten, dass ausgerechnet die Richtigkeit von Selbstaufhebungsargumenten relativ ist – etwa auf ein System von Präsuppositionen, eine bestimmte Interpretation eines Vokabulars o. Ä. Hier sollte der Absolutist die Gelegenheit für einen Gegeneinwand sehen. Immerhin glaubt er ja nicht, dass es z. B. unterschiedliche legitime Interpretationen des Ausdrucks „wahr“ gibt, er hält die Wahrheitskonzeption des Relativisten für inkohärent und seine Verwendung des Ausdrucks für die einzig zulässige oder sogar mögliche, insofern sollte – oder muss sogar – laut ihm ein absolutistisches Wahrheitsprädikat im Selbstaufhebungsargument Anwendung finden.⁵ Aber selbst wenn der Absolutist hier richtigliegen sollte – und es gibt viele Gründe, dies anzuzweifeln und noch viel mehr, um die Verwendung von Selbstaufhebungsargumenten in einer solchen Situation für eine unglückliche rhetorische Entscheidung zu halten, sollte doch lieber dargelegt werden, warum das relativistische Wahrheitsprädikat inkohärent sei – wäre ein solches Selbstaufhebungsargument alleine noch immer keine geeignete Widerlegung des Relati-
Castagnoli (2010). Ein solcher Zug findet sich z. B. bei Siegel. Siehe Siegel (1987), 25.
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vismus. Eine Auseinandersetzung über die Prämissen der relativistischen Theorie bliebe weiterhin unerlässlich – und eines der Ziele dieser Arbeit ist zu zeigen, dass die Debatte zwischen Absolutismus und Relativismus auf diesem Gebiet stattfinden sollte, anstatt die immer wiederkehrenden Versuche fortzuführen, den Relativismus durch immer neue Formulierungen des Selbstaufhebungsvorwurfs auszuschalten und die Auseinandersetzung mit der Theorie und ihrer Herleitung zu vernachlässigen. Der Grund für das Fortbestehen der Notwendigkeit einer solchen Auseinandersetzung, selbst unter Annahme eines erfolgreichen Selbstaufhebungsarguments, ist einfach aber schlagend: Wie Michael Stack in seinem Aufsatz „Selfrefuting Arguments“⁶ ausführt, kommt ein erfolgreiches Selbstaufhebungsargument gegen eine Position, deren Prämissen und deren Folgen aus selbigen man nicht anzweifelt, einer reductio ad absurdum der eigenen Position gleich. Die Problemlage sieht wie folgt aus: Akzeptiert der Absolutist die Prämissen des Relativisten und auch, dass selbiger aus ihnen folgt, und benutzt das Selbstaufhebungsargument als seine einzige Waffe, demonstriert er eigentlich nur, dass aus Prämissen, die er akzeptiert, in Kombination mit einer absolutistischen Theorie der Wahrheit ein Widerspruch folgt, also müssen entweder die geteilten Prämissen oder die absolutistische Theorie der Wahrheit falsch sein. Deswegen kann selbst ein erfolgreiches Selbstaufhebungsargument niemals die ganze Arbeit des Relativismuskritikers verrichten. Es fehlen die Gründe dafür, den Relativismus anstatt der absolutistischen Wahrheitskonzeption zu verwerfen. Bevor es aber darangehen kann, Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus und deren Grundlagen zu untersuchen, müssen zwei methodische Richtungsentscheidungen getroffen werden. Zunächst sollte herausgestellt werden, dass es eine methodische Maxime der vorliegenden Arbeit ist, die untersuchten Argumente so stark wie möglich zu machen, das heißt auf der Seite der relativistischen Theorien vor allem, die vielen Fehlcharakterisierungen und Strohmänner, die sich unter den gängigen Relativismusdefinitionen verbergen, strikt zu verwerfen. Der Auffindung einer angemessenen Definition des Relativismus wird hier deswegen erheblicher Raum eingeräumt werden. Auf der Seite der Selbstaufhebungsargumente heißt es zwar auch, die überzeugendsten ihres jeweiligen Typs zu wählen, aber es heißt vor allem, sie gegen relativistische Thesen antreten zu lassen, die möglichst starke bzw. weitreichende Behauptungen aufstellen. Bei relativistischen Thesen mit eingeschränktem Anwendungsbereich ist es oftmals sehr einfach, Selbstaufhebungsargumente dadurch abzuwehren, dass
Stack (1983).
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man die jeweilige relativistische Theorie aus ihrem Anwendungsbereich heraustheoretisiert. Deswegen wird hier vornehmlich von globalen Relativismen und – wie ich es nennen möchte – Relativismen von globaler Bedeutung die Rede sein, also Relativismen, die Auswirkungen für sämtliche Behauptungen zeitigen. Dadurch ist sichergestellt, dass ein sich selbst von der beschriebenen Relativität ausnehmender Relativismus zumindest nicht als von vornherein plausible Verteidigungsstrategie benutzt werden kann. Sicher, es ist durchaus möglich zu behaupten, dass die Aussage, dass Wahrheit relativ ist, die einzig absolut wahre Behauptung ist. Aber dies ist vom Grade der Plausibilität her keineswegs vergleichbar mit der Behauptung, dass die Aussage, dass ästhetische Bewertungen relativ sind, selbst keine ästhetische Bewertung ist. Ersteres würde eine ganze Menge an Begründungsarbeit verlangen, während bei Letzterem offensichtlich ist, dass dies laut den meisten Auffassungen ästhetischer Bewertungen tatsächlich der Fall ist, da diese Theorien des Ästhetischen sich selbst nicht als ästhetische Bewertungen auffassen. Anders gewendet: Hier wird in erster Linie die Rede von Theorien über Theorien sein: Theorien, die nicht in ihren eigenen Gegenstandsbereich fallen, sowie Manöver, die einzelne Thesen aus ihrem eigentlichen Anwendungsbereich ausschließen, wie eben ein sich selbst für absolut deklarierender Relativismus es täte, werden von der Betrachtung ausgeschlossen. Letzteres ist schon deswegen nötig, weil dem Relativismus zwar immer wieder unterstellt wird, er müsse sich selbst absolut setzen, diese Behauptung sich aber in den einflussreichen, nicht auf einen bestimmten Bereich beschränkten relativistischen Theorien schlicht nicht finden lässt. Durch diese theoretische Vorentscheidung soll also sichergestellt werden, dass die für die Möglichkeit erfolgreicher Selbstaufhebungsargumente essentielle Selbstbezüglichkeit tatsächlich vorliegt. Darum geht es auch bei der zweiten hier zu treffenden methodischen Entscheidung. Diese besteht schlicht darin, dass eine wichtige und durchaus interessante Fragestellung hier nicht behandelt wird: die Frage nach der Möglichkeit von Selbstbezüglichkeit. Insbesondere die Diskussion über die semantischen Paradoxien hat einige Positionen hervorgebracht, die Selbstbezüglichkeit von Aussagen grundsätzlich ablehnen; und wenn Aussagen grundsätzlich nicht selbstbezüglich sein könnten, so wären es natürlich auch relativistische Theorien nicht – Selbstaufhebungsargumenten wäre scheinbar der Boden entzogen. Dies wäre klarerweise ein Grund, die Option der Ablehnung von Selbstbezüglichkeit aus der vorliegenden Diskussion auszuschließen, immerhin handelt es sich um ein hochgradig komplexes Thema, welches, um zufriedenstellend behandelt werden zu können, einer eigenen Arbeit bedürfte; und eine direkte Verbindung zum Relativismus ist nicht offensichtlich, es sieht vielmehr so aus, als sei eine mögliche Berufung auf die grundsätzliche Unmöglichkeit von Selbstbezüglichkeit
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um antirelativistischen Selbstaufhebungsargumenten zu entgehen, ein Ad-hocManöver. In anderen Worten: So einfach sollte man es dem Relativismus nicht machen. Allerdings ist der Grund des Ausschlusses hier ein anderer, denn tatsächlich hat eine Ablehnung von Selbstbezüglichkeit nicht die verheerenden Auswirkungen auf Selbstaufhebungsargumente, die sie auf den ersten Blick zu haben scheint. Die einzige Auffassung, die diese tatsächlich komplett aushebeln könnte, nämlich die, dass es grundsätzlich unmöglich ist, sich (mit nicht nur auf ihre physische oder grammatische Erscheinungsform bezogenen Bemerkungen) auf Aussagen oder Theorien zu beziehen, etwa, weil wir nichts über die Eigenschaften der Sprache aussagen können, ist nicht nur recht selten, sondern auch eindeutig mit z. B. einer relativistischen These bzgl. Wahrheit oder Rechtfertigung unvereinbar. Eine solche Auffassung wäre also für Selbstaufhebungsargumente und Relativismus gleichermaßen verheerend, immerhin sind dessen Kernaussagen, zumindest bei den in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehenden Varianten, solche über Aussagen und Theorien. Wenn es um eine Verteidigung des Relativismus gegen Selbstaufhebungsvorwürfe gehen soll, könnten also höchstens solche Selbstbezüglichkeit ablehnenden Positionen von Nutzen sein, die einen Bezug auf Aussagen oder Theorien nicht insgesamt ablehnen, also z. B. eine Form von Typentheorie, die Sprachstufen postuliert, deren Aussagen sich jeweils nur auf Aussagen unter ihnen liegender Stufen beziehen können. Eine solche Auffassung hätte zwar zur Folge, dass relativistische Thesen nicht selbstbezüglich sind und damit Selbstaufhebungsargumente nicht in der für sie charakteristischen Weise ansetzen könnten, aber Letztere lassen sich durchaus modifizieren, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden.⁷ Denn auch wenn die relativistische These nicht automatisch von sich selbst spricht, wirft eine Stufentheorie doch unmittelbar die Frage auf, wie die entsprechende Theorie (der Wahrheit, der Rechtfertigung etc.) auf der nächsthöheren Stufe aussieht; und selbst wenn dazu nichts aus der relativistischen These selbst folgt, so kann man doch die entsprechende Frage an den relativistischen Theoretiker richten. Entscheidet dieser sich für eine absolutistische höherstufige Theorie, vertritt er klarerweise einen nichtglobalen Relativismus, der zwar objektstufige Aussagen für relativ (wahr, gerechtfertigt etc.) erklärt, aber Aussagen über Aussagen für absolut (wahr, gerechtfertigt etc.) hält. Dieser Fall ist für die hier verfolgten Zwecke also der uninteressante, auch deswegen, weil dies den absolutistischen Kritiker zufriedenstellen sollte oder zumindest die Auseinandersetzung von der
Für ein Selbstaufhebungsargument, für dessen Behandlung beide Möglichkeiten in Betracht gezogen werden müssen, siehe Abschnitt 3.3.3.
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Frage der Selbstaufhebung weg verlagern, hin zu einer Auseinandersetzung über die relevanten Unterschiede von Objekt- und Metaebene. Wird jedoch auch auf der höheren Stufe eine relativistische Auffassung vertreten und vielleicht sogar die Absicht kundgetan, diese auch auf noch höheren Stufen zu iterieren, wird die von Selbstaufhebungsargumenten aufgeworfene Problematik der Relativität der relativistischen Position wiederum relevant. Auch wenn es sich bei einer diesen Punkt ansprechenden Kritik nicht im strengen Sinne um ein Selbstaufhebungsargument handelt, da es eben keine Selbstbezüglichkeit nutzt, ist sie einem solchen doch so eng verwandt, dass hier nicht die Rede davon sein kann, das Selbstaufhebungsargument wäre komplett entschärft. Wie schon gesagt: Es muss lediglich modifiziert werden, um den veränderten Anforderungen gerecht zu werden; der Kern der Kritik bleibt derselbe. Ebenso wenig ist natürlich ein solcher iterativer Relativismus ein globaler Relativismus: Unter Voraussetzung einer Stufenauffassung von Sprache kann es keine globalen Theorien über Theorien geben, da immer nur die Stufen unter der bis jetzt höchststufigen Theorie thematisiert werden. Um auch diese zu erfassen, bedürfte es wiederum einer noch höherstufigen Theorie etc. Anstatt von einem globalen kann hier – und das ist die Terminologie, die in dieser Arbeit Verwendung finden wird – von einem Globalität anstrebenden Relativismus die Rede sein. Die Ankündigung, den Relativismus auf höheren Stufen iterieren zu wollen, kann so interpretiert werden, dass der relativistische Theoretiker einen globalen Relativismus vertreten wollte, wenn er einen solchen denn für möglich hielte. Da die Problematik des Status der relativistischen Theorie selbst und auch deren Relevanz für ganz bestimmte Formen des Relativismus – also in diesem Fall Globalität anstrebende Formen – erhalten bleiben, kann die Frage nach der Möglichkeit von Selbstbezüglichkeit hier ausgeklammert werden. Stattdessen wird die vorliegende Arbeit bei einer anderen grundlegenden Frage zu Selbstaufhebung und Relativismus ansetzen, nämlich bei der Suche nach einer geeigneten Definition des Letzteren. Diese Aufgabe wird den ersten Hauptteil bestimmen, der eine Balance finden soll zwischen der Einbeziehung vielfältiger relativistischer Theorien und einer Vereinheitlichung selbiger anhand einer Definition, die geeignet ist, diese Vielfalt einzufangen. Dabei wird zunächst bei der gerade schon kurz angesprochenen Unterscheidung von globalen und lokalen Relativismen anzusetzen sein, um den Raum der zu behandelnden Theorien genauer zu umgrenzen. Dies wird fortgeführt, indem sodann einige relativistische Theorieformen aus methodischen Gründen aus der Betrachtung ausgeschlossen werden, da ihre Grundzüge es fragwürdig werden lassen, ob Selbstaufhebungsargumente für diese Positionen überhaupt irgendeine Relevanz besitzen.
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Daraufhin werden unterschiedliche Varianten globaler Relativismen und Relativismen von globaler Relevanz vorgestellt werden, wobei besonders darauf zu achten sein wird, vielfältige Ansätze vorzustellen und möglichst nah an den tatsächlichen Aussagen relativistischer Theoretiker zu arbeiten, um das Problem von in der Sekundärliteratur auftretenden Strohmännern zu vermeiden. Dadurch soll eine solide Grundlage geschaffen werden, um Kandidaten für Relativismusdefinitionen an der Realität der Theoriebildung zu messen. Besondere Aufmerksamkeit werden dabei erstens die globalen Relativismen erfahren, zwischen denen in vielen Diskussionen nicht hinreichend differenziert wird und für die ein Einteilungskriterium vorgeschlagen wird. Zweitens wird dem Relativismus im Bereich der Logik besondere Aufmerksamkeit zu schenken sein, da dieser einerseits auf den ersten Blick nur schwer zu motivieren und vielen Autoren sogar offensichtlich inkohärent erscheint, aber andererseits für die Möglichkeit eines globalen Relativismus unerlässlich ist. Da der Großteil der Diskussion unterschiedlicher Formen des Relativismus diese primär anhand dessen einteilen und besprechen wird, was relativiert wird (also z. B. Wahrheit, Erkenntnis oder Logik), folgen einige Punkte zu dem, worauf relativiert wird, und einigen charakteristischen Schwierigkeiten, die sich für bestimmte Konzeptionen dieses zweiten Relats ergeben. Zum Abschluss des ersten Hauptteils werden dann fünf unterschiedliche Vorschläge aus der Debatte für eine Definition des Relativismus mit den vorliegenden Darstellungen relativistischer Theorien verglichen, wobei sich zeigen wird, dass die meisten von ihnen erhebliche Probleme aufweisen und relativistische Theorien schlicht falsch charakterisieren. Als geeignete Definition des Relativismus wird schließlich diejenige von Max Kölbel herausgestellt werden. Nachdem eine geeignete Definition des Relativismus gefunden ist, kann im zweiten Hauptteil die Frage nach den Charakteristika und der Funktionsweise von Selbstaufhebungsargumenten angegangen werden. Nach einer groben Charakterisierung anhand sehr allgemeiner Merkmale wird dazu zunächst Platons Selbstaufhebungsargument gegen den Relativismus des Protagoras herangezogen, das noch heute von vielen Verwendern antirelativistischer Selbstaufhebungsargumente als Vorbild der eigenen Überlegungen genannt wird und dadurch einen fortdauernden Einfluss auf die gegenwärtige Debatte hat. Es wird versucht werden, eine Interpretation von Platons Argument zu geben, die es möglichst stark macht, um die Funktionsweise eines erfolgreichen Selbstaufhebungsarguments betrachten zu können. Als geeignetster Interpretationsansatz für dieses Ziel wird sich derjenige von Luca Castagnoli erweisen, dessen Version des Arguments, mit leichten Modifikationen, Platon den Sieg über Protagoras sichert. Allerdings wird ebenfalls gezeigt werden, dass dieser Sieg nur unter Voraussetzung eines bestimmten dialektischen Hintergrundes möglich ist; außerdem wird die spezifische Schwachstelle, die den Erfolg des Selbstaufhe-
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bungsarguments allererst ermöglicht, in Protagorasʼ Theorie herausgearbeitet werden, die bei weitem nicht von allen relativistischen Theorien geteilt wird, nämlich ihr Mangel an normativer Distanz. Nach der Betrachtung dieser Vorlage vieler moderner Selbstaufhebungsargumente wird eine formale Betrachtung von Selbstaufhebungsargumenten vorgenommen. Dazu wird John Mackies Typologie unterschiedlicher Formen von Selbstaufhebungsargumenten herangezogen werden, die allerdings einiger Verbesserungen, die meisten davon wiederum vorgeschlagen von Castagnoli, bedarf. Mit den Werkzeugen einer Typologie von Selbstaufhebungsargumenten und einer geeigneten Definition des Relativismus an der Hand werden dann im dritten Hauptteil der vorliegenden Arbeit konkrete Selbstaufhebungsargumente zu unterschiedlichen Formen des Relativismus untersucht. Dabei wird versucht, möglichst vielfältige und starke Selbstaufhebungsargumente gegen Relativismen zunehmender Radikalität antreten zu lassen. Zunächst werden Selbstaufhebungsargumente gegen den epistemischen Relativismus vorgestellt, einen lokalen Relativismus von globaler Bedeutung, dann solche gegen den Bedeutungsrelativismus und den metaphysischen Relativismus, also gegen weniger radikale globale Relativismen, um schließlich zu Selbstaufhebungsargumenten gegen die radikalste Variante eines globalen Relativismus, den alethischen Relativismus, zu gelangen.
1 Viele Relativismen, eine Definition? In diesem Abschnitt sollen zwei Dinge erreicht werden: Einerseits soll ein Eindruck der Vielfalt relativistischer Thesen und Theorien entstehen. Andererseits soll plausibel gemacht werden, dass sich Ordnung in das Chaos der unterschiedlichen Auffassungen bringen lässt. Um diese Zwecke zu erreichen, werden einige Möglichkeiten vorgestellt, wie sich relativistische Theorien einteilen, unterscheiden und vergleichen lassen. Die doppelte Zielsetzung des Abschnitts und vor allem der beschränkte Raum, der zur Vorstellung verschiedener Spielarten des Relativismus zur Verfügung steht, machen bestimmte Einschränkungen notwendig. Zunächst werden die relativistischen Theorien, die im Folgenden als Beispiele herangezogen werden, weder in ihrer Tiefe noch in ihren (häufig vorhandenen) inneren Spannungen dargestellt. Über beinahe jede Zuordnung eines bestimmten Autors zu einer spezifischen Variante des Relativismus ließe sich im Rahmen einer detaillierten Auseinandersetzung mit seinem Gesamtwerk zumindest streiten. Doch exegetische Fragen können hier nicht geklärt werden – und das sollen sie auch nicht. Schließlich fungieren die betreffenden Autoren hier als Prototypen für bestimmte theoretische Ausrichtungen. Das Heranziehen einzelner Theorien bleibt in diesem Abschnitt zumeist auf eine illustrative Funktion beschränkt. Ein anderes Vorgehen würde eine eigene Arbeit über die vielfältigen Varianten relativistischer Theorien notwendig machen. Kurz gesagt: Es geht um die Frage, welche Ausprägungen des Relativismus es gibt, und nicht darum, wer welcher Richtung zuzuordnen ist. Auf der anderen Seite ist es natürlich trotzdem wichtig, die in der Einleitung angesprochene und in der Relativismusdebatte omnipräsente Gefahr des Errichtens von Strohmännern zu vermeiden. Das bedeutet, dass, wo Vereinfachungen notwendig werden, grundsätzlich in Richtung einer plausibleren und kohärenteren Auffassung vereinfacht wird, nicht in Richtung einer leichter zu kritisierenden. Wo die Komplexität einer Position für deren Plausibilität notwendig ist, wird versucht werden, sie zu erhalten. Denn auch dies ist eine wichtige Funktion der Darstellung konkreter Theorien in diesem Abschnitt: sicherzustellen, dass die Definition des Relativismus und die Darstellung seiner unterschiedlichen Formen auf Positionen beruhen und zutreffen, die tatsächlich vertreten worden sind. Außerdem wird schon in diesem Abschnitt eine thematische Beschränkung vorgenommen. Die Aufmerksamkeit soll hier auf diejenigen Relativismen konzentriert werden, die am ehesten relevant für das Thema der Arbeit als ganzer sind. Während also solche Relativismen, bei denen Selbstaufhebungsvorwürfe kaum oder gar nicht erhoben werden, lediglich kurz Erwähnung finden, wird den https://doi.org/10.1515/9783110584264-003
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Varianten, die sich solchen Vorwürfen permanent ausgesetzt sehen, deutlich mehr Aufmerksamkeit zuteil. Für die Darstellung der unterschiedlichen Formen des Relativismus wird Max Kölbels Definition des Relativismus als Arbeitsdefinition verwendet werden. Eine Arbeitsdefinition ist in diesem Abschnitt insofern notwendig, als sie es erlauben wird herauszuarbeiten, was spezifische Theorien überhaupt zu relativistischen Theorien macht. Kölbels Position ist dabei, dass sich relativistische Theorien als Instanzen der folgenden drei Schemata darstellen lassen: (R1) For any x that is an I, it is relative to P whether x is F. (R2) There is no uniquely relevant way Pi of fixing P. (R3) For some x that are I, and for some Pi, Pj, x is F in relation to Pi but not F in relation to Pj. ¹
Kurz gesagt handelt es sich also bei relativistischen Theorien, laut Kölbel, um solche, die für eine Gruppe von Gegenständen erstens behaupten, dass es relativ auf die Festlegung eines Parameters ist, ob diese Gegenstände eine bestimmte Eigenschaft haben, zweitens, dass es mehr als eine relevante Möglichkeit gibt, den Parameter festzulegen, und drittens, dass einige der Gegenstände die Eigenschaft relativ auf einen Wert des Parameters besitzen, relativ auf einen anderen aber nicht. Was genau diese drei Bedingungen bedeuten, lässt sich besser anhand ihrer Anwendung auf konkrete Theorien darstellen und wird deswegen in der Auseinandersetzung mit spezifischen Formen des Relativismus genauer zu klären sein. Die Wahl fällt deswegen auf Kölbels Definition, weil sie m. E. schlicht die beste Relativismusdefinition ist, die sich in der gegenwärtigen Debatte finden lässt. Um diese Einschätzung rechtfertigen zu können, wird es allerdings zunächst notwendig sein, ihre hervorstechendste Stärke zu demonstrieren – und das ist ihre Anwendbarkeit auf die verschiedensten Formen des Relativismus. Die folgenden Darstellungen relativistischer Theorien mit Hilfe von Kölbels Schemata sollen also nicht nur die Charakteristika spezifischer Formen des Relativismus darlegen, sie sind ebenfalls als Demonstrationen der Nützlichkeit und Fruchtbarkeit von Kölbels Relativismusdefinition gedacht. Eine ausführliche Begründung der Wahl von Kölbels Definition im Gegensatz zu anderen Relativismusdefinitionen wird den Abschluss dieses Teils der vorliegenden Arbeit bilden. Dieses Vorgehen ist notwendig, um sicherzustellen, dass die Beurteilung vorgeschlagener Definitionen des Relativismus auf einer Grundlage der Vertrautheit mit den Theorien, die von ihnen erfasst werden sollen, stattfinden kann. Kölbel (2002), 118 (Hervorhebungen seine).
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Auf den ersten Blick kann diese Strategie zirkulär wirken – zuerst wird Kölbels Definition verwendet, um festzulegen, welche Theorien relativistisch sind, um dann zu zeigen, dass Kölbels Definition die geeignetste ist, um relativistische Theorien zu identifizieren – aber dieser Eindruck täuscht. Denn Kölbels Relativismusdefinition soll in den folgenden Kapiteln nicht dazu verwendet werden, Theorien aus dem Bereich des Relativismus auszuschließen. Sie spielt keine Rolle für die Auswahl der zu besprechenden Theorien. Diese Rolle kommt vielmehr dem Gebrauch der Bezeichnung „Relativismus“ in der gegenwärtigen Debatte zu (selbstverständlich unter Beachtung der in der Einleitung angesprochenen Präsenz von Relativismus-Strohmännern, denen keine tatsächlich vertretenen Theorien entsprechen). Stattdessen findet die Anwendung der Definition auf konkrete relativistische Theorien deswegen statt, um zu zeigen, dass sie gut geeignet ist, um deren Kerngedanken herauszuarbeiten und eine Vergleichbarkeit disparater Ansätze herzustellen.
1.1 Globaler und lokaler Relativismus Die meisten Einteilungen des Relativismus unterteilen Theorien nach den Themenbereichen, innerhalb derer relativistische Thesen aufgestellt werden. Grob lassen sich so drei Formen des Relativismus nach seinen jeweiligen Gegenständen unterscheiden: der ästhetische, der ethische (oder moralische) und der kognitive Relativismus. Diese Dreiteilung benutzen z. B. OʼGrady und Baghramian.² Letztere setzt sich damit ausdrücklich gegen die detailliertere Einteilung von Haack ab³, die folgendermaßen aussieht: () meaning () reference () truth () metaphysical commitment () ontology () reality () epistemic values () moral values () aesthetic values ⁴
(a) language (b) conceptual scheme (c) theory (d) scientific paradigm (e) version, depiction, description (f) culture (g) community (h) individual
Siehe OʼGrady (2002), 4 und Baghramian (2004), 5 f. Auch OʼGrady führt Haacks Typologie an, allerdings ohne sie zu kritisieren.Vgl. OʼGrady (2002), 4. Haack (1996a), 297.
1.1 Globaler und lokaler Relativismus
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Diese ist sozusagen eine Typologie nach dem Baukastenprinzip. Eine relativistische Theorie behauptet ja generell, dass irgendetwas relativ auf etwas Anderes ist. Das Relativierte soll man nun in der ersten Spalte finden, dasjenige worauf relativiert wird, in der zweiten, grundsätzlich sind verschiedene Kombinationen möglich. Ich stimme mit Baghramian darin überein, dass eine einfachere Einteilung, die sich darüber hinaus nur mit der ersten Spalte befasst, besser geeignet ist, um einen Überblick über relativistische Theorien zu erlangen.⁵ Außerdem scheint mir Haacks Ansatz viel an Gemeinsamem in verschiedenen Theorien zu überdecken. Einige der relativistischen Themenbereiche, die Haack aufzählt, liegen extrem nah beieinander, wie z. B. eine Relativität von Ontologie und Realität. So feingliedrige Unterscheidungen sind in einer detaillierten Diskussion einer konkreten Theorie mit Sicherheit sinnvoll, sie eignen sich aber nicht für den hier gesetzten Zweck. Was genau bezeichnen also die gröberen Kategorisierungen von ästhetischem, ethischem und kognitivem Relativismus? Der ästhetische Relativismus in seinen interessanten Ausprägungen beschäftigt sich mit Qualitätsurteilen über Kunst. Relativistische Theorien betrachten die Maßstäbe, die solchen Urteilen zugrunde liegen, z. B. als kultur-, epochen- oder schulspezifisch; allgemeinverbindliche Maßstäbe werden abgelehnt. Besonders in der Debatte um relativistische Semantiken trifft man aber auch auf Thesen bezüglich Geschmacksurteilen anderer Art, man könnte von einem kulinarischen Relativismus als Unterart des ästhetischen sprechen. Allerdings liegt hier wohl kaum eine interessante oder kontroverse Theorie vor.⁶ Die Aussage, dass Äpfel gut schmecken (oder eine vergleichbare Feststellung) wird sogar häufig als triviales Beispiel für Aussagen mit nur relativer Gültigkeit verwendet. Das kann entweder geschehen, um zur Motivation von andere Bereiche betreffenden Relativismen beizutragen oder um diese unplausibel zu machen, indem auf Disanalogien zwischen Urteilen bezüglich des Geschmacks von Äpfeln und z. B. moralischen Urteilen aufmerksam gemacht wird. Durch die Beschränkung auf ästhetische Urteile wird eine Selbstanwendung der betreffenden Theorien in der Regel unproblematisch;⁷ sie kann ja im Höchstfalle darauf hinaus-
Vgl. Baghramian (2004), 6. Damit soll natürlich nicht behauptet werden, dass es keine interessanten Theorien über solche Urteile geben kann. Es dürfte allerdings naheliegen, eine relativistische Theorie zu wählen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Bereichen geriete man wahrscheinlich unter Rechtfertigungsdruck, wenn man behaupten wollte, solche Urteile seien absolut gültig. Dies gilt wohlgemerkt nicht für alle Auffassungen des Bereichs der Ästhetik. Werden etwa Theorien zur Ästhetik selbst als aus ästhetischen Urteilen bestehend betrachtet und die Kriterien ihrer Korrektheit als identisch oder sich überschneidend mit den Kriterien für die Korrektheit
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laufen, dass solche Theorien relativ auf ein Bezugssystem ästhetisch wertvoll und in Bezug auf ein anderes ästhetisch wertlos sind. Deswegen ist der ästhetische Relativismus für diese Arbeit weitgehend irrelevant. Beim ethischen Relativismus geht es um die Frage des Status von Urteilen, die Handlungen als gut oder schlecht einordnen. Während absolutistische Theorien behaupten, moralische Urteile seien unabhängig von jeglichem Bezugssystem wahr oder falsch, vertreten moralische Relativisten die Auffassung, moralische Urteile könnten nur relativ auf z. B. das moralische Überzeugungssystem des Handelnden oder die Regeln einer bestimmten Gesellschaft wahr oder falsch genannt werden.⁸ Motiviert werden solche Theorien häufig durch die (als durch Erfahrung gegeben betrachtete) Vielfalt im moralischen Urteilen und Begründen und der Auffassung, dass es unmöglich sei, unabhängig zu rechtfertigen, dass der Ausgangspunkt des eigenen moralischen Urteilens dem anderer überlegen sein solle. Beim moralischen Relativismus ist zunächst nicht offensichtlich, warum es zu Problemen mit der Selbstanwendung und damit zu einer drohenden Selbstaufhebung kommen sollte. Wenn man aber bedenkt, dass Theorien aus dem Bereich der Ethik oft selbst normativen Charakter haben, wird ersichtlich, warum es zu problematischen Folgen für die relativistische Theorie kommen kann. Relativistische Theorien der Moral sind oft solche, die auf dem ‚Recht‘ des Anderen (des anderen Individuums, der anderen Kultur etc.) bestehen, seine eigenen moralischen Maßstäbe auszubilden und anzuwenden. Aus dieser Konstellation heraus kann es passieren, dass die Vorschrift aufgestellt wird, anderen keine Vorschriften zu machen. Welche Berechtigung eine solche Vorschriften verbietende Vorschrift haben kann, ist natürlich hochgradig fragwürdig. Dies ist vor allem deswegen ein dem ethischen Relativismus spezifisches Problem, weil es nur solche Theorien befällt, die zu einer ganz bestimmten Schlussfolgerung gelangen, deswegen wird auch der ethische Relativismus in dieser Arbeit nur am Rande diskutiert werden. Dem kognitiven Relativismus stellen sich Selbstanwendungsprobleme erstens sehr viel allgemeiner, da diese schon für die Grundgedanken der jeweiligen Theorien relevant sind, und zweitens stellt sich hier eine ganze Reihe untereinander verwandter (wenn auch einige auf bestimmte Formen des kognitiven Relativismus beschränkt sind) Schwierigkeiten. Den Bereich des kognitiven Relativismus könnte man grob so umgrenzen, dass es sich um diejenigen Relativismen handelt, die für die Erkenntnistheorie
ästhetischer Urteile im engeren Sinne (also der Beurteilung des ästhetischen Wertes von Kunstwerken etc.) betrachtet, kann auch hier die Frage der Selbstanwendung Probleme aufwerfen. Paralleles gilt für Theorien aus dem Bereich der Ethik. Bekannte Vertreter solcher Theorien sind z. B. Gilbert Harman und David Wong.
1.1 Globaler und lokaler Relativismus
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besondere Relevanz besitzen,⁹ also solche, die z. B. Wahrheit oder Begründung relativieren, aber auch solche, die sich mit Bezugnahme oder Wissenschaft befassen. Da der kognitive Relativismus aufgrund seiner besonderen Offenheit für Vorwürfe der Selbstaufhebung den Hauptgegenstand dieser Arbeit darstellt, wird weiter unten auf die verschiedenen Thesen eingegangen werden, die unter diesen Oberbegriff fallen. Hier soll zunächst kurz am Beispiel des alethischen Relativismus (also der Auffassung, dass Wahrheit relativ ist) veranschaulicht werden, warum der Vorwurf der Selbstaufhebung in diesem Bereich besonders naheliegt. Zunächst liegt dies daran, dass eine relativistische Theorie der Wahrheit klarerweise in ihren eigenen Gegenstandsbereich fällt: Als Theorie gehört sie zu denjenigen Gegenständen, die wahr oder falsch sein können. Diese Selbstbezüglichkeit ist notwendig für die Möglichkeit einer Selbstaufhebung,¹⁰ entscheidend ist allerdings ein zweiter Punkt, denn gefährlich kann diese Selbstbezüglichkeit nur dadurch werden, dass es sich um eine Theorie über eine für Theorien entscheidende Eigenschaft handelt, in diesem Fall die der Wahrheit.¹¹ Genau dieser Umstand macht den kognitiven Relativismus deutlich ‚selbstaufhebungsgefährdeter‘ als z. B. den ästhetischen. Selbst wenn ein ästhetischer Relativismus einen ungewöhnlich breiten Gegenstandsbereich hätte und auch vom ästhetischen Wert von Theorien spräche, gehört der ästhetische Wert, ganz im Gegensatz zum Wahrheitswert, nur selten zu den primären Beurteilungskriterien von Theorien. Entsprechend läuft ein alethischer Relativismus Gefahr, sich selbst eine schlechte Beurteilung auszustellen, denn zumindest für den Absolutisten scheint klar, dass relative Wahrheit eben nicht Wahrheit genug ist (dass der alethische Relativismus sich selbst als relativ wahr bezeichnet, wird durch die Selbstbezüglichkeit sichergestellt). Die Notwendigkeit des Auftauchens im eigenen Gegenstandsbereich hängt zusammen mit dem häufig gezogenen Kontrast von lokalem und globalem Relativismus. Deswegen befasst sich diese Arbeit auch primär mit globalen Relativismen, denn nur wenige lokale Relativismen sind in potentiell gefährlicher OʼGrady macht es sich m. E. etwas zu einfach, wenn er den kognitiven Relativismus als „all the relativism thatʼs left when you leave out moral and aesthetic relativism“ (OʼGrady 2002, 4) charakterisiert. Allerdings veranschaulicht dies auch, dass die Gruppe der kognitiven Relativismen eine sehr heterogene ist. Zur Frage der Möglichkeit von Selbstbezüglichkeit im Allgemeinen und ihrem Verhältnis zur Frage der Selbstaufhebung des Relativismus siehe die Einleitung. Dass Wahrheit eine entscheidende Eigenschaft von Theorien ist, würden übrigens einige Relativisten, wie z. B. Rorty oder Goodman, bestreiten oder zumindest stark qualifizieren wollen. Da es hier aber zunächst nur darum geht, warum es naheliegend ist, Selbstaufhebungsvorwürfe gegen den alethischen Relativismus zu erheben, bzw. warum er eine so erhebliche Angriffsfläche für solche Vorwürfe bietet, ist die mit Sicherheit weiter verbreitete Auffassung entscheidend.
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Weise selbstbezüglich; und der Vorwurf der Selbstaufhebung wird hier auch entsprechend seltener erhoben. Während sich ein lokaler Relativismus nur auf einen beschränkten Bereich von Urteilen oder Eigenschaften, also z. B. moralische, bezieht, erfasst der globale Relativismus seiner Intention nach eben alles. Hier könnte man einwenden, dass völlig unklar ist, was ein solcher globaler Relativismus denn sein solle. Der gerade als Paradebeispiel eines zu umfänglichen Relativismus angeführte alethische Relativismus sei jedenfalls keiner, er befasse sich ja gerade mal mit einer einzigen Eigenschaft, nämlich der Wahrheit. Ein solcher Einwand verkennt allerdings die theoretische Situation in weiten Teilen der gegenwärtigen Philosophie. Das Ausgehen von der Sprache, von Repräsentationen, Diskursen, Symbolen oder Urteilen ist inzwischen der Regelfall, nicht nur, aber vor allem in der Erkenntnistheorie. Kognitive Relativismen und ein Großteil ihrer Konkurrenztheorien sind von vornherein Theorien über Theorien. Erst in ihrer Auffassung des Verhältnisses von Theorie und Wirklichkeit unterscheiden sie sich voneinander. Oft tragen (kognitiv) relativistische Theorien sprachidealistische Züge, während ihre Gegner eher auf einen Realismus setzen, allerdings gibt es auch von dieser Regel einige Ausnahmen.¹² Entscheidend ist, dass die meisten kognitiven Relativismen sozusagen Aussagetheorien und nicht Eigenschaftstheorien sind und gleichzeitig eine grundlegende Rolle in der Philosophie einnehmen wollen. Sie wollen gewissermaßen die Grenzen setzen, innerhalb derer sich Eigenschaftstheorien überhaupt bewegen können, da diese als Theorien ja wahr, begründet etc. sein sollen. Da Aussagen, oder ihnen Verwandtes, das Mittel zur Thematisierung alles Anderen sind, ist die Wahrheit für den alethischen Relativismus nicht einfach eine Eigenschaft unter anderen. Vielmehr umfasst der alethische Relativismus alle lokalen Relativismen, wenn man auch diese als Theorien begreift, die davon sprechen, wie bestimmte Bereiche von Aussagen (also z. B. der Bereich der moralischen Aussagen) ihre Wahrheitswerte erhalten, und ist damit tatsächlich ein globaler Relativismus.¹³ Aber auch kognitive Relativismen die keine globalen Relativismen sind, werden im Folgenden eine Rolle spielen, wie z. B. der epistemische Relativismus. Unter epistemischem Relativismus versteht man eine Theorie, die davon ausgeht, dass Rechtfertigung relativ ist. Aber, so könnte man fragen, da auch die Eigen-
Barry Barnes spricht sich z. B. ausdrücklich gegen idealistisch geneigte Versionen des Relativismus aus. Vgl. Barnes (1992), 137 ff. Wie bereits erwähnt, sind sehr viele Theorien aus dem Bereich der Ethik ja auch explizit Theorien moralischer Aussagen oder Sätze. Dass es häufig die Möglichkeit gibt, relativistische Theorien als Theorien bestimmter Eigenschaften oder als Theorien bestimmter Aussagen zu begreifen, wird im Folgenden noch öfter eine Rolle spielen.
1.2 Eingrenzung des Bereichs der zu behandelnden Theorien
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schaft der Rechtfertigung für alle Aussagen zumindest potentiell relevant ist, warum ist ein alethischer Relativismus global und ein epistemischer Relativismus nicht? Entscheidend ist hier, dass der Rechtfertigungsstatus einer Aussage aus ihrem Verhältnis zu anderen Aussagen hervorgeht und nicht wie ihr Wahrheitswert mit dem Aussage-Welt-Verhältnis verbunden ist. Dadurch hat ein epistemischer Relativismus nicht dieselben weitreichenden Konsequenzen für das Verständnis von Tatsachen wie ein alethischer Relativismus.¹⁴ Trotzdem ist er nicht in demselben Sinne lokal wie ein typischer Bereichsrelativismus, wie z. B. ein ethischer Relativismus, denn er ist eine Theorie eines Status, der für alle Aussagen, oder präziser alle Behauptungen, relevant ist, und nicht eine Theorie eines spezifischen Diskursbereichs. Deswegen ist es sinnvoll, den epistemischen Relativismus einer dritten Kategorie zuzuordnen, die ich die der lokalen Relativismen von globaler Bedeutung nennen möchte. Von den im Folgenden noch näher zu behandelnden Formen des Relativismus gehört nicht nur der epistemische Relativismus zu dieser Gruppe, sondern auch relativistische Theorien der Logik. Sie teilen die entscheidenden Charakteristika, da auch sie sich einerseits nur auf eine ganz bestimmte Art der Verbindungen unter Aussagen beschränken, aber sich andererseits auf alle Aussagen beziehen und darüber hinaus eine typischerweise für epistemisch entscheidend gehaltene Art der Verbindung thematisieren.¹⁵ Durch diesen durch das zweite Charakteristikum sichergestellten Selbstbezug und die durch das dritte Charakteristikum sichergestellte Relevanz der Selbstzuschreibung für den epistemischen Status der fraglichen Theorie sind auch lokale Relativismen von globaler Bedeutung geeignete und beliebte Ziele für Selbstaufhebungsvorwürfe.
1.2 Eingrenzung des Bereichs der zu behandelnden Theorien Nachdem nun ein Eindruck davon vermittelt wurde, welche Theoriespielarten in dieser Arbeit mit dem Vorwurf der Selbstaufhebung konfrontiert werden sollen, wird in diesem Abschnitt dargelegt werden, dass und warum einige Typen von Ansätzen auf dem Gebiet der kognitiven Relativismen, die in der Relativismusdebatte eine zum Teil erhebliche Rolle spielen, im Folgenden höchstens am Rande vorkommen werden. Eine solche Abgrenzung ist erstens notwendig, da Selbst Diese Unterscheidung kann natürlich verschwimmen, wenn z. B. ein epistemischer Wahrheitsbegriff vertreten wird. Weitere Fälle lokaler Relativismen von globaler Bedeutung sind die Inkommensurabilitätstheorien von Feyerabend und Kuhn, obwohl bei ihnen die Gründe dafür, sie in diese Kategorie einzuordnen, leicht anders gelagert sind. Siehe dazu Abschnitt 1.5.5.1.1.
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aufhebungsargumente bisweilen gegen als relativistisch bezeichnete Positionen vorgebracht werden, gegen die sie prinzipiell nicht erfolgreich sein können oder in Bezug auf welche die Relevanz selbst einer ‚gelungenen Selbstaufhebung‘ hochgradig unklar wäre. Da solche Selbstaufhebungsargumente keine seltene Erscheinung sind, können sie in einer Arbeit zu Selbstaufhebung und Relativismus nicht kommentarlos außen vor gelassen werden. Auf der anderen Seite ist es nicht sinnvoll, sich in diesen Fällen mit einzelnen Selbstaufhebungsargumenten auseinanderzusetzen. Bei Angriffen auf Positionen, die prinzipiell nicht für die vorgebrachten Argumente empfänglich sind, ist es grundsätzlich nicht sinnvoll, und bei solchen, für die die Relevanz von Selbstaufhebungsvorwürfen fragwürdig ist, ist es nicht sinnvoll im Rahmen dieser Arbeit, da eine angemessene Auseinandersetzung mit der Relevanzfrage einer eigenen umfangreichen Untersuchung bedürfte. Zweitens ist eine Abgrenzung notwendig, da es einige relativistische Ansätze gibt, die auf Sprachauffassungen beruhen, die so grundlegend von den am weitesten unter Absolutisten verbreiteten Sprachauffassungen verschieden sind, dass die kritischen Auseinandersetzungen mit diesen relativistischen Ansätzen in einem solchen Ausmaß von Missverständnissen durchzogen sind, dass eine Besprechung von einzelnen Gegenargumenten wenig Sinn ergäbe. Die Ansätze, bei denen dieses Problem auftritt, überschneiden sich natürlich mit denen, die prinzipiell nicht für die gegen sie vorgebrachten Selbstaufhebungsargumente empfänglich sind, da Fehlinterpretationen natürlich auch zu falschen Zuschreibungen von Selbstzuschreibungen der fraglichen Theorien führen. Bei den Arten von Positionen, die hier kurz mit den Gründen für ihre Ungeeignetheit für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung angerissen werden sollen, handelt es sich erstens um solche, die selbst keine umfassenden und starken kognitivistisch-relativistischen Positionen sind und m. E. erst von ihren Kritikern durch ein Hineinlesen erkenntnistheoretischer Thesen zu potentiellen Zielen von bestimmten Selbstaufhebungsargumenten gemacht werden. In dem hier zu gebenden Beispiel beruht dieses Hineinlesen auf der gerade angesprochenen Situation radikal unterschiedlicher Sprachauffassungen und den damit einhergehenden Missverständnissen. Diese Situation wird anhand eines Beispiels aus dem Bereich des sog. Kulturrelativismus besprochen werden. Zweitens wird es um Positionen gehen, die sich in einem solchen Ausmaß vom Ideal der kohärenten Theorie verabschieden, dass völlig unklar wird, was ein etwaiges gültiges Selbstaufhebungsargument gegen sie ausrichten sollte. Ansätze dieser Art sollen exemplarisch am Fall Feyerabends diskutiert werden. Zuletzt (und mit Positionen des zweiten Typs zusammenhängend) wird es um Ansätze gehen, die ihre relativistische Ausrichtung zur Grundlage einer pauschalen Ablehnung klassischer Logik bzw. von deren Verbindlichkeit erklären und damit grundsätzliche Fragen
1.2 Eingrenzung des Bereichs der zu behandelnden Theorien
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zur Durchführbarkeit (und wiederum Relevanz) von gegen sie gerichteten Selbstaufhebungsargumenten akut werden lassen.
1.2.1 Die Rationalitätsdebatte Als Beispiel für relativistische Ansätze, die von einer solch grundlegend anderen Sprachauffassung ausgehen als ihre Kritiker, dass die sie umgebenden Diskussionen vornehmlich auf Missverständnissen beruhen, soll hier Peter Winchs in die Richtung eines Kulturrelativismus gehender Ansatz bzw. die ihn umgebende Rationalitätsdebatte vorgestellt werden. Die Rationalitätsdebatte hatte ihren Höhepunkt in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts,¹⁶ sie ist an der Schnittstelle von Sprachphilosophie und Ethnologie angesiedelt. Entsprechend speist sie sich aus zwei Quellen: einerseits aus den sprachphilosophischen Überlegungen zur Übersetzung von Quine und andererseits aus den methodischen Problemen der Ethnologie im Zusammenhang mit der Interpretation scheinbarer Irrationalität.¹⁷ Stellvertretend für Letztere wird vor allem Evans-Pritchards Interpretation der magischen Praktiken der Azande diskutiert,¹⁸ seine einschlägige Arbeit durchzieht die Debatte als das Standardbeispiel. Dass sie diese prominente Rolle einnimmt, kann nicht überraschen, denn es ist Winchs Kritik eben dieser Interpretation bzw. ihrer Voraussetzungen, die die Debatte einläutet. Die Rationalitätsdebatte ist aus mehreren Gründen ein wichtiger Teil der Relativismusdebatte der letzten Jahrzehnte. Erstens ist ihre Form, die Frage nach dem kognitiven Relativismus zu stellen, noch heute hochaktuell: Ob es absolute Kriterien der Rationalität gibt und was dies mit dem Verhältnis verschiedener Sprachen zueinander zu tun hat, ist eine Thematik, die nichts von ihrer Relevanz verloren hat. Zweitens ist sie wichtig durch ihre Nachbarschaft zur Inkommensurabilitätsdebatte. Auch wenn diese Verbindung selten explizit hergestellt wird¹⁹
Die meisten wesentlichen Beiträge sind in einigen wenigen Aufsatzsammlungen versammelt: Hollis und Lukes (1982a), Finnegan und Horton (1973) sowie Wilson (1970). Eine gelungene Aufarbeitung findet sich in Fretlöh (1989). Vgl. Fretlöh (1989), 15 ff. Zu finden in Evans-Pritchard (1937). Obwohl auch Paul Feyerabend einen Aufsatz in einem der einschlägigen Sammelbände veröffentlicht hat. Das hat möglicherweise damit zu tun, dass Feyerabend interessanterweise eine völlig andere Position vertritt als Winch, der als der Relativist der Debatte gilt. Während nämlich Winch dafür plädiert, die seltsam anmutenden Aktivitäten anderer Gesellschaften nicht an unseren Maßstäben zu messen, um sie nicht zu defizitärer Wissenschaft erklären zu müssen, wie Evans-Pritchard es getan hatte, schlägt Feyerabend geradezu den entgegengesetzten Weg ein. Ziel seiner Kritik sind nämlich Erklärungen für Verhalten, die es entintellektualisieren. Also z. B.
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(vielleicht ist sie auch zu offensichtlich, um das zu tun), sind die Überschneidungen erheblich. Denn beide Debatten befassen sich mit der Frage nach den gesellschaftlichen Grundlagen von Kriterien eines positiven kognitiven Status, und beide tun dies in erheblichem Ausmaß mit sprachphilosophischen Mitteln. Drittens ist sie aus dem Blickwinkel der Entwicklung der analytischen Sprachphilosophie interessant, da sie sozusagen auf dem Weg von Quine zu Davidson liegt. Viertens und letztens kann man an der Rationalitätsdebatte sehr schön sehen, wie unterschiedliche Auffassungen in der Sprachphilosophie nicht nur zu weitergehenden philosophischen Differenzen führen, sondern auch für Missverständnisse sorgen können, die ein echtes Gespräch über eben diese Differenzen nahezu unmöglich machen. Diese beiden letzten Punkte bilden die Ansatzpunkte für die folgende knappe Behandlung der Rationalitätsdebatte. Betrachtet man die Positionen in der Rationalitätsdebatte, wird schnell klar, dass hier zwei Sprachauffassungen aufeinanderprallen. Während Winch, der im Folgenden stellvertretend für die relativistische Seite der Debatte auftreten soll,²⁰ eine stark am späten Wittgenstein orientierte Auffassung vertritt, sind seine Gegenspieler in einer etwas klassischeren Sprachvorstellung zuhause, die man aufgrund offensichtlicher Ähnlichkeiten mit Quines²¹ Überlegungen zur Übersetzung in Verbindung bringen könnte.²² Winch kritisiert Evans-Pritchard dafür, dass er die magischen Praktiken der Azande als einen Versuch der Welterklärung deutet, der an denselben Maßstäben zu messen sei wie die Wissenschaft und dabei natürlich nur verlieren kann. Dabei benutzt er Begriffe der Wittgensteinʼschen Sprachphilosophie, wie den der Lebensform und den des Sprachspiels, um nahezulegen, dass der Vorgehensweise der Azande eigene Rationalitätsmaßstäbe innewohnen. Schafft man es wie Evans-Pritchard nicht, diese zu
solche, die es für symbolisch oder rituell erklären. Stattdessen möchte Feyerabend die andersartige Welterklärung finden, die sich seiner Meinung nach dahinter verbirgt. Winch ist auch der wichtigste Proponent einer relativistischen Position, insofern tut man der Debatte kaum Gewalt an, wenn man sich auf ihn beschränkt. Auf der absolutistischen Seite sieht das etwas anders aus, trotzdem wird auch dort eine Beschränkung auf zwei Autoren nötig sein, um die Übersichtlichkeit der vorzustellenden Positionen zu gewährleisten. Chronologisch betrachtet wäre es natürlich unsinnig, Quine als klassischer als Wittgenstein zu bezeichnen, ich hoffe die Eigenschaften der Quineʼschen Sprachauffassung, auf die ich hinauswill, werden im Folgenden noch klarwerden. Allerdings muss hier dazu gesagt werden, dass es für die große Rolle, die Sprache in der Debatte spielt, erstaunlich wenig explizite Auseinandersetzungen mit sprachphilosophischen (oder übersetzungstheoretischen) Grundlagen gibt. Interessant ist auch, dass die antirelativistische Seite der Rationalitätsdebatte Quine dem relativistischen Lager zuschlägt. Vgl. Hollis und Lukes (1982b), 4 ff.
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finden, und überträgt deswegen die eigenen, kann es laut Winch gar nicht gelingen, die den Vorgängen eigene Rationalität herauszustellen. Es gibt eine große Anzahl an Antworten auf Winch, und die meisten beziehen sich kritisch auf ihn. Zwei davon haben mehr Einfluss auf die philosophische Debatte gehabt als die anderen, und sie sind am explizitesten eine Abwehr gegen das, was sie als Winchs Relativismus wahrnehmen, deswegen werden diese beiden hier herausgegriffen, um die Gegenseite darzustellen. Erstens ist das Steven Lukes, er sieht sich selbst als Vertreter einer vermittelnden Position zwischen den beiden radikalen Enden von Winchs Relativismus einerseits und einem (in der Debatte selbst eigentlich nicht auftretenden) strikten Absolutismus²³ andererseits. Dabei ist sein Vermittlungsvorschlag eine Unterscheidung zwischen universellen und lokalen Rationalitätskriterien. Dass diese Konzeption eine strikte Unterordnung der selbst hervorgebrachten Maßstäbe der jeweiligen „Sprachspiele“ unter die allgemeingültigen bedeuten muss, scheint Lukes nicht aufzufallen. Das liegt möglicherweise an den einigermaßen neutralen Bezeichnungen „lokal“ und „universell“, aber es ist eigentlich offensichtlich, dass hinter dieser Unterscheidung der Kontrast von notwendigen und wohl nicht einmal kontingenten, sondern bloß zufälligen Rationalitätskriterien steht.²⁴ Denn erstens wird die Unterscheidung so verstanden, dass die universellen Kriterien in allen Rahmen gelten müssen (es ist nicht etwa so, dass es allen Rahmen freisteht, sie zu verwenden, oder empirisch dafür argumentiert würde, dass sie von allen Rahmen verwendet werden), und damit ist es zweitens so, dass die lokalen Kriterien mit diesen in Übereinstimmung stehen müssen, was diese, drittens, zu nicht viel mehr als de Bei den Teilnehmern der Rationalitätsdebatte selbst ist in der Regel die Rede von universellen Kriterien als Gegensatz zu relativen, nicht von absoluten. Allerdings legt die Art und Weise der Begründung ihrer Universalität nahe, sie als absolute im Rahmen der in dieser Arbeit verwendeten Terminologie aufzufassen. Denn die Begründung erfolgt nicht etwa anhand empirischer Untersuchungen über die Gemeinsamkeiten der Rationalitätskriterien der Welt, sondern es wird im Vorhinein eine Einschränkung getroffen, was überhaupt bei einer solchen Untersuchung herauskommen könnte. Auch der immer wieder auftauchende Bezug auf Erfahrungen beim Übersetzen oder bei ethnologischen Untersuchungen im Allgemeinen ist, da hier so gut wie nicht auf Konkreta eingegangen wird, nur ein sehr dünner Schleier über dem bisweilen recht unreflektierten Apriorismus. Strikte Absolutismen scheinen hier allerdings insofern nicht vorzuliegen, als die Positionen der Relativismusgegner zumindest mit pluralistischen Theorien vereinbar scheinen, d. h. mit solchen, die zwar vieles für relativ erklären, aber an einem Kern absoluter Wahrheiten, Regeln der Rationalität o. Ä. festhalten. Zur Unterscheidung von Absolutem und Universellem siehe Abschnitt 1.8.3. Zur Unterscheidung von Pluralismus und Relativismus siehe Abschnitt 1.3. Das entspricht interessanterweise in etwa dem, was Hollis meint, dass es Lukes besser hätte sagen sollen. Der Unterschied zwischen den Positionen von Hollis und Lukes ist m. E. also hauptsächlich ein terminologischer. Vgl. Hollis (1970), 214 ff.
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korativem Beiwerk macht, denn schließlich ist die Unterscheidung in Rationales und Irrationales durch die universellen Kriterien schon weitgehend bestimmt und darf nicht angetastet werden.²⁵ Inwiefern sein Vorschlag aber in diesem Lichte als Kompromiss erscheinen kann, ist nicht wirklich nachvollziehbar. Der zweite wichtige Beitrag der Relativismusgegner, der hier zu besprechen ist, ist der von Martin Hollis. Er baut auf Lukesʼ Argumentation auf, aber deren Ergebnisse, sprich universelle Kriterien, sind ihm zu schwach, ihm geht es darum, dass ein Feststellen anderer Rationalitätskriterien, Wahrnehmungsweisen oder konzeptueller Systeme unmöglich sei und sich dies a priori nachweisen lasse.²⁶ Für Hollis ist es die Annahme eines „bridgehead“²⁷, die die Übersetzung einer fremdartigen Sprache überhaupt erst möglich mache.²⁸ Was diese recht harmlos anmutende These zu einer absolutistischen macht, ist der Status, der den Inhalten eines solchen Brückenkopfes zugebilligt wird. Denn Hollis ist der Überzeugung, dass diese Inhalte notwendige Wahrheiten sind. Obwohl seine Gründe dafür, sie als wahr zu bezeichnen, nicht ganz klarwerden,²⁹ sieht das Argument dafür, etwas als notwendige Annahme in den
Lukesʼ Haltung kommt auch klar zum Ausdruck in seiner Feststellung, dass „beliefs are not only to be evaluated by the criteria that are to be discovered in the context in which they are held; they must also be evaluated by criteria of rationality that simply are criteria of rationality“ (Lukes (1970), 208 (Hervorhebungen seine)). Darüber hinaus schlägt sie sich deutlich in seiner Argumentation für die Existenz solcher „criteria of rationality that simply are criteria of rationality“ nieder. Diese ähnelt nämlich insofern der gleich noch vorzustellenden Argumentation von Hollis (sowie Quines Überlegungen zu Logikzuschreibungen unter Bedingungen von radical translation und Davidsons Argumentation gegen die Möglichkeit von Begriffsschemata), als sie u. a. geteilte logische Regeln als notwendig für Verstehen und Zuschreibungen von Sprache und Denken auszeichnet. Vgl. Lukes (1970), 206 ff. Das ist zwar, wenn auch nur in Bezug auf Rationalitätskriterien, auch das, was Lukes tut; dessen Ausdrucksweise verschleiert allerdings, wie oben dargelegt, dass seine Argumentation auf eine A-priori-Unmöglichkeit von Alternativen zum Absolutismus hinausläuft. Bei Hollis wird diese zum expliziten Beweisziel. Hollis (1970), 214. Diese These erinnert natürlich an Quines Thesen zur radikalen Übersetzung und an die späteren Ausführungen von Davidson, und sie scheint eine konsequente Weiterführung von Lukesʼ Argumentation für die Universalität der Logik zu sein. Hollis argumentiert folgendermaßen: „[A]lthough it is an empirical matter to discover how the natives signal the difference between assertion and denial, ‚yes‘ and ‚no‘, ‚true‘ and ‚false‘, it is not a hypothesis that they have such distinctions. For, to check such a ‚hypothesis‘, the anthropologist would have to establish the meanings of utterances in the bridgehead independently of whether they were used to assert what was taken to be true. But this cannot be done, as their translation depends on what linguistic function they are taken to perform. Consequently the only alternative to finding an overlap in concepts and percepts is to find nothing at all.
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Brückenkopf aufzunehmen, immer gleich aus. Um überhaupt zu einer Übersetzung der Äußerungen der zu untersuchenden Menschen zu gelangen, müssen einige einfache Sätze aus unserer und der fremden Sprache gleichgesetzt werden; auf diesen aufbauend können dann auch kompliziertere Sätze und abstraktere Begriffe übersetzt werden. Diese Äquivalenzannahmen bilden den Brückenkopf, der seinen Notwendigkeitsstatus dadurch erhält, dass die in ihm enthaltenen Annahmen unrevidierbar sind. Da sie die Grundlage dafür bilden, dass überhaupt übersetzt werden kann, können sie nicht aufgrund von neuen Übersetzungen zurückgenommen werden. Auf diesem Wege wird dann begründet, dass notwendigerweise alle Menschen ungefähr dieselben Wahrnehmungen, ungefähr dieselben Konzepte, ungefähr dieselbe Logik, ja sogar ungefähr dasselbe Rationalitätsverständnis besitzen. Es ist nicht nur so, dass diese Überlegungen in ihrer mangelnden Auseinandersetzung z. B. mit der Frage was in diesem Zusammenhang Wahrnehmung bedeutet und ihrer im Vergleich hastigen und dogmatischen Zuerkennung von Wahrheit in der Differenzierung weit hinter den älteren Überlegungen aus Quines
If this is right, then the assertions comprising the bridgehead will have to be coherent and, indeed, true. Again it looks as if native notions of coherence and truth need not coincide with the anthropologistʼs own. But again, if this is taken as a hypothesis, it generates a vicious circle. […] If these concepts were in doubt, the anthropologist would have to know what they were, before he could translate the utterances which they linked, and would have to translate the utterances in order to find how they were linked. Again there would be no way into the circle. So some overlap in concepts and percepts is a necessary condition of successful translation. The sine qua non is a bridgehead of true assertions about a shared reality.“ (Hollis (1970), 215 f. (Hervorhebungen seine)) Hollis springt hier zwischen drei m. E. sehr unterschiedlichen Fragen hin und her. Erstens, besitzt die zu übersetzende Sprache dieselben Konzepte von wahr und falsch? Zweitens, halten die Sprecher der zu übersetzenden Sprache ihre Behauptungen für wahr? Drittens, sind die Aussagen des bridgehead wahr? Die erste und zweite Frage sind durchaus miteinander verbunden, denn dass die Sprecher der zu übersetzenden Sprache klarerweise ein anderes Konzept von Wahrheit benutzen würden, wenn sie ihre Behauptungen nicht für wahr hielten (da in unserer Sprache Behaupten und Fürwahrhalten eng zusammenhängen), ist die Antwort auf die zweite Frage entscheidend für die erste. Andersherum hat die erste Frage auch Relevanz für die zweite, denn, wenn wir es mit zwei unterschiedlichen Konzepten von wahr zu tun hätten, müsste zunächst klargestellt werden, im Sinne von welchem der beiden Konzepte der Ausdruck „wahr“ in der zweiten Frage zu lesen ist. Die dritte Frage jedoch scheint von den anderen weitgehend unabhängig zu sein, denn für Hollisʼ Anforderungen sollte es eigentlich keinen Unterschied machen, ob wir es mit geteilten Wahrheiten oder geteilten Irrtümern zu tun haben. Der entscheidende Faktor für die Möglichkeit der Übersetzung, so wie Hollis sie vorstellt, ist eine Übereinstimmung in Konzepten und Fürwahrhalten zwischen den Sprechern der zu übersetzenden Sprache und dem Übersetzer; ob sie damit wiederum richtig liegen oder lediglich denselben Irrtümern anhängen, ist schlicht irrelevant. Der Schritt in Hollisʼ Argumentation vom Fürwahrhalten zur Wahrheit geschieht also völlig unmotiviert.
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Word and Object zurückbleiben, die Argumentation ist so schlicht ungültig.³⁰ Die angeblich aufgetanen Grenzen von Relativismus und Irrationalität beruhen auf der irrigen Vorstellung, der Ausgangspunkt einer Übersetzung könne im Nachhinein nicht revidiert werden. Aber warum sollte das so sein? Natürlich kann man nicht, ohne irgendwelche Äquivalenzen anzunehmen, an eine Übersetzung herangehen, aber es besteht kein prinzipielles Problem dabei, die Annahmen darüber, welche Ausdrücke äquivalent sind, Stück für Stück zu revidieren. Um es anders auszudrücken: Aus Hollisʼ Position folgt, dass es unmöglich ist, in den Anfangsstadien eines Übersetzungsgeschehens Fehler zu machen. Möglicherweise sollte man Hollisʼ Position einfach schwächer lesen. Seine moderateren Formulierungen, wie z. B. es müsse „some overlap“³¹ zwischen unseren Konzepten und denen der zu übersetzenden Sprache geben, klingen durchaus vernünftig, sie könnten als Hinweis auf eine andere Lesart gedeutet werden. Allerdings ginge eine solche Lesart ganz klar gegen Hollisʼ eigene Rhetorik und seine bewusst stark gewählten Ausdrücke (die er explizit im Kontrast zu Lukes gebraucht). Zwei Dinge fallen auf: Erstens findet eine Verschiebung statt von der Frage der Verhaltensinterpretation zu Fragen von Übersetzung und Verstehbarkeit. Zweitens scheinen Antworten wie die von Hollis und Lukes in einem gewissen Maße am Ziel vorbeizuschießen, denn sie versuchen zwar, die Winchs Kritik innewohnenden relativistischen Tendenzen auszuhebeln, aber mit der Kritik selbst setzen sie sich eher oberflächlich auseinander. Die Verkürzung von Winchs Ansatz auf seine Rede von anderen Rationalitätskriterien und das mit Winch kaum kompatible Verständnis eben dieses Ausdrucks stehen einer fruchtbaren Auseinandersetzung im Wege. Sowohl Hollis als auch Lukes behandeln Rationalitätskriterien als Zulässigkeitsbedingungen für Behauptungen, während der Punkt von Winch zu sein scheint, dass die fraglichen Sprachhandlungen eben nicht ohne weiteres als Behauptungen zu betrachten sind. Das wird deutlich in seiner Kritik an einem anderen Teilnehmer der Debatte: „He thinks that the Zande ‚belief‘ is a sort of hypothesis like, e. g., an Englishmanʼs belief that all the heavy rain we have been having is due to atomic explosions.“³² Stattdessen schlägt er vor, könne es sich um den Ausdruck einer Einstellung zu den „contingencies“³³ des eigenen Lebens handeln. So wie Winch ihn an dieser Stelle vorlegt, ist das zwar kein ausgear-
Was übrigens auch aus Quines Ausführungen zu ersehen ist. Hollis macht es sich schlicht zu einfach. Hollis (1970), 216. Winch (1970b), 103. Winch (1970b), 104.
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beiteter Vorschlag, er lässt aber deutlich werden, dass es Winch eher darum geht, dass die Azande hier einen anderen Modus des Sprechens pflegen, der deswegen auch andere Kriterien für die Rationalität einer bestimmten Äußerung hat,³⁴ während Hollis und Lukes die Rede von anderen Rationalitätskriterien so zu verstehen scheinen, dass unterstellt werde, die Azande setzten Inhalte anders in Beziehung. Hier tritt deutlich zutage, dass zwei verschiedene Auffassungen von Sprache die Ursache des Missverständnisses und vielleicht sogar der Auseinandersetzung als ganzer sind. Denn in einem auf den Inhalt des Sprechens oder auf das Verhältnis von Sprache und Welt fixierten Sprachverständnis, wie es sich eben z. B. auch bei Quine findet, in dem verschiedene Modi des Sprechens höchstens als später zu lösendes Spezialproblem auftauchen, muss das Verständnis von Rationalitätskriterien anders ausfallen als in einer am späten Wittgenstein orientierten Sprachauffassung. Immerhin gilt der späte Wittgenstein nicht zu Unrecht als der Anstoß für Austins Sprechakttheorie. In Anlehnung an Wittgenstein ließe sich sagen, eine Sprachauffassung wie die von Quine, Hollis und Lukes tut so, als gäbe es in allen Spielen nur eine einzige Art von Zug, z. B. das Bewegen einer Spielfigur über ein Brett, die Frage ist dann nur noch, in welche Richtung man sie schiebt, wie viele Felder man geht etc. Dabei übersieht man, dass in anderen Spielen auch Bälle geworfen werden oder Karten abgelegt. Um die Sprachspielmetapher zu verlassen: Hier wird so getan, als gäbe es nur Behauptungen, alle anderen Sprechweisen gelten als abgeleitet, philosophisch uninteressant o. Ä. (was interessanterweise einem der Hauptkritikpunkte, die der späte Wittgenstein an seinem Frühwerk anbringt, entspricht). Der Punkt ist also, dass in einer an Wittgensteins Sprachspielauffassung orientierten Theorie die Frage nach der Art der Äußerung eine zentrale Rolle bei der Frage nach der Rationalität oder Irrationalität eben dieser spielen muss. Diese Dimension steht in der inhaltsfixierten Nur-Behauptungen-Sprachphilosophie, wie sie den Ansätzen von Lukes und Hollis zugrunde zu liegen scheint, aber überhaupt nicht zur Verfügung. Rationalität wird hier zu einer Frage, die sich allein auf das Verhältnis verschiedener Inhalte zueinander beziehen kann, dadurch ist das Ausgangsproblem aber ein völlig anderes geworden. Darüber hinaus ist festzustellen, dass man bei dieser Diskussionslage zunächst gar nicht annehmen muss, Winchs Position sei eine kognitiv-relativistische. Denn da verschiedene Arten von Äußerungen völlig verschiedene Zwecke und Funktionen haben können und Winch die Identität von Sprachspielen ex-
Für eine aktuellere Interpretation von Winchs Relativismus, die in eine ähnliche Richtung geht, siehe Schilbrack (2009).
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plizit an das Verfolgen unterschiedlicher Zwecke bindet, liegt es nahe, dass eine Beurteilung ihrer Rationalität verschiedene Kriterien in Anschlag nehmen muss. Daraus muss keine kognitiv-relativistische These erwachsen, die fraglichen Funktionen und mit ihnen verbundenen Maßstäbe könnten sehr wohl in einer umfassenden wissenschaftlichen Theorie erschöpfend behandelbar und als geeignet für ihre jeweiligen Zwecke begründbar sein, was eher eine pluralistische Auffassung nahelegt.³⁵ Es steht zu vermuten, dass Winch sogar genau das vorschwebt. In seinen Ausführungen über die Unterschiede zwischen naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Methode geht es Winch vor allem darum, dass, während für die naturwissenschaftliche Forschung die Regeln lediglich eines Sprachspiels relevant sind, bei der sozialwissenschaftlichen Forschung zwei Ebenen von Regeln eine Rolle spielen, nämlich einerseits die Regeln sozialwissenschaftlicher Forschung und zweitens die Regeln der zu erforschenden Gruppe. Das soll nicht heißen, dass die sozialwissenschaftliche Forschung zu beiden Regelwerken im selben Verhältnis stünde oder dass sie sich an die Regeln der untersuchten Gesellschaft zu halten habe.³⁶ Es heißt aber sehr wohl, dass sie diese Regeln kennen und in ihren Beschreibungen zur Anwendung bringen muss, denn die Kategorisierung und Bewertung von Handlungen, die eine bestimmte Gesellschaft vornimmt, ist selbstverständlich hochgradig relevant, wenn eben jene Handlungen erklärt werden sollen. Bezüglich der Kategorisierung von Handlungen ist zu bemerken, dass Winch also sehr wohl davon ausgeht, dass unterschiedliche Gesellschaften unterschiedliche Konzepte ausbilden und nutzen, was für einen Ethnologen auch schwerlich bestreitbar sein dürfte. Insofern ist es nachvollziehbar, dass Hollis und Lukes auf Übersetzungsprobleme abstellen. Nichtsdestotrotz ist die konzeptuelle Ebene für Winch nicht dasjenige, worauf zu relativieren ist, sondern selbst relativ; und die in Frage stehenden Verhaltensweisen lassen sich laut ihm auch nicht (allein) durch konzeptuelle Unterschiede erklären, sondern beruhen auf den unterschiedlichen Zwecken unterschiedlicher Sprachspiele, die eben auch die Ausbildung unterschiedlicher Konzepte bedingen. Die Regeln des Sprachspiels, das die zu untersuchende Gesellschaft spielt, sollten laut Winch also eine erhebliche Rolle für den Sozialwissenschaftler spielen, sie verbleiben aber insofern grundsätzlich auf der Objektseite, als sie nur als einzelne und in instrumenteller Funktion in das Sprachspiel des Wissen Zur Unterscheidung von Pluralismus und Relativismus siehe Abschnitt 1.3. Winch scheint in diese Richtung gehende Fehlinterpretationen zu erwarten und spricht deswegen explizit davon, dass die Verwendung der Regeln der untersuchten Gesellschaft nicht „unreflective“ (Winch (1970a), 5) sein müsse.
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schaftlers aufgenommen werden; Unterschiede in den Rationalitätskriterien unterschiedlicher Sprachspiele werden als durch die unterschiedlichen Zwecke der Sprachspiele erklärbar angenommen.³⁷ Damit ist aber klar, dass gegen Winch die gerne gebrauchten Selbstaufhebungsvorwürfe gegen kulturrelativistische Auffassungen nicht verwendbar sind.³⁸ Diese Standardeinwände sind entweder der Form, dass er die radikal anderen Logiken etc. der Azande und anderer Kulturen nach seinen eigenen Voraussetzungen nicht einmal verstehen könnte, oder solche, nach denen er die eigene wissenschaftliche Arbeitsweise für relativ und damit arbiträr erklärt. Laut Winch haben wir es aber weder mit radikal anderen Logiken im Sinne einer anderen Weise, Inhalte in Beziehung zu setzen, zu tun, noch sind wissenschaftliche Methoden keiner Begründung fähig oder in irgendeiner Weise durch eine Konkurrenz der Regeln der zu untersuchenden Gesellschaften bedroht. Insofern ergibt es wenig Sinn, sich hier mit konkreten Selbst-
Vgl. Winch (1970a), 3 ff. Hier sieht man übrigens deutlich, dass es für Winch sehr wohl ein Problem mit Unverständlichkeit geben könnte, es ist nur vollkommen anders lokalisiert, als seine Kritiker annehmen, nämlich in der Möglichkeit von dem jeweiligen Forscher nicht nachvollziehbaren und dadurch nicht als solche erkennbaren Zwecken. Dieser potentiellen Schwierigkeit versucht Winch entgegenzuwirken, indem er „limiting notions“ einführt: „[t]he notions […] correspond closely to those Vico made the foundation of his idea of natural law, on which he thought the possibility of understanding human history rested: birth, death, sexual relations. Their significance here is that they are inescapably involved in the life of all known human societies in a way which gives us a clue where to look, if we are puzzled about the point of an alien system of institutions. The specific forms which these concepts take, the particular institutions in which they are expressed, vary very considerably from one society to another; but their central position within a society’s institutions is and must be a constant factor“ (Winch (1970b), 107). Diese Haltung ist ein weiterer Grund, Winch eher als Pluralisten denn als Relativisten einzuordnen. Siehe dazu auch Abschnitt 1.7.2.3. Dies gilt übrigens für einige Ansätze aus dem Bereich des Kulturrelativismus, insbesondere für die frühen Autoren, die diese Richtung der Theoriebildung geprägt haben, wie z. B. Franz Boas und Margaret Mead. Bei ihnen liegen die Missverständnisse zwar nicht an einer besonderen Sprachauffassung, sie sind aber kaum weniger weit verbreitet. Die frühen Vertreter des Kulturrelativismus verstehen ihre relativistischen Ansätze klarerweise nicht als Theorien über die relativistische Verfasstheit der Realität, sondern als methodische Ausrichtung, welche ein Korrektiv insbesondere zu den älteren evolutionistischen Ansätzen innerhalb der Ethnologie bilden soll, die sich darauf festgelegt hatten, andere Kulturen als frühere Entwicklungsstufen der eigenen zu begreifen und ihnen, damit einhergehend, einen niedrigeren Rang in einer moralischen, epistemischen etc. Hierarchie zuzuweisen (wie es z. B. in den Arbeiten von Lewis H. Morgan und J.G. Frazer geschieht). Eine kulturrelativistische Theorie in dem Sinne, wie der Ausdruck gemeinhin in der Philosophie verwendet wird, findet sich in der Ethnologie frühestens bei Melville J. Herskovits, und selbst dort ist die Textlage m. E. nicht ganz eindeutig. Einen ausführlichen Überblick über die frühe Phase des Kulturrelativismus in der Ethnologie bietet Rudolph (1968). Siehe auch Baghramian (2004), 88 ff.
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aufhebungsargumenten zu beschäftigen, da die radikal unterschiedlichen Sprachauffassungen in erheblichen Fehlinterpretationen bzgl. der für Fragen der Selbstaufhebungen relevanten Aussagen der Theorie resultieren.
1.2.2 Der Relativismus und das Ziel einer konsistenten Theorie Paul Feyerabend ist das relativistische Schreckgespenst der Wissenschaftstheorie und über sie hinaus. Trotzdem wird seiner Gesamtposition in dieser Arbeit keine weitere Aufmerksamkeit zuteilwerden. Der Grund dafür ist seine Haltung zur philosophischen Theoriebildung. Wie im Folgenden darzulegen sein wird, ist Feyerabend nicht im Geringsten daran interessiert, eine kohärente Erkenntnistheorie aufzustellen, er begreift sein Schreiben primär auf einer praktischen Ebene, für die unklar ist, ob überhaupt und, falls ja, in welcher Weise Vorwürfe der Selbstaufhebung Relevanz besitzen. Feyerabend ist ein schwieriger Autor und das aus mehreren Gründen. Erstens ist er eine einzigartige Figur in der analytischen Tradition. Egal mit welchem anderen Autor man ihn zu vergleichen versucht, der Vergleich gerät grundsätzlich unzureichend, obwohl es durchaus erhebliche Überschneidungen inhaltlicher Natur gibt. Ob Kuhn, Rorty oder Lakatos, sie alle teilen wichtige Ideen oder Impulse mit Feyerabend, trotzdem scheint Letzterer es konsequent immer einen Schritt weiter zu treiben. Zweitens erlaubt Feyerabends Schreibstil oft keine einfache Interpretation. Das Problem ist nicht, dass er sich einer übermäßig komplizierten Syntax oder einer eigenwilligen Terminologie bedienen würde; ganz im Gegenteil scheinen Feyerabends Texte auf den ersten Blick eher klar und einfach. Er bedient sich allerdings einer ausgeprägten Rhetorik, die es bei der Interpretation immer zu beachten gilt. Er verwendet gerne die Terminologie seiner philosophischen Gegner, um innere Spannungen in deren Positionen aufzuzeigen, aber er macht dies selten an den entsprechenden Stellen explizit. Insofern ist es immer wichtig zu fragen, ob solche Ausdrücke wie „Wahrheit“ oder „Rechtfertigung“ in Feyerabends Texten tatsächlich Teil einer Schilderung seiner eigenen Position sind bzw. sein können oder ob sie Teil einer ausgedehnteren argumentativ-rhetorischen Strategie sind, in der sich der Autor an genau die Leser richtet, die solche Begriffe bemühen würden. Feyerabend, und das ist Zeichen seiner Konsequenz, gibt sich nicht wie viele andere Philosophen der Illusion hin, seine Bücher seien auf Papier gebannte Gedanken, für ihn sind sie Texte, und als solche benötigen sie und richten sie sich an einen konkreten Leser. So verweist er z. B. explizit darauf, dass der in seiner Argumentation in Against Method zentrale Begriff des Fort-
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schritts von seinen Lesern, je nach philosophischer Ausrichtung, mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt werden könne.³⁹ Dass seine Texte nicht als theoretisch verstiegene Traktate zu verstehen sind, sondern als Versuche, eine bestimmte Wirkung hervorzurufen, macht Feyerabend auch mit seiner Selbstbeschreibung als Dadaist deutlich.⁴⁰ Damit möchte er nicht etwa behaupten, seine Bücher seien frei von Sinn. Vielmehr geht es um seine Position gegenüber dem, was er als das philosophische Establishment begreift, und um den Impuls der gesellschaftlichen Veränderung, den er mit seinem Schreiben setzen möchte. Wie der Dadaist in der Kunst zeichnet sich Feyerabend durch eine durchweg gesellschaftskritische Haltung und eine geradezu umstürzlerische Anti-Haltung gegenüber der Tradition, in der er sich bewegt, aus. Nur ist diese Tradition im Fall von Feyerabends Against Method die Wissenschaftstheorie. Seine Philosophie ist, obwohl sie meistens als eine radikale Wissenschaftskritik rezipiert wird, in erster Linie eine radikale Kritik der Wissenschaftstheorie. In zweiter Linie ist sie natürlich auch eine Kritik der Art und Weise, wie Wissenschaft heute betrieben und vor allem vermittelt wird, sowie der Tatsache, dass der Wissenschaft in unserer Gesellschaft eine solch herausgehobene Rolle zuerkannt wird. Diese Phänomene scheint er aber eher als Konsequenzen des verklärten Bildes, das einzelne Wissenschaftler, Gruppen mit politischem Einfluss und vor allem eben auch die Wissenschaftstheorie von den Wissenschaften zeichnen, zu sehen.⁴¹
Vgl. Feyerabend (1975), 27. „A Dadaist would not hurt a fly – let alone a human being. A Dadaist is utterly unimpressed by any seriouos enterprise and he smells a rat whenever people stop smiling and assume that attitude and those facial expressions which indicate that something important is about to be said. A Dadaist is convinced that worthwhile life will arise only when we start taking things lightly and when we remove from our speech the profound but already putrid meanings it has accumulated over the centuries (‚search for truth‘; ‚defense of justice‘; ‚passionate concern‘; etc., etc.) A Dadaist is prepared to initiate joyful experiments even in those domains where change and experimentation seem to be out of the question (example: the basic functions of language). I hope that having read the pamphlet the reader will remember me as a flippant Dadaist and not as a serious anarchist.“ Feyerabend (1975), 21 (Hervorhebungen seine). Wohlgemerkt wird für diese Ausführungen die erste Ausgabe von Against Method zugrunde gelegt, da diese wohl Feyerabends Werk mit dem stärksten Einfluss auf die Relativismusdebatte ist. Er streicht die Bezeichnung als Dadaist später und äußert sich auch zu seinen Gründen. Wichtig für die Zielsetzung dieses Kapitels ist dabei, dass Feyerabend diese Beschreibung (und andere Passagen aus Against Method) nicht etwa ablehnt, weil sie ihm im Nachhinein als zu radikal in ihrer Ablehnung des Ideals der kohärenten Theorie erscheinen. Vielmehr beschreibt er seine Haltung zur Zeit der Abfassung der ersten Ausgabe später als „just another example of intellectualistic conceit and folly“ (Feyerabend (1993), 266). Feyerabend wird in seinen späteren Schriften und späteren Ausgaben insbesondere zu einem noch radikaleren Partikularisten. Damit
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Das primäre Ziel der Angriffe Feyerabends ist der Versuch,Wissenschaft in ein Korsett von starren Regeln zu pressen. So richtet sich auch sein polemisches „anything goes“ gegen die Vorstellung von Wissenschaft als einem von einigen wenigen – von den logischen Empiristen oder auch Popper aufgedeckten – Regeln gesteuerten Prozess, der in immer gleicher Weise an immer neuen Gegenständen abläuft. „Anything goes“ ist nach Feyerabend nämlich nichts anderes als genau das, was ein Wissenschaftstheoretiker auf der Suche nach abstrakten und allgemeingültigen Regeln als oberstes Gesetz in der Wissenschaftsgeschichte finden müsste.⁴² Feyerabend glaubt aus einer Vielzahl von Gründen nicht an das Aufstellen solcher allgemeinen Regeln für die Wissenschaft und versucht in Against
ist gemeint, dass er dort nicht nur auf der Situiertheit von Wissen, Theorien etc. besteht, sondern auch – und das ist der Unterschied zum Feyerabend von 1975, wegen dem er auch die Bezeichnung als Dadaist ablegt – auf der Situiertheit der Wahrnehmung gesellschaftlicher Probleme und der Situiertheit entsprechender Lösungsstrategien. So lautet der Kontext des gerade schon zitierten späteren Verdikts folgendermaßen: „The praise of honour, patriotism, truth, rationality, honesty that fills our schools, pulpits, political meetings imperceptibly merges into inarticulation no matter how much it has been wrapped into literary language and no matter how hard its authors try to copy the style of the classics, and the authors themselves are in the end hardly distinguishable from a pack of grunting pigs. Is there a way to prevent such deterioration? I thought there was. I thought that regarding all achievements as transitory, restricted and personal and every truth as created by our love for it and not as ‚found‘ would prevent the deterioration of once promising fairy-tales and I also thought that it was necessary to develop a new philosophy or a new religion to give substance to this unsystematic conjecture. I now realize that these considerations were just another example of intellectualistic conceit and folly. It is conceited to assume that one has solutions for people whose lives one does not share and whose problems one does not know. It is foolish to assume that such an exercise in distant humanitarianism will have effects pleasing to the people concerned“ (Feyerabend (1993), 266 (Hervorhebungen seine)). Das heißt auch, dass vieles von dem, was hier gesagt wird, auf den späteren Feyerabend immer noch zutrifft; seine negativen Punkte ändern sich wenig, er ist z. B. weiterhin besorgt über den Einsatz von Wissenschaft und der ihr gesellschaftlich zugestandenen Autorität als Kontrollinstrument, er glaubt allerdings nicht mehr an universalisierbare Gegenstrategien und dass seine Sorgen bzw. deren Konzeptualisierung für jedermann relevant sind. Vgl. Feyerabend (1993), viii; 263 ff. „‚Anything goes‘ ist nicht das eine und einzige ‚Prinzip‘ einer neuen von mir empfohlenen Methodologie. Ich empfehle keine ‚Methodologie‘, ganz im Gegenteil, ich betone, daß die Erfindung, Überprüfung, Anwendung methodologischer Regeln und Maßstäbe die Sache der konkreten wissenschaftlichen Forschung und nicht des philosophischen Träumens ist. Philosophen haben in der Methodologie nichts zu suchen, außer sie nehmen an der wissenschaftlichen Forschung selbst teil. ‚Anything goes‘ ist die Weise, in der traditionelle Rationalisten, die an universelle Maßstäbe und Regeln der Vernunft glauben, meine Darstellung von Traditionen, ihrer Wechselwirkung und ihrer Änderungen werden beschreiben müssen. Für sie ist das Bild der Wissenschaften, das aus der historischen Forschung hervorgeht und ihre ‚Rekonstruktionen‘ ersetzt, in der Tat ohne Regel, ohne Vernunft und alles, was sie angesichts dieses Bildes sagen können, ist: anything goes“ Feyerabend (1979), 83 (Hervorhebungen seine).
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Method diese Auffassung plausibel zu machen. Dazu fährt er eine zweifache Strategie. Einerseits betont er, ähnlich Kuhn, die Heterogenität verschiedener Abschnitte der Wissenschaftsgeschichte, insbesondere mittels des Konzeptes der Inkommensurabilität.⁴³ Andererseits stellt er zu in der Wissenschaftstheorie vorgeschlagenen Regeln Gegenregeln auf und versucht, vor allem anhand historischer Betrachtungen, plausibel zu machen, dass eine Verpflichtung der Wissenschaft auf das Befolgen der jeweiligen Regeln (unter allen Umständen und ohne jegliche Ausnahmen) dem wissenschaftlichen Fortschritt hinderlich wäre. Hier wird ein weiterer Grund deutlich, warum es nicht immer ganz einfach ist, Feyerabend zu lesen. Wer seine Argumentation für seine Gegenregeln liest, kann leicht zu dem Eindruck gelangen, Feyerabend wolle, dass sich die Wissenschaft grundsätzlich nach diesen Regeln, anstatt nach den von seinen philosophischen Gegnern vorgeschlagenen, richtet. Doch man muss die Funktion dieser Argumentation im Gesamtzusammenhang des Buches beachten: Feyerabend argumentiert gegen das Aufstellen jeglicher allgemeiner Regeln und benutzt zu diesem Zwecke den Punkt, dass es Situationen gibt, in denen man das Gegenteil z. B. der von Popper vorgeschlagenen Regeln befolgen sollte, und dass es von erfolgreichen Wissenschaftlern tatsächlich befolgt wurde. Der größere Argumentationsgang bzw. die Absicht hinter bestimmten Abschnitten muss bei Feyerabend immer im Auge behalten werden. Seine Texte sind dafür gemacht, Wissenschaftstheoretikern ‚alten Schlages‘ die Aussichtslosigkeit ihres Tuns aufzuzeigen, und dafür, den schädlichen Einfluss eben solcher Theorien auf gesellschaftliche Zusammenhänge zu bekämpfen. Denn Feyerabend ist der festen Überzeugung, dass die Vorstellung von Wissenschaft als dem regelgeleiteten Auffinden von Wahrheiten einen negativen Einfluss sowohl auf unsere Vorstellungen von Erziehung und Bildung als auch auf die demokratische Verfasstheit unserer Gesellschaft hat. Zu starke Fixierung auf logisches Vorgehen und Regeln ‚vernünftigen‘ Denkens und Forschens lassen nach Feyerabend die Kreativität der so Erzogenen verkümmern. Er spricht auch von einer Vereinheitlichung des Denkens, die mit humanistischen Idealen unvereinbar sei.⁴⁴ Eine politische Gefahr sieht er vor allem in der Expertenkultur, die unser Wissenschaftsverständnis hervorgebracht hat. Wo der wissenschaftlichen Mehrheitsmeinung bereits als solcher ein privilegiertes Verhältnis zur Wahrheit eingeräumt wird, werden nach Feyerabend demokratische Entscheidungsabläufe unmöglich gemacht. Er vermutet die Gefahr einer drohenden Expertokratie und sieht, nicht
Das Phänomen der Inkommensurabilität wird in Kapitel 1.5.5.1.1 behandelt. Vgl. Feyerabend (1975), 19.
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1 Viele Relativismen, eine Definition?
ganz unbegründeterweise, den Philosophen tendenziell als Komplizen einer solchen Entwicklung.⁴⁵ Feyerabend wird gemeinhin als Relativist gehandelt. Diese Zuschreibung hat durchaus ihre Berechtigung, vor allem auch deshalb, weil Feyerabend seine eigenen Thesen bisweilen als relativistisch bezeichnet.⁴⁶ Trotzdem ist Feyerabend als Gesamtphänomen nur von eingeschränkter Relevanz für die vorliegende Arbeit. Der Grund hierfür ist, dass Feyerabend eben kein kognitiver Relativist ist, weil sein Denken vor allem praktisch ausgerichtet ist. Immer wieder wehrt er sich gegen die Unterstellung, eine neue Methodologie der Wissenschaften oder eine neue allgemeine Theorie aufstellen zu wollen.⁴⁷ Wie schon seine Selbstbeschreibung als Dadaist nahelegt, ist Feyerabends Ziel nicht das Errichten von Gedankengebäuden, sondern das Geben von Denkanstößen. Seine Texte erscheinen vor allem deswegen als kognitiver (oder genauer: wissenschaftstheoretischer) Relativismus, weil sie sich mehrheitlich mit wissenschaftstheoretischen Themen beschäftigen, aber tatsächlich versucht sich Feyerabend hier primär an einer internen Kritik. Er zeigt Inkohärenzen auf, mit denen die philosophischen Auffassungen oder Traditionen, mit denen er sich auseinandersetzt, behaftet sind. Insofern ist sein Vorgehen zunächst rein negativ. Feyerabend versucht zu zeigen, dass aus den absolutistischen Überzeugungen seiner Gegner relativistische und allgemein unerwünschte Konsequenzen folgen (wie z. B. das berüchtigte
„When we discuss the role of science in society and, especially, in a democracy? Not everything can be decided by vote – but where is the boundary and who is going to draw it? For Plato the answer was clear: the people who have studied the matter, the wise men, they are going to draw the boundary!“ (Feyerabend (1991), 15). Bei diesem Zitat handelt es sich um eine Stelle aus einem von Feyerabends Three Dialogues on Knowledge; insofern ist es wichtig anzumerken, dass hier natürlich ein Charakter spricht, dessen Verhältnis zu Feyerabends eigenen Überzeugungen unklar ist. Aber da aus dem oben Ausgeführten klar sein sollte, dass sich Feyerabend gegen eine solche Entscheidungsgewalt der „wise men“ positioniert, und da die Charaktere an dieser Stelle nicht über die angemessene Platoninterpretation streiten, sondern über das Verhältnis von Wissen, Wissenschaft und Autorität, gibt es keinen Grund anzuzweifeln, dass Feyerabend selbst Platon Demokratiefeindlichkeit zuschreibt. Feyerabend äußert sich zu seinem ambivalenten Verhältnis zum Relativismus und seinem sich verändernden Verständnis des Begriffes in Feyerabend (1993), 268 ff. Siehe auch sein extensives Kapitel zum Relativismus in Feyerabend (1987a), 19 – 89, sowie seine Diskussion zu Platons Selbstaufhebungsargument gegen Protagoras und einige kurze Bemerkungen zum Relativismus in den Three Dialogues on Knowledge, Feyerabend (1991), 37 ff.; 151 ff. In diesem Zusammenhang zitiert er z. B. den folgenden Satz des Dadaisten Hans Richter: „Dada […] not only had no programme, it was against all programmes.“ Feyerabend fügt hinzu: „This does not exclude the skilful defence of programmes to show the chimerical character of any defence, however ‚rational‘.“ Feyerabend (1975), 33 FN 4.
1.2 Eingrenzung des Bereichs der zu behandelnden Theorien
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„anything goes“) und sie somit in Widersprüche führen. Aber natürlich bleibt auch von den abgeleiteten Konsequenzen nichts übrig, wenn die Prämissen wegfallen.⁴⁸ Auf dem so bereiteten Boden könnte Feyerabend nun zwar versuchen, eine relativistische Theorie zu errichten, das tut er aber nicht (obwohl er einzelne, durchaus als relativistisch qualifizierbare Thesen und Konzepte vertritt wie das der Inkommensurabilität⁴⁹).Was die Erkenntnistheorie betrifft, kann man von Feyerabend also zunächst nur lernen, welche Positionen man nicht einnehmen sollte. Die Theorie als solche scheint für ihn ausschließlich das philosophische Ideal seiner Gegner zu sein, getränkt durch ihre widersprüchlichen und schädlichen Annahmen und somit nicht erstrebenswert. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich aber mit der Möglichkeit einer konsistenten relativistischen Theorie; und da Feyerabend nicht einmal versucht, eine solche vorzulegen, ist er kein Relativist im hier relevanten Sinne. Es gibt eine weitere Art der Positionierung, die mit relativistischer Theoriebildung einhergehen kann, die ich in dieser Arbeit ausdrücklich nicht behandeln möchte. Dabei handelt es sich um Ansätze, die die Verbindlichkeit logischer Erwägungen auf Grundlage relativistischer Erwägungen ablehnen und dadurch z. B. Widersprüche für völlig unproblematisch halten. Insofern eine solche Position aufgrund von relativistischen Thesen erreicht und verteidigt wird, kann das Resultat dem Relativismus zugeordnet werden, und es wird auch in der Regel so charakterisiert. Doch diese Art von Ansatz liegt gewissermaßen quer zur Fragestellung der vorliegenden Arbeit. Bezüglich des Beispiels der widerspruchsfreudigen Theorien ist dies besonders offensichtlich.Wie auch immer Selbstaufhebung genauer zu charakterisieren sein wird, eines ist von vornherein klar: Eine sich selbst aufhebende Theorie enthält bzw. generiert einen Widerspruch. An diesem Punkt lässt sich dann auch formallogisch die Problematik einer solchen Theorie festmachen, sie ist schlicht inkonsistent.⁵⁰ Insofern unterläuft eine Theorie, die Widersprüche für unproblematisch erklärt, zumindest potentiell den Vorwurf, sie hebe sich selbst auf. Sie könnte z. B. ohne weiteres erklären, es gebe zwar nur relative Gültigkeit, aber sie gelte absolut, und den mit Sicherheit folgenden Vorwurf der Widersprüchlichkeit mit einem Schulterzucken beantworten. In dieser Situation wäre wiederum, ge-
Damit könnte man den Argumentationsgang in einem großen Teil von Against Method sogar als den Versuch einer Selbstaufhebung des Absolutismus bezeichnen. Zu Feyerabends Sicht der Inkommensurabilität siehe Abschnitt 1.5.5.1.1.2. Dass eine solche formallogische Charakterisierung allerdings nicht die treffendste Darstellungsweise dafür sein kann, was Selbstaufhebung ausmacht, ist schon daraus offensichtlich, dass Inkonsistenz sehr viele Fälle umfasst, die mit Selbstaufhebung nichts zu tun haben. Mehr zur Frage, wie Selbstaufhebung charakterisiert werden sollte, findet sich in Abschnitt 2.
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1 Viele Relativismen, eine Definition?
nau wie bei Feyerabend, zunächst zu klären, was genau dies nun für den Status der von Selbstaufhebung betroffenen Position bedeutet – eine Aufgabe, die hier nicht übernommen werden kann. Ob eine solche Position haltbar ist und ob sie jemals von irgendjemandem in dieser Dreistigkeit vertreten worden ist, kann hier nicht beurteilt werden. Allerdings sollte erwähnt werden, dass ein Schluss vom relativen Status logischer Prinzipien auf eine mangelnde Verbindlichkeit derselben innerhalb der meisten relativistischen Theorien ohnehin einen Fehlschluss darstellen würde. Die Haltung, dass eine nur relative Gültigkeit Verbindlichkeit grundsätzlich unterminiert, ist klar eine absolutistische, sie wird von den meisten Relativisten nicht geteilt und sollte auch nicht geteilt werden, wenn eine plausible Theorie zustande kommen soll. Nicht einmal eine Einschränkung von Verbindlichkeit, in dem Sinne, dass der Relativist schließlich einen anderen Rahmen mit anderen logischen Prinzipien benutzen könne oder bereits benutze, ist mit vielen relativistischen Theorien ohne weiteres zu haben. Subjektivistische Theorien gestehen dem Relativisten zwar – trivialerweise – seinen eigenen Rahmen zu, aber wo es um Relativismen mit nicht an Einzelpersonen gebundene Rahmen geht, ist es in der Regel so, dass Absolutist und Relativist entweder bereits denselben Rahmen benutzen oder ein gemeinsamer Rahmen (auf den sie sich im Zweifelsfalle noch einigen müssten) für eine Auseinandersetzung zwischen den beiden nötig oder zumindest wünschenswert wäre. Es bleibt festzuhalten, dass Ansätze, die sich z. B. auf eine parakonsistente Logik berufen, nicht berücksichtigt werden können, da sich für sie die Frage einer eventuellen Selbstaufhebung in völlig anderer Weise stellen würde. Das heißt nicht, dass die Frage der Relativität der Logik im Folgenden außen vor bleiben soll. Ganz im Gegenteil wird unten der Frage, ob eine relativistische Theorie der Logik vertretbar ist, ein eigenes Kapitel gewidmet werden, denn diese Frage ist entscheidend für die Möglichkeit eines plausiblen globalen Relativismus. Ausgeschlossen werden sollen lediglich solche Ansätze, die davon ausgehen, dass eine mehr oder weniger klassische Logik⁵¹ in der Diskussion zwischen Absolutisten und Relativisten keine Geltung besitzt. In dieser Hinsicht handelt es sich um eine konservative Arbeit: Am Ideal der konsistenten Theorie wird festgehalten.
Hier ist deswegen von einer lediglich mehr oder weniger klassischen Logik die Rede, weil es, wie im Abschnitt zum logischen Relativismus noch anzusprechen sein wird, alles andere als klar ist, dass es die klassische Logik ist, welche alltäglicher und philosophischer Argumentation zugrunde liegt. Es ist m. E. allerdings sehr wohl klar, dass philosophischer Argumentationspraxis ein Prinzip der Vermeidung von Widersprüchen in Theorien zugrunde liegt. Hier gibt es also zumindest eine Überschneidung mit der klassischen Logik. Zu den Schwierigkeiten der Anwendung der klassischen Logik auf die alltagssprachliche Schlusspraxis siehe Abschnitt 1.6.1.
1.3 Der epistemische Relativismus
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Der Grund hierfür ist einfach: Es soll hier um die Frage gehen, ob es möglich ist, dass der Relativismus den Absolutismus in dessen eigenem Spiel besiegen kann. Die Regeln von vornherein an die Ergebnisse relativistischer Positionen anzupassen, ist keine Option. Deswegen können auch Ansätze wie der von Feyerabend nicht berücksichtigt werden. Ein Autor, der sich selbst nicht im Aufstellen einer Theorie begriffen sieht, sondern eher als Ausführenden einer dadaistischen Performance, wie das eben Feyerabend tut, spielt eben nur noch streckenweise dasselbe Spiel. Ein solches Vorgehen hat durchaus seine Berechtigung, aber für die Frage nach der Möglichkeit einer konsistenten relativistischen Theorie ist es irrelevant. Die wenigen positiven Aussagen, die sich aus Feyerabends Texten herauslesen lassen, werden von ihm dann auch konsequenterweise z. B. als „rule[s] of thumb“ bezeichnet. Außerdem lassen sie rein erkenntnistheoretische Fragestellungen hinter sich und bewegen sich, wie bereits erwähnt, in Richtung Praxis. Insbesondere interessiert Feyerabend, wie die Ansprüche verschiedener Traditionen nebeneinander bestehen können. Das rückt ihn in die Nähe des Kulturrelativismus, der, wie oben angesprochen wurde, ebenfalls eine bedeutende Rolle in der Relativismusdebatte spielt, aber erkenntnistheoretisch erstaunlich wenige radikale relativistische Konsequenzen im Sinne seiner Kritiker hat.
1.3 Der epistemische Relativismus Der epistemische Relativismus bezieht sich, wie der Name nahelegt, auf epistemische Standards. Ein solcher Relativismus liegt dann vor, wenn z. B. Rechtfertigung, Behauptbarkeitsbedingungen oder auch Verifikationsverfahren als relativ betrachtet werden. So verschiedene Figuren wie Jean-François Lyotard, Richard Rorty⁵² und Hilary Putnam werden dieser Richtung zugerechnet, wobei zumindest Letztere beide vehement bestreiten, Relativisten zu sein. Allerdings liegt dies vor allem bei Rorty ganz klar an einem etwas eigenwilligen Relativismusverständnis. Seine Definition des Relativismus lautet: „‚Relativism‘ is the view that every belief
Rorty wird ebenso gerne als alethischer Relativist betrachtet, allerdings ist diese Zuordnung deutlich problematischer, da eine der zentralen Thesen Rortys lautet, dass „Wahrheit“ eine in ihrer Wichtigkeit extrem überschätzte Zuschreibung ist. Rorty betrachtet das Prädikat „wahr“ als nahe an der Überflüssigkeit (man benutzt es vor allem, um bestimmte Aussagen zu loben und um zur Vorsicht anzuhalten, wo sich die Einstellung zu einer Aussage noch ändern könnte) und vor allem als philosophisch weitgehend uninteressant. Deswegen scheint es höchst fragwürdig, dass in einer gelungenen Zusammenfassung von Rortys Standpunkt das Konzept der Wahrheit eine entscheidende Rolle spielen sollte.
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1 Viele Relativismen, eine Definition?
on a certain topic, or perhaps about any topic, is as good as every other.“⁵³ Berechtigterweise setzt er sofort hinzu: „No one holds this view.“ Doch wenn nicht das der (epistemische) Relativismus ist, was ist er dann? Am einfachsten kann man sich dieser Auffassung über das Beispiel der Rechtfertigung nähern, wenn man sich vergegenwärtigt, in was für einer Situation wir uns befinden, wenn wir versuchen, unsere Aussagen zu rechtfertigen. Wir sagen z. B. solche Dinge wie: „Ich weiß, dass es regnet, denn ich habe gerade aus dem Fenster gesehen.“ Nun haben es solche Begründungen an sich, dass man sowohl die begründende Aussage als auch die Verbindung von Begründetem und Begründendem hinterfragen kann. Folgt man dem ersten Weg, landet man, ganz klassisch, bei Agrippas Trilemma. Auch darüber lässt sich ein Relativismus motivieren, das Spezifische des Relativismus kommt allerdings unverstellter zum Vorschein, wenn man sich direkt auf die Verbindung der beiden Aussagen bezieht, denn dann wird deutlich, dass es beim Relativismus meistens um Regeln geht. Es ist eine ganz selbstverständliche Regel unserer täglichen Verständigung, dass eine Beobachtung eine (in Abwesenheit gegenteiliger Hinweise) hinreichende Begründung für das Vorliegen eines bestimmten Weltzustandes ist. Wir haben eine ganze Reihe solcher Regeln, die dafür sorgen, dass wir uns – zumindest in der Regel – darüber einig sind, was als Rechtfertigung gelten darf und was nicht. Eine relativistische Auffassung vertritt nun jemand, der der Meinung ist, es gebe mehrere Sammlungen solcher Regeln, die nebeneinander bestehen und bisweilen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, ob nun in verschiedenen Kulturen oder auch in verschiedenen Lebensbereichen, wie z. B. in der Kunstinterpretation, vor Gericht, in der Wissenschaft oder bei einer lockeren Unterhaltung. Die verschiedenen Sammlungen bezeichne ich als Rahmen. Dieser Ausdruck wird im Folgenden als neutraler Ausdruck für dasjenige, worauf relativiert wird, verwendet, seien dies nun Sprachen, Kulturen, Überzeugungssysteme etc. Die Notwendigkeit dieser Regelsysteme, um überhaupt zu einem Urteil zu gelangen, ob eine Behauptung begründet ist, entspricht dem ersten Schema aus Kölbels oben vorgestellter Relativismusdefinition: „For any x that is an I, it is relative to P whether x is F.“⁵⁴ Dabei stünde hier I für „Behauptung“, P für „ein Regelsystem“ und F für „gerechtfertigt“. Die Regelsysteme legen allererst fest, welche Aussagen mit der zu begründenden Behauptung in der geeigneten Art von Verbindung stehen, somit gibt es keine Rechtfertigung ohne Festlegung eines Rahmens. Die Bedingung, dass diese Regelsysteme nicht immer zu demselben Ergebnis kommen, entspricht Kölbels drittem Schema: „For some x that are I, and
Rorty (1980), 727. Kölbel (2002), 118 (Hervorhebungen seine).
1.3 Der epistemische Relativismus
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for some Pi, Pj, x is F in relation to Pi but not F in relation to Pj.“⁵⁵ Sie ist wichtig, um sicherzustellen, dass es sich bei den unterschiedlichen Rahmen nicht einfach um unterschiedliche Weisen handelt, dasselbe Regelsystem auszudrücken. Wichtig für das Einordnen einer Position als relativistische ist weiterhin, dass sie keinen dieser Rahmen als den anderen überlegen⁵⁶ oder die anderen umfassend begreift. Theorien dieser Form sollen im Folgenden als Pluralismus bezeichnet werden. So wäre es z. B. keine relativistische Position, wenn man vertreten würde, dass in der Kunstinterpretation, vor Gericht etc. je ein eigener Rechtfertigungsrahmen Anwendung fände, die Wissenschaft diese verschiedenen Rahmen aber beschreiben und für ihren jeweiligen Anwendungsbereich rechtfertigen könne und müsse. Die verschiedenen Rahmen müssen tatsächlich nebeneinander stehen und dürfen nicht hierarchisch angeordnet sein. Sonst könnte von einer Relativität der Rechtfertigung nicht die Rede sein, denn für jede Begründung würde ein und dieselbe Instanz das letzte Wort über Gelingen oder Nichtgelingen haben. In unserem Beispiel wäre das Regelwesen der Justiz dann nur zwischengeschaltet, denn die letztgültige Rechtfertigung einer jeden Aussage läge in den Händen der Wissenschaft,⁵⁷ wenn auch über den Umweg der Sanktionierung eines den Bedürfnissen der Gerichtsbarkeit angepassten Rahmens. Ein Stehenbleiben bei diesem Rahmen wäre nur der Bequemlichkeit geschuldet. Ebenso wenig darf verlangt werden, dass alle zulässigen Rahmen einen spezifischen Kern von Grundannahmen teilen, da eben dieser Kern in diesem Falle Rechtfertigung im eigentlichen Sinne ausmachen würde, während die zusätzlichen Elemente in den unterschiedlichen Rahmen wenig mehr als schmückendes Beiwerk wären, was Rechtfertigung fraglos in einem wichtigen Sinne absolut macht. Diese letztere Form scheint es zu sein, in der pluralistische Theorien der Rechtfertigung am häufigsten auftreten. Damit soll übrigens nicht gesagt sein, dass pluralistische Theorien nicht sehr viel mir relativistischen Theorien gemeinsam haben, trotzdem müssen sie um einer sauberen Abgrenzung des Relativismus willen hier der Seite des Absolutismus zugeschlagen werden. Auch diese Bedingung für das Vorliegen einer relativistischen Theorie lässt sich mit Hilfe von Kölbels Definition darstellen. Nehmen wir den Fall der hierarchisch angeordneten Rahmen. Kölbels zweites Schema besagt, dass „[t]here is
Kölbel (2002), 118 (Hervorhebungen seine). Gemeint ist hier spezifisch eine Überlegenheit in Hinblick auf Rechtfertigung. Es wäre z. B. kein Hindernis für eine Einordnung der Theorie als relativistische, wenn eine Überlegenheit in Hinblick auf Einfachheit oder andere pragmatische Kriterien angenommen wird. Es drängt sich natürlich die Frage auf, ob man einen solchen Superrahmen überhaupt als Rahmen bezeichnen sollte, da er einen völlig anderen Status hat als die übrigen Rahmen. Es ist m. E. nicht klar, ob er noch in dieselbe Kategorie gehört.
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1 Viele Relativismen, eine Definition?
no uniquely relevant way Pi of fixing P“.⁵⁸ Einerseits können die übrigen Rahmen in der besprochenen Konstellation sehr wohl Relevanz in einem gewissen Sinne in ihren jeweiligen Bereichen besitzen; z. B. können sie insgesamt weniger oder einfachere Regeln enthalten, die ihrem Gegenstandsbereich angepasst sind, sie können also pragmatische Vorteile bieten. Andererseits macht die Wissenschaft im angeführten Beispiel die übrigen Rahmen in einem anderen Sinne irrelevant, man kann im Prinzip auch ohne sie auskommen und ausschließlich eine wissenschaftliche Herangehensweise verwenden, und – noch viel wichtiger – in neuartigen Situationen und solchen, wo Unklarheiten über den angemessenen Rahmen bestehen, sollte man das auch. Dieser epistemische Imperativ ist vollkommen eindeutig in seinem Votum für genau einen Rahmen als den Rahmen, in dem alle wirklich neuen, schwierigen und wichtigen Fragen der Rechtfertigung zu klären sind. Anders gewendet: Nur einer der Rahmen in diesem Szenario bietet reine Rechtfertigung, in den anderen ist sie durch andere Erwägungen verwässert. Will man die beschriebene Situation also mit Hilfe von Kölbels zweitem Schema ausschließen, müsste man die zweite, stärkere Lesart von Relevanz wählen. Das alles heißt übrigens keineswegs, dass es grundsätzlich ein Problem wäre, einen Rahmen aus einem anderen heraus zu beschreiben. Was eine relativistische Theorie nicht tun darf, ist, einem Rahmen die Aufgabe der Begründung aller anderen (und natürlich am besten noch seiner selbst) zu übertragen. Das Problem liegt in der hierarchischen Anordnung und nicht, zumindest im Falle des epistemischen Relativismus, in einer wie auch immer gearteten Unbeschreibbarkeit. Ein Relativist kann ohne weiteres ein Anhänger irgendeiner wissenschaftlichen Erklärung der Entstehung der Strafprozessordnung o. Ä. sein, er darf der Wissenschaft nur nicht die Rechtfertigung derselben (und aller anderer Rahmen) aufbürden. Denn in diesem Moment verlöre die Wissenschaft ihren Status als ein Rahmen unter anderen, sie würde zur einzig wahren Repräsentantin der Vernunft, während die verbliebenen Rahmen zu rein unter Nützlichkeitsaspekten berechtigten Gebilden würden, die eben die eigentliche Rechtfertigung zugunsten anderer Güter vernachlässigen. Darin liegt auch das Körnchen Wahrheit in Rortys Charakterisierung des Relativismus als Theorie, in der jede Überzeugung so gut wie jede andere ist, obwohl sie sowohl das Objekt der Zuschreibung des „so gut wie jede andere“ fehlcharakterisiert als auch unerwähnt lässt, dass diese Zuschreibung auf einen ganz spezifischen Bewertungsmaßstab zu beschränken ist. Der epistemische Relativismus braucht verschiedene Rahmen, und jeder von diesen muss, als Grundlage für Rechtfertigungen, genauso gut sein wie jeder andere. Es darf eben
Kölbel (2002), 118 (Hervorhebungen seine).
1.4 Der Relativismus als semantische Theorie
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keine Grundlage der verschiedenen Grundlagen geben. Oder, um es mit einer klassischen relativistischen Wendung auszudrücken: Rechtfertigung ist eben das, was sich innerhalb von Rahmen abspielt, es gibt kein Außerhalb, von wo aus man die Anwendung bestimmter Rahmen rechtfertigen könnte, denn alles, was außerhalb jedes Rahmens wäre, wäre eben dadurch keine Rechtfertigung. Das heißt allerdings weder, dass pragmatische Abwägungen bezüglich der Frage, welcher Rahmen in einer bestimmten Situation zu nutzen sei, unterbleiben müssten, noch heißt es, dass, wie Rorty formuliert, sämtliche Überzeugungen gleich gut wären. Denn erstens steht einer Bewertung verschiedener Rahmen, die nicht darauf hinausläuft, dass die Ergebnisse des einen in einem absoluten Sinne besser gerechtfertigt⁵⁹ sind als die eines anderen, nichts im Wege; und zweitens ist es alles andere als klar, dass es für jede Überzeugung auch einen Rahmen gibt, in dem sie sich rechtfertigen lässt.
1.4 Der Relativismus als semantische Theorie Über die letzten Jahre haben sich einige Positionen innerhalb der formalen Semantik entwickelt, die unter der Bezeichnung Relativismus firmieren. So hat z. B. John MacFarlanes Theorie der Relativität kontingenter Zukunftsaussagen einiges Aufsehen erregt.⁶⁰ Mit den ‚klassischeren‘ Formen, zumindest des globalen Relativismus, scheinen sie auf den ersten Blick wenig zu tun haben; und in der Tat ist es schwierig, sie in ein gemeinsames Koordinatensystem zu bringen. Während es im Bereich des ethischen Relativismus schon länger Überlegungen zur Semantik ethischer Aussagen mit relativistischen Konsequenzen gibt – am bekanntesten sind wohl die Schriften von Gilbert Harman⁶¹ – sucht man im Bereich des kognitiven Relativismus vergeblich nach früheren Positionen, die echte Anknüpfungspunkte bieten können. Dafür gibt es einen zunächst völlig offensichtlich scheinenden Grund: Überlegungen zur Semantik ethischer Aussagen wurden immer als Untersuchungen der Spezifika ethischer Aussagen im Unterschied zu ‚normalen‘ Aussagen verstanden. Auch die meisten Positionen auf dem Gebiet dieses neuen semantischen Relativismus beschäftigen sich mit ganz bestimmten Diskursbereichen, für die sie eine relativistische Semantik entwerfen, während der Rest außen vor gelassen wird. Vielleicht eignen sich solche Theorien schlicht nur als Bereichsrelativismen; eine Es können hier sowohl pragmatische Faktoren angeführt als auch relative Bewertungen der ‚Rechtfertigungsleistung‘ als solcher vorgenommen werden. Siehe MacFarlane (2003) und MacFarlane (2008). Insbesondere Harman (1975) und Harman (1977).
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1 Viele Relativismen, eine Definition?
relativistische Semantik zu benötigen, unterscheidet einen Bereich von dem ‚normalen‘, objektiven, absoluten Rest. Aber ganz so einfach kann man es sich nicht machen. Das wird deutlich, wenn man sich MacFarlanes Vorschlag genauer ansieht, der vorsieht, einen zusätzlichen Parameter für sämtliche Aussagen anzusetzen, der bei den ‚normalen‘ einfach keine Auswirkungen für den Wahrheitswert haben soll. Potentiell hat man es also sehr wohl mit einem globalen Relativismus zu tun. Für einen solchen würde noch das Variieren der Wahrheitswerte in allen Bereichen fehlen, aber vom Grunddesign der Theorie her sollte dem nichts entgegenstehen. Allerdings wäre bei dem Versuch, einen solchen Relativismus zu einem globalen zu machen, Vorsicht geboten. Die Gefahr ist, dass ein Relativismus dieser Art sich selbst absolut setzt bzw. die eigene Theorie von der Relativierung ausnimmt. Beides sind häufig vorgebrachte Vorwürfe gegen globale Relativismen generell, die uns im dritten Hauptteil bei den konkreten Selbstaufhebungsargumenten wieder begegnen werden. Dort wird auch gezeigt werden, wie wichtig es deswegen ist, dass jeder globale Relativismus sich mit seinem eigenen Status als Theorie auseinandersetzt. Die Gefahr, den eigenen Rahmen implizit zum Superrahmen zu erklären, der all die gewöhnlichen relativen Wahrheiten umfasst, stellt sich also grundsätzlich allen relativistischen Theorien. Trotzdem ist sie beim semantischen Relativismus gewissermaßen greifbarer. Bei den vorgeschlagenen Bereichsrelativismen verhält es sich so, dass die Bedingungen, unter denen eine bestimmte Aussage wahr ist, in nichtrelativer Weise wiedergegeben werden können. Es ist ja gerade der Punkt einer solchen Theorie anzugeben, worauf die Wahrheit von Propositionen einer bestimmten Art relativ ist. Indem angegeben wird, worauf im Falle einer spezifischen Äußerung (oder Evaluierung einer Äußerung) zu relativieren ist, kann prinzipiell entschieden werden, ob Wahrheit oder Falschheit in einem nicht mehr relativen Sinne vorliegt. Die Proposition selbst ist zwar nur relativ wahr oder falsch, mit einer konkreten Relativierungsinstanz versehen wird der Wahrheitswert aber in absoluter Art und Weise feststellbar. Diese Struktur teilen alle Bereichsrelativismen; und deswegen ist es grundsätzlich schwierig, von einem Bereichsrelativismus auf einen globalen Relativismus überzugehen. Der Verdacht eines größeren Schrittes für diese neuen semantischen Relativismen entsteht vor allem dadurch, dass sie den Eindruck erwecken, eine Formel für das Erstellen eben solcher absoluten Wahrheitsbewertungen zu sein. Das ist zwar nicht ihr ganzer Inhalt, aber doch ihr Kern, insofern ist es schwer vorstellbar, wie eine solche Theorie den Schritt der Selbstrelativierung, der zu einem globalen Relativismus gehören würde, gehen soll, ohne ihre Identität zu verlieren. Möglicherweise liegt das aber nur daran, dass es bis jetzt niemand versucht hat. Ein weiterer wichtiger Punkt wird in der knappen Auseinandersetzung Max Kölbels, eines der wichtigsten Vertreter eines semantischen Relativismus, mit dem
1.4 Der Relativismus als semantische Theorie
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globalen Relativismus, genauer gesagt dem globalen alethischen Relativismus, deutlich. Dort gibt er zu bedenken, dass unklar werde, was Zuschreibungen bedeuten sollen, wenn es z. B. einen Rahmen gibt, in dem „Peter ist ein Junggeselle“ und „Peter ist verheiratet“ beide wahr sind.⁶² Diese Bemerkung zeigt deutlich, dass an der analytisch-synthetisch-Unterscheidung festgehalten werden soll. Wie in den folgenden Kapiteln sichtbar werden sollte, assoziiert eine solche Festlegung den semantischen Relativismus eher mit einem Bedeutungsrelativismus als mit einem alethischen Relativismus, mit Letzterem scheint sie nur schwer vereinbar. Nun kann zwar auch ein Bedeutungsrelativismus ein globaler Relativismus sein, aber ein Bedeutungsrelativismus teilt, im Gegensatz zu einem alethischen, nicht die These der variierenden Wahrheitswerte, die den Kern des semantischen sowie des alethischen Relativismus ausmacht. Stattdessen würde es sich bei einer bedeutungsrelativistisch-globalen Ergänzung des semantischen Relativismus um ein neues, weitgehend unabhängiges Theoriestück handeln.⁶³
1.4.1 Indexikalischer und echter Relativismus Wichtiger für die Zwecke der vorliegenden Arbeit als die reichlich theoretische Frage, wie sich ein semantischer Relativismus als globaler Relativismus machen würde, ist eine Unterscheidung, die Kölbel im Zuge seiner Arbeit mit und an semantischen Relativismen getroffen hat. Es geht um die Unterscheidung zwischen „genuine relativism“ und „indexical relativism“⁶⁴. Während ein indexikalischer Relativismus davon ausgeht, dass ein und derselbe Satz, geäußert in verschiedenen Kontexten, unterschiedlichen Inhalt und daraus resultierend unterschiedliche Wahrheitswerte haben kann, besteht ein echter Relativismus darauf, dass ein und dieselbe Proposition, also ein und derselbe Inhalt, verschiedene Wahrheitswerte annehmen kann. Positionen, die in Kölbels Terminologie als indexikalischer Relativismus laufen, werden auch oft als Kontextualismus bezeichnet.
Vgl. Kölbel (2011), 23. Darüber hinaus zeichnet sich ein Bedeutungsrelativismus – vereinfacht gesprochen – gerade dadurch aus, dass den Benutzern unterschiedlicher Rahmen unterschiedliche Propositionen zur Verfügung stehen. Eine solche These dürfte innerhalb des Programms einer allgemeinen Semantik aber wiederum dazu führen, eben die semantische Theorie zum Superrahmen zu erheben. Siehe Kölbel (2004) und Kölbel (2007). Im Folgenden werden die Ausdrücke übersetzt als echter Relativismus und indexikalischer Relativismus.
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1 Viele Relativismen, eine Definition?
Allerdings findet sich z. B. bei López de Sa eine feinere Einteilung,⁶⁵ die sich folgendermaßen darstellen lässt:
Ausgedrückte Proposition variiert
Entscheidend ist der Äußerungskontext
Entscheidend ist der Beurteilungskontext
Indexikalischer Kontextualismus
Radikaler Gehaltsrelativismus
Wahrheitswert der Propositi- Nonindexikalischer Kontexon variiert tualismus
Radikaler Wahrheitsrelativismus
Kölbels indexikalischer Relativismus entspricht hier dem indexikalischen Kontextualismus, während der echte Relativismus nonindexikalischen Kontextualismus und radikalen Relativismus umfasst.⁶⁶ Diese zusätzliche Unterscheidung ist für den hier verfolgten Zweck nicht notwendig, sie differenziert lediglich zwischen verschiedenen Relativierern bzw. Arten von Rahmen, während hier das Verhältnis von Satzinhalt und Wahrheitswert thematisiert werden soll.⁶⁷ Auf der einen Seite haben wir also Theorien, bei denen tatsächlich der Wahrheitswert relativ ist (echte Relativismen), auf der anderen Seite ist der Inhalt einer Äußerung relativ auf den Kontext, in dem sie getätigt wird (indexikalische Relativismen). Damit wird eine sehr wichtige Differenzierung innerhalb des Feldes relativistischer Theorien sichtbar, die sich auch auf frühere bzw. klassischer aufgestellte Relativismen anwenden lässt. Denn bei diesen verhält es sich bisweilen so, dass vor allem von der Relativität der Wahrheit von Sätzen die Rede ist, aber nicht zwischen den beiden Erklärungsansätzen für diese Relativität von Satzwahrheit differenziert wird, die durch Kölbels Unterscheidung in den Vordergrund gerückt werden. Durch diese wird deutlich, dass ein und derselbe Phänomenbestand durch zwei sehr unterschiedliche Theorieformen erfasst werden kann. „Derselbe“ ist, strenggenommen, ein bisschen zu viel gesagt, denn die Auseinandersetzung von Relativisten und Kontextualisten im Rahmen der Kaplan-Lewis Semantik spielt sich vor allem anhand von Detailarbeit an Beispielen für Konversationen ab, in denen die relativistischen oder kontextualistischen
Vgl. López de Sa (2011). Die Unterscheidung der beiden Kontextualismen stammt aus López de Sa (2007), die Unterscheidung der beiden Relativismen findet sich, wenn auch unter anderen Bezeichnungen, erstmals in MacFarlane (2005). Wobei Kölbel in Bezug auf López de Sas Terminologie seine eigene Position als nonindexikalischen Kontextualismus charakterisiert. Vgl. Kölbel (2007), 284. Deshalb ist auch im Folgenden, wenn von Kontextualismus gesprochen wird, grundsätzlich von indexikalischem Kontextualismus, als Kontrast zum echten Relativismus, die Rede.
1.4 Der Relativismus als semantische Theorie
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Eigenschaften bestimmter Ausdrücke besonders klar zum Vorschein kommen sollen. Verfechter beider Seiten versuchen Beispiele zu entwickeln, die mit den Vorhersagen ihrer favorisierten Theorie zusammenpassen, bei denen die gegnerische Theorie das Sprechverhalten der Akteure jedoch nicht zu erklären vermag. Insofern ist die Auseinandersetzung der beiden Seiten auch eine Auseinandersetzung darüber, erstens, wie der Phänomenbestand genau aussieht, und zweitens, welche Theorie diesen besser zu erklären vermag. Allerdings fällt auf, dass die bemühten Beispiele in der Regel recht spezielle Fälle sind. Es geht z. B. um das Zurücknehmen früher gemachter Aussagen in anderen Kontexten oder um die Wiedergabe fremder Äußerungen in anderen Kontexten. Das ist aber eine Detailtiefe, in die Theorien, die selbst keine semantischen sind, gar nicht vordringen. Deswegen kann man sehr wohl von ein und demselben Phänomenbestand aus der Sicht anderer relativistischer Theorien, die etwa aus dem Gebiet der Erkenntnistheorie kommen, reden, denn was für diese Theorien zunächst relevant ist, ist die behauptete Variation der Wahrheitswerte verhältnismäßig einfacher Aussagesätze. Wird diese Variation durch eine entsprechende Variation der Bedeutung erklärt, kann man von einem Bedeutungsrelativismus sprechen, ansonsten von einem alethischen oder metaphysischen Relativismus.
1.4.2 Anwendung auf andere Theorien Die Anwendung dieser Unterscheidung auf sonstige relativistische Theorien ist allerdings nicht immer ohne Zwischenschritte möglich. Denn viele relativistische Ansätze bauen gerade auf einer Problematisierung des Begriffs der Bedeutung⁶⁸ auf. Zu nennen wäre hier z. B. einer der wenigen expliziten alethischen Relativisten: Nelson Goodman. Im Anschluss an Quines Ablehnung der Unterscheidung analytischer und synthetischer Aussagen argumentiert Goodman, dass es so etwas wie Bedeutungen von Wörtern, wie man sie sich gemeinhin vorstellt, gar nicht gebe. Da Bedeutungen nur über analytische Sätze individuiert werden könnten, die es aber nun einmal nicht gebe, könne es entsprechend dem Quineʼschen Credo „no entity without identity“ keine Bedeutungen geben. Was an tatsächlichem Gehalt hinter diesem Ausdruck stecke, ließe sich über rein extensional vorgehende Analysen einfangen.⁶⁹ Insofern könnte man Goodman schwerlich die Frage stellen, ob der Wahrheitswert von Satzinhalten relativ ist oder ob lediglich
Bedeutung wird hier im nicht-Fregeschen Sinne als Inhalt oder Intension verstanden. Vgl. Goodman (1972a).
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die Bedeutung von Sätzen in verschiedenen Kontexten variiert, und eine eindeutige Antwort erwarten. Die Frage lässt sich so innerhalb von Goodmans Symboltheorie überhaupt nicht stellen. Trotzdem war die Nennung von Goodman als explizitem alethischen Relativisten gerechtfertigt⁷⁰ – und das liegt daran, dass er zu einer Frage Stellung genommen hat, die man mit gutem Recht als das nächstmögliche Äquivalent der oben genannten Frage im Kontext bedeutungskritischer Theorien betrachten kann. Bei Goodman ist Wahrheit nämlich relativ auf Symbolsysteme:⁷¹ Taucht ein gleichlautender Satz innerhalb zweier Symbolsysteme auf, können ihm verschiedene Wahrheitswerte zukommen. Das klingt zunächst sehr nach Bedeutungsrelativismus, immerhin liegt es nahe, dass die verschiedenen Symbolsysteme schlicht für verschiedene Satzbedeutungen sorgen. Allerdings vertritt Goodman die Auffassung, dass solche Sätze als Übersetzungen voneinander betrachtet werden sollten bzw. können; damit lässt sich gewissermaßen ein altes Argument für die Existenz von Bedeutungen als einigermaßen eigenständigen Entitäten auf den Kopf stellen. Um die Existenz von Bedeutungen (oder in diesem Fall genauer: Propositionen) zu belegen, wird nämlich immer wieder gern auf die Möglichkeit der Übersetzung verwiesen. Bei Goodman hingegen ist die Bedeutungsidentität nicht mehr das Kriterium oder die Voraussetzung einer gelungenen Übersetzung, stattdessen wird die Relation der Übersetzung zum Ersatz für die Relation der Bedeutungsidentität, insofern als sie die nächstmögliche Annäherung innerhalb von Goodmans System ist.⁷² Diese Lösung dürfte auch bei anderen relativistischen Theorien, die der Existenz von Bedeutungen skeptisch gegenüberstehen, anwendbar sein.⁷³ Es ergibt sich eine alternative Formulierung des Kontrasts, den Max Kölbels Unterscheidung von echtem und indexikalischem Relativismus nahegelegt hatte. Als alethischer Relativismus lassen sich dann solche Theorien kennzeichnen, die
Obwohl sie nicht wirklich den Kern seiner Theorie trifft, denn Goodman hält den Begriff der Wahrheit für innerhalb der Erkenntnistheorie völlig überbewertet. Er ist der Auffassung, dass ein umfänglicherer Begriff der Richtigkeit, der in vielen Situationen den der Wahrheit enthält, in manchen aber auch nicht, den der Wahrheit in der Erkenntnistheorie ersetzen sollte. Da er den Begriff der Wahrheit allerdings nicht so radikal ablehnt, wie Rorty es tut, ist es trotzdem legitim, ihn als alethischen Relativisten zu bezeichnen. Ein gewisses Maß an Ungenauigkeit kann bei einem Überblick über ein ganzes Theoriefeld eben nicht vermieden werden. Siehe dazu auch Kapitel 1.5.6. Das ist übrigens strenggenommen die Identität eines Satzes auch. Warum das aber kein entscheidendes Problem darstellt, sollte im Folgenden klarwerden. Vgl. Goodman (1978), 93. Sie wird im Folgenden sowohl bei der Darstellung des alethischen als auch des metaphysischen Relativismus Anwendung finden.
1.4 Der Relativismus als semantische Theorie
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davon ausgehen, dass der Wahrheitswert von zwei Sätzen, die Übersetzungen voneinander sind, unterschiedlich sein kann.⁷⁴ Ein Bedeutungsrelativismus sieht diese Möglichkeit nicht vor.⁷⁵ Diese analoge Terminologie lässt sich auf alle relativistischen Theorien anwenden, wenn man bereit ist, einige eigenwillige Eigenschaften, die der Übersetzungsbegriff dafür annehmen muss, in Kauf zu nehmen. Denn wenn man sie z. B. auf die semantischen Relativismen zurückübertragen möchte, muss man bereit sein zu sagen, dass ein Satz die Übersetzung eines anderen Satzes derselben Sprache sein kann, und sogar, dass ein Satz, der seine Bedeutung über verschiedene Kontexte hin behält, eine Übersetzung seiner selbst ist. Bei Goodmans Theorie liegt die Benennung als Übersetzung auf der Hand, da es laut ihm auch innerhalb derselben Sprache unterschiedliche Symbolsysteme gibt. Die übliche Einteilung in Englisch, Französisch usw. ist dort eine sehr grobe Einteilung von Symbolsystemen, die wichtige Binnendifferenzierungen überdeckt.⁷⁶ Die semantischen Relativismen arbeiten aber sehr wohl mit dem Bild einer natürlichen Sprache als Einheit; sie machen, da sie in der Regel Theorien der Funktionsweise eines Ausdruckes oder einer inhaltlich verwandten Menge von Ausdrücken sind, nur auf dem Hintergrund Sinn, dass nicht unter der Hand die Sprache gewechselt wurde. Es sind grundsätzlich innersprachliche Mechanismen der Bedeutungsvariabilität, die von kontextualistischen bzw. indexikalisch relativistischen Theorien behauptet werden.⁷⁷ Insofern klingt es seltsam,
Goodmans meistgenutztes Beispiel ist das der Bewegungszuschreibung. Laut ihm ist z. B. relativ auf ein System der Satz „Die Erde bewegt sich“ wahr (das ist der Fall für die Systeme, die normalerweise benutzt werden, wenn Planetenbahnen innerhalb des Sonnensystems beschrieben werden o. Ä.), während die gleichlautende Entsprechung relativ auf ein anderes System falsch ist (das trifft für die meisten Systeme zu, die verwendet werden, um Orientierung auf der Erdoberfläche zu ermöglichen) und wir sie trotzdem als Übersetzung ansehen sollten. Für mehr zu Goodmans argumentativer Verwendung solcher Beispiele und ihrer Probleme siehe Abschnitt 1.5.2., 1.5.4. und 1.5.6.2. Das entspricht in etwa der Unterscheidung von starkem und schwachem Wahrheitsrelativismus bei Swoyer, dessen Unterscheidung verschiedener Relativismustypen der erste definitorische Versuch ist, welcher Übersetzung in dieser Hilfsfunktion verwendet. Sie wird im Abschnitt zum Bedeutungsrelativismus noch einmal auftauchen, um diesen vom alethischen Relativismus zu unterscheiden. Bennigson benutzt für seine Relativismusdefinition ein Verständnis von Sätzen, das ineinander übersetzbare Sätze als denselben Satz klassifiziert. Vgl. Bennigson (1999a), 312 f.; Swoyer (1982), 92; siehe auch Abschnitt 1.5.5. und 1.8.4. Dass feinere Unterscheidungen oftmals sinnvoll sind, zeigen z. B. auch die feineren Unterscheidungen im Bereich der Sprachwissenschaft in Dialekte, Soziolekte u. Ä. Man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, dass diese Theorien einen universalsprachlichen Drall haben. Immerhin wird bei Kölbels echtem Relativismus von einer Wahrheitswertvariabilität der Satzinhalte gesprochen, und dieser Inhalt müsste prima facie bei Sätzen verschiedener Sprachen gleich sein können. Außerdem müssten die Ergebnisse dieser semantischen
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hier von Übersetzungen zu sprechen, das scheint allerdings kein zu hoher Preis für eine einheitliche Terminologie zu sein.
1.5 Globale Formen des Relativismus In diesem Abschnitt sollen drei Formen des globalen Relativismus vorgestellt werden.⁷⁸ Diese drei Formen des Relativismus werden im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen, denn es ist gerade ihre Globalität, die sie zu verlockenden Zielen für Selbstaufhebungsargumente macht. Da die Eigenschaft der Globalität im Falle von Theorien über Aussagen darin besteht, Aussagen über alle Aussagen zu machen, spricht ein globaler Relativismus unweigerlich auch über sich selbst;⁷⁹ und diese Selbstzuschreibung ist es, an der das typische Selbstaufhebungsargument ansetzt. Der alethische Relativismus z. B. sagt von sich selbst aus, dass er nicht absolut, sondern relativ wahr ist: Diese Selbstzuschreibung wird von vielen Selbstaufhebungsargumenten aufgegriffen um den alethischen Relativismus zu widerlegen. Während sich unterschiedliche Bereichsrelativismen durch die unterschiedlichen Themenbereiche, für die eine Relativitätsbehauptung aufgestellt wird, voneinander abgrenzen lassen, betrifft ein globaler Relativismus grundsätzlich alle Aussagen bzw. deren Status. Die drei unterschiedlichen Varianten sind dabei gewissermaßen auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt, im Gegensatz zu Bereichsrelativismen, deren Beziehungen untereinander durch das Nebeneinander der von ihnen thematisierten Diskursbereiche charakterisiert sind. In der Literatur werden die Formen des globalen Relativismus häufig als lediglich drei weitere, durch ihre Themengebiete (im Fall des alethischen Relativismus z. B. Wahrheit) bestimmte relativistische Theorien behandelt.⁸⁰ In einigen
Analysen zumindest in großen Teilen auf andere Sprachen übertragbar sein, um die erkenntnistheoretische oder moralphilosophische Relevanz haben zu können, die ihnen zugeschrieben wird. Bei diesen drei Formen handelt es sich m. E. um alle Formen des globalen Relativismus, nicht in dem Sinne, dass sich keine anderen Formen des globalen Relativismus konstruieren lassen könnten, sondern in dem Sinne, dass dies die Formen sind, in denen globale relativistische Thesen bis dato vertreten worden sind. Wortwörtlich gilt dies natürlich nur, wenn davon ausgegangen wird, dass Selbstreferenz grundsätzlich möglich ist. Siehe z. B. Haack (1996), 297. In der Literatur zum Relativismus, die sich auch mit der Frage der Selbstaufhebung befasst, wird man jedoch auch die Auffassung finden, dass ein globaler Relativismus von einem Bereichsrelativismus grundlegend verschieden ist. Angesichts der höheren Anfälligkeit globaler Relativismen für Selbstaufhebungsargumente überrascht es nicht, dass
1.5 Globale Formen des Relativismus
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Hinsichten ist das natürlich auch zutreffend: Wie andere Formen des Relativismus lassen sich globale Relativismen treffend als Instanzen von Kölbels Schema charakterisieren, d. h., was genau relativiert wird, ist auch hier das wichtigste Abgrenzungskriterium für unterschiedliche relativistische Theorien. Einzelne globale Relativismen und Bereichsrelativismen sind also sehr wohl jeweils durch das bestimmt, was sie thematisieren. Allerdings lässt sich das, was thematisiert wird, im Falle der globalen Relativismen nicht als ein einzelner Diskursbereich begreifen. Während sich Bereichsrelativismen wie der moralische Relativismus entweder als Theorien (moralischer) Eigenschaften oder als Theorien des betreffenden (moralischen) Diskursbereiches auffassen lassen, sind globale Relativismen gerade diejenigen, die sich entweder als Theorien bestimmter Eigenschaften (z. B. Wahrheit) auffassen lassen oder eben als Theorien aller Aussagen. Sie sind global, weil sie alle Aussagen betreffen. Dies lässt die m. E. wichtigste Hinsicht, in der sich Bereichsrelativismen von globalen Relativismen unterscheiden, augenfällig werden. Bereichsrelativismen sind Relativismen der Abgrenzung und des Kontrastes, sie behaupten, dass der Bereich, den sie beschreiben, grundlegend anders funktioniert als ‚der Rest‘. Der typische Bereichsrelativismus bezieht seine Motivation aus den Unterschieden des beschriebenen Bereiches zu einem Hintergrund als absolut angenommener anderer Bereiche.⁸¹ Globale Relativismen hingegen motivieren sich nicht über Besonderheiten eines begrenzten Feldes, sondern über Faktoren, die eine Rolle für Aussagen qua Aussagen spielen, wie z. B. Eigenschaften von Bezugnahme und Bedeutung. Dabei liegt den globalen Relativismen, die ab der Mitte des letzten Jahrhunderts entwickelt wurden und die die Debatten jenseits des semantischen Relativismus weiterhin bestimmen, zumeist ein gemeinsames Phänomen zugrunde. Es handelt sich, grob gesprochen, um das Phänomen, dass verschiedene Beschreibungssysteme auf die Welt ‚passen‘, die so unterschiedlich sind, dass zwei scheinbar widersprüchliche Sätze in jeweils einem der beiden Systemen wahr sein können.⁸² Unterschiede zu Bereichsrelativismen im Zusammenhang mit Fragen zur Selbstaufhebung deutlicher zu Tage treten. Wobei es einen Fall gibt, in dem diese Unterscheidung nicht ganz so klar ist, und das sind relativistische Positionen in der Wissenschaftstheorie. Siehe dazu Abschnitt 1.5.5.1.1. Sowohl bei Goodman als auch bei Putnam lassen sich Passagen finden, die dieses Phänomen als eine der Grundlagen ihrer relativistischen Überlegungen identifizieren. Eine kurze Bemerkung zur genauen Formulierung des Phänomens ist hier angebracht, denn sowohl Goodman als auch Putnam ziehen es vor, vorsichtiger von Inkompatibilität, Unvereinbarkeit etc. zu sprechen, anstatt wie hier von Widersprüchlichkeit. Diese stärkere Ausdrucksweise ist aber m. E. durchaus angebracht, um den Kontrast von metaphysisch-relativistischen Ansätzen, wie dem Putnams, und alethisch-relativistischen Ansätzen, wie dem Goodmans, herauszuarbeiten. Wie noch zu be-
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Relativistische Theorien versuchen daraus das Vorhandensein unterschiedlicher und konfligierender Beschreibungsweisen zu begründen.Wie genau sie das Verhältnis dieser Beschreibungsweisen bestimmen, hängt von der Form von Relativismus ab, die vertreten wird, oder besser gesagt, wie das Verhältnis der Beschreibungsweisen bestimmt wird, macht die Form von Relativismus aus. Die Möglichkeiten reichen von einer Relativierung von Wahrheit auf Sprache (alethischer Relativismus) bis zu einer Relativierung der Verfügbarkeit von Propositionen auf Sprache (Bedeutungsrelativismus).⁸³ Es ist hier deswegen sinnvoll, das Bild von unterschiedlichen Ebenen, auf denen die jeweiligen Relativismen anzusiedeln sind, zu bemühen, weil sie einerseits jeweils für sich eine hinreichende Erklärung des problematischen Phänomens liefern und sich andererseits,
sprechen sein wird, besteht der Unterschied zwischen den beiden darin, dass der alethische Relativismus den Anschein der Inkompatibilität bzw.Widersprüchlichkeit voll annimmt, während der metaphysische Relativismus eine Balance zwischen scheinbarer Unvereinbarkeit und scheinbarem Bezug auf dieselben Tatsachen zu finden versucht, indem Bedeutungsvergleiche zwischen Rahmen grundsätzlich ausgeschlossen werden. Insofern ist es auch letztlich nicht entscheidend, dass die Ausdrucksweise hier stärker ist als die von Putnam, da dieser die Inkompatibilität nicht unqualifiziert annimmt. Goodman hingegen ist durch seine von seiner Interpretation des Phänomens ausgehende Argumentation auf die hier verwendete starke Lesart von Inkompatibilität verpflichtet. Er schließt nämlich aus dem Vorliegen unvereinbarer Wahrheiten auf die Existenz mehrerer Welten, in denen sie wahr sind, mit der Begründung, dass sonst alle Aussagen wahr wären; er verwendet also die logische Figur der explosion. Diese benötigt aber einen ‚echten‘ Widerspruch und nicht nur eine irgendwie schwächer gefasste Form der Unvereinbarkeit. Trotzdem ist eine gewisse Vorsicht geboten, denn Goodman hat m. E. sehr wohl einen Grund für seine vorsichtigere Ausdrucksweise – und dieser dürfte seine, oben bereits angesprochene, Ablehnung von Propositionen sein. Diese führt dazu, dass der Widerspruch nicht einfach etwas ist, was an einem Ding, das beiden Rahmen gemeinsam ist (nämlich der Proposition, die zwei unterschiedliche Wahrheitswerte erhält), festgemacht werden kann. Der Konflikt spielt sich vielmehr in einem Verhältnis zwischen den beiden Rahmen ab, das zunächst aktiv hergestellt werden muss, zum Beispiel durch eine Übersetzung. In Bezug auf die Verwendung der explosion sollte man eher von einer Formalisierung sprechen, in die man versucht, beide Wahrheiten aufzunehmen. Der entscheidende Punkt hier ist, dass eine Formalisierung (und ebenso eine Übersetzung) nicht identisch ist mit dem, was formalisiert wird (auch wenn sie es, unter Annahme von Propositionen, vielleicht in allen entscheidenden Hinsichten wäre), so dass Goodman möglicherweise zufriedener wäre mit der Formulierung, dass eine geeignete Formalisierung die Aussagen als widersprüchliche wiedergäbe, im Gegensatz zu einer Formulierung, nach der sie bereits widersprüchlich sind. Das liegt auch deswegen nahe, weil Goodman darauf besteht, dass grundsätzlich unterschiedliche Übersetzungen bzw. Formen des In-Beziehung-Setzens zweier Systeme möglich sind, die unterschiedliche Ergebnisse bzgl. der Frage von Kompatibilität und Inkompatibilität liefern können. Siehe z. B. Goodman (1978), 110; (1984), 98; Putnam (1995), 122 f. Auf die Fragen, warum relativistische Theorien diese unterschiedlichen Formen annehmen und wie die vertretene Form des Relativismus mit den Hintergrundannahmen unterschiedlicher Autoren zusammenhängt, wird noch zurückzukommen sein. Siehe Abschnitt 1.5.4.
1.5 Globale Formen des Relativismus
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wie im Folgenden deutlich werden wird, diese Erklärungen gegenseitig ausschließen.⁸⁴ Die Tatsache, dass sich die drei Formen des globalen Relativismus gegenseitig ausschließen, ist dabei in einem gewissen Maße ein Artefakt des Zwecks der hier zu gebenden Typologie. Dasselbe gilt für die hauptsächlichen Abweichungen der Typologie von gebräuchlicheren Einteilungen des Relativismus. In diesen werden häufig der Bedeutungsrelativismus und der metaphysische Relativismus unter der Kategorie des conceptual relativism zusammengefasst, und sogar der hier als Beispiel für den alethischen Relativismus verwendete Theoretiker Goodman wird bisweilen dieser Richtung zugeordnet. Diese Vermischung ist zwar m. E. grundsätzlich nicht sinnvoll,⁸⁵ aber für eine Betrachtung des Relativismus unter dem Gesichtspunkt der Selbstaufhebung ist es darüber hinaus essentiell, dass Theorien nicht nur anhand ihrer Motivationen oder ihrer Ansatzpunkte, sondern anhand der stärksten aus ihnen folgenden These klassifiziert werden. So wird z. B. in Abschnitt 2.1.1 Protagoras als alethischer Relativist klassifiziert werden, obwohl es plausibel ist anzunehmen, dass er Wahrheit nur deswegen für relativ hält, weil er Tatsachen für relativ hält und somit die Relativität der Wahrheit für ihn nur eine abgeleitete ist. Was die stärkste aus einer Theorie folgende oder innerhalb ihrer vertretene These ist, ist deswegen zentral für die Frage der Selbstaufhebung, weil Selbstaufhebungsargumente natürlich gerade dort ansetzen und versuchen, problematische Konsequenzen abzuleiten. Für die Frage, ob eine Theorie für Selbstaufhebungsargumente anfällig ist, ist es also entscheidend, was die stärkste in ihr vertretene relativistische These ist und nicht warum diese These vertreten wird. Deswegen wird auch in der hier zu entwickelnden Typologie des Relativismus in erster Linie darauf zu achten sein, was die stärksten theoretischen Verpflichtungen eines Ansatzes sind und nicht so sehr darauf, wo seine theoretischen Ursprünge liegen. Bezüglich der Frage, was genau globale relativistische Thesen behaupten, ist zunächst einmal festzuhalten, dass Wahrheit in einem völlig offensichtlichen und trivialen Sinn relativ auf Sprache ist. Wenn ich Deutsch spreche, nenne ich einen
Dies gilt natürlich nur, wenn die jeweiligen Erklärungen als globale betrachtet werden. Nichts hält z. B. einen alethischen Relativisten davon ab, einen spezifischen scheinbaren Widerspruch nicht als Fall relativer Wahrheit, sondern als Resultat von Ambiguität o. Ä. anzusehen, womit sich seine Bewertung dieses konkreten Falls mit der des Bedeutungsrelativisten decken würde. Die Gründe dafür werden in den folgenden Abschnitten noch klarwerden, der wichtigste sollte hier aber bereits Erwähnung finden. Dieser ist, dass metaphysische und alethische Relativisten typischerweise einen substantiellen Bedeutungsbegriff ablehnen, so dass die gebräuchliche Beschreibung eines conceptual relativism, also als ein Relativismus, der Realität, Wahrheit o. Ä. auf conceptual schemes relativiert, auf diese nicht sinnvoll anwendbar ist.
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Regenschirm „Regenschirm“ und wenn ich Englisch spreche, nenne ich ihn „umbrella“. Die Wahrheit der Äußerungen „Das ist ein Regenschirm“ und „This is an umbrella“ ist insofern gebunden an die Sprache, in der sie gemacht werden. In diesem Fall schon allein deswegen, weil sie in der jeweils anderen Sprache überhaupt keine Äußerungen sind. Sie sind schlicht keine Sätze der jeweils anderen Sprache und insofern noch nicht einmal Kandidaten für Wahrheit oder Falschheit. Niemand bestreitet diese triviale Form von Relativität, sie ist eine empirische Tatsache. So wie bis jetzt formuliert, hat sie auch keinerlei offensichtliche erkenntnistheoretische Konsequenzen. Was hier fehlt, ist ein Konflikt oder ein Konkurrenzverhältnis. Es ist zwar nicht möglich, gleichzeitig Englisch und Deutsch zu sprechen, aber der englische Satz lässt sich, wie gerade geschehen, problemlos auf Deutsch wiedergeben und andersherum. Man könnte auch sagen, dass sich beide auf dieselben Tatsachen beziehen. Diese triviale Relativität tritt auch in Formen auf, die schon eher den Eindruck erwecken, als würden sie eine relativistische Auffassung nahelegen. Doch selbst, wenn „Das ist ein Regenschirm“ tatsächlich durch einen verrückten Zufall ein Satz der englischen Sprache wäre und so etwas bedeuten würde wie „Das ist kein Regenschirm“, so dass der Satz immer relativ auf die eine Sprache wahr wäre und relativ auf die andere falsch, müsste kein Realist oder Absolutist deswegen ins Schwitzen kommen. Schließlich haben wir es mit einem klaren Fall von zwei entgegengesetzt aussehenden Sätzen mit derselben Bedeutung zu tun. Der scheinbare Konflikt ist ein vollkommen oberflächlicher, er spielt sich ausschließlich auf der Ebene der Sprachkonventionen ab.⁸⁶ Diese Abgrenzung ist schon deswegen wichtig, weil relativierte Wahrheitsbegriffe innerhalb dezidiert realistischer und absolutistischer Theorien keine Seltenheit sind. Ein Beispiel dafür wären Tarskische Wahrheitsdefinitionen, die bekanntlich grundsätzlich nur für eine Sprache gelten, aber man muss gar nicht tief in die philosophische Theoriebildung einsteigen um solche zu finden. So schreibt z. B. Susan Haack: „As I explain to my students, ‚the department of philosophy at the University of Miami is on the seventh floor of the Ashe Building‘ is true-in-American-English, but false-in-British-English, which counts floors ‚ground, first, second, …‘“ (Haack (2005), 95). Allerdings sollte hinzugefügt werden, dass Haack im Folgenden sagt, dass sie diese Formulierung fehlleitend findet und die Formulierung, dass der betreffende Satz wahr qua Satz in amerikanischem Englisch und falsch qua Satz in britischem Englisch vorzuziehen ist. Ihr Ziel ist gerade, gegen die Vorstellung vieler Wahrheitsbegriffe im Tarskischen Sinne zu argumentieren. Das ändert aber nichts daran, dass die zitierte Formulierung mit einer absolutistischen Auffassung von Wahrheit vollkommen vereinbar ist. Ein gewisses Maß an Relativität der Wahrheit oder vielleicht besser eine gewisse Form der Relativität von Wahrheit (nämlich eben die, die sich durch Bedeutungsunterschiede für harmlos erklären lässt) wird also durchaus auch außerhalb des Relativismus angenommen. Für Theorien, die Sätzen einen Wahrheitswert zusprechen, ist das eine naheliegende Annahme.
1.5 Globale Formen des Relativismus
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Interessant wird es erst, wo die Frage, ob zwei Sätze dasselbe, Verschiedenes oder sogar Gegensätzliches bedeuten, selbst zu einer komplizierten Frage wird. Die wichtige Frage dabei ist immer, wie diese Beispiele zu interpretieren sind. Aus Sicht einer relativistischen Auffassung sollen sie zeigen, dass die Welt sich auf sehr unterschiedliche Weisen beschreiben lässt und dass diese in einem Spannungsverhältnis stehen, das sich nicht ohne weiteres auflösen lässt. Um an absolutistischen Vorstellungen festhalten zu können, müsste hingegen gezeigt werden, dass auch diese Beispiele am Ende nur triviale Fälle von Relativität sind – zwar komplexere und schwerer zu erkennende Fälle, aber nichtsdestotrotz dieselben Tatsachen in unterschiedlicher Aufmachung. Die Theorien, die hier besprochen werden sollen, wollen also auf mehr hinaus als auf eine solche triviale Relativität von Wahrheit. Sie wollen zeigen, dass hinter der Sprachrelativität der Wahrheit mehr steckt als nur die Arbitrarität des Bezeichnens. Das gemeinsame Phänomen, das den globalen Relativismen zugrunde liegt, ist m. E. am deutlichsten artikuliert in Putnams Beispielen zur konzeptuellen Relativität, wovon nun eines kurz vorgestellt werden soll, um einen Eindruck der gemeinsamen Frage, auf die die globalen Relativismen unterschiedliche Antworten geben, zu erlangen.
1.5.1 Ein gemeinsames Phänomen Als Einstieg in das Thema des globalen Relativismus soll nun also ein Beispiel von Hilary Putnam vorgestellt werden, aus der Phase seines Werkes, in der er seinen internen Realismus verteidigt und weiterentwickelt hat. Es ist ein guter Anfangspunkt, weil es gerade nicht nur auf die unterschiedlichen Möglichkeiten der Bezeichnung und Kategorisierung von Gegenständen hinweist. Stattdessen arbeitet es mit einer gewissermaßen noch tieferliegenden Relativität, nämlich der Relativität der Zerlegung eines Bereiches in Gegenstände. Dadurch sind einige Rückzugspunkte für realistische und absolutistische Auffassungen von vornherein versperrt. Putnams Beispiel zeigt, dass unterschiedliche Sprachen nicht einfach nur dieselben Dinge unterschiedlich benennen. Zunächst also zu Putnams Beispiel: Putnam fordert seine Leser auf, sich eine Welt mit nur drei Individuen vorzustellen – also drei konkreten, nicht zusammengesetzten Dinge wie z. B. Legosteinen, Kaffeebechern oder Nilpferden: x1, x2, und x3. Putnam stellt nun eine leicht zu beantworten scheinende Frage, nämlich die, wie viele Gegenstände diese Welt enthält. Die offensichtliche Antwort ist drei, aber Putnam besteht darauf, dass dies nur eine mögliche Antwort ist, er nennt sie die Antwort in Carnaps Sprache. In Carnaps Sprache bedeuten „Individuum“ und „Gegenstand“ dasselbe, oder besser, sie werden austauschbar verwendet. Ge-
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nauso gut könnten wir aber eine andere Sprache sprechen. Putnam nennt diese zweite Sprache die Sprache des polnischen Logikers, mit Bezug auf Stanisław Leśniewski, den Begründer der Mereologie. Mereologie ist eine Form der Logik, die sich mit der Teil-Ganzes-Relation beschäftigt. Die Sprache des polnischen Logikers ist eine mereologische Sprache insofern, als sie die Grundannahme der Mereologie teilt, dass jede Kombination zweier Gegenstände selbst ein Gegenstand ist. Daraus ergibt sich, dass in der Sprache des polnischen Logikers nicht nur drei Gegenstände unsere kleine Welt bevölkern, sondern sieben. Denn in ihr gibt es neben den drei in Carnaps Sprache anerkannten Gegenständen x1, x2 und x3 auch noch die Summe von x1 und x2, die Summe von x1 und x3 usw.⁸⁷ Die konfligierenden Beschreibungsweisen schreiben in diesem Fall also nicht etwa denselben Gegenständen unterschiedliche Eigenschaften zu, sondern sie sind sich uneins darüber, welche Gegenstände es überhaupt gibt. Deswegen sind solche grundlegenden Fragen wie die, welche Gegenstände überhaupt einen zu beschreibenden Bereich bilden, laut Putnam, nicht ohne eine vorherige Festlegung auf eine bestimmte Beschreibungsweise zu beantworten. Putnam nennt seine Haltung in diesem Punkt die These der konzeptuellen Relativität.
1.5.2 Relativistische Interpretationen und absolutistische Ausweichversuche Der tiefliegende Ansatzpunkt für Putnams Beispiel konzeptueller Relativität im Bereich der Gegenstandsindividuierung verhindert eine einfache Teilzugeständnis-Strategie von realistischer oder absolutistischer Seite. Diese Strategie besteht darin zuzugestehen, dass wir die Welt durch unterschiedliche Kategorisierungssysteme unterschiedlich einteilen können. Wir können die Gegenstände der Welt z. B. entweder nach Farben oder nach Größen sortieren; dass wir dadurch unterschiedliche Gruppierungen erhalten, ändert nichts daran, dass wir in beiden Fällen dasselbe Material zur Einteilung zur Verfügung haben. Diese Strategie kommt sehr häufig gegen Beispiele konzeptueller Relativität zum Einsatz; und gegen solche, die auf dem Eigenschaftslevel verbleiben, ist sie auch einigermaßen plausibel. Obwohl es mit Sicherheit stärkere Formen des Absolutismus gibt, ist der Vertreter dieses Bildes gerade in dem Sinne noch ein Vertreter des von Putnam so betitelten metaphysischen Realismus, als er an eine Welt mit einer festen Anzahl an Gegenständen glaubt, die sich zwar in unterschiedlichste Gruppierungen einteilen lassen mögen, die aber nichtsdestotrotz den Bezugspunkt einer jeden
Vgl. Putnam (1987), 18 f.
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wahren Weltbeschreibung bilden müssen. Dieses Bild muss scheitern, wenn selbst die Frage, welche Gegenstände es gibt, nur in relativer Weise zu beantworten ist. Insofern ist es fast schon verwunderlich, dass tatsächlich auf einer solchen Strategie beruhende Antworten auf Putnams Herausforderung vorgelegt worden sind. So schlägt z. B. Gardiner bezogen auf ein abgewandeltes Beispiel vor, die Gegenstände der einen Sprache „lobjects“ und die der anderen Version „smobjects“⁸⁸ zu nennen und eine übergreifende Beschreibungsweise zu benutzen, die beide Bezeichnungen enthält. Die unterschiedlichen Bezeichnungen sollen hier wohl darauf hindeuten, dass wir es mit zwei unterschiedlichen konventionellen Kategorien zu tun haben, die die Welt unterschiedlich einteilen, aber mehr eben auch nicht. Worauf diese angebliche Lösung aber hinausläuft, ist ein völliges Ignorieren der Ausgangsfrage. Denn diese war weder welche oder wie viele smobjects noch welche oder wie viele lobjects es gibt, sondern es war eine Frage nach den Gegenständen, die zu beschreiben sein sollen. Diese Frage ist in dieser neuen Version nicht weniger relevant, und es gibt keine offensichtliche Antwort. Sind nur die lobjects echte Gegenstände und die smobjects irgendwie abgeleitet? In diesem Fall schlägt sich die neue Version eindeutig auf die Seite von Carnap. Sind Gegenstände eigentlich smobjects und die lobjects eine Untergruppe derselben? In diesem Fall schlägt sich die neue Version auf die Seite des polnischen Logikers. Natürlich gibt es noch weitere neue Möglichkeiten, die Gegenstandsfrage zu entscheiden, aber ansonsten bleibt die Problemlage völlig unverändert. An dieser Stelle möchte ich den Fokus weiten und die Frage stellen, an welchen Problemen solche Antwortstrategien aus Sicht einer relativistischen Auffassung scheitern, und im Zuge dessen eine wichtige Argumentationskomponente für ein relativistisches Verständnis von Wahrheit vorstellen. Da der alethische Relativismus der stärkste der drei globalen Relativismen ist, dürften einige Vertreter schwächerer Formen des globalen Relativismus, insbesondere des Bedeutungsrelativismus, nicht mit allen Details der Argumentation übereinstimmen. In den groben Zügen, in denen sie hier vorgestellt wird, sollte sich allerdings nichts finden lassen, was schwächeren Relativismen klar zuwiderläuft. Wie gesagt handelt es sich nur um eine Komponente einer vollständigen Argumentation für den alethischen Relativismus, sie spricht sich für eine global-relativistische Lesart des oben angerissenen Phänomens aus, indem sie absolutistische Interpretationen problematisiert, aber sie entscheidet noch nicht zwischen unterschiedlichen Formen des globalen Relativismus.
Gardiner (2000), 215.
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Das vorzustellende Argument stammt von Nelson Goodman,⁸⁹ und es wird im Folgenden als das Zwiebel-Argument bezeichnet werden. Dieses Argument findet sich in einem Abschnitt aus seinem Buch Ways of Worldmaking, in dem Goodman die These vertritt, dass innerhalb zweier unterschiedlicher Symbolsysteme zwei sich widersprechende Sätze wahr sein können.⁹⁰ Goodman spricht aus zwei Gründen von Symbolsystemen anstatt von Sprachen: Erstens, weil er im Zuge seiner allgemeinen Symboltheorie auch viele Arten von Symbolen behandelt, die nicht sprachlicher Natur sind, wie z. B. Bilder und Musik. Zweitens stimmen selbst die Grenzen der sprachlichen Symbolsysteme, die er behandelt, in der Regel nicht mit den Grenzen natürlicher Sprachen überein, wie es ja auch bei der Sprache des polnischen Logikers und Carnaps Sprache der Fall war. Sie sind vielmehr mehr oder weniger in sich abgeschlossene Segmente natürlicher Sprachen oder auch künstliche Sprachen. Zur Wiedergabe des Arguments wird die Symbolsystem-Ausdrucksweise übernommen, da gerade dieser letzte Grund für eine plausible relativistische Auffassung wichtig zu sein scheint. Denn die aus relativistischer Sicht interessanten Phänomene – die Konflikte und Kontraste zwischen Symbolsystemen – beginnen eben nicht dort, wo man auf Fremdes und Unverständliches trifft. Vielmehr sollen die konzeptuelle Relativität im Sinne Putnams und eben auch die Relativität der Wahrheit auf Symbolsysteme, wie sie Goodman versteht, ganz alltägliche Phänomene sein. Sie tun sich zwischen unterschiedlichen Symbolsystemen auf, die wir mehr oder weniger selbstverständlich nebeneinander her benutzen. Am offensichtlichsten ist das vielleicht bei einem Beispiel, das Goodman, wahrscheinlich aus genau diesem Grund, besonders häufig benutzt, nämlich bei dem der Bewegungszuschreibungen. Den Fehler des Gefängniswärters, der sämtliche Insassen erschießt, weil sie sich, entgegen der Anweisung, sich nicht zu bewegen, mit rasender Geschwindigkeit um die Sonne drehen, würden wir nicht machen, gerade weil wir im Umgang mit verschiedenen Festlegungen dafür, was als stationär zu gelten hat, durchaus geübt sind.⁹¹ Der Fall der Bewegungszuschreibungen ist noch aus einem weiteren Grund interessant, und zwar deswegen, weil er auf den zweiten Blick ein wirklich schlechtes Beispiel für die Relativität von Wahrheit auf Symbolsysteme zu sein scheint. Denn dass Bewegung in irgendeinem Sinne ein relatives Konzept ist – und zwar relativ in einem Sinne, der nicht auf die einigermaßen komplexe Auf die genaue Form von Goodmans relativistischer Theorie wird im Abschnitt zum alethischen Relativismus zurückzukommen sein. Siehe Abschnitt 1.5.6., insbesondere 1.5.6.2. Er argumentiert dort also für einen alethischen Relativismus. Siehe Goodman (1978), 109 – 120. Dieses Beispiel ist eine leicht abgewandelte Version von dem in Goodman (1978), 121.
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Elaboration im Sinne Putnamʼscher konzeptueller Relativität oder kontrastierender Symbolsysteme angewiesen zu sein scheint, ist jedem, der mit Zug- und Autofahrten aufgewachsen ist, klar. Insofern scheint das Prädikat „bewegt sich“ kein Fall von konzeptueller Relativität zu sein und „Das Lenkrad bewegt sich“ und „Das Lenkrad bewegt sich nicht“ auch kein Fall von symbolsystemrelativer Wahrheit. Doch dieser Schluss ist vielleicht voreilig. Nur weil Bewegung in so augenfälliger Weise relativ ist, dass wir ständig mehr oder weniger bewusst damit umgehen müssen, heißt das noch nicht, dass diese Relativität vollkommen andersartige Gründe haben muss als Instanzen von Relativität, die schwerer aufzuspüren sind. Es wäre durchaus möglich, dass die singulären Eigenschaften des Prädikats „bewegt sich“ nicht so sehr für die Relativität als solche sorgen, sondern viel mehr für deren Offensichtlichkeit. Insgesamt muss man allerdings zugeben, dass das Bewegungsbeispiel nicht besonders überzeugend ist. Geht man bereits von einer relativistischen Wahrheitsauffassung aus, ist es zwar durchaus vertretbar, Bewegungszuschreibungen als offensichtliche Fälle relativer Wahrheiten zu betrachten. Aber einen Gegner einer solchen Position wird man damit nicht überzeugen können. Das liegt erstens daran, dass es in den meisten anderen Zuschreibungen kein offensichtliches Äquivalent zu dem für Bewegungszuschreibungen notwendigen Bezugspunkt gibt. Ein zweiter Grund ist, dass sich Beschreibungen mit unterschiedlichen Bezugspunkten ohne weiteres ineinander überführen lassen, solange man die relevanten Informationen besitzt.⁹² Aus den unterschiedlichen Versuchen, das Bewegungsbeispiel als Instanz einer relativistischen Theorie zu umgehen, die von Goodman besprochen werden, lässt sich trotzdem einiges über die Erfolgsaussichten absolutistischer Vermeidungsstrategien im Allgemeinen lernen. Sie versuchen, wie schon bei Gardiner zu beobachten war, das Konflikthafte oder Widersprüchliche auf der Ebene reiner Konventionen zu verorten. Die Stoßrichtung solcher Strategien ist es, einen Kontrast zwischen der klaren, geordneten Realität bzw. den Fakten auf der einen Seite und den teils konfusen und in diesem Fall verwirrenden menschlichen Sprachkonventionen aufzumachen. Die Verantwortung für die, aus Sicht des Absolutisten nur scheinbare,Widersprüchlichkeit wird dann der Konventionsseite allein zugeschoben. Sie wird zur menschengemachten Illusion erklärt. Auf der anderen Seite stehen die Tatsachen, völlig unberührt von dem Chaos, das wir angerichtet haben. Diese Kontrastierung von Tatsachen und Konventionen hat
Vgl. Goodman (1987), 93.
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natürlich erhebliche Ähnlichkeit mit der analytisch-synthetisch-Unterscheidung,⁹³ trotzdem müssen beide auseinandergehalten werden. Beide Unterscheidungen versuchen auf ihre jeweils eigene Weise den Beitrag der Welt und den Beitrag des erkennenden Subjekts an unseren Erkenntnissen voneinander zu trennen. Sie unterscheiden sich allerdings zumindest darin, dass sie versuchen, oder vielleicht besser dazu eingesetzt werden, die unterschiedlichen Beiträge von Welt und Subjekt in verschiedene Richtungen aufzulösen. Wie gleich zu sehen sein wird, wird die Unterscheidung von Konventionen und Tatsachen durch Goodman insbesondere in der Hinsicht angegriffen, als sie benutzt wird, um zu suggerieren, es gäbe so etwas wie die reinen Tatsachen, die man durch das Subtrahieren von Konventionen erhalten könnte. Hingegen ist der seit Quine viel kritisierte Punkt der analytisch-synthetisch-Unterscheidung eben nicht, dass es so etwas wie reine Tatsachen, sondern dass es so etwas wie reine Konventionen gibt – eben diese sollen ja durch die analytischen Wahrheiten, deren Existenz Quine anzweifelt, artikuliert werden. Wenn dies, wie ich glaube, der in diesem Kontext wichtigste Unterschied der beiden Kontrastpaare ist, sieht man auch, warum sowohl von Goodmans als auch von Putnams Position her beide als Verrichter philosophischer Arbeit abzulehnen sind. Denn beide Unterscheidungen gehen eben davon aus, dass sich aus unseren Erkenntnissen entweder der menschengemachte oder der weltverantwortete Aspekt isolieren lässt, und das widerspricht der vor allem in Goodmans Zwiebel-Argument deutlich werdenden Ansicht des untrennbaren Ineinander beider. Oder, um es mit Putnam zu sagen: „[W]e fall into hopeless philosophical error if we commit a ‚fallacy of division‘ and conclude that there must be a part of the truth that is the ‚conventional part‘ and a part that is the ‚factual part‘.“⁹⁴ Zunächst aber zurück zu den Bewegungszuschreibungen und Goodmans Zwiebel-Argument. Obwohl es, wie gesagt, Möglichkeiten gibt, Bewegungsaussagen mit verschiedenen Bezugspunkten ineinander zu überführen, können wir nicht ohne weiteres zwei sich auf den ersten Blick widersprechende Bewegungszuschreibungen wie z. B. „Das Lenkrad bewegt sich“ und „Das Lenkrad bewegt sich nicht“ in ein gemeinsames Symbolsystem einbetten. Genau das ist der Ansatzpunk des Zwiebel-Argumentes. Es besagt, dass der Versuch, widersprüchlich erscheinende Aussagen aus verschiedenen Symbolsystemen in ein gemeinsames System zu überführen, typischerweise zu einem Verlust bezüglich des Gehaltes der ursprünglichen Aussagen führt. Dieses Phänomen konnten wir bereits im Kontext
Gemeint ist hier die analytisch-synthetisch-Unterscheidung der analytischen Tradition und insbesondere Carnaps, nicht die Kantische. Putnam (1990), x.
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des Putnam-Beispiels bezüglich des smobject- und lobject-Systems beobachten. Auch dort war der problemgenerierende Ausdruck „Gegenstand“ zunächst einmal verschwunden. Im Falle der Bewegung ist es ähnlich. Der erste der von Goodman behandelten offensichtlichen Kandidaten für eine Zusammenführung der beiden Aussagen „Das Lenkrad bewegt sich“ und „Das Lenkrad bewegt sich nicht“ ist der Versuch, die Relativität der Bewegung explizit zu machen. Angewandt auf unser Beispiel könnten die beiden Aussagen in einem gemeinsamen System wiedergegeben werden als „Benutzt man System A, ist es wahr, dass sich das Lenkrad bewegt“ und „Benutzt man System B, ist es wahr, dass sich das Lenkrad nicht bewegt“. Diese beiden Aussagen sind allerdings, wie Goodman richtig anmerkt, Aussagen über Systeme und nicht über Bewegung und Lenkräder.⁹⁵ Ebenso wenig lassen sich die ursprünglichen Aussagen in einem System vereinigen, das mehr oder weniger rein mathematisch die Veränderungen der Abstände des Lenkrades und der es umgebenden Gegenstände erfasst. Denn hier ist auf einmal gar keine Rede mehr von Bewegung oder Stillstand.⁹⁶ Der Effekt des Systemwechsels ist also nicht der erhoffte Abbau des konventionellen Elementes zugunsten der ‚reinen Fakten‘ der Bewegung, sondern ein Wechsel zu einer anderen Konvention. Besonders deutlich wird dies daran, dass sich mehrere Möglichkeiten der Vereinheitlichung mit jeweils charakteristischen Ergebnissen anbieten. Diese Möglichkeiten ließen sich noch vervielfältigen, wenn man unterschiedliche Möglichkeiten der Gegenstandsindividuierung, wie von Putnam dargelegt, in Betracht ziehen würde. Der Versuch, das konventionelle Element auszuschalten und so zu einer neutralen Beschreibung zu gelangen, endet entweder in neuen Konventionen oder in der Sprachlosigkeit. Um es mit Goodman zu sagen: „[T]he onion is peeled down to its empty core.“⁹⁷ Doch was genau besagt dieses Bild? Der nicht vorhandene innerste Kern steht bei Goodman für die nackte Realität, die er mit dieser Metapher für eine Phantasie von Realisten und Absolutisten erklärt. Für Goodman sind Tatsachen und Konventionen untrennbar verbunden, und deswegen schälen wir immer dann, wenn wir versuchen, eine Schicht von Konventionen zu entfernen, ein Stück Realität mit ab. Deswegen kam uns bei dem zweiten Versuch, die gegenläufigen Bewegungszuschreibungen zu vereinbaren, die Bewegung abhanden. Machen wir damit weiter, bis wirklich keine Konventionen mehr vorhanden sind, stehen wir am Ende mit leeren Händen da.⁹⁸ Auf diese Weise versucht also Goodman dem
Vgl. Goodman (1978), 112 f.; 116 f. Vgl. Goodman (1978), 113 f.; 117. Goodman (1978), 118. Vgl. Goodman (1978), 117 f.
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Phänomen der widersprüchlich erscheinenden wahren Weltbeschreibungen zu seinem relativistischen Recht zu verhelfen und absolutistische Erklärungsversuche abzublocken.
1.5.3 Ein Kontrast zum semantischen Relativismus In Abschnitt 1.4 war davon die Rede, dass semantische Relativismen sich nur schwer als globale Relativismen vorstellen lassen, und davon, dass sie sich mit ‚klassischeren‘ Formen des kognitiven Relativismus nur schwer vergleichen lassen, da es schlicht an Gemeinsamkeiten, an denen sich anzusetzen lohnt, zu fehlen scheint. Die Überlegungen zur Motivation der globalen Relativismen haben zwar keine neuen Gemeinsamkeiten aufgezeigt, aber sie bieten einen Ansatzpunkt, um zu verstehen, warum die beiden Theorietypen so unterschiedlich sind. Sie scheinen sich nämlich aus vollkommen unterschiedlichen Situationen zu speisen. Während der Phänomenbestand, mit dem globale Relativismen in angemessener Weise umzugehen versuchen, wie gerade dargelegt, in unterschiedlichen Beschreibungsweisen, die identisch scheinende Sätze mit unterschiedlichen Wahrheitswerten produzieren, besteht, ist das Phänomen im Herzen des semantischen Relativismus das des sogenannten faultless disagreement bzw. der irrtumsfreien Meinungsverschiedenheit.⁹⁹ Dabei handelt es sich, grob gesprochen, um Situationen, in denen zwei Sprecher sich erstens genuin uneinig sind (vom semantischen Relativisten so gefasst, dass sie gegensätzliche Propositionen behaupten) und zweitens keinem von beiden ein Fehler unterlaufen ist – weder in dem Sinne, dass einer von beiden eine falsche Aussage macht (wie es ein Absolutismus verlangen würde), noch in dem Sinne, dass mindestens einem von beiden ein logischer Fehler unterläuft, Datenmaterial fehlt o. Ä.¹⁰⁰ Oder besser gesagt: Der semantische Relativist will darauf hinaus, dass dies die richtige Interpretation für Auseinandersetzungen in bestimmten Bereichen (z. B. im ästhetischen oder moralischen) ist. Insofern entspricht die irrtumsfreie Meinungsverschiedenheit eher der globalrelativistischen Auslegung anscheinend gleichermaßen wahrer und widersprüchlicher Aussagen, z. B. im Sinne von Putnams These der konzeptuellen Relativität, und nicht dem ‚nackten‘ Phänomen.
Die Übersetzung des englischen Ausdrucks wird übernommen aus Kölbel (2009). Wie bei allen einigermaßen breit genutzten philosophischen Konzepten gibt es natürlich auch hier viele unterschiedliche Darstellungen. Siehe z. B. Brogaard (2008), 292 f.; Kölbel (2003); (2002), 28 ff.; 98 ff.; López de Sa (2007), 273 ff.
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Wobei auch diese Charakterisierung des Verhältnisses nicht vollkommen zufriedenstellend ist, da die Lage im Falle des semantischen Relativismus dadurch verkompliziert wird, dass die typische Argumentation für den semantischen Relativismus es sich zum Ziel setzt, der angeblich vortheoretischen Intuition, dass in bestimmten Arten von Auseinandersetzungen niemand einen Fehler begeht und es sich trotzdem um eine echte Auseinandersetzung handelt, Genüge zu tun. Im Gegensatz dazu ist es z. B. nicht Putnams Ziel, mit seinen Überlegungen eine vortheoretische Intuition eines untrennbaren Ineinander von Fakten und Konventionen zu bestätigen. Der alethische Relativismus steht in diesem Punkt dem semantischen Relativismus am nächsten, da er versucht, sowohl den Anschein der Widersprüchlichkeit bzw. semantischen Äquivalenz als auch den Anschein gleicher bzw. unterschiedlicher Wahrheitswerte zu bestätigen, beides kann man als intuitive, vortheoretische Bewertungen der Situation sehen. Dem semantischen Relativismus und den globalen Relativismen insgesamt ist gemeinsam, dass sie sich gegen absolutistische Versuche der Auflösung eines bestimmten Anscheins stellen, im ersten Falle den der irrtumsfreien Meinungsverschiedenheit,¹⁰¹ im zweiten den von radikal unterschiedlichen Beschreibungsweisen verkörpert in gleichen Wahrheitswerten widersprüchlicher Aussagen. Diese beiden Bezugspunkte sind, obgleich verwandt, doch so unterschiedlich, dass schnell klar wird, dass sich aus einer Fokussierung auf sie jeweils unterschiedliche Theorien ergeben müssen. Verwandt sind die beiden Szenarien in dem Sinne, dass es für eine irrtumsfreie Meinungsverschiedenheit notwendig ist, dass zwei widersprüchliche Aussagen wahr sind. Denn wäre eine der beiden zur Diskussion stehenden Aussagen falsch, gälte dies als Fehler; und nur Uneinigkeiten, die tatsächlich ein und dieselbe Proposition betreffen, werden von semantischen Relativisten als echte Meinungsverschiedenheiten gewertet.¹⁰² Ganz zu schweigen davon, dass sich der semantische Relativismus nicht für unterschiedliche Beschreibungsweisen interessiert, sondern ausschließlich innerhalb einer Sprache arbeitet, sind bei weitem nicht alle Szenarien widersprüchlicher wahrer Aussagen auch solche, in denen eine irrtumsfreie Meinungsverschiedenheit vorliegt.
Die Ansicht, dass der Versuch, den Anschein von irrtumsfreien Meinungsverschiedenheiten nicht aufzulösen, den Kern relativistischer Theoriebildung im Allgemeinen bildet, wird in Wright (2006) vertreten. Siehe López de Sa (2011) für eine sehr gründliche Darstellung der Zusammenhänge verschiedener Auffassungen aus dem Umfeld des semantischen Relativismus und verschiedener Interpretationen von (scheinbar) irrtumsfreien Meinungsverschiedenheiten. Er selbst vertritt die Auffassung, dass die relativistische Lesart von „Meinungsverschiedenheit“ zu stark ist.
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Am deutlichsten wird dies, wenn man sich ansieht, in welcher Form irrtumsfreie Meinungsverschiedenheiten in der Regel präsentiert werden. Zwar gibt es auch Darstellungen der irrtumsfreien Meinungsverschiedenheit rein in Form unausgesprochener Überzeugungen,¹⁰³ aber der Standardmodus der Darstellung ist hier, wie bei fast allem, was semantische Relativisten als Belegmaterial anführen, der des Gesprächs. Ein Sprecher behauptet z. B., dass Rosenkohl gut schmeckt, ein anderer bestreitet dies und behauptet damit das Gegenteil. Laut dem semantischen Relativismus (über Geschmacksaussagen) kann ein solcher Austausch stattfinden, ohne dass einer der beiden Gesprächspartner irgendetwas falsch gemacht haben müsste.¹⁰⁴ Für einen Vertreter eines alethischen Relativismus ist die Lage deutlich komplizierter, denn innerhalb eines Rahmens sind die Wahrheitswerte von Aussagen festgelegt. Machen zwei Sprecher also widersprüchliche Aussagen und beide Aussagen sind wahr, müssen diese beiden Aussagen unterschiedlichen Rahmen angehören (im Gegensatz dazu bewegen sich semantische Relativismen grundsätzlich innerhalb einer Sprache, die nicht in weitere Subsysteme unterteilt wird; die relevante Relativierungsinstanz ist hier entweder der Sprecher oder der Rezipient bzw. dessen persönliches Geschmacksempfinden). Das heißt aber auch, dass in einer Situation, in der sich die beiden fraglichen Sprecher in einer Konversation miteinander befinden, ein kommunikativer Irrtum vorliegt. Mindestens einer der Sprecher benutzt entweder einen unangemessenen Rahmen, hätte sich mit seinem Gesprächspartner auf einen gemeinsamen Rahmen einigen sollen, bevor er Behauptungen aufstellt, o. Ä. Das bedeutet, dass es zwar möglich ist, dass zwei Personen – ohne dass ein Irrtum vorliegt – gegensätzliche Überzeugungen haben, aber gerade die paradigmatische Situation eines Austausches gegensätzlicher Überzeugungen, wie z. B. einer moralischen Diskussion, ohne Fehler kann der alethische Relativismus nicht bereitstellen. Die unterschiedlichen zugrundeliegenden Phänomene und die auf ihnen aufbauenden Theorien weisen also erhebliche Unterschiede auf. Die anderen beiden Formen des globalen Relativismus können ohnehin keine irrtumsfreien Meinungsverschiedenheiten zur Verfügung stellen – wie zum Ende des Abschnitts über den semantischen Relativismus erwähnt, können diese nicht als echte Relativismen im Sinne Kölbels klassifiziert werden, und das bedeutet, dass sie nicht in der Lage sind, die Meinungsverschiedenheit-Bedingung für eine irrtumsfreie Meinungsverschiedenheit zu erfüllen. Denn diese hängt für den Siehe z. B. Kölbel (2003), 53 f. Dabei bedeutet die Tatsache, dass ein solcher Austausch stattfindet, allerdings nicht zwangsläufig, dass hier eine irrtumsfreie Meinungsverschiedenheit vorliegt. Einer der Gesprächspartner könnte sich z. B. schlicht irren und Rosenkohl mit Brokkoli verwechseln.
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echten semantischen Relativisten nun einmal daran, dass dieselbe Proposition von einem Sprecher behauptet und von einem anderen bestritten wird. Wie ebenfalls dort erwähnt, lassen sich mit der Unterscheidung von echtem und indexikalischen Relativismus einige interessante Unterschiede zwischen den drei Formen des globalen Relativismus herausarbeiten, dies soll im folgenden Abschnitt geschehen.
1.5.4 Annäherung an die Unterschiede der globalen Relativismen Wie oben dargelegt, lässt sich das Kriterium identischer Propositionen nicht unmittelbar auf alle Formen des globalen Relativismus anwenden, da alethischer und metaphysischer Relativismus typischerweise mit einer Ablehnung eines substantiellen Bedeutungsbegriffes – und damit einer Bestreitung der Existenz von Propositionen – einhergehen. Es bietet sich aber – in abgewandelter Form – durchaus an, um ein Bild der Unterschiede zwischen den drei Formen des globalen Relativismus zu gewinnen – und das soll im Rest dieses Abschnitts versucht werden: eine erste Annäherung an die Unterschiede der globalen Relativismen anhand des Kriteriums für einen echten Relativismus und ihrer Beziehungen zu den beiden Phänomenen, die semantischem Relativismus einerseits und globalen Relativismen andererseits zugrunde liegen. Für diesen Zweck wurde oben, in Anlehnung an Swoyer, ein Ersatzkriterium, das sich auf Übersetzungsrelationen zwischen Rahmen bezieht, vorgeschlagen. Für den alethischen Relativismus ist also charakteristisch, dass zwei Aussagen, die Übersetzung voneinander sind, innerhalb unterschiedlicher Rahmen unterschiedliche Wahrheitswerte erhalten können. Damit kommt der alethische Relativismus einer Bestätigung des Anscheins widersprüchlicher Wahrheiten sehr nahe. Für den Bedeutungsrelativismus ist dies nicht der Fall, er ist die Form des globalen Relativismus, die den absolutistischen Versuchen, das Phänomen aufzulösen, am weitesten nachgibt. Wie der Absolutist glaubt auch der Bedeutungsrelativist, dass sich der Anschein widersprüchlicher Wahrheiten durch eine Berufung auf Bedeutungsunterschiede erklären lässt. Dies macht seine Theorie zur schwächsten Form des globalen Relativismus. Allerdings ist für ihn dieser Anschein durchaus ein Symptom von Relativität – wenn auch keiner Relativität der Wahrheit, sondern einer Relativität der Ausdrückbarkeit. Wo der Absolutist also gewissermaßen die Position „das sind alles nur Bedeutungsunterschiede, hier gibt es nichts zu sehen, gehen sie weiter“ vertritt, betrachtet der Bedeutungsrelativist das Phänomen sehr wohl als signifikant und als ausführliche philosophische Betrachtung erfordernd.
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Für den Bedeutungsrelativisten nutzen oder sind unterschiedliche Rahmen unterschiedliche Begriffsrepertoire (der Anschein widersprüchlicher Wahrheiten entsteht, wenn unterschiedliche Begriffe mit demselben Wort verbunden werden) und haben dadurch unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten zu ihrer Verfügung. Dies rückt den Bedeutungsrelativismus in die Nähe eines indexikalischen Relativismus im Sinne Kölbels.¹⁰⁵ Wie bei diesem ist auch für den Bedeutungsrelativisten eine Situation, die nach einer irrtumsfreien Meinungsverschiedenheit aussieht, ein Fall fehlgeschlagener Kommunikation, in dem ein oberflächlicher Eindruck der Gegensätzlichkeit zweier Aussagen verschleiert, dass zwei völlig unterschiedliche Propositionen o. Ä. im Spiel sind. Der metaphysische Relativismus nimmt gewissermaßen eine Mittelposition zwischen alethischem Relativismus und Bedeutungsrelativismus ein. Hier werden sowohl die Annahme widersprüchlicher Wahrheiten als auch die Möglichkeit der Erklärung scheinbarer widersprüchlicher Wahrheiten anhand von Bedeutungsunterschieden abgelehnt. Stattdessen verlagert der metaphysische Relativist die Fragestellung weg von Wahrheit und Bedeutung hin zu Fragen von Existenz und Sachverhalten. Für den metaphysischen Relativisten gibt es viele Möglichkeiten, Fragen wie „Wie viele Gegenstände gibt es in diesem Raum?“ zu beantworten, jede davon einem bestimmten Rahmen zugehörig und manche allem Anschein nach unvereinbar. Allerdings lehnt er jegliche Formulierung des Verhältnisses dieser Aussagen mit Hilfe der Konzepte der Bedeutung und der Widersprüchlichkeit ab: Für den metaphysischen Relativisten sind diese nicht zum Vergleich zwischen Ausdrücken innerhalb verschiedener Sprachen, Symbolsysteme o. Ä. geeignet. Damit lehnt der metaphysische Relativist natürlich sowohl die Antwort des Bedeutungsrelativisten als auch die Antwort des alethischen Relativisten auf das gemeinsame Phänomen aus prinzipiellen Gründen ab. Mit „aus prinzipiellen Gründen“ ist in diesem Fall gemeint, dass auch den jeweils entgegengesetzten (absolutistischen) Thesen nicht zugestimmt wird: Für den metaphysischen Relativisten haben die in den betreffenden Thesen enthaltenen Ausdrücke schlicht keine Anwendung über Rahmengrenzen hinweg. Spätestens hier wird deutlich, dass die Unterschiede zwischen den drei Formen des globalen Relativismus eng mit bestimmten Bedeutungsauffassungen zusammenhängen. Während der Bedeutungsrelativist einen starken Bedeutungsbegriff benötigt, um die Ausweichstrategie des Absolutisten über unterschiedliche Bedeutungen nutzen zu können und damit relative Wahrheiten und Weltinventare zu vermeiden, beruht die Ablehnung dieser Ausweichstrategie im
Allerdings gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den beiden Theorieformen, auf die im Abschnitt zum Bedeutungsrelativismus einzugehen sein wird. Siehe Kapitel 1.5.5.
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Falle von Relativisten wie Putnam und Goodman auf deren Ablehnung eines starken Bedeutungsbegriffes. Das ist natürlich besonders deutlich bei Putnam, dessen relativistische These direkt auf der Ablehnung eines rahmenübergreifenden Bedeutungsbegriffs beruht.¹⁰⁶ Aber auch in Goodmans Fall ergeben sich die relativistischen Konsequenzen aus seiner Symboltheorie, die den Kern seiner Philosophie bildet und für die die Ablehnung der Existenz von Bedeutungen als klar individuierbaren Entitäten eine zentrale Motivation ist. Dies wird im Abschnitt zu seinem alethischen Relativismus noch ausführlicher darzulegen sein. Um behaupten zu können, dass zwei gleichlautende Sätze in unterschiedlichen Rahmen mit unterschiedlichen Wahrheitswerten grundsätzlich unterschiedliche Bedeutungen haben,¹⁰⁷ braucht es einen starken Bedeutungsbegriff; und dasselbe gilt für die bedeutungsrelativistische These selbst. Ohne Bedeutungen als stabile und klar individuierbare Entitäten ergibt es keinen Sinn, von radikal unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die der Bedeutungsebene allein zuzuschreiben sind, zu sprechen.¹⁰⁸ Mit einem extensionalen Ansatz wie dem von Goodman landet man entweder bei einer stärkeren Form des Relativismus oder bei einer absolutistischen Auffassung; der Weg zu einer interessanten Relativität auf der Bedeutungsebene ist eben dadurch versperrt, dass eine solche Ebene nicht existieren soll. Aufgrund dieser bedeutungstheoretischen Unterschiede zwischen den drei Formen des globalen Relativismus ist auch die oben angerissene Trennung zwischen der analytisch-synthetisch-Unterscheidung einerseits und der Unterscheidung von Tatsachen und Konventionen, wie sie im Zwiebel-Argument genutzt wird, andererseits wichtig. Denn ein starker Bedeutungsbegriff bedeutet zwar eine Verpflichtung auf die Existenz analytischer Aussagen (oder wie bereits oben ausgedrückt reiner Konventionen), aber Bedeutungsrelativisten wollen, genau
Siehe dazu Abschnitt 1.5.7.2. Es ist wichtig zu betonen, dass der Ausdruck „grundsätzlich“ hier eine entscheidende Rolle spielt. Es ist nicht etwa so, dass alethische Relativisten niemals der Auffassung sein können, dass ein bestimmter scheinbarer Widerspruch aus Bedeutungsunterschieden resultiert. Es braucht keinen starken Bedeutungsbegriff, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass zwei konkrete oberflächlich identische Ausdrücke in ihrer Extension, Verwendungsweise etc. völlig unterschiedlich sind und man deswegen mit Recht von unterschiedlichen Bedeutungen sprechen kann (selbst wenn man diese Ausdrucksweise für fehlleitend halten und eine direkte Aussage über die Unterschiede vorziehen dürfte). Wofür der Bedeutungsrelativist den starken Bedeutungsbegriff benötigt, ist seine Auffassung, dass das Vorhandensein eines scheinbaren Widerspruches einen Unterschied in der Bedeutung der enthaltenen Termini impliziert. In „Analyticity Reconsidered“ macht Boghossian den hiermit zusammenhängenden Punkt, dass ohne ein Festhalten an der analytisch-synthetisch-Unterscheidung Quines These der Unbestimmtheit der Übersetzung unausweichlich scheint. Siehe Boghossian (1996).
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wie metaphysische und alethische Relativisten, ohne eine Verpflichtung auf reine Tatsachen auskommen.
1.5.5 Bedeutungsrelativismus Der Bedeutungsrelativismus ist die am häufigsten vertretene Spielart eines globalen Relativismus. Das ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass er die schwächste Variante ist. Von den drei globalen Relativismen lässt er sich, wie in den vorigen Abschnitten klargeworden sein sollte, am ehesten mit realistischen Minimalthesen vereinbaren. Die Bezeichnung „Bedeutungsrelativismus“ ist nicht in paralleler Weise zu solchen Bezeichnungen wie „moralischer Relativismus“ oder „Wahrheitsrelativismus“ zu verstehen, es ist also nicht die Bedeutung, die relativiert wird. Stattdessen wird hier auf etwas, das man im weitesten Sinne als Bedeutungen bezeichnen kann, relativiert. Diese Beschreibung des relativierenden Faktors bleibt bewusst vage, denn die konkreten Vorstellungen, die in bedeutungsrelativistischen Theorien auftauchen, gehen weit auseinander. Sprachen und Begriffsschemata sind dabei zwei der gebräuchlichsten Rahmen, aber bei weitem nicht die einzigen. Swoyer bezeichnet die hier angesprochenen Theorien als „weak truth relativism“. Die Verfügbarkeit einer bestimmten Proposition¹⁰⁹ hängt nach bedeutungsrelativistischen Vorstellungen von einem bestimmten Rahmen, also etwa einem Begriffsschema, ab. Der Unterschied zum „strong truth relativism“, also in der hier benutzten Terminologie zum alethischen Relativismus, besteht darin, dass es nicht vorgesehen ist, dass ein und dieselbe Proposition verschiedene Wahrheitswerte annehmen kann. Da es hier also vielmehr darum geht, dass z. B. den Benutzern unterschiedlicher Sprachen völlig unterschiedliche Propositionen zur Verfügung stehen könnten, scheint die Bezeichnung „Bedeutungsrelativismus“ angemessener. Anders ausgedrückt: Da Wahrheit hier nur insofern relativ ist, als eine Proposition nur dann wahr sein kann, wenn sie existiert, ist die Bezeichnung „truth relativism“ fehlleitend, trotz der Ähnlichkeiten von alethischem und Bedeutungsrelativismus. Hinzu kommt, dass Bedeutungsrelativismen in der
Die Rede von Propositionen erfolgt hier nur der Einfachheit halber. Swoyers Beschreibung arbeitet mit dem oben aus ihr übernommenen Hilfsmittel der Übersetzung anstatt mit Propositionen. Da, von der Seite des Bedeutungsrelativismus aus betrachtet, die Formulierung anhand von Propositionen aber einigermaßen unproblematisch und zudem deutlich eleganter ist als die Alternativen, wird sie hier trotzdem verwendet – obwohl es natürlich auch unter Bedeutungsrelativisten einige gibt, die die Existenz von Propositionen bezweifeln und somit dieser Formulierung ihrer Position nicht zustimmen würden.
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Regel sehr viel über Bedeutungen z. B. in Form von Begriffsschemata zu sagen haben, aber Wahrheit höchstens am Rande thematisieren. Die These des Bedeutungsrelativismus lässt sich also so fassen, dass den Benutzern verschiedener Rahmen unterschiedliche Propositionen zur Verfügung stehen bzw. dass sich in einem bestimmten Rahmen gebildete Sätze nicht in die aus einem anderen stammenden übersetzen lassen. Eine allgemeine Formulierung ist nicht ganz einfach zu finden, der beste Kandidat ist wohl, dass Ausdrückbarkeit relativ auf ein Bedeutungsrepertoire ist. Diese Auffassung des Bedeutungsrelativismus ließe sich z. B. folgendermaßen mit Hilfe von Kölbels Schemata darstellen: (R1) Für jedes x, das eine Proposition ist, ist es relativ auf die benutzte Sprache, das benutzte Begriffsschema etc., ob x ausgesagt werden kann. (R2) Es gibt nicht nur eine relevante Sprache, ein relevantes Begriffsschema etc. (R3) Für einige x, die Propositionen sind, und für einige Sprachen, Begriffsschemata etc. ist x unter Benutzung einer Sprache, eines Begriffsschemas etc. aussagbar, aber nicht unter Benutzung einer bzw. eines anderen.
Das Phänomen unterschiedlicher Wahrheitswerte eines Satzes in unterschiedlichen Rahmen, auf dem die globalen Relativismen aufbauen, wird also durch Bedeutungsunterschiede erklärt. Insofern könnte man den Bedeutungsrelativismus einen indexikalischen Relativismus nennen. Trotzdem ist er klar zu trennen von den kontextualistischen Positionen, die im Kapitel zum semantischen Relativismus kurz unter diesem Stichwort angerissen wurden.¹¹⁰ Denn während Kontextualisten in der Regel davon ausgehen, dass die Wahrheitsbedingungen des kontextabhängigen Ausdrucks problemlos in nicht selbst kontextabhängiger Form angegeben werden können, ist der Punkt des Bedeutungsrelativismus gerade, dass jede Aussage an ihren Rahmen gebunden ist und dass die unterschiedlichen Rahmen den Nutzern anderer nicht ohne weiteres zugänglich¹¹¹ sind. Dem steht die Idee einer Auflösung der Konflikte innerhalb der Objektsprache in einer gemeinsamen Metasprache (die auch noch der Objektsprache entspricht) diametral gegenüber. Ein solches Auf-einen-Nenner-Bringen der un-
Kölbel bezeichnet in Kölbel (2009) eine dem Bedeutungsrelativismus, wie er hier aufgefasst wird, vergleichbare Position als Inkommensurabiltätsthese und sieht sie als sowohl verschieden vom indexikalischen als auch vom echten Relativismus an. Vgl. Kölbel (2009), 156 ff. Das soll nicht heißen, dass sie voneinander völlig abgeschlossen sind, sondern lediglich, dass die Wahrheitsbedingungen eines Satzes aus einem Rahmen in einem anderen nicht auf einfache Art und Weise wiedergebbar sein müssen. Siehe dazu auch Abschnitt 1.5.5.1.1.3; 1.7.3 und 3.2.1 bis 3.2.3.
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terschiedlichen Rahmen soll gerade nicht möglich sein. Anders gesagt: Bedeutungsrelativisten geht es in der Regel nicht nur darum, dass den Benutzern unterschiedlicher Rahmen unterschiedliche Propositionen zur Verfügung stehen, sondern auch darum, dass nicht einfach die Propositionen des einen Rahmens in denen des anderen enthalten sind. Das ist die bedeutungsrelativistische Version des dem Relativismus immer wieder unterstellten Gleichwertigkeitspostulates: Eine eindeutige Überlegenheit eines Rahmens wird abgelehnt. Um eine Unterstellung handelt es sich, da „Gleichwertigkeit“ zumindest ein fehlleitender Ausdruck für das ist, was in vielen Relativismen ausgesagt werden soll. Das sieht man z. B. recht deutlich bei epistemischen Relativismen, die eine neutrale Bewertung von Rahmen außerhalb aller Rahmen für unmöglich erklären. Wo keine solche neutrale Bewertung stattfindet, kann schließlich auch keine (von Relativismuskritikern wohl als absolute vorgestellte) Gleichwertigkeit festgestellt werden. Aber auch im Falle des Bedeutungsrelativismus kann nicht ohne weiteres von Gleichwertigkeit die Rede sein, es geht vielmehr um den negativen Punkt, dass Unterschiede zwischen Rahmen nicht als eindeutige Fälle von Unterund Überlegenheit fassbar sind.¹¹²
1.5.5.1 Vorläufer Bevor nun zu einer ausführlicheren Besprechung des Bedeutungsrelativismus anhand einer konkreten Beispieltheorie übergegangen wird, sollten einige Vorläufer heutiger bedeutungsrelativistischer Theorien vorgestellt werden. Diese Vorläufer hatten zwar einen erheblichen Einfluss auf die Relativismusdebatte als ganze – und sind insofern nicht nur für ein Verständnis des Bedeutungsrelativismus, sondern auch für eines der anderen globalen Relativismen relevant –, sie stehen aber inhaltlich dem Bedeutungsrelativismus am nächsten. Dabei handelt es sich erstens um Theorien der Inkommensurabilität, zweitens um Benjamin Lee Whorfs Theorie der „linguistic relativity“¹¹³ und drittens um einige Auffassungen Die einzige Relativismusvariante, bei der mit gutem Recht von einem Gleichwertigkeitspostulat zu sprechen ist, ist der Kulturrelativismus. Aber auch dort ist es so, dass es sich in der Regel nicht um eine aus einer relativistischen Theorie gefolgerte Gleichwertigkeitsbehauptung handelt. Vielmehr bilden kulturrelativistische Ansätze, die das Gleichwertigkeitspostulat betonen, ein methodisches Korrektiv, das eine bestimmte Art der Theoriebildung innerhalb der Ethnologie verhindern soll. Der Ethnologie als Wissenschaft der Erklärung der Minderwertigkeit anderer Kulturen und Völker wird eine Ethnologie der Gleichwertigkeit aller Menschen und ihrer kulturellen Erzeugnisse entgegengestellt. Unterschiede sollen möglichst neutral untersucht werden können, ohne sie bewerten oder als Ausdruck von Minderwertigkeit interpretieren zu müssen. Gerade deswegen handelt es sich um ein Gleichwertigkeitspostulat. Siehe auch FN 38. Whorf (1962), 221.
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Carnaps. Alle drei sind m. E. wichtig, sowohl um ein tieferes Verständnis der Motivation bzw. des zugrundeliegenden Phänomens aktueller globaler Relativismen zu erlangen als auch um die Besonderheiten des Bedeutungsrelativismus gegenüber metaphysischem und alethischem Relativismus zu begreifen.
1.5.5.1.1 Inkommensurabilität Dabei wird sich die Darstellung von Theorien der Inkommensurabilität auf zwei Auffassungen derselben beschränken, nämlich die von Kuhn und Feyerabend, da diese wohl die einflussreichsten sind. Das aus der Wissenschaftstheorie stammende Konzept der Inkommensurabilität hat nicht nur einen erheblichen Einfluss auf die Relativismusdebatte als Ganze ausgeübt¹¹⁴ – dies allein würde ausreichen, ihm einen Platz in der vorliegenden Arbeit zu sichern –, sondern es beziehen sich auch einige der hier zu besprechenden Selbstaufhebungsargumente explizit auf Inkommensurabilität im Allgemeinen und Kuhns Position im Speziellen. Darüber hinaus (und damit zusammenhängend) kommt wissenschaftstheoretischen relativistischen Ansätzen in der Relativismusdebatte ein interessanter Sonderstatus zu. Zwar handelt es sich um einen Bereichsrelativismus, aber die Auseinandersetzung um die Inkommensurabilität wird in einigen interessanten Hinsichten, insbesondere von Seiten der Kritiker des Konzeptes, so geführt wie eine Auseinandersetzung um einen globalen Relativismus. Die wichtigste dieser Hinsichten im Kontext der vorliegenden Arbeit ist, dass oftmals ohne weitere Argumentation angenommen wird, Theorien der Inkommensurabilität, die über die Naturwissenschaften sprechen, seien selbstbezüglich, obwohl sie klarerweise nicht in den von ihnen beschriebenen Bereich fallen. Ein weiteres Beispiel ist der wiederkehrende Vorwurf des Irrationalismus, der sonst in dieser Intensität nur bei globalen Relativismen oder vielleicht noch beim epistemischen Relativismus zu hören ist.¹¹⁵
Dieser breite Einfluss wird unter anderem dadurch deutlich sichtbar, dass das Konzept der Inkommensurabilität außerhalb der Wissenschaftstheorie auf die unterschiedlichsten Bereiche angewandt wird. So verwendet es zum Beispiel Pritchard (2011), um eine Problemstellung in Wittgensteins Erkenntnistheorie zu erläutern, und Wong (1989) auf dem Bereich der Moralphilosophie. Außerdem war es natürlich einflussreich in anderen mit der Wissenschaft befassten Disziplinen wie Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftsgeschichte (vgl. Bird (2011), 476). Hönig spricht sogar von einer „Wiederbelebung der modernen Relativismusdiskussion in der theoretischen Philosophie.“ Hönig (2006), 15. Es gibt einen weiteren signifikanten Unterschied zu den Debatten um andere Bereichsrelativismen, der sich in der Argumentation für Theorien der Inkommensurabilität beobachten lässt. Dabei handelt es sich um eine relative Abwesenheit der sonst in der bereichsrelativistischen Argumentation so üblichen Rhetorik der epistemischen Instabilität im zu beschreibenden Bereich
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Diese ungewöhnliche Debattendynamik speist sich m. E. aus einer Vorannahme zum Status der Naturwissenschaften, die von vielen Inkommensurabilitätskritikern und bisweilen auch von Proponenten des Konzeptes gemacht wird. Diese Vorannahme besagt, dass, was immer genau der erkenntnistheoretische Status naturwissenschaftlicher Aussagen sein mag, dieser nicht ‚schwächer‘ sein kann als der Status anderer Arten von Aussagen. Anders gewendet: Die ungewöhnliche Debattendynamik bzgl. inkommensurabilistischer Auffassungen der Naturwissenschaften ergibt sich aus der Annahme, dass, falls irgendetwas absolut (wahr, gerechtfertigt, korrekt kategorisierend etc.) ist, es naturwissenschaftliche Aussagen sein müssen. Diese Annahme macht relativistische Auffassungen aus dem Bereich der Wissenschaftstheorie zu einem lokalen Relativismus von globaler Bedeutung, wenn auch in deutlich anderer Weise, als dies für den epistemischen Relativismus der Fall ist. Während im Falle des epistemischen Relativismus globale Bedeutung insofern vorliegt, als jede Aussage potentiell als gerechtfertigt, einer Rechtfertigung bedürfend etc. betrachtet werden kann, ist die globale Einflussnahme des Konzeptes der Inkommensurabilität erkenntnistheoretisch vermittelt. Das soll heißen, dass die globale Relevanz von Fragen der eventuellen Inkommensurabilität naturwissenschaftlicher Theorien allein deswegen besteht, weil ein erkenntnistheoretisches Postulat verwendet wird, das den Status anderer Diskursbereiche an den der Naturwissenschaften bindet, im Gegensatz zu der direkten Anwendbarkeit der Rechtfertigungsfrage auf alle Aussagen. Unter Voraussetzung dieses erkenntnistheoretischen Sonderstatus der Naturwissenschaften ergibt es natürlich Sinn, z. B. Kuhns Ausführungen zur Inkommensurabilität auf sich selbst anzuwenden, denn alles was er über die Naturwissenschaften sagen kann, muss dann mindestens so relativ sein wie diese selbst.¹¹⁶ Es sollte allerdings im Hinterkopf behalten werden, dass die (sehr indirekte) Selbstbezüglichkeit wissenschaftstheoretischer Inkommensurabilitätstheorien, und somit die Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches Selbstaufhebungsargument, auf einer Zusatzannahme von fragwürdigem Rechtfertigungsstatus beruht und nicht in die Theorie selbst eingebettet ist.
verglichen mit anderen Bereichen. Zwar scheint z. B. Kuhn der Auffassung zu sein, dass andere Bereiche einen stabilen Hintergrund zu wissenschaftlichen Umwälzungen bilden, er benutzt dies aber nicht als Argument für Inkommensurabilität in den Wissenschaften. Vgl. Kuhn (1996), 111. Auf die Frage, ob Kuhns Theorie selbstbezüglich ist, wird in Abschnitt 3.2.4 noch einmal kurz eingegangen werden, allerdings wird sie auch dort nicht geklärt werden, da es für eine Arbeit, die die Thematik von Selbstaufhebung und Relativismus behandelt, weitaus interessanter ist, ob sie selbstaufhebend wäre, wenn diese Bedingung erfüllt wäre.
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Das gilt übrigens in stärkerem Maße für Kuhn als für Feyerabend, der zwar auch hauptsächlich mit naturwissenschaftlichem Material arbeitet und seine Konzeption strenggenommen nur für diesen Bereich in angemessener Weise begründet, aber diese auch auf andere Bereiche anwendet, um sie zu illustrieren, wie z. B. die Schriften von Homer.¹¹⁷ Der Grund für die Notwendigkeit eines höheren Maßes an Vorsicht bzgl. Kuhns Auffassung ist seine vielschichtige Auffassung von Inkommensurabilität.Während, wie unten noch näher auszuführen sein wird, Feyerabend sich ausschließlich auf ein semantisches Phänomen bezieht, sind Kuhns Ausführungen, zumindest in The Structure of Scientific Revolutions, an seinen mehrere Ebenen umfassenden Paradigmenbegriff gebunden. Hier geht es nicht nur um Unterschiede auf der Ebene theoretischer Terminologien, sondern z. B. auch um Unterschiede in der Bewertung dessen, was eine gelungene Erklärung ausmacht, welche Daten inkorporiert werden müssen, etc. Kuhn argumentiert damit in höherem Maße mit tatsächlich wissenschaftsspezifischen Phänomenen. Obwohl, wie gesagt, auch Feyerabend sein Material aus den Naturwissenschaften bezieht, lässt sich wohl keine klare Grenze ziehen zwischen einer Beschreibung unerwarteter Phänomene auf der Bedeutungsebene im naturwissenschaftlichen Bereich und einer Beschreibung unerwarteter Phänomene auf der Bedeutungsebene anhand von Fällen aus dem naturwissenschaftlichen Bereich; und Theorien der Bedeutungsebene als solcher sind natürlich globaler Natur. Darüber hinaus gilt für beide Autoren, dass sie auch Argumente beruhend auf oder relevant für allgemeinere erkenntnistheoretische Fragen nutzen, so sprechen sich z. B. beide gegen den Mythos des Gegebenen aus. Somit lässt sich Feyerabends Auffassung der Inkommensurabilität entweder als Bereichsrelativismus lesen, der extrapoliert, dass es in anderen Bereichen ähnliche Phänomene gibt, oder aber als globaler Relativismus, der sich primär mit den Naturwissenschaften beschäftigt. Da Feyerabend keine allgemeine Bedeutungstheorie formuliert, so dass nicht klar ist, inwiefern Inkommensurabilität für ihn an Eigenschaften von Bedeutung im Allgemeinen oder aber an besonderen Eigenschaften wissenschaftlicher Theoriesprachen hängt, sind beide Lesarten möglich.
1.5.5.1.1.1 Kuhns Paradigmen „Inkommensurabilität“ ist ein prominenter Begriff der Relativismusdebatte, der aus der Wissenschaftsphilosophie von Paul Feyerabend und Thomas Kuhn
Siehe z. B. Feyerabend (1993), 177 ff.
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stammt.¹¹⁸ Über die Schriften seiner Kritiker wurde er (zumindest für die meisten auf der absolutistischen Seite) zum Synonym für Unverständlichkeit. Für viele Relativisten hingegen wurde er, insbesondere über den Kontakt mit kulturrelativistischen Ansätzen, zur Chiffre für die konzeptuelle Autonomie des Anderen. Seine Anfänge sind durchaus bescheidener. Als Metapher aus der Sprache der Mathematik¹¹⁹ entliehen, soll er auf das Fehlen eines gemeinsamen Maßes für zwei Theorien aufmerksam machen. Doch sogar Kuhn und Feyerabend verstehen, obwohl sie, vor allem in kritischen Auseinandersetzungen, häufig in einem Atemzug abgehandelt werden, recht unterschiedliche Dinge unter ihrer gemeinsamen Metapher. Was Kuhn betrifft, beginnt man am besten bei The Structure of Scientific Revolutions. Die Geschichte der Naturwissenschaften wird dort als eine Abfolge der Dominanz verschiedener Paradigmen aufgefasst, die einander durch Umstürze ablösen. Inkommensurabilität bezeichnet das Verhältnis zweier solcher Paradigmen bzw. der wissenschaftlichen Ergebnisse, die unter ihrer Vorherrschaft errungen werden. Das spezifische Phänomen des Nicht-mit-einem-Maß-gemessen-werden-Könnens ergibt sich aus der normativen Natur der Paradigmen.
Allerdings wird der Begriff schon deutlich früher von Ludwik Fleck in einem sehr ähnlichen Sinne (und in einer der von Kuhn und Feyerabend verwandten Argumentation, was Ersterer im Vorwort zu The Structure of Scientific Revolutions auch würdigt) gebraucht (siehe Fleck (1980), 82), darauf weist u. a. Hönig hin (vgl. Hönig (2006), 15 FN 18). Da Fleck allerdings nach wie vor leider kaum rezipiert wird und das Konzept der Inkommensurabilität hier insbesondere wegen seines erheblichen Einflusses auf die Relativismusdebatte diskutiert wird, wird Flecks durchaus interessanter Ansatz nicht weiter thematisiert werden. „The hypotenuse of an isosceles right triangle is incommensurable with its side or the circumference of a circle with its radius in the sense that there is no unit of length contained without residue an integral number of times in each member of the pair. There is thus no common measure.“ (Kuhn (1982), 670) An dieser Metapher ist interessant, dass sie sich sowohl in Richtung eines Bedeutungsrelativismus als auch in Richtung eines metaphysischen Relativismus lesen lässt. Im ersten Falle entsprächen diejenigen Einheiten, in die sich die erste der Strecken unterteilen lässt, dem Bedeutungsrepertoire einer Theoriesprache und diejenigen, in die sich die zweite unterteilen lässt, dem einer zweiten inkommensurablen Theoriesprache. Die Zuschreibung der Inkommensurabilität besagt dann, dass wir weder eine dritte Sprache haben, in der beide Bedeutungsrepertoires gleichzeitig verwendet werden, noch ein Bedeutungsrepertoire in dem anderen enthalten ist. Im Sinne eines metaphysischen Relativismus könnte man das Fehlen des gemeinsamen Maßes als das Fehlen eines über die Grenzen der beiden Theoriesprachen hinweg verwendbaren Konzeptes der Bedeutung lesen. Tatsächlich ließe sich zumindest im Falle Feyerabends durchaus argumentieren, dass er in die Richtung eines metaphysischen Relativismus tendiert. Allerdings spricht er so häufig von zwischen inkommensurablen Sprachen unterschiedlichen „conditions of meaningfulness“ (Feyerabend (1987b), 81) und Vergleichbarem, dass er insgesamt wohl eher der Seite des Bedeutungsrelativismus zuzuordnen ist.
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Die Bezeichnung „Paradigma“ wird von Kuhn auf (mindestens) zwei verschiedene Weisen verwendet. Zum einen handelt es sich um eine herausragende wissenschaftliche Leistung, die von nachfolgenden Wissenschaftlern als Vorbild genommen wird. Dies ist nicht in dem schwachen Sinne aufzufassen, dass andere versuchen, dieser Leistung nachzueifern, vielmehr wird die komplette wissenschaftliche Erziehung und Praxis auf dieses Vorbild ausgerichtet. Daraus ergibt sich der zweite Sinn von „Paradigma“ als so etwas wie der Vorgabenstruktur der gesamten Disziplin. Die exemplarische Leistung wird zum Maßstab wissenschaftlichen Arbeitens, so festigen sich langsam bestimmte Problemstellungen als zentrale, bestimmte Kriterien für gelungene Erklärungen, eine bestimmte wissenschaftliche Sprache und, damit verbunden, eine bestimmte Art und Weise, die Welt wahrzunehmen. Da jedes Paradigma eine eigene Konzeption davon, wie Wissenschaft zu sein hat, verkörpert, ist laut Kuhn keine neutrale Entscheidung darüber, welches von zwei unterschiedlichen Paradigmen vorzuziehen sei, möglich. Beide bringen ja ihren eigenen Katalog an Kriterien mit, und jedes wird typischerweise nach dem eigenen Katalog besser abschneiden. Einen jenseits aller Paradigmen stehenden Wissenschaftsbegriff, an dem man sich orientieren könnte, gibt es bei Kuhn nicht, oder besser gesagt, es gibt zwar einige paradigmenübergreifende Kriterien guter Wissenschaft, aber diese sind zu vage, um eine eindeutige Entscheidung zwischen zu verschiedenen Paradigmen gehörigen Theorien vorzugeben. Denn wie genau solche abstrakten Kriterien wie z. B. Einfachheit auszulegen oder anzuwenden sind, wird wiederum von den einzelnen Paradigmen mitbestimmt. Auch hier gilt, dass jedes Paradigma typischerweise sich selbst den Vorzug gibt. Genau diese Situation, die laut Kuhn auf der konkreten Ebene wissenschaftlicher Debatten dadurch charakterisiert ist, dass die Anhänger verschiedener Paradigmen schlicht aneinander vorbeireden,¹²⁰ wenn sie die Vorzüge ihrer favorisierten Theorien diskutieren, nennt Kuhn Inkommensurabilität. Zunächst ist festzuhalten, dass der Kuhnʼsche Inkommensurabilitätsbegriff, bedingt durch die Vielschichtigkeit des Paradigmenbegriffs, mehrere Aspekte umfasst bzw. in Hinblick auf mehrere Aspekte der betreffenden Paradigmen ausgesagt werden kann, Gerald Doppelt bestimmt diese als „(1) their scientific concepts, or theoretical language; (2) their observational data, or mode of
Dieses Misslingen der Kommunikation ist einer der Punkte, die zur Interpretation von Inkommensurabilität als grundsätzlicher Unverständlichkeit beigetragen haben. Ein anderer ist der des Alles-oder-nichts-Charakters des Wechsels des einzelnen Wissenschaftlers von einem Paradigma zu einem anderen, den Kuhn auch als Konversion oder Gestalt-Wechsel umschreibt. Beschränkt man sich auf den Aspekt der unterschiedlichen Theoriesprachen, wird die Inkommensurabilität zur Unübersetzbarkeit.
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scientific perception; (3) their agenda of problems-to-be-solved; and (4) their criteria of adequacy for scientific explanation.“¹²¹ Im Gegensatz dazu beschränkt sich Feyerabend auf Fragen von Sprache und Bedeutung. Doch bevor Feyerabend in die Mitte des Interesses rückt, sollte die Frage gestellt werden, wie diese verschiedenen Aspekte zueinander stehen. Zu diesem Zweck sollen nun kurz zwei unterschiedliche Interpretationen des Kuhnʼschen Gedankens vorgestellt werden, die jeweils einen der Aspekte als grundlegend für die anderen betrachten. Zunächst wäre da die fast schon klassisch zu nennende Auslegung von Gerald Doppelt, die, in Auseinandersetzung mit den Kuhn-Kritikern Shapere und Scheffler, einen Kuhn entwirft, für den die Festlegung der wissenschaftlichen Problemstellungen und Standards durch die Paradigmen das Gewicht der Inkommensurabilitätsthese trägt, während die unterschiedlichen Theoriesprachen eine weniger grundlegende Rolle spielen. Doppelt argumentiert überzeugend für die These, dass es die unterschiedlichen disziplinären Zielsetzungen, die zwei Paradigmen vertreten, sind, die Inkommensurabilität hervorbringen; das unterschiedliche Verständnis von Wissenschaftlichkeit (bezogen auf Kriterien einer gelungenen Erklärung und die Aufstellung oder Priorisierung zu beantwortender Fragen) macht es unmöglich, dass es nur eine einzige rationale Entscheidung gibt bzgl. der Frage, welches Paradigma vorzuziehen ist.¹²² Im Kontrast dazu bietet Katrin Hönig eine Lesart an, die sämtliche Wertungsfragen auf Fragen der unterschiedlichen Sprachen der beiden Paradigmen zurückführt.¹²³ Unterschiedliche Standards werden auf unterschiedliche Interpretationen allgemeinerer Kriterien zurückgeführt. Inkommensurabilität wird zur Unübersetzbarkeit sowohl der Theoriesprache als auch der Begrifflichkeiten zur Theoriebewertung. So werden die verschiedenen Ebenen des Paradigmas in die Semantik eingemeindet und Kuhn zum Bedeutungsrelativisten. Für beide Interpretationen lassen sich gute Argumente vorlegen: Für Doppelts Interpretation sprechen viele Stellen aus The Structure of Scientific Revolutions und die Tatsache, dass seine Auslegung Kuhns Argumentation in diesem Text extrem plausibel erscheinen lässt. Für Hönigs Interpretation lässt sich ins Feld führen, dass die Inkommensurabilität der Theoriesprachen auf jeden Fall die Grundlage für Kuhns These unterschiedlicher Wahrnehmungen innerhalb unterschiedlicher Paradigmen zu sein scheint und dass Kuhns Perspektive sich in
Doppelt (1978), 34. Vgl. Doppelt (1978), 39 ff. Vgl. Hönig (2006), 17 ff.; 40 ff.
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seiner späteren Entwicklung tatsächlich auf den sprachlichen Bereich verengt.¹²⁴ Insgesamt könnte man sagen, dass Doppelt die bessere Interpretation von Structure vorlegt, während Hönig Kuhn (in seiner Funktion als Autor vieler Texte) besser trifft. Aber eine Entscheidung für eine bestimmte Lesart ist in diesem Kontext zum Glück gar nicht notwendig, denn einer der Gründe, warum beide hier angeführt wurden, ist, dass sie aufzeigen, dass Kuhns Einfluss auf relativistische Theoriebildung nicht nur in einer Richtung zu suchen ist.¹²⁵ In Hönigs Händen wird Kuhn zum Bedeutungsrelativisten, in Doppelts zum epistemischen Relativisten; tatsächlich kann man in beiden Richtungen Autoren finden, die sich positiv auf Kuhn beziehen.
1.5.5.1.1.2 Feyerabends Version Wie bereits erwähnt, bezieht sich der Begriff der Inkommensurabilität bei Feyerabend nur auf ein semantisches Phänomen¹²⁶ oder wie er sich ausdrückt: „When using the term ‚incommensurable‘ I always meant deductive disjointedness, and nothing else.“¹²⁷ Am besten lässt sich dieses Phänomen an einem Beispiel verdeutlichen, das den von Feyerabend oft angeführten Galilei bei der Arbeit der Konzeptumgestaltung zeigt. Stark vereinfacht gibt Feyerabend die folgende Interpretation: Der Bewegungsbegriff vor Galilei war ein absoluter Bewegungsbegriff in dem Sinne, dass er sich auf Bewegung in einem absoluten Raum be-
„I spoke also of differences in ‚methods, problem-field, and standards of solution‘ […], something I would no longer do except to the considerable extent that the latter differences are necessary consequences of the language-learning process.“ Kuhn (1982), 684 EN 3. Beide Interpretationsrichtungen schlagen sich auch weiterhin in der aktuellen Rezeption des Inkommensurabilitätsbegriffs nieder, so unterscheidet z. B. Sankey (2011) zwischen methodologischer und semantischer Inkommensurabilität. Obwohl auch Feyerabend ursprünglich ein umfassenderes Phänomen im Kopf gehabt zu haben scheint und in Against Method eine Erweiterung wagte, wie er in einer Fußnote einer Rezension verrät: „Originally, under the influence of Wittgenstein, I conceived paradigms (‚language games‘, ‚forms of life‘ were the terms I used then) as comprising (A), (B) as well as (C): different language games with different rules would give rise to different concepts, different ways of concept construction and statement evaluation, different perceptions and would therefore be incomparable. I explained such ideas in Anscombeʼs home in Oxford in the fall of 1952 with Hart and von Wright present. Later on I found it necessary to restrict research to be able to make more specific assertions. Kuhn’s book and especially Lakatosʼs reactions to it then encouraged me to resume the more general approach.“ (Feyerabend (1977), 364 FN 3) Trotzdem verbleibt er auch in Against Method (und seinen späteren Texten) weitgehend in der Bedeutungsperspektive, seine Erweiterung besteht vor allem in der Einbeziehung nichtsprachlicher Symbole und einer ausführlicheren Behandlung der Beeinflussung der Wahrnehmung durch Sprache. Feyerabend (1977), 365 (Hervorhebungen seine).
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ziehen sollte. Das stellte ein Hindernis für eine von Galileis favorisierten Theorien, die Astronomie des Kopernikus, dar. Galilei wollte seine Zeitgenossen davon überzeugen, dass sich die Erde bewegt und nicht still im Zentrum des Universums verharrt, allerdings standen ihm dabei z. B. Argumente der folgenden Form entgegen: Wenn sich die Erde drehen würde, dürfte ein Stein, der von einem Turm geworfen wird, nicht in einer geraden Linie herunterfallen. Dass der Stein tatsächlich in einer geraden Linie herunterfalle, wurde für durch das Zeugnis der Sinne erwiesen erachtet. Denn der absolute Bewegungsbegriff war nicht irgendein abstrakter theoretischer Begriff, er sollte auf Bewegung als beobachtete Bewegung zutreffen. Was Galilei nun tun musste, um seine Mitmenschen überhaupt von Kopernikus überzeugen zu können, war eine Umgestaltung des Konzepts der beobachteten Bewegung zu einem relativen, auf die anderen Gegenstände im Blickfeld bezogenen Bewegungsbegriff. Um das zu bewerkstelligen, mussten auch viele andere Konzepte verändert werden, am Ende hatte Galilei das ganze Verhältnis von Sinnen und Wirklichkeit in neuer Weise erfasst. Soweit also die sehr knapp zusammengefasste Galilei-Interpretation. Der letzte Punkt, also die erheblichen Auswirkungen der Aktivitäten Galileis auf den gesamten konzeptuellen Apparat, ist wichtig, da Feyerabend nur bei Veränderungen, die in einem gewissen Sinne global sind, von Inkommensurabilität sprechen möchte.¹²⁸ Inkommensurabilität ist immer ein Verhältnis von Theoriekomplexen (bzw. deren Sprachen) mit einem Anspruch, die Wirklichkeit erschöpfend darzustellen. Feyerabend spricht hier auch von Kosmologien bzw. von Sprachen, die Kosmologien enthalten. Natürlich ist es auch nicht jede Bedeutungsänderung in der Sprache eines solchen Theoriekomplexes, die zu Inkommensurabilität führt, dafür muss die Sprache schon auf einer konstitutiven Ebene umgestaltet werden. Es sind die „conditions of meaningfulness“¹²⁹ einer Sprache, die angegriffen werden müssen; Feyerabend drückt das auch so aus, dass die universellen Prinzipien der Sprache, die sich in den grammatischen Gewohnheiten der Sprecher manifestieren, für die Benutzung der neuartigen Begriffe suspendiert werden müssen.¹³⁰
Vgl. Feyerabend (1987b), 81. Feyerabend (1987b), 81. Vgl. Feyerabend (1993), 205 f. Hier ist zweierlei anzumerken: Erstens hört man in diesen Formulierungen deutlich den Einfluss von Whorf (universelle Prinzipien) und Wittgenstein (grammatische Gewohnheiten). Zweitens verbleiben diese Beschreibungen durch Feyerabend natürlich weitgehend im Bereich des Vagen und Metaphorischen (das sieht er auch selber (vgl. Feyerabend (1993), 205 f.)). Trotzdem gewinnt man aus Feyerabends späteren Texten kaum mehr Klarheit darüber, was genau er meint, obwohl diese Formulierungen recht frühe sind (nämlich aus
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1.5.5.1.1.3 Inkommensurabilität als Unverständlichkeit? Das stellt einen erheblichen Unterschied zu Kuhn dar, der zwar in Structure auch den Eindruck erweckt, es gehe ihm um globale Umschwünge, insbesondere durch seine Andere-Welt-Metaphorik, der sich in seinen späteren Schriften aber eindeutig zugunsten einer Konzeption von Inkommensurabilität positioniert, die auf einige wenige Begriffe beschränkt bleiben kann. Aus dem scheinbaren Holismus aus Structure wird spätestens in „Commensurability, Comparability, Communicability“ ein nur noch lokaler Holismus;¹³¹ und Kuhn gibt zu verstehen, dass er auf der Ebene sprachlicher Inkommensurabilität von vornherein ein lokales Phänomen im Sinn gehabt habe.¹³² Dabei charakterisiert Kuhn eine mit unseren Begriffen inkommensurable Terminologie so, dass beide nicht ohne Reinterpretationen oder umständliche Begleiterklärungen zur Deckung gebracht werden können. Dabei bezieht er sich sowohl auf extensionale als auch auf intensionale Aspekte. Das wird zum Beispiel deutlich in seiner Kritik an Philip Kitchers Versuch nachzuweisen, dass der Ausdruck „Phlogiston“, entgegen Kuhns anders lautender Ansicht, in unsere Sprache übersetzbar sei.¹³³ Kitcher schlägt einen Übersetzungsansatz vor, der darin besteht, extensionale Entsprechungen zu suchen, die nach unserem Wissensstand dort am Werke sind, wo man von Phlogiston sprach.¹³⁴ Da es keine direkte extensionale Entsprechung gibt, sondern sich die Extension von „Phlogiston“, unserer Kenntnis nach, aus Splittern der Extensionen verschiedener Begriffe zusammensetzt und der Ausdruck in manchen Kontexten sogar überhaupt nicht referiert, müsste man die unterschiedlichen Instanzen des Wortes innerhalb eines Textes in der Regel durch eine Vielzahl verschiedener Ausdrücke ersetzen, folgte man Kitchers Methode. Kuhn bemängelt hier zu Recht, dass eine solche Übersetzung den Sinn des Textes völlig verfremden würde, da dort, wo eben noch von einem einzigen Phänomen die Rede war, nun unzusammenhängende Sätze stünden. Die Extensionen wären zwar erhalten worden,¹³⁵ aber das auf Kosten der intensionalen Ebene. Eine solche PhlogistonTheorie wäre schlicht nicht mehr dieselbe Theorie.
Against Method), denn auch wenn sie nicht sehr präzise sind, verschaffen sie einen guten intuitiven Eindruck des Gemeinten. Vgl. Kuhn (1982), 682. Vgl. Kuhn (1982), 683 EN 3. Siehe Kitcher (1978). So kann man z. B. sagen, dass der Ausdruck manchmal auf Wasserstoff verweist, manchmal in bestimmten Phrasen auf das Fehlen von Sauerstoff etc. Vgl. Kitcher (1978), 531 ff. Selbst dies gilt nur, wenn man die externalistischen Voraussetzungen von Kitchers Übersetzungsmethode annimmt. Nimmt man z. B. eine deskriptivistische Position ein, hat „Phlogis-
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In diesem Zusammenhang wird klar, dass der Punkt, den Kuhn zu machen versucht, indem er sprachliche Inkommensurabilität als Unübersetzbarkeit fasst, ein recht bescheidener ist. Das wird auch in seiner Unterscheidung von Übersetzung und Interpretation deutlich. Er will nicht etwa auf eine grundsätzliche Unverstehbarkeit hinaus, das wäre eine Unmöglichkeit der Interpretation, sondern lediglich auf die Unmöglichkeit einer Wort-für-Wort- oder zumindest Phrasefür-Wort-Übertragung in unsere Begrifflichkeit. Durch ausführliche Erläuterungen zur Verwendung von z. B. Phlogiston, in Verbindung mit der Erläuterung weiterer, damit zusammenhängender Begriffe der entsprechenden Theorie kann man die fremde Terminologie ohne größere Schwierigkeiten erlernen. Das ist aber nach Kuhn gerade keine Übersetzung, keine reine Substitution fremder Ausdrücke durch Wörter und Phrasen der eigenen Sprache, sondern hier werden genuin neue Begriffe erlernt. Diese Unterscheidung von Übersetzung und Interpretation ist Kuhns Antwort auf die Vorwürfe, er behaupte, bestimmte Theoriesprachen seien für uns unverständlich, nur um dann ausführlich die Unterschiede zu unserer Sprache zu erläutern.¹³⁶ Wie bereits gesagt, sieht man hier, dass Kuhns Punkt ein relativ bescheidener ist, seine semantische Form der Inkommensurabilität stellt alles andere als eine unüberwindliche Barriere zwischen zwei Sprachen dar; am Ende müsste man sie, legte man einen etwas weiteren, weniger mechanistischen (man könnte auch sagen: realistischeren) Übersetzungsbegriff ¹³⁷ zugrunde, eher als Übersetzungsschwierigkeit denn als Unübersetzbarkeit klassifizieren. Für Feyerabend mit seinen „conditions of meaningfulness“¹³⁸ scheint es auf den ersten Blick schwieriger, denselben Vorwürfen zu entgehen. Seine Erklärungen unterscheiden sich allerdings nicht so stark von denen Kuhns, wie man vielleicht erwarten könnte. Er legt zwar deutlich mehr Gewicht auf die Möglichkeit des Übersetzers, die Sprache, in die übersetzt wird, auf kreative Weise zu benutzen und dadurch zu modifizieren, aber auch er verweist auf Erläuterungen,
ton“ keine Extension, da kein Gegenstand die Eigenschaften besitzt, die Phlogiston zugeschrieben werden. Siehe z. B. Davidson (1973), 6; Laudan (1996), 9. Auf diesen Vorwurf wird in Abschnitt 3.2.1 noch zurückzukommen sein. Jedem, der schon einmal eine Übersetzung angefertigt hat, sollte klar sein, dass Ausdrücke, die sich nicht eins zu eins übertragen lassen, an der Tagesordnung sind. Das einfachste Beispiel dafür sind wahrscheinlich Redewendungen, die kein Gegenstück haben, aber auch grammatikalische Konstruktionen die in der anderen Sprache kein Gegenstück haben, oder ‚eigenwillige‘ Ausdrücke, wie das von Kuhn selbst angeführte Wort „esprit“, sind nicht gerade selten. Das zeigt sehr deutlich, dass man, entgegen Kuhns Auffassung, erläuternde Fußnoten sehr wohl zur Übersetzung zählen sollte. Diese Thematik wird in Abschnitt 3.2.1 noch einmal aufgegriffen werden. Feyerabend (1987b), 81.
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Begriffsgeschichten etc. Auch seine Rede von einer Suspendierung der universellen Prinzipien einer Sprache im Gegensatz etwa zu einer Zerstörung, weist eindeutig in die Richtung einer durchaus überwindbaren Barriere zwischen den beiden Sprachen, obwohl sie doch höher zu sein scheint als bei Kuhn. Insgesamt ist Feyerabends Bild von Sprache dynamischer, er spricht viel davon, dass sich Sprachen biegen und modifizieren lassen; er weist darauf hin (sowohl in Bezug auf sein Beispiel für Inkommensurabilität als auch bezogen auf seine eigene Rede davon), dass es manchmal eine Weile brauche, bis eine neue Redeweise einen einigermaßen stabilen und eindeutigen Sinn erhalte. Dieser Unterschied kohäriert mit der Wissenschaftsauffassung der beiden Autoren, denn während es bei Kuhn zwischen den revolutionären Momenten der Wissenschaftsgeschichte immer wieder lange Phasen der stabilen „normal science“¹³⁹ gibt, bezweifelt Feyerabend, dass es jemals „normal science“ gibt. Für Letzteren befindet sich das Regelwerk der Wissenschaften, wie auch die Sprache, in ständiger Bewegung.
1.5.5.1.2 Whorfs Erbe Neben den wissenschaftstheoretischen Erwägungen von Kuhn und Feyerabend sind noch zwei weitere Vorläufer wichtig, um die heutige Diskussion um Probleme und Vorzüge bedeutungsrelativistischer Thesen verstehen zu können. Einer ist Benjamin Lee Whorf,¹⁴⁰ ein Ethnologe und Sprachforscher, der für seinen radikalen Sprachrelativismus bekannt ist. Whorf stellte, inspiriert durch seine Feldforschungen, die These auf, die Sprache bestimme das Weltbild ihrer Sprecher. Insbesondere die einer Sprache innewohnende Ontologie soll nach Whorf die Wahrnehmung und das Denken der Sprecher formen. Nach Whorf ist es die Sprache, die aus einem noch formlosen, chaotischen Bewusstseinsstrom Elemente herausgreift, isoliert und zu Gegenständen erklärt, aus solcherlei fabrizierten Gegenständen setzen wir uns bzw. setzt die Sprache eine Welt zusammen. Whorf ist aus zwei Gründen wichtig zum besseren Verständnis der heutigen Diskussion: Erstens wird durch seine Arbeiten und seinen noch heute spürbaren Einfluss deutlich, warum der Bedeutungsrelativismus oft mit einem kulturellen Relativismus verwoben ist. Für viele Theoretiker ist es ganz selbstverständlich,
Kuhn (1996), 5. Feyerabend bezieht sich bei seinen Überlegungen zur Inkommensurabilität in Against Method auf Whorf und übernimmt sogar Teile seiner Terminologie. Auch Kuhn nennt Whorf im Vorwort von Structure als Anregung für seine Überlegungen.Vgl. Feyerabend (1993), 164 f.; 209 ff.; Kuhn (1996), viii.
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dass die verschiedenen Rahmen verschiedenen Kulturen zuzuordnen sind.¹⁴¹ Zweitens gibt es schon in der Whorfʼschen Theorie ein Problem, mit dem Bedeutungsrelativisten noch heute schwer zu kämpfen haben. Dabei ist es nicht ganz glücklich, in Bezug auf Whorf von einem Problem zu sprechen, vielmehr handelt es sich um eine Überschneidung mit heutigen Theorien, die problematisch ist, sofern man sich selbst als Relativist versteht. Whorf spricht zwar von „linguistic relativity“,¹⁴² aber dass er ein globaler Relativist war oder sich selbst als solchen verstanden hat, steht zu bezweifeln. Für Whorf ist nämlich der oben bereits genannte Bewusstseinsstrom, der „flux“¹⁴³ ständig wechselnder Eindrücke, die noch von Sprache unverdorbene Realität. Wie schon Max Black treffend festgestellt hat,¹⁴⁴ ist Whorf der Auffassung, manche Sprachen kämen dieser Realität deutlich näher als die unsere.¹⁴⁵ Obwohl die heutige Diskussion sich in weiten Teilen von dem bei Whorf eine entscheidende Rolle spielenden Mythos des Gegebenen verabschiedet hat, spielt die Idee eines Rohstoffes, den die jeweiligen Rahmen in Form bringen, nach wie vor eine entscheidende Rolle. Die Rede ist dann z. B. vom „stuff conceptually carved up by that scheme“¹⁴⁶ oder auch abschätzig, bei Kritikern solcher Vorstellungen, von „dough“¹⁴⁷ oder sogar „cosmic porridge“¹⁴⁸. Einerseits macht gerade die Möglichkeit, an dieser zum Punkt zusammengeschrumpften absoluten Realität festzuhalten, den Bedeutungsrelativismus attraktiv für Autoren mit realistischen Inklinationen,¹⁴⁹ andererseits gibt es eine erhebliche Spannung zwischen dieser Existenzbehauptung und dem bedeutungsrelativistischen Grundsatz, dass uns die Realität nur vermittelt durch Rahmen zur Verfügung steht. Denn Siehe z. B. Albedah (2006) und Slade (1997). Whorf (1962), 221. Whorf (1962), 213. Vgl. Black (1959), 237. Whorf schreibt auf Englisch, aber er ist der Auffassung, die indoeuropäischen Sprachen teilten sich eine Ontologie. Davson-Galle (1998b), 514. Putnam (1990), 97. Putnam benutzt hier das Bild eines Teiges, der durch verschiedene Förmchen in verschiedene Formen gebracht werden kann. Im Anschluss daran hat sich die Bezeichnung des „cookie cutter view“ eingebürgert, den z. B. Paul Boghossian in zweifellos kritischer Absicht Goodman unterstellt. Putnam bezieht sich damit auf John Searle, der die Auffassung vertritt, bedeutungsrelativistische Vorstellungen setzten eine noch nicht konzeptualisierte Wirklichkeit voraus, die sich auf verschiedene Weisen einteilen lässt. Vgl. Boghossian (2006a), 25 ff. und Searle (1995), 165. Kirk (1999), 52. Denn das erlaubt ihnen, sich, wenn schon nicht vom Relativismus, dann doch wenigstens vom Idealismus abzugrenzen. Darauf wird im Rahmen der Besprechung einiger Beispiele für bedeutungsrelativistische Theorien noch zurückzukommen sein.
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auch „stuff“, „carved up“, „existiert“ etc. müssten schließlich irgendeinem Rahmen zuzuordnen sein. Allgemein lässt sich sagen, dass Bedeutungsrelativismen entweder zur Annahme einer (zumindest weitgehend) unzugänglichen, von Rahmen unabhängigen Realität oder in Richtung eines metaphysischen Relativismus tendieren.
1.5.5.1.3 Carnaps Erbe Eine damit in Zusammenhang stehende Schwierigkeit wird deutlich, wenn man einen zweiten Vorläufer des heutigen Bedeutungsrelativismus betrachtet, nämlich Rudolf Carnap.¹⁵⁰ Carnaps linguistic frameworks ¹⁵¹ sind in vielen Punkten den Vorstellungen von z. B. Symbolsystemen vergleichbar – allerdings mit einem gewichtigen Unterschied: Carnap vertritt eine harte analytisch-synthetisch-Unterscheidung, die nach Quines berüchtigtem „Two Dogmas of Empiricism“ immer mehr an Boden verloren hat und heute nur noch selten in voller Stärke vertreten wird. Grob kann man sagen, in Carnaps linguistic frameworks spielen die analytischen Sätze die Rolle von Bedeutungspostulaten, während die Welt entscheidet, welche synthetischen Sätze wahr und welche falsch sind. Die analytisch-synthetisch-Unterscheidung ermöglicht hier also eine klare Trennung von begrifflichem Apparat und substantiellen Aussagen. Dadurch gibt sie der Vorstellung, dass unsere Rahmen die Wirklichkeit formen, einen klaren Sinn, schließlich wird der aus Bedeutungen bestehende Rahmen, überspitzt ausgedrückt, in völliger Isolation von der Wirklichkeit erstellt, um anschließend wie ein Netz über selbige geworfen zu werden.¹⁵² Gibt man die Unterscheidung auf, kompliziert sich das Bild erheblich; was man mit einer Formung der Wirklichkeit durch Rahmen überhaupt meinen könnte, ist auf einmal nicht mehr offensichtlich. Spätestens hier sollte deutlich werden, warum die angerissene Schwierigkeit mit der oben in Zusammenhang mit Whorf genannten zusammenhängt. Beide
Feyerabend bezieht sich, allerdings nicht in Hinsicht auf seine Auffassung der Inkommensurabilität im Speziellen, sondern in Hinblick auf seine Wissenschaftstheorie als Ganze positiv auf Carnap: „[Carnapʼs] ‚principle of tolerance‘ is pretty close to my own anarchism[.]“ Feyerabend (1977), 362. Das Konzept, welches Carnap verwendet, um seine Unterscheidung von internen und externen Fragen zu treffen, wird folgendermaßen eingeführt: „If someone wishes to speak in his language about a new kind of entities, he has to introduce a system of ways of speaking, subject to new rules; we shall call this procedure the construction of a linguistic framework for the new entities in question.“ Carnap (1956), 206. Die Metapher des Netzes stammt aus Wittgensteins Tractatus. Er vertritt zwar eine von Carnap durchaus verschiedene Auffassung, trotzdem passt sie auch hier sehr gut. Vgl. Wittgenstein (1984a), 6.341.
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lassen sich als Kampf mit der im Anschluss an Davidson weit verbreiteten Ablehnung der scheme-content Unterscheidung verstehen.¹⁵³ Der oben zitierte „stuff“ ist nichts anderes, als der Inhalt,¹⁵⁴ der dem aus Bedeutungen zusammengesetzten Schema gegenüberstehen soll.¹⁵⁵ Im Rückblick auf Carnap wiederum zeigt sich deutlich, dass es die analytisch-synthetisch-Unterscheidung ist, die das Bild von scheme und content aufrechtzuerhalten erlaubt und damit der bedeutungsrelativistischen These eine intuitive Verständlichkeit verleiht, die nach dem Wegfall eben jener Unterscheidung nicht mehr ohne weiteres gegeben ist.¹⁵⁶ Ohne einen substantiellen Begriff der Bedeutung wird eben auch der des Bedeutungsrelativismus in Mitleidenschaft gezogen; und selbst wenn ein starker Bedeutungsbegriff vorliegt, bleibt es fraglich, wie legitim die Rede von unkonzeptualisiertem „stuff“ unter bedeutungsrelativistischen Voraussetzungen sein kann. Oder um es mit den in Abschnitt 1.5.2 eingeführten Konzepten auszudrücken: Obwohl es deutliche Unterschiede zwischen der analytisch-synthetischUnterscheidung und der Unterscheidung von Konventionen und Tatsachen gibt, ist nicht klar, ob es dem Bedeutungsrelativismus gelingt oder sogar gelingen kann, Erstere ohne Letztere zu haben. Ausführungen über „stuff“ scheinen auf den ersten Blick Ausführungen über reine Tatsachen zu sein und somit eine Trennbarkeit von Konventionen und Tatsachen zu verlangen, die dem Bedeutungsrelativismus zuwiderläuft.
Da die Kritik Davidsons auf Quines Ablehnung der analytisch-synthetisch-Unterscheidung aufbaut, sollte das im zweiten Fall wenig verwundern. Von diesem Inhalt bzw. Rohstoff machen sich verschiedene Autoren unterschiedliche Vorstellungen, grob kann man diese in Erfahrungen einerseits und unabhängige Außenwelt andererseits einteilen, wobei erstere Möglichkeit bei neueren Ansätzen kaum noch zu finden ist. Für eine feinere Einteilung anhand einiger Beispieltheorien siehe Baghramian (2004), 215 f. So argumentiert z. B. Edwards, in offensichtlicher Anlehnung an Kants Überlegungen zur Grammatik des Begriffs der Erscheinung, für die Notwendigkeit eines unabhängigen zweiten Faktors, der den bedeutungsrelativistischen Rahmen gegenübersteht. Vgl. Edwards (1993), 68. Diese Problemlage manifestiert sich auf viele unterschiedliche Weisen. Sie wird unter anderem sichtbar in Feyerabends fast schon entnervter Abwehr gegenüber der Forderung, er solle zunächst eine Bedeutungstheorie aufstellen, bevor er das Phänomen der Inkommensurabilität weiter erforsche. Auch das ambivalente Verhältnis von Relativismus und Holismus, das von Davson-Galle hervorgehoben wird, und natürlich Davidsons Kritik am Begriff des conceptual scheme gehören in diesen Problemkreis. Siehe Davidson (1973); Davson-Galle (1998a), 79 ff.; 125 ff.; 142 ff.; 155 ff. und Feyerabend (1993), 190.
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1.5.5.2 Davson-Galle Nach diesen eher abstrakten Ausführungen zum Bedeutungsrelativismus soll nun noch eine aktuelle Beispieltheorie vorgestellt werden, um der Darstellung etwas Leben zu verleihen. Dabei handelt es sich um den Ansatz von Peter Davson-Galle, der sich stark an Meiland¹⁵⁷ und Swoyer orientiert.¹⁵⁸ Er bezeichnet seinen Ansatz als „weak categorial repertoire correspondence truth relativism“¹⁵⁹, worin sowohl seine Übernahme der Einteilung des Relativismus von Swoyer deutlich wird als auch, dass er Meilands Vorschlag, das relativistische Wahrheitsprädikat in Anlehnung an die Korrespondenztheorie zu explizieren, weiterführt. Wie Meiland begreift er Wahrheit als dreistellige Korrespondenzrelation. Die Relata spezifiziert er als Welt, Aussage und „categorial repertoire“¹⁶⁰. Ein „categorial web“ wird in Abhebung von einem „propositional web“¹⁶¹ gedacht, wie es sich wohl z. B. ein Kohärenztheoretiker der Wahrheit vorstellen würde. Das „categorial repertoire“ soll nun nicht nur aus Bedeutungen o. Ä. im Gegensatz zu Propositionen bestehen, sondern es soll auch insofern sozusagen freischwebend sein, als es keine Verpflichtung auf die Instanziierung seiner Kategorien, kein ontological commitment enthält.¹⁶² Hier sieht man deutlich, dass Davson-Galle irgendeiner Form der analytisch-synthetisch-Unterscheidung verpflichtet bleiben muss. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man bedenkt, dass er seine Wahl des Ausdrucks „web“ damit begründet, dass es zwischen den Bestandteilen desselben Überschneidungs- und Ausschließungsrelationen geben müsste.¹⁶³ Davson-Galle ist also ein Vertreter der oben schon angesprochenen Auffassung, dass ein Netz reiner Bedeutungen einer unabhängigen, aber noch unkonzeptualisierten Wirk-
Meilands Ansatz wird im Abschnitt zum alethischen Relativismus kurz vorgestellt werden. Siehe Kapitel 1.5.6.1. Damit soll nicht die Eigenständigkeit von Davson-Galles Leistung bestritten werden. Die genannten Autoren liefern zwar klar den Rahmen, in dem sich seine Theorie bewegt, aber diese und auch die Verhältnisse verschiedener relativistischer Ansätze zueinander und zu ihren jeweiligen Hintergrundannahmen über Wahrheit, Bedeutung etc. arbeitet er in einem beeindruckenden Detailreichtum aus, wie er sich nur bei wenigen Autoren findet. Davson-Galle (1998a), 37 (Hervorhebungen getilgt). Davson-Galle (1998a), 37. Davson-Galle (1998a), 33. Davson-Galle weist zu Recht darauf hin, dass eine solche Verpflichtung des Netzes es erstens sehr nah an ein „propositional web“ rücken würde und dass zweitens die Negation von z. B. „Es gibt Hexen“ dasselbe Netz benutzen müsste wie die positive Aussage, um tatsächlich eine Negation eben dieses Satzes zu sein. Es ist ohnehin schwer vorstellbar, wie solche negativen Existenzaussagen möglich sein sollten, wenn jedes Netz auf die Instanziierung aller seiner Prädikate verpflichtet wäre. Vgl. Davson-Galle (1998a), 35 ff. Vgl. Davson-Galle (1998a), 43.
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lichkeit, oder noch einmal mit seinem eigenen Ausdruck „stuff“, gegenübersteht.¹⁶⁴ Ein weiterer problematischer Punkt an Davson-Galles Auffassung verdient Aufmerksamkeit, da er ein weiteres Konzept involviert, das für die Debatte um den Relativismus von einiger Bedeutung ist. Die Rede ist vom Konzept der konventionellen Klassifikation. Davson-Galle charakterisiert seine These nämlich dadurch, dass behauptet wird, es gebe nur konventionelle Klassifikationen und keine auf natürlichen Arten beruhenden Klassifikationen.¹⁶⁵ In einer Hinsicht, nämlich in der ontologischen, ist das eine treffende Charakterisierung für einen Bedeutungsrelativismus. Ein Bedeutungsrelativist ist danach jemand, der nicht daran glaubt, dass die Welt von selbst in Klassen zerfällt, kurz: er glaubt nicht an natürliche Arten. Allerdings hat die Charakterisierung von Teilen unseres Vokabulars als Bezeichnungen natürlicher Arten auch einen innersprachlichen Sinn, sie werden einfach anders verwendet als klar konventionelle Klassifikationen.¹⁶⁶ Diese Differenzierung wird von Davson-Galles Theorie schlicht unterschlagen.¹⁶⁷ Dadurch fällt ihm auch ein weiterer unglücklicher Aspekt seiner Klassifikation aller Klassifikationen als konventionelle nicht auf: sie hat einen Beiklang der
Davon wird im Kapitel zum metaphysischen Relativismus Putnams Auffassung der konzeptuellen Relativität abzusetzen sein. Vgl. Davson-Galle (1998a), 50. Man denke z. B. an Putnams semantischen Externalismus in „The Meaning of ‚Meaning‘“. Dieser wäre, bezogen auf klar konventionelle Klassifikationen, völlig unplausibel. Das wird auch dadurch deutlich, dass er den Ausdruck „Phlogiston“ als Beispiel für eine fehlgeschlagene konventionelle Bezeichnung verwendet. Aber zum Verständnis dieses Ausdruckes sowie der Gründe dafür, dass er nicht mehr verwendet wird, ist es hochgradig relevant, dass er als Bezeichnung für eine natürliche Art gedacht war. Die Wahl des Beispiels macht deutlich, dass Davson-Galle unter Bezeichnungen natürlicher Arten grundsätzlich erfolgreiche Bezeichnungen natürlicher Arten (also solche, denen es gelingt, eine solche herauszugreifen) versteht, er beachtet also ausschließlich die ontologische Dimension. Aus dieser Betrachtungsweise und Davson-Galles Beschreibung der absoluten Wahrheit ergibt sich übrigens eine problematische Konsequenz. Davson-Galle erlaubt nämlich, dass ein absolutes Wahrheitsprädikat neben dem relativen existieren könne, es habe dann schlicht keine Extension. Nun zeichnet sich für Davson-Galle absolute Wahrheit durch das Gelingen des Herausgreifens einer (oder mehrerer) natürlichen Arten aus. Er spricht sogar explizit davon, dass ein Satz relativ wahr und absolut falsch sei, wenn er sich nur auf konventionelle Klassen beziehe. Damit wären aber, wenn er mit seinem Bedeutungsrelativismus Recht hat, alle Sätze absolut falsch. Mein Eindruck ist, dass solche ‚versöhnlichen‘ Haltungen gegenüber absolutistischen Sichtweisen der Wahrheit grundsätzlich zu Problemen führen, das gilt z. B. auch für Meilands Auffassung, die im Abschnitt zum alethischen Relativismus vorzustellen sein wird. Vgl. DavsonGalle (1998a), 46 ff. Siehe auch Abschnitt 1.5.6.1, 1.8.3 und 3.3.4.
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Optionalität, der so nicht gewollt sein kann.¹⁶⁸ Es gibt natürlich auch Positives über Davson-Galles These zu sagen, sie weist z. B. sehr klar auf den engen Zusammenhang von Relativismus und Nominalismus hin. Keine der hier behandelten globalen Relativismusvarianten ist mit der Vorstellung, dass die Welt von selbst in (im Zweifelsfalle durch eine Eigenschaft zusammengehaltene) Grüppchen von Gegenständen zerfällt, vereinbar.¹⁶⁹
1.5.6 Der alethische Relativismus Die im semantischen Relativismus akut gewordene Unterscheidung von indexikalischem und echtem Relativismus erlaubt es, zwischen radikaleren und weniger radikalen bzw. (aus der Warte des ‚radikalen‘ Relativisten betrachtet) zwischen interessanteren und weniger interessanten¹⁷⁰ Formen zu unterscheiden, die die recht unspezifische These, dass die Wahrheit von Sätzen relativ sei, annehmen kann. Den Ausdruck „alethischer Relativismus“ möchte ich hier für die stärkste dieser Thesen reservieren. Der alethische Relativismus besagt also, dass zwei Sätze, die Übersetzungen voneinander sind, verschiedene Wahrheitswerte haben können oder anders ausgedrückt, dass Wahrheit in einer Weise relativ ist, die nicht durch Bedeutungsunterschiede wegerklärt¹⁷¹ oder durch die Ablehnung von
Insgesamt kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, die Diskussion um das komplexe Verhältnis des Relativismus zur Konventionalität wäre schon einmal weiter gewesen. Siehe z. B. Goodman (1978), 116 ff. und Putnam (1990), 96 – 104. Allerdings gibt es hier einen interessanten Grenzfall, denn die Welt könnte für jede mögliche Kombination von Gegenständen eine Gruppe vorgesehen haben. In diesem Fall würde ebenso der Kontrast zwischen im ontologischen Sinne natürlichen Arten und konventionellen Arten wegfallen, da alle möglichen Einteilungen natürliche Arten herausgreifen würden. Problematisch an einer Gleichsetzung einer solchen Position mit einem Relativismus bzw. mit der Behauptung, dass es keine natürlichen Arten gibt, wäre vor allem die Tatsache, dass bei einer Relativierung auf Begriffsschemata und ähnliche Rahmen in der Regel davon ausgegangen wird, dass auch die Individuierung der Gegenstände durch den Rahmen vorgenommen wird, da die Position sonst droht inkohärent zu werden. Rappaport grenzt sich von einer derartigen Position, die er Curtis Brown zuschreibt, ab. Lynch spricht in seiner Reaktion auf Rappaport das Problem der Gegenstandindividuation bzw. die drohende Inkohärenz an.Vgl. Lynch (1997), 418; Rappaport (1993), 84 EN 3. Einige Kritiker des Relativismus, wie z. B. Brueckner, scheinen eine Relativität der Wahrheit auf Sprachen für grundsätzlich uninteressant zu halten. Diese Einstellung ist aber höchstens dort nachvollziehbar, wo an einer substantiellen Theorie der Bedeutung bzw. an der analytisch-synthetisch-Unterscheidung festgehalten wird. Siehe Brueckner (1998). Bei dieser Formulierung handelt es sich um eine Anleihe an die Formulierung Putnams, dass „the incompatibility cannot be explained away by saying that the statements have ‚a different
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Bedeutungsvergleichen zwischen Rahmen abgemildert werden kann bzw. sollte. Als Instanz von Kölbels Schemata lässt sich der alethische Relativismus damit folgendermaßen darstellen: (R1) Für jedes x, das eine Gruppe ineinander übersetzbarer Sätze ist, ist es relativ auf die benutzte Sprache, das benutzte Symbolsystem etc., ob x wahr ist. (R2) Es gibt nicht nur eine relevante Sprache, ein relevantes Symbolsystem etc. (R3) Für einige x, die Gruppen ineinander übersetzbarer Sätze sind, und für einige Sprachen, Symbolsysteme etc. ist x in Relation zu einer Sprache, einem Symbolsystem etc. wahr, aber nicht in Relation zu einer bzw. einem anderen.
Außerdem besagt er, dass dies für alle Gegenstandsbereiche zutrifft, er ist also ein globaler Relativismus.
1.5.6.1 Meiland Wie bereits erwähnt, wird der alethische Relativismus nur von sehr wenigen Autoren vertreten. Einer dieser wenigen ist Jack Meiland, der sich allerdings recht wenig mit der Ausarbeitung einer eigenen Position und mehr mit der Verteidigung des Relativismus gegen die einflussreichen Einwände von Husserl und anderen Autoren beschäftigt. Das hat zwar den Nachteil, dass seine Ausführungen lediglich die Konturen einer Theorie relativer Wahrheit vorgeben, andererseits hat es den Vorteil, dass er sehr genau sieht, wo andere wahrheitsrelativistische Ansätze eine Lücke gelassen haben, die nicht bestehen bleiben kann, ohne dass sie sich immer wieder den Vorwurf gefallen lassen müssten, sie bezögen sich immer noch heimlich auf einen absoluten Begriff der Wahrheit.¹⁷² Diesem Missstand möchte Meiland Abhilfe schaffen, indem er ein Konzept relativer Wahrheit „true-for-x“ aufstellt, das genau wie der ‚klassische‘ Wahrheitsbegriff eine Korrespondenzrelation behaupten soll. Allerdings soll es diese drei Relata umfassen: den Wahrheitsträger, die Welt und eben das betreffende x, also z. B. eine Sprache, eine Kultur, ein Individuum etc.¹⁷³ Leider scheint dieser
meaning‘ in the schemes to which they respectively belong“ (Putnam (1990), x). Putnam bezieht sich allerdings auf einen metaphysischen Relativismus, in diesem Punkt stimmt der jedoch mit dem alethischen überein. Für eine Darstellung der Unterschiede beider Theorien siehe Abschnitt 1.5.7 und 1.5.8. Dieser Vorwurf findet sich wie gesagt bereits bei Husserl, dort wie auch später oft verbunden mit dem weitergehenden Einwand, die relativistische Theorie beanspruche eben diese absolute Wahrheit für sich. Siehe Husserl (1992), § 35. Vgl. Meiland (1977), 571 ff.
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Versuch nicht geglückt zu sein. Das ist deutlich sichtbar an der Präsenz des Ausdrucks „true“ in „true-for-x“. Zwar versucht sich Meiland damit aus der Affäre zu ziehen, dass er die Phrase als durch die Bindestriche unauflösbar verbunden betrachtet: „true“ soll darin dieselbe Rolle spielen wie „cat“ in „cattle“¹⁷⁴. Allerdings ist diese Analogie, wie Baghramian bemerkt, „singularly unhelpful“¹⁷⁵. Denn durch den selbst extrem unklaren Begriff der Korrespondenz oder durch die Feststellung, dass es sich um eine dreistellige Relation handelt, versteht der Leser den Ausdruck mit Sicherheit nicht. Er wird erst durch das enthaltene „true“ bzw. durch die Bezeichnung als Begriff relativer Wahrheit überhaupt verständlich. Um das Problem der versteckten Voraussetzung eines absoluten Wahrheitsbegriffs zu lösen, müsste Meiland viel früher ansetzen; er gesteht nämlich fatalerweise zu, dass das alltagssprachliche Wahrheitskonzept ein absolutes ist, aber dazu besteht eigentlich kein Anlass. Macht man die Annahme, dass die Alltagssprache von absoluter Wahrheit spricht, nicht, wird es völlig unverfänglich, „true“ in „true-for-x“ zu benutzen. Darüber hinaus erhält man eine direktere Antwort auf den Vorwurf, man benutze versteckt ein Konzept absoluter Wahrheit. Denn wenn das alltagssprachliche Wahrheitsverständnis kein absolutes ist, ist dieser Vorwurf völlig gegenstandslos, der philosophische Gegner hätte lediglich sein eigenes philosophisches Wahrheitsverständnis auf das alltagssprachliche Wort projiziert.¹⁷⁶ In der Tat scheint es die intelligenteste Vorgehensweise für einen alethischen Relativisten zu sein, dem alltagssprachlichen Wahrheitskonzept entweder
Meiland (1977), 574. Das erinnert stark an Goodmans Vorschlag im Rahmen seiner Theorie der Repräsentation, nicht von Bildern von Einhörnern zu sprechen, sondern von Einhorn-Bildern. Vgl. Goodman (1976), 21 ff. Baghramian (2004), 130. Hinzu kommt, dass ein absolutistisches Alltagsverständnis von Wahrheit viel eher zu einem Wahrheitsnihilismus als zu einem Wahrheitsrelativismus führen müsste. Analog zu Mackies Vorgehen im Bereich der Ethik könnte man nämlich aus dem Nichtvorhandensein von irgendetwas, was die Vorgaben des alltagssprachlichen Verständnisses von Wahrheit erfüllt, schließen, dass es dann so etwas wie Wahrheit eben nicht gibt. Mit anderen Worten, die Motivation, relative Wahrheit überhaupt als Wahrheit zu klassifizieren, scheint in einem solchen Fall klein. Aus diesem Einwand und dem oben genannten Einwand einer versteckten Voraussetzung des absoluten Wahrheitsbegriffes ließe sich ein interessantes Dilemma für den Wahrheitsrelativisten Meilandʼscher Prägung formen: Entweder relative Wahrheit muss irgendwie auf absolute Wahrheit zurückführbar sein oder sie ist so weit von ihr entfernt, dass hier schlicht das Thema gewechselt wurde. Der Vorwurf des Themenwechsels wird recht häufig gegen relativistische Ansätze vorgebracht. Siehe dazu auch das Selbstaufhebungsargument von Tollefsen, das in Abschnitt 3.1.2 besprochen wird. Zur Problematik der Annahme eines absoluten Wahrheitsbegriffes in der Alltagssprache siehe auch Abschnitt 1.8.2.
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Neutralität bezüglich der Frage von absoluter Wahrheit oder relativer Wahrheit zuzusprechen oder sogar zu behaupten, es sei bereits ein relativistisches.¹⁷⁷ Überhaupt scheint das Verhältnis von absoluter und relativer Wahrheit bei Meiland an manchen Stellen schlecht durchdacht zu sein. So auch bei seiner ‚Ausweitung‘ der Korrespondenzrelation, denn er behauptet, dass eine Theorie, die relative Wahrheiten annimmt, absolute nicht notwendigerweise ausschließen müsse. Das ist so weit richtig, allerdings ist es wenig plausibel, dass es sowohl eine zweistellige als auch eine dreistellige Relation gibt, die sich beide in informativer Weise als Korrespondenz bezeichnen lassen.¹⁷⁸ Einiges spricht sogar dafür, dass eine dreistellige Korrespondenzrelation besser verständlich sein könnte als ein zweistellige. Immerhin ist es einer der Standardeinwände gegen Korrespondenztheorien der Wahrheit, dass nicht klar ist, wie man einen Satz mit der unkonzeptualisierten Wirklichkeit vergleichen sollte. Bei einer dreistelligen Korrespondenzrelation müsste man das, je nach drittem Relat, aber nicht unbedingt. Nimmt man an, dass es ein System von Konzepten o. Ä. ist, fällt dieser Einwand einfach weg.¹⁷⁹ Wie dem auch sei, es ist in jedem Falle unplausibel, dass beide gleichermaßen verständlich sind. Das zugrundeliegende Problem ist hier möglicherweise, dass Meiland dem Relativisten möglichst viele Theorieoptionen offenhalten möchte und dabei übersieht, dass seine Bemühungen für einen Bereichsrelativismus, also für einen Relativismus, der davon ausgeht, dass es sowohl relative als auch absolute Wahrheiten gibt, zunächst gar nicht nötig sind. Denn ein Bereichsrelativist braucht kein Problem damit zu haben, wenn sein Konzept relativer Wahrheit vom Konzept absoluter Wahrheit abgeleitet ist. Ein vernünftiger Kritiker käme überhaupt nicht auf die Idee, ihm vorzuwerfen, er setze einen Begriff absoluter
Auch wenn es unwahrscheinlich scheint, dass die zweite These sich belegen ließe, sieht die erste durchaus plausibel aus. Dasselbe Thema hat auch schon bei dem Bedeutungsrelativisten Davson-Galle, dessen Theorie an Meiland angelehnt ist, Probleme verursacht. Siehe Abschnitt 1.5.5.2. Natürlich ist das nicht der einzige bedeutende Einwand gegen Korrespondenztheorien. Wie oben bereits angedeutet, halte ich den Ausdruck „Korrespondenz“ z. B. für wenig explanativ. Der Punkt bleibt allerdings bestehen, dass eine so verstandene Korrespondenz wenigstens diesen problematischen Aspekt verlöre. Das erklärt vielleicht auch, warum auch strikte Gegner korrespondenztheoretischer Wahrheitsauffassungen, wie z. B. Goodman oder Putnam, in Kontexten, in denen der Rahmen festgelegt ist, durchaus eine an die Korrespondenztheorie erinnernde Rhetorik verwenden. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch, dass Davson-Galle in einer der wenigen Monographien zum Wahrheitsrelativismus zu zeigen versucht, dass ein (in seinem Fall schwacher) Wahrheitsrelativismus sehr viel besser mit einer Korrespondenztheorie als mit einer Kohärenztheorie der Wahrheit vereinbar sei. Allerdings scheitert dieser Versuch meiner Meinung nach an einem verfehlten Verständnis von Kohärenztheorien. Siehe auch Abschnitt 1.5.7.1.
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Wahrheit voraus, denn dass er das tut, ist gewollt und explizit in seiner Behauptung, es gebe sowohl absolute als auch relative Wahrheiten. Als Problem taucht eine eventuelle Abhängigkeit von einem absoluten Konzept der Wahrheit grundsätzlich nur für den globalen Wahrheitsrelativisten auf.
1.5.6.2 Goodman Von Meiland also zu einem m. E. besser aufgestellten alethischen Relativismus, zum „radical relativism with rigorous restraints“¹⁸⁰ von Nelson Goodman. Goodman stellt keine Wahrheitsdefinition auf; den einzigen Versuch, den er dazu unternommen hat – eine tentative Identifikation von Wahrheit mit idealisierter rationaler Akzeptabilität –, zieht er kurz darauf wieder zurück. Aber warum handelt es sich dann um einen alethischen Relativismus? Die Antwort darauf liegt in Goodmans Symboltheorie, dem Herzstück seiner Philosophie. Laut Goodman benutzen wir für unseren Umgang mit der Welt eine unüberschaubare Vielzahl unterschiedlichster Symbolsysteme, wissenschaftliche und künstlerische, sprachliche und tänzerische, alte und neue.¹⁸¹ Dabei sollte man sich das Ganze nicht so vorstellen, wie einige subjektivistische Varianten des Begriffsschema-Gedankens nahelegen, dass jeder seine ganz eigene Art habe, die Wirklichkeit wahrzunehmen und darzustellen, und es deswegen eine Unzahl unzugänglicher privater Bedeutungsräume gebe. Goodmans Symbolsysteme sind öffentlich, wir teilen sie miteinander, und jeder von uns benutzt und versteht viele davon, z. B. kubistische Malerei, Arithmetik oder Limericks. Außerdem hat Goodmans Auffassung für Bedeutungen im klassischen Sinne keinen Platz, ein Symbolsystem besteht für ihn aus Prädikaten (oder allgemeiner, um den nicht-sprachlichen Fall mit einzubeziehen, aus Etiketten) und den Gegenständen, auf die sie referieren. Symbole und Gegenstände hängen unmittelbar zusammen ohne Zwischenschritte über Bedeutungen oder Eigenschaften.¹⁸² Zu einer Relativität von Wahrheit kommt es dadurch, dass sich Symbolsysteme vielfach überschneiden, indem sie z. B. gleichlautende Prädikate enthalten oder sich prima facie auf denselben Gegenstandsbereich beziehen. So kommt es dazu, dass laut Goodman z. B. innerhalb eines Systems der Satz „Die Erde steht still“ wahr sein kann, während der gleichlautende Satz in einem anderen System falsch ist.¹⁸³ Obwohl es in dieser Arbeit nicht darum geht, wie überzeugend die Argumente für verschiedene relativistische Theorien sind, sollte nicht unerwähnt bleiben,
Goodman (1984), 39. Vgl. Goodman (1978), 2 ff. Vgl. Elgin (1997a), xiv. Vgl. Goodman (1978), 113.
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dass hier klar eine Schwachstelle in Goodmans Argumentation für seine relativistischen Auffassungen liegt. Seine Beispiele für sich widersprechende, aber gleichermaßen wahre Sätze sind, wie die oben erwähnten Bewegungszuschreibungen, alle nicht wirklich überzeugend.¹⁸⁴ Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit bedeutender ist, dass Goodman unter anderem aus Fällen dieser Art auf den wohl kontroversesten Teil seiner Gesamttheorie schließt, also auf seine These der Welterzeugung. Folgt man Goodman, erzeugen wir neue Welten, indem wir Symbolsysteme erzeugen, denn da widersprüchliche Aussagen nicht in ein und derselben Welt wahr sein können,¹⁸⁵ muss es mehrere wirkliche Welten geben, von denen die entsprechenden widersprüchlichen Aussagen wahr sind. Zwei Dinge könnten einem nun in Bezug auf die Einordnung Goodmans als einem alethischen Relativisten auffallen. Zunächst klingt die Auffassung, es gebe viele Welten, nach einem metaphysischen Relativismus, und tatsächlich stützt der enge Zusammenhang von Goodmans Auffassungen zur Wahrheit widersprüchlicher Sätze und zur Existenz mehrerer Welten die oben genannte These von der engen Beziehung von metaphysischem, alethischem und Bedeutungsrelativismus. Allerdings schießt Goodman mit seinem Bestehen auf der These, dass es wortwörtlich¹⁸⁶ mehrere Welten gebe, über einen metaphysischen Relativismus hinaus. Unter einem solchen versteht man nämlich am besten die These, dass es relativ auf einen Rahmen ist, welche Gegenstände die Welt enthält. Zweitens legt die These von den vielen Welten den Einwand nahe, dass Goodman doch nicht als alethischer Relativist verstanden werden sollte, da die Ausdrücke in sich widersprechenden Sätzen ja auf Gegenstände in verschiedenen Neben den Bewegungszuschreibungen benutzt Goodman unter anderem ein Beispiel aus dem Bereich der Mathematik, in dem in einem System Punkte als Schnittpunkte von Geraden definiert werden, während sie in einem anderen System als primitiv betrachtet werden, und ein Beispiel, das eine physikalische Beschreibung und eine Wahrnehmungsbeschreibung der stroboskopischen Bewegung (einer Wahrnehmungstäuschung in der zwei kurz nacheinander aufblitzende Lichtpunkte die Illusion eines sich bewegenden Punktes erzeugen) gegenüberstellt (vgl. Goodman (1978), 91 ff; 114 ff.). Beide lassen sich m. E. leicht von absolutistischer Seite als seltene Spezialfälle deklarieren, in denen ein korrektes In-Beziehung-Setzen der unterschiedlichen Rahmen den Anschein widersprüchlicher Wahrheiten verschwinden lässt. Die Stärke von Goodmans Argumentation liegt eben nicht in der Überzeugungskraft seiner Beispiele, sondern in den Gründen gegen die Verwendung solcher Ausweichmanöver, wie er sie unter anderem im Zwiebel-Argument darlegt. Siehe dazu Anschnitt 1.5.2. Warum Goodman hier konservativ in Bezug auf die klassische Logik ist und sich dadurch auf die These der Welterzeugung verpflichtet, die in so mancher Hinsicht radikaler ist, als es z. B. die Übernahme einer parakonsistenten Logik wäre, beantwortet er leider nicht. Das ist wichtig im Kontrast zu Kuhn, der seine Rede von verschiedenen Welten als Metapher versteht. Trotzdem ist der Sinn, in dem Goodman den Begriff der Welt benutzt, natürlich nicht mit dem alltagssprachlichen identisch, wie im folgenden Absatz klarwerden sollte.
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Welten und somit auf verschiedene Gegenstände referieren; inwiefern sich solche Sätze widersprechen sollten, ist unklar.¹⁸⁷ Dieser Einwand wirft einige sehr komplexe Fragen auf und es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, ihn erschöpfend zu beantworten. Trotzdem sollen wenigstens einige Gründe angesprochen werden, die für einen Verbleib Goodmans in der Kategorie des alethischen Relativismus sprechen. Erstens ist zu beachten, dass der Begriff der Welt in Goodmans Philosophie nur ein abgeleiteter und verhältnismäßig unwichtiger (was die Folgerungen, die Goodman aus seinen Aussagen über Welten zieht, betrifft) ist. Die grundlegenden Konzepte sind das des Symbolsystems und diejenigen, die seine Bestandteile, deren Verhältnis und die Verhältnisse verschiedener Symbolsysteme zueinander beschreiben. Sie sind alle schon längst an ihrem Platz, wenn der Begriff der Welt auftaucht, der selbst kaum eine explanative Rolle übernimmt. Insbesondere gibt es bereits ein Konzept der Gegenstände und eine Theorie ihrer Individuation, die besagt, dass diese innerhalb eines Symbolsystems geschieht, dessen eine Hälfte die Gegenstände sind. Man könnte sogar behaupten, dass der Begriff der Welt nichts weiter ist als ein Hilfsbegriff, um konsistente Ansammlungen von Symbolsystemen zusammen zu gruppieren. Ob sich diese Erklärungsrichtung ohne weiteres umdrehen lässt, um aus der Verschiedenheit der Welten auf ein Fehlen des Widerspruchs zu schließen, darf bezweifelt werden. Außerdem vernachlässigt dieser Einwand einen wichtigen Teil der Goodmanʼschen Philosophie zugunsten einer Wiedereinsetzung der Welt an den ihr intuitiv zustehenden Platz in der Erklärung von Wahrheit, Widersprüchlichkeit, Referenz etc., der ihr im Rahmen eben dieser Philosophie aber explizit nicht zusteht. Die Rede ist von Goodmans Auffassung der konstruktionalen Definition die, da Goodmans Auffassung von Symbolsystemen seine Auffassung von konstruktionalen Systemen zugrunde liegt, wichtig für seine Konzeption der Beziehungen zwischen Symbolsystemen ist.¹⁸⁸ Diese setzt sich gerade vom Vorschlag Carnaps,
Ein solcher Einwand findet sich z. B. in Kreis (2010), 431 f. und Swoyer (1982), 101 ff. Die folgende Passage bietet eine treffende und verständliche Erläuterung der Konzepte: „Goodman argues that the definiens of an accurate definition need have neither the same intension nor even the same extension as the definiendum; thus, for example, in a constructional system, points in space may be defined equally well as certain classes of straight lines or as certain infinite convergent sets of concentric spheres; but these alternative definientia are neither cointensive (synonymous) nor coextensive with each other. A set of sets of straight lines is just not the same set of objects as a set of infinite convergent sets of concentric spheres. Hence, their accuracy notwithstanding, the respective definitions are not coextensive with, let alone synonymous with, the definiendum. Accuracy of constructional definitions amounts to no more than a certain homomorphism of the definiens with the definiendum. This means that the concepts of the constructional system must provide a structural model for the explicanda in the sense that for
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der extensionale Identität gefordert hatte, ab. An ihre Stelle soll eine extensionale Isomorphie treten, die Identität der Referenzgegenstände wird also gerade nicht mehr gefordert. Dies sollte bei der Frage der Übersetzung zwischen zwei Symbolsystemen und damit auch bei der Frage nach der Widersprüchlichkeit zweier Sätze innerhalb verschiedener Systeme im Hinterkopf behalten werden.¹⁸⁹ Zuletzt sollte angemerkt werden, dass gerade bei einer Zuschreibung wie „Relativismus“, die oft in lediglich polemischer Absicht benutzt wird und die (was vor allem für den Fall des alethischen Relativismus gilt) eher selten tatsächlich zutrifft, erhöhter Wert auf die Selbstbeschreibung des jeweiligen Autors zu legen ist.¹⁹⁰ Das ist einer der Gründe, warum ein Autor, der häufig als alethischer Relativist gehandelt wird, hier nicht als solcher behandelt werden soll. Es handelt sich um Richard Rorty, der sich mit Händen, Füßen und viel Polemik gegen seine Klassifikation als Relativist zur Wehr setzt. Darüber hinaus lehnt Rorty es strikt ab, Wahrheit als ein philosophisch einigermaßen respektables Konzept zu sehen, für ihn sind Wahrheitszuschreibungen in der Regel nichts weiter als „rhetorical pats on the back“¹⁹¹ oder im Höchstfalle eine Mahnung, dass man seine Meinung in Zukunft auch noch ändern könnte.¹⁹² Insofern ergibt es wenig Sinn, aus seinen Ausführungen eine (relativistische) Wahrheitstheorie herauslesen zu wollen. Wie schon bei dem oben andiskutierten Einwand gegen Goodmans Zuordnung zum alethischen Relativismus würde man hier der eigenen Auffassung, dass be-
every connection between entities that is describable in terms of the explicanda, there must obtain a matching connection, stateable in terms of the respective explicata or definientia, among the counterparts that the entities in question have within the system. In this way the two different definitions of ‚point‘ serve their purpose equally well. The objects in the sets generated – although being very different in kind – stand in just the right relations to one another within the sets to serve as an explicatum for ‚point‘ as geometry demands.“ Cohnitz und Rossberg (2006), 114 f. (Hervorhebungen ihre). Vgl. Foster (1988). Er macht diesen Punkt gegen Swoyers Argumentation gegen den starken Wahrheitsrelativismus. Diese Ablehnung der extensionalen Identität und konventioneller Vorstellungen davon, was Ausdrücke innerhalb unterschiedlicher Systeme äquivalent macht, ist eine extrem folgenreiche methodische Entscheidung für Goodmans Gesamtposition. Ohne sie würde er nicht bei einem alethischen Relativismus ankommen. Siehe dazu auch Abschnitt 1.5.8. Für Swoyers Antwort auf Foster siehe Swoyer (1988). Was natürlich nicht heißen soll, dass sie über sämtlichen sachlichen Erwägungen stehen sollte. Putnam z. B. sieht sich selbst nicht als Relativisten, und tatsächlich gibt es in seiner Philosophie (auch innerhalb derselben Periode) zwei Stränge, die in verschiedene Richtungen ziehen. Dass es trotzdem sinnvoll ist, ihn als Relativisten zu bezeichnen, wird hoffentlich im nächsten Abschnitt ersichtlich werden. Rorty (1982), xvii. Zu Rortys Unterscheidung zwischen dem „disquotational“, dem „endorsing“ und dem „cautionary“ Gebrauch des Wahrheitsprädikats siehe Rorty (1986), 334 f.
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stimmte Begriffe (in Rortys Fall der der Wahrheit) eine wichtige Rolle in jeder Theorie zu spielen haben, Vorrang gewähren gegenüber dem, was tatsächlich vorgetragen wird. Das mag zum Vergleich fremder Auffassungen mit der eigenen sinnvoll sein, die Gefahr einer verzerrenden Darstellung ist dann allerdings groß.
1.5.7 Der metaphysische Relativismus Eine weitere Relativismusvariante, die gewissermaßen zwischen Swoyers starkem und schwachem Wahrheitsrelativismus steht oder die sich, besser gesagt, dadurch auszeichnet, dass sie die Frage, ob Wahrheit in einem starken Sinne relativ ist oder ob der entsprechende Anschein sich auf differente Bedeutungen zurückführen lässt, ablehnt, ist Putnams interner Realismus. Diese Positionierung Putnams wird besonders deutlich in einer Reaktion auf Goodman, in der er davon spricht, dass die Frage, ob zwei gleichlautende Sätze innerhalb verschiedener Rahmen mit unterschiedlichen Wahrheitswerten dieselbe Bedeutung hätten, sich nicht beantworten lasse, da sie eine Überforderung unseres Bedeutungs- und Übersetzungsbegriffs darstelle.¹⁹³ Putnam¹⁹⁴ spricht vielmehr direkt davon, dass es z. B. relativ auf einen Rahmen sei, wie viele Objekte es in der Welt gebe. Was ich in diesem und den beiden vorigen Kapiteln veranschaulichen zu können hoffe, ist, dass diese drei (global genommenen) Thesen, der alethische Relativismus, der Bedeutungsrelativismus und der metaphysische Relativismus, sehr eng verbunden sind, sie haben deutlich mehr gemeinsam als jede der drei mit irgendeinem Bereichsrelativismus. In vielerlei Hinsicht sind sie, wie oben ausgeführt, nichts weiter als drei verschiedene Betrachtungsweisen desselben Phänomenbestands, nämlich dem des scheinbaren Passens einer Vielzahl konkurrierender Darstellungssysteme auf ein und dieselbe Welt. Es verhält sich bei ihnen ähnlich wie bei den beiden oben genannten Betrachtungsweisen von Bereichsrelativismen, die häufig sowohl als Theorien über die Relativität bestimmter Eigenschaften als auch als Theorien über die Relativität der Wahrheit von Sätzen
„[W]e should simply give up the idea that the sentences we have been discussing preserve something called their ‚meaning‘ when we go from one such version into another such version. Am I not, then, saying that the sentence has a different meaning in the two versions? (If a sentence doesnʼt preserve its meaning, it must change it, right?) I repeat that the answer is that the notion of ‚meaning‘, and the ordinary practices of translation and paraphrase to which it is linked, crumble when confronted with such cases.“ Putnam (1995), 119. Genauer gesagt Putnam in seiner intern-realistischen Phase. Putnam hat seine Ansichten zu vielen zentralen philosophischen Fragen im Laufe seiner Schaffenszeit mehrfach grundlegend geändert.
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aus einem bestimmten Bereich aufgefasst werden können. Hier könnte man auch von einer Lesart als lokalem metaphysischen Relativismus und einer als lokalem alethischen Relativismus sprechen. Welche der globalen Relativismen in einem konkreten Fall vertreten wird, hängt eng mit den Hintergrundannahmen der entsprechenden Autoren, insbesondere der vertretenen Bedeutungs- und Wahrheitstheorie, zusammen. Der metaphysische Relativismus ist also, genau wie der alethische Relativismus, eine dem Bedeutungsrelativismus eng verwandte These. Die Ersteren beiden ließen sich sogar als Varianten des Letzteren auffassen, würde man keine Annahme zur Eigenständigkeit von Bedeutungen als Entitäten machen. Wie bereits im entsprechenden Abschnitt angemerkt, bezieht sich „Bedeutung“ im Ausdruck „Bedeutungsrelativismus“ nicht auf dasjenige, was relativiert wird, sondern auf die Art des Rahmens, also einen im weitesten Sinne sprachlichen Rahmen. Die meisten metaphysischen und alethischen Relativismen der letzten Jahrzehnte nehmen genau diese Art von Rahmen an. So war die These Goodmans, die im Kapitel über den alethischen Relativismus vorgestellt wurde, dass Wahrheit relativ auf Symbolsysteme ist. Unter metaphysischem Relativismus wird hier die These verstanden, dass die Frage, was es gibt, sich nur relativ auf eine bestimmte Sprache, ein bestimmtes Begriffsschema o. Ä. beantworten lässt.¹⁹⁵ Trotzdem ist eine Aufteilung in drei verschiedene Thesen sinnvoller, denn wie im letzten Kapitel dargelegt wurde, gibt der Bedeutungsrelativismus eine völlig andere Antwort auf die Frage, die durch die Existenz verschiedener Möglichkeiten, die Welt sprachlich zu erfassen, aufgeworfen wird. In vielen Typologien des Relativismus¹⁹⁶ wird ein Großteil der hier als Beispiele für globale Relativismen verwendeten Theorien, genauer gesagt die mit sprachartigen Rahmen, unter dem Oberbegriff des „conceptual relativism“ zusammengefasst. Diese Art der Einteilung ist aus drei Gründen abzulehnen: Zunächst einmal ist ein Ausschluss von Ansätzen, die Wahrheit auf sprachartige Rahmen relativieren, aus dem Bereich des alethischen Relativismus vollkommen willkürlich. Die Tendenz zu diesem Vorgehen beruht m. E. darauf, dass Interpreten es vernachlässigen, bei ihrer Kategorisierung der betreffenden Positionen ihre eigene substantielle Bedeutungstheorie zu suspendieren. Dies führt zu Lesarten, die alethische und metaphysische Relativismen mit sprachartigen Rahmen
Ein mögliches Missverständnis sollte hier gleich ausgeräumt werden. Der metaphysische Relativismus ist nicht dasselbe wie Quines These der ontologischen Relativität. Bei dieser handelt es sich nämlich nicht um eine Relativität der Ontologie auf eine Sprache o. Ä., sondern um eine Relativität der Ontologie, auf eine bestimmte Weise eine Sprache zu interpretieren oder zu übersetzen. Siehe z. B. Baghramian (2004), 212 ff.
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als identisch mit Bedeutungsrelativismen betrachten, denn sobald erst einmal gegeben ist, dass ein Unterschied im Wahrheitswert einen Unterschied in der Bedeutung nach sich zieht, ist es ganz selbstverständlich anzunehmen, dass der Wahrheitswertunterschied sich vollständig durch den Bedeutungsunterschied erklären lässt und dass keine Relativität des Weltinventars oder der Wahrheit als solcher vorliegt. Hier handelt es sich aber um eine erhebliche Verzerrung dessen, was die fraglichen Theorien tatsächlich aussagen. Zweitens würde ein Ausschluss von sprachartigen Rahmen dazu führen, dass die Anzahl alethischer und metaphysischer Relativisten in der aktuellen Debatte gegen null tendiert. Das sieht man auch deutlich an der geringen Anzahl der Autoren, die Baghramian in ihrem sehr ausführlichen Buch als alethische Relativisten klassifiziert. Dort finden sich nämlich lediglich der auch hier behandelte Jack Meiland, der allerdings, wie oben gesehen, gar keine eigene wahrheitsrelativistische These formuliert, sondern mehr die Form, die eine solche These haben sollte, bespricht, und Robert Nozick, der wohlgemerkt kein globaler alethischer Relativist ist. Autoren, die ähnliche Auffassungen wie Goodman oder Putnam vertreten, ließen sich hingegen einige finden. Drittens, und damit zusammenhängend, bedeutet ein Ausschluss sprachartiger Rahmen einen Ausschluss desjenigen Gebietes, auf dem sich im Verlauf des letzten Jahrhunderts die meisten und interessantesten Entwicklungen in Bezug auf den Relativismus abgespielt haben. Wenn wir nicht zu Autoren wie Protagoras und Nietzsche zurückgehen wollen, um starke, globale Relativismen zu finden, müssen wir alethische Relativismen wie den von Goodman als solche anerkennen. Entscheidend bleibt aber vor allem der erste Grund einer genauen und gewissenhaften Auslegung der fraglichen Positionen: Wo alethische und metaphysische Relativisten divergierende Wahrheiten und Weltinventare sehen, fängt der Bedeutungsrelativist diese starken relativistischen Konsequenzen durch seine Proklamation unterschiedlicher Bedeutungen ab, um den Preis eines starken Bedeutungsbegriffs und eines Korrelats desselben in Form von „stuff“. Dieser Unterschied muss in einer Typologie relativistischer Theorien Beachtung finden. Dieses nicht ganz unkomplizierte Verhältnis der drei Thesen wird durch das Folgende hoffentlich noch klarer werden.
1.5.7.1 Rappaport, Lynch und die drei globalen Relativismen Den Anfang machen soll zu diesem Zweck das Beispiel eines Autors, der sich selbst nicht ganz sicher zu sein scheint, ob er nun einen metaphysischen Relativismus, einen Bedeutungsrelativismus oder sogar einen alethischen Relativismus vertreten soll. Die Rede ist von Steven Rappaport, insbesondere von seinem Aufsatz „Must a Metaphysical Relativist be a Truth Relativist?“ und dem darauf-
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folgenden Austausch mit Michael Lynch und Peter Davson-Galle. Rappaport betrachtet sich selbst als metaphysischen Relativisten,¹⁹⁷ allerdings lässt eine Differenzierung, die er in dem besagten Aufsatz vornimmt, Zweifel daran aufkommen, ob seine Selbstzuschreibung korrekt ist. Er unterscheidet nämlich zwischen den beiden Thesen „(2a) [t]he correct answer to the question of what objects exist and what characteristics they have is relative to or depends on the classification system within which the question is asked“ und „(2b) [w]hat objects exist and what characteristics they have depends on the classification system adopted“.¹⁹⁸ Der metaphysische Relativist ist nach Rappaport nur auf These (2a) verpflichtet. Zunächst wirkt dies wie eine Differenzierung zwischen einer Bedeutungsebene und einer Gegenstandsebene, wobei nur auf der Bedeutungsebene Relativität zugestanden werden soll. Damit wäre Rappaport lediglich ein Bedeutungsrelativist. Aber dieser Eindruck muss täuschen, da Rappaport sich in dem besagten Aufsatz ausgerechnet eine disquotationalistische Theorie der Wahrheit zu eigen macht, die es eigentlich unmöglich machen sollte, die beiden genannten Thesen unterschiedlich zu bewerten. Bei näherem Hinsehen wird klar, dass Rappaport die These (2b) lediglich deswegen ablehnt, weil er sie mit einer kruden Form des Idealismus, wie er vor allem Berkeley oft zugeschrieben wird, verbindet.¹⁹⁹ Das wird besonders deutlich in seiner Antwort auf Lynch: Lynch wants to know what, if anything, the metaphysical relativist thinks the world does contain mind independently. For the metaphysical relativist, this question can be interpreted in two quite distinct ways: (Q1) After sorting by symbol users like us, what does the world contain mind independently? (Q2) Before sorting by us or other symbol users, what does the world contain mind independently? Ordinary idealism answers (Q1) by saying ‚Nothing.‘ For ordinary idealism, the familiar stars, clouds, tables, and so on are mind dependent. But metaphysical relativism answers (Q1) by saying ‚Many things the world contains are mind independent, in particular, stars, clouds, tables, and so on.‘ However, metaphysical relativism answers (Q2) by saying ‚Nothing.‘ But it’s not that prior to the world being sorted by symbol users, the world contains things that
Interessanterweise benutzt Rappaport eine Formulierung, die ausgerechnet von Goodman stammt, um zu charakterisieren, was er unter metaphysischem Relativismus versteht. Sie lautet: „For me, there is no way that is the way the world is; and so of course no description can capture it. But there are many ways the world is, and every true description captures one of them. The difference between my friend and me is, in sum, the enormous difference between absolutism and relativism.“ Goodman (1972b), 31. Rappaport (1993), 81. Vgl. Davson-Galle (1998b), 514; Lynch (1997), 418.
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are mind dependent. Rather itʼs that we can make no sense of the idea of the world containing anything prior to being sorted by symbol users like us.²⁰⁰
Anderswo charakterisiert er Idealismus²⁰¹ als „the view that there are no objects which exist independent of all knowledge or awareness of them“.²⁰² Der Standpunkt, gegen dessen Zuschreibung Rappaport sich hier zur Wehr setzt, scheint also eine Art Lichtschalter-Ontologie zu sein, in der wir die Existenz von Gegenständen durch Be- und Missachtung beliebig ein- und ausknipsen können.²⁰³ Gegen eine gemäßigtere Auslegung von (2b), die z. B. besagt, dass kein Objekt unabhängig von jeglichen „classification systems“ existieren kann, hätte Rappaport wohl nichts einzuwenden. Man kann ihn also sehr wohl zumindest als metaphysischen Relativisten einstufen. Auch um das Verhältnis von metaphysischem Relativismus und alethischem Relativismus aufzuhellen, sind Rappaports Ansatz und die darauf bezogene Auseinandersetzung geeignet. Wie der Titel seines Aufsatzes besagt, möchte er nämlich zeigen, dass aus einem metaphysischen Relativismus kein alethischer Relativismus folgt. Dieses Ziel erreicht er allerdings nicht, da er ein zwar weit verbreitetes, aber unzutreffendes Bild des alethischen Relativismus zeichnet. Für Rappaport ist dieser nämlich gleichbedeutend mit einer substantiellen relativistischen Wahrheitstheorie, wie etwa einer Konsens- oder Kohärenztheorie.²⁰⁴ Dasselbe gilt für Lynch, der für sich in Anspruch nimmt, einen Pluralismus mit
Rappaport (1997), 424 (Hervorhebungen seine). Rappaports „anything“ schließt übrigens auch Davson-Galles „stuff“ ein, der ja schon im Kapitel zum Bedeutungsrelativismus als ein differenzierendes Merkmal zwischen dem metaphysischen Relativismus einerseits und dem Bedeutungsrelativismus bzw. dem sogenannten cookie cutter view andererseits angeführt wurde. Auch dies spricht also klar dagegen, Rappaport als Bedeutungsrelativisten aufzufassen. Vgl. Rappaport (1998), 524 EN 2. Das Verhältnis von relativistischen Theorien, die aus der analytischen Tradition stammen, und dem Idealismus ist kompliziert. Das liegt vor allem daran, dass nur wenigen Autoren eine andere Bedeutung des Wortes Idealismus bekannt ist als die, die sich mit dem Namen Berkeley verbindet. Schon eine Beachtung der kantischen Unterscheidung von empirischem und transzendentalem Idealismus könnte zu einer erheblichen Differenzierung der Diskussion beitragen. Auch zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Interpretation von mind dependent und mind independent wird viel zu wenig unterschieden. Rappaport (1993), 77. Man könnte ihm hier vorwerfen, sich unnötigerweise von einer Position abzusetzen, die niemand vertritt, allerdings sind Einwände gegen relativistische Positionen von der Art „aber die Gegenstände werden nicht weggehen, ganz egal, wie sehr wir uns das kollektiv wünschen“ keine Seltenheit. Insofern ist es durchaus sinnvoll, sich gegen diese Karikatur einer relativistischen Position abzusetzen, auch wenn sie niemand vertritt. Vgl. Rappaport (1993), 78 f; Rappaport (1998), 520 f.
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einem realistischen Wahrheitsbegriff zu verbinden.²⁰⁵ Dabei wird bei einer Betrachtung von z. B. Goodmans Ansatz deutlich, dass ein solcher substantieller Wahrheitsbegriff gar nicht nötig ist, um bei relativen Wahrheiten anzukommen. Rappaport und Lynch scheinen tatsächlich nicht ein Problem mit einer Relativierung von Wahrheit als solcher zu haben. Ihre Gleichsetzung von alethischem Relativismus mit Konsens- oder Kohärenztheorien o. Ä. deutet vielmehr in die Richtung, dass sie eine bestimmte Art von Rahmen, nämlich nichtsprachartige Rahmen, wie z. B. Überzeugungssysteme, ablehnen. Das Merkmal, das einen alethischen Relativismus nach der hier entworfenen Einteilung von solchen klarerweise metaphysisch relativistischen Ansätzen wie z. B. dem von Hilary Putnam absetzt, ist hingegen die Behauptung, dass widersprüchliche Aussagen innerhalb unterschiedlicher Rahmen wahr sein können. Diese Thematik wird aber von Rappaport überhaupt nicht angesprochen. Es gibt auf jeden Fall keine offensichtlichen Gründe, warum eine Theorie wie diejenige Goodmans nicht mit einem Disquotationalismus, wie ihn Rappaport favorisiert, vereinbar sein sollte. Da wiederum Rappaports Argument gegen ein Folgen des alethischen Relativismus aus dem metaphysischen Relativismus darauf aufbaut, dass Ersterer unvereinbar mit einer disquotationalistischen Wahrheitstheorie sei, während Letzterer es nicht sei, ist so lange unklar, ob aus Rappaports metaphysischem Relativismus ein alethischer Relativismus folgt, bis er sich eindeutig zur Frage widersprüchlich erscheinender Wahrheiten innerhalb unterschiedlicher „classification systems“ äußert. Was die von Lynch favorisierte Korrespondenztheorie betrifft, sieht die Sache schon etwas anders aus. Immerhin spricht sich Goodman ganz klar gegen eine Korrespondenztheorie der Wahrheit aus. Man sollte aber auch bedenken, dass die Korrespondenztheorie Lynchs Einbettung in seinen metaphysischen Relativismus nicht völlig unverändert überstehen kann. Betrachtet man z. B. den Standardeinwand, dass man Aussagen nicht mit einer unkonzeptualisierten Wirklichkeit vergleichen könne, muss man einräumen, dass die Wirklichkeit, die nach Lynch mit Aussagen korrespondieren soll, überhaupt nicht unkonzeptualisiert ist. Sie ist – ähnlich wie in Rappaports oben zitierter Differenzierung zwischen der idealistischen und der nichtidealistischen Lesart von „mind independently“ – bereits durch unsere Begriffsschemata geordnet oder auch in Form gebracht.²⁰⁶ Der Punkt am metaphysischen Relativismus ist ja gerade, dass unsere begrifflichen Aktivitäten einen Beitrag dazu leisten, welche Formen die Wirklichkeit an Vgl. Lynch (1998), 3. Meiland spricht sich auch für einen alethischen Relativismus mit einer Korrespondenztheorie der Wahrheit aus, für ihn ist die Relation dann allerdings dreistellig. Zu den Problemen, die diese Auffassung mit sich bringt, siehe Abschnitt 1.5.6.1.
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nimmt bzw. annehmen kann. Ob eine solchermaßen entschärfte Korrespondenztheorie für den alethischen Relativismus noch ein Problem darstellt, ist fraglich.²⁰⁷ Während also in dem Austausch zwischen Davson-Galle, Lynch und Rappaport unklar bleibt, ob Letztere ‚nur‘ einen metaphysischen oder einen alethischen Relativismus vertreten, soll nun eine Theorie vorgestellt werden, die eindeutig dem metaphysischen Relativismus zuzuordnen ist.
1.5.7.2 Putnam Der zweifellos einflussreichste metaphysische Relativist ist, auch wenn er die Bezeichnung „Relativismus“ für seine Theorie ablehnt und zu den schärfsten Kritikern desselben gehört,²⁰⁸ Hilary Putnam.²⁰⁹ Putnams interner Realismus ist nicht nur deutlich weiter ausgearbeitet als die meisten anderen metaphysischen Relativismen, er ist auch sehr durchdacht und eignet sich dadurch besonders gut, ein abschließendes Licht auf den metaphysischen Relativismus und sein Verhältnis zu benachbarten Theorien zu werfen. Wie alle metaphysischen Relativisten glaubt Putnam nicht an eine von jeglicher Sprache unabhängige Einteilung der Welt in Gegenstände.²¹⁰ Seine These der „conceptual relativity“ besagt, that while there is an aspect of conventionality and an aspect of fact in everything we say that is true, we fall into hopeless philosophical error if we commit a ‚fallacy of division‘ and conclude that there must be a part of the truth that is the ‚conventional part‘ and a part that is the ‚factual part‘.²¹¹
Diese unentwirrbare Einheit von Konvention und Faktischem trennt den metaphysischen vom Bedeutungsrelativismus mit seinem faktischen „stuff“ und sei Davson-Galle, der ja auch versucht, Relativismus (allerdings in seinem Falle Bedeutungsrelativismus) und Korrespondenztheorie zu vereinbaren, hält alethischen Relativismus und Korrespondenztheorie für inkompatibel. Allerdings scheint dieses Urteil zu einem erheblichen Teil auf seiner Bedeutungstheorie zu beruhen. Da diese jedoch, wie bereits erwähnt, keine ist, die die meisten metaphysischen oder alethischen Relativisten für akzeptabel halten würden, ist die Frage weiterhin offen. Vgl. Davson-Galle (1998a), 18 ff.; 33 ff. Zwei von Putnams Argumenten werden im Rahmen der Darstellung konkreter Selbstaufhebungsargumente diskutiert werden. Siehe Abschnitt 3.3.2. Die Exposition von Putnams Position folgt in weiten Teilen der gelungenen Zusammenfassung in Case (1997). Vgl. Putnam (1995), 120 ff.Wie nah genau diese Position an Carnaps Unterscheidung interner und externer Fragen liegt und inwieweit diese Unterscheidung den Wegfall der analytisch-synthetisch-Unterscheidung überleben kann, wäre interessant zu untersuchen. Dieser Frage nachzugehen, würde allerdings eine eigene Arbeit verlangen. Putnam (1990), x.
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nen konventionellen Rahmen.²¹² Unsere begrifflichen Rahmen sind nach Putnam nie ganz Konvention, wie er anschaulich in Bezug auf ein Beispiel aus der Geometrie darlegt: [W]e can identify points with sets of convergent spheres and all geometric facts will be correctly represented. […] [W]e can also take points as primitive and identify spheres with sets of points. So any answer to this question is […] conventional, in the sense that one is free to do either. But what Quine pointed out […] is that when I say, ‚We can do either,‘ I am assuming a diffuse background of empirical facts. Fundamental changes in the way we do physical geometry could alter the whole picture. The fact that a truth is toward the ‚conventional‘ end of the convention-fact continuum does not mean that it is absolutely conventional – a truth by stipulation, free of every element of fact.²¹³
Damit setzt Putnam sich von einem Relativismus ab, der alles als Konvention begreifen wollte.²¹⁴ Man könnte meinen, dadurch sei die Abgrenzung vom alethischen Relativismus gelungen, allerdings vertritt Goodman sehr ähnliche Ansichten zur Konventionalität.²¹⁵ Der Unterschied muss vielmehr in den Relationen zwischen verschiedenen Rahmen gesucht werden.²¹⁶ Da auch Putnam Propositionen ablehnt, handelt es sich auch bei ihm um Übersetzungsrelationen und nicht etwa um Identitätsrelationen zwischen ausgedrückten Propositionen. Das kann man in diesem Falle nur ausdrücklich begrüßen, denn es eröffnet Putnam einen außergewöhnlich differenzierten Blick auf die Verhältnisse von Rahmen untereinander. Es lohnt sich, zunächst einen Blick auf Putnams Beschreibung des Phänomens zu werfen, das seiner Auffassung der „conceptual relativity“ zugrunde liegt. Laut Putnam gibt es „ways of describing what are (in some way) the ‚same facts‘ which are (in some way) ‚equivalent‘ but also (in some way) ‚incompatible‘.“²¹⁷ Man kann die drei hier untersuchten globalen Relativismen, wie oben dargestellt,
Case interpretiert Putnams Ablehnung einer klaren Grenze von Konvention und Faktischem in engem Zusammenhang mit der Ablehnung der analytisch-synthetisch-Unterscheidung. Da diese für den Bedeutungsrelativismus weiterhin wichtig ist, war ein Unterschied in diesem Zusammenhang zu erwarten. Vgl. Case (1997), 4. Putnam (1988), 112 f. Putnam differenziert also nicht zwischen der analytisch-synthetischUnterscheidung und der Unterscheidung von Konventionen und Tatsachen, wie oben mit Bezug auf Goodmans Einsatz der Letzteren im Zwiebel-Argument geschehen. Vgl. Case (1997), 3. Vgl. Goodman (1978), 116 ff. Putnam selbst gibt eine ausgesprochen aufschlussreiche und präzise Darstellung der Unterschiede zwischen seiner Theorie und derjenigen Goodmans in Putnam (1995), 109 ff., an der sich das Folgende orientiert. Putnam (1987), 29.
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alle als Reaktionen auf genau dieses Phänomen verstehen, die sich vor allem in ihrer Betonung verschiedener Aspekte unterscheiden. Während der Bedeutungsrelativismus besonders viel Wert auf die Äquivalenz legt, schenkt der alethische Relativismus der Inkompatibilität die meiste Beachtung. Der Vorzug von Putnams Position liegt nun genau darin, dass er beide gleichermaßen im Blick behält. Um die Äquivalenz unterschiedlicher Begriffsschemata hervorzuheben, verweist er auf „relative interpretations“. Hinter diesem Ausdruck verbergen sich Korrelationen von Sätzen aus verschiedenen Schemata (Putnam benutzt, wie so häufig, das Beispiel einer Sprache, die mereologische Summen benutzt, und einer Sprache, die Gegenstände auf alltägliche Weise einteilt), „and the sentence and its translation will have the same truth value and the same explanatory power“.²¹⁸ Allerdings ergibt es laut Putnam keinen Sinn, und das unterstreicht den Aspekt der Inkompatibilität, davon auszugehen, dass die so korrelierten Sätze dieselbe Bedeutung haben, denn erstens sind sie in der Regel nicht aus Ausdrücken zusammengesetzt, bei denen man auch nur auf die Idee käme, sie synonym zu nennen; und zweitens gibt es immer mehrere Möglichkeiten, solche Korrelationen zwischen zwei Aussagensystemen herzustellen.²¹⁹ Andererseits möchte Putnam auch nicht sagen, dass es hier einen Unterschied in der Bedeutung gäbe: „[T]he notion of ‚meaning‘, and the ordinary practices of translation and paraphrase to which it is linked, crumble when confronted with such cases.“²²⁰ Genau diese Zurückhaltung bezüglich Fragen zum Übertragen von Bedeutungen aus einem Rahmen in den anderen erlaubt es Putnam, eine Zwischenposition einzunehmen zwischen dem alethisch-relativistischen Annehmen der Widersprüchlichkeit und dem bedeutungsrelativistischen Ausweichen auf Bedeutungsdifferenzen: [a] corollary of […] conceptual relativity […] is the doctrine that two statements which are incompatible at face value can sometimes both be true (and the incompatibility cannot be explained away by saying that the statements have ‚a different meaning‘ in the schemes to which they respectively belong).²²¹
1.5.8 Noch einmal alethischer Relativismus Nach diesen Ausführungen über die Ausgewogenheit des metaphysischen Relativismus liegt die Frage nahe, warum überhaupt irgendjemand einen alethischen Relativismus sollte vertreten wollen. Deswegen soll in diesem Abschnitt ein ge
Putnam (1991), 405. Vgl. Putnam (1991), 405. Siehe auch Putnam (1995), 115 ff. Putnam (1995), 119. Putnam (1990), x.
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nauerer Blick auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Positionen Putnams und Goodmans geworfen werden, um deutlich zu machen, wo genau und warum sich die Wege der beiden trennen. Putnam ist deutlich vorsichtiger in seinen Folgerungen und benutzt die konzeptuelle Relativität vor allem als negatives Argumentationswerkzeug, um stärkere Realismen als seinen internen Realismus zu widerlegen. Dabei geht es vor allem um solche Theorien, die unter seine Klassifikation des metaphysischen Realismus fallen. Der Kern der Differenz zwischen Putnams und Goodmans Diagnosen liegt darin, wie beide die Verhältnisse zwischen unterschiedlichen Rahmen beurteilen. Während auch hier Putnams Urteile tendenziell im Bereich des Negativen verbleiben und eine geradezu bewundernswerte theoretische Vorsicht ausdrücken, sind die Relationen zwischen unterschiedlichen Symbolsystemen eines der zentralen Themen von Goodmans Gesamttheorie. Putnam ist, wie bereits erwähnt, der Auffassung, dass es keinen Sinn ergibt, von widersprüchlichen Wahrheiten in verschiedenen Rahmen zu sprechen – und zwar deshalb, weil unser Bedeutungsbegriff nicht dazu ausgelegt ist, über Rahmengrenzen hinweg benutzt zu werden. Er vertritt die Auffassung, dass die unterschiedlichen Möglichkeiten, um zwei unterschiedliche Rahmen (wie z. B. Carnaps Sprache und die Sprache des polnischen Logikers) in Beziehung zu setzen, also z. B. Reduktion, relative Interpretation oder zweckgebundene Äquivalenzrelationen, lediglich das Ursprungsproblem auf eine Metaebene verschöben.²²² Alle unsere Begriffe für Bedeutungen und Verwandtes sind in solchen Fällen schlicht zu unpräzise, um irgendein vernünftig begründbares Urteil darüber abzugeben, dass zwei Ausdrücke unterschiedlicher Rahmen nun dasselbe, Verschiedenes oder gar Gegensätzliches bedeuten. Jeder Versuch die Inhalte zweier Rahmen aufeinander zu beziehen, muss selbst einen Gegenstandsbegriff festlegen und von diesem aus die ursprünglichen Versionen in Beziehung setzen. Dafür gibt es aber grundsätzlich mehrere Möglichkeiten, eben weil wir keinen präzisen Bedeutungsbegriff für diese Aufgabe besitzen.²²³ Welche dieser Möglichkeiten nun die richtige ist, lässt sich deswegen genauso wenig feststellen, wie welcher Gegenstandsbegriff von Anfang an der richtige gewesen wäre. Putnams Position ist treffend zusammengefasst in seiner oben bereits zitierten Bemerkung: [a] corollary of […] conceptual relativity […] is the doctrine that two statements which are incompatible at face value can sometimes both be true (and the incompatibility cannot be
Vgl. Putnam (1990), 103 f. Vgl. Putnam (1990), 103 f.
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explained away by saying that the statements have ‚a different meaning‘ in the schemes to which they respectively belong).²²⁴
Aber wo es keine identischen oder gegensätzlichen Bedeutungen gibt, kann es natürlich auch keine Widersprüche geben. Deswegen bleiben die Symbolsysteme bei Putnam in einem gewissen Sinne, der für Goodman, wie jetzt dargelegt werden wird, inakzeptabel ist, schlicht dissoziiert. Die Gründe, aus denen Goodman Putnams Haltung nicht teilen kann, sind ein Stück weit Artefakte seiner thematischen Ausrichtung, aber das heißt nicht, dass sie nicht als Argumente für einen alethischen Relativismus zu gebrauchen wären, denn eine thematische Ausrichtung kann durchaus selbst gute Gründe haben. Es heißt allerdings schon, dass wir den alethischen Relativismus, zumindest so, wie ihn Goodman vertritt, als Resultat einer methodischen Entscheidung auffassen sollten. Das heißt, die Frage lautet weniger, woher Goodman weiß, dass Wahrheit relativ ist, sondern eher, warum Goodman genau diese methodische Entscheidung trifft. Man könnte es auch so ausdrücken, dass eine Konstatierung der konzeptuellen Relativität inklusive der durch sie vorliegenden Widerlegung des metaphysischen Realismus aus der Sicht Putnams und Goodmans der äußerste Punkt ist, bis zu dem die Tatsachen entscheiden. Putnams Haltung zu den Konsequenzen der konzeptuellen Relativität lässt sich nicht als falsch erweisen. Es lässt sich jedoch hinterfragen, wie weit sie uns führt und ob nicht mehr zu verlangen ist von einer brauchbaren Erkenntnistheorie. Für Goodman sind Symbolsysteme die einzig mögliche Weise, an Erkenntnisse zu gelangen. Alle Erkenntnis findet im Medium der Symbolsysteme statt, und diese sind zahlreich und unterschiedlich. Weil jeder von uns viele verschiedene Symbolsysteme nutzt und sich zwischen ihnen bewegt, brauchen wir nach Goodman Wege, um diese untereinander in Beziehung zu setzen.Wenn wir sie aus rein erkenntnistheoretischem Interesse vergleichen oder Erkenntnisse von einem in ein anderes übertragen oder vielleicht eines nach dem Vorbild eines anderen verbessern wollen, müssen wir in der Lage sein, sie und die Inhalte, die sie repräsentieren, in Verbindung zu bringen. Diese Verbindungen können, wie inzwischen klar sein sollte, nicht darüber charakterisiert werden, dass sich zwei Systeme auf dieselben Fakten beziehen, deswegen muss man, metaphorisch gesprochen, nicht nach unten auf die Tatsachen schauen, sondern nach oben auf Übersetzungsrelationen und Vergleichbares. Wie Goodman es einmal ausdrückt: „As meanings vanish in favor of certain relationships among terms, so facts vanish in favor of certain relationships be-
Putnam (1990), x.
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tween versions.“²²⁵ Dabei möchte Goodman, wie das Zitat schon andeutet, keinesfalls gegen Putnam abstrakte Entitäten wie Bedeutungen oder Propositionen einführen, auf die sich Sätze aus unterschiedlichen Systemen gleichermaßen beziehen können. Wenn man einen Widerspruch so definieren wollte, dass ein Satz eine Proposition verneint und ein anderer sie bejaht, würden sich auch bei Goodman keine Widersprüche, da keine Propositionen finden. Vielmehr teilt Goodman Putnams Einstellung, dass die Möglichkeiten, Symbolsysteme in Beziehung zu setzen, vielfältig sind. Man kann reduzieren, übersetzen, relativ interpretieren usw. und es dürfte die Regel sein, dass man zwischen zwei gegebenen komplexen Systemen Verbindungen auf unterschiedliche Arten und sogar die gleiche Art von Verbindung auf unterschiedliche Weisen herstellen kann (Letzteres entspräche Quines Unbestimmtheit der Übersetzung). Aber diese Pluralität – oder, anders gewendet, diese Relativität auf Übersetzungssysteme – macht die Beziehungen zwischen Systemen nicht weniger real. Eines der wichtigsten Dinge, die man lernen muss, wenn man eine relativistische Auffassung – und hier ist nicht nur von Wahrheitstheorien die Rede – vertreten möchte, ist, dass das Beschriebene durch die Relativität nicht weniger real wird. Das ist gerade einer der Kernpunkte von Putnams internem Realismus: Man kann mit gleichem Recht behaupten, dass es Carnaps Gegenstände gibt, wie man behaupten kann, dass es die Gegenstände des polnischen Logikers gibt, und zwar nicht mit gleich wenig, sondern mit gleich viel Recht. Das macht den internen Realismus zu einem Realismus; und ich denke, Goodman könnte diese Einsicht unterschreiben. Doch zurück zum Punkt der widersprüchlichen Wahrheiten: Goodman ist überzeugt, dass es widersprüchliche Wahrheiten in unterschiedlichen Systemen gibt, und legt Beispiele für solche Wahrheiten vor, eines davon ist das oben angesprochene Bewegungsbeispiel, ein anderes bezieht sich z. B. auf die unterschiedlichen Möglichkeiten, Punkte zu definieren. In diesen konkreten Fällen kann man natürlich immer fragen, ob es vernünftig ist, die beiden Systeme so in Beziehung zu setzen, dass die fraglichen Aussagen als widersprüchlich bewertet werden, und der Fall scheint bei keinem hundertprozentig klar zu liegen. Allerdings scheint es auch nicht nötig zu sein, dass man solche klaren Fälle vorlegen kann. Vielmehr würde ich hier vorschlagen, ein weiteres Mal von einer methodischen Entscheidung zu sprechen, denn es ist mit Sicherheit fruchtbarer, den Raum für diese Art von intersystemischen Widersprüchen zu lassen. Sich von vornherein festzulegen, dass sie nicht vorkommen dürfen, wäre dogmatisch und könnte die Entwicklung interessanter Symbolsysteme und Übersetzungssysteme im Keim ersticken, während es keine erheblichen Vorteile daran, Widersprüche
Goodman (1978), 93.
1.6 Der logische Relativismus
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prinzipiell zu unterbinden, zu geben scheint. Insofern erscheint auch Goodmans Optieren für einen alethischen statt eines metaphysischen Relativismus nachvollziehbar, da ihn eben gerade die Verhältnisse unterschiedlicher Symbolsysteme – aus guten Gründen – interessieren und Putnam sich hier schlicht, aufgrund zu vieler Beschreibungsmöglichkeiten, weigert, irgendwelche Beschreibungen für voll zu nehmen.
1.6 Der logische Relativismus Der logische Relativismus ist, genau wie der epistemische Relativismus, ein Bereichsrelativismus von globaler Bedeutung. Da logische Regeln fraglos zu denjenigen gehören, die in epistemischen Rahmen zu erwarten sind, kann man Ersteren auch als einen Teil oder einen Spezialfall des Letzteren auffassen. Eine gesonderte Behandlung bietet sich trotzdem an, nicht nur weil sich für die Logik Probleme stellen, die sich bei anderen epistemischen Vorgaben nicht in derselben Weise finden, sondern auch, weil die Möglichkeit einer relativistischen Logikauffassung entscheidend für die Möglichkeit eines globalen alethischen Relativismus ist. Selbst wenn man die Frage der Wahrheit der logischen Prinzipien selbst ausklammert, ergeben sich aus ihnen unzählige Sätze, die Wahrheit beanspruchen. Hätten diese ihren Wahrheitswert absolut, stünde ein globaler alethischer Relativismus außer Frage.²²⁶ Ähnlich verhält es sich beim epistemischen Relativismus: Wäre die Logik ein ‚harter Kern‘ der in jedem Rahmen vorzukommen hat, verlöre der epistemische Relativismus erheblich an Reichweite. Eine absolute Logik würde also die Möglichkeiten für relativistische Thesen kognitiver Art stark einschränken. Insofern ist die Frage nach dem Status der Logik zentral für die Möglichkeit eines umfassenden und kohärenten Relativismus. Darüber hinaus ist sie eine besonders dringliche Frage, da der der Logik oft zuerkannte epistemologische und ontologische Sonderstatus es geradezu aus-
Dasselbe gilt für den Bedeutungsrelativismus und den metaphysischen Relativismus. Das Verhältnis ist hier geringfügig komplizierter als beim alethischen Relativismus, weshalb dieser als Stellvertreter für die drei globalen Relativismen für den Haupttext ausgewählt wurde. Dass aber für alle drei Beschränkungen aus einer eventuellen absoluten Logik folgen würden, sollte nach der Darstellung der erheblichen Gemeinsamkeiten der drei Thesen klar sein. Grob gesagt würde der Bedeutungsrelativismus auf das Vorhandensein einer Gruppe von Propositionen in jedem Rahmen verpflichtet und der metaphysische Relativismus auf das bestehen bestimmter logischer Verhältnisse innerhalb jedes seiner metaphysischen Modelle. Wie beim alethischen Relativismus würde dies eine globale Version der These unterbinden, Relativität würde zwar nicht verhindert, aber mit klaren, positiv angebbaren Grenzen versehen.
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geschlossen erscheinen lässt, hier auch nur das geringste bisschen Relativität vorzufinden.
1.6.1 Ansatzpunkte für eine relativistische Theorie der Logik Aus dem gerade erwähnten Sonderstatus ergibt sich unmittelbar die Frage, wie man überhaupt zu einer relativistischen Auffassung der Logik, ob nun als selbst relativ oder als Teil eines Rahmens neben anderen,²²⁷ kommt. Die Gründe, aus denen solche Auffassungen vertreten werden, sind durchaus vergleichbar mit denen für andere Formen des Relativismus. Auch im Falle der Logik finden sich die zwei Faktoren der an Kant angelehnten Idee einer Formung der Gegenstände durch das erkennende Subjekt und die des Nebeneinanderbestehens verschiedener Systeme ohne eindeutige Priorisierbarkeit, wobei im Falle der Logik der erste Faktor nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die Idee eines formenden Erkenntnissubjekts spielte zwar in psychologistischen Auffassungen, wie z. B. der Benno Erdmanns, gegen die Frege und Husserl ihre antirelativistischen Argumente entwickelten, eine wichtige Rolle. Aber diese Theorien sind heute in weiten Teilen nur noch von historischem Interesse. Übereinstimmungen mit aktuellen relativistischen Auffassungen auf systematischer Ebene sind zwar vereinzelt zu finden,²²⁸ aber sie sind zu verstreut, und die Grundannahmen sind so unterschiedlich von den meisten modernen Logikauffassungen, dass ein Vergleich mit heutigen Auffassungen zu komplex geraten würde, um hier gewinnbringend zu sein.²²⁹ In der aktuellen Debatte findet sich die Idee eines formenden Erkenntnissubjekts vor allem in der Transformation, die sie durch Carnap und einige seiner
Ob Logik als solche als relativ betrachtet wird oder ob unterschiedliche Logiken als Bestandteile unterschiedlicher Rahmen betrachtet werden, ergibt für die Möglichkeit eines umfassenden Relativismus keinen Unterschied. Deswegen bleibt diese Unterscheidung zunächst außen vor. Einzelne logische Relativismen müssen sich in dieser Frage natürlich festlegen, deshalb wird sie im Zusammenhang mit konkreten Theorieansätzen weiter unten wieder auftauchen. So sieht z. B. Kusch (wie schon Husserl) Erdmann als einen Vertreter der These, dass die Logik Spezies-relativ ist. Vgl. z. B. Kusch (1995), 50; Husserl (1992), § 40. Hier ist wohlgemerkt ausschließlich von einer Aufarbeitung zum Zwecke der Erhellung aktueller relativistischer Auffassungen die Rede. Für breiter angelegte Themen, wie z. B. eine Epistemologie der Logik, könnten psychologistische Theorien m. E. sehr wohl mit Gewinn einbezogen werden. Für einen systematisch orientierten Überblick über den Psychologismus, der auch Gemeinsamkeiten mit aktuellen relativistischen Auffassungen beachtet, siehe Kusch (1995). Eine Auseinandersetzung eines Teilnehmers aktuellerer Relativismusdebatten mit Husserls Vorwürfen gegen Erdmann findet sich in Meiland (1976).
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Zeitgenossen²³⁰ erfahren hat. An die Stelle des erkennenden Subjekts tritt seine Sprache, oder genauer gesagt, die unterschiedlichen Sprachen, die es sich nutzbar machen kann, um die Welt zu erforschen.²³¹ Zu jeder Sprache gehört nach Carnap eine Logik, und diese kann in verschiedenen Sprachen durchaus unterschiedlich aussehen. Diese Auffassung, in Verbindung mit seinem berühmten Toleranzprinzip,²³² macht Carnap zumindest zu einem der ersten logischen Pluralisten.²³³ Doch obwohl sein Toleranzprinzip immer wieder in der Diskussion auftaucht, verläuft diese heute anhand anderer Parameter als die Carnapʼsche. Anstatt für das Entwerfen künstlicher Sprachen zu plädieren, um deren Möglichkeiten zu erforschen (denn dass diese Forschung prinzipiell sinnvoll ist, wird heute auch von den meisten Befürworten einer absoluten Logik anerkannt), finden sich die meisten für einen eventuellen logischen Relativismus interessanten Fragen im Verhältnis von formalem System und natürlichen Sprachen, oder sie betreffen den Status unterschiedlicher vorliegender Systeme. Dies führt unmittelbar zum zweiten Faktor, denn es ist im Falle der Logik in erster Linie das Vorliegen einer Unmenge an unterschiedlichen Systemen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts ausgearbeitet wurden, das relativistische und pluralistische Perspektiven auf die Logik nahelegt. Wie schon beim epistemischen Relativismus ist der Eindruck der Unmöglichkeit, ein System aus logikinternen Gründen (im Gegensatz etwa zu praktischen Erwägungen) und auf nichtzirkuläre Weise vor den anderen auszuzeichnen, die treibende Kraft hinter relativistischen Auffassungen. Allerdings beginnen die für das Projekt eines umfassenden Relativismus interessanten Fragen erst dort, wo keine Beschränkung auf rein logische Damit sind nicht nur andere Mitglieder des Wiener Kreises, sondern z. B. auch C. I. Lewis gemeint. Für eine aufschlussreiche Darstellung der logischen Empiristen als Theoretikern des relativen Apriori siehe Friedman (1999). Es findet sich in seinem Werk Logische Syntax der Sprache und lautet folgendermaßen: „In der Logik gibt es keine Moral. Jeder mag seine Logik, d. h. seine Sprachform, aufbauen, wie er will. Nur muß er, wenn er mit uns diskutieren will, deutlich angeben, wie er es machen will, syntaktische Bestimmungen geben anstatt philosophischer Erläuterungen“ (Carnap (1934), 44). Interessanterweise bezieht sich Feyerabend, in Hinblick auf seine Wissenschaftstheorie als Ganze, positiv auf Carnaps Toleranzprinzip: „[Carnaps] ‚principle of tolerance‘ is pretty close to my own anarchism[.]“ Feyerabend (1977), 362. Hier wird vorsichtig von einem Pluralismus gesprochen, da die Carnapforschung sich keineswegs einig darüber ist, wie tolerant genau Carnap gegenüber abweichenden Logiken war. Während einige die Allgemeingültigkeit des Maßstabs der naturwissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Verwertbarkeit für Carnap betonen, sehen ihn andere, insbesondere aufgrund der Fülle an epistemologisch bedeutsamen Unterscheidungen, die bei ihm als sprachrelativ dargestellt werden, eher als Relativisten. Siehe für eine Lesart der ersten Art z. B. Richardson (1994), für eine der zweiten Art z. B. Friedman (1999).
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Gründe mehr erfolgt. Erst wo Logik an unsere tatsächlichen Erkenntnisbemühungen rückgebunden wird, wo nach der Rolle von Logik in unseren epistemischen Rahmen gefragt wird oder von der Frage, welche Logik die bestehenden inferentiellen Praxen in Alltag und Wissenschaft am besten einfängt, oder welche Logik wir benutzen sollten, die Rede ist, gewinnt der logische Relativismus eine Bedeutung für den globalen Relativismus. Andersherum ausgedrückt: Für einen globalen Absolutismus werden alternative Logiken erst dort zur akuten Bedrohung, wo behauptet wird, dass tatsächlich mehrere Logiken in Benutzung sind oder genutzt werden sollten, alles andere ließe sich als technische Spielerei abtun, die mit der Realität und ihrer Erfassung nicht viel zu tun hat. Eine weitere wichtige Vorbedingung sowohl für die Entwicklung einiger alternativer Logiken als auch für das Aufkommen der Frage, welche Logik am ehesten der ‚Logik der Alltagssprache‘ entspricht, ist die Unzufriedenheit vieler Theoretiker mit bestimmten Eigenschaften der klassischen Logik, die kaum mit dem natürlichsprachlichen Schlussverhalten in Einklang zu bringen sind. Der bekannteste Fall dieser Art ist wohl das Verhalten der materialen Implikatur. ‚Übersetzt‘ man diese mit „wenn … dann …“, erhält man einige schwerverdauliche Resultate. So müsste z. B. der Satz „Wenn der Eiffelturm aus Kaugummi besteht, dann fahren Nilpferde heimlich Fahrrad“ wahr sein. Denn, wie sich leicht an der Wahrheitstafel für die materiale Implikatur ablesen lässt, müsste jedes Konditional mit einer falschen Aussage als Antezedens wahr sein, völlig unabhängig vom Wahrheitswert des Konsequenz und völlig unabhängig davon, ob es eine Verbindung zwischen den beiden gibt.²³⁴ Solche Unstimmigkeiten beweisen noch nicht, dass die klassische Logik nicht der Logik entspricht, die wir im Alltag benutzen, denn sie lassen sich auch anders interpretieren, z. B. mit Hilfe der Griceʼschen konversationalen Implikatur.²³⁵ Trotzdem haben sie einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, die Vormachtstellung der klassischen Logik, verstanden als einzig wahre Logik, aufzuweichen und damit Raum für andere formale Ansätze und Überlegungen zum Verhältnis von Logik, natürlichen Sprachen und Rationalität zu schaffen. Nach diesem kurzen Überblick über die allgemeine Motivationslage hinter relativistischen Überlegungen zur Logik soll nun ein noch sehr junger Ansatz vorgestellt werden, der sich genau in diesem Spannungsfeld bewegt und, obwohl er von seinem Urheber als Pluralismus bezeichnet wird, wichtige Schritte in Richtung eines relativistischen Verständnisses der Logik macht. Denn eines der Zu den Entwicklungen, zu denen die Probleme der materialen Implikatur einen Beitrag geleistet haben, zählen z. B. das strict conditional von C. I. Lewis und die Relevanzlogik von Belnap und Anderson. Vgl. Priest (2001a), 11.
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schwerwiegendsten Hindernisse für eine Ausweitung des Relativismus auf die Logik scheint zu sein, dass es schwerfällt, überhaupt etwas unter logischem Relativismus vorzustellen. Dem soll das relativ ausführliche Besprechen einer konkreten Theorie Abhilfe schaffen. Nachdem die Grundzüge dieser Position dargestellt sind, wird direkt in die Diskussion mit einem wichtigen Vertreter einer gegenteiligen Auffassung eingestiegen, um eine relativistische Auffassung der Logik nicht nur als theoretische Möglichkeit, sondern auch als nicht leicht zu widerlegende Position zu präsentieren.
1.6.2 Bueno 1.6.2.1 Drei Formen des Pluralismus Otávio Bueno ist einer der wenigen Autoren, die sich ausführlich mit der Frage der Pluralität in der Logik beschäftigen und sich deutlich für eine pluralistische Position, die man, wie noch zu zeigen sein wird, sogar als Relativismus bezeichnen kann, ausspricht.²³⁶ Nachdem oben eine Charakterisierung des logischen Relativismus gegeben wurde als sowohl Theorien umfassend, die die Logik selbst relativieren, als auch solche, in denen die Logik als Rahmen, auf den zu relativieren ist, auftritt, ist die erste Frage, die sich stellt, natürlich, was in der Theorie Buenos relativ auf was sein soll. Leider kann aber selbst innerhalb dieser einen Theorie keine einfache Antwort auf diese Frage gegeben werden, denn Buenos Pluralismus umfasst mehrere pluralistische Thesen. Zunächst ist zu beachten, dass Bueno im Anschluss an Priest zwischen drei Formen des logischen Pluralismus unterscheidet.²³⁷
1.6.2.1.1 Pluralismus der reinen Logik Die erste dieser drei, und die für das Verstehen eines umfassenden Relativismus am wenigsten interessante Variante, ist der Pluralismus bzgl. der reinen Logik. Dabei ist reine Logik, von Bueno in Analogie mit der reinen Geometrie gesetzt, die Erforschung formaler Folgerungssysteme ohne Rücksicht auf ihre Anwendbarkeit auf
Die meines Wissens einzige vergleichbar ausgearbeitete und umfassende pluralistische Position ist die von JC Beall und Greg Restall, wie sie sich insbesondere in Beall und Restall (2006) artikuliert. Für eine Kritik an diesem Ansatz, die die Unterschiede zu Bueno klar hervortreten lässt, siehe Bueno und Shalkowski (2009). Ein weiterer beachtenswerter und ausgearbeiteter Ansatz findet sich in Shapiro (2014), er befasst sich jedoch vornehmlich mit logischem Pluralismus im Kontext der Mathematik. Vgl. Bueno (2002), 541 ff.
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oder ihre Beziehung zu Alltagssprache, Rationalität,Wissenschaft etc.²³⁸ Reine Logik beschäftigt sich ausschließlich mit formalen Systemen, nicht mit ihrer Beziehung zur Welt oder auch nur der Frage, ob es eine solche Beziehung gibt. Ein Pluralismus in diesem Bereich besagt dann auch nicht mehr, als dass „there are several pure logics; that is, several purely formal structures that characterize logical consequence.“²³⁹ Diese Form des Pluralismus ist erstens deswegen die am wenigsten interessante für das Thema der vorliegenden Arbeit, weil sie – trotz der erheblichen Rolle, die das Vorhandensein unterschiedlicher Logiken für die Motivation oder sogar die Möglichkeit des Aufkommens relativistischer Positionen spielt – aufgrund der Losgelöstheit der reinen Logik vom ‚Rest der Welt‘ keine eindeutigen Implikationen für die Frage eines globalen Relativismus hat. Darüber hinaus ist sie zwar eine wichtige Bedingung für weitergehende pluralistische Thesen, aber sie muss nicht mehr gegen absolutistische Gegner erkämpft werden.²⁴⁰ „Pure logical pluralism is undeniable and uncontroversial. It is a mathematical fact that several different pure logics have been developed and are currently being studied.“²⁴¹
1.6.2.1.2 Theoretischer Pluralismus Die zweite Form des Pluralismus befasst sich mit den vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten der unterschiedlichen Logiken. „According to the theoretical pluralist, typically there are several logics that can be applied to a given domain – although a given logic is typically more adequate to a certain domain than to others.“²⁴² Sie besteht eigentlich aus zwei Faktoren (im Zitat getrennt durch den Gedankenstrich), die Bueno aber erst in späteren Aufsätzen sauber unterscheidet. Dort bestimmt er den logischen Pluralismus als die These, dass es für einen Bereich mehr als eine angemessene Logik gibt, während er den zweiten Faktor, die These, dass es vom Anwendungsbereich abhängt, welche Logik vorzuziehen ist,
Vgl. Bueno (2002), 542. Bueno (2002), 542 (Hervorhebungen seine). Das ist allerdings selbst noch eine sehr junge Entwicklung, weshalb Bueno auch Priests Verdikt, der Pluralismus in der reinen Logik sei trivial, ablehnt. Vgl. Bueno (2002), 543 f. Bueno (2002), 542 (Hervorhebungen getilgt). Es ist in der Tat nicht leicht ersichtlich, auf welcher Grundlage man einen Pluralismus der reinen Logik angreifen könnte. Eine Möglichkeit wäre eine Weiterführung von Quines Einwand gegen alternative Logiken im Allgemeinen, sie wechselten schlicht das Thema, hin zu einem Bestreiten der Korrektheit der Bezeichnung „Logik“ für alle Logiken außer einer. Diese Strategie ist allerdings nicht besonders erfolgversprechend, da schon Quines ursprünglicher Einwand nicht verfängt, wie weiter unten noch zu zeigen sein wird. Bueno (2002), 542 (Hervorhebungen getilgt).
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als Kontextabhängigkeit bezeichnet.²⁴³ Für diese beiden Thesen lassen sich dann auch eindeutige Formulierungen im Sinne von Kölbels Relativismusdefinition angeben.
1.6.2.1.2.1 Kontextabhängigkeitsthese Zunächst zur Kontextabhängigkeit: Welche Logik zu wählen ist bzw. ob ein Satz aus bestimmten Sätzen folgt, ist relativ auf den Bereich, der betrachtet wird. Diese These mag zunächst nicht besonders spektakulär klingen, doch wenn man bedenkt, dass Gegenstandsunabhängigkeit zu den Kriterien gehört, durch die versucht wurde, die Logik von anderen Disziplinen abzugrenzen,²⁴⁴ wird deutlich, dass diese Auffassung ungewöhnlich ist. Sie gewinnt viel an Plausibilität durch Buenos intensiven Einsatz für eine parakonsistente Lösung im epistemischen Bereich. Bueno schlägt an unterschiedlichen Stellen vor, eine parakonsistente Logik²⁴⁵ zu verwenden, sowohl um Überzeugungsänderungen im Allgemeinen als auch um das Voranschreiten der Forschung bzw. wissenschaftliche Rationalität im Speziellen zu beschreiben.²⁴⁶ Tatsächlich führt Bueno einige Punkte für eine solche Lösung ins Feld, die nicht von der Hand zu weisen sind. So weist er z. B. darauf hin, dass eine parakonsistente Logik, also eine Logik, in der nicht alles aus einem Widerspruch folgt, der Tatsache gerecht wird, dass wir aus widersprüchlichen Theorien nicht willkürlich folgern, obwohl wir von der klassischen Logik her eigentlich dazu berechtigt wären. Dieses Phänomen ließe sich zwar auch durch das Postulieren heuristischer Auswege unter Beibehaltung der klassischen Logik in den Griff bekommen – Bueno spricht hier von einer „compartmentalization strategy“²⁴⁷ –; allerdings ist das Einsetzen einer parakonsistenten Logik als Lösung insofern sauberer, als sie das Problem nicht in die „pragmatics for inference making“²⁴⁸
Vgl. Bueno (2010), 113 f. Logischer Pluralismus und Kontextabhängigkeit sind zwei der drei Grundthesen, die laut Bueno seine empiristische Sicht der Logik ausmachen. Die dritte ist sein non-apriorism, der davon ausgeht, dass empirische Überlegungen eine Rolle bei der Wahl und Weiterentwicklung einer Logik spielen, und der weiter unten noch ausführlicher besprochen werden wird. Vgl. MacFarlane (2000), 69. Genauer gesagt geht es um da Costas C-logics. Im Folgenden wird ohne weitere Differenzierung von „parakonsistenter Logik“ die Rede sein, um die Dinge nicht unnötig zu verkomplizieren. Siehe insbesondere da Costa und Bueno (1998); Bueno (2006) und Bueno und da Costa (2007). Bueno (2007), 663. Bueno (2007), 663.
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verschiebt. Die Sprache bzw. die inferentielle Praxis, in der die klassisch gültige Figur der explosion nicht vorkommt, wird beim Wort genommen, anstatt eine pragmatische Ebene zwischenzuschalten, um sie klassisch zu halten.²⁴⁹ Darüber hinaus ist, nach Bueno, ein „model of scientific rationality“²⁵⁰, dem eine parakonsistente Logik zugrunde liegt, deswegen vorzuziehen, weil es nicht dazu gezwungen ist, das Akzeptieren einer neuen Theorie, die zusammen mit bereits akzeptierten Theorien einen Widerspruch generiert, als Schritt in die Irrationalität zu werten.²⁵¹ Wichtige Theorien – eines von Buenos Beispielen ist Bohrs Atommodell – hatten zunächst diesen Status, und ihr Aufstellen sollte nach Bueno nicht als Schritt in die Irrationalität, auch nicht als vorübergehender, sich später auszahlender, verstanden werden müssen.²⁵² Außerdem kann die Informationsfülle beider Theorien unter parakonsistenten Bedingungen voll für weitere Forschungen ausgeschöpft werden, während eine konsequente Anwendung der klassischen Logik zur Aufgabe einer der beiden Theorien zwingen müsste. Hier legt Bueno also Argumente vor, die zeigen sollen, dass eine bestimmte Logik einem spezifischen Bereich angemessener ist als andere Logiken. Dies verhilft sowohl zu einer willkommenen Illustration seiner Kontextabhängigkeitsthese als auch zu einer Stützung derselben. Schließlich wird in Buenos Argumenten mehr als deutlich, dass er tatsächlich anhand spezifischer Eigenschaften des zu beschreibenden Bereiches, also z. B. der Existenz widersprüchlicher, aber zugleich akzeptierter Theorien in der Wissenschaft, für den
Es verdient Erwähnung, dass eine parakonsistente Erkenntnistheorie einigen prorelativistischen Argumenten den Wind aus den Segeln nehmen könnte bzw. in vielen Fällen als konkurrierende Erklärung derselben Phänomene auftreten könnte. Immerhin wurde oben der Anschein, dass zwei widersprüchliche Aussagen gleichermaßen wahr sind, als das Phänomen, das den drei globalen Relativismen zugrunde liegt, bestimmt. Ein Weg, mit diesem Phänomen umzugehen, der es vielleicht noch mehr beim Wort nimmt als der alethische Relativismus, wäre natürlich eine Theorie, nach der beide Aussagen absolut wahr sind, und keine Relativierung nötig. Dies ginge aber klar über Buenos Überlegungen hinaus, da dieser nicht die These vertritt, dass es wahre Widersprüche gibt. Siehe dazu FN 251. Bueno und da Costa (2007), 384. Vgl. Bueno (2006), 76. Es ist nicht unwichtig, darauf hinzuweisen, dass Bueno nicht behaupten möchte, es gebe wahre widersprüchliche Theorien, er ist kein Dialethist, sondern vertritt eine agnostische Position bzgl. der Existenz wahrer Widersprüche. Ebenso wenig will er bestreiten, dass ein „true maximally consistent system“ das Ziel wissenschaftlicher Forschung sein könnte, er verweist lediglich darauf, dass ein Bestehen auf konsistente Systeme auf jedem Schritt des Weges der falsche Weg (oder sogar kein Weg) dorthin ist. Bueno (2006), 75 (Hervorhebungen getilgt). Vgl. auch Bueno (2006), 74 f.; Bueno und da Costa (1996), 56 f. Vgl. Bueno und da Costa (2007), 385 f.
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Einsatz einer bestimmten Logik in dessen Beschreibung argumentiert.²⁵³ Dass diese Argumente ihn tatsächlich seinem Beweisziel näher bringen und nicht etwa auf den ersten Blick als deplatziert oder am Thema vorbeigehend zu entlarven sind, spricht für eine Abhängigkeit der zu verwendenden Logik vom Anwendungsbereich. Es sollte kurz auf zwei potentielle Gegenargumente eingegangen werden, da diese sich geradezu aufdrängen. Das erste richtet sich dagegen, der parakonsistenten Logik ob ihrer ‚Verdienste‘ um die Beschreibung des Bereichs der Theoriebildung den Titel der Logik dieses Bereiches zukommen zu lassen. Immerhin, so könnte das Argument laufen, gelte die klassische Logik weiterhin für den Bereich der außertheoretischen Realität, während die parakonsistente Logik sich lediglich zur Beschreibung von Theorien und deren Entwicklungen eigne. Damit sei die klassische Logik die wahre Logik, während die parakonsistente Logik lediglich unsere kognitiven Mängel verwalte, als eine Art Behelfslogik für Defizitäres. Dazu ist anzumerken, dass diese Argumentation aus der Sicht eines überzeugten logischen Monisten plausibel wirken mag, lässt man aber einmal die Annahme fallen, dass es eine triumphierende Logik geben muss, wirkt die Hierarchisierung der Bereiche künstlich. Außerdem bringt Bueno von der Frage der Verwendbarkeit der parakonsistenten Logik unabhängige Argumente für seinen Pluralismus vor, die vor allem im Abschnitt zu seinem non-apriorism noch eine Rolle spielen werden. Auch die geradezu verwirrende Vieldeutigkeit des Begriffs der Logik, der oft schon mit der Implikation der Einzigkeit bestückt auftritt, spielt hier hinein, auf diese wird weiter unten noch einzugehen sein. Sie spielt auch bei dem zweiten Gegenargument eine Rolle, das sich gegen die These der Kontextabhängigkeit im Allgemeinen richtet. Es beruht auf dem weiter oben bereits als Kontrast zu Buenos Position angeführten Logikverständnis, nach dem Logik eben gerade in den Schlussregeln besteht, die unabhängig von der Art des zu betrachtenden Gegenstandes gelten. Nach diesem Logikverständnis zeichnete sich eine Regel, die nur bereichsspezifisch gilt, eben dadurch als zu diesem Bereich bzw. zu den spezialisierten Regeln seiner Beschreibung und nicht zur Logik gehörig aus. In diesem Sinne könnte man z. B. sagen, dass Induktion (im nichtmathematischen Sinne) zur Methodik der empirischen Wissenschaften gehört, und eben vielleicht auch, dass ‚Parakonsistenz‘ zur Methodik der Erkenntnis- und Wissenschaftsbeschreibung gehört. Diese Denkweise trifft aber gerade am Beispiel der parakonsistenten Logik auf erhebliche Probleme, schließlich
Hier ist übrigens auch Buenos non-apriorism treffend illustriert, da empirisch gewonnene Erkenntnisse über den Anwendungsbereich in die Wahl der passenden Logik eingehen. Auf diese These zur Erkenntnistheorie der Logik wird weiter unten noch ausführlich eingegangen werden.
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handelt es sich nicht einfach um eine zusätzliche Regel, sondern um eine schwächere Logik als die klassische, d. h., bestimmte Schlüsse, die man nach der klassischen Logik ziehen dürfte, werden untersagt. Nun ist es zwar sehr plausibel, dass in bestimmten Bereichen die für alle Bereiche gültige Logik angereichert werden kann, um mehr Folgerungen anhand bereichsspezifischer Zusammenhänge zu ermöglichen. Aber wieso man noch von einer für alle Bereiche gültigen Logik sprechen sollte, wenn Teile von ihr eben nicht in allen Bereichen gelten, erschließt sich nicht. Das heißt natürlich zunächst nur, dass die klassische Logik in diesem Fall als für alle Bereiche gültige Logik ungeeignet wäre, vielleicht ist die allgemeingültige Logik schlicht schwächer. Doch die Lage kompliziert sich, wenn man bedenkt, dass es viele Logiken gibt, die schwächer sind als die klassische, und das auf unterschiedliche Weise. Gäbe es zusätzlich zu einem parakonsistent zu behandelnden Bereich noch einen, in dem eine Relevanzlogik gilt, einen, für den man intuitionistisch vorgehen muss, und vielleicht noch einen für eine Quantenlogik usw. werden die Überschneidungen der Regelwerke schnell kleiner und kleiner.²⁵⁴
1.6.2.1.2.2 Die These des logischen Pluralismus Der zweite Faktor ist die These, die Bueno in späteren Texten als einzige weiterhin als logischen Pluralismus bezeichnet,²⁵⁵ nämlich die These, dass es typischerweise mehr als eine Logik gibt, die zur Beschreibung eines Bereiches geeignet ist.²⁵⁶ In diesem Fall ist es nicht so offensichtlich, wie die These in Einklang mit der Kölbelʼschen Relativismusdefinition zu bringen ist, da es sich ja zunächst nur um eine Pluralitätsaussage handelt. Eine Verschiebung des Fokus kann hier allerdings Abhilfe schaffen, die durch Buenos Text auch durchaus gedeckt ist. Er spricht nämlich selbst davon, dass durch die Pluralität der zur Verfügung stehenden Logiken die Folgerungsrelation ihren Absolutheitsstatus einbüßt, und sogar von einer resultierenden Relativität: „for the logical pluralist, there is no absolute answer to the question ‚Does this sentence follow from those?‘ Any
Für ein diesem letzten Punkt verwandtes Argument gegen die Pluralismusauffassung von Beall und Restall siehe Bueno und Shalkowski (2009), 299 f. Im Folgenden wird hier von der These des logischen Pluralismus die Rede sein, was nicht zu Verwechslungen mit den drei Formen des logischen Pluralismus führen sollte, da diese ja nicht jeweils in einer einzelnen These zusammengefasst werden und einzeln jeweils eigene Bezeichnungen haben. Buenos Terminus ist „adequate“; was dies genau beinhaltet, wird genauer zu beleuchten sein, wenn es um die Frage geht, ob Buenos Pluralismus ein Relativismus ist. Vgl. Bueno (2002), 544.
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answer is always relative to a logic, and different logics provide adequate answers to such a question.“²⁵⁷ Die These der unterschiedlichen passenden Logiken lässt sich also in eine These der Relativität der Folgerungsrelation auf die gewählte Logik übersetzen.²⁵⁸ Die Logik wird zum Rahmen, auf den die Folgerungsrelation relativ ist, während sie im Falle der Kontextabhängigkeit noch selbst relativiert wurde.²⁵⁹ Buenos theoretischer Pluralismus ist also gewissermaßen zweistufig: Zunächst wird, relativ auf einen Bereich, festgestellt, welche Logiken angemessen sind und welche nicht, es wird aber in der Regel mehr als eine angemessene Logik geben, deswegen muss in einem zweiten Schritt eine dieser Logiken ausgewählt werden, um die Folgerungsrelation des Bereiches eindeutig festzulegen. Zwar sind beide Stufen aus der Sicht eines globalen Relativismus interessant, allerdings scheint die erste Stufe allein nicht geeignet zu sein, eine Ausweitung des Relativismus auf das Gebiet der Logik ohne extensive weitere Argumentation zu stützen. Zu groß ist hier die Verlockung, die Kontextabhängigkeit bzw. die Bereichsrelativität der Logik als eine mit Absolutheitsanspruch festschreibbare Größe zu betrachten. Hier ergibt sich wiederum, wie schon beim epistemischen und beim semantischen Relativismus, die Gefahr eines alle anderen Rahmen umfassenden Superrahmens absoluter Gültigkeit, der die Relativität auffängt und sie in ein bloßes Nebeneinander unterschiedlicher Methoden für unterschiedliche Gegenstände übersetzt.²⁶⁰
Bueno (2002), 537 (Hervorhebungen D. S.). Dass hier von einer gewählten Logik die Rede ist, sollte nicht so verstanden werden, dass hier Willkür am Werke ist. Dass es mehrere einem Bereich angemessene Logiken gibt, heißt nicht, dass man keine guten Gründe haben kann, sich für eine von ihnen zu entscheiden. So könnte z. B. eine der Logiken für den Zweck, den man mit der Beschreibung verfolgt, geeigneter sein, indem sie z. B. leichter an Logiklernende zu vermitteln ist oder mehr Überschneidungen mit einer anderen Logik bietet, die man für einen anderen Bereich einsetzt; oder sie könnte schlicht eines der pragmatischen Kriterien der Theoriewahl, auf das in einer bestimmten Beschreibung besonders viel Wert gelegt wird, in besonderem Maße erfüllen. Auf die Frage von Auswahlkriterien, Willkür etc. wird unten noch näher eingegangen werden. Es ist offensichtlich, dass eine Relativierung der Logik eine Relativierung der Folgerungsrelation zur Folge hat, sofern diese eben von der Logik abhängt. Deswegen wurde auch bei der Kontextabhängigkeit bereits eine alternative Formulierung, die dies berücksichtigt, angeboten. Andersherum lässt sich die hier besprochene These vor allem deswegen nicht ohne weiteres ummünzen, weil Bueno eben keinen Rahmen für die Auswahl einer der angemessenen Logiken benennt, sondern nur von einer Pluralität spricht. M. E. ist das zwar nicht die Richtung, in die Buenos Schriften weisen, aber es gibt kaum Anhaltspunkte in die eine oder in die andere in seinen Texten, und somit wäre die Frage nur durch eine detaillierte Exegese und eine systematische Weiterführung des Ansatzes zu beantworten. Das
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Denkt man die These der Kontextabhängigkeit von einem alethischen oder metaphysischen Relativismus aus, scheint diese Gefahr zwar zu verschwinden, denn die Abgrenzungen der Gegenstandsbereiche und die Beschreibungen der Gegenstände, die ihre speziellen ‚logischen Bedürfnisse‘ artikulieren, wären so selbst relativ. Allerdings müsste man dafür ja gerade solche Theorien bemühen, deren Möglichkeit, global zu gelten, erst noch durch einen nachvollziehbaren Weg zu einer Auffassung relativer Logik zu belegen ist. Dieses Vorgehen wäre zwar nicht unbedingt zirkulär, solange Thesen zur logischen Relativität explizit ausgeklammert werden, aber doch methodisch fragwürdig. Schließlich sind die Argumente für solche Relativismen typischerweise so allgemeiner Natur, dass sie, wenn sie denn schlagend sein sollten, auf eine globale These hinauslaufen und somit auch die Logik miterfassen müssten.Von einem vorläufig, also für die Dauer der Debatte, als nicht global gedachten Relativismus aus zu argumentieren, wäre also unsauber. Deswegen spielt diese zweite Stufe eine besonders wichtige Rolle für die Möglichkeit eines globalen Relativismus. Die Frage, ob sie kohärent zu begründen und zu verteidigen ist, soll in den folgenden Abschnitten diskutiert werden. Zunächst gilt es jedoch, sich der dritten Form des Pluralismus, die Bueno vorstellt, zuzuwenden.
1.6.2.1.3 Kanonischer Pluralismus Diese dritte Form nennt Bueno, wiederum in Anlehnung an Priest, kanonischen Pluralismus. Die Bezeichnung rührt daher, dass sich diese dritte Form des Pluralismus auf die kanonische Verwendung der Logik bezieht, also die Beschreibung von Schlüssen in natürlichen Sprachen, insbesondere in der Alltagssprache, wenn man so will, die Beschreibung von Rationalität.²⁶¹ Genau genommen ist dieser kanonische Pluralismus lediglich ein Spezialfall des theoretischen: Ein Bereich wird abgegrenzt, es wird eine auf ihn passende Logik gesucht, und es gibt mehrere Logiken, die den Anforderungen gerecht werden. Allerdings ist der kanonische Pluralismus gerade wegen seines speziellen Anwendungsgebietes interessant. Nach einer Buenos Meinung nach „old fashioned“²⁶² Auffassung von Logik erschöpft sich die Aufgabe der Logik als Disziplin in genau diesem Gebiet: Sie soll eine formale Theorie der Rationalität, ein Abbild menschlichen Denkens, ein Spiegel unserer kognitiven Kapazitäten, oder wie man es sonst aufgrund von
kann hier weder geleistet werden, noch ist es notwendig, da beide Stufen zusammengenommen nicht derselben Gefahr ausgesetzt sind. Bueno (2002), 542 f. Bueno und da Costa (1996), 50.
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anderweitigen theoretischen Vorlieben gerne formuliert sehen möchte, sein.²⁶³ Gerade diese Logikauffassung spielt eine wichtige Rolle bei der bisweilen aufkommenden Behauptung, dass schon der Gedanke an eine Relativität der Logik widersprüchlich sei. Die Logik scheint zu tief zu liegen, zu viel scheint auf ihr zu beruhen, als dass eine solche Vorstellung Sinn ergeben könnte. Zunächst einmal ist Bueno darin recht zu geben, dass diese Vorstellung von Logik recht altmodisch ist (weiter unten wird noch kurz von verschiedenen Verwendungen des Wortes „Logik“ die Rede sein, dort wird dieser Logikkonzeption hoffentlich einigermaßen zu ihrem Recht verholfen werden), denn meint man mit „Logik“ die Disziplin der Logik, wie sie heute besteht, ist seine Einschätzung uneingeschränkt richtig. Nichtsdestotrotz sieht auch Bueno die Beschreibung der Folgerungsrelation in natürlichen Sprachen als legitime Aufgabe der Logik an, wenn auch bei weitem nicht als die einzige. Für ihn ist sie eben ein Anwendungsfall der Logik, während ein Vertreter der fraglichen Logikauffassung wohl schon die Unterscheidung zwischen reiner und angewandter Logik anders ziehen würde als Bueno (z. B. als Unterscheidung formaler Logik, die aber bereits die Aufgabe hat, unsere Denkstrukturen o. Ä. abzubilden auf der reinen Seite und der Analyse konkreter natürlichsprachlicher Argumente auf der angewandten Seite). Man könnte meinen, wenn es sich nur um einen Anwendungsfall unter vielen handelte, wäre dieses Gebiet der Logik für Buenos Theorie als ganze relativ unwichtig. Allerdings macht die Tatsache, dass sich so fundamentale Einwände gegen einen logischen Pluralismus oder Relativismus aus dieser Sichtweise der Logik ergeben, dieses spezielle Anwendungsgebiet sowohl für Buenos erkenntnistheoretische Überlegungen zur Logik, als auch für die Frage, ob ein globaler Relativismus die Widerstände des Anscheins absoluter Wahrheit in der Logik überwinden kann, relevant. Nicht zu vergessen, dass sich dieser Anschein gerade zu einem nicht unerheblichen Anteil aus der entsprechenden Logikkonzeption speist.²⁶⁴
1.6.2.2 Gründe für den Pluralismus 1.6.2.2.1 Unterbestimmtheit Das zweifellos wichtigste Argument für die These des logischen Pluralismus ist das Phänomen der logischen Unterbestimmtheit. Wie bei Unterbestimmtheit in Diese Denkweise spielt mich Sicherheit auch in Priests Beurteilung, dass der kanonische Pluralismus die einzige Form von Pluralismus sei, die dem logischen Monismus gefährlich werden könne, hinein. Vgl. Priest (2001b). Darüber hinaus, so sollte man hinzufügen, natürlich auch aus der anhängigen Rationalitätskonzeption.
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anderen Bereichen, besteht es darin, dass die Daten nicht ausreichen, um eine Theorie, in diesem Falle eine Logik, vor anderen Theorien auszuzeichnen, sie sind mit mehreren Theorien kompatibel. Die Daten sind in diesem Fall Schlüsse, je nach theoretischer und methodischer Ausrichtung, empirisch erfasste Schlüsse, die tatsächlich benutzt werden, Schlüsse, die der Theoretiker für gültig hält, oder auch Schlüsse, die der Theoretiker für diejenigen hält, die tatsächlich benutzt werden.²⁶⁵ Als Rohmaterial hat man also eine Anzahl an Schlüssen, die von der zu erarbeitenden oder auszuwählenden Logik als gültig ausgewiesen werden sollen, und natürlich auch solche, die als nicht gültig bewertet werden sollen. Dieses Material wird in einer Logik systematisiert, auf möglichst wenige und einfache Regeln heruntergebrochen. Die Daten sind dabei natürlich nicht vollkommen unantastbar, es kann durchaus vorkommen, dass man bereit ist, einen vorher für gültig gehaltenen Schluss zugunsten einer einfacheren, kohärenteren Logik als Fehlschluss auszuweisen. Die Unterbestimmtheit besteht nun darin, dass es in der Regel mehrere Logiken gibt, die in der geforderten Übereinstimmung mit dem zu systematisierenden Bereich stehen. Als Unterbestimmtheitsthese ist sie also erst einmal nur eine Präzisierung der These des logischen Pluralismus,²⁶⁶ die interessante Frage ist, wieso wir davon ausgehen sollten, dass eine solche Unterbestimmtheit besteht bzw. wieso wir davon ausgehen sollten, dass es das Phänomen der logischen Unterbestimmtheit gibt. Bueno argumentiert hier über Beispiele. Zentral ist das Beispiel von da Costas C-logics. They form a[n infinite] hierarchy of successively weaker logics, in the sense that a contradiction that trivializes one logic in the sequence, will not trivialize later logics in the sequence […]. As a result, if one of these logics can be used to accommodate an inconsistency in the domain under consideration, then all weaker logics in the sequence also can.²⁶⁷
Der letzte Teil der Aufzählung klingt vielleicht ein bisschen abschätzig, aber dieses Vorgehen muss kein schlechtes sein, solange es reflektiert erfolgt. Da die Aufstellung einer (angewandten) Logik immer auch ein normatives Element umfasst, könnte man sagen, ein so verfahrender Theoretiker bringt eben seine Auffassung dazu, welche Schlüsse als beabsichtigt oder legitim und welche als Fehler gewertet werden sollten, schon auf dieser frühen Stufe der Theoriebildung ein. Solange man sich darüber klar und neuen Informationen gegenüber offen ist, stellt das nicht unbedingt ein Problem dar. Bueno selbst unterscheidet auch nicht zwischen den beiden Thesen. M. E. ist die Trennung der beiden aber sinnvoll, da ein logischer Pluralismus auch auf völlig andere Weise motiviert werden könnte. Dass die beiden Aussagen in Buenos Theorie so nah beieinander liegen, resultiert aus seiner Auffassung von Logik und ihrer epistemischen Struktur sowie aus seiner Kontextabhängigkeitsthese. Bueno (2010), 110.
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Dieser Punkt wird den Verfechter eines logischen Monismus und Anhänger der klassischen Logik kalt lassen, allerdings sind nicht nur die Schnittmengen der von den C-logics legitimierten Schlüsse erheblich, sondern auch die mit klassisch gültigen Schlüssen: „if the reasoning S […] does not include negation, there will be infinitely many paraconsistent logics [nämlich mindestens die C-logics; D. S.] which will be adequate for it, in the sense that the consequence relation found in S is licensed by such logics.“²⁶⁸ Die Situation bzgl. vieler anderer nichtklassischer Logiken ist ähnlich, die meisten klassischen Schlüsse werden anerkannt, nur bei einer geringen Anzahl von Operatoren oder Schlussregeln gibt es Abweichungen.²⁶⁹ Andererseits sind es natürlich gerade die Abweichungen, die es nötig machen, von verschiedenen Logiken zu sprechen, deswegen könnte ein Vertreter einer monistischen Auffassung der Logik die Aussicht betonen, dass es bzgl. aller hinreichend großen Sammlungen von Schlüssen keine Unterbestimmtheit gebe. Anders gesagt, er könnte die Position beziehen, dass logische Unterbestimmtheit ein Phänomen ist, das nur einzelne Schlüsse und einigermaßen überschaubare, vielleicht sogar willkürlich zusammengestellte (wie im oben angeführten Falle durch Ausschluss der Negation) Sammlungen von Schlüssen betrifft. Bei allem, was man legitimerweise einen Bereich nennen könne, und insbesondere bei der Alltagssprache genügten aber die relevanten Daten, um nur eine Logik als die richtige auszuzeichnen. Dieser Gegner der logischen Unterbestimmtheit könnte dann natürlich in keinem Bereich eine der C-logics für angemessen erklären, denn bei diesen ist aufgrund der sehr geringen Unterschiede die Lage eindeutig, aber das sollte zu verschmerzen sein. Der Weg über die Unterbestimmtheit liefert also keinen schlagenden Beweis für einen logischen Pluralismus, vielmehr sind die von Bueno angeführten Beispiele Indizien, die in Richtung eines solchen Plura-
Bueno (2010), 113. Damit sind zunächst nur solche Logiken gemeint, die auch gemeinhin als mit der klassischen Logik in Konkurrenz stehend aufgefasst werden, also solche, die irgendeine klassische Regel ablehnen. Allerdings können durch den Fokus auf angewandte Logiken, solche die auf Ebene der reinen Logik lediglich Ergänzungen der klassischen Logik vornehmen (also z. B. Modallogiken), indem sie zusätzliches Vokabular einführen und deswegen eben nicht als ‚Konkurrenten‘ der klassischen Logik gelten, zu solchen werden. Ein Beispiel in diesem Sinne ergibt sich aus den oben erwähnten Problemen, die materiale Implikatur mit dem alltagssprachlichen „wenn … dann …“ in Einklang zu bringen. Statt dieser könnte man z. B. das strict conditional, ein modallogisches Konditional, als Entsprechung des „wenn … dann …“ vorschlagen. Dadurch schüfe man eine Konkurrenzsituation zwischen den beiden Logiken, eine Konkurrenz um die Beschreibungshoheit über dieses Stück Alltagssprache. Allerdings verlassen wir hier das Feld der Unterbestimmtheit, denn diese beiden Rekonstruktionen bringen klar unterscheidbare Ergebnisse.
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lismus deuten, sie machen ihn plausibler, sind aber weit davon entfernt, ihn zur einzig möglichen Theorie der Logik zu erheben. Bueno spricht auch selbst eher vorsichtig davon, dass „[c]ases such as this [die Überschneidung von klassischer Logik und C-logics; D. S.] clearly support logical pluralism“.²⁷⁰ Eine weitere Einsicht sollte aus der Diskussion der logischen Unterbestimmtheit unbedingt mitgenommen werden: Die Auseinandersetzung zwischen logischem Monismus und Pluralismus spielt sich, trotz ihres spektakulären Anscheins, vornehmlich im Kleinen ab. Die Situation hier ähnelt stark der Diskussion um die globalen Relativismen, in der, wie oben betont wurde, die entscheidenden Problemstellungen erst dort auftauchen, wo z. B. die Frage, ob zwei Sätze dasselbe oder Unterschiedliches bedeuten, selbst zu einer schwer zu beantwortenden wird.²⁷¹ Im Falle der Auseinandersetzung um den logischen Pluralismus beinhaltet sie Fragen wie die, wie viele Revisionen genau eine Logik denn nun am Datenmaterial ihres Bereiches vornehmen darf, und andersherum natürlich auch, wie viel Abweichung es denn genau braucht, um von verschiedenen Logiken zu sprechen, und wie diese beiden Quantitäten sich zueinander verhalten. Sie spielt sich in den Zwischenräumen des Weniger-als-eindeutigen in der Interpretation von Sprache in Logik ab; und gerade erst die Überschneidungen nichtklassischer mit klassischen Systemen (egal, ob diese von den entsprechenden Autoren eher als klein abgetan oder als groß hervorgehoben werden) lassen sie als relevant für die ‚großen Fragen‘ der Rationalität erscheinen, denn nicht wenige alltägliche Schlüsse lassen sich ganz klar klassisch behandeln. Insofern ist hier, wie bei vielen anderen Relativismen (und insbesondere den globalen), die große inhaltliche oder praktische Revision, die oft als Konsequenz solcher Theorien befürchtet wird, nicht in Aussicht. Es handelt sich um eine Theorie über den Status von Theorien, und ‚spektakuläre‘ Neuerungen sind einzig auf dieser Ebene zu erwarten.
1.6.2.2.2 Non-apriorism als Erkenntnistheorie der Logik Ein weiteres wichtiges Element in Buenos Argumentation für seinen logischen Pluralismus ist sein non-apriorism, also seine Haltung, nach der die angewandte Logik nicht a priori ist, sondern aufgrund neuer, nichtlogischer Informationen revidierbar. Erinnert man sich an Buenos These der Kontextabhängigkeit, ergibt sich diese Position ganz natürlich, denn nur an Informationen über den spezifischen Bereich – ob nun in Form von Informationen über tatsächlich gezogene
Bueno (2010), 113. Siehe Abschnitt 1.5.
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Schlüsse oder über die Gegenstände, mit denen man es innerhalb des Bereiches zu tun hat – lässt sich ermessen, ob eine bestimmte Logik auf den Bereich passt. So beruhte z. B. Buenos Plädoyer für eine Anwendung parakonsistenter Logik auf Forschungsprozesse auf den Tatsachen, dass es Widersprüche zwischen wissenschaftlichen Theorien gibt, dass aber weiter mit ihnen gearbeitet wird, ohne Beliebiges abzuleiten, und dass ein solches Vorgehen vorteilhaft ist, weil sonst ein erheblicher Informationsverlust in Kauf zu nehmen wäre. Insofern ist die Annahme, dass empirisch zu erlangendes Material überhaupt eine Rolle in der Logik spielen kann und es in der Auswahl eines logischen Systems auch bisweilen tun sollte, ein wichtiger Bestandteil der Kontextabhängigkeitsthese. Aber auch zu der These des logischen Pluralismus, die, wie oben festgestellt wurde, eine besonders wichtige Rolle für die Frage einer globalen Anwendbarkeit des Relativismus spielt, steht der non-apriorism in enger Verbindung. Denn viele gängige Auffassungen des Apriori, wie z. B. die im nächsten Abschnitt mit relativistischen oder pluralistischen Positionen zu kontrastierende, sind mit der oben beschriebenen Form von logischer Unterbestimmtheit nicht vereinbar. Nonapriorism ist für viele zunächst eine völlig kontraintuitive Auffassung, deswegen soll nun zunächst dieser wichtige Stützpfeiler von Buenos Pluralismus in enger Auseinandersetzung mit einigen naheliegenden und einigen subtileren Einwänden vorgestellt werden, um ihn als nicht ohne weiteres zu verwerfende Position herauszustellen und ein tieferes Verständnis der Auffassung selbst und ihrer Motivation zu erlangen.
1.6.2.2.2.1 Schwierigkeiten mit dem Logikbegriff Es gibt, wie oben schon erwähnt, zumindest eine verbreitete Auffassung von Logik, die der Möglichkeit, dass A-posteriori-Faktoren hier eine Rolle spielen könnten, diametral entgegensteht. Nach dieser Auffassung ist Logik zuständig für die fundamentalen Gesetze des Denkens, für die Regeln von Rationalität als solcher, und insofern a priori (und nur a priori) zugänglich, unveränderlich und absolut. Dieser Auffassung steht eine bestimmte Verwendungsweise des Wortes „Logik“ nahe, die darunter die fundamentalen Regeln entweder des Denkens als solchem oder (dies aber oft nur metaphorisch) eines bestimmten Bereiches kognitiver Aktivität versteht (wie z. B. in „die Logik der Wissenschaften“). Dies sind m. E. die beiden wichtigsten Quellen für den verbreiteten Eindruck, eine relativistische oder pluralistische Auffassung von Logik müsse widersprüchlich sein. Schließlich, so könnte man elaborieren, braucht jede intellektuelle Anstrengung Regeln (der Deduktion, der Rationalität etc.) als Grundlage, um eben eine solche zu sein und nicht eine völlig andere Art von ‚Aktivität‘ (die Illusion eines Gedankens, Wahnsinn etc.).
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Dieser Motivation aus der Notwendigkeit von Regeln heraus kann der logische Relativist oder Pluralist auch folgen; er bestreitet allerdings, dass daraus folgt, es müsse eine einzige, a priori für alle Bereiche feststellbare Logik geben; der Ausdruck „die eine wahre und ewige Logik, die allem unserem Denken zugrunde liegt“ hat für ihn schlicht keinen Referenten. Stattdessen sieht er diese Bedeutung von Logik bzw. ihre Grundlegungsfunktion als eine notwendige Rolle an, die aber unterschiedlich ausgefüllt werden kann.²⁷² Darüber hinaus sollte eine relativistische oder pluralistische Position zwei andere Verwendungsweisen des Logikbegriffes stark machen, nämlich den der Logik als philosophischer Disziplin, die ganz offensichtlich noch andere Dinge tut, als nach der Tiefenstruktur des menschlichen Geistes zu fahnden, und den einer Logik als eines formalen Systems, von denen es ebenso offensichtlich mehrere gibt. Es sind die formalen Systeme, die in Buenos Theorie (deren wichtigstes Thema wohlgemerkt die angewandte Logik ist) als relativierte (Kontextabhängigkeitsthese) und als Rahmen (These des logischen Pluralismus) auftreten; und sie sind es auch, die die oben erwähnte Rolle des Regelwerkes ausfüllen müssen bzw. dies ist die Rolle, die ihnen in ihren spezifischen Kontexten zukommt. Zieht man diese drei Verwendungsweisen des Wortes „Logik“ in Betracht und nimmt Notiz davon, dass die Auffassung von Logik als Erforschung der Regeln der Rationalität nicht die einzig mögliche ist, nimmt der Eindruck des Widersprüchlichen angesichts der Möglichkeit aposteriorischer Erwägungen im Bereich der Logik schnell ab.
1.6.2.2.2.2 Fallibilität und Relativität Diese ohnehin schon komplexe Problemlage wird nicht vereinfacht dadurch, dass oftmals nicht sauber zwischen a priori, notwendig, epistemisch notwendig und absolut auf der einen Seite und a posteriori, kontingent etc. auf der anderen Seite getrennt wird. Das scheint auch nicht nur ein Defekt der jeweiligen Texte und Argumente zu sein, sondern gerade im Bereich der Logik sind diese Konzepte aufs engste miteinander verwoben und deswegen von der Sache her oftmals nicht klar auseinanderzuhalten. Auch Buenos Einlassung, dass seine Thesen der Kontextabhängigkeit, des logischen Pluralismus und des non-apriorism eng zusammenhängen, weist in diese Richtung.²⁷³ Es kann hier natürlich nicht versucht werden, dieses Begriffsgeflecht auch nur in Bezug auf die Logik komplett zu entwirren. Trotzdem ist es wichtig, zumindest auf einige potentielle Verwechslungen, Verwirrungen usw., die in der Relativismusdebatte auch in Bezug auf andere Bereiche
Siehe dazu auch Abschnitt 1.6.2.2.2.5 und 1.6.2.2.2.6. Vgl. Bueno (2010), 113.
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vorkommen, hinzuweisen und zu versuchen, dadurch ein Gefühl dafür zu bekommen, worauf Buenos non-apriorism genau hinausläuft. Zu diesem Zweck möchte ich der Position Buenos die Position eines anderen Autors gegenüberstellen, und zwar die von Hartry Field. Field vertritt in vielen Punkten ähnliche Positionen wie Bueno. Er wird häufig als Relativist gesehen, und zumindest ein epistemischer Relativismus spricht tatsächlich aus vielen seiner Äußerungen. Allerdings gibt es einen gewichtigen Unterschied: Field plädiert für eine Sicht der (klassischen) Logik als a priori. Trotzdem sieht er uns, im Gegensatz zu vielen Vertretern dieser These, auch in Fragen der Logik als fallibel an. Diese Kombination von weitgehender Übereinstimmung – vor allem in einer Frage, nämlich der der Fallibilität, die oft mit der Frage der Relativität vermischt wird – erlaubt es, dass in der Konfrontation beider Sichtweisen sehr klar heraustritt, was das Besondere am logischen non-apriorism ist. Auf die Unterscheidung von Fallibilität und Relativität sollte bestanden werden. Argumente für Erstere werden häufig für Argumente für Letztere gehalten, sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern des Relativismus. Die Häufigkeit dieser Verwechslung ist wohl darauf zurückzuführen, dass man beide Positionen sehr grob zusammenfassen kann als: „Es könnte aber auch anders sein.“ Allerdings hat das „könnte“ in beiden Fällen nicht dieselbe Bedeutung. Während es im Falle der Fallibilität bedeutet, dass ein Irrtum möglich ist, heißt es im Falle der Relativität, dass es sich innerhalb eines anderen Rahmens anders verhalten könnte, oder auch, dass man einen Rahmen hätte benutzen können, in dem es sich anders verhält. Beide Phänomene müssen schon deswegen getrennt werden, weil sonst unter relativistischen Bedingungen kein Platz mehr für Irrtümer wäre, jedenfalls keinesfalls innerhalb eines Rahmens. Wäre die einzige mögliche Form des Irrtums aber die eines Irrtums über den Rahmen, in dem man sich bewegt oder bewegen sollte, schlösse sich sofort die Frage an, ob dies denn nicht als ein Irrtum innerhalb des Rahmens, der zur Rahmenbeurteilung oder -wahl benutzt wird, gelten müsste; insofern wäre eine solche Sicht des Irrtums, zumindest in Verbindung mit einem globalen Relativismus, inkonsistent. Der Wegfall des ‚ganz normalen‘ Irrtums würde noch auf einige andere Weisen zu einer völlig unplausiblen Auffassung menschlicher Erkenntnisbemühungen führen, schließlich müssten dann sämtliche Meinungsunterschiede auf unterschiedlichen Rahmen beruhen, und Meinungsänderungen wären nur als Rahmenwechsel möglich. Außerdem müsste man sich fragen, warum wir in diesem Falle nicht durch ein bisschen Nachdenken alles wüssten, was es innerhalb eines bestimmten Rahmens zu wissen gibt, sobald dieser klar festgelegt ist. Kurz gesagt: Der Relativismus braucht Fallibilität
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innerhalb seiner Rahmen.²⁷⁴ Insofern können pro-fallibilistische Argumente keine prorelativistischen Argumente sein, genauer gesagt keine vollständigen. Sie sind wichtig für die Widerlegung bestimmter Gegenpositionen, in denen Infallibilismus in Bezug auf bestimmte Wahrheiten (z. B. logische) und Absolutismus einander stützen, wie z. B. in bestimmten Formen des Fundamentalismus und vielen alteingesessenen Logikauffassungen. Sie helfen, ein grundlegend anderes Bild der Erkenntnis zu zeichnen als in solchen Theorien üblich, aber sie tragen nicht den ganzen Weg zum Relativismus. Insbesondere ist, da heute eine fallibilistische Grundhaltung weit verbreitet sogar in Bezug auf Logik ist, der fallibilistische Absolutist der interessantere Gegner für den Relativisten. Dasselbe gilt für den fallibilistischen Aprioristen in Bezug auf Buenos nonapriorism, denn angesichts des heutigen Diskussionsstandes in der Erkenntnistheorie kann man wohl behaupten, dass logische Infallibilisten zu einfache Gegner sind. Schließlich zeigen sowohl die Divergenzen in der heutigen Logik als auch die historische Entwicklung der Logik, dass man an Infallibilität nur dann festhalten kann, wenn man die entsprechende Fallibilität auf die Frage verschiebt, was denn nun zur Logik zu zählen ist und was nicht. Das ist jedoch nicht der einzige Vorteil einer solchen Konfrontation bzw. nicht der einzige Grund, warum sie hier angeführt wird, zwei weitere Faktoren sind relevant: Erstens ist das Problem der Abgrenzung von Fallibilität und Relativität wichtig für ein klares Bild relativistischer Thesen im Allgemeinen, und zweitens besteht ein erheblicher Teil des Argumentierens für eine philosophische These in der Auseinandersetzung mit starken und treffenden Einwänden. Insofern trägt das Folgende auch zur Stützung von Buenos erkenntnistheoretischem Modell bei, denn gerade weil die Theorie Fields in vielen Dingen so nah an der von Bueno ist, sind seine Einwände gegen den non-apriorism stark und treffend.
1.6.2.2.2.3 Überschneidungen und Unterschiede zwischen den Auffassungen von Bueno und Field Die Positionen der beiden Autoren sind, abgesehen eben von der Frage nach dem Status der Logik, nämlich eigentlich sehr ähnlich, was einen Blick auf die Kernargumente erst lohnend macht. Beide Autoren sind epistemische Pluralisten und betrachten Logik als einen integralen Bestandteil von Systemen, die es uns ermöglichen, Erkenntnisse zu gewinnen. Außerdem haben beide eine pragmatische, vielleicht sogar am besten als instrumentalistisch zu bezeichnende Sicht der
Genau auf dieser Grundlage wird im Folgenden auch der radikale Relativismus, den Platon in der Theorie des Protagoras sieht, kritisiert werden. Siehe dazu Abschnitt 1.7.2.2 und 2.1.
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Rolle der Logik innerhalb solcher Systeme.²⁷⁵ Bei Bueno zeigt sich dies deutlich in seiner Betonung der erheblichen Rolle, die pragmatische Kriterien in der Logikauswahl zu spielen haben, und in der Werkzeugmetaphorik, die er immer wieder bzgl. der Logik verwendet.²⁷⁶ Bei Field wird sie über die Begründung des A-prioriStatus der Logik aus dem Mangel an brauchbaren alternativen epistemischen Rahmen, die die (klassische) Logik nicht als a priori behandeln, zum entscheidenden Theoriebestandteil.²⁷⁷ Außerdem sind beide der Auffassung, dass der Gegenstand der Diskussion nur sein kann, ob sich logische Überzeugungen aus guten empirischen Gründen revidieren lassen,²⁷⁸ nicht aber, ob logische Prinzipien vor ihrer Benutzung durch solche Gründe gerechtfertigt werden müssen. Bei Field finden sich nun zwei Argumentationsstränge²⁷⁹ gegen eine Aberkennung des apriorischen Status der Logik.²⁸⁰ Der erste greift die Einordnung von möglichen Änderungen (Field sieht sich ja als logischen Fallibilisten) der logischen Prinzipien als empirisch begründete an, indem er sie erstens als gleichermaßen auf rein konzeptueller Ebene erreichbar und zweitens als Veränderungen unseres epistemischen Rahmens anstatt als Meinungsänderungen innerhalb des Rahmens darstellt. Beide Punkte sind wichtig, denn es ist eine Tatsache, dass es empirisch inspirierte Vorschläge zu einer Revision der Logik gegeben hat (Fields Beispiel sind Quantenlogiken); und die (angesichts realer logischer Überzeugungsänderungen aufkommende) Schwierigkeit, wie es möglich sein sollte, dass ein als a priori veranschlagtes Prinzip gleichzeitig zum Rahmen gehöre (und damit zu den Bewertungsgrundlagen und nicht zum zu Bewertenden) und als falsch ausgewiesen werde, muss umgangen werden. Hier scheint nur ein Rahmenwechsel in Frage zu kommen. Es ist genau diese Spannung zwischen dem Voraussetzungscharakter des Rahmens und der durch eine empiristische Sicht der Logik versprochenen
Field nennt solche Systeme evidential systems. Vgl. Field (1996), 362. Vgl. z. B. Bueno (2002), 554; (2006), 85; (2010), 106. Vgl. Field (1998), 11 ff. Die Ausdrucksweise der Revisionen im Bereich der Logik geht natürlich auf Quine und seinen Aufsatz „Two Dogmas of Empiricism“ zurück. Auf Quine wird noch zurückzukommen sein, da er einige der interessantesten Argumente in die Debatte eingebracht hat, allerdings mit einem Schwerpunkt auf seinen kritischen Äußerungen zu alternativen Logiken. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass diese Aufteilung in zwei unterschiedliche Argumentationsstränge und der Aufbau der folgenden Darstellung in weiten Teilen weder der argumentativen Abfolge und Einteilung bei Field noch der Darstellung von Fields Argumentation bei Bueno entspricht. Die Thesen werden vielmehr in einer Form aufbereitet, die einerseits den Vergleich mit Buenos Vorschlägen erleichtern soll und die andererseits die m. E. stärksten Argumente Fields herausstellt. Die Rede ist im Speziellen von den Aufsätzen Field (1996) und Field (1998).
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Überprüfbarkeit der Logik, die Field auch in seinem zweiten Argumentationsstrang meisterhaft ausspielt. Seine Argumentation für eine apriorische (klassische) Logik beruht auf einer Verknüpfung des apriorischen Status der Logik mit ihrem Voraussetzungscharakter über die Gegenüberstellung zweier Bilder von einer unantastbaren apriorischen Logik einerseits und einer ständig zur Disposition stehenden empirisch kritisierbaren Logik andererseits, die dadurch natürlich nicht in der Lage ist, die Rolle einer festen Voraussetzung zu spielen. Aus Sicht einer pluralistischen Logikauffassung werden sich diese beiden Bilder allerdings nicht als eine erschöpfende Darstellung der Möglichkeiten erweisen. Aber zunächst zum ersten Argumentationsstrang: zum Status logischer Revisionen.
1.6.2.2.2.4 Der Status logischer Revisionen Fields Position zum Status logischer Revisionen als Rahmenwechsel dürfte Bueno durchaus zustimmen. Die Wahl einer Logik spielt in seiner Theorie ebenfalls die Rolle einer Wahl eines Rahmens zum Zwecke weiterführender Untersuchungen. Allerdings spielt dieser Punkt in Buenos pluralistischer Auffassung nicht dieselbe Rolle wie in Fields logischem Monismus. Denn bei Field dient er unter anderem dazu, der Logik einen Anschein von Stabilität zu verleihen, der Buenos Auffassung nach eine Illusion ist. Das tut er einerseits durch den Eindruck einer radikalen Trennung von prärevisionären Aktivitäten und allem, was danach kommt. Dadurch werden die Ergebnisse logischer Revisionen unserem epistemischen Horizont entzogen, und ihre Relevanz für das, was wir innerhalb des bestehenden Rahmens tun, wird radikal in Frage gestellt.²⁸¹ Andererseits zementiert er den Apriori-Status der Logik insofern, als er es plausibler erscheinen lässt, dass auch nach der Revision alles, was dann noch als Logik gilt, der Apriori-Seite zuzuschlagen wäre – die Notwendigkeit nicht zur Disposition stehender logischer Regeln zur Ableitung irgendwelcher Ergebnisse aus epistemischen Prinzipien und Daten betont Field immerhin immer wieder.²⁸² Man könnte fast sagen, wir hätten es also höchstens mit einem Ausschluss aus der Logik und nicht mit einer Meinungsänderung über etwas Logisches zu tun.²⁸³
Siehe dazu z. B. Fields Feststellung, dass uns die bloße Möglichkeit einer besseren induktiven Praxis kein Stück von unseren jetzigen Zuordnungen als a priori oder a posteriori abbringen sollte, in Field (1998), 16. Siehe auch Abschnitt 3.3.1. Vgl. z. B. Field (1998), 19. Dieser Gedankengang kommt bei Field nicht explizit vor, auch wenn er naheliegend erscheint. Möglicherweise nutzt Field ihn absichtlich nicht, da ein solcher ‚Ausweg‘ tatsächlich in Frage stellen könnte, ob wir es mit einem echten logischen Fallibilismus zu tun haben. Bueno
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Beide Gedankengänge können nicht greifen, wenn man sie von Buenos These der Kontextabhängigkeit her denkt. Denn zunächst einmal beruht die Vorstellung eines vollständigen Bruchs zwischen den kognitiven Aktivitäten vor und nach einer logischen Prinzipienänderung auf dem logischen Monismus. Eine solche globale Umwälzung gäbe es nur dann, wenn die eine allen unseren Denkvorgängen unterliegende Logik verändert würde; bei einer kontextabhängigen Logik können Änderungen aber auf einen bestimmten Bereich beschränkt bleiben bzw. werden typischerweise auf nur einen Bereich beschränkt sein, während andere Bereiche und insbesondere auch die Logik, die in der Logikwahl eingesetzt wird, unberührt bleiben.²⁸⁴ Darüber hinaus ist der zweite Gedankengang, der Logik aufgrund ihres Voraussetzungscharakters als Rahmenbestandteil den A-priori-Status zu sichern, nur so lange naheliegend, wie „Logik“ als Bezeichnung für das eine, unserem Denken zugrundeliegende Muster verstanden wird. Muss über einen anderen Weg festgelegt werden, was als Logik zu zählen hat und was nicht, schwindet dessen Plausibilität. Innerhalb von Buenos Theorie ist es z. B. denkbar, die Zugehörigkeit zur Logik als Zugehörigkeit zu einem der in Frage kommenden reinen formalen Systeme zu betrachten. Damit sind die Gründe, etwas als der Logik zugehörig zu betrachten, nahezu vollständig von den Gründen entkoppelt, etwas als a priori zu betrachten (nahezu, da wir nach Bueno im Bereich der reinen Logik a priori verfahren, während die angewandte Logik empirischen Überlegungen zugänglich ist²⁸⁵). Der zweite Punkt, den Field bzgl. der Einordnung scheinbar empirisch motivierter Veränderungen oder Veränderungsvorschläge der Logik macht, ist, wie gesagt, der, dass für die Begründung empirisch inspirierter Revisionsanliegen, wenn sie denn zu begründen seien, rein konzeptuelle Gründe ausreichend sein müssten. Hier handelt es sich um eine Abwandlung der Unterscheidung von Entdeckungskontext und Rechtfertigungskontext für den Bereich der Logik. Während empirische Überlegungen zwar in der Lage sein sollen, uns auf be-
deklariert in seiner Auseinandersetzung mit Fields Argumenten für einen grundsätzlich apriorischen Status der Logik dessen Fallibilismus dann auch tatsächlich als unecht, mit der Begründung, dass dieser nur von einer epistemischen Möglichkeit, dass sich logische Prinzipien und die Bewertung derselben als a priori falsch herausstellen könnten, spricht und eine ‚echte‘ explizit ablehnt. Vgl. Bueno (2010), 105. Auf diese Einsicht wird auch in Bezug auf den zweiten Argumentationsstrang zurückzugreifen sein, der Sonderstatus des zur Revision führenden Rahmens wird dort näher betrachtet. Vgl. Bueno und da Costa (1996), 50 f.
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stimmte konzeptuelle²⁸⁶ Möglichkeiten hinzuweisen, müssten diese Möglichkeiten auch vor den jeweiligen empirischen Überlegungen schon denkbar gewesen sein, d. h., wir hätten sie durch genügend Reflexion auch unabhängig von jeglicher Empirie als Möglichkeiten, die eine wahre Logik zulassen müsste, aufdecken können.²⁸⁷ Bueno hält dem entgegen, dass eine solche Rechtfertigung durch Vorstellbarkeit ohne eine vorher festgelegte Trennung in apriorische und aposteriorische Fragen auch für eindeutig empirische Ergebnisse aus dem Bereich der Naturwissenschaften gelten müsste, Fields Argumentation betrachtet er insofern als zirkulär.²⁸⁸ Eine kleine Erläuterung ist hier angebracht, denn auch Bueno betrachtet Vorstellbarkeit und apriorische Überlegungen, die zu konzeptuellen Möglichkeiten führen, ja bzgl. Entwicklungen auf dem Gebiet der reinen Logik als hinreichend. Allerdings ist ein Pluralismus, der auf den Bereich der reinen Logik beschränkt bleibt, wie oben bereits erwähnt, angesichts des heutigen Zustands des Forschungsfeldes der Logik offensichtlich. Es ist deshalb aus der Perspektive von Buenos Gesamttheorie das Unterbleiben der Unterscheidung von reiner und angewandter Logik auf der Seite von Field, die es diesem erlaubt, empirische Einflüsse auf die Logik zu leugnen, indem er die Bedingungen der Akzeptabilität eines formalen Systems auf dem Gebiet der reinen Logik auf das Gebiet der angewandten Logik mitnimmt. Diese Übertragung wiederum kann aus dieser Perspektive als eine Manifestation von Fields logischem Monismus gelesen werden, der den Begriff der Logik von vornherein für das eine (rein und angewandt) gültige formale System in Anspruch nimmt, ohne den Status anderer formaler Systeme bzw. deren Pluralität hinreichend zu klären.
Dass bei Field hier von konzeptuellen Gründen und Möglichkeiten gesprochen wird, macht deutlich, dass eine ausgearbeitete Erkenntnistheorie der Logik noch ein weiteres Begriffspaar behandeln und möglichst klar von a priori/a posteriori, notwendig/kontingent, fallibel/infallibel etc. abgrenzen müsste – und das ist das Begriffspaar analytisch/synthetisch. Zu dieser Unterscheidung findet sich aber in Buenos Texten zum logischen Pluralismus so gut wie nichts, es steht zu vermuten, dass er die Unterscheidung ablehnt, das macht eine klare Abgrenzung zu verwandten Begriffen aber nicht minder notwendig und interessant. Vgl. Field (1996), 366 f. Vgl. Bueno (2010), 107. Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt, der an Fields Vorgehen gerichtet werden kann, ergibt sich aus der bedeutungskritischen Betrachtungsweise, wie sie dem metaphysischen und alethischen Relativismus zugrunde liegt. Sind nämlich Bedeutungen keine Entitäten mit klar gefügten Grenzen, auch im Bereich des logischen Vokabulars, hat auch der Raum des konzeptuell Möglichen keine klaren Grenzen, sondern eher eine vage Randzone, in der Mögliches und Unmögliches nicht eindeutig unterschieden werden können. Das wiederum könnte empirischen Entdeckungen, die in diese Randzone fallen, eine entscheidende Rolle in der Logikentwicklung verschaffen.
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1.6.2.2.2.5 Die Position der klassischen Logik Fields zweiter Argumentationsstrang beruht auf der These, dass wir momentan einen (oder mehrere) epistemischen Rahmen nutzen, der die (klassische) Logik als a priori behandelt. Diese Logik wird selbst nie befragt, sondern immer und überall vorausgesetzt. Durch die globale Voraussetzungsrolle der Logik sollen alternative epistemische Rahmen, die diese Logik nicht als a priori behandeln, auch nicht ohne weiteres verfügbar oder auch nur vorstellbar sein. Eine solche Situation wäre in der Tat ein guter Grund, der Logik einen apriorischen Status zuzuweisen, denn der Verweis auf nebulöse andere Möglichkeiten hat keinerlei Relevanz als Argument gegen Inhalte verwendeter Rahmen, oder um es mit Field zu sagen: [T]he bare logical possibility (if it is indeed a logical possibility) of a better inductive method that treats as empirical a logical principle that we treat as a priori doesnʼt show that in treating it as a priori we are doing anything incorrect. Here I need to remind you of a point made before: we canʼt reasonably expect that the inductive method we employ is the best one possible; only that it meets our epistemic goals fairly well, and that we arenʼt in a position to employ any other method that would do better.²⁸⁹
Zwei wichtige Punkte, die Field hier macht, sollten betont werden: Erstens reicht der Hinweis, dass es bessere Alternativen zu einem in Gebrauch befindlichen Rahmen geben könnte, nicht aus, um sicherzustellen, dass es tatsächlich solche Alternativen gibt; zweitens sind selbst existierende Alternativen für eine Diskussion über Inhalte völlig unerheblich, solange wir nicht in der Lage sind, sie tatsächlich einzusetzen. Beide Punkte sind so weit korrekt und wichtig, denn in Diskussionen um den Relativismus wird viel zu oft vergessen, dass die Möglichkeit, dass es andere Rahmen geben könnte, für eine Argumentation für einen Relativismus nicht ausreicht. Allerdings haben sie keinerlei Relevanz für Buenos non-apriorism, wenn nicht zugleich die These der tatsächlich stattfindenden universellen Verwendung der klassischen Logik vertreten wird, und diese These lässt sich mit guten Gründen anzweifeln. Zunächst sind da Buenos Überlegungen zur Wissenschaftstheorie, die ja vorschlagen, eine parakonsistente Logik in der Beschreibung wissenschaftlicher Vorgänge zu wählen, weil in der Forschungspraxis eine solche Logik bereits in Verwendung zu sein scheint.²⁹⁰ Ein zweiter Grund ist das Phänomen der logischen Unterbestimmtheit, das nahelegt, dass eine Systematisierung mit Hilfe der klassischen Logik, selbst in Fällen, wo sie funktioniert, nicht
Field (1998), 16. Siehe Abschnitt 1.6.2.1.2.1.
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die einzig mögliche ist.²⁹¹ Außerdem ließe sich anmerken, dass diese These Fields Position in ein Dilemma führt: Entweder muss ein logischer Monismus²⁹² von vornherein vorausgesetzt werden, oder die Position wird dadurch unplausibel, dass sie den Zufall geradezu kosmischen Ausmaßes, dass wir in jedem Bereich dieselbe Logik verwenden, nicht weiter erklärt. Zuletzt sollten die üblichen Einwände gegen eine Beschreibung der Alltagssprache als der klassischen Logik folgend erwähnt werden, insbesondere die Abwesenheit der explosion und die Paradoxien der materialen Implikatur.²⁹³ Die meisten dieser Punkte sind weiter oben schon einmal aufgekommen und wurden dort behandelt. Deswegen ist der einzige, auf den noch näher einzugehen ist, die Voraussetzung des Monismus, und diese ist in der Tat ein wichtiges Thema. Denn Buenos non-apriorism ist tatsächlich eng mit der These der Kontextabhängigkeit der Logik verwoben. Denn nicht nur trägt die Kontextabhängigkeit, wie oben bereits erwähnt, einiges dazu bei, einer eventuellen Änderung der Logik den Charakter des dramatischen epistemischen Bruches zu nehmen, sondern sie nimmt auch der Aufgabe, einen Rahmen mit einer alternativen Logik anzubieten, viel von ihrem Anschein der Unmöglichkeit, da es nicht mehr um einen alternativen Rahmen für alle kognitiven Aktivitäten geht. Bueno tut genau das, wenn er z. B. seine Vorschläge für eine parakonsistente Behandlung wissenschaftlichen Fortschritts ausführt: Er bietet einen neuen Rahmen mit einer alternativen Logik für Beschreibungen von Wissenschaft an. Der wichtige Punkt ist hier, dass aufgrund der Bereichsabhängigkeit keine Notwendigkeit besteht, einen Vorschlag vorzulegen, der für alle Bereiche funktioniert oder sie auch nur in Betracht zieht, es genügt die Beschäftigung mit einem recht spezialisierten Thema. Nun kann man sich natürlich darüber streiten, ob dieser Vorschlag, so wie er vorliegt, verwendet werden kann oder ob er noch viel weiter ausgearbeitet werden müsste. Der Punkt ist, dass er alles andere ist als eine nebulöse Möglichkeit, es auch anders machen zu können. Also kann Fields Kritik Bueno in diesem Punkt nicht treffen.
Field selbst scheint eine Art Unterbestimmtheitsthese zu vertreten, allerdings in Bezug auf seine (deutlich mehr als nur logische Regeln umfassenden) evidential systems und auf der Ebene einzelner Personen: „there is no obvious reason to think that there is a uniquely best idealization of a personʼs cognitive behaviour; it may well be that there is a substantial range of distinct evidential systems that will provide reasonable idealizations of a given person, some of which might be better in some respects and others in other respects but with none clearly best overall.“ (Field 1996, 363). Gemeint ist hier logischer Monismus im Gegensatz zur These der Kontextabhängigkeit, nicht im Gegensatz zur These des logischen Pluralismus, die bereits als Unterbestimmtheit angesprochen wurde. Siehe Abschnitt 1.6.1.
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133
Vielleicht noch wichtiger ist es festzuhalten, dass die These der Kontextabhängigkeit der Entscheidung zwischen apriorischer und aposteriorischer Logik in gewisser Weise ihren Alles-oder-nichts-Charakter nimmt und Fields Kritik dadurch noch weiter den Boden entzieht. Die von Field gegenübergestellten Bilder einer unantastbaren apriorischen Logik einerseits und einer ständig auf dem Prüfstand befindlichen empirisch revidierbaren Logik andererseits sind unter Bedingungen der Kontextabhängigkeit nicht die einzigen Alternativen. Denn der Kontext, in dem eine Logik benutzt wird, ist nicht derselbe wie der, in dem sie überprüft wird, oder der, in dem über ihre Benutzung diskutiert wird.²⁹⁴ Dadurch wird es möglich zu sehen, dass eine Logik einen dem apriorischen sehr ähnlichen Status innerhalb eines bestimmten Kontextes hat. Innerhalb dieses Kontextes steht sie nicht zur Disposition, sondern wird als feststehend behandelt, sie hat einen lokalen Voraussetzungscharakter. Trotzdem kann sie innerhalb eines anderen Kontextes diskutiert werden, und ihre Nutzung im ersten Kontext kann zur Disposition stehen. Dabei können dann eben auch aposteriorische Gründe eine Rolle spielen, etwa ob man durch ihre Nutzung zufriedenstellende Ergebnisse erreicht, ob ihre Verwendung einfach genug ist etc. In diesem zweiten Kontext wird also eine pragmatische Entscheidung über den Status der Logik in einem anderen Kontext getroffen.²⁹⁵ Der Intuition, dass die Logik in der Regel unhinterfragt vorausgesetzt wird, ist also auch in Buenos non-apriorism Genüge getan. Die Spannung zwischen dieser Intuition bzw. zwischen dem Voraussetzungscharakter der Logik und der Überprüfbarkeit von Logiken, die Bueno behauptet, wird dadurch entschärft. Damit verliert Fields Kritik einen weiteren wichtigen Faktor ihrer Motivation. Abschließend bleibt festzuhalten, dass Fields Argumente für den apriorischen Status der Logik, obwohl sie Buenos Position am Ende nicht widerlegen können, wichtige Schritte auf dem Weg zu einer plausiblen pluralistischen Erkenntnistheorie der Logik bilden. Denn keines von Fields Argumenten, die hier besprochen wurden, ist schlicht falsch. Vielmehr liegen ihnen berechtigte Sorgen und Probleme zugrunde, wie z. B., dass es etwas geben muss, das die Rolle von Regeln in unseren Erkenntnisbemühungen einnimmt, das deswegen nicht denselben Status haben kann wie das anhand der Regeln Gefundene.
Vgl. Bueno (2010), 109. Vgl. Bueno (2010), 107; siehe auch Bueno und Colyvan (2004), 162 f.
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1.6.2.2.2.6 Zusammenfassung Durch die ausführliche Auseinandersetzung mit Fields Kritikpunkten wurden einige Eigenschaften von Buenos erkenntnistheoretischen Vorstellungen klarer und einige Voraussetzungen für einen vertretbaren logischen Relativismus sichtbar. In diesem Abschnitt soll nun das Bild der logischen Erkenntnisgewinnung, wie Bueno es zeichnet, noch einmal kurz positiv umrissen werden, um den non-apriorism als kohärente und vor allem nicht nur verteidigbare, sondern Vorteile bringende Position zu präsentieren. Die größte Stärke von Buenos Position ist m. E., dass sie darauf besteht, dass in einer Erkenntnissituation, in der wir immer schon von bestimmten Voraussetzungen ausgehen müssen, auch die Voraussetzungen selbst kritisierbar bleiben. Denn dass Erkenntnis grundsätzlich voraussetzungsgebunden ist, wollte wohl niemand bestreiten. Trotzdem heißt das nicht, dass ein Fundamentalismus folgen muss; denn dass wir in unterschiedlichen Überlegungen unterschiedliche Voraussetzungen nutzen können bzw. in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Logiken, erlaubt uns ein gewisses Maß an kritischer Distanz zu unseren eigenen Voraussetzungen in anderen Bereichen.²⁹⁶ Diese Distanznahme erlauben aprioristische, monistische Logikvorstellungen in der Regel nicht. Wichtig ist weiterhin, dass diese Position Veränderungen in den logischen Überzeugungen als handhabbare Phänomene erscheinen lässt und nicht als radikale Umbrüche. Wandel in der Logik geschieht zumeist in kleinen Schritten,²⁹⁷ wie deutlich daran zu sehen ist, dass die meisten nichtklassischen Logiken im Großteil ihrer Regeln mit der klassischen Logik übereinstimmen. Nichtklassische Systeme auf bestimmte Bereiche zur Anwendung zu bringen, erfordert selbst Zeit, Arbeit und viele Erklärungen. Die Vorstellung, dass der Wechsel zu einer anderen Logik so etwas wäre wie das Umlegen eines Schalters im Geiste, wobei vorher und nachher nicht einmal vergleichbar sind, wirkt dadurch eher absurd.²⁹⁸ Hinzu kommt der durch die Bereichsabhängigkeit lokale Charakter logischen Wandels, der die Situation weiter entschärft. Zuletzt sollte hervorgehoben werden, dass Bueno sowohl durch seine konkreten Argumentationen für Anwendungen der
Hinzu kommt, dass oft erst das Vorhandensein von Alternativen Voraussetzungen als solche sichtbar macht, wie Bueno im Anschluss an Feyerabend feststellt. Vgl. da Costa, Bueno und French (1998), 47. In diesem Zusammenhang ist auch Buenos Beschreibung des graduellen Wandels mathematischer Prinzipien interessant. Vgl. Bueno (2011), 555. Instruktiv bzgl. dieses Punkts, wenn auch aus einem etwas anderen Blickwinkel, sind die Überlegungen von Timothy Williamson in Williamson (2006) zu der Frage, ob logische Gesetze konzeptuelle Wahrheiten (im Sinne von „wenn man sie versteht, weiß man, dass sie wahr sind“) sind.
1.6 Der logische Relativismus
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parakonsistenten Logik als auch durch seine theoretischen Überlegungen zum Thema des Debattierens über logische Prinzipien²⁹⁹ überzeugend darstellt, dass sich über die Verwendung alternativer Logiken sehr gut debattieren lässt. Einwürfe, wie sie sich z. B. bei Lewis finden,³⁰⁰ dass man mit Vertretern alternativer Logiken einfach keinen gemeinsamen Boden für eine Diskussion habe, scheinen keinerlei Grundlage zu haben.
1.6.2.3 Ist Buenos Pluralismus ein Relativismus? Nachdem der Großteil dieses Kapitels damit befasst war, Buenos Position darzustellen und sie zu verteidigen, muss die Frage gestellt werden, ob sie überhaupt relevant für die Frage des logischen Relativismus ist. Schließlich bezeichnet sich Bueno selbst nicht als Relativisten, sondern als Pluralisten und setzt sich an manchen Stellen sogar explizit gegen den Relativismus ab.³⁰¹ Nun sind pluralistische Thesen relativistischen Auffassungen in vielem sehr nahe, und die Unterscheidung kann manchmal schwierig sein, vor allem wenn unterschiedliche Definitionen der Bezeichnungen im Spiel sind. Genau das scheint hier der Fall zu sein. „Pluralismus“ wurde bis jetzt im Rahmen dieser Arbeit (und auch meistens in der Relativismusdiskussion) als nahezu-globaler Relativismus mit gewissen Einschränkungen gedacht. Die pluralistische These lässt sich kurz so fassen, dass es viele unterschiedliche Rahmen gibt, die miteinander in Konflikt stehen (können) und zwischen denen keine neutrale Entscheidung möglich ist; der Unterschied zum Relativismus ist, dass sehr wohl eine neutrale Entscheidung bzgl. der Frage, welche Rahmen ‚zulässig‘ sind, möglich sein soll. Dies kann man so fassen, dass es einen Metarahmen gibt, in dem entschieden wird, welche Rahmen genutzt werden dürfen und welche nicht, aber viel öfter wird diese Einschränkung so artikuliert, dass alle Rahmen einen gemeinsamen Kern haben müssen, der sie erst als Rahmen qualifiziert, z. B. die klassische Logik. Daher die Rede von einem nahezu-globalen Relativismus: Manche Behauptungen werden eben von der Relativität ausgenommen.
Siehe z. B. Bueno und Colyvan (2004), 166 f. für einige Ausführungen, die auf Laudans reticulated model aufbauen. Vgl. Lewis (1982), 101. Der Verweis auf Lewis an dieser Stelle ist ein wenig unfair, da sein Punkt durchaus differenzierter ist und eine ausführlichere Antwort verlangen würde. Eine solche geben dann auch Bueno und Colyvan in ihrem (2004), 170. Siehe Bueno und da Costa (1996), 54 f. und Bueno (2010), 115. Es muss allerdings hinzugefügt werden, dass es auch eine Stelle gibt, an der Bueno seine eigenen Thesen explizit als auf relativistischem Gedankengut aufbauend darstellt. Vgl. Bueno (2011), 554 f.
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Legt man dieses Verständnis von Pluralismus zugrunde, ist nicht klar, wieso Buenos Theorie pluralistisch, im Gegensatz zu relativistisch, sein sollte. Immerhin ist sie bereits auf einen Bereich beschränkt und dann auch noch ausgerechnet auf die Logik, die gewissermaßen der Standardkern für epistemische Pluralisten ist. Nach Einschränkungen des Geltungsbereiches seiner These innerhalb der Logik sucht man bei Bueno vergeblich. Insofern scheint er ein anderes Verständnis des Ausdrucks „Pluralismus“ zu haben. Nun war aber ein erheblicher Teil dieses Kapitels damit befasst herauszufinden, was Bueno meint, wenn er sich als logischen Pluralisten bezeichnet, und dabei sind keine Unterschiede zu einem Relativismus im Sinne der Kölbelʼschen Definition aufgekommen. Die einzige verbleibende Möglichkeit ist also, Buenos wenige Äußerungen zu konsultieren, in denen er sich vom Relativismus absetzt. Dort betont er vor allem, dass er keine anything-goes-These vertreten möchte, und scheint die Bezeichnung „Relativismus“ auf genau solche Thesen zu beziehen. Dabei besteht er insbesondere darauf, dass es in seiner Theorie trotz aller Kontextabhängigkeit und Unterbestimmtheit immer einen Maßstab gebe, der Logiken in geeignete und ungeeignete unterteilt,³⁰² Willkür gebe es damit keine,³⁰³ obwohl dieser Maßstab selbst nicht als neutral zu bezeichnen ist, da er die Zielsetzung der jeweiligen Beschreibung mit einbezieht und für seine Anwendung natürlich selbst eine Logik benötigt. Aber da Willkür und das Bestreiten der Existenz von Maßstäben zur Rahmenbewertung nach dem in dieser Arbeit vertretenen Relativismusverständnis genauso wenig zum Relativismus gehören, wie dieser sich im Slogan anything goes zusammenfassen lässt, kann man Bueno ohne schlechtes Gewissen unter den hier verwendeten Relativismusbegriff subsumieren. Seine Ablehnung der Bezeichnung scheint eher einer Verteidigungshaltung gegenüber negativ besetzten Verwendungen des Relativismusbegriffs zu entspringen. Das kann man auch daran sehen, dass er auch auf der Ebene der Verteidigung der Parakonsistenz, um seine eigenen Überlegungen aus der Feindbildrolle herauszulösen, ein alternatives Feindbild anbietet, das interessanterweise an die anything-goes-Karikatur des Relativismus erinnert. Die Rede ist hier vom sogenannten „trivialism“³⁰⁴, der These, dass alles wahr ist. Seine rhetorische Strategie funktioniert in etwa folgendermaßen: Die meisten Logiker haben Angst vor dem Widerspruch und deswegen auch vor der parakonsistenten Logik, diese Angst ist irrational, denn ohne dass aus einem Widerspruch alles folgt (er also zur Trivia-
Er nennt diesem Maßstab „adequacy“ und analysiert ihn in drei Faktoren.Vgl. Bueno (2010), 108; siehe auch Bueno (2002), 537. Vgl. Bueno und Da Costa (1996), 54 f. und Bueno (2010), 115. Bueno (2007), 655.
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lisierung eines Systems führt), ist er völlig unbedenklich. Das Problem ist nicht der Widerspruch als solcher, sondern was ihm die klassische Logik erlaubt auszulösen, nämlich der Zusammenbruch der wahr-falsch-Unterscheidung.³⁰⁵ Die Nähe von „alles ist wahr“ zu „anything goes“ ist offensichtlich, und Bueno macht diese Verbindung auch explizit.³⁰⁶ Deswegen sollte Buenos Abgrenzung vom Relativismus ebenfalls als eine Abgrenzung von dem verstanden werden, was unter der eigenen Theorie fremden Voraussetzungen aus der eigenen Position gefolgert wird bzw. als Abgrenzung von der Weise, wie sie von manchen Gegnern verstanden wird, nicht als grundsätzliche Ablehnung von relativistischen Theorien. Auf Grund dessen ist die hier vorgenommene Einordnung von Buenos Auffassung als eine relativistische Sicht der Logik trotz seiner Proteste zulässig. Es ist also tatsächlich gelungen, eine plausible und ausgearbeitete relativistische Position bzgl. der Logik zu finden, die gegen die bis jetzt aufgenommenen, von absolutistischer Seite vorgebrachten Einwände bestehen kann. Damit ist eines der am schwersten zu überwindenden Hindernisse für einen globalen Relativismus ausgeräumt. Bevor jedoch die Möglichkeit einer relativistischen Theorie der Logik für etabliert betrachtet werden kann, muss die wahrscheinlich wirkungsmächtigste Kritik an der Vorstellung alternativer Logiken ausgeräumt werden.
1.6.3 Quine Gemeint ist die Kritik von Quine, insbesondere die aus Word and Object, die seit dessen Erscheinen viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Die Gründe dafür sind vielfältig, doch zwei stechen besonders heraus: Erstens vertritt Quine an anderen Stellen Ansichten, die, wenn nicht direkt eine relativistische, so zumindest doch eine Buenos non-apriorism nahestehende Logikauffassung nahelegen,³⁰⁷ und einige relativistische Thesen außerhalb des Bereichs der Logik.³⁰⁸
Vgl. Bueno (2007). Vgl. Bueno (2011), 555. Die am häufigsten angeführte Stelle zu dieser Auffassung ist der folgende Abschnitt aus „Two Dogmas of Empiricism“: „The totality of our so-called knowledge or beliefs, from the most casual matters of geography and history to the profoundest laws of atomic physics or even of pure mathematics and logic, is a man-made fabric which impinges on experience only along the edges. Or, to change the figure, total science is like a field of force whose boundary conditions are experience. A conflict with experience at the periphery occasions readjustments in the interior of the field. Truth values have to be redistributed over some of our statements. Re-evaluation of some statements entails re-evaluation of others, because of their logical interconnections – the logical laws being in turn simply certain further statements of the system, certain further elements of the field. Having re-evaluated one statement we must re-evaluate some others, whether they be
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Diese Spannungen in der Quineʼschen Erkenntnistheorie haben viele Interpreten beschäftigt.³⁰⁹ Zweitens ist das eigentliche Ziel von Quines Kritik in dem Abschnitt von Word and Object, in dem sich sein wichtigstes Argument gegen alternative Logiken findet, ausgerechnet eine Bedeutungsauffassung, gegen die auch einige wichtige Relativisten des zwanzigsten Jahrhunderts angeschrieben haben.³¹⁰ Insofern teilen diese relativistischen Ansätze wichtige Grundannahmen des Arguments, und deswegen liegt es nahe, dass es ein besonders starkes Argument gegen sie sein könnte. Quines Auffassung spricht sich in einem Gedankenexperiment bzgl. seines zu diesem Zweck entwickelten Konzepts der radikalen Übersetzung aus. Radikale Übersetzung bedeutet dabei nicht weniger als Übersetzung einer zuvor noch völlig uninterpretierten Sprache. Das Szenario, in das Quine seine Überlegungen einbettet, berichtet von einem Feldforscher, der einen bis dahin isoliert lebenden Stamm besucht und versucht, ein Übersetzungshandbuch für dessen Sprache zu erstellen.³¹¹ Auf diesem Hintergrund versucht Quine ein Verständnis von Bedeutung zu erarbeiten, das sich ausschließlich am Sprachverhalten und nicht an irgendwelchen mentalen oder abstrakten Entitäten orientiert. Nur ein Unterschied, der tatsächlich einen Unterschied im Verhalten bewirkt, soll als Bedeutungsunterschied zugelassen werden. Das Gedankenexperiment zur radikalen Übersetzung ist vor allem auch ein Versuch, diese Herangehensweise zu plausibilisieren. Es handelt sich um „a critique of the uncritical notion of meanings and, therewith, of introspective semantics“³¹². Dagegen stellt Quine die (inzwischen) ebenso weit verbreitete Auffassung, dass Bedeutung – allein schon aufgrund der Erlernbarkeit von Sprache – irgendwie der Beobachtung zugänglich sein muss. Der Quineʼsche Anthropologe ist also jemand, der sich Zugang zu einer bisher unbekannten Welt von Bedeutungen verschafft.³¹³ Um einen Eingangspunkt in die fremde Sprache zu finden, unterscheidet Quine zunächst verschiedene Arten von Sätzen. Die Wichtigste dabei ist die der observation sentences, eine Unterart der occasion sentences, Letztere sind dadurch statements logically connected with the first or whether they be the statements of logical connections themselves“ (Quine (1951), 39). Auf diese wird weiter unten noch kurz einzugehen sein, siehe insbesondere FN 320. Siehe z. B. Arnold und Shapiro (2007); Haack (1996b), 1– 46; 214– 225. Erhebliche Überschneidungen gibt es vor allem mit Goodman und Putnam. Historisch interessant ist, dass Quines Buch zwischen der produktivsten Phase des frühen Kulturrelativismus im Rahmen der Ethnologie und der Rationalitätsdebatte erschien. Quine (1987), 9. Es sollte angemerkt werden, dass Quine durchaus bewusst ist, dass diese Situation so in der Realität nicht vorkommt. Er versucht einen systematischen Punkt bezüglich Bedeutungen zu machen, nicht die Übersetzungspraxis von Feldforschern zu beschreiben. Vgl. Quine (1987), 7.
1.6 Der logische Relativismus
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charakterisiert, dass sie nur nach geeigneter Stimulierung Zustimmung oder Verneinung durch einen Sprecher erfahren, wie z. B. „Die Sonne ist bereits untergegangen“. Kontrastiert werden sie mit den standing sentences, bei denen die aktuelle Stimulationssituation des Sprechers keinen Einfluss auf Zustimmung oder Verneinung hat, wie z. B. „Die Erde dreht sich um die Sonne“ oder „2+2=4“.³¹⁴ Die Besonderheit der observation sentences, deretwegen vor allem sie einen Zugang zu der fremden Sprache darstellen sollen, soll sein, dass sie, wenn sie einmal Zustimmung finden, bei Stimulierung der exakt selben Rezeptoren wieder Zustimmung fänden. Das Entsprechende gilt für die Verneinung derselben.³¹⁵ Wichtig ist weiterhin, dass es sich nur dann um einen observation sentence der Sprache im Gegensatz zu einem observation sentence für eine Person handelt, wenn er für alle Sprecher ein solcher ist³¹⁶ und wenn bei derselben Stimulation die Reaktion uniform ist.³¹⁷ Durch diese enge Bindung an eine bestimmte Reizsituation sollen diese Sätze ohne größere Schwierigkeiten übersetzbar sein. Ein Beispiel für einen solchen Satz ist schwer zu finden, am ehesten wäre es wohl so etwas wie „Da ist ein Baum“, allerdings dürfte es sogar hier so viele unklare Fälle geben, dass eine vollständige Übereinstimmung der Reaktionen innerhalb der Sprachgemeinschaft ausgeschlossen scheint. Spätestens hier wird deutlich, wie viele Idealisierungen und Vorannahmen in Quines Überlegungen stecken. Einmal abgesehen von der Frage, ob es überhaupt zulässig ist, Stimulation des menschlichen Nervenapparates als Instanz der unkonzeptualisierten Realität einzusetzen, scheint es mehr als fragwürdig, ob auf dieser Basis die von Quine geforderten Unterscheidungen überhaupt zu treffen sind, denn dass vollkommen identische Reizsituationen vorkommen, ist extrem unwahrscheinlich. Insofern bliebe der für Quines Szenario elementare Begriff der observation sentences immer ein interpretativer, da er auf einem Konditional beruht, dessen Antezedens in der Regel nicht erfüllt ist.³¹⁸
Die Unterscheidung ist allerdings nur gradueller Natur. Vgl. Quine (1960), 35 f. Es handelt sich hierbei um die gegenüber Word and Object modifizierte Beschreibung der observation sentences aus Theories and Things. Vgl. Quine (1981), 25. Das gilt auch für die anderen Satzarten. Die Unterscheidung von observation sentences in solche für einzelne Sprecher und solche der Sprache ist deswegen wichtig, weil das, was man aufgrund von bestimmten Reizen aussagen kann, mit dem Hintergrundwissen variiert. So dürfte der Satz „Das ist eine Schwertlilie“ für viele, vor allem Floristen und Botaniker, ein observation sentence sein, für mich ist er das nicht. Hier handelt es sich um eines der Phänomene, die Hilary Putnam in „The Meaning of ‚Meaning‘“ mit seinem sozialen Externalismus in den Griff bekommen möchte. Siehe Putnam (1975). Vgl. Quine (1990a), 4. Diese Kritik trifft Quine selbst übrigens nur sehr eingeschränkt, da das, was er mit diesem Gedankenexperiment zu bewerkstelligen sucht – nämlich eine Kritik des traditionellen Bedeu-
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Die Logik kommt nun bei Quine folgendermaßen ins Spiel: Abgesehen davon, sich an der Übersetzung einzelner Sätze zu versuchen, kann der Anthropologe auch Verbindungen von Sätzen ‚abfragen‘, sobald er einige Sätze verwenden kann. So kann er sich auf die Suche nach den Worten für die logischen Junktoren in der fremden Sprache machen. Dabei unterstellt er notgedrungen die eigene Logik, denn auf anderem Wege als über einen Abgleich der Reaktionen auf Satzkombinationen mit den Wahrheitstafeln kann er der fremden Logik laut Quine nicht auf die Spur kommen.³¹⁹ Dabei ist zu beachten, dass der Teil der Logik, der sich in der anderen Sprache wiederfinden muss, ausdrücklich nur der der Aussagenlogik ist. Es handelt sich also nur um einen Teilbereich im Vergleich zu dem, was man gemeinhin unter „klassischer Logik“ verstehen würde.³²⁰
tungsbegriffes –davon weitgehend unberührt bleibt. Quines Schlussfolgerungen, zumindest in Word and Object selbst, sind weitgehend negativer Natur, zu einem echten Problem wachsen sich die oben genannten Kritikpunkte nur da aus, wo Quines Überlegungen zum Modell genommen werden für weitreichende Thesen zur Übersetzbarkeit, wie es später bei Davidson der Fall ist. Für einen sehr kritischen Blick auf die vielen versteckten Voraussetzungen hinter Quines radikaler Übersetzung siehe Glock (2003), 178 ff. Vgl. Quine (1960), 57 ff. Das hat darin seine Ursache, dass die Methode der radikalen Übersetzung nur sehr wenige feststehende Erkenntnisse über die fremde Sprache erlaubt, und diese bestehen zunächst nur in Korrelationen kompletter Sätze. Das macht die vollständige Sätze verbindenden Junktoren deutlich einfacher erkennbar gegenüber den als Satzteile zu betrachtenden Quantoren. Die meisten dieser von Quines Anthropologen herstellbaren Korrelationen sind nicht einmal Übersetzungen, sondern sie bestehen lediglich darin, dass der Übersetzer feststellen kann, welcher Art von Satz ein Satz angehört, und in der Folge sagen kann, dass er mit eben dieser Art von Satz übersetzt werden muss. Mehr ist zunächst nur bei den observation sentences möglich. Um einzelne Ausdrücke innerhalb von Sätzen zu identifizieren, muss man das aufstellen, was Quine analytical hypotheses nennt. Diese entsprechen in etwa einem Wörterbuch der anderen Sprache. Wichtig ist, dass man zu ihrer Aufstellung nur die sehr geringe Menge an Daten zur Verfügung hat, die gerade schon genannt wurde: Man kann alle Sätze in Satzklassen einteilen und damit feststellen, welcher Klasse eine Übersetzung angehören müsste, man kann die logischen Junktoren übersetzen und man kann die observation sentences in Stimulus-synonyme Sätze übersetzen. Auf dieser sehr schmalen Basis ist es grundsätzlich möglich, verschiedene Systeme von analytical hypotheses zu entwickeln, die mit dem Zustimmungsverhalten der fremden Sprachgemeinschaft kompatibel sind, aber teilweise unterschiedliche Übersetzungen liefern. Zwischen diesen verschiedenen Hypothesensystemen ist laut Quine keine objektive Entscheidung möglich, da ja die komplette Datenbasis bereits in ihre Erstellung eingegangen ist (vgl. Quine (1960), 68; 72 f.). Das ist Quines berühmte These der indeterminacy of translation, die einer der Gründe ist, warum Quine von vielen Relativisten für einen Verbündeten gehalten wird, obwohl er selbst immer wieder bestreitet, ein Relativist zu sein. Zwei weitere sind die aus der indeterminacy of translation folgende These der inscrutability of reference und die davon unabhängige, obwohl oft mit beiden in Verbindung gebrachte, These der underdetermination of theories. Erstere beruht auf dem oben genannten Phänomen, dass die Daten für eine radikale Übersetzung grundsätzlich in Satzform
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Doch mit dieser Ansicht gibt es einige Probleme, die bezeichnenderweise nicht erst dort ansetzen, wo die Möglichkeiten der Denkweisen weit entfernter Fremder durch unsere Denkweise bestimmt sein sollen. Radikale Übersetzung fängt, wie man so schön sagt, zuhause an, und genau dort beginnen auch ihre Probleme.³²¹ Dass Quine solche Überlegungen auch auf Alternativen, die innerhalb der Disziplin der Logik aufkommen, angewandt wissen will, wird spätestens in Philosophy of Logic deutlich: They think they are talking about negation, ‚not‘; but surely the notation ceased to be recognizable as negation when they took to regarding some conjunctions of the form ‚P ! 'P‘ as true, and stopped regarding such sentences as implying all others. Here evidently is the deviant logicianʼs predicament: when he tries to deny the doctrine he only changes the subject.³²²
vorliegen, die, um an referierende Ausdrücke zu gelangen, erst einmal zerlegt und mit Ausdrücken der eigenen Sprache korreliert werden müssen. Da dies auf unterschiedliche Weise geschehen kann, gibt es keine Möglichkeit, die Referenz in der Sprache eindeutig festzulegen. Vgl. Quine (1960), 51 f.; 70; und Quine (1987), 6. Dies ist eine interessante Überschneidung zwischen der Diskussion um abweichende Logikauffassungen zur Relativismusdebatte. Auch dort werden insbesondere Einwände häufig in einer Form vorgebracht, die voraussetzt, dass Relativität ein Phänomen ist, das nur im Kontakt zu völlig Andersdenkenden auftritt (was häufig mit radikal anderen Kulturen assoziiert wird), so dass nur Historiker, Ethnologen o. Ä. ihm jemals begegnen. Entgegen dieser Auffassung ist Relativität aber für viele Teilnehmer der aktuellen Relativismusdebatte etwas, was unser aller Alltag durchzieht und mit dem wir ständig umgehen. Das ist z. B. offensichtlich bei Putnam und Goodman, bei denen es nicht nur so ist, dass wir laufend Personen begegnen, die andere Rahmen nutzen, wie z. B. polnischen Logikern, sondern sogar ein und dieselbe Person in der Lage ist, unterschiedliche Rahmen zu benutzen, je nach Zweck, Kontext oder zu lösendem Problem. Hier fängt Relativität also in einem sehr radikalen Sinne zuhause an, da jeder von uns Rahmenwechsel vollzieht und mit ihnen vertraut ist. Quine (1970), 81. Auch dieser Abschnitt ist zwar in eine Geschichte über ein fremdes, ‚exotisches‘ Volk eingebettet, aber die Wortwahl (z. B. „deviant logician“ (Hervorhebungen D. S.)) zeigt deutlich, dass Quine hier über seine Kollegen spricht. Es sollte erwähnt werden, dass Quine seine Position in Roots of Reference abschwächt. Dort führt er – an Stelle der nur Zustimmung zu und Ablehnung von Sätzen in Betracht ziehenden semantischen Kriterien für die klassischen Junktoren – dreiwertige verdict functions ein. Diese ergänzen eine dritte Reaktionsmöglichkeit, die Quines Ausführungen deutlich realitätsnäher macht: Urteilsenthaltung. Anhand dieser neuen Überlegungen ‚rehabilitiert‘ Quine zumindest die intuitionistische Logik. Er vertritt dort die Auffassung, dass die klassische Logik eine theoretische Weiterentwicklung unseres Bewertungsverhaltens und nicht vollständig durch es gedeckt ist. Der Unterschied von klassischer und intuitionistischer Logik liegt in den „blind spot[s]“ (Quine (1974), 76) der Junktoren betrachtet als verdict functions. Wo Urteilsenthaltung der Wert beider Komponenten ist, geben nämlich Konjunktion und Disjunktion nicht eindeutig einen Wert vor, im Fall der Konjunktion könnten sowohl Ablehnung (es ist Dienstag und es ist Mittwoch) als auch Urteilsenthaltung (es regnet und es ist Dienstag) angemessen sein, für die Disjunktion Zustimmung oder Urteilsenthaltung (es ist
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In einem gewissen Sinn ist Quines Feststellung völlig richtig. Man kann durchaus sagen, dass die Junktoren in alternativen formalen Systemen andere Bedeutungen als in der klassischen Logik haben, da sie anderen Regeln folgen bzw. andere Regeln verkörpern. Insofern wechselt ein Logiker, der zum Beispiel ein parakonsistentes System vorschlägt, das Thema.³²³ Nimmt man zu Illustrationszwecken eine platonistische Sicht der Logik an, könnte man auch sagen, er bezieht sich auf einen anderen logischen Gegenstand als der Vertreter der klassischen Logik. Ein Problem für den Vertreter einer alternativen Logik stellt das aber nur dar, wenn man, wie Quine es offensichtlich tut, davon ausgeht, dass die Logik unserer Sprache durchgängig eine klassische ist. Denn genauer betrachtet ist die Situation, wie schon Haack festgestellt hat,³²⁴ für einen Vertreter einer nichtklassischen Logik genau dieselbe: Wenn der klassische Logiker sich für klassische Prinzipien ausspricht, wechselt er aus Sicht des nicht-klassischen Logikers das Thema, und in der Situation einer radikalen Übersetzung müsste dieser seine eigene (nichtklassische) Logik unterstellen. Das ist eigentlich ganz offensichtlich, denn Quines Argumentation ist im Endeffekt von den spezifischen Eigenschaften der klassischen Logik unabhängig, sie gilt für jede Logik, die die einzige ist, die ein Sprecher, oder besser eine Sprachgemeinschaft, beherrscht. Dass es sein könnte, dass jeder von uns mehrere unterschiedliche Logiken benutzt, wird genauso wenig in Betracht gezogen wie die Möglichkeit, dass es schlicht nicht stimmt, dass die Logik unserer Sprache(n) klassisch ist.³²⁵
Dienstag oder es ist Mittwoch). Den intuitionistischen Umgang mit der Negation bespricht Quine hier leider nicht explizit, es ist deswegen nicht ganz klar, ob er auch in dieser Hinsicht eine von der klassischen abweichende Haltung akzeptabel findet. Seine Aussage, dass die Negation sowohl eine verdict function als auch eine Wahrheitsfunktion sei, weist allerdings eher in Richtung Ablehnung. Unser Sprachverhalten ist laut Quine deswegen sowohl mit der klassischen Logik als auch mit intuitionistischen Systemen, zumindest was das Verständnis von Konjunktion und Disjunktion betrifft, kompatibel. Vgl. Quine (1974), 75 ff. Für eine frühe Kritik der Quineʼschen Kehrtwende siehe Berger (1980). Der Vorwurf des Themenwechsels wird interessanterweise auch häufig gegen relativistische Theorien vorgebracht. In Abschnitt 3.1.2 wird ein darauf aufbauendes Selbstaufhebungsargument vorgestellt. Dies ist eine weitere bemerkenswerte Parallele zwischen der Diskussion um alternative Logiken und der Relativismusdiskussion. Vgl. Haack (1996b), 19 f. Da Costa, Bueno und French (1998) weist ebenfalls auf die hier lauernde Zirkularität hin. Vgl. da Costa, Bueno und French (1998), 50. Dieser letzte Punkt bildet wiederum eine interessante Parallele zur Relativismusdiskussion, wo oft unhinterfragt vorausgesetzt wird, dass der alltagssprachliche Wahrheitsbegriff ein absolutistischer ist. Dass er auch relativistisch oder in dieser Hinsicht neutral sein könnte, wird kaum in Betracht gezogen. Dies wird in Abschnitt 3.3.1 kurz angesprochen und hängt natürlich eng mit dem Themenwechselvorwurf gegen den Relativisten zusammen, der in FN 323 bereits als eine
1.7 Rahmen
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Sieht man Quines Aussage aber unabhängig von der Voraussetzung der Vorherrschaft der klassischen Logik an, läuft sie auf nichts anderes als auf einen Pluralismus der reinen Logik hinaus. So merkt auch Forster an, dass Quine die Möglichkeit anderer Junktoren im Prinzip anzuerkennen scheint: [H]is argument would only show (1) that people cannot be found denying the laws of the sentential calculus, not (2) that they must be found believing them. For all that the argument could show, a person might quite well fail to accept them and instead recognize a set of deviant logical principles with a correspondingly deviant construal of the truth functions. (Quine and Davidson both tend to slide illicitly from [1] to [2], though Quine in his more considered remarks certainly acknowledges the possibility just indicated.)³²⁶
Die Unterscheidung zwischen der Unmöglichkeit, die Prinzipien der klassischen Logik zu bestreiten, und der Notwendigkeit sie zu glauben, die Forster hier zieht, beschreibt in der Tat die Grenze der Quineʼschen Argumentation. Natürlich kann niemand bestreiten, dass aus einem Widerspruch, wie ihn die klassische Logik versteht, alles folgt, denn so verhalten sich nun einmal die klassischen Junktoren. Daraus folgt aber zunächst einmal nichts für einen Pluralismus, wie ihn Bueno vorschlägt. Die Relevanz von Quines Darlegungen beschränkt sich, wie gesagt, ohne die These der universellen Verwendung der klassischen Logik auf das, was Bueno als die Ebene der reinen Logik bezeichnet; und wie in den vorangegangenen Abschnitten dargelegt wurde, sind die Fragen der angewandten Logik diejenigen, an denen sich das Schicksal eines interessanten Pluralismus oder Relativismus entscheidet, und deren Klärung steht noch aus. Einen prinzipiellen Einwand gegen eine relativistische Auffassung der Logik kann also auch Quines Argumentation nicht liefern.
1.7 Rahmen Nachdem Relativismen bis jetzt hauptsächlich anhand dessen besprochen wurden, was sie als relativ beschreiben, sollen in diesem Abschnitt einige Überlegungen zu Rahmen und den unterschiedlichen Formen, die sie in unterschiedlichen relativistischen Theorien annehmen können, angestellt werden. Dabei soll
Gemeinsamkeit der beiden Debatten erwähnt wurde. Immerhin macht es für die Überzeugungskraft dieses Vorwurfs einen erheblichen Unterschied, ob relativistische Konzepte sich sowohl von philosophischen absolutistischen als auch von alltagssprachlichen Konzepten entfernen oder ob sie zwar mit absolutistischen Konzepten kontrastieren, aber mit alltagssprachlichen übereinstimmen bzw. Erweiterungen oder Präzisierungen selbiger sind. Forster (1998), 181 f. EN 110.
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allerdings nicht in analoger Weise zu den vorigen Abschnitten vorgegangen werden und unterschiedliche Vorstellungen von Rahmen im Detail besprochen werden. Stattdessen werden einige eher abstrakt gehaltene Überlegungen zu groben Typen von verschiedenen Rahmenkonzepten und mit ihnen potentiell zusammenhängenden Problemen angestellt werden. Von diesen Problemen werden einige im dritten Teil der vorliegenden Arbeit, in der Besprechung konkreter Selbstaufhebungsargumente, wiederaufgenommen werden müssen. Darüber hinaus werden die hier anzusprechenden Probleme bzw. die spezifischen Formen von Rahmen, mit denen sie zusammenhängen, auch nahelegen, dass der Fokus auf sprachartige Rahmen nicht nur ein sinnvoller Fokus für diese Arbeit ist, sondern dass die hohe Verbreitung dieser Rahmenkonzeption, die diesen Fokus verlangt, damit zusammenhängt, dass insbesondere verhältnismäßig kleine, sprachartige Rahmen viele dieser Probleme nicht aufwerfen.
1.7.1 Wittgensteinʼsches Caveat Rahmen bestimmen, je nach relativistischer Spielart, was innerhalb ihres Bereiches wahr oder falsch, bewiesen oder widerlegt, selbstverständlich oder problematisch ist. Um diese festlegende Funktion zu haben, müssen sie normativ sein. Das gilt selbst dort, wo die Bezeichnung der jeweiligen Elemente des Rahmens keinen regelartigen Charakter nahelegt, z. B. wenn von Präsuppositionen die Rede ist. Dass der Schein hier trügen kann und sich hinter den empirisch klingendsten Sätzen wie z. B. „Die Welt existiert schon länger als fünf Minuten“ Regeln verbergen können, hat schon Wittgenstein in Über Gewißheit festgestellt. Denn eine Regel ist nicht unbedingt eine Aussage, die mit einem „Du sollst …“ beginnt, sondern das, was als Regel funktioniert. Genau das tut ein solcher Wittgensteinʼscher Angel-Satz,³²⁷ wie man nicht zuletzt daran sehen kann, dass er durchaus als lakonische Antwort auf die Hypothese geeignet ist, dass die Erde in 30 Sekunden explodiert, weil eine schreckliche Alien-Waffe auf sie gerichtet ist, die alle drei Minuten feuert. Aber auch ohne abstruse Beispiele ist offensichtlich, dass ein solcher Satz geradezu als Leitfaden benutzt werden kann, um bedenkenswerte Hypothesen von überdrehtem Unfug zu unterscheiden. Es sind gerade solche Sätze, die fest-
Die Bezeichnung des Angel-Satzes hat sich in Anschluss an die folgende Passage aus Über Gewißheit etabliert: „D. h. die Fragen, die wir stellen, und unsre Zweifel beruhen darauf, daß gewisse Sätze vom Zweifel ausgenommen sind, gleichsam die Angeln, in welchen jene sich bewegen.“ Wittgenstein (1970), 341 (Hervorhebungen seine).
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legen, was abstrus ist und was nicht. Oder besser: Solche Sätze helfen uns zu artikulieren, wie wir vorgehen, wenn wir das Abstruse vom Nichtabstrusen unterscheiden. Denn für Wittgenstein gibt es gerade nicht ein paar wenige Basissätze, die feststehen und aus denen sich dann in einem zweiten Schritt alles andere ergibt. Das macht er klar mit seiner Metapher eines Hauses, bei dem die Fundamente vom Rest des Hauses an ihrem Platz gehalten werden.³²⁸ Diese Metapher sollte man im Hinterkopf behalten, wenn es um die Rahmen des Relativismus geht. Denn hier trifft man bisweilen, sowohl bei Relativisten als auch bei Relativismus-Kritikern, auf recht unplausible Vorstellungen. Diese stellen z. B. einen Rahmen nach dem Modell eines Axiomensystems vor. Dieses Bild hat eine gewisse Berechtigung, denn tatsächlich handelt es sich bei einem Axiomensystem um ein regelartiges Gebilde, das in seinem Bereich festlegt, was richtig und was falsch ist. Bei sehr spezifischen Formen des Bereichsrelativismus, wie z. B. bei einem logischen Relativismus, kann der Rahmen auch tatsächlich ein Axiomensystem sein. Doch wenn man eine solche Ausdrucksweise in lediglich metaphorischer Weise, also jenseits von logischen oder mathematischen Bereichsrelativismen, benutzt, sollte man sich ihrer Beschränkungen bewusst sein; und das Bild des Axiomensystems ist gleich in mehreren Hinsichten fehlleitend. So legt es z. B. den oben schon erwähnten Eindruck nahe, man habe zunächst eine begrenzte Anzahl an Basisätzen und daraus ergebe sich erst in einem weiteren Schritt sozusagen der Inhalt des jeweiligen Themenbereiches, die wahren und falschen oder gerechtfertigten und nicht gerechtfertigten Aussagen. Nimmt man jetzt z. B. einen alethischen Relativismus, der davon ausgeht, dass Wahrheit relativ auf die jeweilige Sprache ist, kann eine solche Annahme nicht richtig sein. Formale Sprachen mögen durch das Aufstellen von Bedeutungspostulaten erzeugbar sein, aber natürliche Sprachen entstehen völlig anders. Jedes Angeben von Regeln kann hier nur ein nachträgliches In-Worte-Fassen von Sprachverhalten sein und eben keine Wiedergabe einer Liste von Regeln, die jeder Sprecher im Kopf mit sich herumträgt und die er konsultiert, wenn er gerade zufällig etwas bezeichnen möchte. Das wissen wir spätestens seit den Philosophischen Untersuchungen. Die Regeln leben hier in ihrer Anwendung.³²⁹ Ganz Ähnliches gilt für einen der mit Sicherheit meistzitierten Rahmen, nämlich für die Kultur. Auch eine Kultur ist kein ausformuliertes Regelwerk, das die Köpfe der ihr anvertrauten Geschöpfe bevölkert und durch Erziehung immer mehr mentale Kopien ihrer selbst erzeugt. Turner hat aus diesem einen Punkt ein
Vgl. Wittgenstein (1970), 248. Vgl. Wittgenstein (1984b), § 54. Siehe auch FN 333.
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ganzes Buch gemacht;³³⁰ dass er glaubt, damit den Relativismus widerlegt zu haben,³³¹ zeigt, wie weit verbreitet diese Vorstellung von Rahmen ist. Er legt dabei durchaus überzeugend dar, dass es für das Zustandekommen übereinstimmenden Handelns (und dazu zählt er auch das Sprach-Handeln) keiner übereinstimmenden „tacit rule book[s]“³³² bedarf.³³³ Ja mehr noch, dass die Vorstellung einer solchen Übereinstimmung angesichts der unterschiedlichen Erfahrungen und Lernprozesse unterschiedlicher Menschen völlig unplausibel ist.³³⁴ Das ist zwar keine Widerlegung des Relativismus, da der Relativismus als solcher nicht auf derartige Vorstellungen angewiesen ist, es ist aber sehr wohl eine Warnung an Relativisten, nicht unreflektiert auf irgendwelche vagen Bilder von Rahmen zu setzen, die bei näherem Hinsehen nicht viel mit der Realität zu tun haben können. Darüber hinaus ist es, hoffentlich, ein Korrektiv für die durchaus im Umlauf befindlichen Vorstellungen von Rahmen als Axiomensystemen. Ein weiterer problematischer Aspekt dieser Vorstellung ist, dass sie einem leicht den Blick für die Komplexität des zu beschreibenden Phänomenbereichs verstellt. Denn sie legt nahe, man könne etwa die Rechtfertigungspraxis innerhalb einer bestimmten Wissenschaft, oder, um auch einmal über den kognitiven Relativismus hinauszublicken, die ästhetischen Urteile einer bestimmten Epoche oder die Moral einer Gesellschaft auf einige wenige Sätze herunterbrechen. Die meisten Bereiche, in denen sich relativistische Ansätze finden lassen, bieten sich für eine solche Beschreibung nicht an. Das wird hoffentlich auch im folgenden Abschnitt, der sich mit dem Umfang von Rahmen befasst, deutlich werden.
Die Rede ist von Turner (2002). Vgl. Turner (2002), 74– 107. Turner (2002), 23. Einen verwandten Punkt macht Forster in Bezug auf Davidsons Sprachauffassung, wenn er schreibt: „[O]ne may reasonably doubt that appeal to a knowledge of semantic rules could constitute the sort of explanation in terms of a finite mechanism that Davidson is seeking. For it seems plausible to suppose that knowing semantic rules in essential part consists in possessing just the sort of infinite ability that Davidson is concerned to explain.“ (Forster (1998), 149) Und auch er führt diesen Punkt natürlich auf Wittgenstein zurück: „Think here, e. g., of Wittgensteinʼs and Kripkeʼs well known mathematical examples illustrating what is implied when we attribute to someone a grasp of a semantic rule. In doing so, part of what we are implicitly ascribing to him is a disposition to make an infinite set of appropriate responses in an infinite set of potential contexts for applying the rule so that, if those responses prove not in fact to be forthcoming when the contexts in question actually arise, then this is treated as a sufficient ground for withdrawing the attribution.“ Forster (1998), 175, FN 65. Vgl. Turner (2002), 26 ff.
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1.7.2 Große und kleine Rahmen Eine Möglichkeit, etwas Ordnung in das Chaos der diversen Vorstellungen von Rahmen verschiedener relativistischer Theorien zu bringen, ist ein Vergleich bezüglich ihres Umfangs. Von meinem Idiolekt heute um 15:43 Uhr, bis zu den sprachlichen Gemeinsamkeiten der gesamten Menschheit, von ihrem Entstehen bis zu ihrem Vergehen, kann man sich beispielsweise im Prinzip alles als Bezugspunkt einer Relativität auf Sprache vorstellen. Natürlich wird der Relativist in der Regel irgendetwas dazwischen meinen, aber es fällt schon auf, dass sich mit derartigen Fragen erschreckend wenig auseinandergesetzt wird. Beunruhigend ist dieses Versäumnis nicht nur deshalb, weil sich sowohl im ganz Kleinen als auch im ganz Großen jeweils ernstzunehmende Hindernisse für den Relativismus auftun, die im Laufe dieses Kapitels und weiter unten noch unter Bezug auf konkrete Selbstaufhebungsargumente zur Sprache kommen werden.³³⁵ Es ist auch so, dass sich eine Individuierung verschiedener Rahmen als komplizierte Angelegenheit erweist.
1.7.2.1 Individuierung Nehmen wir als Beispiel einen epistemischen Relativismus mit einem Überzeugungssystem als Rahmen, wie er z. B. aus einer Kohärenztheorie der Rechtfertigung³³⁶ resultieren könnte. Damit ein solches Überzeugungssystem eine möglichst simple Sache bleibt, nehmen wir einfach an, es bestünde aus als wahr akzeptierten Sätzen, die untereinander vielfältige logische und semantische Verbindungen haben. Ob es sich um das Überzeugungssystem einer Person oder einer Gruppe handelt, kann für den Moment außen vor bleiben. Wann sind nun zwei solcher Überzeugungssysteme gleich bzw. wie viel Veränderung braucht es, damit man sagen kann, ein Überzeugungssystem sei zu einem anderen geworden? Die einfachste Antwort ist wahrscheinlich zu sagen, es handele sich um zwei verschiedene Überzeugungssysteme, sobald eines einen Satz enthält, der im anderen fehlt. Doch diese Möglichkeit führt nicht nur dazu, dass es auf einmal eine völlig unüberschaubare Anzahl verschiedener Rahmen gibt, sie macht auch ein Reden über die Konsequenzen der Nutzung konkreter Rahmen so gut wie un-
Siehe Abschnitt 1.7.2.2, 1.7.2.3, 2.1.6 und 3.3.2. Die Wahl einer kohärentistischen Position in Bezug auf Rechtfertigung im Gegensatz zu einer in Bezug auf Wahrheit als Beispiel hat den Hintergrund, dass dabei die Grenze zwischen Rahmen und Inhalt klarer ist. Eine Kohärenztheorie der Wahrheit enthält nämlich das zusätzliche Problem, dass ein relativ auf den Rahmen wahrer Satz sozusagen automatisch in den Rahmen aufgenommen werden müsste.
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möglich. Denn in diesem Modell scheint es kaum eine Möglichkeit zu geben festzustellen, welcher Rahmen in einem bestimmten Fall überhaupt vorliegt. Unterschiedliche Rahmen scheinen sich hier permanent abzuwechseln, so dass ein Aufstellen von Verallgemeinerungen außer Frage steht.³³⁷ Um also einen Relativismus zu ermöglichen, der Aussagen über das Verhältnis konkreter Rahmen zu dem auf sie Relativen zulässt, müsste man strenger sein bezüglich der Frage, wann ein Rahmen wirklich ein anderer ist. Ein offensichtlicher Weg, dies zu tun, wäre eine Beschränkung auf Unterschiede, die mindestens auf einen Satz bezogen zu einer anderen Bewertung führen. Mit anderen Worten, hier wären nur solche Rahmen verschieden, bei denen es einen Satz gibt, der relativ auf den einen Rahmen gerechtfertigt und relativ auf den anderen ungerechtfertigt ist. Dieser Ansatz gehört wohl zu den brauchbarsten, allerdings ergäbe sich hier immer noch eine unüberschaubare Komplexität der Dinge. Aus einer anderen Perspektive lässt sich weiterhin bemängeln, dass sowohl bei diesem wie auch beim letzten Ansatz kaum eine Möglichkeit besteht, von einer Entwicklung eines einzelnen Rahmens zu sprechen. Das Konzept einer Entwicklung innerhalb eines Rahmens halten viele relativistische Theoretiker aber durchaus für wichtig,³³⁸ was sich typischerweise in der Verankerung des Rahmens und seiner Identität in einer dritten Entität niederschlägt. Dabei handelt es sich meistens um Individuen oder Gruppen, es ist aber ebenso möglich, eine Tradition in Form eines Kanons von Texten o. Ä. als Träger des Rahmens anzusehen. Die Rede vom Träger eines Rahmens ist bewusst gewählt – auch wenn die meisten relativistischen Theorien eine Unterscheidung zwischen einem Rahmen und seinem Träger nicht vorsehen. Es ist z. B. oft die Rede davon, dass etwa die
Natürlich kann man auch die Position vertreten, dass solche Verallgemeinerungen nun einmal aufgrund der Sachlage unmöglich sind und dass dies nicht die Schuld des jeweiligen Theoretikers ist. Allerdings sollte man hier bedenken, dass sich eine relativistische Theorie, die keine Aussagen über die Zusammenhänge verschiedener Rahmen und verschiedener Ergebnisse zulässt, weitgehend ihrer Argumentationsgrundlage begibt. Eine Begründung des Relativismus ohne irgendwelche Beispiele für Relativität dürfte extrem schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, sein. Hier könnte man einwenden, dass immerhin auch ein Vertreter einer sehr engen Interpretation des Ausdrucks „derselbe Rahmen“ Beispiele mit eindeutig verschiedenen Rahmen benutzen kann, während er die Frage, welche Rahmen ganz genau im Spiel sind, offenlässt. Doch ein solches Vorgehen wirft natürlich die Frage auf, ob hier nicht die Individuationsbedingungen so angepasst werden sollten, dass nur eindeutig verschiedene Rahmen verschiedene Rahmen sind. Vielleicht wäre es am klügsten, in Anlehnung an die Unterscheidung von synchronen und diachronen Fragestellungen in der Sprachwissenschaft, davon auszugehen, dass beide Betrachtungsweisen der Identität eines Rahmens ihre Berechtigung haben.
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Moral relativ auf eine bestimmte Gesellschaft sei, aber eine solche Aussage muss verkürzend (oder elliptisch) sein, denn hier wird die Notwendigkeit eines normativen Status des Rahmens ausgeblendet. Dieser Schritt wird bei vielen Theorien bereits in der Terminologie vollzogen: eine wissenschaftliche Schule, ein gesellschaftliches Regelsystem etc. Bei derartigen Ausdrücken ist von vornherein klar, dass es sich um ein regelartiges Gebilde handelt. Wird jedoch versucht, direkt auf irgendeine Gruppe zu relativieren, müssen in der Regel eher unplausible Hilfstheorien zwischengeschaltet werden, die die ‚Verpflichtung‘ eines Individuums, sich dem Handeln anderer anzugleichen o. Ä., nachträglich in die Theorie importieren müssen. Hier ohne eine gewisse Vorsicht von einer Verpflichtung zu sprechen, hieße zu verdrängen, dass es sich um ein Problem völlig anderer Art handelt als bei einer Verpflichtung zu einer spezifischen Handlung. Es geht ja gerade darum, sich einer bestimmten Beurteilungsweise von Handlungen als verpflichtend oder nicht verpflichtend anzuschließen und sich entsprechend zu verhalten. Eine solche Frage nach einer Verpflichtung zweiter Stufe entsteht allerdings m. E. durch ein falsches Stellen des Problems. Wo keine Bindung an einen bestimmten Rahmen auf unterster Ebene besteht, kann diese auch nicht auf höheren Stufen vermittels einer Meta-Verpflichtung herbeigeredet werden. Eine relativistische Theorie, die verschiedene Rahmen thematisiert, ist eben nicht die Ebene, auf der so etwas wie die eigentliche Rechtfertigung der nur defizitär (weil relativ) gerechtfertigten Aussagen innerhalb der Rahmen geleistet wird. Oder um es in Anlehnung an Wittgenstein zu sagen: Wo die Gründe ausgehen, kann auch sie nicht weiter Gründe liefern. Aber angenommen, das Verhältnis des Individuums zu ‚seinem‘ Rahmen ließe sich zufriedenstellend klären,³³⁹ bleibt die Individuierung von Rahmen über Gruppen, denen sie entsprechen, problematisch. Das Individuierungsproblem wird damit lediglich auf das der Gruppenzugehörigkeit verschoben. Das kann entweder zu dem Resultat führen, dass ein Individuum vielen sich überlappenden Gruppen zugehört und dass seine Zugehörigkeit wechseln kann, was wiederum die Gruppe schwer individuierbar macht. Oder man bekommt es, will man die Zugehörigkeit auf eine Gruppe limitieren, mit der Frage zu tun, wie dann ein Rahmen jemals einen anderen ablösen soll bzw. wie es überhaupt zur Existenz mehrerer Rahmen kommen können soll.³⁴⁰ Dieser Themenkomplex wird im Abschnitt zu offenen und geschlossenen Rahmen wiederaufzunehmen sein. Eine gelungene Zusammenfassung dieser Gruppe von Problemen für kulturrelativistische Theorien findet sich in Moody-Adams (1997), 43 ff. Auf diese Thematik wird in Abschnitt 1.7.2.3 noch zurückzukommen sein.
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1.7.2.2 Subjektivismus Aber diese Schwierigkeiten sehen noch harmlos aus im Vergleich zu denen, die sich bei der Betrachtung entweder sehr großer oder sehr kleiner Gruppen als Trägern von Rahmen ergeben: Hier wird deutlich, dass man, wie oben schon angekündigt, auf äußerst problematische Grenzfälle des Relativismus stößt. In beiden wird es höchst fragwürdig, ob man hier überhaupt noch von einem Relativismus sprechen sollte. Zunächst wäre da der Subjektivismus, wo die Größe der relevanten Gruppe auf eins zusammenschrumpft. Diese Auffassung ist nicht gerade verbreitet, vor allem nicht, wenn man nach einem kognitiven Subjektivismus sucht. Aber da sie von Protagoras in Platons Dialog Theaitetos vorgetragen wird (zumindest entspricht das den meisten in der Relativismusdebatte gängigen Auslegungen), wo das erste antirelativistische Selbstaufhebungsargument verortet wird, und in der Folge bisweilen mit dem Relativismus als solchem gleichgesetzt wird, verlangt das Verhältnis von Subjektivismus und Relativismus Beachtung. Ohne der Behandlung des platonischen Argumentes zu viel vorwegzunehmen,³⁴¹ lässt sich schon hier sagen, dass subjektivistischen Theorien etwas fehlt, was ich die normative Distanz nennen möchte. Platons Protagoras vertritt grob gesagt die Auffassung, dass, was auch immer ein Individuum für wahr hält, auch für es wahr ist. Wahrheit wird hier also auf ein Individuum relativiert, eigentlich sogar auf eine Individuen time-slice (jedenfalls finden sich keine Hinweise darauf, dass Meinungsänderungen etc. besonders problematisiert oder auch nur für ein wichtiges Thema der Wahrheitstheorie gehalten würden). Eine Unterscheidung zwischen Wahrheit und Für-wahr-Halten gibt es nicht. Das liegt daran, dass hier der Rahmen und das Relativierte zusammenfallen: Maßstab für Wahrheit ist das, was für wahr gehalten wird; und was durch diesen Maßstab gemessen wird, ist eben auch das, was für wahr gehalten wird. Für eine normative Beziehung zwischen Rahmen und Relativiertem wäre es aber notwendig, dass das, was verlangt wird, auch nicht erfüllt werden könnte.³⁴² Dafür bedürfte es aber einer Distanz zwischen den beiden Komponenten (die beurteilende Instanz dürfte nicht die zu beurteilenden Sache sein), die durch die subjektivistische Auffassung von Wahrheit ausgeschlossen ist. Der Zusammenfall von Wahrheit und Für-wahr-Halten im Falle der subjektivistischen Theorie der Wahrheit lässt schon erahnen, dass ein Fehlen von normativer Distanz ein Ausschlusskriterium für Erklärungen bestimmter Konzepte,
Es wird ausführlich in Abschnitt 2.1 behandelt. „Die Normativität der Sprache impliziert aber, daß Regelverstoß und Regelanwendung unterschieden werden können müssen[.]“ Gabriel (2008), 258.
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besonders in der Erkenntnistheorie, sein könnte. Das ist der hier vertretenen Auffassung nach auch tatsächlich der Fall; aber um zu sehen, warum genau das so ist, muss man allgemeinere Überlegungen anstellen. Viele erkenntnistheoretische Konzepte, wie in diesem Fall eben das der Wahrheit, aber auch z. B. das der Rechtfertigung, benötigen wir, um in eine kritische Auseinandersetzung mit unseren eigenen Gedanken einzutreten. Aber gerade der Möglichkeit, diese Funktion auszuüben, werden sie beraubt, wenn in ihrer Beschreibung die normative Distanz verschwindet. Unsere kognitiven Unternehmungen werden zum eindimensionalen Bewusstseinsstrom, in dem es keine besseren und schlechteren Gedanken gibt und damit auch keinen Sinn darin, nach Verbesserung des Gedachten zu streben. Wie auch verbessern, wenn die Anforderungen immer schon erfüllt sind? Zu den Kernfunktionen der genannten Konzepte gehört es, verschiedene, auch konkurrierende Gedanken zu vergleichen und abzuwägen. Sie erlauben uns einen bewertenden Blick auf eigene Gedanken – und damit einen gewissen Abstand von diesen –; und sie ermöglichen uns die Steuerung bezüglich des Weiterverfolgens und Fallenlassens, des Suspendierens und des Adaptierens unserer Gedanken.³⁴³ Also knapp gesagt: Mit der normativen Distanz verschwindet die Möglichkeit kritischer Reflexion.³⁴⁴
1.7.2.3 Große Gruppen als Träger Ein Subjektivismus, wie er Protagoras zugeschrieben wird, ist also sicherlich keine vertretbare relativistische Erkenntnistheorie. Es ist angesichts der Identität von Rahmen und Relativiertem sogar fragwürdig, ob man überhaupt von einem Relativismus sprechen sollte. Diese Frage stellt sich auch bei dem entgegengesetzten Extrem, einer sehr großen Gruppe als Träger des Rahmens. Der Extremfall einer großen Gruppe als Träger ist die Vorstellung eines Rahmens, dessen Träger die gesamte Menschheit ist. Diese Vorstellung ist offensichtlich ein Grenzfall für den Relativismus; und es wird schwierig zu beurteilen, welcher konkrete Entwurf noch
Ähnliches gilt auch für den Austausch mit anderen. Auf die normative Distanz und ihre Funktion wird näher im Zusammenhang mit Platons Selbstaufhebungsargument gegen Protagoras (siehe Abschnitt 2.1) eingegangen werden. Es liegt nahe, dass der Relativist das Bedürfnis nach normativer Distanz auch gegen einige seiner Gegner wenden könnte. So wurde z. B. im Abschnitt zu relativistischen Logikauffassungen davon gesprochen, dass diese es ermöglichen, auch logische Gesetze – oder besser Systeme – als kritisch hinterfragbar und bewertbar zu denken (siehe Abschnitt 1.6.2.2.2). Aber nicht nur bestimmte Spielarten des logischen Monismus, sondern allgemeiner Theorien, die fundamentalistisch vorgehen, in dem Sinne, dass sie bestimmte Aussagen als unhinterfragbar deklarieren, laufen Gefahr, einem Mangel an normativer Distanz zu erliegen.
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eine relativistische Theorie ist. In diesem Bereich findet ein fließender Übergang von relativistischen Theorien in einen anderen Theorietyp statt, den ich den der Begrenzungstheorien nennen möchte. Das beste Beispiel für eine Begrenzungstheorie ist Wittgensteins Tractatus in seinen klassischeren Lesarten, wie z. B. der von Peter Geach.³⁴⁵ Dabei kommt es mir darauf an, dass solche Theorien unser aller Blick auf die Welt, in einer gewissen Weise, als eine Innensicht begreifen, zu der es keine entsprechende Außenperspektive gibt.³⁴⁶ Der Unterschied zum Relativismus ist also, dass es lediglich eine Perspektive bzw. einen Rahmen geben soll und auch nur eine Perspektive bzw. einen Rahmen geben kann. Daraus resultieren dann die für Begrenzungstheorien charakteristischen Sagbarkeitsschwierigkeiten, die Begrenzungen, die unser aller Perspektive innewohnen (bei Wittgenstein verkörpert in der Logik), sind prinzipiell nicht-in-den-Blick-nehmbar, da die einzig vorhandene und mögliche Sprache auf das Beschreiben des Innenraums dieser Perspektive ausgerichtet ist und ein Kontrast zu einem Außen nicht hergestellt werden kann, da dieses schlicht nicht existiert. Die Begrenzungstheorie steht also eindeutig jenseits des relativistischen Bereiches, aber nicht jeder Ansatz, der einen menschheitsspezifischen Rahmen annimmt, ist eine solche. Ein schwierig zu bewertender Grenzfall³⁴⁷ sind z. B. Siehe z. B. Geach (1976). Eine Lesart von Kant und Wittgenstein als Begrenzungstheoretikern findet sich in Moore (1997). Seine eigene Auffassung, die mit der Sagen-und-Zeigen-Unterscheidung aus dem Tractatus arbeitet, geht ebenfalls in diese Richtung. James Conant liest den Tractatus in „The Search for Logically Alien Thought: Descartes, Kant, Frege and the Tractatus“ als einen Ausweis der Instabilität bzw. Unsinnigkeit von Begrenzungstheorien, insofern diese darauf angewiesen sind, ihre Grenzen der Sagbarkeit für ihre Aufstellung zu überschreiten. Das was sie sagen wollen, kann nicht gesagt werden; und trotzdem müssen sie es irgendwie kommunizieren, und der Leser soll am Ende tatsächlich etwas verstehen, weswegen hier letztendlich keine strikte Ablehnung der Existenz einer Außenperspektive vorliegt. Diese drohende Inkohärenz deutet sich bereits in der oben gegebenen Formulierung an, dass Begrenzungstheorien unser Denken „in einer gewissen Weise als eine Innensicht begreifen, zu der es keine entsprechende Außenperspektive gibt“, denn es ist natürlich unklar, inwiefern sich dann noch von einer Innensicht sprechen lässt. Interessanterweise handelt es sich bei dem Vorwurf, Begrenzungstheorien versuchten das Unsagbare zu sagen, um einen Selbstaufhebungsvorwurf; und Conants Aufsatz bietet noch viele weitere Berührungspunkte mit der Relativismusdebatte, da z. B., laut Conant, Frege seine einer Begrenzungstheorie nahestehende Sicht in Auseinandersetzung mit dem Psychologismus, also einer Variante eines auf das menschliche Denken relativierenden Relativismus, entwickelt. Siehe Conant (1991). Ein weiteres Beispiel, auf das hier nicht weiter eingegangen werden soll, da diese Art von Theorie in der gegenwärtigen Relativismusdebatte keine Rolle spielt, ist eine bestimmte Form des Psychologismus auf dem Bereich der Logik, bei der die Logik zum allgemeinmenschlichen psychologischen Aufbau gezählt wird. Besonders interessant in Bezug auf diesen Fall ist, dass diese Theoriespielart – vermittelt über Freges vehemente Kritik derselben – zu den Einflüssen auf Wittgensteins Tractatus zählt. Siehe zu diesem Thema Conant (1991), 142 ff.
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relativistisch ausgerichtete Ansätze, die, um dem Vorwurf einer drohenden Unverstehbarkeit bzw. Uninterpretierbarkeit der Nutzer radikal unterschiedlicher Rahmen zu entgehen, sehr allgemeine Gemeinsamkeiten aller Menschen bzw. der von ihnen genutzten Rahmen behaupten.³⁴⁸ Sollte man hier von einem gemeinsamen Rahmen der Menschheit, im vollen relativistischen Sinne, sprechen, oder haben wir es mit einer Form des Pluralismus zu tun? Wie diese Frage zu beantworten ist, hängt m. E. stark von den Details der jeweiligen Theorie ab, insbesondere dem Status, der den fraglichen Gemeinsamkeiten zugeschrieben wird. Doch zunächst ist es sinnvoll, einen Blick auf die Motivation zu werfen, die hinter einer Einordnung als Rahmen stecken könnte. Denn zunächst einmal ist es alles andere als offensichtlich, in welchem Sinne hier Relativität vorliegen sollte. Wie bei den Begrenzungstheorien scheint hier auf den ersten Blick die passende Außenperspektive zu fehlen, oder besser gesagt, es fehlen plausible Kandidaten für andere Rahmen. Wer sollte der Träger dieser anderen Rahmen sein? Ein Vergleich mit Ameisenbären scheint nicht das zu sein, worauf man mit dem Gedanken eines die Menschheit einenden Rahmens hinaus möchte. Die Motivation einer solchen Idee scheint eher aus der Richtung des Kulturrelativismus im weitesten Sinne, also aus dem Vergleich verschiedener Gruppen von Menschen, zu kommen.³⁴⁹ Nimmt man z. B. an, Moral sei relativ auf Kulturen oder Gesellschaften, liegt das Bild der Menschheit als Supergesellschaft oder einer von allen Menschen geteilten Minimalkultur nicht mehr fern. Ich spreche hier bewusst von einem Bild, denn natürlich liegt hier eine Übertragung der Vorstellung einer bestimmten Struktur, nämlich der eines Neben- und Nacheinanderbestehens verschiedener Rahmen, auf eine völlig andere Ebene vor, auf der wir überhaupt keine Anhaltspunkte für konkurrierende Rahmen oder auch nur entsprechende Träger haben. Trotzdem müsste nicht jede Theorie, die irgendetwas für speziesrelativ erklärt, zur Begrenzungstheorie werden. Das Charakteristische einer Begrenzungstheorie ist ja, dass der Kontrast zu einem Außen fehlt. Es gibt aber durchaus die Möglichkeit, Spezifika eines allgemeinmenschlichen Rahmens zu behaupten, zu denen sich ein anderes zumindest vorstellen lässt, weil die fraglichen Gemeinsamkeiten als positiv identifizierbar und thematisierbar gedacht werden. Hier wird der Unterschied zwischen Absolutem und Universellem wichtig. Diese Unterscheidung ist am häufigsten im Bereich der Ethik anzutreffen und Strategien dieser Art finden sich z. B. bei Baghramian und Winch. Kandidaten für solche Gemeinsamkeiten sind z. B. Tod, Nahrungsaufnahme, Geburt etc. Vgl. Baghramian (2004), 267 ff.; Winch (1970b), 107 ff. Das muss sie aber nicht, z. B. sind die in FN 347 erwähnten psychologistischen Theorien nicht immer so motiviert.
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besagt dort, dass eine absolute moralische Regel unabhängig von allen Rahmen wahr ist, während eine universelle moralische Regel relativ auf alle Rahmen Geltung besitzt.³⁵⁰ Nimmt man einen Hintergrund absoluter Wahrheiten außerhalb des Bereichs der Ethik an und ließen sich z. B. moralische Regeln aus Aussagen über die menschliche Natur, notwendige Bedingungen für das Bestehen von Gesellschaften o. Ä. ableiten, wären diese moralischen Regeln als absolut zu charakterisieren. Ein ethischer Absolutismus wäre in diesem Fall die korrekte Theorie der Moral.³⁵¹ Die Unterscheidung vom Universellen ist insofern wichtig, als die reine Übereinstimmung zwischen den Inhalten unterschiedlicher Rahmen noch nicht bedeutet, dass es einen solchen tieferliegenden Grund in etwas Absolutem gibt. Sie könnten sich rein zufällig ergeben haben; und insbesondere auf dem Gebiet einer eventuellen Kultur- oder Gesellschaftsrelativität der Moral ist es naheliegend, dass es Überschneidungen aus rein historischen Gründen geben dürfte, da wir alle dieselben Vorfahren teilen. Insofern bedeutet das Vorhandensein von etwas Universellem noch nicht, dass eine relativistische Auffassung falsch ist. Es kann im Höchstfalle als Indiz gewertet werden, dass es einen tieferliegenden, absoluten Grund für die Übereinstimmung gibt, und eine Suche nach einem solchen motivieren, aber die Annahme von universellen Übereinstimmungen ist grundsätzlich durchaus mit einem Relativismus vereinbar. Die Frage, die man also in Bezug auf Theorien stellen muss, die einen allgemeinmenschlichen Rahmen, der aus den Gemeinsamkeiten aller anderen Rahmen besteht, suggerieren, ist, welchen Status sie diesen Gemeinsamkeiten zuschreiben. Da natürlich bei weitem nicht alle relativistischen Theorien die Unterscheidung von Absolutem und Universellem thematisieren, kommt es dabei darauf an, auf die Argumentation, die für das Vorhandensein von solchen Gemeinsamkeiten vorgelegt wird, zu achten. Grob kann man sagen, dass Argumente, die von der Voraussetzung ausgehen, dass Rahmen bestimmte Vorgaben enthalten oder Ergebnisse produzieren müssen, auf einen absoluten Status hinauslaufen, während empirische Argumente nur auf eine tatsächliche Übereinstimmung, also einen nur universellen Status, hinführen.³⁵² Eine Position, die für alle Rahmen notwendige Bestandteile behauptet, wäre dann ein Pluralismus, eine
Siehe z. B. Rippe (1993), 14; Salehi (2002), 37 ff. Die Frage ob sich alle moralischen Regeln derartig ableiten lassen oder nur einige wenige, während andere als relativ gültige beschrieben werden können, wird hier offengelassen. Sie macht den Unterschied zwischen einem strikten Absolutismus und einem Pluralismus aus. Für eine Anwendung dieser Unterscheidung auf konkrete Argumentationen siehe Abschnitt 1.2.1, wo darauf hingewiesen wurde, dass Lukes zwar explizit von einem universellen Status spricht, die Art von Argument, die er dafür anführt, aber auf einen absoluten Status hinausläuft.
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Theorie, die dies nicht tut, ein Relativismus bzw. mit einem Relativismus kompatibel. Eine derartige pluralistische Theorie kann übrigens einige Probleme mit sich bringen. Denn es ist nicht klar, inwiefern die dort als allen Menschen gemeinsam ausgezeichneten Merkmale wirklich erhalten bleiben müssen. Dass z. B. eine Geburt, zumindest in unserem Sinne, kein Bestandteil jedes menschlichen Lebens sein müsste, ist bei entsprechendem technologischen Fortschritt durchaus denkbar. Biologische Tatsachen sind nicht grundsätzlich unveränderlich; wo genau hier eine Grenze der Machbarkeit oder auch der natürlichen Weiterentwicklung zu ziehen sein soll, ist zumindest nicht offensichtlich. Insofern wäre ein umfassender Relativismus, der sich nicht auf derartige biologische Grundkonstanten festlegt, vorzuziehen. Ohnehin haben solche mit absolutem Status versehenen Gemeinsamkeiten einen eigenartigen Status innerhalb der Theorie: Einerseits soll es zu ihnen, auch in Zukunft, keine reale Alternative geben, weswegen sie auch nicht als relativ bezeichnet werden können, andererseits sind sie offensichtlich innerhalb eines ganz spezifischen Rahmens (einem biologischen) abgeleitet. Begrenzungstheorien scheinen mir hier gegenüber einem auf diese Weise eingegrenzten Pluralismus recht zu behalten, wenn es schon (für uns?) unüberwindbare Grenzen gibt, dann lassen sie sich zumindest nicht so ohne weiteres innerhalb eines durch sie beschränkten Rahmens nachweisen. Unüberwindlichkeit in einem so starken Sinne scheint nur da mit einiger Sicherheit zuschreibbar, wo sie darin begründet liegt, dass auf der anderen Seite eben nichts ist, dass es so etwas wie eine andere Seite gar nicht gibt. Das heißt aber wie gesagt nicht, dass ein Universalismus nicht sehr wohl mit einer relativistischen Grundhaltung vereinbar wäre. Wo nicht aus einer dem Effekt nach mit einer absoluten identischen Einschränkung argumentiert wird, sondern rein negativ aufgezeigt wird, dass z. B. eine bestimmte Aussage relativ auf keinen bis dahin bekannten Rahmen wahr, gerechtfertigt o. Ä. ist und es auch nicht so aussieht als würde sich das ändern, gibt es auch keine Theorieelemente mit solch merkwürdigem Doppelstatus. Bei einem solchen ‚Speziesrelativismus‘ hätte man es also mit einer zweistufigen Theorie zu tun, bei der das meiste als im vollen Sinne relativ gilt. Einige wenige Tatbestände sind davon ausgenommen; da sie aber nicht als absolute gesehen werden, kann man sie als relativ in einem abgeschwächten oder vielmehr übertragenen Sinne bezeichnen. Allerdings scheint hier die Rede von einem die Menschheit einenden Rahmen, im Gegensatz zu einer Übereinstimmung zwischen allen bisher bekannten menschlichen Rahmen, wenig sinnvoll. Bei einer pluralistischen Theorie ist offensichtlich, woher die Motivation stammt, hier von einem weiteren Rahmen zu sprechen, selbst wenn auch in diesem Fall diese Ausdrucksweise problematisch ist, da er einen so völlig anderen Status hat als
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andere Rahmen. Aber zumindest ist in diesem Fall klar, dass der pluralistische Superrahmen echte theoretische Arbeit verrichtet, er unterscheidet akzeptable oder auch von Menschen verwendbare Rahmen von solchen, die dies nicht sind. In einer gewissen Hinsicht ist er die Legitimationsquelle für alle anderen Rahmen. Im Falle einer relativistischen Auffassung solcher Gemeinsamkeiten ist dies alles nicht gegeben, der Menschheitsrahmen ist eine reine Abstraktion vorgefundener Gemeinsamkeiten, die keinerlei Erklärungswert zu haben scheint, insofern sollte auf seine Annahme vielleicht besser von vornherein verzichtet werden.
1.7.3 Offene und geschlossene Rahmen Das Thema der Zugänglichkeit von Rahmen ist ein besonders wichtiges, wenn es um die Frage der Möglichkeit einer konsistenten relativistischen Theorie geht. Bekanntlich verwies schon Karl Popper auf die problematische Natur in sich abgeschlossener Rahmen, indem er sie mit Gefängnissen verglich.³⁵³ Obwohl Popper dies mit Sicherheit nicht als konstruktiven Hinweis an relativistische Theoretiker verstand, sondern vielmehr als eine mehr oder weniger vernichtende Kritik des Relativismus Kuhnʼscher Prägung, handelt es sich um eine wertvolle Warnung. Ein gewisses Mindestmaß an Offenheit der jeweiligen Rahmen ist in der Tat notwendig, damit ein Relativismus konsistent bleiben kann, und womöglich noch mehr, damit er auch plausibel ist. Um diese These wiederum plausibel zu machen, wird es zunächst nötig sein (soweit dies bei der Behandlung von Rahmen im Allgemeinen möglich ist) zu konkretisieren, was mit offenen Rahmen einerseits und geschlossenen Rahmen andererseits überhaupt gemeint ist, denn diese Zuschreibungen sind nicht minder metaphorisch als Poppers Bild vom Gefängnis. Poppers eigene Kritik richtet sich vor allem gegen das Inkommensurabilitätstheorien häufig zugeschriebene Voneinander-abgeschlossen-Sein.³⁵⁴ Allerdings sind noch weitere Aspekte wichtig, wenn es um die Frage geht, wie viel Offenheit ein Rahmen braucht, um Teil einer konsistenten relativistischen Theorie sein zu können.Verwandt mit der Frage, ob Verständigung zwischen den Rahmen möglich ist, ist die der rahmenübergreifenden Zugänglichkeit für Beschreibungen.Wichtig ist es außerdem zu betrachten, inwiefern die Theorie es vorsieht bzw. damit umgehen kann, dass dieselbe Person Gebrauch von mehreren Rahmen machen kann oder verschiedenen rahmentragenden Gruppen angehört. Damit hängt wiederum eng die Frage zusammen, inwieweit der Rahmen das Verhalten
Vgl. Popper (1970), 56. Vgl. Popper (1970), 56 f.
1.7 Rahmen
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im Allgemeinen und das Denken im Speziellen determiniert. Sich mit diesen Fragen und den Antworten, die relativistische Theorien auf sie gegeben haben, zu befassen, müsste eine eigene Arbeit beanspruchen. Deswegen wird jedes Problemfeld nur kurz angerissen werden bzw. in groben Umrissen dargestellt werden können. Es wird jedoch hoffentlich gelingen darzustellen, warum die jeweiligen Fragen für jede relativistische Theorie gestellt und beantwortet werden sollten und wo jeweils die Fallstricke verborgen liegen. Zunächst zu der Frage der Isolation der Benutzer verschiedener Rahmen voneinander. Hier liegt natürlich zunächst der Gedanke an Bedeutungsrelativismen nahe; aber auch dort, wo die Maßstäbe dafür, was wahr oder gerechtfertigt ist und wie man dies prinzipiell feststellen könnte, extrem auseinandergehen, scheint Kommunikation an ihre Grenzen zu gelangen. Der Relativist ist auf jeden Fall eine Erklärung schuldig, wie trotzdem ein Austausch zwischen zwei Rahmen stattfinden können soll. Dies wird besonders deutlich, wenn man den Spezialfall betrachtet, in dem nicht zwei Benutzer verschiedener Rahmen versuchen, sich konstruktiv auseinanderzusetzen, sondern einer versucht, den Rahmen des anderen zu beschreiben, denn genau in dieser Situation befindet sich ja der Relativist. Popper monierte zu Recht, dass viele Äußerungen von Kuhn so klingen, als wären verschiedene Rahmen einander vollkommen unzugänglich, was natürlich nicht vereinbar ist mit dem Versuch, andere Rahmen zu beschreiben und damit eben diese Unzugänglichkeit zu begründen.³⁵⁵ Wo eine Theorie die Unmöglichkeit ihrer eigenen Behauptungen impliziert, ist sie klarerweise von Selbstaufhebung bedroht.³⁵⁶ Also darf eine konsistente relativistische Theorie nicht behaupten, ein Rahmen lasse sich prinzipiell nicht aus einem anderen heraus beschreiben, denn auf die Möglichkeit dieser Beschreibung ist sie angewiesen, zumindest so weit, dass es möglich sein muss, einen anderen Rahmen als solchen zu identifizieren. Das heißt natürlich weder, dass jeder Rahmen von jedem anderen aus beschrieben werden können muss, noch dass eine solche Beschreibung immer den Maßstäben beider Rahmen vollständig gerecht werden könnte. Ebenso könnte ein Relativismus sehr wohl behaupten, um zwei Rahmen miteinander zu vergleichen, müsse man in der Regel auf einen dritten ausweichen, entscheidend ist, dass die Offenheit im Sinne einer Sichtbarkeit für andere Rahmen gewahrt bleibt, sonst entzieht sich der Relativismus seine eigene Grundlage.
Vgl. Popper (1970), 56 f. Dass dieser Vorwurf an Kuhn verfehlt ist, wurde im Inkommensurabilitätskapitel angesprochen. Auf die Frage der möglichen Selbstaufhebung bedeutungs- und metaphysisch-relativistischer Theorien aufgrund dieser Problemlage wird in den Kapiteln 3.2.1 und 3.2.2 noch einmal zurückzukommen sein.
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1 Viele Relativismen, eine Definition?
Um diese Thematik zu vertiefen, soll nun kurz auf die Vorschläge eines konkreten Autors eingegangen werden. Es geht Mario Biagioli in seinem Aufsatz „From Relativism to Contingentism“ um das Aufstellen von klaren, universell gültigen Gesetzmäßigkeiten des Wandels von Rahmen („mechanisms“³⁵⁷), die nach dem Modell der Evolution zu verstehen sein sollen. Diese Tendenz erinnert an den Historismus, in seinem Bestreben, trotz eines Bewusstseins von Relativität alle Perspektiven zu umfassen, durch eine Theorie zweiter Stufe, die die Relativität sozusagen auffängt, indem sie die einzelnen ‚Entwicklungsschritte‘ ableitbar bzw. voraussagbar macht (wobei sich natürlich die Frage stellt, inwiefern bei einer an der Evolution orientierten Theorie von Vorhersagbarkeit die Rede sein kann, die Rede von einem Mechanismus legt diese aber nahe). Ein wohlwollender Leser muss natürlich die Frage stellen, ob sich die Berechtigung eines solchen Vorgehens aus Biagiolis Bestehen auf einer festen Verankerung im eigenen Rahmen heraus erklärt, ob er sich also der Standortgebundenheit seiner Angabe von Mechanismen durchaus bewusst ist. Sollte dies so sein, muss es allerdings verwundern, dass er, obwohl er das Vergessen der Standortgebundenheit bei relativistischen Theorien mehrfach kritisiert, eine solche Standortgebundenheit bezüglich seiner eigenen Thesen zu keinem Zeitpunkt explizit macht. Darauf zu bestehen, dass die eigenen Überlegungen genauso standortgebunden seien wie die thematisierten Theorien, dass die Vorgaben eben dieses Standorts nun einmal verbindlich für denjenigen seien, der ihn einnimmt, scheint einerseits gegenläufig zum Aufstellen von Gesetzmäßigkeiten mit dem Anspruch uneingeschränkter Reichweite (und das ist vielleicht der Grund, warum Biagioli davor zurückschreckt), es ist aber in Wirklichkeit eine notwendige Voraussetzung für jede relativistische Theorie, die in ihren eigenen Gegenstandsbereich fällt und nicht in Widersprüche verwickelt werden will. Sie darf gerade kein Versuch sein, alle möglichen Rahmen in sich aufzunehmen und damit einen übergeordneten Status zu erlangen. Sie darf ebenso kein Versuch sein, ‚die Gesetze der Relativität‘ im Sinne der ‚absolut wahren Gesetze der Relativität‘ aufzustellen, aber das muss sie eben auch nicht. Entgegen der häufig, vor allem in Diskussionen über den moralischen Relativismus, verwendeten (aber selten explizit gemachten) Annahme besteht nämlich kein direkter Zusammenhang zwischen der Reichweite einer Theorie im Sinne ihres Gegenstandsbereichs und dem Bereich der Menschen, die denselben Rahmen nutzen. Obwohl diese Annahme im Kontext des moralischen Relativismus, trotz ihrer Falschheit, noch einigermaßen vertretbar klingt (etwa in der Variante: „Wir sollten von anderen nur solche Handlungen erwarten, die sich aus ihrem
Biagioli (1996), 207.
1.7 Rahmen
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eigenen moralischen Rahmen ergeben“), wird sie, wo der Gegenstandsbereich nicht mit der Menge aller Menschen zusammenfällt, völlig unplausibel. Warum sollte man z. B. als Vertreter eines alethischen Relativismus nicht von Menschen sprechen dürfen, die nicht denselben Rahmen benutzen, sehr wohl aber von Bäumen, die dies ebenfalls nicht tun? Probleme ergeben sich nur dort, wo der andere Rahmen unreflektiert den eigenen Maßstäben unterworfen wird. Das kann zwar, z. B. unter Bedingung eines epistemischen Relativismus, geschehen, wenn die Wissensansprüche eines anderen unmittelbar an den Vorgaben des eigenen Rahmens gemessen werden. Es stimmt auch, dass der Relativismus oft benutzt wurde, um auf solche Gefahren aufmerksam zu machen, und dass er das tun sollte.³⁵⁸ Was hingegen nicht stimmt, ist die Annahme, es sei dasselbe, wenn eine Beschreibung bestimmten Regeln folgt und wenn eine Beschreibung andere Beschreibungen an diesen Regeln misst. Diese beiden Ebenen von Regeln sollten klar unterschieden werden; und solange man dies tut, besteht kein Problem darin, die Wissensansprüche anderer in einem ihnen fremden epistemischen Rahmen zu beschreiben und sogar zu bewerten. Auch schon die entsprechende Annahme im moralischen Relativismus kann sich nicht aus einer relativistischen Theorie als solcher ergeben, sondern würde einen Zwischenschritt erfordern, wie etwa eine Regel, die Respekt vor der mora-
So z. B. bei Winch, wenn er darauf hinweist, dass die magischen Praktiken der Azande nicht an denselben Maßstäben gemessen werden sollten wie wissenschaftliche Überzeugungen, weil sie nicht dieselbe Rolle erfüllen sollen. Winch bringt sogar ein recht starkes Argument dafür vor, dass der Ethnologe in seinen Beschreibungen und Bewertungen die Maßstäbe der zu untersuchenden Gesellschaft verwenden muss. Um nämlich Regularitäten im Verhalten ihrer Mitglieder verstehen zu können, muss der Ethnologe laut Winch deren Konzepte für Typen von Handlungen verwenden; und um sie zu beurteilen, muss er deren Maßstäbe, im Sinne ihrer Ausrichtung auf einen bestimmten Zweck, verwenden. Trotzdem ist auch Winch der Ansicht, dass dies nicht zu einer unreflektierten Übernahme der untersuchten Konzepte und Maßstäbe verpflichtet, sondern dass ein Verständnis derselben und Kenntnis einer Beschreibung bzw. Bewertung unter Verwendung derselben Voraussetzung für ein volles Erfassen der jeweiligen Gesellschaft nach den der Ethnologie inhärenten Regeln ist. Eine Theorie, nach der Relativität nach sich zieht, dass ein Rahmen nicht aus einem anderen, sondern immer nur aus sich selbst heraus beschrieben werden darf, wäre damit im besten Falle eine Vulgarisierung von Winchs Haltung. Diese Haltung ergibt auch außerhalb des Bereichs des Kulturrelativismus Sinn. Natürlich ist es nötig, wenn man denn einen Rahmen aus einem anderen heraus untersuchen möchte, zunächst dessen spezifische Konzepte und die Zwecke, zu denen er verwendet wird, zu verstehen und dieses Verständnis auch in eine Beschreibung oder Bewertung zu inkorporieren. Das heißt aber weder, dass dieses Vorgehen nicht im Großen und Ganzen von den Vorgaben des eigenen Rahmens geleitet ist (manchmal wird man vielleicht einige von diesen suspendieren müssen, um zu dem nötigen Verständnis zu gelangen), noch, dass das einmal Verstandene nicht aus dem eigenen Rahmen heraus kritisierbar ist. Vgl. Winch (1970a), 4 f. Siehe auch Abschnitt 1.2.1.
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lischen Autonomie jedes Menschen in einem sehr starken Sinne fordert. Eine solche Regel mag sinnvoll sein, sie ist aber, wenn es denn um eine konsistente relativistische Theorie gehen soll, Teil des eigenen moralischen Rahmens und nicht der relativistischen Theorie der Moral. Beide, der Gegenstandsbereich im Sinne der Gegenstände, auf die sich eine Theorie (dem eigenen Anspruch nach) bezieht, und der Bereich derjenigen, die den Rahmen der Theorie teilen, sollte also klar unterschieden werden, um potentielle Missverständnisse auszuschließen. Die Begrenzung eines Geltungsanspruches in dem Sinne, dass die relativistische Theorie ‚einsieht‘, dass sie keine Gültigkeit für diejenigen hat, die ihren Rahmen nicht teilen, bedeutet also nicht, dass sie keine Aussagen über sie machen kann.³⁵⁹ Auf diesen Unterschied muss man insbesondere bestehen, wenn man denn Aussagen mit nicht begrenzter Reichweite innerhalb einer globalen relativistischen Theorie machen möchte; sie verhindert nicht, dass man Aussagen z. B. über alle Theorien macht, aber sie verlangt, die Beschränkung in Hinsicht auf den Rahmen ihrer Gültigkeit explizit zu machen. Solange sie nämlich nicht für den Leser selbstverständlich ist (und das ist sie für Biagioli, wie man an seiner Kritik anderer Ansätze bemerkt, offensichtlich nicht), sollte auf sie hingewiesen werden, um den falschen Eindruck zu vermeiden, hier handle es sich um einen seiner eigenen Kritik verfallenden Ansatz. Der angesprochene Problembereich lässt sich zusammenfassen als die Notwendigkeit einer konsistenten Einbettung eines Beobachterstandpunktes in eine relativistische Theorie. Ein umfassender kognitiver Relativismus unterliegt grundsätzlich denselben Einschränkungen wie die von ihm beschriebenen Theorien, denn er fällt in seinen eigenen Anwendungsbereich. Deswegen muss ein solcher Beobachterstandpunkt immer auch als Teilnehmerstandpunkt betrachtet werden können.³⁶⁰ Wird aber der Blick vom einen Rahmen in den anderen für unmöglich erklärt, müsste der Relativismus ja von sich selbst behaupten, er unterliege keinem Rahmen, um seine Beschreibung zu ermöglichen. Dann erläge er aber dem Vorwurf, er beanspruche für sich eine absolute Gültigkeit, die er ansonsten für unmöglich erklärt.
Siehe zu dieser Unterscheidung auch Abschnitt 2.1.4. Die Gegenüberstellung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive entspricht der Sicht auf die Selbstaufhebungsproblematik, die in Hönig (2006) vertreten wird. Auch Thomas Nagels Selbstaufhebungsargumente in The Last Word – die in der vorliegenden Arbeit aufgrund ihrer Verwendung des Kontrasts von subjektiv und objektiv, anstatt des Kontrasts von relativ und absolut, nicht weiter besprochen werden – scheinen sich durchweg aus dieser Unterscheidung zu speisen. Siehe Nagel (2001).
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Die Offenheit von Rahmen für eine Betrachtung aus anderen Rahmen heraus bedeutet natürlich auch, dass Kommunikation zwischen Rahmen prinzipiell möglich ist. Ganz einfach gesagt wird ein stupides Aneinandervorbeireden wohl seltener sein, wo den Beteiligten klar ist, dass sie mit verschiedenen Maßstäben operieren oder schlicht verschiedene Sprachen sprechen – und das soll ja gerade feststellbar sein. Allerdings darf hier unter Kommunikation auch nicht zu viel verstanden werden, es geht nicht darum, dass sich die betreffenden Parteien dann auch einigen können oder zu einer Diskussion in der Lage sein müssten, die nach ihrer beider Maßstäben eine rationale ist.³⁶¹ Vielmehr sollte ihnen erst einmal lediglich klar sein, dass sie auf verschiedenen Grundlagen operieren und sich dementsprechend darauf einstellen können. Eine weitere Einschränkung ist notwendig: Je nach Relativismus kann es natürlich auch Rahmen geben, von denen aus es nicht feststellbar ist, dass jemand anderes einen anderen Rahmen bemüht, und das kann aus ganz trivialen Gründen der Fall sein. Nimmt man z. B. eine sehr feinkörnige Unterscheidung verschiedener Diskursbereiche an, von denen jeder seine eigenen Rahmen hat, könnte es z. B. passieren, dass ich mich in einem Rahmen wiederfinde, der nichts als Autoreifen thematisieren kann. In einem solchen Fall müsste ich zu einem geeigneteren Rahmen wechseln, um festzustellen, dass mein Gegenüber den Rahmen Autoreifen 212 bemüht, während meiner Autoreifen 167 ist. Das stellt allerdings kein grundsätzliches Problem dar, solange geeignete Rahmen zur Verfügung stehen und Wechsel möglich sind. Das führt zu dem nächsten Aspekt, der für die Offenheit eines Rahmens relevant ist. Kann eine Person zwischen Rahmen wechseln oder verschiedene miteinander verbinden? Für viele relativistische Theorien ist die Antwort ein ganz selbstverständliches „ja“. Vor allem solche, die mit in ihren Funktionen ausdifferenzierten Rahmen arbeiten, wie z. B. den Symbolsystemen bei Goodman, brauchen solche Wechsel, da man mit nur einem ihrer Rahmen kaum ein Leben bestreiten könnte. Eine drängende Frage stellt sich z. B. eher bei relativistischen Theorien, die Moral für kulturabhängig halten. Denn hier ist der Bedarf für Übergänge o. Ä. genauso vorhanden, er ist nur weniger offensichtlich. Zumindest wenn man der gängigen Kritik entgehen möchte, dass eine kulturabhängige Moral von ihren ‚Mitgliedern‘ unkritisierbar wäre und damit auch keine Weiterentwicklung denkbar, kommt man um solche Überlegungen nicht herum. Dasselbe gilt natürlich für kognitive Relativismen, bei denen der Rahmen so umfassend ist, Die Rahmen bleiben ja unterschiedlich, auch wenn man sich dieser Unterschiedlichkeit bewusst ist. Allerdings wird dadurch natürlich auch eine Möglichkeit der Annäherung durch Modifizierung der Rahmen eröffnet; ob man diese jedoch nutzen möchte, steht auf einem völlig anderen Blatt.
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dass es zu einem ‚Alleinvertretungsanspruch‘ des Rahmens für seine Benutzer kommen kann. Hier muss man klar sagen, dass Theorien, die z. B. Kulturen als zu einheitlich, als zu umfassend, als zu monolithisch betrachten, sich erhebliche Probleme einkaufen. Vor allem, wenn eine solche Auffassung sich mit der Vorstellung eines starken determinierenden Einflusses des jeweiligen Rahmens auf die Gedanken und Handlungen Einzelner verbindet, landet man bei einer Theorie, die nicht nur die Veränderung eines Rahmens so gut wie ausschließt, sondern auch einen Standpunkt, von dem aus sich relativistische Theorien formulieren lassen, nicht bereitstellen kann und unter anderem deswegen – wie in der Besprechung konkreter Selbstaufhebungsargumente noch darzulegen sein wird³⁶² – sehr viel stärker von Selbstaufhebung bedroht ist als Relativismen, die weniger umfangreiche und flexiblere Rahmen verwenden.
1.8 Relativismusdefinitionen Nachdem nun die unterschiedlichen Formen des kognitiven Relativismus vorgestellt wurden, ist es Zeit, zur Frage der Definition des Relativismus zurückzukehren. Im ersten Kapitel wurde Kölbels Relativismusdefinition kurz vorgestellt und als Arbeitsdefinition eingeführt. Die Begründung, warum ausgerechnet Kölbels Definition zu benutzen sei, wurde auf später verschoben, da an diesem Punkt noch das Material fehlte, an dem die Güte einer Relativismusdefinition zu bemessen ist – tatsächlich vertretene relativistische Theorien. Inzwischen sind viele Spielarten des Relativismus vorgestellt worden, und es ist genug Material zusammengekommen, um Definitionen an der Realität des Relativismus messen zu können. Um nun Kölbels Definition als die am besten geeignete herauszustellen, werden insgesamt fünf zumeist sehr unterschiedliche und recht bekannte Definitionen des Relativismus vorgestellt. Dabei wird die Bewertung der ersten drei negativ ausfallen – sie alle verstehen den Relativismus falsch, allerdings tun sie das auf instruktive Art und Weise. Das Aufzeigen ihrer Fehler soll helfen, ähnliche Irrwege bei Definitionen und Beschreibungen des Relativismus zu vermeiden. Die vierte Definition enthält wichtige Elemente einer zufriedenstellenden Relativismusdefinition, hat allerdings noch einige Schwachstellen. Zuletzt soll dann Kölbels Definition, mit einer kleinen Ergänzung bzgl. globaler Relativismen, als passendste und brauchbarste Definition herausgestellt werden.
Siehe Abschnitt 3.3.2.2.
1.8 Relativismusdefinitionen
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1.8.1 Siegel Harvey Siegel ist ein Kritiker des Relativismus, und er – bzw. einige seiner Einwände – werden uns im Teil über Selbstaufhebungsargumente wieder begegnen. Sein Fokus ist, wie auch in dieser Arbeit, der kognitive Relativismus. Deswegen legt Siegel eine Definition einer Theorieform vor, die er als epistemologischen Relativismus bezeichnet, die offenbar unterschiedliche Formen des kognitiven Relativismus umfassen soll: For any knowledge-claim p, p can be evaluated (assessed, established, etc.) only according to (with reference to) one or another set of background principles and standards of evaluation s1, … sn; and, given a different set (or sets) of background principles and standards s’1, … s’n, there is no neutral (that is, neutral with respect to the two (or more) alternative sets of principles and standards) way of choosing between the two (or more) alternative sets in evaluating p with respect to truth or rational justification. pʼs truth and rational justifiability are relative to the standards used in evaluating p. ³⁶³
Was hier sofort ins Auge fällt, ist der Sprung von vergleichsweise schwachen relativistischen Thesen über die Bewertung von Wissensansprüchen, die im ersten der beiden Sätze der Definition das Thema sind, zu einer sehr starken relativistischen These („truth and rational justifiability are relative“) im zweiten Satz.³⁶⁴ Sieht man genauer hin, wird deutlich, dass die Beschreibung im ersten Satz tatsächlich ‚nur‘ einen epistemischen Relativismus vorlegt, denn hier ist aus-
Siegel (1987), 6 (Hervorhebungen seine). Nähme man nur die beiden im ersten Satz artikulierten Merkmale, hätte man eine zwar unvollständige, aber durchaus ausbaufähige Definition des epistemischen Relativismus. Auch die Definition Kölbels, für die in diesem Abschnitt argumentiert werden soll, schreibt dem Relativismus zwei sehr ähnliche Thesen der Notwendigkeit eines Rahmens zum Bestehen bestimmter Sachverhalte einerseits und der Unmöglichkeit, einen einzelnen Rahmen als einzigen relevanten Rahmen auszuzeichnen, andererseits, zu. Unvollständig wäre Siegels Definition aber immer noch insofern, als Kölbel, zu Recht, eine dritte Bedingung an relativistische Theorien stellt, die, an Siegels Ausdrucksweise angepasst, besagen würde, dass sich die Beurteilungen anhand verschiedener Rahmen auch tatsächlich unterscheiden müssen. Vermutlich nimmt Siegel keine solche Bedingung in seine Definition auf, da er mit einem sehr subjektivistischen Konzept von „framework“ operiert. In seiner Argumentation gegen den Relativismus klingen oftmals die Ideen an, dass es für jede gewünschte Beurteilung einen Rahmen gibt, der sie bereitstellt, und dass man sich einen Rahmen mehr oder weniger willkürlich aussuchen kann. Beides sind m. E. Vorstellungen, die in den meisten relativistischen Theorien nicht vertreten werden, sondern beinahe ausschließlich in Relativismus-kritischen Texten auftauchen. Trotzdem erklären sie Siegels Auslassung, denn unter Annahme dieser Eigenschaften von Rahmen sind die Variation in den Beurteilungen und ihr wahrscheinliches Auftauchen in konkreten Gesprächssituationen schon durch die Verwendung des entsprechenden Begriffs in der Definition sichergestellt.
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schließlich von epistemischen Bewertungen durch Erkenntnissubjekte die Rede, von Rechtfertigung und nicht von Wahrheit. Der zweite Satz hingegen behauptet ganz explizit einen epistemischen und einen alethischen Relativismus – und das ohne irgendeinen Hinweis darauf, dass es sich um zwei unterschiedliche Thesen handelt. Würde es sich nicht um eine Definition handeln, sondern um eine Darstellung der Gründe für einen alethischen Relativismus, müsste man Siegel hier einen gewaltigen ungerechtfertigten Sprung in der Argumentation bescheinigen. Zwar lässt sich einigermaßen direkt von einem epistemischen Relativismus als Prämisse zu einem alethischen Relativismus argumentieren, aber dafür bedarf es eines – alles andere als selbstverständlichen – Zwischenschritts, nämlich eines epistemischen Wahrheitsbegriffs. Die Vermutung liegt nahe, dass Siegel epistemischen und alethischen Relativismus deswegen vermischt, weil er es für eine Selbstverständlichkeit hält, dass der epistemische Relativismus genau denselben Einwänden erliegt, wie es der alethische seiner Ansicht nach tut. Das sieht man sehr deutlich an Siegels Auseinandersetzung mit den Thesen von Field,³⁶⁵ der genau die Art von Theorie vertritt, die Siegels Definition nicht zulässt: einen epistemischen Relativismus ohne alethischen Relativismus. Dort argumentiert Siegel ausführlich dafür, dass Fields Theorie für dieselben Einwände offen ist wie alethische Relativismen – was nicht nötig wäre, wenn die Theorie von vornherein unter seine Definition fiele –; und er spricht von „Fieldʼs absolute-truth version of relativism [and] its relativetruth cousins“.³⁶⁶ Er sieht den Unterschied also sehr wohl, hält ihn allerdings nicht für bedeutend genug, um eine Modifikation seiner Definition vorzunehmen, da beide Varianten im Endeffekt der Selbstaufhebung anheimfallen sollen. Allein das würde ausreichen, Siegels Definition zum Zwecke einer Untersuchung, die die Selbstaufhebungsfrage offenhalten muss, abzulehnen. Es sollte auch schon hier darauf hingewiesen werden, dass sich bei der Behandlung unterschiedlicher Selbstaufhebungsargumente noch zeigen wird, dass sich die Argumente gegen den alethischen und den epistemischen Relativismus, trotz struktureller Ähnlichkeiten bzgl. einiger Argumente, in wichtigen Punkten unterscheiden. Das merkt man übrigens auch in Siegels Abschnitt zu Field, wo er ein seinem NSBF-Argument³⁶⁷ (die Abkürzung steht für: „necessarily some beliefs are false“³⁶⁸) gegen den alethischen Relativismus strukturell sehr ähnliches Argument verwendet, es aber wohlweislich nicht als Instanz des NSBF-Arguments
Vgl. Siegel (1987), 25 – 31. Siegel (1987), 29. Siegels NSBF-Argument wird in Abschnitt 3.3.1 besprochen. Vgl. Siegel (1987), 6.
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bezeichnet (man könnte es als „notwendigerweise sind einige Überzeugungen ungerechtfertigt“-Argument bezeichnen). Siegels NSBF-Argument trifft also nicht ohne Anpassungsleistung auf den epistemischen Relativismus zu. Bezeichnenderweise liegt im Fall von Siegels zweitem Selbstaufhebungsargument³⁶⁹ gegen den von ihm so betitelten epistemologischen Relativismus genau das umgekehrte Problem vor: Da es vornehmlich auf epistemischer Ebene arbeitet,³⁷⁰ ist seine Relevanz für den alethischen Relativismus nicht ohne weiteres klar.³⁷¹ Dazu bedürfte es zumindest eines Hinweises, dass, wenn alle Wahrheit relativ ist, auch die Wahrheit von Aussagen über Rechtfertigung relativ ist, und des Schritts zur Gegenstandsebene, dass diese Relativität der Wahrheit von Rechtfertigungsaussagen auch Rechtfertigung relativ macht, und einer Reformulierung von Siegels Rede von Bewertungsstandards o. Ä. Denn ein weiteres Problem mit Siegels Definition ist, dass sie den alethischen Relativismus, wie er in dieser Arbeit vorgestellt wurde – also als Theorie, die Wahrheit auf Symbolsysteme o. Ä. relativiert – nicht erfasst, denn diese Form des alethischen Relativismus behauptet keine Relativität auf epistemische Standards.³⁷² Anders ausgedrückt: Siegels epistemologischer Relativismus ist eine sehr spezifische Form von Relativismus, die geradezu dafür gemacht scheint, für beide seiner Hauptargumente angreifbar zu sein. Seine Definition ist nicht in der Lage, die Realität des Variantenreichtums relativistischer Theorien zu erfassen. Das gilt nicht nur für die hier bereits erwähnten Fälle eines epistemischen Relativismus ohne alethischen Relativismus und eines alethischen Relativismus, der nicht
Dieses Argument wird in Abschnitt 3.1.1 vorgestellt werden. Siegel kürzt es als UVNR ab, die Abkürzung steht für „undermines the very notion of rightness“. Siegel (1987), 4. Fairerweise muss dazu gesagt werden, dass nicht in jeder Formulierung des UVNR-Arguments, die Siegel gibt, die Wahrheitsebene ausgespart bleibt. Sie kommt z. B. sehr wohl vor in dem Platon-Zitat, das Siegel als Quelle für sein Argument anführt. Allerdings bleibt sie ausgerechnet bei der Anwendung des UVNR-Arguments auf den epistemologischen Relativismus in Siegels Sinne aus (abgesehen davon, dass von der Annahme aus, der epistemologische Relativismus sei wahr, eine reductio versucht wird, aber das ist keine Thematisierung eines relativistischen Wahrheitsverständnisses, sondern ein Artefakt der Form eines reductio-Arguments). Dasselbe gilt für die Anwendung auf Fields epistemischen Relativismus. Vgl. Siegel (1987), 4; 8; 29. Es soll hier keineswegs bestritten werden, dass es Formen des alethischen Relativismus gibt, die genau so aufgebaut sind, wie Siegel es beschreibt. Es soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass das bei weitem nicht auf alle Formen des alethischen Relativismus zutrifft. Genauso wenig soll bestritten werden, dass die Möglichkeit bestehen könnte, aus allen alethischen Relativismen Aussagen zu unterschiedlichen epistemischen Standards herzuleiten. Aber diese Herleitung wäre erstens keine Trivialität und sollte deswegen nicht in einer Definition vorausgesetzt werden, und zweitens wäre eine Definition, die die Hauptthesen einer Theorie wiedergibt, einer solchen, die ausschließlich Konsequenzen dieser Hauptthesen anspricht, jederzeit vorzuziehen.
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primär mit variablen epistemischen Standards operiert. Ebenfalls nicht erfasst von Siegels Definition werden die anderen beiden Formen des globalen Relativismus: der Bedeutungsrelativismus und der metaphysische Relativismus.³⁷³ Siegels Relativismusdefinition ist also aus zwei Gründen abzulehnen: Erstens vermischt sie zwei Formen des Relativismus, die sich differenzierter und genauer betrachten lassen, wenn man sie unterscheidet, nämlich den alethischen und den epistemischen Relativismus, und zweitens erfasst sie nur einen Bruchteil des tatsächlichen relativistischen Theoriespektrums.³⁷⁴
Siegel bespricht zwar in einem gesonderten Kapitel eine These, die er als „framework relativism“ bezeichnet, die er gegen Davidsons Ablehnung des Konzepts der conceptual schemes verteidigt und die er unter anderem Kuhn zuschreibt. Aber auch diese Form des Relativismus versteht er als eine Theorie unterschiedlicher epistemischer Standards. Vgl. Siegel (1987), 42. Es gibt einen dritten Grund, auf den hier nicht weiter eingegangen wird, da er weniger mit dem Wortlaut der Definition zu tun hat als mit dem in Siegels weiterem Text sichtbar werdenden Verständnis eines der verwendeten Termini. Siegel benutzt den Ausdruck „neutral“ austauschbar mit „non-question-begging“; und eine relativistische Theorie als solche ist nicht darauf verpflichtet, dass jedes Mal, wenn zwischen zwei Rahmen entschieden wird, „question-begging“ stattfindet. Das wurde z. B. in der Diskussion zu Bueno deutlich, wo auf einer klaren Trennung zwischen den Rahmen, aus denen es auszuwählen gilt, und dem Rahmen, innerhalb dessen die Auswahl stattfindet, bestanden wurde. Diese Trennung ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass auf keinen Fall ein und derselbe Rahmen in beiden Funktionen vorkommen darf, sondern in dem Sinne, dass, erstens, da es sich um unterschiedliche Funktionen handelt, zu erwarten ist, dass es sich in den meisten Fällen um unterschiedliche Rahmen handelt, und zweitens, dass ein bestimmter ‚Metarahmen‘ sich nicht unbedingt selbst als ‚Objektrahmen‘ wählen muss. Letzteres ist deswegen der Fall, weil es grundsätzlich darum geht, einen Rahmen für eine bestimmte Funktion auszusuchen; und es ist durchaus möglich, dass die Untersuchung innerhalb eines Rahmens ergibt, dass andere Rahmen für bestimmte Zwecke einfach besser geeignet sind. Es sei hier auch daran erinnert, dass im Falle von Kuhn angesprochen wurde, dass Zweifel an dem Bestandteil der Kuhnʼschen Theorie, dass ein Paradigma grundsätzlich sich für besser erklärt als andere Paradigmen, bei einem Kuhn-kritischen Autor zu finden sind, sich aber angesichts der Besonderheiten von Kuhns Paradigmenbegriff ausräumen ließen, da die Herausbildung des Paradigmas um konkrete Vorbildtexte herum diese Form der Selbstreproduktion unterstützt. Also kurz gesagt: Weder muss in jedem Fall, in dem einer der Rahmen, die zu bewerten sind, gleichzeitig die Bewertung vornimmt, ein Fall von „question-begging“ vorliegen, noch sollte angenommen werden, dass nur die Rahmen, die bewertet werden sollen, auch als Rahmen, innerhalb deren die Bewertung stattfinden könnte, zur Verfügung stehen. Auf das Thema von Siegels Verständnis von „neutral“ wird in Abschnitt 3.1.1, in Zusammenhang mit Siegels UVNR-Argument zurückzukommen sein.
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1.8.2 Boghossian Paul Boghossian stellt in seinem Buch Fear of Knowledge zwei Definitionen für relativistische Theorien vor: eine, die einen epistemischen Relativismus darstellen soll, und eine, die einer Formulierung des metaphysischen Relativismus am nächsten kommt. Der Einfachheit halber wird hier nur Letztere besprochen werden, obwohl viele Kritikpunkte gleichermaßen auf Boghossians Formulierung des epistemischen Relativismus zutreffen, da die Struktur beider Definitionen dieselbe ist. Boghossians Definition für das, was er „Global Relativism about Facts“ nennt, lautet folgendermaßen: [A]. There are no absolute facts of the form p. [B]. If our factual judgments are to have any prospect of being true, we must not construe utterances of the form ‚p‘ as expressing the claim p but rather as expressing the claim According to a theory, T, that we accept, p. [C]. There are many alternative theories for describing the world, but no facts by virtue of which one is more faithful to the way things are in and of themselves than any of the others.³⁷⁵
Es sollte gleich zu Beginn gesagt werden, dass diese Definition zu viele und zu schwerwiegende Probleme hat, als dass hier auf alle eingegangen werden könnte. Stattdessen möchte ich mich auf zwei besonders gravierende Punkte bzgl. Boghossians Relativismusbedingung [B] konzentrieren, die sich beide darauf beziehen, was für eine Art von Theorie hier beschrieben wird und warum diese wenig mit dem Relativismus, wie er bis jetzt hier vorgestellt wurde, gemeinsam hat. Der erste Punkt lautet, dass Boghossians Formulierung viel eher zu einem indexikalischen Relativismus bzw. Kontextualismus passt als zu einem echten Relativismus. Der zweite lautet, dass Boghossian den Relativismus mit einer unplausiblen error theory befrachtet, wie sie keiner der hier bis jetzt besprochenen oder auch der von Boghossian angeführten Autoren tatsächlich vertritt und die m. E. bei keinem Relativisten zu finden ist. Danach soll kurz auf die Ursachen dieser Defizite eingegangen werden, die sich ganz knapp so zusammenfassen lassen, dass Boghossian zu viele seiner eigenen Voraussetzungen, sowohl sprachphilosophischer als auch schlicht absolutistischer Art, in seine
Boghossian (2006a), 52 (Hervorhebungen seine).
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Formulierung des Relativismus einfließen lässt, so dass gar keine kohärente Theorie dabei herauskommen kann. Zunächst also zu der Frage, was für eine Art von Theorie Boghossian hier beschreibt. Es wurde gerade erwähnt, dass sie eher einem indexikalischen als einem echten Relativismus entspricht. Warum das qualifizierende „eher“? Weil die Art von Theorie, die Boghossian vorstellt, sich in einer gravierenden Hinsicht von indexikalischen Relativismen unterscheidet, und zwar darin, dass sie nicht die Sprache beschreiben möchte, wie sie tatsächlich ist, sondern eine Sprachreform vorschlägt. Es ist die nach Boghossians Vorstellungen relativistisch reformierte Sprache, die an die Beschreibungen indexikalischer Relativisten erinnert, Beschreibungen die diese – es sollte noch einmal betont werden – als Beschreibungen der Semantik tatsächlich gesprochener Sprachen vorschlagen. Die interessante Parallele ist die folgende: Bei beiden findet die Relativierung innerhalb der Satzinhalte statt bzw. sie ist in ihnen enthalten. Boghossians Relativismus schlägt vor, dass eine Relativierungsklausel im Satzinhalt vorkommen sollte; und der indexikalische Relativismus beruht auf der Vorstellung, dass bestimmte Propositionen Indizes enthalten, die je nach Rahmen unterschiedlich ‚aufzufüllen‘ sind.³⁷⁶ Beide Vorstellungen erklären also Wahrheitswertvariationen mit Variationen des Inhalts von Sätzen.³⁷⁷ An sich wäre diese Analogie mit einer der Ausformungen semantischer Relativismen kein Problem,³⁷⁸ wenn nicht im Abschnitt zum semantischen Relativismus festgestellt worden wäre, dass die Unterscheidung von indexikalischem und echtem Relativismus sich in angepasster Form auf viele globale relativistische Theorien übertragen lässt, und wenn nicht die Herangehensweise des indexikalischen Relativismus am ehesten der des Bedeutungsrelativismus entspräche. Andere globale Relativismen zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie eine Erklärung unterschiedlicher Wahrheitswerte durch die Bedeutung von Sätzen ablehnen.³⁷⁹ Also passt Boghossians Beschreibung weder auf die Art von
Ein weiterer deutlicher Hinweis in diese Richtung ist, dass Boghossian seine Relativismusdefinition in enger Auseinandersetzung mit der Auffassung von Harman erarbeitet, der ein wichtiger Vorläufer indexikalisch-relativistischer Ansätze ist. Siehe Boghossian (2006b). Siehe zum indexikalischen Relativismus Abschnitt 1.4.1. Im Abschnitt zum semantischen Relativismus wurde zwar festgestellt, dass er sich stark von ‚klassischeren‘ Formen des Relativismus unterscheidet, aber wie gesagt gibt es ja auch gewichtige Unterschiede zwischen Boghossians Definition und dem indexikalischen Relativismus. In diesem Sinne merkt auch Wright an, dass in Boghossians Vorschlag das für Relativisten so wichtige Prinzip der content-preservation verletzt wird. Wright bezieht sich dabei auf relativistische Theorien aus dem semantischen Bereich, wie z. B. die von MacFarlane, die unter Kölbels Etikett des echten Relativismus fallen. Vgl. Wright (2008), 383.
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Theorie, die hier als alethischer, noch auf die, die hier als metaphysischer Relativismus vorgestellt wurde. Einen Bedeutungsrelativismus will Boghossian aber ganz klar nicht artikulieren.Wie oben dargestellt wurde, ist der Kernpunkt des Bedeutungsrelativismus, dass in unterschiedlichen Rahmen völlig disparate Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung stehen können, so dass der Zugriff auf Propositionen selbst relativ wird. Von Zugangsproblemen zu bestimmten Bedeutungen o. Ä. ist bei Boghossian aber zu keinem Zeitpunkt die Rede. Ein solcher Ansatz wird durch das Explizitmachen der Relativierung in der Beschreibung des Satzinhaltes – die ja auch beim indexikalischen Relativismus vorgenommen wird und die weiter oben genutzt wurde, um ihn vom Bedeutungsrelativismus abzugrenzen³⁸⁰ – vielmehr unmöglich gemacht. Denn die Art, wie ein Satz mit dem zu ihm gehörigen Rahmen in Beziehung tritt, ist eine völlig andere. Während es beim Bedeutungsrelativismus die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprache oder einem bestimmten Begriffsschema war,³⁸¹ wird der Rahmen in Boghossians Modell schlicht denotiert. In der Tat steht dieses Modell nicht nur einer Deutung als Bedeutungsrelativismus im Wege, vielmehr ist es überhaupt nicht mit einem Verständnis von Rahmen als etwas Sprachartigem vereinbar, und eine solche Vorstellung von Rahmen ist ganz klar der Regelfall bei kontemporären globalen Relativismen. Bei einem Rahmen, der eine Sprache oder etwas Ähnliches ist, muss bereits eine Zuordnung zu einem Rahmen erfolgt sein, damit eine Zeichenfolge überhaupt interpretiert werden kann. Eine Denotation eines Rahmens ohne vorheriges Festlegen eines Rahmens ist damit unmöglich, d. h., eine Festlegung des Rahmens durch Denotation, wie Boghossian sie vorschlägt, ist unmöglich. Seine Auffassung scheint also mit keiner der Formen des Relativismus, die hier bis jetzt vorgestellt wurden, so recht zusammenzupassen. In diesem Sinne kritisiert auch Kalderon Boghossians Herangehensweise, indem er darauf hinweist, dass Relativität in der Regel nicht als Relation des Folgens aus einer Menge von Aussagen gedacht wird, wie Boghossian es tut (und wie es in seiner Formulierung „[a]ccording to a theory […]“³⁸² zum Ausdruck kommt). Die bei Boghossian mit dem Relativismus identifizierte Idee, dass ein bestimmter Diskursbereich als aus Sätzen folgend, von denen wir strenggenom-
Siehe Abschnitt 1.5.5. Die hier benutzte Formulierung ist verkürzend, wenn man z. B. Zeichenfolgen bedenkt, die sich in mehreren Sprachen lesen lassen. Für den vorliegenden Kontext sollten diese Komplexitäten der Satzindividuierung und verwandte Probleme aber keinen Unterschied machen. Boghossian (2006a), 52.
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men wissen, dass sie falsch sind,³⁸³ angesehen wird, identifiziert Kalderon hingegen zutreffend als typisch für fiktionalistische³⁸⁴ Ansätze. Boghossian scheint sich dessen zumindest teilweise bewusst zu sein, bezeichnet er doch in seinem Aufsatz „What is Relativism?“ den dort von ihm definierten Relativismus – einen ethischen Relativismus, dessen Definition weitestgehend parallel zu den Relativismusdefinitionen in Fear of Knowledge ist – auch als „a Fictionalist brand of Replacement Relativism“³⁸⁵. Doch fiktionalistische Ansätze, auch darauf weist Kalderon hin,³⁸⁶ beschreiben unsere Einstellung zu den Aussagen innerhalb dieser Diskursbereiche eben nicht als eine der Überzeugung bzw. als eine Überzeugung, dass diese Aussagen wahr sind, sondern in der Regel als acceptance ³⁸⁷; und ein nicht unerheblicher Teil der Diskussion um den Fiktionalismus befasst sich damit, die Unterschiede zwischen beiden auszubuchstabieren. Deswegen kommt Kalderon auch zu dem Urteil, dass Boghossian uns hier eine inkohärente Version des Fiktionalismus vorstellt, wenn er einerseits darauf besteht, dass unsere Rahmen aus falschen Aussagen bestehen, und andererseits darauf, dass unsere Einstellung zu ihnen eine des Besitzens von Überzeugungen ist, während der Fiktionalismus, grob gesprochen, besagt, dass unsere Einstellung zu den Aussagen eines bestimmten Diskursbereiches keine des Besitzens von Überzeugungen sein kann, weil diese (strenggenommen) falsch sind.³⁸⁸ Boghossians Definition lässt also nicht nur in
Da sie, um die Formulierung aus Boghossians Definition zu bemühen, Aussagen der Form ‚p‘ sind und sich damit auf absolute Tatsachen der Form p beziehen, die es laut dem Relativismus aber nicht geben soll. Der bekannteste fiktionalistische Ansatz, der auch bei Kalderon als Beispiel angeführt wird, ist wohl Hartry Fields Auffassung der Mathematik. Laut Field gibt es keine Zahlen o. Ä., aber weil die Mathematik ein nützliches Werkzeug in unserem Umgang mit der Welt ist, behandeln wir Aussagen, die aus mathematischen Prinzipien folgen, und diese Prinzipien selbst, als wären sie wahr (für einen guten Überblick siehe z. B. die Einleitung in Field (1989)). Eine viel genutzte Analogie ist die der Wahrheit innerhalb der Welt eines Romans: Dass Sherlock Holmes ein Detektiv ist, ist (in den am weitesten verbreiteten semantischen Theorien) strenggenommen nicht wahr, weil es Holmes nicht gibt, trotzdem können wir uns hervorragend über Holmes’ Eigenschaften unterhalten, wenn wir die Romane über ihn behandeln, als wären sie wahr. Boghossian (2006b), 24 (Hervorhebungen seine). Vgl. Kalderon (2009), 233 f. Die Unterscheidung stammt aus Van Fraassen (1980). Eine der vielen verwirrenden Eigenschaften von Boghossians Diskussion des Relativismus ist, dass er in seiner Definition ausgerechnet das Wort „accept“ benutzt, um die Beziehung von Sprecher und Rahmen zu beschreiben, aber an keiner Stelle einen ernsthaften Versuch unternimmt, dieses anders zu interpretieren denn als „glauben“ oder „für wahr halten“. Genau diese Inkohärenz wird dann zur Hauptstütze von Boghossians Argumentation gegen den Relativismus.
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ihrer Treffsicherheit zu wünschen übrig, so dass sie vielleicht mit einigen Präzisierungen und Umformulierungen brauchbar bliebe, sondern sie unterstellt dem Relativisten eine in recht offensichtlicher Weise inkohärente Theorie.³⁸⁹ Diese Inkohärenz beruht noch auf einem weiteren Theoriebaustein, den Boghossian dem Relativismus zwar zuschreibt, der sich aber in relativistischen Theorien in der Regel nicht wiederfindet und der sich auch nicht wiederfinden sollte, wenn man einen plausiblen Relativismus vertreten möchte. In Boghossians Darstellung wird dem Relativismus eine error theory in Bezug auf die Aussagen in seinem Gegenstandsbereich unterstellt, d. h., der Relativismus behauptet nach Boghossian, diese Aussagen wären falsch. Deswegen schlägt ja, laut Boghossian, der Relativismus seine Sprachreform vor. In Bezug auf den epistemischen Relativismus hieße das also, alle bis dahin gemachten nicht explizit relativierten Aussagen über Rechtfertigung o. Ä. wären falsch, während ein globaler Relativismus sogar behaupten müsste, alle bis dahin gemachten Aussagen wären falsch. Diese Charakterisierung ist aus mehreren Gründen inakzeptabel. Der wichtigste ist die Tatsache, dass eine error theory nicht nur in keiner der hier bis jetzt beschriebenen Formen des Relativismus vorkommt, sondern, dass sie mit diesen sogar unvereinbar ist. Besonders deutlich wird das im Falle des alethischen Relativismus, schließlich wurde dieser durch die Aussage charakterisiert, dass es Aussagen geben kann, die in unterschiedlichen Rahmen unterschiedliche Wahrheitswerte haben.³⁹⁰ Wenn nun aber alle Aussagen falsch sind, also denselben Wahrheitswert haben, gibt es trivialerweise keine solchen Wahrheitswertkontraste.³⁹¹ Auch der metaphysische Relativismus, der, wie oben gesagt, am ehesten zu Boghossians Bezeichnung „Global Relativism about Facts“ passt, kann nicht behaupten, dass alle Aussagen falsch wären, da hier eine der Kernaussagen war, dass es unterschiedliche Aussagen in unterschiedlichen Rahmen gibt, die einander zu widersprechen scheinen (und zwar in einer Art und
Jedenfalls wenn man die in der Definition verwendete Terminologie so interpretiert, wie es Boghossian tut. Vgl. FN 387. Es ist interessant, dass Boghossians Definition noch eine weitere offensichtliche Unstimmigkeit enthält, die ihm in seiner Argumentation gegen den Relativismus nützt. Denn eine offensichtlichere Quelle für einen Regress, als einen Satz in der Wiedergabe seiner eigenen Wahrheitsbedingungen bzw. dessen, was wir eigentlich mit ihm meinen sollten, vorkommen zu lassen, ist schwer denkbar. Siehe Abschnitt 1.5.6. Genau genommen müsste es natürlich heißen, dass es Aussagen in unterschiedlichen Rahmen gibt, die Übersetzungen voneinander sind und unterschiedliche Wahrheitswerte haben, das ergibt in Bezug auf die Frage nach der Vereinbarkeit mit einer error theory aber keinen Unterschied. Wenn es stimmt, wie weiter oben angesprochen wurde, dass viele Bereichsrelativismen sich als lokale alethische Relativismen beschreiben lassen, trifft dieser Einwand genauso auf Boghossians Charakterisierung des epistemischen Relativismus zu.
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Weise, die sich nicht ohne weiteres durch Bedeutungsunterschiede erklären lässt) und die trotzdem beide wahr sind. Hier ist auch die Kritik relevant, die Crispin Wright in Bezug auf die Anwendbarkeit von Boghossians Definition auf den semantischen Relativismus anbringt. Wright weist darauf hin, dass der semantische Relativismus gerade dazu angetreten war zu erklären, wie zwei unvereinbar erscheinende Aussagen wahr sein können; diese Motivation wird durch Boghossians Relativismusverständnis vollständig untergraben.³⁹² Hinzu kommt, dass die Annahme einer globalen error theory extrem unplausibel ist,³⁹³ besonders in Verbindung mit einer sprachreformatorischen Ausrichtung, welche unsere jetzigen Aussagen durch von uns bereits bildbare Aussagen ersetzen will, und dass es insbesondere höchst fragwürdig ist, warum sich ein Relativist eine solche Theorie aufladen sollte. Denn zu den Gründen, warum Boghossian sie bescheinigen muss, gehört immerhin die Annahme, dass z. B. im Falle des epistemischen Relativismus unser Konzept der Rechtfertigung eines der absoluten Rechtfertigung ist bzw. dass der Ausdruck „Rechtfertigung“ ausschließlich auf absolute Rechtfertigungen referiert.³⁹⁴ Im Gegensatz dazu sind epistemische Relativisten typischerweise entweder der Auffassung, dass sie unser bereits relativistisch verfasstes – und bei näherem Hinsehen klar als solches erkennbares – Konzept der Rechtfertigung ausbuchstabieren oder dass sie unsere Praxis der Rechtfertigung, auf die wir uns mit dem Ausdruck beziehen, so beschreiben, wie sie nun einmal ist. Anders gesagt: Sie sind der Ansicht, dass viele unserer Aussagen über Rechtfertigung wahr sind und dass diese von Absolutisten falsch interpretiert werden, ob nun in dem Sinne, dass diese das Wort falsch Vgl. Wright (2008), 385. Man stelle sich z. B. die Frage, wie es kommen sollte, dass wir brauchbare Konzepte von „wahr“ und „falsch“ besitzen, wenn es vor Boghossians relativistischer Umgestaltung der Sprache wahrscheinlich nicht eine einzige wahre Aussage gibt bzw. gab. Interessant ist übrigens, dass Boghossian diese Voraussetzung nicht als solche zu sehen scheint, denn in seiner Antwort auf Wright (2008), die sich auf die Anwendbarkeit von Boghossians Definition auf den semantischen Relativismus bezieht, gibt er an, dass solche Theorien völlig anders sind als der Relativismus, der ihm vorgeschwebt sei, da sie Thesen semantischer Natur seien, während er eine metaphysische These habe untersuchen wollen (vgl. Boghossian (2008), 409). Aber klarerweise enthält Boghossians Definition eine semantische These, wenn er von einer absolutistischen Interpretation der Alltagssprache ausgeht und behauptet, für den Relativisten müssten bestimmte Aussagen falsch sein. So kritisiert auch Kalderon ihn dafür, dass er eine metalinguistische These definiert, wo er eine metaphysische definieren sollte (vgl. Kalderon (2009), 232). Zwar sollte man Boghossian zugestehen, dass die von ihm vertretene Definition tatsächlich eine metaphysische These enthält, deutlich zu sehen in Bedingung [A], aber eine semantische These enthält sie eben auch, der besonders in Bedingung [B] Ausdruck verliehen wird und die wohlgemerkt die meisten problematischen Aspekte seiner Definition zu verantworten hat.
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verstehen, oder in dem Sinne, dass sie das Phänomen, das das Wort bezeichnet, falsch verstehen. Boghossian schiebt also dem Relativismus eine absolutistische Interpretation unserer Sprache unter, in der „P ist durch Grund Q gerechtfertigt“ ‚in Wirklichkeit‘ heißt „P ist durch Grund Q absolut gerechtfertigt“. Damit sind wir auch schon bei den Gründen, die hinter dem Scheitern von Boghossians Definition stecken, angelangt. Fear of Knowledge ist voll mit Annahmen, die im besten Fall kaum mit den stärkeren Formen des Relativismus, mit denen es sich auseinandersetzt, vereinbar sind und die im schlechtesten Fall schlicht absolutistisch sind. Das fängt schon beim Vokabular und ganz grundlegenden Fragen der Präsentation des Relativismus an. Ein Beispiel hierfür ist, dass Fear of Knowledge mit dem Modell Satzbedeutung = Proposition = Wahrheitsbedingung arbeitet. Dabei handelt es sich um eine weit verbreitete Ansicht; und insofern wäre es in vielen Kontexten mit Sicherheit unproblematisch, sie unhinterfragt vorauszusetzen. In einer Diskussion allerdings, in der viele Teilnehmer gerade den Bedeutungsbegriff problematisieren (wie es für Vertreter des alethischen und des metaphysischen Relativismus typisch ist) und in der ausgerechnet das Verhältnis von Sprache, Wahrheit und Tatsachen thematisiert wird, kann es ein Verständnis der gegnerischen Position unmöglich machen. Ein weiterer Fall ist die oben schon angesprochene Frage, ob man wirklich annehmen sollte, dass Rahmen aus Überzeugungen des Sprechers bestehen oder ob das Sprecher-Rahmen-Verhältnis nicht völlig anders gedacht werden muss. Auf zwei weitere wichtige, damit zusammenhängende Punkte macht wiederum Kalderon aufmerksam, der erstens die Frage aufwirft, warum Boghossian zwar ganz klar Formen des Relativismus diskutiert, die auf Gruppen wie Sprach- oder Forschungsgemeinschaften ausgerichtet sind, seine Diskussion aber grundsätzlich auf dem individuellen Level verbleibt.³⁹⁵ Zweitens wirft Kalderon den von Wittgenstein inspirierten Punkt auf, ob man nicht anstatt einer Relativität auf eine Sammlung von Sätzen besser von einer Relativität auf die Tatsache der (sozialen) Übereinstimmung bzgl. der Sätze sprechen sollte.³⁹⁶ Auch dieser Punkt ist wichtig, denn ein Großteil von Boghossians Argumentation beruht darauf, dass Rahmen als Systeme von Sätzen aufgefasst werden.³⁹⁷ Der fraglos schwerwiegendste Fall findet sich allerdings wiederum in Boghossians relativistischem Sprachreformprogramm. Frederick F. Schmitt charakterisiert, bezogen auf Boghossians Definition des epistemischen Relativismus, den Schritt von der bisherigen Bedeutung zur neuen und verbesserten folgen-
Vgl. Kalderon (2009), 228; 234 f. Vgl. Kalderon (2009), 235. Siehe auch Abschnitt 1.7.1.
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dermaßen: „[Bedingung [B]] explains how ascriptions of particular justificatory relations could be absolutely true, despite epistemic non-absolutism. It does so by claiming that ascriptions of particular justificatory relations are made absolutely true by nonepistemic absolute facts.“³⁹⁸ Das beschreibt in der Tat völlig zutreffend, was Bedingung [B] tut. Anstatt der durch Bedingung [A] als nicht existent ausgewiesenen absoluten Tatsachen werden andere absolute Tatsachen als truthmaker für die relativistisch reformierte Sprache ausgewiesen. Das klingt in Bezug auf den epistemischen Relativismus völlig harmlos, und Schmitts Beschreibung hat auch keine erkennbare kritische Absicht. Bedenkt man allerdings, dass Boghossian exakt dieselbe Technik in Bezug auf seinen „Global Relativism about Facts“ verwendet, wird klar, dass die Suche nach absoluten Tatsachen, die den Platz der diskreditierten absoluten Tatsachen einnehmen sollen, nur in den Widerspruch führen kann. Was sollte hier das Äquivalent zu den absoluten, nichtepistemischen Tatsachen sein? Für einen Bereichsrelativismus ist es natürlich grundsätzlich möglich, absolute Tatsachen außerhalb des fraglichen Bereichs heranzuziehen. Aber ein globaler Relativismus in Bezug auf Tatsachen bestreitet ja gerade, dass es irgendwelche absoluten Tatsachen gibt. Aus Boghossians Bedingung [B] spricht laut und deutlich die Forderung nach absoluten Tatsachen als Quellen der Wahrheit unserer Aussagen. Sie erlaubt ausschließlich absolute Tatsachen als truthmaker. Mit einem globalen Relativismus ist sie damit völlig unvereinbar, sie ist, wie bereits angeklungen, gerade ein Insistieren auf die Absolutheit von Tatsachen. Anders gewendet: Mit seiner Bedingungen [B] schließt Boghossian die Möglichkeit, dass ein globaler Relativismus die zutreffende Beschreibung des Verhältnisses von Sprache und Welt ist, definitorisch aus, da er dieses Verhältnis als eines von Bezugnahme auf absolute Tatsachen festschreibt. Relative Tatsachen können in diesem Bild des Verhältnisses von Sprache und Welt nicht anders denn als parasitär gegenüber absoluten Tatsachen verstanden werden, und diese Auffassung von Relativität schließt einen globalen Relativismus von vornherein aus. Boghossians Definition des Relativismus ist also ohne Frage abzulehnen. Aber es gibt etwas, was aus seiner Behandlung des Relativismus deutlich geworden ist – und das ist, dass man sehr vorsichtig sein muss, was die Zuschreibung von umfassenden sprachrevisionistischen Thesen an relativistische Theorien betrifft. Auf den ersten Blick mag es so erscheinen, dass unsere komplette diskursive Praxis umgestaltet werden müsste, wenn ein Relativismus, insbesondere ein globaler, wahr wäre. Aber in vielen Fällen wird das nur daran liegen, dass man versucht, an anderen Stellen an absolutistischen oder zumindest absolu-
Schmitt (2007), 3.
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tistisch gefärbten Voraussetzungen festzuhalten, die bei genauerem Hinsehen deutlich als mit relativistischen Theorien unvereinbar erkennbar und dadurch vermeidbar sind.
1.8.3 Hales Steven Hales bietet in Relativism and the Foundations of Philosophy gleich zwei Relativismusdefinitionen an: eine, die seine eigene Auffassung eines konsistenten Relativismus wiedergibt, und eine andere, die beschreiben soll, wie Relativismus vormals verstanden wurde. Beide stellen Formen des alethischen Relativismus dar, und beide Definitionen sind eingebettet in das, was Hales als seine revolutionäre methodische Neuerung betrachtet: die Verwendung eines S5-artigen Systems mit einem Relativitätsoperator, der dem S5-Möglichkeitsoperator entspricht, und einem Absolutheitsoperator, der dem Notwendigkeitsoperator entspricht.³⁹⁹ Anstatt von den möglichen Welten der Modallogik ist bei Hales von Perspektiven die Rede, diese sollen in seinem System die Rahmen sein, auf die Wahrheit relativiert wird. Dieses System soll die Grundlage bilden, auf der Hales die Relativismusdebatte in Zukunft geführt sehen möchte. Seine Motivation für den Vorschlag, die Bedingungen der Debatte in dieser Weise grundlegend zu verändern, ist, dass [i]t is a benefit of the analysis of relativism offered here that absolutists as well as relativists can accept the formal system. That way all disputants can quit arguing about the self-refutation problem, or talking past each other, and consider reasons for and against strong relativist claims on equal footing.⁴⁰⁰
Bevor zu einer Kritik der beiden Definitionen übergegangen wird, sollte angesprochen werden, in welchem Sinne Hales die Selbstaufhebungsfrage für erledigt hält. Denn es ist ein erstes Zeichen dafür, inwiefern die Debatte – wenn sie denn in Hales Sinne geführt wird – „on equal footing“ stattfindet. Er ist der Auffassung, dass der globale Relativismus, wie er bis Hales verstanden wurde, dem Selbstaufhebungsvorwurf erliegt, und das lässt sich unter Voraussetzung der von ihm
Genauer gesagt sollte der Relativitätsoperator übersetzt werden als „Es ist relativ wahr, dass …“ und der Absolutheitsoperator als „Es ist absolut wahr, dass …“. Vgl. Hales (2006), 100. Hales (2006), 104.
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vorgeschlagenen ‚Relativitätslogik‘ und Relativismusdefinition auch logisch ableiten.⁴⁰¹ Hales Relativismusauffassung und das anhängige formale System sollten allerdings im Interesse eines konsistenten und konsequenten (globalen) Relativismus abgelehnt werden. Hales charakterisiert den ‚gewöhnlichen‘ Relativismus folgendermaßen: The relativism thesis is everything is relative. Absolutism can be characterized as a denial of this, or not everything is relative. By ‚everything is relative,‘ let us understand the claim that every proposition is true in some perspective and not true in another. Thus absolutism is: there is at least one proposition that has the same truth-value in all perspectives.⁴⁰²
Halesʼ eigenes Relativismusverständnis ist eine konsequente Fortführung des hier angelegten Gedankens, dass eine These umso weniger absolutistisch ist, je mehr Aussagen sie für in einem Rahmen wahr und in einem anderen Rahmen falsch deklariert. Sein „new-and-improved relativist“⁴⁰³ soll sich auf die Position zurückziehen, dass alles, was wahr ist, relativ wahr ist, und von dort aus in inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Absolutisten treten, um nachzuweisen,
Vgl. Hales (2006), 99 ff. Halesʼ Version des Selbstaufhebungsarguments wird im zweiten Hauptteil ein eigenes Kapitel gewidmet. Dort wird dann auch noch einmal ausführlicher auf die diversen Probleme seines formalen Systems als solchem eingegangen, während hier die Probleme des formalen Systems nur insofern angesprochen werden, als sie Konsequenzen für die Bedeutung des Ausdrucks „Relativismus“ haben. Hales (2006), 100 f. (Hervorhebungen seine). Dies ist natürlich ein extrem schwaches Verständnis von Absolutismus, nach dem es ausreicht, einen Satz für absolut wahr zu halten, um als Absolutist zu gelten, während ein Relativist alle Sätze für relativ wahr halten muss, ja noch mehr: laut dem jede Position bis auf einen globalen alethischen Relativismus, der universelle Wahrheitswertvarianz behauptet, ein Absolutismus ist. Es steht zu bezweifeln, dass diese Auffassung von Relativismus auf irgendeine tatsächlich vor Hales vertretene Theorie zutrifft, und somit auch, dass es tatsächlich vor Hales vertretene Theorien gibt, die Hales nicht als Absolutismus klassifizieren müsste. Manche Überlegungen bei Meiland deuten in diese Richtung, aber die Lage ist auch dort nicht eindeutig; und wie im Abschnitt zu selbigem erwähnt, stellt er nicht wirklich eine eigenständige relativistische Theorie auf. Nicht einmal Platons Protagoras behauptet, dass es für jede Proposition tatsächlich Rahmen gibt, die ihr unterschiedliche Wahrheitswerte zuweisen. Immerhin hängt die Wahrheit von Propositionen für Protagoras an den Überzeugungen von Personen und dass sich für jede Proposition eine Person finden lässt, die sie glaubt, und eine Person, die sie nicht glaubt, ist – je nachdem, welchen Status man den logischen Folgerungen von Überzeugungen einräumt – irgendetwas zwischen unplausibel und unmöglich. Dieses Thema wird im Folgenden noch ausführlicher zu behandeln sein. Siehe auch FN 412. Hales (2006), 102.
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dass viele Aussagen ausschließlich relativ und nicht darüber hinaus absolut wahr sind. Wie Kölbel feststellt, benutzt Hales die Ausdrücke „relative“ und „relatively true“ auf zwei unterschiedliche Weisen: erstens um auszudrücken, dass eine wahre Aussage innerhalb einer Perspektive wahr ist (also im Sinne der in seinem System offensichtlich wahren Rückzugsthese des Relativisten), und zweitens um auszudrücken, dass eine Aussage in mindestens einem Rahmen wahr und in mindestens einem Rahmen falsch ist (also im Sinne von nur relativ, nicht absolut wahr).⁴⁰⁴ Interessanterweise ist der erste Sinn von „relativ“ – dessen Prädizieren von allen Aussagen Hales nicht als Relativismus-spezifische These behandelt, sondern als Teil der zukünftig von Relativisten und Absolutisten gleichermaßen vorauszusetzenden Eckpfeiler der Debatte – viel näher an dem, was viele globale Relativisten unter Relativität verstehen als der zweite, der für Hales den Kern des Relativismus ausmacht. Viele alethische Relativisten dürften sich beim Lesen von Halesʼ Ausführungen durch seine Formulierungen „the relativist can claim that whatever is true is relatively true“⁴⁰⁵ und „[f]or the relativist it will be nonsense to talk about truth outside of the structure of perspectives – that is, nonperspectival or extraperspectival truth“⁴⁰⁶ hervorragend repräsentiert fühlen, bis zu dem Punkt, wo klar wird, dass das nach Halesʼ Auffassung nicht heißt, dass nicht auch alles, was wahr ist, absolut wahr sein könnte. Das Problem liegt hier mindestens so sehr in Halesʼ Absolutismusverständnis wie in seinem Relativismusverständnis, denn er begreift den Absolutismus als nichts weiter als die Negation des Relativismus – es sollte noch einmal daran erinnert werden, dass Hales unter „Absolutismus“ lediglich die These versteht, dass es eine Proposition gibt, die in allen Perspektiven denselben Wahrheitswert hat – so dass seine fehlerhafte Definition des Relativismus die des Absolutismus in Mitleidenschaft zieht. Das Problem ist von der Absolutismus-Seite her deutlicher sichtbar. Hales selbst weist darauf hin, dass sein Verständnis von „absolut“ von dem zumindest eines anderen Autors, der hier bereits im Abschnitt zum metaphysischen Relativismus vorkam, abweicht. Lynch besteht nämlich auf die nützliche Unterscheidung von „absolutes“ und „virtual absolutes“⁴⁰⁷, die im Rahmen dieser Arbeit als die Unterscheidung zwischen dem Absoluten und dem Universellen angesprochen wurde.⁴⁰⁸ Wirklich absolut ist nach Lynch nur, was außerhalb bzw. unab
Vgl. Kölbel (1999), 92 FN 1. Hales (2006), 102. Hales (2006), 102 f. Vgl. Lynch (1998), 142 ff. Zu dieser Unterscheidung siehe auch Abschnitt 1.7.2.3.
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hängig von einem jeden Rahmen – eben in nicht relativer Weise – wahr ist.⁴⁰⁹ Das nur virtuell Absolute bzw. das Universelle ist hingegen wahr in allen bzw. relativ auf alle Rahmen. Letzteres entspricht Halesʼ Verständnis von absoluter Wahrheit, und es trifft eben nicht das Verständnis der Auseinandersetzung von relativistischen und absolutistischen Ansichten in großen Teilen der Relativismusdebatte. So geht es z. B. bei der inzwischen sehr weit verbreiteten Metapher von Putnams Ablehnung eines gods-eye-view und des dagegen gehaltenen view from nowhere bei Nagel eben gerade um die Frage, ob es Wahrheit außerhalb von Rahmen gibt. Auch Goodmans Zwiebel-Argument versuchte ja herauszustellen, dass der Versuch, alle Rahmen hinter sich zu lassen, dazu führt, dass man am Ende ohne Wahrheit dasteht.⁴¹⁰ Insofern lässt sich sagen, dass Halesʼ Auffassung vielen Theorien sowohl aus dem Spektrum des Absolutismus als auch aus dem Spektrum des Relativismus nicht gerecht wird.⁴¹¹ Sein Begriff von Absolutismus ist also zu schwach, um viele absolutistische Theorien zu treffen; und sein Begriff von Relativismus ist zu stark, um vielen der vorhandenen relativistischen Theorien gerecht zu werden⁴¹² und vor allem um plausibel zu sein, und das gleich in mehrfacher Hinsicht.
Genau genommen ist bei Lynch nicht die Rede von Wahrheit. Er bezeichnet sich selbst als „content pluralist“. Die Unterscheidung ist aber problemlos auf den Bereich der Wahrheit zu übertragen. Auch Wendel spricht sich gegen ein solchermaßen abgeschwächtes Absolutismusverständnis aus, wenn auch in Bezug auf den Kontrast mit subjektivistischen Theorien und nicht mit relativistischen Theorien im Allgemeinen: „Wenn absolute Wahrheit nun aber nur heißen soll: für jede Person wahr zu sein, dann ist damit schon eine grundlegende Relativierung des Wahrheitsbegriffs verbunden, insofern absolute Wahrheit dann prinzipiell abhängig wird von subjektiven Urteilsvollzügen (Überzeugungen). Absolute Wahrheit wäre lediglich relative Wahrheit (im Sinne von: wahr für X), die für alle Personen gilt. D. h. es findet hinsichtlich der Gesamtheit aller subjektiven Überzeugungen als Individuenbereich eine Allspezialisierung statt. Dies wäre allerdings insofern schon grundlegend relativistisch, als die Wahrheit einer Aussage p für jede Person vom Vorliegen der subjektiven Überzeugung p abhinge.“ Wendel (1990), 41. Das Problem hier ist ein sehr ähnliches wie das von Meilands Auffassung, dass relative Wahrheit und absolute Wahrheit nebeneinander existieren könnten. Es ist kein Zufall, dass auch Hales relative und absolute Wahrheit gleichermaßen verwendet und sie sozusagen auf derselben Stufe ansiedelt. Siehe Abschnitt 1.5.6.1. Genau genommen ist mir nicht ein einziger Relativist oder eine einzige relativistische Theorie bekannt, von dem oder in der Relativismus als eine Theorie der Wahrheitswertvarianz aller Sätze verstanden wird, bis auf Bennigson, der sich auf Hales bezieht, und einzelne Ideen bei Meiland, die in diese Richtung weisen, aber nicht ganz eindeutig sind. Bei Absolutisten ist das allerdings, aus offensichtlichen Gründen, ein beliebtes Relativismusbild, insbesondere in Gestalt der anything-goes-Auffassung des Relativismus. Siehe zu Bennigson Abschnitt 1.8.4. Siehe auch FN 402.
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Der Grundgedanke von Halesʼ Relativismusbegriff ist, wie bereits erwähnt, dass ein Relativismus umso stärker ist, je mehr Aussagen er für wahrheitswertvariabel erklärt. Aber das scheint völlig am Kern relativistischer, genauer gesagt, alethisch-relativistischer, Theoriebildung vorbeizugehen. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die überwältigende Mehrheit von Argumenten für den alethischen Relativismus selbst schon globaler Natur ist; und in keinem Fall gehen sie Aussage für Aussage vor.⁴¹³ So argumentierte z. B. Goodman von der Funktionsweise der Bezugnahme und dem seiner Ansicht nach in ihr angelegten notwendigen Ineinander von Konventionen und Tatsachen aus. Wie sollte ein Argument, das von den Bedingungen, unter denen Bezugnahme als solche steht, ausgeht, zu einem Ergebnis nur für einen Satz oder einige wenige ausgewählte Sätze führen? Die Art und Weise, wie für relativistische Thesen argumentiert wird, passt also nicht zu Halesʼ Aussage-für-Aussage-Vorstellung des Relativismus.⁴¹⁴ Das gilt sogar für das Argumentieren mit spezifischen Fällen von für wahrheitswertvariabel gehaltenen Aussagen, denn auch diese Argumentationsweise hat ja nicht zum Ziel zu beweisen, dass diese eine Aussage relativ ist, das ist vielmehr die Prämisse. Stattdessen geht es bei der Argumentation mit solchen Beispielen darum, die spezifische Art von Konfliktverhältnis zwischen unterschiedlichen Rahmen zu beschreiben bzw. die Art des Relativismus festzulegen. Das Aufzeigen einer Aussage mit variierendem Wahrheitswert soll zeigen, dass die fragliche Relativität tatsächlich eine Relativität der Wahrheit und nicht etwa nur eine der Bedeutung, der Rechtfertigung etc. ist. Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, warum eine Festlegung auf das Variieren aller Wahrheitswerte aus relativistischen Thesen wie denen von Goodman folgen sollte,⁴¹⁵ oder auch nur, warum irgendjemand eine solche These sollte vertreten
Solche Begründungen des alethischen Relativismus zieht Hales übrigens nicht in Betracht, wenn er zu seinem Vorschlag der Aussage-für-Aussage-Diskussion im Rahmen seines Systems schreibt: „They must earn through honest toil what a logic that entailed that some truths are merely relatively true would obtain by theft.“ Hales (2006), 103. Hierauf könnte Hales natürlich antworten, dass genau hier das Problem mit anderen relativistischen Ansätzen liegt, andererseits scheinen diese Unterschiede zwischen anderen relativistischen Theorien und Halesʼ ‚reformierter‘ Relativismusauffassung so gravierend, dass man fragen muss, warum man hier überhaupt noch von Relativismus sprechen sollte. Diese Frage muss hier aber zum Glück nicht diskutiert werden, da für die Zwecke der vorliegenden Arbeit eine Relativismusdefinition gesucht wird, die vorhandenen relativistischen Theorien gerecht wird – und das ist für Hales’ Vorschlag eben ganz klar nicht der Fall. Eine Zwischenbemerkung zu dem, was eine gute Definition leisten sollte, ist hier angebracht. Denn selbst wenn aus alethischen Relativismen grundsätzlich folgen würde, dass die Wahrheitswerte aller Aussagen über unterschiedliche Rahmen variieren, wäre das nicht der Punkt, an dem eine gute Definition ansetzen sollte, bzw. wenn sie diesen Punkt nutzt, sollte es nicht der
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wollen. Die meisten relativistischen Theorien haben Vorgaben für das, was als Rahmen zählen soll, und das nicht im inhaltlichen Sinne, wie es für pluralistische Theorien typisch ist, sondern im Sinne der Festlegung dessen, was für eine Art von Ding ein Rahmen ist. Nimmt man noch einmal Goodman und Putnam als Beispiele, sind Rahmen in einem etwas erweiterten Sinne sprachlicher Natur.⁴¹⁶ Da beide zentrale Auffassungen von Gebrauchstheorien der Bedeutung teilen, könnte man etwas vereinfacht sagen, damit etwas ein Rahmen sein kann, muss es eine (jetzt oder in der Vergangenheit) in Gebrauch befindliche Sprache sein.Wieso sollte der alethische Relativist Goodman die Auffassung vertreten, dass es für jede Aussage eine solche Sprache gibt, ob künstlich oder natürlich, in der sie wahr ist, und eine, in der sie falsch ist?⁴¹⁷ Das ist eine völlig unplausible Aussage, immerhin gibt es deutlich mehr Aussagen als Sprachen, und sie bleibt es, wenn man, um zukünftige Entwicklungen und Vergleichbares einzubeziehen, auch von in Zukunft gesprochenen Sprachen oder auch von aus unserem jetzigen Stand heraus mit vertretbarem Aufwand entwickelbare Sprachen einbezieht. Anders gewendet: Der Relativist tritt nicht dazu an und ist nicht dafür verantwortlich sicherzustellen, dass es eine hinreichend große Auswahl an Rahmen gibt, damit jeder seine Lieblingsaussagen guten Gewissens für wahr halten kann.⁴¹⁸ Das ist eine Horrorvorstellung vieler Relativismuskritiker, aber nichts, was die meisten Relativisten vertreten würden. Damit soll nicht bestritten werden, dass es Relativisten oder zumindest Relativismus-freundliche Autoren gibt, die diese Auffassung teilen, Thomas Bennigson (der seine Relativismusauffassung allerdings mit
einzige sein. Denn es wäre lediglich eine (möglicherweise ungewollte) Implikation der entsprechenden Theorien und nicht deren Kernaussage. Insofern wäre die Definition nur sehr eingeschränkt informativ. Die folgenden Überlegungen treffen mutatis mutandis auch auf andere Konzeptionen von Rahmen, die sie etwa als Kulturen oder Überzeugungssysteme von Individuen veranschlagen, zu. Eine entscheidende Frage, vor allem im letzten Fall, ist hier, welcher Status möglichen Rahmen in der jeweiligen Theorie zukommt. Es ist hier wichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass es nicht darum geht, dass zwei gleichlautende Sätze entgegengesetzte Wahrheitswerte haben, sondern darum, dass zwei Sätze, die Übersetzungen voneinander sind, entgegengesetzte Wahrheitswerte haben. Ersteres wäre natürlich ein mit Leichtigkeit herzustellender Zustand. So schreibt z. B. Elgin über Goodmans Symboltheorie: „How we symbolize depends in large measure on our interests, our insights, and our ingenuity. But it does not follow that with sufficient creativity and effort we can design a system of conventions that enables us to represent things any way we please. […] Not all goals are jointly satisfiable – even when their joint satisfaction entails no contradiction.“ (Elgin (1997b), 7) Goodman selbst äußert sich ebenfalls zu diesem Punkt: „[A]s I have cautioned more than once, recognition of multiple alternative versions betokens no policy of laissez-faire. Standards distinguishing right from wrong versions become, if anything, more rather than less important.“ Goodman (1978), 107.
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Bezug auf Hales entwickelt), dessen Relativismusdefinition im Folgenden noch vorzustellen sein wird, ist so ein Fall; und auch Meiland scheint in diese Richtung zu denken, aber das trifft eben bei weitem nicht auf alle Relativisten zu. Um es noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen: Ein alethischer Relativismus als solcher sagt extrem wenig aus über die Inhalte anderer Rahmen (als demjenigen, in dem er sich selbst bewegt), denn diese Inhalte sind weitgehend irrelevant für eine relativistische Auffassung, und das gilt auch für andere Arten relativistischer Auffassungen, wie sie z. B. Putnam oder Kuhn vertreten. Eine relativistische Auffassung der Wahrheit enthält zwar gewisse Minimalaussagen über die Inhalte anderer Rahmen, insofern sie behauptet, dass eine bestimmte Art von Konflikt zwischen Rahmen vorkommt. Aber auf mehr ist sie erst einmal nicht verpflichtet, und auf mehr sollte sie sich auch besser nicht verpflichten – man könnte den raffinierten Relativisten in dieser Hinsicht als Agnostiker bezeichnen. Erstens würde eine solche Verpflichtung die relativistische Theorie deutlich anfälliger für Selbstaufhebungsvorwürfe machen, was im dritten Teil der vorliegenden Arbeit noch zu zeigen sein wird, und zweitens ist die These der Wahrheitswertvariabilität aller Aussagen, wie bereits erwähnt, unter vielen Vorstellungen von Rahmen extrem unplausibel; und noch unplausibler ist es drittens vielleicht, dass der Vertreter einer relativistischen Theorie das nötige Wissen über die Inhalte anderer Rahmen besitzen könnte, um diese These gerechtfertigterweise zu vertreten. Ein letzter Punkt in Bezug auf diese Form des Aussage-für-Aussage-Relativismus muss noch angesprochen werden, und zwar der der Globalität. Wie, so könnte ein Verfechter der Halesʼschen Definition fragen, soll man es denn dann verstehen, wenn ein Relativismus „global“ genannt wird? Die Antwort auf diese Frage hat zwei miteinander zusammenhängende Komponenten; das eine Charakteristikum liegt in der Argumentation für die entsprechende relativistische Theorie und wurde oben schon einmal angesprochen. Wer für einen globalen Relativismus argumentiert, argumentiert in einer Weise, die von Anfang an für alle Aussagen relevant ist. Er argumentiert, im Gegensatz zu einem Bereichsrelativisten, nicht mit den Eigenschaften eines spezifischen Vokabulars, sondern mit den Eigenschaften von Vokabular. Das zweite Charakteristikum ist, dass das Vertreten eines globalen Relativismus darüber hinaus eine Verpflichtung zu der negativen These bedeutet, dass es keinen Bereich gibt, der aufgrund seiner Besonderheiten von der Relativität ausgeschlossen ist. Diese Verpflichtung wird im Zweifelsfalle gerade durch die oben genannte Art von Argumentation und die Abwesenheit gegenläufiger Punkte sichtbar, deswegen war von zwei zusammenhängenden Charakteristika die Rede. Im Sinne dieser negativen Verpflichtung wurde oben für die Möglichkeit einer
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plausiblen relativistischen Auffassung der Logik argumentiert.⁴¹⁹ Globaler Relativismus sollte also nicht interpretiert werden als „jede Aussage ist in mindestens einem Rahmen wahr und in mindestens einem Rahmen falsch“, sondern vielmehr als „Wahrheit (oder auch Bedeutung o. Ä., sofern man eine andere Form des Relativismus vertritt) als solche ist relativ, deswegen kommen unterschiedliche Wahrheitswerte in unterschiedlichen Rahmen vor, und es gibt keinen Bereich, der aufgrund irgendwelcher erkenntnistechnischer Besonderheiten davon ausgenommen wäre“. Halesʼ Definition ist somit rundweg abzulehnen. Doch vielleicht lässt sich etwas von Halesʼ Gesamtentwurf retten, denn es wurde schließlich oben festgestellt, dass der in Halesʼ System verwendete Absolutheitsbegriff zu schwach ist, weil er in Hinblick auf die Frage rahmenunabhängiger Wahrheit dem Relativismus bereits mehr zugesteht, als dass das System neutral zwischen einem stark interpretierten Absolutismus und einer relativistischen Theorie sein könnte. Die Ablehnung nicht an einen Rahmen gebundener Wahrheit scheint ja bereits in der Semantik des Systems implementiert. Warum sollte man also nicht die Definition, die Hales gibt, über Bord werfen und sein formales System als Repräsentation relativistischen Denkens für sich stehen lassen? Das Problem einer solchen Vorgehensweise läge darin, dass es in Halesʼ System sehr wohl eine Entsprechung absoluter Wahrheit in einem stärkeren Sinne gibt, nämlich die Theoreme des Systems. Im Gegensatz zu irgendeinem beliebigen p, das zufällig (im Sinne von unabhängig von den Regeln des Systems) in allen Rahmen wahr und damit in Halesʼ Diktion absolut wahr ist, ist die Wahrheit jeder einzelnen Wahrheit der ‚Relativitätslogik‘ konstitutiv für das System, in dem sehr einfachen Sinne, dass, wäre sie nicht wahr, das System ein anderes wäre. Diese Wahrheiten haben damit einen anderen Status als die restlichen von Halesʼ absoluten Wahrheiten, und sie entsprechen viel eher dem stärkeren Begriff von absoluter Wahrheit. Metaphorisch gesprochen könnte man sagen, im Gegensatz zu irgendeinem beliebigen absolut wahren p sind sie nicht deswegen wahr, weil sie in den einzelnen Rahmen wahr sind; oder auch, sie sind wahr, bevor Wahrheitswerte innerhalb von Rahmen festgelegt bzw. untersucht werden. Im Gegensatz zu den nur universellen Wahrheiten, die Hales zu absoluten erklärt, ist ein globaler Relativismus mit dieser Spezies absoluter Wahrheiten nicht vereinbar. Wer einen globalen Relativismus vertreten möchte, wäre also mit der Übernahme von Halesʼ System schlecht beraten.⁴²⁰ Die Logik ist natürlich nicht der einzige Bereich, der potentiell Probleme bereitet. Sie ist allerdings m. E. tatsächlich der schwierigste Fall. Weitere beliebte Kandidaten sind z. B. naturwissenschaftliche Aussagen. Aufgrund der Notwendigkeit der Annahme absoluter Wahrheiten, egal welches der S-Systeme als Vorbild gewählt wird, schlägt Shogenji vor, um tatsächlich eine Neutralität zwischen
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1.8.4 Bennigson Einer brauchbaren Definition für den Relativismus schon näher kommt die Definition von Thomas Bennigson. Er stellt drei Bedingungen für eine relativistische Theorie auf: For any sentence s, relativism about s may be defined roughly as the conjunction of the following theses: (i) s has truth-value within – and only within – a framework; (ii) there is a plurality of possible frameworks which are equally ‚tenable,‘ meaning roughly that there are no neutral grounds for holding one to be more correct, or more adequate to reality, than another; and (iii) not all tenable frameworks assign the same truth-value to s under the same conditions.⁴²¹
Diese drei Bedingungen sind klar und einfach, und sie treffen den Kern zumindest des alethischen Relativismus, indem sie artikulieren, dass Wahrheit (im Falle lokaler Varianten die Wahrheit bestimmter Sätze, im Falle eines globalen Relativismus die Wahrheit aller Sätze) etwas ist, das nur innerhalb von Rahmen stattfindet, dass es mehrere in Frage kommende Rahmen gibt und dass sich diese
relativistischen und absolutistischen Ansätzen herzustellen, die Relativität auf die Metaebene zu tragen und nicht von einer einzig wahren ‚Relativitätslogik‘ auszugehen: „No matter which modal system we mimic in our logic of relativism, there are always some theorems; consequently, something is absolutely true in any system, and hence GR is false after all even if it is consistent. I agree, but this only means that a global relativist should not impose a single logic on all perspectives as a universal tool of truth evaluation.“ (Shogenji (1997), 746) In seiner Antwort setzt sich Hales leider weder mit der Motivation noch mit dem Vorschlag selbst oder seiner Kontinuität mit der These, dass der Relativismus selbst relativ wahr ist, auseinander und kommt statt dessen nahe an eine Unterstellung intellektuell-unlauterer Motive: „I am not quite sure what this means, but it sounds as if a champion of ‚everything is relative‘ is advised cagily to avoid being pinned down as to choice of logical system, in the knowledge that as soon as she settles upon one, her thesis is false. I leave to the reader an evaluation of the philosophical plausibility of this approach.“ (Hales (2006), 115) Dieser Mangel an ernsthafter Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass aus seinem angeblich neutralen Vorschlag zur Verbesserung der Debatte der Absolutismus folgt, ist besonders frustrierend angesichts dieser Ermahnung, die Hales an die Adresse anderer Relativisten richtet: „Relativists need to argue for their strong claims, not simply write up a logic in which their claims are true.“ Hales (2006), 104. Bennigson (1999a), 214. Es sollte angemerkt werden, dass Bennigson den Ausdruck „sentence“ in einer erweiterten Bedeutung verstanden wissen möchte, die Sätze, die einander übersetzen, als denselben Satz ansieht. Seine Definition ist also ebenfalls, wie die in dieser Arbeit gegebene Charakterisierung des alethischen Relativismus, ein Versuch, einen echten alethischen Relativismus (im Gegensatz zu einem indexikalischen) zu artikulieren, ohne dabei auf Propositionen zurückzugreifen. Er bezieht sich dabei ebenfalls auf Swoyer. Vgl. Bennigson (1999a), 214.
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in den vergebenen Wahrheitswerten unterscheiden.⁴²² Aber hier klingt auch schon das erste Problem mit Bennigsons Definition an: Sie bezieht sich nur auf den alethischen Relativismus, und es gibt keinen offensichtlichen Weg, sie zu verallgemeinern. Das mag überraschen, da ganz zu Anfang dieser Arbeit festgestellt wurde, dass sich Bereichsrelativismen in der Regel auch als lokale alethische Relativismen formulieren lassen, allerdings trifft dies eben nicht auf jeden Bereichsrelativismus zu (ganz zu schweigen von den anderen globalen Relativismen) – und das sollte in einer allgemeinen Relativismusdefinition Beachtung finden. Kölbel weist zu Recht darauf hin, dass gerade die Feststellung, dass einige Eigenschaften oder Zuschreibungen nur als relative zu haben sind, einen Theoretiker dazu bringen kann, dem betroffenen Diskursbereich die Wahrheitsfähigkeit abzusprechen.⁴²³ Das sollte uns aber nicht dazu bringen, seine Theorie aus dem Bereich des Relativismus auszuschließen, solange es weiterhin eine klare Unterscheidung von korrekten und inkorrekten oder zulässigen und nicht zulässigen Aussagen in dem betroffenen Diskursbereich gibt und solange die Beschreibung desselben nicht in den Bereich des Nonkognitivismus abdriftet – oder anders gewendet: solange klar ist, dass tatsächlich etwas als relativ gedacht wird und „relativ“ nicht als ungeschickte Umschreibung für „da geht irgendetwas Subjektives vor“ benutzt wird. Während die Vorstellung von Bereichsrelativismen als thematisch eingeschränkten alethischen Relativismen also durchaus geeignet ist, einen Sinn für die Gemeinsamkeiten der vielen disparaten Theorien, die unter der Bezeichnung Relativismus firmieren, zu bekommen, sollte sie nicht benutzt werden, um eine Definition aufzustellen, so dass nicht unnötig viel aus dem Bereich des Relativismus ausgeschlossen wird. Wie man von Bennigsons Formulierung zu einer Beschreibung der übrigen globalen Relativismen kommen sollte, ist ebenso unklar. Doch auch was den Schritt zu einem globalen alethischen Relativismus betrifft, führt Bennigsons Definition in Schwierigkeiten. Er bestimmt ihn wie folgt: „Let us define global relativism (GR) as follows: for any sentence s which is true in some framework, there is an equally tenable possible framework in which s is false.“ Er fügt natürlich direkt hinzu: „GR is implausibly strong.“⁴²⁴ Damit ent-
Es gibt ein paar kleinere Defizite in der Formulierung. So ist z. B. schwer zu sagen, was genau die Wendung „under the same conditions“ bedeuten soll, die unter manchen Lesarten problematisch für eine relativistische Theorie sein könnte, da sie eine Art ‚Rest-Absolutismus’ verbergen könnte. Auch Bennigsons Verständnis von „tenable“, das er später im selben Aufsatz ausbuchstabiert, sollte hinterfragt werden. Vgl. Kölbel (2002), 117. Bennigson (1999a), 214.
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spricht sein Verständnis des globalen alethischen Relativismus ziemlich genau dem von Hales, auf dessen mannigfaltige Probleme in Abschnitt 1.8.3 hingewiesen wurde und auf die hier nicht noch einmal eingegangen werden soll.⁴²⁵ Vielmehr möchte ich betonen, dass die Wurzel dieser Probleme⁴²⁶ die Vorstellung ist, es sei sinnvoll, Relativismus bezogen auf einen Satz zu definieren. Doch wieso sollte eine Definition des Relativismus eine auf einen einzelnen Satz bezogene These beschreiben, wenn wir die Behauptung, jemand sei ein Relativist bzgl. der Sätze (und nur bzgl. der Sätze) „Alle Tiere mit Geweihen sind Paarhufer“, „Es ist falsch, öffentliche Blumenkübel zu verunstalten“ und „Dünne Bücher sind besser als dicke“ für einen Witz halten würden? Eine Relativität isolierter Sätze ist mit der Art von Argumenten, die für relativistische Thesen vorgebracht werden, wie bereits ausgeführt wurde, schlicht nicht übereinzubringen. Solche Argumente wollen zumindest darauf hinaus, dass die Verwendung eines bestimmten Prädikats zu Relativität führt, so dass alle Sätze, die es enthalten, relativ wahr oder falsch sind, oder dass eine bestimmte Gruppe von Eigenschaften, wie z. B. moralische Eigenschaften, relativ sind, so dass ein bestimmter Diskursbereich davon betroffen wäre. Eine Definition, die die Argumente für eine Theorie komplett ausblenden muss, kann keine gute Darstellung des Kerngedankens dieser Theorie sein. Von Bennigsons Definition sollten wir also die Ideen hinter seinen drei Bedingungen mitnehmen, aber seinen Ansatzpunkt beim einzelnen Satz verwerfen. Außerdem gilt es, eine Definition zu finden, die tatsächlich geeignet ist, die thematische Spannbreite relativistischer Theorien abzubilden, und nicht auf nur
In einer seiner Endnoten stellt Bennigson eine interessante Verbindung her zwischen diesem Verständnis des globalen alethischen Relativismus und der in dieser Arbeit schon in Bezug auf Halesʼ Definition angeklungenen Frage, inwieweit der Relativismus mögliche Rahmen in seine Argumentation mit einbeziehen sollte. Dass Bennigson explizit von möglichen Rahmen spricht, ist natürlich ein Vorteil gegenüber Halesʼ Definition. Er bemerkt, dass ein globaler Relativismus, der sich auf wirkliche Rahmen beschränken wollte, keine Chance hätte, „given that the number of actual inquirers is finite, whereas the number of sentences whose truth could be at issue will be indefinitely many.“ (Bennigson (1999a), 232 EN 13) Das trifft natürlich zu, wenn man denn Bennigsons Verständnis von Relativismus voraussetzt. Andererseits beziehen sich nur wenige relativistische Theorien explizit auf mögliche Rahmen, stattdessen argumentieren sie in der Regel nur anhand von tatsächlich existierenden Rahmen und behaupten eben, selbst im Falle globaler Relativismen, keine jeden Satz betreffende Wahrheitswertvariation. Insofern macht Bennigsons Definition eines globalen Relativismus zwar deutlich, dass die Frage der Wahrheitswertvariation mit der Frage des Status möglicher Rahmen zusammenhängt, aber sie formuliert eben, genau wie die von Hales, eine Position, die in der gegenwärtigen Relativismusdebatte überhaupt nicht anzutreffen ist. Zumindest im Falle von Bennigson, bei Hales könnten sie auch mehr als eine Ursache haben.
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eine Form, wie hier den alethischen Relativismus, festgelegt ist. Zum Glück gibt es eine Relativismusdefinition, die diese Anforderungen erfüllt, und das ist die von Kölbel.
1.8.5 Kölbel Kölbel bestimmt in Truth Without Objectivity den Relativismus folgendermaßen: Any genuine form of relativism can […] be represented as an instance of the following trio of schemata: (R1) For any x that is an I, it is relative to P whether x is F. (R2) There is no uniquely relevant way Pi of fixing P. (R3) For some x that are I, and for some Pi, Pj, x is F in relation to Pi but not F in relation to Pj. ⁴²⁷
Die drei Schemata sind, wie bereits angekündigt, den drei Bedingungen bei Bennigson sehr ähnlich. (R1) klingt zwar etwas anders als Bennigsons „s has truth-value within – and only within – a framework“,⁴²⁸ doch wenn man sich ansieht, wie Kölbel „relative“ erläutert, wird klar, dass beide auf dasselbe hinauslaufen. Kölbel spricht von einer „fundamental norm, governing belief, which says whether one may believe that some x is F, or whether one ought not to believe it“.⁴²⁹ Wobei er „belief“ in einem weiten Sinne verstanden wissen möchte, so dass wir es nicht notwendigerweise mit wahrheitsfähigen Aussagen zu tun haben müssen.⁴³⁰ Der zentrale Punkt seiner Erläuterung ist, dass „as long as the parameter is not fixed, the norm is silent“.⁴³¹ Damit wird ein Absolutismus im starken Sinne bestritten, was, wie im Abschnitt zu Halesʼ Definition herausgestellt wurde, ein zentraler Punkt vieler relativistischer Ansätze ist. Bezogen auf den alethischen Relativismus erhält man denselben Punkt wie bei einem Relativismus nach Bennigson, dass Wahrheitswerte nur innerhalb von Rahmen auftauchen.⁴³²
Kölbel (2002), 118 (Hervorhebungen seine). Bennigson (1999a), 214. Kölbel (2002), 117. Kölbel (2002), 140 EN 1. Dieser Punkt stellt unter anderem sicher, dass nicht jeder Bereichsrelativismus einen lokalen alethischen Relativismus impliziert, wie oben angesprochen. Kölbel, (2002), 118 (Hervorhebungen getilgt). Bennigson teilt übrigens nicht die Ansicht, dass ein Absolutismus, der seinen Namen auch verdient, diese erste Bedingung in Frage stellt. Er gibt an, den Absolutismus ähnlich wie Hales als Ablehnung der zweiten oder dritten Bedingung verstehen zu wollen. Eine Begründung für diese
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(R2) und (R3) können als Qualifikationen von (R1) gelesen werden, die sicherstellen, dass es das für einen interessanten Relativismus nötige Konfliktpotential gibt, denn sowohl wenn es nur einen relevanten Parameter bzw. Rahmen gäbe, als auch wenn die Bewertungen aller Rahmen gleich ausfielen, wollte man wohl kaum von einem Relativismus sprechen.Wären die jeweiligen Instanzen von (R2) und (R3) falsch, käme es niemals zu unterschiedlichen Bewertungen aufgrund der Relativität, ja es könnte gar nicht zu ihnen kommen, insofern hätten wir es mit einem recht uninteressanten Sinn von Relativität zu tun, bei dem auch höchst fraglich wäre, ob man eine Relativität in diesem Sinne überhaupt feststellen könnte, geschweige denn, ob man sie so nennen wollte. Die Anwendbarkeit auf die vielfältigen Formen des Relativismus, die in dieser Arbeit vorgestellt wurden, hat sich bereits in der Besprechung der einzelnen Relativismen erwiesen. Es lohnt sich trotzdem, noch einmal darauf hinzuweisen, dass einer der großen Vorteile dieser Relativismusdefinition ihre ungeheure Reichweite ist, die sie nicht dadurch erreicht (wie es etwa in der Definition von Siegel versucht wurde), dass sie unterschiedliche Thesen vermischt und näher aneinanderrückt, als sie es tatsächlich sind. Das scheint der falsche Weg zu sein, um unterschiedliche Relativismen unter einen Hut zu bringen. Der Weg, den Kölbel einschlägt, ist stattdessen zu versuchen, eine allgemeine Form relativistischer Theorien zu geben, was ihm, wie wir zumindest für viele Theorien aus dem Feld des kognitiven Relativismus feststellen konnten, auch gelungen ist. Was dabei viel interessanter und auch viel schwieriger herzustellen ist als die Allgemeinheit bzgl. unterschiedlicher Gegenstandbereiche wie z. B. epistemischer oder moralischer Urteile, ist m. E. die Anwendbarkeit auf verschiedene relativistische Theorien, die auf unterschiedlichen Ebenen operieren. Die Rede ist natürlich von den drei Formen des globalen Relativismus, die sich ja gewissermaßen einen Gegenstandsbereich teilen, aber eine Relativierung auf völlig unterschiedliche Weise und an verschiedenen Stellen des Geflechts von Tatsachen, Wahrheit und Bedeutung vornehmen. Kölbels Formulierung des Relativismus ist ebenso brauchbar für Relativismen, die sich auf die Wahrheit von Aussagen beziehen, wie auf solche, die sich auf Eigenschaften oder Tatsachen beziehen. Sie ist auch offen gegenüber der Frage, ob solche Theorien zusammen vertreten werden sollten oder sogar auseinander folgen – wie es z. B. jemand behaupten würde, der vertritt, dass Tatsachen relativ sind, weil Wahrheit relativ ist – oder ob sie besser getrennt bleiben sollten, wie es der oben angesprochene Theoretiker vertritt, der bestimmte Entscheidung liefert er leider nicht. Interessanterweise bezeichnet er sein Absolutismusverständnis als „a relativist’s statement of absolutism“ (Bennigson (1999a), 214), er scheint sich also durchaus im Klaren zu sein, dass viele Absolutisten mit dieser Charakterisierung nicht ganz zufrieden wären.
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Eigenschaften für relativ hält und deswegen auf sie bezogene Aussagen für nicht wahrheitsfähig erklärt. Das ist ein erheblicher Vorteil gegenüber solchen Definitionen wie der von Boghossian, die ja unter anderem daran krankte, dass sie eine metaphysische und eine darauf aufbauende semantische These zuschrieb, die nur unter Voraussetzung Boghossians eigener Hintergrundannahmen als eine natürliche Erweiterung der metaphysischen These erschien. Eine weitere Frage, die sich stellt, nachdem bereits darauf hingewiesen wurde, dass die Probleme, die bei Siegel und Boghossian auftauchen, sich in Kölbels Definition nicht wiederfinden, ist die nach einer brauchbaren Formulierung des globalen Relativismus. Es klang ja gerade schon an, dass die globalen Relativismen, die in dieser Arbeit behandelt wurden, sich durchaus anhand von Kölbels Schemata formulieren lassen, aber die spezifische Frage, ob es dieser Definition gelingt, einer Aussage-für-Aussage-Globalität wie bei Hales und Bennigson zu entgehen, wartet noch auf eine Antwort. Kölbel gibt eine gegenstandsbzw. eigenschaftsorientierte Formulierung für einen globalen Relativismus an: „(GR) For all x and for all F: it is relative to P whether x is F.“⁴³³ Die verlangte ‚Aufzählung‘ aller Eigenschaften oder Prädikate könnte hier möglicherweise ähnliche Probleme verursachen wie das Aussage-für-Aussage-Vorgehen. Aber für den direkten Vergleich mit Hales ist eine explizit alethische Formulierung geeigneter, die könnte etwa so aussehen: Für jedes x, das eine Gruppe ineinander übersetzbarer Sätze ist, ist es relativ auf P, ob x wahr ist.⁴³⁴ Interessant ist vor allem die Version von (R3), die in diesem Fall lautet: Für einige x, die Gruppen ineinander übersetzbarer Sätze sind, und für einige Pi, Pj, x ist wahr in Relation zu Pi, aber nicht wahr in Relation zu Pj. Damit hätten wir eine Theorie, die Wahrheit als solche für relativ erklärt, aber ohne zu verlangen, dass es für jeden Satz zu Wahrheitswertvariationen kommt. Dies scheint eine brauchbare Formulierung eines zumindest global angelegten alethischen Relativismus zu sein, die das Problem umgeht. Allerdings würde ich vorschlagen, wie im Abschnitt zu Hales bereits angesprochen, dass ein alethischer Relativismus, um wirklich als globaler Relativismus zu gelten, zusätz-
Kölbel (2002), 119 (Hervorhebungen seine). Instanzen von (R2) und (R3) müssten natürlich noch dazu kommen, um eine vollständige Beschreibung zu erhalten. In Kölbel (2011) schlägt Kölbel neben einer der zitierten sehr ähnlichen Formulierung des globalen Relativismus, die er dort (GR1) nennt, weitere mögliche Definitionen vor, die Halesʼ Aussage-für-Aussage-Konzeption der Globalität übernehmen. Diese Formulierungen sind natürlich aus den im Abschnitt zu Halesʼ Definition genannten Gründen abzulehnen, sofern sich ein besseres Verständnis von Globalität finden lässt. Vgl. Kölbel (2011), 20 f. Für P könnte man hier z. B. Symbolsysteme einsetzen, aber was genau als Rahmen fungieren soll, ist für die Fragestellung unerheblich.
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lich auf die negative These verpflichtet sein muss, dass es keinen Bereich gibt, der von der Wahrheitswertvariabilität aus prinzipiellen Gründen ausgeschlossen werden kann. Denn sonst könnte man in einen Bereichsrelativismus zurückfallen: Es würde zwar (im Zweifelsfalle in deutlich unterbegründeter Weise) in der entsprechenden Instanz von (R1) behauptet, dass Wahrheit als solche relativ sei, Auswirkungen, also tatsächliche Wahrheitswertvariationen, solle es aber nur auf einem sehr klar eingrenzbaren Gebiet geben, z. B. im Bereich der Moral. Ein solches Theoriegebilde scheint inkohärent, zumindest wäre der entsprechende Theoretiker eine wirklich gute Erklärung schuldig, warum die Relativität auf anderen Gebieten unsichtbar bleibt. Es sollte noch einmal betont werden, dass der Unterschied von Bereichsrelativismen und globalen Versionen sich vor allem in der Argumentation für die entsprechende Theorie manifestiert. Deshalb war auch nicht die Rede davon, dass jeder globale alethische Relativismus die ergänzende negative These explizit vertreten muss, sondern davon, dass er auf sie verpflichtet sein muss. Eine solche Verpflichtung ergibt sich z. B. daraus, dass man von den Bedingungen von Bezugnahme oder auch Wahrheit im Allgemeinen her argumentiert, und nicht von den Schwierigkeiten, absolutistische Vorstellungen z. B. auf den Bereich der Ästhetik anzuwenden. Das ist eben auch genau die Art von Argumentation, die man für eine These wie die oben gegebene alethische Instanz von (R1) erwarten würde. Insofern ist die an Kölbel orientierte Formulierung des globalen alethischen Relativismus nicht wirklich unvollständig. Die Ergänzung soll lediglich der Fehlklassifizierung von Bereichsrelativismen als global vorbeugen, so dass ihnen nicht Thesen wie die alethische Instanz von (R1) ‚untergeschoben‘ werden, die aus ihnen heraus eigentlich gar nicht motivierbar sind. Kölbels Definition teilt also keines der Probleme der anderen Relativismusdefinitionen, die hier besprochen wurden, und sie ist zumindest auf alle hier bis jetzt vorgestellten Relativismen anwendbar. Da die Suche nach einer brauchbaren Definition des Relativismus erfolgreich war, kann sich diese Arbeit nun der Frage zuwenden, ob ein so verstandener Relativismus bzw. ob sich bestimmte, so verstandene Formen des Relativismus selbst aufheben.
2 Selbstaufhebung Mit der Frage einer einheitlichen Beschreibung des Relativismus vom Tisch kann nun die zweite Unbekannte in Angriff genommen werden, die das Thema dieser Arbeit bestimmt: Was ist ein Selbstaufhebungsargument? Zu dieser Frage lässt sich leider keine so klare und eindeutige Antwort geben wie auf die Frage nach dem Relativismus. Denn der Ausdruck „Selbstaufhebung“¹ wird nicht nur in einem bzw. für einen einzelnen, klar umreißbaren Argumenttyp verwendet, und im Vergleich zum Relativismus ist Selbstaufhebung ein extrem selten behandeltes Thema, entsprechend fehlt es an Definitionsversuchen.² Vielmehr tummeln sich unter dieser Bezeichnung recht unterschiedliche Argumentformen, die nur einige wenige, eher abstrakte Gemeinsamkeiten haben. Deswegen ist der beste Einstieg in die Thematik, ein paar Beispiele von Argumenten, die so bezeichnet wurden, anzusehen – die aus möglichst unterschiedlichen Themengebieten stammen sollten und deswegen diesmal nichts mit dem Relativismus zu tun haben – um sich einer Vorstellung davon zu nähern, wovon bei Selbstaufhebungsargumenten die Rede ist:
Da hier zum größten Teil mit englischsprachiger Literatur gearbeitet wird, sollte angemerkt werden, dass die englische Entsprechung „self-refutation“ lautet. Dieser Ausdruck klingt zunächst, als würde es sich immer um einen Nachweis der Falschheit einer bestimmten Position handeln, dass dies aber nicht der Fall ist, ist z. B. in der einflussreichen Typologie von Mackie (siehe Mackie (1964)), die hier noch vorgestellt werden wird, deutlich zu erkennen. Unter den wenigen Definitionsversuchen, die sich finden lassen, sind die meisten schon deswegen nicht zufriedenstellend, weil sie verkennen, dass Selbstaufhebungsargumente nicht immer Argumente für die Falschheit einer Position sind (siehe z. B. White (1989), 84). Eine deutlich bessere knappe Beschreibung von Selbstaufhebungsargumenten – ohne den Versuch, sie in eine Definition zu kondensieren – liefert Tetens (2004). Allerdings fällt nur ein bestimmter Teil von Selbstaufhebungsargumenten unter Tetens Beschreibung, er spricht auch selbst von „Selbstanwendungsargumenten“, da er sich nur mit Argumenten, die auf einer direkten Selbstanwendung beruhen, beschäftigt. Eine solche Beschränkung würde aber z. B. solche Argumente ausschließen, die von der angeblich vom Relativismus garantierten relativen Wahrheit des Absolutismus her argumentieren, dass der Relativismus falsch sein muss. Solche Argumente werden aber durchaus unter der Bezeichnung „Selbstaufhebung“ bzw. „self-refutation“ vorgebracht, so z. B. in Hales (2006), siehe auch FN 6. Die Lage wird weiterhin kompliziert dadurch, dass es einige Bezeichnungen für Vorwürfe und Argumente gibt, die sich mit „Selbstaufhebung“ bzw. „selbstaufhebend“ überschneiden oder austauschbar benutzt werden. Darunter fallen solche Bezeichnungen wie „performativer Widerspruch“ bzw. „performative contradiction“, „Retorsion“ bzw. „retortion“, „Selbstanwendungsargument“ und „self-referential argument“, „Selbstwiderlegung“, „self-defeating“, „self-referentially incoherent“ und unter manchen Interpretationen auch „transzendentales Argument“ bzw. „transcendental argument“. https://doi.org/10.1515/9783110584264-004
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[T]o deny free will is neither a rational nor a logical act. This denial either presupposes free will for the deliberately chosen response in making that denial, which is a contradiction, or else it is merely the automatic response of a nervous system built by genetic coding and molded by conditioning. One does not conduct a rational argument with a being who makes the claim that all its responses are reflexes, no matter how complex and subtle the conditioning.³
Hier handelt es sich um ein Selbstaufhebungsargument gegen den Determinismus. Das nächste Beispiel befasst sich mit dem Skeptizismus: The self-refutation argument takes the form of a dilemma. The global sceptic about rational justification is engaged in attacking our customary view that some beliefs and actions can be rationally justified. Let us suppose, then, that this attack is launched by way of overtly nonrational considerations. These would rightly be dismissed by everyone concerned to live a rational life. But the attempt to offer reasons would be completely self-defeating. If these putative reasons are indeed good reasons, then they will merely provide an illustration of the thesis that some beliefs can be justified rationally.Whereas if they are not good reasons, then they will be dismissed in the same way as the overtly non-rational considerations already discussed. Thus it seems to follow that the argumentation employed by the global sceptic must be wholly incapable of providing any genuine support for his scepticism.⁴
Ein drittes Beispiel befasst sich mit der Auffassung, dass es keine Wahrheit gibt: „Not unlike other meta-theoretical negative statements, ‚there is no truth‘ is selfcontradictory or self-refuting. It cannot be reasonably true that there is no truth, and if ‚there is no truth‘ is not true, some truth must exist.“⁵ Diese drei Argumente sind recht unterschiedlich, trotzdem haben sie einige sehr allgemeine Gemeinsamkeiten. Sie alle arbeiten mit einer Selbstbezüglichkeit, die sie in den Theorien, gegen die sie gerichtet sind, angelegt sehen. Hierher, könnte man sagen, kommt das „Selbst“ in „Selbstaufhebung“. Diese Selbstbezüglichkeit kann direkter Natur sein, wie bei einer These, die die Unwahrheit aller Thesen behauptet. Sie kann aber auch indirekt sein, wie im Falle von Selbstaufhebungsargumenten gegen deterministische Theorien. Diese sind zwar nicht explizit Theorien über Theorien, aber ihnen werden Konsequenzen, die alle Theorien und damit auch sie selbst betreffen, zugeschrieben. Die fragliche Selbstbezüglichkeit muss hier also in
Eccles (1976), 101. Ein vergleichbares Selbstaufhebungsargument findet sich bereits bei Epikur. Siehe Long und Sedley (1987), 20c-d. Bailey (1990), 27. Die dilemmatische Form ist übrigens eine häufige Form für Selbstaufhebungsargumente (sie findet sich ja auch in den anderen beiden Beispielen) und wird in der Behandlung konkreter Argumente noch ein paar Mal auftauchen. D’Agostini (2003), 125 (Hervorhebungen ihre).
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einem breiten Sinne verstanden werden.⁶ Die zweite Gemeinsamkeit ist, dass mit Hilfe dieser Selbstbezüglichkeit negative, in der Regel für vernichtend – da die Grundlagen der Theorie oder von Theorien im Allgemeinen angreifend – gehaltene, Konsequenzen für die in Frage stehende Theorie abgeleitet werden. Diese Formulierung ist bewusst vage gehalten, denn genauso, wie sich die Wege unterscheiden, auf denen unterschiedliche Selbstaufhebungsargumente ihr Ziel erreichen, so unterscheiden sich auch ihre Schlussfolgerungen. Diese können, wie in den Beispielen zu sehen, unter anderem lauten, dass die gegenteilige These wahr ist oder dass die fragliche These unbegründbar ist. Das ist sozusagen die „Aufhebung“ in „Selbstaufhebung“. Damit haben wir zwar zumindest zwei Charakteristika von Selbstaufhebungsargumenten identifiziert, aber diese Beschreibung hat noch Defizite. Zunächst sind diese Eckpunkte für die Bestimmung von Selbstaufhebungsargumenten noch sehr abstrakt und helfen dadurch kaum, eine Vorstellung von der Funktionsweise von Selbstaufhebungsargumenten zu gewinnen. Außerdem kann ein solcher Vergleich von Beispielen zum Auffinden von Gemeinsamkeiten und ihre Betrachtung auf typische Muster hin nur im Oberflächlichen verbleiben, die Feinheiten einzelner Argumente müssen zugunsten von Gemeinsamkeiten übergangen werden. Deswegen soll nun zunächst ein konkretes Argument im Detail betrachtet werden. Dafür ist das Argument, das Platon in seinem Dialog Theaitetos vorbringt, prädestiniert. Es ist nicht nur das erste uns erhaltene Selbstaufhebungsargument gegen eine relativistische Theorie, sondern es wird auch von vielen heute tätigen Kritikern des Relativismus als Ausgangspunkt, Vorbild oder Inspiration der eigenen Überlegungen genannt.⁷ Im Anschluss an die Beschäftigung mit Platons Argument wird eine grobe Typologie der Selbstaufhe-
Ein besonderer Fall von indirekter Selbstbezüglichkeit liegt da vor, wo ein Selbstaufhebungsargument seinen Ausgang nicht bei der Anwendung einer These auf sich selbst nimmt, sondern bei der Anwendung der These auf ihre Negation. Diesen Ausgangspunkt wählt z. B. Platon in seinem Argument gegen Protagoras, das in Kapitel 2.1 vorgestellt werden wird. Damit soll nicht gesagt sein, dass Protagoras These keinen direkten Selbstbezug aufweist, sondern lediglich, dass dieser direkte Selbstbezug nicht der Ansatzpunkt des betreffenden Arguments ist. Aus diesem Grund lässt sich nicht von einer Selbstanwendung der Theorie oder These als allgemeinem Ausgangspunkt von Selbstaufhebungsargumenten sprechen, auch wenn die Selbstanwendung sehr häufig am Anfang von Selbstaufhebungsargumenten steht. Siehe dazu auch FN 2. Eine besonders wichtige Rolle spielt es für Siegel, der seine beiden Hauptargumente in Relativism Refuted an den Theaitetos anlehnt, eines davon an das platonische Selbstaufhebungsargument. Siehe Abschnitt 3.1.1 und 3.3.1. Andere Autoren, die sich auf Platons Argument beziehen, sind z. B. Kordig, Lockie und Yates. Vgl. Kordig (1983), 207; Lockie (2001), 32; Yates (1991), 159.
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bungsargumente vorgestellt, um einen Überblick über die (neben dem des platonischen Argumentes) üblichen Argumentationsmuster zu gewinnen. In beiden Bereichen wird die Arbeit von Luca Castagnoli eine große Rolle spielen, der sowohl die m. E. überzeugendste Interpretation von Platons Argument aus dem Theaitetos vorgelegt hat als auch in seiner Monographie Ancient Self-Refutation einen der wichtigsten Beiträge zur Beschreibung und Klassifikation von Selbstaufhebungsargumenten geleistet hat.⁸ Castagnolis zentrale These – die ich versuchen werde im Rahmen der Beschäftigung mit Platon plausibel zu machen, um sie im weiteren Verlauf für die Diskussion und Bewertung der modernen Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus nutzbar zu machen – ist, dass antike Selbstaufhebungsargumente (im Gegensatz zu einigen ihrer modernen Nachfolgern) in der Regel explizit auf einen dialektischen Kontext Bezug nehmen, in dem allein sie als gültig interpretierbar sind. Diese Bescheidenheit antiker Selbstaufhebungsargumente, die sich damit begnügen, die gegnerische These als „dialectically untenable“⁹ herauszustellen und nicht ihre notwendige und absolute Falschheit zu beweisen suchen, sieht Castagnoli – und darin ist ihm zweifellos zuzustimmen – nicht etwa als Schwäche, sondern als Vorteil, da viele Selbstaufhebungsargumente mit höher gesteckten Beweiszielen sich bei näherem Hinsehen schnell als ungültig erweisen. Diese Einsicht wird sich in Bezug auf die Untersuchung konkreter antirelativistischer Argumente als sehr nützlich erweisen. Sie hält nicht nur dazu an, die Augen nach versteckten Voraussetzungen in diesen Argumenten offenzuhalten. Sie schärft auch den Blick dafür, dass sich hinter ungültigen Argumenten oft echte und ernstzunehmende Einwände verstecken, die zwar nicht auf eine notwendige und absolute Falschheit des Relativismus als solchem hinauslaufen, aber ihn als unvereinbar mit bestimmten Hintergrundannahmen erweisen, bzgl. derer man sich ganz explizit die Frage stellen sollte, ob es sich lohnt, sie aufzugeben. Zum Ende des Kapitels soll damit eine Sammlung von Werkzeugen zur Verfügung stehen, welche die Analyse der konkreten Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus erleichtern wird.
Die Grundzüge der Typologie stammen von Mackie, allerdings bringt Castagnoli einige wichtige Kritikpunkte und Verfeinerungen an, auf die keine Betrachtung von Selbstaufhebungsargumenten verzichten sollte. Castagnoli (2010), 66.
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2.1 Platons Argument Wie bereits erwähnt, ist Platons Argument gegen Protagoras das älteste erhaltene Selbstaufhebungsargument gegen den Relativismus. Sextus Empiricus berichtet, dass schon zuvor Demokrit ein solches Argument (Περιτροπή in Sextus Terminologie) gegen Protagoras eingesetzt hatte. Aber Sextusʼ Wiedergabe des Arguments ist die einzige erhaltene Version, und er setzt Demokrits Argument nicht nur mit dem von Platon gleich, sondern diese Wiedergabe kann auch in Bezug auf Platon bestenfalls als stark verkürzte gelten.¹⁰ Darüber hinaus weist Burnyeat darauf hin, dass „[b]oth name and presentation bespeak a more sophisticated consciousness of logical form than we may suppose was to be found several centuries earlier in the polemic of Democritus against Protagoras, which Sextus here suggests was the argumentʼs original home.“¹¹ Insofern kann man zwar davon ausgehen, dass Demokrit irgendein Selbstaufhebungsargument gegen Protagoras eingesetzt hat, aber darüber, wie genau es aussah, lässt sich nur spekulieren. Die relevante Passage bei Platon findet sich in seinem Dialog Theaitetos. Darin suchen Sokrates und sein Hauptgesprächspartner, der junge Mathematiker Theaitetos, nach einer Antwort auf die Frage, was Erkenntnis ist. Im Verlauf des Dialogs schlägt Theaitetos drei Definitionen vor, die aber allesamt verworfen werden. Auf Protagoras kommt Sokrates im Zuge der Untersuchung der ersten Definition von Theaitetos zu sprechen, die Erkenntnis mit Wahrnehmung gleichsetzt. Er sieht eine enge Verbindung zwischen dieser Definition und der Protagoreischen These, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, der sog. homomensura-These. Das Selbstaufhebungsargument ist also Teil von Sokratesʼ Argumentation gegen diese von Theaitetos vorgeschlagene Definition. In der Passage des Selbstaufhebungsarguments selbst befragt Sokrates allerdings nicht Theaitetos, sondern dessen Lehrer Theodoros, einen Freund des zu dem Zeitpunkt, zu dem der Dialog spielt, bereits verstorbenen Protagoras.
2.1.1 Protagorasʼ Position Bevor der Text des Selbstaufhebungsargumentes selbst zum Thema wird, muss erst noch ein grundlegendes Verständnis dafür gewonnen werden, was für eine Position dort überhaupt zur Debatte steht, also was für eine Auslegung der von
Vgl. Sextus Empiricus (1998), 1,389 – 1,390 [=Adversus Mathematicos 7.389 – 7.390]. Burnyeat (1976a), 47.
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Sokrates wiedergegeben These des Protagoras: „Er sagt nämlich, der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, [dass] sie sind, der nichtseienden, [dass] sie nicht sind“¹², sich im Theaitetos findet. Es sollte gleich zu Anfang betont werden, dass es hier nicht darum gehen kann, eine auch nur einigermaßen detaillierte Interpretation zu erarbeiten.¹³ Die einzigen Aspekte von Protagorasʼ Theorie, die hier vorgestellt werden, sind diejenigen, die zentral für das Verständnis der Funktionsweise des Selbstaufhebungsarguments sind. Noch viel weniger kann hier berücksichtigt werden, inwiefern sich Platons Darstellung von den Ansichten des historischen Protagoras unterscheidet.¹⁴ Noch eine weitere einschränkende Vorbemerkung ist notwendig: Es ist nicht unumstritten, ob es sich hier überhaupt um eine relativistische These handelt. So liest z. B. Gail Fine Platons Protagoras als einen Infallibilisten, d. h., sie schreibt ihm die Auffassung zu, dass alle Vorstellungen absolut wahr sind. Obwohl diese Lesart interessant und nicht ganz unplausibel ist,¹⁵ ist sie für die Zwecke dieser Arbeit aus offensichtlichen Gründen unbrauchbar. Immerhin widmet sie sich der Suche nach Selbstaufhebungsargumenten gegen den Relativismus und befasst sich mit Platons Argument nicht zuletzt aufgrund seines Einflusses auf die heutige Relativismusdebatte. Solange es plausible relativistische Lesarten gibt (und solange Protagoras in der heutigen Relativismusdebatte als Relativist aufgefasst wird), brauchen diese exegetischen Auseinandersetzungen hier also keine Rolle zu spielen. Eine umso wichtigere Frage im Kontext der vorliegenden Arbeit ist, was für eine Art von relativistischer These ein relativistisch gelesener Protagoras vertritt. Die wichtigste Frage lautet also, was bei Platons Protagoras worauf relativiert wird. Die Frage des Was ist nicht ganz einfach zu beantworten, denn im Theaitetos Platon (1990a), 152a. „φησὶ γάρ που ‚πάντων χρημάτων μέτρον‘ ἄνθρωπον εἶναι, ‚τῶν μὲν ὄντων ὡς ἔστι, τῶν δὲ μὴ ὄντων ὡς οὐκ ἔστιν’.‘“ Die Übersetzungen des platonischen Textes, die im Folgenden zitiert werden, stammen grundsätzlich, aufgrund ihrer immer noch erheblichen Verbreitung, aus der Schleiermacher-Übersetzung, genauer genommen aus deren Bearbeitung von Staudacher. An dieser Stelle wurde dem Vorschlag Staudachers gefolgt, nicht „wie“ zu übersetzen, wie Schleiermacher es tut, sondern „dass“. Interessante ausführlichere Interpretationen finden sich z. B. in Burnyeat (1976b), Castagnoli (2010), Chappell (2006), Emilsson (1994), Fine (1998a), Lee (2005), Long (2004), Matthen (1985), McCabe (2000), Sedley (2004), Waterlow (1977) und Zilioli (2007). Dieses Thema wird z. B. diskutiert in Boyarin (2007), Lee (2005) und Zilioli (2007). So ist es mithilfe dieser Lesart z. B. überhaupt kein Problem, eine Interpretation zu finden, nach der Platons Argument gültig ist. Denn wenn man Protagoras als Infallibilisten versteht, sind die Relativierungen (qualifier) – deren verdächtige Abwesenheit im Selbstaufhebungsargument den Interpreten, wie wir noch sehen werden, einiges Kopfzerbrechen bereitet hat – schlicht überflüssig. Die Lesart hat allerdings auch einige Probleme. So weist z. B. Castagnoli darauf hin, dass sich in dieser Lesart keine zufriedenstellende Erklärung für die Präsenz der Relativierungen an den vielen Stellen, an denen sie im Text vorkommen, geben lässt. Vgl. Castagnoli (2004), 8.
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kommen einige Formulierungen vor, die in Richtung einer Relativierung von Wahrheit deuten, wie z. B. „[w]ahr also ist mir meine Wahrnehmung“¹⁶ oder „so muß nach jenes [Protagoras] Behauptung dir zwar diese [deine Vorstellung] Wahrheit sein“.¹⁷ Aber es gibt noch mehr Formulierungen, die eher in die Richtung eines „relativism not of truth but of fact“,¹⁸ wie Waterlow es ausdrückt, deuten, allen voran die oben zitierte Wiedergabe von Protagoras These.¹⁹ Waterlows komplette Ablehnung demgegenüber, Protagoras eine Relativierung der Wahrheit zuzuschreiben, lässt sich angesichts der zwar selteneren, aber definitiv vorkommenden wahrheitsrelativierenden Formulierungen als Interpretation des Textes ausschließen. Dadurch ist hier eine Kompromisslösung möglich und angebracht. Platons Protagoras relativiert sowohl Wahrheit als auch Tatsachen und wahrscheinlich, so zumindest Castagnoli²⁰, relativiert er Wahrheit, weil er Tatsachen relativiert.²¹ Diese Interpretation wird sowohl dem Auftauchen wahrheitsrelativierender Formulierungen gerecht als auch dem deutlichen Übergewicht von Formulierungen, die Tatsachen relativieren. Außerdem ist der Übergang von relativen Tatsachen zu relativen Wahrheiten auf mindestens zwei Wegen motivierbar: Castagnoli schlägt vor, dass Protagoras durch eine einfache Korrespondenztheorie von der Idee relativer Tatsachen zu der Idee relativer Wahrheit gelangt: „my judgement is true if it states how facts are. Since for Protagoras there are no absolute facts, but only relative facts, judgements too should be described as true only relatively“.²² Daneben bestünde auch die Möglichkeit, davon auszugehen, dass für Protagoras eben auch die Tatsachen darüber, was wahr oder falsch ist, relative Tatsachen sind. Da sich eine Auffassung relativer Wahrheit auf diese Art Platon (1990a), 160c. „᾿Aληθὴς ἄρα ἐμοὶ ἡ ἐμὴ αἴσθησις“. Platon (1990a), 170d. „[Σ]οὶ μὲν δὴ τοῦτο κατὰ τὸν ἐκείνου λόγον ἀληθὲς ἔστω“. Waterlow (1977), 32. Waterlow ist der Auffassung, dass Protagoras Wahrheit nicht relativiert, da die Wahrheitsträger seiner Theorie Meinungen spezifischer Individuen zu spezifischen Zeitpunkten seien. Dieser Auffassung nach hat also bereits jede Meinung (einer spezifischen Person zu einem spezifischen Zeitpunkt) ihren eigenen – von dem von ‚gleichlautenden‘ Meinungen anderer Individuen oder Meinungen desselben Individuums zu anderen Zeitpunkten unabhängigen – Wahrheitswert. Die Bedingung, dass jeder zu jedem Zeitpunkt ausschließlich wahre Meinungen besitzt, kann so ohne Relativierung erfüllt werden. Vgl. Waterlow (1977), 33 FN 18. Vgl. Castagnoli (2004), 7. Auf die von Fine formulierte Unterscheidung von „narrow protagoreanism“ und „broad protagoreanism“, also die Unterscheidung zwischen einem auf Wahrnehmung beschränkten und einem globalen Relativismus, wird hier nicht eingegangen, da im Selbstaufhebungsargument ganz klar Urteile zur Debatte stehen, die nichts mit Wahrnehmung zu tun haben. Vgl. Fine (1994), 213 f. Castagnoli (2004), 8.
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und Weise ganz natürlich aus einer Theorie der relativen Tatsachen ergibt, brauchen die beiden Auslegungsansätze nicht als Konkurrenten betrachtet zu werden.²³ Man kann also sagen, dass Protagoras Wahrheit und Tatsachen relativiert, wenn auch Erstere wahrscheinlich nur in abgeleiteter Weise. Doch worauf werden sie relativiert, bzw. wie ist „der Mensch“ in Protagoras These zu verstehen? Diese Frage ist zum Glück deutlich einfacher zu beantworten. In dem vielzitierten Austausch von Sokrates und Theaitetos über den Wind wird klar gesagt, dass es um eine Relativierung auf die einzelne Person geht: Sokrates: […] Wird nicht bisweilen, indem derselbe Wind weht, den einen von uns frieren, den anderen nicht? Oder den einen wenig, den andern sehr stark? Theaitetos: Jawohl. Sokrates: Sollen wir nun in diesem Falle sagen, daß der Wind an und für sich kalt ist oder nicht kalt? Oder sollen wir dem Protagoras glauben, daß er dem Frierenden ein kalter ist, dem Nichtfrierenden nicht? Theaitetos: So wird es wohl sein müssen.²⁴
Aber das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Sowohl das Beispiel des Weines, der dem gesunden Sokrates süß erscheint und dem kranken Sokrates bitter,²⁵ als auch die von Sokrates vorgebrachte Verteidigung von Protagorasʼ Lehrtätigkeit, in der behauptet wird, Protagoras verhelfe anderen nicht zu wahreren Überzeugungen, sondern lediglich zu besseren, die sich in ihrem Wahrheitswert nicht von den
Innerhalb der Terminologie, die im ersten Teil der hier vorliegenden Arbeit entwickelt wurde, spräche man allerdings besser von einem alethischen als von einem metaphysischen Relativismus. Das ist deswegen der Fall, weil dort der metaphysische Relativismus in Abgrenzung vom alethischen als eine schwächere These bestimmt wurde, die nicht auf sich widersprechende Wahrheiten in unterschiedlichen Rahmen verpflichtet ist. Da der Protagoras aus dem Theaitetos zwar bei einer These über Tatsachen startet, aber fraglos bei widersprüchlichen Wahrheiten angelangt, ist m. E. die Bezeichnung eines alethischen Relativismus im Kontext von Selbstaufhebungsvorwürfen die angemessenere, da sie Protagoras stärkste und am stärksten von Selbstaufhebung bedrohte Verpflichtungen ausdrückt, auch wenn sie möglicherweise verdeckt, wie er bei ihnen angelangt. Platon (1990a), 152b. „ΣΩ. […] Ἆρ’ οὐκ ἐνίοτε πνέοντος ἀνέμου τοῦ αὐτοῦ ὁ μὲν ἡμῶν ῥιγοῖ, ὁ δ’ οὔ; καὶ ὁ μὲν ἠρέμα, ὁ δὲ σφόδρα; ΘΕΑΙ. Καὶ μάλα. ΣΩ. Πότερον οὖν τότε αὐτὸ ἐφ’ ἑαυτοῦ τὸ πνεῦμα ψυχρὸν ἢ οὐ ψυχρὸν φήσομεν; ἢ πεισόμεθα τῷ Πρωταγόρᾳ ὅτι τῷ μὲν ῥιγοῦντι ψυχρόν, τῷ δὲ μὴ οὔ; ΘΕΑΙ. Ἔοικεν.“ Vgl. Platon (1990a), 159c-e.
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alten unterscheiden,²⁶ zeigen, dass die Relativierung eigentlich auf ein Individuum in einem bestimmten Zustand bzw. auf seine Überzeugungen zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindet.²⁷ Nur auf diese Weise kommt die für Protagorasʼ Position so charakteristische Auffassung zustande, dass es unmöglich ist, falsch zu liegen, wie sie z. B. im folgenden Satz von Sokrates artikuliert wird: „Was jeder vorstellt, so sagt er [Protagoras] doch, das ist auch für den, der es vorstellt.“²⁸ Genau dieser Theoriebestandteil ist es auch, den Platon in seinem Selbstaufhebungsargument ausnutzen wird. Diese Unfehlbarkeit von Überzeugungen, die Fine dazu veranlasst hat, die Theorie, die sie Protagoras zuschreibt, als Infallibilismus zu betiteln, wäre z. B. nicht Teil einer Relativierung der Wahrheit von Überzeugungen auf ein epistemisches Regelsystem eines Individuums oder einer individualistischen Form der Kohärenztheorie der Wahrheit.²⁹
2.1.2 Erste Annäherung an das Argument Nachdem nun ein grobes Verständnis der Position, die Protagoras im Theaitetos zugeschrieben wird, erarbeitet wurde, ist es Zeit, sich dem Selbstaufhebungsargument selbst zuzuwenden:
Vgl. Platon (1990a), 166d-167d. Allerdings sollte hinzugefügt werden, dass Sokrates Protagoras, im Kontext der Diskussion zu Urteilen darüber, was für einen Staat gut oder nützlich ist, auch eine Relativierung auf Staaten zuschreibt. Der Zusammenhang, den er zwischen den beiden Versionen der relativistischen These sieht, wird aber leider nicht explizit gemacht. In der Literatur gibt es einige Auseinandersetzungen mit den Fragen, ob bei Protagoras Überzeugung und Wahrheit, um es mit Fines Ausdruck zu sagen, durch ein Bikonditional verbunden sind – ob also etwas wahr für jemanden ist, wann immer er davon überzeugt ist und umgekehrt – oder ob Protagoras nur darauf verpflichtet ist, dass Überzeugtsein Wahrheit für die betreffende Person impliziert und was im ersten Falle Wahrheit überhaupt noch von Überzeugtsein unterscheiden würde. Alle drei Fragen wären wichtig für eine genaue Rekonstruktion der Position, die Protagoras im Theaitetos zugeschrieben wird, müssen hier aber aus Platzgründen und vor allem, weil sie keinen Einfluss auf die Frage der Selbstaufhebung haben, außen vor bleiben. Siehe zum Thema der Interpretation als Bikonditional Burnyeat (1976b), 181 ff.; Castagnoli (2004), 7; Fine (1998b), 140 f. Platon (1990a), 170a. „τὸ δοκοῦν ἑκάστῳ τοῦτο καὶ εἶναί φησί που ᾧ δοκεῖ“. Auf die Frage, wie sich Platons Argument gegen solche ‚gewöhnlicheren‘ Formen des Relativismus schlagen würde, wird nach der Untersuchung des Arguments noch zurückzukommen sein.
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Sokrates: Hernach ist doch dieses das schönste bei der Sache. Er [Protagoras] gibt gewissermaßen zu, daß die Meinung der entgegengesetzt Vorstellenden über seine Meinung, vermöge deren sie dafür halten, er irre, wahr ist, indem er ja behauptet, daß alle, was ist, vorstellen. Theodoros: Allerdings. Sokrates: So gäbe er also zu, daß seine eigene falsch ist, wenn er eingesteht, daß die Meinung derer wahr ist, die dafür halten, er irre. Theodoros: Notwendig. Sokrates: Die andern aber geben von sich nicht zu, daß sie irren? Theodoros: Ganz und gar nicht. Sokrates: Er aber gesteht auch dieser Vorstellung wiederum zu, daß sie richtig sei, zufolge dessen, was er geschrieben hat. Theodoros: So scheint es. Sokrates: Von allen also, beim Protagoras angefangen, wird bestritten werden, oder vielmehr von ihm doch zugestanden, wenn er dem, der das Gegenteil von ihm behauptet, zugibt, er stelle richtig vor, dann muß auch Protagoras selbst einräumen, daß weder ein Hund noch auch der erste beste Mensch das Maß ist, auch nicht für eine Sache, die er nicht erlernt hat. Nicht so? Theodoros: So ist es. Sokrates: Wenn dies also von allen bestritten wird, so wäre sie ja niemandem wahr, diese Wahrheit³⁰ des Protagoras, weder irgendeinem andern, noch auch ihm selbst.³¹
Es handelt sich um eine Anspielung auf den Titel des Buches des Protagoras, ἁλήθεια, welches wohl mit der homo-mensura-These begann. Platon (1990a), 171a-c. „ΣΩ. Ἔπειτά γε τοῦτ’ ἔχει κομψότατον· ἐκεῖνος μὲν περὶ τῆς αὑτοῦ οἰήσεως τὴν τῶν ἀντιδοξαζόντων οἴησιν, ᾗ ἐκεῖνον ἡγοῦνται ψεύδεσθαι, συγχωρεῖ που ἀληθῆ εἶναι ὁμολογῶν τὰ ὄντα δοξάζειν ἅπαντας. ΘΕΟ. Πάνυ μὲν οὖν. ΣΩ. Οὐκοῦν τὴν αὑτοῦ ἂν ψευδῆ συγχωροῖ, εἰ τὴν τῶν ἡγουμένων αὐτὸν ψεύδεσθαι ὁμολογεῖ ἀληθῆ εἶναι; ΘΕΟ. ᾿Aνάγκη. ΣΩ. Οἱ δέ γ’ ἄλλοι οὐ συγχωροῦσιν ἑαυτοῖς ψεύδεσθαι; ΘΕΟ. Οὐ γὰρ οὖν. ΣΩ. Ὁ δέ γ’ αὖ ὁμολογεῖ καὶ ταύτην ἀληθῆ τὴν δόξαν ἐξ ὧν γέγραφεν. ΘΕΟ. Φαίνεται. ΣΩ. Ἐξ ἁπάντων ἄρα ἀπὸ Πρωταγόρου ἀρξαμένων ἀμφισβητήσεται, μᾶλλον δὲ ὑπό γε ἐκείνου ὁμολογήσεται, ὅταν τῷ τἀναντία λέγοντι συγχωρῇ ἀληθῆ αὐτὸν δοξάζειν, τότε καὶ ὁ Πρωταγόρας αὐτὸς συγχωρήσεται μήτε κύνα μήτε τὸν ἐπιτυχόντα ἄνθρωπον μέτρον εἶναι μηδὲ περὶ ἑνὸς οὗ ἂν μὴ μάθῃ. Οὐχ οὕτως; ΘΕΟ. Οὕτως.
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Dies ist also Platons Selbstaufhebungsargument gegen Protagoras.³² Es beginnt mit der Anwendung der Protagoras zugeschriebenen These, dass alle Meinungen wahr sind, auf die Meinung der Gegner von Protagoras Theorie, die besagt, dass dieser sich im Irrtum befindet – im Irrtum über die Wahrheit seiner Theorie. Hier findet sich der indirekte Selbstbezug von Protagorasʼ Theorie, der das Selbstaufhebungsargument ans Laufen bringt. Die Konklusion lautet, dass Protagorasʼ Theorie für niemanden wahr ist, hier handelt es sich um eine negative Konsequenz epistemischer Art – und man mag hinzufügen eine sehr starke –; dieses Argument passt also in die oben gegebene Charakterisierung von Selbstaufhebungsargumenten gut hinein. Aber die eigentlich interessante Frage lautet natürlich, wie Sokrates von Ersterem zu Letzterem kommt. Auf den ersten Blick scheint sich Sokratesʼ Argumentationsgang folgendermaßen darstellen zu lassen: 1 Laut Protagoras sind alle Meinungen wahr. 2 Protagoras gibt zu, dass die Meinung seiner Gegner, er irre sich, wahr ist. Aus 1 3 Protagoras gibt zu, dass er sich irrt. Aus 2 4 Protagorasʼ Gegner geben nicht zu, dass sie sich irren. 5 Protagoras gibt zu, dass seine Gegner auch damit Recht haben. Aus 1 6 Protagoras muss einräumen, dass niemand ein Maß ist. Aus 2 oder 3 7 Jeder (einschließlich Protagoras) bestreitet Protagoras Auffassung. Aus 6 8 Protagorasʼ Auffassung ist für niemanden wahr. Aus 1 und 7³³
ΣΩ. Οὐκοῦν ἐπειδὴ ἀμφισβητεῖται ὑπὸ πάντων, οὐδενὶ ἂν εἴη ἡ Πρωταγόρου ᾿Aλήθεια ἀληθής, οὔτε τινὶ ἄλλῳ οὔτ’ αὐτῷ ἐκείνῳ.“ Genau genommen ist es der zentrale Teil des Selbstaufhebungsargumentes, denn, wie Castagnoli überzeugend darlegt, handelt es sich um eine Vervollständigung eines Arguments in Dilemmaform, das Sokrates wenige Sätze vorher in 170a6 – 170d2 vorbringt. Grob zusammengefasst besagt es, dass die Auffassung, dass es keine falschen Urteile gibt, die aus Protagorasʼ Theorie folgt, nicht erfolgreich vertreten werden kann, denn wenn Menschen manchmal falsche Urteile fällen, gibt es falsche Urteile; und wenn man vertritt, dass tatsächlich alle Menschen immer (für sich) wahre Urteile fällen, dann muss man ebenfalls zugeben, dass manche Urteile falsch sind. Laut Castagnoli kann Theodoros letzteren Arm des Dilemmas nicht nachvollziehen und fragt Sokrates nach einer Erläuterung, diese erhält er nach einer kurzen Übergangspassage in Form des im Haupttext zitierten Arguments. Da diese Einschätzung, dass es sich nur um einen Teil – wenn auch den entscheidenden – eines komplexeren Arguments handelt, keine verbreitete Auffassung ist und hier das platonische Argument vor allem aufgrund seiner Rolle in der Relativismusdebatte diskutiert wird, ist dieser Punkt für die vorliegende Arbeit eher unwichtig und wird deswegen nicht weiter diskutiert werden. Darüber hinaus handelt es sich bei dem durch das enger gefasste Selbstaufhebungsargument Ausgeführten ganz klar um den interessanten Arm des Dilemmas, während der andere völlig trivial ist. Vgl. Castagnoli (2010), 44– 49; 61 ff. Meine Darstellung des Selbstaufhebungsargumentes ist länger als die der meisten anderen Autoren. Viele lassen das Argument mit Schritt 6 enden, oft formuliert als Protagorasʼ Zuge-
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An dieser Argumentationsfolge fallen sofort zwei Dinge auf: Erstens scheinen Schritt 4 und 5 keinerlei Funktion für das Weiterkommen des Argumentes zu haben. Dieser Punkt soll zunächst beiseitegelassen und später wiederaufgenommen werden, denn der nächste stellt ein deutlich ernsthafteres Problem für das Argument dar als eine Redundanz. Denn zweitens fehlen die relativierenden Phrasen, die anzeigen, für wen etwas wahr ist bzw. dass überhaupt von relativer Wahrheit die Rede ist,³⁴ in allen Schritten bis auf den letzten. In Schritt 1– 7 scheint das Argument die Sprache eines Absolutisten, nicht die eines Relativisten zu sprechen. Das Problem ist hier, dass das von Sokrates vorgebrachte Argument Protagorasʼ Auffassung überhaupt nicht treffen kann, wenn schon die Repräsentation in Schritt 1 diese nicht in angemessener Weise wiedergibt und Protagoras stattdessen ausgerechnet den von ihm zur Debatte gestellten absoluten Wahrheitsbegriff unterschiebt. Kurz gesagt, Sokrates scheint sich einer ignoratio elenchi schuldig zu machen. Die Fragen, die die fehlenden Relativierungen umgeben – warum sie fehlen,³⁵ ob das Argument trotzdem irgendwie als fatal für
ständnis, dass die homo-mensura-These falsch ist. Die Entscheidung, das Argument nicht mit Schritt 6 enden zu lassen, hat zwei Gründe: Erstens sind Schritt 7 und 8 – selbst wenn man Schritt 6 für die stärkste Schlussfolgerung und insofern den Kulminationspunkt des Selbstaufhebungsargumentes hielte – durchaus wichtig für ein vollständiges Verständnis des Argumentes, unter anderem da sie interessante Bezüge auf frühere Stellen des Theaitetos enthalten. Siehe dazu FN 32. Zweitens soll an dieser frühen Stelle, wo noch so gut wie nichts zur Interpretation des Arguments gesagt wurde, so nahe wie möglich am Text gearbeitet werden und die Abfolge von Frage und Antwort, in der Sokrates immer neue Konsequenzen zu Protagorasʼ These zieht, während Theodoros Zustimmung signalisiert, geht nun einmal ungebrochen weiter, bis Theodoros schließlich in seiner Antwort nach dem letzten genannten Schritt von Sokrates einwirft: „Gar zu heftig, o Sokrates, rennen wir meinen Freund um.“ (Platon (1990a), 171c) Es ist auch bewusst von einer Darstellung des Argumentes und noch nicht von einer Rekonstruktion die Rede. Diese Feststellung geht mindestens zurück auf das Jahr 1875, wo sie bereits von George Grote gemacht wurde. Siehe Grote (1875). Die möglichen Antworten reichen von dem Vorschlag, dass Platon die Relativierungen intendiert, aber aus irgendeinem Grund implizit gelassen habe, über Unachtsamkeit bis zu „perverse dishonesty“ (Burnyeat (1976b), 177). Im „perverse dishonesty“-Lager im strikten Sinne ist, soweit ich das überblicken kann, niemand. Es ist vielmehr ein Vorwurf, den Burnyeat in den Raum stellt, um seine Erklärung, dass die Relativierungen von Platon intendiert waren und vom Leser hinzugefügt werden sollten, zu motivieren. Es gibt aber durchaus Autoren, die Sokrates ein erhebliches Maß an Trickserei unterstellen. So vertritt z. B. Long (2004) die Auffassung, dass Theodoros aufgrund seiner „objectivist proclivities“ (Long (2004), 34) zum Gesprächspartner in diesem Abschnitt des Gesprächs gewählt wird, da er unter anderem den Gebrauch einer absoluten Wahrheitskonzeption im Selbstaufhebungsargument nicht bemängeln würde, anders als der noch zwischen Relativismus und Absolutismus unentschlossene Theaitetos. Auch Runciman (1962) vertritt zumindest, dass Platon die Eindeutigkeit, mit der sich Protagoras vorgeblich geschlagen geben muss, klar übertreibt. Die Ansicht, dass es sich um eine Unachtsamkeit handele,
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Protagoras interpretiert werden kann, ob man sie als von Platon intendiert hinzudenken sollte oder ob ihr Fehlen sogar bedeutet, dass Platon Protagoras gar nicht für einen Relativisten hielt –, sind wohl mit Abstand die meistdiskutierten Fragen das platonische Selbstaufhebungsargument betreffend.
2.1.3 Relativierungen Dafür, die Relativierungen wieder einzusetzen, spricht, dass es der einzig gangbare Weg zu sein scheint, wenn man versucht, ein Selbstaufhebungsargument zu erhalten, das Protagorasʼ Position tatsächlich trifft. Außerdem lässt sich die Präsenz der Relativierungen unmittelbar vor dem Argument und in Schritt 8 als Hinweis darauf werten, dass die Relativierungen tatsächlich mitgelesen werden sollen. Die Aussage, dass Protagorasʼ Auffassung für niemanden wahr wäre, wenn niemand sie glaubt, kommt sowohl in Schritt 8 als auch in 170e vor, und diese beiden Passagen rahmen das Selbstaufhebungsargument ein. Castagnoli stellt (allerdings in Bezug auf eine etwas frühere Passage) die Überlegung an, dass die Präsenz der Relativierungen um die Passage herum dagegen spricht, dass Platon sie aus Unachtsamkeit weggelassen haben könnte.³⁶ Genauso spricht sie dagegen, dass Platon auf die Unachtsamkeit seiner Leser spekuliert, denn in diesem Fall wäre die Benutzung der Relativierungen in dieser Nähe zum fraglichen Argument äußerst ungeschickt, da sie den Leser geradezu mit der Nase auf die verdächtige Abwesenheit stößt. Eine letzte Möglichkeit kann jedoch nicht ausgeschlossen werden: Möglicherweise ist Platons Strategie, den Leser darauf aufmerksam zu machen, dass jemand, der Protagorasʼ Auffassung vertritt, sich gegen unfaire dialektische Behandlung nicht wirkungsvoll zur Wehr setzten kann.³⁷ Insofern ist der Hinweis, wie gesagt, nicht ganz eindeutig. Die Schwierigkeit ist allerdings, dass man mit den Relativierungen, zumindest auf den ersten Blick, nicht zu dem gewünschten Ergebnis kommt: Egal wie oft findet sich z. B. in Vlastos (1956). Dass Sokratesʼ Formulierungen durch den Leser um die Relativierungen ergänzt werden sollten, vertreten neben Burnyeat (1976b) z. B. Castagnoli (2004); (2010), Denyer (1991) und Emilsson (1994). Vgl. Castagnoli (2004), 11. In diese Richtung könnte auch der imaginäre wütende Auftritt des Protagoras, den Sokrates im Anschluss an das Argument beschreibt, deuten. Castagnoli vertritt die bedenkenswerte Auffassung, dass Platon hier tatsächlich eine doppelte Strategie verfolgt: Er hat ein wirkungsvolles Argument gegen Protagoras (wie genau dieses aussehen soll, wird gleich noch besprochen werden), aber durch das Weglassen der Relativierungen möchte er den Leser darauf aufmerksam machen, dass man ein solches nicht einmal unbedingt bräuchte, um Protagoras zum Aufgeben zu zwingen. Vgl. Castagnoli (2010), 66 f.
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man Protagoras zugeben lässt, dass die Meinungen seiner Gegner wahr für sie sind, es reicht nicht aus, um darauf schließen zu dürfen, dass die Meinung der Gegner auch wahr für Protagoras ist – und das wäre hier das einzig relevante Ergebnis, um zu Schritt 7 gelangen zu können.³⁸ Die Problemlage ist also die folgende: Wird das Argument ohne die Relativierungen gelesen, wie es dasteht, sind die einzelnen Beweisschritte zulässig, aber es verfehlt sein Ziel, da es kein Argument gegen Protagorasʼ Theorie ist; werden die Relativierungen hingegen eingesetzt, kann man zwar wiederum ein funktionstüchtiges Argument konstruieren, es kommt allerdings nicht weiter als bis zu der Folgerung, dass Protagorasʼ Theorie für seine Gegner falsch ist, Schritt 7 und 8 scheinen ungerechtfertigt. Der Übergang von den relativierten Zuschreibungen zu einer interessanten Konklusion, wie etwa der absoluten Falschheit von Protagorasʼ Theorie oder ihrer Falschheit für Protagoras, scheint versperrt. Lässt sich diese Lücke irgendwie schließen?
2.1.4 Burnyeats Brücke Ein Versuch, das Selbstaufhebungsargument mit den ergänzten Relativierungen doch noch zum gewünschten Ergebnis zu führen, ist der von Myles Burnyeat, der aufgrund seiner Bekanntheit auf jeden Fall in Erwägung gezogen werden muss. Burnyeats Rettungsversuch geht von seinem sehr eigenen Verständnis der Phrase „wahr für x“ aus. Er argumentiert zunächst dafür, dass diese Ausdrucksweise nicht einfach synonym mit „x glaubt“ sein kann, und unterbreitet dann einen alternativen Vorschlag: Protagorasʼ theory is, after all, a theory of truth and a theory of truth must link judgments to something else – the world, as philosophers often put it, though for a relativist the world has to be relativized to each individual. […] What this relativistic world will be like if Protagorasʼ theory of truth is taken seriously, the dialogue explains in terms of the Heraclitean doctrine of flux. Plato uses the notion of flux to describe an ontological setting which satisfies Protagorasʼ contention that genuine disagreement is impossible and no oneʼs judgment can be corrected either by another person or by the judgment-maker himself at another time. The outcome of this Heraclitean interpretation of Protagoras is that each of us lives in a private world constituted by a succession of momentary appearances, all of which are true in that world quite independently of what happens next in a given world. In a given
Bzw. es wäre die einzig relevante Konklusion, wenn man Schritt 7 schon nicht mehr zum Selbstaufhebungsargument zählt. Siehe dazu FN 33.
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world – say, that of Socrates – whatever appears to him is then and there the case […] and nothing is the case unless it then and there appears to him[.]³⁹
Burnyeat führt also ein Konzept privater Welten ein, um die Bedeutung von „wahr für x“ zu erklären. Seine Einsetzung, um die Lücke, die sich im Selbstaufhebungsargument auftut, sobald die Relativierungen eingesetzt werden, zu füllen, sieht folgendermaßen aus: Nach Meinung der Gegner von Protagoras ist dessen Auffassung von Wahrheit nicht wahr, deswegen gilt sie nicht in ihren Welten. Also, so Burnyeat, stünden Protagorasʼ Gegner zu ihren Welten nicht in dem von Protagorasʼ Auffassung verlangten Verhältnis, ihre Meinungen wären nicht hinreichend um Wahrheit und Falschheit in ihren Welten festzulegen. Da Protagorasʼ Theorie aber das Verhältnis von allen Erkenntnissubjekten zu ihren Welten beschreiben solle, sei sie falsch, und zwar falsch simpliciter, wie Burnyeat sich ausdrückt. Diese Argumentation sieht zunächst einmal überzeugend aus, aber sie hat eine erhebliche Schwachstelle. Weiter oben, in Abschnitt 1.7.3, wurde schon einmal festgestellt, dass man in Diskussionen zu relativistischen Theorien darauf achten sollte, Fragen der Relativierung auf den Rahmen, den z. B. eine Person benutzt, nicht mit einer Einschränkung des Anwendungsbereiches auf diese Person zu verwechseln. Genau das scheint Burnyeat hier passiert zu sein;⁴⁰ bzw. Burnyeat scheint sogar eine Trennung dieser beiden Fragen bewusst abzulehnen. Immerhin charakterisiert er seine Lösung folgendermaßen: „The solution I want to propose is that Plato takes it that, if relativism is not true for someone, it does not hold of that personʼs judgments and beliefs.“⁴¹ In seinem Interpretationsmodell sollen diese beiden Dinge also zusammenfallen, aber das Modell ist schon in seinem Ansatz ungeeignet als Darstellung einer globalen relativistischen These, denn, wie Bostock anmerkt, interpreting ‚true for x‘ as meaning ‚true of xʼs world‘ does not in fact treat the notion of truth as a relative notion, in an important way. On his [Burnyeats] account, a claim is taken to be ‚true for x‘ if and only if it is a description of xʼs world which is true (of that world) in an absolute and objective way.⁴²
Burnyeat (1976b), 181 f. Für eine Kritik an Burnyeat, die diese Problematik sehr schön herausarbeitet, siehe Castagnoli (2004), 16 ff. Burnyeat (1976b), 179. Bostock (1988), 91.
2.1 Platons Argument
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Burnyeats Darstellung liegt also ein absolutistisch gefärbtes Relativismusverständnis zugrunde. Seine Version von Protagorasʼ Relativismus verortet sich selbst innerhalb eines Superrahmens, für den nicht dieselben Regeln gelten, wie für die Rahmen auf der Objektebene, sondern von dem aus es möglich ist, absolut wahre Aussagen über die anderen Rahmen und deren Inhalte zu treffen.⁴³ Dass diese Sichtweise tatsächlich Burnyeats Protagorasʼ Verständnis entspricht, sieht man deutlich an seinen Ausführungen dazu, warum Protagoras zur Annahme vieler absoluter Wahrheiten verpflichtet sei: [S]uppose that, instead of speaking with the vulgar, we tailor our speech to the facts as the theorist sees them, explicitly relativizing our statements. Then, surely, to avoid applying the doctrine twice over, we must put their truth conditions in absolute terms. That is, a proposition of the form ‚x is F‘ is true (relatively) for person a, if and only if ‚x is F for a‘ is true (absolutely). Call this the principle of translation. Such a principle is needed, I submit, if we are to be able to give sense to the notion of relative truth and operate with it in reasoning.⁴⁴
Diese Erläuterung zu seinem „principle of translation“ macht deutlich, dass es in Burnyeats Version von Protagorasʼ Auffassung keine Möglichkeit gibt, Aussagen über relative Wahrheit und Falschheit selbst als relative Aussagen zu betrachten.
Ein Ansatz mit einer solchen Struktur kam schon einmal in Abschnitt 1.3 vor und wurde dort als ein Pluralismus kategorisiert. Burnyeat (1976b), 193. Man könnte hier einwenden, dass diese Passage ein gutes Stück nach Burnyeats Interpretation des Selbstaufhebungsarguments kommt und deswegen im gegenwärtigen Zusammenhang irrelevant ist. Aber er schreibt auch das Folgende, mit direktem Bezug auf seine Interpretation des Selbstaufhebungsargumentes: “My argument has assumed, as I think Platoʼs arguments all assume, that Protagoras puts forward his doctrine as a valid theory of truth for everyone’s judgments and beliefs. It is meant to be true of those judgments and beliefs; what it asserts of them it asserts, implicitly at least, to be true (period).” (Burnyeat (1976b), 190) Angesichts des Kontexts, in dem “true (period)” hier verwendet wird, liegt es nahe, Burnyeat zusätzlich eine Verwechslung von Absolutheit und Universalität vorzuwerfen. Allerdings ist dies nicht wirklich eine weitere Unterscheidung, die unterschlagen wird, vielmehr muss Protagoras’ Theorie in Burnyeats Verständnis universell wahr sein, wenn sie denn von allen Meinungen, Urteilen o. Ä. gelten soll. Das ergibt sich ganz natürlich aus der Ablehnung der Unterscheidung von wahr für und wahr über und der im nächsten Abschnitt noch einmal anzusprechenden Annahme, dass die Meinungen etc. eines Subjekts Teil der Welt eben dieses Subjekts sind. Unter diesen Voraussetzungen kann Protagoras’ Theorie nur dann auf alle Meinungen etc. zutreffen, wenn sie wahr für alle Subjekte, also universell wahr, ist. Dass Burnyeat hier trotzdem von absoluter und nicht nur von universeller Wahrheit spricht (bzw. scheint er von absoluter und universeller Wahrheit zu sprechen), wenn er “true (period)” sagt, ist m. E. daran ersichtlich, dass er zunächst den uneingeschränkten Gegenstandsbereich im ersten Satz etabliert und dann noch zusätzlich den (angestrebten) Status der Aussage über diesen bereits festgelegten Gegenstandsbereich näher bestimmt.
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2 Selbstaufhebung
Fine hat die Protagoras hier zugeschriebene Position passend als „private absolutism“⁴⁵ beschrieben, denn worauf sie hinausläuft, ist ein (absoluter) Blick auf eine in private Bereiche zersplitterte Realität, in denen jeweils die Ansichten eines Individuums Wahrheit und Falschheit bedingen.
2.1.4.1 Ein Problem für die Identifizierung Von hier aus scheint es nur ein kurzer Schritt zur Identifizierung der Aussage, dass die Theorie des Protagoras wahr für eine Person ist, mit der Aussage, dass die Theorie des Protagoras das Verhältnis der Meinungen und Urteile einer Person zu ihrer Welt korrekt beschreibt. Denn zu wessen Welt sollen wohl die Urteile eines Individuums gehören, wenn nicht zu seiner eigenen? An dieser Stelle bekäme das Individuum also das Recht übertragen, das Verhältnis zwischen seinen Urteilen und den Gegenständen in seiner Welt zu bestimmen, oder so müsste es zumindest in Burnyeats Bild vor sich gehen. Aber eigentlich wird spätestens hier klar, wie eklatant inkonsistent dieses ganze Gebilde ist; denn damit die Meinung des Individuums maßgeblich dafür sein könnte, wie seine Urteile zu seiner Welt stehen, müsste die Welt des Individuums seine Urteile und sich selbst enthalten. Keine Frage, Burnyeat hält Protagorasʼ Theorie für inkonsistent, aber was ist hier der Theorie und was ihrer Interpretation zuzuschreiben? Es scheint die Interpretation zu sein, denn der Widerspruch tauchte auf, als versucht wurde, Burnyeats Brückenprinzip des In-eins-Fallens von jemandes Meinung über die Relation seiner Urteile zu seiner Welt und dieser Relationen aus dem absolutistisch gefärbten Verständnis von Protagorasʼ Theorie zu gewinnen.⁴⁶ In der Tat ergibt es unter der Voraussetzung eines absoluten Wahrheitsanspruches der Theorie keinen Sinn, die Meinung einzelner Individuen in Betracht zu ziehen, wenn es um die Frage geht, ob sie ein Maß dessen sind, was wahr in ihren Welten ist.Wie schon gesagt, ist in einer absolutistischen Lesart der Theorie kein Platz für relative Wahrheiten über relative Wahrheiten oder eben über die Relativität von Wahrheiten. Wenn alle Sätze darüber, was wahr für wen ist, absolut wahr sind, dann muss es auch die Feststellung der Relativität selbst sein. In diesem Fall ist die Meinung Einzelner zu Protagorasʼ Theorie schlicht irrelevant für die Frage, ob sie ein Maß der Wahrheit in ihrer Welt sind oder nicht. Burnyeats absolutistisches Relativismusverständnis ist darüber hinaus nicht nur unvereinbar mit seiner Lösung des Problems der fehlenden Relativierungen
Fine (1998b), 157. Wedin (2005) erlaubt einen interessanten Blick auf weitere Schwierigkeiten der Interpretation von Platons Argument mit Hilfe der Weltenmetapher aus formaler Perspektive.
2.1 Platons Argument
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im Selbstaufhebungsargument, es läuft auch dem Protagoras von Sokrates zugeschriebenen Gesprächsverhalten entgegen – denn warum sollte dieser seinen Gegnern die Wahrheit ihrer Meinungen zu seiner Theorie zugestehen, wenn Aussagen über die Relativität der Wahrheit gar nicht zum Gegenstandsbereich seiner These zählen?⁴⁷ Protagoras kann nicht mit der von Burnyeat charakterisierten Theorie antreten, wenn das Selbstaufhebungsargument nicht schon am Schritt von 1 zu 2 scheitern soll.⁴⁸
2.1.4.2 Ein Rettungsversuch Das muss allerdings noch nicht heißen, dass Burnyeats Vorschlag zu einer Überbrückung der argumentativen Lücke scheitern muss. Möglicherweise ist die absolute Wahrheit höherstufiger Urteile ein verzichtbarer Bestandteil seiner Interpretation, und eine Relativierung der Wahrheit auf allen Stufen erlaubt oder verlangt sogar einen Zusammenfall von Meinung zu Protagorasʼ Theorie und dem eigenen Maß-Status. Burnyeat lehnt eine Interpretation, in der Protagoras seine Theorie selbst nur als relative Wahrheit vorstellt, zwar explizit ab,⁴⁹ aber da nur
Es geht hier nicht um den Punkt, dass Protagorasʼ Theorie viel durchdachter ist, als Burnyeat sie macht, das mag oder mag nicht so sein, der Punkt ist vielmehr, dass – falls Platon tatsächlich einen Protagoras darstellt, der auf einen absoluten Wahrheitsbegriff auf der Metaebene der Beschreibung relativer Wahrheiten verpflichtet ist, wie es Burnyeats Interpretation verlangt – Sokratesʼ Behauptung, Protagoras müsse zugeben, dass die Meinung seiner Gegner über seine These wahr sei, schlicht eine bewusste Fehlleitung seines Argumentationspartners wäre, ohne dass er diese später auflöst. Sokrates bedient sich zwar durchaus ab und zu argumentativer Tricks, aber das sind wir von ihm nicht gewohnt. Insofern passt Burnyeats Bemerkung, dass sowohl seine Rekonstruktion als auch Platon einen absoluten Wahrheitsanspruch, zumindest für die homomensura-These, voraussetzen, nicht zum Text. Es sollte noch einmal erwähnt werden, dass es möglich ist, dass es genau die hier verantwortliche Inkonsistenz ist, auf die Burnyeat mit seiner Protagoras-Kritik hinauswill, aber in diesem Fall wäre er eine wirklich gute Erklärung dafür schuldig, warum er Platons Protagoras diese absolutistischen Tendenzen zuschreibt. Seine Bemerkung, dass er denkt, auch Plato unterstelle einen versteckten Absolutismus, und seine Argumentation gegen eine durchgehend relativierende Lesart reichen dafür definitiv nicht aus, denn auch dort scheinen sich die Probleme des Protagoras vornehmlich aus der Weltenmetapher selbst zu speisen. Letzteres wird im nächsten Abschnitt noch zu zeigen sein. Burnyeat sieht in einem mit relativem Wahrheitsanspruch vorgebrachten Relativismus vor allem die Gefahr einer solipsistischen Weltsicht und einer resultierenden Irrelevanz für jeden, der noch nicht von Protagorasʼ Theorie überzeugt ist, wie er in der folgenden Passage ausführt: „For is this not what Protagoras would be doing if he insisted that he asserted the Measure doctrine as true for himself and himself alone? That would mean dropping the thesis that (M) is true of and in Socratesʼ world and replacing it by the completely solipsistic claim that it is only in Protagorasʼ world that (M) is true of and in Socratesʼ world, where Socratesʼ world is now incorporated into
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eine solche Lesart von Schritt 1 zu Schritt 2 trägt (und somit vom Text verlangt wird) und da für die vorliegende Arbeit Burnyeats Vorschlag für eine Lösung des Problems des Selbstaufhebungsargumentes deutlich wichtiger ist, als seine Gesamtsicht der Protagoreischen Position (und da auch dieser Lösungsvorschlag dazu zwingt eine absolutistische Lesart abzulehnen), müssen Burnyeats Bedenken hier hintangestellt werden. Warum aber auch dieser Weg nicht zu dem Ergebnis führt, dass das Zutreffen von Protagorasʼ Theorie auf eine Person und die Wahrheit der Theorie für eine Person zusammenfallen, lässt sich am besten illustrieren, wenn man sich ein wenig auf Burnyeats Metapher der Welten einlässt und sie weiterdenkt, wie Fine es mit der Unterscheidung zwischen dem, was in einer Welt wahr ist, und dem, was wahr über sie ist, tut. ⁵⁰ Fine sagt leider nicht viel dazu, wie die Unterthat of Protagoras. If this sounds incoherent, that is not to be wondered at, for what sense can we make of the idea that Socrates and his world exist only for Protagoras? Socrates cannot be expected to find it intelligible; he cannot identify with the counterpart that bears his name in Protagorasʼ world.“ (Burnyeat (1976b), 191) Das Bild, das Burnyeat hier von einem relativ gültigen Relativismus zeichnet, sieht in der Tat nicht besonders vielversprechend aus. Aber auch hier stellt sich wieder die Frage, was daran Protagorasʼ Theorie zuzuschreiben ist und was Burnyeats eigenwilliger Interpretation derselben. Denn insbesondere an dem Element des drohenden Solipsismus bzw. der Isolation des Protagoras scheint die Explikation mit Hilfe von voneinander abgetrennten Welten keinen geringen Anteil zu haben.Wenn die Individuen mit ihren Welten (und es sollte nicht übersehen werden, dass schon das oben aufgetauchte Problem in der absolutistischen Lesart in Zusammenhang mit der Frage steht, ob das Individuum Teil seiner Welt sein kann oder wie genau es mit ihr verbunden ist) erst einmal voneinander abgeschottet sind, ist es kein Wunder, dass man sie nicht ohne weiteres miteinander in Kontakt bringen kann, ob nun in Form gegenseitiger Bezugnahme oder anderweitig. Vielleicht ließe sich besser mit der Weltenmetapher arbeiten, wenn man sie von der Annahme privater Gegenstände befreite und stattdessen nur Wahrheiten privatisierte, während die Gegenstände öffentlich blieben, wie es Matthen (1985) tut. Seine Konzeption unterscheidet sich dadurch allerdings erheblich von der Burnyeats, die in der Form, wie sie vorliegt, m. E. einfach unhaltbar ist. Eine ähnliche Argumentationslinie gegen das, was er „cultural relativism“ nennt, findet sich in Putnam (1983), 236 ff. und wird in Abschnitt 3.3.2.2 besprochen werden. Im Anschluss an einen unveröffentlichten Aufsatz von Gary Matthews (Vgl. Fine (1998b), 149 FN 30; 152 f. FN 35). Die Inspiration für diese Unterscheidung stammt wahrscheinlich aus dem Bereich der möglichen Welten, wo sie unter anderem eingeführt wurde, um Aussagen über Nichtexistenz in möglichen Welten innerhalb einer aktualistischen Konzeption (der Auffassung, dass es keine primitiven möglichen Gegenstände gibt, sondern mögliche Gegenstände nur insofern existieren, als sie aus tatsächlich existierenden Gegenständen logisch konstruiert werden können) möglicher Welten verständlich zu machen (siehe Adams (1981)). In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Fine zwei unterschiedliche Lesarten von Burnyeats Überlegungen anbietet: eine, die ihm einen „private absolutism“ zuschreibt, also die Welten als Ansammlungen privater Gegenstände versteht, und eine zweite, die die fraglichen Welten schlicht aus den Überzeugungen je eines Individuums bestehen lässt, was der aktualistischen Auffassung
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scheidung zu verstehen ist und woher sie ihre Legitimität bezieht. Aber es ist offensichtlich, dass man eine Unterscheidung dieser Art braucht, wenn es unter Bedingungen der im Welten-Bild interpretierten Protagoreischen Wahrheitskonzeption möglich sein soll, Meinungen über anderer Leute Meinungen, Welten und Wahrheiten zu haben. Wenn Protagorasʼ Meinung darüber, was für einen anderen wahr ist, wie es das Welten-Bild nahelegt, wahr in seiner Welt sein soll, dann muss die Welt des anderen in Protagorasʼ Welt vorkommen. Sonst könnte nichts, was diese Welt betrifft, wahr für Protagoras sein. Welten anderer könnten in diesem Fall (es sei denn, es gäbe zusätzlich eine andere, absolute Form von Wahrheit, diese Interpretationsmöglichkeit wurde aber bereits im letzten Abschnitt ausgeschlossen) prinzipiell keine Objekte von wahren (oder falschen) Aussagen sein; und Protagorasʼ Theorie (in der Welten-Interpretation) müsste ihre eigene Wahrheitsfähigkeit oder sogar Formulierbarkeit bestreiten. Wenn also die Welt eines anderen als Objekt in Protagorasʼ Welt vorkommt, ist das, was Protagoras von ihr denkt, wahr über diese Welt. Das entspricht einer doppelten Relativierung, denn es heißt nichts anderes, als dass es für Protagoras wahr ist, dass für jemand anderen wahr ist, dass p. Dass etwas wahr in einer Welt ist, müsste hingegen einer einfachen Relativierung entsprechen. Aber hier ergibt sich ein Problem. Es ist zwar ohne weiteres möglich zu sagen, dass es in Sokratesʼ Welt regnet, und sich keine Gedanken über weitere Relativierungen zu machen, aber der Fall, in dem wir über Aussagen sprechen, die sich selbst auf Welten beziehen, ist schwieriger. Denn strenggenommen kann mit der Feststellung, dass in Sokratesʼ Welt Protagorasʼ Theorie (in der Welten-Version) nicht wahr ist, nichts anderes gemeint sein, als dass in Sokratesʼ Welt Protagorasʼ Theorie nicht wahr über Sokratesʼ Welt ist. Obwohl diese Formulierung es nicht ganz trifft, denn, da Sokrates nicht der Meinung ist, dass Protagorasʼ Theorie wahr ist, enthält seine Welt keinen Gegenstand, der sich als Sokratesʼ Welt beschreiben ließe, sondern es gibt in ihr einen Gegenstand, der schlicht „Welt“ heißt, über den es nicht wahr ist, dass Sokrates zu ihr in dem von Protagorasʼ Theorie behaupteten Verhältnis steht.⁵¹ Das heißt, dass nicht nur Protagorasʼ Welt eine Welt als Objekt enthalten muss, wenn er Aussagen über sie macht, dasselbe gilt – bei näherem Hinsehen ist das wenig verwunderlich – auch
von möglichen Welten als maximale konsistente Mengen tatsächlich existierender Propositionen ähnelt. Vgl. Fine (1998b), 151– 159. Siehe auch Abschnitt 1.7.3, wo mit der strukturgleichen Unterscheidung von Gegenstandsbereich und Geltungsanspruch gearbeitet wurde. Dass es hier also einen Sokrates in Sokratesʼ Welt geben muss, ist ein weiterer Nachteil der Weltenmetapher.
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von Sokratesʼ Welt.⁵² Auch im Fall, dass Protagorasʼ Theorie bestritten wird, verlangt das Modell der Welten also eine klare Unterscheidung zwischen der Welt, in der die Theorie falsch ist, von der Welt, über die sie falsch ist. Erstere wird für die Diskussion erst relevant, wenn über den Wahrheitsstatus von Sokratesʼ Meinung über die Welt geredet wird, Letztere ist – ganz gewöhnlich – das Objekt von Sokratesʼ Zuschreibung. Hier sieht man sehr deutlich, dass es sich, wie eingangs erwähnt, um einen Unterschied zwischen Rahmen und Anwendungsbereich handelt und dass die semantische Funktion beider so unterschiedlich ist, dass nicht klar ist, wie man irgendwelche Schlussfolgerungen vom einen auf das andere durchführen sollte. Noch viel weniger ist aber klar, warum die Fragen von „wahr in“ und „wahr über“ im Fall von Protagorasʼ Gegnern zusammenfallen sollten, denn auch in diesem Fall ist es möglich, zwei deutlich unterscheidbare Fragen auszumachen. Insofern kann Burnyeats Rettungsversuch auch innerhalb des veränderten Relativismusverständnisses nicht erfolgreich sein. Die Frage, was wahr über eine Welt ist, bleibt eine andere Frage, als die, was in ihr wahr ist; und die sperrige Weltenmetapher scheint mehr Schwierigkeiten aufzuwerfen, als sie löst.
2.1.5 Castagnoli Da Burnyeats Vorschlag also keine gültige Rekonstruktion des Selbstaufhebungsargumentes liefern kann, soll ein weiterer Interpretationsansatz vorgestellt werden, der deutlich erfolgreicher ist. Es handelt sich dabei, wie bereits angekündigt, um den Ansatz von Castagnoli. Dieser liefert eine gültige Rekonstruktion des platonischen Selbstaufhebungsargumentes, wenn auch eine, die vielen der modernen Autoren, die sich auf Platons Argument beziehen, nicht passen dürfte. Denn Platons Argument beruht, in Castagnolis Lesart, explizit auf einem bestimmten dialektischen Kontext, und es läuft nicht, wie z. B. Siegel es glaubt, auf die absolute Falschheit von Protagorasʼ Relativismus hinaus. Castagnolis Rekonstruktion verlangt, genau wie die Burnyeats, dass die im Text fehlenden Relativierungen vom Leser in die Protagoras zugeschriebenen Äußerungen eingesetzt werden. Sie unterscheidet sich allerdings erheblich in ihrer Er-
Hier besteht eine interessante Parallele zu Halesʼ vorgeblich neutralem System, das als Diskussionsgrundlage für Absolutisten und Relativisten dienen soll, insofern dort absolute Wahrheit von Aussagen, die nicht zu den Gesetzen des Systems selbst gehören, grundsätzlich auf relativer Wahrheit beruht, so dass es für die meisten Aussagen nicht möglich ist, in einem starken Sinne absolut wahr zu sein. Genauso wird in Burnyeats Modell absolute Wahrheit zu relativer Wahrheit innerhalb eines Rahmens, der nicht als solcher anerkannt wird.
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klärung, wie man von dem Zugeständnis des Protagoras, dass die Ablehnung seiner These wahr für seine Gegner sei, zu einem für Protagoras problematischen Ergebnis kommt. Das Herzstück von Castagnolis Rekonstruktion beruht auf einer Idee von Emilsson, die Castagnoli allerdings entscheidend weiterentwickelt. Emilsson vertritt die Ansicht, dass, entgegen dem Anschein, den die oben gegebene Darstellung des Argumentes erweckt hatte, die Schritte 4 und 5 alles andere als nutzlos sind. Stattdessen stellen sie, nach Emilssons Auffassung, den zentralen Teil des Arguments dar, in dem etabliert wird, dass Protagoras kein Recht hat, seine Relativierungen der Zuschreibung von Wahrheit und Falschheit weiter zu benutzen.⁵³ Wäre dies der Fall, wäre klar, wie es möglich ist, von dem zunächst relativierten Zugeständnis des Protagoras, dass seine These falsch sei, zu einem nicht relativierten Ergebnis zu gelangen. Aber wie genau soll diese Disqualifizierung der Relativierungen vonstattengehen?
2.1.5.1 Emilsson Emilsson geht in seiner Rekonstruktion viel stärker als alle Interpreten vor ihm von der Frage aus, wie genau der in die Ausführungen des Sokrates eingebettete Dialog zwischen Protagoras und seinen Gegnern abläuft. Seine Rekonstruktion ist in erster Linie eine Rekonstruktion dieses Dialogs und weniger eine von Sokratesʼ eigenen Ausführungen. Es ist wohl dieser Herangehensweise zu verdanken, dass ihm auffällt, wie merkwürdig es ist, dass in Schritt 4 die Rede davon ist, dass die Gegner des Protagoras etwas nicht zugestehen, denn es ist aus dem Kontext nicht ersichtlich, dass sie dazu aufgefordert wären, irgendeiner Aussage zuzustimmen. Hier noch einmal der fragliche Abschnitt des Arguments aus der oben gegebenen Darstellung, diesmal ergänzt um die Relativierungen: 3r Protagoras gibt zu, dass seine These falsch ist für seine Gegner. 4 Protagorasʼ Gegner geben nicht zu, dass sie sich irren. 5r Protagoras gibt zu, dass seine Gegner auch damit etwas für sie Wahres sagen.⁵⁴
Vgl. Emilsson (1994), 142 f. In Schritt 4 muss keine Relativierung ergänzt werden, da es sich um eine Aussage von Protagorasʼ Gegnern handelt, die keinerlei Grund haben, Relativierungen zu benutzen. Die Formulierungen in Schritt 3 und Schritt 5 mussten leicht angepasst werden, um eine einigermaßen natürlich klingende Einsetzung der Relativierungen zu erlauben. Hier noch einmal, zum Vergleich, die nicht relativierten Schritte: 3 Protagoras gibt zu, dass er sich irrt. 4 Protagorasʼ Gegner geben nicht zu, dass sie sich irren. 5 Protagoras gibt zu, dass seine Gegner auch damit Recht haben.
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Emilsson schlägt deswegen vor, Sokratesʼ Zusammenfassung des Austauschs als lückenhaft zu betrachten und zwischen Schritt 3 und 4 eine Entgegnung des Protagoras einzusetzen, der seine Gegner dann in Schritt 4 nicht zustimmen, und zwischen Schritt 4 und 5 eine Ergänzung vorzunehmen, die spezifiziert, was Protagoras seinen Gegnern in Schritt 5 zugesteht. Diese zweite Ergänzung ist deswegen notwendig, weil sich durch die erste das Verständnis der Aussage in Schritt 4 ändern muss. Der von Emilsson vorgeschlagene Dialog zwischen Protagoras und seinen Gegnern sieht dann, beginnend bei Schritt 3 der oben gegebenen Darstellung von Platons Selbstaufhebungsargument, folgendermaßen aus: 3re Ergänzung A 4e Ergänzung B 5re
Protagoras: Ich gebe zu, dass meine These falsch ist für euch. Aber ihr müsst zugeben, dass eure Auffassung für mich falsch ist. Gegner: Wir geben das nicht zu. Außerdem musst Du zugeben, dass wir auch damit Recht haben. Protagoras: Ich gebe zu, dass ihr auch damit etwas für euch Wahres sagt.⁵⁵
Laut Emilsson weigern sich also in Schritt 4 die Gegner von Protagoras, ihm zuzugestehen, dass ihre Auffassung, dass Protagoras These falsch ist, falsch für Protagoras ist, und verlangen dann von ihm, diese Weigerung als berechtigt anzuerkennen. By this last step the opponents, still speaking on the assumption that Protagoras believes in his doctrine, establish that so far as they are concerned truth is not relative even for Protagoras. Hence, they take themselves to have Protagorasʼ assent to a refusal on their part to accept any relative statement: they will regard no such statement as true and Protagoras cannot dispute that nor expect them to take him seriously if he attempts to escape by means of ‚but for me you are wrong about this‘.⁵⁶
Emilssons Interpretation hat also erhebliche Stärken. Zunächst stattet sie Platon mit einem Argument aus, das zumindest keine offensichtlichen Schwachstellen
Vgl. Emilsson (1994), 141. Es ist nicht ganz klar, warum Emilsson in Schritt 5re Protagoras eine Aussage mit einer Relativierung zuschreibt, wenn er doch der Meinung ist, dass Protagoras mit der Aussage seiner Gegner in Schritt 4e und Ergänzung B das Recht verliert, seine Relativierungen zu benutzen. Er spricht davon, dass er ihm das Anfügen der Relativierung „charitably allowed“ (Emilsson (1994), 142). Wenn diese Verwendung der Relativierung Protagoras aber erstens nicht weiterhilft und zweitens mit dem bis dahin erreichten Stand der Diskussion unvereinbar ist, wie es Emilssons Interpretation verlangt, lässt es Protagoras eher inkompetent wirken. Emilsson (1994), 141.
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hat, indem sie die Relativierungen (zumindest im ersten Teil) einsetzt und einen plausiblen Weg zu einer für Protagoras problematischen Folgerung anbietet. Zweitens schreibt sie Schritt 4 und 5 eine Funktion für das Argument zu, anstatt sie für redundant zu erklären. Allerdings hat sie, wie Castagnoli feststellt,⁵⁷ auch zwei Schwachstellen. Die erste ist der allein auf die Güte der Interpretation als Repräsentation des Theaitetos bezogene Punkt, dass Emilsson von uns verlangt, einiges in den Text hineinzulesen, was schlicht nicht da ist. Seine Vorschläge zur Ergänzung passen zwar sehr gut in das Argument hinein, aber sie bleiben spekulativ. Dieser Einwand müsste vor dem Hintergrund der Zielsetzung der vorliegenden Arbeit noch nicht schlagend sein, denn ein funktionsfähiges Selbstaufhebungsargument zu finden, ist hier deutlich wichtiger, als eine korrekte Interpretation des Theaitetos zu geben. Genau deswegen ist aber die zweite von Castagnoli aufgezeigte Schwachstelle in Emilssons Argumentation umso verheerender, da leider auch Emilssons Überbrückungsstrategie nicht hundertprozentig überzeugend ist. Denn es ist nicht klar, dass Protagorasʼ Zugeständnis in Schritt 5 mehr heißen muss, als dass er zustimmt, dass es für seine Gegner wahr ist, dass seine Theorie nicht für ihn wahr ist. Zwar hat Emilsson recht, dass – übernimmt man seine Ergänzungen – Protagorasʼ Gegner in Schritt 4 klarstellen, dass sie keine von Protagoras relativierten Wahrheitszuschreibungen akzeptieren werden, aber das reicht wohl kaum aus, um zu begründen, dass Protagoras sie nicht mehr benutzen kann. Selbst wenn seine Gegner Protagoras, sollte er seine Relativierungen weiter benutzen, nicht mehr, wie Emilsson meint, ernst nähmen, ist es fraglich, wie sie von dort zu der Behauptung, dass Protagoras seine eigene Theorie bestreite, kämen.
2.1.5.2 Der entscheidende Schritt Die Interpretation von Castagnoli ist der von Emilsson in der Grundidee recht ähnlich, weshalb Emilssons Version des Arguments hier so ausführlich besprochen wurde, unterscheidet sich aber gerade in den beiden problematischen Punkten. So kommt zwar auch Castagnolis Lesart nicht ohne ein wenig Arbeit am Text aus, aber sie verlangt nicht, komplette Äußerungen von Protagoras und seinen Kontrahenten als implizit anzusehen. Stattdessen spricht er sich dafür aus, im griechischen Text in 171b4 nicht ἑαυτούς sondern ἑαυτοῖς zu lesen – eine Entscheidung, die sich ohnehin in einigen Editionen des Textes findet, z. B. in der hier benutzten von Diès. Darüber hinaus spricht er sich für eine ungewöhnliche Übersetzung der enthaltenden Zeile aus, die sich paraphrasieren lässt als „die
Vgl. Castagnoli (2010), 56.
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anderen geben nicht zu, dass man etwas für sie Falsches sagen kann“.⁵⁸ Auf die Frage einzugehen, ob dies die beste Übersetzung der Stelle ist, würde hier zu weit vom Weg abführen, der, wie bereits gesagt, zu einem brauchbaren Selbstaufhebungsargument und nicht zu einem besseren Platonverständnis führen soll. Insofern muss es reichen festzustellen, dass Castagnolis Übersetzung nicht komplett exzentrisch ist – es gibt zwei Autoren, die die Stelle ähnlich übersetzen⁵⁹ – und dass er seine Übersetzungsentscheidungen ausführlich begründet.⁶⁰ Mit dieser modifizierten Übersetzung (und den ergänzten Relativierungen) sieht das Argument dann wie folgt aus: 1r 2r
Laut Protagoras sind alle Meinungen wahr für den Meinenden. Protagoras gibt zu, dass die Meinung seiner Gegner, er irre sich, wahr für sie ist. 3r Protagoras gibt zu, dass er etwas für seine Gegner Falsches sagt. 4rc Protagorasʼ Gegner geben nicht zu, dass man etwas für sie Falsches sagen kann. 5 Protagoras gibt zu, dass seine Gegner auch damit recht haben. 6 Protagoras muss einräumen, dass niemand ein Maß ist. 7 Jeder (einschließlich Protagoras) bestreitet Protagorasʼ Auffassung. 8 Protagorasʼ Auffassung ist für niemanden wahr.
Es fällt natürlich sofort auf, dass nach Schritt 4 keine Relativierung mehr ergänzt wurde. Doch wie genau gewinnt der Übergang von den relativierten Aussagen zum unrelativierten Schritt 5 seine Berechtigung? Die Antwort, die Protagoras geben müsste, um an seiner Theorie festzuhalten, wäre natürlich eine relativierte Version von Schritt 5, warum soll ihm dieser Weg versperrt sein? Laut Castagnoli gibt es gleich zwei Gründe, warum Protagoras nicht einfach ein weiteres relativiertes Zugeständnis machen kann – und beide verlangen Beachtung der dialektischen Situation, in der sich Protagoras befindet. Beide beruhen darauf, dass ein relativiertes Eingeständnis, dass seine Gegner recht haben (wenn sie bestreiten, dass man etwas sagen kann, was falsch für sie ist), denselben Inhalt hätte wie Protagorasʼ Äußerung in Schritt 3, nämlich dass Protagorasʼ Theorie falsch für seine Gegner ist.
„[T]he others do not concede, that one can say something false for them[.]“ Castagnoli (2010), 57. Vgl. Bemelmans (2002), 80; Polansky (1992), 131. Dazu, wie sich Castagnoli zu diesen Übersetzungen positioniert, siehe Castagnoli (2010), 57 FN 80. Vgl. Castagnoli (2010), 56 f.
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Erstens kann Protagoras, nach Castagnoli, diese Äußerung nicht tätigen, da er damit die Aussage seiner Gegner in Schritt 4 unrelativiert bestreiten würde. Es steht Protagoras nicht frei, irgendeine Äußerung seiner Gegner unrelativiert zu bestreiten, ohne in Konflikt mit seiner eigenen Theorie zu geraten.⁶¹ Zweitens identifiziert Castagnoli die Tatsache, dass Protagoras hier im Grunde etwas wiederholen würde, was seine Gegner bereits abgelehnt haben, und das insofern auch keinerlei Chance hat, dass sie es diesmal akzeptieren werden, als einen Fall von „‚babbling‘, i. e. committing something analogous to the dialectical error later identified by Aristotle“.⁶² Es ist wichtig, hier darauf hinzuweisen, dass auch Castagnolis Rekonstruktion des Argumentes nicht unangreifbar für potentielle Verteidiger des Protagoras ist. Erstens schlägt sich der Vorwurf des „babbling“ nicht im Text nieder und könnte so als geeignete Interpretation in Frage gestellt werden.⁶³ Auf diese Möglichkeit der Kritik soll hier nicht weiter eingegangen werden, da ein Selbstaufhebungsargument, das allein durch einen solchen Vorwurf funktionierte, aus Sicht der heutigen Debatte relativ uninteressant wäre.
2.1.5.3 Warum keine Erklärung? Viel wichtiger ist also die Frage, ob Castagnolis andere Erklärung für Protagoras erzwungenen Verzicht auf seine Relativierungen hinreichend ist, um das Argument funktionsfähig zu machen; und auch hier gibt es Grund zur Besorgnis. Denn es gibt durchaus die Möglichkeit, die Charakterisierung einer relativierten Antwort in Schritt 5 als „equivalent to an unqualified denial […] oddly presented as an
Vgl. Castagnoli (2010), 59. Castagnoli (2010), 59 (Hervorhebungen seine). Castagnoli spricht deswegen nur von einem analogen Verhalten, weil in der Aristoteles-Stelle, auf die er sich bezieht, die Rede davon ist, immer wieder dieselbe Frage zu stellen – und nicht davon, immer wieder dieselbe Sache zu behaupten. Die ebenso mögliche Frage, ob es sich hier überhaupt um einen sinnvollen Vorwurf handelt, soll hier ausgeklammert werden. Um es noch einmal zu betonen: Nach Castagnolis Interpretation zeigt das Argument, dass Protagorasʼ Theorie dialektisch unhaltbar ist, nicht, dass sie absolut falsch ist. Etwas, was man etwas nebulös als „die Regeln der Dialektik“ bezeichnen könnte, steht also in jedem Fall im Hintergrund des Arguments. Dass man diese Regeln durchaus anzweifeln könnte (oder anzweifeln könnte, dass eine bestimmte Regel dazu gehört), gehört zu den Gründen, warum das Argument keine absolute Falschheit beweisen kann. Es spricht aber nicht gegen das Argument mit seinem viel bescheideneren Beweisziel. Auf die Möglichkeit, die Regeln selbst anzuzweifeln, und was diese für das Verständnis des Selbstaufhebungsarguments bedeutet, wird weiter unten noch einmal kurz eingegangen werden.
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2 Selbstaufhebung
agreement“⁶⁴ in Zweifel zu ziehen. Laut Castagnoli hätte ein weiteres relativiertes Zugeständnis in Schritt 5 etwa den folgenden Wortlaut: „Ich gestehe zu, dass auch dies für euch wahr ist. Es ist wahr für euch, dass meine These nicht falsch für euch ist, sondern falsch.“ Äquivalent zu Protagorasʼ voriger Äußerung soll dieses Zugeständnis deswegen sein, weil die Aussagen „es ist wahr für x, dass y F ist“ und „y ist F für x“ äquivalent sind.⁶⁵ Wenn Protagoras also sagt, dass es wahr für seine Gegner ist, dass seine These schlicht falsch ist, ließe sich dies tatsächlich als Wiederholung seiner Aussage, dass seine These falsch für seine Gegner ist, auffassen. Allerdings ist dies (nach Castagnolis eigener Rekonstruktion) nicht alles, was Protagoras sagt; und insofern sollte man hier vielleicht besser nicht von einem „unqualified denial“ sprechen. Noch wichtiger ist jedoch, dass Protagoras – zumindest auf den ersten Blick – sehr wohl in der Lage sein sollte, diese Situation durch weitere Relativierungen bzw. den Aufstieg auf ein noch höheres relativistisches Sprachlevel abzuwenden. Denn auf den ersten Blick ist die Situation bezüglich der Relativierungen nicht allzu verschieden von sonstigen Relativierungen. Nur aus der Sicht seiner Gegner, so könnte man behaupten, besteht ein Konflikt zwischen Protagorasʼ Aussage in Schritt 5 und ihrer Überzeugung, dass es nichts gibt, was relativ wahr oder falsch ist. Für Protagoras kann es nämlich sowohl der Fall sein, dass seine These für seine Gegner schlicht falsch ist, als auch, dass es für ihn Sinn ergibt, seine Relativierungen zu benutzen, da seine These für ihn wahr ist. Für ihn ist beides vereinbar: Er benutzt die Relativierungen, weil es für ihn wahr ist, dass es relatives Wahr-oder-falsch-Sein gibt, für seine Gegner gibt es so etwas nicht; und deswegen ist es für sie der Fall, dass seine Behauptung, es gebe so etwas, ihrem Urteil, es gebe so etwas nicht, entgegensteht. Aus Protagorasʼ Sicht gibt es für seine Gegner einen Konflikt zwischen Aussagen, den es für ihn nicht gibt; und für ihn gibt es Sachverhalte, die für ihre Beschreibung nach Relativierungen verlangen, die es für seine Gegner nicht gibt. Diese Situation könnte Protagoras mit Hilfe von expliziten Relativierungen auf sich selbst für seine Gegner sichtbar machen, er könnte versuchen zu erklären, warum er seine Relativierungen weiterhin und bei Schwierigkeiten auf immer höheren Stufen verwenden wird, obwohl er zustimmt, dass seine Theorie für seine Gegner falsch ist. Die Situation, die Protagoras mit diesem erneuten relativierten Zugeständnis beschriebe, scheint also durchaus möglich und mit seiner Theorie vereinbar. Das ist, von Castagnolis Interpretation her gedacht, auch durchaus akzeptabel, schließlich legt er sehr viel Wert darauf, dass hier die dialektische Unhaltbarkeit
Castagnoli (2010), 59 (Hervorhebungen getilgt). Vgl. Castagnoli (2010), 59.
2.1 Platons Argument
217
von Protagorasʼ Theorie demonstriert wird, und nicht ihre absolute Falschheit (und wenn die beschriebene Situation unmöglich wäre, wäre Protagorasʼ Theorie schlicht falsch). Warum nun soll Protagoras diese Aussage nicht machen dürfen? Castagnolis Antwort darauf, also die Äquivalenz von einem relativierten Zugeständnis zu einem offenen Widersprechen ist, wie bereits erwähnt, m. E. nicht ausreichend, denn sie reicht zwar hin zu etablieren, dass Protagoras nicht nur sagen kann, dass auch diese Meinung seiner Gegner wahr für dieselben ist, aber sie erklärt nicht, warum er nicht eine Erklärung, ähnlich der gerade gegebenen, anbringen sollte, in der er seine Weiterverwendung der Relativierungen rechtfertigt. Doch auch das kann sich kaum als gangbarer Weg für Protagoras erweisen. Nicht nur dürfte es schwierig sein, den drohenden Vorwurf, er widerspreche seinen Gegnern durch sein relativiertes Zugeständnis, abzuwenden, ohne z. B. zu implizieren, dass die Auffassung seiner Gegner, ihre Aussage in Schritt 4 sei ein Einwand zu oder ein Bestreiten von Protagorasʼ Auffassung in Schritt 3, (nicht nur für Protagoras) falsch ist. Sondern vor allem scheint es unmöglich, dass Protagoras seine Gegner von der Legitimität seiner Verwendung der Relativierungen überzeugen könnte, ohne ihnen an irgendeiner Stelle zu zeigen, und damit zu behaupten, dass sie falsch liegen. Denn man kann davon ausgehen, dass für Protagorasʼ Gegner der Nachweis, dass eine ihrer Überzeugungen falsch ist, der einzige Grund wäre, sie zu ändern, da aber Protagoras ihnen die Wahrheit aller ihrer Überzeugungen zugestehen muss, hat er ihnen schlicht keine Motivation anzubieten. Protagoras kann seine Verwendung der Relativierungen also nicht gegen seine Gegner in Schutz nehmen, ohne in die argumentative Offensive zu gehen, und er hat keine Möglichkeit, diese zu gewinnen. Der entscheidende Punkt ist, dass Protagoras, wenn die Diskussion weitergehen soll, die hier aufeinanderprallenden Auffassungen nicht einfach relativieren und nebeneinander stehen lassen kann, wie er es sonst tut, denn er kann die Relativierungen nur entweder benutzen oder nicht benutzen, nicht aber sie für sich benutzen und für seine Gegner nicht. Der ‚Trick‘ des Argumentes besteht m. E. darin, Protagoras zu einer praktischen Entscheidung zu zwingen, in einer Situation, in der eine übereinstimmende Interpretation dessen, was er tut, unverzichtbar ist.
2.1.5.4 Dialektischer Kontext In Castagnolis Lesart ist das Selbstaufhebungsargument also durchaus funktionsfähig, aber sie erhebt den dialektischen Kontext zu einem integralen Bestandteil des Arguments. Im Fall des „babbling“-Vorwurfs ist das offensichtlich, schließlich beruht dieser ganz explizit auf einer Regel darüber, wie man sich in
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2 Selbstaufhebung
einer Diskussion zu verhalten hat, und zieht die Wahrheit oder Falschheit der entsprechenden Aussage überhaupt nicht in Betracht. Aber auch der hier interessantere Grund für Protagorasʼ Fallenlassen der Relativierungen beruht ja, wie gerade gesagt, nicht auf der Falschheit einer möglichen relativierten Aussage, sondern auf der Beschränkung der für Protagoras möglichen argumentativen Züge durch die vorherigen Züge seiner Gegner. Diese Erhebung des Kontextes zu einem unverzichtbaren Teil des Arguments bedeutet nicht nur, dass, wenn Castagnoli recht hat, dieses Selbstaufhebungsargument alles andere als frei von Hintergrundannahmen ist, sondern auch, dass es weder dazu angetreten noch dazu geeignet ist, die Falschheit des Protagoreischen Relativismus zu beweisen.⁶⁶ Das Selbstaufhebungsargument führt, so verstanden, vor, wie Protagoras (und jeder beliebige Vertreter von dessen Theorie) dazu gebracht werden kann, die Falschheit seiner Theorie ohne Benutzung relativierenden Vokabulars zuzugestehen, um dann aus der nun universell zugestandenen Aussage, dass Protagorasʼ Theorie falsch sei, abzuleiten, dass die Theorie für niemanden wahr sei. Für diesen letzten Schritt, auch darauf weist Castagnoli hin, ist es gerade von entscheidender Bedeutung, dass in Schritt 6 nicht etwa die absolute Falschheit von Protagorasʼ Theorie abgeleitet wurde, sondern lediglich Protagoras seine eigene Theorie unrelativiert bestreitet. Denn sonst könnte Protagorasʼ Theorie nicht mehr herangezogen werden, um den Übergang von Schritt 7 zu Schritt 8 zu ermöglichen, und darüber hinaus bildeten die letzten Schritte des Arguments, selbst wenn sie sich rechtfertigen ließen, eine klare Antiklimax.⁶⁷ Dieses Ergebnis ist vielleicht eine erhebliche Enttäuschung für viele moderne Autoren, die sich auf Platons Argument berufen. Wie z. B. für Siegel, der, ohne die Gültigkeitsfrage anzusprechen, eine relativierungs- und dialogfreie Lesart des
Vgl. Castagnoli (2010), 60 f. Vgl. Castagnoli (2010), 60 f. Castagnoli zeigt sich unsicher bzgl. der mangelnden Rechtfertigung für Schritt 8, aber m. E. ist die Sachlage eindeutig. Wäre Protagorasʼ Theorie als falsch erwiesen, wäre damit auch die Annahme, von der das Argument ausgeht (also Schritt 1), aufgegeben, es handelt sich hier nicht um zwei unterscheidbare Vorgänge. Die einzige Interpretationsmöglichkeit, die sich für einen Vertreter der Auffassung, dass die absolute Falschheit von Protagorasʼ Theorie spätestens in Schritt 6 feststeht, anbietet, scheint zu sein, das Selbstaufhebungsargument dort enden zu lassen und die verbleibenden Schritte als spielerisches Verhöhnen von Seiten Sokratesʼ aufzufassen. In dieser Betrachtungsweise nähme Sokrates, nachdem das Selbstaufhebungsargument abgeschlossen ist, noch einmal Protagorasʼ Theorie zur Hand, um sie auf das Zugeständnis von Protagoras anzuwenden und die Konklusion in die nun obsolet gewordene relativistische Sprache des Protagoras zu übersetzen, vielleicht um dem starrsinnigen Protagoras zu zeigen, dass das Ergebnis selbst für ihn gilt.
2.1 Platons Argument
219
Arguments vorlegt⁶⁸ und glaubt, damit ein Argument für die absolute Falschheit des Protagoreischen Relativismus an der Hand zu haben, und zwar eines mit der Theorie selbst als einziger Prämisse.⁶⁹ Aber die Bedeutung des dialektischen Kontextes für das von Sokrates ausgeführte Argument lässt sich nur schwer bestreiten.⁷⁰ Zunächst ist da die starke Präsenz der Sprache argumentativen Austausches in Platons Text, jeder einzelne Schritt, bis auf Schritt 8, enthält Ausdrücke für die Anerkennung oder die Ablehnung von Gesprächsbeiträgen, wie z. B. „gesteht zu“. Natürlich liegt das daran, dass es sich um einen eingebetteten Dialog handelt, dessen zu widerlegender Teilnehmer zu dem Zeitpunkt, zu dem der Theaitetos spielt, bereits verstorben ist. Aber auch der Zeitpunkt, zu dem das Argument vorgebracht wird, ist ein Artefakt des Textes. Es gibt keine unbedingte Notwendigkeit, das Selbstaufhebungsargument in genau diesem Dialog zu verwenden oder es nicht mit einem ernstzunehmenden lebendigen Vertreter von Protagorasʼ Theorie durchzuführen (z. B. indem Theodoros sie eloquenter und konsequenter verteidigte). Insofern liegt es nahe, dass der Text nicht zufällig die Aufmerksamkeit auf die Dialogform lenkt, indem er sie verdoppelt, die sonst durch ihre ständige Präsenz als Platons Darstellungsmittel leicht in den Hintergrund gerät. Dies ist wohlgemerkt keine Frage, die allein für eine zufriedenstellende PlatonInterpretation interessant ist; denn falls das Argument tatsächlich speziell für den dialektischen Kontext entworfen wurde, ist es hochgradig unwahrscheinlich, dass man es unbeschädigt herauslösen kann. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die Tatsache, dass Platons Argument einen Gegner der Protagoreischen Auffassung benötigt. Ohne jemanden, der in der argumentativen Auseinandersetzung die
„So, Socrates argues, Protagoras is bound by his own lights to grant the truth of his opponentsʼ beliefs, even in the case where their belief is that Protagorean relativism is false. And since their opinion is true, according to the Protagorean doctrine, and their opinion is that that doctrine is false, then that doctrine is false – even for Protagoras himself.“ (Siegel (1987), 5) Diese knappe Beschreibung des Arguments von Siegel ähnelt Sextusʼ Wiedergabe des Selbstaufhebungsarguments, das er Platon und Demokrit zuschreibt: „Denn wenn jede Vorstellung wahr ist, ist auch ‚Nicht jede Vorstellung ist wahr‘, wenn es nach Art einer Vorstellung vorliegt, wahr, und so erweist sich ‚Jede Vorstellung ist wahr‘ als falsch.“ Sextus Empiricus (1998), 1,390 [=Adversus Mathematicos 7.390]. Es ist wenig überraschend, dass Siegels an moderne relativistische Theorien angepasste Adaption des Arguments ganz ähnliche Probleme hat wie das Argument, das er Platon zuschreibt. Diese Probleme werden in Abschnitt 3.1.1 und 3.3.1, wo Siegels eigenes Argument eingehender besprochen wird, aufgezeigt werden. Die Wichtigkeit dieses Kontextes betont auch die Interpretation in Long (2004), die dafür argumentiert, dass Protagoras Theorie einen Absolutisten wie Sokrates braucht, der für sie spricht und sie in der dialektischen Auseinandersetzung verteidigt.
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2 Selbstaufhebung
Ansicht vertritt, dass Protagoras falsch liegt, ist es nicht durchführbar. Natürlich könnte man die Tatsache, dass irgendjemand anderer Meinung ist als Protagoras, als zusätzliche (zu Protagorasʼ These) empirische Prämisse behandeln,⁷¹ würde aber lediglich als Tatsache referiert, dass es Menschen gibt, die Protagorasʼ These für falsch halten, wäre wiederum völlig unklar, warum Protagoras oder ein Verfechter seiner Theorie in einer Unterhaltung über diese Auffassungen mit jemandem, der ihm zustimmt oder neutral in der Sache ist, keine Relativierungen benutzen dürfen sollte.⁷² Das führt direkt zum zweiten Punkt, denn wie bereits mehrfach betont wurde, führen die beiden naheliegenden herausgelösten Rekonstruktionen, also eine Wiedergabe ausschließlich der Inhalte der Äußerungen von Protagoras und seinen Gegnern – mit oder ohne Ergänzung der Relativierungen in jedem Schritt – nicht zum gewünschten Erfolg. Auch die untersuchten Überbrückungsversuche von Burnyeat und Emilsson konnten kein gültiges Selbstaufhebungsargument liefern. Es mag natürlich sein, dass noch eine gültige Rekonstruktion des Arguments unter Verzicht auf den dialektischen Kontext entwickelt wird, aber bis dahin scheinen wir die Wahl zwischen dem kontextgebundenen Argument nach Castagnolis Lesart und mehreren funktionsunfähigen Argumenten zu haben.⁷³ Dass Castagnolis Version des Arguments weder die absolute Falschheit des Protagoreischen Relativismus nachweist noch ohne den dialektischen Kontext zu denken ist, bedeutet allerdings nicht, dass Protagoras sich um es nicht zu sorgen braucht. Auch dies macht Castagnoli unmissverständlich klar: Es ist kein vernachlässigbares Problem für eine philosophische These, wenn sie unmöglich in einer argumentativen Auseinandersetzung mit Vertretern entgegengesetzter Auffassungen verteidigt werden kann. Genauso wenig ist es eine vernachlässigbare
Vgl. Castagnoli (2010), 99. Siehe zum Thema der Bedeutung des Gegners auch Burnyeats und Castagnolis Ausführungen zu Sextusʼ Wiedergabe des platonischen Arguments in Burnyeat (1976a), 47 ff.; 57– 62; Castagnoli (2010), 95 – 114. Dort weist Castagnoli darauf hin, dass „thinking of [Sextusʼ] argument in dialectical terms has the advantage of transforming an extra premiss that would otherwise be only contingently true […] into a background assumption guaranteed to be true by the dialectical context itself.“ (Castagnoli (2010), 99). Darüber hinaus finden sich bei Castagnoli sehr interessante Überlegungen dazu, wie die Eigenheiten antiker Logik unsere Interpretation antiker Selbstaufhebungsargumente beeinflussen sollten, die hier nachzuvollziehen leider den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Es sollte hinzugefügt werden, dass die These, dass der dialektische Kontext eine erhebliche Rolle in Platons Argument spielt, auch von Castagnolis Erkenntnissen über andere antike Selbstaufhebungsargumente gestützt wird. Laut Castagnoli findet sich das erste Selbstaufhebungsargument, das nicht auf einen solchen Kontext bezogen ist, erst sehr viel später bei Augustinus. Vgl. Castagnoli (2010), 139 ff.; 355 – 361.
2.1 Platons Argument
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philosophische Leistung aufzuzeigen, dass eine bestimmte Theorie diese Eigenschaft besitzt.⁷⁴
2.1.6 Bedeutung für die gegenwärtige Debatte Aber wenn dem so ist, haben wir dann nicht tatsächlich ein schlagendes Selbstaufhebungsargument gegen den Relativismus gefunden? Die Antwort auf diese Frage muss negativ ausfallen, denn das von Sokrates vorgebrachte antirelativistische Argument nutzt eine spezifische Eigenschaft des Protagoreischen Relativismus, die sich bei den meisten anderen relativistischen Theorien, darunter allen im Relativismus-Teil dieser Arbeit ausführlicher vorgestellten Theorien, nicht findet. Die besondere Schwäche der Protagoreischen Position ist die, dass jeder, der sie einnimmt, jedem anderen (und sich selbst) unter allen Umständen recht geben muss.⁷⁵ Das führt m. E. zu einer Unfähigkeit, Positionen zu kritisieren, die in jeder Form von Debatte desaströs sein muss. Protagoras fehlt ein kritisch einsetzbares Konzept der Falschheit, weil er nicht in der Lage ist, gleichzeitig seine Theorie aufrechtzuerhalten und seinen Gegnern zu sagen, dass diese in einem für sie relevanten Sinne falsch liegen.⁷⁶ Aus Protagorasʼ Sicht sind seine Gegner immer schon im Besitz der Wahrheit und brauchen sich nicht mit ihm auseinanderzusetzen, um sie zu erlangen. Ebenso wenig ist Protagoras in der Lage, sich kritisch auf seine eigenen Meinungen zu beziehen bzw. sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Denn auch er ist immer bereits im Besitz der Wahrheit. Zugegeben: Er kann durchaus jetzt der
Vgl. Castagnoli (2010), 355 f. Dass Protagorasʼ Theorie diese Eigenschaft hat, wird sehr schön dadurch unterstrichen, dass auch Fines Lesart eines Protagoreischen Infallibilismus durchaus plausibel ist. Die meisten anderen Formen des Relativismus würden sich nicht für eine solche Interpretation anbieten. Auch Kölbel nennt diese Eigenschaft als das Spezifikum des Protagoreischen Subjektivismus, welches das dialektische Selbstaufhebungsargument in Platons Theaitetos antreibt. Vgl. Kölbel (2011), 29. Dieser Fall ist nicht zu verwechseln mit dem des bisweilen von Absolutisten zu hörenden Einwurfs, dass sie sich nicht für zugestandenermaßen nur relativ gültige Einwände gegen ihre Position interessieren müssten. Denn hier muss man zunächst die Frage stellen „relativ worauf?“. Selbst aus Protagorasʼ Sicht ist klar, dass es seine Gegner nicht zu interessieren braucht, ob ihre Meinung für ihn falsch ist. Wenn es aber z. B. um Relativität auf die Regeln der stattfindenden Debatte geht und der Absolutist meint, diese hätten absolute Gültigkeit, während der Relativist sie für relativ gültig hält, ist nicht ersichtlich, wieso dies in eine Irrelevanz der Argumente des Relativisten für den Absolutisten münden sollte. Auf Argumentationen dieser Art wird im Zuge der Besprechung konkreter Selbstaufhebungsargumente noch detaillierter einzugehen sein. Siehe Abschnitt 3.3.5.
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2 Selbstaufhebung
Meinung sein, dass eine seiner früheren Auffassungen falsch war, und dann ist diese jetzt auch falsch für ihn. Aber in jedem einzelnen Moment ist er in Bezug auf Wahrheit bereits optimal ausgestattet, er braucht nicht über die Wahrheit oder Unwahrheit seiner Gedanken zu reflektieren, und er ist auch nicht in der Lage dazu, ernsthaft in Erwägung zu ziehen, dass eine seiner Überzeugungen falsch ist, denn das ist nach seiner Theorie nicht möglich.⁷⁷ Ich möchte diese Eigenschaft der Protagoreischen Theorie gerne als das Fehlen von normativer Distanz bezeichnen. Denn Protagorasʼ Problem scheint zu sein, dass es in seiner Theorie keine zurückzulegende Strecke zwischen dem gedanklich oder in der Debatte Vorhandenen und dem Ziel von Nachdenken oder Debattieren gibt, da Maßstab und zu Messendes zusammenfallen. Der Wahrheitsstatus von Überzeugungen kann nicht in Frage stehen, da der Status als Überzeugung bereits Wahrheit garantiert.⁷⁸ Nachdenken und Debattieren werden damit, durch die Brille seiner Theorie, zu zwecklosen Aktivitäten. Zumindest in Bezug auf das Debattieren beobachtet das auch Sokrates,⁷⁹ wenn er sagt: Was nun gar mich betrifft und meine Kunst der Geburtshilfe, so schweige ich ganz davon, welches Gelächter wir billig erregen. Ich glaube aber, es wird auch dasselbige sein mit dem ganzen Geschäft des wissenschaftlichen Unterredens. Denn gegenseitig einer des andern Vorstellungen und Meinungen in Betrachtung ziehen, und zu widerlegen suchen, wenn sie doch alle richtig sind, ist das nicht eine langweilige und überlaute Kinderei, wenn anders die Wahrheit des Protagoras wirklich wahr ist, und nicht nur scherzend aus dem verborgenen Heiligtum des Buches herausgeredet hat?⁸⁰
Insofern Protagoras Debattieren für „langweilige und überlaute Kinderei“ erklären muss, ist es keine Überraschung, dass Protagorasʼ Theorie unter Bedingungen einer Debattenkultur, die Debatten sehr wohl als zielgerichtet versteht, nicht überleben kann. Interessanterweise kommt Kölbel, der sich Burnyeats Konzept der dialektischen Selbstaufhebung bedient, zu einer ganz ähnlichen Folgerung, wenn auch
Insofern ergäbe es also sehr wohl Sinn, auch die relativistisch gelesene Theorie des Protagoras als Infallibilismus zu bezeichnen. Der einzige Grund, warum diese Terminologie hier nicht verwendet wird, ist, dass der Ausdruck im Kontext der Debatte um die Interpretation des Theaitetos den Status eines terminus technicus für Fines Lesart der absoluten Wahrheit aller Überzeugungen innehat. Siehe auch Abschnitt 1.7.2.2. Derselbe Punkt wird im Theaitetos natürlich auch wiederholt in Bezug auf Protagorasʼ Lehrtätigkeit vorgebracht. Siehe Platon (1990a), 161d-e; 170a-b; 171c-172b. Platon (1990a), 161e-162a.
2.1 Platons Argument
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nicht in Bezug auf Protagoras, obwohl auch er diesen als Ansatzpunkt für seine allgemeineren Ausführungen benutzt: [O]ne dialectical point holds with or without the qualifier: Protagoras cannot avoid conceding that what his opponents say is true for them. The point, however, seems to depend on subjectivism’s special additional claim, namely that whatever anyone believes is true for him or her. Global relativism, as discussed here, does not involve such a claim. Some questions concerning the dialectical status of global relativism remain nevertheless. Given that the global relativist claims that every proposition is true relative to some and not true relative to other values of the parameter, and that none of the values is in any way privileged, questions remain as to how the global relativist could be dialectically successful. For whatever she claims, the opponent will always be able to point out that that claim is false relative to some values of the parameter, and that these values are no worse than those relative to which it is true. This brings us back to the challenge articulated above: the global relativist will have to explain what normative constraints there are on beliefs and claims. For otherwise the point of debate or of communication and thought generally remains obscure.⁸¹
Kölbel benutzt hier natürlich dasselbe problematische Satz-für-Satz-Verständnis eines globalen alethischen Relativismus wie Hales; und insofern ist fraglich, inwiefern der dem Opponenten angebotene Vorwurf tatsächlich vertretene relativistische Theorien trifft. Er macht auch keinen Versuch, eine gemeinsame Struktur aufzudecken, die für diese Schwierigkeiten anfälligen Theorien gemeinsam ist, und hält sie für seinen eigenen Relativismus durch seine Vorschläge relativistischer kommunikativer Normen für gelöst.⁸² Trotzdem zeigt seine Äußerung deutlich, dass Schwierigkeiten der Art, wie sie hier der Protagoreischen Theorie zugeschrieben werden, auch in der aktuellen Debatte und in Bezug auf andere Theorien auftauchen und dass sie aus Überlegungen zur Selbstaufhebung hervorgehen können.⁸³
Kölbel (2011), 29. Siehe auch Kölbel (2002), 124 ff. Kölbels Modell funktioniert auch tatsächlich einwandfrei für seine eigene Theorie. Allerdings schlägt Kölbel einen semantischen Relativismus mit an Individuen gebundenen Perspektiven als Rahmen vor, der darüber hinaus nicht global ist, insofern unterscheidet sich sein Ansatzpunkt erheblich von den hier im Mittelpunkt stehenden relativistischen Theorien. Siehe Kölbel (2002), 91 ff., 124 ff. Auch wenn Kölbel den Einwand hier nicht explizit in Form eines Selbstaufhebungsarguments darstellt, bringt er ihn an prominenter Stelle (bei der oben zitierten Stelle handelt es sich um den Schluss des Textes) in einem Text zur Frage der Selbstaufhebung des Relativismus an und schließt ihn an seine Überlegungen zum Selbstaufhebungsargument gegen Protagoras an. Vgl. Kölbel (2011), 29.
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2 Selbstaufhebung
2.1.7 Normative Distanz Die fehlende normative Distanz scheint also eine Eigenschaft zu sein, die Positionen für Selbstaufhebungsvorwürfe anfällig macht.⁸⁴ Aber dieses Zwischenergebnis muss differenzierter betrachtet werden, als es hier bis jetzt getan werden konnte. Denn in den gerade gemachten Ausführungen wurde der Einfachheit halber eine zwar naheliegende, aber doch substantielle Annahme gemacht, die im Umgang mit radikal revisionistischen Theorien im Bereich der Erkenntnistheorie nicht unhinterfragt bleiben sollte. In der Erklärung, warum in Protagorasʼ Theorie die normative Distanz fehlt, wurde stillschweigend akzeptiert, dass Distanz durch die Unterscheidung von wahr und falsch verkörpert werden muss, wobei Wahrheit das Ziel bildet und Falschheit im Prozess des Nachdenkens oder Debattierens aktiv abgebaut werden muss. Dies ist aber nicht die einzige Möglichkeit, eine substantielle Unterscheidung zwischen Ziel und Ausgangspunkt herzustellen, die so etwas wie ein zielgerichtetes Debattieren oder Nachdenken ermöglicht.⁸⁵ Dafür können kleinere oder größere ‚Korrekturen‘ der Regeln des jeweiligen Prozesses nötig sein; und es wäre jeweils im Einzelfall zu bedenken, ob wir hier noch von demselben Prozess sprechen. Ein Fall, in dem es zumindest keine offensichtlichen Änderungen des Regelwerks geben müsste, wäre z. B. eine Neubestimmung des Ziels als Erlangung möglichst gut begründeter Überzeugungen. Ein Fall, in dem man eher mit Änderungen rechnen müsste, wäre z. B. ein Pragmatismus, der es zum Ziel erklärt, nützliche Überzeugungen zu erwerben. Ein Ersatz der Unterscheidung von wahr und falsch, um die nötige Distanz auf andere Weise herzustellen, könnte einer Theorie wie der des Protagoras also vielleicht aus ihrer prekären Lage heraushelfen. Das Beispiel eines Pragmatismus wurde hier nicht zufällig gewählt, denn es gibt eine pragmatistisch orientierte Lesart der Protagoreischen Theorie von F.C. S. Schiller, die sich vor allem auf die Passage stützt, in der Sokrates Protagoras eine
Vielleicht ist es sogar die Eigenschaft, an der Anfälligkeit für Selbstaufhebungsargumente sich festmacht; auf diese Frage wird zurückzukommen sein, sobald ein breiteres Verständnis von Selbstaufhebungsargumenten durch die Auseinandersetzung mit weiteren Beispielen erlangt wurde. Deswegen auch die Wahl des neutralen Ausdrucks „normative Distanz“. In diesem Zusammenhang ist es besonders interessant, dass Protagorasʼ These und seine ‚nicht erlaubte‘ relativierte Antwort auf das Bestreiten seiner Gegner nicht aufgrund von Falschheit zurückzuweisen sind. Auch im Fall der Debatte zwischen Protagoras und seinen Gegnern ist Wahrheit wohl zumindest nicht der einzige distanzschaffende Faktor.
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Ersatzkonzeption der Weisheit zuschreibt.⁸⁶ Diese Passage besagt, dass der Weise nicht etwa anderen zu wahreren Überzeugungen verhilft, wenn er sie unterrichtet, sondern zu besseren. In welchem Sinne genau dieses „besser“ zu verstehen ist, wird leider nicht ausführlich geklärt, aber die Beispiele legen nahe, dass es einerseits um angenehmere Überzeugungen für Individuen und andererseits um nützlichere Überzeugungen für Staaten geht.⁸⁷ Hier könnte ein Keim für das Herstellen von Distanz aus der Protagoreischen Theorie heraus liegen, aber es wäre eben auch nicht mehr als ein Keim. Eine Anwendung auf das Verständnis von Debatten, sowohl in Bezug auf ihr Ziel als auch in Bezug auf ihre korrekte Durchführung, obläge Protagoras oder auch einem jeden, der sich anstrengt, seine Theorie zu verteidigen.⁸⁸ Aus dieser Perspektive kann man das von Castagnoli rekonstruierte Selbstaufhebungsargument auch als eine Forderung verstehen, den Prozess der dialektischen Prüfung einer Theorie aus dieser heraus verständlich zu machen, bevor man sich in ihn hineinbegibt. Ohne ein solches Verständnis, das wie gesagt vor allem die nötige Distanz zwischen ‚Rohmaterial‘ und Ziel beinhalten muss, scheint man in dieser Arena nur verlieren zu können. Darüber hinaus ergibt sich im spezifischen Fall des Protagoreischen Relativismus das Problem, dass zumindest fragwürdig ist, ob Protagoras, selbst mit einer deutlich weiter ausgearbeiteten Theorie, jemals seine Gegner davon überzeugen könnte, ein anderes Debattenverständnis zu übernehmen oder auch nur für eine zulässige Alternative zu ihrem eigenen zu erachten. Denn die oben vorgebrachten Argumente dagegen, dass Protagoras seine Verwendung der Relativierungen verteidigen könnte, sind auch hier relevant. In gewisser Weise vervielfachen sich die Probleme für Protagoras sogar, da es nicht nur darum geht, eine einzige seinen Gegnern unangemessen erscheinende Redeweise zu verteidigen, sondern darum ein stark modifiziertes Debattenverständnis vorzubringen. Solange Protagorasʼ Gegner ihre Ausrichtung auf Wahrheit beibehalten und
Siehe Schiller (1908), insb. Abschnitt III-V. Eine ähnliche Lesart wird z. B. auch in Clapp (1950) vertreten; eine frühe Kritik an Schillers Interpretation findet sich in Gillespie (1910). Vgl. Platon (1990a), 166d-167d. Interessant in diesem Zusammenhang ist erstens, dass auf die Beschreibung des Weisheitsverständnisses von Protagoras unmittelbar ein Abschnitt folgt, in dem Sokrates sich selbst, im Namen des Protagoras, zum ordentlichen Debattieren ohne Tricks und Irreführungen anhält. Zweitens gibt es nach dem Selbstaufhebungsargument ein Argument gegen Protagoras, das ihn dafür kritisiert, dass unter Bedingungen seiner Theorie Aussagen über die Zukunft, wie man sie gemeinhin verstehen würde, nicht möglich sind, und so Protagoras Verständnis der Weisheit, als der Fähigkeit vorherzusagen, welche Überzeugungen sich als besser oder nützlicher erweisen werden, untergraben wird.
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Protagoras ihnen die Wahrheit aller ihrer Überzeugungen zugestehen muss, gilt das natürlich auch für ihre Überzeugungen bzgl. des Ziels argumentativer Auseinandersetzungen. Besonders in Bezug auf eine Ausrichtung auf nützliche politische Überzeugungen liegt es auch nahe, dass seine Gegner meinen könnten, eine Ausrichtung auf wahre Überzeugungen sei bereits eine Ausrichtung auf die nützlichsten Überzeugungen, denn was könnte nützlicher sein, um z. B. Gerechtigkeit herzustellen, als wahre Überzeugungen darüber, was gerecht ist (und wenn sie das meinen, ist es natürlich für sie wahr).⁸⁹ Insofern erlaubt Protagorasʼ universelles Wahrheitszugeständnis seinen Gegnern einfach zu viel Zugriff auf sämtliche Neuerungsvorschläge, die er einbringen könnte. Wahrscheinlich müsste Protagoras Wahrheit als Wert in Debatten zunächst völlig ausschalten, nicht nur als Zielvorstellung, sondern schon als Gütekriterium für Debattenbeiträge, wollte er ein neues Debattenverständnis verteidigen, sonst hätten seine Gegner immer einen einfachen Weg, ihn abzuwiegeln. Aber hier fangen nur wieder dieselben Probleme von vorne an: Seinen Gegnern Wahrheit als wichtiges Kriterium in Debatten auszureden, ohne jemals zu sagen, dass sie falsch liegen, ist wahrscheinlich aussichtslos. Aus dem Protagoreischen Relativismus eine konkurrenzfähige Theorie zu machen, scheint deswegen keine besonders aussichtsreiche Aufgabe zu sein. Allerdings nur, wenn man ‚konkurrenzfähig‘ in dem stärkeren Sinne versteht, dass sie Gegner überzeugen können muss, denn der eindeutige Verlierer der Debatte wäre dieser besser aufgestellte Protagoras nicht mehr. Ein Unentschieden scheint durchaus möglich. Aber in jedem Fall sollte die Möglichkeit, Distanz auf anderen Wegen als durch die Unterscheidung von wahr und falsch zu schaffen, im Hinterkopf behalten werden. Selbstaufhebungsargumente wie das gerade betrachtete beziehen sich auf einen Hintergrund von Regeln, die nicht notwendigerweise von allen Teilnehmern der Debatte gleichermaßen anerkannt werden. Deswegen ist ein Hinterfragen dieser Regeln – entweder in der Form, ob der jeweilige Gegner die Regeln, denen wir normalerweise folgen, richtig interpretiert, oder in der Form, ob dies die Regeln sind, denen wir folgen sollten – grundsätzlich ein möglicher Ausweg für von Selbstaufhebung bedrohte Theoretiker.⁹⁰ Es wurde weiter oben bereits gesagt, dass solche Selbstaufhebungsargumente aus dieser Perspektive als Forderungen aufgefasst werden können, die Tätigkeit der Überprüfung von Hinzu kommt natürlich noch das von Sokrates vorgebrachte Problem, dass Nützlichkeitszuschreibungen ebenfalls nach dem Maßstab ihrer Wahrheit zu bewerten sind. Vgl. Platon (1990a), 171c-172b. Auf dies Möglichkeit weist auch Castagnoli in Bezug auf einige Argumente hin, siehe z. B. Castagnoli (2010), 120.
2.2 Formale Überlegungen zur Selbstaufhebung
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Theorien im argumentativen Austausch aus der fraglichen Theorie heraus verständlich zu machen. Ob diese Forderung erfüllt wird, kann nur im Einzelfall entschieden werden. Diese Beobachtung passt zu Castagnolis Feststellung, dass stark revisionistische Ansätze das typische Ziel von Selbstaufhebungsargumenten sind.⁹¹ Da revisionistische Ansätze in der Erkenntnistheorie⁹² oft alte Antworten für die Fragen, wie Debatten stattfinden sollten, wofür sie gut sind und warum wir sie betreiben, über den Haufen werfen, ist es erst einmal eine berechtigte Forderung, neue Antworten zu verlangen, bevor sie in einer Disziplin, deren Haupttätigkeit der argumentative Austausch ist, ernsthaft in Erwägung gezogen werden können. Es geht hier immerhin um nichts Geringeres als um die Beurteilung ihres eigenen Status als Debattenbeiträge.
2.2 Formale Überlegungen zur Selbstaufhebung In der Beschäftigung mit Platons Selbstaufhebungsargument gegen Protagoras ist es gelungen, ein funktionsfähiges Selbstaufhebungsargument zu finden, das allerdings einige unerwartete Eigenschaften aufweist. Es hat einen klaren Bezug auf Hintergrundannahmen, was mit dem Bild von Selbstaufhebungsargumenten als Widerlegungen nur aus der Theorie selbst heraus nicht übereinstimmt,⁹³ und es ist kein Argument für die absolute Falschheit des Relativismus, was sein Ergebnis, im Vergleich zu den erklärten Bestrebungen vieler anderer antirelativistischer Selbstaufhebungsargumente, recht schwach aussehen lässt. Deswegen ist jetzt der Blick zu weiten, um zu sehen, welche anderen Formen Selbstaufhebungsargumente annehmen können. Dazu soll die Typologie von Selbstaufhebungsargumenten, die John Mackie bereits 1964 entworfen hat und die immer noch einer der wichtigsten Bezugs-
Castagnoli (2010), 353 f. Allerdings nicht nur in der Erkenntnistheorie. Es gibt ebenso Selbstaufhebungsargumente gegen den Determinismus, die ihm vorwerfen, die Grundlagen dafür, menschliches Handeln – und damit auch Theoriebildung und -beurteilung als rational zu beurteilen – zu zerstören (wie es z. B. das erste in Abschnitt 2 gegebene Beispielargument zur Selbstaufhebung tut). Siehe zu diesem Thema z. B. den Austausch in Churchland (1981) und Popper (1983). Auf dieses Bild legen einige Verwender von Selbstaufhebungsargumenten sehr viel Wert und stützen darauf auch eine erhöhte Wertschätzung von Selbstaufhebungsargumenten gegenüber anderen Formen der Argumentation. Das sieht man z. B. sehr deutlich bei Bartlett, der drei Philosophieauffassungen unterscheidet und der mit Selbstaufhebungsargumenten arbeitenden – seiner Meinung nach lediglich die inhärenten Probleme anderer Positionen ans Tageslicht bringenden – therapeutischen Philosophie den höchsten Stellenwert zuerkennt. Siehe Bartlett (1988), 225 – 231.
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2 Selbstaufhebung
punkte für alle, die über Selbstaufhebung schreiben, ist, vorgestellt werden. Dabei wird wiederum an vielen Stellen auf die Gedanken von Castagnoli zurückgegriffen werden, der die bis jetzt umfangreichste und gründlichste kritische Beschäftigung mit den Kategorien Mackies vorgelegt⁹⁴ und m. E. einige wichtige Verbesserungen und Einwände vorgebracht hat. Es ist wichtig zu betonen, dass Mackies Typologie viele problematische Aspekte hat, sowohl was die eindeutige Unterscheidbarkeit der Typen von Selbstaufhebung angeht als auch in Bezug auf die Einschätzung von deren Erfolgsaussichten, wenn sie auf konkrete Positionen und Selbstaufhebungsargumente angewandt wird.⁹⁵ Der Grund, warum Mackies Typologie trotzdem sehr nützlich sein kann, ist, dass sie eine schnelle Einschätzung des genauen Beweisziels konkreter Argumente, möglicher Wege dorthin und möglicher Hindernisse zur Erreichung dieses Ziels erlaubt. Mackies Typologie gewährt eine gute erste Orientierung im unübersichtlichen Feld der Selbstaufhebungsargumente – auch wenn in detaillierterer Beschäftigung mit konkreten Argumenten oft klar wird, dass sie nicht vollständig passt –; und das macht sie zu einem ausgesprochen nützlichen Werkzeug im Umgang mit Selbstaufhebungsargumenten. Laut Mackie gibt es drei elementare Formen der Selbstaufhebung,⁹⁶ die zwar in einem gewissen Maße aufeinander aufbauen, aber doch recht unterschiedlich von ihren Anwendungsgebieten und Ergebnissen her sind. Es ist sinnvoll, mit der schwächsten Form der Selbstaufhebung, nämlich der pragmatischen Variante, zu beginnen, da sie von Mackie auch in den Beweisen für die stärkeren Formen eingesetzt wird und das Verständnis der stärkeren Formen erleichtert.
2.2.1 Pragmatische Selbstaufhebung Die pragmatische Selbstaufhebung ist die simpelste Form der Selbstaufhebung und ein weithin bekanntes Phänomen, da sie gut spielerisch einsetzbar ist. So ist z. B. das Sagen, man sage nichts oder das Schreiben, man schreibe nichts, pragmatisch selbstaufhebend. Dass bei diesen Handlungen irgendetwas Seltsames vorgeht, ist offensichtlich, es besteht eine gewisse Spannung zwischen dem Vorgebrachten und der Form des Vorbringens, und Mackie versucht, uns mit einer
In Castagnoli (2010), siehe insbesondere 17– 23; 114– 128; 152 f; 160 – 165; 205 ff. Ein sehr grundlegendes Problem ist die Tatsache, dass Mackies Ausführungen von der Annahme ausgehen, dass es Propositionen gibt, während viele relativistische Theorien auf der Annahme beruhen, dass es keine Propositionen gibt. Darauf wird in Abschnitt 2.2.2 noch einmal in Bezug auf Mackies Konzeption der absoluten Selbstaufhebung zurückzukommen sein. Mackie spricht von self-refutation.
2.2 Formale Überlegungen zur Selbstaufhebung
229
formalen Betrachtung solcher Handlungen nahezubringen, was genau hier vorgeht. Dazu legt er zunächst fest, dass d als ein Propositionen formender Operator zu verstehen ist, der auf Propositionen operiert.⁹⁷ In den genannten Beispielen wäre er z. B. übersetzbar mit den Wendungen „Ich schreibe, dass …“ oder „Ich sage, dass …“; und nimmt man eine beliebige Proposition p, die z. B. besagt, dass es regnet, kann man durch ein Voranstellen von d vor p eine neue Proposition erzeugen, wie z. B. „Ich sage, dass es regnet“. Für solche Operatoren beweist Mackie das Gesetz d&'(p dp" % '&'(p dp"⁹⁸, das seiner Auffassung nach den Kern des Phänomens der pragmatischen Selbstaufhebung ausmacht. Interpretiert man den Operator d dann z. B. als „Ich sage, dass …“, erhält man: „Wenn ich sage, dass es nichts gibt, was ich sage, dann ist es nicht der Fall, dass es nichts gibt, was ich sage.“ Der Beweis für Mackies Gesetz der pragmatischen Selbstaufhebung sieht folgendermaßen aus: 1 2
Existenzgeneralisierung aus 1
3
Negationsintroduktion aus 2
4
Konditionalintroduktion aus 1‒3
Laut Mackie ist es nicht die Proposition d&'(p dp", die als selbst aufhebend bezeichnet werden sollte, sondern der Akt, der durch diese Proposition beschrieben wird.⁹⁹ Die Proposition z. B., dass ich sage, dass ich nichts sage, kann durchaus wahr sein, nämlich dann, wenn ich tatsächlich sage, dass ich nichts sage. Was in diesem Falle falsch ist, ist die Binnenproposition '(p dp , d. h. das, was gesagt wird (also dass ich nichts sage), und nicht das Antezedens des Gesetzeskonditionals, das Mackie aufstellt. Letzteres muss ja gerade wahr sein, wenn man zu dem gewünschten Ergebnis kommen möchte, dass die Binnenproposition falsch ist, wie man nicht nur daran sieht, dass es sich eben um ein Konditional handelt, sondern vor allem auch daran, dass es sich in den bisher genannten Beispielfällen um die Herstellung eines false-makers handelt. Die Binnenproposition, dass ich nichts
Vgl. Mackie (1964), 193. Mackie benutzt den logischen Symbolismus von Łukasiewicz. Dieser ist weder heutzutage besonders gebräuchlich noch ist er besonders übersichtlich, deswegen wird er hier in einen übersichtlicheren Symbolismus übertragen. Vgl. Mackie (1964), 194.
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2 Selbstaufhebung
sage, wäre ja wahr, wenn ich schwiege, anstatt sie auszusprechen. Deswegen legt Mackie wahrscheinlich auch Wert darauf festzustellen, dass der Ausführung des durch d&'(p dp" beschriebenen Aktes nichts im Wege steht.¹⁰⁰ Der Punkt an der pragmatischen Selbstaufhebung ist eben lediglich, dass aus der Annahme, dass die den Akt beschreibende Proposition wahr ist, die Falschheit der Binnenproposition gefolgert werden kann. Oder anders gewendet, der Punkt ist, dass der spezifische Akt des Vorbringens der Proposition dasjenige ist, was sie falsch macht. Es ist ohne weiteres möglich zu sagen, dass man nichts schreibt, oder zu schreiben, dass man nichts sagt, und damit recht zu haben. Die pragmatische Selbstaufhebung, wie Mackie sie versteht, ist also grundsätzlich an einen bestimmten Modus der Präsentation gebunden und leicht zu umgehen,¹⁰¹ wenn man es denn für lohnenswert erachtet. Die Beispiele, die bis jetzt für pragmatische Selbstaufhebung angeführt wurden, sind recht trivial und haben wenig mit philosophischen Thesen gemein. Insofern lässt sich fragen, ob pragmatische Selbstaufhebung überhaupt eine interessante Rolle in der philosophischen Diskussion zu spielen hat. Wie ließe sich z. B. ein Vorwurf der pragmatischen Selbstaufhebung gegen den Relativismus erheben? Es wird bisweilen behauptet, der alethische Relativismus hebe sich selbst auf, da er mit einem absoluten Wahrheitsanspruch vorgebracht werde, und dies wird als pragmatische Selbstaufhebung betitelt. Allerdings ist diese Diagnose auf Unterschiede in der Benutzung des Etiketts „pragmatisch“ für bestimmte Formen der Selbstaufhebung zurückzuführen. Damit, wie Mackie den Ausdruck benutzt, lässt sie sich nicht übereinbringen, stattdessen lässt sie sich besser als das erfassen, was Mackie operationale Selbstaufhebung nennt, wie im übernächsten Abschnitt zu sehen sein wird. In das von Mackie gegebene Schema für die pragmatische Selbstaufhebung lässt sie sich nicht einpassen, was leicht zu sehen ist, wenn man überlegt, was hier der relevante Operator d sein könnte. Ein naheliegender Kandidat wäre vielleicht „Es ist absolut wahr, dass …“; aber die Tatsache, dass es sich hier nicht um eine Identifikation eines konkreten Präsentationsmodus handelt, wie in „Ich sage, dass …“ oder „Ich schreibe, dass …“, sollte skeptisch gegenüber dieser Möglichkeit stimmen. Es ist einfach nicht klar, inwiefern dieser Operator für die Beschreibung eines Aktes zu gebrauchen wäre. Deswegen soll diese Interpretationsmöglichkeit hier einen Moment zurückgestellt werden, um einen Kandidaten in Betracht zu ziehen, der sich eher im Sinne eines konkreten Präsentationsmodus verstehen lässt. Wenn man nämlich den Bezug auf einen Anspruch im Operator explizit macht, kommt man
Vgl. Mackie (1964), 194. Vgl. Mackie (1964), 197.
2.2 Formale Überlegungen zur Selbstaufhebung
231
den Beispielen, in denen es um ein Sagen oder ein Schreiben geht, sehr viel näher: d könnte z. B. für „Ich behaupte mit Anspruch auf absolute Wahrheit, dass …“ stehen. Die Beschreibung des pragmatisch selbstaufhebenden Aktes, also die Instanz von d&'(p dp", würde in diesem Fall lauten: „Ich behaupte mit Anspruch auf absolute Wahrheit, dass es nichts gibt, was ich mit Anspruch auf absolute Wahrheit behaupte.“ Dies wäre in der Tat ein pragmatisch selbstaufhebender Akt, aber er wäre nicht als Behauptung eines alethischen Relativismus zu klassifizieren, weil der Binnensatz nicht passt. Der alethische Relativismus ist nämlich keine Aussage darüber, mit welchem Anspruch ich meine Behauptungen vorbringe. Auch eine Verallgemeinerung des Operators auf Behauptungen im Allgemeinen, also „Es wird mit Anspruch auf absolute Wahrheit behauptet, dass …“, führt nicht weiter, denn selbst so wäre die vorgebrachte Behauptung eine Behauptung über Wahrheitsansprüche und nicht über Wahrheit. Zwar wurde im Abschnitt zu Boghossians Relativismusdefinition angesprochen,¹⁰² dass ein plausibler Relativismus sich davor hüten sollte, alltägliche Aussagen als Aussagen mit absolutem Wahrheitsanspruch zu verstehen, um eine unplausible error theory zu vermeiden. Aber selbst wenn man bereit wäre, ein entsprechendes Bestreiten, dass Aussagen in der Regel mit absolutem Wahrheitsanspruch vorgebracht werden, zu den Kernaussagen eines alethischen Relativismus zu zählen, wäre dieses verschieden von der Behauptung, dass niemals irgendeine Behauptung mit absolutem Wahrheitsanspruch vorgebracht wird. Mit dem expliziten Bezug auf Wahrheitsansprüche im Operator gelingt es also nicht, die Binnenproposition als relativistische These zu charakterisieren. Um eine solche zu bekommen, scheint man sehr wohl den oben zurückgestellten Operator „Es ist absolut wahr, dass …“ zu benötigen, denn in diesem Fall ließe sich '(p dp paraphrasieren als: „Es gibt nichts, was absolut wahr ist.“¹⁰³ Aber auch aus diesem Operator lässt sich kein Fall von pragmatischer Selbst-
Genau genommen ging es in diesem Abschnitt nicht um Wahrheitsansprüche, sondern um Boghossians Voraussetzung, dass aus relativistischer Sicht alle Aussagen ohne explizite Relativierung falsch sein müssten. Allerdings hätte eine Theorie, die behauptet, dass es nur relative Wahrheiten gibt, wir aber grundsätzlich Aussagen mit absolutem Wahrheitsanspruch machen, genauso wie der von Boghossian definierte Relativismus, das Problem, alle prärelativistischen epistemischen Bemühungen zu einem massiven Fehlschlag zu erklären. Insofern stellt die Frage der Wahrheitsansprüche den Relativismus vor ein paralleles Problem. Hier wird, wie Mackie es auch selbst tut, eine Paraphrase benutzt, in der absolute Wahrheit – oder vielleicht präziser gesagt: absolutes Wahrsein – nicht als Operator auftaucht, sondern als Prädikat. Hier verbirgt sich nach Ansicht Castagnolis eine wichtige Ambiguität, die sich vor allem auf die Plausibilität von Mackies Behandlung der absoluten Selbstaufhebung negativ auswirkt. Darauf wird im Abschnitt zur absoluten Selbstaufhebung noch zurückzukommen sein.
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2 Selbstaufhebung
aufhebung für relativistische Thesen herleiten, denn erstens beschreibt hier, wie oben schon erwähnt, das vollständige Antezedens keinen Akt, es lautet schlicht „Es ist absolut wahr, dass nichts absolut wahr ist“; und da es nicht den Akt der Präsentation des Relativismus beschreibt, ist auch völlig unklar, inwiefern es ein berechtigter Ausgangspunkt für eine antirelativistische Argumentation sein sollte. Im Gegensatz zu den klaren Fällen von pragmatischer Selbstaufhebung ist völlig unklar, woher die Legitimation für das Voranstellen des Operators d vor die relativistische These kommen sollte, da es sich eben nicht einfach um die Art und Weise handelt, wie die Position vorgebracht wird. Zweitens kann, im Widerspruch zu der oben referierten Auffassung der pragmatischen Selbstaufhebung, diese Instanz von d&'(p dp" nicht wahr sein, sie ist notwendig falsch. Ein Fall von pragmatischer Selbstaufhebung liegt hier also auf keinen Fall vor.¹⁰⁴ Vielleicht kann Mackies Konzeption absoluter Selbstaufhebung eine Antwort auf diese Schwierigkeiten liefern, denn Mackie ist der Auffassung, dass ein alethischer Relativismus absolut selbstaufhebend ist.¹⁰⁵
2.2.2 Absolute Selbstaufhebung Bei der absoluten Selbstaufhebung haben wir es laut Mackie, im Gegensatz zur pragmatischen, nicht mit einer Unverträglichkeit zwischen einer Proposition und der Art und Weise, wie sie vorgebracht wird, zu tun, sondern mit notwendig falschen Propositionen.¹⁰⁶ Es gibt zwei unterschiedliche Wege, auf denen sich Positionen absolut selbst aufheben können, für jeweils spezifische Klassen von in ihnen enthaltenen Operatoren. Beide beruhen auf den im Bereich der pragmatischen Selbstaufhebung erreichten Ergebnissen. Der erste dieser beiden Wege ist bei Positionen anwendbar, die sich durch das Schema d&'(p dp" darstellen lassen, welches bereits das Antezedens im Gesetz der pragmatischen Selbstaufhebung bildete. Allerdings sind Positionen dieser Form natürlich nicht grundsätzlich absolut selbstaufhebend, denn wie in der Behandlung der pragmatischen Selbstaufhebung zu sehen war, sind Propositionen dieser Form bisweilen wahr, wenn z. B. jemand sagt, dass er nichts sagt. Hinzu kommen muss, dass der Operator d wahrheitsgarantierend ist, dass also gilt: dp % p. Beispiele für wahrheitsgarantierende Operatoren, die Mackie anführt,
Mackie behauptet allerdings, es sei ein Fall von absoluter Selbstaufhebung, doch dazu später. Vgl. Mackie (1964), 200. Vgl. Mackie (1964), 195.
2.2 Formale Überlegungen zur Selbstaufhebung
233
umfassen „Es kann bewiesen werden, dass …“, „Ich weiß, dass …“ oder auch ganz schlicht „Es ist wahr, dass …“.¹⁰⁷ Mackies Beweis des für Operatoren dieser Art geltenden Gesetzes 'd&'(p dp" sieht folgendermaßen aus: 1 2
Substitution von
für p
3
Gesetz pragmatischer Selbstaufhebung
4
Destruktives Dilemma aus 2 und 3
Mackies Beweis ist offensichtlich unangreifbar, insgesamt jedoch ist der Nutzen dieser Form von absoluter Selbstaufhebung für die Charakterisierung von Selbstaufhebung im Allgemeinen eher gering. Zunächst einmal ist m. E. nicht ganz klar, ob man hier überhaupt von Selbstaufhebung sprechen sollte,¹⁰⁸ denn wie man deutlich an Mackies Beweis sieht, kommt diese Form der absoluten Selbstaufhebung einem einfachen reductio-Argument sehr nahe. Dass die Aussage, dass es wahr ist, dass nichts wahr ist, in sich widersprüchlich ist, ist relativ offensichtlich; und mit einem formalen Herausstellen dieser Tatsache ist nicht viel gewonnen¹⁰⁹ – insbesondere deshalb, weil Positionen wie die gerade genannte so offensichtlich defizitär sind, dass man nur schwer jemanden finden wird, der sie vertritt. Das gilt auch für Mackies Beispiel, die Position, dass es sich beweisen lässt, dass sich nichts beweisen lässt. Hier scheint es sich vielmehr um eine von außen an bestimmte skeptische Strategien herangetragene Charakterisierung zu handeln als um eine Position, die tatsächlich vertreten wird. Insgesamt scheint es, dass die interessanten Fragen erst dort anfangen, wo Mackies Beschreibung der absoluten Selbstaufhebung mit wahrheitsgarantierenden Operatoren aufhört, nämlich bei der Frage, ob bestimmte Operatoren wahrheitsgarantierend sind, und bei der Frage, wie stark revisionistische Positionen, wie z. B. die, dass sich nichts beweisen lässt und Strategien, um sie zu stützen, sich in einer Art und Weise rekonstruieren lassen, die ihnen nicht von vornherein offensichtliche
Vgl. Mackie (1964), 195. Auch Castagnoli meldet Zweifel daran an, ob ein solches Aufzeigen der Widersprüchlichkeit einer Proposition als Selbstaufhebungsargument klassifiziert werden sollte. Vgl. Castagnoli (2010), 5 – 9; 19 f. Das entspricht auch Mackies eigener Einschätzung der Ergiebigkeit dieses Argumentationstyps. Vgl. Mackie (1964), 203.
234
2 Selbstaufhebung
Inkonsistenzen unterstellt.¹¹⁰ So ist es auch Mackies Fazit, dass es nur sehr wenige Positionen gibt, die sich auf diese Weise widerlegen lassen.¹¹¹ Die zweite Möglichkeit, eine Position der absoluten Selbstaufhebung zu überführen, die Mackie anbietet, kann bei Proposition der Form '(p dp angewandt werden, falls der enthaltene Operator d prefixable ist. Diese Eigenschaft besitzt er genau dann, wenn gilt: p % dp. Mackie nennt die Beispiele „Es ist wahr, dass …“ und „Es ist möglich, dass …“.¹¹² Der Beweis ist der folgende: 1 2
Substitution von
für p
3
Gesetz pragmatischer Selbstaufhebung
4
Hypothetischer Syllogismus aus 2 und 3
5
Consequentia Mirabilis aus 4
Auffassungen, wie z. B. die, dass nichts wahr ist, sind also nach Mackie von absoluter Selbstaufhebung betroffen, sie sind notwendig falsch, da aus ihnen ihre eigene Negation folgt. Diese Form der absoluten Selbstaufhebung ist auch ganz eindeutig als eine Form der Selbstaufhebung zu erkennen, denn sie beruht darauf, dass der Dank prefixability voranzustellende Operator derselbe ist wie derjenige, der in der zu widerlegenden Position universell abgesprochen wird. Insofern wird für die in Frage stehende Position ein Problem aufgeworfen, das aus der Frage resultiert, was sie sich selbst zu- oder absprechen müsste. Wie bei der vorigen Form der absoluten Selbstaufhebung ist es allerdings auch hier ein Problem, Positionen zu finden, die für diese Form der Widerlegung anfällig sind. Mackie selbst sagt, dass es nur wenige Operatoren gibt, die prefixable sind,¹¹³ aber selbst im scheinbar klarsten Fall, nämlich im Falle des Operators „Es ist wahr, dass …“, ist Mackies Widerlegung der laut ihm absolut selbstaufhebenden Position nicht unangreifbar. Für diesen auf den ersten Blick eindeutigen Fall hat Castagnoli eine überzeugende Kritik von Mackies Vorgehensweise
Zum Thema des skeptischen ‚Beweises‘ gegen das Beweisen bei Sextus Empiricus und wie er sich als konsistente Strategie interpretieren lässt, siehe Castagnoli (2010), 278 – 307. Vgl. Mackie (1964), 203. Vgl. Mackie (1964), 195. Vgl. Mackie (1964), 203.
2.2 Formale Überlegungen zur Selbstaufhebung
235
vorgelegt, die hier kurz vorgestellt werden soll und die zum Teil auch die absolute Selbstaufhebung mit wahrheitsgarantierenden Operatoren betrifft. Laut Castagnoli leidet Mackies Argumentation in Bezug auf das Bestreiten der Existenz von Wahrheit an zwei erheblichen und miteinander zusammenhängenden Schwächen. Die erste Schwierigkeit ist ein Problem der Mehrdeutigkeit bzw. des Interpretationsspielraums von Mackies formalem Beweis. In Mackies Paraphrasen seines Ergebnisses bzgl. des Bestreitens der Existenz von Wahrheit werden unterschiedliche Interpretationen seines Formalismus benutzt,¹¹⁴ die zwar auf den ersten Blick völlig austauschbar erscheinen, es aber bei näherem Hinsehen nicht sind. Besonders deutlich wird das in Mackies Zusammenfassung zur absoluten Selbstaufhebung mit Hilfe von wahrheitsgarantierenden Operatoren: With absolute self-refutation of this sort, an item that would be symbolised by [d&'(p dp"], such as my knowing that I know nothing, simply cannot occur. Here we can say that each proposition of this form is self-refuting. It must be false; given that d is truth-entailing, its form guarantees its falsehood.¹¹⁵
Hier gibt Mackie zunächst eine Interpretation seines Ergebnisses in Form einer Aussage darüber, welche Sachverhalte bestehen können und welche nicht und dann eine weitere, die von der notwendigen Falschheit von Propositionen bestimmter Form spricht. Castagnoli fasst die Mehrdeutigkeiten in Mackies Paraphrasen seiner Ergebnisse folgendermaßen zusammen: Mackieʼs wavering understanding of the main negation symbol (‚It is not the case that…‘ or ‚…is false‘) is not the only ambiguity to be detected by a pedantic reader in his double paraphrase […]. In an analogous way, T [Castagnolis Kürzel für d als Wahrheitsoperator; D. S.] is taken sometimes as the sentential operator ‚It is true that…‘ (equivalent, I presume, to ‚It is the case that‘, attached to obtaining states of affairs) and sometimes as the truth-predicate ‚… is true‘ (attached to propositions, sentences or whatever one might decide the truthbearers are). ‚It is true that nothing is true‘, Mackieʼs own explicit interpretation of T'(p Tp, is thus an odd hybrid of these understandings of T.¹¹⁶
Dass diese Mehrdeutigkeiten in Mackies Formulierungen vorhanden sind, lässt sich nicht bestreiten,¹¹⁷ die interessante Frage ist vielmehr, ob sie in irgendeiner
Vgl. Castagnoli (2010), 17 f. Mackie (1964), 195 (Hervorhebungen getilgt). Castagnoli (2010), 18 (Hervorhebungen seine). Obwohl es m. E. nicht notwendig ist, die Operator-Lesart als einen Operator auf bestehende Sachverhalte benutzend zu interpretieren. Mackies eigene Aussage zur Interpretation von d ist,
236
2 Selbstaufhebung
Weise schädlich sind, denn auf den ersten Blick scheinen die Phrasen, die Mackie als austauschbar benutzt, schlicht austauschbar zu sein. In den meisten Kontexten ist es in der Tat egal, ob man sagt „p ist falsch“ oder „es ist nicht der Fall, dass p“ und es ist ebenso egal, ob man sagt „p ist wahr“ oder „es ist der Fall, dass p“. Allerdings ergibt es sehr wohl einen Unterschied, wenn ausgerechnet die Existenz von Wahrheit in Frage steht. Um diesen Punkt zu untermauern, sollen nun die vier unterschiedlichen Lesarten des Ergebnisses von Mackies absoluter Selbstaufhebung in Bezug auf das Bestreiten von Wahrheit, wie sie Castagnoli auf Basis der von ihm herausgearbeiteten Mehrdeutigkeiten rekonstruiert, betrachtet werden. Wenn Mackie tatsächlich alle seine Paraphrasen für austauschbar erachtet, ist er auf alle vier Lesarten verpflichtet – und das ist, wie Castagnoli zeigt, keine unproblematische Position, aber zunächst zu den Lesarten: [a] It cannot be the case that nothing is the case. [b] It cannot be the case that nothing (i. e. no proposition) is true. [c] The proposition ‚Nothing is the case‘ is necessarily false. [d] The proposition ‚Nothing (i. e. no proposition) is true‘ is necessarily false.¹¹⁸
Laut Castagnoli ist es bei mindestens zwei dieser Lesarten fraglich, dass Mackies Argument sie bewiesen haben könnte, denn sie scheinen einfach nicht wahr zu sein, jedenfalls nicht, wenn man nicht von vornherein Restriktionen darüber aufstellt, was möglich oder nicht möglich ist, die dem Argument selbst äußerlich sind. Es handelt sich um Lesarten [b] und [d]. Im Falle von [d] lassen sich nämlich sehr wohl Szenarien aufstellen, in denen die Proposition „Nichts ist wahr“ nicht falsch ist: Gibt es entweder keine anderen Propositionen oder sind alle anderen Propositionen falsch, ist [d] nicht falsch, sondern in derselben Weise paradox wie der Lügnersatz.¹¹⁹ Nur wenn diese Szenarien aus dem Bereich des Möglichen ausgeschlossen werden – und es ist nicht ersichtlich, inwiefern Mackies Argument das tun sollte –, ist [d] wahr. Nun hilft die Möglichkeit, dass seine Aussage nicht falsch, sondern paradox sein könnte, dem Verteidiger der Auffassung, dass es keine Wahrheit gibt, zwar nicht unbedingt weiter, aber es wird durchaus deutlich, dass Mackies Argument mit mehr Vorsicht zu betrachten ist als zunächst ersichtlich. Es sieht so aus, als stamme dieses
dass es ein Propositionen formender Operator auf Propositionen ist, und die Mehrdeutigkeiten bleiben auch in diesem Fall problematisch. Castagnoli (2010), 20. Vgl. Castagnoli (2010), 21.
2.2 Formale Überlegungen zur Selbstaufhebung
237
Problem zumindest teilweise daher, dass die Annahme der Existenz von wahren und falschen Propositionen bereits in Mackies Aufstellen seiner formalen Methode – man erinnere sich an die Einführung von d als einem Operator der auf Propositionen operiert – eingeht und insofern von ihm wahrscheinlich nicht als interessante oder kontroverse Annahme gesehen wird. Diese Einschätzung ist aber völlig unberechtigt, wenn er sich mit seiner formalen Methode auf Gebiete, wie das der Frage nach der Existenz von Wahrheit, begibt, wo zumindest die Annahme, dass es wahre Propositionen gibt, zweifellos kontrovers ist. Oder, wie Castagnoli sagt: „Assessing a ‚revolutionary‘ thesis (the denial of any truth) against an extraneous ‚conservative‘ setting (our basic principles concerning truth) produces a refutation that appears suspiciously easy.“¹²⁰ Das Problem mit [b] ist ähnlich, denn auch hier lässt sich fragen: Was, wenn es überhaupt keine Propositionen gibt? Castagnoli führt hier den mittelalterlichen Philosophen Buridanus bzw. die Rekonstruktion einiger seiner Gedanken von Arthur N. Prior an. Buridanus hatte über die Möglichkeit nachgedacht, was passieren würde, wenn Gott alle wahren Aussagen vernichten würde, und entwickelte dabei, nach Priors Rekonstruktion, eine Unterscheidung zwischen dem Möglichen und dem Möglicherweise-Wahren.¹²¹ Möglich ist dabei etwas, was der Fall sein kann, während möglicherweise-wahr etwas ist, das von einer wahren Proposition ausgesagt werden kann, und Letzteres ist für die Auffassung, dass es keine Wahrheit gibt, aus offensichtlichen Gründen unmöglich. In diesem Sinne könnte man sagen, dass es zwar nicht möglicherweise-wahr ist, dass es keine (wahren) Propositionen gibt, aber das heißt nicht unbedingt, dass es nicht dennoch möglich ist.¹²² Der Punkt hier ist nicht, dass eine solche Unterscheidung definitiv notwendig und sinnvoll ist, so würden z. B. einige der im ersten Teil vorgestellten Relativisten sie für unsinnig halten, da sie nicht an Sachverhalte als unabhängige Entitäten glauben; wichtig ist vielmehr, dass es in Mackies Argument nichts gibt, was eine solche Unterscheidung ausschließt. Deswegen scheint es außerhalb seiner Reichweite zu liegen, die Konklusion unter Lesart [b] zu beweisen. Das problematische Element scheint hier wiederum mit dem unhinterfragten Voraussetzen der Existenz von Propositionen zusammenzuhängen. Mackies vorgeblich rein formales Argument besitzt darin mindestens eine substantielle Präsupposition.
Castagnoli (2010), 22. Castagnoli bezieht sich hier eigentlich auf den zweiten, noch anzusprechenden Kritikpunkt an Mackies Beweis, wie an dem Bezug auf „basic principles concerning truth“ anstatt auf Annahmen über Propositionen zu erkennen ist, aber der allgemeine Punkt, den er macht, trifft hier genauso zu wie dort. Priors Termini sind „possible“ und „possibly-true“. Prior (1969), 481. Vgl. Castagnoli (2010), 21.
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Diese bleibt übrigens problematisch unabhängig davon, ob Mackie Propositionen in sprachgebundener Art und Weise und damit als kontingent existierend oder als abstrakte, notwendig existierende Gegenstände auffasst. Im ersten Fall kommt er um die Frage, ob nicht alle wahren Propositionen zerstört werden könnten bzw. ob es denn nicht vor der Entstehung von Sprache eine Welt ohne Wahrheit gab, nicht herum. Im zweiten Fall ist seine Vorgehensweise schlicht und ergreifend zirkulär; und es gäbe in dieser Situation auch keinen Grund, ein Selbstaufhebungsargument gegen die Auffassung, dass es keine Wahrheit gibt, zu verwenden. Denn wie Castagnoli bemerkt, ist unter der Voraussetzung, dass Propositionen notwendig existieren, nichts Besonderes mehr an der Proposition, die die Auffassung des Bestreiters der Existenz von Wahrheit darstellt. Jede wahre Proposition wäre unter diesen Umständen geeignet, um die in Frage stehende Position zu widerlegen, wir hätten es also in keinem interessanten Sinne mit Selbstaufhebung zu tun.¹²³ Mackies Argument kann also, obwohl formal völlig unangreifbar, auf erhebliche Probleme stoßen, sobald es um seine Interpretation und seine Anwendung auf konkrete Positionen geht, sogar in einem scheinbar offensichtlichen Fall. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man den zweiten Einwand, den Castagnoli gegen Mackies Argument bezogen auf das Bestreiten der Existenz von Wahrheit in Betracht zieht, der jetzt vorgestellt werden soll. Der zweite wichtige Kritikpunkt, den Castagnoli gegen Mackies prefixabilitySelbstaufhebung anbringt, richtet sich gegen die Annahme der prefixability selbst. Mackie erklärt nicht weiter, warum er die Operatoren „Es ist wahr, dass …“ und „Es ist möglich, dass …“ für prefixable hält, und in den meisten Kontexten müsste er das auch nicht. Es ist für die meisten eine Selbstverständlichkeit, dass man jeder wahren Proposition ein „Es ist wahr, dass …“ voranstellen und so eine neue wahre Proposition erzeugen kann. Insofern ist die Annahme, dass der Wahrheitsoperator prefixable ist, keine Annahme, die man groß erklären müsste. Allerdings verlangt die Position, dass es keine Wahrheit gibt, darauf weist Castagnoli hin, in einem solchen Maße nach einer Revision von Selbstverständlichkeiten, z. B. der Selbstverständlichkeit, dass es Wahrheit und wahre Propositionen gibt, dass man sich in einer Argumentation gegen sie nicht unhinterfragterweise auf Selbstverständlichkeiten, insbesondere solche, bei denen es um Wahrheit geht, stützen kann.¹²⁴ Es ist hochgradig unwahrscheinlich, dass jemand, der die Position, dass es keine Wahrheit gibt, in einigermaßen reflektierter Vgl. Castagnoli (2010), 128 FN 14. Zumindest nicht, wenn man auf eine für den entsprechenden Theoretiker überzeugende Widerlegung aus ist und nicht nur auf einen Aufweis der Inkompatibilität mit bestimmten tiefsitzenden Überzeugungen, und schon gar nicht, wenn man auf eine absolute Selbstaufhebung hinaus möchte. Vgl. Castagnoli (2010), 22.
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Weise vertritt, die Annahme teilen könnte, dass es einen Wahrheitsoperator gibt, der prefixable ist. Vielmehr sollten sich solche Aussagen, die mit „Es ist wahr, dass …“ beginnen und somit von etwas behaupten, dass es wahr ist, für jemanden, der die Position vertritt, dass es nichts gibt, was wahr ist, automatisch disqualifizieren. „‚Nothing is true‘ is obviously inconsistent with T-prefixability [Castagnolis Ausdruck für prefixability bezogen auf den Wahrheitsoperator], and thus it comes as no surprise that by assuming the latter Mackie can produce a refutation of the former.“¹²⁵ Das Fazit zu Mackies absoluter Selbstaufhebung ist deshalb eher durchwachsen. Bei der ersten Form der absoluten Selbstaufhebung, also der durch wahrheitsgarantierende Operatoren, ist nicht klar, ob man überhaupt von einer Form der Selbstaufhebung sprechen sollte: Die so zu widerlegenden Positionen sind widersprüchlich in einem ganz alltäglichen Sinne, und Mackies Argument sollte vielleicht besser als reductio kategorisiert werden. Darüber hinaus ist es fraglich, ob sich viele tatsächlich vertretene Theorien finden ließen, die dem von Mackie aufgestellten Schema entsprechen. Letzteres gilt auch für den Nachweis absoluter Selbstaufhebung durch prefixability. Der Fall der Leugnung der Existenz von Wahrheit wurde ja gerade deswegen thematisiert, weil es sich scheinbar um einen klaren Fall handelt, aber sogar hier war fraglich, ob Mackies Argumentation gegen einen tatsächlichen Vertreter dieser Auffassung ohne Zirkularität eingesetzt werden könnte; und es war unklar, wie genau die Konklusion des Arguments zu interpretieren ist. Das bedeutet allerdings mitnichten, dass die Auseinandersetzung mit Mackies Verständnis der absoluten Selbstaufhebung fruchtlos war. Denn zumindest im Falle der Argumentation über prefixability haben wir tatsächlich eine interessante Möglichkeit gefunden, Selbstaufhebungsargumente zu formalisieren, die einige Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus treffend zu beschreiben scheint oder dem zumindest sehr nahekommen. Der schlichte aber gebräuchliche Einwurf: „Aber glaubst du denn nicht, dass deine Theorie absolut wahr ist?“ an die Adresse relativistischer Theoretiker scheint z. B. diesem Muster zu folgen. Insofern wird sich Mackies formale Betrachtungsweise bei der Untersuchung konkreter Argumente sicherlich als nützlich erweisen. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die Tatsache, dass Mackies Argument nicht ohne weiteres gegen eine Leugnung der Existenz von Wahrheit einsetzbar war, nicht bedeuten muss, dass es gegen andere Positionen nicht besser dasteht. Denn die Probleme von Mackies Argument lagen ja nicht auf der formalen Ebene, sondern sie begannen da, wo die formale Ebene in Kontakt mit konkreten Theorien gebracht
Castagnoli (2010), 22.
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wurde, einerseits in der Frage der Interpretation des Ergebnisses und andererseits in der Frage, wie akzeptabel die Prämisse der prefixability für Vertreter konkreter Theorien ist. Ließen sich also Theorien finden, die die entsprechende Form haben und tatsächlich auf prefixability verpflichtet sind, würde Mackies Argument, vorausgesetzt es würde eine saubere Interpretation des entsprechenden Ergebnisses gegeben, sie widerlegen.¹²⁶ Bevor nun zu der dritten, und nach Mackies eigener Auskunft interessantesten, Form von Selbstaufhebung, der operationalen Selbstaufhebung, übergegangen wird, sollte ein Blick auf Mackies Sicht des Themas alethischer Relativismus und Selbstaufhebung geworfen werden, denn er ist der Auffassung, dass der alethische Relativismus einer Selbstaufhebung mittels prefixability erliegt: „Since anything that simply is the case is an absolute and not merely relative truth, ‚It is an absolute truth that‘ is strictly prefixable, and ‚There are no absolute truths‘ is absolutely self-refuting.“¹²⁷ Mackie benutzt also genau den Operator, der oben als möglicher Kandidat für die Herstellung eines antirelativistischen Selbstaufhebungsargumentes in Erwägung gezogen wurde, da er eine einwandfreie Repräsentation der relativistischen Position ermöglicht. Das entsprechende Argument war im Rahmen der pragmatischen Selbstaufhebung nicht nachzuvollziehen. Die Probleme dort waren einerseits, dass die entsprechende Instanz von d&'(p dp" nicht wahr sein konnte, wie etwa im klaren Fall von pragmatischer Selbstaufhebung „Ich sage, dass ich nichts sage“. Betrachten wir die relativistische Position als einen Fall von absoluter Selbstaufhebung, ist das kein Hindernis mehr, weil es nicht mehr verlangt wird, dass ein durch die Instanz von d&'(p dp" beschriebener Akt als false-maker der entsprechenden Binnenproposition fungiert. Andererseits war die Frage offengeblieben, wie man zu der Berechtigung gelangen sollte, der in Frage stehenden Position den entsprechenden Operator voranzustellen und das Resultat in einem Beweis gegen sie zu verwenden. Genau diese Aufgabe übernimmt bei dieser Variante der absoluten Selbstaufhebung die Annahme der prefixability, denn sie besagt ja, dass dieses Vorgehen bei einer wahren Proposition eine weitere wahre Proposition produzieren muss, in anderen Worten: Es ist ein zulässiger Beweisschritt. Die Probleme, die eine Betrachtung des Operators unter Bedingungen der pragmatischen Selbstaufhebung aufgeworfen hatte, sind also gelöst, wenn man stattdessen nach einer absoluten Selbstaufhebung sucht, aber dafür taucht ein neues auf.
In diesem Fall hätte man es mit einer ad-hominem-Variante der absoluten Selbstaufhebung zu tun, siehe dazu Kapitel 2.2.4. Mackie (1964), 200.
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Das Problem mit diesem Argument gegen den alethischen Relativismus ist im Prinzip dasselbe wie eines der im Falle der Leugnung der Existenz von Wahrheit von Castagnoli aufgebrachten: Einem Vertreter des alethischen Relativismus ein Argument zu präsentieren, das auf der Prämisse fußt, dass „Es ist absolut wahr, dass …“ prefixable ist, dürfte ihn unbeeindruckt lassen, da diese Voraussetzung ganz offensichtlich inkompatibel mit einer Ablehnung absoluter Wahrheiten ist. Aber genau genommen ist die Ausgangslage für diese Variante des Selbstaufhebungsargumentes deutlich schlechter als im oben betrachteten Fall. Denn erstens besitzt die Annahme, dass dieser Operator die Voraussetzung der prefixability erfüllt, bei weitem nicht denselben Grad an Selbstverständlichkeit wie im Falle eines einfachen Wahrheitsoperators, sie gehört schlicht nicht zu den weithin geteilten Grundannahmen über Wahrheit; und zweitens hat dieser andere Status einen guten Grund. Denn wäre „Es ist absolut, wahr …“ prefixable, würde das heißen, dass es jeder wahren Proposition vorangestellt werden kann, um eine weitere wahre Proposition zu erhalten. Das hieße aber, dass es keine einzige relativ wahre Proposition gibt, und das steht nicht nur im Konflikt mit den Behauptungen von alethischen Relativisten, sondern auch mit denen von vielen Vertretern unterschiedlicher Bereichsrelativismen¹²⁸ und einigen semantischen Theorien z. B. indexikalische Ausdrücke betreffend. Die Annahme der prefixability setzt hier also, anders als im Falle der Leugnung von Wahrheit, nicht nur voraus, dass es etwas gibt, was von der in Frage stehenden Theorie geleugnet wird, sondern auch, dass es das, was der alethische Relativismus ‚stattdessen‘ als existierend behauptet, nämlich relative Wahrheiten, weder gibt noch geben kann. Insofern verfehlt Mackies Kritik ihr Ziel gleich auf mehreren Ebenen und scheint keinerlei Bemühungen zu unternehmen, die anvisierte Theorie auch nur einigermaßen ernst zu nehmen. Zu behaupten, „Es ist absolut wahr, dass …“ wäre prefixable ist nichts weiter als die Formulierung eines globalen Absolutismus.¹²⁹ Deswegen ist Mackies Argument gegen den alethischen Relativismus ganz klar abzulehnen.
Diesen Punkt macht auch Kölbel, der Mackies Selbstaufhebungsvorwurf aus ganz ähnlichen wie den hier gegebenen Gründen für erfolglos hält: „It seems to me that the global relativist has an easy answer: she only needs to deny that the operator ‚it is absolutely true that‘ is strictly prefixable. The most obvious motivation for this inference rule would seem to be the view that all truth is absolute truth. But the global relativist is defending the opposite view, so would not need to accept this motivation. The objection, therefore, begs the question against the global relativist. As a matter of fact, any local relativist will also reject Mackieʼs inference rule.“ Kölbel (2011), 26 (Hervorhebungen seine). Angesichts dieser beiden Faktoren, dem stillschweigenden Voraussetzen eines globalen Absolutismus und dem Versäumnis, die relativistische These auch nur ansatzweise ernst zu
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2 Selbstaufhebung
2.2.3 Operationale Selbstaufhebung Die operationale Selbstaufhebung ist laut Mackie, was die Stärke ihres Ergebnisses betrifft, zwischen pragmatischer und absoluter Selbstaufhebung angesiedelt. Anders als die absolute Selbstaufhebung soll sie zwar nicht zeigen, dass eine bestimmte Proposition notwendig falsch ist, aber sie beruht auch nicht, wie die pragmatische Variante, auf einer Inkompatibilität zwischen einer behaupteten Proposition und dem Modus, in dem diese vorgebracht wird, so dass ihr nicht ohne weiteres durch einen Wechsel des Modus zu entkommen ist.Vielmehr ist das Ergebnis einer operationalen Selbstaufhebung, dass eine bestimmte Proposition von einem bestimmten Sprecher nicht kohärent behauptet werden kann. In diese Kategorie sollen solche Aussagen wie „Ich glaube nichts“ fallen.¹³⁰ Was genau ist das Problem mit solchen Aussagen? Mackie schlägt vor, eine Kategorie von Operatoren d anzunehmen, die in einem schwächeren Sinne als dem bisher verwendeten prefixable sind. Diese schwächere Variante der prefixability soll dadurch ins Spiel kommen, dass man sich bei der Behauptung einer Proposition auf weitere Aussagen verpflichtet,¹³¹ wie z. B. auf die, dass man glaubt, was man behauptet.¹³² Um eine operationale Selbstaufhebung zu formalisieren, braucht man einen Operator a, der am besten gelesen wird als „X kann kohärent behaupten, dass …“, der den Regeln folgt, dass es erstens nicht möglich ist, Widersprüche kohärent zu behaupten, und dass zweitens, wenn q aus p folgt bzw. wenn die Behauptung von p auf q verpflichtet und x p kohärent behaupten kann, x auch q kohärent behaupten kann.¹³³ Die nehmen, ist es natürlich besonders eigenwillig, dieses Argument als ein Selbstaufhebungsargument zu bezeichnen. Vgl. Mackie (1964), 197. Vgl. Mackie (1964), 195 f. Hier gibt es natürlich einen Berührungspunkt mit der Moore-Absurdität, auf den Mackie auch hinweist. Vgl. Mackie (1964), 196 FN 7. Ich folge hier einem Verbesserungsvorschlag von Castagnoli. Mackie selbst liest a anders, nämlich als „x coherently asserts that“. Aber wie Castagnoli feststellt, sind unter dieser Lesart bereits die Regeln für den Operator unplausibel, denn „it seems false, that if x asserts that the sky is blue, then x also asserts that he believes the sky is blue.“ (Castagnoli (2010), 207 FN 9) Noch deutlicher wird dies, wenn man neben den relativ simplen Verpflichtungen bzgl. der ausgesagten Proposition komplexere logische Folgerungsrelationen ins Spiel bringt. Nimmt man z. B. an, dass q aus p folgt, aber eine so komplexe logische Form hat, dass x niemals auf die Idee käme, q auch nur in Betracht zu ziehen, müssten wir unter Mackies Lesart des Operators sowohl sagen, dass x q behauptet, wann immer x p behauptet, als auch dass x zugleich behauptet q zu glauben. Dieser Grund macht es m. E. unausweichlich, Mackies eigene Lesart abzulehnen, aber leider hat auch die Lesart, die hier gewählt wurde, einen Nachteil, der nicht unerwähnt bleiben sollte. Denn diese Lesart inkorporiert eine recht schwache Interpretation von Verpflichtung. Die Verpflichtung auf
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2.2 Formale Überlegungen zur Selbstaufhebung
Variable x steht dabei für den Sprecher, der die Behauptung aufstellt. In vielen Fällen der operationalen Selbstaufhebung ist es so, dass etwas nicht von einem bestimmten Sprecher kohärent behauptet werden kann, so kann ich z. B. nicht kohärent behaupten, dass ich nichts glaube, aber ein anderer könnte dies sehr wohl kohärent von mir behaupten. Der Beweis, den Mackie zur operationalen Selbstaufhebung vorlegt, sieht folgendermaßen aus: 1 2
Substitution von
für p
3
Aus dem Gesetz pragmatischer Selbstaufhebung und der Regel
4
Hypothetischer Syllogismus aus 2 und 3
5
Aus dem Gesetz Regel
, der und 4
Die Konklusion besagt also, dass eine bestimmte Proposition von einem bestimmten Sprecher nicht kohärent behauptet werden kann. Ausgeschlossen ist aber weder, dass ein anderer eine äquivalente Proposition (in der z. B. „ich“ durch den Namen des ursprünglichen Sprechers ersetzt wird) behaupten, noch, dass diese Behauptung wahr sein kann.¹³⁴ Wie im Abschnitt zur pragmatischen Selbstaufhebung bereits erwähnt, ist es diese Form der Selbstaufhebung, die häufig gemeint ist, wenn die Rede davon ist, dass eine bestimmte Position pragmatisch selbstaufhebend oder pragmatisch inkonsistent ist. Es geht dabei nicht um eine Beschreibung des Aktes des Vorbringens der Position selbst, wie „sagen“ oder „schreiben“ im Bereich der pragmatischen Selbstaufhebung in Mackies
einen bestimmten Inhalt ist in dieser Lesart lediglich dadurch charakterisiert, dass man bestimmte Propositionen kohärent behaupten können muss, das heißt aber nicht unbedingt, dass man ihnen zustimmen müsste, wenn sie einem vorgelegt würden, man darf sie nur nicht bestreiten oder mit ihnen Inkompatibles behaupten. Letzteres ist es dann auch, woran operational selbstaufhebende Positionen scheitern. Unter dieser Lesart des Operators a ist eine Verpflichtung also als ein negatives Verhältnis zu einer Proposition zu verstehen: Man darf nichts behaupten, was sie ausschlösse. Für einige weitere Kritikpunkte an Mackies Vorgehen bzgl. seiner Operatoren für die operationale Selbstaufhebung siehe Bonney (1966). Vgl. Mackie (1964), 197.
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2 Selbstaufhebung
Terminologie, sondern um bestimmte Verpflichtungen, die als mit dem Akt der Behauptung untrennbar verbunden betrachtet werden. Diese Verpflichtungen können z. B. sein, dass der Sprecher die entsprechende Proposition glaubt oder sogar, dass er sie weiß; Letzteres ließe sich dann in einer Kritik des Skeptizismus verwenden.¹³⁵ Für eine Kritik des Relativismus böte sich das Ansetzen bei einer Verpflichtung auf die absolute Wahrheit des Behaupteten an. Das Problem mit vielen solchen philosophisch interessanten Verpflichtungen ist, dass sie umstritten sind. Wie Mackie sagt: „In order to determine which propositions are operationally selfrefuting we must decide which operators are weakly prefixable, that is, we must decide in what circumstances asserting one thing commits us to asserting something else.“¹³⁶ Aber das ist mit Sicherheit keine triviale Aufgabe. Nun gibt es sehr wohl Theorien dessen, worauf man sich durch eine Behauptung verpflichtet, die deutlich überzeugender sind als Mackies knappe Überlegungen, aber der entscheidende Punkt wird dadurch, dass es gute Gründe dafür gibt, davon auszugehen, dass man sich durch eine Behauptung z. B. darauf verpflichtet, dass man das Behauptete glaubt, nicht gemindert. Denn auch überzeugende Theorien bleiben, solange sich nicht zeigen lässt, dass der Vertreter einer durch ein Selbstaufhebungsargument zu kritisierenden Position die entsprechende Konzeption des Behauptens teilt, von außen an die entsprechende Position herangetragene Zusatzannahmen. Insoweit ein konkretes Selbstaufhebungsargument auf solchen aus der angegriffenen Theorie selbst nicht hervorgehenden Annahmen beruht, ist es aber eben keine voraussetzungslose Widerlegung, oder genauer: kein voraussetzungsloser Nachweis, dass eine bestimmte Position nicht kohärent zu behaupten ist. Vielmehr wird in einem solchen Fall eine Inkompatibilität zwischen einer Position und der Theorie des Behauptens im Hintergrund des Argumentes aufgezeigt. Damit soll nicht gesagt sein, dass ein solches Argument nutzlos ist, der Aufweis einer solchen Inkompatibilität kann sehr wichtig sein, jedenfalls dann, wenn der Vertreter der angegriffenen Position keine eigene Theorie des Behauptens vorweisen kann, und vor allem dann, wenn keine solche Theorie zu finden ist, mit der die fragliche Position verträglich wäre. Denn Letzteres würde immerhin heißen, dass wir (möglicherweise noch) nicht in der Lage sind zu verstehen, wie die entsprechende Position vorgebracht werden kann und ob es überhaupt eine Möglichkeit gibt. Das ist natürlich ein guter Grund, eine Theorie abzulehnen, und deswegen wäre ein solches Selbstaufhebungsargument auch
Für Überlegungen in diese Richtung siehe Mackie (1964), 198 f. Mackie (1964), 198.
2.2 Formale Überlegungen zur Selbstaufhebung
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sowohl ein gutes Argument gegen eine Theorie als auch, für deren Vertreter, ein wichtiger Hinweis darauf, wo die Theorie noch erhebliche Lücken hat.¹³⁷ Mackies Interpretation des Ergebnisses der operationalen Selbstaufhebung als die Feststellung, dass die fragliche Position nicht vorgebracht werden kann, da anders als bei der pragmatischen Selbstaufhebung nicht nur eine Darstellungsform sondern alle versperrt sind,¹³⁸ ist für solche Fälle allerdings zu stark, da wie gesagt ein vorgefertigtes Verständnis, dessen, was es heißt, etwas zu behaupten, von dem entsprechenden Argument vorausgesetzt werden muss. Hier scheint eher eine Einschätzung des Ertrages eines solchen Arguments ähnlich der von Platons Argument gegen Protagoras angemessen.
2.2.4 Ad Hominem Angesichts der erheblichen Rolle, die es für die Bewertung von Vorwürfen operationaler Selbstaufhebung spielt, welche Konzeption der Behauptung zugrunde gelegt wird, bzw. woher die Berechtigung für die Prämisse ap % adp stammt, soll hier eine Unterscheidung eingeführt werden, die ursprünglich von Passmore stammt und die Castagnoli als wichtige Ergänzung zu Mackies Formen der Selbstaufhebung vorschlägt. Wie Mackie unterscheidet Passmore zwischen drei Formen von Selbstaufhebung: der pragmatischen, die er ähnlich versteht wie Mackie,¹³⁹ der absoluten, die am ehesten der operationalen Selbstaufhebung bei Mackie entspricht, und der ad-hominem-Selbstaufhebung, die bei Mackie kein explizites Gegenstück hat. Dass Mackie, der seine Ausführungen zur Selbstaufhebung in Auseinandersetzung mit Passmore vorstellt,¹⁴⁰ keine Verwendung für die ad-hominem-Version hat, ist angesichts seiner formalen Herangehensweise kaum verwunderlich, denn Passmores ad-hominem-Selbstaufhebung unter-
Dieses potentielle Defizit wird von einigen relativistischen Autoren auch aktiv zu vermeiden versucht. So entwirft z. B. Kölbel eine Konzeption des Behauptens, die seinem relativistischen Ansatz angemessen ist (und dies geschieht im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Fragen der Selbstaufhebung). Siehe Kölbel (2002), 124 ff. Vgl. Mackie (1964), 197. Wobei hier mit „ähnlich“ vor allem gemeint ist, dass er ähnliche Aussagen für pragmatisch selbstaufhebend hält wie Mackie und dass er sie in einer Weise beschreibt, nämlich als das Geben eines Gegenbeispiels im selben Atemzug (oder in derselben Schreibbewegung etc.) mit dem Aufstellen einer These, die von Mackies Herangehensweise nicht allzu weit entfernt ist. Eine formale Behandlung der Selbstaufhebung findet sich bei Passmore nicht. Mackie bezieht sich z. B. auf Passmores Ausführungen zu Descartes, Moore und Protagoras in Mackie (1964), 198 ff. und auf seine allgemeineren Überlegungen zur Selbstaufhebung in Mackie (1964), 195 FN 5; 202.
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scheidet sich von der pragmatischen primär dadurch, woher bestimmte Annahmen stammen: vom Kritisierten oder vom Kritisierenden. Für die Frage der logischen Mechanik pragmatischer Selbstaufhebung ist diese Unterscheidung offensichtlich unwichtig,¹⁴¹ aber wenn es an die Frage geht, wie Selbstaufhebung in der Kritik philosophischer Positionen nutzbar zu machen ist, wird sie relevant. Warum das so ist, lässt sich am besten an einem Beispiel verdeutlichen. Da es nicht ganz einfach ist, unkomplizierte Beispiele pragmatischer Selbstaufhebung unter tatsächlich vertretenen philosophischen Positionen zu finden,¹⁴² vor allem wenn sie sich natürlich an die Standardbeispiele pragmatischer Selbstaufhebung wie „Ich sage, dass ich nichts sage“ anschließen sollen, wird hier ein fiktionales Beispiel gewählt. Angenommen, jemand verträte die Auffassung, er sei ein Gehirn im Tank,¹⁴³ und spräche diese Auffassung auch aus, so würde er wahrscheinlich auch die These vertreten und zumindest auf Nachfrage aussprechen, dass er gerade nicht spricht. Schließlich hat ein Gehirn im Tank weder einen Mund, noch produziert es Schallwellen, indem es einen solchen benutzt. Er wäre möglicherweise der Auffassung, dass er mit einem anderen Gehirn im selben Tank kommuniziert, dies aber physisch völlig anders vonstattengeht, als es für ihn und seinen Gesprächspartner den Anschein hat. Die Aussage des angeblichen Gehirns im Tank wäre also als pragmatisch selbstaufhebender Akt beschreibbar: Es sagt, dass es nichts sagt. Allerdings ist diese Beschreibung seines Aktes keine, der der TankTheoretiker zustimmen würde: Innerhalb seiner Theorie sind der Akt, dessen Vorkommen er bestreitet, nämlich Sprechen, und der Akt, den er ausführt, nämlich Kommunikation mit einem anderen Gehirn im Tank, deutlich zu unterscheiden. Der Tank-Theoretiker würde seinen Akt eher als korrekt beschreibbar mit einer Instanz des Schemas e&'(p dp" denn als mit einer Instanz des Schemas d&'(p dp" (wie wir es aus Mackies Ausführungen zur pragmatischen Selbstaufhebung kennen) auffassen, wobei der Operator e für so etwas wie „Ich kommuniziere in Gehirn-im-Tank-typischer Weise, dass“ steht.
Jedenfalls solange es sich nicht um eine Betrachtung im Rahmen einer epistemischen Logik handelt. Weiter unten werden noch kurz Mackies eigene Beispiele angesprochen werden, dort sollte dann auch deutlich werden, dass sie alles andere als leicht zu durchdringen sind. Allerdings kein Gehirn im Tank im Sinne des von Putnam kritisierten Szenarios, also keines, das schon sein ganzes Leben ein Gehirn im Tank war, in einem Universum, das keine bewusstseinsfähigen Wesen außer ihm und anderen Gehirnen im selben Tank enthält. Um die von Putnam aufgebrachten Schwierigkeiten von vornherein zu umgehen, hält sich unser fiktionaler Gesprächsteilnehmer für erst vor kurzer Zeit seines Körpers beraubt und in den Tank verfrachtet.
2.2 Formale Überlegungen zur Selbstaufhebung
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Der Tank-Theoretiker kann also, so wie das Beispiel formuliert ist,¹⁴⁴ berechtigterweise der pragmatischen Selbstaufhebung bezichtigt werden, aber nichts zwingt ihn dazu, diesen Vorwurf anzunehmen. Die Situation ähnelt Moores Versuch, den Skeptiker durch das Hochhalten seiner Hand zu widerlegen, nur dass in unserem Fall der Gegner des Tank-Theoretikers gewissermaßen nicht seine eigene, sondern die Hand seines Gesprächspartners hochhält. Wie Passmore in Bezug auf ein anderes Beispiel sagt: „Since it is […] always an empirical question whether […] he has uttered a certain statement, it will follow that he can always – in principle, even if sometimes with almost inconceivable hardihood – deny that he has in fact […] uttered the statement.“¹⁴⁵ Der Tank-Theoretiker hat seine eigene, mit seiner Theorie kohärente Beschreibung oder auch Erklärung dessen, was er gerade getan hat, und ein Vorwurf der pragmatischen Selbstaufhebung liefert ihm keinen bzw. keinen eigenständigen Grund, seine Position aufzugeben. Denn um seine eigene Handlung als pragmatisch selbstaufhebend zu sehen, müsste er sich bereits die Betrachtungsweise seines Gegenübers, also dessen Beschreibungen alltäglicher Vorgänge, die mit seiner Sicht der Dinge so gar nichts zu tun haben, zu eigen gemacht haben.¹⁴⁶ Insofern ist ein Vorwurf pragmatischer Selbstaufhebung dieser Art in erster Linie für denjenigen, der den Vorwurf vorbringt, interessant und weniger ein geeignetes Mittel, den Gesprächspartner zu überzeugen. Von dieser Form des Vorwurfs der pragmatischen Selbstaufhebung unterscheidet Passmore die ad-hominem-Selbstaufhebung. Diese soll nicht von einer Interpretation des Geschehens durch den Kritisierenden, oder wie vor allem Mackies Behandlung nahelegt und das oben aufgestellte Beispiel unterstreicht, von den Tatsachen bzgl. des Geschehens ausgehen. Stattdessen soll sie ausschließlich auf Aussagen, die der Kritisierte selbst aufstellt bzw. zugibt, beruhen.¹⁴⁷ Passmore nennt die Beispielsätze „Ich denke manchmal, dass ich nicht
Schließlich war die Rede davon, dass er tatsächlich etwas ausspricht. Passmore (1961), 63. Es soll hier noch einmal betont werden, dass in dem oben formulierten Beispiel die Betrachtungsweise des Gegners des Tank-Theoretikers die korrekte ist. Das ist wichtig, denn man sollte zwei unterschiedliche Probleme dieser Form von Selbstaufhebungsvorwurf getrennt halten. Das eine wäre eine petitio principii in einer Situation, in der nicht entschieden ist, wessen Interpretation der Geschehnisse korrekt ist. Worauf aber hier hingewiesen werden soll, ist, dass, selbst wenn ‚von außen‘ völlig klar ist, welche Interpretation richtig ist, der Vorwurf der pragmatischen Selbstaufhebung keine Überzeugungskraft gegenüber dem philosophischen Gegner entfalten kann, jedenfalls nicht ohne ein unabhängiges überzeugendes Argument für die eigene Interpretation, das selbst schon ein starkes Argument gegen die Theorie des Gegners darstellen müsste. Insofern entspricht die ad-hominem-Selbstaufhebung viel stärker dem bereits angesprochenen Ideal der Selbstaufhebung, dass eine Position nur aus sich selbst heraus kritisiert werden
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denken kann“ und „Ich sage manchmal, dass ich nicht sprechen kann“.¹⁴⁸ Beide Aussagen können als Instanzen des von Mackie gegebenen Schemas zur pragmatischen Selbstaufhebung d&'(p dp" gelesen werden. Aus Passmores Verwendung seines Konzeptes wird klar, dass er es für nicht unbedingt notwendig hält, dass eine Aussage dieser Form explizit in der entsprechenden Theorie vorkommt, es reicht, wenn sie aus unterschiedlichen Aussagen, die der entsprechende Theoretiker macht, abzuleiten ist.¹⁴⁹ Das ist nicht ganz unwichtig, denn Theorien, die Aussagen wie die gerade gegebenen Beispiele explizit enthalten, dürften sich nur selten finden, nicht zuletzt, weil der Konflikt zwischen den beiden Bestandteilen der Aussage in einer solchen Formulierung sofort offensichtlich wird. Das gilt natürlich nur für Theorien, die den Binnensatz (also z. B., dass man nicht denken kann) als wahr behaupten wollen. Die Behauptung z. B., dass man manchmal denkt, dass man nicht denken kann, kann, wie wir aus Mackies Ausführungen zur pragmatischen Selbstaufhebung wissen, ohne weiteres wahr sein. Aber es ist dieser Behauptung deutlich anzusehen, dass das Gedachte nicht stimmen kann, wenn es denn tatsächlich gedacht wird. Diese letzte Bemerkung zeigt sehr deutlich eine Beschränkung, der ein Vorwurf der ad-hominem-Selbstaufhebung unterliegt.¹⁵⁰ Zwar erlaubt er es, wie Passmore feststellt, dem Argumentationspartner unausweichlich vor Augen zu führen, dass seine Gesamtposition nicht konsistent ist, aber er erlaubt aus sich heraus kein Urteil darüber, welcher der Bestandteile der selbstaufhebenden Aussage fehlerhaft ist.¹⁵¹ Übertragen auf unser Beispiel mit dem Tank-Theoretiker sieht die Situation also folgendermaßen aus: Der Tank-Theoretiker behauptet sowohl, dass er ein soll. Dass viele Verfechter der Selbstaufhebung als überlegener Argumentationsform mit dieser Variante trotzdem nicht glücklich werden dürften, wird sich zeigen, wenn es um die Frage geht, was eine ad-hominem-Selbstaufhebung eigentlich zeigt. Vgl. Passmore (1961), 63. Vgl. Passmore (1961), 64 ff. Dort beschäftigt sich Passmore mit einem Selbstaufhebungsvorwurf gegen Protagoras, den er in Platons Theaitetos sieht. Laut Passmore besteht eine Unvereinbarkeit zwischen Protagorasʼ Behauptung, dass kein Mensch mehr weiß als ein anderer, und seinem Anspruch, andere zu unterrichten. Dieses Problem der Protagoreischen Position steht natürlich in engem Zusammenhang mit dem oben ausführlich besprochenen Problem des Konflikts der homo-mensura-These mit den meisten Vorstellungen zu argumentativer Auseinandersetzung und ihrer Zielsetzung. Viele Autoren neben Passmore halten es für ein wichtiges und interessantes Argument gegen Protagoras. Zu denen, die es besonders betonen und in deren Ausführungen auch der enge Zusammenhang beider Probleme deutlich zu sehen ist, gehören z. B. Polansky (1992), 109 – 153 und Stern (2008), 120 – 161. Diese Beschränkung könnte ein weiterer Grund sein, warum Mackie sich für diese Unterscheidung zwischen Formen der Selbstaufhebung nicht zu interessieren scheint. Vgl. Passmore (1961), 66 f.
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sprachunfähiges Gehirn im Tank ist, als auch, dass er diese Aussage gerade ausgesprochen hat. Es ist unmöglich, dass beide Behauptungen wahr sind, und das können wir dem Tank-Theoretiker auch beweisen, denn „the strange thing about such remarks [wie „Ich sage, dass ich nicht sprechen kann“] is that we can use them to deduce the conclusion that what is said […] must be false.“¹⁵² Aber die Konklusion, dass falsch ist, was gesagt wird, folgt eben nur, solange die Festlegung darauf, dass es gesagt wird, beibehalten wird. Der Tank-Theoretiker hat also sowohl die Möglichkeit, die Aussage zurückzuziehen, dass er ein nicht sprachfähiges Gehirn im Tank sei, als auch die Möglichkeit, die Aussage zurückzuziehen, dass er das (bzw. dass er irgendetwas) gesagt habe. Beides sind Wege, die Konsistenz seiner Gesamtposition wiederherzustellen, und ein einfaches Berufen auf normale menschliche Unachtsamkeit und einen Fehler beim Überblicken sämtlicher Implikationen seiner Position würde genügen, um eine Entscheidung gegen die Aussage, er habe gesprochen, zu begründen. Für die Frage, ob man einen Gesprächspartner mit einer solchen ad-hominemSelbstaufhebungsstrategie überzeugen kann, wird es also entscheidend sein, welche seiner beiden konfligierenden Überzeugungen stärker ist: die, dass seine Theorie stimmt, oder die, dass seine Beschreibung seines Verhaltens stimmt. Auch die ad-hominem-Selbstaufhebung ist also, obwohl sie ein sicherer Weg ist, tatsächlich die Position des Gesprächspartners zu treffen und nicht potentiell komplett an ihr vorbeizureden, kein sicherer Weg dazu, ihn zur Aufgabe der zur Diskussion stehenden Theorie zu bewegen. Diese Überlegungen zu den unterschiedlichen Rollen, die Selbstaufhebungsvorwürfe beider Arten in der philosophischen Auseinandersetzung spielen können, zeigt deutlich, dass eine solche Unterscheidung sinnvoll und wichtig ist, auch wenn Mackies formales Instrumentarium nicht zwischen den beiden Varianten differenziert. Wie bei Castagnoli wird deswegen im Folgenden von strikter pragmatischer Selbstaufhebung einerseits und ad-hominem-pragmatischer Selbstaufhebung¹⁵³ andererseits die Rede sein.
Passmore (1961), 63 (Hervorhebungen seine). Das ist genau das, was Mackie in seiner Ableitung des Gesetzes der pragmatischen Selbstaufhebung tut. Es sollte hier noch einmal betont werden, dass pragmatische und ad-hominem-Selbstaufhebung von der ihnen zugrundeliegenden Logik her nicht zu unterscheiden sind. Was sie unterscheidet, ist ihr unterschiedliches Verhältnis zu einem Kontext philosophischer Argumentation. Castagnoli spricht eigentlich, wie Passmore, nur von ad-hominem-Selbstaufhebung und nicht von ad-hominem-pragmatischer Selbstaufhebung, da aber weiter unten der Versuch gemacht wird, ebenfalls wie bei Castagnoli, diese Unterscheidung auch auf die operationale Selbstaufhebung anzuwenden, ist der Zusatz der Klarheit und terminologischen Einheitlichkeit halber notwendig.
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Doch der Ansatzpunkt für die Diskussion der Nützlichkeit der Kategorie der ad-hominem-pragmatischen Selbstaufhebung war eigentlich die operationale Selbstaufhebung und die Frage, woher die Berechtigung für die Annahme ap % adp stammt. Eine ausführliche Erklärung der Unterscheidung bezogen auf die pragmatische Selbstaufhebung war vor allem deswegen notwendig, weil ein gründliches Verständnis der Unterscheidung nötig ist, um zu sehen, wie man sie auf die operationale Selbstaufhebung übertragen kann, da dieser Fall bei genauerem Hinsehen komplizierter ist. Denn in einem gewissen Sinne ist Mackies operationale Selbstaufhebung bereits ein ad-hominem-Manöver. Diesen Punkt macht Castagnoli im Rahmen seiner Analyse¹⁵⁴ des antimonistischen Argumentationsganges des eleatischen Fremden in Platons Sophistes. ¹⁵⁵ Inwiefern genau die operationale Selbstaufhebung der bereits vorgestellten ad-hominem-Variante ähnelt, wird gleich noch auszuführen sein; wichtig ist zunächst nur, dass diese Ähnlichkeit zur Einführung einer ‚stärkeren‘ Variante einlädt, die der strikten pragmatischen Selbstaufhebung deutlich näher steht. Andererseits ist die operationale Selbstaufhebung, so wie sie Mackie beschreibt, wie bereits erwähnt, nicht klar festgelegt in der Frage, woher die in das Argument eingehenden Annahmen stammen.¹⁵⁶ Insofern lässt sich hier zwischen einer ad-hominem-Variante unterscheiden, die darauf besteht, dass alle Annahmen (also insbesondere das Konzept der Behauptung, das festlegt, welche Operatoren im schwachen Sinne prefixable sind) aus der kritisierten Theorie bzw. vom zu kritisierenden Gesprächspartner zu stammen haben, und einer strikten Variante, die von einem eigenen, als korrekt angenommenen Konzept der Behauptung ausgeht, um den Beweis ans Laufen zu bringen. Hier handelt es sich also, analog zur Unterscheidung von strikter pragmatischer und ad-hominem-pragmatischer Selbstaufhebung, um zwei unterschiedliche Relationen zum Kontext einer philosophischen Auseinandersetzung, nicht um einen formalen Unterschied. Die Bezeichnung ad hominem besagt dabei in
Siehe Castagnoli (2010), 218 – 224. Siehe Platon (1990b), 244b-c. Wie in der Beschreibung der pragmatischen Selbstaufhebung tendiert Mackie auch hier m. E. zur strikten Variante in dem Sinne, dass er keinen Wert darauf legt, dass die Annahmen vom kritisierten Theoretiker geteilt werden, was man natürlich vor allem daran merkt, dass er versucht, seine Auswahl der Operatoren einigermaßen differenziert zu begründen, insbesondere im Fall des Wissens. Aber viele seiner Aussagen treffen auf beide Varianten zu; und insofern ist eine eindeutige Aussage dazu, ob operationale Selbstaufhebung im Sinne Mackies die ad-hominemVariante, die strikte Variante oder vielleicht sogar beides umfasst – vielleicht weil er die Unterscheidung für eine rein formale Betrachtung für hinfällig hält und seine Erläuterungen zu den Operatoren mehr als Verständnishilfen denn als Thesen betrachtet –, nur schwer zu treffen.
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erster Linie, dass der Gegner nur aus seinen eigenen Annahmen heraus kritisiert werden soll;¹⁵⁷ und so soll sie hier auch weiterhin benutzt werden, in diesem Sinne wird also von ad-hominem-operationaler Selbstaufhebung die Rede sein, wenn der Kritisierte seinen eigenen Maßstäben nach nicht in der Lage sein kann, seine Position als kohärente Behauptung vorzubringen.Von strikter operationaler Selbstaufhebung wird hingegen gesprochen werden, wenn ein bestimmtes Konzept des Behauptens als das korrekte zugrunde gelegt wird, ohne Rücksicht auf die Frage, wie der Kritisierte zu diesem Konzept steht. In welchem anderen Sinne kann man nun davon sprechen, dass die strikte operationale Selbstaufhebung ein ad-hominem-Manöver ist? Castagnolis Grund dafür, die Möglichkeit einer ‚stärkeren‘ Version der operationalen Selbstaufhebung aufzubringen, scheint zu sein, dass die operationale Selbstaufhebung von ihrem Ergebnis her der ad-hominem-pragmatischen Selbstaufhebung ähnelt. Diese Motivation spricht zumindest aus seiner Frage: „When incoherently asserting an operationally self-refuting proposition, […] does one thereby end up falsifying it, or does one ‚only‘ commit oneself to contradiction?“¹⁵⁸ Immerhin versucht ein Vorwurf der operationalen Selbstaufhebung zu zeigen, dass eine bestimmte Position nicht kohärent behauptet werden kann, weil man sich mit ihrer Behauptung auf einen Widerspruch verpflichten würde; und die ad-hominem-Variante der pragmatischen Selbstaufhebung läuft darauf hinaus zu zeigen, dass der entsprechende Argumentationspartner sich auf zwei konfligierende Aussagen (seine Theorie und seine Beschreibung seines Vorbringens seiner Theorie) verpflichtet hat.¹⁵⁹
2.2.5 Operational-pragmatische Selbstaufhebung Die Variante des Selbstaufhebungsvorwurfs, die Castagnoli in Platons Sophistes identifiziert, ist in dem Sinne stärker, dass sie auf die Falschheit der behaupteten Position hinausläuft, wie die strikte pragmatische Selbstaufhebung, sie hat also ein ambitionierteres Beweisziel. In Castagnolis Lesart des Sophistes stellt sich das so dar,
Das scheint zumindest Passmores Motivation dafür zu sein, die Unterscheidung einzuführen, wie der Kontext der ersten Erläuterung zur ad-hominem-Selbstaufhebung nahelegt. Vgl. Passmore (1961), 63. Castagnoli (2010), 221. Diese Charakterisierung der ad-hominem-pragmatischen Selbstaufhebung ist strikt auf ihren Ertrag für die Diskussion einer Theorie bezogen. Die Konklusion des zur Stützung des Vorwurfs zu verwendenden Beweises bleibt natürlich, dass die entsprechende Theorie bzw. die Binnenproposition falsch ist, wenn die Beschreibung stimmt.
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dass der eleatische Fremde den Monisten vorwirft, ihre Position nicht artikulieren zu können, ohne deren Falschheit zu demonstrieren, da sie dazu mehr als ein Wort verwenden müssten, während ihre Theorie nur die Existenz genau eines Gegenstandes zuließe. Auch der Mechanismus, der dieser Form von Selbstaufhebung zugrunde liegt, soll laut Castagnoli dem der pragmatischen ähnlich sein: „In our present case it seems that proper falsification is at stake, since, according to the argument, by their assertion the monists actually exemplify the existence of more than one word.“¹⁶⁰ Das heißt, die Behauptung selbst soll, wie bei der strikten pragmatischen Selbstaufhebung, der (bzw. ein) false-maker der behaupteten Proposition sein. Man könnte in der Tat erwarten, eine zu dieser Beschreibung passende Variante der Selbstaufhebung bei Mackie zu finden, nicht zuletzt weil Mackie sich bisweilen so ausdrückt,¹⁶¹ als wäre die operationale Selbstaufhebung „a broadening of the mechanism of his pragmatic self-refutation to all the possible ways of presenting a certain proposition“.¹⁶² Aber genau genommen ist sie das nicht, und Mackies formale Überlegungen bieten keine passende Charakterisierung des von Castagnoli beschriebenen Arguments an. Die Logik der operationalen Selbstaufhebung ist bei genauem Hinsehen nicht einfach von der der pragmatischen verschieden, sondern mit einer strikten falsifizierenden Lesart, wie sie bei der pragmatischen Selbstaufhebung möglich war, vollkommen unvereinbar. Da das Spezifikum der strikten Lesart, dass die Beschreibung des Aktes für wahr oder auch der Akt für tatsächlich stattgefunden genommen wird, und der entsprechende Akt im Falle der operationalen Selbstaufhebung das kohärente Behaupten wäre,¹⁶³ müsste eine in diesem Sinne strikte Lesart der Konklusion des Beweises widersprechen. Anders gesagt: Das Ergebnis der operationalen Selbstaufhebung ist, dass eine bestimmte Proposition (von einem bestimmten Sprecher) nicht kohärent behauptet werden kann, aber damit das kohärente Behaupten in der Lage sein sollte „[to] actually exemplify the existence of more than one word“,¹⁶⁴ bzw. damit es ein Vorkommnis sein könnte, dessen Vorkommen die Theorie widerlegt, ein false-maker eben, müsste der Akt des kohärenten Behauptens ja tatsächlich stattfinden. Dass er das aber nicht kann, dass er unmöglich ist, ist, wie gesagt, das Ergebnis des Beweises zur ope-
Castagnoli (2010), 221. Siehe z. B. Mackie (1964), 197. Castagnoli (2010), 221 (Hervorhebungen getilgt). Der Einfachheit halber wird hier vom Akt des kohärenten Behauptens gesprochen und nicht, wie es nach der hier übernommenen modifizierten Lesart des Operators eigentlich nötig wäre, von einer tatsächlichen kohärenten Behauptbarkeit. Dies hat aber keinen Einfluss auf den gemachten Punkt. Castagnoli (2010), 221.
2.2 Formale Überlegungen zur Selbstaufhebung
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rationalen Selbstaufhebung. Dieses Problem scheint Castagnoli durchaus bewusst zu sein, deswegen stellt er seine Frage danach, ob man sich nur auf einen Widerspruch festlegt oder seine eigene Aussage falsifiziert mit Bezug auf „incoherently asserting an operationally self-refuting proposition“¹⁶⁵ und nicht auf ein kohärentes Behaupten. Der logische Mechanismus einer solchen strikten operationalen Selbstaufhebung, wie Castagnoli sie in Platons Text anvisiert sieht, müsste sich also von dem von Mackie vorgeschlagenen unterscheiden. Allerdings ist dies nicht der einzige Punkt, an dem er sich unterscheiden müsste, hinzu kommt die Schwierigkeit, dass die Regeln für den Operator a von vornherein ausschließlich dazu nutzbar sind, andere Verpflichtungen des Behauptenden abzuleiten. Das a bleibt in jeder einzelnen mit ihnen ableitbaren Aussage erhalten, insofern lässt sich mit ihnen keine einfache Falschheitsaussage ableiten. Um das von Castagnoli analysierte Argument zu formalisieren, benötigt man also einen schwächeren Operator b, der nichts weiter besagt, als dass etwas von jemandem behauptet wird, ob kohärenter- oder inkohärenterweise und egal ob mündlich, schriftlich etc.; und für diesen Operator müsste es eine Regel der Form bp % dp für passende Operatoren d geben. Diese Operatoren wären dann in einem Sinne prefixable, der von seiner Stärke her zwischen Mackies absoluter und schwacher prefixability liegt. Es ist nicht ganz einfach, Beispiele für Operatoren zu finden, für die eine solche Regel plausibel klingt, aber ein relativ sicherer Kandidat, da nahe an der Tautologie, ist z. B. „Es ist aussagbar, dass …“.¹⁶⁶ Mit einer solchen Regel an der Hand lässt sich Mackies Beweis für das Gesetz der pragmatischen " ! Selbstaufhebung leicht zu einem Beweis des Gesetzes b&'(p dp" % ' '(p dp erweitern:
Castagnoli (2010), 221. Wobei aussagbar hier natürlich nicht mit aussprechbar verwechselt werden darf, sondern alle Formen der Kommunikation umfassen muss. Das platonische Argument, das Castagnoli analysiert, eignet sich hier nicht als einfaches Beispiel, weil, wie Castagnoli selbst sagt (vgl. Castagnoli (2010), 221 FN 67), die Operatoren bei diesem nicht auf Propositionen, sondern auf Sätze und andere Kommunikationsmittel angewandt werden müssten. So eine Erweiterung ist zwar durchaus möglich und sinnvoll, wie auch Mackie bemerkt (vgl. Mackie (1964), 200 FN 9), aber sie würde an dieser Stelle nur unnötig weitere Komplikationen einführen.
254
2 Selbstaufhebung
1 2
Modus Ponens aus der Regel
3
Existenzgeneralisierung aus 2
4
Negationsintroduktion aus 3
5
Konditionalintroduktion aus 1‒4
und 1
Ein Selbstaufhebungsargument dieser Form liefert also das gewünschte Ergebnis, dass der Akt der Behauptung einer bestimmten Proposition diese falsifiziert, wie z. B. im Falle der Proposition, dass es nichts gibt, was aussagbar ist. Hier kann man von einer operational-pragmatischen Selbstaufhebung sprechen, da der Mechanismus dieser Form der Selbstaufhebung dem der pragmatischen entspricht, sie aber, wie die operationale, sämtliche Möglichkeiten, eine These aufzustellen, umfassen soll.¹⁶⁷ Zuletzt ist noch anzumerken, dass die Unterscheidung zwischen einer adhominem- und einer strikten Version natürlich auch leicht auf die absolute Selbstaufhebung in der prefixability-Variante anzuwenden ist. Fände sich z. B. jemand, der die Existenz von Wahrheit bestreitet und gleichzeitig vertritt, dass es einen Wahrheitsoperator gibt, der die fragliche Eigenschaft besitzt, könnte man die ad-hominem-Version gegen ihn einsetzen. Auch hier wäre der Ertrag für die Diskussion allerdings zunächst nur der Aufweis der Unhaltbarkeit seiner Gesamtposition und nicht unbedingt die Falschheit der These der Nichtexistenz von Wahrheit.
2.2.6 Fazit Durch die Beschäftigung mit Platons Selbstaufhebungsargument und der Typologie der elementaren Formen der Selbstaufhebung mitsamt den vorgenommenen Ergänzungen hat sich vor allem eines gezeigt: dass Selbstaufhebungsargumente vielfältig sind und in sehr unterschiedlichen Formen auftreten können. Obwohl die beiden Charakteristika, die zu Beginn des Teils über Selbstaufhebungsargu Da der Mechanismus dem der pragmatischen Selbstaufhebung entspricht, kann man natürlich auch hier eine strikte und eine ad-hominem-Variante unterscheiden. Auf diese mögliche Unterscheidung soll hier aber nicht weiter eingegangen werden, da inzwischen offensichtlich sein sollte, wie sie zu treffen ist.
2.2 Formale Überlegungen zur Selbstaufhebung
255
mente erwähnt wurden, sich tatsächlich bei allen inzwischen vorgestellten Formen wiederfinden, erweist sich im Nachhinein die Allgemeinheit und Vagheit in der Formulierung dieser Charakteristika als wichtig, denn die Weise, in der unterschiedliche Argumentformen unter sie fallen, kann sich offenbar extrem unterscheiden. Die in den Selbstaufhebungsargumenten nutzbar gemachte direkte und indirekte Selbstbezüglichkeit nahm z. B. die Form eines Ausschlusses bezogen auf die Möglichkeiten ihrer eigenen Artikulation bei der pragmatischen Selbstaufhebung an; und bei Platons Argument gegen Protagoras hatten wir es mit einer Anwendung der fraglichen These auf das Bestreiten derselben zu tun. Die Unterschiede bzgl. der Konklusion der jeweiligen Argumente sind ebenfalls erheblich, so kennzeichnet z. B. die absolute Selbstaufhebung die fragliche These als falsch, während die operationale Selbstaufhebung die fragliche These als nicht kohärent behauptbar herausstellt. Diese Unterschiede vervielfältigen sich noch, wenn man nicht nur die logischen Mechanismen, auf denen bestimmte Selbstaufhebungsvorwürfe aufbauen, in Betracht zieht, sondern auch ihre Anbindung an eine philosophische Auseinandersetzung. Die Kategorie der ad-hominem-Selbstaufhebungsvorwürfe erlaubt einen klaren Blick auf Inkohärenzen in komplexen Positionen ohne eine Festlegung bzgl. der Frage, welcher Bestandteil abzulehnen ist, zu verlangen, während ihr Gegenstück darauf beruht, einen bestimmten Hintergrund von grundlegenden Annahmen stabil zu halten, um auf dieser Grundlage eine Einzelthese angreifen zu können. Was sich bis jetzt nicht finden ließ, ist eine Form der Selbstaufhebung, die dem Ideal der Widerlegung einer Einzelthese nur aus sich selbst heraus, ohne irgendwelche ergänzenden Annahmen zu benötigen, entspricht. Aber sowohl Mackies Typologie als auch Castagnolis Arbeit an antiken Selbstaufhebungsargumenten werfen Licht darauf, warum Selbstaufhebung oft als diesem Ideal entsprechend betrachtet wird. Denn es ist nicht nur so, dass die für die Durchführung eines Selbstaufhebungsargumentes in der strikten Version notwendigen Annahmen in der Regel einen hohen Grad an Verbreitung bzw. Selbstverständlichkeit besitzen und von sehr grundlegender Natur sind. Darüber hinaus sind sie keine Annahmen, die oft explizit gemacht werden, sondern eher solche, die in den meisten argumentativen Auseinandersetzungen komplett in der Art und Weise, wie bestimmte Begriffe verwendet werden, bzw. in der Bedeutung bestimmter Begriffe (z. B. spielt die Bedeutung von „Wahrheit“ oder „kohärente Behauptung“ eine entscheidende Rolle in Mackies Argumentation) oder in den Regeln eben jener argumentativen Auseinandersetzungen (wie z. B. in dem komplexen Zusammenspiel von Bestreiten, Negation, Qualifizierung und Zustimmung im Argument gegen Protagoras) aufgehen. Insofern ist es nur allzu verständlich, dass solche Annahmen oft nicht als Annahmen erkannt werden, bevor eine formale
256
2 Selbstaufhebung
Analyse wie die von Mackie, bzw. seine Bedingungen für passende Operatoren, sie deutlich sichtbar macht. Doch dass auch Selbstaufhebungsargumente nicht voraussetzungslos sind, macht sie natürlich nicht zu schlechten Argumenten. Bei der ad-hominem-Variante ist das offensichtlich, schließlich ist das Aufzeigen innerer Unstimmigkeiten in Theorien eines der überzeugendsten Mittel philosophischer Widerlegungsarbeit. Doch auch die äußeren Unstimmigkeiten bzw. notwendige Falschheit, Unbehauptbarkeit etc. auf einem bestimmten Hintergrund von grundlegenden Annahmen, die durch strikte Selbstaufhebungsargumente ans Licht befördert werden, haben einen offensichtlichen Nutzen. Schlechte Argumente sind solche Argumente nur dann, wenn sie den Aussagen der kritisierten Theorien eklatant zuwiderlaufende und in ihr explizit abgelehnte Annahmen benutzen, wie z. B. wenn alethische Relativismen auf dem Hintergrund eines absolutistischen Wahrheitsbegriffs widerlegt werden sollen. Aber viele Selbstaufhebungsargumente begeben sich mit ihren Annahmen in Bereiche, die in der zu kritisierenden Theorie nicht behandelt werden, und zeigen dabei nicht ohne weiteres sichtbare Unstimmigkeiten zwischen beiden auf. Insofern sind solche Argumente auf jeden Fall informativ, da sie zeigen, dass bestimmte Theoriebausteine keinesfalls miteinander kombiniert werden können. Deswegen können Selbstaufhebungsargumente helfen, die Möglichkeiten, die einer bestimmten Theorie zur Verfügung stehen, um den eigenen Status als Theorie zu verstehen, zu umgrenzen, indem sie einige als nicht kompatibel ausschließen. Dies wird eines der Projekte sein, die in der Untersuchung konkreter Selbstaufhebungsargumente im nächsten Teil dieser Arbeit verfolgt werden. Aber dieser konstruktive Nutzen bildet natürlich nicht die einzige Perspektive, unter der man solche Selbstaufhebungsargumente betrachten kann. Sie können sehr wohl auch starke Gründe zur Ablehnung bestimmter Theorien liefern. Wo eine Theorie nicht in der Lage ist, ihren eigenen Status, ihren eigenen Sinn und Zweck oder ihre eigene Vorgehensweise zu erklären und wo auch keine andere Theorie zur Verfügung steht, die zur Ergänzung herangezogen werden könnte, ist das durchaus ein guter Grund, sie abzulehnen. Dasselbe gilt, wo eine durch ein Selbstaufhebungsargument bedrohte Theorie mit Annahmen in Konflikt steht, die sehr viel stärker begründet sind als die Theorie selbst. Gerade auch um hier eine informierte Einschätzung vornehmen zu können, ist es essentiell, dass die betreffenden Annahmen hinter den Selbstaufhebungsargumenten identifiziert werden. Nur so wird eine bewusste Reflexion bzgl. der Verzichtbarkeit solcher Annahmen ermöglicht.
3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus Nachdem nun eine Definition des Relativismus vorliegt, ein Einblick in die unterschiedlichen Ausprägungen relativistischer Thesen gewonnen wurde und ein grundlegendes Verständnis für Selbstaufhebungsargumente und die Formen, die diese annehmen können, entwickelt wurde, sollen in diesem Abschnitt konkrete Selbstaufhebungsargumente gegen die verschiedenen Formen des Relativismus und vor allem deren Erfolgsaussichten untersucht werden. Bei der Auswahl der Argumente wurde einerseits darauf geachtet, dass ein möglichst breites Spektrum unterschiedlicher Argumente abgedeckt wird, und andererseits darauf, dass jedes Argument eine gewisse Plausibilität besitzt und kein offensichtlicher Zirkelschluss oder auch eine petitio principii etwa der Form „Der Relativismus ist relativ wahr, also ist er nicht wirklich wahr“ vorliegt. Trotzdem wird die Untersuchung der Argumente in vielen Fällen ergeben, dass sie mit absolutistischen Annahmen arbeiten, um die absolutistische Position gegen relativistische Angriffe zu verteidigen, und somit als komplexe Zirkelschlüsse einzustufen sind. Der Versuch, möglichst unterschiedliche und plausible Selbstaufhebungsargumente darzustellen, hat den Nebeneffekt, dass die deutliche Mehrheit der hier besprochenen Argumente sich gegen den alethischen Relativismus richtet. Denn einerseits galt es zu vermeiden, nahezu gleiche Argumente z. B. gegen den alethischen und den epistemischen Relativismus zu untersuchen, und andererseits sind in solchen Fällen die Erfolgsaussichten gegen den alethischen Relativismus in der Regel besser, da dieser die stärkere These ist. Ein weiterer Grund für ein deutliches Übergewicht der Argumente gegen den alethischen Relativismus ist allerdings auch, dass dieser eindeutig das beliebteste Ziel für Selbstaufhebungsargumente darstellt. Dies hat damit zu tun, dass er mehr Ansatzpunkte für Selbstaufhebungsvorwürfe bietet. Der Abschnitt ist so aufgebaut, dass die Selbstaufhebungsargumente gegen eine bestimmte Variante des Relativismus jeweils nacheinander behandelt werden. Sie bauen zum Teil aufeinander auf, indem spätere Argumente die ‚üblichen‘ relativistischen Antworten auf ein früheres Argument zu ihrem Ausgangspunkt nehmen. Den Anfang machen Selbstaufhebungsargumente gegen den epistemischen Relativismus. Als nächstes werden dann einige Selbstaufhebungsargumente gegen den Bedeutungsrelativismus und den metaphysischen Relativismus vorgestellt; diese beiden Varianten werden zusammen behandelt, da in der Regel zwischen beiden kein Unterschied gemacht wird, sie werden schlicht unter conceptual relativism (dessen Beschreibung dann meistens eher auf den Bedeutungsrelativismus zutrifft) zusammengefasst, und somit Selbstaufhebungsargumente gegen den metaphysihttps://doi.org/10.1515/9783110584264-005
258
3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
schen Relativismus als solchen Mangelware sind.¹ Die Betrachtung schließt mit Selbstaufhebungsargumenten gegen den alethischen Relativismus, die radikalste Form des Relativismus, die Selbstaufhebungsargumenten die größte Angriffsfläche bietet.
3.1 Selbstaufhebungsargumente gegen den epistemischen Relativismus 3.1.1 Siegels UVNR-Argument und der epistemische Relativismus Harvey Siegel bietet in seinem Buch Relativism Refuted neben detaillierten kritischen Auseinandersetzungen mit den Theorien einiger Relativisten (insbesondere Kuhn) auch zwei Selbstaufhebungsargumente an, die gegen sämtliche Formen dessen, was er als „epistemological relativism“ bezeichnet,² anwendbar sein sollen. In diesem Kapitel soll sein UVNR-Argument³ in Anwendung auf den epistemischen Relativismus betrachtet werden, sein zweites Selbstaufhebungsargument wird weiter unten⁴ als Argument gegen den alethischen Relativismus in Betracht gezogen werden. Bei der Betrachtung des UVNR-Arguments wird neben Siegels eigenen Überlegungen auch auf die auf seiner Arbeit aufbauenden Ausführungen Mostellers zurückgegriffen werden, wo Siegels eigene Formulierungen unklar bleiben. Siegels Formulierung des UVNR-Arguments, das er, wie auch sein zweites Selbstaufhebungsargument auf seine Lektüre von Platons Theaitetos stützt, lautet wie folgt: Put in terms of ER, the UVNR argument can be cast as follows. Assume ER to be a rationally justifiable position. Then there are good reasons for holding ER. But good reasons cannot be biased or non-neutral or arbitrary or idiosyncratic (by definition of ‚good reason‘ – this point will be pursued further below). Therefore, if ER is rationally justifiable, there must be some non-relative, neutral (with respect to the presuppositions of relativists and non-rela-
Es finden sich höchstens Selbstaufhebungsargumente gegen spezifische Theorien, die dem metaphysischen Relativismus zuzuordnen sind, so z. B. in Mostellers Ausführungen zu Putnam, die allerdings eher auf die Elemente eines epistemischen Relativismus in Putnam abstellen (siehe Mosteller (2006), 77– 116). In dieser Hinsicht findet allerdings der Bedeutungsrelativismus als Theorietyp auch nicht viel mehr Beachtung, viele Selbstaufhebungsargumente gegen bedeutungsrelativistische Theorien richten sich speziell gegen die von Kuhn, das wird auch auf zwei der im entsprechenden Kapitel zu besprechenden Argumente zutreffen. Siehe für Siegels Verständnis diese Ausdrucks Abschnitt 1.8.1. UVNR steht für „undermines the very notion of rightness“. Siegel (1987), 4. In Kapitel 3.3.1.
3.1 Selbstaufhebungsargumente gegen den epistemischen Relativismus
259
tivists) framework or ground from which we can make that judgment. Thus ER, which denies the possibility of such a framework, is incorrect. In short, if relativism is rationally justifiable, it must have a non-relativistic ground, which possibility it denies. Thus ER, if true, is not rationally justifiable, since if ER is true there can be no neutral ground from which to assess the rational justifiability of any claim, including ER itself. Moreover, if ER is (true and) rationally justifiable, then it is false, for the rational defense of ER requires the sort of non-relativistic ground which ER itself denies. Thus ER is either not rationally justifiable, or false. The assertion and defense of ER is either not rationally justifiable, or false. The assertion and defense of ER is thus self-refuting, and so incoherent.⁵
Dabei ist zu beachten, dass Siegels ER eine Mischung von epistemischem und alethischem Relativismus ist, die sowohl Wahrheit als auch Rechtfertigung relativiert. Im Folgenden wird allerdings nur dem epistemischen Aspekt Beachtung geschenkt werden.⁶ Da Siegels Beschreibung von ER in Abschnitt 1.8.1 für ungeeignet als Definition des Relativismus befunden wurde und hier nur interessiert, ob das Argument tatsächlich den epistemischen Relativismus als selbstaufhebend erweisen kann, wird auch nicht mehr die Rede von ER, sondern schlicht vom epistemischen Relativismus sein. Siegels Argument lässt sich folgendermaßen in einer übersichtlicheren Form wiedergeben: 1 Entweder ist es möglich, den epistemischen Relativismus zu rechtfertigen, oder es ist unmöglich. 2 Wenn es möglich ist, den epistemischen Relativismus zu rechtfertigen, gibt es gute Gründe für ihn. 3 Wenn es gute Gründe für den epistemischen Relativismus gib, gibt es neutrale Gründe für den epistemischen Relativismus. 4 Wenn es gute Gründe für den epistemischen Relativismus gibt, gibt es einen neutralen (gegenüber den Präsuppositionen von Relativisten und Nicht-Relativisten) Rahmen. 5 Der epistemische Relativismus bestreitet, dass es einen solchen Rahmen gibt. 6 Wenn es möglich ist, den epistemischen Relativismus zu rechtfertigen, dann ist er falsch. 7 Der epistemische Relativismus ist entweder falsch oder es ist unmöglich, ihn zu rechtfertigen. 8 Den epistemischen Relativismus zu behaupten oder zu verteidigen, ist selbstaufhebend.
Siegel (1987), 8 (Hervorhebungen seine). In Abschnitt 3.3.5.2 wird ein Siegels Argument verwandter Selbstaufhebungsvorwurf in Bezug auf den alethischen Relativismus behandelt werden.
260
3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
Es fällt natürlich sofort auf, dass Siegels Argument, im Gegensatz zu vielen anderen Selbstaufhebungsargumenten, die Folgerung, dass eine Position selbstaufhebend ist, selbst explizit als Teil des Argumentes enthält. Das macht es in gewisser Weise zu einem Meta-Selbstaufhebungsargument, das zunächst ein reguläres Selbstaufhebungsargument in dilemmatischer Form mit einer Anwendung der Position auf sich selbst und einer negativen epistemischen Konsequenz enthält (Schritt 1– 7) und dann im Argument selbst daraus (in Schritt 8) die Konsequenz zieht (die sonst in der Regel außerhalb des eigentlichen Argumentes zu finden ist), dass die fragliche Position selbstaufhebend ist. Wie an Siegels Feststellung, dass es selbstaufhebend ist, den epistemischen Relativismus zu behaupten oder zu verteidigen, zu sehen ist, werden hier gleich zwei Formen von Selbstaufhebung behauptet. Bei der ersten der beiden, der auf das Behaupten des epistemischen Relativismus bezogenen, handelt es sich um eine leicht abgewandelte Form der operationalen Selbstaufhebung. Sie beruht auf der Annahme, dass sich der Vorbringer einer Behauptung dazu verpflichtet, seine These argumentativ zu verteidigen. Sie ist deswegen keine operationale Selbstaufhebung in Mackies strengem formalen Sinne, weil es nicht um eine Verpflichtung auf die Zuschreibung einer bestimmten Eigenschaft oder eines bestimmten Status bzgl. der These geht, sondern um eine Verpflichtung darauf, etwas zu tun. Siegels Argument ließe sich auch als ‚normale‘ operationale Selbstaufhebung rekonstruieren, indem etwa „begründbar“ als Operator, auf dessen wahrheitsgemäße Anwendbarkeit auf die fragliche These man sich mit der Behauptung einer These verpflichtet, eingesetzt wird. Diese Lesart wird sogar durch die oben gegebene Formulierung des Arguments eher gestützt, aber sie verschleiert, dass Siegel die zweite Art der Selbstaufhebung, die seiner Meinung nach in der Verteidigung der relativistischen Position droht und auf die gleich noch einzugehen sein wird, als den Kern der Selbstaufhebung des Relativismus zu verstehen scheint. Dies wird deutlich, wenn man die auf die zitierte Formulierung des Arguments folgenden erläuternden Bemerkungen Siegels betrachtet: „This argument points out what Socratesʼ first argument points out: namely, that the relativist must appeal to non-relativistic criteria, and assert relativism nonrelativistically, in order to make the case for relativism.“⁷
Siegel (1987), 8 f. Den Eindruck, dass für Siegel eine dialektische Unfähigkeit des Relativisten den Kern seiner Probleme ausmacht, gewinnt man ebenfalls, wenn man sich seine Verteidigung gegen den Vorwurf des „question-begging“ an Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus ansieht (vgl. Siegel (1987), 23 ff.). Die Belege sind nicht eindeutig, wie gesagt klingt die oben zitierte Formulierung eher nach der einfacheren operationalen Variante. Es ist wahrscheinlich, dass Siegel die Unterscheidung schlicht nicht bewusst ist und er beide Argumente
3.1 Selbstaufhebungsargumente gegen den epistemischen Relativismus
261
Beide Lesarten, sowohl die als reguläre operationale Selbstaufhebung als auch die als modifizierte operationale Selbstaufhebung mit einer Verpflichtung darauf, den Relativismus zu verteidigen, lassen sich natürlich leicht angreifen, indem der Relativist bestreitet, sich mit seiner Behauptung auf das zu verpflichten, was Siegel vorschwebt. Eine solche Entgegnung ist allerdings im Falle der einfachen operationalen Lesart deutlich erfolgversprechender als bei der etwas komplexeren mit der Verpflichtung zur Verteidigung der eigenen Position. Denn während bei der einfachen operationalen Lesart der Hinweis auf das offensichtlich absolutistische Verständnis des Ausdrucks „begründbar“ (wie es vornehmlich in Schritt 3 und 4 expliziert wird) hinreichen sollte, um den Angriff abzuwehren,⁸ stellt die zweite Lesart durch ihren vagen Bezug auf eine Verpflichtung zur Verteidigung der Position und ihr Beruhen auf dem zweiten Selbstaufhebungsvorwurf bezogen auf das Verteidigen der Position selbst eine größere Herausforderung dar – oder zumindest eine subtilere, denn auch dieses Argument wird sich nicht als erfolgreich herausstellen. Die zweite, auf das Verteidigen der relativistischen Position bezogene, Form der Selbstaufhebung, die Siegel behauptet, stellt er prägnant in Form eines weiteren Dilemmas dar: „[T]o defend relativism is to defend it non-relativistically, which is to give it up; to ‚defend‘ it relativistically is not to defend it at all.“⁹ Siegel stellt den Relativisten also vor die Wahl: operationale Selbstaufhebung durch ‚absolutistisches‘ Argumentieren oder ‚relativistisches‘ Argumentieren, das nicht als Verteidigung zählt. So wie Siegels Punkt hier formuliert ist, klingt sein antirelativistisches Argument ganz klar, als würde es die Wahrheit des Absolutismus bereits voraussetzen. Aber vielleicht lässt sich seine Begründung für die Unzulänglichkeit ‚relativistischen‘ Argumentierens in anderer Weise interpretieren. Was ist also ‚relativistisches‘ Argumentieren? Aus Siegels Formulierung des UVNR-Arguments lässt sich entnehmen, dass er als den entscheidenden Faktor für ‚absolutistisches‘ Argumentieren eine Verpflichtung auf das Anführen neutraler Gründe bzw. die Nutzung eines neutralen Rahmens ansieht. Wenn „neutral“ nun nicht mehr heißt als „nicht-relativ“, wäre es die richtige Strategie für den Relativisten, Siegel zu informieren, dass diese Neutralität, entgegen Siegels Behauptung, nicht aus der Definition von „guter Grund“ folgt bzw. dass Siegel eine falsche, absolutistische Definition zugrunde
für richtig hält und in den Text einbringt, ohne zwischen ihnen zu differenzieren.Was allerdings hier für die Entscheidung, Siegels Argument als modifiziertes operationales Selbstaufhebungsargument einzustufen, ausschlaggebend ist, ist, dass es das stärkere Argument darstellt. Im nächsten Abschnitt wird ein Selbstaufhebungsargument gegen den epistemischen Relativismus vorgestellt werden, das seinen Ansatzpunkt bei genau so einer Verteidigung des Relativismus nimmt. Siegel (1987), 9 (Hervorhebungen seine).
262
3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
legt, so dass keine Unmöglichkeit des Anführens guter Gründe folgt und so dass Siegel sich, falls er in seinem Sinne absolutistisch argumentiert, auf eine falsche Aussage verpflichtet, da es keine in Siegels Sinne neutralen Gründe gibt.¹⁰ Denn sofern dies die richtige Interpretation sein sollte, ist Siegels Argument auf genau dieselbe Art und Weise anzugreifen, wie die oben genannte einfache operationale Lesart. Der zusätzliche Selbstaufhebungsvorwurf gegen die Verteidigung des Relativismus ist dann nur eine umformulierte Variante desselben, die, anstatt vorauszusetzen, dass das Behaupten des Relativismus darauf verpflichtet, diesen in nicht-relativistischem Sinne zu begründen, voraussetzt, dass man sich mit dem Anführen von Gründen auf die (aus Sicht des Relativisten falsche) Aussage, dass diese nicht relativ sind, verpflichtet. Die Klammer in Schritt 4 von Siegels Argument könnte allerdings in eine andere Richtung weisen, denn dort ist die Rede von Neutralität bezogen auf eine bestimmte Frage, und diese Verwendung des Ausdrucks spricht gegen eine Interpretation im Sinne von „nicht-relativ“. Es sollte übrigens nicht übersehen werden, dass Siegels Kritik im Kontext seines eigenen Textes ganz klar zirkulär ist, denn er benutzt das Bestreiten von Neutralität in seiner Definition des „epistemological relativism“. Da diese Definition jedoch als Definition des Relativismus abzulehnen ist, lohnt sich die Frage, wie Neutralität zu dem in dieser Arbeit entwickelten Verständnis von Relativität steht und ob das Problem in Siegels Kritik nicht nur darauf zurückzuführen ist, dass er unklugerweise das Bestreiten von Neutralität in seine Definition einsetzt. Der Verweis auf Neutralität speziell bezogen auf die Präsuppositionen von Absolutismus und Relativismus (in Siegels Schritt 4) hilft allerdings inhaltlich nicht viel weiter, denn wo vorher nicht klar war, ob „neutral“ etwas von „nichtrelativ“ Verschiedenes bedeutet, ist jetzt nicht klar, warum ein epistemischer Relativismus diese Form von Neutralität nicht zulassen sollte. Einen Rahmen zu finden, der neutral in dem Sinne ist, dass er keinerlei Präsuppositionen einbringt, ist nach der Theorie des Relativisten zwar unmöglich, aber die Möglichkeit, einen Rahmen zu finden, dem eine spezifische Gruppe von Präsuppositionen fehlt, wird durch den Relativismus nicht beeinträchtigt. Siegel kann auch nicht meinen, dass es sich um einen Rahmen handeln soll, der in der Frage, in der er neutral ist, keine Entscheidung erlaubt. Denn in diesem Falle wäre der Rahmen, den er benutzt, um
Darüber hinaus ist es nicht offensichtlich, warum aus einer Verpflichtung oder dem Fehlen einer Verpflichtung auf einen bestimmten Status eines Grundes irgendetwas über die Annehmbarkeit oder Überzeugungskraft einer Argumentation folgen sollte. Dieser Punkt wird etwas ausführlicher in Abschnitt 3.3.5.3 angesprochen, wo es um ein ähnliches Argument gegen den alethischen Relativismus geht.
3.1 Selbstaufhebungsargumente gegen den epistemischen Relativismus
263
den Relativismus zu widerlegen, nach seiner eigenen Auskunft nicht neutral und seine Gründe damit keine guten Gründe. Da sich in Relativism Refuted kaum weitere Hinweise finden, wie Neutralität zu verstehen ist, werden zur Ergänzung Timothy Mostellers Überlegungen in Relativism in Contemporary American Philosophy herangezogen, die auf Siegels Ansichten zum Relativismus gründen, sowohl in Definitionsfragen als auch in den verwendeten Selbstaufhebungsargumenten. Auf Bemerkungen aus einem späteren Aufsatz Siegels aufbauend, der sich mit Argumenten für den Relativismus beschäftigt,¹¹ entwickelt Mosteller die Unterscheidung von lokaler und globaler Neutralität: „While it may be the case that there is no global neutrality, that is neutrality that applies to all epistemic disputes, for any particular dispute, there may be local standards to which we can appeal, standards which do not prejudice either one of the contestants in a particular dispute.“¹² Lokale Neutralität soll also nichts weiter bedeuten, als dass sich für eine spezifische Auseinandersetzung zwischen Benutzern unterschiedlicher Rahmen Maßstäbe finden lassen, die keinen der an der Auseinandersetzung Beteiligten benachteiligen. Bezieht man Mostellers Beschreibungen spezifischer Fälle mit ein, in denen seiner Ansicht nach lokale Neutralität möglich sein soll (obwohl sie von Relativisten als Beispiele von nicht entscheidbaren Grundlagenkonflikten benutzt wurden), kommt man zu dem Ergebnis, dass es ihm dabei in erster Linie um Maßstäbe geht, die beide Parteien bereits benutzen, und gegebenenfalls um eine Diskussion bzw. eine Einigung zwischen den Beteiligten darüber, welche Standards in der gegebenen Situation genutzt werden sollten.¹³ Doch die Möglichkeit Überschneidungen zwischen den Standards unterschiedlicher Rahmen festzustellen oder sich in einer Diskussion darauf zu einigen, welche Standards in einem bestimmten Fall benutzt werden sollten, ist nichts, was der Relativist bestreiten müsste. Es ist zwar der Fall, dass es viele Formen des Relativismus gibt, die darauf aufbauen, dass es in einigen Auseinandersetzungen keine gemeinsamen Standards gibt, auf die sich die Beteiligten einigen könnten und die gleichzeitig
Die Rede ist von Siegel (2004). Mosteller (2006), 18. Vgl. Mosteller (2006), 161– 178. Darüber hinaus fällt auf, dass Mosteller in keinem der von ihm angeführten Fälle dafür argumentiert, dass es neutrale Standards gibt, sondern grundsätzlich nur dafür, dass die Beteiligten in den jeweiligen Situationen auf die Möglichkeit lokaler neutraler Standards verpflichtet sind, solange sie ihre Standards für nicht-willkürlich halten. Insofern ist Mostellers Argumentation gegen einen relativistischen Theoretiker, der bereit ist, in diesem Punkt eine error theory zu vertreten, völlig wirkungslos (ob eine solche allerdings wünschenswert ist, steht natürlich auf einem anderen Blatt).
264
3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
ausreichen, ihre Diskussion eindeutig zu entscheiden, das trifft z. B. auf Kuhns Beschreibung der Auseinandersetzungen zwischen Proponenten unterschiedlicher Paradigmen zu, aber dies ist keine Leugnung der Möglichkeit lokaler neutraler Standards in allen Auseinandersetzungen.¹⁴ Eine solche Leugnung wäre allerdings das, was Siegel benötigen würde, um sein Selbstaufhebungsargument mit Hilfe des Konzepts lokaler neutraler Standards durchzuführen. Nur wenn der Relativist grundsätzlich bestreitet, dass es lokale neutrale Gründe oder Rahmen gibt, oder wenn er speziell bestreitet, dass es lokale neutrale Gründe für seinen Relativismus gibt, kann das Argument gelingen, denn sonst ist Schritt 5 schlicht falsch. Ein weiterer Schwachpunkt an Siegels Argument, der durch das Ausbuchstabieren des Konzeptes der lokalen Neutralität deutlich wird, ist, dass es voraussetzt, dass Relativist und Absolutist unterschiedliche Rahmen benutzen, das muss aber nicht der Fall sein. Es ist ebenso möglich, dass beide bereits dieselben epistemischen Standards bzw. denselben Rahmen benutzen und einer von beiden sie fehlerhaft anwendet (in diesem Fall wäre lokale Neutralität trivialerweise zu haben). Siegels Selbstaufhebungsargument gegen den Relativismus kann also nicht gelingen, da er, wenn man „neutral“ einfach als „nicht-relativ“ liest, nichts weiter bewiesen hat als die Unvereinbarkeit des Relativismus mit dem Absolutismus, während bei einer Interpretation im Sinne von lokaler Neutralität – der einzigen Erläuterung des Ausdrucks „neutral“, die zu finden ist – das Argument scheitert.
3.1.2 Tollefsen und die Sprache des Relativismus In diesem Kapitel soll ein Selbstaufhebungsargument von Olaf Tollefsen besprochen werden, das sich gegen den epistemischen Relativismus richtet. Es ist vor allem deswegen interessant, weil es seinen Ausgangspunkt bei einer relativistischen Verteidigung gegen ein anderes Selbstaufhebungsargument nimmt und nachzuweisen versucht, dass sich der Relativist durch diese Verteidigungsstrategie in eine schwierige epistemische Lage bringt. Das andere Selbstaufhebungsargument, von dem hier die Rede ist, macht es dem Relativisten zum Vorwurf, dass er nicht ohne Widerspruch als absolut zu Es wäre eine interessante Frage, ob es vielleicht sogar Formen des Relativismus gibt, die mit der Annahme vereinbar sind, dass es für jede Auseinandersetzung lokale neutrale Standards gibt, die eine Entscheidung zwischen den vorliegenden Alternativen erlauben. Da diese Frage allerdings nichts mit dem Erfolg oder Misserfolg von Siegels Selbstaufhebungsargument zu tun hat, wird sie hier nicht weiterverfolgt werden.
3.1 Selbstaufhebungsargumente gegen den epistemischen Relativismus
265
verstehende Begründungen für seine Theorie vorbringen kann, und klassifiziert den Relativismus als unbegründbar, es entspricht also der einfachen operationalen Lesart von Siegels UVNR-Argument. Dagegen, so Tollefsen, kann der Relativist zu Recht einwenden, dass seine Theorie an den in ihr beschriebenen epistemischen Maßstäben gemessen werden sollte und nicht an denen des Absolutisten. Tollefsen nennt dies die „equivocation defense“¹⁵, weil sie auf der Feststellung beruht, dass Absolutist und Relativist Ausdrücke wie „Wissen“ und „Rechtfertigung“ unterschiedlich verwenden bzw. definieren.¹⁶ Aus diesen Unterschieden in der Interpretation versucht nun Tollefsen seinerseits ein antirelativistisches Argument zu entwickeln, das darauf hinausläuft, dass der Relativist nicht dazu in der Lage ist, sich argumentativ mit dem Absolutisten auseinanderzusetzen: The relativist claims for P the property (call it p) of meeting the truth criteria of his local culture, and nothing more […]. However, the relativistʼs critic does not wish to deny that P has p, or claim for his own position (call it Q) that it has p […]. The relativistʼs critic holds, instead, that some property other than p (call it q) is what justifies rational assent to a proposition. Hence whether P has or lacks p, and whether Q has or lacks p is irrelevant to the relativistʼs critic. Of course the relativist can claim that no proposition can have q, or more weakly, that even if some proposition has q, no one can know that it has q, but his warrant for either claim must be p, and thus either claim is irrelevant to the relativistʼs critic. The relativistʼs critic would be interested in either claim only if it were alleged to have q, and then would be interested in either claim only as an example of a self-refuting proposition.¹⁷
Tollefsens Punkt ist also, dass, wenn relative und absolute Rechtfertigung tatsächlich als zwei unterschiedliche Eigenschaften betrachtet werden müssen, von denen der Relativist nur an einer als Gütesiegel seiner eigenen Aussagen interessiert ist, auch für den Absolutisten gelten muss, dass er sich nur für eine dieser beiden Eigenschaften interessiert – und das ist nun einmal die, von der der Relativist offen zugibt, dass seine Aussagen sie nicht haben. Also braucht sich der Absolutist auch nicht für die Theorie des Relativisten zu interessieren.¹⁸ Den von Mary Hesse gemachten Vorschlag, dass sich Absolutisten und Relativisten nicht mit der Frage aufhalten sollten, ob man ihre Positionen aus sicheren und ewig und absolut wahren Prämissen deduzieren kann, sondern
Tollefsen (1987), 210. Vgl. Tollefsen (1987), 209 ff. Tollefsen (1987), 211 f. (Hervorhebungen getilgt). Warum diese Situation übrigens schlechter für den Relativisten sein sollte als für den Absolutisten, bzw. warum sie für die Theorieoption des Absolutisten und gegen die des Relativisten sprechen sollte, wird leider nicht klar.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
stattdessen ihre unterschiedlichen Theorien als Hypothesen betrachten sollten, die danach zu beurteilen sind, wie gut sie kognitive Phänomene beschreiben und erklären können, hält Tollefsen für keinen Ausweg aus der relativistischen Sackgasse: P would be preferred to whatever hypothesis the relativistʼs critic advances because P generates a better account of the phenomena which stand in need of explanation (e. g., theory change in the history of science). But this proposal, if taken as an attempt to avoid irrelevance, works just so long, as the relativistʼs redefinition of terms is ignored, for then it is at least possible that the relativist and his critic have some common understanding of the cognitive terminology in Hesseʼs proposal. In other words, if the proposal is to work, what is required is a domain of discourse which is neither the relativistʼs nor his critics, and within which P and it [sic] non-relativist alternative(s) can be stated without equivocation. But no such domain of discourse is possible, for P sets the interpretation of all cognitive terminology; any attempt to understand the cognitive significance of knowledge claims in ways other than those set by P must be rejected as equivocal by the relativist. Hesseʼs proposal, as I have interpreted it here, is pointless; it does not allow any real cognitive conflict between the relativistʼs claims and his criticʼs.¹⁹
Nach Tollefsens Ansicht müsste es für ein solches Vorgehen, wie es Hesse vorschwebt, also eine gemeinsame bzw. neutrale Sprache geben, in der der Austausch zwischen Relativisten und Absolutisten stattfinden könnte. Aber keine solche Sprache ist möglich, so Tollefsen, wenn der These des Relativisten die Interpretationshoheit über die gesamte kognitive Terminologie eingeräumt wird, sowohl was den Bereich der Kriterien für gute Theorien als auch was den Bereich der Beschreibung kognitiver Phänomene betrifft. Dieser letzte Punkt ist entscheidend, denn hier bricht Tollefsens Argumentation zusammen. Die Wahl, vor die er den Philosophen stellt, nämlich entweder ausschließlich relativistische oder ausschließlich absolutistische Definitionen seiner Terminologie zu verwenden, umfasst nicht alle Möglichkeiten, die sich für jemanden, der eine Entscheidung zwischen einer absolutistischen Sichtweise und einer relativistischen Sichtweise treffen möchte, bieten. Es ist theoretisch kein Problem (außer eines des Aufwandes – und in der Realität der philosophischen Auseinandersetzung haben sich effektivere Möglichkeiten wahrscheinlich bereits durchgesetzt), eine Sprache zu benutzen, die sowohl relativistische als auch absolutistische kognitive Terminologie enthält, und diese, etwa durch Indizes, klar zu unterscheiden. Auf diese Weise könnten Äquivokationen vermieden werden, und beide Parteien könnten ihre Theorien
Tollefsen (1987), 212 f. (Hervorhebungen getilgt).
3.1 Selbstaufhebungsargumente gegen den epistemischen Relativismus
267
unmissverständlich formulieren, vortragen und auf Grundlage ihrer eigenen Kriterien belegen und verteidigen. Nun hat Tollefsen natürlich insofern einen Punkt, als sich in dieser sprachlichen Umgebung wohl keine Entscheidung zwischen relativistischen und absolutistischen Theorien treffen lässt, da beide in weiten Teilen (nunmehr bewusst) aneinander vorbeireden. Für eine erhebliche Anzahl der Argumente der jeweils anderen Seite dürften sie sich, solange diese ausschließlich in deren Terminologie ausgedrückt werden, kaum interessieren. Ihre Beschreibungen kognitiver Vorgänge wären völlig verschieden, und insofern hätten sie nur wenige Berührungspunkte, an denen produktiver Austausch möglich wäre. Aber dieser Zustand ist durchaus überwindbar, denn tatsächlich haben Relativisten und Absolutisten deutlich mehr gemeinsam, als Tollefsens Argument glauben machen möchte. Hesses Vorschlag weist hier bereits in die richtige Richtung, denn was in einer solchen Sprache fehlt, wenn sie denn eine richtige Auseinandersetzung zwischen Absolutisten und Relativisten ermöglichen soll, ist eine neutrale ‚Beobachtungssprache‘. Absolutisten und Relativisten müssen in die Lage versetzt werden, die Phänomene, die sie erklären wollen, zumindest in einem begrenzten Maße zu benennen und zu beschreiben, ohne die relativistischen oder absolutistischen Voraussetzungen ihres jeweiligen Spezialvokabulars einzubringen, erst dann wird eine Auseinandersetzung darüber möglich, wer die nun gemeinsamen Phänomene besser erklären kann. Das sollte aber, da es genug Aspekte kognitiver Vorgänge gibt, über die sich beide einig sind, durchaus machbar sein. Die benötigte Beobachtungssprache ließe sich vielleicht am besten als eine der Phänomenologie des Kognitiven beschreiben. Anstatt z. B. von Begründungen im Sinne einer der beiden Theorien zu sprechen, könnte sie von Behauptungen sprechen, die mit anderen Behauptungen in einer durch bestimmte Regeln (z. B. logische) vermittelten Art und Weise in Verbindung stehen, die ihr einen anderen Status innerhalb weiterer kognitiver Vorgänge verleihen. Absolutisten und Relativisten könnten sich dann darüber auseinandersetzen, was genau dieser andere Status ist, wie er sich zum Inhalt der Regeln verhält oder zur Frage der Wahrheit des Behaupteten, was der Status der Regeln ist etc. Das bedeutet übrigens auch, dass schon die ursprüngliche Formulierung des Problems von Tollefsen nicht standhalten kann. Es stimmt zwar, dass Relativisten, wenn sie ihre Theorien für begründet halten, darunter eine andere Eigenschaft verstehen, als es Absolutisten tun, wenn diese ihre Theorien für begründet halten. Aber Tollefsens p und q sind nicht die einzigen Eigenschaften, mit denen man hier arbeiten kann. Denn die Art und Weise, in der der Absolutist überprüft, ob etwas die Eigenschaft q besitzt, und die Art und Weise, in der ein Relativist überprüft, ob etwas die Eigenschaft p besitzt, überschneiden sich ganz erheblich.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
Man könnte sogar sagen, es gibt eine dritte Eigenschaft, nennen wir sie r, die man vielleicht als sichtbares Begründetsein umschreiben könnte. Diese Eigenschaft setzt sich zusammen aus sämtlichen Kriterien für Ablehnung oder Akzeptanz von Theorien, die Absolutisten und Relativisten Teilen, wie z. B. Konsistenz, Kohärenz mit bereits Akzeptiertem (natürlich jeweils in so phänomenologischer Weise wie möglich formuliert, also über konkrete logische Regeln, die einzuhalten sind, u. Ä.) etc. Nun ist es zwar das Ziel von keiner der beiden Parteien, dass ihre Theorien die Eigenschaft r besitzen, aber es ist auch für keine der beiden uninteressant, ob sie dies tun. Die Feststellung, ob etwas die Eigenschaft r hat, mag, vor allem von der Seite des Absolutisten her betrachtet, rein instrumentellen Wert besitzen, aber er kann auf dieses Instrument auch nicht verzichten, da er in Abwesenheit von r keinen hinreichenden Anlass hat, seiner Theorie Eigenschaft q zuzuschreiben. Entscheidend ist hier eigentlich nicht so sehr die Möglichkeit einer dreiteiligen Sprache zur Zufriedenheit aller Beteiligten, sondern dass all dies bereits geschieht, wenn auch in viel pragmatischerer Form. Niemand hat sich bis jetzt dazu hinreißen lassen, eine Absolutisten-Relativisten-Sprache zu entwickeln, weil sie schlicht nicht benötigt wird. Denn auch wenn es zu Missverständnissen, falschen Zuschreibungen und fehlerhaften Selbstaufhebungsargumenten kommt, macht das nicht die komplette Debatte zwischen Relativisten und Absolutisten aus. Es gibt produktive Auseinandersetzungen zwischen beiden Seiten; und auch wenn eine mit klaren Indizes versehene Sprache manchmal helfen könnte, Missverständnisse zu vermeiden, ist dies kein spezifisches Problem genau dieser Debatte, sondern philosophisches Alltagsgeschäft. Kurz gesagt: Tollefsens Diagnose, dass Absolutisten und Relativisten voneinander isolierte und füreinander uninteressante kognitive Dialekte sprechen, ist viel zu weitgreifend, um von ein paar fehlerhaften Selbstaufhebungsargumenten gestützt werden zu können. Man könnte sogar sagen, dass gerade durch solche fehlerhaften Argumente und Reaktionen wie die „equivocation defense“ Absolutisten und Relativisten ihr Verständnis des ‚Dialektes‘ des jeweils anderen vertiefen können.
3.2 Selbstaufhebungsargumente gegen den Bedeutungsrelativismus
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3.2 Selbstaufhebungsargumente gegen den Bedeutungsrelativismus und den metaphysischen Relativismus 3.2.1 Davidson gegen conceptual schemes Eines der meistbeachteten Argumente gegen den Relativismus ist Donald Davidsons Angriff auf das Konzept des conceptual scheme in seinem Aufsatz „On the Very Idea of a Conceptual Scheme“. In diesem Aufsatz versucht Davidson darzulegen, dass die Vorstellung eines conceptual scheme, die laut ihm vielen globalen Relativismen zugrunde liegt, nichts als ein durch suggestive Metaphern heraufbeschworenes Hirngespinst ist. Davidsons Argument ist selbst kein Selbstaufhebungsargument, allerdings hat ein anderer Autor, James F. Harris, versucht, ein Selbstaufhebungsargument darauf aufzubauen, und Davidsons Ausführungen enthalten einen Selbstaufhebungsvorwurf pragmatischer Art gegen einige Benutzer des fraglichen Konzepts. Deswegen soll Davidsons Argument in diesem Abschnitt vorgestellt werden, um anschließend seinen Selbstaufhebungsvorwurf und das Argument von Harris zu besprechen. Es muss allerdings gleich zu Anfang klargestellt werden, dass hier nicht der Ort ist, auf die Details und Feinheiten von Davidsons Argumentation einzugehen, denn einerseits ist sein Aufsatz komplex, oft schwer zu interpretieren und mit Davidsons semantischen Ideen zu vielen unterschiedlichen Themen gesättigt, andererseits ist dieser hier nur insofern relevant, als er sich als Grundlage für Selbstaufhebungsvorwürfe eignet, und das bedeutet, Prämissen aus konkreten semantischen Theorien zu minimieren. Andernfalls erhielte man kein Selbstaufhebungsargument, sondern lediglich einen Beweis der Unverträglichkeit des Relativismus mit Davidsons Semantik.²⁰ Die folgende Darstellung orientiert sich deswegen in erster Linie an einer groben Fassung des Arguments, die Davidson zu Anfang seines Aufsatzes gibt, aber selbst für unzureichend erklärt und die er dann im restlichen Verlauf seines Textes zu unterfüttern versucht. Auf diese Unterfütterung wird nur so weit eingegangen werden, wie es für Verständnis und Kritik von Davidsons und Harrisʼ
Diese Unverträglichkeit könnte ebenso gut gegen Davidsons Semantik sprechen wie gegen den Relativismus. Interessanterweise spricht sich Forster dafür aus, die Tatsache, dass die Unmöglichkeit konzeptueller Diversität aus Davidsons Bedeutungstheorie folgt, als Argument gegen Davidsons Theorie zu werten, da konzeptuelle Diversität in Disziplinen wie z. B. der Ethnologie als empirisch belegtes Phänomen gilt. Vgl. Forster (1998), 151 ff.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
Argument unter dem Gesichtspunkt der Selbstaufhebung des Relativismus notwendig ist.²¹ Davidsons Argument beruht auf einem Verständnis von conceptual schemes als sprachgebunden, allerdings soll nicht jede Sprache ihr eigenes conceptual scheme haben, sondern das Kriterium, dass zwei Sprachen unterschiedliche conceptual schemes benutzen, soll Unübersetzbarkeit sein. Übersetzbare Sprachen teilen ein conceptual scheme, unübersetzbare Sprachen besitzen unterschiedliche conceptual schemes. ²² Dabei unterscheidet er zwischen den Fällen vollständiger und auf einen Teilbereich der Sätze der Sprache beschränkter Unübersetzbarkeit. Er argumentiert anschließend für die Unmöglichkeit des ersten Falls und dafür, dass im zweiten Fall die festgestellten Abweichungen der Sprecher der anderen Sprache niemals groß genug sein könnten, um uns zu zwingen, ein anderes conceptual scheme zuzuschreiben. In Davidsons Worten: „we could not be in a position to judge that others had concepts or beliefs radically different from our own.“²³ Hier wird der Fall der vollständigen Unübersetzbarkeit im Vordergrund stehen, erstens, weil dies Harris Perspektive auf Davidsons Argumentation entspricht,²⁴ und zweitens, weil die Überlegungen zum zweiten Fall noch viel stärker von Davidsons philosophischen Hintergrundannahmen abhängig sind als die zum ersten.²⁵ Das Kriterium der Unübersetzbarkeit zieht Davidson aus der Art und Weise, wie Relativisten wie z. B. Whorf für ihre Theorien argumentieren. Dort spielen Übersetzungsschwierigkeiten die Rolle des entscheidenden Belegs dafür, dass Sprecher unterschiedlicher Sprachen die Welt völlig unterschiedlich wahrnehmen, einteilen etc.²⁶ Die grobe Fassung von Davidsons Argument, die er zu Anfang seines Aufsatzes gibt²⁷ und die sich auf den Fall vollständiger Unübersetzbarkeit bezieht, wird treffend wiedergegeben von Forster: (1) In order to be justified in identifying a form of behavior as linguistic/expressive of concepts one must be able to interpret/translate its content in(to) oneʼs own language. Howev-
Für ausführlichere Beschäftigungen mit Davidsons Argumentation siehe z. B. Aune (1987); Crumley (1989); Forster (1998); Glock (2007); Lynch (1998), 31– 54. Vgl. Davidson (1973), 7. Davidson (1973), 20. Vgl. Harris (1992), 86. Darüber hinaus zeigen die Probleme von Davidsons Argumentation für den ersten Fall, dass sein Begriff der Übersetzbarkeit zu vage ist, um das theoretische Gewicht zu tragen, das Davidsons Argumentation ihm aufbürdet; und da dieser auch in die Formulierung des zweiten Falls eingeht, wird Davidsons Argumentation als ganze zweifelhaft. Vgl. Davidson (1973), 5 f. Vgl. Davidson (1973), 7.
3.2 Selbstaufhebungsargumente gegen den Bedeutungsrelativismus
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er, (2) if its content is interpretable/translatable in(to) oneʼs own language, then it cannot be different in conceptual scheme from, but must be the same in conceptual scheme as, oneʼs own language. Therefore (3), the implied dilemma: to the extent that one is justified in identifying a form of behavior as linguistic/expressive of concepts at all, it cannot represent a different conceptual scheme from, but must represent the same conceptual scheme as, oneʼs own; or alternatively, to the extent that one is unable to find such conceptual common ground with it, one cannot be justified in judging it to be linguistic/expressive of concepts at all.²⁸
Davidson stellt hier also ein Dilemma für den Relativisten bzw. jeden Vertreter einer These konzeptueller Diversität auf. Eine solche Position soll sich in einer evidenziellen Zwickmühle befinden, weil alles, was als Beweis für ein anderes conceptual scheme zählen könnte, ebenso als ein Beweis gegen ein anderes conceptual scheme zählen müsste, insofern es ein Beweis dagegen wäre, dass wir es überhaupt mit einer Sprache zu tun haben. Zunächst ist kurz zu umreißen, inwiefern Davidson dieses Argument für unzulänglich hält und welche Art von Überlegungen er anführt, um es zu unterfüttern. Der Grund, den er für seine Unzufriedenheit anführt, ist der folgende: Putting matters this way is unsatisfactory, however, for it comes to little more than making translatability into a familiar tongue a criterion of languagehood. As fiat, the thesis lacks the appeal of self-evidence; if it is a truth, as I think it is, it should emerge as the conclusion of an argument.²⁹
Davidson möchte Übersetzbarkeit also nicht einfach zum Maßstab für Sprachlichkeit erklären, stattdessen legt er eine weitgehend negative Argumentation für diesen Punkt vor, die darauf hinauswill, dass der Relativist kein besseres Kriterium zu bieten hat. Sie besteht hauptsächlich aus der Untersuchung zweier unterschiedlicher Gruppen von Metaphern für das Verhältnis von conceptual scheme und Welt oder Erfahrung.³⁰
Forster (1998), 136 f. (Hervorhebungen seine). Davidson (1973), 7 f. Darüber hinaus bringt Davidson ein wenig überzeugendes Argument vor, welches sich gegen den möglichen Einwand richtet, dass Übersetzbarkeit kein geeignetes Kriterium für Sprachlichkeit sein kann, da die Übersetzungsrelation nicht transitiv sei. Davidson bittet seine Leser, sich eine Situation vorzustellen, in der wir eine bestimmte Sprache, Saturnisch, (zumindest in großen Teilen) übersetzen können, und eine zweite, Plutonisch, nicht. Die Sprecher des Saturnischen sagen uns nun, dass sie Plutonisch in ihre Sprache übersetzen können. Laut Davidson sollten wir in dieser Situation nicht darauf schließen, dass wir es mit einer unübersetzbaren Sprache zu tun haben, stattdessen „it would occur to us to wonder whether our translations of Saturnian were correct.“ (Davidson (1973), 8) Es stimmt zwar, dass eine solche Situation Anlass zum Zweifeln
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
Nach dem Wegfall der analytisch-synthetisch-Unterscheidung, so Davidson, bleiben dem Vertreter einer Theorie, die mit conceptual schemes arbeitet, nur noch Metaphern, um an einer Unterscheidung von scheme und content festhalten zu können. Diese Unterscheidung bezeichnet er auch, in Anlehnung an Quine, als das dritte Dogma des Empirismus. Der erste Typ von Metaphern besteht aus Ausdrücken für das Ordnen von Gegenständen (Davidson nennt organizing, dividing up und systematizing). Diese sind laut Davidson schlicht inhaltsleer, da Ausdrücke des Ordnens bezogen auf einen einzelnen Gegenstand, wie die Welt oder die Erfahrung, keinen Sinn ergeben. Die zweite Gruppe von Metaphern spricht von unterschiedlichen Arten des Passens auf Welt und Erfahrung (hier nennt Davidson fitting, predicting, accounting for und facing). Diese Sprechweise läuft aber laut Davidson lediglich darauf hinaus, dass die Aussagen der Benutzer anderer conceptual schemes im Großen und Ganzen wahr sein müssten; und da Tarskis Konvention T unsere beste Intuition zum Thema Wahrheit darstelle, sei Wahrheit unauflöslich an Übersetzbarkeit gebunden.³¹ Deswegen soll in dieser Richtung kein von Übersetzung unabhängiges Kriterium für Sprachlichkeit zu finden sein und Übersetzbarkeit damit als einziges brauchbares Kriterium etabliert sein. Wie bereits gesagt, ist Davidsons Argument selbst kein Selbstaufhebungsargument, aber er erhebt zu Anfang seiner Ausführungen sehr wohl einen Selbstaufhebungsvorwurf: Whorf, wanting to demonstrate that Hopi incorporates a metaphysics so alien to ours that Hopi and English cannot, as he puts it, ‚be calibrated,‘ uses English to convey the contents of sample Hopi sentences. Kuhn is brilliant at saying what things were like before the revolution using – what else? – our post-revolutionary idiom. Quine gives us a feel for the ‚preindividuative phase in the evolution of our conceptual scheme,‘ while Bergson tells us where we can go to get a view of a mountain undistorted by one or another provincial perspective.³²
Davidson versucht hier den Punkt zu machen, dass die Unterschiede zwischen unterschiedlichen Sprachen bei weitem nicht so dramatisch sind, wie sie von Bedeutungs- und metaphysischen Relativisten dargestellt werden, und benutzt dafür einen Vorwurf der pragmatischen Selbstaufhebung. Er legt nahe, dass
bieten würde, aber das heißt nicht, dass solche Zweifel berechtigt wären.Wenn alle anderen Daten in die Richtung weisen, dass wir Saturnisch tatsächlich korrekt übersetzen, wenn wir auf keine Probleme in zahlreichen und ausführlichen Interaktionen in Saturnisch stoßen, hätten wir allen Grund, diesen Zweifel als haltlos zurückzuweisen. Vgl. Davidson (1973), 8 – 17. Davidson (1973), 6.
3.2 Selbstaufhebungsargumente gegen den Bedeutungsrelativismus
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Whorf, Kuhn etc., indem sie die Inhalte der von ihnen besprochenen Sprachen in ihrer eigenen erläutern, etwas tun, was ihre Theorie für unmöglich erklärt und was sie insofern im selben Atemzug zu tun leugnen. Das Problem an diesem Vorwurf wie auch an der oben gegebenen groben Fassung von Davidsons Argument ist, dass er sich zu keinerlei expliziten Aussagen dazu hinreißen lässt, was genau es eigentlich ist, was Relativisten tun, wenn sie die Inhalte von Aussagen in anderen Sprachen im Kontrast zu den Ausdrucksmöglichkeiten der eigenen beschreiben, und was genau es eigentlich seiner Meinung nach ist, was sie nach ihrer eigenen Theorie nicht tun könnten oder auch nicht tun dürften. Stattdessen spricht er unmittelbar vor der gerade zitierten Stelle von einem Erklären und Beschreiben der Unterschiede in der eigenen Sprache, ohne explizit zu machen, warum das mit relativistischen Theorien in Konflikt stehen sollte, und benutzt im systematischen Teil seines Arguments einen völlig unklaren Übersetzungsbegriff, der wichtige Unterscheidungen überdeckt³³ und in einem völlig ungeklärten Verhältnis zu den Argumenten von Bedeutungsrelativisten und metaphysischen Relativisten steht. Davidsons Benutzung des Übersetzungsbegriffs oszilliert zwischen „irgendwie in unserer Sprache verständlich zu machen“ und „Wort für Wort übertragen“, die oben wiedergegebene grobe Fassung seines Arguments hat ohne eine solche Variation in der Bedeutung von „übersetzbar“ keine Chance auf Gültigkeit, wie Forster und Glock gezeigt haben.³⁴ Denn nur wenn „übersetzbar“ in einem sehr engen Sinne gelesen wird, eignet sich Übersetzbarkeit als Kriterium dafür, dass kein anderes conceptual scheme vorliegt; und nur wenn es in einem sehr weiten Sinne gelesen wird – wenn Raum für komplizierte Umschreibungen und Erläuterungen unbekannter Begriffe oder grammatischer Kategorien und Raum für Modifikation oder Weiterentwicklung der eigenen Sprache gelassen wird –, eignet sich Übersetzbarkeit als Kriterium für Sprachlichkeit. Etwas ganz Ähnliches passiert m. E. auch in Davidsons Vorwurf der pragmatischen Selbstaufhebung. Er impliziert, dass Relativisten davon ausgehen müssten, dass Sprachen, die ein anderes conceptual scheme inkorporieren, nicht nur nicht Wort für Wort in unsere Sprache übersetzbar sind, sondern dass sie von unserer Sprache aus epistemisch völlig unzugänglich sein müssten. Weder soll man in unserer Sprache die Ausdrücke der anderen Sprache und deren Verwendung beschreiben können, noch soll man unsere Sprache als Hilfsmittel benutzen So bemängelt z. B. Rescher, dass „Davidsonʼs negative argumentation turns too narrowly on considerations of translation, to the exclusion of paraphrase, circumlocution, and other merely approximative rather than reproductive devices for translinguistic transfer.“ Rescher (1978), 247 FN 27 (Hervorhebungen seine). Vgl. Forster (1998), 136 ff.; Glock (2007), 388 ff.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
können, um es dem Leser zu ermöglichen, ein Stück der anderen Sprache zu erlernen. Aber das hat nichts mit den Thesen von metaphysischem und Bedeutungsrelativismus zu tun.³⁵ Keine der beiden Formen ist darauf verpflichtet, dass eine andere Sprache unzugänglich oder unverständlich sein müsste, weil sie ein anderes conceptual scheme benutzt. Beide gehen zwar davon aus, dass bestimmte Tatsachen bzw. Propositionen für die eigene Sprache nicht ausdrückbar sind, die es für eine andere sehr wohl sind, aber das bedeutet weder, dass die andere Sprache nicht erlernbar ist, noch, dass man in dem Bestreben, sie zu erlernen, nicht mit Erläuterungen in der eigenen Sprache weit kommen kann, noch dass Unterschiede zu einer anderen Sprache nicht bis zu einem gewissen Grad in der Ausgangssprache beschreibbar sind. Davidsons Vorwurf wäre nur dann treffend, wenn aus einem solchen Relativismus entweder folgen würde, dass man die Unterschiede zu einer ein anderes conceptual scheme benutzenden Sprache überhaupt nicht in der eigenen Sprache beschreiben könnte, oder wenn folgen würde, dass es unmöglich ist, eine Sprache auf irgendeinem anderen Wege als durch exakte Übersetzung in die eigene Sprache zu verstehen bzw. zu erlernen. Letztere Annahme scheint zwar Davidson zu machen,³⁶ einer relativistischen Theorie ist sie aber äußerlich. Die Frage der Erlernbarkeit führt auf ein weiteres Problem mit Davidsons Argumentation, auf das Putnam aufmerksam macht.³⁷ Davidsons Argumentation beruht durchweg auf der Annahme, dass jeder bzw. der von Davidsons Argumentation Angesprochene ganz genau eine eigene Sprache besitzt, aus der heraus er andere Sprachen verstehen muss.³⁸ Das steht aber den Vorstellungen vieler relativistischer Theorien, insbesondere natürlich Putnams Konzept der konzeptuellen Relativität, deutlich entgegen. Denn dort wird davon ausgegangen, dass wir alle bereits mehrere conceptual schemes benutzen, da wir unterschiedlicher
Siehe zu diesem Thema auch Abschnitt 1.5.5.1.1.3. Auf jeden Fall scheint sie eine Voraussetzung der Plausibilität von Übersetzbarkeit als Kriterium für Sprachlichkeit zu sein. Vgl. Forster (1998), 137. Vgl. Putnam (1990), 104. Das bedeutet, dass bei Davidson genau das passiert, was Relativisten oft vorgeworfen wird: Der Einzelne ist in seiner Sprache eingesperrt. Dies bildet eine interessante Parallele zu einem von Putnams Selbstaufhebungsargumenten, das weiter unten noch vorzustellen sein wird, wo die Beschränkung des Einzelnen auf ganz genau einen Rahmen den Kulturrelativismus in einen Kulturimperialismus kollabieren lässt.Vor diesem Hintergrund ist es auch interessant, dass Rorty, der von Putnam explizit als einer der Adressaten dieses Argumentes angesprochen wird, Davidsons Argument für schlüssig hält und es in seine eigene Theoriebildung einbezieht, auch wenn er es in eigenwilliger Art und Weise interpretiert. Siehe Rorty (1972). Für Putnams Argument siehe Abschnitt 3.3.2.2.
3.2 Selbstaufhebungsargumente gegen den Bedeutungsrelativismus
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Sprachen mächtig sind; sogar die Einteilung in Deutsch, Englisch usw. ist nach Putnams Vorstellungen eigentlich viel zu grob,³⁹ z. B. beherrschen tatsächlich viele Logiker die von Putnam benutzten Beispielsprachen, die Sprache des polnischen Logikers und Carnaps Sprache.⁴⁰ Wenn man aber weder davon ausgeht, dass jeder genau eine Sprache besitzt, noch davon, dass die einzige Möglichkeit, sich andere Sprachen verständlich zu machen, ist, diese anderen Sprachen in seine eigene zu übersetzen (im engen Sinne), dann können weder Davidsons Argumentation noch sein Selbstaufhebungsvorwurf Fuß fassen.
3.2.2 Harrisʼ Weiterführung Harris entwickelt in seinem Buch Against Relativism eine ganze Reihe von Selbstaufhebungsargumenten gegen unterschiedliche Formen des Relativismus. Eines davon beruht, wie gesagt, auf Davidsons Überlegungen. Es richtet sich speziell gegen die Wissenschaftsauffassung Kuhns, deswegen ist in ihm von Paradigmen und Inkommensurabilität die Rede, aber es sollte, sofern es funktioniert, auf andere Formen des metaphysischen Relativismus und des Bedeutungsrelativismus übertragbar sein, da es nur auf den recht reduzierten Kategorien aus Davidsons Argumentation aufbaut. Harris definiert zwei Sprachen, wobei L1 unsere eigene Sprache sein soll und L2 die eines inkommensurablen Paradigmas und damit nicht übersetzbar in L1, und zwei Sätze s und t, wobei s ein Satz der Sprache L2 und damit unübersetzbar in L1 sein soll und t ein Satz der Sprache L1, der lautet „s ist wahr in L2“. Auf dieser Grundlage entwirft Harris das folgende Argument: [W]e can understand the claim that s is true in L2 only if we understand the claim that t is true in L1, our own conceptual scheme. Now it must be possible for one to name s in L1 in order for t to occur in L1. […] However, although we use the name of s to say that s is true in L2 (t) or that s is not translatable into L1, it is not the name of s which is actually true in L2 or non-translatable into L1. It is the sentence itself about which we would want to say that it is true in L2 or non-translatable into L1; so, it seems, for either of these claims to make sense in L1, the sentence itself and not just its name must occur in L1. Thus, the kind of prohibitions which the doctrine of incommensurability is supposed to set up regarding the occurrence of s in L1 can be understood by a person using L1 only if s is translatable from L2 to L1. The very notion of a conceptual scheme different from oneʼs own seems to depend upon a notion of truth which essentially involves successful translation. So, it seems, that incommensurability of L1 and L2 cannot be accounted for in terms of failure
Siehe auch die Ausführungen zu Goodmans Konzept des Symbolsystems in 1.5.6.2. Diese beiden Sprachen wurden in Abschnitt 1.5.1 eingeführt.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
of translation or else our ability to understand the original claim is also lost. Davidson concludes that there is no way of making intelligible the claim that there are other people whose conceptual schemes are radically different from our own. What I have shown is that, a fortiori, if the claim of incommensurability rests upon the claim of non-translatability, we cannot make sense of that claim in our own language and Kuhnʼs claim becomes self-referentially unintelligible.⁴¹
Harris ist also der Auffassung, dass eine Theorie, die Aussagen zur Wahrheit unübersetzbarer Sätze oder zur Unübersetzbarkeit von Sätzen in die Sprache, in der die Theorie abgefasst ist, enthält, sich in folgedessen selbst als unverständlich bewerten muss. Durch die Brille von Mackies Typologie betrachtet, ist die Form der Selbstaufhebung, die hier in Frage steht, eine operationale: Verstehbarkeit der eigenen Aussage ist nicht gerade eine umstrittene Verpflichtung, die man mit einer Behauptung eingeht; und wenn eine Theorie sich selbst für unverständlich erklärt, verpflichtet sie sich damit auf einen Widerspruch und wird damit nach Mackies Kriterien nicht kohärent behauptbar. Diese weitergehende Begründung, warum die angeblich aus der Theorie folgende Aussage, dass die Theorie (oder genauer ihre Unübersetzbarkeit involvierenden Behauptungen) unverständlich ist, problematisch ist, hält Harris allerdings offensichtlich für unnötig. Sein Selbstaufhebungsargument endet mit der Konsequenz der Zuschreibung von Unverständlichkeit. Relevante Einwände sollten sich deswegen in diesem Fall auch nicht auf die Frage einlassen, ob Verstehbarkeit wirklich eine der Verpflichtungen ist, die man mit einer Behauptung eingeht. Dies wäre nicht nur von zweifelhafter Relevanz für Harrisʼ Argumentation, man dürfte mit einer solchen Position auch auf recht verlorenem Posten stehen; und in der Tat scheint es auch keine relativistischen Theorien zu geben, die ein Verdikt der Unverständlichkeit akzeptieren. Die Frage muss also lauten, ob die Unverständlichkeit der eigenen Theorie tatsächlich aus der Annahme der Inkommensurabilität – oder weiter gefasst, aus relativistischen Aussagen zu Unübersetzbarkeit und konkurrierenden conceptual schemes – folgt. Harrisʼ Grund für die Behauptung, dass Kuhns Theorie sich selbst für unverständlich erklären würde, ist allerdings leider nicht ganz leicht zu identifizieren. Der Davidson-Bezug deutet in die Richtung, dass das Problem speziell die Wahrheitszuschreibung bzgl. eines unübersetzbaren Satzes ist, aber Harrisʼ Behauptung, dass Wahrheitszuschreibungen und Aussagen zur Unübersetzbarkeit bestimmter Sätze gleichermaßen betroffen sind, widerspricht dem. Was beide
Harris (1992), 87 f. (Hervorhebungen seine).
3.2 Selbstaufhebungsargumente gegen den Bedeutungsrelativismus
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verbindet und wo Harris das Problem letztendlich festzumachen scheint, ist das Sprechen über einen Satz, der als unübersetzbar einzustufen ist. Dies soll nach Harris deswegen nicht sinnvoll möglich sein, weil die Sprache, in der die betreffenden Aussagen formuliert werden, L1, nur einen Namen für Satz s enthält, aber nicht den Satz selbst. Um aber von dem Satz selbst in L1 sprechen zu können und nicht nur von seinem Namen, müsste der Satz selbst in L1 vorkommen. So scheint zumindest Harris zu argumentieren wenn er schreibt: [I]t is not the name of s which is actually true in L2 or non-translatable into L1. It is the sentence itself about which we would want to say that it is true in L2 or non-translatable into L1; so, it seems, for either of these claims to make sense in L1, the sentence itself and not just its name must occur in L1.⁴²
Aber dieser Gedankengang ist nicht schlüssig: Wenn wir den Namen eines Satzes benutzen, sprechen wir über den Satz selbst und nicht über seinen Namen, genauso wie wir über einen Frosch sprechen, wenn wir seinen Namen benutzen, und nicht über seinen Namen. Wollten wir über den Namen des Satzes sprechen, müssten wir einen Namen seines Namens benutzen, wir würden also in diesem Fall sagen „‚s‘ ist wahr in L2“ statt „s ist wahr in L2“, während wir, wenn wir denn den Satz selbst benutzen würden, nicht mehr über den Satz sprechen würden, sondern über das, worüber auch immer der Satz spricht, z. B. über einen Frosch. Auf diesem Wege kommt man also nicht zu einer Unverständlichkeit von Sätzen über Sätze in unübersetzbaren Sprachen. Eine Möglichkeit, die sich bietet, diesem Argument eine stärkere Interpretation zu geben, scheint zu sein, es mehr in Richtung eines epistemischen Problems (und damit mehr in Richtung von Davidsons Argumentation) zu rücken, das etwa lauten könnte: Wenn derjenige, der Satz t benutzt, nur versteht, dass sich „s“ auf Satz s bezieht und nicht, worauf sich Satz s bezieht, hat er keine Möglichkeit, seine Wahrheitszuschreibung oder seine Unübersetzbarkeitszuschreibung zu begründen. Aber eine solche Lesart ist weder durch Harrisʼ Text sanktioniert, noch führt sie zu einem guten Argument gegen den Bedeutungsrelativismus oder den metaphysischen Relativismus, da beide, wie bereits in Bezug auf Davidsons Selbstaufhebungsvorwurf erwähnt, nicht darauf verpflichtet sind, dass ein Sprecher einer Sprache grundsätzlich nicht in der Lage ist, Sätze einer unübersetzbaren Sprache zu verstehen. Ein weiterer ‚Reparaturversuch‘ für Harrisʼ Argument, der einem in den Sinn kommen könnte, wäre der, dass Harris nicht durchweg Sätze meint, sondern eigentlich von Propositionen spricht, wenn er sagt, dass von ihnen und nicht von Harris (1992), 87 f.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
ihren Namen (das wären dann wohl die Sätze) ausgesagt werden soll, dass sie in L2 wahr sind. Ein solches Argument würde sich dann speziell an einen Bedeutungsrelativismus richten, der mit Propositionen arbeitet, d. h., auf Kuhn wäre es nicht mehr anwendbar. Aber auch dies wäre kein gelungenes Argument, weil der Bedeutungsrelativist gerade nicht sagen möchte, wie Satz t es unter dieser Interpretation ‚versuchen‘ würde, dass die Proposition, auf die sich Satz s bezieht, wahr in L2 ist (denn er relativiert ja nicht Wahrheit, wie der alethische Relativist). Propositionen sind für ihn absolut wahr oder falsch, sprachrelativ ist laut ihm lediglich der Zugriff auf Propositionen. Was ein solcher Bedeutungsrelativist also über Satz s sagen würde, ist, dass dieser sich auf eine wahre Proposition bezieht (das ist die korrekte bedeutungsrelativistische Entsprechung von Satz t), die er in seiner eigenen Sprache nicht ausdrücken kann (das wäre die entsprechende Aussage zur Unübersetzbarkeit von s); und beides scheint, solange er die Bezeichnung „s“ besitzt, problemlos möglich.⁴³ Harrisʼ Argument ist also kein brauchbares Selbstaufhebungsargument gegen den metaphysischen oder den Bedeutungsrelativismus.
3.2.3 Zwischenfazit Auch wenn weder Harris noch Davidson ein gelungenes Selbstaufhebungsargument gegen den metaphysischen oder den Bedeutungsrelativismus zu bieten haben, so lässt sich doch zumindest aus den Ausführungen von Davidson einiges darüber lernen,wie ein plausibler Relativismus aufgestellt sein sollte. Einerseits muss man bei der Formulierung einer relativistischen These vorsichtig sein, sich nicht durch Unverständlichkeitsbehauptungen die eigenen epistemischen Grundlagen zu entziehen. Zwischen der Frage, ob zwei Sprachen unterschiedliche conceptual schemes nutzen, und der Frage, ob Sprecher dieser Sprachen die jeweils andere prinzipiell verstehen und erlernen können, muss ein klarer Unterschied gemacht werden. Speziell für den Bedeutungsrelativismus ist die Frage wichtig, wie man die analytisch-synthetisch-Unterscheidung gegen die üblichen Quineʼschen Einwände verteidigen oder sogar einen starken Bedeutungsbegriff ohne diese artikulieren kann. Ein dritter Punkt, den man Davidsons Ausführungen entnehmen
Das einzige potentielle Problem, das sich hier stellt, ist ein epistemisches: Wie kann der Bedeutungsrelativist wissen, dass der Satz sich auf eine wahre Proposition bezieht, wenn er ihn doch nicht übersetzen kann? Dieses Problem sollte, wie schon im letzten Abschnitt angesprochen, auf jeden Fall ernst genommen werden. Ein überzeugender Bedeutungsrelativismus braucht eine Theorie des Verstehens anderssprachiger Äußerungen jenseits der Übersetzung, um nicht seine eigene epistemische Grundlage zu gefährden.
3.2 Selbstaufhebungsargumente gegen den Bedeutungsrelativismus
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kann, ist, dass es für beide Formen wichtig ist, ein Verständnis des Verhältnisses von Welt und conceptual scheme zu besitzen, das nicht nur im Metaphorischen verbleibt.
3.2.4 Albedahs Kritik der absolutistischen Reste bei Kuhn Das Selbstaufhebungsargument, das in diesem Kapitel vorgestellt werden soll, ist außergewöhnlich, da es der Autorin nicht darum geht, einen absolutistischen Standpunkt gegen die relativistische Bedrohung in Schutz zu nehmen, sondern darum, dass die kritisierte Theorie nicht relativistisch genug ist. Es ist insofern besonders interessant, als es dieselben Themenkomplexe anspricht wie die Relativismuskritik von Davidson, nämlich die von Übersetzung und Verstehen unbekannter Sprachen in die eigene, aber dabei aus einer völlig anderen Richtung kommt. Deswegen wird es aufschlussreich sein zu sehen, ob metaphysischer und Bedeutungsrelativismus in der Lage sind, beiden Problemen zu entgehen. Das betreffende Argument stammt von Amani Albedah und richtet sich gegen das Wissenschaftsverständnis von Kuhn.⁴⁴ Dabei wird hier nicht die Frage zu stellen sein, ob die Kritik auf Kuhn zutrifft,⁴⁵ da es in dieser Arbeit nicht um die Verteidigung einzelner relativistischer Positionen geht, sondern es wird allgemeiner zu fragen sein, ob die laut Albedah zur Selbstaufhebung führenden Annahmen notwendiger oder typischer Bestandteil von metaphysischen Relativismen und Bedeutungsrelativismen sind. Albedah identifiziert zwei Theoriebausteine in Kuhns Auffassung, die zu dem führen sollen, was sie das Paradox der Inkommensurabilität⁴⁶ nennt. Beide hängen eng mit den Themen zusammen, die in Bezug auf Davidsons Relativismuskritik angesprochen wurden, und wurden bereits in Ansätzen im Abschnitt zu Inkommensurabilität und Unverständlichkeit im Rahmen der Besprechung von
Albedah kritisiert Kuhn für zu starke absolutistische, oder in ihrer Terminologie objektivistische, Tendenzen und bietet als Alternative eine stärker an Gadamer orientierte Wissenschaftsauffassung an. Vgl. Albedah (2006), 323 ff. Absolutistische Tendenzen sind in Kuhns Schriften zwar durchaus vorhanden, aber vor allem für die ihm von Albedah zugeschriebene Auffassung, dass seine Lesart der Wissenschaftsgeschichte die absolut und endgültig richtige sei, lassen sich m. E. keine Belege bei Kuhn finden. Auch die Folgerung, dass Kuhn Bedeutungen für etwas von einem absoluten Standpunkt aus beschreibbares hält, da er Wort-für-Wort-Übersetzungen in vielen Bereichen für möglich hält, scheint zu stark. Vgl. Albedah (2006), 238 – 334. Vgl. Albedah (2006), 333.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
Kuhns Unterscheidung von Interpretation und Übersetzung vorgestellt.⁴⁷ Der erste problematische Bestandteil findet sich dabei in Kuhns Konzept der Interpretation. „Interpretation“ ist Kuhns Ausdruck für die Art und Weise, in der wir Sprachen verstehen lernen, die wir nicht übersetzen können. Ein Konzept dieser Art ist für einen funktionierenden Bedeutungs- oder metaphysischen Relativismus unerlässlich, denn es ist die einzige Möglichkeit, den von Davidson aufgeworfenen Schwierigkeiten zu entgehen. Es muss ein Verstehen anderer Sprachen jenseits von Übersetzung geben, wenn man irgendwie in der Lage sein soll, begründbare Aussagen über unübersetzbare Sprachen aufzustellen. Albedah weist nun darauf hin, dass ein Verständnis von Interpretation als völlig voraussetzungslos und losgelöst vom eigenen conceptual scheme einen absoluten Standpunkt für die Betrachtung von Bedeutungen voraussetzt, der in solchen Relativismen eigentlich ausgeschlossen werden soll: „Kuhnʼs appeal for second-language acquisition as if it happens without any prior initiation renders his claim more objectivistic than his positivist adversaries. For now, we may claim to have understood an older theory objectively, trans-historically, trans-culturally, and trans-contextually.“⁴⁸ Es sollte erwähnt werden, dass Albedahs Argumentation für diesen Punkt nicht komplett überzeugen kann, da sie auf dem bereits im Zusammenhang mit Davidson kritisierten Bild einer einzigen eigenen Sprache aufbaut. Es ist insgesamt nicht ganz einfach, Albedahs Betrachtungen, die von einer ganz anderen Art von relativistischer Theorie geprägt sind (nämlich der Gadamers) als den hier vornehmlich thematisierten, mit Letzteren terminologisch und konzeptuell auf einen Nenner zu bringen. So geht sie z. B., wie gerade erwähnt, von einem einzelnen Rahmen für jeden aus, der ein vollständiges Weltbild festlegt und sich langsam aber stetig wandeln kann, anstatt, wie viele der hier besprochenen Theoretiker, von Einzelnen als Benutzern vieler unterschiedlicher und immer wieder auch neuer Rahmen auszugehen. Allerdings läuft die Kritik am zweiten Kuhnʼschen Theoriebaustein auf einen ganz ähnlichen Punkt hinaus, und diese kommt ohne die problematische Voraussetzung aus. Dieser zweite Theoriebaustein ist das dem Konzept der Interpretation komplementäre Verständnis der Übersetzung bei Kuhn. Übersetzung ist der, im Gegensatz zur für inkommensurable Terminologien benötigten Interpretation, einfache und unproblematische Weg, Aussagen einer anderen Sprache zu verstehen oder verständlich zu machen. Bei Übersetzungen in Kuhns Sinne müssen zwar nicht unbedingt Worte eins zu eins korrelieren, aber sie arbeiten nach einem klar
Siehe Abschnitt 1.5.5.1.1.3. Albedah (2006), 331.
3.2 Selbstaufhebungsargumente gegen den Bedeutungsrelativismus
281
definierbaren, mechanisierbaren Substitutionsprinzip. Sie ersetzen Worte der einen Sprache durch äquivalente Worte oder Phrasen einer anderen. Das Problem, das Albedah hier sieht, ist, dass die Tatsache, dass Kuhn eine solche Art der Übersetzung für unproblematische Sprachen oder auch unproblematische Teile einer Sprache überhaupt für möglich hält, ebenfalls eine absolutistische Sichtweise auf Bedeutungen nahelegt.⁴⁹ Laut Albedah impliziert Kuhns Theorie, dass „while interpretation involves understanding that is unadulterated by our firstlanguage world view, translation involves a matching of a fixed and final meaning.“⁵⁰ Aufbauend auf diesen beiden Argumenten formuliert Albedah dann das folgende Selbstaufhebungsargument: [T]he judgement on whether the relevant subsets of terms are translatable always takes place from within the current tradition. This means that the judgement that the terms of one language are untranslatable into the other itself hinges on current linguistic practice, available historical material, methodological fashion, personal virtues, etc. If one grants this, then one must submit that whether translation is possible is itself a matter of interpretation. This hardly seems like a significant finding, but if these arguments are accepted, they produce a paradox. The paradox is that our claim that two paradigms (or theories or subsets of theoretical terms) are incommensurable, not being a unique reading of history, is subject to contest by opposing (maybe incommensurable) interpretations. Thus, what Kuhn views as incommensurable theories may be viewed by other historiographers as complementary, opposing, or otherwise substantively accumulative. The whole thesis is; [sic] therefore, subject to self-refutation.⁵¹
Dieses Argument muss zunächst mit den Grundbegriffen des in dieser Arbeit entworfenen Bilds von Bedeutungsrelativismen und metaphysischen Relativismen in Einklang gebracht werden, da diese nicht unbedingt davon ausgehen, dass die Benutzung eines bestimmten conceptual schemes o. Ä. einer Interpretation gleichzusetzen ist. Aber eine Umformulierung von Albedahs Punkt, ohne das Konzept der Interpretation zu benutzen, ist recht leicht möglich: Der Relativist muss konsequenterweise davon ausgehen, dass der sprachliche Rahmen, den er benutzt, nicht der einzig mögliche und sinnvolle ist, um Theoriewandel, wissenschaftliche Entwicklung, unterschiedliche Sprachen und ihre Verhältnisse zueinander etc. zu beschreiben. Andere Rahmen, die „Übersetzung“, „Bedeutung“ etc. anders aber durchaus in ähnlicher Weise verwenden, so dass man grob davon sprechen kann, Albedah beruft sich zur Stützung dieses Punktes auf Quines Unbestimmtheit der Übersetzung. Vgl. Albedah (2006), 332. Albedah (2006), 332. Albedah (2006), 332 f.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
dass sie sich auf dieselben Phänomene oder besser Phänomenbereiche beziehen, diese aber anders kategorisieren, sind grundsätzlich möglich. Das heißt aber auch, dass die Antworten auf solche Fragen wie „Sind diese beiden Sprachen ineinander übersetzbar?“ oder „Gehören diese beiden Aussagen zu inkommensurablen Sprachen?“ oder „Benutzen diese beiden Sprecher unterschiedliche conceptual schemes?“ grundsätzlich relativ auf einen sprachlichen Rahmen sind. Wobei man besser, um den Unterschied zum Wahrheitsrelativismus nicht zu verwischen, davon sprechen sollte, dass die Fragen selbst nur beantwortbar bzw. sinnvoll sind, wenn sie selbst innerhalb eines bestimmten Rahmens gelesen werden. Das heißt aber wiederum, dass in anderen Rahmen oberflächlich betrachtet der Beschreibung des Relativisten widersprechende Beschreibungen und Beurteilungen der Situation möglich sind. Dies macht die fragliche Theorie für Albedah selbstaufhebend, insofern es die Kuhn zugeschriebenen absolutistischen, oder in Albedahs Terminologie: objektivistischen, Ansprüche untergräbt. Bevor es an die Frage geht, welche Erfolgsaussichten dieses Argument hat, sollte zunächst erwähnt werden, dass diese Situation für den Bedeutungsrelativisten und den metaphysischen Relativisten auf unterschiedliche Weise zu interpretieren ist. Ersterer geht davon aus, dass es in einem anderen Rahmen eine seiner Aussage entgegengesetzt klingende wahre Aussage gibt, die aber tatsächlich eine vom kontradiktorischen Gegenteil seiner Aussage abweichende Bedeutung hat und die sich auf eine Proposition bezieht, die seiner eigenen Sprache nicht zugänglich ist. Letzterer lässt die entgegengesetzt klingenden Aussagen in ihren jeweiligen Rahmen stehen, ohne den Unterschied als einen der Bedeutung zu erklären; für ihn haben die beiden Aussagen weder entgegengesetzte noch von der jeweiligen Negation der anderen unterschiedliche Bedeutungen, der metaphysische Relativist lehnt den Bedeutungsvergleich über die Rahmengrenze hinweg schlicht ab. Die Frage ist nun, ob diese Konsequenzen für die betreffenden relativistischen Theorien problematisch sind; und die Antwort ist eindeutig, dass sie das nicht sind. Nur unter der Voraussetzung, dass ein Relativist tatsächlich das tut, was Albedah Kuhn zuschreibt, nämlich „arguing that there are final readings of historical material“,⁵² könnte man seiner Theorie Selbstaufhebung auf der Grundlage konkurrierender Beschreibungen aus anderen Rahmen nachweisen. In diesem Falle hätte man es mit einer ad-hominem-Variante der Selbstaufhebung zu tun.⁵³ Für eine relativistische Theorie, die keine solchen Annahmen über ihren eigenen Albedah (2006), 333. Dies kann kaum überraschen. Da Albedah ja selbst eine relativistische Auffassung vertritt, beruft sie sich nicht auf eine als korrekt angenommene absolutistische Auffassung des Status der Kuhnʼschen Theorie, sondern schreibt diese Kuhn als fälschlicherweise vertretene zu.
3.2 Selbstaufhebungsargumente gegen den Bedeutungsrelativismus
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herausgehobenen Status macht, ist es schlicht irrelevant, ob es solche konkurrierenden Beschreibungen gibt, solange nicht zusätzlich erwiesen würde, dass der die konkurrierende Beschreibung enthaltende Rahmen dem eigenen überlegen ist. Solange der Rahmen, den der Relativist verwendet, mindestens genauso brauchbar ist, wie alle verfügbaren Rahmen mit konkurrierenden Beschreibungen, gibt es keinen Grund für ihn den eigenen aufzugeben. Zusätzlich ist zu beachten, dass die Existenz von Rahmen mit konkurrierenden Beschreibungen, die vergleichbar fruchtbare Untersuchungen erlauben und andere pragmatische Kriterien erfüllen, nicht etwa aus der relativistischen Theorie folgt; sie ist lediglich eine Möglichkeit, die von der relativistischen Theorie nicht ausgeschlossen wird. Doch selbst wenn angenommen wird, dass es einen solchen Rahmen gibt, hängt die Frage, ob er für die relativistische Theorie in irgendeiner Art und Weise eine Bedrohung darstellt, wie gesagt, einzig und allein davon ab, ob sie für sich selbst einen ‚absoluteren‘ Status in Anspruch nimmt, als sie den von ihr beschriebenen Theorien zuerkennt. Wie zu Anfang des Kapitels erwähnt, wird es hier nicht um die Frage gehen, ob sich diese Ansichten tatsächlich in Kuhns Schriften finden, denn das ist eine komplexe exegetische Fragestellung, und Kuhn ist nicht das Thema dieser Arbeit. Es gibt nämlich durchaus Äußerungen Kuhns, die in eine andere Richtung deuten als Albedahs Interpretation, z. B. in Kuhns „Reflections on My Critics“, wo er unter anderem einen differenzierteren Übersetzungsbegriff benutzt und darauf hinweist, dass Übersetzungen immer Kompromisse verlangen, um Kommunikation zu ermöglichen.⁵⁴ Darüber hinaus spricht er in Bezug auf die Auseinandersetzung zwischen ihm und anderen Autoren von „incomplete communication […] that regularly characterizes discourse between participants in incommensurable points of view“ und einem „communication breakdown“.⁵⁵ Es ist allerdings gut möglich, dass Kuhn den Ausdruck „incommensurable points of view“ hier als Metapher benutzt, um auszudrücken, wie radikal sich sein Ansatz von früheren unterscheidet, und seine Theorie nicht wirklich für auf sie selbst anwendbar hält. Aber es gibt durchaus metaphysische Relativisten und Bedeutungsrelativisten, die sich völlig eindeutig für die Relativität auch der Kategorien, mit deren Hilfe wir unterschiedliche Sprachen vergleichen und in Beziehung setzen, aus-
Unter anderem auch mit Bezug auf Quines Unbestimmtheit der Übersetzung, die Albedah ja als Argument gegen Kuhns Vorstellung von Übersetzung anführt. Vgl. Albedah (2006), 332; Kuhn (1970), 268 ff. Kuhn (1970), 231 f.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
sprechen. So schreibt z. B. der im Kapitel zum Bedeutungsrelativismus⁵⁶ vorgestellte Autor Davson-Galle: [I]s it [die relativistische These; D. S.] absolutely true or true-relative-to its associated conceptual web of conventional classifications? Obviously this is dependent upon whether the categorisation concepts associated with that thesis pick out natural kinds or not. But look at the thesis, what are the associated concepts? An obvious list would include ‚statement‘, ‚true statement‘, ‚conceptual scheme‘, ‚conventional classification‘ etc., plus, in conceptual contrast role, such things as ‚natural kind‘. Itʼs hard to see why one ought deem the reference any of these to form a natural kind, not even ‚natural kind‘. Even if one did not share our relativistʼs ontological conventionalism and thought there to be natural kinds (say gold, water etc.) though that would mean that ‚gold‘ etc. picked out stuff that formed a natural kind, it wouldnʼt mean that what ‚natural kind‘ picked out (the kind: gold, the kind: water etc.) themselves formed a natural kind. My judgement here might be wrong but all of this seems to point to [relativism] being, if true, true-relative-to its associated conceptual web rather than absolutely true.⁵⁷
Davson-Galle positioniert sich zu der Frage, ob einsamer Absolutheitsanspruch oder Anerkennung der Relativität der eigenen These der richtige Weg ist, also folgendermaßen: Die relativistische These wird in erster Linie motiviert aus dem Bestreiten der Existenz natürlicher Arten.⁵⁸ Wo keine natürlichen Arten sind, sind mehrere Einteilungen möglich; und die Ausdrücke, die in einer relativistischen These (und auch in einer absolutistischen These) verwendet werden, sind nicht einmal nach verbreiteter absolutistischer Auffassung gute Kandidaten für natural kind terms, also ist die relativistische These selbst relativ wahr (und eine nichtglobale absolutistische These wäre, wenn man sie denn akzeptiert, ebenfalls ein guter Kandidat für relative Wahrheit). Davson-Galle äußert sich darüber hinaus auch zu der Frage, ob dieser relative Status zur Selbstaufhebung für die relati-
Ein Beispiel aus dem Bereich des metaphysischen Relativismus wäre Putnam. Vgl. Putnam (1991), 103 f. Davson-Galle (1994) (Hervorhebungen getilgt)); siehe auch Davson-Galle (1998a), 53 – 62. Davson-Galle spricht hier deswegen davon, dass der Relativismus relativ wahr ist, obwohl er kein alethischer Relativist ist, weil er Swoyers Terminologie des starken und schwachen Wahrheitsrelativismus benutzt, in der Ersterer dem alethischen Relativismus und Letzterer dem Bedeutungsrelativismus entspricht. Im Folgenden wird Davson-Galles Ausdrucksweise übernommen, um möglichst nahe am Wortlaut seines Textes bleiben zu können. Siehe dazu auch Abschnitt 1.5.5. Zu Davson-Galles Relativismusverständnis und für einige kritische Bemerkungen zu dem von ihm behaupteten Verhältnis von Bedeutungsrelativismus und natural kind terms siehe Abschnitt 1.5.5.2.
3.2 Selbstaufhebungsargumente gegen den Bedeutungsrelativismus
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vistische These führt, und gibt eine negative Antwort, mit einer ähnlichen Begründung wie der oben angeführten: The ‚parochialism‘ concern is mainly that relativism, if but relatively true, will be true only for the relativistʼs conceptual web; and absolutism might be true for the absolutistʼs. But whatever the difficulties of this sort for other conceptions of truth relativism, Th.RTR [die von Davson-Galle formulierte relativistische These; D. S.] is obviously not vulnerable to such objections. Note […] that the denial of Th. RTR employs the same associated conceptual web. That is, the absolutist is not, on the above account, being distinguished from the relativist in virtue of employing a different conceptual web; rather, he employs the same web to make different substantive claims. Thus the absolutistʼs claim that some true statements are absolutely true would, as this terminology has been set up above, be judged by the relativist to be false relative to that claimʼs associated web.⁵⁹
Albedahs Selbstaufhebungsargument ist also, was auch immer seine Erfolgsaussichten gegen Kuhn sein mögen, nicht geeignet, um den metaphysischen Relativismus oder den Bedeutungsrelativismus grundsätzlich für unhaltbar zu erklären. Trotzdem bietet es einige Anhaltspunkte dafür, welche Schwierigkeiten bei der Erstellung einer plausiblen relativistischen Theorie beachtet werden müssen. Es gilt absolutistische Restbestände in der eigenen Theorie zu erkennen und zu vermeiden, um zu verhindern, dass die Theorie in Konflikt mit ihren eigenen Ansprüchen gerät. Besonders wichtig ist dabei zu beachten, wie die Theorie ihren eigenen Standpunkt beschreiben kann, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln. Noch ein weiterer Punkt, der vielleicht nicht direkt zur Selbstaufhebung führt, der aber für eine kohärente, mit einer relativistischen Grundthese verbundene Erkenntnistheorie wichtig ist, sollte Erwähnung finden. Die von Davidson aufgeworfenen Schwierigkeiten sind, wie oben zu sehen war, recht leicht zu umgehen, wenn man darauf besteht, dass es Formen des Verstehens anderer Sprachen gibt, die nicht unter einen eng verstandenen Übersetzungsbegriff fallen. Dies aber zu lösen, indem man in ein anderes Extrem fällt und behauptet, das Erlernen anderer Sprachen geschehe gänzlich ohne Vermittlung durch bereits bekannte Sprachen, verdeckt die komplexe Realität des Umgangs mit anderen Sprachen und der vielfältigen Möglichkeiten, zu diesen in Beziehung zu treten und sie mit der eigenen Sprache in Beziehung zu setzen, beinahe ebenso sehr wie Davidsons undifferenzierte Benutzung des Übersetzungsbegriffs. Hier muss ein Mittelweg gefunden werden, und m. E. findet man diesen am ehesten, wenn man einige in der Debatte leider oft untergehende Trivialitäten beachtet, insbesondere die, dass wir
Davson-Galle (1994) (Hervorhebungen getilgt).
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
mit dem Wort „Übersetzung“ viele recht unterschiedliche Dinge bezeichnen⁶⁰ und dass eine Sprache zu verstehen keine Alles-oder-nichts-Angelegenheit ist.
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus 3.3.1 Siegels NSBF-Argument Siegel hat mit Relativism Refuted eine der detailliertesten und konsequentesten kritischen Betrachtungen des Relativismus vorgebracht, die sich finden lassen; und es sollte gleich gesagt werden, dass isolierte Betrachtungen zweier seiner Argumente seiner ausführlichen Beschäftigung nicht gerecht werden können. Siegel setzt sich ausführlich mit den Positionen von Kuhn und Goodman auseinander und bringt dort einige bedenkenswerte Kritikpunkte an, aber im Kontext der vorliegenden Arbeit sind natürlich seine Selbstaufhebungsargumente relevant, die leider aufgrund ihrer extremen Abstraktheit als Argumente gegen epistemische und alethische Relativismen im Allgemeinen (bzw. gegen den „epistemological relativism“ dessen Definition in Abschnitt 1.8.1 besprochen wurde) deutlich schwächer sind. Auch Siegel scheint, wie so viele Hervorbringer antirelativistischer Argumente, von einer anything-goes-Theorie auszugehen und darüber hinaus seine Überlegungen vor allem auf subjektivistische Theorien auszurichten, so dass seine allgemein gehaltenen Selbstaufhebungsargumente an der Realität relativistischer Theoriebildung weitgehend vorbeigehen. Die Aufgabe des vorliegenden Kapitels ist es zu zeigen, dass dies zumindest für das von ihm als NSBF-Argument⁶¹ benannte Argument zutrifft.⁶² Siegel stellt sein NSBF-Argument als modernisierte Version des platonischen Selbstaufhebungsarguments gegen Protagoras vor, das in Abschnitt 2.1 besprochen wurde. Er formuliert es folgendermaßen:
Insbesondere da Übersetzung, wie es ja auch in der Terminologie dieser Arbeit geschieht, häufig in einem übertragenen Sinne benutzt wird, bei dem es von vornherein nicht um eine Übertragung von einer natürlichen Sprache in eine andere geht. Aber auch in der Alltagssprache kommt es z. B. vor, dass metaphorisch von einer Übersetzung die Rede ist, wo wörtlich eine Paraphrase vorliegt etc. Die Abkürzung steht für „necessarily some beliefs are false“. Vgl. Siegel (1987), 6. Siegels zweites Selbstaufhebungsargument, das UVNR-Argument (UVNR steht für „undermines the very notion of rightness“ (Siegel (1987), 4)) wurde in Abschnitt 3.1.1 als Argument gegen den epistemischen Relativismus besprochen.
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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If ER [epistemological relativism] is true, then […] ER is itself relative to alternative, and equally legitimate, sets of background principles and standards of evaluation. Since these alternative sets will suggest differing evaluations of ER, and since there is no way neutrally to pick one evaluation over and against any others, it follows that, if ER is true, then ERʼs truth will vary according to the principles and criteria by which ER is evaluated. In particular, it follows that, if according to some set of standards […] ER is judged to be false, then, if ER is true, (at least according to that set of standards […]) ER is false. […] In this way, ER is selfrefuting and so incoherent.⁶³
Da Siegels Formulierung an zwei entscheidenden Stellen nicht ganz eindeutig ist, gibt es, ähnlich wie es in Bezug auf Platons Argument und die Frage der zu ergänzenden oder nicht zu ergänzenden Relativierungen festgestellt wurde, zwei unterschiedliche Lesarten des Arguments, eine starke und eine schwache, wobei die starke Lesart ungültig ist und die schwache für den Relativisten ungefährlich. Genau genommen gibt es, da es zwei unklare Stellen gibt, sogar vier unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten des Arguments, aber da im Folgenden deutlich werden sollte, dass jede Abschwächung des starken Arguments für sich genommen ausreichen würde, das Argument harmlos zu machen, werden hier nur die ‚Extremfälle‘ explizit angegeben. Die starke Lesart des Arguments sähe folgendermaßen aus: 1 Der Relativismus ist wahr. 2 Der Relativismus ist relativ wahr. 3 Der Relativismus ist relativ falsch. 4 Der Relativismus ist absolut falsch. Die schwache Lesart hingegen lautet: 1 Der Relativismus ist wahr. 2 Der Relativismus ist relativ wahr. 3 Falls es einen Rahmen gibt, der den Relativismus für falsch erklärt, ist er relativ falsch. 4 Der Relativismus könnte relativ falsch sein. Es ist also weder klar, ob Siegel behaupten möchte, dass es tatsächlich einen Rahmen gibt, in dem der Relativismus falsch ist, noch, ob er die Konklusion im Sinne relativer oder absoluter Falschheit verstanden wissen möchte. Die erste Unsicherheit ergibt sich daraus, dass Siegel zunächst davon spricht, dass, die Wahrheit des Relativismus angenommen, seine eigene Beurteilung variieren müsse, dann aber die Formulierung benutzt „if according to some set of
Siegel (1987), 7 f. (Hervorhebungen seine).
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
standards […] ER is judged to be false“.⁶⁴ Darüber hinaus zieht er folgende Parallele zu dem Argument, das Sokrates gegen Protagoras vorbringt: „This neatly mirrors the Socratic argument according to which Protagoras is bound by his own principles to recognize the falsity of Protagorean Relativism, so long as someone is of the opinion that it is false.“⁶⁵ Falls Siegel mit dieser Formulierung tatsächlich sagen will, dass die relative Falschheit des Relativismus nur folgt, falls es einen entsprechenden Rahmen gibt, und dass die Existenz eines solchen Rahmens spekulativ ist und nicht aus der These des Relativismus als solcher folgt, so hat er recht. In der Tat sind alethisch-relativistische Theorien nicht unbedingt darauf verpflichtet, dass es für jede Aussage einen Rahmen gibt, in dem sie wahr ist, und einen, in dem sie falsch ist. Das hat, wie in Abschnitt 1.8.3 dargestellt wurde, mit der Frage zu tun, wie genau die Globalität des Relativismus verstanden wird. Es ist nicht notwendig – und auch nicht plausibel –, diese so zu verstehen, dass es für jede Aussage tatsächlich zu Wahrheitswertvariationen zwischen unterschiedlichen Rahmen kommt. Es ist vielmehr hochgradig fragwürdig, wie man eine solche These jemals belegen können sollte, wenn man, wie die meisten alethischen Relativisten, von sprachartigen Rahmen ausgeht. Kurz gesagt: Die Folgerung von relativ wahr auf relativ falsch ist nur dann gültig, wenn man unter Relativismus ausschließlich anything-goes-Theorien versteht.⁶⁶ Liest man aber das „if“ in Siegels Formulierung in diesem Sinne, ist nicht klar, warum man hier noch von einer Selbstaufhebung sprechen sollte. Der Relativist kann in der Tat nicht ausschließen, dass es irgendeinen Rahmen geben könnte, in dem der Relativismus falsch ist. Aber solange der Absolutist diesen Rahmen nicht vorlegen und ihn zumindest als einen geeigneten für die Diskussion über Relativismus und Absolutismus darstellen kann (oder besser noch den Relativisten davon überzeugen könnte, ihn für ihre Auseinandersetzung zu benutzen), ist dessen hypothetische Existenz schlicht irrelevant. Selbst wenn es einen solchen Rahmen gäbe, würde er den Schritt von 2 zu 3 in der starken Lesart von Siegels Argument nicht legitimieren, da seine Existenz ja nicht aus dem Relativismus folgt, und insofern könnte seine Existenz höchstens als zweite Prämisse eingefügt werden, was das Argument aber eindeutig den Status als Selbstaufhebungsargument kosten würde. Diese Prämisse ließe sich auch nicht in eine Hintergrundbedingung einer dialektischen Selbstaufhebung ummünzen, wie die entsprechende ‚Annahme‘ in Platons Argument, denn die
Siegel (1987), 8 (Hervorhebungen D. S.). Siegel (1987), 8 (Hervorhebungen D. S.). Diesen Punkt macht auch Kölbel. Vgl. Kölbel (2011), 25 f.; Kölbel (2002), 122 f.
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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Tatsache, dass der Absolutist den Relativismus für falsch hält, verbürgt nur für die wenigsten relativistischen Theorien, dass es einen Rahmen gibt, in dem der Absolutist recht hat.⁶⁷ Insofern ist Platons Argument gegen Protagoras Siegels allgemeinerem antirelativistischen Argument klar überlegen. Kurz gesagt, in dem Fall, dass es einen solchen Rahmen gibt, wäre der Relativismus relativ falsch, aber dies würde nicht aus der Annahme der Wahrheit der relativistischen These folgen. Der Relativist kann sogar ohne den leisesten Anflug von Inkonsistenz bestreiten, dass es einen solchen Rahmen gibt. Wie gesagt, seine relativistische Theorie kann dies nicht ausschließen, sie ist aber andererseits auch nicht mit der Behauptung unvereinbar, dass es kontingenterweise keinen solchen Rahmen gibt, denn sie sagt überhaupt nur sehr wenig über die Inhalte anderer Rahmen aus. Probleme würde sich der Relativist nur dann einhandeln, wenn er versuchen würde, aus irgendwelchen Gemeinsamkeiten, die alle Rahmen haben müssen, abzuleiten, dass es keinen geben kann, der den Absolutismus für wahr und den Relativismus für falsch erklärt. Denn hier würde sich wieder die Frage stellen, ob die Behauptung, dass alle Rahmen diese Eigenschaften haben, relativ oder absolut wahr ist; und als relativ wahre könnte sie die ihr hier zugedachte Rolle nicht erfüllen, während sie als absolut wahre die relativistische These einschränken müsste, so dass diese kein globaler Relativismus mehr wäre, sondern ein Pluralismus. Aber diese Bedenken hindern den Relativisten nicht daran, aus von seinem Relativismus unabhängigen Gründen zu behaupten, dass es keine absolutismusfreundlichen Rahmen gibt, etwa auf der Grundlage, dass er viele Rahmen kennt und ein solcher ihm noch nicht begegnet sei. Er kann lediglich nicht behaupten, dass es keinen solchen Rahmen geben kann. Die zweite Unklarheit, die sich aus Siegels Formulierung seines Arguments ergibt, ist die, wie genau seine Konklusion zu verstehen ist; und sie entspricht ziemlich genau der Frage, ob man in Platons Argument die Relativierungen ergänzen sollte oder nicht (abgesehen von der Tatsache, dass die Relativierung in Siegels Text halbherzig vorhanden ist). Siegel schreibt: „then, if ER is true, (at least according to that set of standards […]) ER is false.“⁶⁸ Er setzt die Klammer und das „at least“ ein, als wäre es kein erheblicher Unterschied, ob etwas nun falsch relativ auf einen bestimmten Rahmen oder absolut falsch ist. Aber durch diesen Zug überdeckt er eine erhebliche Schwierigkeit seines Arguments, die, wie gesagt, der des platonischen entspricht, denn liest man die Konklusion im Sinne einer Zuschreibung absoluter Falschheit und ignoriert die Klammer, folgt sie nicht aus dem vorherigen Schritt. Nimmt man den Inhalt der Klammer allerdings für
Siehe zu diesem Punkt auch Abschnitt 3.3.5.3. Siegel (1987), 8 (Hervorhebungen seine).
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
voll und liest seine Folgerung lediglich als eine Zuschreibung relativer Falschheit, so ist sein Ergebnis für den Relativisten genauso ungefährlich, wie es für Protagoras die Folgerung wäre, dass seine Theorie falsch für Sokrates ist. Auch Siegels Verteidigung seines Arguments gegen den Vorwurf, es sei „question-begging“⁶⁹, hilft nicht weiter, denn sie kann weder die Unklarheiten auflösen noch eine der beiden möglichen Versionen des Arguments verteidigen. Zunächst gibt Siegel an, sein Argument setze keinen absoluten Wahrheitsbegriff voraus, und liefert eine Reformulierung der Konklusion des Arguments als eines Nachweises, dass der Relativist arbiträr den Relativismus statt den Absolutismus wählt. Dies entspricht der schwachen Lesart und versucht, sie doch noch gefährlich für den Relativisten zu machen. Doch unmittelbar, nachdem Siegel bestreitet, dass sein Argument einen absoluten Wahrheitsbegriff voraussetzt, erklärt er das Voraussetzen eines absoluten Wahrheitsbegriffs für zulässig, da er ein relatives Verständnis von Wahrheit für inkohärent hält.⁷⁰ Das legt nahe, dass Siegel doch noch versucht, die starke Lesart seines Arguments bzw. die starke Lesart seiner Konklusion zu verteidigen. Beide Argumente zur Stützung des Selbstaufhebungsarguments lassen allerdings zu wünschen übrig. Zunächst ist zur Frage der Arbitrarität der Wahl einer relativistischen Position zu sagen, dass dieser Vorwurf durch das von Siegel vorgebrachte Argument nicht substantiiert wird. Selbst wenn wir in dem anderen unklaren Punkt die starke Lesart zulassen und also davon ausgehen, dass aus der relativen Wahrheit des Relativismus tatsächlich seine relative Falschheit folgt, ergibt sich nicht, dass die Wahl einer relativistischen Theorie durch den Relativisten willkürlich erfolgt. Denn dass es irgendeinen Rahmen gibt, in dem der Relativismus falsch ist, heißt weder, dass dieser Rahmen dem Relativisten ohne weiteres zur Verfügung steht, noch heißt es, dass dieser Rahmen für die kognitiven Zwecke des Relativisten genauso geeignet ist wie der Rahmen, den er jetzt benutzt. Denn wenn der Schluss von relativ wahr auf relativ falsch zugelassen wird, kann er wohl kaum in dem Sinne zu interpretieren sein, dass es einen vollständig ausgearbeiteten Rahmen, der die entsprechende Bewertung vorsieht, gibt. Vielmehr kann es höchstens heißen, dass ein solcher Rahmen ausgearbeitet werden kann. Dass man einen Rahmen benutzt, der bereits vorliegt, anstatt auf den ausgesprochen vagen (in dem Sinne, dass man keinerlei Hinweise dafür bekommt, wie er aussehen müsste) Hinweis hin, dass es möglich sein müsste, einen Rahmen zu produzieren, der den Absolutismus für wahr erklärt, den benutzen Rahmen aufgibt und einen neuen
Siegel (1987), 24. Vgl. Siegel (1987), 25. Genau genommen hält Siegel ein relatives Wahrheitsverständnis für entweder inkohärent oder trivial oder von einem absoluten Wahrheitsverständnis abhängig.
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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herzustellen versucht (und das ohne Erfolgsgarantie), ist keine arbiträre Entscheidung, sondern eine pragmatisch kluge Entscheidung. Das Herstellen von Rahmen bedeutet nach vielen relativistischen Theorien Aufwand und Arbeit. Am wichtigsten an dieser Stelle ist natürlich die von Goodman, die am weitesten ausgearbeitete alethisch-relativistische Theorie, die in dieser Arbeit vorgestellt wurde, und dort tritt dieses Merkmal sogar besonders deutlich zu Tage.⁷¹ Nach Goodmans Verständnis müsste man für diesen Fall ein neues Symbolsystem entwickeln, das zunächst einmal komplex genug sein muss, um Fragen zu Relativismus und Absolutismus überhaupt formulieren zu können, es müsste genug Kontinuität mit vorhandenen Symbolsystemen besitzen, um durch seine Verwender tatsächlich benutzbar zu sein, und es müsste eine Aussage für wahr erklären, die sich in das Symbolsystem, in dem der Relativismus wahr ist, übersetzen lässt als „Der Absolutismus ist wahr“. Darüber hinaus müsste es auch praktische Zwecke erfüllen können, wie z. B. interessante Beschreibungen von Rahmen und ihren Zusammenhängen liefern, die weitergehende Überlegungen zu Erkenntnis etc. ermöglichen. Denn solange es in diesen Hinsichten nicht dem relativistischen Symbolsystem ebenbürtig ist, ist die Entscheidung des Relativisten eben alles anderer als arbiträr. In diesem Fall wäre viel eher der Absolutist in einer fragwürdigen epistemischen Situation, wenn sein einziger Grund, sich für das absolutistische System zu entscheiden, wäre, dass es eben den Absolutismus stützt. Es sollte nicht verwundern, dass die Aufgabe, die hier vor dem Absolutisten läge, wollte er den Relativisten tatsächlich von der Arbitrarität seiner Wahl des Relativismus als Position überzeugen, ziemlich genau der entspräche, eine originelle und überzeugende absolutistische Philosophie zu entwerfen. Damit wäre deutlich mehr zu erreichen als mit fragwürdigen Selbstaufhebungsvorwürfen. Siegels Versuch, die harmlose Konklusion doch noch zu einer Gefahr zu erklären, scheitert also, solange er es nicht mit anything-goes-Theorien zu tun hat, oder zumindest Formen des Relativismus, die eine kritisch-bewertende Haltung gegenüber Rahmen unmöglich machen. Aber abgesehen von starken Formen des Subjektivismus und vielleicht einigen kulturrelativistischen Ansätzen, auf die im
So z. B. in der folgenden Passage aus Ways of Worldmaking: „Moreover, while readiness to recognize alternative worlds may be liberating, and suggestive of new avenues of exploration, a willingness to welcome all worlds builds none. Mere acknowledgement of the many available frames of reference provides us with no map of the motions of heavenly bodies; acceptance of the eligibility of alternative bases produces no scientific theory or philosophical system; awareness of varied ways of seeing paints no pictures. A broad mind is no substitute for hard work.“ Goodman (1978), 21.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
Zusammenhang mit Putnams antirelativistischen Argumenten noch näher einzugehen sein wird, sind solche Positionen Mangelware. Hinzu kommt, dass Vertreter radikal subjektivistischer Ansätze, wie z. B. Protagoras, sich durch das Ergebnis, dass ihre Wahl einer Position arbiträr ist, kaum beeindrucken lassen dürften. Diese Konklusion ist nur für relativistische Theoretiker relevant, die das Kind des Begründens und Hinterfragens von Theorien nicht mit dem absolutistischen Badewasser ausschütten wollen, aber diese stellen eben in der Regel auch keine Theorien auf, die ihre eigene Entscheidung für eine Position als arbiträr bewerten würden. Siegels zweiter Versuch, sein Argument zu retten – oder besser, sein Versuch die starke Lesart seiner Konklusion zu retten –, scheitert ebenso. Dieser besteht, wie gesagt, darin, dass er versucht, die Verwendung eines absolutistischen Wahrheitsbegriffs in seinem Argument zu rechtfertigen, indem er bestreitet, dass es einen eigenständigen, kohärenten und nicht trivialen Begriff relativer Wahrheit gibt. Es kann hier nicht ausführlich darauf eingegangen werden, ob diese Beurteilung zutrifft, aber Siegel ist mit Sicherheit darin recht zu geben, dass die Vorschläge von Meiland, mit denen er sich ausführlich auseinandersetzt, um seine These der Inkohärenz des relativistischen Wahrheitsbegriffs zu stützen, einige Schwierigkeiten haben.⁷² Allerdings sind dies auch die einzigen Vorschläge, mit denen er sich ausführlich befasst, während er sich z. B. nicht die Mühe macht, einen Begriff relativer Wahrheit in der Theorie Goodmans zu suchen (mit der er sich zwar ausführlich beschäftigt, aber nicht in diesem Zusammenhang) oder die Frage zu stellen, ob nicht die ganz alltägliche Sprachabhängigkeit der Wahrheit ein Phänomen ist, das relative Wahrheit deutlich weniger mysteriös und kompliziert erscheinen lässt, als der Inkohärenzvorwurf an einen relativen Wahrheitsbegriff es verlangt. Genauso wenig setzt Siegel sich mit der Frage auseinander, ob es überhaupt einen kohärenten absolutistischen Begriff von Wahrheit gibt, von dem der relative abhängig sein könnte, oder ob nicht vielmehr sowohl das absolutistische Wahrheitsverständnis als auch das relativistische (inkohärente) Erweiterungen eines in dieser Hinsicht neutralen Alltagsverständnisses oder vielleicht deflationistischen Konzeptes von Wahrheit sind. Allerdings ist auch nicht ganz klar, was Siegel sich von diesem Manöver verspricht. Selbst wenn kein kohärenter relativer Begriff der Wahrheit zur Verfügung stünde, würde dies nicht die Verwendung eines absolutistischen Wahrheitsbegriffs in seinem Argument rechtfertigen, das ja als Selbstaufhebungsargument immerhin von der relativistischen These selbst ausgehen soll. Er spricht davon, dass der Ab-
Siehe dazu Abschnitt 1.5.6.1.
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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solutist dem Relativisten freundlicherweise den einzigen kohärenten Wahrheitsbegriff zur Verfügung stellt,⁷³ aber dann sollte von Anfang an offen die Rede vom Relativismus als absolut wahr sein,⁷⁴ anstatt mitten im Argument von einem relativen zu einem absoluten Wahrheitsverständnis zu springen. Dies steht aber natürlich außer Frage, da ein globaler Relativist die Prämisse ablehnen müsste. Um den Sprung zu rechtfertigen, müsste der Nachweis der Inkohärenz des relativistischen Wahrheitsverständnisses selbst Teil des Selbstaufhebungsargumentes sein, und es müsste einen Nachweis enthalten, dass ein absolutes Wahrheitsverständnis die einzige Alternative ist, beides müsste aus der relativistischen Theorie selbst gefolgert werden. Aber so wie das Argument ist, mit der starken Lesart der Konklusion, ist es schlicht unbrauchbar. Trotzdem ist Siegels Argument durchaus ein wichtiger Beitrag zur Relativismusdebatte, insofern eine eingehende Beschäftigung mit seinen Mehrdeutigkeiten und sonstigen Schwierigkeiten einen sehr genauen Blick darauf erfordert, welche Verpflichtungen der Relativist überhaupt in Bezug auf das Vorhandensein und die Inhalte anderer Rahmen eingeht. Dies ist ein Thema, das leider viel zu selten angegangen und einigermaßen detailliert behandelt wird. Seine Auswirkungen für die Widerstandskraft einer relativistischen These gegen absolutistische Einwände sind jedoch, wie gerade zu sehen war, immens.
3.3.2 Putnams antirelativistische Argumente Hilary Putnam ist ohne Zweifel einer der interessantesten und subtilsten relativistischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Zwar hat Putnam auch in diesem Jahrhundert noch viel Bedenkenswertes geschrieben, aber, wie im Abschnitt zum metaphysischen Relativismus angesprochen, ist es eine ganz bestimmte Phase seines Werks, die sich als relativistisch charakterisieren lässt – und das ist die Phase, in der er seinen internen Realismus entwickelt hat. Die wichtigsten Werke dieser Phase stammen aus den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts; und obwohl Putnam zu dieser Zeit eine relativistische Theorie vertrat, hat er sich selbst nie als Relativisten bezeichnet – seine nächste Annäherung an eine solche Selbstzuschreibung war seine Betitelung einer seiner zentralen Thesen als „conceptual relativity“ – und einige scharfe und originelle Kritikpunkte gegen
Vgl. Siegel (1987), 25. Dies könnte z. B. anhand einer prefixability-These im Sinne Mackies zu begründen versucht werden.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
den Relativismus vorgebracht. In Reason, Truth and History schreibt er sogar: „That (total) relativism is inconsistent is a truism among philosophers.“⁷⁵ Gerade weil Putnam selbst eine ausgesprochen intelligente Form des Relativismus vertritt, sind seine Argumente wertvoll, wenn es um die Frage geht, wie ein plausibler Relativismus auszusehen hat.⁷⁶ Deswegen sollen in diesem Kapitel zwei seiner antirelativistischen Argumente vorgestellt werden. Es wird zu zeigen sein, dass auch die (im Vergleich zu Putnams metaphysischem Relativismus) stärkere relativistische Auffassung des alethischen Relativismus eine Chance hat, Putnams Argumenten zu entgehen. Die von Putnam zu Recht kritisierten Formen des Relativismus haben wichtige Gemeinsamkeiten, die nichts mit der Unterscheidung von alethischem und metaphysischem Relativismus zu tun haben. Ziel der Putnamʼschen Kritik scheinen vielmehr Formen des Relativismus zu sein, die eine sehr enge Bindung zwischen Subjekt und Rahmen behaupten. Das sind einerseits subjektivistische Formen des Relativismus, in der jeder seinen eigenen Rahmen besitzt, die in Reason, Truth and History im Mittelpunkt der Kritik stehen, und andererseits kulturrelativistische Theorien, die das Subjekt an einen einzigen Rahmen binden, mit denen sich Putnam in Realism and Reason auseinandersetzt.
3.3.2.1 Wittgensteins Privatsprachenargument und der Relativismus Das erste Argument von Putnam, das hier vorgestellt werden soll, beginnt mit einem Bezug auf Platons berühmtes Argument gegen den Protagoreischen Relativismus und verspricht, dessen laut Putnam richtigen, aber nicht optimal umgesetzten Grundgedanken in eine neue Form zu bringen und so ein schlagendes Argument gegen den Relativismus hervorzubringen. Dafür bedient Putnam sich Wittgensteins Privatsprachenargument, indem er dessen Punkt, dass es nicht möglich ist, einem Ausdruck eine private Bedeutung zu verleihen, da sonst der Unterschied zwischen dem richtigen Verwenden eines Ausdrucks und dem Überzeugtsein, dass man einen Ausdruck richtig verwendet, verschwände, auf eine relativistische Auffassung von Wahrheit überträgt: [I]f statements of the form ‚X is true (justified) relative to person P‘ are themselves true or false absolutely, then there is, after all, an absolute notion of truth (or of justification) and not only of truth-for-me, truth-for Nozick, truth-for-you, etc. A total relativist would have to say that whether or not X is true relative to P is itself relative. At this point our grasp on
Putnam (1981), 119. Dieser Auffassung ist auch Throop, der in seinem Aufsatz „Relativism and Error: Putnamʼs Lessons for the Relativist“ anhand von drei Argumenten von Putnam drei Eckpunkte für kohärente relativistische Theorien ausarbeitet. Siehe Throop (1989).
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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what the position even means begins to wobble, as Plato observed. Platoʼs line of attack on relativism does not seem to have been followed up until recently. But it was brilliantly extended by Wittgenstein in, of all places, the Private Language Argument […]. The form of relativism Wittgenstein was concerned to attack is known as ‚methodological solipsism‘. A ‚methodological solipsist‘ is a non-realist or ‚verificationist‘ who agrees that truth is to be understood as in some way related to rational acceptability, but who holds that all justification is ultimately in terms of experiences that each of us has a private knowledge of. […] [E]very statement has a different sense for every thinker. Wittgensteinʼs argument seems to me to be an excellent argument against relativism in general. The argument is that the relativist cannot, in the end, make any sense of the distinction between being right and thinking he is right; and that means that there is, in the end, no difference between asserting or thinking, on the one hand, and making noises (or producing mental images) on the other. But this means that (on this conception) I am not a thinker at all but a mere animal. To hold such a view is to commit a sort of mental suicide.⁷⁷
Dies ist klarerweise ein Selbstaufhebungsargument in dem in dieser Arbeit verwendeten Sinne: Das Problem, das Putnam für den Relativismus sieht, nimmt seinen Ausgang bei der Anwendbarkeit der relativistischen These auf sich selbst
Putnam (1981), 121 f. (Hervorhebungen seine). Feyerabend hat eine interessante Replik auf Putnams Kritikpunkt, dass für den Relativisten Behaupten nicht mehr als „making noises“ sein kann: „From what has just been said it also follows that speaking a language goes through stages where speaking indeed amounts to merely ‚making noises‘ […]. For Putnam this is a criticism of the views he ascribes to Kuhn and myself. For me it is a sign that Putnam is unaware of the many ways in which language can be used. Little children learn a language by attending to noises which, being repeated in suitable surroundings, gradually assume meaning. Commenting on the explanations which his father gave him on logical matters Mill writes […]: ‚The explanations did not make the matter clear to me at the time; but they were not therefore useless; they remained as a nucleus for my observations and reflections to crystallize upon; the import of his general remarks being interpreted to me, by the particular instances which came under my notice afterwards.‘ Saint Augustine advised parsons to teach the formulae of the faith by rote adding that their sense would emerge as a result of prolonged use within a rich, eventful and pious life. Theoretical physicists often play around with formulae which do not yet make any sense to them until a lucky combination makes everything fall into place (in the case of the quantum theory we are still waiting for this lucky combination). And Achilles, by his way of talking, created new speech habits which eventually gave rise to new and more abstract conceptions of honor, virtue and being. Thus using words as mere noises has an important function even within the most advanced stages of speaking a language” (Feyerabend (1987b), 79 f. (Hervorhebungen seine)). Feyerabend hat hier – obwohl er Putnam natürlich insofern verfehlt, als dieser davon spricht, dass unter relativistischen Voraussetzungen jede sprachliche Äußerung bloße Geräuschproduktion wäre – einen wichtigen Punkt, der in der Relativismusdebatte leider allzu oft übersehen wird. Er hat nämlich vollkommen recht, dass es unter Bedingungen einer sich ständig verändernden und weiterentwickelnden Sprache keinen Sinn ergibt, von Bedeutung als einem statischen Ding zu reden, das ein Ausdruck entweder hat oder nicht hat und das bei dessen erster Verwendung bereits präsent sein muss.
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und es führt zu einem völlig inakzeptablen epistemischen Status nicht nur für die relativistische These selbst, sondern für alles, was der Relativist vorzubringen hat. Die Parallele, auf die Putnam hinweist, ist deutlich: So wie der „methodological solipsist“ keine andere Grundlage als private Eindrücke für den Rechtfertigungsstatus und die Überprüfung seiner Aussagen hat, so hat der Relativist – oder zumindest die spezifische Art von Relativist, von der hier die Rede ist – nur seine privaten Urteile über die Wahrheit bzw. relative Wahrheit seiner Aussagen als Grundlage für deren Einteilung in (relativ) wahr oder falsch. Damit wird die Unterscheidung zwischen subjektivem Fürwahrhalten und Wahrheit selbst zu einer subjektiven und verschwindet dadurch. Es sollte hinzugefügt werden, dass diese Unterscheidung selbstverständlich eine Instanz von normativer Distanz ist, die dem Relativisten verlorengeht. Aus dieser kognitiven Sackgasse bietet Putnam dem Relativisten einen Ausweg an, indem er vorschlägt, dieser könne denselben Weg gehen wie der interne Realist, um der Notwendigkeit eines absoluten Wahrheitsverständnisses zu entgehen. Aber der Relativist kann diesen Weg laut Putnam nicht beschreiten: The relativist might borrow the idea that truth is an idealization of rational acceptability. He might hold that X is true-for-me if ‚X is justified-for-me‘ would be true provided I observed carefully enough, reasoned long enough or whatever. […] A non-realist or ‚internal‘ realist regards conditional statements as statements which we understand (like all other statements) in large part by grasping their justification conditions. This does not mean that the ‚internal‘ realist abandons the distinction between truth and justification, but that truth (idealized justification) is something we grasp as we grasp any other concept, via a (largely implicit) understanding of the factors that make it rationally acceptable to say that something is true. […] The non-realist rejects the notion that truth is correspondence to a ‚readymade world‘. […] But rejecting the metaphysical ‚correspondence‘ theory of truth is not at all the same thing as regarding truth or rational acceptability as subjective. […] The attempt to use conditionals to explicate the distinction between being right and thinking one is right fails, then, because the relativist has no objective notion of rightness for these conditionals any more than he does for any other sort of statement.⁷⁸
Dieser Ersatz für einen absolutistisches Verständnis von Wahrheit, den Putnam hier vorschlägt, mag zwar nicht die einzige Möglichkeit sein, die Unterscheidung von Wahrheit und Fürwahrhalten wiederherzustellen, man könnte sich vielleicht auch eine pragmatistische Option vorstellen o. Ä. Putnams Punkt bliebe aber vermutlich bei jedem denkbaren Ersatz erhalten, denn auch diesen müsste der Relativist als von seinen eigenen Urteilen über die Erfüllung der Ersatzbedin-
Putnam (1981), 122 f. (Hervorhebungen seine).
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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gungen abhängig betrachten bzw. als Fürwahrhalten von Aussagen über die Erfüllung der Ersatzbedingungen verstehen. William M. Throop interpretiert diese Ausführungen Putnams im Kern als Regressargument. Laut Throop möchte Putnam darauf hinaus, dass der Relativist die fraglichen Konditionale nicht einfach durch mehr Konditionale interpretieren kann und deswegen objektive Richtigkeit als Regressstopper benötigt. Throop legt daraufhin eine ausführliche und durchaus überzeugende Verteidigung des Relativismus vor, deren Kerngedanke ist, dass in einem pragmatistisch ausgerichteten Relativismus der Regress immer nur so weit reicht wie das vernünftige Fragen nach mehr Fehlermöglichkeiten. Nach ihm ist es nicht nötig, dass alle möglichen Aussagen einer solchen Kette bereits jetzt festgelegte Wahrheitswerte haben, schon weil ihre genaue Bedeutung erst noch durch das Stellen der Fragen, auf die sie eine Antwort bilden sollen, festgelegt werden muss. Er verweist auch auf die von Putnam selbst bisweilen verwendete Wendung Wittgensteins vom Spaten, der sich zurückbiegt.⁷⁹ M. E. ist Throops Antwort eine gute Antwort auf den häufig gegen den Relativismus angeführten Regresseinwand.⁸⁰ Allerdings scheint Putnams Argument nicht wirklich ein Regressargument zu sein, wofür es einige Hinweise gibt. So schreibt Putnam nur eine Seite, bevor er die Frage stellt, ob der Relativist Konditionale verwenden könnte, um seine kognitive Misere zu mildern, über Platons Argument, das er als Regressargument interpretiert: „Platoʼs argument is not a good one as it stands. Why should Protagoras not agree that his analysis applies to itself? It doesnʼt follow that it must be selfapplied an infinite number of times, but only that it can be self-applied any finite number of times.“⁸¹ Diese Kritik an Platons Argument bzw. an Putnams Lesart desselben klingt nicht, als könnte der Regress als solcher der Punkt von Putnams eigenem Argument sein, sie ähnelt sogar Throops Verteidigung des Relativismus. Es ist auch nicht ersichtlich, warum Putnam, wenn er ein Regressargument vorbringen wollte, den Umweg über Wittgenstein nehmen sollte, vor allem da in seiner Beschreibung des Privatsprachenarguments und seiner Relevanz für den Relativismus keinerlei Bezug auf einen Regress genommen wird. Die Bedrohung durch einen Regress sieht Throop dann auch erst in dem von Putnam gemachten und im Endeffekt für wirkungslos erklärten Reparaturvorschlag für den Relativismus, und auch dort erwähnt Putnam selbst keinen drohenden Regress. Es ließe sich einwenden, dass Putnam immerhin sagt, dass sein Argument eine Weiterentwicklung von Platons ist, aber was Putnam m. E. für Platons große Vgl. Throop (1989), 676 – 679. Eine Verteidigung gegen einen etwas anders formulierten Regresseinwand findet sich in Kölbel (2002), 126. Putnam (1981), 121.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
Entdeckung hält, ist nicht der drohende Regress, sondern lediglich die Iterabilität der Relativität, auf der der Regressvorwurf beruht. Dafür spricht auch, dass sich Putnam an zwei unterschiedlichen Stellen so ausdrückt, als läge das Problem für den Relativisten exakt auf der Stufe der ersten Iteration der Relativitätszuschreibung, also auf der Stufe von „Es ist relativ auf X wahr, dass es relativ auf Y wahr ist, dass P“ bzw. dort, wo der Relativismus auf sich selbst angewandt und sein eigener relativer Status erkannt wird.⁸² Ein weiterer wichtiger Grund, Putnams Argument nicht als Regressargument zu lesen, ist, dass Putnam die Begrifflichkeit der Absolutheit von Wahrheiten benutzt, als er die Interpretation des metaphysischen Realisten für die fraglichen Konditionale anspricht, sein eigenes Verständnis der Konditionale und den Kontrast mit dem Relativisten aber anhand der Entgegensetzung von subjektiv und objektiv formuliert.⁸³ Mit absoluten Aussagen und objektiven Aussagen scheint es also zwei unterschiedliche Möglichkeiten zu geben, dem Schicksal des mentalen Selbstmords zu entgehen, ein Regress andererseits lässt sich nur entweder stoppen oder nicht stoppen. Es scheint in der Tat die Gegenüberstellung von Subjektivität und Objektivität zu sein und die Affinität Ersterer zu der bei Wittgenstein angesprochenen Privatheit, die den Kern des Arguments bildet. Das Problem des Relativismus ist dann nicht der Regress, denn aus diesem könnte der Relativist laut Putnam jederzeit aussteigen,⁸⁴ sondern, dass – wo auch immer er aussteigt – er bei subjektiven Aussagen landet. Insofern ist es kein Zufall, dass sämtliche Beispiele für Relativierungen von Wahrheit, die Putnam in diesem Abschnitt erwähnt, Relativierungen auf Subjekte sind und dass er auch außerhalb seiner Beschreibung des Arguments von Platon Protagoras erwähnt, denn sein Argument ist in erster Linie eines gegen den Subjektivismus.⁸⁵ Allerdings können auch andere Formen des Relativismus von Putnams Argument getroffen werden, denn der Zusammenfall von Wahrheit und Urteilen
„The important point to notice is that if all is relative, then the relative is relative too.“ (Putnam (1981), 120). „A total relativist would have to say that whether or not X is true relative to P is itself relative. At this point our grasp on what the position even means begins to wobble, as Plato observed.“ Putnam (1981), 120. Vgl. Putnam (1981), 122 f. Tatsächlich klingt Putnams Formulierung des Verständnisses der Konditionale durch den internen Realisten, mit Hilfe deren er idealisierte rationale Akzeptabilität beschreibt, durch das Vorkommen von Rechtfertigungsbedingungen in eben dieser Beschreibung, selbst nicht völlig regressresistent. Es ist allerdings nicht ganz klar, ob das Argument alle Formen des Subjektivismus gleichermaßen treffen kann. Ein Subjektivismus z. B., der von vornherein mit einem idealisierten Überzeugungssystem arbeitet, könnte in der Lage sein, der Kritik zu entgehen.
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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über Wahrheit ist keine exklusiv subjektivistische Eigenschaft. Dasselbe Argument träfe auch einige Varianten von Konsenstheorien der Wahrheit, insofern diese nicht mehr bieten können als ein mehr oder weniger zufälliges Konvergieren subjektiver Urteile. Damit ist Putnams Argument in der hier vorgestellten Lesart deutlich näher an seinem Wittgensteinʼschen Vorbild, als es die Regresslesart zulässt. Die Entgegensetzung von objektiv und subjektiv entspricht in der Interpretation, die ihr Putnam gibt, der Gegenüberstellung von privat und öffentlich, wie sie sich aus dem Privatsprachenargument ersehen lässt, allerdings gewendet auf Urteile statt auf Sprache. Dabei kommt es auf Zugänglichkeit für andere und Überprüfbarkeit an und auf die Abwesenheit oder zumindest starke Einschränkung von Willkür, die bei Putnam vor allem damit zu tun hat, dass eine relativistische Gleichwertigkeitsthese angesichts praktisch nicht gleich brauchbarer conceptual schemes keine Chance hat.⁸⁶ In Putnams Argument geht es also darum, dass relativistische Theorien, die sein Verständnis von Objektivität nicht inkorporieren können, sich als inkonsistent erweisen, da sie Aussagen etc. zu bloßen Geräuschen und Gekritzel erklären. Dies ist natürlich sehr nah an einem direkten Vorwurf dessen, was in Abschnitt 2.1.6 als das Fehlen von normativer Distanz benannt wurde, auch wenn es hier um eine ganz bestimmte, wenn auch nach Putnams Auffassung wohl minimale, Form von normativer Distanz geht; und in der Tat waren Putnams Überlegungen eine wichtige Anregung für die Entwicklung des Konzepts. Trotzdem geht Putnams Beurteilung der Situation hier zu weit. Wie gesagt ist es nur eine – oder eher zwei, schließlich bleibt dem Relativisten auch ein Rückgriff auf absolutistische Konzepte verwehrt – spezifische Manifestation von Distanz, die Putnam dem Relativismus hier abspricht; und Argumente, die eindeutig beweisen könnten, dass es sich hier um eine Minimalform handelt oder dass es keine Form von Distanz geben kann, die mit Theorien dieser Art vereinbar ist, fehlen (oder auch ein eventuelles Zugeständnis von relativistischer Seite, dass Äußerungen etc. bloße Geräusche sind, so dass eine ad-hominem-Selbstaufhebung in Frage käme). Deswegen ist die Sachlage m. E. nicht hinreichend, um hier Inkonsistenz zuzuschreiben, aber sie verweist auf eine erhebliche theoretische Lücke, die von subjektivistischen u. Ä. Theorien zu füllen wäre, bevor sie als theoretische Alternativen in Erwägung gezogen werden können. Aber neben diesem eher einschränkenden Ergebnis haben Putnams Überlegungen in der Tat wichtige Erkenntnisse zu der Frage eingebracht, wie ein plausibler Relativismus auszusehen hat – allen voran die, dass absolut und objektiv
Siehe dazu auch Putnam (1981), Kapitel 3, insb. 54– 56.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
nicht dasselbe sind, dass relativ und subjektiv nicht dasselbe sein dürfen und dass eine plausible relativistische Theorie ein Verständnis der Objektivität dessen, was sie selbst vorbringt, sowie der Inhalte von Rahmen und deren Wahl benötigt.
3.3.2.2 Kulturrelativistischer Solipsismus Putnams zweites antirelativistisches Argument, das hier vorgestellt werden soll, weist erhebliche Ähnlichkeiten mit dem gerade besprochenen auf. Es geht zwar diesmal explizit um eine ganz bestimmte Form des Relativismus, und diese ist auch keine subjektivistische. Dafür taucht die Figur des „methodological solipsist“ wieder auf, diesmal allerdings direkt aus Carnaps Der logische Aufbau der Welt und Machs Analyse der Empfindungen gespeist und nicht aus der Wittgensteinʼschen Kritik.⁸⁷ Putnam legt zunächst eine Beschreibung und Kritik dieser Position vor, um sie dann mit der kulturrelativistischen Sichtweise parallel zu setzen und dieser dieselben Probleme in nur leicht abgewandelter Form zuzuschreiben. Deswegen lohnt es sich, zunächst einen ausführlichen Blick auf Putnams Ausführungen zum methodologischen Solipsisten zu werfen: [H]e holds that everything he can conceive of is identical (in the ultimate logical analyses of his language) with one or another complex of his own experiences. What makes him a methodological solipsist as opposed to a real solipsist is that he kindly adds that you, dear reader, are the ‚I‘ of this construction when you perform it: he says everybody is a (methodological) solipsist. The trouble, which should be obvious, is that his two stances are ludicrously incompatible. His solipsist stance implies an enormous asymmetry between persons: my body is a construction out of my experiences, in the system, but your body isnʼt a construction out of your experiences. Itʼs a construction out of my experiences. And your experiences – viewed from within the system – are a construction out of your bodily behavior, which, as just said, is a construction out of my experiences. My experiences are different from everyone elseʼs (within the system) in that they are what everything is constructed from. But his transcendental stance is that itʼs all symmetrical: the ‚you‘ he addresses his higher-order remark to cannot be the empirical ‚you‘ of the system. But if itʼs really true that the ‚you‘ of the system is the only ‚you‘ he can understand, then the transcendental remark is unintelligible. Moral: donʼt be a methodological solipsist unless you are a real solipsist!⁸⁸
Die Probleme für den methodologischen Solipsisten, so wie ihn Putnam darstellt, liegen klar auf der Hand. Einerseits stellt er einen universellen Reduktionsanspruch, die ganze Welt soll in den Erfahrungen des Einzelnen aufgehen, in dem Vgl. Putnam (1983), 236. Putnam (1983), 236 f. (Hervorhebungen seine).
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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Sinne, dass sie komplett durch sie definierbar ist.Was nicht so definierbar ist, wird aus dem Raum verstehbarer Ausdrücke ausgeschlossen. Andererseits geht er aber davon aus, dass es Dinge gibt, die sich nicht in dieser Art und Weise reduzieren lassen, nämlich sein Gegenüber, das es in einem völlig anderen Sinne geben muss als im Sinne einer logischen Konstruktion aus den Erfahrungen des methodologischen Solipsisten, wenn es denn tatsächlich in der Lage sein soll, selbst das Subjekt einer solchen Konstruktion zu sein. Das aber heißt, dass weder die Aussage, dass es das Gegenüber in diesem Sinne gibt, noch, dass es das Subjekt seiner eigenen Konstruktion ist, für den methodologischen Solipsisten verstehbare Ausdrücke sind. Nach seinen eigenen Maßstäben ist er nicht in der Lage zu verstehen, was seine Behauptungen über sein Gegenüber als logischen Konstrukteur bedeuten, sie sind ganz einfach sinnlos und sollten insofern aus der Theorie entfernt werden, zurück bleibt dann nur noch ein ‚echter‘ Solipsismus. Die Übertragung auf den Fall des Kulturrelativismus gelingt Putnam allerdings leider nicht vollständig. Er argumentiert davon ausgehend, dass der Kulturrelativist behaupte, dass jede seiner Wahrheitszuschreibungen eigentlich bedeute „X ist als wahr festgelegt durch die Normen meiner Kultur“.Wie aber bereits im Abschnitt zur Relativismusdefinition Boghossians dargelegt wurde, ist dies keine gelungene Charakterisierung vieler relativistischer Theorien. Zwar fällt bei Putnam das Problem der Unterstellung einer error theory weg, da sein Relativist davon ausgeht, dass die relativierten Satzinhalte bereits die Inhalte unserer nicht explizit relativierten Sätze bilden, aber die Probleme, die mit dem denotativen Bezug auf den Rahmen im Satzinhalt einhergehen, bleiben bestehen, insbesondere auch die Inkompatibilität einer solchen mit alethischen Relativismen, die sprachartige Rahmen verwenden.⁸⁹ Über diese Schwierigkeit könnte man vielleicht hinwegsehen, da es Putnam ja explizit um einen Kulturrelativismus geht, also um einen Rahmen, der weit mehr als nur eine Sprache umfasst, aber die grundsätzlichen Schwierigkeiten damit, auf diese Weise einen globalen Relativismus zu modellieren, sind sehr wohl relevant. Darüber hinaus ist auch das auf diese Charakterisierung der relativistischen These folgende Argument, in dem Putnam die absurde Form aufzeigt, die ein solcher Relativist seinen eigenen Äußerungen über die Äußerungen von Mitgliedern anderer Kulturen unterstellen müsste, nicht ohne Probleme.
Hier sollte auch noch einmal an Goodmans Position im Rahmen des Zwiebelargumentes erinnert werden, dass Aussagen der Form „In Bezugssystem A ist p wahr“ nicht dasselbe besagen wie die Aussage p selbst, da sie von völlig anderen Gegenständen sprechen.
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Putnam stellt hier einen amerikanischen Kulturrelativisten, den er R.R.⁹⁰ nennt, vor, der über eine Aussage eines deutschen Sprechers, Karl, und deren Bedeutung spricht: To spell this out, suppose R.R., a cultural relativist, says When Karl says ‚Schnee ist weiss‘, what Karl means (whether he knows it or not) is that snow is white as determined by the norms of Karlʼs culture.‘ […] Now the sentence ‚Snow is white as determined by the norms of German culture‘ is itself one which R.R. has to use, not just mention, to say what Karl says. On his own account what R.R. means by this sentence is ‚Snow is white as determined by the norms of German culture‘ is true by the norms of R.R.ʼs culture. […] Substituting this back into the first displayed utterance, (and changing to indirect quotation) yields: When Karl says ‚Schnee ist weiss‘, what he means (whether he knows it or not) is that it is true as determined by the norms of American culture that it is true as determined by the norms of German culture that snow is white.⁹¹
Aber diese Substitutionen sind problematisch, wie Preston treffend anmerkt: [T]he substitution move is invalid, since ‚means that…‘ and ‚means…‘ are opaque contexts, in which substitution of coextensive or even synonymous sentences systematically fails to preserve truth-value. If Karl means (that) p, and q is another statement which gives the meaning of p, it does not necessarily follow that Karl means (that) q. Evidently, Putnam has attempted to divert this complaint by relying on the notion of what Karl means ‚whether he knows it or not‘, which would be transparent, but the issue is whether there is such a concept of meaning at all.⁹²
Insofern kann Putnams Argumentation dafür, dass der Kulturrelativist andere Kulturen zu logischen Konstruktionen seiner eigenen erklärt, nicht vollständig überzeugen. Trotzdem gibt es eine deutliche Parallele zwischen dem Bild, das Putnam vom methodologischen Solipsismus zeichnet, und der Vorstellung, dass man nur nach den Maßstäben der eigenen Kultur Wahrheiten erlangen kann und dass jede Kultur ihre eigenen Wahrheiten bestimmt. Wie soll eine Kultur (die eigene) Wahrheit diktieren und trotzdem noch das, was andere Kulturen diktieren, als Wahrheit zulassen können? Es ist nicht klar, wie ein so verstandener Kulturrelativismus – und es sollte hinzugefügt werden, dass ich nicht sicher bin, ob jemals Diese Bezeichnung wählt Putnam wohl, da er sich unter anderem auf die Theorie von Richard Rorty bezieht. Vgl. Putnam (1983), 236. Putnam (1983), 237. Preston (1992), 67.
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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jemand einen so verfassten Kulturrelativismus vertreten hat, mit Sicherheit ist es aber eine schiefe Interpretation von Rorty, den Putnam in seinen Überlegungen anspricht – verständlich machen will, dass das, was eine andere Kultur in Überzeugungsfragen diktiert wird, von derselben Art (nämlich Wahrheit) ist wie das, was die eigene Kultur diktiert. Es gibt keinen Grund, die Positivbewertung aus der Innensicht der eigenen Kultur auf andere Kulturen zu übertragen, die prinzipiell unzugänglich sind. Insofern hat Putnam einen Punkt, wenn er davon spricht, dass der Kulturrelativismus am Ende in einen Kulturimperialismus kollabiert, wie der methodologische Solipsismus in einen echten Solipsismus. Die Rede von anderen wahrheitsgenerierenden Instanzen ist nämlich in ganz ähnlicher Weise unverständlich wie die Rede von anderen logischen Konstrukteuren unter Bedingungen des methodologischen Solipsismus, insofern die Gleichartigkeit ihres Status und des Status des von ihnen Determinierten unmöglich erfahren oder anderweitig nachvollzogen werden kann, solange nur ganz genau eine Innensicht für jedes Subjekt zulässig bzw. möglich ist. Dieselbe Perspektive auf die eigene Kultur wie auf andere einzunehmen, wäre wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, hier eine Gleichsetzung vorzunehmen, aber wie das möglich sein soll, solange man in einer Innensicht gefangen ist und diese (als einzige) Autorität über die Wahrheit ausübt, ist völlig unklar. Dies ist allerdings ein Problem, das die meisten alethischen Relativismen nicht haben, da sie keine strikte Bindung zwischen dem Individuum und genau einem Rahmen vorsehen und auch kein strenges Determinierungsverhältnis von (großen und extrem komplexen) Rahmen zu ihren Inhalten behaupten. Die Möglichkeit, den Rahmen zu wechseln, und die Vertrautheit mit unterschiedlichen Rahmen erlauben z. B. in der Theorie Goodmans ein ganz anderes Verhältnis zu Rahmen, als es ein Kulturrelativismus nach Putnams Beschreibung tun würde, da es grundsätzlich möglich ist, jeden Rahmen von außen zu betrachten und zu beschreiben, indem man einfach einen anderen verwendet, und weil die Rahmenbenutzer selbst Erfahrungen mit anderen Innensichten haben. Insofern ist für sie der Status der Inhalte anderer Rahmen nichts Unzugängliches. Die Analogie mit dem solipsistischen Ich verschwindet, wenn Rahmen zu wählbaren oder zumindest überprüfbaren Standpunkten werden, die prinzipiell jeder einnehmen kann.⁹³ Deswegen ist Putnams Argument gegen Relativismen, die Subjekte nicht zu Gefangenen ihrer Kultur erklären, wirkungslos.
Der Grundgedanke dieser Kritik ist interessanterweise Putnams Kritik an Davidsons Argumentation gegen die Existenz von conceptual schemes sehr ähnlich. Siehe dazu Abschnitt 3.2.1.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
Allerdings ist diese begrenzte Reichweite nicht unbedingt ein Defizit von Putnams Argument, denn genau diese Art von Relativismen zu bekämpfen, scheint sein Ziel zu sein, wenn er am Anfang des Abschnitts zum Kulturrelativismus schreibt: „There are two points that must be balanced, both points that have been made by philosophers of many different kinds: (1) talk of what is ‚right‘ and ‚wrong‘ in any area only makes sense against the background of an inherited tradition; but (2) traditions themselves can be criticized.“⁹⁴ Es sind Relativismen, die nicht erlauben, dass man mehr als einen Rahmen benutzen könnte, und die ein starkes Determinierungsverhältnis zwischen einem solchen einzigen Rahmen und den Überzeugungen seiner Verwender annehmen, die Kritik am eigenen Rahmen für unmöglich erklären müssen.⁹⁵ Dieser Mangel allein dürfte für viele schon hinreichend sein, eine solche Form des Relativismus nicht zu vertreten, nicht nur weil Kritik an Traditionen wünschenswert ist – das ist sie ohne Frage, aber ob das ein hinreichender Grund für die Wahl einer wahrheitstheoretischen These wäre, ist schon eher fragwürdig –, sondern auch, weil sie wirklich ist und eine Erkenntnistheorie, die das nicht in Betracht ziehen kann, schlicht an der Realität vorbeigeht. Die Form des Relativismus, die Putnam hier kritisiert, hat auch interessante Überschneidungen mit dem Ziel der Kritik aus seinem ersten hier besprochenen Argument. Beide nehmen eine extrem enge Bindung von Subjekt und Rahmen an, und beide ermöglichen keine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Rahmen.
3.3.3 Lockies Argument gegen den reflexiven Relativismus Robert Lockie führt in „Relativism and Reflexivity“ gleich zwei Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus an, die miteinander in Verbindung stehen. Das von ihm selbst entwickelte bezeichnet er als einen „precursor“ des anderen, eines geläufigen Selbstaufhebungsarguments, das „is best seen as addressing the options which are available to the relativist once the argument just given is on the table.“⁹⁶ Hier soll nun zunächst das von Lockie selbst entwickelte Argument vorgestellt werden, um danach seine Verbindung zu
Putnam (1983), 234. In diesem Zusammenhang ist es auch interessant, dass Putnam den aus dem Kulturrelativismus resultierenden Kulturimperialismus für kontingenterweise selbstaufhebend hält, da die Normen moderner amerikanischer und europäischer Kultur weder Zustimmung zu noch Ablehnung der These des Kulturimperialisten (dass eine Aussage genau dann richtig ist, wenn die Normen seiner Kultur Zustimmung dazu verlangen) verlangen. Vgl. Putnam (1983), 239. Lockie (2001), 328.
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
305
dem gebräuchlichen Selbstaufhebungsargument und dieses selbst zu besprechen. Dabei sollte gleich zu Anfang betont werden, dass beide Argumente einen schwerwiegenden Fehler haben, der hier nicht noch einmal eigens besprochen werden soll, da dies in den Abschnitten zu Siegels NSBF-Argument und Halesʼ Relativismusdefinition bereits geschehen ist. Lockie versteht nämlich absolute Wahrheit als Wahrheit in allen Rahmen und relative Wahrheit als Wahrheit in einigen Rahmen und Falschheit in anderen.⁹⁷ Dass dies kein plausibles Verständnis relativer Wahrheit (und ebenso wenig eines absoluter Wahrheit) ist, wurde bereits dargelegt, trotzdem soll Lockies Argument hier nicht außen vor gelassen werden: zum einen, weil es ein recht interessantes und komplexes Argument ist, und zum anderen, weil darauf hingewiesen werden soll, dass selbst, wenn ein Relativist sich dazu hinreißen lässt, seine Position mithilfe dieses suboptimalen Verständnisses relativer Wahrheit zu formulieren, seine Position trotzdem nicht ohne weiteres durch Selbstaufhebungsargumente zu widerlegen ist. Das von Lockie entwickelte Argument ist, wie gesagt, recht komplex, und es ist genau genommen nicht selbst ein Selbstaufhebungsargument, sondern ein Meta-Selbstaufhebungsargument, dessen Kern in eine Serie von immer neuen Selbstaufhebungsargumenten auf immer höheren Stufen einer Sprachen- oder, in diesem Fall vielleicht besser, einer Relativismenhierarchie besteht. Die Selbstaufhebungsargumente werden von Lockie in einer Weise vorgestellt, die er selbst als „semi-formalized“⁹⁸ bezeichnet und für die zunächst einige Definitionen angeführt werden müssen. Lockies relativistische Semantik arbeitet als Gegenstandsbereich mit einer Menge Π, deren Elemente die einzelnen Rahmen p1, p2, … sind. Er verwendet einen primitiven Begriff von Wahrheit für Wahrheit innerhalb der Rahmen, den er auch als „truth simpliciter“⁹⁹ bezeichnet; und auf diesem aufbauend definiert er relative und absolute Wahrheit als respektive Wahrheit in mindestens einem, aber nicht allen Rahmen und Wahrheit in allen Rahmen.¹⁰⁰ Den Relativismus bestimmt er Vgl. Lockie (2001), 325 f. Lockie bemerkt dazu: „Note that this semantics is by no means prima facie unfriendly to the relativist: much is conceded to relativism by defining absolute truth as ‚true in all perspectives‘ – a point Meiland […] even argues makes absolute truth parasitic on relative truth.“ (Lockie (2001), 338 EN 3) Dazu, warum diese Auffassung von absoluter Wahrheit weder für den Relativisten noch für den Absolutisten eine zufriedenstellende Diskussionsbasis darstellt, siehe Abschnitt 1.8.3. Lockie (2001), 328. Lockie (2001), 325 (Hervorhebungen seine). Vgl. Lockie 325 f. Lockies Verständnis von relativer Wahrheit unterscheidet sich damit dahingehend von dem von Hales, dass absolute und relative Wahrheit einander ausschließen. Siehe dazu auch Lockie (2001), 338 EN 4.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
als These R: Es gibt keine Aussage s, die wahr in jedem Rahmen ist. Den Absolutismus bestimmt er als These A: Es gibt eine Aussage s, die wahr in allen Rahmen ist. Das grundlegende Selbstaufhebungsargument sieht dann folgendermaßen aus: 1 Dilemma: R or A (= ' R). 2 If A is the case, then it follows semantically that the following statement, Aw (within), is true simpliciter in every p $ !: Aw ‚Some statement, s, true simpliciter within this p $ !, is true simpliciter in every p $ !.‘ If Aw is true simpliciter in every p $ !, then some statement, s, is (subs. Aw /s), and the definition of A is satisfied. So, if A then A. (If ' R then ' R.) 3 If R is the case, then it follows semantically that the following statement, Rw, is true simpliciter in every p $ !: Rw ‚No statement, s, true simpliciter within this p $ !, is true simpliciter in every p $ !.‘ But if Rw is true simpliciter in every p $ !, then, again, some statement, s, is (subs. Rw /s) and the definition of A is satisfied. So, if R then A. (If R then ' R.) Or, put another way, the statement ‚Rw is true simpliciter in every p $ !‘ follows from R and denies it – contradiction! We conclude to the negation of the premise which led to contradiction: So, if R then ' R. ¹⁰¹
Das Problem mit Lockies Argumentation findet sich bereits hier bzw. in den grundlegenden Annahmen, die in den Aufbau seiner Semantik eingehen, aber zunächst ist es interessant zu sehen, welche Rolle dieses grundlegende Selbstaufhebungsargument für Lockies Argumentation als ganze spielt. Laut Lockie wird der Relativist durch dieses Argument zu einer Entscheidung zwischen einem absoluten und einem reflexiven Relativismus gezwungen: Während ein absoluter Relativist akzeptiert, dass seine relativistische These selbst absolut wahr ist und damit nicht für alle Aussagen (nämlich nicht für sich selbst) gilt, ist der reflexive Relativist, der globale Geltung seiner Theorie anstrebt, gezwungen, seine Theorie umzuformulieren, um dem Argument zu entgehen. Der reflexive Relativist modifiziert seine Aussage deswegen dahingehend, dass auch keine Aussage über die Wahrheit von Aussagen in allen Rahmen wahr sein darf. Das Selbstaufhebungsargument lässt sich aber auf dieser höheren Stufe mittels einer ebenfalls angepassten Aussage s problemlos wiederholen. Das zwingt den Relativisten zu einer weiteren Modifikation seiner These, die auf der nächsthöheren Stufe aber natürlich ebenfalls von einem Selbstaufhebungsargument erwartet wird. Egal wie hoch der Relativist steigt, er wird im-
Lockie (2001), 327 (Hervorhebungen teilweise getilgt).
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
307
mer bereits von einem Selbstaufhebungsargument erwartet.¹⁰² Die Pointe von Lockies Überlegungen – und das was sein Argument von einem gewöhnlichen Regressargument unterscheidet – ist dabei, dass der Relativist auf jeder Stufe widerlegt ist und deswegen den Inhalt seiner These modifizieren muss, so dass es unmöglich ist, dass die relativistische These irgendeinen Inhalt hat. In der Tat ist dieser Regress fatal für den Relativismus, wenn er einmal ans Laufen kommt, denn Lockie lehnt völlig zu Recht eine Formulierung des Relativismus ab, die den Regress für harmlos zu erklären versucht. Sein Angebot für eine solche Formulierung ist das folgende: Rg Take any putatively higher-order statement, σ, whether second-order or nth order, that is, a statement about a series of first-to-(n–1)-order statements, ultimately about whether there is a statement, s, true in every p $ !. Relativism generally claims that really every such σ is just a first-order statement, s; itself true in one p $ ! and false in some other p $ !. There is no level of putatively higher-order statement for which this approach will not be taken.¹⁰³
Der Grund dafür, dass eine solche Formulierung nicht akzeptabel ist, ist weniger, dass sich auch zu ihr eine entsprechende Aussage s formulieren lässt, die ein entsprechendes Selbstaufhebungsargument in Gang setzt. Lockie führt ein solches Argument zwar an, aber sieht sofort, dass es die Antwort einlädt, die Ankündigung des Relativisten, dieselbe Strategie auf jeder Stufe wieder einzusetzen, sei nicht ernst genommen worden, wenn man dieses Argument für den entscheidenden Schlag gegen den Relativismus erklärt.¹⁰⁴ Das Problem für den Relativismus ist vielmehr, dass eine solche Formulierung – unter den von Lockie gesetzten Bedingungen – keinen Inhalt für die relativistische Theorie angibt, sondern einer Vermeidung jeglichen bestimmten Inhalts gleichkommt.¹⁰⁵
Vgl. Lockie (2001), 329 ff. Lockie (2001), 333. Vgl. Lockie (2001), 333. Lockie vertritt eine ähnliche, aber nicht dieselbe Auffassung, wo genau hier das Problem liegt. Für ihn besteht es darin, dass der Relativist, wenn er denn darauf besteht, diese Formulierung seiner These zu benutzen, dem Absolutisten nicht absprechen kann, dass dessen These absolut wahr und nicht nur relativ wahr ist (vgl. Lockie (2001), 334). Hier kommen wir zu dem Zusammenhang von Lockies Argument mit dem geläufigen Selbstaufhebungsargument, das Lockie anführt, da dieses nur durchgeführt werden kann, wenn dem Relativisten nicht erlaubt wird, die Wahrheit der Äußerungen des Absolutisten auf dessen Rahmen zu beschränken. Dieses Thema wird unten noch ausführlicher angesprochen werden. M. E. ist es allerdings ein völlig hinreichender Einwand gegen den Relativismus, dass er keinen Inhalt haben kann. Sollte Lockies Meta-Selbstaufhebungsargument also funktionieren, braucht es diese Verbindung nicht unbedingt, um erfolgreich zu sein.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
Deswegen müssen wir zu den von Lockie gesetzten semantischen Grundlagen bzw. ihrer Interpretation und dem grundlegenden Selbstaufhebungsargument zurückkehren, wenn wir wissen wollen, ob der Relativismus eine Chance gegen diesen Argumentationsgang hat. Dass die Art und Weise, wie Lockie den Relativismus darstellt, nicht geeignet ist, eine relativistische Theorie, ganz egal ob absolut oder reflexiv, einzufangen, wird deutlich, wenn man sich das grundlegende Selbstaufhebungsargument noch einmal genauer ansieht. Denn die Realisierung des Relativismus in Lockies Modell sieht so aus, dass eine relativistische oder vielleicht besser proto-relativistische Aussage in jedem Rahmen für wahr erklärt wird. Aber diese Vorgehensweise machte es nicht nur in offensichtlicher Weise unmöglich, dass der Relativismus in Lockies Sinne relativ wahr sein könnte, sondern sie unterschlägt auch eine gerade für relativistische Theorien der Wahrheit extrem wichtige Unterscheidung, die bereits in Abschnitt 1.7.3 und Abschnitt 2.1.4 angesprochen wurde: die Unterscheidung zwischen etwas, was in einem Rahmen wahr ist, und etwas, was über einen Rahmen wahr ist. Dass diese Unterscheidung, sobald sie einmal gemacht ist, nicht ohne weiteres wieder eingeebnet werden kann, wurde in der Besprechung von Burnyeats Interpretation von Platons Selbstaufhebungsargument gegen Protagoras dargelegt. Es ist wichtig zu sehen, dass es keine Ad-hoc-Verteidigungsstrategie ist, darauf zu bestehen, dass diese Unterscheidung gemacht und genau beachtet wird, wenn man eine relativistische Theorie darstellt. Denn – abgesehen von den Gründen, die bereits in den oben genannten Abschnitten für diese Unterscheidung angeführt wurden – diese Unterscheidung ist nicht nur essentiell für reflexive bzw. globale Varianten des Relativismus, sondern auch für die absoluten, die Lockie ja für vertretbare Theorien hält. Gäbe es diese Unterscheidung nicht, wäre es unter anderem unmöglich, eine relativistische Theorie zu formulieren, die Rahmen vorsieht, die selbst nicht die begrifflichen Ressourcen für eine Wahrheitstheorie besitzen. Genauso wenig könnte man unter Lockies Bedingungen eine absolutistische These formulieren, die solche Rahmen vorsieht. Dazu müsste man die Möglichkeit haben zu sagen, dass etwas über diese Rahmen wahr ist, was in ihnen selbst nicht ausgesagt werden kann, und das wird in Lockies Semantik nicht ermöglicht.¹⁰⁶ Dabei generiert Lockies Semantik notwendig Tatsachen genau dieser Form, sonst käme es
Hier sieht man deutlich, dass Lockies Hinweis, dass „[a] proliferation in ‚relative to‘ can, for metaphysical (as opposed to empirical) purposes, be regarded as largely terminological“ (Lockie (2001), 323), nicht ganz korrekt ist. Die Unterscheidung von „wahr in“ und „wahr über“ ist zwar auch für Relativismen wichtig, die auf Gruppen oder Einzelpersonen relativieren, aber während bei diesen ihre Wichtigkeit leicht übersehen werden kann, ist sie bei einer Relativierung auf sprachartige Rahmen offensichtlich.
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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nicht zum Aufstieg durch die Relativismenhierarchie. In Lockies Modell ist immer bereits etwas über die Rahmen wahr, was nicht in ihnen wahr ist. Beachtet man aber diese Unterscheidung, ist klar, dass eine relativistische These nicht in der Weise dargestellt werden kann, wie Lockie es tut, denn sie wird nicht als wahr in allen Rahmen aufgestellt, sondern als wahr über alle Rahmen und wahr in genau einem Rahmen, nämlich dem, in dem sie aufgestellt wird. Sie besagt genauso wenig, dass sie wahr in den anderen Rahmen ist, wie ich behaupte, dass es wahr in einem Frosch ist, dass er grün ist, wenn ich sage, dass es wahr ist, dass er grün ist. Der Punkt hier ist, dass sich eine relativistische Theorie, solange sie keine Aussage der Form „In Rahmen p1 ist es wahr, dass q“ enthält, keinerlei Konsequenzen für spezifische Inhalte der Rahmen, über die sie spricht, hat (abgesehen von ihrem eigenen), sondern ausschließlich Wahrheitswertvarianz behauptet. Dies ist allerdings nicht nur ein Problem der falschen Charakterisierung der relativistischen These, es scheint noch ein tieferliegendes Problem in Lockies Semantik zu geben. Es ist nämlich nicht ganz klar, ob Lockies Maschinerie des Aufstiegs durch zunehmend komplexere Stufen des Relativismus nicht eine erhebliche Gefahr für die Validität seiner Argumentation darstellt. Sie ist rhetorisch ausgesprochen stark, da Lockie sie als Repräsentation einer populären relativistischen Ausweichstrategie darstellt und zeigen möchte, dass der Relativismus von demselben Problem auf jede weitere Stufe verfolgt wird. Die strikte Trennung von Stufen ist jedoch ein Problem für seine Selbstaufhebungsargumente, denn aus der Sicht einer strengen Sprachhierarchie betrachtet, beruhen sie auf einer unzulässigen Äquivokation in ihrer Benutzung des Ausdrucks „statement“. Nehmen wir das grundlegende Selbstaufhebungsargument, stellt sich das Problem, grob gesprochen, folgendermaßen dar: Entweder der fragliche Ausdruck bezieht sich ausschließlich auf Aussagen erster Stufe, oder er bezieht sich auf Aussagen erster und zweiter Stufe.¹⁰⁷ Bezieht er sich lediglich auf Aussagen erster Stufe, kommt es nicht zum Widerspruch, weil Lockies Aussage s eine Aussage zweiter Stufe ist und somit von der relativistischen These überhaupt nicht thematisiert wird.¹⁰⁸ Bezieht
Ich lasse hier die Frage offen, ob er sich auf Aussagen beliebiger Stufe beziehen könnte. Diese Lesart scheint hinter der weiteren Lesart von „statement“ in der Proklamation des Widerspruchs zu stecken; darauf wird noch zurückzukommen sein, aber das Problem des Arguments lässt sich auch ohne diese Interpretation herausstellen, und dessen Darstellung soll hier nicht unnötig kompliziert werden. Die Kehrseite dessen ist, dass der Absolutismus auch nicht, so wie Lockie es darstellt, aus dem Absolutismus folgt. Denn die Aussage Aw ist keine Aussage der Stufe, über die der Absolutismus spricht, sondern steht eine Stufe darüber, jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass „statement“ in der Formulierung des Absolutismus dasselbe bedeutet wie in der Formulierung
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
er sich aber auf Aussagen erster und zweiter Stufe, besagt die relativistische These bereits das, was sie nach Lockie erst nach einer ersten Modifikation ihres Inhalts besagen soll, die als Reaktion auf das Selbstaufhebungsargument stattfindet. Für diesen höherstufigen Relativismus mit modifiziertem Inhalt hat er zwar ein weiteres Selbstaufhebungsargument, aber das beruht ebenfalls auf einer uneinheitlichen Interpretation des Ausdrucks „statement“, und das gilt für jedes weitere Argument in der Reihe: Jedes einzelne von Lockies Argumenten funktioniert nur, wenn seiner Benutzung des Ausdrucks „statement“ bei der Ableitung des Widerspruchs eine Stufe ‚Vorsprung‘ vor der der Benutzung von „statement“ in der Formulierung der relativistischen These gewährt wird. In anderen Worten: Der Widerspruch folgt nicht aus der relativistischen These. Das heißt aber, dass der Relativismus auf keiner Stufe widerlegt ist. Statt zu zeigen, dass der Relativismus auf irgendeiner Stufe inkonsistent ist, hat Lockie gezeigt, dass eine relativistische Theorie der Stufe n nicht identisch mit einer relativistischen Theorie der Stufe n+1 ist, da der Ausdruck „statement“ für beide auf Unterschiedliches referiert. Das ist aber kein spezifisches Relativismusproblem – sofern man es denn überhaupt als Problem bezeichnen möchte –, sondern ein allgemeines Problem für Wahrheitstheorien in Sprachhierarchien. Das heißt aber auch, dass der Relativismus keinen weniger bestimmten Inhalt hat als andere Wahrheitstheorien. Jede Wahrheitstheorie muss, wenn sie denn innerhalb einer Sprachhierarchie eingesetzt werden soll, auf jeder Stufe systematisch angepasst werden. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, könnte man das Problem mit Lockies Argumentation so formulieren, dass er sich entscheiden muss, ob er selbstreferentielle Theorien relativer und absoluter Wahrheit zulassen will oder nicht.Will er das, erhält er einen (globalen oder auch reflexiven) Relativismus, der unter anderem von sich sagt, dass er relativ wahr ist und dass es relativ wahr ist, dass er relativ wahr ist usw. Er erhält aber genauso einen Absolutismus, der von sich sagt, dass er absolut wahr ist und dass es absolut wahr ist, dass er absolut wahr ist usw.¹⁰⁹ Dass dies für den Relativismus problematischer als für den Ab-
des Relativismus. Das heißt aber auch, dass wir, um einen wahren Absolutismus auf jeder Stufe zu haben, eine der Relativismenhierarchie entsprechende Absolutismenhierarchie bräuchten. Genau genommen erhält Lockie das nicht, denn aufgrund seiner ausgedünnten Absolutismusdefinition ist sein Absolutismus weder in irgendeinem interessanten Sinne eine Wahrheitstheorie, noch ist er selbstbezüglich, er besagt ja lediglich, dass irgendeine Aussage in allen Rahmen wahr ist. Es würde aber für jeden ‚gehaltvolleren‘ Absolutismus gelten. Einen selbstbezüglichen Absolutismus kann man übrigens auch auf Grundlage von Lockies Absolutismusverständnis leicht herstellen, indem man die Bedingung hinzufügt, dass die These der Wahrheit einer Aussage in allen Rahmen selbst es ist, die in allen Rahmen wahr sein soll. Das würde auch den ‚selbsterfüllenden‘
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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solutismus ist bzw. dass es für den Relativismus, aber nicht für den Absolutismus bedeutet, dass er keinen bestimmten Inhalt hat, ist etwas, das Lockie erst noch zeigen müsste; und es ist durchaus zweifelhaft, dass so etwas gelingen könnte, da das, was diese potentiell unendliche Kette von Zuschreibungen relativer oder absoluter Wahrheit hervorbringt, nichts Spezifisches dieser beiden Theorien zu sein scheint, sondern das Wahrheitsprädikat selbst (bzw. dessen prefixability). Will Lockie keine in dieser Hinsicht selbstreferentiellen Theorien zulassen, bedeutet das, dass alle Vertreter von Wahrheitstheorien eine höherstufige Wahrheitstheorie benötigen, um über die Wahrheit ihrer Wahrheitstheorie zu sprechen, auch dies hat nichts mit dem Relativismus als solchem zu tun, sondern damit, dass dann in Lockies Semantik nur ein ausschließlich innerhalb eines Rahmens anwendbares Wahrheitsprädikat ohne Aufstieg nutzbar ist. Ein Vertreter eines (angestrebten¹¹⁰) globalen Relativismus müsste dann, um zu sagen, dass seine Theorie selbst nur relativ wahr ist, eine Aussage der nächsthöheren Stufe benutzen. Der Status dieser Aussage bleibt ungeklärt, bis er sich zu dieser äußert usw., auch hier gibt es keine Inkonsistenz und keine dem Relativismus spezifischen Schwierigkeiten. Was Lockie nicht tun kann, wenn er denn ein gültiges Argument gegen den Relativismus vorbringen möchte, ist, beide möglichen Auffassungen relativistischer Theorien innerhalb eines Arguments gegeneinander auszuspielen, wie er es in seinem grundlegenden Selbstaufhebungsargument zu tun scheint. In gewisser Weise ist diese Kritik unfair gegenüber Lockies Aufsatz als Gesamttext, denn wenn man sich seine nichtformalen Reflexionen über das Problem des Relativismus ansieht, die er an sein Meta-Selbstaufhebungsargument an-
Charakter, der dem Absolutismus im grundlegenden Selbstaufhebungsargument zugeschrieben wird und von dem oben gesagt wurde, dass er nicht wirklich besteht, gewissermaßen wiederherstellen. Siehe FN 108. Unter solchen Umständen ist ein globaler Relativismus nie vollständig, da es unmöglich ist, über alle Aussagen zu sprechen. An dieser Stelle müsste jemand, der einen globalen Relativismus anstrebt, so etwas tun, wie der Relativist es in Lockies vorgeschlagenem generellen reflexiven Relativismus Rg versucht, der oben zitiert wurde, nämlich seine Intention verkünden, eine relativistische Theorie auf jeder beliebigen Stufe zu vertreten. Das ist an dieser Stelle allerdings keine unzulässige Strategie (außer natürlich, dass er strenggenommen nicht über alle Stufen sprechen kann, aber das ist wiederum kein Relativismusproblem sondern das alte Problem der Typentheorie); denn nachdem Lockies Argument ausgeräumt ist, hat der Relativist nicht mehr das Problem, dass er eine These ohne bestimmten Inhalt hat und sich durch dieses Manöver der Festlegung auf einen Inhalt, der dann wiederum durch Lockie als inkonsistent erwiesen werden könnte, zu entziehen versucht. Stattdessen hat der Relativist nun viele Thesen mit bestimmtem Inhalt (eine auf jeder Stufe, auf der er bereits eine aufgestellt hat) und kündigt an, auch auf höheren Stufen entsprechend modifizierte Thesen vertreten zu wollen.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
schließt, gelangt man zu dem Eindruck, dass Lockies Vorwurf gegenüber dem Relativismus im Kern ist, dass dieser verlangt, auf beide unverträglichen Arten gelesen zu werden. Denn dort benutzt Lockie solche Formulierungen wie „[t]he difficulty is that relativism is at once both an essentially trans-perspectival thesis and a thesis that we are essentially limited to, by, within, our own perspective“ und „[i]f I were unable to make any trans-perspectival, meta-level claims, then I would be unable to say: ‚this . . . such and such . . . is true for me‘. I would just have to say true.“¹¹¹ Das ändert natürlich weder etwas daran, dass die Selbstaufhebungsargumente ungültig sind, noch daran, dass sie eine irreführende Art sind, diesen Kritikpunkt auszudrücken. Denn dass eine These zwei miteinander unverträgliche Interpretationen verlangt – oder besser, dass die Art und Weise, wie für sie und mit ihr argumentiert wird, zwei unverträgliche Interpretationen verlangt –, ist ein valider Kritikpunkt aber keine Lizenz dazu, in einem Gegenargument von der einen zu der anderen Interpretation zu springen, insbesondere ohne darauf hinzuweisen, dass man dies tut. Aber auch dieser Kritikpunkt Lockies scheint auf einem bzw. mehreren miteinander zusammenhängenden Missverständnissen zu beruhen. Zunächst ist da Lockies Verständnis von „trans-perspectival“, das einerseits zu sein scheint, dass eine Theorie in mehreren (objektstufigen) Rahmen wahr ist, wie es von seinem grundlegenden Selbstaufhebungsargument nahegelegt wird, und andererseits benutzt er es als Ausdruck für eine Sichtweise, die nur von einem „meta-level“ aus zu haben ist.Was Lockie übersieht, ist, wie oben bereits dargelegt wurde, dass der Relativismus für sich ausschließlich Trans-Perspektivität im zweiten Sinne beansprucht, er spricht über andere Rahmen, nicht in ihnen; und das ist nicht mysteriöser, als in einer Sprache über alle Sprachen zu sprechen. Ein zweiter Punkt ist, dass Lockie behauptet, dass der Relativismus die Möglichkeit von Meta-Aussagen bestreite, obwohl er selbst eine Meta-Aussage sei und auch so gelesen werden müsse. Dies dürfte Lockies Eindruck, dass der Relativismus zwei unverträgliche Interpretationen gleichzeitig verlangt, bedingen. Die Aussage, dass der Relativismus Meta-Aussagen verbiete, hängt mit seiner Auffassung zusammen, dass der Relativismus behaupte, man sei „trapped“ in seinem Rahmen. Hier hat er einen Punkt, allerdings einen, der bei weitem nicht gegen alle Formen des Relativismus spricht. Die Schwierigkeit für relativistische Theorien, die von einer strengen Bindung von Individuen an nur einen Rahmen ausgehen, ist die, dass völlig unklar ist, wie man jemals in der Lage sein sollte, den eigenen Rahmen als einen unter anderen zu sehen, und wie man sich auf diese
Lockie (2001), 335 (Hervorhebungen seine).
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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(als dem eigenen Rahmen Gleichartiges) beziehen können sollte. Davon war in Putnams Argument gegen den Kulturrelativismus anhand seines Kollapses in einen Kulturimperialismus die Rede. Mit Lockie kann man hier sagen „I would be unable to say: ‚this … such and such … is true for me‘. I would just have to say true.“ Aber wie dort schon gesagt wurde, gehen bei weitem nicht alle Formen des Relativismus davon aus, dass Rahmen nicht gewechselt und/oder modifiziert werden können. Diesen Formen des Relativismus kann nicht unterstellt werden, dass sie in irgendeinem Sinne Meta-Aussagen verbieten. Sie sind Meta-Aussagen, sie sind in dem oben spezifizierten Sinne trans-perspektivisch, und es gibt nichts, was daran widersprüchlich wäre, denn für alle drei ist es nicht nötig, dass sie absolut wahr sind. Selbst wenn man von einem Stufenmodell ausgeht, welches es der relativistischen Theorie verbietet, über sich selbst als relativ zu sprechen, heißt das weder, dass sie absolut wahr oder falsch ist, noch, dass der entsprechende Theoretiker sich nicht Aussagen der nächsthöheren Stufe bedienen kann, um über seine Theorie zu sprechen. Bis dahin müsste der Relativismus eben den Status „true simpliciter“ behalten, wie Lockie ihn nennt, also den Status einer Aussage, über deren Status als relative oder absolute Wahrheit noch keine Aussagen oder Untersuchungen vorliegen. Allerdings scheint Lockie an anderer Stelle den Unterschied von „truth simpliciter“ und absoluter Wahrheit zu vergessen, denn in seinen Schlussbemerkungen schreibt er: „Absolute relativism could be […] represented by the claim that every first-order truth is relative, yet one higher-order truth is absolute – that these truths are all thus relative.“¹¹² Der absolute Relativismus und der reflexive Relativismus sollen nach Lockie die einzigen Alternativen sein. Doch sobald man mit der Begrifflichkeit von „truth simpliciter“ arbeitet, ist das eben nicht mehr wahr. Sicher, bei Aussagen, die diesen Status haben, steht eine Klärung bzgl. der Frage absoluter oder relativer Wahrheit schlicht noch aus und kann jederzeit angegangen werden. Das heißt allerdings nicht, dass es nicht der Wahrheitsstatus sein kann, den eine relativistische Theorie für sich selbst beansprucht, so dass sie nicht auf eine höhere Stufe ausgreifen muss und auch in einem Stufenmodell völlig kohärent (wenn auch nicht global, da nicht selbstbezüglich) formulierbar bleibt. Lockies Kritik am Relativismus kann also nicht überzeugen. Nun steht noch die Frage aus, ob das gebräuchliche Selbstaufhebungsargument, das Lockie als mit seinen Überlegungen verwandt betrachtet, erfolgreicher ist als seine eigene Argumentation bzw. wie genau es zu Lockies
Lockie (2001), 337.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
Argumentation steht. Die Formulierung des Argumentes, die er gibt, sieht folgendermaßen aus: 1 Dilemma: Relativism is either true absolutely or it is not true absolutely. 2
If true absolutely, then something is, and relativism (which denies this) is false.
3 If not true absolutely, then it will be ‚false for‘ some non-relativists. But it holds the judgements of each person/perspective/etc. to be true, so it holds to be true that it is false. So, Relativism is false.¹¹³
Dieses Argument ist Siegels NSBF-Argument sehr ähnlich, und es teilt mit ihm und Lockies eigenem Argument die problematische Interpretation von relativer Wahrheit als relative Falschheit implizierend, und auch die restlichen Schwierigkeiten der Argumente sind ähnlich. Wie bereits erwähnt, ist Lockie der Auffassung, dass dieses Argument den Relativisten vor eine Wahl stellt, die auch durch sein grundlegendes Selbstaufhebungsargument erzwungen wird. Findet er sich damit ab, dass eine Aussage in allen Rahmen wahr ist, und entscheidet sich somit für den absoluten Relativismus, oder modifiziert er seine Aussage dahingehend, dass auch alle Aussagen über Aussagen lediglich relativ wahr sind? Wie bereits dargelegt wurde, ist dies nicht wirklich die Wahl, vor der der Relativist steht, denn eine Modifikation seiner These ist nicht notwendig. Das heißt allerdings nicht, dass das Dilemma, das Lockie formuliert, keine berechtigte Frage an den Relativisten ist. Die beiden Interpretationen der relativistischen These, die in Lockies Kritik aufeinandertreffen, bieten jeweils unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten. Sieht man den Relativismus als Reihe jeweils stufengebundener Thesen, resultiert keiner der beiden Arme des Dilemmas in Selbstaufhebung. Da eine relativistische These auf einer spezifischen Stufe nicht über sich selbst spricht, kann sie auch nicht bestreiten, dass sie absolut wahr ist, wie es in Schritt 2 impliziert wird. Die Frage nach dem Status der relativistischen These selbst ist in einem solchen Relativismusverständnis eine genuin offene Frage, die erst durch das Aufstellen des angeblichen Dilemmas durch den Absolutisten relevant wird; und nichts hält den Relativisten davon ab, absolute Wahrheit zu wählen. Allerdings wird damit das Streben nach einem globalen Relativismus aufgegeben, und diese Option ist damit für die vorliegende Arbeit irrelevant. Hier ist also vor allem der zweite Arm des Dilemmas relevant, der für eine globale selbstbezügliche relativistische These der einzig konsistent verfolgbare und für einen Relativismus nach Stufenmodell die einzige Möglichkeit ist, Glo-
Lockie (2001), 322 (Hervorhebungen getilgt).
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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balität anzustreben. So wie Schritt 3 bzw. der zweite Arm oben formuliert ist, ist er kein überzeugendes antirelativistisches Argument, sondern ein klassischer Fall des Weglassens der Relativierungen.¹¹⁴ Der Relativismus bzw. die höherstufige Aussage des Relativisten behauptet eben nicht, dass die Inhalte aller Rahmen wahr sind und dass es damit wahr ist, dass der Relativismus falsch ist. Er behauptet, dass die Inhalte aller Rahmen wahr in ihren spezifischen Rahmen sind und dass es einen Rahmen gibt, in dem der Relativismus falsch ist, die Konklusion kann also nur lauten, dass der Relativismus falsch in irgendeinem Rahmen ist. Doch Lockies eigene Relativismus-Kritik schlägt ein stärkeres Argument für den zweiten Arm des Dilemmas vor, das nicht über die relative Falschheit des Relativismus, sondern über die relative Wahrheit des Absolutismus läuft: The reflexive relativist, however, does not and cannot cede to absolutism the right to have itself interpreted absolutely, all the way up, for this would remove from reflexive relativism the right to say ‚yes, absolutism is true for you‘ – reflexive relativism would collapse onto the other relativist horn, making it into absolute relativism, a relativism which understands absolutism just as absolutism understands itself, as being a trans-perspectival thesis, but which takes that thesis to be absolutely false.¹¹⁵
Das Argument wäre also das folgende: Wenn der Relativismus nur relativ wahr ist, ist seine Negation, der Absolutismus, ebenfalls relativ wahr. Der Absolutismus kann aber, zumindest in der Lesart als selbstbezügliche These, nicht nur relativ wahr sein. Also ist der Absolutismus absolut wahr und der Relativismus absolut falsch. Für einen Relativismus nach Stufenmodell ist dies kein Problem; wenn dem Relativismus kein Bezug auf sich selbst erlaubt wird, kann auch der Absolutismus nur von Aussagen niedrigerer Stufe behaupten, dass sie absolut wahr sind, und nicht von sich selbst. Der Relativist kann dann immer von einer höheren Stufe aus den Absolutismus für relativ wahr erklären. Wird aber dem Relativismus ein Status als genuin selbstbezügliche These zuerkannt, muss dies auch für den Absolutismus gelten.Wenn der Relativist seine These also so interpretieren darf, dass sie relativ wahr „all the way up“ ist, kann der Relativist es dem Absolutisten kaum verbieten. Aber der Relativist braucht es dem Absolutisten auch nicht zu verbieten, denn das hat Lockie bereits für ihn erledigt. Lockies Formulierung des Absolutismus besagt nichts weiter, als dass es eine Aussage gibt, die wahr in allen Rahmen ist, er sagt nichts über sich und seinen Wahrheitsstatus.
Siehe dazu Abschnitt 2.1 und Abschnitt 3.3.1. Lockie (2001), 334 (Hervorhebungen seine).
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
Es ist auch alles andere als willkürlich, hier Lockies Formulierung zum Maßstab zu machen, selbst wenn sie absolutistische Theorien im Allgemeinen schlecht repräsentiert, nicht weil es um Lockies Argumentation geht, sondern weil seine Formulierung als Negation des Relativismus konzipiert ist und dies die einzige Form von Absolutismus ist, deren Wahrheit durch das hier gegebene Argument gestützt wird. Denn aus der relativen Falschheit¹¹⁶ des Relativismus lässt sich nun einmal nicht folgern, dass irgendeine These, die den Namen Absolutismus verdient, in irgendeinem Rahmen wahr sein muss, sondern nur, dass es einen Rahmen geben muss, in dem der Relativismus falsch ist und seine Negation wahr; und diese ist in Lockies Formulierung des Absolutismus korrekt angegeben.
3.3.4 Modallogische Semantiken als Modelle relativistischer Theoriebildung In diesem Abschnitt soll ein Blick auf Formalisierungen relativistischer Ansätze und antirelativistischer Selbstaufhebungsargumente auf Grundlage von Systemen aus dem Bereich der Modallogik geworfen werden. Den Ansatzpunkt wird dabei das Selbstaufhebungsargument des bereits aus dem Abschnitt zu Definitionen des Relativismus bekannten Autors Steven Hales bilden. Um das Selbstaufhebungsargument, das Hales in Relativism and the Foundations of Philosophy verwendet, nachvollziehen zu können, ist es zunächst notwendig, einige Charakteristika von Halesʼ Ansatz, die bereits im Abschnitt zu seiner Relativismusdefinition angesprochen wurden, in Erinnerung zu rufen. Halesʼ Relativismusverständnis als Ganzes, wie auch sein Selbstaufhebungsargument im Speziellen, bauen auf einer Analogie auf, die Hales zwischen Relativität und Absolutheit¹¹⁷ einerseits und den Modaloperatoren von Möglichkeit und Notwendigkeit, wie sie im modallogischen System S5 verwendet werden, andererseits zieht. In Halesʼ Ausführungen zum Relativismus finden sich zwei unterschiedliche Konzeptionen von Relativität. Eine von diesen greift er mittels seines Selbstaufhebungsarguments an, während die andere die Grundlage einer Rückzugsthese für den Relativisten bzw. für Halesʼ eigene relativistische Auffassung bilden soll. Halesʼ eigene Vorstellung von Relativität setzt diese, bzw. präziser: relative Wahrheit, parallel mit dem S5 Möglichkeitsoperator.
Es sollte hier noch einmal darauf hingewiesen werden, dass noch nicht einmal klar ist, ob man überhaupt die relative Falschheit des Relativismus aus dessen relativer Wahrheit folgern darf. Lockie definiert den Relativismus natürlich entsprechend, aber dieses Relativismusverständnis ist hochgradig problematisch. Siehe dazu Abschnitte 1.8.3 und 3.3.1. Um präzise zu sein, sollte man hier von relativer und absoluter Wahrheit sprechen.
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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Dabei werden die möglichen Welten der modallogischen Semantik durch Perspektiven ersetzt, unter denen Hales grob gesprochen so etwas wie grundlegende Mechanismen der Erkenntnisgewinnung versteht. ¹¹⁸ Das heißt unter anderem, dass sich in Halesʼ eigenem Verständnis Relativität und Absolutheit (welche dem S5 Notwendigkeitsoperator analog gedacht wird) nicht gegenseitig ausschließen.¹¹⁹ Für sein Selbstaufhebungsargument relevant ist allerdings die darin angegriffene, stärkere Form von Relativität. Diese entspricht keinem der Operatoren aus S5, sondern ist stattdessen analog zur Kontingenz zu denken. Zu sagen, dass etwas in diesem starken Sinne relativ ist, bedeutet nach Hales also, es für in mindestens einer Perspektive wahr und in mindestens einer Perspektive falsch zu erklären.¹²⁰ Dieses stärkere Relativitätsverständnis hat zwar eindeutig Vorzüge gegenüber der Version, auf der Hales seine eigene Theorie aufbaut, z. B. dass sich hier Relativität und Absolutheit gegenseitig ausschließen, trotzdem ist es, aus den in Abschnitt 1.8.3 dargelegten Gründen, abzulehnen. Dort wurde insbesondere darauf hingewiesen, dass ein globaler Relativismus nicht als eine These der universellen Wahrheitswertvarianz, also eine These über die relativen Wahrheitswerte jeder einzelnen Aussage aufgefasst werden sollte. Auf eben diesem Charakteristikum von Halesʼ Relativitätsverständnis beruht nun natürlich auch sein Selbstaufhebungsargument. Insofern ist m. E. der primäre und bereits hinreichende Einwand gegen jenes, dass es auf einem fundamental falschen Konzept des Relativismus beruht. Trotzdem soll Halesʼ Argument hier ausführlich betrachtet und nach seinen eigenen Spielregeln kritisiert werden – wie schon das von Lockie, im letzten Abschnitt, das auf derselben problematischen Voraussetzung beruhte –; denn es ist wichtig zu sehen, dass die Auseinandersetzung um das Selbstaufhebungspotential des Relativismus nicht nur eine Auseinandersetzung um Strohmänner und angemessene Definitionen ist – obwohl sie das zu einem erheblichen Ausmaß ist –, sondern dass selbst dann, wenn absolutistische Fehlcharakterisierungen angenommen werden, Selbstaufhebungsargumente oft nicht so stark sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Nun also zu Halesʼ Argument, das sich in der Form eines Dilemmas präsentiert: By [relativism] let us understand the claim that every proposition is true in some perspective and not true in another. Thus absolutism is: there is at least one proposition that has the
Vgl. Hales (2006), 111 ff. Siehe auch Abschnitt 1.8.3. Für eine Kritik dieser Relativitätsauffassung und dem entsprechenden Verständnis von Absolutheit siehe Abschnitt 1.8.3.
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same truth-value in all perspectives. Clearly, either the thesis of relativism is true absolutely (true in all perspectives) or just relatively (true in some, but not all perspectives). Suppose that relativism is true in all perspectives. If so, then there is a proposition that has the same truth-value in all perspectives – namely, the thesis of relativism itself. Yet, if there is some proposition that has the same truth-value in all perspectives, then absolutism is true. […] Suppose then that relativism is merely relatively true, that is, true in some perspectives and not true in others. Consider the latter case, the perspective in which relativism is not true. In such a perspective, call it p, not-relativism – that is, absolutism – is true. Now, absolutism is true only if there is some proposition that has the same truth-value in all perspectives. […] Φ could not be the thesis of absolutism itself, since ex hypothesi there are perspectives in which it is not true and relativism is true. Nor could Φ be the thesis of relativism, since ex hypothesi there are perspectives in which it is not true. Nor do any other candidates for Φ look promising, since – given the assumption that there are perspectives in which relativism is true – we are guaranteed that the truth-value of every proposition Φ will vary across perspectives. Hence, there is no proposition that is true in all perspectives; that is, for every proposition there are perspectives in which it is true and perspectives in which it is not true. Then relativism is true in all perspectives, and this, I have already shown, entails that relativism is not true. Thus it seems that relativism can be neither absolutely nor relatively true.¹²¹
Wie Hales selbst wiederholt betont, beruht sein Argument auf der Akzeptanz von etwas, was er als Prinzip # bezeichnet. Dieses Prinzip # ist die auf Absolutheit und Relativität übertragene Version des S5-Theorems ◊□ p%□ p und besagt, dass wenn es relativ wahr ist, dass ein Satz absolut wahr ist, der betreffende Satz absolut wahr ist. Dieses Prinzip # ist laut Hales die Intuition im Herzen des immer wieder aufkommenden Selbstaufhebungsvorwurfs gegen den Relativismus. Von Kölbel wird Hales berechtigterweise dafür kritisiert, dass er seine ‚Logik des Relativismus‘ gerade so aufbaue, dass Prinzip # gelte. Immerhin solle seine Logik eine neutrale Grundlage für die Auseinandersetzung zwischen Relativisten und Absolutisten bilden, davon könne aber keine Rede sein, wenn die Selbstaufhebung des Relativismus bereits in eben diese Grundlage eingeschrieben sei. Die Wahl ausgerechnet des Systems S5 als Grundlage der Formalisierung von Relativität und Absolutheit zeichnet dafür verantwortlich, dass Prinzip # gilt. Diese Wahl werde aber, so Kölbel, von Hales nicht annähernd ausreichend motiviert.¹²² Bezeichnenderweise ist Halesʼ Antwort auf diese Kritik von Seiten Kölbels nichts weiter als die Reiteration eines Punktes, den Kölbel in seinem Aufsatz bereits aufgegriffen und entkräftet hatte, nämlich die Rolle von Prinzip # als Erklärung der verbreiteten Akzeptanz des Selbstaufhebungsvorwurfs. Doch Kölbel ist, gegen Hales, darin recht zu geben, dass eine solche Erklärung nicht auf die Angemessenheit von einer Prinzip # enthaltenden Logik für den Gegenstand des Hales (2006), 100 f. (Hervorhebungen seine). Vgl. Kölbel (1999).
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Relativismus zurückgreifen muss, stattdessen ist es völlig ausreichend, wenn die Anhänger von Selbstaufhebungsargumenten Prinzip # fälschlicherweise annehmen.¹²³ Nun ist es nicht nur so, dass Halesʼ Formalisierung relativistischen Gedankenguts erhebliche Schwachstellen, wie z. B. die Geltung von Prinzip #, besitzt, inzwischen lassen sich auch neuere Ansätze finden, die alternative Wege der Formalisierung anbieten, die relativistischen Theorien angemessener sind und in denen Halesʼ Selbstaufhebungsargument schlicht nicht funktioniert. Im Folgenden werden zwei solche Formalisierungsversuche vorgestellt, beide stammen von Mark Ressler, um anhand des Vergleichs dieser Systeme mit dem von Hales herauszuarbeiten, was genau an Letzterem problematisch ist. Es soll erstens gezeigt werden, dass es Formalisierungen gibt, unter denen sich der Relativismus nicht als selbstaufhebend erweist, und zweitens, dass diese Systeme sogar aus darüber weit hinausgehenden Gründen deutlich angemessenere Darstellungen des Relativismus liefern, als Halesʼ Ansatz es vermag. Eine Ablehnung von Halesʼ System und die mit ihr einhergehende Zurückweisung seines Selbstaufhebungsarguments sollen damit als mehr als nur ein möglicher Ausweg für den von Hales kritisierten Relativisten herausgestellt werden. Stattdessen wird die Wahl einer anderen Formalisierung als eine vom Selbstaufhebungsproblem völlig unabhängig motivierbare Entscheidung ausgewiesen. Ressler entwickelt gleich fünf formale Systeme zur Darstellung relativistischer Ansätze, RL1 bis RL5, aus denen durch Kombination ihrer jeweiligen Spezifika sogar acht unterschiedliche Systeme gewonnen werden können. Hier sollen allerdings nur zwei seiner Systeme, RL1 und RL5, vorgestellt werden. Bereits Resslers simpelstes System RL1 ist in der Lage, Halesʼ Selbstaufhebungsargument zu entkräften, bzw. bereits auf Grundlage von RL1 lässt sich das Argument nicht durchführen. Doch Ressler selbst führt ein weiteres Selbstaufhebungsargument an (welches er unter andern Putnam zuschreibt), das für eine Repräsentation des Relativismus in RL1 recht behält. Um diesem Selbstaufhebungsargument zu begegnen, bedarf es des Systems RL5. Im Folgenden wird also zunächst darzulegen sein, dass Halesʼ Argument unter Bedingungen von RL1 scheitert und dass die
Siehe Kölbel (1999) und Hales (2006), 115 ff. Dass Hales diese einzige Motivation, die er dem Relativisten anbieten kann, ein Theorem bzw. eine Logik zu akzeptieren, durch die seine Theorie ganz offensichtlich selbstaufhebend wird, schlicht wiederholt, verrät m. E. etwas darüber, was Hales unter einer Erklärung der Kraft des Selbstaufhebungsvorwurfs versteht. Für ihn scheint eine solche Erklärung nur dann hinreichend zu sein, wenn sie die Anziehungskraft des Selbstaufhebungsvorwurfs dadurch erklärt, dass dieser recht behält. Auch diese Vorgabe kann aber natürlich keinen Platz unter den Hintergrundannahmen einer Diskussion haben, die eine Auseinandersetzung zwischen Relativist und Absolutist auf neutralem Boden darstellen soll.
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Unterschiede zwischen Halesʼ System und RL1 Letzteres zu einer geeigneteren Repräsentation des relativistischen Denkens machen. Dann wird kurz auf das weitere von Ressler angeführte Selbstaufhebungsargument einzugehen sein, das sich mit dem relativen oder absoluten Status von Zuschreibungen relativer Wahrheit und Falschheit befasst. Anschließend wird zu zeigen sein, dass ein in RL5 dargestellter Relativismus auch diesem entgehen kann, um schließlich darzulegen, dass RL5 darüberhinausgehende Vorzüge vor RL1 hat, die seine Verwendung als Formalisierung relativistischer Theorien unabhängig vom Selbstaufhebungsproblem motivieren können. Zunächst also zu Resslers System RL1, dessen Definition hier ausführlich zitiert werden soll, um einige seiner Eigenheiten augenfällig werden zu lassen: Syntax The language of RL1 consists of: – an infinite number of sentence letters: s1, s2, s3, …; – grouping symbols: (,); and – two relativity operators: REL and ABS. The well-formed formulas of RL1 are defined as follows: 1) All sentence letters are well-formed formulas. 2) If α is a well-formed formula, then so are REL(α) and ABS(α). […] Semantics An interpretation of RL 1 is a structure , where – M is a relativising domain in the form of a non-empty set of relativising factors, – R is a binary relation on M, and – v is a function that assigns truth values to statements relative to elements in M, with the relativity operators assigned values as follows: vm(REL(α)) = 1 iff vm’ (α) ≠ vmʺ (α) for some mʹ and mʺ where mRmʹ and mRmʺ, and = 0 otherwise. vm(ABS(α)) = 1 iff vm’ (α) = vmʺ (α) for all mʹ and mʺ where mRmʹ and mRmʺ, and = 0 otherwise.¹²⁴
Es fällt sofort auf, dass RL1 nur aus einer Syntax und einer Semantik besteht; eine Beweistheorie, Ableitungsregeln o. Ä. gibt es hier nicht, und die Semantik bietet auch keine Wahrheitsbedingungen für etwa die Booleschen Junktoren oder die Quantoren, sondern ausschließlich für den Relativitäts- und den Absolutheitsoperator. Das bedeutet zunächst einmal, dass keine Ableitungen innerhalb von RL1 gemacht werden können. Die Diskussion um den Relativismus und seine eventuelle Selbstaufhebung muss anhand von Argumenten in einer Metasprache über die Eigenschaften von RL1 stattfinden.¹²⁵ Das ist nun aber noch kein Un Ressler (2009), 177 f. (Hervorhebungen seine). Vgl. Ressler (2009), 181 FN 94.
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terschied zu Halesʼ System, auch dieses wird von seinem Urheber als eine Grundlage metasprachlicher Argumente und nicht als Formalismus, innerhalb dessen Ableitungen vorgenommen werden, behandelt.¹²⁶ Was Halesʼ System RL1 allerdings sehr wohl voraus hat, ist eine Semantik für logische Konstanten jenseits der Relativitätsoperatoren wie z. B. für die Negation.¹²⁷ Ressler entscheidet sich bewusst dagegen, logische Junktoren und Quantoren in RL1 entweder semantisch oder in Form von Axiomen einzubetten. Dies soll sicherstellen bzw. die (von einem globalen Relativismus angenommene) Tatsache repräsentieren, dass unterschiedliche Perspektiven unterschiedliche Logiken nutzen können.¹²⁸ Wäre z. B. eine der im Modell enthaltenen Perspektiven parakonsistent oder intuitionistisch, müsste das Verhalten der Negation innerhalb dieser Perspektive von dem in Perspektiven mit einer klassischen Logik abweichen, was eine einheitliche Semantik der Negation oder einheitliche Schlussregeln für die Negation über alle Perspektiven hinweg unmöglich macht. Was in RL1 also effektiv geschieht, ist, dass logisch komplexe Aussagen, wie z. B. Konjunktionen, als atomare Aussagen behandelt werden. Ihre innere Struktur wird dem Zugriff des Systems als Ganzem entzogen, um Raum für unterschiedliche Auffassungen eben jener Struktur innerhalb der unterschiedlichen Perspektiven zu schaffen.¹²⁹ Hier handelt es sich m. E. um einen ersten bedeutenden Vorteil von Resslers RL1 gegenüber Halesʼ System als Mittel der Repräsentation des globalen Relativismus, denn unter Bedingungen von Halesʼ Ansatz kann es keine Relativität der Logik geben (oder zumindest nicht in Bezug auf jene Konstanten, für die Hales in seiner Semantik Wahrheitsbedingungen festlegt). Wie aber oben dargelegt wurde, steht und fällt die Möglichkeit des globalen Relati Siehe das oben bereits zitierte Selbstaufhebungsargument in Hales (2006), 100 f. und seinen formalen Appendix in Hales (2006), 142 ff. Deswegen entspricht auch bei Ressler die Wahrheitsbedingung für den Absolutheitsoperator nicht mehr der des Notwendigkeitsoperators, sondern lautet, dass eine Zuschreibung von Absolutheit dann wahr ist, wenn die betreffende Aussage in allen Perspektiven denselben Wahrheitswert hat. Bei Hales war es noch egal, dass der Absolutheitsoperator strenggenommen nur absolute Wahrheit und nicht Absolutheit als solche repräsentiert, weil es dort einen Negationsoperator gab: Wenn p in allen Perspektiven falsch war, war eben nicht-p in allen Perspektiven wahr, und damit hatten wir eine wahre Absolutheitszuschreibung die Negation von p betreffend. In RL1 muss der Absolutheitsoperator sowohl absolute Wahrheit als auch absolute Falschheit abdecken, weil Negation hier nicht vorgesehen ist. Vgl. Ressler (2009), 178 ff. Ressler weist darauf hin, dass man dieses Problem durch Verwendung einer nicht-normalen Logik umgehen könnte. Dies deutet auf eine interessante Parallele zwischen der Behandlung logisch komplexer Aussagen in RL1 und dem Verhalten bzw. dessen Motivation von Relativitätszuschreibungen im nicht-normalen System RL5 hin, auf die unten noch einmal einzugehen sein wird. Vgl. Ressler (2009), 179 f.
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vismus mit der Möglichkeit einer relativistischen Auffassung der Logik. Insofern ist Halesʼ Ansatz von vornherein keine geeignete Darstellungsform für einen globalen Relativismus. Ein weiterer wichtiger Vorteil von RL1 ist seine Zugänglichkeitsrelation zwischen den Perspektiven. Wie bereits erwähnt, ist Halesʼ System analog zu S5 verfasst, RL1 hingegen entspricht Kripkes System K. Das bedeutet, dass die Zugänglichkeitsrelation bei Hales eine Äquivalenzrelation ist, sie ist also reflexiv, symmetrisch und transitiv, was darauf hinausläuft, dass jede Perspektive von jeder anderen aus zugänglich ist, während RL1 keinerlei Anforderungen an die Zugänglichkeitsrelation aufstellt. Was genau spricht nun für oder gegen diese unterschiedlichen Weisen, die Zugänglichkeitsrelation festzulegen? Folgt man Hales, so lautet die Antwort: nichts. In fact, there is no reason to be concerned with any kind of ‚analysis‘ of commensurability [Halesʼ Ausdruck für die Zugänglichkeitsrelation zwischen Perspektiven; D. S.]. The reason is that there is no deep fact about commensurability. The relation is invented to service the needs of the logic. To say that perspective p’ is commensurable to a perspective p is to say, roughly, that p’ is a consistent or compatible perspective with p given certain facts about p. What these facts are will depend on the type of relativism that is being modeled. […] It [das Konzept der commensurability; D. S.] is a concept that exists by design, whose sole nature is consumed by the function or role that it plays in the logic of relativism.¹³⁰
Laut Hales gibt es also nichts, was uns dazu zwingen könnte, die Zugänglichkeitsrelation in einer bestimmten Weise festzulegen. Unterschiedliche Zugänglichkeitsrelationen bedeuten schlicht unterschiedliche relativistische Thesen, eine Motivation für seine Universalisierung der Zugänglichkeit sucht man bei ihm vergeblich. Dies ist umso verwunderlicher, als er sich in seinen Ausführungen zum Zusammenhang von unterschiedlichen Relativismen und unterschiedlichen Zugänglichkeitsrelationen so ausdrückt, als wäre das Verhältnis von einander zugänglichen Perspektiven gerade keines von Inkompatibilität, Konkurrenz oder Konflikt, wie es gemeinhin von relativistischen Theorien zwischen unterschiedlichen Rahmen postuliert wird. Anders gewendet: Hales impliziert, dass einander zugängliche Perspektiven miteinander vereinbar sind und damit eine Relativierung von Wahrheit o. Ä. in Bezug auf sie von vornherein unnötig ist. Dies wird
Hales (2006), 108 f. (Hervorhebungen seine). Angesichts seiner Haltung, dass die Kommensurabilitätsrelation keinerlei Charakterisierung jenseits ihrer formalen Eigenschaften bedarf, ist es leider vollkommen unklar, warum Hales ausgerechnet diese Bezeichnung für selbige wählt. Für seine knappen Ausführungen zu den Parallelen seiner Verwendung des Ausdrucks mit der von Kuhn siehe Hales (2006), 107 f.
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sowohl in der gerade zitierten Passage deutlich, wo er von einander zugänglichen Perspektiven als „consistent“ oder „compatible“ spricht, als auch in seiner Anwendung des Zugänglichkeitskonzepts auf die Unterschiede zwischen Kuhns Position und seiner eigenen: On Kuhnʼs view, if a person were to enter into a scientific perspective, the class of available theories, solutions, and puzzles (and truths, presumably, although Kuhn shies away from this final step) would change for that person. […] Suppose we tinker a bit with the range of the commensurability relation and compare the result with Kuhnʼs scientific relativism. Letʼs say that all scientific perspectives are commensurable with each other […]. However, scientific perspectives are incommensurable to religious perspectives.¹³¹
Für Hales scheint der Marker ‚echter‘ Relativität also nicht die Zugänglichkeit, sondern die Unzugänglichkeit zu sein. Warum er seine relativistische Theorie trotzdem innerhalb eines Systems mit einer universellen Zugänglichkeitsrelation modelliert, erklärt er leider nicht. Streng genommen sollten nach Halesʼ Verständnis der Zugänglichkeitsbeziehung keine zwei Perspektiven, die in einem engen Sinne unterschiedliche Perspektiven sind, die also z. B. einander widersprechende Wahrheiten hervorbringen, einander zugänglich sein. Somit wären die in seinem S5-analogen System dargestellten Perspektiven streng genommen auch kein Modell einer relativistischen Theorie. Aber die Inkohärenzen zwischen Halesʼ Systemwahl und seinen Ausführungen zur Zugänglichkeitsrelation einmal beiseitegelassen – könnte man RL1 nicht einfach aufgrund des von ihm behaupteten stipulativen Charakters der Festlegung einer Zugänglichkeitsrelation ohne weitere Begründung als ‚Logik des Relativismus‘ wählen? Fair gegenüber Hales wäre das zwar, schließlich tut er dasselbe mit seinem System, und man hätte bereits den Vorteil, dass man den Relativismus nicht willkürlich dem Selbstaufhebungsvorwurf aussetzt, aber die Frage, welches System dem Relativismus angemessener ist, lässt sich durchaus sauberer klären. Bei Ressler finden sich nämlich glücklicherweise einige Ausführungen darüber, wie die Zugänglichkeitsrelation innerhalb relativistischer Theoriebildung interpretiert werden kann; und anhand dieser möglichen Interpretationen lässt sich zeigen, dass eine reflexive, symmetrische und transitive Relation ein eher unwahrscheinlicher Kandidat ist. Zunächst ist es interessant zu betrachten, was Ressler für die Funktion der Zugänglichkeitsrelation im Allgemeinen, jenseits spezifischer Interpretationen derselben, hält. Denn wie auch Hales ist er der Auffassung, dass die passende Zugänglichkeitsrelation von der konkreten zu beschreibenden relativistischen
Hales (2006), 107 f.
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Theorie abhängt und dass sie primär ein Instrument zur Erstellung eines passenden Systems – im Gegensatz zu einer Repräsentation bestimmter unabhängig bestehender Sachverhalte – ist. Doch von Ressler erhalten wir nicht nur den Hinweis, dass „[t]he relation is invented to service the needs of the logic“,¹³² sondern erfahren auch, wie diese Bedürfnisse und die Wahl einer passenden Relation interagieren. Kurz gesagt: Bei Ressler hat die Relation eine spezifizierte Funktion zu erfüllen. The function of accessibility relations is to identify those competing perspectives that need to be evaluated when determining the relativity of a statement from a given perspective. For example, one perspective may consider another perspective sufficiently worthy of consideration and would therefore take that perspective into account when considering whether a statement is relative or not. It may consider a different perspective to be simply incorrect and would thereby ignore that perspective entirely when determining whether a statement is relative. So the accessibility of perspectives indicates the worthiness of consideration of the theories of those perspectives.¹³³
Es geht, laut Ressler, bei der Festlegung einer Zugänglichkeitsrelation also darum, die Bewertung von Relativitäts- und Absolutheitszuschreibungen für die einzelnen Perspektiven zu ermöglichen. Eine zugängliche Perspektive ist eine solche, deren Bewertung einer Aussage bei der Frage, ob diese Aussage relativ oder absolut ist, in Betracht gezogen wird, die Verdikte unzugänglicher Perspektiven werden ignoriert. Ressler schlägt drei unterschiedliche Möglichkeiten vor, wie diese abstrakte Rolle der Zugänglichkeitsrelation in relativistischen Theorien mit konkreterem Gehalt gefüllt werden könnte. Die erste davon ist, das zugängliche Perspektiven solche sind, die von der eigenen Perspektive aus als existent gelten: One alternative is mere awareness of a different perspective. Perhaps this alternative could be understood in an ontological way by saying that one perspective is accessible to another if the latterʼs theory includes the element from the relativising domain associated with the perspective of the former. If the relativising domain in question is a set of cultures, for example, then the perspective of one culture is accessible to another culture, only if the second cultureʼs theory includes the first culture within its account. This alternative is very broad, making a wide range of other perspectives available to a perspective that accepts this sort of accessibility relation.¹³⁴
Hales (2006), 108. Ressler (2009), 173. Ressler (2009), 174.
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Präziser gesagt geht es um Perspektiven, die zumindest als existent gelten würden, wenn man mit ihnen in Kontakt käme. Ressler geht auf diese Unterscheidung leider nicht ausführlich ein, aber er macht es explizit, dass er bloße Unwissenheit nicht als Grundlage für Unzugänglichkeit gelten lassen will;¹³⁵ die relevante Frage scheint eher zu sein, ob in der Weltbeschreibung der einen Perspektive Platz für die andere ist. Um in seinem Beispiel einer Menge von Kulturen als Perspektiven zu bleiben, könnte man vielleicht sagen, dass eine Kultur, die kein Konzept von Kulturen oder etwas Ähnlichem besitzt, keinen Zugang zu den restlichen hat. Hier kündigt sich eine Frage bzgl. der Eigenschaften dieser Art von Zugänglichkeitsrelation an, die auch Ressler aufwirft: Ist diese Zugänglichkeitsrelation reflexiv, ist also jede Perspektive sich selbst zugänglich? Ressler selbst spricht davon, dass nach seiner oben zitierten Formulierung alle Perspektiven ein Konzept von selbst o. Ä. besitzen müssten, damit die Relation reflexiv wäre.¹³⁶ Dem ist m. E. nicht zuzustimmen. Was sie genauso verwenden könnten, um für eine reflexive Relation zu sorgen, ist ein Konzept der Art von Dingen, die die Menge der relativierenden Instanzen bildet, also im verwendeten Beispiel eben ein Konzept von Kulturen. Die Perspektiven müssen, um eine reflexive Relation zu erhalten, erfolgreich auf sich Bezug nehmen. Mit welchen konzeptuellen Mitteln genau diese Bezugnahme vorgenommen wird, ist unerheblich.¹³⁷ Dieser Typ von Zugänglichkeitsrelation wäre also wahrscheinlich reflexiv für relativistische Theorien, die umfassendere Rahmen annehmen, wie z. B. Kulturen, da es hier naheliegt, dass diese in irgendeiner Weise auf sich Bezug nehmen können. Bei Theorien, die eine sehr feinkörnige Rahmeneinteilung benutzen, wie z. B. bei Goodmans Symbolsystemen, scheint Reflexivität allerdings nicht gewährleistet zu sein.¹³⁸ Symmetrie und Transitivität scheinen allerdings in beiden Fällen nicht gegeben zu sein,¹³⁹ somit wäre ein S5-analoges System mit seiner reflexiven, symmetrischen und transitiven Zugänglichkeitsrelation unter diesem Verständnis derselben keinesfalls angemessen.
Vgl. Ressler (2009), 174 FN 88. Vgl. Ressler (2009), 174 FN 89. Diese Bedingung müsste für Relativismen mit nicht-sprachartigen Rahmen natürlich entsprechend modifiziert werden. Dies ist übrigens ein Punkt, an dem die Verwendbarkeit eines solchen formalen Systems für die Darstellung relativistischer Theorien grundsätzlich in Frage gestellt wird. RL1 schreibt vor, dass Relativitätszuschreibungen auch für solche Perspektiven einen Wahrheitswert haben, die überhaupt keine Konzepte von Relativität und Absolutheit besitzen. Dies ist eine fragwürdige Vorgehensweise. Möglicherweise könnte man hier mit Wahrheitswertlücken arbeiten, wenn man es mit Perspektiven zu tun hat, die keinen Zugang zu irgendwelchen Perspektiven, einschließlich sich selbst, haben. Vgl. Ressler (2009), 174 FN 89.
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Eine zweite mögliche Interpretation der Zugänglichkeitsrelation lehnt Ressler an Bernard Williamsʼ Relativismus an. In dieser Version soll Zugänglichkeit dann vorliegen, wenn eine andere Perspektive nach den Maßstäben der eigenen positiv bewertet wird oder, in einer stärkeren Variante, wenn sie die entsprechenden Maßstäbe der eigenen teilt.¹⁴⁰ Diese Interpretation ist – insbesondere in der stärkeren Variante mit geteilten Maßstäben – eher einer pluralistischen Theorie angemessen als einem globalen Relativismus. Was die Eigenschaften der Relation betrifft, kann man hier nach Ressler Reflexivität erwarten, Symmetrie und Transitivität liegen allerdings nur dann vor, wenn man von geteilten Maßstäben ausgeht.¹⁴¹ Selbst dort sollte man aber m. E. etwas vorsichtiger sein, denn es lässt sich natürlich fragen, in welchem Ausmaß genau Maßstäbe geteilt werden müssen und ob diese Festlegung selbst relativ ist. Müssen nicht alle Maßstäbe geteilt werden – und dass sie das nicht müssen, legt die Tatsache nahe, dass es sich um unterschiedliche Perspektiven handelt –, dann wäre es durchaus möglich, dass Perspektive a Perspektive b anhand geteilter Maßstäbe positiv bewertet und Perspektive b Perspektive c anhand geteilter Maßstäbe positiv bewertet, von denen Perspektive a aber nicht genügend teilt, um Perspektive c positiv zu bewerten. Transitivität läge in diesem Fall nicht vor. Wäre die Frage, wie viele Maßstäbe geteilt werden müssen, zudem selbst relativ auf die Perspektive zu beantworten, von der aus Zugang stattfinden soll, ist auch die Symmetrie der Zugänglichkeitsrelation bedroht. Dann könnte nämlich z. B. eine Perspektive nahezu vollständige Übereinstimmung von Maßstäben verlangen, damit Zugänglichkeit vorliegt, während eine andere deutlich geringere Anforderungen stellt. Damit könnte Erstere für Letztere zugänglich sein, ohne dass Letztere für Erstere zugänglich ist. Auch unter dieser Interpretation der Zugänglichkeitsrelation – insbesondere in der schwächeren Variante – ist ein Fassen derselben als Äquivalenzrelation also nicht angemessen. Die einzige der von Ressler in den Raum gestellten Interpretationen, mit der die Zugänglichkeitsrelation zu einer Äquivalenzrelation wird, ist gleichzeitig eine, die mit einem globalen Relativismus nicht vereinbar ist. In dieser dritten Interpretation wird Zugänglichkeit als Kommensurabilität gefasst, worunter Ressler versteht, dass die in unterschiedlichen Perspektiven hervorgebrachten Theorien ineinander transformierbar sind. Nach Resslers Kriterien, wie auch nach den hier verwendeten, haben wir es in einem Fall, wo Kommensurabilität behauptet wird, nicht mit einem Relativismus zu tun, sondern mit einer schwächeren Theorie, wie
Vgl. Ressler (2009), 174 ff. Vgl. Ressler (2009), 176 FN 90.
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z. B. einem Kontextualismus.¹⁴² Insofern ist diese Interpretation – zumindest, wenn die Zugänglichkeitsrelation für das ganze System festgelegt werden soll und sie nicht auf einzelne Perspektiven relativiert wird – nicht geeignet, um relativistische Theoriebildung zu formalisieren. M. E. liegt die geeignetste Interpretation der Zugänglichkeitsrelation für die Art von Relativismen, die in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehen (also globale Relativismen mit sprachartigen Rahmen), zwischen Resslers ersten beiden Vorschlägen. Reine Bezugnahme auf andere Perspektiven, also z. B. auf andere Symbolsysteme, scheint zu schwach, um die Funktion der Bereitstellung der Wahrheitsbedingungen für Relativitätszuschreibungen zu gewährleisten. Immerhin könnte ein Symbolsystem durchaus fähig sein auf ein anderes bezugzunehmen und es schlicht als defizitär ablehnen. In diesem Fall sollte es für die Frage von Relativität oder Absolutheit von Aussagen aus Sicht des ersten Symbolsystems keinerlei Rolle spielen, was das zweite Symbolsystem zu sagen hat. Dafür sollte es vielmehr auf das andere Symbolsystem als eine wahrheitsgenerierende Instanz Bezug nehmen. Dafür ist es nicht unbedingt notwendig, dass bestimmte, inhaltlich festgelegte Maßstäbe von anderen Perspektiven erfüllt werden – und schon gar nicht, dass diese Maßstäbe geteilt werden, dies wäre, wie bereits erwähnt, kein globaler Relativismus mehr, sondern ein Pluralismus. Vielmehr würde dafür ein in der Perspektive selbst geltender alethischer Relativismus gepaart mit der Auffassung, dass es sich bei der zweiten Perspektive um die Art von Entität handelt, auf die Wahrheit relativ ist (also z. B. ein in Benutzung befindliches, nützliches Symbolsystem), ausreichen. Auch diese Interpretation der Zugänglichkeitsrelation ist zwar möglicherweise reflexiv,¹⁴³ aber nicht symmetrisch und transitiv. Es sieht also so aus, als wären die plausibleren bzw. globalen relativistischen Theorien angemesseneren Interpretationen der Zugänglichkeitsrelation solche, die sie nicht als Äquivalenzrelation auffassen. Dies ist also ein eindeutiger Vorteil von Resslers RL1, wo sie nicht reflexiv, transitiv und symmetrisch ist, gegenüber Halesʼ S5-analogem System. Dieser Unterschied der Systeme ist gleichzeitig der entscheidende Faktor für das Scheitern von Halesʼ Selbstaufhebungsargument in Bezug auf RL1.
Vgl. Ressler (2009), 176. Das Problem mit der Reflexivität ist wiederum, dass eine sehr feingliedrige Einteilung von Rahmen es verhindern kann, dass einige Rahmen überhaupt geeignetes Vokabular besitzen, um sich auf Rahmen zu beziehen.
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Bevor dies allerdings gezeigt werden kann, sind einige methodische Bemerkungen zum Beweisen in RL1 – oder besser: Beweisen über RL1 – notwendig. Wie bereits erwähnt besitzt es keine Schlussregeln, weswegen Beweise grundsätzlich in einer Metasprache geführt werden müssen. Dies entspricht zwar dem Vorgehen von Hales, aber ihm kam eine weitere Besonderheit von S5 zu Hilfe, die einerseits ein weiterer Nachteil für sein System als Repräsentation des Relativismus ist, aber andererseits die Frage, wie genau man anhand seines Systems Beweise führen kann, deutlich vereinfacht.¹⁴⁴ Durch die universelle Zugänglichkeitsrelation in S5 ist es nämlich so, dass sämtliche Aussagen, die die Modaloperatoren enthalten, in allen möglichen Welten denselben Wahrheitswert haben. Warum dies so ist, lässt sich leicht sehen, wenn man sich in Erinnerung ruft, was genau die Modaloperatoren bedeuten. Der Möglichkeitsoperator besagt, dass es mindestens eine zugängliche Welt gibt, in der die fragliche Aussage wahr ist, der Notwendigkeitsoperator besagt, dass die fragliche Aussage in allen zugänglichen Welten wahr ist. Wenn nun aber alle möglichen Welten Zugang zu exakt derselben Menge an Welten haben – wie es eben für S5 charakteristisch ist – dann können unterschiedliche Welten nicht zu unterschiedlichen Bewertungen von Möglichkeits- und Notwendigkeitsaussagen kommen. Halesʼ Relativitäts- und Absolutheitsoperator verhalten sich parallel dazu, deswegen sind in Halesʼ System Relativitäts- und Absolutheitsaussagen grundsätzlich in allen Perspektiven identisch bewertet. Das heißt aber, dass sie alle entweder absolut wahr oder absolut falsch sind. Benutzt man also ein S5 analoges System, um den Relativismus zu formalisieren, hat man sich von vornherein darauf festgelegt, dass eine ganze Klasse von Aussagen, nämlich Aussagen über Absolutheit und Relativität, nicht relativ, sondern absolut wahr oder falsch sind. Man hat also das Ziel eines globalen Relativismus, der wirklich alle Aussagen betrifft, bereits mit der Wahl des Systems aufgegeben. Das ist also der gerade erwähnte Nachteil von Halesʼ System. Auf der anderen Seite bedeutet dies aber, dass Relativitätszuschreibungen über das ganze System hinweg gelten und damit klar ist, wie ein Beweis für Absolutheits- oder Relativitätsaussagen vorgehen muss. In RL1 hingegen sind unterschiedliche Relativitätsaussagen wahr in unterschiedlichen Perspektiven. Wie soll man hier also zeigen, dass der Relativismus nicht in der von Hales anvisierten Weise selbstaufhebend ist? Laut Ressler muss gezeigt werden, dass es ein Modell gibt, in dem es das gibt, was er eine „thoroughly relativistic perspective“¹⁴⁵ – eine Diese Offensichtlichkeit der Lösung des Problems, wie genau Beweise über das System vorzugehen haben, könnte sogar der Grund dafür sein, warum sich Hales für ein S5-analoges System entscheidet. Ressler (2009), 207.
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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durch und durch relativistische Perspektive – nennt, also eine Perspektive, die alle Zuschreibungen von Relativität als wahr bewertet. Das Ziel ist also zu zeigen, dass sich eine globale relativistische Perspektive konsistent in dieses System einbetten lässt. Das ist, auch wenn es zunächst seltsam klingen mag, ein weiterer klarer Vorteil von RL1 gegenüber Halesʼ System. Denn natürlich behaupten globale Relativisten auch von ihrer eigenen Theorie, dass sie relativ auf eine Perspektive ist, ganz genau wie alle anderen Aussagen – und das nicht aus Versehen, wie ihnen Autoren von Selbstaufhebungsargumenten häufig unterstellen, sondern mit voller Absicht. Insofern ist es natürlich begrüßenswert, dass, wenn wir den Relativismus mit RL1 modellieren, der Relativismus explizit einer Perspektive im Modell zugeordnet ist und nicht dem Standpunkt des Systems selbst. Das ist es nämlich, worauf Halesʼ Ansatz hinausläuft. Um nachzuweisen, dass der Relativismus nicht in Halesʼ Sinne selbstaufhebend ist, dass aus ihm also nicht folgt, dass zumindest eine Aussage absolut wahr sein muss, muss also gezeigt werden, dass es ein RL1-Modell gibt, in dem eine Perspektive jede Relativitätsbehauptung als wahr bewertet. Ein solches Modell lässt sich ganz einfach konstruieren mit zwei Perspektiven, von denen eine Zugang zu beiden hat und die andere nur zu sich selbst und die atomaren Aussagen entgegengesetzte Wahrheitswerte zuweisen. Ressler definiert das Modell folgendermaßen: Let be an RL1 model as follows: M = {m1, m2) R = {, , } Let vm1(si) assign values arbitrarily for every simple sentence si Let vm2(si) = 1 where vm1(si) = 0, and vm2(si) = 0 where vm1(si) =1¹⁴⁶
Im Anschluss beweist er durch vollständige Induktion, dass in m1 alle Relativitätszuschreibungen als wahr bewertet werden, dass also m1 eine thoroughly relativistic perspective ist: The proof proceeds by induction on the level of nesting of the relativity operators, since by the formation rules for RL1, α is either a simple sentence si, or a sentence of the form REL(β) or ABS(β). Base case: REL(α), where α is one of s1, s2, s3,… According to the definition of v in the model: If vm1(si) = 1, then vm2(si) = 0 If vm1(si) = 0, then vm2(si) = 1
Ressler (2009), 208 (Hervorhebungen seine).
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
ml can access both ml and m2 Therefore, For every basic sentence si, there are two perspectives, ml and m2 accessible to m1 where vm1(si) ≠ vm2(si), so vm1(REL(si)) = 1. This establishes the base case for the first level, where α is a basic sentence with no nested relativity operators. Inductive step: REL(α), where α is either REL(β) or ABS(β) Suppose that α is REL(β), with some level of nested relativity operators in β. Then vm1(REL (β)) = 1 for all β, by the inductive hypothesis. Since m2 can access only itself, in general, vm2 (REL(γ)) = 0 for all γ, so vm2(REL(β)) = 0. Therefore, there are two perspectives, ml and m2 accessible to ml where vm1 (REL(β)) ≠ vm2(REL(β)), so vm1(REL(REL(β))) = 1. Suppose now that α is ABS(β). vm1 (REL(β)) = 1 for all β, by the inductive hypothesis, so vm1 (ABS(β)) = 0. Since m2 can access only itself, in general, vm2(ABS (γ)) = 1 for all γ, so vm2(ABS (β)) = 1. Therefore, there are two perspectives, ml and m2 accessible to ml where vm1(ABS(β)) ≠ vm2(ABS(β)), so vm1(REL(ABS(β))) = 1. So if vm1 (REL(β)) = 1, where β contains some level of nesting of relativity operators, then vm1 (REL(REL(β))) = 1, and vm1(REL(ABS(β))) = 1, proving the inductive step. Therefore, according to the model, vm1(REL(α)) = 1 for all α.¹⁴⁷
Also folgt in RL1 nicht aus dem Relativismus, dass es mindestens eine absolute Aussage gibt und der Relativismus folglich falsch ist, denn eine konsistente Perspektive, in der alle Relativitätszuschreibungen wahr und alle Absolutheitszuschreibungen falsch sind, lässt sich problemlos in das System einbetten. Halesʼ Selbstaufhebungsargument scheitert also in diesem System oder besser: über dieses System. Eine bemerkenswerte Eigenschaft solcher RL1-Modelle ist, dass sie etwas über absolutistische Perspektiven nahelegen, was recht gut mit klassischeren Ansätzen aus dem relativistischen Bereich kohäriert. Das Selbstaufhebungsargument, dass, wenn der Relativismus sich selbst für relativ wahr erklärt, der Absolutismus wahr sein müsse, ist schon recht lange im Umlauf. Ebenso ist es die Antwort, dass es den Relativisten nicht stören müsse, wenn der Absolutismus ebenfalls wahr sei, er sei ja immerhin nur relativ wahr und damit der Relativismus nicht widerlegt. Hales versucht gerade diese relativistische Antwort auszuhebeln, indem er behauptet, dass aus relativer Absolutheit nicht weiter qualifizierte Absolutheit, man könnte auch sagen Absolutheit simpliciter, folgt. Das ist es gerade, was Prinzip # in seiner Lesart besagt. Relativist und Absolutist scheinen sich hier mit gleichstarken Argumenten gegenüberzustehen: Einerseits scheint es offensichtlich, dass der Absolutismus relativ wahr sein könnte, und andererseits scheint es völlig unmöglich, dass er
Ressler (2009), 208 f. (Hervorhebungen seine).
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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relativ wahr sein könnte. Gegen diese absolutistische Argumentationslinie gibt es eine bedenkenswerte relativistische Strategie. Es handelt sich nicht um ein weiteres Gegenargument, stattdessen wird hier versucht, ein Bild davon zu entwerfen, was es für den Absolutismus bedeuten würde, relativ wahr zu sein. Der Absolutismus gehört in diesem Bild einem Rahmen an, der sich nicht darauf einlässt, andere Rahmen als Rahmen zu sehen, oder anders gewendet: Der Absolutismus lässt sich nicht darauf ein, seinen eigenen Rahmen als Rahmen unter anderen zu betrachten. Er stipuliert einen Wahrheitsbegriff, der nur innerhalb seines eigenen Rahmens angewendet werden darf, und dadurch isoliert er sich von den anderen Rahmen. Dem entspricht in dem eben betrachteten RL1-Modell die Tatsache, dass die relativistische Perspektive m1 zwar Zugang zu sich selbst und der absolutistischen Perspektive m2 hat, die absolutistische Perspektive m2 aber nur sich selbst sieht. m2 ist absolutistisch, weil für m2 nur m2-Wahrheit Wahrheit ist, oder zumindest liegt dies nahe, wenn man die oben angebotene Interpretation der Zugänglichkeitsrelation für plausibel hält.¹⁴⁸ Für den Relativisten bedeutet das, dass er in die angenehme Position versetzt wird, dem Absolutisten eine Form von freiwilliger Blindheit vorwerfen zu können.¹⁴⁹ Allerdings zeigt Ressler selbst, dass der Relativismus unter RL1-Bedingungen tatsächlich selbstaufhebend ist, wenn auch nicht in der Weise, wie es Hales sich vorstellt. Die Form von Selbstaufhebungsargument, die Ressler für letztlich verheerend für RL1 hält, lokalisiert er z. B. bei Autoren wie Burnyeat und Putnam;¹⁵⁰ und sie hat es nicht mit Zuschreibungen von Relativität, sondern mit Zuschreibungen relativer Wahrheit zu tun. Knapp gesagt besagt dieser Einwand, dass höherstufige Aussagen, die einer Aussage in einer Perspektive Wahrheit zuschreiben (z. B. solche Aussagen wie „p ist wahr in m2“), absolut sein müssen. Ressler nennt die Behauptung, dass solche Aussagen absolut sein müssen, den For-x-Einwand.¹⁵¹
Ressler beschreibt die Situation absolutistischer Perspektiven in ähnlicher Weise: „Within any of the proposed relative system, there are perspectives that are thoroughly absolutist. From the absolutist perspective, that perspective is not part of a relative system at all, but standing proudly and absolutely alone. Yet that perspectiveʼs judgment on itself does not preclude it from being included as a sub-theory within a relative system.“ Ressler (2009), 220 f. Auf diesen Punkt wird zum Ende dieses Abschnitts noch einmal zurückzukommen sein, wo es noch einmal abschließend darum gehen wird, warum die Ressler-Systeme dem System von Hales überlegene Repräsentationen der Struktur relativistischer Theoriebildung sind. Resslers Vorgehen ist an dieser Stelle – was seinem Projekt auch durchaus angemessen ist – ausgesprochen reduktiv. Die genannten Argumentationen enthalten zwar den fraglichen Punkt und er spielt durchaus eine bedeutende Rolle, aber insgesamt sind sie doch deutlich komplexer. Für eine ausführliche Interpretation derselben siehe Abschnitt 2.1.4 und 3.3.2.1. Vgl. Ressler (2009), 205.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
Im Moment sind wir noch nicht in der Lage, die Erfolgsaussichten des For-xEinwands gegen RL1 zu bewerten, denn RL1 ist überhaupt nicht in der Lage, Aussagen der Form „Für Perspektive m2 ist p wahr“ zu bilden. Dazu muss die Semantik um einen neuen Operator erweitert werden. Um dessen Semantik auszudrücken, wird zunächst eine unbegrenzte Anzahl von Namen a1, a2, a3…an als Zusatz zur Syntax von RL1 benötigt, und die Definition eines RL1 Modells muss um eine Indexfunktion I erweitert werden (), die jeden dieser Namen entweder einem Element aus M oder der leeren Menge zuordnet.¹⁵² Hier nun Resslers Definition des ergänzten Operators: „vm(FORx(α)) = 1 iff (a) I maps x to some element mʹ in the relativising domain, (b) mʹ is accessible to m according to R, and (c) vm’ (α) = 1; and = 0 otherwise.“¹⁵³ Damit eine Zuschreibung von Wahrheit über eine Aussage in einer anderen Perspektive wahr ist, müssen also drei Bedingungen erfüllt sein; wenn mindestens eine von ihnen nicht erfüllt ist, ist die Wahrheitszuschreibung falsch. Erstens muss die Indexfunktion den in der Wahrheitszuschreibung verwendeten Namen einer Perspektive zuordnen. Zweitens muss diese Perspektive von der Perspektive aus, in der die Wahrheitszuschreibung vorgenommen wird, zugänglich sein. Drittens muss die Aussage, der Wahrheit zugeschrieben wird, in der Perspektive, über die die Wahrheitszuschreibung spricht, wahr sein. Ressler nennt diese drei Bedingungen die reference condition, die accessibility condition und die valuation condition. ¹⁵⁴ Die Behauptung des For-x-Einwandes lässt sich nun folgendermaßen formulieren: Aussagen, die den FORx-Operator enthalten, sind absolut, und dies trifft zu für alle Aussagen, alle Perspektiven und alle x. Diese Behauptung ist nach Ressler allerdings nicht ganz richtig, und das lässt sich auch leicht anhand eines Modells, das ein Gegenbeispiel darstellt, nachweisen.¹⁵⁵ Ressler beschreibt die Strategie zur Erstellung eines solchen Modells wie folgt: The strategy is similar to the general strategy for finding thoroughly relativistic models mentioned earlier. Designate one perspective to be relativistic. Let a different, non-relativistic perspective value each sentence such that it and the relativistic perspective contradict each other. Let a different non-relativistic perspective value each sentence arbitrarily. Arrange the accessibility relations such that the relativistic perspective can access all perspectives, including itself, but the non-relativistic perspectives can access only themselves. Consequently, since the accessibility condition fails in each non-relativistic perspective with regard to the FORx operator with regard to other perspectives, the FORx operator can be val-
Vgl. Ressler (2009), 211. Ressler (2009), 211 (Hervorhebungen seine). Vgl. Ressler (2009), 211. Vgl. Ressler (2009), 211 f.
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
333
ued true in one perspective but false in another, allowing the relativistic perspective to hold the FORx operator to be relative.¹⁵⁶
Der For-x-Einwand trifft also nicht für alle Fälle zu. Der entscheidende Faktor ist der Wahrheitswert der atomaren Aussage, über die die FORx-Aussage spricht. Wenn ein α gewählt wird, das falsch ist, und nicht eines, das wahr ist, dann behält der For-x-Einwand recht, und die entsprechende Aussage ist absolut. Ressler legt dafür den folgenden Beweis vor: Consider an arbitrary RL1+F model. Consider an arbitrary sentence α and an arbitrary mʹ$ M where vm’ (α) = 0. Let I map aʹ to mʹ. Since the valuation condition (c) of the semantics for the FORx operator in RL1+F fails, given that vm’ (α) = 0 by hypothesis, vm(FORa’ (α)) = 0 for every m. Therefore for every m there are no mʺ and mʹʹʹ where vm’’ (FORa’ (α)) ≠ vmʹʺ (FORa’ (α)). So vm(REL(FORa’ (α)) = 0 for every m. ¹⁵⁷
Es ist eigentlich offensichtlich, dass man dieses Ergebnis bekommen muss, denn der Operator behandelt Wahrheit und Falschheit ganz deutlich asymmetrisch. Es gibt drei Wege, um zu einer falschen FORx Aussage zu gelangen, denn jede ihrer drei Bedingungen kann scheitern. In dem Modell mit der wahren Aussage konnten wir Relativität dadurch herstellen, dass wir den nicht relativistischen Perspektiven sozusagen die Sicht auf die übrigen verstellt haben. Falschheit und die für die absolutistischen Perspektiven charakteristische Unwissenheit über andere Perspektiven führen beide zu einer als falsch bewerteten FORx-Aussage. Als wahr bewertete FORx-Aussagen lassen sich aber nicht so einfach erzeugen. Dafür muss die fragliche Aussage α in jedem Fall wahr sein, sonst scheitert die valuation condition. Diese Überlegung lässt die Aussichten, dem FORx-Einwand zu entgehen, zunächst einmal recht aussichtslos erscheinen. Aber wie bereits angekündigt, gibt es ein weiteres System RL5, dem auch dieses Argument nichts anhaben kann. Es handelt sich dabei um eine extrem schwache Logik: RL5 ist analog zu S0.5. Das bedeutet, es ist eine nicht-normale Logik. Was sind nun nicht-normale Modallogiken? Historisch betrachtet meint man damit im Zweifelsfalle die Systeme S2 und S3. Diese wurden, wie alle gebräuchlichen S-Systeme, zu Anfang des letzten Jahrhunderts in axiomatischer Form von C. I. Lewis entwickelt und erhielten kurz nach dessen Mitte von Kripke eine Semantik in Form möglicher Welten. Allerdings sind – je nach Terminologie – nicht alle Welten in einem Modell für eine nicht Ressler (2009), 212 (Hervorhebungen seine). Ressler (2009), 212 f. (Hervorhebungen seine).
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
normale Logik mögliche Welten, einige sind unmögliche Welten, wobei hier der m. E. neutralere und ebenfalls gebräuchliche Ausdruck „nicht-normale Welten“ verwendet werden wird. Die Intuition, die hinter der Entwicklung nicht-normaler Modallogiken steht, ist, dass es möglich sein könnte, dass sich Möglichkeit und Notwendigkeit anders verhalten, als sie es tatsächlich tun. In einer gewissen Weise – wiederum passend zum globalen Relativismus, worauf gleich noch zurückzukommen sein wird – sind nicht-normale Logiken bzw. die Aufnahme nicht-normaler Welten, also eine Möglichkeit, Höherstufigkeit und insbesondere höherstufige Nichtübereinstimmung innerhalb des Systems zu modellieren. Nicht-normale Logiken sind empfänglich für die Möglichkeit, dass die Gesetze von Möglichkeit und Notwendigkeit auch anders sein könnten. Ein anderer Weg, dieser Möglichkeit Rechnung zu tragen, wäre die Benutzung mehrerer unterschiedlicher Modalsysteme, aber nicht-normale Welten geben uns ein Mittel an die Hand, diese Metaebene in das System selbst hineinzuziehen und sie elegant darin abzubilden. Das prädestiniert nicht-normale Logiken geradezu dazu, den alethischen Relativismus zu modellieren, denn dieser ist eine selbstbezügliche Metatheorie. Er ist eine Theorie über Theorien, die in ihren eigenen Gegenstandsbereich fällt, und bedarf damit, wie kaum eine zweite Theorie, einer Reflexion auf Höherstufigkeit und einer Reflexion dieser seiner Eigenschaft in einer jeden angemessenen Darstellung. Nun zur Semantik von RL5, die in weiten Teilen der Semantik von RL1 entspricht, die Syntax beider Systeme ist identisch: An interpretation of RL5 is a structure , where – M is a relativising domain in the form of a non-empty set of relativising factors, – N is a subset of M, – R is a binary relation on M, and – v is a function that assigns truth values to statements relative to elements in M, with the relativity operators assigned values as follows: If m ∈ N, then: vm(REL(α)) = 1 iff vm’ (α) ≠ vmʺ (α) for some mʹ and mʺ where mRmʹ and mRmʺ, and = 0 otherwise. vm(ABS(α)) = 1 iff vm’ (α) = vmʺ (α) for all mʹ and mʺ where mRmʹ and mRmʺ, and = 0 otherwise. If m ∉ N, then: vm(REL(α)) is arbitrary. vm(ABS(α)) is arbitrary.¹⁵⁸
Ressler (2009), 190 (Hervorhebungen seine).
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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Das Einzige, was hier neu ist gegenüber RL1, ist N, das ist die Menge der normalen Perspektiven. Diese wird jetzt bei der Angabe der Wahrheitsbedingungen der Operatoren benutzt, denn in den nicht-normalen Perspektiven verhalten diese sich abweichend.Wenn m kein Element von N ist, also keine normale Perspektive, sind die Wahrheitswerte beliebig. Dasselbe gilt auch für den FORx-Operator: If m ∈ N, then vm(FORx(α)) = 1 iff (a) I maps x to some element mʹ in the relativising domain, (b) m’ is accessible to m according to R, and (c) vm(α) = 1; and = 0 otherwise. If m ∉ N, then vm(FORx(α)) is assigned arbitrarily.¹⁵⁹
Diese Beliebigkeit der Wahrheitswerte ist es, die RL5 analog zu S0.5 macht, im Gegensatz zu gebräuchlicheren nicht-normalen Systemen wie z. B. S2 und S3. Üblicherweise sind die Wahrheitswerte von Aussagen, die die Modaloperatoren enthalten, nämlich nicht beliebig in nicht-normalen Welten, sondern in nichtnormalen Welten sind alle Möglichkeitsaussagen wahr und alle Notwendigkeitsaussagen falsch, d. h., in nicht-normalen Welten ist alles möglich und nichts notwendig. RL1 ist ein Spezialfall von RL5, nämlich derjenige, in dem W-N leer ist, d. h. der, in dem es keine nicht-normalen Welten gibt. Alles was ein RL1-Modell ist, ist also auch ein Modell von RL5, also haben wir bereits gesehen, dass Halesʼ Selbstaufhebungsargument hier keine Chance hat. Es lässt sich anhand der gerade gegebenen Semantik ein Modell konstruieren, an dem sich ablesen lässt, dass auch der FORx-Einwand scheitert. Ressler definiert es wie folgt: Let be an RL5+F model as follows: M = {m1, m2} N = {m1} I = {, , ,…} R= {, , ) Let vm1(si) assign values arbitrarily for every simple sentence si. Let vm2(si) =1 where vm1(si) = 0, and vm2(si) = 0 where vm1(si) = 1. The normal perspective m1 will value the REL, ABS, and FORx operators according to the semantics for normal perspectives in RL5+F, but the semantics for non-normal perspectives allow m2 to value those operators arbitrarily. Let the valuation for m2 be as follows: Let vm2(REL(α)) = 1 where vm1(REL(α)) = 0, and vm2(REL(α)) = 0 where vm1(REL(α)) = 1. Let vm2(ABS(α)) = 1 where vm1(ABS(α)) = 0, and vm2(ABS(α)) = 0 where vm1(ABS(α)) = 1. Let vm2(FORx(α)) = 1 where vm1(FORx(α)) = 0, and vm2(FORx(α)) = 0 where vm1(FORx(α)) = 1.¹⁶⁰
Ressler (2009), 216 (Hervorhebungen seine). Ressler (2009), 217 (Hervorhebungen seine).
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
Es handelt sich also um ein Modell mit zwei Perspektiven, wobei m1 die designierte relativistische Perspektive ist und deswegen in den Bereich der normalen Perspektiven fallen soll. Alles andere wäre eindeutig lediglich ein Herbeidefinieren des gewünschten Ergebnisses, immerhin könnten wir uns dann die entsprechenden Wahrheitswerte einfach aussuchen – ganz abgesehen davon, dass man in diesem Fall zugeben müsste, dass die Wahrheit des Relativismus auf Beliebigkeit beruht.¹⁶¹ Der zweite entscheidende Faktor des Modells ist, dass die Evaluationsfunktion v die Wahrheitswerte für die nicht-normale Perspektive m2 so zuteilen soll, dass sie immer gegenteilig zu denen in der relativistischen Perspektive sind. Für ein solchermaßen aufgebautes Modell lässt sich recht einfach beweisen, dass alle Aussagen – selbst FORx Aussagen – für die designierte relativistische Perspektive relativ sind: According to the definition of v for simple sentences s, vm1(s) ≠ vm2(s) According to the definition of v for the non-normal perspective m2 with regard to the REL, ABS, and FORx operators, vm1(REL(β)) ≠ vm2(REL(β)) vm1(ABS(β)) ≠ vm2(ABS(β)) vm1(FORx(β)) ≠ vm2(FORx(β)) for every β. So whether α is a simple sentence or an application of the REL, ABS, and FORx operators, there are two perspectives, m1 and m2 accessible to m1 where vm1(α) ≠ vm2(α), so vm1(REL(α)) = 1 for every α.¹⁶²
An dieser Stelle sollte man ein paar Schritte zurücktreten, noch einmal einen Blick auf die Semantik werfen und sich fragen: Ist die Verwendung nicht-normaler Perspektiven nicht ein Taschenspielertrick, um der drohenden Selbstaufhebung zu entgehen? Wie bereits erwähnt, lässt sich die Verwendung von RL5 als Formalisierung relativistischer Theorien auch jenseits des Selbstaufhebungsproblems motivieren.¹⁶³ Ein wichtiger Grund, warum der Relativismus in einer nicht-normalen Logik besser aufgehoben ist als in einer normalen, hängt mit einem der gewichtigsten Unterschiede zwischen normalen und nicht-
Ressler weist darüber hinaus darauf hin, dass die Zuordnung der relativistischen Perspektive zu den nicht-normalen Perspektiven denjenigen Kritikern in die Hände spielen würde, die den Relativismus als Theorie der Irrationalität und epistemischen Anarchie verstehen. Vgl. Ressler (2009), 216. Ressler (2009), 217 f. (Hervorhebungen seine). Immer vorausgesetzt natürlich, dass man die Modallogik-analoge Formalisierung des Relativismus überhaupt für ein sinnvolles Unterfangen hält.
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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normalen Systemen zusammen: In normalen Modallogiken gilt die Nezessizierungsregel. Diese Regel besagt, dass, wenn a ein Theorem des Systems ist, auch „notwendigerweise a“ ein Theorem ist. Das war in RL1 nur deswegen mehr oder weniger unproblematisch, weil RL1 keine Theoreme hat. Aber grundsätzlich scheint es doch so zu sein, dass eine Logik, in der diese Regel gilt, in der also übertragenerweise die Regel gilt, dass alles, was sich ableiten lässt, absolut wahr sein muss, keine geeignete Logik für die Darstellung relativistischer Theorien sein kann.¹⁶⁴ Wie gesagt, reicht die Irrelevanz der Nezessizierungsregel durch Abwesenheit von Theoremen m. E. nicht aus; ihr Vorhandensein zeigt, dass etwas in der Struktur des Systems der Struktur des Relativismus nicht angemessen ist. RL5 ist RL1 deswegen ganz klar vorzuziehen, oder allgemeiner: Nicht-normale Systeme sind normalen Systemen vorzuziehen, wenn es darum geht, den Relativismus zu modellieren. Dies alles spricht bis jetzt allerdings nur für die Wahl einer nichtnormalen Logik und noch nicht für die Wahl eines Systems, in dem die Wahrheitswerte in nicht-normalen Perspektiven beliebig zugewiesen werden dürfen. Diese Besonderheit sieht nun wirklich nach einem Herbeidefinieren des gewünschten Ergebnisses aus. Aber auch hier gibt es durchaus eine von Selbstaufhebungsargumenten völlig unabhängige Motivation. Ein weiterer Grund, warum eine nicht-normale Logik die angemessene Wahl für eine Logik des Relativismus ist, wurde oben schon einmal genannt. Eine nicht-normale Logik kann innerhalb des Systems höherstufige Uneinigkeit zwischen Perspektiven abbilden, und das entspricht genau der Struktur der relativistischen Theorie. Sie sagt von sich selbst, dass sie sich mit anderen Metatheorien uneins ist, und das wird durch die nicht-normalen Perspektiven innerhalb des Systems reflektiert. Um dies zu erreichen, wird eine Methode gewählt, die in raffinierter Art und Weise der Abwesenheit von Schlussregeln und Semantiken für logische Junktoren, Quantoren etc. entspricht. Das Festlegen der Wahrheitswerte der Operatoren enthaltenden Aussagen in den nicht-normalen Perspektiven bedeutet nichts anderes, als diese genau wie atomare Aussagen zu behandeln. Auch diese werden, genau wie Sätze, die Junktoren usw. enthalten, zu atomaren Aussagen erklärt, um sicherzustellen, dass selbst die Interpretation der Operatoren des Systems in den unterschiedlichen Perspektiven variieren kann. Was hier geschieht, ist eine formale Repräsentation der vom Relativismus vertretenen Behauptung, dass es anderen Perspektiven erlaubt ist, deviante Theorien von Relativität, Absolutheit und Wahrheit zu ver-
Für Resslers Ausführungen zu dieser Problematik siehe Ressler (2009), 160 f.; 191.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
wenden.¹⁶⁵ Ein System, in dem der üblichere, S2- und S3-analoge, Weg gegangen würde, in allen nicht-normalen Perspektiven alles relativ und nichts absolut sein zu lassen, wäre schon deswegen eine deutlich unbefriedigendere Lösung, weil es heißen würde, dass sich alle nicht-normalen Perspektiven einig über Relativität, Absolutheit und Wahrheit sind. Hinzu kommt, dass die Parallele mit der Behandlung von Junktoren u. Ä. gebrochen würde. Es gibt aber keinen Grund, diese beiden Fälle unterschiedlich zu behandeln, denn sie beruhen auf dem exakt selben Versuch, andere Perspektiven in das System aufnehmen und damit beschreiben zu wollen, die die Grundlagen der relativistischen Theorie nicht teilen. Die nicht-normalen Perspektiven mit ihren willkürlichen Wahrheitswerten sind also nichts weiter als eine Dissensgenerierungsmaschinerie. Oder um es mit Ressler auszudrücken: For something to be relative, there must be a disagreement between perspectives. Under global relativism, this disagreement should extend also to the nature of relativism and to the behaviour of the relativity operators. Given such a disagreement, some perspectives cannot be expected to assign values to the relativity operators according to the semantic rules dictated by relativism. Consequently, from a normal relativistic perspective, those deviant perspectives would seem to assign values to the relativity operators arbitrarily as nonnormal perspectives, though there may be perfectly comprehensible rules for these valuations from within their own perspectives. In this way, the use of a non-normal system would seem to be required by global relativism.¹⁶⁶
Ein weiterer interessanter Punkt wird hier deutlich: Je mehr Metasprache wir in das System einfüttern, wie wir es z. B. durch die Einführung des FORx-Operators getan haben, umso mehr wird unser metasprachlicher Blick auf das System zu einem perspektivischen Standpunkt innerhalb des Systems, indem wir für alle Aussagen unserer relativistischen Metatheorie widersprechende Perspektiven innerhalb des Systems generieren. Auch diese Kuriosität von RL5 sollte relativistischen Theoretikern, mit ihren notorischen Problemen, den eigenen Standpunkt und die eigene Standpunktgebundenheit angemessen zu reflektieren, zusagen. Zum Schluss möchte ich, wie vorhin angekündigt, noch einmal auf das zurückkommen, was Resslers Systeme über absolutistische Perspektiven nahelegen. Wie in den Modellen zu sehen war, sind die verwendeten absolutistischen Perspektiven entweder isoliert, oder nicht-normal oder beides. Nehmen wir noch einmal an, der Relativismus, der hier in Frage steht, ist einer, der Wahrheit auf Symbolsysteme relativiert. In diesem Fall könnte man grob vereinfachend sagen, Vgl. Ressler (2009), 218 f. Ressler (2009), 218 f.
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dass eine nicht-normale Perspektive sich dadurch auszeichnet, dass sie die Begriffe von Relativität, Absolutheit und Wahrheit anders verwendet als die relativistische Metatheorie. So weit ist an der Nicht-Normalität der absolutistischen Perspektiven also nichts Verwunderliches oder Schlimmes: Der Absolutist hat eine andere Wahrheitstheorie als der Relativist. Mit der Isolation sieht es allerdings schon ein bisschen anders aus; und wenn man die Verwendung unterschiedlicher Wahrheitskonzepte von dieser Warte aus betrachtet, kann auch diese problematisch erscheinen. Die Festlegung des Relativismus als ein solcher, der Sprache auf Symbolsysteme relativiert, legt nahe, dass die absolutistische Sprache einen Wahrheitsbegriff verwendet, für den Perspektiven schlicht keine Rolle spielen bzw. der kein Konzept von Perspektiven als wahrheitsgenerierenden Instanzen zulässt. Aus der Sicht des Relativisten kann man das auch so wenden, dass der Absolutist das Problem hat, dass er sich nicht auf Perspektiven als Perspektiven beziehen kann. Seine Perspektive wird für ihn zur ganzen Welt, und er ist blind für alle anderen Perspektiven und den tatsächlichen Status seiner eigenen, verblendet von einer ausgedünnten Sprache, die es ihm schlicht nicht erlaubt, in relativistischer Art und Weise Bezug zu nehmen. Er isoliert sich selbst, indem er darauf insistiert, diese Sprache weiter zu verwenden. Dieses Bild erinnert an etwas, was A.W. Moore über eine Position schreibt, die er als transzendentalen Idealismus bezeichnet und die er mit Kant und dem frühen Wittgenstein in Verbindung bringt.¹⁶⁷ Für Moore ist der transzendentale Idealismus eine Position, die auf einer Unterscheidung beruht, zwischen einer nicht-transzendenten Ebene, auf der ein harter Realismus und Absolutismus vertreten wird, und einer transzendenten Ebene, auf der alle unsere Repräsentationen standortgebunden sein sollen. Er schreibt über diese transzendente Ebene, dass dort „our representations are soaked in perspective of a deep and extraordinary kind“.¹⁶⁸ Der transzendentale Idealismus, so wie Moore ihn versteht, ist selbstverständlich keine konsistente Position, denn auf den transzendenten Standpunkt kann sich der transzendentale Idealist nicht beziehen, denn dieser ist immerhin transzendent. Somit kann er auch nicht sagen, dass es einen solchen Standpunkt gibt, eine solche Proklamation ist schlicht Unsinn.¹⁶⁹ Doch das gilt natürlich nur für denjenigen, für den dieser Standpunkt tatsächlich referentiell unzugänglich ist. Was, wenn es – völlig gegen den frühen Wittgenstein gesprochen – mehr als eine Sprache gibt? Was, wenn Absolutisten Für Moores Darstellung und Kritik des transzendentalen Idealismus siehe Moore (1997), 78 – 141. Moore (1997), xii. Vgl. Moore (1997), 110 ff.
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tatsächlich unter einer Form von selbst auferlegter Blindheit leiden, wenn das Einzige, das ihnen den Blick auf ihren Standpunkt als Standpunkt versperrt, ihre sture Benutzung einer absolutistischen Sprache ist? Diesen Überlegungen kann an dieser Stelle leider nicht weiter nachgegangen werden, da sie zu weit vom Thema der Selbstaufhebung wegführen. Es sollte aber nicht unerwähnt bleiben, dass dies eine Dimension der modallogischen Metaphorik ist, die bis jetzt kaum Aufmerksamkeit erfahren hat, die es sich aber mit Sicherheit zu verfolgen lohnen würde.
3.3.5 Der Diskussionsbeitrag des Relativisten ist irrelevant Ein häufig zu hörender Vorwurf gegen alethische Relativismen bezieht sich auf eine angebliche Unfähigkeit, einen Gegner, der die eigenen Ansichten nicht bereits teilt, von einer relativistischen Theorie zu überzeugen. Durch ihren Bezug auf einen Kontext argumentativen Austausches sind solche Vorwürfe der dialektischen Selbstaufhebung, wie sie sich bei Platon findet, bzw. dem entsprechenden Meta-Argument verwandt. Auch dieser Vorwurf wird oft in der Form eines Dilemmas vorgebracht: Die Theorie des Relativisten ist entweder absolut oder relativ wahr; ist sie absolut wahr, widerlegt sie damit den Relativismus, ist sie nur relativ wahr, kann sie getrost ignoriert werden. Solche Argumente unterscheiden sich insofern von den bis jetzt besprochenen, als sie den alethischen Relativismus nicht als einzelne These, sondern als eine komplexe Theorie mit Begründungen und Behauptungen auffassen. Die Gründe, warum der Relativismus als nicht diskussionswürdig eingestuft wird, können sich dabei allerdings erheblich unterscheiden. Deswegen sollen hier drei Varianten dieses Vorwurfs vorgestellt werden, die sich sowohl in den sie legitimierenden Hintergrundannahmen als auch in ihren genauen Schlussfolgerungen unterscheiden. Die erste beruht dabei auf negativen Zuschreibungen gegenüber relativer Wahrheit und relativer Begründung, die zweite auf einer nicht weiter begründeten Geringschätzung relativer Wahrheiten und die dritte auf einem Missverständnis bzgl. der Zuschreibung von Rahmen.
3.3.5.1 Relative Wahrheit als machtlos Die erste Form, die Argumente für die Irrelevanz des Relativismus nehmen können, arbeitet also mit angeblichen negativen Eigenschaften relativ wahrer Theorien. Diese Eigenschaften können von Subjektivität bis zu einem Status als Ergebnis irrationaler und willkürlicher Entscheidungen reichen. Hier soll ein Beispiel vorgestellt werden, das relativen Kriterien der Theoriewahl die Eigen-
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schaft der Machtlosigkeit zuschreibt, nicht nur weil die Auffassung, dass relative Maßstäbe in irgendeiner Weise keine ‚echten‘ Maßstäbe seien, relativ verbreitet ist, sondern auch, weil dieser Ansatz m. E. eine deutlich höhere Plausibilität besitzt, als z. B. der Vorwurf der Subjektivität es gegenüber nicht-subjektivistischen Relativismen tut. Immerhin bedeutet Relativität ein prinzipielles Vorhandensein von Alternativen, und dies kann als ein Verlust an Verbindlichkeit gegenüber absoluten Maßstäben interpretiert werden. Das Beispielargument stammt von Harris¹⁷⁰ und richtet sich gegen die Auffassung von Goodman, die im Kapitel zum alethischen Relativismus vorgestellt wurde: To turn the present argument into a complete reductio ad absurdum, we must also point out that if Goodmanʼs criteria of rightness are completely relative on the meta-theory level, then so is everything else he says in his meta-theory of worldmaking, including the central claim that worlds get constructed through the process of worldmaking. Not only would Goodmanʼs criteria of rightness be simply powerless to distinguish right from wrong world-versions, but Goodmanʼs entire account of worldmaking would be arguably no better or worse off than the realist accounts of traditional science, science before the relativist revolution.¹⁷¹
Harris selbst bezeichnet sein Argument als reductio ad absurdum, und in der Tat wäre sein letzter Satz eine absurde Konsequenz für Anhänger eines Goodmanʼschen Relativismus. Der letzte Satz ist allerdings ebenfalls eine negative (epistemische) Konsequenz für Goodmans Position, und das Argument startet mit einer Selbstanwendung, insofern erfüllt das Argument eindeutig die Kriterien für ein Selbstaufhebungsargument. Harris Argument lässt sich folgendermaßen darstellen: 1 Goodmans Kriterien der Richtigkeit sind relativ auf der meta-theoretischen Ebene. 2 Die zentralen Aussagen in Goodmans Meta-Theorie sind nur relativ richtig. 3 Goodmans Kriterien sind machtlos für das Unterscheiden von richtigen und falschen Theorien.¹⁷²
In Abschnitt 3.2.2 wurde bereits ein weiteres seiner antirelativistischen Argumente vorgestellt. Harris (1992), 71 (Hervorhebungen getilgt). Anders als in Schritt 1 und 2 wird an dieser Stelle Harrisʼ bzw. Goodmans Terminologie nicht übernommen – statt von Weltversionen wird von Theorien gesprochen –, um die Beziehung von der Ebene der Theorien und der meta-theoretischen Ebene in der Formulierung eindeutig erkennbar zu machen. Allerdings sollte an dieser Stelle dringend darauf hingewiesen werden, dass Theorie und Weltversion in Goodmans Verständnis keinesfalls austauschbar sind. Das wird vor allem daran deutlich, dass in Goodmans Symboltheorie auch nicht-verbale Symbole Weltver-
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Goodmans Meta-Theorie ist nicht besser dran als eine absolutistische¹⁷³ MetaTheorie.
Es ist zugegebenermaßen Harrisʼ Text nicht eindeutig anzusehen, ob er diese Gedankenfolge als lineares Argument verstanden wissen will oder ob Schritt 3 und 4 lediglich jeweils Elaborationen von Schritt 1 und 2 sein sollen. Für Letzteres spricht, dass in Schritt 3 die Rede von Theorien anstatt von Meta-Theorien ist (insofern scheint er sich auf dieselbe Ebene zu beziehen wie Schritt 1, während Schritt 2 und 4 auf einer höheren zu operieren scheinen) und dass sich ein kurzer Abschnitt zur Frage von Kriterien auf dem Meta-Meta-Level anschließt. Allerdings ist dies nicht weiter problematisch, denn seine restliche Argumentation für die mangelnde Kraft der Goodmanʼschen Restriktionen bzgl. richtiger und falscher Theorien entspricht genau dem in der obigen Formulierung des Arguments beschrittenen Weg von höherstufiger Relativität zu mangelnder Bindungskraft und anything goes. ¹⁷⁴ Der Gedankengang ist der folgende: Genauso wie es unter Voraussetzung eines Relativismus unvereinbare, aber gleichermaßen richtige Theorien gibt, muss es auch gleichermaßen richtige, aber unvereinbare Meta-Theorien geben. Diese Meta-Theorien enthalten andere Maßstäbe für die Theoriewahl, also kann Goodmans Meta-Theorie keine Theorien als falsch ausschließen (das ist die Machtlosigkeit, von der Harris spricht), denn diese könnten ja durch eine andere Meta-Theorie zugelassen werden. Darüber hinaus wäre, da Goodman keine MetaTheoriewahl-Kriterien auf der Meta-Meta-Ebene festlegte¹⁷⁵ und deren Verbindlichkeit auch ohnehin durch alternative Darstellungen auf dieser Ebene bedroht wäre, eine absolutistisch Meta-Theorie „no better or worse off“ als Goodmans eigene Position. Zunächst sollte geklärt werden, was genau diese Ausführungen in der Terminologie der vorliegenden Arbeit bedeuten, denn Harrisʼ Ausdrucksweise überdeckt einige wichtige Unterscheidungen. Dafür ist erst einmal festzustellen, sionen sein können. Allerdings ist es im vorliegenden Kontext völlig irrelevant, welche Arten von Symbolen von der Meta-Theorie erfasst werden. Harris selbst spricht von einer realistischen Auffassung als Gegenstück zum Relativismus. Da es aber für Harrisʼ Argument nur wichtig ist, dass es sich um eine zum Relativismus in Konkurrenz stehende Theorie handelt, während deren genauer Inhalt keine Rolle spielt, kann die durchaus komplexe Fragestellung des Verhältnisses von Relativismus und Realismus hier ausgeklammert werden. Harris orientiert sich weitgehend an Siegels Kritik von Goodmans Ansatz. Vgl. Harris (1992), 70 f. Das ist allerdings nicht ganz richtig, Goodman redet sehr wohl bisweilen davon, warum er seine Meta-Theorie für die beste Wahl hält etc.
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dass Harris hier einen komplexeren Goodmanʼschen Relativismus angreift, als er in Abschnitt 1.5.6.2 vorgestellt wurde, denn dort hatte sich die Darstellung ausschließlich auf die alethischen Elemente von Goodmans Relativismus beschränkt, während Harris auch ausführlichen Gebrauch von den Elementen eines epistemischen Relativismus macht, die sich bei Goodman finden. Das schlägt sich vor allem in Harrisʼ Benutzung des Ausdruckes „right“ statt „true“ und in seiner Betonung der von Goodman thematisierten Maßstäbe für Richtiges und Falsches nieder. Wie bereits in Abschnitt 1.5.6.2 angesprochen, gehört es zu Goodmans weiter gefassten erkenntnistheoretischen Zielsetzungen, Richtigkeit anstelle von Wahrheit eine zentrale Rolle in der Erkenntnistheorie zu verschaffen. Richtigkeit ist dabei ein weiteres Konzept als Wahrheit, das vor allem auch pragmatischepistemischen Kriterien Raum gibt, auf unterschiedliche Arten von Symbolen anwendbar ist und in der Regel Wahrheit umfasst (Wahrheit spielt insbesondere keine Rolle für die Richtigkeit nicht-wortsprachlicher Symbole, da es laut Goodman keine Wahrheit außerhalb wortsprachlicher Symbolsysteme gibt). In diesem Argument spielen Maßstäbe bzw. die sie enthaltenden Rahmen und deren Wahl eine erhebliche Rolle, wobei Maßstäbe und Aussagen in Goodmans Auffassung den gemeinsamen Maßstab der Richtigkeit besitzen; aber auch ein globaler alethischer Relativismus, der sich auf die Beschäftigung mit der Wahrheit beschränkte, müsste sich mit der Wahrheit von Theoriebewertungen auseinandersetzen und insofern eine Konzeption von Maßstäben für diese Bewertungen und deren Wahl bereitstellen, auch wenn er natürlich den Maßstäben selbst keine Wahrheit zuschreiben würde. Anders gesagt, das Thema der Rahmenwahl ist auch für andere alethisch-relativistische Theorien von erheblicher Bedeutung und insofern ist es kein Problem, dass mit dem Goodmanʼschen Begriff der Richtigkeit gleich noch pragmatische Erwägungen etc. eingeführt werden, denn deren Thematisierung wäre ohnehin nötig.¹⁷⁶ Das Konzept der Richtigkeit erlaubt es Harris deswegen, sich so auszudrücken, als wären nach Goodman Theorien relativ auf weitere Theorien bzw. MetaTheorien, aber das ist in einem gewissen Maße fehlleitend, weil hier Aussagen, die Symbolsysteme, denen sie angehören, und Maßstäbe zur Auswahl aus unterschiedlichen wahren Aussagenkomplexen wie Fruchtbarkeit der Kategorisierung etc. alle unter dem Oberbegriff der Theorie bzw. Meta-Theorie zusammengefasst werden. Präziser ausdrücken lassen sich die Verhältnisse dessen, was Harris als Theorien und Meta-Theorien bezeichnet, folgendermaßen: Goodman beschreibt
Dies ist übrigens ein deutliches Zeichen, dass Goodmans erweiterte, oder vielleicht besser reformierte, erkenntnistheoretische Terminologie seiner Theorie als ganzer hervorragend angepasst ist.
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in seiner Meta-Theorie einen Rahmen, der für die Bewertung von Theorien im Sinne von Aussagenkomplexen benutzt wird bzw. benutzt werden sollte. Dieser Rahmen unterteilt Aussagenkomplexe nicht nur in wahre und falsche (anhand ihres Verhältnisses zu ihrem jeweils eigenen Rahmen bzw. Symbolsystem), sondern er bewertet auch solche Eigenschaften, die eher dem Symbolsystem zuzuschreiben sind, wie z. B. Fruchtbarkeit, und enthält klassische pragmatische Kriterien, die in gewisser Weise beiden zukommen wie Eleganz, Einfachheit etc. Dieses komplexe Bewertungszusammenspiel zu artikulieren und zu systematisieren, ist m. E. die Zielsetzung von Goodmans Erkenntnistheorie. Goodman betrachtet auch diese Meta-Theorie als relativ, sowohl in Bezug auf Wahrheit auf das in ihr entwickelte und verwendete Symbolsystem als auch auf Maßstäbe der Theoriewahl, wie die oben genannten, die über die Wahrheitsfrage hinausgehen. Allerdings scheint dies gerade der Punkt zu sein, dem Harris widerspricht, denn er vertritt die Auffassung, dass alle Meta-Theorien nach Goodman epistemisch gleichauf sein müssten, d. h., dass Harris denkt, für Goodman gebe es keine (wenn auch selbst wieder relativen) Maßstäbe für Meta-Theorien. Im Folgenden werde ich versuchen zu klären, welches Verständnis von Goodmans Erkenntnistheorie dieser Beurteilung zu Grunde liegt und inwiefern dieses erheblich von Goodmans eigener Auffassung und auch vielen anderen alethischen Relativismen abweicht, um damit Harrisʼ Sicht relativer Maßstäbe als machtlos und einer absolutistischen Meta-Theorie als epistemisch gleichgestellt zu entkräften. Dazu werde ich zu Harris Terminologie der Theorien, Meta-Theorien und sogar Meta-Meta-Theorien zurückkehren, da sie eine knappere Ausdrucksweise ermöglicht. Es muss dabei allerdings immer im Hinterkopf behalten werden, dass hier von mehr die Rede ist als nur von Aussagenkomplexen. Laut Harris folgt also aus Goodmans eigener Theorie, dass sie keinen besseren epistemischen Status hat als die absolutistische Alternative, gegen die sie vorgebracht wird. Insofern lässt sich Harrisʼ Argument als eine Form der dialektischen Selbstaufhebung bzw. als ein Meta-Argument zu einer dialektischen Selbstaufhebung begreifen, denn es enthält implizit den Vorwurf, dass Goodman bzw. jeder Verfechter seiner Theorie zugeben müsste, dass eine absolutistische Meta-Theorie ebenso epistemisch wertvoll oder auch angebracht ist wie die eigene Auffassung.¹⁷⁷ Aus diesem Argumentationsgang spricht eine recht seltsame Auffassung der Rolle von Goodmans Theorie. Harris scheint sie in einem ganz erheblichen Maße als Es ist wichtig, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass Harrisʼ Argument also, selbst wenn es erfolgreich wäre, ein verhältnismäßig schwaches Ergebnis hätte. Sein Resultat ist im Höchstfalle epistemische Gleichwertigkeit anderer Ansätze, nicht dass der Relativist seinen Ansatz zugunsten eines anderen aufgeben müsste.
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präskriptiv zu lesen, als einen Katalog von Maßstäben, die an Theorien anzulegen sind, und nicht so sehr als Darstellung bereits stattfindender Theoriewahlprozesse. Nun kann sich natürlich keine Theorie, die Normatives als normativ darstellt und dabei einigermaßen originell ist bzw. neue Systematisierungen vorschlägt etc., vollständig dagegen verwahren, in einem gewissen Sinne präskriptiv zu sein. Immerhin wird sie – auch wenn sie sich vollständig an Kriterien hält, die sie der bestehenden Praxis der Theoriewahl entnimmt – im Zweifelsfalle z. B. Aussagen dazu enthalten, wie bereits vorhandene Maßstäbe konsistenter angewandt werden könnten, vertraute Kriterien neu ausbuchstabieren etc. Aber Harris behandelt Goodmans Auffassung in diesem Teil seiner Argumentation überhaupt nicht mehr wie eine Theorie, sondern wie „Das neue und vollständige Regelbuch der Theoriewahl“. Diese Sichtweise liegt mit Sicherheit zum Teil darin begründet, dass es in dem entsprechenden Buch von Harris, Against Relativism, vornehmlich um das Verhältnis von Relativismus und wissenschaftlicher Methode geht. Deswegen widmet er der Frage, wie sich relativistische Theorien als methodische Grundlagen der Wissenschaften schlagen würden, einigen Raum; und auch wenn diese Frage im relevanten Abschnitt nicht explizit zu Sprache kommt, scheint sie doch im Hintergrund zu stehen bzw. Harris Darstellung des Goodmanʼschen Relativismus zu beeinflussen. Allerdings kann dies nicht die vollständige Erklärung sein, denn immerhin finden sich entscheidende Elemente von Harrisʼ Argument bereits bei Siegel, auf den Harris sich ausführlich bezieht.¹⁷⁸ Es scheint darüber hinaus eine allgemeine Interpretation des Relativismus als anything-goes-Theorie zugrunde gelegt zu sein, auf die Goodmans Aussage, er vertrete einen „radical relativism with rigorous restraints“,¹⁷⁹ lediglich aufgepfropft wird. Das resultierende Bild ist das eines epistemischen Willkürraumes, der einzig und allein durch Goodmans Kriterien der Theoriewahl reguliert wird, sie spielen die Rolle von Gesetzen in einem vorher anarchischen (weil relativistisch aufgefassten) Gemenge von miteinander konkurrierenden Theorien. Ohne explizite Vorschrift, Goodmans Gesetzen und nur Goodmans Gesetzen zu folgen, die auf der Ebene der Meta-Meta-Theorien angesiedelt sein müsste, kann deswegen die Anarchie von der höheren Ebene aus nach unten durchschlagen, daher auch die Rede von Machtlosigkeit.¹⁸⁰
Vgl. Harris (1992), 70 f. Goodman (1984), 39. Strukturell ähnelt das hier von Harris verortete Problem dem leaching problem, das Wright in seinem Aufsatz „Warrant for Nothing (and Foundations for Free)?“ aufwirft. Dort entwickelt Wright eine anti-skeptische Strategie, nach der wir für bestimmte grundlegende Überzeugungen – Wright spricht von „cornerstones“ (Wright (2004), 172) – keine Begründungen benötigen, um sie rationalerweise zu haben. Eine der Fragen, die er in Bezug auf diesen Sonderstatus anspricht, ist,
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Das Problem mit diesem Bild ist allerdings, dass es nach Goodman – und natürlich auch laut den meisten anderen relativistischen Theorien – keinen solchen gesetzlosen Zustand gibt, der durch vom Theoretiker zu erlassende ‚Vorschriften‘ in Ordnung überführt werden müsste. Wie bereits gesagt, versteht Goodman seine Ausführungen zu Richtigkeit etc. in erster Linie als Darstellung von epistemischen Kriterien u. Ä., die wir bereits benutzen. Die hier anscheinend von Harris vorgestellte vollständige Herauslösung der in Goodmans Theorie besprochenen Maßstäbe aus den Begründungen für die Wahl genau dieser Maßstäbe (aus den etablierten Vorgehensweisen stattfindender epistemischer Praxis) verkennt nicht nur deren weitgehend deskriptiven Status bzw. Ursprung, sondern verschleiert auch ein weiteres sehr unplausibles Element an Harrisʼ GoodmanDarstellung. Dieses Element wurde bereits in Zusammenhang mit anderen Selbstaufhebungsargumenten und auch kurz im Abschnitt zu Relativismus und Logik angesprochen, denn es ist in Relativismusdarstellungen stark verbreitet.¹⁸¹ Die Rede ist von einem Umgehen mit möglichen Rahmen, als wären sie wirkliche Rahmen, und der häufig in denselben Argumenten auftretenden Annahme, jeder beliebige Rahmen sei möglich.¹⁸² Daraus ergibt sich dann der in Harrisʼ Argument so deutlich zu Tage tretende Eindruck, man müsse lediglich eine Wunschliste mit Eigenschaften eines Rahmens nennen – also z. B. dass er in einer Art und Weise mit Goodmans Kriterien kontrastierende Maßstäbe der Theoriewahl aufstellt, dass auf der untersten Ebene beliebige Theorien legitimiert sind –, und damit wäre bereits die Existenz eines solchen Rahmens garantiert. Auch dies hängt mit der gerade beschriebenen anything-goes-Folie für die Beschreibung von Goodmans Relativismus zusammen: Für Harris scheint Goodman Regeln für einen Raum unzähliger vorhandener Theorien, Meta-Theorien, Meta-Meta-Theorien etc. aufzustellen, von denen die ungewollten ausgeschlossen werden müssen. Dabei übersieht er völlig, dass in Goodmans Theorie gerade das Herstellen von Rahmen und Theorien die zentrale Erkenntnisleistung ist. Man
ob dies nicht ein Problem für den Rechtfertigungsstatus alltäglicher Überzeugungen darstellt, die von den „cornerstones“ abhängen. Was bedeutet es z. B. für den Rechtfertigungsstatus von „Die Sonne scheint“, dass für „Es gibt eine Außenwelt“ keine Rechtfertigung vorliegt, sondern lediglich ein „entitlement“ (Wright (2004), 175), wie Wright sich ausdrückt? Hier droht ein ganz ähnliches Durchschlagen, oder, um näher an Wrights Metaphorik zu bleiben, ein Durchsickern eines als defizitär erscheinenden epistemischen Status. In beiden Fällen ist m. E. die Lösung, das angebliche Defizit als ein nur scheinbares herauszustellen. Für einen Blick auf die Einordnung relativer Wahrheiten als defizitär aus einer etwas anderen Perspektive siehe auch Abschnitt 3.3.5.2. Siehe insbesondere Abschnitte 1.6.2.2.2 und 3.3.1. Interessanterweise spricht Siegel in seinen von Harris zitierten Ausführungen explizit von möglichen Meta-Theorien, während Harris direkt im Anschluss davon spricht, dass Goodmans Meta-Theorie nur eine von vielen ist. Vgl. Harris (1992), 70 f.
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kann sich keinen Rahmen herbeiwünschen, um seine favorisierte Theorie wahr zu machen, denn das Herstellen von Rahmen ist harte und schwierige Arbeit. Man kann natürlich versuchen, einen Rahmen, in dem eine solche favorisierte Theorie wahr ist, herzustellen, aber ob ein solches Unterfangen gelingt, ist höchst fraglich. Rahmen sind in Goodmans Sichtweise – und Ähnliches gilt für viele Relativisten, die mit sprachlichen Rahmen im weiteren Sinne arbeiten – keine abstrakten, bereits vorhandenen Gegenstände, auf die wir einfach nur zugreifen müssen. Sie sind durch ihren Gebrauch bestimmte Symbolsysteme, verbunden mit komplexen Bewertungsmaßstäben für Wahres und Falsches, und sie müssen durch menschliche Erkenntnisbemühungen mühsam hervorgebracht werden. Insofern ist das Aufstellen einer Theorie, die einen neuen Rahmen vorschlägt, einen alten Rahmen modifiziert o. Ä., keinesfalls als Beschränkung vorher gegebener Möglichkeiten zu verstehen, sondern als das Schaffen neuer Möglichkeiten für kognitive Aktivitäten, denn diese brauchen einen Rahmen. Einen Rahmen zu schaffen, der z. B. neue Maßstäbe für Rechtfertigung aufstellt, ist keine Beschränkung der vorher vorhandenen Möglichkeit, alles als Rechtfertigung aufzufassen, was man möchte, es ist vielmehr die Ermöglichung einer neuen Form von Rechtfertigung. Die Frage stellt sich, worauf im Kontext einer solchen Theorie Harrisʼ Vorwurf der Machtlosigkeit und des epistemischen Gleichstandes zwischen Goodmans Relativismus und einer absolutistischen Meta-Theorie eigentlich hinauslaufen soll. Harris kann wohl kaum meinen, dass Goodmans Theorie verhindern müsste, dass von ihr als falsch eingestufte Theorien vorgebracht werden, das könnten auch absolute Maßstäbe nicht. Meint er, dass Goodmans Theorie ausschließen müsste, dass es andere richtige Meta-Theorien gibt, die Theorien als richtig zulassen, die relativ auf die von Goodman vorgebrachten Maßstäbe falsch sind? Das ist durchaus möglich, und ein solcher alethischer Relativismus, wie derjenige Goodmans, kann eine solche Konstellation in der Tat nicht ausschließen und macht sie sogar einigermaßen plausibel, aber das ist bei weitem keine anythinggoes-Situation. Dafür müsste es wohl zumindest der Fall sein, dass jede Theorie, die jemals aufgestellt wurde (oder in Harrisʼ Verständnis wahrscheinlich noch eher jede mögliche Theorie), von irgendeiner Meta-Theorie als richtig bewertet wird. Kann innerhalb von Goodmans Theorie und vergleichbaren alethischen Relativismen diese Möglichkeit ausgeschlossen werden? Die Antwort ist kompliziert und verlangt nach einigen Differenzierungen in Bezug auf die Möglichkeit, die hier in Frage steht. Goodmans Relativismus schließt, gewissermaßen in Kooperation mit der Realität menschlicher Erkenntnis, sehr wohl aus, dass eine Situation der Bewertungsstilllegung durch zu viele alternative zur Verfügung stehende Meta-Theorien tatsächlich eintritt. Das Er-
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stellen so vieler brauchbarer Meta-Theorien wird nämlich schon durch die Begrenztheit der Ressource menschlicher Erkenntnisarbeit vollkommen zuverlässig verhindert. Goodmans Meta-Theorie kann jedoch nicht ausschließen, dass es eine mögliche richtige Meta-Theorie für jede Theorie gibt, relativ auf die sie wahr wäre, und das ist wahrscheinlich der Sachverhalt, auf den Harris hinauswill. M. E. müsste man, um eine Entscheidung in dieser Frage treffen zu können, schlicht konkrete Meta-Theorien, die die entsprechenden Theorien als richtig charakterisieren, entwickeln, betrachten und dann überprüfen, ob diese selbst richtig sind, bis man entweder genügend richtige gefunden hat oder aufgibt, da es aussichtslos scheint, denn Goodmans Meta-Theorie macht in dieser Frage keinerlei Aussage. Unter dieser Interpretation entspricht die Machtlosigkeit der in Goodmans MetaTheorie besprochenen Kriterien also verdächtig der Unfähigkeit eben jener MetaTheorie, zukünftige Entwicklungen vorauszusagen. Dafür, dass Harrisʼ Kritik greifen kann, müsste es schon der Fall sein, dass es aus Goodmans Auffassung folgt, dass alle diese Meta-Theorien möglich und richtig sind, aber das tut es nicht. Darüber hinaus macht sie dieses Szenario auch noch extrem unplausibel, da es eben, entgegen Harrisʼ Folgerung, sehr wohl Kriterien gibt, die solche Meta-Theorien erfüllen müssten.¹⁸³ Denn daraus, dass Goodman sich nicht ausführlich und explizit zu den Regeln der Meta-Theoriewahl äußert, folgt natürlich nicht, dass es keine solchen Regeln gibt, es sei denn, man übernimmt Harrisʼ Bild von Goodman, dem Gesetzgeber im rechtsfreien Raum des Relativismus. Zunächst ist Harrisʼ Behauptung, Goodman habe zur Meta-Theoriewahl schlicht nichts zu sagen, so nicht ganz richtig, er spricht häufig über die eigene Methode und nennt Vorteile und Neuerungen seiner Meta-Theorie. Aber selbst wenn er das nicht täte, gäbe es erstens keinen Grund anzunehmen, dass es auf dieser Ebene radikal andere Kriterien der Theoriewahl geben sollte als auf der darunterliegenden – warum also nicht davon ausgehen, dass eine Goodmanʼsche Meta-Meta-Theorie seiner Meta-Theorie weitgehend entspricht –; und zweitens sollte daran gedacht werden, dass die Kriterien der Theoriewahl in Goodmans Meta-Theorie seiner Auffassung nach aus der Praxis der Theoriebewertung entnommen sind. Genauso wie es eine Praxis der Theoriebewertung gibt, gibt es auch eine Praxis der Meta-Theoriebewertung, oder vielleicht besser gesagt: Auch MetaTheorien werden innerhalb unserer Praxis der Theoriebewertung bewertet – ge-
Man könnte hier durchaus sagen, dass diese zu einer Goodmanʼschen Meta-Meta-Theorie gehören. Warum diese Ausdrucksweise aber möglicherweise fehlleitend ist, wird hoffentlich im nächsten Absatz klarwerden.
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nau das ist es was Harris tut –; und die Maßstäbe, die dazu verwendet werden, überschneiden sich erheblich mit den Maßstäben, die für ‚gewöhnliche‘ Theorien angelegt werden. Auch dieser letzte Punkt spricht dafür, dass Goodman nicht ausführlich über Kriterien für Meta-Theorien spricht, weil er nicht davon ausgeht, dass sie gesondert behandelt werden müssten. Es sind diese tatsächlich in Benutzung befindlichen Maßstäbe (die m. E. sogar in Goodmans Überlegungen zur Theoriewahl ganz gut beschrieben werden), die festlegen, welche Meta-Theorien richtig und welche falsch sind. Das gilt natürlich auch für die von Harris angeführte absolutistische Meta-Theorie; und dass eine solche nach Goodmans Auffassung die relevanten Maßstäbe eben nicht erfüllt, legt er ausführlich in seinen Argumentationen gegen den Absolutismus dar. Ebenso muss man auf Goodmans Argumente für seine eigene Darstellung schauen, wenn man wissen möchte, warum diese seiner Auffassung nach dem Absolutismus epistemisch überlegen ist. Von einer epistemischen Gleichwertigkeit kann hier also keinesfalls die Rede sein.
3.3.5.2 Der Wert relativer Prämissen Eine weitere Argumentationsfigur wird bisweilen genutzt, um eine Auseinandersetzung mit dem Relativisten von vornherein als überflüssig zu kennzeichnen.¹⁸⁴ Prägnant formuliert findet sie sich z. B. in der oben schon einmal zitierten Feststellung Siegels: „to defend relativism is to defend it non-relativistically, which is to give it up; to ‚defend‘ it relativistically is not to defend it at all.“¹⁸⁵ Leider, so muss man sagen, findet sich in Vorwürfen dieser Form so gut wie nie eine Erklärung, warum denn nun relativistisches Argumentieren kein richtiges Argumentieren sei.¹⁸⁶ Diese Art, den Vorwurf vorzubringen, spricht dafür, dass entsprechende Autoren ihre Feststellung für mehr oder weniger selbstverständlich halten und dass hier keine komplexen Gründe unterstellt werden sollten. Vielmehr, so möchte ich vorschlagen, sollte von einer schlichten epistemischen
Dies tun übrigens nicht nur die in diesem Abschnitt behandelten Argumente, sondern z. B. auch der Themenwechseleinwand von Tollefsen. Siehe dazu Abschnitt 3.1.2. Siegel (1987), 9 (Hervorhebungen seine). Oben war Siegels vollständiger Argumentationsgang, der durchaus als ein wenig komplexer gelesen werden kann als die hier angesprochenen Vorwürfe, auf den epistemischen Relativismus angewandt worden. Siehe Abschnitt 3.1.1. Wo sich eine solche Erklärung findet, gehört das resultierende Argument häufig zu dem Typ, der im nächsten Abschnitt besprochen wird. Warum angenommen werden sollte, dass in den Fällen ohne Erklärung auch die in diesem Abschnitt zu besprechende Annahme zugrunde liegen kann, wird hoffentlich im Folgenden klarwerden.
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Negativbewertung relativer Wahrheiten ausgegangen werden, die sie für eine Rolle als Prämisse eines Arguments disqualifizieren soll. Eine solche Haltung artikuliert sich auch in dem folgenden Absatz von Maurice Mandelbaum, auch wenn er mit ihrer Hilfe ein etwas anderes Argument konstruiert: In any [sic] case of Dewey at least, the objective relativistʼs stress on this aspect of judgments can be accounted for in terms of his acceptance of an instrumental view of mind. It is clear, however, that anyone holding such a view does so with the intention of claiming that this view is true independently of his own interests and purposes. Pushing this contention a step further, it may plausibly be argued that one reason why Dewey accepted as [sic] instrumental theory of mind was that he believed it to be demanded by evolutionary theory. As his famous essay on the influence of Darwinism on philosophy makes clear, Dewey derived great support for his own philosophic views from that which was revolutionary in Darwinʼs thought. At the same time, it was only because he regarded Darwinʼs theory as true, independently of the use to which he could put it, that Dewey could in fact use it in this way. In fact, in order to accept Darwinʼs theory as true, the only instrumental function that had to be attributed to it was that it had permitted Darwin and others to understand and explain a wide variety of facts with which biologists, paleontologists, philosophers, and theologians were concerned. Thus, it is my contention that the view of the knowledge relationship stressed by the objective relativists such as Dewey, ultimately depends on regarding some assertions concerning matters of fact as true or false independently of any further uses to which those assertions can be put.¹⁸⁷
Wie gesagt, ist es nicht Mandelbaums Absicht, anhand der mangelnden Eignung relativer Wahrheiten als Prämissen gegen die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit relativistischen Theorien zu argumentieren. Sein Ziel ist vielmehr, den Relativismus dessen zu überführen, was er eine self-excepting fallacy nennt. Damit ist gemeint, dass laut Mandelbaum Relativisten grundsätzlich die Voraussetzungen und Kernaussagen der eigenen Theorie für absolut wahr halten müssen.¹⁸⁸ Seine Folgerung ist also nicht die hier in Frage stehende, dass eine Auseinandersetzung mit dem Relativismus überflüssig ist, sondern dass es eigentlich keine globalen Relativisten gibt, sondern nur Theoretiker, die sich fälschlicherweise für solche halten. Trotzdem ist sein Text, und insbesondere der zitierte Abschnitt, extrem relevant, weil er deutlich demonstriert, dass für einige Relativismus-Kritiker die Annahme, dass sich relative Wahrheiten nicht als Ausgangspunkte ‚ernsthafter‘ Überlegungen eignen können, komplett selbstverständlich ist; und das ist es, was m. E. hinter nackten Proklamationen der Unmöglichkeit, relativistisch für eine Mandelbaum (1982), 38. Vgl. Mandelbaum (1982), 34 ff.
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Position zu argumentieren, steckt. In dem zitierten Mandelbaum-Text wird dies nicht nur dadurch illustriert, dass die fragliche Annahme unhinterfragt und unbegründet vorausgesetzt wird, sondern es wird auch dadurch unterstrichen, dass hier noch nicht einmal von einer argumentativen Auseinandersetzung und der Ablehnung der Behauptungen eines anderen aufgrund von deren ‚zweifelhaftem‘ Status die Rede ist, sondern von den Überzeugungen, auf denen der Relativist selbst seine Theorie aufbaut. Nicht einmal ein Relativist, so scheint Mandelbaum zu glauben, kann relativ wahre Aussagen als Grundlagen einer Argumentation ernst nehmen. Mit dieser letzten Überzeugung ist Mandelbaums Position in gewisser Weise sogar stärker, weil konsequenter, als die von Relativismus-Kritikern, die meinen, sich nicht mit relativistischen Argumenten auseinandersetzen zu müssen, weil sie als Absolutisten relative Wahrheiten nicht in Betracht zu ziehen brauchen. Diese Einstellung ist ausgesprochen problematisch, denn die Art und Weise, in der für eine relativistische Theorie argumentiert werden sollte, unterscheidet sich nicht in einem relevanten Sinne von der Art und Weise, in der man für jede andere Theorie argumentieren würde. Der Unterschied liegt einzig und allein in der Interpretation des Status von Argumenten und Prämissen, die der Relativist und der Absolutist vornehmen: Die beiden Parteien beschreiben dieselben Vorgänge unterschiedlich. Warum die Interpretation, die der Relativist dem Status seiner Aussagen und deren Beweiskraft (hinsichtlich absoluter oder relativer Wahrheit der These) zukommen lässt, überhaupt Einfluss auf deren Status für den Absolutisten haben sollte, ist nicht ersichtlich, schließlich hält dieser die Interpretation des Relativisten für falsch. Solange der Absolutist die Prämissen des Relativisten selbst für (absolut) wahr hält, hat er keinerlei Grund, sie abzulehnen; und hält er sie für falsch, hat er einen deutlich besseren Grund für die Ablehnung des entsprechenden Arguments als den vom Relativisten behaupteten Status der Prämissen. Noch einmal leicht anders gewendet: Das entscheidende Charakteristikum des Absolutisten ist seine Ablehnung der Existenz relativer Wahrheiten, also hat er nur zwei Möglichkeiten der Bewertung der Prämissen des Relativisten: Er kann sie entweder für absolut wahr oder für absolut falsch halten. Für relativ wahr jedoch kann er sie nicht halten, solange er noch Absolutist ist.¹⁸⁹ Mutatis mutandis gilt dies auch für vom Relativisten für relativ gültig erklärte Schlussprinzipien.
Dies gilt natürlich nur so lange, wie er das fragliche relativistische Argument untersucht. Wird er von diesem überzeugt, selbst eine relativistische Position zu vertreten, muss er nun auch die fraglichen Prämissen für relativ erklären, denn sonst erläge er Mandelbaums self-excepting fallacy.
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Solange der Absolutist nicht selbst bereit ist, hier einen relativen Status einzuräumen, hat er also keinerlei Grund zu einer Ablehnung. Es hilft hier auch nicht zu sagen, er übernehme die Beurteilung des Relativisten zum Zwecke einer fruchtbaren Auseinandersetzung, denn zunächst will er die Auseinandersetzung ja gerade mit dem fraglichen Argument beenden, bevor sie wirklich angefangen hat, und darüber hinaus ergibt es schlicht keinen Sinn, die Einstufung von Aussagen als relative Wahrheiten zu übernehmen und dabei die eigene Geringschätzung für relative Wahrheiten beizubehalten. Denn eine solche Geringschätzung hat in einer plausiblen relativistischen Theorie keinen Platz, natürlich muss ein Vertreter einer globalen relativistischen Auffassung relative Wahrheiten für voll nehmen, sonst wäre er ja völlig unfähig, irgendwelche Schlüsse zu ziehen etc. Geringschätzung gegenüber relativer Wahrheit ergibt überhaupt nur im Kontrast mit absoluter Wahrheit Sinn – das spricht nun natürlich auch gegen Mandelbaums Position –; und ein globaler Relativist, der absolute Wahrheit für nicht existent hält, hat keinerlei Anlass für eine solche Geringschätzung. Stattdessen muss er, insofern er eine konsistente Theorie vertreten und nicht doch noch der self-excepting fallacy anheimfallen will – in diesem Falle natürlich nicht gezwungenermaßen, wie bei Mandelbaum, sondern schlicht durch schlechten Theorieaufbau –, die Auffassung vertreten, dass relative Wahrheiten alle wichtigen Funktionen von absoluten Wahrheiten erfüllen können, und dazu gehört eben auch die Fähigkeit, als Prämisse eines Arguments zu dienen. Die Situation, in der sich Absolutist und Relativist hier befinden, weist sowohl interessante Parallelen als auch interessante Unterschiede zu Sextusʼ Auseinandersetzung mit einem dialektischen Selbstaufhebungsargument des Dogmatikers gegen den Skeptiker auf, wie sie von Castagnoli rekonstruiert wird. Sextus beschäftigt sich dort unter anderem mit dem sog. Beweis gegen Beweise bzw. mit der Reaktion des Dogmatikers auf denselben. Der Dogmatiker versucht den Skeptiker durch ein Dilemma in die Selbstaufhebung zu zwingen, indem er fragt, ob der fragliche Beweis nun ein Beweis sei oder nicht. Letzterer Fall ließe den Skeptiker ohne hinreichende Stützung seiner Position zurück, während Ersterer in die Selbstaufhebung führen würde. Doch Castagnolis Sextus ist in der Lage, diese Gefahr abzuwenden und sie sogar gegen den Dogmatiker zu wenden. Während die überlegte und stabile skeptische Position eine Ablehnung des Dilemmas als unvollständig ist – der Skeptiker enthält sich des Urteils gegenüber dem Beweisstatus des fraglichen Beweises, oder nun besser Arguments, und deklariert es schlicht als ein Argument, das ihm momentan überzeugend erscheint –, kann der Skeptiker sich auf das Dilemma einlassen, um den Dogmatiker von seinem Dogmatismus zu heilen. Wie der Absolutist hat der Dogmatiker nämlich von seinem Opponenten diffe-
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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rierende Beurteilungsmöglichkeiten der fraglichen Aussagen bzw. Argumente. Eine Urteilsenthaltung ist ihm nicht möglich, ohne zu einem Skeptiker zumindest in Bezug auf die Existenz von Beweisen zu werden. Nun hat der Dogmatiker aber keinen direkten Einwand gegen das fragliche Argument, er versucht lediglich den Skeptiker einer dialektischen Selbstaufhebung zu überführen, wofür angenommen werden muss, dass das fragliche Argument tatsächlich ein Beweis ist. Wenn dies aber seine einzige Strategie ist, ist das fragliche Argument logisch ununterscheidbar von anderen Argumenten, die der Dogmatiker als Beweise einstuft. Das heißt, dass es eigentlich der Dogmatiker ist, der auf eine Wertung des Arguments als Beweis verpflichtet ist. Doch wenn er es als Beweis anerkennt, muss er auch die Konklusion für wahr nehmen – die Konklusion, dass es keine Beweise gibt. Dies schließt natürlich auch das fragliche Argument selbst ein – Castagnoli bezeichnet diese Eigenschaft des Beweises gegen Beweise als self-bracketing ¹⁹⁰ –, so dass der Dogmatiker am Ende ohne jegliche Beweise dasteht und somit in den Zustand der Urteilsenthaltung überführt sein sollte.¹⁹¹ In Bezug auf das fragliche Argument und seinen Beweisstatus ist – gegeben, dass keine direkten Einwände gegen es vorliegen – die skeptische Position der Urteilsenthaltung also die einzig stabile.¹⁹² Ähnliches lässt sich auch von der relativistischen Position in Bezug auf den Wahrheitsstatus der eigenen Prämissen sagen. Solange der Absolutist keine direkten Einwände gegen diese hat und sie für wahr hält (ein Absolutist kann natürlich durchaus Urteilsenthaltung üben), muss er auch die Folgerung des Arguments anerkennen, was ihn letztendlich – möglicherweise über den Zwischenschritt des Erkennens einer self-excepting fallacy
Hier handelt es sich um eine philologische Metapher, die sich auf das zu Sextusʼ Zeiten übliche Markieren obsoleter Teile eines Textes durch Klammern bezieht. Vgl. Castagnoli (2010), 268 f. Vgl. Castagnoli (2010), 251– 307. In diesem Zusammenhang sind Stacks Überlegungen zu Selbstaufhebungsvorwürfen gegen Positionen, die z. B. Rationalität oder Logik als solche angreifen, hochgradig relevant. Stack wirft den Verwendern derselben zu Recht vor, dass sie – sofern sie denn keine unabhängigen Argumente gegen die entsprechende Position vorzubringen haben – schlicht übersehen, dass es sich bei ihrem Selbstaufhebungsargument um eine reductio ad absurdum ihrer eigenen Position bzw. des Systems der Rationalität, der Logik etc. handelt. So würde es sich z. B. klarerweise um eine reductio handeln, wenn aus den Gesetzen der Logik folgen würde, dass die Gesetze der Logik falsch sind. Stacks Ermahnung ist dabei natürlich noch deutlich besser gegen den Dogmatiker als gegen den Absolutisten verwendbar, insofern in der Regel nicht von Relativisten behauptet wird, dass der Relativismus aus explizit absolutistischen Annahmen folgt, während der Skeptiker sehr wohl explizit versucht, das dogmatische Gedankengebäude von innen heraus anzugreifen. Siehe Stack (1983).
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
oder einfach nur durch direktes Anerkennen der Selbstbezüglichkeit der relativistischen Argumentation – zu einer kohärenten relativistischen Position führen sollte, die die Prämissen für relative Wahrheiten nimmt. Es gibt allerdings auch bedeutende Unterschiede zwischen den beiden Situationen; immerhin beinhaltet die skeptische Position gerade, dass unklar ist, welchen Beweiswert das fragliche Argument hat, während der Relativist darauf bestehen sollte, dass der Status seiner Prämissen als ‚nur‘ relative Wahrheiten den Beweiswert seiner Argumentation in keiner Weise einschränkt. Damit zusammenhängend will der Relativist natürlich, dass die Konklusion seines Beweises als (relativ) wahr stehenbleibt. Der Skeptiker hingegen nimmt eine Position der Urteilsenthaltung gegenüber der Konklusion seines Arguments ein – und dies notwendigerweise, schließlich kann es keinen Beweis, der tatsächlich zeigt, dass es keine Beweise gibt, geben, da das Argument des Skeptikers natürlich auch sich selbst betrifft.¹⁹³ Eine weitere Unterstellung, die durch so eine Übertragung der Geringschätzung gegenüber relativer Wahrheit auf einen relativistischen Theoretiker durch den Absolutisten an den Relativismus herangetragen wird, ist die, dass eine solche Theorie eine vollständige Umgestaltung unserer argumentativen Praxis zum Ziel haben müsste. Das widerspricht nicht nur dem Selbstverständnis der meisten Relativisten, die gerade meinen, mit ihrer relativistischen Theorie eine bessere Beschreibung unserer argumentativen Praxis zu liefern als absolutistische Ansätze. Es befrachtet den Relativisten auch mit einer unplausiblen error theory, in ganz ähnlicher Weise wie die in Abschnitt 1.8.2 besprochene Relativismusdefinition von Boghossian, und darüber hinaus mit der nicht unbeträchtlichen Aufgabe, ein völlig neues Modell für so gut wie alles, was wir mit Aussagen tun, zu entwickeln. Diese Argumentationsform beruht also auf einer Annahme, die recht leicht anzugreifen ist. Sie besagt, dass nur absolute Wahrheiten als Prämissen in einem Argument fungieren können. Diese Annahme ist aus Sicht einer plausiblen relativistischen Theorie nicht einmal ansatzweise plausibel, und sie macht damit das Argument des Absolutisten zu einem klaren Fall einer petitio principii. Mit der absolutistischen Annahme explizit gemacht, ließe sich das Argument folgendermaßen darstellen: 1 Der Relativismus ist wahr und wohlbegründet. 2 Die Prämissen der Argumente für den Relativismus sind relativ wahr. 3 ANNAHME: Relative Wahrheiten sind nicht als Grundlage gültiger Folgerungen geeignet.
Vgl. Castagnoli (2010), 280.
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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Es können keine gültigen Argumente für den Relativismus vorliegen.
Darüber hinaus ist völlig unklar, was überhaupt der Status dieses Arguments sein soll: An wen ist es gerichtet, und wen soll es überzeugen? Denn es ist offensichtlich, dass keiner der Gesprächspartner alle Prämissen für wahr hält, der globale alethische Relativist glaubt Schritt 1 und 2, aber nicht die Annahme in Schritt 3, und der Absolutist glaubt die Annahme in Schritt 3, aber nicht die Schritte 1 und 2, damit ist keiner von beiden in der Lage, die entsprechende Folgerung zu ziehen. Dieses Argument ist schlicht inkohärent, da seine Prämissen es sind. Hier liegt also ein klarer Fall eines Selbstaufhebungsarguments vor, das mit einer der zu kritisierenden Theorie äußerlichen Annahme operiert, die mit dieser Theorie schlicht unverträglich ist. Das heißt aber natürlich auch, dass eine relativistische Theorie, die die entsprechende Annahme teilen würde, tatsächlich ebenfalls inkohärent und von Selbstaufhebung bedroht wäre, insofern sie ihre eigenen Grundlagen untergraben würde. Hier läge dann auch ein klarer Fall des Fehlens von normativer Distanz vor, denn da es laut einem solchen globalen Relativismus nur relative Wahrheiten gibt und diese sich nicht als Prämissen für Argumente eignen, würde völlig unklar, ob es überhaupt noch so etwas wie einen argumentativen Austausch gäbe. Der entsprechende Theoretiker würde uns also eine sehr gute Erklärung schulden, warum er seine Theorie als Diskussionsbeitrag vorbringt, bevor man überhaupt wissen könnte, wie mit diesem Beitrag weiter zu verfahren ist. In diesem Fall wäre es also sehr wohl gerechtfertigt, den Beitrag zu ignorieren, bevor eine solche Erklärung vorliegt. Dieses antirelativistische Argument ist also trotz seiner Inkohärenz durchaus nützlich, da es daran erinnert, wie wichtig es für eine konsequente relativistische Theorie ist, relative Wahrheit für voll zu nehmen und sie nicht als etwas Vernachlässigbares zu betrachten.
3.3.5.3 Kann der Relativist den Absolutisten überzeugen? Die letzte Variante von Selbstaufhebungsargumenten, die eine Auseinandersetzung mit dem Relativisten als überflüssig darstellen, trifft die Feststellung, dass unter Voraussetzung der Gültigkeit des Relativismus keine Möglichkeit für den Relativisten bestünde, einen Gesprächspartner, der seine relativistischen Überzeugungen nicht bereits teilt, zu überzeugen. Das Beispielargument, das hier vorgestellt werden soll, geht sogar noch einen Schritt weiter als die meisten an-
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deren Argumente dieser Form und spricht davon, dass es für den Relativisten „self-defeating“¹⁹⁴ wäre, seine Position zu verteidigen. Dieses Beispielargument ist deswegen besonders interessant, weil es Maria Baghramians Monographie Relativism entstammt, die insgesamt ein positives Bild relativistischer Theorien zeichnet und den Relativismus gegen viele Vorwürfe – inklusive einiger Selbstaufhebungsargumente – in Schutz nimmt. Insofern ist in dieser Formulierung des Arguments auf jeden Fall ein differenziertes Relativismusverständnis zu erwarten und kein Einschmuggeln von Negativwertungen, wie es bei der letzten vorgestellten Variante deutlich sichtbar war. Baghramian vertritt dabei selbst eine Form von Pluralismus. Zu den Gründen, warum sie einen globalen alethischen Relativismus nicht für eine plausible Theorie hält, gehört der folgende Argumentationsgang: The relativistʼs position will become unintelligible only if he tries to convince the non-relativist of the superiority of his relativist scheme; but so long as the relativist is content to say ‚in my conceptual scheme, system of belief, etc., truth is relative, while for the members of society X, or conceptual scheme Y, truth might be an absolutist notion, and I am not in a position to say which of us is right‘, his position will not be shaky. The point is, we can avoid the charge of self-refutation by embracing higher-order relativism. […] The acknowledgement of the possibility of an infinity of language levels is not in itself absurd or vicious. Such a stand would, of course, rob the relativist of the right to argue for the superiority of her position, and would also force her to accept that an absolutist has something equally good to say about truth. […] This feature of strong relativism about truth, however, does not leave much room for relativistic philosophers, since they are trying to convince their opponents of the truth or superiority of their position by arguing for it. Hence, although total relativism is not self-defeating, arguing for relativism with non-relativists is.¹⁹⁵
Baghramians Argument wird hier ausführlich mit seinem Kontext zitiert, um seine Verwandtschaft zum Argument von Harris¹⁹⁶ aufzuzeigen. Auch dieses Argument nimmt von den Unwägbarkeiten höherstufiger Relativität seinen Ausgang, und auch in diesem Argument scheint leider deutlich ein anythinggoes-Verständnis der höheren Ebene der Relativität durch, was daran liegen dürfte, dass leider auch Baghramian Globalität als eine Satz-für-Satz-Wahrheitswertvariabilität versteht.¹⁹⁷
Baghramian (2004), 135. Damit ähnelt es dem UVNR-Argument von Siegel, das bezogen auf den epistemischen Relativismus besprochen wurde. Baghramian (2004), 135. Die Passage folgt auf eine Besprechung des Selbstaufhebungsarguments von Putnam, das in Abschnitt 3.3.2.1 behandelt wurde. Aus diesem stammt der Vorwurf der Unverständlichkeit, von dem im ersten Satz die Rede ist. Siehe Abschnitt 3.3.5.1. Vgl. Baghramian (2004), 141.
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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Allerdings lässt sich das Argument durchaus auch losgelöst von diesem Hintergrund lesen. Der Kerngedanke, der sich im letzten Satz prägnant artikuliert, ist ja, dass es für den Relativisten unzulässig ist, mit Nicht-Relativisten zu diskutieren. Dieser Gedanke ist auch auf dem Hintergrund eines weniger problematischen Globalitätsverständnisses durchaus naheliegend und stellt für einige Formen des Relativismus tatsächlich ein Problem dar, allerdings nicht für alle, wie noch zu zeigen sein wird. Das leicht modifizierte Argument lässt sich dann folgendermaßen darstellen: 1 Der Absolutist vertritt andere Überzeugungen als der Relativist. 2 Unter Voraussetzung der Wahrheit des Relativismus bedeutet das Vertreten anderer Überzeugungen die Benutzung eines anderen Rahmens. 3 Der Absolutist benutzt einen anderen Rahmen als der Relativist. 4 Es ist sinnlos für den Relativisten zu versuchen, den Absolutisten zu überzeugen. 5 Tut er es dennoch, bestreitet er dadurch indirekt seine Theorie. Es sollte von Anfang an klargestellt werden, dass hier bewusst eine schwache Lesart von Baghramians Position gewählt wird – nicht in dem Sinne, dass ein schwaches Argument zu ihrer Stützung zugeschrieben wird, sondern in dem Sinne, dass die innerhalb des Arguments gemachten Behauptungen als möglichst schwache gelesen werden. Das ist insbesondere relevant für Schritt 4, in dem eine Zuschreibung von Sinnlosigkeit als Zwischenschritt zur Ableitung des Konflikts der Handlungen des Relativisten mit seiner Theorie benutzt wird, anstatt die in der oben zitierten Passage präsente Rhetorik des Fehlens eines Rechtes zur Argumentation seitens des Relativisten zu verwenden. Baghramians eigene Formulierungen sind mehrdeutig, zwischen einerseits einer stärkeren Lesart des Arguments, das eher Harrisʼ oben vorgestelltem Argument gegen Goodman ähnelt, und der schwächeren Lesart, die hier vorgestellt werden soll. Die stärkere Lesart wird insbesondere gestützt durch den Satz: „Such a stand would, of course, rob the relativist of the right to argue for the superiority of her position, and would also force her to accept that an absolutist has something equally good to say about truth“, obwohl dessen Valenz stark davon abhängt, wie genau der Ausdruck „superiority“ und dessen Komplement „equally good“ interpretiert werden.¹⁹⁸ Die schwächere Lesart passt hingegen sehr viel
Hier ist insbesondere relevant, ob von absoluter oder relativer „superiority“ die Rede ist. Im ersten Fall wäre es überaus problematisch, dem für seine Position argumentierenden Relativisten eine entsprechende Verpflichtung zuzuschreiben. Im zweiten Fall hingegen wäre es unklar, wo genau der behauptete Konflikt mit der relativistischen Position seinen Ursprung haben soll. In-
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besser zu Baghramians Beschreibung der Position des „higher-order relativism“. Insgesamt scheint der Text eher die stärkere Lesart zu stützen. Die Gründe, aus denen hier trotzdem die schwächere Lesart gewählt wird, sind die folgenden: Erstens braucht die schwächere Lesart sich nicht, im Gegensatz zur stärkeren, auf eine anything-goes- und Aussage-für-Aussage-Konzeption des Relativismus zu stützen. Zweitens liefert sie – nicht zuletzt aufgrund dessen – ein stärkeres antirelativistisches Argument. Nun zurück zur oben gegebenen Darstellung des Arguments. Zunächst sollte etwas zum letzten Schritt gesagt werden. Wie bereits erwähnt, haben Selbstaufhebungsargumente dieser Form nicht immer diesen letzten Schritt, sondern enden in der Regel mit der Feststellung der Sinnlosigkeit eines Überzeugungsversuches seitens des Relativisten; und deswegen lohnt es sich, ihn kurz getrennt vom vorangegangenen Teil des Arguments zu betrachten. Baghramian spricht davon, dass es „self-defeating“ sei, für den Relativismus zu argumentieren. In ihrer Besprechung von Platons Argument gegen Protagoras, dem sie eine sehr ähnliche Pointe zuschreibt, spricht sie auch davon, Argumentieren seitens des Relativisten führe zu einer „performative contradiction“¹⁹⁹. Orientiert an der im zweiten Hauptteil entwickelten Terminologie möchte ich vorschlagen, hier von einer operational-dialektischen Form der Selbstaufhebung zu sprechen,²⁰⁰ denn Baghramian scheint darauf hinauszuwollen, dass sich der Relativist, wenn er denn für seine These argumentiert, auf einen Widerspruch verpflichtet – das entspricht der operationalen Selbstaufhebung – zwischen der Aussage aus Schritt 4, die laut Baghramian aus seiner These folgt, und der Verpflichtung, für seinen Gesprächspartner relevante Gründe vorbringen zu können, die er mit dem Argumentieren für seine These eingeht. Dass es hier nicht um das reine Behaupten geht, sondern um die Einbettung in eine argumentative Auseinandersetzung mit dem Absolutisten, entspricht hingegen eher einer dialektischen Variante. Diese Selbstaufhebung kann aber selbstverständlich nur dann stattfinden, wenn das Argument bis zu Schritt 4 einwandfrei verläuft – und da gibt es durchaus Schwierigkeiten. Wie bereits gesagt, gibt es Formen des Relativismus, die durch dieses Argument tatsächlich in Schwierigkeiten geraten können, und das sind natürlich diejenigen Relativismen, für die die Annahme in Schritt 2 zu-
sofern scheinen beide Alternativen keine optimalen Lösungen zu sein, obwohl die intendierte Bedeutung vermutlich eher die erste ist, da deren Schwachstelle weniger offensichtlich ist. Baghramian (2004), 34. Baghramians Argument ähnelt in einigen Hinsichten Siegels UVNR-Argument in der modifizierten operationalen Lesart. Ein weiteres Argument, mit dem es Überschneidungen aufweist, ist Burnyeats Vorwurf der Irrelevanz der Argumente des Protagoras für jeden, der seine Überzeugungen nicht bereits teilt. Siehe dazu Abschnitt 3.1.1 und Teil 2, FN 49.
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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trifft. Das ist z. B. dann der Fall, wenn von einer starken determinierenden Beziehung zwischen Rahmen und Überzeugungen des Rahmenbenutzers ausgegangen wird, wie z. B. in bestimmten Formen des Kulturrelativismus. Bzgl. solcher Vorstellungen der Beziehung zwischen Rahmen und Überzeugungen wurde schon einmal erwähnt, dass sie – neben ihrer grundsätzlichen Unplausibilität – problematisch sind, weil sie Irrtum innerhalb von Rahmen unmöglich machen und die Entwicklung neuer Rahmen unverständlich erscheinen lassen.²⁰¹ Das hier vorgestellte Selbstaufhebungsargument weist auf eine weitere – und nicht weniger ernste – Schwierigkeit für Theorien dieser Art hin, und auch in diesem Fall scheint ein Mangel an normativer Distanz im Spiel zu sein, denn die Unmöglichkeit, sich zu irren, wirft natürlich unmittelbar die Frage auf, wofür man Überzeugungen kritisch hinterfragen sollte.²⁰² Für andere Formen des Relativismus hingegen ist der Fall unklar. Nimmt man z. B. kohärentistische Wahrheitsvorstellungen, die Wahrheit auf ein System grundlegender Überzeugungen oder Aussagen relativieren, könnte man sehr wohl zu der Beurteilung gelangen, dass die Annahme, dass aus Uneinigkeit die Benutzung unterschiedlicher Rahmen zu folgern ist, für sie gilt; allerdings hängt das davon ab, wie genau „grundlegend“ zu verstehen ist. Einerseits könnte man meinen, Überzeugungen bzgl. Wahrheit müssten zu den grundlegenden zählen, da sie den Status sämtlicher Überzeugungen betreffen. Andererseits könnte man auch argumentieren, dass Wahrheitstheorien etwas sehr Abstraktes sind, worüber sich die wenigsten ernsthaft Gedanken machen und was im Alltag überhaupt keine Rolle spielt. Mit einem praxisbezogeneren Verständnis von „grundlegend“ ließe sich daher auch überzeugend vertreten, dass Wahrheitstheorien in den Bereich des Optionalen fallen, da sie eher schmückendes intellektuelles Beiwerk bilden, ohne interessante praktische Auswirkungen zu zeitigen. In letzterem Fall wäre es unklar, ob die Überzeugungen des Absolutisten ein hinreichender Grund sind, um davon auszugehen, dass er einen anderen Rahmen verwendet als der Relativist. In jedem Fall ist die Annahme aus Schritt 2 für solche Formen des Relativismus nicht allgemeingültig, sondern sie gilt nur für die Überzeugungen, die zum Rahmen gehören, und ihre unmittelbaren Folgerungen. Darüber hinaus gibt es auch relativistische Theorien, für die die Annahme aus Schritt 2 eindeutig nicht gilt. Das ist z. B. der Fall bei alethischen Relativismen mit sprachartigen Rahmen. Hier ist es nämlich problemlos möglich, dass beide Ge Siehe Abschnitt 1.7.3. Interessant ist auch, dass auch solche Formen des Relativismus – wie die Theorie des Protagoras – in einem nicht-Fineʼschen Sinne als Infallibilismen bezeichnet werden können. Denn wo ein Rahmen die Überzeugungen seiner Benutzer determiniert, sind diese trivialerweise wahr innerhalb des relevanten Rahmens.
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3 Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus
sprächspartner denselben Rahmen benutzen und sich einer von beiden schlicht irrt. Der Relativist würde natürlich den Absolutisten für denjenigen halten, der sich irrt, und versuchen, ihn von seinem Irrtum innerhalb des von beiden geteilten Rahmens zu überzeugen. Hinzu kommt, dass es für einen Vertreter eines solchen Relativismus nicht einmal sinnlos wäre, sich mit dem Absolutisten in eine Diskussion zu begeben, wenn beide tatsächlich unterschiedliche Rahmen benutzen würden. Natürlich müsste dazu zunächst ein gemeinsamer Rahmen gefunden werden, der für beide nutzbar ist, aber insofern es einen solchen gibt oder insofern sich beide hinreichend ähnlicher Rahmen bedienen können, ist eine argumentative Auseinandersetzung aus Sicht des Relativisten durchaus sinnvoll. Denn auch wenn der Absolutist tatsächlich einen anderen Rahmen benutzt, macht das seine Überzeugung aus der Perspektive des Relativismus nicht sakrosankt. Es könnte nämlich sowohl sein, dass sich der Absolutist innerhalb seines eigenen Rahmens irrt, als auch, dass er, ohne dass es ihm klar ist, einen ungeeigneten Rahmen benutzt, der z. B. für die von ihm angestrebten Zwecke unnütz ist. Sogar wenn der Absolutist tatsächlich einen anderen Rahmen benutzt als der Relativist, kann Letzterer also sowohl den Anlass als auch die Möglichkeit haben, ihn zu überzeugen, ohne an irgendeiner Stelle in Konflikt mit seiner eigenen relativistischen Ausrichtung zu geraten. Zuletzt sollte noch angesprochen werden, dass es auch Formen des Relativismus gibt, die für diesen Argumentationsgang anfällig sind, ohne dass die Annahme aus Schritt 2 auf sie zutreffen müsste (auch wenn sie das bei vielen gewissermaßen tut). Die Rede ist von subjektivistischen Theorien, denn hier benutzen Relativist und Absolutist trivialerweise unterschiedliche Rahmen. Aber selbst unter den subjektivistischen Theorien gibt es solche, die eine Chance haben, die hier drohende Selbstaufhebung zu umgehen. Das sind z. B. solche, die mit persönlichen idealisierten Überzeugungssystemen als Rahmen arbeiten und keine Relativität auf Zeitpunkte zulassen bzw. diese zumindest stark einschränken. Denn es dürfte durchaus möglich sein, jemanden auf Grundlage dessen zu überzeugen, dass seine absolutistische Wahrheitstheorie nicht mit seinem eigenen idealisierten Überzeugungssystem kohäriert. Hier könnte man zwar die Frage nach der Motivation des Relativisten stellen,²⁰³ aber ob er nun aus Menschenfreundlichkeit oder Langeweile versucht, die für seinen Diskussionspartner fal-
Wobei eine solche Frage m. E. selbst eine reduktive Sicht der Auseinandersetzung mit den Gedanken anderer verriete. So ist die Vorgehensweise des hier in Frage stehenden Relativisten z. B. kaum ungewöhnlicher oder erstaunlicher, als einen Text von jemandem, mit dem man in grundlegenden Fragen nicht einer Meinung ist, Korrektur zu lesen.
3.3 Selbstaufhebungsargumente gegen den alethischen Relativismus
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schen Überzeugungen zu korrigieren, er handelt sich damit auf jeden Fall keine inkohärente Position ein. Subjektivistische Positionen wie die des Protagoras sind allerdings sehr wohl anfällig für Selbstaufhebungsargumente dieser Form, das haben die Überlegungen zu Platons Argument gegen Protagoras in Abschnitt 2.1 deutlich gezeigt. Dort wurde ausführlich besprochen, welchen Problemen sich Protagoras stellen müsste, wenn er versuchen würde, seine Position zu verteidigen – dieselben Schwierigkeiten hätte er natürlich in der argumentativen Offensive. Trotzdem ist die Zuschreibung einer Verpflichtung auf einen Widerspruch m. E. selbst im Fall des Protagoras zu hoch gegriffen. In Protagorasʼ Theorie klafft eine Lücke, die gefüllt werden müsste, bevor sie in einer argumentativen Auseinandersetzung sinnvoll in Erwägung gezogen werden kann, aber die Verpflichtung auf einen Widerspruch würde entweder voraussetzen, dass Protagorasʼ Theorie selbst ihren Überzeugungsversuch in nicht-relativistischer Weise interpretiert oder dass es überhaupt die einzige Möglichkeit ist, diesen zu interpretieren. D. h., es müsste sich entweder um eine ad-hominem-Selbstaufhebung handeln oder es müsste eigens bewiesen werden, dass Argumentieren unter protagoreisch-subjektivistischen Bedingungen nicht möglich sein kann, um dann mit dieser Zusatzannahme ein ‚Selbstaufhebungsargument‘ zu ermöglichen. Da aber nicht klar ist, wie ausgeschlossen werden sollte, dass sich in die Theorie des Protagoras irgendeine Form von normativer Distanz einfügen lässt, scheint Letzteres aussichtslos und Ersteres schlicht nicht der Fall. Auch dieses Argument ist also nicht in der Lage, den alethischen Relativismus als solchen anzugreifen. Es ist zwar in der Lage, auf ernsthafte Probleme, sowohl für einige subjektivistische Theorien als auch für solche, die davon ausgehen, dass der benutze Rahmen die Überzeugungen eines Individuums weitgehend determiniert, hinzuweisen. Aber auf viele Formen des alethischen Relativismus trifft es schlicht nicht zu, da es dort keinen solch direkten Zusammenhang von unterschiedlichen Meinungen und unterschiedlichen Rahmen gibt.
Schluss Keines der hier untersuchten Selbstaufhebungsargumente war in der Lage, den Relativismus als solchen zu widerlegen. Doch woher kommt dann die weit verbreitete Überzeugung, dass der Relativismus offensichtlich selbstaufhebend ist? Die kurze und nicht allzu fehlleitende Antwort auf diese Frage lautet: Es handelt sich um ein Missverständnis über die Natur des Relativismus. Tatsächlich handelt es sich um eine ganze Reihe, zum Teil miteinander zusammenhängender Missverständnisse, die oft als stillschweigende Hintergrundannahmen in Selbstaufhebungsargumente eingebracht werden oder in die diesen zugrundeliegenden Definitionen des Relativismus eingeschrieben sind. Um diese Missverständnisse auszuräumen, wurde zunächst nach einer angemessenen Definition des Relativismus gesucht und eine solche in derjenigen Max Kölbels gefunden. Auf dem Weg dorthin wurden nicht nur einige Relativismusdefinitionen diskutiert und für defizitär befunden, die genau solche Missverständnisse verkörpern, sondern es wurde auch eine Unterscheidung zwischen drei Ebenen entworfen, auf denen sich globale Relativismen mit sprachartigen Rahmen, also die Familie von Relativismen, die in dieser Arbeit im Mittelpunkt stand, bewegen können und zwischen denen in der Regel nicht sauber oder überhaupt nicht differenziert wird. Mit einem grundlegenden Verständnis einerseits des Variantenreichtums und andererseits der allgemeinen Form relativistischer Theorien ausgestattet, begann dann die Suche nach angemessenen Gegnern für eben jene relativistischen Theorien. Nach einer abstrakten Charakterisierung von Selbstaufhebungsargumenten als Argumente, welche an einer direkten oder indirekten Selbstbezüglichkeit der zu widerlegenden Theorie ansetzen, um für verheerend gehaltene negative Konsequenzen für selbige abzuleiten, wurde Platons Selbstaufhebungsargument gegen Protagoras als Prototyp moderner Selbstaufhebungsargumente besprochen und versucht so stark wie möglich zu machen. Soll Platons Argument Erfolg haben, so ergab sich, muss es als in einen Hintergrund dialektischer Praxis eingebettet gelesen werden – ein Ergebnis, das nicht nur mit einer Auffassung von Selbstaufhebungsargumenten als besonders ‚reinen‘ Widerlegungen einer Position nur aus sich selbst heraus unvereinbar ist, sondern auch den Selbstaufhebungsargumente verwendenden Absolutisten aufhorchen lassen sollte, insofern es ein Verständnis von erfolgreichen Selbstaufhebungsargumenten als selbst relativ nahelegt. Dieser Anlass zur Besorgnis für den Absolutisten konnte auch durch die Betrachtung unterschiedlicher Formen von Selbstaufhebungsargumenten anhand von Mackies Typologie nicht abgeschwächt werden, denn dort ergab sich, https://doi.org/10.1515/9783110584264-006
Schluss
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grob gesagt, dass Selbstaufhebungsargumente grundsätzlich auf substantiellen Annahmen, bestimmte grundlegende Konzepte (wie das der Wahrheit oder das der Behauptung) betreffend, beruhen. Hier wurde auch herausgestellt, dass sich diese Abhängigkeit von Hintergrundannahmen grundsätzlich auf zwei Weisen konzeptualisieren lässt: Entweder es handelt sich um die Annahmen dessen, der das Selbstaufhebungsargument vorbringt, in diesem Fall besteht grundsätzlich die Gefahr, dass die Position des Gegners durch ein Missverständnis derselben verfehlt wird, falls dieser abweichende Auffassungen der betreffenden Konzepte vertritt; oder die Annahmen finden sich in der zu kritisierenden Theorie – hier kann man von einer ad-hominem-Selbstaufhebung sprechen –; in diesem Fall tritt deutlich hervor, dass das Selbstaufhebungsargument eine Inkompatibilität unterschiedlicher Theoriebausteine aufzeigt, von denen nicht prima facie klar ist, welcher aufgegeben werden sollte. Mit einer ‚reinen‘ Widerlegung einer Einzelthese hat man es also in keinem Fall zu tun, aber hier zeigt sich auch ein Gewinn, der aus der Auseinandersetzung mit Selbstaufhebungsargumenten erzielt werden kann: Hintergrundannahmen werden sichtbar gemacht, wodurch eine direkte Auseinandersetzung mit der Frage, ob eher die zu kritisierende Theorie oder These aufgegeben werden sollte oder aber die inkompatiblen Annahmen, überhaupt erst möglich wird. Dadurch erlaubt die Analyse von Selbstaufhebungsargumenten eine Verschiebung der Debatte auf den Bereich, in dem sie eigentlich stattfinden sollte, nämlich in dem der Gründe, die für relativistische Thesen einerseits und grundlegende absolutistische Konzepte andererseits sprechen. Für Relativisten bedeutet dies auch, dass Selbstaufhebungsargumente ihnen wichtige Informationen zu einer tragfähigen relativistischen Theoriearchitektur geben können, denn jedem absolutistischen Missverständnis der relativistischen Theorie, welches ein absolutistisches Selbstaufhebungsargument motiviert, entspricht natürlich eine (mögliche)¹ fehlgeleitete Weise, eine relativistische Theorie zu entwerfen. Diese möglichen Irrwege relativistischer Theoriebildung und versteckten Hintergrundannahmen antirelativistischer Argumentationen sollen nun zum Abschluss noch einmal überblicksartig zusammengefasst werden.²
In diesem Kontext ist es gleichgültig, ob sich für die fraglichen Annahmen bzw. Missverständnisse tatsächlich relativistische Theorien finden lassen, die sie vertreten oder teilen. Bei einigen der nun zu thematisierenden Annahmen lassen sich solche recht leicht finden, bei anderen m. E. überhaupt nicht. Hier interessiert jedoch einzig, inwiefern sie problematisch sind und dass sie kein notwendiger Bestandteil relativistischer Theoriebildung sind. Dabei werden die Gründe, warum die betreffenden Annahmen problematisch sind, an dieser Stelle nur kurz angerissen. Ausführlicheres dazu findet sich in den Abschnitten zu den sie verwendenden Selbstaufhebungsargumenten und Relativismusdefinitionen.
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Schluss
Die problematischen Annahmen lassen sich dabei, um eine Übersicht zu gewinnen, grob in drei Gruppen einteilen: die der absolutistischen Überreste, die der direkten Unterminierungen normativer Distanz und die der mangelnden Reflexion des eigenen semantischen und epistemischen Standpunkts. Grob ist diese Einteilung vor allem deswegen, weil die unterschiedlichen Problematiken eng miteinander verknüpft sind und sich eine einzelne Annahme oft durch eine geringfügige Reformulierung leicht als Mitglied einer anderen Gruppe klassifizieren lässt. Insbesondere lassen sie sich alle als Instanzen eines Mangels an normativer Distanz begreifen, was wiederum die These stützt, dass es genau dieser Mangel ist, der Positionen für Selbstaufhebungsargumente anfällig macht. Die ersten beiden problematischen Annahmen, die der Gruppe der absolutistischen Überreste zuzuordnen sind, sind eng miteinander verstrickt. Die erste lautet, dass die relativistische Theorie selbst einen absoluten Status genießt bzw. genießen muss, den sie anderen Aussagen abspricht. Die zweite besagt, dass ein relativer Status ein defizitärer Status ist, hieraus motiviert sich in der Regel das „muss“ in der ersten Annahme. Die erste Annahme sah man z. B. am Werk in Mandelbaums Vorwurf einer self-excepting fallacy an den Relativisten und in Albedahs Selbstaufhebungsargument gegen Kuhn, welches diesem vorwarf, exakt diese Annahme zu machen. Die zweite Annahme speist, wie gesagt, die erste. Sie kam in der vorliegenden Arbeit sowohl in Bezug auf Rechtfertigung vor, nämlich in einer der Lesarten von Siegels NSBF-Argument, also als die Annahme, dass relative Rechtfertigungen keine ‚echten‘ Rechtfertigungen sein können, als auch in Bezug auf Wahrheit, im Rahmen von Boghossians Definition des Relativismus, der sich genötigt sah, für die ihm vorschwebende relativistisch reformierte Sprache absolute Wahrheitsbedingungen anzugeben. Beide Annahmen haben in einem konsequenten globalen Relativismus oder Relativismus von globaler Bedeutung keinen Platz. Bei Ersterer ist das schon deswegen offensichtlich, weil ein Relativismus durch sie eben seine Globalität einbüßen würde; und tatsächlich ist es schwer, relativistische Theorien zu finden, die sich selbst einen solchen Sonderstatus zuerkennen. Die zweite Annahme ist vor allem insofern problematisch, als sie die erste motivieren kann bzw. dem absolutistischen Kritiker einen einfachen Weg zur Widerlegung des Relativismus an die Hand gibt. Sie ist allerdings auch innerhalb eines globalen Relativismus kaum selbst motivierbar und taucht insofern zwar in einer Vielzahl von Selbstaufhebungsargumenten auf, aber kaum in relativistischen Theorien. Der Grund hierfür ist einfach: Um relative Wahrheiten, relative Begründungen etc. für defizitär zu halten, bedarf es einer Kontrastklasse. Der die relativistische Theorie betrachtende Absolutist hat eine solche bzw. glaubt sie zu haben, denn er hält viele Aussagen für absolut wahr oder begründet, relative Wahrheit oder Begründung erscheint ihm nicht als Wahrheit oder Begründung im vollen Sinne,
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insofern können auch in seiner Betrachtungsweise relative Wahrheiten oder Begründungen nicht alle Aufgaben verrichten – als Prämissen eines Arguments fungieren, das Ziel unserer Untersuchungen sein,³ eine Aussage in einer Auseinandersetzung stützen etc. –, die wir Wahrheiten oder Begründungen im Allgemeinen auferlegen. Auch in Bereichsrelativismen wird der relativistisch konzipierte Bereich, wie z. B. der der Moral, oft als epistemisch ‚weicher‘ – weniger verbindlich, weniger gewiss, weniger gültig etc. – gedacht, in Abgrenzung von einem epistemisch ‚harten‘ Außen, wie z. B. den Naturwissenschaften.⁴ Ein Bereichsrelativismus kann diese Haltung auch konsistent durchhalten – in der Tat ist es häufig gerade die Intuition eines solchen epistemischen Defizits eines Diskursbereichs gegenüber anderen, die bereichsrelativistische Theoriebildung motiviert.⁵ Aber ein globaler Relativismus kennt ein solches Außen nicht. Für den globalen Relativisten gibt es keine ‚echten‘ Wahrheiten oder Begründungen, mit denen seine relativen ‚Ersatzwahrheiten‘ oder ‚Ersatzbegründungen‘ mithalten sollten, aber es nicht können, stattdessen ist relative Wahrheit oder Rechtfertigung in einer konsequenten relativistischen Konzeption alles an Wahrheit oder Rechtfertigung, was es gibt und was wir brauchen. Damit soll weder gesagt sein, dass es keine relativistischen Ansätze gibt, die sich auf diesen Irrweg begeben, noch dass eine relativistische Theorie keinerlei Unterschiede zwischen dem (aus ihrer Sicht erdichteten) Status absoluter Wahrheiten oder Begründungen und dem Status ihrer relativen Äquivalente machen dürfe – „relativ“ ist nicht nur ein neues Wort für „absolut“. Um noch einmal Castagnolis Ausdrucksweise zu bemühen: Relativistische Theorien sind in der Tat radikal revisionistisch, aber sie sind es zunächst nur auf der Metaebene philosophischer Beschreibungen und nicht notwendigerweise auf der Objektebene nichtphilosophischer diskursiver Praxis.⁶ Der Relativist, der in irgendwelche be-
Hier z. B. sieht man deutlich, dass auch diese Annahme mit einem Mangel an normativer Distanz zusammenhängt. Während bei Protagoras das Problem gewissermaßen war, dass jeder seine epistemischen Ziele immer schon erreicht hatte, gibt es hier nichts, was als ein epistemisches Ziel fungieren könnte. Diese Konstellation lässt sich in vielen Fällen auch als eine Art von Stufenkonzeption beschreiben, in der absolut verfasste Diskursbereiche in direktem Kontakt mit der Realität als solcher stehen, während relativistisch zu beschreibende uns als eine zwischen sie und die Realität geschaltete Vermittlungsinstanz benötigen. Dies sieht man z. B. gut bei Harman, der seine relativistische These in der Metaethik davon ausgehend begründet, dass moralische Aussagen sich, im Gegensatz zu den von ihm als objektiv aufgefassten Aussagen, nicht empirisch bestätigen lassen. Siehe Harman (1977), Kapitel 1. Selbstverständlich handelt es sich hier nicht um eine festgefügte Unterscheidung zweier voneinander vollkommen unabhängiger Sphären. Trotzdem sollte sie klar genug sein, um einen
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liebigen Diskussionen hineinplatzt, um die Teilnehmer darüber zu informieren, dass alles, was sie sagen, mehr oder weniger belanglos – weil relativ – ist, ist nichts als ein absolutistisches Schreckgespenst. Der Hinweis auf Relativität muss und sollte, wenn man denn um eine vertretbare relativistische Theorie bemüht ist, nicht die Rolle eines Einwands (wo es nicht um Fragen von Relativität und Absolutheit geht) spielen können. Bei einigen Ausformungen des Relativismus, wie z. B. radikal subjektivistischen Ansätzen, ist unklar, inwiefern sie diese Vorgabe erfüllen können; je nachdem, wie genau sie aufgestellt sind, ist hier damit zu rechnen, dass sie tatsächlich nach umfassenden Umgestaltungen alltäglichen Sprachverhaltens verlangen könnten. Aber bei den in dieser Arbeit vornehmlich diskutierten Relativismen mit sprachartigen Rahmen liegt auf der Hand, dass sie relative Wahrheit oder Begründung genauso ernst nehmen können wie absolutistische Auffassungen die jeweiligen absoluten Gegenstücke. In der Tat, auch darauf wurde im Verlauf der Diskussion konkreter Selbstaufhebungsargumente und in Bezug auf Boghossians Relativismusdefinition bereits hingewiesen, sehen sich solche Theorien häufig selbst als rein deskriptiv an. Sie wollen das alltägliche Sprachverhalten nicht umgestalten, sondern es lediglich beschreiben. Insofern sind sie auch bemüht, sicherzustellen, dass relative Wahrheiten oder Begründungen gerade in der Lage sind, die Wahrheiten und Begründungen in unserer Sprachpraxis zukommenden Rollen zu erfüllen, denn, etwas überspitzt ausgedrückt, diese Konzeptionen relativer Wahrheit und Begründung sind nichts weiter als Versuche, eben diese Rollen zu artikulieren. Mit diesem Punkt hängt auch ein weiterer Komplex von Annahmen aus der Gruppe der absolutistischen Überreste zusammen. Sie artikulieren sich z. B. in Tollefsens Vorwurf, der Relativist habe durch seine Verwendung eines relativistischen Begründungskonzepts schlicht das Thema gewechselt und habe damit auch nichts zu sagen, was für den Absolutisten von Interesse wäre, insofern nicht einmal er seine Theorie für wohlbegründet in einem für den Absolutisten relevanten Sinne hält. Dieser Vorwurf beruht auf dem Bild, dass ein relativistisches Begründungskonzept eine völlig freischwebende Erfindung ist. Es besitzt hiernach weder hinreichende Kontinuität mit seinem absolutistischen Gegenstück noch mit dem alltagssprachlichen Konzept von Begründung; und gegenüber Absolutismus und Relativismus potentiell neutrale Prüfmöglichkeiten der Angemessenheit der konkurrierenden Konzepte, wie eben ein Abgleich mit der all-
Eindruck davon zu vermitteln, wo relativistische Revisionsbemühungen konzentriert sind oder konzentriert sein sollten.
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täglichen Begründungspraxis, werden als ebenfalls entweder relativistisch oder absolutistisch begründend abgelehnt.⁷ Dazu ist zunächst zu sagen, dass ein Relativismus nicht davon ausgehen muss und sollte, dass die alltagssprachlichen Gegenstücke der von ihm thematisierten Konzepte absolutistisch verfasst sind. Darauf war bereits in Bezug auf die aus Boghossians Relativismusdefinition folgende error theory hingewiesen worden. Vielmehr sollte eine plausible relativistische Theorie davon ausgehen, dass die fraglichen alltagssprachlichen Konzepte entweder selbst bereits relativistisch sind oder zumindest unterbestimmt bzw. neutral, was die Frage von Relativismus oder Absolutismus angeht. Eine solche Haltung ist auch durchaus selbst plausibel, wenn, wie bei vielen Relativismen mit sprachartigen Rahmen der Fall, von irgendeiner Form von Gebrauchstheorie der Bedeutung ausgegangen wird, wenn also von der tatsächlichen Verwendung der entsprechenden Ausdrücke die Rede ist und nicht von bestimmten Vorstellungen, die Sprecher mit ihnen verbinden. Ein verwandter Punkt lässt sich auch gegen die angebliche radikale Trennung zwischen absolutistischen und relativistischen Konzepten anführen. Wie bereits im Zusammenhang mit Tollefsens antirelativistischem Argument ausgeführt, mag es zwar so sein, dass Absolutisten und Relativisten den Status „gerechtfertigt“ (und Ähnliches gilt für „wahr“) durch vollkommen unterschiedliche Theorien erklären. Trotzdem verwenden beide Gruppen dieselben oder zumindest stark überlappende Kriterien, wenn es darum geht, diesen Status zuzuschreiben – beide folgen der alltäglichen Praxis der Zuschreibung des fraglichen Status, unter Umständen mit einigen philosophisch motivierten Modifikationen. Dadurch ist die Grundlage für eine sinnvolle Auseinandersetzung zwischen ihnen immer bereits vorhanden, wenn man bereit ist, nicht nur die rein abstrakte Ebene unterschiedlicher Definitionen zu betrachten, sondern die Phänomene tatsächlicher Zuschreibungspraxis im Blick behält. Wenn sich Relativisten und Absolutisten darüber auseinandersetzen, wessen Theorie diese Praxis besser erklären oder beschreiben kann, wessen Theorie auf die Dinge zutrifft, von denen sich beide einig sind, dass sie wohlbegründet sind, oder auch darüber, wessen Theorie die in dieser Praxis verwendeten Kriterien besser erfüllt, gibt es keinen Grund, dass beide aneinander vorbeireden sollten oder auch einem der Beteiligten vorzuhalten, er habe das Thema gewechselt. Eine weitere Gruppe problematischer Annahmen ist diejenige, in der direkt die normative Distanz unterminiert wird. Hierunter fallen zunächst solche, die ein starkes determinierendes Verhältnis zwischen dem Rahmen und den Überzeu-
Insbesondere dieser letzte Punkt lässt sich auch so fassen, dass speziell der Debatte zwischen Relativisten und Absolutisten normative Distanz abgesprochen wird.
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gungen seiner Benutzer behaupten. Sie waren z. B. in Putnams Argumentation gegen den Kulturrelativismus, in der Theorie, die Platon Protagoras zuschreibt, und in Baghramians Argument gegen die Fähigkeit des Relativisten, konsistenterweise zu versuchen, seinen Gegner zu überzeugen, aufgekommen. Zunächst ist wichtig zu sagen, dass es nicht darauf ankommt, in welche Richtung hier die Determination läuft. Das Problem ist die resultierende Struktur des Zusammenfalls des Rahmens, der eigentlich gegenüber den auf ihn relativen Aussagen eine normative Rolle spielen sollte, und der auf ihn relativen Aussagen – in anderen Worten: der Mangel an normativer Distanz. Ob diese Struktur daraus resultiert, dass individuelle Überzeugungen bestimmen, was wahr ist, wie in bestimmten Spielarten des Subjektivismus, oder ob ein Rahmen als ein System vorgestellt wird, das seine Benutzer psychologisch determiniert, spielt erst einmal keine Rolle.⁸ Dieser Verlust der normativen Distanz bedeutet eine Infallibilität von Rahmennutzern, es wird ihnen unmöglich gemacht, falsch zu liegen.⁹ Relativismen, die diese Art von Annahmen hingegen nicht machen, können, ganz im Gegenteil, sogar zusätzliche Möglichkeiten produzieren, falsch zu liegen. Dies ergibt sich daraus, dass viele Relativismen – nämlich vor allem solche, die davon ausgehen, dass jeder von uns diverse Rahmen verwenden und zwischen ihnen wechseln kann – ein Konzept der Angemessenheit von Rahmen besitzen, wobei diese Angemessenheit in der Regel in erster Linie als ein Erfüllen bestimmter pragmatischer Kriterien gedacht wird, wie z. B. Effektivität eines Rahmens in der Klassifizierung des zu erfassenden Gegenstandsbereichs und, je nach Spielart des Relativismus, auch situativ-kommunikativer Kriterien, wie z. B. welchen Rahmen ein Gesprächspartner verwendet. Solche Formen des Relativismus ebnen Distanz also nicht ein, sondern sie schaffen – im Vergleich zu vielen absolutistischen Ansätzen, insbesondere fundamentalistischen, aber auch solchen, die z. B. die Logik als einen weder wahren noch falschen, aber dennoch unhintergehbaren Hintergrund aller unserer kognitiver Anstrengungen auffassen – eine zusätzliche Ebene der Distanz, die einen kritischen Blick auf selbst die grundlegendsten
Trotzdem stellen sich natürlich relativistischen Theorien, die unterschiedliche Varianten solcher Annahmen enthalten, jeweils charakteristische Folgeprobleme. So stellt sich bei einem deterministisch verfassten Kulturrelativismus z. B. die Frage, wie es jemals zu kulturellem Wandel – also Veränderungen am Rahmen – kommen können sollte. Bei einem radikalen Subjektivismus hingegen scheinen Rahmen einem ständigen Wandel unterworfen, denn jede Überzeugungsänderung ist auch eine Änderung des Rahmens. In Baghramians Argument war dies z. B. durch die Annahme repräsentiert, dass sich aus unterschiedlichen Meinungen auf die Nutzung unterschiedlicher Rahmen schließen lässt.
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Annahmen möglich macht, wie z. B. in Buenos Ausführungen zur Erkenntnistheorie der Logik sichtbar wurde. Eine weitere Annahme, die normative Distanz unterminiert und Rahmennutzer dabei ebenfalls in einem bestimmten Sinne infallibel macht, ist die Interpretation von Relativismus als einer These kognitiver Anarchie, also die anything-goes-Lesart des Relativismus. Auch hier ist das Problem gewissermaßen eines der Determination des Rahmens durch die Aussage oder Überzeugung, allerdings in einem völlig anderen Sinne als noch z. B. beim radikalen Subjektivismus, bei dem das Bilden einer Überzeugung auch die Erzeugung eines Rahmenbestandteils war. Hier haben wir es vielmehr mit einer radikalen Form des Rahmen-Platonismus zu tun. Damit ist gemeint, dass das Anarchie-Bild des Relativismus auf der Vorstellung einer unendlichen Anzahl von abstrakten Gegenständen namens „Rahmen“ beruht. Für jede mögliche Aussage oder Überzeugung gibt es nun einen solchen Rahmen, relativ auf den sie wahr ist und den sie im Moment ihrer Äußerung oder Bildung als den für sie relevanten herausgreift – das ist der Sinn, in dem man auch hier von einer Determination des Rahmens sprechen kann. Dieser letzte Punkt mag überzogen erscheinen – viele Relativismuskritiker (und einige Relativisten) mögen ja glauben, dass laut dem Relativismus unendlich viele Rahmen als abstrakte Gegenstände existieren, aber der Automatismus des Herausgreifens des genehmen Rahmens durch die Aussage muss doch ein Strohmann des Strohmanns sein. Dass dem nicht so ist, sieht man leicht an der Weise, wie das Anarchie-Bild in vielen antirelativistischen Argumenten eingesetzt wird. Denn dort wird in der Regel keinerlei Unterschied gemacht zwischen der Frage, ob etwas in einem gerade, z. B. in einem Gespräch, in Benutzung befindlichen Rahmen wahr ist oder in einem beliebigen Rahmen. Dem Relativisten wird z. B. nicht zugestanden, auf den Einwand des Absolutisten, dass sein Absolutismus doch auch in irgendeinem Rahmen wahr sein müsse, schlicht zu erwidern, dass das aber nicht der gerade relevante Rahmen sei. Wahrheit in einem beliebigen Rahmen scheint als das einzige Kriterium der Behauptbarkeit oder des Werts von Behauptungen gesehen zu werden, welches den Relativisten interessieren darf.¹⁰ Das bedeutet aber auch, dass das Einzige, was einen Rahmen zum
Dass, unter den von diesem Relativismus-Bild gezeichneten Bedingungen der Verfügbarkeit beliebige Aussagen wahr machender Rahmen, dieses Kriterium einem absoluten (zumindest relativ auf den Rahmen der Theorie des Relativisten) gleichkommt, insofern ein Bezug auf einen bestimmten Rahmen zur Untersuchung des Wahrheitswerts einer Aussage obsolet ist, sollte nicht zu sehr überraschen. Wie schon bei Boghossians Relativismusdefinition schleicht sich hier das absolutistische Bedürfnis nach einer absoluten Festlegung des Wahrheitsstatus in die Interpretation der relativistischen Theorie ein. Hier ist bewusst von Wahrheitsstatus und nicht von
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relevanten Rahmen machen kann, ist, dass er für die Wahrheit der relevanten Aussage oder Überzeugung sorgt. Es resultiert eine Lesart von Relativismus als einer Theorie der Gleichwertigkeit aller Aussagen, einer Theorie, von der Rorty zu Recht einmal bemerkt hat, dass niemand sie vertrete.¹¹ Diese Gleichwertigkeit ist natürlich nichts anderes als ein Mangel an normativer Distanz. Doch diese Lesart von Relativismus hat in der Tat wenig mit tatsächlich vertretenen relativistischen Auffassungen gemein, was vor allem daran offensichtlich wird, dass ein Bezug auf einen bestimmten Rahmen, wenn von Wahrheit die Rede ist, völlig überflüssig ist, die Existenz und Relevanz des Rahmens ist ja bereits durch die Theoriearchitektur garantiert. Neben dem Herausgreifen des passenden Rahmens hat dieses Bild des Relativismus noch zwei weitere problematische Komponenten. Da ist zunächst der bereits angesprochene radikale Rahmen-Platonismus. Dieser wird, wie bereits im Zusammenhang mit Siegels NSBF-Argument ausgeführt, von vielen Relativisten abgelehnt. Wiederum sind es insbesondere Relativismen mit sprachartigen Rahmen, für die das Vertreten einer solchen Annahme völlig außer Frage steht, da diese in der Regel eine Form von Gebrauchstheorie der Bedeutung verwenden. Sprachen u. Ä. stehen, laut diesen Theorien, also nicht einfach als abstrakte Gegenstände zur Verfügung, um unseren Äußerungen Bedeutungen und Wahrheitswerte zuzuweisen, sie werden vielmehr von uns hervorgebracht. Dadurch existiert auch nicht notwendigerweise ein Rahmen für jede Aussage oder Überzeugung, in dem sie wahr ist. Dies wiederum hängt eng mit der letzten noch anzusprechenden problematischen Komponente der anything-goes-Auffassung des Relativismus zusammen – und das ist die Konzeption der Globalität von Relativismen als der Wahrheitswertvariation jeder einzelnen Aussage, die hinter ihr steht und wie sie insbesondere im Kontext von Halesʼ Relativismusdefinition diskutiert wurde. Als Alternative wurde hier ein Verständnis von „global“ vorgeschlagen, das in erster Linie auf der Art und Weise beruht, wie für eine spezifische relativistische Theorie argumentiert wird. Berufen sich relativistische Theorien auf Eigenschaften von Wahrheit, Bezugnahme etc. als solcher und nicht z. B. auf Besonderheiten eines bestimmten Diskursbereiches, sind sie als global zu betrachten, solange sie nicht explizite Einschränkungen enthalten, also z. B. die Logik aus ihrem Gegenstandsbereich ausschließen. Dies fängt den Unterschied zwischen globalen ReWahrheitswert die Rede, dieser variiert auch hier weiterhin mit dem Rahmen. Aber bei der Frage, ob eine bestimmte Behauptung berechtigt ist o. Ä., spielt der Wahrheitswert überhaupt keine Rolle mehr, sondern der höherstufige Status des Besitzens eines bestimmten Wahrheitswerts in irgendeinem Rahmen – ein Status, der allen Aussagen hier trivialerweise zukommt. Vgl. Rorty (1980), 727.
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lativismen, die über den Status unserer Erkenntnisbemühungen als solchen sprechen, und Bereichsrelativismen, die über die Eigenschaften eines abgegrenzten Gegenstandbereichs im Kontrast zu einem als absolut zu betrachtenden Rest sprechen, deutlich besser ein, als Wahrheitswertvariationen für jede Aussage zu verlangen. Letzteres würde darüber hinaus verlangen, entweder einen Rahmen-Platonismus wie den oben angesprochenen zu vertreten oder möglichen Rahmen einen solchen Status abstrakter Existenz zuzusprechen und sie wirklichen Rahmen in vielen theoretischen Hinsichten gleichzustellen. Es ist allerdings auch wichtig zu betonen, dass die Verwendung des kritisierten Globalitätsbegriffs, im Vergleich zu einigen anderen der bis hierhin besprochenen Annahmen, eher harmlos für eine relativistische Theorie ist, was die Frage drohender Selbstaufhebung angeht. Bei diesen war es so, dass Selbstaufhebungsargumente der ad-hominem-Variante anwendbar werden und so einen Konflikt innerhalb der Theorie aufdecken können (das gilt in erster Linie für die Annahme, dass relative Wahrheit, Rechtfertigung etc. defizitär ist) oder dass Selbstaufhebungsargumente einen Mangel an normativer Distanz aufdecken können. Lediglich den fragwürdigen Begriff von Globalität zu verwenden, führt eine relativistische Theorie noch nicht vor solche Probleme. Dazu müsste eine Konzeption der Berechtigung von Behauptungen etc. hinzukommen, die zu einer anything-goes-Konzeption führt. Denn wie im Abschnitt zu Selbstaufhebungsargumenten gegen den alethischen Relativismus zu sehen war, sind zwar mehr Selbstaufhebungsargumente auf Relativismen mit dieser Konzeption von Globalität anwendbar, insbesondere das von Lockie und das von Hales, aber diese sind aus von der Frage der Globalität unabhängigen Gründen abzulehnen. Die Aussage-für-Aussage-Interpretation von „global“ abzulehnen, ist also weniger aus dem zu motivieren, was Selbstaufhebungsargumente über sie aufdecken, sondern eher daraus, dass sie erstens das Phänomen, welches sie zu beschreiben sucht, nur schlecht charakterisiert und zweitens weil ihre Adaption zu schlicht unplausiblen Theoriegebilden führt.¹² Dass eine solche Ablehnung einige ohnehin zum Scheitern verurteilte Widerlegungsversuche von vornherein unterbindet, ist lediglich ein willkommener Nebeneffekt. Den zweiten Grund für ihre Ablehnung, die Produktion unplausibler Theoriegebilde, teilt diese Konzeption mit den als nächstes zu besprechenden problematischen Annahmen, nämlich denjenigen, die auf eine unzureichende Reflexion des eigenen theoretischen Standpunkts hinweisen. Wie bei vielen von diesen gilt auch für die abzulehnende Konzeption von Globalität, dass vollkommen unklar ist, wie der entsprechende Theoretiker seine Behauptung jemals be-
Siehe dazu Abschnitt 1.8.3.
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legen können sollte – ja wie er selbst jemals zu dem entsprechenden Wissen oder sogar der entsprechenden Überzeugung gekommen sein sollte. Wird nämlich nicht gleichzeitig der gerade angesprochene radikale Rahmen-Platonismus vertreten (und hier drängen sich unmittelbar Fragen auf wie die, wie wir epistemischen Zugang zu niemals tatsächlich in Verwendung befindlichen Rahmen haben), wäre hier eine Theorie darüber, was mögliche Rahmen sind, wie wir Einsichten über sie gewinnen können, warum es für die Wahrheit jeder einzelnen Aussage einen passenden geben sollte etc., vonnöten, um die These der universellen Wahrheitswertvarianz überhaupt erst rechtfertigungsfähig zu machen; und insbesondere wiederum für Relativismen mit sprachartigen Rahmen scheint es aussichtslos, eine auch nur annähernd hinreichende Rahmenproliferation zu erreichen. Sicher – ein negativer Weg derart, dass über aus unseren wirklichen Rahmen mehr oder weniger leicht konstruierbare Rahmen gesprochen wird, die zu Wahrheitswertvarianz in den unterschiedlichsten Gegenstandsbereichen führen, verbunden mit dem Hinweis, dass wir nicht wissen, ob die Vervielfältigung der Wahrheitswertvarianzen jemals aufhört, wenn immer neue Sprachen o. Ä. konstruiert werden, könnte als in diese Richtung deutend gelesen werden. Allerdings würde ein solches Argument einen Relativismus, der nach dem hier vorgeschlagenen Verständnis von Globalität aufgebaut ist, deutlich direkter stützen; in Bezug auf die These universeller Wahrheitswertvarianz bleibt es nur ein vages Versprechen auf der Grundlage, dass wir zumindest nicht ausschließen können, dass sich diese irgendwie herstellen ließe. Diese negative Position selbst zu vertreten, anstatt sie als Indiz für eine viel stärkere These zu betrachten, ist definitiv der epistemisch sicherere Standpunkt. Der eindeutigste Fall eines Selbstaufhebungsarguments, das die mangelnde Reflexion auf den eigenen Standpunkt¹³ – zumindest epistemischer, aber je nach Bedeutungstheorie auch semantischer Art – ausnutzt, war hier Putnams Argument für den Kollaps eines Kulturrelativismus in einen Kulturimperialismus in Analogie des Kollapses des methodologischen Solipsismus in einen echten Solipsismus. Putnams Argument, so wie es hier rekonstruiert wurde, läuft über die semantische Dimension: So wie der methodologische Solipsist auf Grundlage seiner Bedeutungstheorie nicht in der Lage ist, überhaupt den Begriff eines anderen Ichs als einem anderen solipsistischen Konstrukteur zu bilden, so ist auch der Kulturrelativist nicht in der Lage, den Begriff einer anderen Kultur als einer anderen wahrheitsgenerierenden Instanz zu bilden. Die problematische zugrun-
Die meisten der dieser Gruppe angehörenden Annahmen wurden bereits im Abschnitt zu offenen und geschlossenen Rahmen ausführlicher kritisiert. Siehe Abschnitt 1.7.3.
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deliegende Annahme wurde als diejenige identifiziert, dass jeder genau einen, gewissermaßen seine ganze Welt umfassenden, Rahmen benutzt. Im Kontrast steht diese Annahme mit relativistischen Theorien wie derjenigen Goodmans, nach der wir alle Nutzer vieler unterschiedlicher Rahmen sind, die wir je nach Gegenstandsbereich, Zweck etc. mehr oder weniger bewusst wechseln und modifizieren können. Eine solche Theorie vermeidet die Problematik der semantischen und epistemischen Verfügbarkeit anderer Rahmen von vornherein. Auch von uns selbst nicht verwendete Rahmen werden so semantisch zugänglich und als solche erkennbar, da der Verwender Goodmanʼscher Symbolsysteme keine Schwierigkeiten hat, die Rolle des Rahmens eben als eine von verschiedenen Symbolsystemen ausfüllbare Rolle zu konzeptualisieren, während für den Verwender nur eines Rahmens Rolle und einziger Rahmen untrennbar verbunden sind.¹⁴ Damit ist natürlich eine weitere – alles andere als selbstverständliche, wenn auch in vielen relativistischen Theorien tatsächlich auftretende – Annahme eng verwoben, nämlich diejenige, dass Relativität etwas ist, was uns im Umgang mit von der unsrigen radikal verschiedenen Kulturen oder weit entfernten historischen Epochen begegnet. Auch diese bringt den Relativisten in eine epistemisch unnötig schwierige – wenn auch, gegeben, andere Theoriekomponenten erzeugen keine weiteren Komplikationen, nicht unüberwindbare – Lage, da das Erleben von Relativität zur Ausnahmeerfahrung wird, die größtenteils Anthropologen und Historikern vorbehalten bleibt. Für einen Relativisten wie Goodman hingegen gehört ein solches Erleben von Relativität zu unseren Alltagserfahrungen im Umgang mit unterschiedlichen Symbolsystemen, das gerade deswegen nicht unmittelbar als solches identifiziert wird, weil es so alltäglich ist. Der relativistische Theoretiker hat dann vor allem die Aufgabe, diese Erfahrungen hervorzuheben und in den richtigen Kontext zu stellen, um sie als Erfahrungen von Relativität sichtbar werden zu lassen. Auch die beiden verbleibenden problematischen Annahmen dieser Gruppe haben mit Fragen der Zugänglichkeit zu tun, wenn auch in recht unterschiedlicher Art und Weise. Zunächst ist da der Themenkomplex der Verstehbarkeit anderer Rahmen, wie er vor allem im Zusammenhang mit Davidsons Argumentation gegen die Existenz von conceptual schemes besprochen wurde. Eine Theorie, laut der wir grundsätzlich nicht in der Lage sind, z. B. andere Sprachen, die andere Rahmen sind oder verwenden, zu erlernen, führt in dieselbe semantische und epistemi Der Relativist, der eine solche Annahme in seine Theorie inkorporiert, befindet sich also in einer ähnlichen Situation, wie sie im Kontext von Resslers modallogischen Modellen für relativistische Theorien dem Absolutisten zugeschrieben wurde, er ist von anderen Rahmen semantisch isoliert.
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sche Sackgasse wie der Kulturrelativismus in Putnams Lesart desselben: Andere Rahmen können nicht als solche erkannt werden; und selbst wenn dieses Problem irgendwie aus dem Weg geräumt werden kann, bleibt das Wissen, ob die Rahmen in einer für einen Relativismus geeigneten Art von Konflikt stehen und wenn ja, in welcher genau – also welche Form von relativistischer These genau ihr Verhältnis angemessen beschreibt –, unzugänglich. Positiv gesprochen bedeutet das, dass eine plausible relativistische Theorie erklären muss, wie wir mit anderen Rahmen in eine geeignete epistemische Relation eintreten können, was im Falle von Sprachen natürlich in erster Linie bedeutet, dass eine geeignete Übersetzungs- und Interpretationstheorie integraler Bestandteil relativistischer Theorien ist. Die letzte zu besprechende Annahme verlangt von der relativistischen Theorie eine Beschränkung ihres Gegenstandsbereichs. Zuerst tauchte sie im Abschnitt zu offenen und geschlossenen Rahmen in Form der Relativismuskritik von Biagioli auf, in den Abschnitten zu Burnyeat und Lockie wurde die mit ihr zusammenhängende Unterscheidung von wahr in und wahr über eingeführt und eingesetzt. Auch diese Annahme lässt sich natürlich auf unterschiedliche Weisen ausformulieren, grob gesprochen besagen sie alle, dass Aktivitäten (z. B. kognitiver Art wie das Behaupten einer Theorie), die unter Regie eines anderen Rahmens stattfinden (und je nach Variante auch diese anderen Rahmen selbst), aus dem Gegenstandsbereich zu streichen sind. Innerhalb eines Rahmens soll man nur über diejenigen Aktivitäten sprechen können, die eben jenem Rahmen zuzurechnen sind, Gegenstandsbereich und Geltungsbereich werden identifiziert. Diese Position ist deswegen für einen Relativismus verheerend, weil auch sie dafür sorgt, dass dieser sich die eigene semantische und epistemische Grundlage entzieht. Selbst wenn Bezugnahme auf andere Rahmen in irgendeiner Weise erlaubt wird, kann ein Konflikt zwischen relativ auf unterschiedliche Rahmen wahren Aussagen o. Ä. natürlich überhaupt nicht festgestellt werden, wenn aus einem Rahmen heraus grundsätzlich nicht über die Inhalte des anderen gesprochen werden darf bzw. sie – nach milderen Varianten dieser Annahme – nicht evaluiert werden dürfen. Es sollte an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass die Ablehnung dieser Annahme natürlich keine Einladung bzw. Entscheidung bedeutet, die in der jahrhundertelangen relativistischen Theoriegeschichte hart erkämpfte Vorsicht bzgl. der Beurteilung der Inhalte anderer Rahmen über Bord zu werfen. Die Tatsache, dass es sich um die Inhalte eines anderen Rahmens handelt, und die Frage, wie genau dessen Vorgaben aussehen und wie sich diese zum eigenen Rahmen und zu der zu beurteilenden Sache verhalten, sollten natürlich bei jeder solchen Beurteilung in Betracht gezogen werden. Dies sind also einige wichtige theoretische Weichenstellungen für einen plausiblen und haltbaren globalen Relativismus (oder Relativismus mit globalen
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Konsequenzen), die sich aus der Beschäftigung mit Selbstaufhebungsargumenten gewinnen lassen. Knapp gesagt sind beim Entwurf einer solchen Theorie also immer drei Fragen im Auge zu behalten, die den drei Gruppen problematischer Annahmen entsprechen: Enthält die Theorie absolutistische Restbestände, die mit den anderen Theoriekomponenten in Konflikt stehen? Ist für normative Distanz gesorgt? Ist der nötige semantische und epistemische Zugriff auf andere Rahmen, um die Theorie zu formulieren und zu rechtfertigen, sichergestellt? Mit Theorien zu arbeiten, die diese Anforderungen erfüllen, erfordert ein Umdenken auf der Seite vieler Relativismuskritiker und auch mancher Relativisten. In der ersten Gruppe haben wir es mit tiefsitzenden und oft unhinterfragten absolutistischen Hintergrundannahmen zu tun, in der zweiten vor allem mit extrem verbreiteten Fehlcharakterisierungen relativistischen Gedankenguts und in der dritten mit epistemischen und semantischen Herausforderungen an den relativistischen Theorieaufbau, die sich absolutistischen Positionen schlicht nicht in derselben Weise stellen. Insofern kann es auch nicht verwundern, dass sich Selbstaufhebungsargumente gegen den Relativismus, trotz ihrer geringen Erfolgsaussichten (es sei denn in vereinzelten Fällen fehlerhafter Theoriearchitektur in der ad-hominem-Variante, in der dialektischen Variante, die keine Falschheit nachweisen kann, oder aber wenn sie als Hinweise auf theoretische Defizite anstatt als für ihr explizites Beweisziel argumentierend gelesen werden), großer Beliebtheit erfreuen, denn sie artikulieren eine tiefsitzende Unverträglichkeit von unhinterfragten absolutistischen und auf absolutistische Erkenntnistheorien ausgerichteten Gedankenguts mit den radikal revisionistischen Ansätzen des Relativismus. Diese Letzteren konsequent und konsistent denken zu lernen, ist eine Aufgabe, die in der vorliegenden Arbeit nur angegangen, aber mit Sicherheit nicht vollendet werden konnte. Zum Abschluss sollte noch einmal auf die Frage zurückgekommen werden, was genau dies nun für die Relativismusdebatte bedeutet. Wenn Selbstaufhebungsargumente den Relativismus zwar nicht widerlegen können, aber auf Schwachstellen desselben hindeuten können, heißt das natürlich, dass es für Relativismuskritiker sinnvoll ist, auf genau diese Schwachstellen direkt einzugehen und darzulegen, inwiefern absolutistische Ansätze hier überlegen sein können. Wenn Selbstaufhebungsargumente tiefliegende absolutistische Hintergrundannahmen sichtbar machen können, die aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit zuvor als solche unsichtbar waren, ist es sinnvoll für Relativismuskritiker, sich explizit auf den Standpunkt zu stellen, dass diese Hintergrundannahmen beibehalten werden sollten, anstatt sie für einen Relativismus aufzugeben. Hier kann also nur noch einmal betont werden, was schon in der Einleitung der vorliegenden Arbeit angesprochen wurde: Die Relativismusdebatte lässt sich um einiges fruchtbarer führen, wenn den konkurrierenden Theorien absolutisti-
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scher und relativistischer Prägung erlaubt wird, sich anhand ihrer jeweiligen Motivationen und Vorzüge aneinander zu messen, anstatt auf schnelle Widerlegungen anhand von Selbstaufhebungsargumenten zu setzen. Dieser Weg der Auseinandersetzung ist nicht nur fruchtbarer, es ist auch eine Auseinandersetzung, in die der Absolutist in jedem Fall eintreten muss. Wie ebenfalls bereits in der Einleitung dargelegt, müsste der Absolutist selbst bei Vorliegen eines Selbstaufhebungsarguments, welches die absolute Falschheit des Relativismus als solchem ein für alle Mal etabliert – und dass es alles andere als aussichtsreich ist, nach einem solchen zu suchen, sollte inzwischen klar sein –, noch immer zeigen, an welcher Stelle in dessen Argumentation genau der Relativist fehlgegangen ist oder wo sich die Prämissen des Absolutisten von denen des Relativisten unterscheiden. Denn wird die prorelativistische Argumentation ohne Einschränkung angenommen und ausschließlich auf den Nachweis der Selbstaufhebung gesetzt, kommt dies einer reductio der von Relativist und Absolutist geteilten Voraussetzungen gleich.¹⁵ Kurz gesagt bedeutet all dies, dass Selbstaufhebungsargumente zwar durchaus interessante Mittel der philosophischen Auseinandersetzung sind und dass sie unser Wissen über Theorien und insbesondere deren Kohärenz vertiefen und ausdifferenzieren können, sie aber andererseits nicht den zentralen Platz in der Relativismusdebatte einnehmen sollten, der ihnen von Relativismuskritikern gerne eingeräumt wird. Sie sind schlicht nicht in der Lage, das ihnen aufgebürdete theoretische Gewicht zu tragen.
Siehe Stack (1983).
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Index Absolute Selbstaufhebung 229, 232 – 237, 239 – 241, 243, 255 f. Absolutismus 3, 7 f., 25 f., 37, 39, 41, 56, 62, 110, 126, 154, 176 – 178, 182 – 184, 187, 191, 202, 208, 242, 262 f., 265, 289 – 292, 307, 310 f., 316 f., 331, 340, 350, 367 f., 370 ad-hominem-Selbstaufhebung 241, 246, 248 – 252, 255 – 257, 283, 300, 362, 364, 372, 376 Albedah, Amani 280 – 284, 286, 365 Alethischer Relativismus 1, 13, 19 – 21, 39, 45 – 50, 52 f., 57 f., 63 – 68, 71, 86 – 105, 107, 114, 118, 130, 145, 159, 164 – 166, 169, 171 f., 175 f., 179, 181, 184 – 187, 189, 198, 224, 231 – 233, 241 f., 257 – 260, 283, 285, 287, 289, 295, 305, 328, 335, 341 f., 344, 348, 357, 362, 372 Baghramian, Maria 16 f., 89, 97, 153, 357, 359 Bedeutungsrelativismus 13, 45, 47 – 49, 52 f., 57, 65 – 70, 74, 76 f., 81 – 86, 92, 95 – 99, 101 – 103, 107, 157, 166, 169, 258 f., 270, 274 – 276, 278 – 280, 282 – 286 Bennigson, Thomas 49, 179, 181, 183 – 188 Beobachterstandpunkt 158, 160 – 162, 280 f., 286, 304, 330, 339 f., 365, 372 f. Bereichsrelativismus 4, 21, 44, 50 f., 71, 73, 90, 95 f., 107, 145, 172, 174, 182, 184, 187, 189, 242, 366, 372 Boghossian, Paul 67, 82, 167 – 175, 188, 232, 302, 355, 365, 367 f., 370 Bueno, Otávio 111 – 137, 143, 166, 370 Burnyeat, Myles 195, 202, 204 – 209, 221, 332, 375 Carnap, Rudolf 83 f., 109 Castagnoli, Luca 3, 7, 12 f., 194, 196 f., 201, 203, 211 f., 214 – 216, 219, 221, 226 – 228, 234 – 239, 242 f., 246, 250 – 254, 353 f. https://doi.org/10.1515/9783110584264-008
Davidson, Donald 24, 26, 84, 140, 146, 166, 270 – 281, 286, 304, 374 Davson-Galle, Peter 84 – 86, 90, 98, 101, 285 f. Emilsson, Eyjólfur Kjalar 212 – 214, 221 Epistemischer Relativismus 13, 20 f., 39 f., 42, 71 f., 107 f., 110, 125, 147, 159, 164 – 167, 171 f., 174, 258 – 263, 265, 343, 350, 356 error theory 168, 171 f., 232, 264, 302, 355, 368 Feyerabend, Paul 21 – 24, 32 – 39, 71, 73 f., 76 – 78, 80 f., 83 f., 109, 134, 296 Field, Hartry 125, 127 – 133, 164 f., 170 Globaler Relativismus 9, 11 – 13, 19 – 21, 38, 43 – 45, 50 f., 53, 55, 57, 62 – 71, 73, 78, 82, 88, 95 – 97, 103, 107, 110, 112, 114, 117 – 119, 122, 126, 135 – 137, 166, 169, 171, 174 f., 181 – 185, 188 f., 197, 224, 242, 264, 270, 289 f., 294, 302, 307, 311 f., 314 – 316, 318, 322 f., 327 – 329, 334, 339, 353, 356 f., 363, 365 f., 371 – 373, 375 Goodman, Nelson 19, 47 – 49, 51 – 53, 58 – 61, 67, 82, 89 – 98, 100, 102, 104 – 107, 138, 141, 162, 178 – 181, 287, 292 f., 302, 304, 326, 342 – 350, 358, 374 Hales, Steven 3, 175 – 179, 181 – 183, 185, 187 – 189, 224, 306, 317 – 320, 322 – 324, 329, 331 f., 372 Harman, Gilbert 18, 43, 168, 366 Harris, James F. 270 f., 276 – 279, 342 – 350, 357 f. Hollis, Martin 25 – 30 Indexikalischer Relativismus 45 f., 48, 65 f., 69, 87, 168 f. Inkommensurabilität 21, 23, 35, 37, 70 – 81, 83 f., 157, 276 f., 280
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Index
Irrtumsfreie Meinungsverschiedenheit 62 – 64, 66 Kölbel, Max 12, 15 f., 40 – 42, 45 f., 48 f., 51, 64, 66, 69, 88, 113, 162 – 164, 169, 177, 184, 186 – 190, 222 – 224, 242, 246, 289, 298, 319, 363 Kontextualismus 45 f., 69, 168, 327 Konzeptuelle Relativität 55 f., 58 f., 62, 86, 101, 103 – 105, 275, 294 Kuhn, Thomas 21, 32, 35, 71 – 77, 79 – 81, 92, 157, 166 f., 181, 259, 265, 273 f., 276 f., 279 – 284, 286 f., 296, 323 f., 365 Kulturrelativismus 22 f., 31, 39, 70, 74, 138, 146, 153, 159, 162, 275, 292, 301 – 305, 314, 359, 369, 373, 375 Lockie, Robert 193, 305 – 318, 372, 375 Logischer Relativismus 38, 107, 109 – 111, 118 f., 124, 134 – 137, 143, 145, 322 Lukes, Steven 25 f., 28 – 30, 155 Lynch, Michael 87, 97 f., 100 f., 178 MacFarlane, John 43 f., 113, 169 Mackie, J. L. 191, 194, 228 – 233, 235 – 241, 243 – 246, 249 – 251, 253 f., 257 Meiland, Jack 85, 88 – 91, 97, 101, 176, 179, 181, 293, 306 Metaphysischer Relativismus 13, 47 f., 52 f., 65 f., 74, 83, 86, 88, 92, 95 f., 98 – 101, 104, 107, 118, 166 f., 169, 172 f., 178, 198, 258 f., 270, 276, 278, 281, 285 f., 294 Moralischer Relativismus 4, 18, 149, 154, 159 f., 162 Normative Distanz 4 f., 13, 150 f., 223 – 225, 297, 300, 356, 360, 362, 365 f., 368 – 372, 376 Operationale Selbstaufhebung 231, 241, 243 f., 246, 250 – 256, 261 f., 359 Parakonsistente Logik 38, 92, 113 – 116, 132, 135, 137 Platon 1, 4, 12, 36, 126, 150 f., 165, 176, 193 – 197, 199, 201 – 203, 207 f., 211, 213,
219 – 222, 228, 246, 249, 251 f., 254 – 256, 259, 288 – 290, 295, 298 f., 309, 341, 359, 361, 363, 369 Pluralismus 30, 41, 100, 109, 111 – 113, 115 – 120, 122 – 125, 130, 132, 135 f., 143, 153 – 156, 180, 206, 290, 328, 357 Pragmatische Selbstaufhebung 229 – 231, 233, 241, 243 f., 246 – 256, 273 f. Protagoras 4, 12, 36, 53, 97, 126, 150 – 152, 176, 193, 195 – 208, 210 – 228, 246, 249, 256, 287, 289 – 291, 293, 298 f., 309, 359 – 361, 363, 366, 369 Putnam, Hilary 39, 51 f., 55 – 63, 67, 82, 86 f., 90, 94 f., 97, 100 – 107, 138 f., 141, 178, 180 f., 247, 259, 275 f., 285, 293 – 305, 314, 320, 332, 357, 369, 373, 375 Quine, Willard Van Orman 23 f., 26 – 29, 47, 60, 67, 83 f., 96, 106, 112, 127, 137 – 143, 273, 282, 284 Rappaport, Steven 87, 97 – 101 Relativismus globaler Bedeutung 9, 13, 21, 72, 107, 365 Rorty, Richard 19, 32, 39, 42 f., 48, 94 f., 275, 303 f., 371 Selbstbezüglichkeit 2, 9 – 11, 19 f., 71 f., 192 f., 256, 311, 314, 354, 363 Semantischer Relativismus 43 – 45, 49, 51, 62 – 65, 69, 87, 118, 169, 172, 224 Siegel, Harvey 7, 163 – 167, 187 f., 193, 211, 219 f., 259 – 266, 287 – 294, 306, 315, 343, 346 f., 350, 356, 359, 365, 371 Skeptizismus 192, 245, 248, 353 – 355 Subjektivismus 5, 91, 150 – 152, 164, 178, 222, 287, 292, 295, 299 – 301, 341, 361 f., 367, 369 f. Swoyer, Chris 49, 65, 68, 85, 184 Tollefsen, Olaf
89, 265 – 269, 367 f.
Übersetzung 23 f., 26 – 28, 48 – 50, 52, 65, 67 f., 79 f., 87, 94, 106, 138, 140 – 142, 172, 180, 273, 275, 279 – 282, 284, 287 Universalität 25 f., 154, 178, 183, 206, 219
Index
Wahrheit 5 – 10, 19 f., 27, 35, 39, 44, 46, 48, 50, 52 – 55, 57 – 59, 65, 68, 85 – 96, 98, 100 f., 105 f., 145, 147, 150 f., 164 f., 170, 174 – 176, 178, 180 – 182, 184, 188 f., 192, 197 – 202, 205 – 212, 218, 222 f., 225 – 227, 231 f., 236 – 242, 245, 255 f., 260, 273, 277, 285, 291, 293, 295, 297, 299, 303 f., 306, 309, 311 f., 314 – 317, 321 – 323, 328, 332 – 334, 337 – 339,
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341, 344 f., 352 f., 355 f., 360 f., 364 f., 367, 370 – 373 Whorf, Benjamin Lee 70, 78, 81 – 83, 271, 273 f. Winch, Peter 23 – 25, 28 – 31, 153, 159 Wittgenstein, Ludwig 24, 29, 71, 77 f., 83, 144 – 146, 149, 152 f., 174, 295 f., 298 – 301, 340